Das Gedicht »Qaïn« von Leconte de Lisle: Eine literarhistorische Interpretation 9783111354026, 9783110998627


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German Pages 189 [192] Year 1964

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Table of contents :
Einleitung
I. Aus der Geschichte des Kainstoffes bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts
II. Das Gedicht »Qaïn« in der Leconte de Lisle-Forschung
III. Indirekte Charakteristik Qaïn im ersten Teil des Gedichtes
IV. Qaïns Auseinandersetzung mit Jahwe über Abels Tod
V. Qaïns Prophezeiung gegen Jahwe
Schlußwort
Literaturverzeichnis
INHALT
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Das Gedicht »Qaïn« von Leconte de Lisle: Eine literarhistorische Interpretation
 9783111354026, 9783110998627

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HAMBURGER ROMANISTISCHE

STUDIEN

Herausgegeben vom Romanischen Seminar der Universität Hamburg

A. Allgemeine Romanistische Reihe (Fortsetzung der Reihe »Hamburger Studien zu Volkstum und Kultur der Romanen«) herausgegeben

von

Hellmuth

Petriconi

Band 47

und

Margot

Kruse

ALMUT

POHLE

DAS GEDICHT »QAIN« VON LECONTE DE LISLE Eine literarhistorische Interpretation

ROMANISCHES SEMINAR KOMMISSIONSVERLAG: CRAM, DE GRUYTER & Co. HAMBURG 1964

Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Drude von H. J. J. Hay, Kellinghusen (Holstein)

Frau Professor Margot Kruse Herrn Professor Hellmuth Petriconi in Dankbarkeit gewidmet

Einleitung Wie alle Gedichte Leconte de Lisles, deren R u h m über die engen Grenzen des Kreises der Schüler und F r e u n d e des Meisters hinausgelangte, nimmt auch »Qaïn« in der Dichtung des Parnassiers eine Sonderstellung ein. Wir brauchten nicht erst d a r a n zu erinnern, daß der Autor mit dem Gedanken spielte, dieses Gedicht als zu »byronien« aus seinem W e r k auszuscheiden. Schon die Tatsache, daß Leconte de Lisle gegen Ende seines Lebens zum »Dichter des >QainMidiParnassier< Leconte de Lisle als Theoretiker und Dichter, a. a. O. S. 182. 26) Ebda. S. 145. 27) Ebda. S. 142 ff. 28) Der >Parnassier< Leconte de Lisle als Theoretiker und Dichter, a. a. O. S. 142. 29) Ebda. S. 145 ff., zu »Qain« vgl. S. 154, 158.

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in welcher die Dichtung unseres Autors unter einer Fragestellung betrachtet wird, wie wir sie ähnlich schon bei E.Esteve und P. Flottes aufzeigten: Was läßt sich aus den Gedichten Leconte de Lisles unter Berücksichtigung der Reihenfolge ihrer Entstehung bzw. Veröffentlichung über die geistige G r u n d h a l t u n g und die Anschauungen, in diesem Falle also über den Pessimismus, ihres Verfassers entnehmen? D e r 1954 erschienene erste Teil des Putterschen W e r k e s hatte zunächst über »Sources and Evolution« des viel diskutierten, aber niemals gründlich untersuchten Pessimismus Leconte de Lisles Klarheit gebracht. D e r zweite Teil trägt den Untertitel »The W o r k and the Time« und ordnet die Gedichte Leconte de Lisles entsprechend ihrem Aussagengehalt jeweils einem oder mehreren Problemkreisen zu. In ausgewogenen, nuancierten Urteilen wird zusammengestellt, was sich an den einzelnen Gedichten ablesen läßt in bezug auf Leconte de Lisles Pessimismus im Bereich der metaphysischen Spekulation und hinsichtlich der »conditio humana« sowie des Verhältnisses Dichter - Gesellschaft. An Versen aus dem »Qa'in« wird uns von P u t t e r auf den Seiten 311-320 des zweiten Teiles seiner Pessimismus-Studie ein Aspekt der Stellungnahme Leconte de Lisles zum Problem des Bösen im menschlichen Leben gezeigt, nämlich der leidenschaftliche Protest des Dichters gegen ein Schuldigwerdenmüssen des Menschen. Nach P u t t e r (S. 312) liegt »the inevitability of evil in spite of Cain's innocence« als »general idea« sowohl Byrons »Cain« als auch Leconte de Lisles »Qa'in« zugrunde. W i r werden in unserer Arbeit zeigen, inwiefern Kains Unschuld vor der Dichtung Leconte de Lisles noch keineswegs eine feste poetische Gegebenheit war, und wie heikel selbst die dichterische (und im Vergleich zu einem mit philosophischen Mitteln g e f ü h r t e n Beweis doch wohl leichtere) Darstellung der »inevitability of evil« gerade an einer Gestalt wie Kain ist. D e r Hinweis auf die Bedeutung der »poetic truths« im »Qa'in«, um derentwillen der Dichter die logische Geradlinigkeit u n d Eindeutigkeit der Aussage vernachlässigt, ist der P u n k t , an dem P u t t e r s geistesgeschichtlichphilosophisch orientierte Untersuchung des »Qa'in« und die literarhistorische Interpretation des Gedichtes auf j e d e n Fall übereinstimmen werden. Dagegen w ü r d e n wir nicht ohne Vorbehalt mit P u t t e r davon sprechen, daß Leconte de Lisle aus »emotional need« zur Personifizierung der Schicksalsmacht in einer Gottesgestalt gekommen sei (S. 314). Wenn P u t t e r dann weiter schreibt: »[...] l e c o n t e de Lisle's f u r y leads him to end his poem not simply in heroic revolt but in the overthrow of God and the reconquest of 56

Eden« (S. 316), so w ü r d e n w i r d a r ü b e r h i n a u s g e h e n d sagen, d a ß es vielleicht g e r a d e die s t a r k e i n n e r e A n t e i l n a h m e Leconte de Lisles an d e r mit d e m Kainstoff gegebenen P r o b l e m a t i k w a r , die den Dichter ü b e r h a u p t erst die v e r b o r g e n s t e n im Stoff liegenden poetischen Möglichkeiten e r k e n n e n ließ. Diese v e r w i r k l i c h t e er d a n n im »Qa'in«, n a h m u m seiner künstlerischen Zielsetzung willen jedoch k e i n e Rücksicht m e h r auf eine k o n s e q u e n t e philosophische G e d a n k e n f ü h r u n g i n n e r h a l b seines Gedichtes. D a I. P u t t e r eine P h ä n o m e n o l o g i e des Pessimismus bei Leconte de Lisle geschrieben h a t u n d k e i n e Studie ü b e r Leconte d e Lisles W e r k als literarische D a r s t e l l u n g des Pessimismus, bleibt uns die durchaus l o h n e n d e A u f g a b e , das dichterische Vorgehen Leconte d e Lisles zu u n t e r suchen u n d zu beobachten, w a s in seiner Dichtung aus einem ihm vorgegebenen, in d e r L i t e r a t u r b e r e i t s b e a r b e i t e t e n Stoff w i r d . Im R a h m e n seiner Studie bestand f ü r P u t t e r k e i n e Veranlassung, eine vollständige I n t e r p r e t a t i o n des »Qai'n« zu geben, u n d so bleibt vorl ä u f i g offen, ob nach einer solchen wirklich noch das P r o b l e m d e r »inconsistencies« Leconte d e Lisles, von denen bei P u t t e r i m m e r w i e d e r die R e d e ist, besteht u n d ob »the literal meaning«, von P u t t e r (S. 316) als »absurdity« angesehen zugunsten einer allein möglichen ü b e r t r a g e n e n Bedeutung, nicht v i e l m e h r — in einem t i e f e r e n Sinne allerdings — g e r a d e das beste G e s a m t v e r s t ä n d n i s des »Qai'n« ergibt. — Abschließend sei darauf hingewiesen, d a ß die A u s w a h l d e r hier-besprochenen monographischen Leconte de Lisle-Literatur allein u n t e r dem Gesichtspunkt der B e d e u t u n g d e r b e t r e f f e n d e n A r b e i t e n f ü r das Verständnis des Gedichtes »Qa'in« erfolgte 3 0 ). W e n n u n s e r Vorhaben, das Gedicht »Qa'in« zu i n t e r p r e t i e r e n , durch die bisher e r w ä h n t e L i t e r a t u r v e r h ä l t n i s m ä ß i g w e n i g g e f ö r d e r t w o r d e n ist, so sollte m a n d a r a u s keineswegs d e n Schluß ziehen, »Qa'in« h a b e in d e r Leconte d e Lisle-Forschung n u r geringe Beachtung g e f u n d e n . Es liegen g e r a d e zu diesem Gedicht in ungewöhnlicher Anzahl Q u e l l e n u n t e r s u c h u n g e n vor, von d e n e n h i e r n u r die g r ö ß e r e n A r b e i t e n k u r z c h a r a k t e r i s i e r t w e r d e n sollen; Zeitschriftenartikel f ü h r e n w i r j e w e i l s bei d e r I n t e r p r e t a t i o n d e r Textstelle an, zu d e r e n Verständnis sie durch den Nachweis d e r Q u e l l e Leconte de Lisles b e i t r a g e n . D i e ersten A n g a b e n ü b e r Q u e l l e n des »Qa'in« machte Joseph V i a n e y in seinem Buch »Les 50) Ein Überblick über die gesamte Leconte de Lisle-Forsdiung findet sidi im ersten Teil der Dissertation von Lore Lelleik, a. a. O. S. 7-39. 57

Sources de Leconte de Lisle«, das im J a h r e 1907 in Montpellier erschien. P a r a d o x e r w e i s e schien Y i a n e y das E r g e b n i s seiner Forschungen zu b e d a u e r n : [. . -1 le poème, pour nous satisfaire entièrement, ne manque-t-il pas un peu de spontanéité? Ne rappelle-t-il pas un trop grand nombre d'oeuvres antérieures, sans que la comparaison se fasse toujours à son avantage?31) U n t e r diesen U m s t ä n d e n zögern w i r nicht zu e r k l ä r e n , d a ß w i r durchaus nicht alle von Vianey a n g e f ü h r t e n Gedichte A. d e Vignys u n d Y. Hugos a u d i wirklich als Q u e l l e n Leconte d e Lisles f ü r seinen »Qai'n« b e t r a c h t e n ; so ist »Aymerillot« von Y. H u g o schwerlich zu d e n »sources d e Leconte d e Lisle« in seinem Gedicht »Qa'in« zu rechnen, u n d »La C o l è r e d e Samson« von A. de Vigny eignet sich ebenso w i e Hugos »Le Sacre de la Femme« in bezug auf gewisse Züge sehr wohl zu e i n e m Vergleich mit d e m »Qa'in«, beide sind a b e r n u r mit E i n s c h r ä n k u n g als Q u e l l e n des »Qa'in« zu bezeichnen. Zu diesen g e h ö r e n v i e l m e h r — u n d dieser Teil d e r Forschungsergebnisse J. Yianeys ist seither mit Recht von j ü n g e r e n A r b e i t e n ü b e r die Q u e l l e n Leconte d e Lisles f ü r den »Qa'in« stets ü b e r nommen w o r d e n — das M y s t e r i u m »Cain« von Lord B y r o n u n d das Gedicht »Le Déluge« von Vigny. W e i t e r v e r f e h l t V i a n e y nicht, den »Gefesselten P r o m e t h e u s « des Aischylos zu e r w ä h n e n . Audi »La Conscience« von H u g o w i r d in die Diskussion gebracht. D e m g e g e n ü b e r e n t h ä l t d e r A r t i k e l »Le >Qaïn< d e Leconte d e Lisle et ses origines littéraires« von H e n r i Bernes 32 ) aus d e m J a h r e 1911 vor allem zwei wichtige N e u e n t d e c k u n g e n : Leconte de Lisle k a n n t e von B y r o n auch »Heaven a n d Earth« u n d e r i n n e r t e sich d a r a n bei seiner eigenen Sintflutschilderung; eine a n d e r e , bis d a h i n noch nicht e r k a n n t e Q u e l l e Leconte d e Lisles ist das l i t e r a r i s d i u n b e d e u t e n d e , schon v o r 1900 völlig vergessene Prosa-Epos des Ludovic d e C a i l l e u x , »Le Monde A n t é d i l u v i e n , p o ë m e b i b l i q u e en prose«. Im ü b r i g e n w e r d e n die A n g a b e n , die B e r n é s in seinem f ü r j e d e Q a ï n I n t e r p r e t a t i o n u n e n t b e h r l i c h e n A r t i k e l macht, durch s p ä t e r e U n t e r suchungen meist n u r noch bestätigt, selten v e r v o l l s t ä n d i g t : »La D i v i n e Epopée« von A. Soumet, die verschiedenen P r o m e t h e u s dichtungen z u r Zeit Leconte d e Lisles, Miltons »Paradise Lost« in französischer Übersetzung, ein b e r ü h m t e s K a p i t e l d e s P . - J . P r o u d h o n , 31) J. Vianey, Les Sources de Leconte de Lisle, Montpellier 1907, S. 292. 32) H. Bernés, Le »Qaïn< de Leconte de Lisle et ses origines littéraires, RHLF 18 (1911) S. 485-502. 58

weitere Hugo-Gedichte und nicht zuletzt »La Chute d'un Ange« von A. de Lamartine. — In seiner zweiten Untersuchung »Les Poèmes Barbares de Leconte de Lisle« 33 ) bringt J. Yianey über sein erstes Buch und den Artikel von H. Bernes hinaus nur wenig Neues. Zu erwähnen wäre der Hinweis auf das Satansgedicht von A. Le Poittevin34), auf »LaTristesse du Diable« von Leconte de Lisle selbst und auf den Midrasch Genesis rabba. Hier wird zum ersten Male in der Sekundärliteratur zu einer modernen Bearbeitung des Kainstoffes ein alt jüdischer, also vorchristlicher Text als mögliche Quelle angeführt 35 '. — Die neueste, gründlichste und umfangreichste Quellenuntersuchung, auf die sich eine Interpretation des »Qaün« stützen kann, ist ein Standardwerk für die gesamte Leconte deLisleForschung: A. Fairlies Buch »Leconte de Lisle's Poems on the Barbarian Races« 36 '. Es bietet eine sorgfältige Sichtung des reichen Quellenmaterials zum »Qaün« und eine sehr selbständige Beurteilung der Bedeutung, welche die verschiedenen Quellen für Leconte de Lisle gehabt haben. So wird von A. Fairlie besonders kritisiert, daß »Le Monde Antédiluvien« des Ludovic de Cailleux bisher von der Forschung nicht hinreichend gewürdigt worden sei, obwohl dieses Werk die Hauptquelle des »Qaün« darstelle. Analog dieser Forderung, einer bereits bekannten Quelle Leconte de Lisles größere Bedeutung beizumessen, beansprucht Irving Putter »a generous share in the formation of one of Leconte de Lisle's most imposing compositions«37) für Lamartine. Der amerikanische Leconte de Lisle-Spezialist lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das Gedicht »Le Désespoir« aus den vor Byrons »Cain« erschienenen »Méditations poétiques« und auf »La Mort de Jonathas«, ein Fragment aus Lamartines biblischer Tragödie 33)

Paris 1933. In der Reihe: Les Grands Événements littéraires.

34)

»Satan«, erschienen 1836 in der Revue de Rouen et de Normandie.

35) Es wird allerdings nichts Genaueres darüber gesagt, ob und wie der Text Leconte de Lisle bekanntgeworden sein könnte. Daß der Dichter direkt oder indirekt von dessen Inhalt wußte, ist bei Leconte de Lisles Interesse für die orientalistische Forschung seiner Zeit sehr wahrscheinlich. — Vorchristliche jüdische Exegesen und Sagen zu Gen. 4 werden im Zusammenhang mit der Kainliteratur zum ersten Male bei A.Graf (a.a.O.) im Jahre 1908 angeführt. 36)

Cambridge 1947.

37) I. Putter, Lamartine and the Genesis of " Q a ï n " , Modern Language Q u a r t e r l y 21 (1960) S. 364.

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»Saiil«, welches unter der Nummer XII in die »Harmonies poétiques et religieuses« aufgenommen wurde. As far as the thought of the poem is concerned (with the exception of the denouement), Leconte de Lisle did not need to seek out brilliant effects here and there; the germ of the entire idea of "Qa'in" is already contained in the two pieces by Lamartine [. . .]38).

P u t t e r wendet sich damit durchaus nicht gegen den bekannten Einfluß Byrons auf Leconte de Lisle, sondern äußert Zweifel an der Bedeutung Proudhons f ü r den »Qa'in«, betont jedoch gleichzeitig, P r o u d h o n könne sehr wohl ein guter Lamartine-Leser gewesen sein. G e r a d e diese Überlegungen P u t t e r s stimmen nachdenklich. Ist nicht der Protest gegen eine offensichtlich gottgewollte »condition humaine«, verstanden als Lebenmüssen, Leiden, Schuldigwerden u n d Sterben, Allgemeingut fast aller Dichter und Schriftsteller der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts? Diese weit verbreiteten Vorstellungen erhalten ihre f ü r einen bestimmten Autor charakteristische F ä r b u n g (und vor allem ihre Bedeutungsfülle!) doch erst dadurch, daß sie einer Gestalt wie Saül oder Qa'in in den Mund gelegt werden, weil in den W o r t e n des jeweiligen Sprechers dessen ganze Geschichte mitschwingt. Das gilt auch dann, wenn, wie in »Le Désespoir«, der Dichter selbst Sprecher der gegen Gott gerichteten Proteste ist: er erscheint dem Leser dann als ein an der »condition humaine« leidender Mensch seiner Zeit, der vergeblich nach Gerechtigkeit und Glück f ü r die Menschheit ausschaut. D e r Dichter w i r d zum Sprecher einer sich gegen Gott auflehnenden Menschheit — eine hochpoetische Rolle, die w i e d e r u m Argumente und Formulierung seines Protestes prägen wird! Wenn Sprecher und Aussage in dieser Weise zusammengehören, k a n n man das Gedankengut des Leconte de Lisle-Gedichtes nicht von der Gestalt Q a ï n s abstrahieren. D a n n w ü r d e seine Empörung ü b e r den Status des Menschen und seine Kritik an der Gottheit ihren typischen C h a r a k t e r verlieren und sich von dem entsprechenden Gedankengut bei Lamartine k a u m unterscheiden. Insofern enthalten der Verzweiflungsausbruch Sauls bei Jonathans Tode und das Gedicht »Le Désespoir« zwar Bilder und Gedanken, die in Leconte de Lisles »Qa'in« eingegangen sind, nicht aber »the germ of the entire idea of >QaünQa"inMéditations< et que >JocelynHarmoniesla Chute d'un Angela Chute d'un AngeSépulcre du Maudit, la vengeance est prochaines a magnificent piece in the O l d T e s t a m e n t s t y l e , which 74) Qaïn, V. 164. Vgl. Gen. 7, 9. 75) Vgl. dazu A. Fairlie, a. a. O. S. 257: ">La Vigne de Naboth< and >Le Talion< leave us in no doubt as to Leconte de Lisle's intimate and detailed knowledge of the Bible and his using it to his own ends, [...]." — Zum zeitlichen Verhältnis von »Qai'n« und »La Vigne de Naboth« siehe S. 80 unserer Arbeit. 76) Jer. 27, 2 ff. Vgl. Jer. 28, 10-14. 77) Vgl.das über den Rahmen des »Qaïn«Gesagte (S.65ff.), außerdem eine Bemerkung Leconte de Lisles, die sich auf Hes. 37 bezieht. Sie steht in der »Préface des Poèmes et Poésies«, »Derniers Poèmes«, a. a. O. S. 225. 78) Hes. 4 f.: auf einem Ziegelstein soll der Prophet die zukünftige Belagerung darstellen. Er soll die Haare absdineiden, aufteilen, verbrennen und zerstreuen, um so das Schicksal des Volkes zu zeigen. Vgl. audi Hes. 12: der Prophet soll mit seinem Wandergerät aus seinem Hause ziehen, um dem Volk Israel die bevorstehende zwangsweise Auswanderung anzukündigen. Beachte V. 6c und 11.

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Leconte de Lisle manifestly owes to the prophecies of Noé79) in the >Monde antédiluvien*. For these Cailleux has drawn upon the Bible much as Leconte de Lisle himself was to do in >La Vigne de Naboth< or >Le Talion[...] j'entends l'abîme impatient crier, / Et le gouffre t'attire, ô race carnassière [...].« In beiden Fällen bedeutet der Abgrund, der Schlund der Totenwelt, einen Hinweis auf das Versinken der Stadt in das Chaos (vgl. abîme in Gen. 1,2!), ein Sterben aller Menschen. 85) Genau dasselbe hat A. Fairlie bereits selbst festgestellt — für »La Vigne de Naboth«. Sie hebt hervor: "The very form of the Biblical requisitory is followed [. . . ] " (a. a. O. S. 280, vgl. S. 281). 86) Im Erstdruck des »Qaïn« heißt es: ô Bêtes. 87) Erschienen in der Reihe »Beiträge zur evangelischen Theologie«, Theologische Abhandlungen, hrsg. von E.Wolf, Bd. 31, München 1960. Siehe besonders den Abschnitt S. 70 ff.: »Das prophetische Wort als Botenwort«. 88) Das Beispiel stammt von Wingren (Westermann, a. a. O. S. 74). 81 6 Pohle, Qaïn

am Tempeltor in Jerusalem"). Für seine Botsdiaft hat der Cavalier zwei Adressaten, die Stadt Hénokhia und Qaïn selbst, denen er jeweils die für sie bestimmte Botsdiaft überbringt 90 ). Er beginnt seine Botsdiaft wie ein Wehe-Wort, für das man als formales, nidit inhaltliches Vorbild u. a. Isai'e V anführen könnte: Malheur à ceux qui font en sorte que leurs maisons se touchent, qui d'un champ rapprochent un autre champ, jusqu'à ce qu'il n' y ait plus de place et que vous restiez vous seuls établis au milieu du pays 9 1 ).

Die Bezeichnung »Wehe-Wort« bezieht sich nicht etwa auf ein nur als Ausruf verstandenes »malheur!«, sondern benennt eine feste literarische Form 92 ', die in der Bibel angewandt wird, und zwar von den Propheten93). Das Wehe-Wort ist die häufigste Variante des prophetischen Gerichtswortes, das aus Anklage und Ankündigung (der Strafe) besteht. Zu den Charakteristika des Wehe-Wortes gehört in erster Linie die Einleitung der Anklage durch das »Wehe« (franz. malheur). Aus den in der Anklage genannten Taten geht hervor, wer der Angeklagte ist, wenn nicht gar sein Name ausdrücklich genannt wird94). In enger grammatikalischer Verbundenheit mit dem »Wehe« wird das Handeln eines bestimmten Menschen (oder des Volkes Israel) angeführt, das den Inhalt der Klage ausmacht. Das vollzieht Leconte de Lisle im Rahmen seiner Dichtung nadi. — Malheur

à toi, m o n c e a u

Qaïn, Qaïn, Q a ï n ! Dans la nuit Dès le ventre d'Héva maudit et M a l h e u r à toi par qui B u t , plein d'horreur, l e s a n g Pour les siècles, au fond de ton

d'orgueil,

Hénokhia!

sans aurore, condamné, l e s o l e i l nouveau-né q u i f u m e et c r i e e n c o r e cœur forcené!

M a l h e u r à toi, d o r m e u r s i l e n c i e u x , c h a i r vile, Esprit que la vengeance éternelle a sacré, T o i q u i n ' a s j a m a i s cru, ni j a m a i s espéré! (V. 168. 186-193) 89) l . K ö . 2 1 , 1 8 ; Jer.7,2. 90) Vgl. unsere Arbeit, S. 83. 91) Isaïe V, 8. 92) Zu Vorkommen und Struktur der Wehe-Worte vgl. Westermann, a. a. O. S. 137-142. 93) Jes. 5, 8 u. 10, 1 ; Jes. 28-31 ; Hab. 2 und öfter. 94) Z. B. Jer. 28, 12-17 (besonders V. 13 u. 15). Hes. 17, 11-21 (gegen Zedekia). Vgl. hierfür und zum Folgenden (nicht inhaltlich, sondern nur formal) Isai'e XXX, 1-2.

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Die Verse des zweiten malheur-Rufes zeigen, wie Leconte de Lisle völlig ohne Namensnennung auskommen könnte, und doch wüßte der Leser sofort, um wen es sich handelt 95 ). Man kann das dreimalige »malheur à« als bloßes rhetorisches Mittel werten, das Leconte de Lisle erfunden haben würde, wenn er es nicht vorgefunden hätte. Immerhin gehörte schon bei den alttestamentlichen Propheten zur Struktur des Wehe-Wortes, daß es in Reihen auftrat 96 ). Auch im weiteren Aufbau der prophetischen Botschaft des Cavalier folgt Leconte de Lisle seinem alttestamentlichen Vorbild. Die Anklage gliedert sich in zwei Teile, im ersten wird eine allgemeine, zusammenfassende Beschuldigung ausgesprochen, die dann im zweiten Teil entfaltet wird in der Nennung konkreter, einzelner Vergehen. Man vergleiche dazu Isaïe XXX, 1: »[...] ils accumulent péché sur péché« und Isaïe XXX, 2: »Ils se mettent en route pour l'Égypte, / sans avoir consulté ma bouche, / afin de se réfugier sous la protection de Pharaon / et de se mettre à l'abri dans l'ombre de l'Égypte.« Dem entspricht im »Qaïn«: in Vers 168 allgemeine Anklage wegen Hochmuts, konkretisiert in Vers 169-170: das »Vergehen« besteht darin, die Stadt des von Gott verworfenen Rebellen zu sein. Nach Vers 187 ist Qaïn der längst Verdammte, dem also grundsätzlich Unheil zukommt, konkret verurteilt wird er aber wegen Mordes (V. 188 f). Parallel dazu wird das Schema in der nächsten Strophe noch einmal durchgeführt. Audi die Unheilsankündigung ist zweigliedrig gebaut 97 ). Bei den alttestamentlichen Propheten enthält ihr erster Teil das Eingreifen Gottes (in der ersten Person) und ihr zweiter Teil zeigt dessen Folgen (meist in 95) Daß zwei Zeilen vorher Qaïn feierlich bei seinem Namen gerufen wird, ist dadurch bedingt, daß der Cavalier sich zunächst an Hénokhia gewendet hat, jetzt aber Qaïn persönlich anreden will. Es wird also einfach der Wechsel der angeredeten Person betont. 96) Sechs Worte in Jes. 5, sechs (sieben) Worte in Jes. 28-31, fünf in Hab. 2, und so an weiteren Stellen (nach Westermann, a. a. O. S. 138). 97) Ihr geht bei den Propheten des Alten Testamentes die Botenformel voraus, mit der ein Bote die Bötschaft, die er anschließend ausrichtet, beglaubigt. Solche Botenformeln sind: »Darum (So) spricht Jahwe« (1. Sam. 2, 30; 1. Kö. 21, 19), » D e n n so spricht Jahwe« (Jer. 22, 11 u. ö.). Sie lauten im Französischen: »C'est pourquoi, oracle de Iahvé, [...]« (I Samuel II, 30), »Ainsi a parlé Iahvé« (I Rois XXI, 19), »C a r ainsi a parlé Iahvé« (Jérémie XXII, 11). Man beachte, daß Leconte de Lisle die Botenformel in abgewandelter Form zwar nicht im »Qai'n« verwendet, wohl aber in »La Vigne de Naboth«, Teil III, Str. 3 u. 13, »Poèmes Barbares«, S. 32 f.

der dritten Person) 68 ). D e m entspricht bei Leconte de Lisie die Ankündigung der Sintflut (Str. 35) u n d das E r w ä h n e n ihrer Ausw i r k u n g e n (Str. 36-37). Wo aber steht eine Unheilsankündigung an Qaiin? Etwas Derartiges e r w a r t e t man als zweiten Teil des persönlich an Q a i n gerichteten Wehe-Wortes. Die Verse 186-190 und 191-193 sind jeweils nach dem Schema »malheur ä [...]« mit folgender zweigliedriger Anklage gebaut. Erst die Verse 194-195 enthalten die Umschreibung einer Gerichtsankündigung an Qai'n: Plus heureux le chien mort pourri hors de ta ville! Dans ton crime effroyable Iahvéh t'a muré8®).

Hier wird Qai'n ganz allgemein als im äußersten Maße »unselig« bezeichnet (der Vers 194 ist j a eine umgekehrte Seligpreisung), wenn sogar ein toter H u n d besser d a r a n ist als er. Ebenso allgemein ist der zweite Satz, der eigentlich n u r die Ausweglosigkeit von Q a i n s Lage beschreibt: er ist nach Gottes Willen ein f ü r allemal festgelegt auf seine Untat, sein Schicksal ist unlöslich v e r k n ü p f t mit ihr. Eine k o n k r e t e Aussage, etwa über Qai'ns Tod, enthalten diese Verse nicht100). Das w i r d dem Leser zunächst gar nicht auffallen. Er bezieht einfach die Sintflut, die j a dem Begriff nach den Untergang aller lebenden Wesen h e r b e i f ü h r t , auf Qai'n u n d nimmt an, bei Leconte de Lisie sterbe Qa'in in der Sintflut. Um so eindrucksvoller ist es dann, wenn nach dem Versinken der höchsten Bergspitzen in der F l u t Qa'in gigantisch auf die Arche zuschreitet 101 ). Stirbt nun bei Leconte de Lisie Qai'n in der Sintflut oder nicht? 98) Westermann, a. a. O. S. 122 (in bezug auf die Geriditsankündigung gegen Israel, vgl. aber auch die Geriditsankündigung an Einzelne: S. 107-109). Zu den »Folgen des Eingreifens Gottes« gehört auch die Reaktion (Schadenfreude, teilnehmende Erkundigung) der Nichtbetroffenen (Menschen, Tiere, Landschaft) auf eine derartige göttliche Strafaktion. Leconte de Lisle hat das im »Qa'in« zweimal geschildert: »La face du désert dira: Qu'est devenue /' Hénokhia, semblable au Gelboé pierreux?« (V.l?6f.) und: »Et l'aigle et le corbeau viendront, disant entre eux: / Où donc se dressait-elle autrefois sous la nue, / La Ville aux murs de fer [...]« (V. 178-180). Vgl. dazu Nahum 3, 19 u. Hes. 26, 16 u. Jer. 19, 8 und: »Je ferai de toi un objet d'épouvante, tu ne seras plus, on te cherchera, mais on ne te trouvera plus jamais, oracle d'Adonaï Iahvé« (Ézéchiel XXVI, 21). 99) Im Erstdruck des »Qaün« wird der Gottesname hier und an allen folgenden Stellen »lahveh« geschrieben. 100) Eine solche hätte aber an diese Stelle gehört, wenn Leconte de Lisle dem alttestamentlichen Vorbild weiter hätte folgen wollen: 1. Kö. 20, 42 — 2. Kö. 1,6 — Jer. 28, 16 — 29, 21 — Hes. 17, 16. 101) Qai'n, Str. 99.

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Vielleicht hat der Dichter diese Frage in einem bestimmten Sinne unbeantwortet gelassen. Das Gedicht behauptet und beschreibt ja den Sieg des »immortel Ennemi / D'Iahvèh«102), aber ob das konkret als leibliches Überleben Qaïns in der Sintflut gefaßt werden kann, ist nicht eindeutig auszumachen. Nicht ohne Grund ist das Unheil, das über die Stadt Hénokhia und ihren Bauherrn Qaïn hereinbrechen soll, gerade die Sintflut. Von einem Untergang Hénokhias wird in der Bibel nicht gesprochen. So wie er die Stadt geschildert hat, hätte Leconte de Lisle sie auch untergehen lassen können nach dem Muster Sodoms und Gomorras, wie L. de Cailleux es in »Le Monde Antédiluvien« getan hatte103). Aber in der Bibel, die den Kainstoff in seinen konstitutiven Zügen geschaffen hat, ist das Sintflutgeschehen noch nicht mit der Geschichte Kains verbunden. Dennoch ist die Beziehung zwischen Kain und der Sintflut sehr alt. Dadurch, daß die jüdische Bibelexegese in enger Verbindung mit der Volkssage den Kainstoff an den Stellen erweiterte, an denen die Erzählung aus Gen. 4 Lücken läßt oder abbricht, entstand neben anderen die Version von Kains Tod in der Sintflut104). Sie beruht auf einer Deutung von Gen. 4,15 im Sinne einer »Verschiebung105) der Strafe Kains sieben Geschlechter108) hindurch«107). Abgesehen von der spitzfindigen Rechnung stellt sich die Frage, ob Kain also sieben Geschlechter hindurch bis zur Sintflut 102) Ebda. V. 493 f. 103) A. a. O., Test. XXXe, S. 327. 104) Sie findet sich in Gen. r. XXII, 12, XXXII, 5; Qohelet r. zu 6, 3; Exod. r. XXXI, 17 (speziell auf diese Texte verwies schon Vianey, Les Poèmes Barbares de Leconte de Lisle, a. a. O. S. 141), Test. Benj. (Kain zur Zeit der Sintflut verjagt = Leben beendet). Nach: V. Aptowitzer, a.a.O. S. 57 ff. 105) »Verschiebung der Strafe an Kain« ersetzt das »wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden« (Gen. 4,15). 106) V. Aptowitzer, a. a. O. Kap. VI, zeigt, wie man von »siebenfältig« auf »sieben Geschlechter« kommt: »siebenfach = Zahl sieben = etwas, das das siebente in der Reihe ist = das siebente Geschlecht oder der siebente in der Folge der Geschlechter«. Die sieben Geschlechter werden folgendermaßen gezählt: Wenn Seth und Kain je als erstes Geschlecht gezählt werden, so ist das achte Geschlecht der Sethiten das des Noah und der Sintflut, das siebente Geschlecht der Kainiten das des Lamech, dessen Frauen nach Gen. r. für ihre Kinder (= das achte Kainitengeschlecht) die Sintflut fürchten. 107) Aptowitzer, a. a. O. S. 70. Nach ihm ist dieser Zusammenhang ebenfalls vorausgesetzt bei Ephraem Syrus, Erklärungen der Genesis III (Op. I 26 D, Sämtliche Werke der Kirchenväter XXVII, S. 157-158).

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gelebt hat. Ephraem Syrus w ü r d e dies wohl bejahen, da ihm zufolge beim Tode Kains sieben Generationen der Nachkommenschaft Kains umgekommen sind1®8). Aber f ü r jüdisches D e n k e n ist es gleichbedeutend, ob man am eigenen Leibe oder in seinen Nachkommen gestraft wird, ob also Kain selbst sieben Generationen nach dem Tode Abels in der Sintflut umkommt oder die siebte Generation seiner Nachkommen. Weswegen wird nun eigentlich diese Strafe verhängt? Die Sintflut kommt ü b e r Hénokhia, weil diese Stadt »Ville du Vagabond« und »Sépulcre du Maudit« ist. Die Beschreibung Hénokhias, die der Rede des Cavalier vorausgeht, enthält einige P u n k t e (Stadt der Engelehen, cité monstrueuse des Mâles, A n t r e des Violents), die es im Rahmen biblischer Anschauungen begreiflich erscheinen lassen, daß die Stadt sich Gottes Zorn zuzog. Aber die in der Rede des Cavalier enthaltene Anklage nimmt darauf nicht Bezug. Sie nimmt n u r das eine auf: Hénokhia ist die Stadt Qaïns 109 ) — d a r u m muß sie untergehen. Und was wird Q a ï n vorgeworfen? Natürlich der Brudermord. Aber zunächst einmal wird von ihm gesagt: [. . .] Dans la nuit sans aurore, Dès le ventre d'Héva maudit et condamné, [. . .]110).

D a r a u s k a n n man ihm nun wirklich keinen Vorwurf machen. Aber letztlich t r i f f t ihn das vom Cavalier angekündigte Unheil doch, w e i l er der von Kindheit an Verfluchte ist111). Sein Leben ist ein 108) Ephraem Syrus, Erklärungen der Genesis III, a. a. O. S. 161. Zitiert bei Aptowitzer, a. a. O. Kap. VI. 109) Noch vor der Rede, des Cavalier wird z. B. anstelle von Qai'n dessen Stadt angeredet und von ihr gesagt, was speziell auf Qa'in zutrifft: »Qui ne connus jamais la peur ni le remords, [. . .]« (V. 133). H6nokhia ist gesehen als die »corporate personality« Qai'ns! 110) Qai'n, V. 186-18?. — Es wird also bei Leconte de Lisle im Unterschied zu Gen. 4 die Haltung, die Gott Qai'ns Opfer gegenüber einnahm, in Qai'ns Kindheit zurückprojiziert. 111) Die Behauptung, daß Qai'n von Geburt an verflucht sei, findet sich so nur bei Leconte de Lisle, biblisch ist sie jedenfalls nicht. U. W. gibt es in der Bibel überhaupt nicht den Fall, daß Gott einen Menschen von Geburt an verworfen hätte. Häufiger ist dagegen die umgekehrte Feststellung, daß Gott einen Menschen schon vor seiner Geburt erwählt und für eine bestimmte Aufgabe ausersehen hat: Jer. 1, 5 — Jes. 49, 1 u. 5. Eine solche Aussage könnte Leconte de Lisle ins Negative verkehrt haben, um Gottes Ungerechtigkeit gegen Qa'in stärker hervortreten zu lassen und um die düstere Ausweglosigkeit in Qai'ns Schicksal zu zeigen.

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L e b e n d e r Aussichtslosigkeit, eine »Nacht o h n e Morgenröte« 1 1 2 ). In dem N e b e n e i n a n d e r d e r Verse 187 (schicksalhaftes Verfluchtsein) u n d 188 f. (die d a r a u s erwachsene s t r a f b a r e Tat) liegt k e i m h a f t die s p ä t e r e G e g e n k l a g e Qai'ns an Gott. A u d i das, w a s in d e r Bibel d u r c h a u s eine s t r a f b a r e H a n d l u n g (bzw. Unterlassung) ist 113 ', das »Toi q u i n'as j a m a i s cru, ni j a m a i s espéré!« w i r d in Leconte d e Lisles Sicht zu einem unsinnigen V o r w u r f , w e n n u n m i t t e l b a r v o r h e r Qai'n bezeichnet w i r d als »Esprit q u e la v e n g e a n c e éternelle a sacré« (V. 192 f.). Es d ü r f t e f ü r einen Menschen, der von j e h e r d a z u bestimmt ist, O p f e r d e r göttlichen Rache zu werden 1 1 4 ), d e r sozusagen zu J a h w e s G e g n e r »geweiht ist« 115 ), wesensmäßig u n d schicksalh a f t unmöglich sein, G l a u b e n u n d H o f f n u n g zu h a b e n , also k a n n e r auch nicht wegen m a n g e l n d e n G l a u b e n s b e s t r a f t w e r d e n . D i e schwerwiegende A n k l a g e ist von Leconte de Lisle schon in sich ad a b s u r d u m g e f ü h r t , noch ehe Q a ï n mit seiner Selbstrechtfertigung a n t w o r t e t . — Bei einem Vorwurf allerdings w i r d Q a ï n b e w u ß t d a r a u f verzichten, die Schuld an einen D r i t t e n w e i t e r z u g e b e n o d e r sich sonst i r g e n d w i e zu rechtfertigen. In d e r 37. S t r o p h e w e r d e n Qai'ns Nachkommen als die Rasse dessen bezeichnet »qui n e sut ni fléchir ni prier!« Dieser Vers 185 n i m m t n u r vorweg, w a s notw e n d i g aus V. 193 (Qaïn h a t niemals geglaubt u n d gehofft) folgen m ü ß t e . W e n n Qai'n in seiner b e v o r s t e h e n d e n R e d e auf das C h e r u b e n g e s p r ä c h kommt, w i r d e r sich mit Stolz d a r a n e r i n n e r n , d a ß er das N i e d e r k n i e n als einen A u s d r u c k d e r U n t e r w ü r f i g k e i t von sich gewiesen habe. In d e r B e m e r k u n g des C a v a l i e r , Q a ï n h a b e 112) Was gegenüber Gen. 4 eine Abweichung ist, denn die Ablehnung des Opfers ist keineswegs eine grundsätzliche Absage Gottes an Kain. Gott spricht ja hinterher noch mit ihm, warnt ihn vor Sünde, hält also die Reaktion Kains auf seine (Gottes) Entscheidung für eine Angelegenheit von Kains freiem Willen — und nicht für eine unvermeidliche Konsequenz aus dem vorher Geschehenen. Vgl. G. von Rad, Das erste Buch Mose [. . .], a. a. O. S. 85. 113) Apok. 21,8 — Jes. 7,9. 114) Qaïns Rebellion wird von Leconte de Lisle schon in den Versen 169-170 auf die göttliche Prädestination zurückgeführt: »[. ..] Vagabond révolté dans ses langes, i Que le Jaloux, avant les temps, répudia!« Der erste der beiden Verse ist im Sinne des Cavalier durchaus ein schwerer Vorwurf, eine Anklage, auf welche die anzukündigende Strafe folgt. Im Sinne Leconte de Lisles liegt hier eine ungeheure Ungerechtigkeit Gottes, die alle Anklagen gegenstandslos macht. 115) Vgl. auch: »Dans ton crime effroyable Iahvèh t'a muré« (Qaïn, V. 195). 87

sich nie zu einer Beugung (seil, unter Gott) oder gar zu einem Gebet verstanden, wird also ein charakteristischer Zug der Kaingestalt Leconte de Lisles erwähnt. Aber nicht nur auf Eigenschaften Qaïns, auch auf bestimmte Themen der Rede Qaïns wird vom Dichter durch die Rede des Cavalier vorbereitend hingewiesen. Die Überleitung von der Rede des einen zu der des anderen bilden die Strophen 40-45. Jetzt endlich, nach neununddreißig Strophen, die den Leser in einem Zustand gespannter Erwartung gehalten haben, läßt Leconte de Lisle den Titelhelden seines Gedichts auftreten. Von dem Ruf des Cavalier de la Géhenne geweckt, erhebt sich Qai'n aus seinem Todesschlaf auf dem Grabhügel. Der Kainstoff im engeren Sinne ist von den Dichtern sehr viel seltener durch ein Wiederauftreten des schon gestorbenen Kain erweitert worden als etwa durch eine Darstellung von Kains Tod. In der Komposition des »Qai'n« hat Leconte de Lisle das Erwachen des toten Brudermörders an einer besonders wichtigen Stelle verwendet: Mit dem Auftreten des längst gestorbenen, aber dennoch mitten in seiner Stadt gegenwärtigen Qai'n endet der erste Teil des Gedichts, in dem die Handlung überwiegt, und es beginnt der zwei Drittel des Gedichts umfassende, ganz aus der Rede des Brudermörders bestehende zweite Teil, für den das Wiederauftreten des toten Qai'n die Grundsituation bleibt. Woher könnte Leconte de Lisle eine Anregung zu dieser Szene gekommen sein? A. Fairlie nennt als Leconte de Lisles Quelle »Le Monde Antédiluvien«11"). Cailleux zeigt in der Tat eine Art Erwachen des toten Kaïn, der sich wie ein Gespenst aus seinem steinernen Grabmal erhebt und stumm ein paar Handbewegungen macht. Ein Sprechen des toten Brudermörders jedoch findet sich vor Leconte de Lisles Gedicht nur in einer Kainszene, die G. de Nerval geschaffen hat 117) . Dieser schildert in seiner »Histoire de la Reine du Matin et de Soliman, Prince des Génies« 118 ) eine Wanderung, die der Tempelbaumeister Adoniram unter Führung seines Vorfahren (!) Tubal-Kaïn durch die unterirdische Welt macht. 116)

A. Fairlie, a. a. O. S. 250.

117) Einen ersten Hinweis darauf gab P. Jourda mit seiner Notiz »Une Source possible de >QaïnPhalange< à laquelle il collaborait, ce fut une longue étude de Gérard de Nerval [. ..]«. 122) Und noch im gleichen Jahre als tirage à part bei E. Prost in Paris (nach: »Gérard de Nerval«, Étude de Jean Richer [. ..], Paris 1950, S. 205 [Poètes d'Aujourd'hui 21]). 123) Vgl. seinen bereits angeführten Artikel »Byron en France après le romantisme: Le byronisme de Leconte de Lisle«, Revue de Littérature Comparée 5 (1925) S. 287. 89

Abschnitt über Kain ist, daß er den ganzen Kainstoff 1 "* in eine einzige Szene faßt, eine Szene, die es vor Nerval im Kainstoff nicht gegeben hat 125 ). D i e Konzentration auf so engem Raum war dadurch bedingt, daß Nerval in erster Linie die Geschichte der Königin aus Morgenland und des Baumeisters Adoniram erzählen wollte, in welche der Kainstoff als Enklave aufgenommen wurde. Nerval läßt Kain in seiner Rede auf sein Leben zurückblicken. So entsteht eine völlig neue Anordnung des Stoffes: »der tote Kain erzählt sein Leben«! Bis zu Nerval wurde über Kains Leben nie v o n ihm selbst berichtet, sondern vom Dichter, und zwar in der Reihe der Urgeschichten des Alten Testaments 126 ). In einem anderen Zusammenhang hat u. W. vor Nerval keiner den Kainstoff bearbeitet 127 ). Weitaus am häufigsten war die dramatische Bearbeitung des Stoffes, in der die Hauptereignisse dem Zuschauer direkt und nicht w i e bei Nerval in einer Rückblende gezeigt wurden. D i e Nervalsche Anordnung des Kainstoffes hält man deswegen in Leconte de Lisles Gedicht so leicht für dessen eigene Erfindung, weil die prophetische 124) Hier ist der Kainstoff im engeren Sinne gemeint, der Opfer, Brudermord, Verurteilung durch Gott, Kainszeichen, Städtebau, Tod, ein Wiedererwachen nadi dem Tode und die Erfindung der Künste durch Kains Nachkommen umfassen kann. Erst im weiteren Sinne sind dazu zu rechnen die Kainiten-Traditionen, soweit in ihnen nicht mehr Kain selbst im Mittelpunkt steht, sondern jeweils ein einzelner Kainsnachkomme, etwa Lamech oder Henoch. 125) Vielleicht findet sie sich in den Freimaurertraditionen, in denen ja das Kainsgeschlecht eine wichtige Rolle spielt. Es ist aber auch gut denkbar, daß Nerval die Szene erfunden hat, um die lange Beschreibung der Wanderung Adonirams durch die unterirdische Welt aufzugliedern. Außerhalb der Rede Kains wird bei Nerval zwar allerlei über die Kainiten und ihre aktive Feindschaft gegen Adonaï, den Gott Solimans (= Salomo), gesagt, jedoch nichts über Kain selbst. 126) Vgl. u. a. die Weltchronik des Rudolf von Ems und die des Jansen Enikel (beide aus dem 13. Jahrhundert), die Chronik (1400) des Jakob Twinger von Königshofen, besprochen bei A. Brieger, Kain und Abel in der deutschen Dichtung, Berlin-Leipzig 1934, S. 5 f., und aus der französischen Literatur die »Seconde Sepmainec (1584) von Guillaume De Salluste Sieur Du Bartas. — In »Le Monde Antédiluvien« erzählt Méthousaël aus Hénokhia der Familie Noahs das Leben Kains im Rahmen der »Histoire du Genre Humain« (Test. Ville ff.). 127) Wenn die Erzählung vom Brudermord bei A. d'Aubigné auch als Exemplum dient in einer antikatholisch inspirierten Dichtung und in diesem polemischen Zusammenhang eine allegorische Bedeutung erhält, so wird sie doch innerhalb einer Reihe von Geschichten aus Gen. 1-11 erzählt. 90

Botschaft des Cavalier eine Antwortrede Qaïns geradezu herausforderte. Leconte de Lisle hat die Nervalsche Anordnung des Kainstoffes fugenlos in einen ganz anders gearteten Rahmen einbauen können, weil sie den inneren Anforderungen seines Gedichtes in idealer Weise entsprach. Dagegen ist in der Schilderung von Qaïns Erwachen aus dem Todesschlaf und der Beschreibung seines Äußeren kein Einfluß Nervals auf Leconte de Lisle zu beobachten. Auch das Gespenstische, das dem toten Kaïn bei L. de Cailleux anhaftet, findet sich bei Qaïn nicht wieder: Alors, au faîte obscur de la cité rebelle, Soulevant son dos large et l'épaule et le front, Se dressa lentement, sous l'injure et l'affront, Le Géant qu'enfanta pour la douleur nouvelle Celle par qui les fils de l'homme périront (V. 196-200). Puis il regarda l'ombre et le désert antique, Et sur l'ampleur du sein croisa ses bras velus (V. 204 f.).

Aus der Beschreibung Hénokhias und der Qaïnsn achkommen hatten wir ein indirektes Bild der Kaingestalt Leconte de Lisles gewonnen. Die soeben zitierten Verse zeigen, daß Qaïn diesem Bilde Zug um Zug entspricht. Er ist der Rebell, der Riesenhafte, der Angefeindete, der zum Leiden Geborene und durch das Schicksal seiner Eltern Belastete 128 ). Seine Bewegungen sind Ausdrude seines Selbstbewußtseins und seiner inneren Überlegenheit. Der Vers »Et sur l'ampleur du sein croisa ses bras velus« ist beinahe wörtlich aus »La Vigne de Naboth« übernommen1®9), wo er sich auf den Propheten Elia bezieht. Aber die Verwandtschaft der Gestalten Qaïns und Elias ist durchaus nicht nur eine äußerliche130). Es heißt von Qaïn: Ses yeux, hantés d'un songe unique, et grands ouverts, Contemplaient par delà l'horizon, d'âge en âge, Les jours évanouis et le jeune univers (V. 208-210).

Durch dieses Schauen wird Qaïn als eine Sehergestalt gekennzeichnet. In diesen Versen kündigt sich die gewaltige Vision vergangenen und zukünftigen Geschehens an, aus der Qaïns Antwort an Gott besteht. Ist Qaïn also eine Parallelgestalt zu Thogorma, 128) Teil des 129) poitrine 130)

Vgl. dazu jeweils die entsprechenden Verse aus dem einleitenden Gedichtes: 136-140.169.185. — 60.63. 66-70.132. — 170.187. Dort heißt es a. a. O. S. 30: »Croisant ses bras velus sur sa large [.. .]«. Vgl. zu Qaïn, V. 206-208 »La Vigne de Naboth«, a. a. O. S. 30.

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d e r j a ebenfalls in visionärer Schau Vergangenes u n d Z u k ü n f t i g e s sieht? O d e r m ü ß t e Q a ï n nicht, w e n n m a n den Nachdruck auf die Vorhersage b e v o r s t e h e n d e r Ereignisse legt, als ein P r o p h e t w i e d e r C a v a l i e r de la G é h e n n e a u f g e f a ß t w e r d e n ? D i e A b g r e n z u n g d e r Kaingestalt von T h o g o r m a u n d dem C a v a l i e r f ü h r t uns t i e f e r h i n e i n in das Verständnis d e r H a u p t f i g u r unseres Gedichtes. W o h e r r ü h r e n d e r T r a u m T h o g o r m a s u n d die Vision Q a ï n s ? F ü r d e n C a v a l i e r k ö n n e n w i r eine B e a u f t r a g u n g durch J a h w e voraussetzen, w e n n sie auch nicht dargestellt ist. H i n t e r T h o g o r m a v e r b i r g t sich d e r m o d e r n e Dichter Leconte de Lisle,der das, w a s er in dichterische F o r m faßt, durch k o n g e n i a l e E i n f ü h l u n g in die Geschichte u n d K u l t u r v e r g a n g e n e r Zeiten u n d durch künstlerische Inspiration e m p f ä n g t . W a s beim C a v a l i e r von G o t t stammte, entsteht bei T h o g o r m a - L e c o n t e de Lisle o h n e Gottes Mitwirkung 1 3 1 ). Q a ï n schließlich v e r g e g e n w ä r t i g t sich u n a b h ä n g i g von Gott, aus eigener K r a f t u n d mit gottfeindlicher T e n d e n z eine v o n ihm historisch nie e r l e b t e V e r g a n g e n h e i t u n d schaut das Bild einer Z u k u n f t , die er selbst h e r a u f f ü h r e n w i r d . D a m i t h a b e n w i r bei Q a ï n ein ganz a n d e r e s S e h e r t u m g e f u n d e n als das d e r a l t t e s t a m e n t l i c h e n P r o p h e t e n , nach d e r e n f o r m a l e m Vorbild d e r C a v a l i e r de la G é h e n n e gestaltet w o r d e n ist 132 ). Im Unterschied zum C a v a l i e r ä h n e l n T h o g o r m a u n d Q a ï n j e w e i l s in bezug auf bestimmte Eigenschaften dem Dichter-Seher, einer d e r charakteristischen Erscheinungsformen des literarischen H e l d e n in d e r R o m a n t i k , d e n G e o r g e Ross R i d g e in seinem Buche »The H e r o in French R o m a n t i c Literature« 1 3 3 ) u n t e r sucht hat. In dieser Studie w e r d e n im wesentlichen die W e r k e berücksichtigt, die m a n t r a d i t i o n e l l e r w e i s e z u r »französischen L i t e r a t u r d e r Romantik« zählt. D a r a n w i r d es liegen, daß Leconte d e Lisle mit seinem »Qaïn« in die U n t e r s u c h u n g nicht einbezogen w o r d e n ist. D i e Eigenschaften u n d A u f g a b e n des romantischen Helden, die G e o r g e R. R i d g e ermittelt hat, t r e f f e n jedoch in e r s t a u n 131) Dies unterscheidet Thogorma-Leconte de Lisle in seinem Selbstverständnis als Dichter von V. Hugo, der sich von Gott inspiriert weiß und priesterliche Funktionen zwischen Gott und Mensch ausübt; er ist Vermittler des göttlichen Wortes an die Menschen. Diesem Verständnis der Aufgabe des Dichters steht Vigny in seinem Gedicht »Moïse« nahe, während seine Auffassung in »La Bouteille à la mer« etwa derjenigen Leconte de Lisles entspricht, wie sie in der Gestalt des Sehers Thogorma dargestellt ist. 132) Übrigens auch Élie, der ausdrücklich in Gottes Auftrag spricht (vgl. »La Vigne de Naboth«, a. a. O. S. 32 ff.). 133) Athens (University of Georgia Press) 1959. 92

lichem Maße auf die Gestalten dieses »parnassisdien« Gedichtes zu. Nur hat Leconte de Lisle einerseits in seiner Kaingestalt mehrere Ausprägungen des romantischen Helden vereint, andererseits die Züge des »Dichter-Sehers« auf die Gestalten Thogorma und Qaïn verteilt: Thogorma gleicht dem Seher, der von seiner Yision in einem solchen Maße absorbiert wird, daß er alles andere darüber vergißt134). Wie ein Dichter beschäftigt er sich vor allem mit dem, was er visionär geschaut hat, und mit dessen Weitergabe. In Qaïn haben wir den Typus des Dichter-Sehers vor uns in der besonderen Charakterisierung als »solitary« und als »leader«135). Bei seiner großen Rede ist Qaïn schon rein äußerlich von Leconte de Lisle als der einsame Führer seines Volkes; das zu ihm als zu dem »Ancêtre vénérable« aufschaut136), dargestellt worden. Aber nicht das Patriarchalische wird zum beherrschenden Zug im Bilde Qaïns: als »l'Homme violent« (V. 221) charakterisiert Leconte de Lisle seinen Qaïn, der sich — als gelte es einen Kampf — mit einer gebieterischdrohenden Bewegung seines Armes zu seiner gewaltigen Rede anschickt.

134) 135) a. a. O. S. 136)

Vgl. George R. Ridge, a. a. O. S. 88 u. 95. Zu den Begriffen »solitary« und »leader« vgl. George R. Ridge, 78 ff. u. 83 ff. Qai'n, V. 214.

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IV Im Blick auf die Fülle von Neuerungen in Komposition und Stoffbestand, welche Leconte de Lisles »Qain« verglichen mit früheren Kaindichtungen aufweist, ist der kritischen Frage, ob der Dichter den Kainstoff nicht durch allzu viele heterogene Elemente bis zur Unkenntlichkeit überfremdet habe, eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen. Ein gewichtiges Gegenargument liegt aber in dem Hinweis auf den ersten Teil der Qa'inrede. Hier behandelt Leconte de Lisle, wenn auch aus seiner besonderen Sicht heraus, den Konflikt, der den Kern des Kainstoff es bildet: Kains Erbitterung über Gott, durch die Abel den Tod fand. Im Unterschied zu den Konflikten anderer feindlicher Brüder wie Romulus und Remus oder Prometheus und Epimetheus ist Kains Brudermord nicht nur eine Angelegenheit zwischen zwei Menschen, sondern es geht dabei zugleich um Gott. Schärfer als manche Dichter vor und nach ihm hat Leconte de Lisle hierin das für jede Kaindarstellung entscheidende Moment erkannt. In seinem Gedicht geht der poetischen Überhöhung Qai'ns die Auseinandersetzung mit dem Brudermord voraus. Mit ihr nämlich leitet Leconte de Lisle den ersten Teil der Qai'nrede — den Mittelteil seines Gedichtes — ein und beschließt ihn auch mit einigen Strophen, die von Abels Tod handeln. Gerade in dieser Einleitung weist der Dichter auf die grundlegende Bedeutung, die der Brudermord für Qain besitzt, noch besonders hin, indem er von einem unauffälligen Kunstgriff Gebrauch macht: auf die Frage des toten Qain, wer der nächtliche Unruhestifter sei, der ihn geweckt habe »dans l'ombre sans issue1) / Oü j'ai dormi dix fois cent ans [.. ]«2), ist die scheinbar nächstliegende, wie selbstverständliche Antwort: Abels Todesschrei (V. 228). Abel wird »le 1) Damit nimmt Qai'n das »Dans la nuit sans aurore« (V. 186) des Cavalier de la Géhenne von sich aus auf. 2) Qaïn, V. 226 f. — Der tausendjährige Schlaf Qaïns und sein Erwachen bei der Ankündigung der Sintflut durch den Cavalier zeigen, daß Leconte de Lisle eine alte jüdische Tradition kennt, nadi der Kain

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Jeune Homme d'Hébron« (Y. 229) genannt. Leconte de Lisle folgt hierin einer Sage, nach der Abel in der Nähe von Hebron getötet worden sein soll 3 ). Auf die Darbringung der Opfer durch Kain und Abel, die in Leconte de Lisles Gedicht nicht geschildert wird, spielt Q a ï n mit seinen W o r t e n über Abels gewaltsamen Tod an: > [ . . . ] sous la lourde massue / E t les débris fumants de l'autel renversé« (Y. 229 f.). Diese Notiz stammt aus Byrons »Cain«. Dort lautet die Regieanweisung beim Tode Abels: C a i n (striking him with a brand, on the temples, which he snatches from the altar). Then take thy life unto thy God, [.. .]*). Es ist genau genommen wohl nicht der Todesschrei Abels, den Qaïn zum Schweigen bringen möchte, sondern »die Stimme des Blutes Abels« 6 ). Sie klagt Qaïn vor Gott des Mordes an. Sie hallt T a g und Nacht in Qaïns Ohren wider. Dieser Ruf ist ihm lästig, jedoch fühlt er sich von der Anklage nicht getroffen 6 ), sondern gibt sie an Gott weiter, indem er zu Abel sagt: O victime, tu sais le sinistre dessein D'Iahvèh m'aveuglant du feu de sa colère. L'iniquité divine est ton seul assassin (V. 238 ff.). im Jahre 1656 der Welt in der Sintflut umgekommen ist (vgl. V. Aptowitzer, Kain und Abel in der Agada, den Apokryphen [...]. Veröffentlichungen der Alexander Kohut Memorial Foundation, Bd. 1, Wien u. Leipzig 1922, Kap. VI). Das ergäbe für Qaïn bei seinem Tode ein Alter von ungefähr 656 Jahren, das mit biblischen Angaben (vgl. Gen. 5,23.31) über die Lebensdauer der Menschen vor der Sintflut in Einklang steht. 3) Nach Aptowitzer, a. a. O. S. 44. Als Quelle dieser Sage gibt Aptowitzer auf S. 146 den Seder ha-Doroth an. 4) »Cain: A Mystery«, The Works of Lord Byron, [...], »Poetry«, vol. V, edited by E. H. Coleridge, London (John Murray) 1901, S. 267. — Wir zitieren unter Angabe der Seiten oder Verse stets nadi dieser Ausgabe, deren V. Band auch »Heaven and Earth« enthält. — Besonders eingehend legte E. Estève dar, dafi Leconte de Lisle Byrons Mysterien »Cain« und »Heaven and Earth« kannte und für »Qaïn« benutzte (vgl. seinen bereits erwähnten Artikel »Byron en France après le romantisme: Le byronisme de Leconte de Lisle«, Revue de Littérature Comparée 5 [1925] S. 273 ff.). 5) Siehe Gen. 4, 10. Vgl. Jes. 26, 21 — Hiob 16, 18. 6) Vielmehr bestreitet er ihre Berechtigung. Er fühlt sich nicht von Reue bedrängt, sondern von einem übermächtigen Feinde angegriffen, während Cai'n in »La Conscience« von V. Hugo nur darum von der in Gottes Blick liegenden Anklage so gequält werden kann, weil er ihr innerlich recht gibt, d. h. ein schlechtes Gewissen hat. Hier ergibt sich u. E. eine Möglichkeit für einen sinnvollen Vergleich beider Gedichte. Eine Abhängigkeit Leconte de Lisles von V. Hugo scheint uns nicht nachweisbar zu sein (vgl. S. 76 dieser Arbeit). 96

In dieser ersten Auseinandersetzung Qaïns mit seiner eigenen Tat versucht er, auf Kosten Jahwes mit Abel ins reine zu kommen — ein erster Schritt auf dem Wege zu einer gegen Gott gerichteten Solidarität aller Menschen, wie sie im letzten Teil der Qainrede geschildert wird. So wird in der an Abel gerichteten Einleitung, welche die Strophen 46-48 umfaßt, sogleich das Thema genannt, um das es in der Auseinandersetzung Qaïns mit Gott gehen wird: die Ungerechtigkeit Gottes. Sie zeigt sich abgesehen von der Vorgeschichte zu Abels Tod u. a. zunächst darin, daß Qaïn als Nachkomme Adams und Evas von vornherein vom Paradies (Str. 50-56) ausgeschlossen ist. Von der Schilderung des verlorenen Paradieses bis an den Schluß der Qainrede reicht der Spannungsbogen des »Paradiesthemas«. Es gibt gute Gründe dafür, die Strophen 50-56 des »Qai'n« vorwiegend von der Prämisse »Identität des Dichters mit der Hauptperson seines Gedichtes« her zu interpretieren. Qaïn ist in derselben Lage wie Leconte de Lisle und die Menschen überhaupt, er hat das Paradies nie gesehen, aber es steht ihm als Ort vollkommenen Glückes immer vor Augen: »Ses yeux, hantés d'un songe unique, [...]« (V.208) und »Èden! ô Vision éblouissante [...]« (V.271). Als Ort vergangenen, unerreichbar gewordenen Glückes besang Leconte de Lisle häufig seine Heimatinsel7). Daher haben manche Leser in den Strophen 50-56 des »Qaïn« nichts weiter gesehen als eine sublimierte Darstellung der Kinderheimat des Dichters8), die in der Erinnerung zum »paradis perdu« geworden war. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Interpretation der Paradiesesvision nicht davon auszugehen habe, daß Qaïn hier für den Dichter spricht, dem rêve, souvenir und vision willkommene Mittel zur Flucht aus einer unerträglichen Gegenwart sind. Dann wären diese Strophen zu vergleichen mit bestimmten Abschnitten aus den Gedichten »L'Illusion suprême«, »Souvenir« und »Dies irae« 9 ). Für eine Inter7) Z. B. in den Gedichten »L'Aurore« (»Poèmes Barbares«, S. 201), »Le ßernica« (ebda. S. 205), »Si l'Aurore« (»Poèmes Tragiques«, S. 82), »Le frais matin dorait« (ebda. S. 143) und »Les yeux d'or de la Nuit« (»Derniers Poèmes«, S. 76). 8) J. Yianey: »[...] pour regretter, que le Paradis y soit ramené aux proportions de l'île Bourbon« (»Les Sources de Leconte de Lisle«, Montpellier 1907, S. 292-293). 9) Die Gedichte finden sich in den »Poèmes Tragiques« (S. 36) und in den »Poèmes Antiques« (S. 303 u. 309). 97 7 Pohle, Qaïn

pretation des »Qa'in« in dieser Richtung gibt L. Lelleik Hinweise 10 ). Auch die f r ü h e r e n Leconte de Lisle-Forscher haben sich so ausschließlich f ü r diese Deutungsmöglichkeit interessiert, nadi der Q a i n nichts als ein Sprecher Leconte de Lisles ist, daß sie sich stets vorwiegend mit der übertragenen Bedeutung des Gedichtes beschäftigt haben, statt bei der Interpretation zunächst einmal vom Stoff und dessen G r u n d b e d e u t u n g auszugehen. Gerade hier aber e r w a r t e n den Leser einige Überraschungen. Es handelt sich in Leconte de Lisles Kaingedicht eben nicht zuerst um das verlorene Jugendland, das in der E r i n n e r u n g zu einem »Paradies« wird, sondern um das Paradies im wörtlichen Sinne, das biblische. In der Erzählung aus Gen. 4, die Leconte de Lisle j a in seinem Gedicht »Qa'in« bearbeitet, steht nichts von einer Sehnsucht Kains nach dem Paradies aus Gen. 3. J a h r h u n d e r t e l a n g sind es n u r Adam und Eva, die das verlorengegangene Paradies beklagen, und allenfalls der fromme Abel sehnt sich danach. Kain dagegen ist ganz der E r d e bzw. der Welt zugewandt; als »Realist« findet er eine solche Sehnsucht unverständlich oder nutzlos. Das ist noch bei Salomon Geßner 11 ) im 18. J a h r h u n d e r t nicht anders. In Byrons Mysterium hat Cain dagegen eine ganz neue Einstellung zum Paradies: es ist das ihm von Rechts wegen zustehende Glück, um das seine Eltern ihn gebracht haben, oder, besser, das ihm Gott willkürlich vorenthält. Zugleich ist Cain gründlich unzufrieden mit seinem Leben als Mensch auf der Erde 12 ). Erst dieser neue Zug, den Byron der traditionellen Kaingestalt verliehen hat, macht es möglich, in Kain den Menschen schlechthin zu sehen. Man kann sicher sagen, daß vor Byron die Leser oder Zuschauer sich mit Abel identifizierten, daß sie sich jedoch seit Byrons Mysterium in Cain wiedererkannten. Weil Kain der typische Mensch geworden ist, der seinen Anspruch 10) L. Lelleik, D e r >Parnassier< Leconte de Lisle als Theoretiker und Dichter, Diss. Bonn 1961, S. 100. 154. 158. 11) In seiner D i d i t u n g erklärt Kain: »Was brauchen wirs zu wissen, [. . .], daß wir durch seine und der Eva Schuld ein Paradies verlohren haben [.. .|? Wüssten wir das nicht, dann würden wir unser Elend ruhiger dulden, lind einen Verlust nicht bedauern, den wir dann unwissend erlitten hätten« (Der Tod Abels. In fünf Gesängen. Von Gessner, Zürich [bey Gessner] 1758, III. Gesang, S 94 f.). 12) D i e s e Unzufriedenheit mit seinen Lebensumständen quält Cain lange vor dem Totschlag und dessen Bestrafung. Es ist die Unzufriedenheit dessen, der überzeugt ist, er könnte es besser haben, »wenn Gott nur nicht so ungerecht wäre«; nicht w i e in älteren Kaindichtungen die einfache Unzufriedenheit wegen harter Arbeit.

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auf das »Paradies« (im Sinne von »Glück«) geltend macht, ergab sich ein Zusammenhang, den man etwa so skizzieren könnte: für den Menschen, der sich aus der Gegenwart fort nach dem Ort des Glückes sehnt, trägt dieses Paradies leicht Züge des jugendlandes — das Jugendland Kains aber, war es nicht das Paradies? Und ist es da verwunderlich, daß der Dichter Leconte de Lisle d a s Paradies mit den Farben seines eigenen Kindheitsparadieses ausstattete? Nun ist zwar Kain genau genommen nie im Paradiese gewesen, sondern nur seine Eltern, aber in der Darstellung Leconte de Lisles wird das nicht scharf unterschieden. E r läßt Qaïn sagen: J'entends c h a n t e r e n c o r e a u x vents h a r m o n i e u x Les bois épanouis sous la gloire des cieux; [. . .] (V. 247 f.). Et moi, moi, j e grandis dans la splendeur des choses [.. .] (V. 264). Compagnon des Esprits célestes, origine D e glorieux enfants c r é a t e u r s à leur tour, Je sais le mot vivant, le verbe de l'amour; J e p a r l e et fais j a i l l i r de la source divine, Aussi bien qu'Elohim, d'autres mondes au j o u r ! (V. 266-270)

In einer gewissen Spannung dazu steht die folgende Äußerung Qaïns : É d e n ! ô Vision éblouissante et brève, Toi dont, avant les temps, j'étais déshérité! (V. 271 f.)

Es ist versucht worden, diese widersprüchlichen Aussagen damit zu erklären, daß Qaïn sich an der Stelle Adams im Paradies gesehen habe 13 '. Darüber hinaus kann man darauf hinweisen, daß Qaïn nicht nur wie ein Prophet zukünftige Ereignisse voraussieht, sondern in prophetischer Vision auch Vergangenes schaut, das er historisch nie gesehen haben könnte. Qaïn steht damit exemplarisch für den Dichter, der das Paradies in poetischen Visionen sieht, und darüber hinaus für den Menschen überhaupt, der sich in seinen Träumen ein konkretes Bild vom Ort des Glückes ausmalt. Hier liegt einer der Gründe für das starke menschliche Interesse, das der »Qaïn« neben einer dem Gedicht als reinem Kunstwerk geltenden Bewunderung bei allen Leconte de Lisle-Lesern gefunden hat. In Qaïns Paradiesesvision hat man immer literarische Abhängigkeiten Leconte de Lisles feststellen wollen, selten jedoch genaue 13) R. Messac, Caïn et le problème du mal dans Voltaire. Byron et Leconte de Lisle, Revue de Littérature C o m p a r é e 4 (1924) S. 641: » ( . . . ] Qaïn [.. .] raconte le départ de l'Éden comme une aventure personnelle [. . .|« und »Qaïn (. . .] paraît s'assimiler à Adam [. . .].«

99 7'

T e x t p a r a l l e l e n aus dem »Qaün« und Dichtungen Y . Hugos oder B y r o n s angeführt. A u f das Neue, das die Strophen 50-56 des »Qaün« bringen, ist m a n bisher noch nicht eingegangen. Silence! Je revois l'innocence du monde 14 ). J'entends chanter encore aux vents harmonieux Les bois épanouis sous la gloire des cieux; La force et la beauté de la terre féconde En un rêve sublime habitent dans mes yeux. Le soir tranquille unit aux soupirs des colombes, Dans le brouillard doré 15 ) qui baigne les halliers 1 6 ), Le doux rugissement des lions familiers; Le terrestre Jardin sourit, vierge de tombes, Aux Anges endormis à l'ombre des palmiers (Str. 50-51). O b w o h l in den Paradiesesbeschreibungen B y r o n s und Miltons 1 ') sehr viel von B ä u m e n , Büschen und W ä l d e r n die R e d e ist, w a r diese Tatsache wohl k a u m der einzige G r u n d dafür, daß L e c o n t e de Lisle in seine Paradiesesbeschreibung das Rauschen der W ä l d e r aufnahm. E r h a t t e es schon in den Gedichten über seine Heimatinsel erwähnt: La montagne nageait dans l'air éblouissant Avec ses verts coteaux [ . . . ] [. . .] et ses forêts bercées Aux brises du matin [., ,]18). A b e r ganz abgesehen von seinem eigenen J u g e n d l a n d gehört der W a l d für L e c o n t e de Lisle zu der Vorstellung von der J u g e n d d e r Menschheit, an die der menschliche Geist sich in dem Gedicht »Dies irae« e r i n n e r t : 14) Vgl. dazu V. Hugo, Le Sacre de la Femme, in »Légende des Siècles« (Les Grands Écrivains de la France), I, Paris 1921, S. 30: »Sur ce monde céleste, angélique, innocent (.. .]«. 15) Ygl. ders.: »Tout s'illuminait, l'ombre et le b r o u i l l a r d obscur; / Des avalanches d ' o r s'écroulaient dans l'azur [...]« (ebda. S. 28). 16) Ygl. ders.: »Les h a l l i e r s où l'agneau paissait avec les loups, [...]« (ebda. S. 29). 17) Die Vorworte zu den »Poèmes Antiques« und den »Poèmes et Poésies« (»Derniers Poèmes«, S.219u.231) bestätigen, daß Leconte de Lisle Miltons Dichtung kannte. 18) »L'Aurore«, V. 17-20, »Poèmes Barbares«, S. 202. 100

De la hauteur des monts, [. ..] [.. .] au bruit des dômes verts, Il écoute grandir, vierge encor de souillures, La jeune. Humanité sur le jeune Univers1®). W ä h r e n d diese Verse aus dem »Qaün« Le soir tranquille unit aux soupirs des colombes, Dans le brouillard doré qui baigne les halliers, [. ..] (V. 251 f.) wiederum in Beschreibungen der Heimat Leconte de Lisles stehen könnten2®), findet man den aus Jes. 11, 6-7 stammenden Topos des Tierfriedens, »Le doux rugissement des lions familiers« (V. 253), natürlich auch schon vor Leconte de Lisle in den Paradiesesschilderungen der Kaindichtungen. B y r o n übernahm den Passus fast wörtlich von Milton, dessen »Paradise Lost« wir hier in der Übersetzung Chateaubriands 2 1 ) zitieren: Autour d'eux folâtraient les animaux de la terre, depuis devenus sauvages [.. .]. Le lion en jouant se cabrait, et dans ses griffes berçait le chevreau; [. . .]2S). Milton w a r es audi, der häufig einen oder mehrere Engel im Paradiese anwesend sein ließ. So kann ihre Gegenwart in Leconte de Lisles Paradies nicht überraschen. Neu ist aber die malerische Stellung, in der sie uns von Leconte de Lisle gezeigt werden: » [ . . . ] Anges endormis à l'ombre des palmiers« (V. 255). Mit Y. Hugo berührt sidi wiederum die folgende Strophe besonders eng: 19) »Dies irae«, Str. 5, »Poèmes Antiques«, S. 310. 20) Vgl. etwa »La b r u m e bleue errait aux pentes des ravines [...)« (»L'Aurore«, V. 11, a. a. O. S. 201) oder »Si le r o u c o u l e m e n t des blondes t o u r t e r e l l e s [...]« (»Si l'Aurore«, V. 9, »Poèmes Tragiques«, S. 82). 21) Diese erreichte von den zahlreichen Milton-Ubersetzungen des 19. Jahrhunderts die höchste Auflagenzahl, und Leconte de Lisle selbst führte im Vorwort zu seiner Theokritübersetzung (1861) das Vorbild Chateaubriands als Übersetzer an. Da überdies die Verse des »Qaün« mehrfach an die Milton-Zitate anklingen, die Chateaubriand schon im »Génie du Christianisme« (Teil II, Buch 4, Kap. 9. 10. 12) in französischer Übersetzung brachte, zitieren wir, um die Milton-Parallelen zu Leconte de Lisles Gedicht besonders deutlidi herausarbeiten zu können, »Paradise Lost« stets in der Übersetzung Chateaubriands. 22) »Le Paradis perdu«, Œuvres complètes de Chateaubriand, Bd. XVI, Paris (P.-H. Krabbe) 1854, Buch IV, S. 104; im folgenden mit Angabe der Seite zitiert als Le Paradis perdu, Budi I ff. 101

L'inépuisable joie émane de la Vie 23 ); L'embrassement profond de la terre et du ciel Emplit d'un même amour le cœur universel 24 ); Et la Femme, à jamais vénérée et ravie, Multiplie en un long baiser l'Homme immortel (Str. 52).

Diese Verse waren es wohl hauptsächlich, die J. Vianey veranlaßten, gerade »Le Sacre de la Femme« als Quelle, mindestens als Vorbild, für Leconte de Lisles Kaingedicht anzusehen 25 ). Nun beziehen sich die zahlreichen Einzelzüge aus V.Hugos Gedicht, die mit Versen aus dem »Qai'n« vergleichbar sind26), nur auf einen einzigen Abschnitt bei Leconte de Lisle, nämlich nur auf die Beschreibung des Paradieses und des Menschen vor dem Sündenfall. Als Quelle für Leconte de Lisles Hauptanliegen und für die zentrale Gestalt seines Gedichtes kommt V. Hugos Dichtung also nicht in Betracht. Von der verschiedenen Themenstellung der Gedichte ausgehend ist dann aber auch das Paradies von den beiden Dichtern so verschieden gestaltet worden, daß wir nicht sagen können,das Paradies V.Hugos sei als Ganzes oder in seinem Grundcharakter eine Quelle für Leconte de Lisles Paradiesesbeschreibung gewesen. Zwar klammert Leconte de Lisle die Aufforderung »Seid fruchtbar und mehret euch«, die den Hintergrund für Hugos Thema »Die Weihe der Frau durch die Mutterschaft« bildet, nicht aus, aber dieser Gedanke ergibt nicht mehr als einen Einzelzug in dem Bilde, das Qai'n sich vom Paradiese macht. Leconte de Lisle zeigt in seiner Paradiesesbeschreibung, wie die Adamsnachkommen hätten leben können, wenn Gottes Eingreifen dies nicht ungerechterweise verhindert hätte. Aus der Sehnsucht, mit der Qai'n sich das Paradies vergegenwärtigt, stammt der wehmütige Enthusiasmus dieser Beschreibung. Die oben bereits zitierte 52. Strophe hat beinahe hymnischen Charakter. Am Ende ihres letzten Verses, an stark betonter Stelle 23) Vgl. V. Hugo, Le Sacre [...], a. a. O.S. 28: »Le jour en flamme, au fond de la terre ravie, / Embrasait les lointains splendides de 1 a v i e [. ..]«. 24) Vgl. V. Hugo, ebda. S. 34: »Mais qu'importe à l'abîme, à l'âme universelle [. . .]«. 25) Vgl. J. Vianey, Les Sources de Leconte de Lisle, Montpellier 1907, S. 292, und ders., Les Poèmes Barbares de Leconte de Lisle, Paris 1933, S. 138. Den Inhalt des Gedichtes von Hugo könnte man nicht treffender wiedergeben als mit den letzten beiden Versen aus der im Text zitierten Strophe aus dem »Qai'n«. — »Le Sacre de la Femme« erschien schon 1859 im Druck. 26) Siehe Anm. 14, 15, 16, 23 usw. 102

also, w i r d v o m Menschen a l s d e m » H o m m e i m m o r t e l « g e s p r o c h e n ; d e m entspricht a m Schluß des g a n z e n G e d i c h t e s » l ' i m m o r t e l E n n e m i « (Y. 493), von d e m es heifit, daß er t r o t z s e i n e r F e i n d s c h a f t g e g e n Gott dessen Strafmaßnahmen überlebt. Et l'aurore qui rit avec ses lèvres roses, D e jour en jour, en cet adorable berceau 2 7 ), Pour le bonheur sans fin éveille un dieu nouveau 2 8 ); Et moi, moi, j e grandis dans la splendeur des choses, Impérissablement jeune, innocent et beau! Compagnon des Esprits célestes, origine De glorieux enfants créateurs à leur tour, J e sais le mot vivant, le verbe de l'amour; Je parle et fais jaillir de la source divine, Aussi bien qu'Élohim, d'autres mondes au jour! (Str. 53-54) Zu d i e s e n S t r o p h e n lassen sich Zeile f ü r Zeile P a r a l l e l e n a u s Milton o d e r a u s den Gedichten, in d e n e n L e c o n t e d e L i s l e s e i n e île B o u r b o n beschreibt, a n f ü h r e n 2 9 ) . U n t e r s c h i e d e zwischen Milton u n d L e c o n t e d e L i s l e e r g e b e n sich a u ß e r bei d e r B e s c h r e i b u n g des P a r a d i e s e s , — d i e b e i L e c o n t e d e L i s l e s e h r viel w e n i g e r k o n k r e t 3 0 ) g e h a l t e n ist 27) Vgl. dazu einen Auszug aus Miltons Paradiesesbeschreibung: »Raphaël s'avançait dans la forêt aromatique; Adam l'aperçut; il était assis à la porte de son frais b e r c e a u , [ . . . ] ; Ève, dans l'intérieur du b e r c e a u , [...], préparait pour le dîner des fruits savoureux [...]. Adam appelle Eve. >Accours ici, Ève; [. . .] à l'orient, entre ces arbres, quelle forme glorieuse s'avance par ce chemin! elle semble une autre a u r o r e levée à midi.*« (Le Paradis perdu, Buch V, S. 135 f. — Dieser Abschnitt gehört zu den Milton-Zitaten in Chateaubriands »Génie du Christianisme«, vgl. dort Teil II, Buch 4, Kap. 10.) 28) Zu Q a ï n , Y. 263 vgl. Miltons Aussage über Gottes Geschöpfe »Deux d'entre elles, [. . .] d'une stature [...] droite comme celle des d i e u x , vêtues de leur dignité native [...]« (Le Paradis perdu, Buch IV, S. 102 f.) und einen Vers Leconte de Lisles aus dem Gedicht »L'Aurore« (a. a. O. S. 201): das Murmeln übermenschlicher Wesen ist zu hören: » D i e u x jeunes, bienveillants, rois d'un monde enchanté [. . .]«. 29) Vgl. z. B. zu Qaïn. V. 261 (»Et l'aurore qui rit avec ses lèvres roses, [.. .]«): L e Paradis perdu, Buch IV, S. 101, und andererseits Leconte de Lisle, L'Aurore (a.a.O.), »Si l'aurore« (a.a.O.) und »Le frais matin dorait« (a. a. O.). 30) Vgl. die Paradiesesbeschreibung Miltons (siehe Anm. 27) mit der abstrakten Ausdrucksweise Leconte de Lisles bei seiner Schilderung des Paradieses: l'innocence du monde, la force et la beauté de la terre féconde, le terrestre Jardin sourit, l'inépuisable joie émane de la Vie, l'embrassement profond de la terre et du ciel emplit d'un même amour le cœur universel, la splendeur des choses, usw. 103

als bei dem Diditer des »Paradise Lost«, — vor allem auch in den Aussagen über den Menschen im Paradiese. Milton spricht von einer abgeleiteten Würde Adams und Evas: Dans leurs regards divins brillait l'image de leur glorieux auteur, avec la raison, la sagesse, la sainteté sévère et pure [. . .]31).

Die Beschreibung des Menschen im Paradiese aus einem Gedicht der »Poèmes Barbares«, das Leconte de Lisle ein Jahrzehnt vor dem »Qa'in« veröffentlichte, steht Milton inhaltlich noch sehr viel näher als die entsprechende Beschreibung im »Qa'in«. In »La Fin de l'Homme« zeigt Leconte de Lisle, wer Adam vor dem Sündenfall war: [...] l'Homme en sa gloire première, Tel qu'Iahvèh le fit pour la félicité, [. ..]").

Hier wird Jahwes Schöpf erhandeln nicht verschwiegen. Der angesichts von Jahwes Übermacht resignierende Adam kann zugeben, von Gott geschaffen worden zu sein. Der protestierende, aus eigener Vollmacht lebende und herrschende Qa'in kann es nicht. Leconte de Lisle rühmt im »Qa'in« die unabhängige, ursprüngliche Herrlichkeit des Menschen: Compagnon des Esprits célestes"), origine De glorieux enfants créateurs à leur tour, [. ..] (Y. 266 f.).

In den Versen, weldie die Vertreibung aus dem Paradies erwähnen, nimmt Leconte de Lisle vor allem Motive aus Byrons »Cain« wieder auf. Vor seinem schlafenden Sohne stehend sagt Cain: He must dream — Of what? Of Paradise! — Aye! dream of it, My disinherited boy! 34 )

Leconte de Lisle überträgt den Gedanken des Enterbtseins auf Qa'in und läßt diesen in die Klage ausbrechen: 3t) Vgl. Milton, Le Paradis perdu, Buch IV, S. 103. 32) »La Fin de l'Homme«, »Poèmes Barbares«, S. 357. 33) Vgl. bei Milton die Rede Satans beim Anblick Adams im Paradiese: »[. . .] à notre place et si haut dans le bonheur sont élevées des créatures d'une autre substance, [.. .] non purs esprits, cependant peu inférieures aux brillants e s p r i t s c é l e s t e s « (Le Paradis perdu, Buch IV, S. 105). — Vgl. andererseits Leconte de Lisle, L'Aurore, a.a.O. S. 201: »Un murmure infini dans l'air subtil flottait: / Chœur des E s p r i t s cachés, âmes de toutes choses, [. . .]«. 34) Cain, III, 1, 30-32.

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Éden! ô Vision éblouissante et brève, Toi dont, avant les temps, j'étais déshérité! Ëden! Éden! voici que mon cœur irrité Voit changer brusquement la forme de son rêve, Et le glaive flamboie à l'horizon quitté (Str. 55).

Der letzte Vers dieser Strophe nimmt Cains Worte auf, der nachts in der Nähe des Paradieses nach dem Tode ausschaut: And when I saw gigantic shadows in The umbrage of the walls of Eden, chequered By the far-flashing of the Cherubs' swords, [.. .]35).

Hier werden schon die Mauern erwähnt, die das Paradies vor den daraus vertriebenen Menschen verschließen: Loin de tes murs sacrés éternellement clos La malédiction me balaye, et tu plonges [.. .] (V. 278 f.).

Es ist der Fluch Gottes, der Qaïn vom Paradiese fernhält. Die Ereignisse, die zu diesem Fluche führten, und Adams verantwortliche Beteiligung daran bleiben bei Leconte de Lisle unerwähnt. In seinem Gedicht wird Adam nicht einmal mit Namen genannt. Das ist erstaunlich, wennn man bedenkt, daß Adam in allen Kaindichtungen des 18. Jahrhunderts eine der wichtigsten Nebenrollen innehatte. Im 19. Jahrhundert dann, in Byrons »Cain«, verliert Adam zwar als selbständige Figur an Bedeutung, aber die CainAdam-Beziehung ist einer der interessantesten Züge in Byrons Bearbeitung des Kainstoffes: Wohl hadert Cain wegen des verlorenen Paradieses mit Gott, aber daneben macht er durchaus Adam für das Schicksal der Menschen verantwortlich, und zwar in einem doppelten Sinne: [.. .] wherefore should I toil? — because My father could not keep his place in Eden? What had I done in this? [.. .]3») Cursed he not me before my birth, in daring To pluck the fruit forbidden? 37 )

Hier scheint Cain die Tat seiner Eltern als ein Unrecht gegenüber ihren Nachkommen zu verurteilen. An anderer Stelle nennt er das 35) 56) 57)

Cain, I, 1, 272-274. Ebda. I, 1,65-67. Ebda. II, 2, 24 f.

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H a n d e l n seiner Eltern einfach töricht, weil erfolglos 38 ). Einmal wirft Cain sogar Adam und Eva vor, bei ihrer Tat inkonsequent und ungeschickt gewesen zu sein: And wherefore plucked ye not the tree of life? Ye might have then defied him 38 ).

Diese Äußerung, obwohl als Vorwurf Cains gegen Adam vorgebracht, läßt an ein Bündnis, an eine Solidarität Cains und Adams denken, die sich gegen Gott richtet. Byron verfolgt diesen Gedanken nicht weiter, er hat jedoch neue Möglichkeiten aufgezeigt f ü r die Gestaltung des Kain-Adam-Verhältnisses, das bis zum Ende des 18. J a h r h u n d e r t s immer antagonistisch aufgefaßt worden war. Wenn man nun Kain und Adam in ihrer Gegnerschaft zu Gott übereinstimmen läßt, spielen beide Gestalten grundsätzlich dieselbe Rolle, und damit verliert eine von ihnen ihre literarische Notwendigkeit. Wahrscheinlich ist dies der G r u n d d a f ü r , daß Leconte de Lisle in seinem Kaingedicht keinen Adam einführte, jedenfalls liegt die Begründung f ü r das Fehlen einer sprechenden und handelnden Adamsgestalt nicht darin, daß Leconte de Lisle etwa ausschließlich die Geschichte des Brudermordes literarisch bearbeiten wollte, in der Adam und Eva j a nicht auftreten, im Gegenteil, Leconte de Lisle zieht als Quelle sowohl den Schluß der Paradieseserzählung von Gen. 3 heran als auch die Anfangsverse von Gen. 4, wo die G e b u r t Kains und Abels berichtet wird, in der natürlich von Adam und Eva die Rede ist. In genau derselben Reihenfolge wie die Bibel spricht Leconte de Lisle in seinem Gedicht zuerst vom Paradies, dann von der G e b u r t der Nachkommen Evas, genauer gesagt, von Qaïns G e b u r t : Les flancs et les pieds nus, ma mère Héva s'enfonce Dans l'âpre solitude où se dresse la faim. Mourante, échevelée, elle succombe enfin, Et dans un cri d'horreur enfante sur la ronce Ta victime, Iahvèh! celui qui fut Qaïn 10 ). O nuit! Déchirements enflammés de la nue, Cèdres déracinés, torrents, souffles hurleurs, O lamentations de mon père, ô douleurs, O remords, vous avez accueilli ma venue, Et ma mère a brûlé ma lèvre de ses pleurs. 38) "Cain: Would they had snatched both / The fruits, or neither!" (Ebda. I, 1,210 f.) 39) Ebda. 1, 1,33 f. 40) Im Erstdruck steht: Celui.

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Buvant avec son lait la t e r r e u r qui l'enivre, A son côté gisant livide et sans abri, La f o u d r e a répondu seule à mon premier cri; Celui qui m'engendra m'a reproché de vivre, Celle qui m'a conçu ne m'a jamais souri! (Str. 57-59)

Héva statt Ève schrieb auch Nerval, in dessen Kainepisode Evas Sohn vom »Lichtengel Eblis« abstammt (darin bestand nach der bei Nerval aufgenommenen Tradition der Sündenfall) und also kein Adamsnachkomme ist. Diese Tatsache motiviert hinreichend die negative Einstellung Adams und Evas zu diesem Kind, über die sich der Betroffene folgendermaßen beklagt: Adam ne m'aimait pas! Héva se souvenait d'avoir été bannie du paradis pour m'avoir mis au monde, et son cœur, f e r m é p a r l'intérêt, était tout à son Habel 41 ).

Bei Leconte de Lisle könnten sich die remords, die den neugeborenen Qaïn begrüßen, auf den Sündenfall beziehen und »la terreur«, von der Eva erfüllt ist, auf das elende Leben nach der Vertreibung aus dem Paradies, aber die Motivierung ist sehr viel weniger klar als bei Nerval. Mit seinen Eltern leidet auch Qaïn unter den Folgen des Ausschlusses aus dem Garten Eden als »misérable héritier« der ersten Angst, die je von Menschen empfunden wurde, wie es in dem auf die Geburtsgeschichte folgenden Abschnitt heißt. Aber das allen gemeinsame Leiden schafft keine Solidarität unter den Menschen: Qaïn leidet nicht nur mit, sondern auch noch unter seinen Eltern42). Diese Tatsache ist natürlich ein Hinweis darauf, daß Qaïns Leben ein besonders unglückliches, ja unseliges sein wird; so sagt es uns nicht nur ein allgemein menschliches Empfinden, 41) G. de Nerval, Histoire de la Reine du Matin et de Soliman, Prince des Génies, in »Voyage en Orient« (Les Nuits du R a m a z a n : III. Les Conteurs), Œ u v r e s , II, texte établi [. ..] p a r A. Béguin et J. Richer, Paris 1956, S. 561 (Bibliothèque de la Pléiade). 42) Sollte hier in v e r w a n d e l t e r Form ein in der Kainliteratur häufig vorkommendes Motiv wiederauftauchen, das Motiv der Klage Kains, daß seine Eltern ihn nicht liebten? Am Ende des 18. J a h r h u n d e r t s läßt GabrielMarie-Jean-Baptiste Legouvé Kain die Klage ä u ß e r n : »Et moi, mortel créé dans un j o u r de colere, / Haï de Dieu, haï de ma famille entiere, / Malheur e u x de l'amour à mon f r e r e accordé, [...)« (La Mort d'Abel, tragédie, en trois actes, de Legouvé, [...], »Répertoire du t h é â t r e françois«, Tragédies, Bd. 6, S. 392). Aber Legouvé gibt eben eine B e g r ü n d u n g f ü r den Mangel an elterlicher Liebe! Häufig wird in der L i t e r a t u r auch als G r u n d f ü r die Abneigung Adams und Evas gegenüber Kain das Verhalten und die Wesensart des erwachsenen Kain genannt. Von alledem ist bei Leconte de Lisle nicht die Rede.

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sondern vor allem die literarische Tradition. Denn schon Yergil, an dessen »cui non risere parentes« 43 ) der Yers Leconte de Lisles »Celle qui m'a conçu ne m'a jamais souri« (Y. 295) erinnert"), sah die in einem Lächeln sich offenbarende Zuneigung der Eltern zu ihrem Sohn als Voraussetzung für eine glückbringende Zukunft an. Umgekehrt sind natürlich die bei Leconte de Lisle geschilderten Beziehungen Qaïns zu seinen Eltern und ganz allgemein die näheren Umstände, unter denen sein Leben begann, ein denkbar schlechtes Omen für sein weiteres Schkksal. So stellt es sich für den Leser nachträglich dar. Aber die literarische Entstehung dieser Beschreibung der Geburt Qaïns ist genau andersherum zu denken: für romantisches Empfinden kann der Lebensbeginn eines »misérable«, eines »exilé«"), einer »victime d'Iahveh« gar nicht anders als düster und elend sein! Rousseau, der von seiner Einzigartigkeit ebenso überzeugt war wie von der Tatsache, daß er ein besonders schweres, j a unglückliches Leben gehabt habe, und der sein Schicksal in seinen »Confessions« nach literarischen Gesichtspunkten stilisiert darstellte, sagt über seine Geburt: [. . .] j e naquis infirme et malade; j e coûtai la vie à ma mere, et ma naissance fut le premier de mes malheurs 4 8 ).

Qaïns Klage über das schon so früh beginnende Elend seines Lebens hat vom Dichter einen klaren, auf das Hauptanliegen des Gedichtes vorausweisenden Akzent erhalten: Eva brachte zur Welt »Ta victime, Iahvèh! celui qui fut Qaïn« (Y. 285). Schon hier wird Qaïn als das Opfer der Ungerechtigkeit Jahwes bezeichnet. Der 43) Vgl. zu dieser Textgestalt des Zitates und zur folgenden Interpretation: K. Büchner, Art. P. Vergilius Maro, in Pauly-Wissowa, Realencyclopädie der Classisdien Altertumswissenschaft, zweite Reihe, Bd. VIII, t, Stuttgart 1955, Sp. 1195-1215 (II B Bucolica, 4. Ekloge). 44) So schon H. Bernes, L e >Qaïn< de Leconte de Lisle et ses origines littéraires, R H L F 18 (1911) S. 501, Anm. 4. 45) Q a ï n , V. 297: »D'un long gémissement j'ai salué l ' e x i l . « 46) J.-J. Rousseau, Les Confessions, Paris 1959, S. 7 (Bibliothèque de la Pléiade). — Vgl. auch, was bei V. Hugo ein romantischer »outlaw« über sein Leben sagt. Hernani: »Moi, j e suis p a u v r e et n'eus, / T o u t e n f a n t , que les bois où j e fuyais p i e d s n u s . « — »Je le déclare ici, p r o s c r i t , traînant au flanc / Un souci profond [ . . . ] / [ . . . ] j e veux qu'on m'envie; / [ . . . ] / Car vous avez tout bas béni mon front m a u d i t ! « — »Car, vous ne savez pas, moi, j e suis un bandit« (»Hernani«, Œuvres complètes de Victor Hugo, Drame II, Paris [édition Hetzel-Quantin] o. J., S. 18. 54. 18).

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Dichter projiziert Jahwes ablehnende Haltung gegenüber Qaïns Opfer zurück bis in Qaïns Kindheit, verallgemeinert also das einmalige, konkrete Handeln Jahwes zu einem ständigen Handlungsprinzip. Dieser Schilderung der frühen Leiden Qaïns läßt der Dichter die Frage nach dem Warum folgen 47 ): Misérable héritier de l'angoisse première, D'un long gémissement j'ai salué l'exil48). Quel mal avais-je fait? Que ne m'écrasait-il, Faible et nu sur le roc, quand je vis la lumière, Avant qu'un sang plus chaud brûlât mon cœur viril?40) (Str. 60) Leconte de Lisle beantwortet diese Frage zu Lasten Gottes mit einer sdiweren Anklage, die durch eine großartige Reihung rhetorischer Fragen ausgedrückt wird. Mit dem Ausruf (in Frageform) »Quel mal avais-je fait?« setzt der Gedankengang des Dichters ein bei dem Problem des unschuldig Leidenden bzw. dem der Erbsündenlehre, gegen die schon Byron mit kräftigen Argumenten vorgegangen war 50 ). Audi Leconte de Lisles Zwischenfrage, warum Gott Qaïn nach dessen Geburt nicht lieber sogleich getötet habe, nimmt ein Wort auf, das Byron seinen Cain mit Bezug auf den kleinen Henoch sagen ließ 61 ). Bei Leconte de Lisle ist es nun Qaïn selbst, der es angesichts seiner erbärmlichen Lage vorgezogen 47) Vgl. Byron, Cain: "What had I done in this?" (I, 1, 67), "Why do I exist? / Why art t h o u wretched? why are all things so?" (II, 2, 279 f.) 48) Von der Erde als »terre d'exil« und dem Leben auf ihr als einer »Verbannung« spricht Lamartine sehr häufig in seinen frühen Gedichten, die wir nach der Ausgabe Œuvres de Lamartine de l'Académie Française (Bd. I, Bruxelles 1839) zitieren: »Sur la terre d'exil pourquoi resté-je encore?« (S. 22. »L'Isolement«) — »Malheur à qui du fond de l'exil de la vie / Entendit ces concerts d'un monde qu'il envie!« (S. 23. »L'Homme«) — »Et nos yeux enivrés contemplaient tour à tour / La terre notre exil, [...]« (S. 27. »L'Immortalité«). — »Ce langage borné s'apprend parmi les hommes; / Il suffit aux besoins de l'exil où nous sommes, [...]« (S. 52. »Dieu«). — »Tout mortel est semblable à l'exilé d'Éden [. . .]« (S. 23. »L'Homme«). Vgl. Byrons Lucifer (zu Cain): "Ask of vour sire, the exile fresh from Eden [...]" (Cain, I, 1, 482). 49) Im Erstdruck endet dieser Vers mit einem Ausrufezeiehen. 50) Byron, Cain: "[. . .] why, w e are innocent: what have we / Done, that we must be victims for a deed / Before our birth, [.. .]" (III, 1, 88-90). — "[.. .] Must the time / Come thou shalt be amerced for sins unknown, / Which were not thine nor mine?" (Ill, 1,23-25). 51) "Cain: [.. .] better 'twere / I snatched him in his sleep, and dashed him 'gainst / The rocks, than let him live to ." (III, 1,124-126.) 109

hätte, nicht zu leben, und der nun kritisch die Ereignisse überdenkt, die seinem Leben voraufgingen und sein trauriges Los herbeigeführt haben. Wer die Voraussetzungen für die Versuchung schuf, ist der nicht auch der Hauptschuldige an dem Elend, das über die Menschen gekommen ist? Auch Byron hatte diese Frage gestellt52), Leconte de Lisle erweitert aber die Anschuldigung noch. Qaïn greift mit seinen Warum-Fragen weit hinter den Beginn seines irdischen Lebens zurück. Vor seinem Auge ziehen vorüber die Taten Gottes bei der Schöpfung der Welt: Schaffung des Festlandes, der Sonne, des Menschen (aus Lehm gebildet). Sie werden von unserem Dichter in Anlehnung an den Bericht der Genesis skizziert: Qaïn:

Emporté sur les eaux de la Nuit primitive, Au muet tourbillon d'un vain rêve pareil, [ . . . ] Genèse 1: ( . . . ] l'esprit d'Élohim planait au-dessus des eaux 5 3 ). Qaïn: A i - j e affermi l'abîme 54 ), allumé le soleil, [.. .] Genèse 1: Qu'il y ait un firmament au milieu des eaux [ . . . ] . Élohim fit donc les deux grands luminaires, le grand luminaire pour dominer sur le jour [. . .| Et, pour penser: J e suis! pour que la fange vive, A i - j e troublé la paix de l'éternel sommeil? Genèse 2: Alors Iahvé Élohim forma l'homme, poussière provenant du sol [. . .]. Qaïn:

Bei dieser Gegenüberstellung von Auszügen aus dem biblischen Schöpfungsbericht und Leconte de Lisles Versen über die Schöpfung sehen wir, daß zwar die Genesis die Hauptquelle für die Schöpfungsstrophen des »Qaïn« gewesen ist, daß in ihnen aber noch Elemente aus einer ganz anderen Schöpfungsvorstellung erkennbar sind. Qaïns rhetorische Fragen nach den Schöpfungstaten Gottes haben den Sinn: Schließlich war nicht ich, Qaïn, es, sondern du, Gott, der 52) Vgl. aus Cains Monolog: "The tree was planted, and why not for him? / If not, why place him near it, where it grew / T h e fairest in the centre?" (Cain, I, 1, 72 ff.) Ebenso Lucifer: "Did I bid her pluck them not? / Did I plant things prohibited within / The reach of beings innocent, and curious / B y their own innocence?" (Ebda. I, 1, 199 ff.) 53) Wir zitieren hier und im folgenden die französische Übersetzung des Alten Testamentes nach der Ausgabe: La Bible. L'Ancien Testament I, Paris 1956 (Bibliothèque de la Pléiade). 54) Gemeint ist die Stabilisierung des Festlandes über dem Chaosmeer der Urnacht. Vgl. Gen. 1,6 — Ps. 104,5 (Schöpfungspsalm!) — Hiob 26,7 u. 38, 4. Die Bibel benutzt altorientalische Bilder der Kosmologie zur Beschreibung des Schöpfungshandelns Jahwes.

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dies und das getan hat; auf Y. 302 angewendet bedeutet dies, daß der Schöpfergott »dem stummen Wirbel eines nichtigen Traumes gleich« ist. Dieser im Zusammenhang des Kaingedichtes unverständliche Vergleich wird sinnvoll, wenn man sich an Leconte de Lisles Anspielungen auf die Erschaffung der Welt durch die Illusion oder den T r a u m erinnert. In dem zuerst 1857 veröffentlichten Gedicht »La Vision de Brahma« sagt die >ungenannte Stimme des Ungeschaffenenc »[...] toute chose est le rêve d'un rêve«, denn »La matrice du monde est mon Illusion« 55 ). Diese indischen Vorstellungen von der Illusion und dem T r a u m als schöpferischem Prinzip stehen also hinter Q a ï n s W o r t e n »Emporté sur les eaux de la Nuit primitive, / Au muet tourbillon d'un vain rêve pareil, / Ai-je affermi l'abîme [...]«. Während die Bibel vor der Schöpfung nichts über Gott, etwa über sein Schlafen oder Wachen, sagt, versichert Qa'in, er habe »la paix de l'éternel sommeil« nicht durch den Wunsch nach persönlicher Existenz gestört. Die Vorstellung des ewigen Schlafes, welcher vor der Schöpfung herrschte, entspricht dem, was die »ungenannte Stimme« zu Brahma sagt über die Ruhe, die dem Sein des Alls voraufging: »[...] d u r a n t mon repos j'ai songé l'Univers [...]. / C a r ma seule Inertie est la source de l'Être [..,]«56). Was aber w a r das Los der »argile inerte«, fragt Qaïn, als diese nun zum Menschen geworden w a r ? Bei seiner Antwort übergeht Qa'in hier alles, was in der Bibel über das Leben des Menschen im G a r t e n Eden gesagt wird. Qa'in blickt n u r auf das Los des Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradiese, und da steht allerdings Leiden 57 ) und Weinen im Vordergrund. »Auprès cle la défense ai-je mis le désir?« Diese F r a g e Qaïns w ü r d e man ganz einfach auf das menschliche Leben mit seinen vielen Verboten und dem ständigen Wunsch, diese zu übertreten, beziehen, wenn man nicht aus Byrons »Cain« die Worte Lucifers noch im O h r hätte: D i d I bid her pluck them not? Did I plant things prohibited within The reach of beings innocent, and curious By their own innocence?'") 55) Zitate: »La Vision de Brahma«, »Poèmes Antiques«, S. 63. 56) Ebda. S. 62-63. 57) Lamartine: Gott »fit l'eau pour couler [ . . . ] / [ . . .] et l'homme pour souffrir!« (»L'Homme«, »Œuvres«, Bd. I, a. a. O. S. 24.) 58) Cain, I, 1, 199-202. — Noch konkreter und damit eingeschränkter formuliert Cain denselben Vorwurf gegen Gott: "The tree w a s planted, and why not for him? / If not, w h y place him near it, where it grew / The fairest in the centre?" (Ebda. I, 1, 72-74.)

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Also kann Qaïns Frage sich audi, aber nicht nur, auf das Verbot und seine Übertretung im Paradiese beziehen. Vor allem erkennen wir aber, woher Qaïns Argumentationsweise stammt! Wenn Qaïn fortfährt: »[...] ai-je mis le désir, / L'ardent attrait d'un bien impossible à saisir |...] ?«, kann er nicht mehr die verbotenen Güter des Paradieses meinen, denn gerade weil diese nicht unerreichbar (impossible à saisir) waren, leben j a die Menschen nidit im Paradiese . . . Dies ist seinerseits das unerreichbare Gut, nach dem die Kaingestalten Leconte de Lisles und Byrons sich vergeblich sehnen. Die unerträgliche Spannung zwischen der Größe des menschlichen Denkens und der Nichtigkeit einer an Raum und Zeit gebundenen Existenz empfand schon Byrons Cain: I feel the weight Of daily toil, and constant thought: I look Around a world where I seem nothing, with Thoughts which arise within me, as if they Could master all things —59).

Die Kritik an dem Leben, das dem Menschen auf Erden zugemutet worden ist, faßt Qaïn in der erneuten Frage zusammen, ob etwa der Mensch zu einem solchen Leben habe geboren werden wollen8®). Mit unverhohlener Ironie wird die Frage als höhnischer Ausruf wiederholt: O misère! Ai-je dit à l'implacable Maître, !.. -1 La vie assurément est bonne, j e veux naître! 8 1 ) Q u e m'importait la vie au prix où tu la -vends? (V. 311. 314 f.)

Jahwe, gegen den sich die in allen rhetorisdien Fragen enthaltene Anklage riditet, antwortet nicht ein einziges Mal auf Qaïns 59) Ebda. I, 1, 174-178. Vgl. audi Lamartine: »[. ..] et l'homme seul, ô sublime folie! / [ . . . ] dans le tourbillon au néant emporté, / Abattu par le temps, rêve l'éternité!« (»L'Immortalité«, »Œuvres«, Bd. I, a. a. O . S . 27). 60) Vgl. Byron, Cain, III, 1, 509 f.: " [ . . . ] I did not seek / For life, nor did I make myself [.. .]." — Vgl. auch Lamartine: » Q u e l crime avons-nous fait pour mériter de naître?« (»Le Désespoir«, »Œuvres«, Bd. I, a. a. O. S. 29). 61) Vgl. Byron, Cain, I, 1, 68 f.: " [ . . . ] I sought not to be born; nor love the state / To which that birth has brought me." Statt Byrons vorwurfsvoller Bitterkeit finden wir in einem Leconte de Lisle-Gedicht, das vor dem »Qaïn« entstand, eine überlegene Ironie: Adam: »[...] Seigneur, vous par qui j'ai dû naître, / Grâce! J e me repens du crime d'être né . . .« (»La Fin de l'Homme«, »Poèmes Barbares«, S. 360). 112

Anschuldigungen. L e c o n t e de L i s l e läßt J a h w e n i r g e n d s a u f t r e t e n , s o n d e r n s u g g e r i e r t d e m L e s e r J a h w e s E x i s t e n z durch die A r t , w i e Qai'n zu J a h w e o d e r ü b e r ihn spricht. D a s J a h w e b i i d , das diese Äußerungen vermitteln, enthält der Bibel entnommene Einzelzüge, ist a b e r g e p r ä g t v o n d e r leidenschaftlichen A b l e h n u n g J a h w e s durch Qai'n b z w . den D i c h t e r L e c o n t e d e L i s l e : [. ..] Ai-je dit ä l'implacable Maitre, Au Jaloux, tourmenteur du monde et des vivants, Qui gronde dans la foudre et chevauche les vents [...] (V.311-313). Von J a h w e w i r d a n v i e l e n Stellen der B i b e l als v o n d e m eifrigen Gott 8 2 ) gesprochen, d. h. v o n d e m heiligen Gott, d e r ü b e r die E i n h a l t u n g seiner G e b o t e wacht 6 3 ). D e r D i c h t e r L e c o n t e d e L i s l e v e r w e n d e t diese B e z e i c h n u n g J a h w e s w o h l k a u m in i h r e m theologischen Vollsinn, s o n d e r n einerseits e r g a b »eifersüchtig« als G r u n d b e d e u t u n g des A d j e k t i v s » j a l o u x « eine dem D i c h t e r w i l l k o m m e n e N u a n c e 6 4 ) in 62) Vgl. Exode XX, 4-5: »Tu ne te feras pas d'idole, ni aucune image de ce qui est dans les cieux [.. .] et tu ne les serviras pas. Car moi, Iahvé, ton Dieu, j e suis un Dieu j a l o u x , [...]«. — Vgl. weiter: Exod. 34, 14 — Deuter. 6,14 u. 32,16 (Verbote, andere Götter zu verehren. Jahwe ist e i f e r süchtige d. h. er duldet keinen Rivalen, weil seine Heiligkeit so groß ist, daß sie jeden, der ihr zu nahe tritt, vernichtet. Für die Verfasser des Alten Testamentes ist Jahwes Eifersucht also nicht wie für den modernen Leser eine negative Eigenschaft, eine Charakterschwäche.) — Josua 24, 19 u. 1. Könige 14, 22 (Jahwe läßt gegenüber der Sünde keine Schonung walten). 63) Vgl. G. von Rad, Theologie des Alten Testamentes, Bd. I, München 1961, S. 203 f.: »An drei Stellen ist nämlich das Verbot jeglichen Fremdkultes mit dem Hinweis auf Jahwes Eifer verbunden [...]. Nun wird aber auch Jahwes Eifer seinerseits wieder mit seiner Heiligkeit aufs engste in Verbindung gebracht (besonders Jos. 24, 19), dergestalt, daß sein Eifer einfach als eine Äußerung seiner Heiligkeit verstanden wird. So müssen wir also zugleich von Jahwes Heiligkeit, von seinem Eifer und dem ersten Gebot sprechen, denn das eine läßt sich begrifflich nicht vom andern trennen.« 64) Ebenfalls die Bedeutung »eifersüchtig« (auf seine Vorrangstellung bedadit gegenüber den Geistern der Luft oder des Feuers) hat das Adjektiv »jaloux« in dem Ausdruck »ce Dieu jaloux« für den Gott des Königs Salomo in der Kainepisode bei Nerval, Histoire de la Reine du Matin [...], a . a . O . S.561: K a ï n : »C'est ainsi que ce Dieu j a l o u x a toujours repoussé le génie inventif et fécond, et donné la puissance avec le droit d'oppression aux esprits vulgaires.« — An einer späteren Stelle weiß Leconte de Lisle »jaloux« sehr geschickt in einem Zusammenhang zu verwenden, in dem es dazu beiträgt, Jahwe verächtlich erscheinen zu lassen: »Dieu triste, Dieu j a l o u x qui dérobes ta face, [.. .]« (Qai'n, V. 411). Es hat hier die Nuance »machtlos«, »unbedeutend«, »kleinlich«. 115 8 Pohle, Qai'n

dem Bilde des »tourmenteur du monde et des vivants«' 5 ), andererseits ließ diese sehr bekannte Gottesbezeichnung aus dem Alten Testament den Gott Qaüns besonders »israelitisch« im Sinne von »religionsgeschichtlich echt« wirken. D a s wird indirekt bestätigt durch die Tatsache, daß Leconte de Lisle Gott nirgends sonst »le J a l o u x « nennt, weder in den antikatholisdien Gedichten 88 ) nodi in den Gedichten über Jesus, den Mann aus Nazareth 6 7 ), noch in den beiden Gedichten » L a Fin de l'Homme« und » L a Tristesse du Diable«, die dem »Qaün« stofflich und motivisch am nächsten stehen. D e r Gottesname »le J a l o u x « findet sich bei Leconte de Lisle nur in dem Gedicht »La Yigne de Naboth« 6 8 ), dessen Stoff, Gedankengut und Bildersprache Leconte de Lisle noch ausschließlicher als im »Qaün« der Religion Israels entnommen hat. Hier kennzeichnet Leconte de Lisle die Gottesgestalt durch den Namen »le J a l o u x « als Gott des israelitischen Volkes im Unterschied zu anderen Göttern. D e m Gott Q a ï n s gibt Leconte de Lisle an weiteren Attributen nur das malerische » Q u i gronde dans la foudre et chevauche les vents [...]« (Y. 313). Dieser Vers entspricht inhaltlich den alttestamentlichen Beschreibungen der Erscheinung Jahwes, etwa der Theophanie im 18. Psalm 6 9 ), aus dem bereits Chateau65) Vgl. Byron, Cain, I, 1, 143 f.: "Lucifer: We are immortal! — nay, he'd h a v e us so, / That he may torture [...]." 66) »La Bête écarlate« (»Poèmes Tragiques«), »Le Lévrier de Magnus« (ebda.), »L'Agonie d'un saint« (»Poèmes Barbares«), »La Vision de Snorr« (ebda.), »L'Holocauste« (»Poèmes Tragiques«), »Les Siècles maudits« (ebda.), »La Mort du Moine« (»Derniers Poèmes«), »Les Raisons du SaintPère« (ebda.). 67) »Le Nazaréen« (»Poèmes Barbares«), »La Paix des Dieux« (»Derniers Poèmes«). 68) A. a. O. S. 26 u. 35: »C'est le Jaloux, le Fort de Juda que je crains, / Dit Akhab. [...] —Gloire au Très-Fort de Juda! Qu'il s'apaise! / S u r l'autel du Jaloux j'égorgerai cent bœufs!« Man beachte dagegen die Kleinschreibung des Adjektivs »jaloux« in dem Gedidit »Hypatie et Cyrille«, »Poèmes Antiques«, S. 288 (Cyrille fordert Hypatie auf, zum Christentum überzutreten) : »Abjure tes erreurs, ô malheureuse fille, / Le Dieu jaloux t'écoute! [.. .]«. Hier soll nicht der Gott Israels gekennzeichnet werden, sondern der Christengott erscheint als eifrig (eifersüchtig) auf die Durchsetzung der neuen Religion bedacht. 69) Psaume XVIII, 10 f. 14 f.: »(Iahvé) Il inclina les cieux et descendit, / un épais nuage sous ses pieds; / il monta sur un Chérubin et vola, / il plana sur les ailes du vent, / [. . .]. Dans les cieux tonna Iahvé / et le TrèsHaut fit entendre sa voix, / il lança ses flèches et dispersa les ennemis, / il jeta des éclairs et les mit en déroute.« — Vgl. auch Psaume CIV, 3b. — Das Reiten Jahwes auf Wolken wird in Psaume LXVIII, 5 erwähnt. 114

briand im II. Teil des »Génie du Christianisme« zitierte, wo im 5. Kapitel des 4. Buches vom »Caractère du vrai Dieu« gehandelt wird. Als Gott des Blitzes und der Winde unterscheidet sich Jahwe nicht im geringsten von antiken Himmelsgöttern. Über Zeus, den Antagonisten des Prometheus, wird in jedem Nachschlagewerk und natürlich in jeder Darstellung der griechisch-römischen Mythologie als erstes gesagt, er sei der Gott [ . . . ] der Himmelserscheinungen oder genauer gesagt, der Erscheinungen der Atmosphäre. Seine ursprünglichen Funktionen scheinen mit dem Regen [.. .] zusammenzuhängen und im besonderen mit Donner und Blitz. ( . . . ] Für all dies zeugt eine lange Reihe von Beinamen, wie Ombrios und Hyettios (Regner), Urios (Sender von günstigen Winden), Astrapaios (Blitzesdileuderer), Bronton (Donnerer) [.. .]70).

Diese Eigenschaften deutet Leconte de Lisle also auch für den Gott an, dem Qaïn gegenübersteht. Dagegen fehlen in seinem Jahwebild die spezifisch israelitisch-alttestamentlichen Züge: der Rechtswille Jahwes, seine personale Offenbarung, sein direktes Ansprechen einzelner Menschen, die Spannung zwischen Bestrafen und Bewahren von Menschen71). So entstammt der Name des Gottes, der als Gegenspieler Qaïns hinter dem Gedicht Leconte de Lisles steht, zwar demselben religionsgeschichtlichen Bereich wie der Kainstoff, aber davon abgesehen weist die Gestalt Jahwes keinen der für den Gott des Alten Testamentes charakteristischen Züge auf. Den Schöpfer der Welt und Herrn der Menschen kennzeichnet Leconte de Lisle durch dessen göttliche Taten, den menschlichen Helden seines Gedichtes dagegen durch seine Leiden. Hatte Qaïn bisher über Jahwe gesprochen, so hören wir nun, was er über sich selbst sagt. Die Strophen 64-66 wollen wir zunächst einmal ohne die beiden ersten und die zwei letzten Yerse zitieren: Il monte avec la nuit sur les rochers d'Hébron, Et dans son cœur rongé d'une sourde détresse Il songe que la terre immense est sa prison. 70) Zitat aus: Griechische Mythologie, ein Handbuch, von H. J. Rose, München 1955, S. 42 f. 71) Nach G. von Rad, Theologie des Alten Testamentes, Bd. I u. II, München 1961 u. 1960, passim, vgl. besonders das über Urgeschichte, Jahwename, Jahweoffenbarung, Vorstellung von Jahwe, Jahwewort Gesagte. 115 8'

Tout gémit, l'astre p l e u r e et le mont se lamente, Un soupir d o u l o u r e u x s ' e x h a l e des forêts, L e désert v a roulant sa plainte et ses regrets, L a nuit sinistre, en p r o i e a u mal qui la tourmente, Rugit comme un lion sous l'étreinte des rets. Et là, sombre, debout sur la roche e s c a r p é e , T a n d i s q u e la f a m i l l e humaine, en bas, s'endort, L ' i m p é r i s s a b l e ennui me t r a v a i l l e et me mord, [. . .].

Leconte de Lisle zeigt uns seinen Helden, wie er bei Nacht hinaufsteigt ins Gebirge, erfüllt von einer Verzweiflung, die taub ist gegenüber jedem Trost, jeder Ablenkung. Die weite Welt ist nichts als ein bedrückendes Gefängnis. Die Natur leidet ihrerseits in demselben Maße wie der Held, sie stöhnt, weint, klagt, seufzt, schreit auf unter ihrer Qual. Der Held erreicht einen steil vorspringenden Felsen. Tief unter ihm schlafen die Menschen. Er allein, von seinem ennui gequält, findet keine Ruhe. Nach dem Namen dieses Helden gefragt, würde wohl kein Leser »Kain« antworten, sondern wahrscheinlich »René« oder »Octave«. Wer kennt nicht jenen Abschnitt aus der »Confession d'un Enfant du Siècle«, wo Octave von seinen nächtlichen Wanderungen zu einem Felsen spricht? L o r s q u e , p a r un b e a u clair de lune, nous t r a v e r s i o n s lentement la forêt, nous nous sentions pris tous les d e u x d'une m é l a n c o l i e profonde. [ . . . ] Nous allions nous asseoir sur une roche qui dominait une g o r g e d é s e r t e ; nous y passions des h e u r e s e n t i è r e s ; [.. .] 72 ).

Am Anfang eines seiner bekanntesten Gedichte erzählt Lamartine, er setze sich bei Sonnenuntergang oft im Schatten einer Eiche auf einem Berge nieder73). Der Dichter stellt sich dann die Frage: »Sur la terre d'exil pourquoi resté-je encore?« Auch Leconte de Lisles Held begrüßt (Y. 297) mit Bitterkeit die Erde als Ort des Exils und teilt das in Lamartines Gedicht »Dieu« ausgedrückte Gefühl des Menschen, in einem Gefängnis zu sein. Bei Leconte de Lisle ist es 72) A l f r e d de Musset, L a Confession d'un E n f a n t du Siècle, » Œ u v r e s complètes en Prose«, texte établi et annoté p a r Maurice Allem, P a r i s 1951, S. 224 (Bibliothèque de la Pléiade). 73) A l p h o n s e d e L a m a r t i n e , L'Isolement, » Œ u v r e s « , Bd. I, a. a. O. S. 21. — Auch in »L'Immortalité« erwähnt L a m a r t i n e diese f ü r einen romantisdien Helden typische Situation: »Tantôt sur les sommets de ces rochers antiques, / Tantôt a u x bords déserts des lacs mélancoliques, / [ . . . ] / J e plongeais a v e c toi dans ces obscurités. / L e s o m b r e s à longs plis descendant des montagnes, / Un moment à nos y e u x dérobaient les c a m p a g n e s [ . . . ] « (ebda. S. 27).

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die Erde, auf der Q a ï n sich als Gefangener fühlt, bei L a m a r t i n e ist das Einengende die Welt des Sichtbaren, Körperlichen, Wirklichen im Gegensatz zum Bereich des Möglichen. Beide Aussagen w e r d e n so besonders eindrucksvoll durch die Gegensätzlichkeit der innerhalb eines Verses gebrauchten Bilder. Leconte de Lisie: »II songe que la t e r r e i m m e n s e est sa p r i s o n « (Y. 320). Lamartine: »Mon âme e s t à l ' é t r o i t dans sa v a s t e p r i s o n « 7 4 ) . Enttäuschte Unendlichkeitssehnsucht ist eng v e r w a n d t mit dem ennui 75 ), der ebenfalls in unseren Leconte de Lisle-Yersen nicht fehlt: »L'impérissable ennui me travaille et me mord, [...].« Ulrich W e b e r hat in seiner Dissertation gezeigt, wie h ä u f i g in der Literatur der Romantik das Substantiv »ennui« von mehrsilbigen, schwerfälligen A d j e k t i v e n wie irrémédiable, inexorable, irrésistible usw. begleitet wird 76 ). Noch zahlreicher sind die Belege f ü r »ennui« als S u b j e k t von Verben wie dévorer, oppresser, opprimer, détruire, briser, ronger 77 ). Auch bei Leconte de Lisie heißt es in unserem Abschnitt an einer dem »ennui« korrespondierenden Stelle: »[...] dans son cœur rongé d'une sourde détresse [...].« Wir haben also in den Strophen 64-66 des »Qa'in« die Schilderung eines romantischen Helden mit Hilfe literarischer Mittel, die Leconte de Lisie bereits vorgegeben waren. Das zeigt sich an W o r t w a h l und Ausdrucksweise, an der Verwendung bestimmter Topoi: vor allem der ennuiSchilderung, der Gefängnis-Metapher, dem Gegensatz des Helden zur friedlich-dumpfen, schlafenden Menschheit und der Auffassung der Landschaft als einer leidenden Wesenheit, es zeigt sich nicht zuletzt an der Situation des nächtlichen Hinaufsteigens zu einem Felsen. Leconte de Lisie hat diese schon f r ü h e r v e r w e n d e t : f ü r 74) Dieses Zitat steht in folgendem Zusammenhang: »[. . .] foulant à mes pieds cet univers visible, / Je plane en liberté dans les champs du possible. / Mon âme est à l'étroit dans sa vaste prison: / Il me faut un séjour qui n'ait pas d'horizon« (Lamartine, Dieu, »Œuvres«, Bd. I, a. a. O. S. 52). 75) In diesem Zusammenhang zitiert U. Weber in seiner Dissertation »Ennui. Die Bedeutungen des Wortes in der französischen Romantik« (Masch.-Sdir., Freiburg i. B. 1949) aus einem Brief des Maurice de Guérin: »L'infini se découvre davantage et les limites sont plus cruelles. Que sais-je enfin? Je ne vous répéterai pas mes ennuis; |...]« (»Œuvres«, Strasbourg o. J., S. 296, Brief vom 10. Juli 1838. [Bibliotheca Romanica 132-136]). 76) A. a. O. S. 38 u. passim, vgl. besonders die schematischen Überblicke am Schluß der Dissertation. 77) Ebda. 117

Adam"), für Satan"). Diese Elemente der Darstellung sind sämtlich unabhängig vom Kainstoff, sie drücken nichts von dem aus, was für einen Kain typisch ist, denn sie enthalten keine Beziehung zum Brudermord oder zu der für den Kainstoff charakteristischen Gottesvorstellung, noch auch zu Adam, Eva und dem Paradies. Stünden Leconte de Lisles Verse in einer Kaindichtung aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert, so könnten sie allenfalls einen »Kain nach dem Brudermord« schildern, der von Gott und Menschen völlig isoliert über seine Tat in Verzweiflung gerät. In Leconte de Lisles Komposition aber gilt der zitierte Abschnitt von einem Kain, dem der Brudermord noch bevorsteht. Qa'in ist also von vornherein der Verzweifelte, der hochmütige Ausnahmemensch, er wird es nicht erst durch den Brudermord. Diese Auffassung der Kaingestalt stammt in ihren Grundzügen von Byron. Der jahrhundertelang mit Verachtung oder Grauen betrachtete Ausnahmemensch Kain wird durch Byron auf einmal zum Typ des — wenn auch in verhängnisvollem Sinne — ausgezeichneten Menschen, wie die Romantik ihn in dem »maudit«, dem »outlaw« bewundert. Diese Veränderung des Kainbildes vollzieht sich in Analogie zu der Entstehung einer Vorliebe für die Gestalten der gefallenen Engel und besonders für Satan: diese Verdammten werden als traurig-schön und unheimlichfaszinierend dargestellt. Eines der vielen Beispiele dafür ist die Lucifergestalt in Byrons »Cain«8®). Der Hauptunterschied zwischen Lucifer und Cain liegt in Lucifers bewußter, aktiver Opposition gegen Gott, der bei Cain nur eine Haltung der Unzufriedenheit, der Kritik, also der latenten Auflehnung gegen Gott entspricht. Die wichtigsten Charakterzüge dieser beiden Gestalten hat Leconte de Lisle nun in seinem Qai'n vereint81). Es gibt in dem französischen 78) »Un soir, il se leva [ . . . ] / II gravit des coteaux d'Hébron les rocs déserts« (»La Fin de l'Homme«, »Poèmes Barbares«, S. 358). 79) »Silencieux, [. . .) / Enveloppé du noir manteau de ses deux ailes, / Sur un pic hérissé de neiges éternelles, / Une nuit, s'arrêta l'antique Foudroyé« (»La Tristesse du Diable«, »Poèmes Barbares«, S. 297). 80) Uber Lucifer sagt Cains F r a u Adah: " [ . . . ] I cannot abhor him; / I look upon him with a pleasing fear, / And yet I fly not from him: in his eye / There is a fastening attraction which / Fixes my fluttering eyes on his; [ . . . ] / [ . . . ] he awes me, and yet draws me near, / Nearer and nearer: — Cain — Cain — save me from him!" (Cain, I, 1, 407-413.) 81) Das wird sich u. e. bei der Interpretation des Cherubengespräches nodi zeigen. Wir sahen es aber z. B. audi schon an der Argumentationsweise Qai'ns in der Strophe über die Schöpfung der Welt (vgl. S. 110 ff. unserer Arbeit).

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Kaingedicht keinen Satan mehr. Das aktive, selbstbewußte, autonome Empörertum, das unabhängig von Opfer und Brudermord von Anfang an zum Wesen des Helden gehört, ist einer der neuen Züge in Leconte de Lisles Qaün im Vergleich zum Cain Byrons. Abgesehen davon sind die Helden der englischen und der französischen Kaindichtung sehr nahe miteinander verwandt. Das zeigt besonders der Abschnitt, von dem wir ausgingen; die Verse 318-328 aus dem »Qaïn«82) weisen zwar keine erwähnenswerten Textparallelen zu Byrons Mysterium auf, inhaltlich jedoch findet sich in ihnen eine Reihe von Elementen aus der Charakteristik der englischen Kaingestalt wieder : Unendlichkeitssehnsucht 83 ), Isolierung von den übrigen Menschen84), ennui als negatives Existenzgefühl 85 ). Dieses »Rüstzeug« eines romantischen Helden, das seit Byron also auch zu Kain gehören kann, findet sidx bei Leconte de Lisle in den Versen, die von Qaüns Reflexionen über die U n f r e i Willigkeit seines

Erdenlebens, dessen erste Ursache die Schöpfung der Welt war, eingeleitet werden. Qaïn redet Jahwe an: Sois satisfait! Qaïn est né. Yoici qu'il dresse, Tel qu'un cèdre, son front pensif vers l'horizon (V. 316 f.).

Jahwe könne mit der Lage der Dinge zufrieden sein, stellt Qaïn fest, denn Qaïn muß leben, obwohl er das abgelehnt hätte, wenn er die Möglichkeit einer eigenen Entscheidung gehabt hätte. Qaïn vergleicht sich mit einem Zedernbaum. Die Zeder ist eine in der Bibel häufig gebrauchte Metapher für mächtige und hochmütige Menschen88). Die Dichter der französischen Romantik imitierten 82) Das sind die Strophen 64-66 des »Qaün«, so wie wir sie oben zitiert haben, d. h. ohne die beiden ersten und die zwei letzten Verse. 83) Vgl. Cain, II, 1, 100-104 u. 117: "Cain: Ye multiplying masses of increased / And still-increasing lights! what are ye? what / Is this blue wilderness of interminable / Air, where ye roll along, [ . . . ] / [ . . .] Spirit! let me expire, or see them nearer." Vgl. auch ebda. III, i, 177 ff. 84) Vgl. ebda. I, 1, 187-190: "Cain: [ . . . ] and my Adah [ . . . ] / [ . . .] she, too, understands not / The mind which overwhelms me: never till / Now met I aught to sympathise with me." 85) Vgl. ebda. Cain: "Abel, I'm sick at heart" (1,1,58). "I look / Around a world, where I seem nothing, with / Thoughts which arise within me, as if they / Could master all things" (I, 1, 175-178). "I am sick of all / That dust has shown me — let me dwell in shadows" (II, 2, 108 f.). 86) Z. B. Isaïe II, 12-13: »Car Iahvé des armées a un jour / contre quiconque est orgueilleux et altier, / contre tout ce qui est élevé, mais sera abaissé; / contre tous les cèdres du Liban, / les altiers, les élevés, [...].«

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diesen Sprachgebrauch87), wenn ihre Ausdrucksweise biblischarchaisch wirken sollte. Diesen Zweck erreicht auch Leconte de Lisle, wenn er Qa'ins stolzes Selbstbewußtsein in dem Zedernvergleich zum Ausdruck kommen läßt unmittelbar vor den Versen, die Qai'n ganz als romantischen Helden zeigen, um dann in den beiden Schlußversen die Situation des Cherubengespräches vorzubereiten: Et j e vois la lueur de la sanglante Ëpée Rougir au loin le ciel comme une aube de mort (V. 329 f.).

Das pittoreske Requisit des weithin leuchtenden, flammend-roten oder blutig-roten Schwertes wird sich so leicht kein Dichter entgehen lassen, der eine Szene vor den Mauern des verschlossenen Paradieses schildert. Schon Byron hatte es nicht weniger als dreimal erwähnt: Why should I fear him more than other spirits, Whom I see daily wave their fiery swords Before the gates round which I linger oft, [.. .]88).

Dieses Schwert wird in der Bibel ausdrücklich genannt: »la flamme tournoyante de l'épée« übersetzt Éd. Dhorme den entsprechenden hebräischen Ausdruck80). Qaïn erblickt von seinem nächtlichen Felsen aus das Schwert, in dessen Nähe sich auch die Cheruben als die Hüter des Zugangs zum Paradiese befinden müssen. Durch diese beiden Verse verbindet Leconte de Lisle die wichtige und umfangreiche Szene des Cherubengespräches mit der vorhergehenden Schilderung Qa'ins. Neben der Evokation des Paradieses ist das siebenstrophige Cherubengespräch der längste Sinnabschnitt im ersten Teil der Qai'nrede. Es ist die einzige Szene des ganzen Gedichts, in welcher 8?) Vgl. Lamartine: »Tout marche vers un terme et tout naît pour mourir; / Dans ces prés jaunissants tu vois la fleur languir; / Tu vois dans ces forêts le cèdre au front superbe / Sous le poids de ses ans tomber, [...]« (»L'Immortalité«, a. a. O.S. 27). 88) Cain, I, 1, 83-85. Vgl. audi "I see / The gates of what they call their Paradise / Guarded by fiery-sworded Cherubim [. . .]" (I, 1, 171-173), und: "The umbrage of the walls of Eden, chequered / By the far-flashing of the Cherubs' swords [. . .]" (I, 1, 273 f.). 89) Vgl. Genèse III, 24. — Éd. Dhorme erklärt das Flammenschwert als »foudre à deux branches (symbole du dieu du tonnerre, Adad) qu'on montait sur pivot pour marquer l'emplacement d'une ville détruite et interdite par les Assyriens« (Fußnote zu Genèse III, 24). 120

ein zweiter Sprecher auftritt, der nidht nur eine Rede an Qaïn hält, sondern ein Wechselgespräch mit ihm führt. Auch wenn Leconte de Lisle Jahwe der in Str. 64 direkt an diesen gerichteten Anrede Schweigen entgegensetzen ließ, geht die Auseinandersetzung Qaïns mit Jahwe natürlich weiter und erreicht im Cherubengespräch einen ersten Höhepunkt. Jahwe tritt nicht etwa selbst auf, sondern Leconte de Lisle läßt das, was nach seiner Konzeption Jahwe zu Qaïn gesprochen haben würde, vom Cheruben sagen. Audi in den Texten des Alten Testaments tritt Jahwe durchaus nicht immer — wie etwa in der Geschichte vom Sündenfall — in eigener Person den Menschen gegenüber. Häufig spricht an Jahwes Stelle ein »Engel des Herrn« zu den Menschen, und zwar kann seine Rede formelhafte Wendungen enthalten, die sonst nur Jahwe selbst gebraucht 80 ). Die Annahme erscheint nicht unberechtigt, daß Leconte de Lisle bei seinem Interesse für die heiligen Bücher der einzelnen Religionen auch das Alte Testament so gut kannte, daß er das Verfahren, Jahwe durch einen »Engel des Herrn« (der aber seiner Art nach nie ein Cherub war!) zu ersetzen91), beobachtet hat. Nodh interessanter ist es aber, das Cherubengespräch in einer anderen Perspektive zu sehen: Bei Leconte de Lisle führt Qaïn das bedeutungsvolle Gespräch (Str. 67-73), das der endgültigen Auseinandersetzung mit dem Tod Abels (Str. 74-76) vorausgeht, mit einem Vertreter des Himmels. In Byrons Mysterium wird der Brudermord indirekt vorbereitet in dem vorhergehenden langen Gespräch Cains mit Lucifer, dem Vertreter der Hölle. Anstelle der Sympathie Cains für Lucifer und der inneren Übereinstimmung beider in Byrons Kaindichtung finden wir bei Leconte de Lisle einen entsprechenden Gegensatz zwischen Qaïn und dem Cheruben. Gerade wenn man an dieser Stelle des mystery und des poème eine Gleichheit im Aufbau erkannt hat, kann man an der unterschied90) Vgl. Les Juges II, 1-4 und die Fußnote zu Vers 1 dieser Stelle: »L'Ange de Iahvé, substitut de Iahvé, pour éviter l'anthropomorphisme, comme dans >ExodeEngel Jahwes< und Jahwe selber nicht unterschieden werden kann. [. . .] Ursprünglich war in diesen Sagen wohl unbefangen von ganz sinnenfälligen Gotteserscheinungen die Rede. Die Bearbeiter der Sagen haben aber diese urwüchsige Überlieferung [. . .1 dadurch gemildert, daß sie die Figur des >Engels Jahwes« als einer Erscheinungsf o r m j a h w e s einschoben« (Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hrsg. von Gerh. Kittel, I. Bd., Stuttgart 1957, S. 76 [Art. Angelos]). 121

liehen Besetzung der Rolle des Gesprächspartners Kains die verschiedene Akzentuierung der Fragestellung in der englischen und der französischen Kaindichtung ablesen. Denn eine Dichtung, deren zentrale Gestalt Kain ist, wird immer in der einen oder anderen Weise die Frage nach Kains Schuld beantworten. In Byrons Mysterium wird sie in allgemeinerer Form gestellt als die Frage nach dem Bösen im Menschen und in der Welt und nach dem Tod. In ständiger Verteidigungshaltung bestreitet Cain für sidi eine persönliche Schuld am Tode Abels unter Hinweis auf die Erbsünde (obwohl er diese an anderer Stelle leidenschaftlich verneint hatte). Er gibt Gott die Schuld an dem Vorhandensein des Bösen überhaupt und speziell in seinem (Cains) eigenen Wesen. Zugleich hegt Cain für niemanden freundschaftliche Gefühle als für Lucifer, der (bei aller Sympathie des Dichters für diese Gestalt) der Böse ist und bleibt. Das, was traditionell in der Geschichte von Kain und Abel »böse« genannt wurde, wird auch von Byron noch negativ gewertet, andererseits läßt der Dichter aber Cains Selbstrechtfertigung weitgehend gelten. Bei Leconte de Lisle ist die Frage nach der Schuld Qai'ns von vornherein entschieden. Nur aus Gründen der wirkungsvollen Polemik wird sie überhaupt noch angerührt. Qa'fn tritt als Vorkämpfer für Gerechtigkeit auf, und aus der Position des unschuldig Leidenden wirft er Jahwe dessen Ungerechtigkeit gegen die Menschen vor. Die Rolle Lucifers als Kämpfer gegen Gott hat Qa'in also mit übernommen. Er behauptet sich nicht nur gegenüber den vorwurfsvollen Fragen des Cheruben und den Aufforderungen zur Unterwerfung, sondern er verlangt seinerseits, daß Jahwe ihm Rede und Antwort stehe. Wie groß ist an dieser Stelle der Abstand der Kaindichtung Leconte de Lisles zu ihrer biblischen Quelle! Dort war Kain der Gefragte, und von Jahwe wurde er zur Rechenschaft gezogen in einer Auseinandersetzung, die nicht vor, sondern nach dem Brudermord stattfand. Der Gewalttat Kains ging kein Dialog voraus wie in den Dichtungen Byrons und Leconte de Lisles, sondern nur eine Aufforderung Jahwes an Kain"), sich von der Sünde nicht beherrschen zu lassen. Blieb in der Bibel Jahwes Appell an Kain wirkungslos, so werden wir in Leconte de Lisles Gedicht sehen, daß die Aufforderungen des Cheruben bei Qai'n ebenfalls 92) Vgl. Genèse IV, 5-7: »[...] mais à Caïn et à son oblation il (Iahvé) n'eut pas égard. Caïn en éprouva une grande colère [...]. Alors Iahvé dit à Caïn: >Pourquoi éprouves-tu de la colère [...]? Que si tu n'agis pas bien, le Péché est tapi à la porte: son élan est vers toi, mais, toi, domine-le !Qu'as-tu fait? La voix du sang de ton f r è r e crie du sol vers moi. Maintenant donc maudit sois-tu de p a r le sol qui a ouvert sa bouche pour p r e n d r e de ta main le sang de ton frère!