Das Gebet des Herrn in zehn Predigten ausgelegt [Reprint 2021 ed.]
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Wikhekm Bahnsen, Generalsuperintendent, Oberconsistorialrat und Oberpfarrer in Coburg, früher Pfarrer au St. Philippus-Apostel in Berlin.

Berlin. Verlag von Alexander Dnncker.

Das Gebet des Herrn in

zehn Predigten ausgelegt von

Mtthetm Kahnserr, Prediger an der St. Philippus-Apostel-Kirche in Berlin.

Arolsen. Speyersche Buchhandlung (Fette Dietrich).

1883.

Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin N.

Vorwort. Vorliegende Predigten wurden im Sommer dieses Jahres von mir gehalten.

Auf den Wunsch einzelner, treuer Gemeinde­

glieder biete ich sie gedruckt als Andenken an das Lutherjahr 1883 der Gemeinde dar. Steht ihr Inhalt auch in keiner directen Beziehung zur allgemeinen Feier des evangelischen Volks, so

konnte doch über das „Gebet des Herrn" nicht gepredigt werden ohne der Spuren zu gedenken, die der große Reformator zurück­

gelassen.

Möchten die vorliegenden Predigten Vielen ein Segen

werden. Berlin, im November 1883.

Bahnsen, Prediger.

Warum müssen wir dem Meister dankbar sein, daß er nns beten gelehrt? Lucas 11, 1—4.

Und es begab sich, daß er war an einem Orte und betete. Und da er aufgehört hatte, sprach seiner Jünger einer zu ihm:

Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Er aber sprach zu ihnen:

Vater im Himmel,

Wenn ihr betet,

so sprecht: Unser

Dein Name werde geheiligt.

Dein Reich

komme. Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel. uns unser täglich Brod

immerdar.

Und

vergib uns

Gib unsere

Sünden; denn auch wir vergeben allen, die uns schuldig sind.

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel.

Aus der Höhe eines Berges stand ich und blickte schweigend

Ferner Glockenklang er­

hinab in das Thal zu meinen Füßen.

reichte mein Ohr. in das Gotteshaus. ganze Gegend.

Es war Sonntagabend und die Glocken riefen Sabbathstille hatte sich ausgebreitet über die

Wenige Stunden vorher hatte an derselben Stelle

mich auch ein liebliches Bild ergötzt.

Zur Feier des Sonntags

war man hinausgezogen alt und jung,

Freude hatte geleuchtet

aus jedem Auge, Frohsinn sich gezeigt auf jedem Angesicht. Aber

schöner war doch noch das Bild, als Gebetsstimmung sich aus­ breitete über die ganze Gegend.

Ja, wenn mein Ohr auflauschte

und ich hörte, wie in fernen Orgelklang der Vöglein Gesang sich

mischte, wenn mein Auge hinab sich senkte und ich sah, wie die Blümlein allmälig ihren Kelch zu schließen begannen, wenn hin­ auf gen Himmel mein Blick sich richtete und der Sterne Heer

schweigend auf mich herniederschien, dann war es mir, als riefe eine Stimme mir zu: Menschen beten, aber die Schöpfung betet

mit; das Vöglein singt sein Abendgebet bevor es schlafen geht, 1

2 es vertraut dem Gott sich an, der es ernährt, ob es gleich weder

säet, noch erntet, noch sammelt in seine Scheuern'); die Blume neigt in Demuth ihr Haupt, als ob sie wüßte, wenn der Wind darüber­

gehet, so ist sie nimmer da und ihre Stätte kennet sie nicht mehr*2); 34 auch sie befiehlt sich dem Gott, der die Lilien des Feldes kleidet, sodaß

sie prächtiger

erscheinen,

denn Salomo

in

aller

seiner

Herrlichkeit"); und die Himmel? — sie hüllen sich in majestätisches

Schweigen, aber schweigend erzählen sie des Ewigen Ehre und

verkündiget seiner Hände Werk^).

die Feste

Ich

aber gedachte

der Worte: Und alles betet lebendig Um eine selige Ruh, Und alles mahnt mich inständig: O Menschenkind, bet' auch du.

Noch überwand ich die Eindrücke vergangener Tage nicht.

Dort unten im Thale hatte ich noch vor Kurzem sie knieend ge­ sehen zu den Füßen des heiligen Crucifixes, hatte die Art ihres Betens

wahrgenommen,

hatte

mir

erzählen

lassen,

wie

des

Priesters Mund dem reuigen Sünder geboten seine Bußübungen zu halten. ist das

Ein Begleiter hatte mir zugerufen: Wie unwürdig

alles

wir haben gelernt den

des denkenden Menschen;

Himmel mit seinem Sternenmeer zu durchforschen, in der Erde

Geheimnisse hinabzusteigen und des Meeres Tiefen zu ergründen; wir wissen, daß die unermeßliche Welt von Ewigkeit zu Ewigkeit ist und sich entwickelt, aber einen Gott haben wir nicht gefunden;

für ihn ist kein Raum mehr in der Welt des neunzehnten Jahr­

hunderts, geschweige denn für das, was Priesterbeschränktheit über

diesen Gott der Welt noch vorspiegelt.

Wir waren im Gespräch

auf alle jene Gräuel gekommen, die frommer Wahn im Laufe der Jahrhunderte verübt.

Er hatte sie

betont um das Recht

der Religion zu bekämpfen; ich hatte versucht seine Gründe zu ') Matthäus 6, 26. 2) Psalm 103, 16.

3) Matthäus 6, 28 u. 29. 4) Psalm 19, 2.

3 entkräften.

Ueberzeugt hatte ich ihn nicht.

Mir war's genug, hier

durch die Schöpfung Gottes das Wort hindurchklingen zu hören:

O Menschenkind, bet' auch du; aber zugleich sagte ich mir, nicht jedes Gebet ist würdig, und des Meisters Worte traten mir vor die Seele, wo er die Bitte seiner Jünger erfüllt und sie beten

lehrt.

So sei denn heute unser Thema:

Warum müssen wir dem Meister dankbar sein, daß er uns beten gelehrt? Wir antworten darauf:

1. 2.

weil das Beten erlernt sein will,

weil

grade

der

Meister

am

Besten

uns

beten

lehren kann.

1. Es mag uns wunderbar erscheinen, daß das Beten erst er­ lernt werden soll, wunderbar vielleicht grade je mehr wir Christen

werden.

Widert uns doch von allen krankhaften Erscheinungen

des religiösen Lebens

vielleicht kaum etwas mehr an, als das

Hersagen langer Gebetsformeln, die das Gedächtniß sich wohl ein­ geprägt hat,

die

aber Herz

und

Verstand

gleichgültig

lassen.

Sehen wir ja doch auch den Meister selbst auftreten gegen alles

Gelernte und Gewohnheitsmäßige

beim Beten.

Er tadelt

die

Pharisäer wegen ihrer langen Gebete, die sie vor Aller Ohren

plappern, er lobt den Zöllner, der, wie das Herz es ihm eingiebt, einfach und schlicht seine Bitte gen Himmel sendet: Gott, sei mir Sünder gnädig.

Und doch, glauben wir, handelt die Mutter recht,

welche ftühe ihr Kindlein beten lehrt; doch ist es eine berechtigte

Forderung,

daß das Kind in der Schule seine Gebete lerne;

doch zeigt uns unser Text, wie die Jünger Jesu, die gewiß viel

hundert Gebete schon gen Himmel gesandt, die Bitte aussprechen: Herr lehre uns beten, doch sehen wir, wie nicht nur Johannes,

der gewaltige Vorläufer Jesu, dem alles pharisäische Wesen und

alles Gemachte in der Religion so fern lag, seine Jünger beten lehrt, sondern auch der Erlöser selbst voll Einsicht und Weisheit

der Bitte seiner Jünger nachkommt und spricht: Wenn ihr betet, 1*

4 so sprecht:

ein

Unser Vater im Himmel re.

allgemein

menschliches Verlangen

Es muß mithin wohl

sein,

das grade in den

edleren Seelen am meisten ausgeprägt ist, beten zu lernen. Wer

wüßte denn auch nicht von dem Nutzen eines einst in der Kindheit gelernten Gebetes zu reden?

im Leben,

wo

Kommen doch so manche Stunden

wir die Worte zum Gebete nicht mehr finden

können, wo Zunge und Lippen ihren Dienst uns versagen.

Wie

wohl wird uns da, wenn die Erinnerung erwacht an so ein Wort

wie dieses: Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde; wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet,

so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil'), oder wie dieses: Vater, ich habe gesündigt in den Himmel und vor dir und bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Sohn heiße; mache mich als einen deiner Tagelöhner*2).

Der Kampf des

Lebens hat es zum Gebet nicht kommen lassen, die Gebetsstim­ mung ist nie gesucht und im entscheidenden Augenblick in Folge dessen schwer zu finden; da leuchtet denn so ein Wort aus ferner

Jugend auf und die Seele kann fröhlich wieder aufathmen. Aber das ist der einzige Grund nicht, warum wir beten lernen müssen. Beten ist ja im

letzten Grunde nichts anderes, als Reden mit

Gott, Bethätigung jenes Triebes, den uns die Gottheit in das

Herz gelegt hat, mit ihr uns in Beziehung zu setzen, so daß man mit Recht gesagt hat: Fromm sein und beten sei eigentlich das­ selbe oder: Zeig' mir, wie du betest, und ich will dir sagen, wie

cs um deine Religion steht.

Wie könnte aber dieser Trieb zur Re­

ligion seine Bestimmung erreichen ohne jene Regelung, deren alle unsere Triebe bedürfen?

Seine Religion war es, die so manchen

Götzendiener dazu brachte, selbst Menschenleben seinem Gotte zu opfern, und zu den blutigsten Gräueln, wie sonst die Rache sie

eingiebt, zu greifen.

Seine Religion war es, die selbst manchen

Christen zum blindesten Fanatismus fortriß, so daß er Scheiter-

haufeu errichten und Bannsprüche ersinnen konnte wider Jünger

') Psalm 73, 25 u. 26. 2) Lucas 15, 18 u. 19.

5 des Herrn nur deshalb, weil sie in menschlicher Schwäche dessen

Herrlichkeit anders sich vorgestellt, als er selbst, nicht minder in

menschlicher Schwachheit, es zu thun pflegte.

Und die Gebete der

Menschen? wie oft lauteten sie: Vernichte meine Feinde, sende

deine Feuerstrahlen hernieder aus den Wolken, daß sie vertilgt werden von der Erde; rotte sie aus aus den Reihen der Leben­

digen, die da anders glauben, als wir!

Wer hätte je hineinge­

blickt in die heiligen Bücher der Menschen, je gehorcht auf die Worte ihrer Priester, ohne in roherer oder feinerer Form solche

Bitten bei ihnen gefunden zu haben?

Waren sie ja selbst jenen

Jüngern nicht fern, die doch schon lange im innigsten Verkehr mit dem Meister gestanden und über jene sündige Stadt Sa-

mariens, welche den Erlöser nicht aufnehmen wollte, Feuer vom Himmel herniederzuflehen im Stande roaren1).

Die menschliche

Selbstsucht, die Wurzel von so viel Leid und Trübsal hienieden, ist es auch hier, welche den reinen Quell trübt und das zarteste Band entweiht, das nämlich, welches die Seele knüpft an ihren

damit man selbst

Man will Vernichtung seiner Feinde,

Gott.

glänzen

kann;

heiligsten

man

Dinge,

duldet

welche

das

keine

andere

Meinung

Menschenherz

kennt,

leichten Kaufs die seinige zur Herrschaft bringe.

über

damit

die

man

Was soll ich

ferner erst reden von all jenen Gebeten, wo nur ein irdischer Vortheil nach dem andern erfleht wird und das nicht selten aus

Kosten anderer Menschen, auf Kosten des großen Ganzen? habe ein Gebet gekannt, das von christlichen Kanzeln

Ich

allsonn­

täglich erklang, das lautete: Herr, segne unsern Strand! Gedacht war dabei an die Trümmer und Vorräthe gestrandeter Schiffe,

die der Eigennutz sich dienstbar machen wollte.

Wie viel Angst

und Sorge, wie viel Schmerz und Todeskampf knüpfte sich oft

an

solche

Trümmer!

aber

die

Selbstsucht

fragte nicht

nach

Anderer Noth, sondern nur nach dem eigenen Vortheil und das

selbst im Gebet.

Was soll ich reden von allen kurzsichtigen

Gebeten, die über der Menschen Lippen kommen, wo man sein ') Lucas 9, 54.

6 Glück zu erbitten wähnt und sein Unheil sich heraufbeschwört, wo das nach der Schlange greift in der

man dem Kinde gleicht,

Meinung, es sei ein Fisch, nach dem Stein im Glauben, es sei ein Brod?')

Jenes Wort des Meisters an die Zebedäussöhne gilt

von Tausenden: Sie wissen nicht, was sie bitten?).

Es gilt von

dem Vater, der für seinen Sohn nur Ehrenstellen, nur Erfolge erfleht, ohne zu ahnen, daß dieselben ihm ein Fallstrick sein werden, so daß schließlich Ehrgeiz und Weltlust ihn sittlich zu Grunde

richten.

Es gilt von der Mutter, die um Alles in der Welt ihr

Kind nur nicht will sterben sehen, ohne zu bedenken, wie auch

ein

kleines Kindlein

zum Himmelserben

berufen ist,

wie der

Meister grade gesagt hat:

Lasset die Kindlein zu mir kommen

und

denn solcher ist

wehret ihnen

nicht;

wahrlich ich sage euch:

das Reich

Gottes;

Wer das Reich Gottes nicht empfängt

als ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen 3*),* wie grade das

fortgesetzte Leben den Menschen dem aussetzen kann, den Kindes­

sinn zu verlieren, ohne den wir nicht in das Reich können ein­ gehen.

Was soll ich endlich davon reden, wie der Menschen Ge­

bete auf den ruhigen Beschauer so oft den Eindruck machen, als wollte der kurzsichtige, endliche Mensch dem großen, allmächtigen Gott Himmels und der Erde in sein Regiment fahren, als wollte

er ihm vorschreiben, welche Wege er gehen soll?

Ich denke dabei

nicht nur an den Fetischdiener, der seinen Götzen züchtigt, auch wohl ins Feuer wirft, wenn er seinen Wünschen nicht nachkommt; ich denke dabei auch an so manches Gebet unter uns, das mit

Ungestüm

gen

Himmel dringt,

das

so klingt,

als wollte der

Mensch seinen Gott erst auf die Noth aufmerksam machen, die dessen Auge doch

längst gesehen,

als müßte der Allgütige erst

durch Menschenworte ermüdet werden, um ihr Anliegen zu hören.

Gewiß alles Grund genug für uns, erst beten zu lernen!

Wie viel mehr aber noch liegt für uns ein solcher da vor, wo

-) Matthäus 7, 9 u. 10. -) Matthäus 20, 22. 3) Marcus 10, 14 u. 15.

7

man überhaupt nicht beten, überhaupt dem Triebe mit Gott sich in Beziehung zu setzen, nicht nachkommen mag.

Hier zweifelt

man an Gottes Dasein, oder stellt es direct in Abrede, dort ist der Gottesglaube wohl nicht geschwunden, aber der Mund pflegt sich damit zu entschuldigen, daß der Allwissende ja wisse, was uns fehle, der Allweise uns so leite, wie's gut sei, der Allmächtige also

uns führe, wie er es gewollt; sagt ja doch der Heiland selbst: Euer himmlischer Vater weiß, daß ihr deß alles bedürfet'). Wozu

da erst viele Worte machen, wozu da mit nutzlosen Worten die Zeit verbringen?

Aber, Seele, was würdest du sagen, wenn die

Blume des Feldes spräche: Wozu soll ich blühen? wozu meinen

Kelch aufthun? es fällt deswegen kein Sonnenstrahl, kein Tropfen erquickenden Regens mehr auf mich hernieder,

als sonst?

Ich

glaube, du würdest sprechen: die Blume hat ihren Zweck verfehlt,

den sie in der Schöpfung Gottes hat.

Dasselbe aber gilt auch

vom Menschen, der nicht beten mag, der bei allem, was er thut,

nur fragt: was nützt mir das zum irdischen Leben? der es für

unfruchtbar hält, die Beziehung zu Gott zu suchen.

Grade hietin,

grade im Gebet entfaltet der Mensch sein innerstes Wesen, zeigt er seinen Adel, seine Würde, grade im Gebet fühlt er sich wohl. Urtheile selbst, liebe Seele, ob der Krieger dir besser gefällt, der,

nur seiner Heeresmacht vertrauend, seines Feldherrntalents sich be­ wußt, den feindlichen Kugeln entgegengeht, oder der, welcher mit

tiefem Gefühl menschlicher Endlichkeit, mit dem Gedanken an die wunderbaren Wechselfälle des Lebens erst den Blick gen Himmel

sendet und die Hände zum Gebet faltet?

Nicht wahr, wenn ein

Gustav Adolf in ernster Stunde mit seinem Heere betet zu dem

Lenker der Schlachten, dann macht es einen erhebenden Eindruck, und wem unter uns wären es nicht Weihestunden seines Lebens

gewesen, als im Jahre 1870 des Krieges Fackel entbrannte und unsere Gotteshäuser rings umher in deutschen Landen bis auf den letzten Platz sich füllten?

Urtheile selbst, ob der Vater dir besser

gefällt, der gleichgültig und kalt von dem Sohne scheidet, welcher

’) Matthäus 6, 32.

8 das Vaterhaus verläßt, oder der, welcher erst mit ihm betet, daß

des Himmels Segen ihn begleiten möge? ob es besser ist, wenn stumm oder nur redend von den alltäglichsten Dingen die Familie

um den gedeckten Tisch sich setzt oder wenn der Hausvater erst

voll Andacht anhebt: „Aller Augen warten auf dich und du giebst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit.

Du thust deine Hand auf und

erfüllest alles, was lebet mit Wohlgefallen?"') ob du dich wohler

fühlst in einem Hause, wo man vom Morgen bis zum Abend

nur jagt nach Erdengut und Erdenglück oder in einem Hause, wo

man in besondern Weihestunden mit einander betet? und wenn

du denn auch für die Stunden des Glücks dich zu jenem hinge­

zogen fühlen möchtest, ob es auch gilt für die Stunden des Leids, auch für die Stunde des Todes?

Urtheile selbst, ob eine Wissen­

schaft dir besser gefällt, die der Erde Tiefen und des Himmels Blau durchsucht, die in vergangenen Jahrhunderten der Menschen Geschicke beobachtet und dabei selbstvermessen ihrer Erfolge sich rühmt,

aber

meint ohne

einen Gott auszukommen,

oder

eine

Wissenschaft, die vorurtheilsfrei ihrem Gegenstände sich zuwendet, aber menschlicher Kurzsichtigkeit sich bewußt bleibt und in Demuth sich beugt vor der Weisheit, die Himmel und Erde erschaffen und

bis hieher erhalten und regiert hat,

vor der Weisheit,

die da

waltet in der Geschichte der Menschenkinder und trotz menschlichen

Widerstrebens ihre Zwecke und Ziele doch schließlich erreicht?

Ja,

gestehen wir es uns nur, erst die Beziehung zu Gott, erst das Gebet giebt dem Leben seine Weihe und

es

giebt auf Erden

nichts, was diese Weihe nicht empfangen könnte, weder Geringes noch Hohes, weder Freud noch Leid, weder Leben noch Tod, und

wenn der Mensch dennoch das Gebet so oft unterschätzt, so ist das ein Beweis dafür, daß er erst beten lernen muß.

2. Wohl uns aber, daß wir nun auch wissen, wo wir beten

lernen

können.

Der Erlöser ist ja einst auf die Bitte seiner

]) Psalm 145, 15.

9 Jünger eingegangen, und wo könnten wir wohl besser beten lernen,

als bei ihm?

Himmel,

War er ja doch so ganz eins mit dem Vater im

daß er von sich sagen konnte:

Wer mich siehet, der

siehet den, der mich gesandt hat') oder: Ich bin vom Vater aus­

gegangen und gekommen in die Welt3*).*

Stand er doch in so

innigem Verkehr mit dem Himmel, daß er seinen Jüngern schon am Anfang seines irdischen Wirkens3) verheißen konnte: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, von nun an werdet ihr den Himmel offen

sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des

Stammte er ja doch aus des Vaters Schooß3)

Menschen Sohn.

und konnte verkünden, was er gesehen und gehört hatte.

So

müssen auch die Jünger, die ihn beten sehen, die Empfindung ge­

haben,

habt

lehren.

daß

er

ganz besonders geeignet sei,

Und er hat es gethan.

sie beten zu

Nicht als ob er ihnen gezeigt

und Vorschriften gemacht, welche Haltung ihr Körper beim Gebet einnehmen sollte, ob sie dabei knien oder stehen, ob sie die Augen

nach oben oder zu Boden richten, ob sie die Hände falten oder

ausgebreitet gen Himmel strecken sollten.

Nicht als ob er ihnen

bestimmte Tage des Jahres, bestimmte Stunden des Tages zum

Gebet genannt, beten sollten.

oder ihnen Vorschriften gegeben hätte,

wo sie

Sie haben gehört, wie er den Zöllner lobte, der

beim Gebet seine Augen nicht wagte gen Himmel aufzuheben3),

haben wiederum gesehen, wie er selbst die Augen nach oben richtete, als er dankend das Brod nahm, es brach und seinen Jüngern gab3).

Sie haben ihn niederfallen gesehen in Gethsemane, als

er bat, daß der Kelch der Leiden an ihm vorübergehen möchte7). Sie haben ihn beten gesehen am Morgen, beten am Abend, beten

in mitternächtlicher Stunde, beten in der Freude, beten im Leid,

') Johannes 12, 45. -) Johannes 16, 28.

3) Johannes 1, 51.

4) Johannes 1, 18.

5) Lucas 18, 13. «) Matthäus 14, 19.

7) Matthäus 26, 39.

10 beten in der Wüste, beten auf Bergeshöhen, beten im Tempel, beten am Kreuz, beten in der Einsamkeit, beten in der Mitte der Aus dem allen haben sie gelernt, hier giebt es keine

Brüder.

bestimmte Regel und Vorschrift, hier fragt sich's: wozu drängt das Herz?

wozu zeigt sich bei uns das Bedürfniß? wo finden

wir Andere, die mit uns beten, wenn wir ein Verlangen haben,

unsere Bitten mit denen Anderer zu vereinen? zu halten allen äußern Zwang,

Hier gilt es fern

alles Gesuchte und Erkünstelte,

jeden Widerspruch zwischen der äußern Haltung des Körpers und

den innern Regungen des Herzens.

Pflegt man doch sonst zu

sagen, daß der Geist sich seine Hülle bilde, daß in Auge und

Mienen sich abspiegle, was im Innern vor sich geht, und der

betende Geist sollte diese Macht nicht besitzen? Gebetes seine Jüngern zu lehren, an; das zeigt uns unser Text.

Aber Worte des

darauf kam es dem Meister Wir kennen diese Worte und

haben sie seit den Jahren unserer Kindheit oft gesprochen und ge­ hört.

Auch hier würden wir indeß irren, wollten wir glauben,

der Meister habe mit denselben eine ein für alle Mal feststehende

Gebetsformel uns geben wollen, deren wir bei all unsern Gebeten

uns bedienen müßten.

Hat er doch selbst bei anderer Gelegenheit

besonderer Gebete sich bedient.

Nur was und wie hier gebetet

wird, soll uns ein Vorbild sein, und darauf hat dies Gebet aller­

dings einen Anspruch.

Wie ist da alles so einfach und klar; nir­

gends ein Wort zu viel; nirgends etwas Schwülstiges; in kurzen,

inhaltsreichen Sätzen schreitet hier alles fort vom Anfang bis zum Schluß.

Wie treten da alle Erdengüter zurück hinter die

höheren, geistigen Güter! Während jene nur in einer, der vierten Bitte, ihren Ausdruck finden, handeln sechs von diesen.

Wie ist

da alles getragen von seligem Glauben an den gütigen Vater im

Himmel, der trotz aller Wechsel des Erdenlebens, trotz aller mensch­

lichen Sünde, seine Pläne doch erreicht. zurück hinter das „Dein"!

Wie tritt da das „Mein"

Dein Name werde geheiligt, dein

Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden, so heißt es bevor das Gebet übergeht auf unser täglich

Brod.

Wie fehlt da alles selbstvermessene Vorschreiben der Wege,

11 welche Gott mit uns gehen soll!

Wie fern ist da alles Klügeln,

ob Gott auch höre und erhöre, was über der Menschen Lippen komme!

Der Vater ist allmächtig und kann alles, der Vater ist

allweise und weiß seine Pläne zu erreichen,

der Vater ist die

Liebe selbst und will nur, was zu unserm Besten dient, der Vater

wird darum geben auf unsere Bitte, was gut ist; sie ist nicht nutzlos,

sie wirkt zurück auf unser Herz, sie ist bestimmend für

unser Geschick; das ist der selige Glaube, der alles durchdringt.

Nicht wahr, wer so betet, der thut etwas edel Menschliches; hier muß alles das verstummen, was nur ein Menschenmund gegen

das Gebet überhaupt einzuwenden vermag. Aber ist das nicht eben ein Gebet, wie es der Meister wohl

auf seine Lippen nehmen konnte, der ganz im Vater war, ein Gebet, wie es wohl selige Himmelsbewohner vor dem Throne des Höchsten sprechen, wo es nur klingt: „Heilig, heilig ist der Herr

Zebaoth,

alle Lande sind seiner Ehre voll?"

Ist das ein Gebet

für Bewohner dieser Erde mit all' ihrer Trübsal und all' ihrem

Leid, ein Gebet, wie es die Seele gen Himmel sendet, die sich hienieden unglücklich und verlassen fühlt?

bet, welches wir lernen könnten?

der Erde Last kennen gelernt,

Kurz, ist das ein Ge­

Es ist das Gebet dessen, der

so gut wie wir,

ja wie wenige

unter uns, der in der Krippe geboren, am Kreuz gestorben und von seinem Leben hat sagen müssen: „Die Füchse haben Gruben und

die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege"'), das Gebet dessen, der, ob er wohl Gottes Sohn war, doch mit Vorliebe sich des

Menschen Sohn nannte, der ob er wohl reich war, doch arm ward um unsertwillen*2),3 der da zunahm an Weisheit, Alterund

Gnade bei Gott und den Menschen2) der da in Allem, was das

Leben brachte, lernte und auch selbst das Beten lernte; — und

was er gelernt, sollte nicht auch für uns geeignet sein?

’) Matthäus 8, 20. 2) 2. Corinther 8, 9. 3) Lucas 2, 52.

Hat er

12 grade an dem, das er litte, gelernt'), wie sollte nicht diese Welt

des Leidens und der Schmerzen auch uns eine Schule zum rechten Gebet werden können?

Was vom ganzen Leben des Erlösers

gilt, gilt vor Allem auch von seinem Gebet: Ein Beispiel hat er uns gegeben3*)* und ein Vorbild hat er uns gelassen,

daß wir

sollen nachfolgen seinen Fußstapfen3). So sei denn des Meisters Gebet mit Gottes Hülfe an den

nächsten Sonntagen der Gegenstand unserer Betrachtungen.

Er

selbst aber gebe uns Kraft, daß wir annähernd erfassen, was er an hohen Gottesgedanken in der Menschen Worte hineingelegt, daß sein Geist des Gebets auch über uns komme und wir beten

lernen, wie er selbst es gelernt hat, damit auch nach dieser Seite

hin die Erde uns eine Vorbereitungsstufe werde für die Ewigkeit, wo wir nicht mehr mit Menschen-, sondern mit Engelzungen zu dem Vater beten werden.

') Ebräer 5, 8. 3) Johannes 13, 15. 3) 1. Petrus 2, 21.

Amen.

Der Gebetseingang. Matthimr 6, 9.

Darum sollt ihr also beten: Unser Vater in dem Himmel.

2öir stehen am Eingänge ins Heiligthum.

Doch es geht uns,

wie wenn ein Künstler in einen prächtigen Dom uns führt.

Wir

nahen ihm mit heiliger Scheu, uns treibt es rastlos in die ge­ weihten Räume.

Aber Halt

Aufs

gebietet uns unser Führer.

Portal weist er uns hin; dies allein schon ist staunenswerth.

Wir

wollen beten lernen, hören was der Meister ersteht, aber schon

der Eingang fesselt uns.

Jedes Wort in demselben ist wie ein

Edelstein, und doch ist das Ganze wiederum so einfach.

Nichts

Ueberladenes, nichts Schwülstiges, nichts Ueberschwängliches zeigt sich hier in der Anrede Gottes.

Es ist als hätte der Erlöser

geahnt, wie unter den Seinen selbst beim Eingang ins Gebet

menschliche Eitelkeit und menschliche Selbstgerechtigkeit sich breit machen würde, wenn er einfach und schlicht zu seinen Jüngern

sagt: darum sollt ihr also beten: Unser Vater in dem Himmel. Welch' wunderbarer Zauber liegt über dieser Anrede! sie hat etwas Ergreifendes und Erhebendes.

Welch' feierliche Stille pflegt ein­

zutreten, wenn der Prediger im Gotteshaus sie auf seine Lippen nimmt!

Mag manch kaltes Herz gleichgültig geblieben sein bei

Predigt und Gesang, bei diesen Worten beugt sich auch der starrste Nacken.

Mag manche Aufforderung zum Gebet über den Köpfen

verhallt sein, hier falten die Hände sich wie von selbst.

Ja, wie

oft kann man's beobachten, wenn man zu Menschen redet, die dem Worte Gottes entfremdet worden, sowie das Vaterunser beginnt,

14 Ist hier nur maßgebend,

dann neigt sich doch noch das Haupt.

daß diese Worte geweiht sind durch die Erinnerung an so manche Stunde des Lebens?

Am Taufstein schon, auf des Kindes erstem

Gange, den es in Schlafes Arm begann, sind sie über ihm ge­

sprochen.

Auf den Knien des Vaters,

aus dem Munde einer

frommen Mutter sind sie einst vernommen worden, als ein Heilig-

thum von ihnen dem Kinde überliefert.

Am Confirmationstage,

wo noch einmal alle Lieben versammelt waren, sind sie so weihevoll durchs Gotteshaus geklungen.

An so manchem Sarge sind sie

das letzte Gebet gewesen, das man theuren Seelen nachgerufen in

die Ewigkeit.

An

den Gräbern

der Reichen

und Großen

dieser Erde sind so viel schwülstige Worte gesprochen, aber durch

ihre Einfachheit und Erhabenheit

haben

diese Worte

dazu in

scharfem Contrast gestanden und darum nur um so tiefer sich dem

Gedächtniß eingeprägt.

An dem prunklosen Sarge des Armen

sind sie nicht minder gesprochen und damit als ein Gebet erkannt,

das über allen irdischen Unterschieden erhaben ist.

Und wo der

Einsame sie betete, da hat er bei diesen Worten sich geeint gewußt mit Millionen im Himmel und auf Erden, die auch also beteten.

Ist hier nur maßgebend, daß diese Worte geweiht sind durch eine jahrhundertelange Geschichte, in

der sie gesprochen

worden in

Freud und Leid, daß sie geweiht sind durch des Erlösers eigne

Lippen, geweiht auch dadurch, daß alle Kirchen sie beten, ob sie auch sonst einander entfremdet sind durch gegenseitigen Haß?

Ich

meine, die Worte selbst besitzen in sich eine unbeschreibliche Gewalt, weil sie alles umfassen, was des Christen Herz beim Eingang ins

Gebet umfassen muß, und weil die empfindende Seele das auch wie

von selbst erkennt. Daraus ergiebt sich denn unser heutiges Thema:

In wiefern der Eingang des Vaterunsers ein Muster uns sein kann für jeden Eingang in's Gebet?

Die Antwort lautet: Weil er uns 1. hinaufweist gen Himmel,

2. hin an das Vaterherz Gottes, 3. hinein in die Gemeinschaft der Brüder.

15

1. Himmel! das Wort hat von jeher einen ganz eigenthüm­

lichen Reiz auf uns ausgeübt.

Wir sahen jenes blaue Gewölbe

über unsern Häuptern, wir lernten alsbald, es sei eigentlich kein

Gewölbe, getragen von dieser Erde, es sei der unendliche Welten­

raum, in dem auch unsere Erde einen Platz habe, aber nur einen

Platz, wie der Tropfen im Meer.

Wir sahen dort den Feuerball

der Sonne aufgehen im Osten, untergehen im Westen; bei ihrem

Aufgang erwachte die Schöpfung, entstand Leben auf Feld und Fluren, bei ihrem Untergang ward alles finster, fühlte die Seele sich einsam und unsicher; entfernte sie sich von unserm Erdtheil,

legte Schnee und Eis sich über denselben und alles Leben erstarrte; kehrte sie wieder, brachten ihre ersten Strahlen in die Schöpfung neues Licht und neues Leben, und alles jubelte wieder auf.

Wir

sahen droben das Heer der Sterne, groß und majestätisch, unverrück­

bar durch die Wolken, die der Sturmwind darüber hinpeitschte, wir lernten, wie sie sich bewegen nach den unwandelbaren Gesetzen der Natur. Vom Himmel kam der Regen, der die schmachtenden Fluren

erquickte; dort ballten die Wolken sich zusammen, deren Blitze die Lüfte reinigten von unerträglicher Schwüle.

Kein Wunder, daß

frühe das Auge sich gewöhnte gen Himmel zu blicken.

dunkel die Erdenpsade, droben war Licht. so kalt, von droben kam Wärme.

war Friede.

Waren

War das Erdenleben

War hienieden Streit, droben

War hier ewiger Wechsel, droben war Beständigkeit.

War hienieden Treulosigkeit, des Himmel Blau verkündete ewige Treue.

Konnten hienieden

die Stürme

des Lebens uns alles

rauben, der Himmel blieb von ihnen unberührt.

Kein Wunder,

wenn die Völker, das, was sie auf Erden vergebens gesucht, in

den Himmel verlegten.

Dort sahen schon die Heiden unsterbliche

Götter fern von den Mühen und Sorgen der Menschen ihre Zeit

verbringen.

Dort hofften sie, nach ruhmvoll vollendetem Leben,

in der Götter Gemeinschaft seligere Tage zu sehen.

Kein Wunder,

wenn ringende Hände nach dem Himmel sich ausstreckten, betende

Augen dort ihr Heil erspähten, wenn der Mensch schon darin den

16

Adel seines Geschlechtes sich ausgeprägt sah, daß aufwärts sein Gang ist, daß Haupt und Auge ihn gen Himmel weisen.

Auch der Erlöser hat das empfunden.

Wenn er als Knabe

hinaufsteigt auf die Höhen, die Nazareth umgeben, wenn er als

Mann dahinfährt über das galiläische Meer, dann macht auf ihn der Himmel einen überwältigenden Eindruck.

er alsbald Engeln,

Droben sieht

des großen Gottes Stuhl'), umgeben von heiligen

die dort

das Angesicht des Vaters schauen").

allezeit

Droben sieht er den Lohn derer aufbewahret, die um seinetwillen

von den Menschen geschmäht und verfolgt werden").

Vom Himmel

weiß er sich selbst gesandt, nicht daß er seinen Willen thue, sondern

deß, der ihn gesandt hat6).

Den Himmel sieht er sich aufthun,

als eine Stimme Gottes ihm zuruft: dies ist mein lieber Sohn,

an

dem ich Wohlgefallen habe").

Aus

des Himmels Wolken

sieht er sich wiederkommen, wenn er von sich weiß, daß ihm das

Weltgericht von seinem Vater übergeben ist6).

Ein Reich der

Himmel, so sagt er sich, muß das Reich sein, das er auf Erden

zu gründen gekommen ist, das Reich des Friedens, das Reich der

Liebe, das Reich der Herrlichkeit. Kind des

19. Jahrhunderts, du rühmst dich deiner vorge­

schrittenen astronomischen Kenntnisse, du stellst dir den Himmel nicht mehr vor, wie die kindliche Fantasie vergangener Jahrhunderte.

®tr- sind die funkelnden Sterne unzählige Welten, zum Theil größer, als unsere Erde.

ermeßliche Raum der Welt.

mehr?

Kannst

du

Dir ist das blaue Firmament der un­

Aber hast du deshalb keinen Himmel

nicht mehr

mit dem Psalmisten

sprechen:

Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du im Himmel sitzest?")

Seele, auch dich erinnert das Wort „Himmel" an eine höhere, eine

') 3) 3) 4) 5) 6) ?)

Matthäus 5, 34. Matthaus 18, 10. Matthäus 5, 12. Johannes 6, 38. Marcus 1, 10 fg. Matthäus 24, 30. Psalm 123, 1.

17 nach der das Menschenherz sich sehnt unter dem

bessere Welt,

Getümmel und Treiben der Erde.

Auch dich erinnert es an ein

unendliches Wesen, voll Macht, voll Weisheit, voll Liebe, das der

letzte Grund alles irdischen Daseins ist — du heißest es Gott. Auch dich erinnert es an ein besseres, seligeres Leben, zu dem du

wenn der Geist dereinst von dieser Erde scheidet.

berufen bist,

Und daß diese Welt wirklich ist, daß dieser Gott, dieses ewige

Leben nicht ein Fantasiebild deines Geistes ist, das sagt dir deine eigene Erfahrung, die Gewißheit deiner Seele, die auf dieser Er­

fahrung sich aufbaut, das sagt dir dein Glaube. du beten,

Stützen,

so

Darum, willst

reiß dich los von der Erde und ihren morschen

so gehe dein Blick zu diesem Himmel empor.

Dort

klopf' an in deiner Noth; dort hoffe einen Lohn dir bewahret, unbefleckt, unverwelklich, wenn die Erde mit Undank dir entgegen­ kommt und deine edelsten Bestrebungen dir mit Füßen tritt.

Dort

suche ewiges Leben, wenn Endlichkeit und Vergänglichkeit hienieden

auf Schritt und Tritt dich hemmen.

2. Aber Himmel! zu hoch scheint er für den schwachen Staub-

gebornen.

Was ist dies ohnmächtige Kind der Erde gegenüber

jener Allmacht?

Wie will das kurzsichtige Auge sich messen mit

der unendlichen Weisheit? Wesen vor

den

Wo bleibt das selbstsüchtige, sündige

Lichtstrahlen

der Heiligkeit und Gerechtigkeit?

Himmel! das Wort mag uns losreißen von allem irdischen Tichten

und Trachten, aber es ruft auch mit Donnerworten uns zu: Zeuch deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, da du stehst,

ist ein heilig Sani)1), es schreckt uns vielleicht mehr ab, als es uns

zieht.

Es bleibt Tausenden unter uns wohl gar ein dunkler Hinter­

grund des Lebens, dem sie furchtsam aus dem Wege gehen möchten.

Sie

gleichen

das

am

ja

angesichts

Weihnachtsabend

desselben

die

dem Kinde

Lichtstrahlen

aus

des Bettlers,

der

Reichen

Fenster sieht, das hinein möchte in den hellen, warmen Raum, *) 2. Moses 3, 5.

18 aber durch die unüberbrückbare Kluft der Stände daran gehindert ist.

Nicht umsonst hat daher der Erlöser uns nicht allein gen

Himmel blicken gelehrt, sondern den Vater anzurufen geboten. Weist er mit dem Worte „Himmel" uns hinauf ins Heiligthum,

mit dem Worte „Vater" giebt er uns Muth ins Heiligthum zu

schauen, ja das Heiligthum zu betreten. Vater! ist ja eins der ersten Worte, welche das Kind auf

seine Lippen nimmt.

Vater! was legt der reich erfahrene, viel ge­

prüfte Mann alles in dasselbe hinein, wenn er die kalte Erde sich öffnen,

wenn er den Sarg hinabsinken sieht und er weh-

muthsvoll zu den Seinen sagt: Ich habe nun meinen Vater ver­ loren! — Vater! ja in dies Wort legt das empfindende Menschen­ herz alles,

was es an Liebe kennen gelernt.

Und Vaterhaus!

Vaterland! welch' heil'ger Schauder zieht uns bei diesen Worten

durchs Herz! Es war dämm etwas Großes, daß der Meister uns Eine neue Welt erschloß er damit

beten lehrte: „Unser Vater".

der Menschheit. Lehren,

die

Und wüßten wir nichts von all den erhabenen wäre von seinem ganzen heiligen

er uns gebracht,

Leben uns nichts bekannt, hätten wir nie anbetend unter seinem Kreuz gestanden und die Bedeutung seines Todes für das Heil

unserer Seele kennen gelernt,

tiefsinnigen Lehren erfahren,

hätten wir nichts von all jenen

die die Kirche über ihn und sein

Werk- aufgestellt, schon das Eine, daß er uns beten gelehrt „Unser

Uns

Vater", hätte ihm die Verehrung von Millionen gesichert.

scheint das etwas so Einfaches zu sein, und doch ist es einfach

nur für den, der

es

wirklich

erfaßt hat.

Nach

dem

fernen

Tranquebar in Ostindien war einst ein Missionar gekommen, der

durch einen Eingebornen die heilige Schrift in die Sprache des Landes

übersetzen

ließ.

Da

kamen sie auch an die Stelle'):

„Sehet, welch' eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, daß wir Gottes Kinder sollen heißen", aber der Eingeborne zögerte und

wollte nicht wörtlich übersetzen, sondern schon das für genügende Liebe Gottes erklären, daß wir ihm die Füße küßen dürfen. ') 1. Johannes 3, 1.

Zu

19 hoch war ihm der Gedanke, daß Gott unser Vater und wir seine

Kinder sein sollten.

Darum sag' nicht, liebe Seele, es sei nichts

besonders Christliches, Gott als den Vater zu verehren, den ersten

Artikel könnte man auch sprechen, ohne Christ zu sein. Die Heiden haben Götter, aber nicht den Einen; Israel kannte wohl seinen

Jehovah, der da sagt: „Ich, der Herr, dein Gott, bin ein starker, eifriger Gott, der über die, so mich hassen, die Sünden der Väter Heimsucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied", aber

keinen Gott, der unser Vater, der die Liebe selber ist.

Allein der

Christ kann sprechen: Ich glaube an Gott, den Vater, allmächtigen

Schöpfer Himmels und der Erde.

Ja, sollte dir ein Christ be­

gegnen, der da einstimmte in das unüberlegte Gerede so mancher Gewohnheitschristen, mit dem Vaternamen für Gott sei noch nichts Besonderes ausgesagt, dann antworte ihm: „O geh' hin und lerne nur deinen Gott erst als Vater verehren, und du wirst ein besserer

Christ sein, als du es jetzt bist; du wirst sie nicht mehr hochmüthig von dir stoßen, deren Höchstes es ist, ihren Gott Vater

zu nennen.

Faßt ja doch auch der Evangelist Johannes die ganze

Bedeutung der Wirksamkeit Jesu in die Worte zusammen: Wie

viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben'). Betende Seele, das unendliche, heilige Wesen im Himmel

darfst du „Vater" nennen. du „du" zu ihm sagen.

Wie ein Kind zu seinem Vater darfst

Nicht wahr? jetzt öffnet sich fröhlich

dein Mund, hebt sich leuchtend dein Auge dem Himmel zu.

Die

Hoffnung taucht aus, daß das schwache Menschenwort im Himmel gehört wird; denn zu dem Vater darf das Kind doch sprechen, ans Vaterherz hat das Kind

Vaters

wird

Stimme hört;

sich

doch ein Anrecht',

das Ohr des

doch nicht verschließen, wenn es des Kindes

der Vater wird doch ganz besonders auflauschen,

wenn sein Kind aus tiefer Noth seinen Namen ruft.

Und wenn

du seit lange in der Fremde geweilt, wenn du des Vaters Wort

seit lange vergessen, du seine Güter mit Prassen umgebracht, wenn

') Johannes 1, 12.

20 du selbst, wenn Andere des Vaters Kind in dir nicht mehr zu

erblicken vermögen, wenn in der Fremde deine Sprache eine andere geworden, als sie im Vaterhause dir mitgetheilt worden, und du

rufst zu ihm — der Vater erkennt des Kindes Stimme doch. Ja, wenn die Sprache dir schwer wird, du nur noch zu stammeln ver­

magst,

auch deine unaussprechlichen Seufzer

erhört der Vater.

Irdische Vater- und Mutterliebe ist das Bild des Höchsten, was

wir an Liebe kennen und doch heißt es:

Kann auch ein Weib

seines Kindleins vergessen? — und ob sie sein vergäße, will ich dein doch nicht vergessens.

So muß schon die Anrede des Christen an seinen Gott seinem Gebet jene Ruhe, jene Weihe aufprägen, die demselben eigenthümlich

ist.

Wie stürmt, wie wogt es in unserer Brust, wenn das Erdenleben

mit unwiderstehlicher Gewalt zum Gebet uns treibt!

Doch, wenn

der Vatername erst mit vollem Bewußtsein über unsere Lippen

gebracht ist, dann legen sich die Stürme und der Mensch erkennt

im Erlöser, der ihn also beten gelehrt, denselben, den in seinen Erdentagen die Welt anstaunte als den Gewaltigen, dem Wind und Meer gehorsam ftttb*2).3 Alles Meistern göttlicher Führungen hört auf, alle Anklagen gegen des Ewigen Wege verstummen. Denn vor dem Vater demüthigt sich das Kind, des Vaters Auge sieht ja weiter, als das seine; des Vaters Weisheit muß ihm ja auch

gegenüber den Räthseln des Lebens den Ausruf entlocken: „O welch'

eine Tiefe des Reichthums, beides der Weisheit und Erkenntniß Gottes!

Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforsch-

lich seine Wege!"2)

Alles Murren über zu herbes Geschick, alles

bange Fragen, warum Gott so schwer uns heimsuche, muß zurück­ treten hinter den einen Gedanken, daß der Vater auch im tiefsten

Leid nur unser Bestes wolle, daß denen, die Gott lieben, alle

Dinge zum Besten dienen müssen4).

Muß es uns doch gehen,

wie jenem Knaben, der in gebrechlichem Kahn mit seinem Vater

*) 2) 3) 4)

Jesaias 49, 15. Matthäus 8, 27. Römer 11, 83. Römer 8, 28.

21 zusammen

übers Meer fuhr,

und

als

man beim Sturm ihn

fragte, ob er sich denn nicht fürchte, zur Antwort gab: Wie sollt'

ich mich fürchten? mein Vater sitzt ja am Steuer. — Ja hat nicht der Erlöser, der das Vaterunser uns gegeben, dies selbst an sich empfunden?

Seine Seele war betrübt bis in den £ob *), als

er am Abend des Verraths mit seinen Jüngern hinauszog nach Gethsemane.

Immer heftiger drängte es ihn gen Himmel;

er

fühlte sich einsam und hatte den Wunsch, daß die Seinen nur eine Stunde mit ihm wachen möchten. wie Blutstropfen über seine Wangen.

Der Schweiß rann ihm

Aber als aus dem Herzen

des Gottessohnes die Worte hinaufstiegen: „Mein Vater, ist es

möglich, so gehe dieser Kelch von mir", da senkte sich des Himmels Friede auf ihn herab, und kühn ging er dem nahenden Feinde Er war ans Kreuz geschlagen, unsägliche Schmerzen

entgegen.

durchzuckten seine Glieder, er sah dem nahen Tode ins Angesicht.

Solange Finsterniß ihn umgab, er über sich nur seinen „Gott" sah, da klang es herzzerreißend vom Kreuz hernieder: Eli, Eli

lama asabthani d. h. mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen??) Aber als die Finsterniß vorüber war und des Vaters

Angesicht ihm wieder entgegenleuchtete, da ward Friede auch am Kreuz,

da

ward

der

Pfahl

der Schande zum

Siegespanier.

Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände, so rief er aus und neigte sein Haupt und verschied3*).* — Anders, als dein Er­

löser am Kreuz, hältst du deine Hände beim Gebet, mein Christ. Ihm waren sie durchbohrt und ans Kreuz geheftet.

Du legst sie

gefaltet in einander und das thust du, weil du beten willst als Christ.

Die Hände sind ja das Werkzeug deiner Arbeit, deines

Schaffens und Ringens.

Legst du sie in einander, so ist das ein

Zeichen, daß deine Arbeit ruht, daß du in dem Augenblick ver­ zichtest auf eigenes Schaffen, daß du ergebungsvoll in einen höheren

Willen dich hingiebst, mithin daß du weißt: „Dein Vater in der

Höhe verläßt dich nicht, versäumt dich nicht."

*) Matthäus 26, 38 fg. -') Matthäus 27, 46. 3) Lucas 23, 46.

22

3.

Aber noch ein Wort steht in der Anrede des Herrengebets,

das von Bedeutung für uns ist.

Hier, wo er die Seinen beten

lehrt, sagt er nicht: Mein Vater, sondern Unser Vater.

Ja,

dies „Unser" oder „Uns" wiederholt sich bedeutungsvoll in den vier

letzten Bitten.

Unser täglich Brod gieb uns heute, so heißt es und

dann: „Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unfern

Schuldigem, führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel." — So dürfen wir denn wohl unsere persönlichen

Angelegenheiten nicht hintragen vor Gottes Thron? so hat er denn wohl für unsere persönlichen Wünsche kein Ohr? so sieht er wohl

nicht auf uns herab, wenn wir einsam im stillen Kämmerlein vor seinem Angesichte knieen? Das wäre ein falscher Schluß.

Sagt

der Erlöser ja doch selbst: Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Thür zu und bete z» deinem Vater im

Verborgenen; und dein Vater, der in das Verborgene siehet, wird dir's vergelten öffentlich').

Heißt es ja doch ausdrücklich beim

Psalmisten: Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisens.

Mit dem „Unser" schließen wir mit

Andern uns zusammen, und das will der Erlöser ja allerdings,

daß im Gebet vor Gott nie das Bewußtsein uns schwinde, daß wir einem großen Ganzen angehören.

Bleibt dies uns gewahrt,

dann mag immerhin das Unser dem Mein weichen.

In Gethse­

mane hat ja der Erlöser selbst gebetet: Mein Vater, aber wie

liegt in demselben Augenblick doch das Heil der Menschheit ihm auf der Seele, wie lebt er da mit ihr und für sie.

Bete in der

Stille des Kämmerleins, trag deine persönlichen Angelegenheiten

vor Gottes Thron, aber nicht als einer, der von der übrigen Welt sich absondert, der mehr beanspruchen könnte, als die Andern, der höher stände als sie, für den die Welt allein da wäre.

Unser Vater, so sollst du beten, und auch dies „Unser" soll

') Matthäus 6, 6. 2) Psalm 50, 15.

23 deinem Gebet seine Richtung geben, wenn du sie nicht anders­

woher empfängst.

Hienieden Hader und Streit, Zwiespalt und

Feindschaft, aber droben? — Unser Vater!

Siehe, das ist eine

Beobachtung, die wir oftmals machen, vom Himmel hängt es ab, wie die Erde uns erscheint.

Stehen schwere Gewitterwolken droben,

beginnt es zu stürmen, dann erscheint auch das Meer uns so schauerig,

der Wald uns so düster, die Felder so wenig einladend.

Wirft

aber die Sonne vom hellen, blauen Himmel ihre warmen, be­ lebenden Strahlen hernieder, dann erscheint auch die Landschaft

zu unsern Füßen uns in herrlicher Pracht.

Schauen wir im Gebet

hinauf gen Himmel zu unserm Vater, so kann es nicht anders

sein, auch die Mitmenschen müssen uns in andern: Lichte erscheinen, als es sonst wohl der Fall war.

Es muß Liebe zu ihnen unsere

Seele erfassen; der Vater droben ist ja auch ihr Vater, auch sie sind seine Kinder.

Der Arme, der bittend sich dir naht, ist es

so gut, wie der Reiche, auf den du mit Neid und Mißgunst blickst;

dein Vater, deine Mutter, dein Weib, dein Gatte, dein Kind sind

es nicht mehr, als der Feind, dem du zürnst, den du verfolgst; die in ihren Gräbern ruhen, sind es so gut, als die Lebenden, um

die du sorgst.

Du darfst, du kannst nicht beten, ohne zu denken

an das Wohl der großen Menschheit, der du angehörst, ohne dir zu sagen, wie auch Andere tragen unter des Lebens Last und Leid, so gut wie du, ohne zu berücksichtigen Vaterland und Volk, Kirche

und Gemeinde und die kleinen und kleinlichen Wünsche zurücktreten zu lassen hinter das Wohl des großen Ganzen, ohne dich leidend

und handelnd in den Dienst des Gottesreiches zu stellen und es dir eine Richtschnur sein zu lassen, was der Heiland sagt: Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit,

so wird euch solches alles zufallen').

Du darfst, du kannst nicht

beten, ohne daß alles das sich dir schwer auf die Seele legte, was die Menschheit an Sünde und Schuld auf sich geladen, ohne daß auch du von dir bekennst: Auch ich bin ein Glied dieser sündigen

Menschheit,

auch

ich trage

’) Matthäus 6, 33.

mit an dieser allgemeinen Schuld.

24 Du kannst, du darfst aber auch nicht beten ohne den Gedanken, wie hoch die sündige Menschheit ist begnadigt worden, wie Gott

also die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das

ewige Leben haben'), ohne

daß die selige Gewißheit in dir auf­

leuchtet, auch du gehörst der begnadigten Menschheit an.

So giebt uns das Wort „Vater" für unser Gebet die rechte Stellung zu unserm Gott, das Wort „unser" die rechte Stellung

zu den Brüdern.

Jenes

erhebt den

Blick freudig nach oben,

dieses erweitert das Herz hienieden. Möge das denn eine Richtschnur für alle unsere Gebete sein, die wir hienieden stammeln, möge jedem unserer Gebete der Gedanke des Liedes zum Grunde liegen: Herz und Herz vereint zusammen

Sucht in Gottes Herzen Ruh, Lastet eure Liebesflammen

Aufwärts steigen Jesu zu. Er das Haupt, wir seine Gieder; Er das Licht und wir der Schein; Er der Meister, wir die Brüder; Er ist unser, wir sind sein.

') Johannes 3, 16.

Amen.

Die erste Bitte. MatthSus 6, 9.

Dein Name werde geheiliget.

Große Namen! wer unter uns kennte keine? Sie ziehen

vor unsern Augen vorüber all jene Braven, die mit Heldenmuth

ihr Leben dem Vaterlande geweiht, all jene großen Staatsmänner, die für Jahrhunderte die Geschicke der Völker bestimmten, all jene großen Denker, die die letzten, höchsten Fragen des menschlichen

Geistes behandelten, all jene großen Dichter und Meister, die durch ihre Kunst das Menschengemüth über das Alltägliche empor­

zuheben verstanden.

Zu tief haben sie alle ihre Spuren einge­

prägt in die Geschichte der Menschheit,

als daß eine dankbare

Nachwelt ihr Andenken nicht sollte zum Segen sich

bewahren.

Heilige Namen! wie viele giebt es auch deren! Zu dem Heiligthum der Kaaba zieht es des Muselmanns Herz; Allah ist der

höchste Name, den seine Seele kennt.

Groß ist die Diana der

Epheser') schrie einst in jener Stadt Kleinasiens die erregte Volks­

masse, als sie der Göttin Heiligthum gefährdet sah.

Und Israels

Söhne? Ihr Herz zog sie hin gen Moria, gen Zion, gen Jeru­ salem.

Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten

vergessen.

Meine Zunge müsse an meinem Gaumen kleben, wo

ich deiner nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste

Freude fein*2), so sprach der fromme Beter in der Fremde. *) Apostelgeschichte 19, 28. 2) Psalm 137, 5 u. 6.

Ja

26 Jehovah! bei diesem Namen hüllte sich alles in tiefes Schweigen. Zu

heilig war derselbe um über sterbliche Lippen gebracht zu

werden.

Endlich der Christ! wie viel heilige Namen erfüllen

seine

auch

Seele

mit heiliger Scheu!

Sei's Bethlehem,

sei's

Golgatha, sei's des Meisters eigener heiliger Jesus-Name, nur mit

Ehrfurcht bringt er diese Worte über seine Lippen.

Und doch!

der echte, christliche Beter kennt im letzten Grunde im Hinblick auf alle heiligen Namen nur den einen Wunsch: Dein Name

werde geheiligt, und dies „dein" gilt seinem Gott, zu dem er

soeben gesprochen: Unser Vater in dem Himmel. Aber wie denn? ist dieser Name nicht an sich selbst heilig? Schon vor dem alttestamentlichen Gottesnamen, vor Jehovah, vor dem, der da ist und der da war und der da sein wird, vor dem

Herrn der Heerscharen beugt der Cherub in Demuth sein Haupt, rufen die Seraphim einander zu:

Herr Zebaoth;

heilig,

heilig,

heilig ist der

alle Lande sind seiner Ehre voll')!

Wie sollte

denn der Gott erst menschlichen Thuns, erst menschlicher Bitte be­ dürfen, um seinen Namen heilig leuchten zu sehen, den wir unsern Vater nennen, den unsere deutsche Sprache „Gott" d. h. den Guten nennt, von dem es heißt: Gott ist die Liebe, und wer in der

Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm3*).2 Wie könnte

er selbst da seine Heiligkeit einbüßen und befleckt erscheinen, wo

Menschen in fleischlicher Sicherheit, in frivolem Witz die Ehre ihm zu rauben suchen, die ihm gebührt?

Wenn des Spötters Mund

sich längst geschlossen und lange schon sein Leib modernd ruht in

der Erde Schooß, dann steht er noch immer da in alter Majestät

von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Siehe, die Sonne bleibt dieselbe, ob

auch Wolken zeitweilig vorüberziehen und sie hindern, ihre Strahlen

auf unsere Erde zu senden, bleibt dieselbe, ob du auch in finstere

Höhle dich verkriechst und von willst.

dem Sonnenlicht nichts wissen

Dieser Sonne gleicht unser Gott.

Er wohnt in einem

Lichte, da Niemand zukommen tarnt3); er ist der Vater des Lichts,

*) Jesaias 6, 3. 2) 1. Johannes 4, 16. 3) 1. Timotheus 6, 16.

27 bei welchem ist keine Veränderung, noch Wechsel des Lichts und

der Finsterniß *). Was wir bitten,

ist darum nicht dies, daß der Heiligkeit

Gottes etwas zugesetzt werde, sondern, wie Luther sagt, daß dieser

Name auch bei uns heilig sei d. h. abgesondert, hoch erhaben da­

stehe über allen andern Namen.

Es ist ja schön und gut, wenn

es große Namen giebt, welche unser Herz zu begeistern vermögen, und zu den schlechtesten gehört der Jüngling wahrlich nicht, der

da, wo ein großer Name ihm genannt wird, voll Begeisterung

zu reden weiß von all dem, was an diesen Namen sich knüpft, dem man es anmerkt, nichts liege ihm mehr am Herzen, als die

Verwirklichung all der Pläne und Ideale, die der Träger jenes Namens einst gehabt und für die er sich geopfert.

Aber das

Bild, das der Meister im Auge hat, wenn er betet: dein Name werde geheiligt, geht weit über dies hinaus. eine

Menschheit

vor sich,

Er sieht im Geiste

der der Name „Gott",

„Vater im

Himmel" hoch erhaben über Allem steht, der er Alles in Allem

ist, die diesen Namen nicht ohne heilige Scheu über ihre Lippen

bringt, die sich sagt, das Erhabenste, was der Mensch zu denken, sich vorzustellen vermöge, reiche im Entferntesten nicht an die Er­

habenheit jenes Wesens, das der Name Gott bezeichnet.

im Geiste alle Völker der Erde auf den Knien,

Er sieht

sobald dieser

Name das Ohr erreicht; er hört ihn preisen aus dem Munde der Großen und

Kleinen,

der

Frohen

und

der Bekümmerten, der

Reichen und der Armen, der Lebenden und der Sterbenden, an

den kalten Polen und auf dem heißen Sande des Aequators; er

hört im Geist überall die Menschheit rufen: Allein Gott in der Höh' sei Ehr

Und Dank für seine Gnade.

Und daß dies Ziel erreicht werde, das ist des Heilands Wunsch.

Daraus ergiebt sich unser Thema: Wann

wird

des

Heilands

Wunsch

in

gehen, daß Gottes Name geheiligt werde? !) Jacobus 1, 17.

Erfüllung

28 Die Antwort lautet:

1.

wenn wir uns bemühen, daß der Name Gottes nie in die Wogen menschlicher Leidenschaft und

Sünde hinabgezogen werde; 2.

wenn wir

danach

streben,

den

Gottes

Namen

nur mit den erhabensten Vorstellungen in Ver­

bindung zu bringen; 3.

wenn wir lernen, im Gedanken an Gottes Ehre,

auf allen eignen Namen zu verzichten.

1. Zum

Heiligen

dies,

daß

oder

menschlicher

göttlichen Namens

des

derselbe nie

vom Staube

Sünde

befleckt

gehört

vor Allem

menschlicher Leidenschaften

werde.

Als

einen

Frevel

empfindet es die fühlende Brust, wenn Menschenmund sich aufttzut zu offner Lästerung dieses Heiligsten, was es im Himmel und auf Erden giebt, und wir gehen in den meisten Fällen nicht

fehl,

wenn

wir

da,

wo

man

den Namen Gottes lästert, auf

einen hohen Grad sittlicher Verkommenheit schließen.

Auch das

empfindet man als einen Beweis sittlicher Roheit, wenn Menschen

die Namen verlästern, welche andere Völker und Religionsge­ meinschaften ihrer Gottheit beilegen.

Es ist uns, als müßten wir

ja doch auf diese Völker das Heilandswort anwenden: Laßt sie

mit Frieden, sie haben gethan, was sie thun konnten').

Ja selbst

das ist eine Erscheinung, die uns entgegentritt, daß edlere Naturen,

welche durch die Erfahrungen des Lebens zum Bruch mit allem Gottesglauben gekommen, doch zum Lästern der Gottheit nicht fortschreiten mögen, vielmehr es an Andern achten, wenn sie mit

heiliger Begeisterung von der Gottheit reden.

Daher sagt auch

schon das alte Testament: Welcher des Herrn Namen lästert, der

soll des Todes sterben, die ganze Gemeinde soll ihn steinigen; wie der Fremdling, so soll auch der Einheimische sein; wenn er den

J) Marcus 14, 6 u. 8.

29 Namen lästert, so soll er sterben').

Aber das offne Lästern des

göttlichen Namens ist das Einzige nicht,

hüten haben.

vor dem wir uns zu

Es heißt im zweiten Gebot: Du sollst den Namen

deines Gottes nicht unnützlich führen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht, und unser Luther sagt dazu in der Erklärung desselben: Wir sollen Gott

fürchten und lieben,

daß wir bei seinem Namen nicht fluchen,

schwören, zaubern, lügen oder trügen, sondern denselben in allen

Nöthen anrufen, beten, loben und danken.

Ist es ja doch schon

im täglichen Leben also: das Erhabene leidet, wenn wir es mit dem Gemeinen und Gewöhnlichen verbunden sehen.

Der große

Charakter, den wir bewundern, der Gelehrte, dessen Scharfsinn wir anstaunen, der Dichter, dessen Lieder wir mit Begeisterung

fingen, der Geistliche, dessen Predigten wir mit Andacht vernehmen, verlieren, sobald wir sie kennen lernen in ihren Leidenschaften, in

ihren kleinen und kleinlichen Fehlern und Gebrechen.

Die Dich­

tung verliert ihren Reiz, sobald die Erinnerung in uns erwacht

an das Komische und Alltägliche, und die Welt hat ihre Absicht dabei, wenn sie es

liebt, das Strahlende zu schwärzen und das

Erhabene in den Staub zu ziehn.

Muß

schon darunter der

göttliche Name leiden, daß du ihn unnütz oder leichtsinnig führst, wo er nicht geführt zu werden brauchte, daß du gedankenlos ihn

auf

deine

Lippen nimmst und

genau

du ihm

so

gleichgültig

gegenübertrittst, wie den alltäglichen Dingen, die dich umgeben,

wie viel mehr leidet er dann, wenn du im Fluch ihn zu Akten

des Zornes oder der Rache mißbrauchst,

wenn du den Namen

der ewigen Liebe anwendest, um den Menschen Unheil und Miß­

geschick anzuwünschen, wenn Himmel und Hölle, Gott und Teufel

so auf eine Stufe von dir gestellt werden.

Darum heißt es beim

Apostel Paulus: Segnet die euch verfolgen, segnet und fluchet nichts

oder

beim

Erlöser

selbst:

Liebet

eure Feinde,

segnet

die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die,

') 3. Moses 24, 16. 2) Römer 12, 14.

30 so euch beleidigen und verfolgen').

Wie leidet ferner der göttliche

Name, wenn er im falschen Eide von Menschen angerufen wird,

um Lug und Trug als Wahrheit hinzustellen, wenn der Mensch, seiner Schuld sich bewußt, den Namen des Höchsten zum Zeugen

seiner Unschuld anruft, wenn er mit dem Munde ihn als Rächer

der Unwahrheit herbeiwünscht und doch im Innern mehr oder

weniger sicher dem Gedanken sich hingiebt, Gott werde nicht als Rächer erscheinen, wenn -irgend ein irdischer Vortheil, den man durch den Meineid erhofft, erstrebenswerther erscheint, als Gott, den

man durch denselben auf immer von sich stößt.

Ja es war voller

Ernst beim Erlöser, wenn er von den Genossen seines Reiches

sogar forderte, daß sie allerdings nicht schwören sollten, weder bei dem Himmel, als dem Stuhle Gottes, noch bei der Erde, als

seiner Füße Schemel, noch bei Jerusalem, als der Stadt eines großen Königs"), wenn er sagte: Eure Rede sei ja, ja, nein, nein,

was darüber ist, das ist vom Uebel"); und ich möchte, daß wir, im Andenken an diese Worte des Meisters, alle jene Formen der

Betheuerung unterließen, mit denen wir im täglichen Umgang

unsere Worte zu unterstützen suchen, daß wir auch vor dem Richter nicht auf Eiden bestünden, wo es sich um die geringfügigsten Dinge

handelt oder die Wahrheit

gar durch andere Mittel festgestellt

werden könnte, daß wir nicht leichtfertig schwören und die Worte des Schwures hinsprächen, als wären es Worte des alltäglichen

Umgangs.

Fern sei es von uns, den Eid zu verweigern, wo das

Gesetz ihn von uns fordert.

Denn so lange wir Erdenkinder

Glieder dieser

dieser sündigen Menschheit

endlichen Welt,

wird der Richter des Eides nicht entbehren können.

sind,

Aber ver­

gessen wir nie, der Eid ist nur ein Nothbehelf um unserer Sünde willen und in einer vollendeten Menschengemeinschaft bei vollen­

deter Gottesgemeinschaft wird er nicht mehr sein. ist

der Name

verwickelt

Gottes,

zu werden.

um —

*) Matthäus 5, 44. 2) Matthäus 5, 34 u. 35. ’) Matthäus 5, 37.

in die Händel

Als

ein

des

Entheiligen

Denn zu hoch

Alltagslebens

des

göttlichen

31 Namens nennt Dr. Martin Luther ferner das Zaubern, bei dem der Mensch vorgiebt, im Namen Gottes die Grenzen menschlichen Wissens

und

menschlicher Kraft überschreiten

zu können.

Wir

werden damit erinnert an jene dunkeln Mächte des Aberglaubens, die vergangene Jahrhunderte beherrschten, wo bald ein geheimniß­

volles Wort, bald eine besondere That sollte Krankheiten heilen, den Menschen Glück und Unglück bringen können.

Aber möge diese

Erinnerung nicht in uns erwachen ohne tiefe Beschämung, daß auch unser Jahrhundert, welches sich doch seiner Aufklärung rühmt,

mit Nichten mit dem Aberglauben

gebrochen

hat.

Bestimmte

Tage und Ereignisse, bestimmte Begegnungen, der Vögel Flug und Schrei sind Tausenden unter uns bedeutungsvolle Vorzeichen, aus denen sie die Zukunft herauslesen wollen, um daraufhin sich zu

freuen oder zu zittern.

Des Schwindlers Zauberspruch bei Krank­

heiten ist Tausenden unter uns weit lieber, als die Hülse eines ver­ ständigen Arztes.

Und wie oft knüpft sich dieser Aberglaube an

an die heiligsten Handlungen, wie viele wollen bei Todesgefahren nur deshalb ihr Kind getauft wissen,

weil sie davon körperliche

Heilung erhoffen, oder vor ihrem Ende nur deshalb das heilige

Abendmahl auf dem Sterbebette genießen, weil sie meinen, dann

entscheide es sich mit ihnen entweder zum Leben oder zum Tode. M. L., Gott hat gesagt: Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten,

so sollst du mich preisen1) und

ferner vernehmen

wir die Aufforderung: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn;

er wird es wohl machens.

Er soll uns vor Augen

stehen als der, der allein helfen kann und helfen will zu seiner Zeit, den man nur anzurufen braucht in allen Nöthen, um der Hülfe gewiß zu werden.

Wird darum sein Name geheiligt, wo

Worte der Bitte und des Dankes zu ihm emporgehen, als dem alleinigen Geber aller guten und aller vollkommnen Gabe, so daß

Fernstehende sagen:

Was muß das für ein Gott sein, den die

Seinen also verehren, ehren auch in Noth und Trübsal, so wird

1) Psalm 50, 15. 2) Psalm 37, 5.

32 er entheiligt durch alle Zauberei und allen Aberglauben, weil

der Mensch da an Ehre für sich in Anspruch nimmt, was allein

Gott gebührt, weil der große Gott da als ein solcher erscheint, der zu seinen Zwecken kleinlicher Mittel sich bedient. — Endlich wird von Dr. Martin Luther auch das Lügen und Trügen beim Namen Gottes

als

ein Entheiligen

desselben

hingestellt.

Wir

haben dabei an den Heuchelschein zu denken, wo man den Namen Gottes im Munde führt, Mienen und Gebehrden sucht, die von Demuth und Gottesfurcht reden sollen, aber dennoch innerlich der

Sünde dient, wo man heiligen Pflichten sich entzieht unter dem Schein der bessern Ueberzeugung, wo des Christen Freiheit der

Deckmantel wird für Liederlichkeit und Zuchtlosigkeit, wo

das

Pochen auf den Hauptgrundsatz der Reformation, daß der Mensch

nicht gerecht werde durch des Gesetzes Werk, sondern allein durch den Glauben, ein Deckmantel wird für Lieblosigkeit und Untreue.

Wir könnten hier noch hinzufügen, auch das ist ein Entheiligen

des Namens Gottes, wenn der Mensch Christ heißen will und sich damit als Kind seines Gottes bezeichnet und doch durchs Leben

geht, wie ein Weltkind, doch in der Welt nicht bethätigt, weß

Geistes Kind er sein will und soll.

O, wie leidet darunter der

Name Gottes, wie oft ist um dessenwillen schon der Christenname

verlästert, haben Andersgläubige schon vom Christenthum sich ab­ gewandt, während auf der andern Seite durch Liebe, durch Treue,

durch Gewissenhaftigkeit der göttliche Name unter uns geheiligt wird, diejenigen, die diese an uns sehen, sich angezogen fühlen und

auch den Christennamen tragen möchten.

Wie haben sie sich unter

einander so lieb, wie sind sie so standhaft in Leid und Verfolgung,

wie führen sie ein so stilles und sittliches Leben! so sprach schon in den ersten Zeiten des Christenthums manch Heidenherz von der

jungen Christengemeinde und fühlte sich hingezogen zu ihr.

Wie

denn auch schon der erste Petrusbrief auffordert: Und führet einen

guten Wandel unter den Heiden, auf daß die, so von euch after-

reden, als von Uebelthätern, eure guten Werke sehen und Gott preisen, wenn es nun an den Tag kommen toirb1).

') 1. Petrus 2, 12.

Ja wenn wir

33 in unsern Tagen uns so viel darüber beklagen,

daß Tausende

dem Christenthum und seinem Gott fern bleiben, daß draußen in den Heidenländern noch Finsterniß das Erdreich decket und Dunkel die Völker,

noch in unserer Mitte wohnt und sich

daß Israel

nicht beugen mag unter das Kreuz, dann laßt uns vor Einem

uns hüten, nur zu eifern wider die schlechte und verderbte Mensch­ heit um uns; es ziemt uns, den Blick hinzuwenden auf unser Herz und unser Leben, auf das, was Christen thun und reden, sei

es auf unsern Kanzeln, sei es auf dem offnen Markt des Lebens. O, daß wir fragen wollten: Liegt die Schuld vielleicht an mir selbst?

Wird vielleicht durch uns der Name Gottes entheiligt,

weil wir ihn in die Wogen menschlicher Leidenschaften und Sünde

hinabziehen? Dränge nur endlich diese Frage in den Vordergrund aller Verhandlungen,

wie

es

bester werden könnte mit unserm

Volk, wahrlich! wir hätten schon viel erreicht.

2.

Damit hängt nun aber ein Zweites zusammen.

Kann schon

die Art, wie der Gottesglaube auf uns wirkt fürs Leben, zum

Heiligen des göttlichen Namens etwas beitragen, wie viel mehr dann die Anschauungen, welche wir an den Namen Gottes knüpfen, und wähnen wir deshalb nicht, daß diejenigen Recht haben, welche meinen, auf die Vorstellungen von Gott komme es gar nicht an.

Jede unwürdige Vorstellung von Gott muß mit Nothwendigkeit

abstoßen, jede geläuterte die Herzen anziehen, wenn anders diese überhaupt noch religiös zu empfinden vermögen.

Würde unserer

Zeit zugemuthet, die Gottheit als eine Mannigfaltigkeit von ein­ zelnen Göttern sich zu denken, in einem Gebilde von Menschen­ hand

den Gott selbst

zu

erkennen,

die Götter

nach Heidenart

fröhlich und betrübt sich vorzustellen, würde ihr gesagt, sie ent­

brennen von Leidenschaften,

wie schwache Erdenkinder, sie lasten

sich fortreißen selbst zu unsittlichem Thun, sie fordern Opfer von

Thieren, ja selbst von Menschen, wahrlich! man würde sich mit

Entrüstung abwenden.

Und blickst du hinein in die Kreise der3

34 fettigen, welche, obwohl nicht ohne Ernst das Leben auffassend, mit Gewissenhaftigkeit an die

Aufgaben desselben herantretend, doch

mit dem Christenglauben gebrochen haben, bei wie vielen findest

von mehr

du, nur das trägt die Schuld, daß ein Gottesbild

oder minder

unwürdiger Form ihnen entgegengebracht worden,

daß ihre religiöse Ausbildung

übrigen Entwicklung.

nicht Schritt gehalten mit ihrer

Es giebt Menschen, welche meinen, wer die

Religion pflege, muffe auch den Aberglauben pflegen; aber wer je

einen Blick hineingethan hat in unser Volk, der weiß, wie sehr

die Religion, der Name Gottes grade um des oft mit ihm ver­ bundenen Aberglaubens willen verlästert wird, wie grade da, wo

viel Aberglaube, auch viel Unglaube ist.

Darum, willst du den

Namen Gottes heiligen, dann ringe nach immer lautereren Vor­ stellungen von ihm und seinem Heilsrath;

alles das,

menschliche Schwäche und Endlichkeit

gar

oder

an

was an

menschliche

Leidenschaften und Sünde erinnern könnte, das halt von ihm fern.

Du sagst mit Recht, Gott sei ein persönlicher Gott und redest ihn darum mit deinem „du" an im Gebet, aber vergiß nicht, daß er

keine Leiblichkeit besitzt, daß er unsichtbar und über Raum und Zeit erhaben ist.

Du sagst mit Recht, er sei die Liebe, aber ver­

giß nicht, daß er nicht bevorzugte Lieblinge sich hält, wie Menschen

dies wohl zu thun pflegen.

Du betest zu ihm mit Recht als zu

deinem Vater, aber vergiß nicht, daß jede Schwäche irdischer

Vaterliebe ihm fern ist.

Mit einem Worte, wende die Gabe

deines Verstandes an, um deine Vorstellungen von Gott immer mehr zu läutern, halt auch dein Kind dazu an und sag ihm, wie

bitter sich das Gegentheil rächen würde im Leben.

Aber hüte

dich auch vor einem Fehler, an dem grade unsere Zeit leidet, mit dem kleinen menschlichen Verstände die Tiefen der Gottheit durch­

dringen

und

erfassen zu wollen.

Vergiß nicht,

du stehst dem

Gott gegenüber, den Himmel und Erde nicht zu umfassen ver­ mögen, vor dem es gilt alle Vernunft gefangen zu nehmen unter

den Gehorsam Christifl.

') 2. Corinther 10, 5.

Hier hat nicht allein der Verstand sein

35 Recht;

der könnte

schließlich

dahin kommen,

mit dem Namen

„Gott" nur noch ein todtes, inhaltsleeres Gedankengebilde zu ver­ binden, könnte schließlich zu einem Gott gelangen, der im letzten Grunde nichts Anderes mehr ist, als die Natur, die uns umgiebt, als das Weltall, in dem wir uns bewegen — und ein solches

Gottesbild würde nicht minder abstoßen, als das des Aberglaubens, weil es

kein Vertrauen erweckt, keine Liebe verkündet.

Bei der

Vorstellung von Gott haben auch Gefühl und Wille mitzureden.

Diese Vorstellung wird mit bedingt durch jene Stunden, wo du bald Gottes strafende, bald Gottes liebende Hand an dir ver­ spürtest, jene Stunden,

wo dein Wille durch höhere Kräfte ge­

läutert und gestählt ward.

Ohne Erfahrung der göttlichen Liebe

an sich selbst, ohne Gegenliebe zu Gott keine wahre Erkenntniß

Gottes! Denn wer nicht lieb hat, der kennet Gott nicht; denn Gott ist die Liebe, so lesen wir im ersten Briefe des Johannes').

Diese Vorstellung von Gott muß mit bedingt werden durch das, was vor dir und mit dir Andere über Gott gedacht und empfunden

haben, kurz durch jene lange Geschichte der Christenheit, die jetzt

bereits bald zwei Jahrtausende umspannt.

Diese Vorstellung ist

vor allem bedingt durch das, was wir von dem Erlöser wissen,

durch das,

was diejenigen uns lehren,

welche vom Geiste des

Meisters getragen waren und in ihren Erdentagen in dem Sohne den Vater erkannten, seine Herrlichkeit sahen, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahr­

heit^).

Wenn daher unser Luther auf die Frage: Wie geschieht

das, daß der Name Gottes auch bei uns heilig werde?,

die

Antwort findet: Wo das Wort Gottes lauter und rein gelehret

wird, so hat er das Rechte gefunden.

Nur dürfen wir das Wort

Gottes nicht etwa beschränken auf die heilige Schrift allein, wenn

sie auch für alle Zeiten die Norm unseres christlichen Glaubens

bleibt.

Denn Gott redet zu uns

auch durch die Natur, auch

durch die Geschichte, auch durch das eigene Herz, und auch dieses

*) 1. Johannes 4, 8.

2) Johannes 1, 14.

36 Wort Gottes gilt es zu

deuten.

Nur müssen wir davor uns

hüten, je anzunehmen, es könnte eine menschliche Form des christ­

lichen Gottesglaubens geben, die als solche schon vollkommen wäre. Derjenige, welcher in unserm Katechismus lautere und reine Lehre

fordert, ist ja derselbe, dessen ganzes gegen alle Menschensatzung geweiht war.

Leben eben dem Protest

Die lautere, reine Lehre

bleibt eben ein Gegenstand steten Suchens und Ringens, oder die

Wahrheit haben wir nur, so weit wir sie suchen, und grade da, wo man sie voll zu besitzen wähnt, grade da ist sie nicht.

Wir

sehen ja jetzt nur durch einen Spiegel in einem dunklen Wort,

dann aber von

Angesicht zu Angesicht; jetzt erkenne ich es stück­

weise, dann aber werde ich es erkennen, gleich wie ich erkannt bin, sagt der Apostel Paulus *).

3. Aber soll dies hohe Ziel von uns erreicht werden, dann

müssen wir verzichten auf einen eignen Namen vor den Menschen. Was träte wohl allem Suchen nach Wahrheit, allem Deuten

des göttlichen Wortes hinderlicher in den Weg, der Menschen, sich selbst einen Namen zu machen.

als die Sucht

Der Ruhm

hoher Wissenschaftlichkeit soll auch im Reden von Gott und gött­

lichen Dingen geerntet werden und läßt dabei dann die

Seele

die Demuth vergessen, mit welcher sie sich in die Geheimnisse des göttlichen Wesens und Wortes versenken sollte.

Die Sucht, geist­

reich zu erscheinen und um des willen sich anstaunen zu lassen,

läßt die Seele leichtfertig sich lossagen von der einfachen Sprache

der Bibel und der Art und Weise, wie die Alten vom Heiligsten geredet.

Das Streben, mit geläuterten Vorstellungen von Gott

zu prunken, zieht jenen Stolz groß, in dem die Seele gering­ schätzig auf das einfache, fromme Gemüth hinabsieht, das seinen Gott weit mehr in sich empfindet, als klare Vorstellungen von

ihm sich zu bilden vermag.

Die Aengstlichkeit, bei den Mode­

christen anzustoßen, ihre Gunst zu verlieren, ihre Anfeindung sich

') 1. Corinther 13, 12.

37 zuzuziehen, läßt die Seele oft jene Wahrhaftigkeit verleugnen, die vom Christen fordert, nie anders zu sprechen, als er denkt, mannhaft

im Kampf der Meinungen für das einzutreten, was er für das Rechte

hält.

Das

dagegen

muß

zum Ziele führen,

wenn der

Mensch nach dem eignen Namen nicht fragt, sondern lediglich: Was fordert Gottes Ehre?

was fordert die Wahrheit? wozu

treibt mich der Geist Gottes, der uns in alle Wahrheit leiten soll?

Solcher Sinn hat ja die Verheißung:

so werdet ihr

Suchet,

finden; klopfet an, so wird euch aufgethan') und: Den Aufrichtigen

läßt Gott es gelingen*2).

Was könnte ferner wohl dem Preise des göttlichen Namens hinderlicher sein, als eben die Sucht, dem eigenen Namen oder sich selbst nichts zu vergeben?

Befällt uns Leid und Trübsal,

blicken wir hin aus die Widersprüche des Erdenlebens, dann regt

sich in uns die Sucht, des Ewigen Wege zu meistern.

Es scheint

so viel uns räthselhaft, mit unsern Anschauungen nicht vereinbar,

aber wir mögen daran nicht denken, daß wir kurzsichtig sind, daß schon hienieden in der sichtbaren Welt so viel uns ein Räthsel

ist und darum unser Urtheil nicht maßgebend sein kann. Wir lassen

uns darum dazu fortreißen,

Gott anzuklagen oder gar zu be­

haupten, es könnte um dieser Widersprüche willen überhaupt keinen Gott geben.

Blicken wir hinab vor unsere Füße, so fällt unser

Auge auf den Wurm der Erde, der dort kreucht, und wir be-

meistern sein elendes Dasein, oder auf die Blume des Feldes, die köstlicher gekleidet ist, als Salomo in aller seiner Herrlichkeit, und

wir bemeistern, daß sie der Vernichtung preisgegeben ist.

Blicken

wir um uns auf die Bäume in ihrer Pracht, auf ihren Blüten­

schmuck im Frühling, dann bemeistern wir, daß so manche Blüte zu Grunde geht, bevor sie ihren Zweck erreicht.

auf gen Himmel, wie die Wolken ziehen,

Blicken wir hin­

dann bemeistern wir

heute, daß die Sonne zu viel Wärme uns sendet, morgen, daß

die Wolken so viel Regen herniederströmen lassen.

') Matthäus 7, 7. 2) Sprüche Salomo's 2, 7.

Blicken wir

38 hin auf die Geschichte der Menschheit, dann bemeistern wir die

vielen Rückschritte, die vielen Triumphe menschlicher Leidenschaften

und Sünde. Blicken wir hin auf das eigne Leben, dann bemeistern wir das Durchkreuzen unserer Pläne, das Vereiteln unserer Lieblingswünsche, das

mannigfaltige Leid, das uns trifft, den Tod,

der nach des Lebens Qualen schließlich uns ein jähes Ende be­ Aber wo dies Meistern verstummt, wo die Seele, ihrer

reitet.

Endlichkeit sich bewußt, sich sagt: Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken und unsere Wege nicht seine Wege, sondern so­

viel der Himmel höher ist, denn die Erde, so sind auch seine Wege

höher, denn unsere Wege und seine Gedanken, denn unsere Ge­ dankens — o, da setzt der Glaube in kühnem Fluge über alle diese

Widersprüche sich hinweg und sagt sich: Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehend und

denen, die Gott

lieben, müssen alle Dinge zum Besten bienen*3), da tritt schließlich der Seele das Bild des großen Gottes in erneutem Glanz und

Heiligkeit entgegen.

Was

könnte

endlich

wohl

einem

christlich-sittlichen

Leben

hinderlicher sein, als die Sucht nach einem eignen Namen, als

das Widerstreben, das eigene Selbst zu opfern.

Sittliches Leben,

wo wir heilig als die Kinder Gottes nach dem lautern Gottes­ worte leben, das fordert Aufopferung, fordert Liebe, fordert Hin­ gabe, fordert stetes Sichhineinringen in Gottes Gebote und Forde­

rungen.

Wie wäre dies aber möglich, ohne Verzicht auf alles

das, was das eigene Selbst uns gebietet? Sagt doch der Heiland:

Wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht

geschickt zum Reiche Gottes4),5 oder: Wer Vater oder Mutter mehr

liebt, denn mich, der ist meiner nicht werth3) oder: Wer sein Leben erhalten will, der wird eS verlieren, wer aber sein Leben verlieret

*) 3) 3) 4) 5)

Jesaias 55, 8. Apostelgeschichte 14, 22. Römer 8, 28. Lucas 9, 62. Matthäus 10, 37.

39 um meinetwillen, der wird es finden'), oder: Will mir Jemand

nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz aus sich

und folge mir"). Welch' eine Fülle sittlicher Arbeit

Augen!

m. L.

stellt sich

uns

da vor

Aber daß sie durch uns geschehe, das lehrt der

Meister mit der ersten Bitte uns erflehen.

Von der Höhe des

Sinai war es unter Blitz und Donner als ein heiliges Gesetz

Gottes

den Menschen

entgegengetreten:

Du sollst

den Namen

deines Gottes nicht unnützlich führen, denn der Herr wird den

nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.

Doch das

Gebot Gottes hatte die menschliche Unfähigkeit, demselben nach­

zukommen,

nur zu deutlich gezeigt.

Christus will nun, daß die

Gnade bewirke, was das Gesetz nicht erreichen konnte.

Er erfleht

von Himmels Höhen, daß dorther die Kraft komme, die uns den

Namen Gottes heiligen läßt.

uns darum beten gelehrt.

') Matthäus 16, 25. 2) Matthäus 16, 24.

Wollte Gott, er hätte heute auch

Amen.

Die zweite Bitte. Matthaus 6, 10. Dein Reich komme. Unser Vater, der du bist im Himmel; so lehrt der Erlöser

Danach steigt als

uns unsern Gott anreden. empor:

erste Bitte diese

dein Name werde geheiligt und folgt die zweite:

Reich komme.

dein

Welch' scharfer Contrast zwischen seinem Gebet

und unsern Gebeten zeigt sich gleich hier!

Kaum ist unser Blick

gen Himmel gerichtet, kaum sind die Hände gefaltet, kaum hat

der Mund sich aufgethan, da dringt heiß und ungestüm über die Lippen, was an kleinlichen Erdensorgen unser Herz erfüllt. Mach'

mein Kind wieder gesund! so lautet die erste Bitte der Mutter, die am Sterbebette ihres Theuersten kniet.

Wend' ab die Gefahr,

die über meinem Haupte schwebt! ruft der Geängstete, den Tod und Todesschatten umgeben. Laß die Saaten gedeihen! ist des Landmanns erste Sorge.

Laß mich bald zu einer Stellung ge­

langen unter den Menschen!

so steht der Jüngling.

Wie anders

der Erlöser! Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme! so lauten seine ersten Bitten.

Nicht das „mein", das „unser" ist da

das erste Wort, sondern das „dein", nicht das Irdische ist da die Hauptsorge, sondern das Himmlische, nicht der eigne Name, sondern Gottes Name, nicht das Glück der Erde, sondern das Heiligsein des Höchsten.

Das eben ist der Unterschied zwischen ihm und

uns: Wir wollen im Gebet unsern Gott uns dienstbar machen,

er soll nach unserm Willen den Lauf der Welten ändern, Jesus

41 dagegen will, daß wir im Gebet uns unserm Gott dienstbar machen,

daß wir mit Freudigkeit den Platz im Lauf der Weltgeschichte ein­

nehmen, den sie nach dem Rathe des ewigen Vaters uns zuweist.

von Gott nur das Wohl des eignen

Wir fordern im Gebet

Selbst, Christus hat uns gelehrt, im Gebet darum zu flehn, daß das Selbst sich wohl fühle in Gott.

Am vorigen Sonntag versenkten wir uns in die Worte:

Dein Name werde geheiligt.

Wir sahen, wie diese Bitte von uns

forderte, den heiligen Namen Gottes nie in die Wogen mensch­

licher Leidenschaften herabzuziehen, vielmehr denselben nur mit den erhabensten Vorstellungen in Verbindung zu bringen, wie wir zu dem Ende aber auf allen eignen Namen verzichten müßten. Doch, mit dem Namen Gottes berühren wir gleichsam nur den Saum

seines Gewandes und doch wollen wir in sein innerstes Wesen

dringen, damit alles in uns und um uns von ihm durchdrungen werde.

Darum schreitet auch das Gebet des Herrn fort von Wir aber machen die zweite

seinem Namen zu seinem Reich.

Bitte des Herrngebets dadurch zum Gegenstand unserer Betrach­

tung, daß wir mit einander fragen:

1.

was ersehnt sie?

2.

was fordert sie zu diesem Zweck von uns?

3.

wann

allein

kann

dieser

Forderung

genügt

werden?

1. Reich Gottes! o erhabener Gedanke! so erhaben, daß wir

wohl den Geist aus der Höhe uns erflehen mögen, damit wir er­ fassen, was der Meister darunter verstanden hat.

Hat er ja doch

selbst dies Reich Gottes immer wieder zum Gegenstände seiner Predigt gemacht,

bildet

es

doch

in

seinen Gleichnissen immer

wieder das Thema, das er vor den herzuströmenden Volksmassen

behandelt.

Er nennt

eS

auch

das Himmelreich, das Reich, in

dem der Himmel d. h. wiederum Gott herrscht.

Er nennt es

auch sein Reich; denn ihm hat ja der Vater übergeben alle Ge-

42 walt im Himmel und auf Erdens; wo er herrscht, da herrscht ja der Vater selbst. seinem

Haupt

die

Wunderbar! dieses Reiches König trägt auf Dornenkrone,

dieses

Reiches Fahne ist das

Kreuz, an dem sein König gestorben, das er zuerst getragen und die Seinen ihm nachtragen sollen.

Dieses

Reich ist nicht ge­

gründet durch Bajonett und Heeresmacht, sondern durch die Ge­

walt der Liebe, des Glaubens und der Hoffnung.

Wie anders

ist dies Reich des Gekreuzigten, den die Welt von sich stößt mit dem bittern Hohn: dies ist der Juden König! wie anders das

Reich jenes Gewaltigen, der gleichzeitig in Rom als den Bringer des goldenen Zeitalters sich feiern läßt. Kaiser Augustus befiehlt,

und im jüdischen Lande muß alle Welt hinziehen in ihre Stadt,

um sich schätzen zu lassen — da ziehen in ernsten Tagen auch

Joseph und Maria von Nazareth nach Bethlehem und — dort in der Krippe wird der König des Himmelreichs geboren.

Der

Nachfolger des Augustus, der schlaue, von den niedrigsten Sinnen­

genüssen zu Grunde gerichtete Tiberius weilt, von Gewissensbissen

verfolgt und der Menschen überdrüssig, auf der Insel Capri — da wird, ohne daß Tiberius etwas davon ahnt, des Aufruhrs an­

geklagt, auf der Höhe von Golgatha bei Jerusalem der König des

Himmelreichs

ans Kreuz

geschlagen,

nicht verzweifelnd an der

sündigen Menschheit, die er zur Buße gerufen, fest vertrauend, daß er

das Werk

seines Vaters

Schriftsteller jener Tage

im Himmel

machen

in

getrieben.

Heidnische

schmeichlerischer Weise

des

Rühmens kein Ende über alle jene Gestalten, die den Thron der Cäsaren einnahmen, bringen ihnen sogar göttliche Ehren entgegen. Gleichzeitig ist der Himmelskönig ihnen unbekannt.

Kurz und

gleichgültig berichten sie vielleicht von einem gewissen Jesus, der

einst im verachteten Lande der Juden aufgetreten sei, aber weiter wissen wir nichts.

Und doch!

Augustus,

Tiberius,

die

stolzen

Kaiser Roms alle, wo sind sie geblieben? Die nüchternere Nach­

welt hat die Maske des Göttlichen ihnen abgerissen, hat ihnen gegeben, was ihnen zukam, aber vor dem Himmelskönig jubelt sie:

') Matthäus 28, 18.

43 O mächt'ger Herrscher ohne Heere,

Gewalt'ger Kämpfer ohne Speere, O Friedefürst von großer Macht,

Oft wollten dir der Erde Herren Den Weg zu deinem Throne sperren,

Doch du gewannst ihn ohne Schlacht.

Ja, wenn alle Reiche der Welt längst in Trümmern liegen, dann

wird er noch herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Aber woran haben wir bei diesem Reiche Gottes zu denken? Es ist eine vollendete Gemeinschaft der Menschen, in der allein

der Wille Gottes das Bestimmende und Beherrschende, das die

Herzen Verbindende ist,

eine

Gemeinschaft,

in

der

menschliche

Sünde und Selbstsucht, Eifersucht und Bosheit geschwunden, wo

in Folge dessen auch jene Leiden nicht mehr sind, die aus jenen

entstehen, eine Gemeinschaft der Menschen, in der die Seele auch in

vollendeter Gemeinschaft

mit ihrem Gott steht, immer nur

lebend in der seligen Gewißheit, daß seine Vaterhand sie sicher leitet und führt.

Nicht zu verwechseln ist solch Reich Gottes mit

einer menschlichen Gemeinschaft, wo keine Könige herrschen und

keine weltliche Obrigkeit, sondern der Stand, der ganz besonders das Heilige auf Erden zu vertreten hat.

So war es in Israel,

wo der Hohepriester des Tempels zeitweilig die höchste Gewalt

inne hat, so erstrebte man es im römischen Papstthum, dem alle

Könige der Erde, als dem Stellvertreter Gottes, willigen Gehor­ sam entgegenbringen sollten.

Doch nicht darauf kommt es an,

daß der Stand, der das Heilige auf Erden vertritt und pflegt, auch äußerlich herrsche — er besitzt als solcher noch nicht einmal

die Fähigkeit dazu — sondern darauf, daß das Heilige und Gött­ liche

selbst

alles

bestimme

und

beherrsche.

Da

hat in dieser

großen Gemeinschaft, an welche der Erlöser denkt, jedes Volk seine

Stätte, wenn es nur die von Gott ihm auferlegten Pflichten er­ füllt. Da reichen sich die verschiedenen Nationen willig die Hände

zu gemeinsamer Arbeit, da klingt aus aller Munde schließlich das

Lob des höchsten Gottes, da muß, wie der Erlöser sagt, ein Hirt und eine Heerde werden.

endlich

Gewiß ein hohes Ziel, werth

44 Gewiß, wie der Erlöser sagt,

unseres Schweißes, unserer Arbeit.

ein Schatz im Acker, nach dem man graben sollte.

Gewiß eine

köstliche Perle, die man suchen müßte und um deretwillen man alles sollte opfern können.

Beziehung

auf

Darum kennt auch der Erlöser in

die Gemeinschaft

der Menschen

unter

einander

keine höhere Bitte, als eben diese: dein Reich komme.

Wir würden indeß seine Worte mißverstehen, wollten wir unberücksichtigt lassen,

daß derselbe Erlöser, welcher also betet,

gleichzeitig gesagt hat, das Reich Gottes sei schon da.

Es war

thatsächlich schon auf Erden, als er lebte, es war in ihm und

zwar nicht nur als ein von ihm gefaßter Gedanke oder Plan für

die Zukunft, sondern als Wirklichkeit.

In ihm herrschte bereits

der göttliche Wille ganz und voll, in ihm lagen die Kräfte und Mächte,

welche den Erdkreis immer mehr zum Reiche Gottes

machen konnten.

In ihm lag das Reich Gottes wie ein Senfkorn,

zu einem gewaltigen Baum entfalten mußte,

das

dereinst sich

wie

ein Sauerteig,

der alle irdischen Verhältnisse durchdringen

und verklären sollte, von ihm ging es über auf die Seinen, die es inwendig im Herzen trugen').

Und hat die Geschichte uns nicht

gelehrt, daß das Reich Gottes von da ab nicht wieder geschwunden

ist von der Erde?

Wirf einen Stein hinein in das Wasser, und

die Wellen verbreiten sich rings umher bis an die fernen

Ufer.

So trat in Christo das Reich Gottes ein in die Welt und hat seitdem seine Wellen geworfen bis an die entferntesten Küsten der Erde.

Sitte und Cultur, Gesetzgebung und Gesellschaft, Wissen­

schaft und Kunst, Schule und Staat, sie alle sind beeinflußt von diesem Reich, beherrscht vom Geiste Christi, so wenig die Feinde

des Kreuzes es

auch oft zugeben wollen.

Aber,

obwohl

das

Reich Gottes d a ist, so betet der Erlöser dennoch, daß es komme, und wir sollen so mit ihm beten.

Ja, die grause Wirklichkeit

des Lebens entpreßt uns diese Bitte, wie von selbst.

Vernimm

all die Seufzer unter der Erde Leid, hör' auf die Klagen über

so viel Unfriede unter den Erdenkindern, blick' hin auf die Eifer-

*) Lucas 17, 21.

45 sucht der Nationen, die mit Millionen von Bewaffneten einander

gegenüberstehen, sieh', wie so vieles sich sträubt wider den Geist des Meisters, wie die Wahrheit sich fürchtet an das Tageslicht

zu kommen, wie die alte gute Sitte so vielfach der Frivolität und

der Gemeinheit gewichen, sieh', wie so viel Unfriede herrscht rings umher in den Häusern, wie das öffentliche Leben zerrissen ist durch so viel Parteiintriguen, wie selbst die Kirche, die vor Allem be­ rufen

ist

Pflegerin

zur

Tummelplatz

des Reiches Gottes

menschlicher Leidenschaften

auf

geworden,

Erden,

zum

so daß man

ihr das Herrenwort zurufen möchte: Wenn aber das Salz dumm wird, womit soll man falzens? denk an der Heiden Länder, wie

dort noch Finsterniß das Erdreich deckt und Dunkel die Völker, blick' hin in das eigne Herz, wie es oft so kleinmüthig, so verzagt, so glaubensarm ist — dann dringt aus deiner Seele das Gebet

gen Himmel: dein Reich komme.

Wie schön schildert der Apostel

Paulus diese Sehnsucht, wenn er sagt3): „Das ängstliche Harren der

Creatur wartet

auf

die

Offenbarung

der Kinder Gottes.

Sintemal die Creatur unterworfen ist der Eitelkeit, ohne ihren Willen,

sondern um deß willen,

Hoffnung.

der sie unterworfen hat,

auf

Denn auch die Creatur frei werden wird von dem

Dienst des vergänglichen Wesens, zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.

Denn wir wissen, daß alle Creatur sehnet sich

mit uns und ängstet sich noch immerdar. sondern

auch wir

selbst,

Nicht allein aber sie,

die wir haben des Geistes Erstlinge,

sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten

auf unsers Leibes Erlösung, denn wir sind wohl selig, doch in der

Hoffnung."

Aber, wenn wir also um das Kommen des Reiches

beten, kann dann das unsere Absicht sein, den Allwissenden zu bestimmen, auf unsere Bitte Tag und Stunde zu ändern, die er seiner Macht vorbehalten hat? können wir dann wünschen, daß

durch einen Act göttlicher Allmacht herbeigeführt werde, was nach

seiner Weisheit das Resultat sittlicher Entwicklung der Menschheit

*) Matthäus 5, 13. 2) Römer 8, 19 ff.

46 sein soll? Darf dann auch nur der geringste Zweifel uns erfüllen,

ob es zum Kommen seines Reiches erst unserer Gebete bedürfe; darf dann auch nur der Wunsch uns erfassen, daß Gott die Wider­ sacher seines Reiches möglichst

bald richte und

vertilge?

Wie

schön sagt Dr. Martin Luther zu dieser Frage: das Reich Gottes

kommt auch wohl ohne unser Gebet, aber wir bitten in diesem

Gebete, daß es auch zu uns komme, daß wir mithin Glieder dieses Reiches werden, daß dieses Reiches Segnungen auch auf uns

übergehen,

daß wir diesem Reiche unsere Dienste weihen und

seine Gesetze für uns bestimmend werden.

Das aber führt uns

auf den zweiten Theil unserer Betrachtung.

Wir fragen nämlich

weiter: 2.

Welche Forderung stellt diese Bitte an uns? Um

hierauf

eine Antwort zu finden sei daran erinnert, daß es sich im Reiche Gottes um sittliche Entwicklung handelt.

Gewiß, du wirst ein

Glied dieses Reiches nur durch Gottes Gnade, und Paulus, der

größte Apostel Jesu Christi, sagt von sich: Von GotteS Gnade

bin ich, das ich bin, und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen').

Aber diese Gnade wirkt in deinem Herzen.

Es sei

denn, daß Jemand von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehens; so spricht Jesus zu Nikodemus, und diese

neue Geburt eben soll sich in dir vollziehen; in dieser sollst du aus einem Sünder zu einem Gotteskinde werden.

Wie geschieht

denn nun aber das? Denk' an das Gottesreich und seine heiligen

Aufgaben und frag' dich dann, ob du bisher demselben dich ge­ weiht?

Wie viel tritt dir dann entgegen von Weltliebe statt von

Gottesliebe, wie viel Trägheit statt Eifer, wie viel Gottesverleug­

nung statt Selbstverleugnung, wie viel Untreue statt Treue, wie

viel Zaghaftigkeit und Feigheit statt Ausdauer und Standhaftig­ keit, wie

viel Lieblosigkeit statt Milde und Erbarmen, wieviel

') 1. Corinther 15, 10. 2) Johannes 3, 3.

47 Eilen auf dem breiten Wege der Sünde statt stillen Pilgerns auf

dem schmalen Weg des Lebens!

Wenn du dann reuevoll nieder­

fällst vor deinem Gott, deine Sünden erkennst und bekennst und

sie dich schmerzen, wie

kein

Leid der Erde,

Schritt zur Wiedergeburt geschehen. kommen.

dann ist der erste

Aber dann soll es auch weiter

Der Glaube soll in dir erwachen, daß es für alle Ver­

gehungen und Sünden in Christo eine göttliche Gnade giebt, die

selbst dann dir nicht versagt wird, wenn deine Sünden gleich blutroth sind.

Solcher Glaube erst bringt wieder Freudigkeit, läßt

das zu Boden gesenkte Auge wieder fröhlich leuchten, macht die er­

lahmte Hand wieder stark und kräftig zur That, macht den Fuß fest, so daß er sicher seinem Ziele zuwandern kann, läßt uns fröh­ lich mit Paulo sprechen: Ich vergesse, was dahinten ist und strecke

mich zu dem, das da vorne ist1).

So entsteht schließlich in uns ein

neues Leben, wo wir, eingedenk empfangener Gnade, ganz unserm Gott uns zu ergeben bemüht sind, an seinem Herzen uns wohl

fühlen, im Thun seines Willens uns frei wissen, wo wir selbstlos nur den großen Zielen des Gottesreiches dienen. An stillem Waldes­ saum fließt anspruchslos das Bächlein dahin, mühsam windet es

sich durch Felsblöcke und Baumstämme hindurch, rauschend müssen

seine Wasser von der Höhe in die Tiefe fallen,

und schließlich

mündet es ein in den größeren Fluß, giebt an diesen seine Wasser ab, ohne zu fragen: Was wird aus mir? Ihm gleiche der Christ.

Still und anspruchslos spiele sein Leben sich ab, auf dem Platz, an den Gott ihn gestellt, in dem Beruf, den er empfangen, über­ winde er Mühe und Arbeit, Widerwärtigkeiten und Kämpfe; nicht

fürchte er sich davor, von der Höhe in die Tiefe hinabgezogen zu werden, und das alles nicht im eignen Dienste, sondern im Dienste

des Reiches Gottes auf Erden, ohne zu fragen: Was wird aus mir? Des Dichters Worte präge er tief sich in das Herz ein: Geh' hin nach Gottes Willen In Demuth und Vertraun, Lern' das Gebot erfüllen, Sein großes Feld zu baun!

*) Philipper 3, 13.

48 Frag' nach der Ernte nicht! Du darfst den Lohn nicht messen, Mußt Freud und Lust vergessen,

Nur sehn auf deine Pflicht.

Aber wir beten: dein Reich komme zu uns.

Wir denken also

nicht bloß an das eigene Herz, sondern an alle, die uns nahe stehen, wir denken an unser Haus, an unsere Stadt, an unser

Volk, an unsere Kirche, an die gesammte Menschheit. Wie könnte es auch anders sein?

Der Gedanke, daß diejenigen, welche uns

nahestehen durch die Bande des Blutes, der Freundschaft, noch nicht Glieder des Gottesreiches sind, müßte uns ja unser Glück stören. So sah der Erlöser, wenn er betete: dein Reich komme, im Geiste schon die Schiffe hinausziehen in alle Welt, die die Boten des

Evangeliums hinaustrügen zu allen Völkern der Erde.

So war

sein ganzes Leben ein stetes Verzichten auf der Erde Glück und Gut, ein stetes Ringen und Arbeiten um Seelen zu suchen, Ge­ nossen zu finden für das Gottesreich; und vergleicht erden Vater

mit dem Besitzer eines Weinbergs'),

der Arbeiter miethet,

im

letzten Grunde zieht er ja selbst aus um die erste, dritte, sechste, neunte, elfte Stunde.

Wie eine Henne ihre Küchlein, so lockt

er die Menschenkinder.

Ja selbst sein blutiger Tod am Kreuz

sollte noch ein letzter gewaltiger Abschiedsruf sein an diejenigen,

welche nicht bedenken wollten zu ihrer Zeit, was zu ihrem Frieden Als ein großes Opfer der Liebe sollte dieser Tod

diene.

Seelen noch

zurufen:

Ich habe dich je und je geliebet,

habe ich dich zu mir gezogen aus lauter @üte3).

den

darum

Auch ferner

noch werden die Missionsschiffe hinausziehen in die Welt, so lange

es Christen giebt, die den Segen des Gottesreiches an sich ver­ spüren und fühlen, was denen fehlt, die noch draußen stehen und in Folge dessen ihr Glück, ihr Heiligthum auch Andern mittheilen

möchten.

Ja, nicht ohne tiefe Beschämung, ohne große Wehmuth

können wir sehen,

wie der größte Theil der Erdbewohner dem

Gekreuzigten noch fernsteht, !) Matthäus 20, 1. 2) Jeremias 31, 3.

wie man noch niederfällt

vor

den

49 Aber ist auf diese Weise die dritte Bitte so recht

todten Götzen.

die Missionsbitte, erinnert sie uns an das Wort des Herrn: die Ernte ist groß, aber wenig sind der Arbeiter, darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende'), so mahnt

des göttlichen Reiches in

sie uns vor Allem, zur Ausbreitung

unserm eigenen Kreise thätig zu sein, zu werben, daß sie kommen, um das Wort Gottes zu hören, ihnen zuzurufen: des Worts und nicht Hörer allein*2).

Seid Thäter

Verirrte suchen, Spöttern

das Herz rühren, Verlassenen und Nothleidenden den Trost des

Himmels bringen, die Jugend erziehen in der Furcht des Herrn, das Alter ermahnen, daß es festhalte, was in der Jugend ihm heilig gewesen,

Andern haben.

das ist die Aufgabe,

die wir Einer gegen den

M. L. daß etwas Großes in dieser Richtung ge­

schehen müsse, das Bewußtsein geht durch unser Aller Herzen, daß

der Herr Ströme seines heiligen Geistes über das Todtenfeld der Menschheit ausgießen möge, der Wunsch geht durch unser Aller

Seele; daß dies Jahr, in dem wir den 400jährigen Geburtstag Dr. Martin Luthers zu feiern uns anschicken, dazu beitragen möge,

dies Ziel zu erreichen, das hoffen wir alle sehnlichst. die Mittel sind die Meinungen so verschieden.

Aber über

Es ist hier nicht

der Ort, alle jene Mißgriffe zu erwähnen, mit denen wir so oft das Reich Gottes auszubreiten glauben.

Nur auf zwei Fehler

sei hier hingewiesen. Der erste ist der äußere Zwang.

Wir erinnern uns hier

dessen, wie einst die Heere der Erdenkönige auszogen wider unsere heidnischen Vorfahren des

und

Christenthums brachten.

mit

dem Schwert sie zur Annahme

Was

ward

dabei

erzielt?

Eine

äußerlich organisirte Kirche, deren Glieder Namenchristen waren,

unter

denen

aber

heidnischer Aberglaube nach

wie vor blühte.

Wir denken dabei an so viel äußere Einflüsse und Vorspiegelungen irdischer Vortheile, mit denen man in unsern Tagen glaubt dem Reiche Gottes Glieder zu werben, denken daran, wie so viele zum

') Matthäus 9, 37 u. 38. 2) Jacobus 1, 22.

50 aber nicht erzogen werden.

Christenthum überredet, dabei erzielt? gehen,

sobald

Was wird

Im besten Falle Treibhauspflanzen, die da ver­ sie

den Stürmen

nicht selten Heuchler,

die

des Lebens

den Christennamen

ausgesetzt

werden,

nur mißbrauchen,

um sich Güter der Erde zu erringen, unter allen Umständen aber

ein Gebäude, das dem Hause gleicht, welches der thörichte Mann auf den Sand baute.

Vergessen wir nicht, nur das hat einen

Werth, was auf Freiheit gegründet ist, wie das nur gut ist, was

in Freiheit geschieht.

Wo

der große Gott in seinem Welten­

plan die Sünde zuließ, die doch ganze Theile seiner Schöpfung

der Vernichtung weihte und so viel Elend und Leid in dieselbe brachte, da sollen wir nicht denken, durch äußern Zwang erreichen zu können, was in Freiheit zunächst vielleicht nicht zu erzielen ist,

da sollen wir nicht gleich jenen ängstlichen Herzen Gehör schenken,

die jeden Mißbrauch der Freiheit benutzen, um die Freiheit selbst für etwas schädliches zu erklären.

Du bewunderst die Blume,

die am Morgen bei Sonnenaufgang ihren Kelch der Sonne er­ schließt und ihren Duft hinaussendet in die Lüfte, wie Weihrauch

dieselbe erfüllend.

Aber was wird aus der Knospe, die der un­

geduldige Knabe sich anschaut und, weil ihre Entwicklung ihm zu

langsam sich vollzieht, mit roher Hand auseinander reißt? Darum

weiche den Bauleuten am Reiche Gottes niemals der Grundsatz des Apostels:

So sind wir nicht der Magd Kinder, sondernder

Freien'); und wenn jeweilig ein Blick auf unsere Gegenwart uns zeigt, wie Millionen dem Reiche Gottes entfremdet sind, so über­

manne uns nicht jener Kleinmuth, in welchem wir glauben unsere protestantische Freiheit darangeben zu müssen, um von Neuem der

Knechtschaft uns zu ergeben; lieber wollen wir uns anklagen, daß wir nicht gethan haben, was wir thun sollten, um für die Zukunft

umzukehren und unsere Pflicht zu erfüllen. Der zweite Fehler ist das Dienstbarmachen kluger Politik

oder

sündiger,

Gottesreiches.

menschlicher

Leidenschaften

für die Zwecke

des

Als hätte nicht schon der Erlöser dies Mittel ver-

') Galater 4, 31.

51 werfen.

Auf

die Höhe

eines Berges

er sich

sah

seinen Füßen hatte er alle Reiche der Erde. in den Herzen all jener Erdenkinder,

allen Landen!

gestellt;

zu

Wie wogte es da

die da wohnten rings in

Blickte er gen Rom, dann erwachte der Gedanke,

wie der gewaltige Thron, der dort aufgerichtet, gegründet worden

auf

List

und

auf Heeresmacht

Ränke,

und

äußere

Gewalt.

Schaute er hin auf Israel, sein eignes Volk, dann gedachte er

der Leidenschaften, die da in Aller Herzen schlummerten.

Ein

Reich aus Erden wollte auch er gründen; wie wäre es, wenn er

die dämonischen Mächte in der Menschenbrust entfesselte und sie für seine Zwecke dienstbar machte, wenn er die Fahne des Auf­ ruhrs

dann mit den

entfaltete und

ihm

zu Gebote stehenden

Mitteln die Weltherrschaft an sich risse? O, versucherische Stimme!

Er hat nicht gezweifelt, daß es der Teufel wäre, der sie ihm ein­

gegeben.

Wohl hörte er die prahlerischen Worte: Alle diese Reiche

will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest, aber mit voller Entrüstung des Gottessohnes antwortet er ihm: hebe dich

hinweg von mir, Satanas; denn es steht geschrieben: du sollst an­ beten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen').

Er zog es

vor, in jene stillen Dörfer und Städte am galiläischen Meer zu

ziehen und dort zu wirken bis es hieß:

hinauf gen Jerusalem!

Dort die Mühseligen und Beladenen zu rufen, dort mit Trost

und Hülfe an Krankenbetten und Gräbern zu stehen, dort Sünder zur Buße zu rufen,

heilsbegierigen

dort einer vorurtheilsfreien,

Seele zu sagen: Folge mir nach, das erkannte er als das Mittel, das Reich Gottes auf Erden zu gründen.

Nun denn, so laßt uns

von ihm lernen und innehalten auf jenen verderblichen Wegen, das

Reich

Gottes

zu

bauen durch

Entfesselung

schaften, die auch in unserm Volke ruhen.

von

Leiden­

Es könnte sonst eine

Zeit kommen, wo wir bitter enttäuscht erkennen, daß wir wohl wähnten, für Gottes Sache zu streiten und doch des Satans

Reich

gefördert hätten.

Aus

dem Samen des Unkrauts wird

keine goldene Aehre, und Leidenschaft kann im letzten Grunde doch

’) Matthäus 4, 8 ff.

4'

52 nichts Anderes, als Leiden schaffen.

Täusche uns nicht der Erfolg,

auf den man marktschreierisch uns Hinweisen will; was in unsern

Gärten wuchert ist ja das Unkraut; die edle Pflanze dagegen entwickelt sich langsam, leidend unter dem Schatten, den jenes

auf sie wirft, entbehrend der Sonnenstrahlen von oben, die jenes ihm wegfängt.

3.

m. L., wie oft ist

Aber, von

Gottes

der

solch stilles Bauen am Reiche

Welt für erfolglos,

Schwärmerei gehalten worden.

fürs

Resultat

nutzloser

So haben sie dem Meister selbst

nachgesagt, er habe den Teufels, und die eigne Mutter, die Großes von ihrem Sohne gehofft, die gejubelt hätte, wenn sie gesehen,

wie er die irdische Königskrone sich aufs Haupt gesetzt, als sie ihn

lehrend

in Mitten

des Volkes

gesehen,

da ist sie

mit

seinen

Brüdern gekommen, um ihn heimzuholen in das Elternhaus"). Dennoch aber weiß der Erlöser, daß seine Arbeit nicht vergeblich

ist.

Es

wird,

so

sagt

er zuversichtlich,

das Evangelium vom

Reich gepredigt werden in der ganzen Welt zu einem Zeugniß über alle Völkers.

Es wird, so sagt er zuversichtlich weiter,

dereinst einem gewaltigen Baum gleichen, unter dem die Vögel

des Himmels ihre Nester bauens, und schon sieht er im Geist die Völker alle kommen von Morgen und Abend, um mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu sitzens.

Ja, diese Gewißheit

endlichen Sieges verläßt ihn auch am Kreuze nicht, wo die lebende Menschheit ihm nur zu deutlich zeigt, was sie von seinem Wirken hält, wo

der Hohepriester des Tempels ihn für einen Gottes­

lästerer erklärt hat, der Vertreter der römischen Staatsmacht ihn für einen Schwärmer hält, wo von den Zwölf, die ihm so nahe ge­

standen, der Eine ihn verleugnet, der Andere ihn verrathen hat und

2) 3) 4) b)

Johannes Matthäus Matthäus Matthäus Matthäus

8, 48. 12, 47 ff. 24, 14. 18, 31 u. 32. 8, 11.

53 alle feige geflohen sind.

O, seliger Glaube, der so felsenfest auch Könnte er auch uns

von dem überzeugt ist, das er nicht siehet.

ganz und voll beherrschen, dann würden wir mit völliger Freudig­ keit bauen am Gottesreich, bauen auch mit den Mitteln, mit denen

es

allein

gebaut

werden

Warum

soll.

diesem Gebiet zu äußerm Zwang,

lichen Leidenschaften?

greifen

wir denn auf

zu kluger Politik,

zu mensch­

Weil der Glaube uns fehlt, daß das Gute

die Kraft besitzt, durch sich selbst zur Herrschaft zu gelangen, weil wir meinen, durch kleinliche und sündige Mittel den Herrn Himmels

und der Erde unterstützen zu müssen. folge vor Augen haben,

Da wir alltäglich die Er­

die die Sünde erringt und der Glaube

uns geschwunden, daß die Sünde der Leute Verderben ist und darum

verlassen wir die

Wege, die Gott selbst uns vorgeschrieben hat.

Und warum sind

ein Volk

nur Gerechtigkeit

erhöht'),

wir so träge überhaupt in den Dienst des Gottesreiches zu treten? warum sehen wir die Völker Millionen opfern für die Reiche der

Welt, während für das Reich Gottes auch das geringste Opfer

zu

groß

ist?

Weil

der Glaube uns

Thron und ein Scepter giebt,

Glaube könnte,

uns

die

daß

fehlt,

durch

eine

fehlt,

daß es noch einen

die man nicht siehet,

weil der

Menschengemeinschaft

entstehen

etwas Anderes

zusammengehalten wäre,

als

durch irdische Interessen, die da ruhte auf Liebe, Gerechtigkeit

und Wahrheit.

Der Glaube dagegen läßt die Seele über Jahr­

hunderte und Jahrtausende hinwegsehen und das eine, endliche

Ziel im Auge behalten, vor dessen Herrlichkeit alle Erdengüter, aller

Erdentand

in

ihrer Nichtigkeit

erscheinen

müssen.

Der

Glaube giebt der Seele eine Kraft, in der sie vermag Berge zu versetzen.

Sagt ja doch schon der Meister zu seinen Jüngern:

So ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so möget ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin; so wird er sich heben, und euch wird nichts unmöglich fein3).

Ja, was Großes

im Reiche Gottes geschehen, das war aus dem Glauben geboren.

') Sprüche 14, 34. 2) Matthäus 17, 20.

54 Oder meint ihr, Luther hätte den Kampf ausgenommen gegen Kaiser und Papst, wenn er der große Glaubensheld nicht gewesen wäre, der sich und sein Werk im Schutze des höchsten Gottes

wußte und darum allen menschlichen Schutz verschmähte?

Der

Glaube war es, der einst August Hermann Francke mit der ge­

ringen Summe von 7 Gulden munter Hand anlegen ließ an die Gründung jenes Waisenhauses in Halle, von dem so viel Segen

ausgehen sollte bis aus den heutigen Tag.

Möchte denn auch

unter uns dieser fröhliche Glaube wieder erwachen, und wenn die Bitte heute gen Himmel geht:

„dein Reich komme", wir nicht

unterlassen, vor Allem auch das in die Worte mit hineinzulegen: Herr, mehre und stärke unsern Glauben!

Dieser Glaube weist

ja selbst hinaus über die Pforten des Todes, indem er uns sagt, ob hienieden auch alles Suchen und Ringen scheinbar umsonst

ist, ob du hier eine Vollendung des Gottesreiches auch niemals sehen wirst, vergeblich war deine Arbeit doch nicht, ein Glied des

Gottesreiches bleibst auch du; denn über den Tod reicht dieses Reich hinaus, hinein in jene bessere Ewigkeit. ja auf diese Erde nicht beschränkt bleiben.

land muß größer sein.

Amen.

Gottes Reich kann

Des Christen Vater­

Matthäus 6, 10.

Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel.

$om Reiche Gottes schreitet das Gebet des Herrn fort zu

dem einen Willen, der dieses Reich regiert. Reich gedeihen und blühen, beherrscht.

Denn, soll ein

dann muß ein Wille sein, der alles

Der Erlöser sagt schon:

„Ein jegliches Reich, so es

mit sich selbst uneins wird, das wird wüste; und eine jegliche Stadt oder Haus, so es mit sich selbst uneins wird, mag nicht

bestehen"*).

Hat die Geschichte uns ja auch von jeher gelehrt,

wie die Reiche zerfallen, wo jeder Einzelne nur seinen Willen

durchzusetzen sich bemüht und es versteht, dem lenkenden Willen fortdauernd Feindschaft entgegenzustellen oder ihm entgegenzuar­ beiten.

Und ist es im kleinern Kreise nicht ebenso?

Wo blühte

eines Hauses Glück, in welchem Mann und Frau jeder den eignen Willen

durchzusetzen

suchen, wo jedes der Geschwister nur den

eignen Vortheil erstrebt? Aber das Reich Gottes soll ein sittliches

sein.

Darum ist es hier nicht wie im Reiche der Natur.

muß ohne Weigern alles geschehen, wie Gott es will.

Dort

Im großen

Weltenraum kreisen die Sterne in unwandelbaren Bahnen, weil

er es also gebietet.

Seit Tausenden von Jahren dreht sich all­

täglich die Erde um ihre Achse, weil Er es so bestimmt hat. Die

Erde bringt hervor allerlei grünende Kräuter und blühende Bäume; sie wachsen, sie tragen ihre Frucht zu ihrer Zeit, weil Gott ihnen

*) Matthäus 12, 25.

56 Kraft und Saft dazu gegeben.

Aber zu einem sittlichen Wesen

hat er den Menschen geschaffen, daß er frei für das Gute und wider das Böse sich entscheide.

Damit ist zugleich die Möglich­

keit gegeben, daß des Menschen Wille sich in Widerspruch setze zu Gottes Willen; und wie sollte diese Möglichkeit nicht zur

Wirklichkeit werden bei dem kurzsichtigen Erdenkinde, das so oft

nicht weiß, was zu seinem Besten dient, bei all der Selbstsucht, die in ihm ruht und es ungestüm nur fordern und suchen läßt,

was zum eignen Wohlergehen gehört? In der Natur finden wir darum Harmonie, In

im Menschenleben

der Natur finden

suchen

wir sie vergebens.

wir unbedingtes Sichaufgeben, wo

der

höhere Zweck es fordert: Mond und Sterne erblassen, wenn der

Augenblick kommt, wo die Sonne die Erde bescheinen soll, um still und anspruchslos wieder ihre Dienste zu thun, wenn das hellere Licht untergegangen; die Ähre, die mühsam, mit Dürre und Regengüssen kämpfend, schließlich ihre Körner zur Reife ge­

bracht, neigt, von ihrer Last gebeugt, sich schließlich zur Erde, um dann willig ihren Segen dem Menschen zu opfern, daß er ihn

einfahre in seine Scheuern.

Aber beim Menschen finden wir vom

Morgen bis zum Abend nur Ringen für sich selbst, finden wir so viel Auflehnen und Murren wider sein Geschick.

Und doch

sollte der Mensch von der Natur lernen, sollte den Willen Gottes

zu dem seinen machen.

Nur so würde Alles zu einem harmo­

nischen Ganzen sich entwickeln. müssen in

der Natur

oft

Nach dem Willen des Ewigen

die Elemente ihre Macht

Entsetzen befällt dann den Menschen. lehnten sie sich

Alles wieder in

entfesseln.

Es will ihm scheinen, als

auf wider den Willen Gottes, und doch lenkt

seine Bahnen

ein.

Ordnend

schwebt

ja der

Gottesgeist über den Wasserwogen, über den Stürmen, so daß

Alles in seine Schranken zurückkehren muß.

liegt eine gewaltige Predigt für dich.

Menschenkind! darin

Sie sagt dir:

Du kannst

dich auflehnen wider deinen Gott, er wird dich eine Weile lassen,

aber du durchkreuzest ihm seine Pläne nicht, und die Stunde kommt, wo du deine Ohnmacht erkennst und die Folgen Deines Wider­

standes überblickst; Gott erreicht seine Pläne auch auf dem Ge-

57 biet des sittlichen Lebens; sein Reich geht seiner Vollendung ent­

gegen, wenn nicht mit dir, dann ohne dich. Beete,

welche künstlich

des Gärtners Hand

Beschau' dir die sich geschaffen;

da

Erst die Zu­

reiht sich Pflanze an Pflanze, Blume an Blume.

sammenstellung der verschiedenen Blätter und Blüten giebt dem

Ganzen seine Schönheit; erst im Ganzen, erst beschnitten und ge­

von künstlerischer Hand,

zogen

deutung.

So

der

erfüllt

gewinnt das Einzelne seine Be­

seine

Mensch

Bestimmung erst im

großen Ganzen, wenn er demüthig sich beugt unter den höhern, ordnenden Willen, fühlt sich schließlich glücklich und selig nur,

So spricht

wenn er sich hingeben kann an den Willen Gottes.

der Erlöser:

Meine Speise ist die,

daß ich thue den Willen

deß, der mich gesandt hat und vollende sein Werkes. So heißt

es in des Dichters Worten: Im Grenzenlosen sich zu finden,

Wird gern das Einzelne verschwinden, Da löst sich jeder Ueberdruß. Statt heißem Wünschen, wildem Wollen, Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen

Sich hinzugeben ist Genuß.

So lehrt das Vaterunser uns beten: dein Wille, o Vater,

geschehe!

Wir aber machen heute diese Bitte zu unserm Thema

indem wir uns fragen:

Was erfleht der Christ mit den

Worten: Dein Wille geschehe?

Die Antwort lautet:

1. daß Gottes Wille durch uns und 2. daß er an uns geschehe.

1. Wie oft, mein Christ, hast du schon die Worte auf deine Lippen genommen: „Vater, dein Wille geschehe"! Aber warst du dir dabei immer dessen bewußt, was du batest?

sein Wille Erden

so

geschehe, vielfach

daß

Gott bewirken möge,

vernachlässigter

’) Johannes 4, 34.

Du wolltest, daß

Wille

endlich

daß sein zur

auf

Geltung

58 komme.

Deine Bitte war dabei oft verbunden mit einer bittern

Klage über der Zeiten Schlechtigkeit, über das Ungestraftbleiben so mancher Sünde.

Wie? wenn dein Gott deine Bitte erhörte

nnd seine Blitze hernieder schleuderte auf die Häupter derer, die seine Gebote

nicht

und

gehalten

seine Wege nicht

gewandelt?

wenn er des Spötters Mund auf ewig schlösse, die in Haß er­ hobene Hand auf immer lähmte, die nur bei unkeuschen Bildern

verweilende Fantasie auf immer verwirrte? — würde das alles nicht auch dich treffen?

Darum ist solche Bitte nicht möglich, so

lange du im offnen Widerspruch stehst zu deinem Gott, so lange

du noch trotzig deinen Willen dem Willen deines Gottes entgegen­

stellst, so lange du nicht wenigstens den Wunsch hast, den eignen Willen zu brechen.

In unserer Bitte muß darum der Mensch

sich vor Allem erflehen, daß sein eigner Wille aufgehe in Gottes Willen.

Und was hätte es denn auch für einen Sinn, zu Gott

zu sprechen:

„dein Wille

geschehe"!

wenn wir dabei von der

Meinung ausgingen, daß es unserer Bitte erst bedürfe, damit der

Allmächtige und Allweise seinen Willen vollstrecke?

Als ob

es

nicht hieße: So er spricht, so geschieht es; so er gebietet, so steht es ba1).

So hat denn auch Dr. Martin Luther schon in seiner

Erklärung unserer Bitte gesagt: Gottes guter und gnädiger Wille geschieht auch wohl ohne unser Gebet, aber wir bitten in diesem

Gebete, daß er auch bei uns geschehe.

Aber wie soll Gottes Wille bei uns und also auch durch uns

geschehen,

wenn

wir diesen seinen

Willen

Darum richtet sich hierauf zunächst unser Blick.

nicht kennen? Wohl finden

wir eine Richtschnur für unser Handeln grade in den Lebensver­

hältnissen, in denen wir stehen.

Der Beruf, den wir uns erwählen,

die Lebensstellung, die wir einnehmen, das Verhältniß zu Weib und Kind, zu Vater und Mutter, das alles läßt die Hand nicht ruhen

und den Verstand erkennen, was zu geschehen habe.

Des Staates

Gesetz, die gute Sitte, die wir von den Vätern ererbt, die Vor­

schriften der Kirche, das alles tritt fordernd und gebietend an uns

') Psalm 33, 9.

59 heran.

Ja, wer will es leugnen, es sind göttliche Gebote, die

dabei in uns aufleuchten!

Pietät von uns fordert,

Jede Geringschätzung dessen, was die jede Vernachlässigung der Liebe gegen

die Eltern, die mit Schmerzen und Sorgen uns erzogen, jedes

Erkalten jener eiligen Entschlüsse, die am Altar des Herrn der Gatten Herz noch beseelten, jede Vernachlässigung der Kindlein,

die Gott dem gemeinsamen Hause geschenkt, wird von der fühlenden Brust wie ein Frevel empfunden an dem Gott, der diese innigen Verhältnisse unter den Menschenkindern selbst gegründet, und Israel

„du sollst

dem auf Sinai's Höhe das heilige Gebot geworden:

deinen Vater und deine Mutter ehren, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen" rc., es war nicht das einzige Volk, das Auch die Heiden haben dafür

dies empfand.

gehabt.

ein

Verständniß

Jedes Uebertreten staatlicher Gesetze, jeder Verstoß gegen

die gute

Sitte,

jede

Geringschätzung

von Ordnungen

unserer

Kirche, verfällt nicht nur der obrigkeitlichen Strafe, dem herben Urtheil des mürrischen Alters, das nur an der guten alten Zeit

hängt, der bittern Anklage der Frommen im Lande, nein es wird empfunden als ein Verstoß gegen Gottes heilige Gebote.

Sagt

ja doch Paulus, der Apostel des Herrn: „Jedermann sei Unterthan

der Obrigkeit,

Obrigkeit,

die

Gewalt

ohne von Gott;

Gott verordnet')."

über

ihn

hat.

Denn

wo aber Obrigkeit ist,

es

ist keine

die ist von

Aber wer wäre trotz alledem nicht oftmals

rathlos gewesen, was er zu thun habe, was in jedem gegebenen

Falle Gottes Wille von ihm fordere.

Wer wüßte nicht davon zu

reden, wie gleichzeitig die verschiedensten Pflichten an ihn heran­

getreten, wie der erwählte Beruf oftmals etwas Anderes gefordert, als das Wohl der eigenen Familie?

kommenheit empfunden

menschlicher

zwischen

Gesetze

diesen und

Wer hätte nie die Unvoll­

erkannt

dem

und

eigenen

den

Widerspruch

Gewissen?

Wie

könnte darum das Gebet gen Himmel gehen: „dein Wille ge­ schehe", ohne daß des Christen Herz die Bitte hineinlegte: „Herr,

thu' uns kund zu allen Zeiten, was dein heiliger Wille von uns 9 Römer 13, 1.

60 fordert; versenke du uns immer tiefer und tiefer in dein Wort, daß wir daraus erkennen, was du von uns willst; verleih' uns

den Geist deines Sohnes,

in welchem wir fortschreiten werden

von Erkenntniß zu Erkenntniß; schärf' du den Blick des Geistes,

damit wir immer deutlicher sehen, was gut und böse ist." Doch, m. L., dem Erkennen des göttlichen Willens muß nun

auch die That folgen; je mit der wachsenden Erkenntniß wächst auch unsere Verantwortlichkeit.

Denn während der Heiland auf

der einen Seite betet: „Vater, vergieb ihnen; denn sie wissen

nicht,

was

sie thun"4),

sagt er auf der andern Seite:

„der

Knecht, der seines Herrn Willen weiß und hat sich nicht bereitet, auch nicht nach seinem Willen gethan,

der wird viele Streiche

leiden muffen*2)." 3 4 Und Jakobus schärft seinen Lesern alles Ernstes ein: „Wer da weiß Gutes zu thun und thut es nicht, dem ist es Sünde"2).

Pflegen wir ja doch auch dem unwissenden Kinde

zu verzeihen, was wir an dem Heranwachsenden Knaben bestrafen. Aber wie oft bleiben wir dem erkannten göttlichen Willen gegen­ über gleichgültig und kalt; wie oft reden wir uns ein, Gott könne

es wohl so gar ernst nicht meinen, trösten uns auch wohl mit der allgemein menschlichen Schwachheit, die uns den unbedingten

Gehorsam gegen Gottes Willen unmöglich mache.

Wie erkaltet

so oft die Begeisterung für hohe Ideale, welche die jugendliche

Brust einst in sich getragen, sobald das Leben uns zeigt, daß man mit Verleugnung

heiliger Grundsätze,

mit heuchlerischer Miene,

mit charakterloser Kriecherei doch so viel weiter zu kommen ver­

möge! Und wenn es dann wirklich zum Entschluß kommt, dem Willen Gottes gemäß zu handeln, wie oft sehen wir uns dann

in die Lage versetzt, welche Paulus schildert, wenn er sagt: „Wollen habe ich wohl, aber Vollbringen des Guten finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das thue ich nicht, sondern das Böse,

das ich nicht will, das thue td)"4).

0 2) 3) 4)

Lucas 23, 34. Lucas 12, 47. Jacobus 4, 17. Römer 7, 18 u. 19.

Es fehlt uns die Kraft,

61 auszuführen, was der Wille wohl möchte; es erlahmt die Hand

während der That selbst; wir stoßen auf so viel Schwierigkeiten, wo wir sie gar nicht erwartet; unsere edelsten Absichten werden so vielfach verkannt, und der Menschen Haß und Neid verfolgt

uns auf Schritt und Tritt.

Es will uns nicht in den Sinn,

daß der Heranwachsende Baum erst mancher Blätter und Zweige im Sturmesbrausen beraubt werden muß, damit er dereinst kühner

sein Haupt gen Himmel erheben könne, oder es tritt uns blendend

das Erreichte vor die Seele und erscheint uns als so groß nnd gewaltig, daß wir glauben, die Hände in den Schooß legen zu

dürfen und für die Zukunft göttlicher Gebote überhoben zu sein.

Seele, wie könntest du da noch beten: „Vater, dein Wille geschehe", ohne in diese Worte die Bitte hineinzulegen: Gieb uns aus der

Höhe deines Geistes Kraft, daß wir nicht träge werden zu thun,

was wir thun sollen'),

daß nie Mißmuth uns beschleiche,

als

könnte redliche Arbeit jemals nutzlos und erfolglos sein, aber eben so wenig der Hochmuth, der eigner Erfolge sich rühmt und die­

selben sich zum Ruhekissen werden läßt. Bei dem allen aber übersehen wir nicht, wo der Meister bei seiner Bitte das Ideal erblickt, nach dem wir uns haben.

zu

richten

Kein frommer Beter auf Erden, kein noch so strenger

Gesetzesmensch

mit seinem Fasten,

finstern Angesicht ist ihm genügend.

seinen Bußübungen,

seinem

Nur in lichten Himmels­

höhen hat er diejenigen gesehen, die den Willen des Vaters voll­

kommen erfüllen.

Während hienieden an allen Enden die Selbst­

sucht ihre Triumphe feiert, weiß er droben dienstbare Geister"), deren höchste Freude es ist, die Befehle ihres Gottes auszurichten. Während hienieden die Erdenkinder so oft nur sich

selbst ver­

herrlichen, nur ihren Ruhm suchen, sieht er um den Thron des

Höchsten jene Seraphim, Während

hienieden

die ihr „heilig, heilig,

lieblos

die

heilig" rufen.

Menschen über Anderer Fehler

richten und nur die eigene Selbstgerechtigkeit anerkennen, sagt er

') Römer 12, 11. ") Ebräer 1, 14.

62 sich, droben ist Freude über einen Sünder, der Buße thut, vor

neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen'). Während hienieden

die Menschen

seit den Tagen Kains dem Grundsätze

huldigen: „Was soll ich meines Bruders Hüter fein"3*)42 und 5 6 7meinen, sie hätten genug gethan, wenn Hand und Arm sich nicht ver­

greifen an des Mitmenschen Hab und Leben, heißt es von den

Engeln, daß sie sich lagern um die her, die Gott fürchten, und Während die Menschenkinder sich so oft be­

ihnen aushelfen3).

mühen, das Heilige zu entweihen, weiß er droben den Cherub, der mit flammendem Schwert des Gottesgartens Heiligthum be­

wahrt.

Während

die Menschen den Gottessohn

hienieden

mit

seinem Heile von sich stoßen, weiß er, droben bedarf es nur seiner

Bitte, und

auf

des Vaters Wink

würden mehr,

Legionen Engel für seine heilige Sache kämpfens.

im Geiste schon jene Seligen,

denn

zwölf

Ja, er sieht

„die da gekommen aus großer

Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider

helle gemacht im Blute des Lammes und werden sein vor dem Stuhl

Gottes

Tempel"3).

und

ihm

dienen

Tag

und

Nacht in

seinem

Wenn darum der Christ betet: „dein Wille geschehe,

wie im Himmel, also auch auf Erden", so will er damit sagen:

Laß, o Vater, nie eine Stunde kommen in unserm Leben, wo wir seitwärts blicken auf andere Menschen, mit dem Gedanken,

uns damit brüsten zu können, daß wir besser seien, als sie; laß uns

zurückschrecken

„Ich

vor

danke dir, Gott,

einem Pharisäerherzen, das da spricht:

daß

ich nicht bin,

wie andere Leute,

Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner"3).

Lehre uns erkennen, daß unsere Pflicht unendlich ist.

Gieb uns

in unser Herz jene Liebe, in welcher allein die Erfüllung deiner

Gebote uns aus einer Last zur Lust wird3). !) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Lucas 15, 7. 1. Moses 4, 9. Psalm 34, 8. Matthäus 26, 53. Offenbarung Johannis 7, 14 u. 15. Lucas 18, 11. 1. Johannes 5, 3.

Laß freudig und

63 ohne Murren unser Herz sich deinem Willen ergeben und uns

nie vergessen, daß, „wer da will groß werden, der sei des Andern Diener und

wer

da

will

der Vornehmste

sein,

der

sei Aller

Knecht"'»).

2. Aber, m. L. der Wille unseres Gottes wendet sich nicht nur an unser Thun, sondern auch an unser Leiden.

er uns entgegen in den unwandelbaren Gesetzen

Unerbittlich tritt der Natur, in

den Geschicken des eignen Lebens; kein Auslehnen dawider würde uns nützen.

Herauf ziehen die Wolken und ergießen ihre Wasser­

ströme über unsere Fluren; wiederum gehen Wochen dahin, ohne

daß sich der Himmel mit Wolken bezöge.

Nichts nützt da dem

Landmann sein Klagen und Murren über das Zuviel oder Zu­

wenig.

Mit

unwiderstehlicher Gewalt

entfesseln

sich

zu Zeiten

Zündend fällt der Feuerfunke in die Wohnungen

die Elemente.

der Menschen, und das Haus, die Stätte seines Glücks, sein Hab

und Gut, woran sein Herz sich klammert, sind binnen Kurzem

ein Raub der Flammen.

Anschwellend auf Schritt und Tritt

wälzt der Bach sein Wasser vom Gebirge hernieder, reißend durch­

strömt in Folge dessen auch der Fluß die Ebene; seine Ufer über­ schreitend schwemmt er hinweg, was Menschenhand gebildet und

gepflegt.

Einen Blick nach dem Grabe seiner Habe sendet noch

der Mensch zurück, dawider sich

wollte er

aber was würde es ihm nützen,

auslehnen?

Ja, mehr noch,

er selbst, sein eigner

Leib, ist diesen Gesetzen des natürlichen Lebens unterstellt.

Schmerzen wird er geboren;

Mutter Bahre.

oft steht

seine Wiege

neben

Mit

der

Er bleibt dauernd den Einflüssen der Außen­

welt unterstellt, die ihn oftmals auf das Krankenbett werfen und

schließlich

in

den Staub

der Erde

hinbsinken

lassen.

Ja auf

Schritt und Tritt schwebt die Gefahr über ihm, den Mächten des Todes zu verfallen.

Aber was helfen alle bittern Klagen über

unser Loos hienieden, die von Jahrhundert zu Jahrhundert sich *) Marcus 10, 43 u. 44.

64 Der Wille, der in dem allen sich kund thut, ist zu

vererben?

gewaltig, als daß wir etwas gegen denselben vermöchten.

„Es erscheint uns vermessen und ruchlos von Seiten eines einzelnen Menschenwesens, stammt,

von

mißbraucht,

dem

so

das

gegenüberzustellen,"

unsers Jahrhunderts. ergeben.

sich

es auch

keck

dem All,

sagt

ein

aus

dem

es

hat,

das es

vielgenannter

Mann

bischen Vernunft

Es gilt eben dem Willen Gottes sich zu

Aber was heißt das? Es giebt eine Stimmung, die bei

schweren Schicksalsschlägen bei uns sich einstellt; da haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, daß hienieden unter der Sonne alles eitel,

alles ganz eitel,

da haben wir gelernt, wie unser

edelstes Streben so vielfach erfolglos sei.

Und mit des Geschickes

Mächten sei kein ewiger Bund zu flechten — und das Unglück schreite schnell.

Sinnend über sein herbes Geschick, gebeugt von

der schweren Last, die auf seinen Schultern liegt, geht der Mensch

dann dahin durchs Leben und der stete Inhalt seiner Rede ist die Wehmuth über sein herbes Geschick; es gewährt ihm sogar eine

innere Befriedigung, immer von Neuem in solchen trüben Stim­ mungen gleichsam zu schwelgen.

Und das endliche Resultat ist

immer wieder: Man muß sich in das Unvermeidliche fügen.

das die christliche Ergebung in den Willen Gottes?

Ist

Der Ge­

danke, daß es eben nicht ein blindes Schicksal ist, sondern der Wille

des gütigen Vaters, der über uns waltet, ohne den kein Haar von

unserm Haupt und kein Sperling vom Dach fällt, der Gedanke, daß in den Gesetzen der Natur dieser Gott an uns wirkt, der

muß unserer Ergebung den rechten Stempel aufdrücken,

zur christlichen macht.

der sie

Da kann das Auge nicht von Thränen

des Schmerzes voll sein, da muß es leuchten von seligem Ent­

zücken.

Da kann das Herz nicht klopfen vor innerer Erregung,

vor Ratlosigkeit und Verzweiflung; es muß dem See gleichen, den hohe Berge umgeben, so daß die Stürme wohl brausen, aber die Tiefen des Sees nicht aufzuregen

vermögen.

Siehe, mein

Christ, wie bist du so froh, wenn du deine Wünsche hinaufgesandt hast gen Himmel und du hast sehen dürfen, wie das dir gegeben worden, was du so sehnlich begehrt.

Du fühlst dich dann ver-

65 pflichtet zum Dank

gegen deinen Gott, zu lautem Jubel und

Preis seines heiligen Namens.

Ja, ist das fragliche Ereigniß

ein solches, daß das ganze Vaterland dabei betheiligt ist — und

wir haben es ja alle erlebt — dann geht die Aufforderung zum Dank gegen Gott von Mund zu Munde und findet ihren Wider­

hall in allen Gauen — und es ist recht also.

Aber sollte nicht

gleiche Freudigkeit unsere Seele erfüllen, wo unsere Wünsche uns versagt werden, weil Gottes Vaterweisheit weiter schaut, als wir.

Wenn wir darum bitten, „Vater, dein Wille geschehe," so wollen wir eben diese Freudigkeit aus Himmelshöhen uns erflehen, weil wir sie hienieden nicht finden.

Wissen wir ja doch, wie auf die­

selbe Bitte in Gethsemane des Himmels Engel herniedergesandt ward, um den Erlöser zu trösten, wie von da ab, mit innerer Siegesgewißheit, von ihm der Todeskampf gekämpft ward bis es

von Golgathas Höhe erscholl:

„Es ist vollbracht".

Wissen wir

ja doch, auch heute ist der Himmel nicht verschlossen, auch heute

noch senken sich des Himmels Kräfte, wenn auch unsichtbar, her­

nieder in des Menschen Brust.

Mütter, die ihr bangt ums Leben

eurer Lieblinge, Väter, die ihr sorgenvoll fragt: „Was wird aus

meinem Sohn, meiner Tochter noch werden?" Männer, die ihr steht im heißen Kampf des Lebens, Schwache, die ihr euer Ende nahe wähnt,

weil die Stunde der Heimkehr bald da sein muß,

o betet vor euerm Gott: „deine Wille geschehe", und ihr werdet es alle erfahren, ohne Segen kehrt ihr nicht vom Angesichte eures

Gottes zurück ins Leben.

M. L. wir sind als Christen gewohnt, diese Erde als Vor-

bereitungsstuse für die Ewigkeit zu betrachten.

Wodurch könnte

sie es besser werden, als durch Erfüllung unserer Bitte?

Daß

der Wille Gottes sei Alles in Allem, das ist ja das Streben jener seligen Geister der Heimath.

Und wer droben sich nicht

fremd fühlen will, der muß dies hienieden schon gelernt haben. So sei es denn aller Bitten steter Zusatz; so mögen denn alle Wünsche hienieden

durch denselben verklärt werden,

so sei der

letzte Seufzer, mit dem wir von hinnen scheiden, wenn Gott der­

einst uns ruft: Vater, dein Wille geschehe!

Amen.

Die vierte Bitte. Matthäus 6, 11.

Unser täglich Brod gib uns heute.

3>ene gewaltige Rede, in welcher der Erlöser uns auch das

Vaterunser gelehrt, pflegen wir die Bergpredigt zu nennen.

Sie

führt diesen Namen, weil der Meister sie von der Höhe eines Berges an die Volksmassen gehalten.

Aber zugleich ist auch ihr

Inhalt ein solcher, wie er aus den Niederungen des Erdenlebens nicht kommt.

Die hohen Ziele und Ideale, die er dort uns vor

Augen stellt, stammen aus lichteren Höhen.

Doch, kaum hat der

Erlöser seine Bergpredigt vollendet, da heißt es bedeutungsvoll, „er stieg vom Berge herab und es folgte ihm viel Volks", da

heilt er dort unten im Thale ihre Kranken, die zu ihm kommen.

So

er

weiß

also

nicht nur

„vom Berge"

Worte

herab

zu

sprechen, sondern hat auch ein Auge für die Noth und die Leiden im

dunkeln Thal des Lebens.

schon

Aehnliches

Höhen sind

es,

zeigen zu

im

Und wie sollte sich denn nicht

Gebet

des

Herrn

selbst?

Lichte

denen er in den drei ersten Bitten empor­

steigt, lichte Höhen, bei denen es uns schwer wird, mit unsern

Gebeten

sofort dahin

ihm

zu folgen.

Aber

alsbald

zeigt er

uns auch, daß er der Erde Last kennen gelernt und mit, uns

empfunden, wenn er nun die vierte Bitte zum Himmel empor­ steigen läßt.

Nachdem er zuerst gesprochen: „dein Name werde

geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel,

also auch auf Erden", heißt es hier: uns heute."

„Unser täglich Brod gib

Diese Bitte läßt uns denken an wallende Saatfelder,

67 mähende Schnitter, beladene Erntewagen, gefüllte Scheuern und

endlich an den gedeckten Tisch,

an dem wir alltäglich mit den

Unsrigen unsere Speise zu uns nehmen.

Und wie kann der Ge­

danke an das Alles beim Erlöser uns wundern?

Hat er doch

eine so feine Beobachtungsgabe gezeigt für den Säemann,

der

da ausgeht und säet seinen Samen, für den guten Samen, der vom Unkraut überwuchert wird, für die Scheuern, in die man die

Garben sammelt, für den Jubel der Erntenden, für das Befriedi­

gende, das darin liegt, Vorräthe zu haben für viele Jahre. Hat er doch selbst Stunden gehabt, wo er Hunger und Durst empfand,

Stunden wo er am Brode und am Gewächs des Weinstockes sich freute und es unter dankbarem Aufblick gen Himmel den Seinen

reichte.

Aber, m. L., jedes menschliche Wort pflegt seine Bedeutung erst zu empfangen durch den Zusammenhang, in dem es gesprochen

wird und die Perle erst ihren Glanz zu entwickeln, je nachdem

die Einfassung ist, die man ihr giebt.

Tadeln wir darum schon

denjenigen, der unbekümmert um den Zusammenhang, in dem es steht, irgend ein Bibelwort aufgreift, um darauf ein menschliches

Gedankengebilde aufzubauen, wie viel mehr dann den Beter, der sich geneigt zeigt, nur an die vierte Bitte des Meisters sich zu

klammern und die voraufgehenden und nachfolgenden zu übersehen.

Es ist bedeutungsvoll, daß unsere Bitte eben da ihren Platz ge­

funden, wo sie steht. den göttlichen Namen, Willen,

erst

Erst derjenige, der vor Allem gebetet für für des Vaters Reich, für des Vaters

der wird in ächt christlicher Weise weiter beten:

Unser täglich Brod gib uns heute.

Wie ist die Bitte da von

vornherein frei von aller Leidenschaftlichkeit, mit der sie da so oft

gen Himmel dringt, wo sie das erste Wort ist, das der Mensch zu seinem Vater spricht, wie ist sie da geläutert, wie die heiße

Bitte des

Meisters in Gethsemane durch

den

Zusatz:

„Aber

nicht wie ich will, sondern wie du willst", wie sagt sich da der

Mensch von vornherein, daß höhere Güter vorhanden sind, als das Brod, das wir essen, daß es höhere Ziele giebt, als die,

welche die einzelne Seele verfolgt!

68 Nach diesen Bemerkungen laßt uns denn an unsere

Bitte

selbst

herantreten,

indem

wir

nunmehr

zwei

Fragen uns vorlegen: 1.

was

macht

der Mensch

hier

zum Gegenstände

seiner Bitte?

2.

warum macht der Mensch es grade zum Gegen­

stände seiner Bitte?

1.

Unser täglich Brod ist dasjenige, worum der Erlöser uns

hier bitten heißt. Bitte.

Zu

Also „Brod" bildet den Gegenstand

irdisch schien dies den Menschen.

seiner

Darum meinte

man, das Wort Brod müsse hier wohl bildlich zu verstehen sein, der Erlöser müsse wohl von geistigem Brode reden.

Sagt er

doch selbst einmal: „Ich bin das Brod des Lebens; wer zu mir

den wird nicht hungern und wer an mich glaubt, den

kommt,

wird nimmermehr bürsten1)."

Läßt er doch selbst dem Versucher

gegenüber das irdische Brod hinter die geistige Speise zurücktreten, wenn er spricht: „der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondem von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht2)".

Und wie ernst fordert er: „Sorget nicht für euer Leben, was ihr

essen und trinken werdet, auch nicht für euern Leib, was ihr an­ ziehen werdet.

Ist nicht das Leben mehr,

denn die Speise?

und der Leib mehr, denn die Kleidung? — darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: trinken?

Was

werden wir essen?

womit werden wir uns kleiden?

was werden wir

Nach solchem Allen

trachten die Heiden3)". 4 Ja, wie schön wäre es, wenn ein gewaltiger Hunger und Durst über uns käme; „nicht ein Hunger nach Brod

oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Worte des Herrn zu hören"1), wenn ein heiß Verlangen durch unsere Seele ginge nach

*) 2) 3) 4)

Johannes 6, 35. Matthäus 4, 4. Matthäus 6, 25, 31 u. 32. Amos 8, 11.

69 dem lebendigen Brode, das vom Himmel gekommen!

Wer von

diesem Brode essen wird, der wird leben in (Steigseit1), so wird

Wie würde solche Himmelskost im Stande

uns ja verheißen.

sein uns stark zu machen an dem inwendigen Menschen, so daß durch uns und an uns Gottes Wille geschehen könnte, wie die

doch, wer in des Erlösers Herz einen

dritte Bitte es erfleht!

Blick hineingethan, den kann die Bitte um das irdische Brod an dieser Stelle nicht befremden, und sagt selbst: Wer die Sorge

ums tägliche Brod verbietet, kann der das Beten um dasselbe

uns nicht empfehlen?

Ist nicht grade das Gebet das beste Mittel

die Sorge loszuwerden?

Werfen wir nicht grade im Gebet alle

unsere Sorgen auf den Herrn?2)

Wenn daheim die Noth dich

drückte und du nicht wußtest, woher du Brod nehmen solltest für

Weib und Kind, wenn ihr bleiches Gesicht, ihr flehender Blick dich zur Verzweiflung zu treiben drohte und das Auge ging himmel­

wärts und das Gebet klopfte an droben beim Vater, fühltest du dich dann nicht erleichtert?

Richtig hat darum schon unser Luther auf die Frage,

was

denn das tägliche Brod sei, die Antwort gegeben: Alles, was zur Leibes

Nahrung

und

Nothdurft

gehöret,

als

Essen, Trinken,

Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld,

Gut, fromm

Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und getreue

Oberherrn, gut Regiment, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.

Denn, so fügt der­

selbe Luther im großen Katechismus hinzu, wenn du täglich Brod nennest und bittest, so bittest du alles, was dazu gehöret, das täg­ liche Brod zu haben und zu genießen und dagegen auch wider

Alles, so dasselbe hindert.

Gewiß ist es also nichts Geringes,

was hier mit dem einfachen Wörtlein „Brod" erbeten wird, so

daß wir, trotzdem drei Bitten um himmlische Güter vorangehen, wahrlich nicht klagen können, daß das Irdische zu kurz gekommen sei.

Es weist uns der Ausdruck weit hinaus über jenen Bissen

9 Johannes 6, 51. 2) 1. Petrus 5, 7.

70 Brodes,

mit dem der Arme nothdürftig sein Leben

zu

fristen

Nicht ausgeschlossen ist da dasjenige, was zu behaglichem

sucht.

Lebensgenuß, zur Erholung und zum Vergnügen, zur Befriedigung

von Kunstsinn und Geselligkeitstrieb, zu einem angenehmen Heim, zur Unterhaltung von Schule und Kirche, zur Bildung und Er­

ziehung der Unsrigen gehört, was wir brauchen um unsern Ge­ wohnheiten nachzugehen, um dem zu genügen, was die gute Sitte,

der Anstand, die Kreise, in denen wir verkehren, von uns fordern. Denn der Erlöser war keiner jener Schwärmer, die int Hinblick auf jene bessere Welt, dieser irdischen Welt ihr Recht nicht wollen

widerfahren lassen,

die

das Genannte alles

darunt ohne Noth darauf verzichten.

geringschätzen und

Er wußte, wie auf dem

Irdischen das Höhere sich aufbaut; er erkannte den sittlichen Werth auch alles Angenehmen und Schönen und wußte es als eine Gabe des gütigen Vaters im Himmel hochzuhalten.

Aber merken wir uns wohl, vor das Wörtlein „Brod" hat

der Erlöser ein Eigenschaftswort gesetzt, welches Luther mit „täg­ lich" wiedergegeben hat.

Viel haben die Gelehrten gestritten, ob

dies Wörtlein auch „täglich" heiße, und dieser Streit war um so

eher möglich, weil dasselbe uns sonst aus der ganzen alten grie­

chischen Literatur nicht weiter bekannt ist.

Die Einen haben über­

setzen wollen: „das zum Unterhalt erforderliche Brod", die Andern: „das morgende Brod", noch Andere, und das scheint mir das Wahrscheinlichste: „das bis zum morgenden Tag nöthige Brod".

Was denn aber auch das Richtige sein mag, jedenfalls hat Luther

mit seiner Uebersetzung „täglich Brod" nichts gesagt, was der ur­ sprünglichen Bedeutung allzufern gelegen hätte.

der Begriff

des Brodes

Jedenfalls soll

durch das vorgesetzte Eigenschaftswort

auf ein geringes Maß beschränkt werden.

Denn der Mensch soll

nicht beten um alles mögliche Erdengut, was er nun einmal für wünschenswerth hält, was er bei Andern sieht und darum auch für sich haben möchte, nein, er soll beten um das, was wirklich

ihm zum Leben, zum Wohlergehen dient, was wirklich gut für ihn ist.

Was er täglich bedarf, was zu seinem Unterhalt erfor­

derlich ist, was er braucht noch bis an den morgenden Tag, das

71 mag Gegenstand seiner Bitte sein.

Ausgeschlossen bleibt dagegen

alles, was dem Luxus, der Schwelgerei, der Ueppigkeit, der Ver­ schwendung, der Hoffart, dem Hochmuth, der Prahlerei dienen

soll, ausgeschlossen auch das, was menschliche Kurzsichtigkeit für ein Heil hält, Gott aber nach seiner Vaterweisheit und Liebe

uns vorenthalten will.

So legt denn der Mensch mit dem Worte,

das Luther durch „täglich" übersetzt, es in des Ewigen Hände, das Maß dessen selbst zu bestimmen, was an Brod ihm werden

soll,

wohl wissend, daß er am Besten erkennt,

Heile dient.

was zu unserm

Er bittet um Nahrung und Kleidung, aber ob die­

selben reich und prächtig oder kärglich und einfach sein sollen, das

überläßt er Gott.

Er bittet um einen eignen häuslichen Heerd,

um irdischen Besitz, um Weib und Kind, aber will auch in De­

muth sich fassen, wenn das Leben sie ihm versagt oder der Tag

kommt, wo er weinend daran, als an vergangenes Glück, nur noch zurückdenken kann, wo Weib und Kind ihm aus den Armen

gerissen werden.

Er bittet um getreue Oberherrn und ein gut Re­

giment, aber er ist bereit auch den wunderlichen Herren zu ge­ horchen'), vertrauend darauf, daß es noch einen höheren Herrn giebt

im Himmel.

Er bittet um gut Wetter für seine Saaten, aber

will nicht murren, wenn heiße Sonnenstrahlen das aufkeimende

Grün versengen oder Regengüsse die aufgerichteten Garben hin­

wegschwemmen.

Er bittet um Friede und Gesundheit, aber will

auch Gottes Finger erkennen, wenn des Krieges wilde Horden

seine Aecker zerstampfen und Krankheit und Seuche das Vaterland und das eigene Haus heimsuchen.

Er bittet um Zucht und Ehre,

aber will auch nicht müde werden im Guten, wenn Zucht und

Ehre rings um ihn her schwinden, und Menschen überall seine Ehre ihm zu rauben suchen.

Er bittet um gute Freunde und

getreue Nachbarn, aber will auch dann seinem Gotte treu bleiben, wenn alle Freunde ihn verlassen und der Nachbar nicht mit ihm eintreten will für Wahrheit und Recht.

Hiemit hängt es zusammen, wenn der Erlöser uns aus-

') 1. Petrus 2, 18

72 drücklich lehrt, daS tägliche Brod nur für den heutigen Tag zu

erbitten.

Wie könnte es denn auch wohl dem Christen ziemen um

seiner Zukunft willen Gebete gen Himmel zu senden, wo er über­

haupt noch nicht weiß, ob er nach des Vaters Rath dann noch hienieden pilgert?

Und wozu denn auch bitten für morgen? Ist

da nicht der Zugang zum Himmel wieder offen so gut, wie heute? Oder ist's dir zuviel, alle Tage zu beten, so daß du lieber gleich für längere Zeit auf einmal betest?

Meinst du wohl gar, deine

künftigen Tage müßten ja rechtzeitig vorbereitet und dein Gott daher auch rechtzeitig an die nöthigen Schritte erinnert werden? Oder

kommt dir endlich auch der Gedanke, Gott könnte jenen launigen

Menschen gleich sein, besonders

gern

die ihre bestimmten Tage haben, wo sie

geben?

M. L.

das

„heute"

in unserer Bitte

sei ein Zeugniß der Demuth, die nie vergißt, daß unser Leben

nicht in unserer Macht steht, daß wir die Sonne am Morgen wohl aufgehen sehen, aber nicht wissen, ob wir bei ihrem Unter­

gang noch sind, ein Zeugniß des kindlichen Vertrauens, das sich

sagt, „der Zugang zum Vaterherzen unseres Gottes ist niemals

verschlossen; längst

stehen", ein das

wo immer sein Kind ruft, da hört er, und er hat

zuvorgesehen was uns gut ist, ehe wir betend vor ihm

uns

Zeugniß

schon

ausschauen

läßt,

des

rechten Sichwohlfühlens

von Neuem

wo

nach

dem

im

Gebet,

sehnsüchtig

Augenblick

die Hände wieder gefaltet werden dürfen

vor Gott.

Aber m. L., während so des Meisters Worte uns Hinweisen auf Demuth und Vertrauen, hat er doch zugleich einem Irrthum vorgebeugt, zu dem das religiöse Gemüth so leicht geneigt ist. Das denkt sogern an Vorgänge, wie jene in der Wüste, wo Israel

auf wunderbare Weise von Gott durch das Manna gespeist ward, an das Leben des Propheten Elias, den Gott in den Tagen der Theurung zu erhalten wußte, indem er Mehl und Oel nicht aus­

gehen

ließ,

an

die

wunderbare Speisung der

vier

Tausend, die der Erlöser in der Wüste vornahm.

oder fünf

Es sähe am

liebsten, wenn Gott auf sein Gebet sofort auch ähnliche Wunder thäte an ihm.

Und,

Seele,

gesteh es nur,

auch du hast bei

73 deinen Gebeten schon an Aehnliches gedacht.

Der einst den Gicht­

brüchigen gesund gemacht, sollte auch deine lahmen Glieder heilen

durch ein einfaches:

„Stehe auf und wandle."

Der einst vor

Nams Thoren einem Todten das Leben wieder gegeben,

sollte

auch deines Kindes Hand ergreifen und es lebend dir wieder in

die Arme geben.

Der einst jenen Propheten in seinem Himmels­

wagen hinaufgerückt, sollte auch zu dir seine Engel senden, um

schmerzlos die Seele hinaufzutragen ins Vaterhaus. — O gewiß ein thöricht Herz, das wider einen Gott sich sträubt, der Wunder

thut; als umgäben uns nicht Millionen Räthsel; als hätte das Menschenauge schon Alles durchforscht; als gäbe es keinen Zusam­

menhang zwischen der sittlichen und natürlichen Weltordnung und wäre nicht jene höher, denn diese; als wäre der Gott, zu dem

wir beten, nichts Anderes, als ein herzloses Geschick, das in den natürlichen Lauf der Dinge uns hineinstellt um durch denselben

uns zermalmen zu lassen und nicht der allgütige, allweise Vater,

der alles überschaut; als legte nicht menschliche Demuth uns von

selbst das Wort auf unsere Lippen: Gott thut große Dinge, die nicht zu forschen und Wunder, deren keine Zahl ist1)! 2

Aber ebenso

thöricht ist das Herz, das da meint, der Ewige hätte so mangel­

haft sein Weltregiment geordnet, daß er auf kurzsichtiger Menschen Bitte sofort dasselbe

ändern müßte.

Um unser täglich Brod

heißt der Meister uns bitten, d. h. um das Brod, das uns zu­

kömmt, das für uns bestimmt ist, das so an uns gelangt, wie es nach Gottes Rathschluß an uns gelangen soll, wie es geknüpft

ist an unsere Arbeit, wie es bedingt ist durch die Verhältnisse, in denen wir aufgewachsen sind und alltäglich leben.

Schweiße unsers Angesichts

unser Brod

zu

Denn, im

empfangen11),

mit

stillem Wesen arbeiten und das eigene Brod essen3), das ist die heilige Ordnung, die Gott uns auferlegt hat, und derselbe Erlöser,

der uns hier beten lehrt: Unser täglich Brod gib uns heute, hat

3) Hiob 9, 10. 2) 1. Moses 3, 19. 3) 2. Thessalonicher 3, 12.

74 es verschmäht, als etwas Widergöttliches, seine Kräfte anzuwenden,

um durch ein Wunder die Steine der Wüste sich in Brod zu

verwandeln.

Nahrung und Kleidung dürfen wir erbitten, aber

durch unsere Arbeit verdiente, oder durch der Menschen Liebe ge­ schenkte.

Fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde dürfen

wir uns wünschen, aber dabei nicht vergessen, daß die Frömmig­

keit hier mit bedingt ist durch unsere Erziehung, unsere Einwir­ kung, unser Vorbild.

Nach Frieden dürfen wir uns sehnen, aber

nach einem Frieden, der die Folge eines ehrlichen und wackern

Kampfes ist.

Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn mögen wir

uns wünschen, aber dabei stets bedenken, daß die Art des per­

sönlichen Wandels sie uns erst erwirbt.

2. Willst du auf das alles antworten, mein Christ: „Ja das eben ist es, was ich immer wieder erfahre, das tägliche Brod kommt an mich durch meine Arbeit, durch meine Stellung im Leben, durch

die Art, wie Menschen mir entgegentreten, aber eben deshalb ist auch alles Gebet an Gott überflüssig, brauche ich nicht erst zu ihm

zu sagen: Unser täglich Brod gib uns heute?" Du kannst darauf

Hinweisen, wie menschliche Vorkehrungen und Einrichtungen immer

mehr die Elemente bezwingen, so daß sie ihre Gefahr bringende Gewalt nicht mehr entfesseln können, wie sie den Erdboden immer

ergiebiger machen, so daß sich die Erträge des Ackers

mehren,

wie sie so manchen Stoff zu Seuchen und Krankheiten vernichten,

so daß diese nicht mehr verheerend sich ausbreiten können.

Du

kannst darauf Hinweisen, wie Gott seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten und regnen läßt über Ge­

rechte und

Ungerechte').

Du kannst dich darauf berufen,

wie

selbst unser Luther sagt: Gott giebt das tägliche Brod auch wohl ohne unsere Bitte allen bösen Menschen. durch denselben Luther auch weiter führen.

') Matthäus 5, 45.

Aber dann laß dich Er

fährt nämlich

75 fort:

Aber wir Bitten in diesem Gebete, daß er's uns wolle er­

kennen lassen und wir mit Danksagung empfahen unser täglich Pflegen wir ja doch auch ein Kind schon frühe dazu an­

Brod.

zuhalten, daß es nach empfangener Gabe seinen Dank uns sage. Wir gehen dabei von der Ueberzeugung aus, daß es erst so lerne,

die empfangene Gabe zu würdigen, erst so lerne, daß es an die­ selbe keinen Anspruch habe, erst so lerne, daß die Gabe ein Aus­

fluß

sei

jener

die für das Kind sorgt vom

elterlichen Liebe,

Morgen bis zum Abend.

Ein Kind, das nie danken gelernt, dem

alle Gaben ohne Weiteres zufallen, nach denen es begehrt, wie oft wird es gleichgültig und trotzig, wie wenig Verständniß hat

es für das, was Vater und Mutter an ihm thun, wie oft entpreßt es in spätern Jahren den Eltern die bittere Klage: „Ach,

wir haben für unser Kind

uns

aufgeopfert wie wohl selten

Jemand, aber der Dank? — er ist uns versagt, die Gegenliebe? — wir haben sie nie erfahren.

die Welt und

Unser Kind ist hinausgezogen in

hat uns vergessen"!

Möchtest du einem solchen

Kinde gleichen deinem himmlischen Vater gegenüber, mein Christ? Millionen unter uns gleichen ihm, und warum?

Weil sie nicht

gelernt haben, mit Danksagung zu empfahen ihr täglich Brod.

Erst dies fördert in uns das Bewußtsein unserer Endlichkeit und Nichtigkeit, erst dies bewahrt uns vor jenem Dünkel und Hoch­

muth, in dem wir meinen, mit unserer menschlichen Macht, unserm

menschlichen Verstände sei alles zu erreichen und

zu erforschen,

als würde nicht in tausend Fällen noch durch der Elemente Macht

zerstört, was des Menschen Hand geschaffen, als bräche nicht in

tausend Fällen, trotz aller menschlichen Vorsichtsmaßregeln,

die

Seuche herein über Vaterland und Volk, als müßte nicht, trotz aller Ergiebigkeit des Bodens, der Acker oftmals unsere Hoffnungen

täuschen, weil plötzlicher Hagelschlag uns alles vernichtet. Erst das Empfahen mit Danksagung erfüllt uns vor den Gaben unseres

Gottes mit dem Bewußtsein empfangener göttlicher Liebe und wer unter uns wüßte nicht, von welcher Bedeutung es für den

inwendigen

daß

grade dies Bewußtsein immer

gekräftigt werde,

wie dadurch grade der Glaube

Menschen ist,

mehr in uns

76 gestärkt wird an den Gott, der nur unser Bestes will? Erst das

Empfahen mit Danksagung läßt uns es immer tiefer uns einprägen, wie unwerth wir doch eigentlich aller göttlichen Gaben sind, wie

sie uns

gereicht werden nur

aus

Gnade

und

Barmherzigkeit,

drängt uns dazu, die Gaben nun auch nicht unausgenutzt aus den

Händen zu geben, sondern sie so anzuwenden, wie Gott es will; wer weiß denn,

wie bald sie uns wieder geboten werden? —

So sehen wir auch den Erlöser selbst nie das Brod und

austheilen

an

die

Seinen,

ohne

daß

er zuvor

nehmen erst gen

Himmel geblickt und Dank gesagt hat. — Und soll der Dank ein recht inniger werden, dann muß die Bitte vorangegangen

sein.

Oder meinst du nicht, der werde den heißesten Dank gen

Himmel senden zu seinem Vater, der vorher aus tiefer Noth zu ihm gerufen, weil seine eigene Kraft und Weisheit zu Ende ge­ wesen, und Menschenhülfe ihm nicht geworden? Seele, wenn du nicht bitten magst um das tägliche Brod,

dann entziehst du dir eins der wirksamsten Mittel an dir selbst

zu arbeiten, immer mehr ein Kind deines Vaters im Himmel zu werden.

Unser täglich Brod gib uns heute,

so heißt uns

der Erlöser beten, aber kannst du mit dieser Bitte vor den Hei­ ligen hintreten, ohne daß jedes einzelne Wort zu einer ernsten Ge­

wissensfrage wird?

begehrt?

Hast du stets nur das uns zukommende Brod

Mag sein,

daß nie gestohlenes,

geraubtes,

erpreßtes,

Brod in deinen Händen gewesen, aber auch kein erwuchertes, kein

erschlichenes, kein durch Heuchelschein und Sündendienst erworbenes,

keins,

an dem die Seufzer derer hafteten,

an denen du lieblos

dein starres Recht geltend gemacht, keins, das dir nur geworden,

weil dein kluges Auge auf die Unerfahrenheit von Wittwen und Waisen speculirte?

Vergiß nicht, du stehst vor dem Gott, von

dem es heißt: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der

bleibet in Gott und Gott in ihm').

Hast du gern und willig dich

dem gefügt, daß dein Brod eben erarbeitetes sein soll?

Hast du

in des Lebens Mühen und Arbeit eben das Köstliche desselben ver-

') 1. Johannes 4, 16.

77 spürt? oder hast du träge die Hände in den Schooß gelegt und

wenn die

Scheuern

voll waren,

des

Lebens

Glück

dir reiche

Schätze zugeführt hatte, in der Stille gesprochen: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrath auf viele Jahre; habe nun Ruhe,

iß, trink und habe guten Muth"4)?

brauche ich was

nicht mehr;

ich bedarf."

Als

Hast du gedacht „arbeiten

möge Anderer Schweiß mir zuführen,

hieße

es

nicht ausdrücklich:

Ich muß

wirken so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da Niemand wirken tarnt1 2); 3 als hieße es nicht von den Vollendeten: Selig sind

die Todten, die in dem Herrn sterben von nun an; ja der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach2); als hieße es nicht: Wem viel gegeben, von dem

wird auch viel gefordert.

Hast du auch im alltäglichen

Leben

dich so innig mit den übrigen Erdenkindern zusammengeschlossen,

wie du es in deiner Bitte vor Gott thust mit deinem „unser" und „uns"?

Ist wirklich ihre Sorge auch deine Sorge gewesen,

oder ist es eine große Lüge, die du mit dem „unser" und „uns" über deine Lippen bringst, bei der du doch schließlich an nichts anderes denkst, als

an dein eignes Brod.

Der Apostel prägt

uns in seinem Briefe an die Philipper so nachdrücklich ein: Und ein Jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auf das, das des Andern ist4).

Hast du stets danach gehandelt? Deine Bitte, wie

klingt sie so weitherzig, als wolltest du eignes Brod gar nicht

haben.

Aber drängt sich da dir nicht die Schamröthe in

die

Wangen bei dem Gedanken, wie du bisher so viel für dich be­ halten und so Manchen von dir zurückgestoßen hast, der auf dich

angewiesen war, wie du es dir nicht hast angelegen sein lassen, dem Nächsten sein Gut und Nahrung

Helsen?

bestem

und behüten zu

Bei der vierten Bitte siehst du im Geiste dich in Mitten

der Menschheit auf den Knien vor deinem Gott, siehst wie Aller

1) 2) 3) *)

Lucas 12, 19. Johannes 9, 4. Offenbarung Johannes 14, 13. Philipper 2, 4.

78 Augen warten auf Ihn,

daß er ihnen Speise gebe zu seiner

Zeit" *); hast du dir diesen gütigen Gott auch immer zum Vor­

bilde genommen?

Hast du dir immer vorgehalten,

daß Güte

dasjenige ist, worauf du hoffst, um selbst dann auch deinerseits

Güte walten zu lassen? — Hast du wirklich stets das Vertrauen gehabt, welches unsere Bitte voraussetzt, hast du es wirklich stets

Gott anheimgegeben, zu bestimmen,

dir gut sei,

was

hast du

wirklich nie etwas von deinem Gott begehrt, was schließlich nur deiner Sünde dienen sollte?

M. L., das alles sind Gewissens­

fragen, wie die vierte Bitte sie uns von selbst aufdrängt, weil

wir ja vor dem Heiligen stehen, dessen Auge zu ernster Selbst­

prüfung uns Selbstprüfung

treiben

Und

muß.

zur Buße

wenn wir denn

getrieben würden, und

durch diese

durch Gottes

Gnade neue Menschen aus uns würden, hätte dann unsere Bitte

nicht für uns

einen

unermeßlichen Werth

gehabt? wäre dann

nicht auf unsere Bitte „ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maß uns in den Schooß gegeben?"

Und

nun, du Gegner des Gebets um das tägliche Brod,

willst du sagen, ein Gebet, das so uns innerlich fördere, sei ohne Einfluß auf unsern äußern Lebensgang?

die

Leiden dieser Erde und

meine, du sprichst:

Wozu, sagst du, müssen

die Entbehrungen

kommen?

Mit ihnen züchtigt uns unser Gott.

Ich

Aber

wird ein rechter Erzieher auch züchtigen, wo er das Kind schon

selbst mit seinen Fehlern ringen, sie ablegen sieht?

Seele, wer

will das Geheimniß ergründen, das menschliche Bitte und göttliche Erhörung an einander kettet?

Vergiß nicht,

du gehörst einem

großen Ganzen an, dem völlig zu dienen deine Hauptaufgabe ist.

Vergiß nicht, du hast einen Vater im Himmel, der auch

über dem Kleinsten wacht.

Jenes heißt dich in Demuth verzichten,

wenn Gott deine irdischen Wünsche nicht erfüllt.

Dieses heißt

dich, freudig hoffen, daß du im Himmel nicht nur gehört, sondern auch erhört wirst.

Amen.

1) Psalm 145, 15. 2) Lucas 6, 38.

Matthäus 6, IS. Und vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigem vergeben.

M,

der vierten Bitte ist das Gebet des Herrn herab­

gestiegen in das dunkle Thal des Erdenleids, um von da ab nun all jener Seufzer zu gedenken, welche aus der Brust des Staub-

gebornen gen Himmel steigen.

Zunächst hat es das Verlangen

berücksichtigt nach dem, was zu des Leibes Nahrung und Noth­

durst gehört.

Aber, was hülse es dem Menschen, wenn er nach

dieser Richtung

selbst im Ueberfluß

schwelgte,

und

doch

jene

Stimme nicht zum Schweigen bringen könnte, die auch den Blick aufs höchste Familienglück, auf die reichsten Erdenschätze, auf die

ausgelassensten Freuden ihm verleiden müßte, jene Stimme, welche

ihn erinnert an den Schaden seiner Seele, an die eigene Schuld?

Wird sie ja doch verglichen mit dem Wurm, der nicht stirbt und dem Feuer,

das

nicht verlischt^).

Pflegten ja

doch

schon die

Alten das Bewußtsein der Schuld zurückzuführen auf die Ein­ wirkungen der Furien, d. h. jener Plagegeister, die mit Schlangen

in den Händen und den Haaren, den Uebelthäter verfolgen auf

Schritt und Tritt.

Wiederum, sagt unser Luther:

Wo Ver­

gebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit. Das Bewußt­ sein, Vergebung erlangt zu haben, erhöht uns alle Freuden, er­

leichtert uns alle Leiden.

Darum schließt unsere fünfte Bitte durch

ein einfaches, zwischengesetztes „Und" sich eng an die vierte Bitte J) Jesaias 66, 24.

80 an.

Vom Getümmel des öffentlichen Lebens, wo die Menschen

ringen und jagen nach der Erde Gut, wendet sich sofort unser Blick in die Stille des Kämmerleins, wo die einsame Seele seufzt

nach der Gnade ihres Gottes.

Von der reichen Fülle, die der

Allgütige uns in unsere Scheuern gegeben, schauen wir hin auf den Mangel, auf die Leere in der eignen Brust.

Nach der Liebe,

die der Allmächtige uns erwiesen, gedenken wir dessen, wie liebe­

leer wir allezeit gewesen.

Aber gleichzeitig taucht auch die Hoff­

nung auf, daß derselbe Gott, Der künstlich und fein uns bereitet, Der uns Gesundheit verliehen, uns freundlich geleitet — Der unsern Stand sichtbar gesegnet,

Der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet,

daß der auch unserer Schuld gegenüber die Liebe bleibe, daß der­

selbe Gott, der Aecker und Berge von Segen triefen läßt, auch von Golgathas Höhe Ströme seiner Gnade ausgehen lassen wolle zur Vergebung unserer

Sünde,

zu

einer Erlösung

für Viele.

Aber, m. L., wie leicht wird diese Bitte des Menschen der des wimmernden Kindes

ähnlich,

das nur deshalb um Verzeihung

bittet, weil es der Eltem Strafe fürchtet, aber im nächsten Augen­ blick, wo es sich unbeachtet vom Elternauge wähnt, von Neuem in den alten Fehler verfällt.

Möge bei dieser Bitte uns nie das

Bewußtsein schwinden, daß sie hinaufsteigt zu dem Heiligen, vor dem alle Sünde des Menschen ein Gräuel ist,

dem von

aller

menschlichen Sünde nichts verborgen bleiben kann, der in seiner Liebe wohl vergibt, aber nur, wo das Herz so ist, wie er es

dazu verlangt.

Darum legen wir in die Worte unserer Bitte

dies hinein: Gib mir ein Herz, o Vater, wie's deiner Vergebung

gewiß sein kann, und demgemäß laute denn unser Thema: Was ist das für ein Herz, Bitte handelt:

worum es sich bei der

Vergib uns unsere Schuld?

wort lautet: 1. ein reuiges Herz, 2. ein gläubiges Herz,

3. ein versöhnliches Herz.

Die Ant­

81 1. Vergib

uns

unsere Schulden,

wie

wir vergeben unsern

Schuldigem! so fleht hier das hohepriesterliche Herz unseres Er­

lösers

für die

Menschheit.

schließt er mit uns,

Er,

Ganz

wie bei

der

vierten Bitte,

den übrigen Erdenkindern, sich zusammen.

der da hätte die Steine der Wüste in Brod verwandeln

können, er erbittet sich sein Brod vom Himmel, weil es so die gottgewollte Ordnung der Welt fordert.

Er, der Reine, der von

sich rühmen konnte: „Welcher unter euch kann mich einer Sünde

zeihen"'), sendet die Bitte zum Vater hinaus: Vergib uns unsere Denn wir haben in ihm „nicht einen Hohenpriester,

Schuld.

der nicht könnte Mitleiden haben mit unserer Schwachheit, sondern der versucht ist allenthalben, gleich wie wir, doch ohne Sünde" 2). Tief empfindet er ja mit uns die Macht der Versuchung, die Last

der Sünde,

schwer trägt er mit uns und für uns alle unsere

Schuld; für die Reichsgenosfen, für die ganze Menschheit streckt er seine Hände nach dem Himmel aus.

lag damals die Schuld auf den Herzen!

Und wie centnerschwer Wenn er auf jener

Höhe des Berges, wo er uns beten gelehrt, die Volksschaaren zu

seinen Füßen musterte, wenn das Auge in weite Ferne schaute,

dann sah

er Millionen

unter dieser Last gebeugt.

Auf dem

Throne der römischen Kaiser, bei deren Wink der Erdkreis er­

bebte,

saß damals schon das offne Verbrechen,

wenige Jahre,

dann

sollte

und nur noch

es in den Gräueln Kaiser Neros

seinen Höhepunkt erreichen; auf Palästina lastete schon seit Jahren

die

Hand

des

römischen

Landpflegers

Pontius

Pilatus;

in

Griechenland, dessen Söhne einst heldenmüthig für ihre Freiheit

gekämpft, dessen Kunst und Wissenschaft einst geblüht, herrschten

damals die entsetzlichsten Laster; in Rom, wo Mannestugend und Recht einst ihre Blütezeit gehabt, war man in Genußsucht ver­

sunken,

so daß Tausende im Ekel am Erdenleben endeten; in

*) Johannes 8, 46. a) Hebräer 4, 15.

82 Israel waren Aller Herzen erfüllt von blindem Haß gegen die herrschenden Römer. Die heidnischen Religionen waren untergraben, so daß ihre eignen Priester nur lächelnd über ihr Treiben an

Heuchelschein sollte im niedern

einander vorüberziehen konnten. Volk noch

Glauben

den

an

dieselben

Und Israels

erhalten.

Gottesdienst? ach, der war erstarrt in todtem Buchstabendienst;

heuchlerische und selbstsüchtige Pharisäer- und Priesterseelen konnten

ruhig zuschauen, wie die Masse des Volkes der Heerde glich, die keinen Hirten hat; am Horizont zogen bereits die Wolken herauf,

die die schwärzeste That der Menschheit ankündeten, die da sagten, daß die Welt sich rüste ihr Heil, den eingeborenen Gottessohn ans Kreuz zu schlagen.

dich im Geist

Versetz'

hinein in die

einzelnen Häuser, mal dir es aus, wie es in den einzelnen Herzen

aussah, und du wirst es verstehen, wenn der Erlöser betend sich Vergib uns

gen Himmel wendet und spricht: die friedlichen

Auch großen

Thäler

Weltgetümmel,

fern

unsere Schuld!

Höhen Galiläas,

und

den

von

Einflüssen

fern

vom

Jerusalems,

konnten von den allgemeinen Zuständen nicht verschont bleiben; auch über ihnen sah er von ferne schon das Strafgericht seines

Gottes heraufsteigen. Gibt unsere Zeit denn nun aber nicht zu ähnlichem Gebete

Anlaß?

Wer

fühlte nicht die Last,

die auch uns niederdrückt?

Wen bangte nicht, wenn er seinen Blick umherschweifen läßt über

unsere gesellschaftlichen Zustände,

über

den Haß politischer und

kirchlicher Parteien, über die Gleichgültigkeit gegen religiöse und sittliche Fragen in allen Klassen unseres Volks, über das wachsende Verbrechen, dessen Raffinement immer höher steigt, über die all­

jährlich sich mehrenden Selbstmorde, über die Unsittlichkeit, die

Tausende von Ehen vergiftet, die in den Reihen der Jünglinge und Jungfrauen

dadurch

um so

alljährlich Tausende von Opfern fordert, die

gefährlicher ist,

als dieselbe vielfach gar nicht

mehr für etwas Schlechtes gilt, als es ganze Klassen der Gesell­

schaft gibt, in denen man mit lächelnder Miene sie gut heißt. M. L., der ernste, denkende Mensch begnügt sich hier nicht damit, sich zu sagen:

„Was wir vor uns haben, ist eine Thatsache, an

83 der sich nichts ändern läßt", nein, er geht ihren letzten Entstehungs­ gründen nach; er sieht sich schließlich vor die Thatsache gestellt, daß hier nichts anderes verborgen liege, als eine unendliche Kette

Die persönlichen Leidenschaften, eine maß­

menschlicher Schuld.

lose Genußsucht, hochmüthiges, oberflächliches Aburtheilen über die schwierigsten Fragen, rasches, unüberlegtes Handeln, Schamlosigkeit, die sich ungestört breit machen konnte in Worten und Werken,

Unterdrückung der Wahrheit,

Begünstigung der Kriecherei

und

das alles und dergleichen mehr waren die

der Charakterlosigkeit,

schmutzigen Quellen, aus denen der große Strom seine Nahrung zog, aus denen die Dünste aufstiegen, um zu schweren Gewitter­

wolken sich zusammenzuballen.

Wo darum im Geist der Erlöser

in unsere Mitte tritt, da ist es immer wieder dies, was er uns als Gebet auf die Lippen legt: Vergib uns unsere Schuld! Aber m. L.,

Jesus

sprach

einst

diese Worte,

als

unser

gnädiger

Hoherpriester, der selbst sündlos war, wir sprechen sie, weil die Sünde

mit

durchdringt. wo wir

tausend

Fasern unser

eigenes

Herz

ergreift

und

Bittere Thränen der Reue sollten wir darum weinen,

das „Vergib uns unsere Schuld" aussprechen.

Nur

ein pharisäisch gesinntes Herz wirft sich zum Richter seiner Zeit auf, ohne sich selbst zu richten.

Du verurtheilst den Dieb, der dem Nächsten sein Eigenthum

nahm, den Mörder, dem des Mitmenschen Leben nicht heilig war,

aber verbreitetest du vielleicht verderbliche Anschauungen über die Bedeutung des Eigenthums, trügest du vielleicht dazu bei, die Achtung vor dem Staat, seiner Obrigkeit, Gesetzen

zu

untergraben?

Du

verurtheilst

und

den

seinen heiligen

Selbstmörder,

der, verzweifelnd an der eignen Existenz, seine Hand an sich selbst

legte, aber hast du vielleicht dazu beigetragen, ihm alles Vertrauen auf die Vaterhand im Himmel zu rauben, hast du vielleicht ihn in der Kindheit gelehrt, nur nach Erdengut, nach Ehre und An­

sehen bei den Menschen zu trachten, aber nicht Gott und den Erlöser zu suchen, in der Religion sich einen Halt zu bewahren für Leben und Sterben?

losigkeit,

aber hast

Du klagst über die gewaltige Sitten­

du nie über die ernstesten Dinge gewitzelt, 6*

84 war in deiner Gegenwart unsittliche Rede nie möglich, ohne deinen Widerspruch und deine Entrüstung wachzurufen?

Du klagst über

die weit verbreitete Religionslosigkeit, aber hast du nie die Reli­ gion, und besonders das Christenthum dadurch den Menschen ver­

leidet, daß du es nur im Munde führtest, aber nicht in der That oder im Leben bewiesest, daß du es zum Deckmantel politischer Parteibestrebungen machtest, daß du es in Formen kleidetest, gegen

die grade die Besten unter uns sich sträubten?

Ach, der Unter«

lassungs- und Begehungssünden sind so viele, und die Fäden der­

selben gehen so weit zurück, sind so eng in einander verschlungen,

daß wir ihren letzten Ursprung nicht mehr zu verfolgen vermögen!

Bei manchem Fluß der Erde bleibt es dem Menschenauge verborgen, wo er entspringt.

Oft mag wohl der Fuß schon dahingegangen

sein über die Stätte, wo in der Tiefe die Quelle verborgen lag;

der Sandboden der Oberfläche ließ sie dort nicht vermuthen. So ruhen auch die letzten Quellen des großen Stromes der Sünde,

der reißend alles mit sich zieht, nicht selten in der Tiefe einer

Menschenbrust, wo das äußere Auftreten, die allgemein genossene

Achtung, der an den Tag gelegte fromme Eifer sie nicht vermuthen lassen.

Gewiß Grund

genug für einen Jeden unter uns,

die

Frage an sich zu richen: Wie steht es um deine eigne Sünde? Aber hier zeigt sich alsbald das hochmüthige Menschenherz.

Es will von eigner Sünde nichts wissen, eine Erscheinung, die

übrigens eben so sehr, wie bei den oberflächlichen Weltkindern, auch bei denen sich findet, die sich ihrer Frömmigkeit und Sittlichkeit

rühmen.

Allenfalls giebt man zu, daß man Sünder sei; Sünder

seien wir ja eben allzumal und alle mangeln wir ja des Ruhmes, den wir an Gott haben sollten*).

Aber man tröstet sich damit,

daß man ja nicht in die Reihe der großen Verbrecher gehöre, überhaupt mit seiner Sündhaftigkeit das gewöhnliche Maß der

Durchschnittsmenschen nicht überschreite.

Man rechnet gern her,

wodurch „man mehr gethan und geleistet in sittlicher Beziehung als Andere; man meint, das also Geleistete sei wohl im Stande *) Römer 3, 23.

85 wiederum auch manche Mängel aufzuwiegen, die sich hier oder Man sucht das Geschehene zu beschönigen,

da etwa gezeigt hätten.

aus den Verhältnissen zu erklären, in denen man sich befunden

habe, sich damit zu entschuldigen, daß man mißverstanden sei und Andere mißverstanden habe, daß die gesprochenen Worte nicht so

bös gemeint gewesen und man nicht habe kränken wollen.

Oder

man schreitet auch wohl dazu fort, das Geschehene aus

einem

Mangel unserer menschlichen Naturanlage zu erklären, als wäre

nicht alle unsere Sünde Uebertretung göttlicher Gebote, die nicht hätte sein sollen und bei der unser Gewissen Niemandem anders

Schuld giebt, als lediglich uns selbst.

Daß wir lieber, jenem

Zöllner gleich, an unsere Brust schlügen und sprächen: „Gott, sei

mir

Sünder gnädig"')

oder

mit dem

verlornen

Sohne ans

Vaterherz Gottes eilten und ihm bekennen wollten: „Vater ich habe gesündigt in den Himmel und vor dir!'") Nicht als ob es dabei etwa auf die Worte, auf die äußere Miene ankäme.

Gibt

es ja doch auch solche Menschen, die gewissermaßen darin schwelgen

von ihren Sünden zu reden, die mehr oder minder von dem Ge­

danken beherrscht werden, daß es ein vor Gott löblich Werk sei, den Schmutz des eigenen Herzens vor Aller Ohren auszukramen,

die durch äußere Gebehrde der Menschen Gerede darüber zu er­ zeugen suchen, wie schwer sie unter ihrer Sünde leiden.

darauf kommt es an,

Nein,

daß wir wirklich unsere Sünde erkennen,

wirklich einen tiefen Schmerz über dieselbe empfinden und endlich

den ernsten Vorsatz fassen, mit ihr zu brechen. hat eine Verheißung,

Erst solcher Sinn

wie es denn ausdrücklich heißt:

liche Traurigkeit wirket zur Seligkeit eine Reue,

„die gött­

die Niemand

gereuet, die Traurigkeit aber der Welt wirket den Tod'") oder:

„Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden'").

') 2) 3) 4)

Lucas 18, 13. Lucas 15, 21. 2. Corinther 7, 10. Matthäus 5, 4.

86 2. Aber, m. 8., wie geht's nun von der Traurigkeit zur Freude,

vom Leidtragen zum Getröstetwerden?

Heiden suchten sich ihren

Weg durch das Blut ihrer Opferthiere, Israel nicht minder. Doch, wer wäre unter uns, der sich davon noch etwas verspräche, nach­

dem schon ein Jesaias gesagt:

spricht der

Opfer?

Herr.

„Was soll mir die Menge eurer

Ich

bin satt

der

Brandopfer von

Widdern und des Fetten von den Gemästeten und habe keine Lust zum Blute der Farren, der Lämmer und der Böcke. — Bringet

nicht mehr Speisopfer so vergeblich; das Rauchwerk ist mir ein Gräuel" *) und der Psalmist schon gesungen: „du hast nicht Lust

zum Opfer, ich wollte es dir sonst wohl geben, und Brandopfer

gefallen dir nicht.

Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein ge­

ängsteter Geist; ein geängstet und zerschlagen Herz wirst du, Gott, nicht verachten"). gehen.

Unter uns rathen Tausende, andere Wege zu

Man will die Stimme der Schuld ertödten.

Der Grund­

satz lautet: Stürz dich hinein ins Leben mit seinen Freuden und

Genüssen, mit seinen Aufgaben und Pflichten;

die werden dich

ganz in Anspruch nehmen, dich vom Schmerz in deinem Innern

ablenken.

Aber wer hätte nie erfahren,

wie fortgesetzte Arbeit

uns immer mehr an unser Unvermögen, unsere Schwachheit er­

innert, wie grade die Arbeit nicht vorwärts geht, weil das Be­ wußtsein ungesühnter Schuld Hand und Fuß uns lähmen, wem wäre nicht, wenn im Herzen die Schuld sich regte, grade die welt­

liche Lust ein Ekel gewesen? die Werke der Kunst.

Anderswo weist man uns hin auf

Wir sehen vor uns die Gebilde, welche

des Meisters Meißel oder Pinsel geschaffen, wir malen die Bilder

uns aus, die der Dichter uns vor Augen zu stellen bemüht ist, wir lauschen auf die Töne der Musik und des Gesanges. Es ist

wahr, was wir hier vor uns haben, erhebt unser Herz, was wir

i) Jesaias 1, 11 u. 13. s) Psalm 51, 18 u. 19.

87 sehen, ist Glück und Frieden, Frohsinn und Unschuld, was wir

Aber

hören, ist lauter Harmonie.

von dem, was wir gesehen

und gehört, wenden wir wieder der Wirklichkeit des Lebens uns

zu; das geschaute Bild entschwindet unsern Augen, die gehörten Klänge verhallen und der alte Schmerz erfaßt uns von Neuem. Es

gibt ferner Menschen, die meinen, durch ein nachfolgendes

Leben nach

Gottes Geboten

vergangene Stunden wieder

gut­

machen zu können; als könnte der Mensch je mehr thun, als seine

Pflicht, als hätte er durch das makelloseste, pflichttreueste Leben auch nur das Geringste mehr geleistet, als was sein Gott ihm ge­

boten.

Man

greift endlich zu sogenannten guten Werken,

zu

Bußübungen und Almosen, zu Wallfahrten und Fasten, zu selbst­

erwählten Dualen, oder — wie's in den Tagen Luthers geschah — zum Ablaßhandel, in dem der Mensch meint, um Geldeswerth sich die Vergebung seiner Sünde erkaufen zu können.

Und wem

träte nicht aus der großen Zahl frommer Büßer, von denen die Geschichte uns meldet, der Eine oder der Andere vor die Seele, wie er unter diesen Dingen sich abmüht?

Wer dächte nicht z. B.

an unfern Luther, wie er in einsamer Klosterzelle ringt.

Aber

leuchtet Freude aus dem Angesicht dieser Büßer, gelangen sie zum Frieden?

Ach, ihr finsteres Angesicht redet vielmehr davon, daß

sie täglich noch neue Qualen sich suchen. Der rechte Weg, m. L., geht über Bethlehem und Golgatha.

Es heißt: Gedenke dessen, der dort in der Krippe geboren, hier am Kreuze gestorben, gedenke des Werkes der Erlösung, das durch

ihn vollbracht worden ist.

Jesus Christus!

zu dem wir unsere Zuflucht nehmen.

das ist der Name,

Denn von ihm verkündet

schon der Engelmund: Er wird sein Volk selig machen von seinen Sünden.

Und was fordert er von dem bußfertigen Sünder, von

dem mühseligen und

beladenen

Herzen?

Nur das Eine:

den

Glauben an die in ihm dem Sünder angebotene Gnade Gottes,

den Glauben an das Göttliche seines Berufes, den Glauben, daß Gott in ihm ist.

So

fragte der Kerkermeister von Philippi:

„Was soll ich thun, daß ich selig werde"? und die Antwort des Apostels Jesu Christi lautete:

„Glaube an den Herrn Jesum

88 Christum, so wirst du und dein Haus selig"').

So stellten auch

die Reformatoren, im Gegensatz zur Werkgerechtigkeit der römischen

Kirche, den Grundsatz auf, daß der Mensch nicht gerecht werde durch

des

Gesetzes

allein

sondern

Werk,

durch

den Glauben.

Dieser Glaube ist allerdings kein bloßes Fürwahrhalten, keine bloß verstandesmäßige Zustimmung zu dem, was die Kirche seit Alters über Werk und Person des Erlösers sagt; von solchem Glauben

heißt es ausdrücklich im Briefe des Jakobus, auch die Teufel haben ihn und doch auf

persönlicher,

zittern

innerer

dem Sünder aufleuchtet,

sie*2).3

Nein,

Erfahrung

der

dieser Glaube ruht

Gnade

Gottes,

wenn er in heißem Gebet vor

himmlischen Vater um Vergebung fleht.

die

seinem

Der Zöllner im Gleichniß

sendet seinen Seufzer gen Himmel, und darauf hin sagt der Er­

löser von ihm: er ging hinab gerechtfertigt in sein Haus2). Jener Knecht, der seinem Herren und König 10,000 Pfund schuldet, tritt reuevoll vor diesen hin, fällt vor ihm nieder, bittet um Ver­

gebung, und darauf hin heißt es von dem Könige: „Es jammerte den Herrn des selbigen Knechtes und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch"4).

Der verlorne Sohn im Gleichniß schlägt

in sich, will sich aufmachen und zu seinem Vater gehen und zu ihm sagen: „Vater, ich habe gesündigt in den Himmel und vor

dir, ich bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Sohn heiße,

mache mich als einen deiner Tagelöhner," und sofort heißt es von dem Vater: „Es jammerte ihn des Sohnes und lief und

ihm um den Hals und küßte ihn".

fiel

Was besagt das alles anders,

als dies, daß für den reuevollen Sünder der Augenblick kommt, wo er in seiner Seele der Vergebung seines himmlischen Vaters

gewiß wird.

Er weiß dann, es war der Geist aus der Höhe,

der diese Gewißheit ihm gab, derselbe heilige Geist, der schon in Jesu und durch ihn wirkte, er weiß, diese Vergebung war nur

möglich durch ein Opfer der Liebe Gottes, die ihn auf des Sünders

0 2) 3) 4)

Apostelgeschichte 16, 30 u. 31. Jacobus 2, 19. Lucas 18, 14. Matthäus 18, 23 ff.

89

Bestrafung verzichten ließ, er weiß, er wäre zu dieser Gewißheit nicht gekommen ohne Jesus, ohne das Opfer seines Todes, das

auf Golgatha gebracht worden.

Und so muß denn dies alles den

Inhalt seines Glaubens mitbestimmen.

3. Wo also die Bitte gen Himmel steigt: „Vergib uns unsere

Schuld!" da muß zunächst gebeten werden: Gib mir, o Vater, ein bußfertiges und gläubiges Herz.

Und diese Bitte erscheint ja

doch auch hinreichend vorbereitet durch dasjenige, was im Vater­

unser derselben vorangeht. Himmel angerufen,

wie

seinen Kindern machen?

Gottes,

Der

sollte

Christ hat

den

Vater im

der Vater nicht uns wieder zu

Der Christ hat gebetet für den Namen

aber sein Name ist ja „Vater", und wie könnten wir

besser hoffen diesen Namen geheiligt zu sehen, als wenn er sich als Vater an den Herzen erweist?

Der Christ hat gebetet für

das Reich Gottes, aber dies Reich ist ja ein Reich der Gnade, das selbst die Armen, die Krüppel, die Lahmen und die Blinden

nicht verschmäht.

Der Christ hat gebetet,

daß Gottes

Wille

geschehe, aber Gott will ja eben, daß allen Menschen geholfen

werde und daß sie alle zu Gliedern des Gottesreiches heranwachsen,

„er will ja nicht den Tod des Gottlosen, sondern daß sich der Gottlose bekehre von seinem Wesen und lebe" *).

Der Christ hat

gebetet um das tägliche Brod; aber wird der Gott, der den Leib stärkt, der hungerden Seele das Himmelsbrod der Gnade versagen? Doch,

wie schon die Anrede des Vaterunsers uns in

die

Reihen der Brüder verwies, wie keine Bitte über unsere Lippen

kam ohne diesen Blick auf die Mitmenschen zu erneuern, so macht

uns in dieser fünften Bitte der Erlöser selbst darauf aufmerksam, daß

wir mit Nothwendigkeit

müssen und

grade hier der Brüder gedenken

eines versöhnlichen Herzens

besagt der Zusatz:

bedürfen.

Denn

Wie wir vergeben unsern Schuldigern.

*) Hesekiel 33, 11.

das Wie

90 die Worte lauten liegt werden muß.

ein Irrthum

nahe,

der sofort gehoben

Fern liegt es dem Erlöser, uns darauf vor Gott

pochen zu lehren, wie viel wir den Menschen vergeben haben und noch vergeben wollen, um darauf

einen Anspruch zu

auch von Gott Vergebung zu empfangen.

gründen,

Ist es ja doch des

Erlösers Bemühen immerdar, uns zum Bewußtsein zu bringen,

wie wir nichts zu fordern haben, wie alles, was wir sind und haben, eitel Gnade ist von Gott.

Fern liegt auch den Worten

des Meisters, unsere Vergebung zum Maßstab für die erbetene Vergebung Gottes zu machen.

Was will denn die Geringfügig­

keit der Schuld besagen, welche die Mitmenschen uns gegenüber

haben, im Verhältniß zu unserer eigenen unendlichen Schuld im

Schuldbuche unseres Gottes?

Des Erlösers Absicht ist vielmehr

diese, auf den Hauptgrundsatz der Genossen des Gottesreichs hin­

zuweisen, auf den Grundsatz des Vergebens, den Gott selbst zum

obersten Reichsgesetz gemacht.

Wie wir vergeben sollen, ja als

rechte Reichsgenossen schon vergeben haben sollen, wenn wir beten,

spricht der Erlöser, so vergib auch du, o Vater!

Aber kann so

Jemand sprechen, der es nicht für sich als oberste Pflicht erkennt,

Vergebung zu üben?

Mit der Bitte um Vergebung sollten wir

an das Gesetz der Gnade appelliren können, Leben dasselbe gelten zu lassen?

ohne im täglichen

Siehe, mein Christ, mit der Bitte

um Vergebung unserer Schuld sprichst du vor Gott, als läge

wirklich das Wohl der Menschheit dir auf deiner Seele — würde deine Rede da nicht zur Lüge werden, wenn du für die Bitte

derer kein Ohr hättest, die dich um Vergebung anflehen? ernst sagt doch auch der Erlöser:

Wie

„So ihr den Menschen ihre

Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch ver­ geben; wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben" *).

Und

jenen selben König, der auf seine Bitten dem Knecht 10,000 Pfund

erläßt, sehen wir sein Geschenk zurücknehmen, als derselbe Knecht den Mitknecht zur Rechenschaft zieht, der ihm nur 100 Groschen

-) Matthäus 6, 14 u. 15.

91 schuldet.

Darum,

vergiß nicht,

wenn du um Vergebung

vor

deinem Gotte betest, recht nachdrucksvoll hinzuzufügen: „Wie wir vergeben unsern Schuldigem", laß diese Worte

dir

eine ernste

Prüfung werden, ob du auch etwas wider den Andern hast, oder ein Anderer etwas wider dich haben könnte.

Wenn

du deine

Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eindenken, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine

Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe, spricht der Meister l).

Gilt das Wort nicht auch für den Fall, daß du betend vor deinen

Gott hintrittst? Vergeben!

ach, wenn nur nicht grade dagegen

Menschenherz sich sträubte!

das eitle

Ist denn Jesu vergebungverheißender

Blick auf den Jünger, der ihn verleugnet2),3 4Jesu * Bitte für seine

Feinde am Kreuzt, Stephani Fürbitte für seine Mörders, Josephs Verhalten gegen seine Brüder6), Davids Handlungsweise an ©aut6)

— sind das alles nicht Ausnahmen, die eben deshalb durch die Geschichte erwähnt werden?

Arbeiten für Andere,

geben an

Andere, dazu schwingt das Menschenherz sich schon empor, aber

Vergeben! daß

man

das wird ihm so schwer.

vergeben

sollte;

denn

Man erkennt wohl an,

das Bild des Unversöhnlichen

möchte man nicht an sich tragen; man hat es zu oft an Andern

gesehen, um davor zurückzuschrecken.

Aber wie oft sucht man sich

damit zu entschuldigen, der andere Theil trage die Schuld,

er

habe gereizt, gekränkt, die Unwahrheit gesprochen, eine gemeine That verübt, der andere Theil zeige so gar kein Entgegenkommen,

werde nur noch in seiner Schlechtigkeit bestärkt, wenn man ihm nachgehe, sage wohl, daß sein Verhalten ihm leid thue, aber ohne innerlich dasselbe zu bereuen. *) 2) 3) 4) b) 6)

Matthäus 5, 23 u. 24. Lucas 22, 61. Lucas 23, 34. Apostelgeschichte 7, 59. 1. Moses 50, 19 ff. 1. Samuelis 24, 12.

Seele, was wäre aus dir geworden,

92 wenn dein Gott dir niemals nachgegangen wäre, weil du ja selbst das Vaterhaus verlassen, weil du ihn betrübt mit Thaten, Worten

und Gedanken, wenn er seinen Blick voll Liebe und Erbarmen

nicht auch da dir nachgesandt hätte, wo du in der Irre gingst, wenn er nicht versucht hätte, immer und immer wieder dich zur Buße zu rufen,

wenn

er

sich

hätte

abweisen

lassen in allen

Stunden, wo du gleichgültig geblieben gegen seine Mahnungen

und Lockungen, wenn er nicht jede bessere Regung in deiner Seele sofort benutzt hätte, um dich weiter zu führen, wenn er nicht ge­ handelt hätte nach der allgemeinen Erfahrung, daß

die immer wieder und wieder nachgeht,

die

doch schließlich

Liebe, feurige

Kohlen aufs Haupt sammelt, die so tief einbrennen, daß ein heiß

Verlangen nach Umkehr in der Seele sich zeigt. — Wie oft ist

ferner selbst da, wo schließlich die Hand zur Versöhnung gereicht wird, der Act doch nur ein äußerlicher, nur auf die Augen be­ rechneter, nur durch den augenblicklichen Vortheil

eingegebener!

Man möchte nicht gern, daß die Menschen von einem Zerwürfniß

hörten, das Zerwürfniß selbst ist auch wohl gar lästig, weil man

doch täglich mit einander verkehrt und auf einander angewiesen

ist.

Auch

könnte

einem

ja so

leicht Lieblosigkeit vorgeworfen

werden und das könnte einem den Namen eines guten Christen rauben, auf den man doch sonst so viel Gewicht legt.

Aber der

Christ will vergeben, weil er in einem Reich der Gnade wohnt,

weil er aus eigenster Erfahrung weiß, wie schmerzlich eine Schuld uns drückt,

die nicht vergeben ist,

muß dem Vater ähnlich

sein,

weil er sich sagt,

das Kind

darum auch das Kind Gottes

seinem himmlischen Vater. — Wie oft wird endlich eine Form

der Vergebung gewählt, der man es auf den ersten Blick anmerkt, im letzten Grunde ist eigentlich gar nicht vergeben worden. Man sagt dem, der da bittet: Ich will vergeben, aber ich kann nicht vergessen, was du mir gethan hast.

Und wie gesprochen, wird

auch gehandelt: ein altes inniges Freundschaftsverhältniß, das ge­

trübt worden, kehrt nicht wieder; von Aufopferung ist keine Rede,

und auf Schritt und Tritt merkt man's heraus, die alte Wunde kann beim geringsten Anlaß wieder aufklaffen; was vergeben sein

93 sollte, kann im nächsten Augenblick alles von Neuem wieder ver­ handelt werden.

Man reicht auch wohl dem Bittenden die Hand,

verheißt ihm Vergebung, aber aus Mienen und Worten merkt

man's heraus, es ist der Vorgesetzte und Höhergestellte, der dem Bittenden gegenüber steht und ihm zu verstehen gibt, daß dieser ihn eigentlich auch

wohl

gar nicht habe beleidigen können.

die Vergebung,

welche

Man knüpft

man verheißt,

an

so

viele

„Wenn" und „Aber", an so viel Bedingungen und Leistungen, daß man bald herausfühlt, hier solle nicht vergeben, sondern ab­

gezahlt werden.

Mein Christ, was würdest du wohl sagen, wenn

du nicht hoffen dürftest auf deines Gottes ganzes Herz,

wenn

nicht deine ganze Schuld versenkt würde in das Meer der gött­ lichen Liebe, um nimmermehr von deinem Gott dir vorgehalten

zu werden, wenn er dich nicht sofort wieder ganz in den Stand der Kindschaft versetzte, wenn du nicht jubeln dürftest: „Wer will

die Auserwählten Gottes beschuldigen? gerecht macht;

wer will verdammen?

Gott ist hier,

der da

Christus ist hier, der ge­

storben ist, ja vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher ist zur

Rechten Gottes und vertritt uns?"') Was würdest du sagen, wenn du nicht aufblicken könntest zu deinem Gott, ohne stete Angst und

Furcht, der geringste Fehltritt könnte dein Kindesrecht dir wieder rauben,

ohne jene Freudigkeit, daß,

ob wir gleich täglich viel

sündigen und aus Schwachheit fehlen, Gott dennoch unserer sich erbarmt,

wenn du dir sagen müßtest:

Er ist

der Allmächtige,

dessen Ehre wahrlich nichts geraubt wird durch mich, dem ich

viel zu geringe bin,

als daß er nicht ohne mich sollte fertig

werden können, wenn du nicht vielmehr hoffen könntest, auch der

geringste

Sünder ist

ihm

lieb,

und

es wird

Freude sein im

Himmel über einen Sünder, der Buße thut, vor 99 Gerechten,

die der Buße nicht bedürfen, wenn er seine Vergebung knüpfte an Bußübungen und Opfer, an ein in Zukunft völlig untadel-

haftes Leben? Nach dem allen muß der Christ in unsere Bitte ganz be') Römer 8, 33.

94 sonders auch dies hineinlegen: Gib mir, o Vater, ein versöhnlich

Herz,

ein Herz, das

wirklich

bereit

ist zu vergeben,

das alle

Leidenschaft niederzukämpfen sucht, das nicht mißtrauisch hinter

Allem Boßheit sieht, sondern bereit

denken,

ist, überall das Beste zu

das sich nicht einbildet, versöhnlich zu sein, wo es dies

doch nicht ist.

Ja, Erbarmungsreicher! verleih' uns ein Herz, dem du der

Gnade Fülle schenken kannst.

Laß uns

reuig

niederfallen vor

dir, dem Heiligen und Gerechten, laß uns glaubensvoll deine

Gnade in Christo ergreifen.

Gib uns ein versöhnlich Herz, das

da bereit ist wieder zu vergeben, wie du uns vergeben hast. Amen.

Die sechste Bitte. Matthäus 6, 13. Und führe uns nicht in Versuchung.



der Verfasser des Hebräerbriefes uns zeigen will, wie der Erlöser, als Mensch, den Kampf des Lebens keineswegs leichter gehabt habe, als wir, da sagt er:

„Er ist versucht allenthalben

gleich wie wir, doch ohne Sünde" **), und wer unter uns wüßte

denn nicht, wie gerade die Versuchung der gefährlichste Feind ist, der hienieden auf Schritt und Tritt uns bedroht?

Wie manche

Eltern haben mit bangen Ahnungen grade diese sechste Bitte gen

Himmel gesandt, wenn sie vorm Abschied von ihren Kindern noch einmal mit ihnen das Vaterunser gesprochen!

Wie bedeutungsvoll

muß sie auch heute über unsere Lippen kommen, wo wir in dieser Woche — so Gott will — wiederum eine junge Christenschaar ins

Leben hinaussenden werden!*)

Jene letzten Mahnungen, die ihnen

da noch mitgegeben werden, jene Thränen, die da von Vater und

Mutter ihretwegen geweint, die Worte des Segens, die über ihnen beim Abschied gesprochen werden, sie sind uns ja eben nahegelegt

durch den Gedanken an die Versuchungen des Lebens.

zieht unter Hafen.

hellem Sonnenschein

das Schiff

hinaus

So stolz aus

dem

Wie wird es sein, wenn die Stürme gebraust, die Klippen

gedroht haben?

Was werden wir sehen, wenn wir, wartend auf

sie, dereinst an den Ufern der Ewigkeit stehen?

Wird stolz das

Schiff, wie es ausgelaufen, auch droben in den Hafen einlaufen? oder

werden

zerstreute Trümmer,

werden Berichte der Augen-

*) Hebräer 4, 15. *) Zn der Woche fand die Herbstconfirmation Statt.

96 zeugen verkünden, daß das Schiff Schiffbruch gelitten? — Ver­

suchung! wem trete die Bedeutung dieses Wortes nicht vor die Seele, der je eins der Seinen in das Getümmel und Treiben

unserer großen Stadt hineingesandt?

Die Seufzer, die da gen

Himmel stiegen, wenn von frühen Krankenlagern, aus Gefängniß­ zellen,

aus

bittersten

des Lasters,

den Höhlen

Noth

eine Kunde

aus

den Gemächern

heimkehrte ins

Elternhaus,

der

diese

Seufzer waren ein Beweis, daß das Wort „Versuchung" nicht

mit Unrecht

die Herzen

einst

geängstigt hatte.

Ja,

wo wäre

Einer, der im Kampf des Lebens gereift, dessen Haupthaar grau, dessen

Stirn

durchfurcht,

den

das

Wort „Versuchung"

nicht

sinnend das Haupt stützen und mit seinen Gedanken nicht bald

bei diesem bald bei jenem Punkt verweilen ließe, wo er selbst

einst gestrauchelt, gewankt, gefallen?

Grade dem Christen, der

„mit Furcht und Zittern seine Seligkeit schafft"') ist das Wort „Versuchung" so ernst.

Er weiß ja, wie ost sie ihm sein hohes

Ziel verrückt und seinen Lauf ihm hemmt.

Er hat Vergebung

gefunden, als aus tiefbewegter Brust die Schuld seiner Sünde

ihn gen Himmel rufen ließ, aber was ihm mit seiner Schuld zugleich entgegengetreten, das ist der Gedanke an die Versuchung,

der er erlegen, was das frohe Bewußtsein wiedererwachter Kind­ schaft bei Gott ihm trübt, das ist die Unsicherheit, ob angesichts erneuter Versuchung, dieselbe nicht wieder verloren gehen könnte.

Auch hier schließt sich daher nicht ohne Absicht mit einem ein­

fachen „Und" unsere Bitte an die voraufgehende an.

Denn wer

um Vergebung der Schuld gebeten, muß sofort weiter um Ab­ wendung all der Gefahren flehen, welche die Versuchungen für ihn in sich bergen.

Laßt uns danach der Bitte selbst näher treten.

geschehe dergestalt, daß wir mit einander erwägen: 1. was fürchten wir ohne dieselbe? 2. was wollen wir durch dieselbe erzielen? 3. welche Forderung richtet sie an uns?

') Philipper 2, 12.

Es

97 1. Wer die Bitte gen Himmel sendet: führe uns nicht in Ver­ der scheint auf den ersten Blick anzunehmen, daß der

suchung!

Heilige droben, daran habe,

dem alle Sünde eine Gräuel ist,

ein Gefallen

den Menschen von dem schmalen Weg des Guten

auf den breiten Weg der Sünde zu locken.

Und doch ist seit den

Tagen unserer Kindheit eine solche Persönlichkeit, die das könnte, der

Gegenstand

unseres

steten

Abscheus.

Den Versucher,

Satanas, den Teufel — wer flöhe ihn nicht!

den

Wir wissen auch

alle, daß wir einer groben Sünde uns schuldig machen, ja daß

wir Gott lästern würden, wenn wir ihn als Versucher zum Bösen ansehen wollten.

Zum Ueberfluß

heiligen Schrift selbst:

heißt es ja auch noch in der

„Niemand sage, wenn er versucht wird,

daß er von Gott versucht werde.

Denn Gott ist nicht ein Ver­

sucher zum Bösen, er versucht Niemand"').

Von droben kommt

wohl heute Sonnenschein und morgen Regen, aber nicht so heute

Heil und morgen Sünde.

Er ist der Vater des Lichts und bei ihm

ist keine Veränderung, noch Wechsel des Lichts und der Finsterniß*2).

Was wir sehen, ist dies, Ja, je

uns entgegentritt.

daß eine Welt voll Versuchungen

mehr

das Leben kennen lernen,

wir

desto mehr erkennen wir, daß alles uns zur Versuchung werden kann.

Wir sehen jene Unglücklichen, die, ein Abscheu der mensch­

lichen

Gesellschaft,

schmachten.

Sie

eines

sind

Verbrechens

in

wegen

der Versuchung erlegen.

sie oft zu Verbrechern gemacht,

den

Kerkern

Die Noth

hat

der Blick auf Anderer reich be­

setzte Tafeln hat ihren Neid erweckt und sie schließlich über mensch­

liche

und

frühe

göttliche Ordnungen

Hinscheiden

von

sich

hinwegsetzen

Vater und Mutter,

lassen.

der Mangel

Das

jeder

liebenden Seele aus Erden hat die Herzen bitter, rathlos, gleich­

gültig gemacht und schließlich zu einem Act der Verzweiflung ge­ trieben.

Ihre Versuchung war der Mangel.

') Jacobus 1, 13. 2) Jacobus 1, 17.

Willst du deshalb

98 nun sagen: ich

In der Armuth liegt die Versuchung, darum ziehe

den Reichthum vor?

Dann

vergiß nicht,

wie

der Erlöser

spricht: „Es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme"'), wie wir im

ersten Briefe an den Timotheus lesen: „Die da reich werden wollen,

die

fallen in Versuchung und Stricke und

viele thörichte und

schädliche Lüste, welche versenken die Menschen ins Verderben und

Verdammniß"*2).

Wie sicher wird hier oft das Herz, wie gesellen

sich hier zur Sicherheit oft Hochmuth und Herrschsucht, Genußsucht und Lieblosigkeit, wie erzeugt das Wohlgefallen an reichem Besitz

so oft nur die Gier nach mehr, wie macht es den Menschen oft so gleichgültig gegen die Arbeit und gegen seine Pflichten,

nutzlos die Kräfte und die Zeit vergeudet werden.

sodaß

Ja, wenn dein

Grundsatz wäre: Ich suche nicht Reichthum, ich wünsche mir nicht Armuth, aber so mein bescheiden Theil, könntest du dann darauf

rechnen, keinen Versuchungen ausgesetzt zu werden? würdest arbeiten,

Gewiß, du

denn du würdest sonst nicht auskommen,

du

würdest auch Zeit haben, wo die Arbeit einmal ruhen und du

höheren Genüsse dich hingeben könntest.

Aber stellt nicht grade

hier so oft jene Selbstgefälligkeit sich ein, die meint, Vorwürfe brauche man sich nicht zu machen, wenn das Leben nur in den gewöhnlichen Geleisen sich fortbewege und man weder zur Rechten noch zur Linken Anstoß errege, wenn die Menschen Einen keiner groben Fehler zeihen können?

Ach, Armuth und Reichthum, ja

selbst die vielgepriesene goldene Mittelstraße, sie alle haben ihre Versuchungen.

Hast du viel Freunde, wie leicht gewöhnst du dich

dann daran, nur Gutes über dich zu hören, kurzsichtig zu werden

gegen deine eigenen Gebrechen und in Eitelkeit dich selbst zu über­

heben!

Hast du viel Feinde, die dir deine Pläne durchkreuzen

und überall dir Schwierigkeiten machen, wie leicht vergiften da

Bitterkeit, Mißtrauen, Menschenhaß deine Seele!

dir einen siechen Körper durchs Leben,

') Matthäus 19, 24. 2) 1. Timotheus 6, 9.

Trägst du mit

wieviel Stunden werden

99 dann vergeudet in ängstlicher Pflege, wie verzagt bist du dann, etwas Großes zu unternehmen, wie feige fliehst du dann die Gefahren,

die dir drohen!

Strotzt dein Leib von Gesundheit, wie leicht­

sinnig meinst du dann darauf losleben zu können, wie lieblos

beurtheilst du

dann den Andern,

der in Arbeit und Genüssen

nicht gleichen Schritt mir dir halten kann!

Rinnt heißes Blut

in deinen Adern, wie leicht entbrennst du dann zum Zorn!

Hast

du ein ruhiges Temperament, wie leicht zeigt sich Trägheit und Stumpfsinn im Denken, wie im Handeln!

Ist Jugendfrische

und Jugendkraft bei dir noch ungebrochen, wie leichtsinnig suchst du dann nur den Augenblick zu genießen, wie setzt du dich dann

hinweg

über jede Stimme

der Mahnung

und der Warnung!

Kommt das mürrische Alter, dann schwinden die Ideale, dann

beginnst du alles zu tadeln, was in deinen engen Gesichtskreis mehr paßt.

nicht

Stehst

du

alltäglich im heißen Kampf des

Lebens, dann vergißt du die Sorge um das Eine, das Noth ist.

Ziehst du dich zurück in die Stille, dann weilt deine Fantasie so

oft bei unkeuschen Bildern, dann verschwindet das Interesse an den großen Aufgaben der Menschheit.

Ist dein Bemf ein solcher,

daß er alltäglich deine ganze geistige Thätigkeit in Anspruch nimmt,

wie leicht kommt dann jener geistige Hochmuth', der über jeden andern Beruf gleichgültig hinwegsieht!

Führt dich dagegen dein

Beruf vor allem dazu, die Kräfte des Körpers in Anspruch zu nehmen,

wie

leicht kommt

geistigen Fähigkeiten!

es

dann zur Vernachlässigung der

Hat dein Gott es dir gegeben, in der Tiefe

des Gemüths seine Stimme zu vernehmen, hat er dich reich ge­

macht

an

christlicher Erkenntniß,

sind

deine Lebenserfahrungen

derartig gewesen, daß sie dich nie irre machten in deinem Glauben — siehe auch hier lauert die Versuchung, daß sie jenen wider­

wärtigen Pharisäersinn, jenen geistlichen Hochmuth in dir erzeuge, in dem du dich über Andere erhebst und sie zu richten beginnst.

So

ist das Menschenleben überall von Versuchungen umstellt.

Aber können wir bei dieser Thatsache stehen bleiben?

Stammt

nicht für den Christen alles, was er ist und hat, aus Gottes Hand? Ist Gott es dann nicht auch,

der im letzten Grunde selbst die 7*

100 Versuchung sendet?

hauptung zurück,

Und kommen wir nicht so doch zu jener Be­

welche wir vorher

als Gotteslästerung abge­

wiesen haben?

M. L. Reichthum und Armuth, Feinde und Freunde, Gesundheit und Krankheit, Jugendkraft und Alterschwäche, Stellung in der

Welt, das alles stammt ja von Gott, das alles kann zugleich

uns zur Versuchung werden.

Aber muß es das auch?

Sendet

Gott es wirklich, damit wir darunter zum Fall kommen? müssen wir verneinen.

Hier

Armuth führt in tausend Fällen zu Lastern

und Verbrechen, aber kann sie den Menschen nicht auch anhalten zu Fleiß und Sparsamkeit? ist nicht gerade aus den Kreisen der

wenig Begüterten mancher große Charakter hervorgegangen, der

das, was er nachher geworden, zum großen Theil den Entbehrungen seiner Kindheit dankte?

Reichthum führt in tausend Fällen zur

Weltlust; aber nicht eben so oft zur Wohlthätigkeit, zur ungestörten Ausbildung geistiger Fähigkeiten, die im Menschen liegen?

feindung

der

Charakter

oft

Menschen macht

auch

oftmals

fester

und

bitter,

An­

aber sie macht den

standhafter.

Ein

siecher

Körper bringt Gefahren, aber wie oft läßt er den Geist zu solcher

Macht sich aufschwingen, daß er schließlich den Körper sich zum

willigen Werkzeug macht, wie oft läßt er den Menschen mit Paulus

die Stimme Gottes vernehmen: „Laß dir an meiner Gnade ge­ nügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!"')

Das­

selbe Temperament, das zur Stumpfheit und Trägheit führt, wie oft führt es auch wiederum zu weiser Besonnenheit!

Wer kann

danach noch zweifeln, warum Gott alle jene Dinge uns nahe­

bringt,

die

unter Umständen

werden können?

allerdings zum Fallstrick für uns

Ja, wer verstünde denn nicht, was Jakobus

meint, wenn er schreibt: „Selig ist der Mann, der die Anfechtung

erduldet; denn nachdem er bewähret ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, welche Gott verheißen hat denen, die ihn lieb

haben" 2).

Liegt nicht in der Ueberwindung der Anfechtung oder

0 2. Corinth er 12, 9. 2) Jacobus 1, 12.

101 Versuchung, wie Luther in der Stelle bei Jakobus ebensogut hätte übersetzen können, ein unendlicher Segen?

Der Soldat, der schon

manche Schlachten bestanden, der unter dem Donner der Geschütze

und im Kugelregen der Feinde, schon oftmals Stand gehalten, ist der dem Feldherrn nicht mehr werth, wenn auch schon manche

Narbe

sein Gesicht entstellt,

manche Zierde

seines Helms ihm

durch feindliche Kugeln abgeschossen ist, als der Jüngling, eben

Rüstung zum ersten Male in die Schlacht zieht?

große Glaubensheld

der

noch mit blanker Waffe und tadelloser

erst ausgemustert, des

Abraham, der

alten Bundes, ward er nicht versucht

und durch die Versuchung im Glauben befestigt?

Der Erlöser

selbst, ist er nicht versucht worden, gleich wie wir? ist er nicht,

weil er gehorsam blieb bis zum Tode, „von Gott erhöht worden und

ihm

ein Name

gegeben,

der über alle Namen

ist?"')

Versuchungen sind eben gleichsam die Schlachten, in denen der

Streiter Gottes erprobt wird.

In ihnen lernt er seine Fehler und

seine Schwächen kennen, wie seine Kräfte entfalten.

In ihnen

lernt er, was die Mächte einer bessern Welt für ihn werth sind. In ihnen sieht er, wo er noch an sich zu arbeiten hat.

will unser Gott uns prüfen.

um zu erkennen, was in dem Andern ist. kündiger, sind wir ja alle längst bekannt.

um

In ihnen

Nicht wie Menschen einander prüfen, Gott, dem HerzensNein, Gott prüft uns,

uns selbst durch das Resultat der Prüfung ein Bild über

den eignen Herzenszustand zu geben. Was wir fürchten, m. L., ist nach diesem Allen nicht etwa

ein Gott über uns, der uns durch Versuchungen zur Sünde ver­ leiten wollte, den wir durch unsere Bitte erst glauben von seinem bösen Vorsatz abbringen zu müssen.

Nein, wir wissen, wir haben

ein treues Vaterherz droben, das nur unser Bestes will.

Was

wir fürchten ist vielmehr dies, daß das, was Gott uns sendet, für uns ein Anlaß zur Sünde werden könnte, daß unter unsern

Händen das, was uns ein Segen werden sollte, in Fluch sich ver­ wandeln möchte.

Wir denken an jenen unreinen Geist, der überall

0 Philipper 2, 8 u. 9.

102 Gottes Schöpfung entweiht, der alles Reine unrein zu machen

versteht, von dem die Schrift sagt, daß er in der Lust herrscht'),

weil er gerade da sich einfindet und am gefährlichsten wird, wo der Mensch ihn

nicht vermuthet, der

schon im Paradiese mit

Schlangenklugheit und Schlangenlist den Herzen sich nahte. ist

die Macht

des Bösen in unserer eigenen Brust.

Es

Wie wir

denn auch in der Schrift lesen: „Ein jeglicher wird versucht, wenn

er von seiner eigenen Lust gereizet und gelocket wird.

Darnach,

wenn die Lust empfangen hat, gebietet sie die Sünde; die Sünde

aber, wenn sie vollendet ist, gebietet sie den Tod'"). Es fehlt ja allerdings an solchen Erdenkindern nicht, die die Versuchung

nicht fürchten,

weil sie die Sünde überhaupt nicht

Sie fliehen das Leid, das Mißgeschick, den Tod, sie

fürchten.

suchen das Glück, den Reichthum, den Genuß; aber Versuchung!

und Sünde! sind ihnen nur Worte, mit denen der fromme Schwärmer sich plagt.

Ich glaube, wenn sie ihr Bild in einem andern Menschen

sähen, es würde ihnen nicht gefallen.

Was den Menschen zum

Menschen macht, das haben sie nicht gesucht; was im Menschen das

Bild seines Gottes entstellt, das haben sie nicht gemieden.

Andere

giebt es, die fürchten die Versuchung auch nicht; ihnen ist allerdings die Sünde ein Gräuel, aber die Macht der Versuchung erscheint ihnen nicht allzu groß.

Sie vertrauen auf ihre gute Erziehung,

ihren seinen Takt, ihre gute Naturanlage, ihren sittlichen Ernst, auch wohl schon auf ihren vorgeschrittenen Christenstand.

Wissen

sie ja doch sich dessen kaum zu entsinnen, daß sie je einer Ver­

suchung erlegen; jedenfalls liegt ihnen der Augenblick, wo sie fielen,

in weiter Ferne.

Wie kommt es zu solcher Sicherheit?

Weil das

Herz sich gewöhnt hat, nur da von wirklichem Fall zu reden, wo

ein Verbrechen vorliegt, wo die Menschen eine That oder Unter­ lassung

als Sünde brandmarken; weil

sie sich

nur zu messen

pflegen an andern Menschen und nicht an dem heiligen Gesetz

unseres Gottes,

weil sie übersehen, daß jeder Mensch seine be-

') Epheser 2, 2. 2) Jacobus 1, 14 u. 15.

103 sondere Stelle hat,

wo

er für die Pfeile des Versuchers ver­

wundbar ist.

2. Können wir nun aber, m. L., nach dem Gesagten zweifeln,

was der Christ mit Rücksicht auf die Versuchungen zu bitten hat? Kann es sein Wunsch sein, daß alles das, was das Leben an Versuchungen bietet, ihm fern bleibe?

Dann würde er ja denken,

wie jene thörichten Eltern, die ihr Kind verzärteln, es stets unter

ihren Augen behalten wollen, es nie hinausschicken in den Ver­ kehr mit andern Kindern, nur weil die bange Furcht sie erfüllt,

das Kind könnte Schaden leiden an seiner Seele, dann würde er ja den Gott meistern, der nach seiner Weisheit die Versuchung gewollt.

Wird der Christ denn nun aber vielleicht die Versuchung

von seinem Gott sich erbitten?

Dann würde er dem Soldaten

gleichen, der da meint, alle Leibesübung, alle Anweisung daheim sei überflüssig, der in Folge dessen nun sofort dahin gestellt werden

will, wo er dem Feinde ins Angesicht schaut.

Der Christ spricht

mit seinem Erlöser einfach und schlicht: Führe mich nicht in Ver­ suchung.

Diese

seine Bitte ist dann

der Ausdruck christlicher

Demuth, die des Fleisches Schwäche kennt gegenüber der Macht, die so gewaltig reizt und lockt, jener Demuth, die sich nicht ver­

mißt, schon so stark zu sein, daß sie der Anfechtung vollkommen gewachsen wäre, die da weiß, wie oft das hoffärtige Herz, um

vor den Menschen groß zu erscheinen, die Versuchung aufsucht, aber dann auch sicher in ihr erliegt, die darum bittet, Gott möge im

entscheidenden Augenblick

verhindern,

sichere Herz sich fortreißen lassen könnte.

wozu das

fleischliche,

Aber die Bitte kommt

nicht über des Christen Lippen ohne den stillen Zusatz: „Doch Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst".

Es verläßt

ihn doch bei der Bitte das kindliche Vertrauen nicht, daß die Versuchung, die Gott sendet, trotz unserer Gebete, daß die auch

gut für uns sein muß,

daß „uns keine, denn menschliche Ver­

suchung jemals betreten wird, weil Gott treu ist, der uns nicht

lässet versuchen über unser Vermögen, sondern machet, daß die

104 Versuchung so ein Ende gewinne, daß wir's können ertragen"'). Ist es ja doch auch schon etwas anderes, ob ich bitte: „Führe mich hinein in die Versuchung", oder ob ich sage: „Halt alle

Versuchung von mir fern, ob du sie mir auch bestimmt hast". Doch, m. L., was sollen der Eiche die Stürme nützen, in

denen sie befestigt werden soll, sofort

wenn diese selben Stürme sie

entwurzeln und zu Boden werfen?

Wozu sollen dem

Soldaten die ersten Vorpostengefechte dienen, in denen er lernen soll, wenn gleich hier die tödtliche Kugel ihn trifft?

Will darum der

Christ durch sein Gebet die Versuchung nicht aufhalten, die nach Gottes Rath zu seinem Heil kommen muß, wie kann er dann anders, als doch in seine Bitte den Wunsch hineinlegen, daß die Ver­

suchung, wenn sie kommt,

möge.

auch wirklich zum Heil ausschlagen

Er spricht: Führe mich nicht in Versuchung, aber meint

damit zugleich:

„Laß mich in der Versuchung nicht allein, steh'

du mir in derselben als ein treuer Führer und Vertheidiger zur

Seite; führe du mich auch durch die Versuchung hindurch". legt in die Worte unserer Bitte den Gedanken hinein:

Er

„Mit

unserer Macht ist nichts gethan, wir sind gar bald verloren, d'rum streift für uns der rechte Mann, den Gott selbst hat erkoren".

Denn was nützt alle menschliche Kraft, was die größte Wachsamkeit? Der Mensch bleibt bei dem Allen doch ein kurzsichtiges, endliches Wesen,

das

auf die Hülfe aus der Höhe angewiesen ist.

Er

will darum, daß Gott ihm in der Versuchung zur Seite stehe, daß Gott ihm selbst die Augen öffne, damit er die Versuchung

erkenne und ihr gegenüber die eigene Kraft nicht überschätze, daß Gott selbst ihm die rechten Waffen in die Hand gebe, damit er

so am bösen Tage Widerstand leisten könne und einen guten Kampf kämpfe.

Der Erlöser hat vor seinem Scheiden seinen Jüngern ge­

sagt, so sie etwas Tödtliches trinken würden, so würde es ihnen

nicht schaden.

Mit unserer sechsten Bitte flehen wir, daß diese

Verheißung des Meisters an uns wahr werde.

Einem Becher

mit tödtlichem Gift gleicht so manche Freude, so manches Leid, so

') 1. Corinther 10, 13.

105 mancher Gewinn, so mancher Verlust, so manche Bevorzugung, so manche Zurücksetzung; tausende unter uns trinken davon, um für

immer dem Tode zu verfallen, um langsam an dem Gift dahin Droben aber waltet der gütige Vater, der auch den

zu siechen.

gefährlichsten Becher unschädlich machen und den Trunk daraus

sogar in einen Heiltrunk verwandeln kann.

3.

Aber kannst du zu deinem Gott sprechen: „Führe uns nicht in Versuchung", wenn du nicht wirklich die Versuchung fürchtest,

wenn du dich nicht bemühst, dich selbst und Andere nicht in Ver­ suchung zu führen, wenn du nicht gern die Mittel ergreifst, welche gegen die Versuchung am wirksamsten erscheinen?

Und doch, wie

oft lassen in dieser Richtung die Menschen es an der rechten Treue fehlen!

Kennst

du

die Stunden,

wo Gottes heiliges Gebot mit

seinem „du sollst" und „du sollst nicht" dir wohl vor der Seele

stand, aber das eigene Herz dir vorredete: „Vom Gedanken bis zur That ist noch gar weit"?

Die Verlockung zu einer

ehe­

brecherischen That hättest du voll Entrüstung mit dem Josephs­ worte abgewiesen: Wie sollte ich denn nun ein solch groß Uebel thun und wider Gott sündigen')?

Aber das Verweilen bei un­

keuschen Bildern für einen Augenblick schien dir so schlimm nicht zu sein.

Kennst du die Stunden, wo dein Herz pochte vor einem

Gange, der dir bisher so gefahrvoll geschildert worden, wo aber gleichzeitig eine versucherische Stimme dir sagte: Der Mensch muß

alles

kennen lernen,

können?

um es nachher desto besser beurtheilen zu

Kennst du solche Stunden, wo du jenem Petrus glichst,

den der Meister so nachdrücklich warnte: „Simon, Simon! siehe der Satanas hat euer begehret, daß er euch möchte sichten, wie den Weizen'").

Wie kühn wies jener Petrus den Gedanken an

0 1. Moses 39, 9. 2) Lucas 22, 31.

106 die drohende Gefahr ab! wie kühn pochte er auf seine Petrus-,

seine Felsennatur! wie kühn ging er in den Hof des hohepriesterlichen Palastes und mischte sich mitten unter die Feinde! Wie kühn

wiesest auch du jede warnende Stimme von dir! erschien sie dir,

Wie thöricht

dem Mann, der in Kämpfen erprobt,

Charakter von Eisen dir bekannt!

dessen

Wie siegesgewiß tratest du

an die Stelle, wo die Gefahren dich umzingelten!

Frag dich,

o Seele, sind alle diese Stunden ohne bittere Folgen für dich

geblieben?

Hast

du

dich nicht schließlich doch auf Pfaden ge­

funden, auf die du ursprünglich nicht gewollt?

Hast du nicht oft­

mals Dinge kennen gelernt, Erfahrungen gemacht, urtheilen gelernt für einen Preis, der dir schließlich doch allzu hoch erschien?

Hast

du nicht schon Stunden durchgemacht, wie jener Petrus, als er hinaus wanderte in die finstere Nacht, um bittere Thränen der

Reue zu weinen über seine Sünden?

Seele, führe dich nicht

selbst in Versuchung! das ist die ernste Mahnung die du daraus mitnehmen magst.

Wo Gott die Versuchung dir schickt, wo sie

dir durch die Verhältnisse des Lebens entgegengebracht wird, o da murre nicht; sie kann, sie soll dir zum Segen werden.

Aber wo

du sie dir suchst, wohl gar gegen die Warnung der Deinen, gegen

die Warnung

deines Gottes,

da muß sie zum Fluch dir aus­

schlagen. Viel unvorsichtiger aber noch, als da, wo es sich ums eigene

Heil handelt, pflegt der Mensch zu sein, wo Fremder Wohl und

Wehe in seiner Hand liegt.

Und doch spricht der Erlöser so ernst:

„Es ist unmöglich, daß nicht Aergernifie kommen, wehe aber dem, durch welchen sie kommen!

Es wäre ihm nützer, daß man einen

Mühlstein

an

denn

er dieser Kleinen einen ärgerte"').

daß

seinen Hals

hängete und würfe ihn ins Meer,

Was heißt das

anders, als dies: Hüte dich davor, einem andern Menschen der

Anlaß zu seinem Fall zu werden!

Aber wie viel Aergerniß ist

in der Welt; wie viel Millionen gehen dadurch zu Grunde! Wie

giebt es so viele Stätten der Schande, wo das Heil von Jung’) Lucas 17, 1 u. 2.

107 frauen und Jünglingen auf immer untergraben wird, wie so viele

Stätten, da menschliche Kunst, die himmelwärts die Herzen ziehen sollte, die gemeinste Sinnenlust wach ruft, wie so viele Bücher,

die mit vielversprechenden Titeln an die jugendliche Fantasie sich

wenden, wie so viele Druckschriften, denen die Absicht zum Grunde

liegt, dem Volke den Glauben der Väter, die Liebe zum Vater­ lande zu rauben, wie so viele Häuser, wo Rohheit und Lieder­

lichkeit, Flüche und Gotteslästerung dasjenige sind, was dem Kinde

stets vor Augen tritt!

Wehe dem Menschen, durch welchen das

Aergerniß kommt! spricht der Meister.

Sie alle, die da enden

als Opfer der Wollust, die ihre schönsten Kräfte in ihrem Dienste

vergeudeten, sie alle, die als Verbrecher in den Kerkern ihr Leben beschlossen, sie alle, die von Verzweiflung erfaßt, in der Noth des

Lebens keinen Halt mehr haben, sie alle, die sich versündigen an König und Vaterland, sie alle werden dereinst anklagend hintreten vor die, die da Aergerniß gaben.

aller Schuld,

treffen!

nur

weil hier

Wähne du dich nicht frei von

die gröbsten Vorwürfe dich nicht

Wenn dein Kind ohne allen sittlichen Halt hinauszog

ins Leben, wenn die Religionsstunden in der Schule und bei der Vorbereitung zur Confirmation nichts fruchteten, war deine spöt­

telnde Miene, deine Geringschätzung alles Heiligen vielleicht mit daran Schuld?

Wenn dein Knecht, deine Magd, aus einem christ­

lichen Hause einst in die versuchungsreiche Stadt geschickt, hier unter­ gingen, trugst du dann vielleicht mit an der Schuld, weil du nur ihre Körperkraft ausnutztest, aber gleichgültig bliebst gegen ihr Seelen­

heil, weil du durch Ueberbürdung mit Arbeit den Weg ins Gottes­ haus ihnen sperrtest?

Ach, an Waffen fehlt es ja nicht, die wir im Kampfe gegen

die Versuchung zur Anwendung bringen könnten.

Wäre es nicht

schön, wenn wir zu diesen Waffen griffen, auch Andere sie ergreifen

lehrten?

Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet')!

so empfiehlt der Meister seinen Jüngern, und durch diese Waffen

hat er selbst im nächsten Augenblick die Versuchung überwunden,

') Matthäus 26, 41.

108 den Leidenskelch von sich zu weisen.

Zieht doch auch der irdische

Feind sich zurück, der in nächtlicher Weile die Feste zu überrumpeln denkt, wenn er die Posten wachend findet.

Meinst du denn, dein

Kind wäre der schmeichlerischen Stimme des Versuchers erlegen, wenn es klaren Auges ihm gegenüber gestanden, wenn es nicht

halb träumend über das Erdenleid, das seiner wartete, über die nothwendig nachfolgenden Thränen der Reue, über den Zorn seines Gottes im Himmel sich hinweggesetzt, wenn nicht die böse Lust,

der lockende Genuß, des Verführers schöne Rede es kurzsichtig ge­ macht und eingeschläfert hätte?

Und das Gebet? zieht es nicht die

Kräfte einer bessern Welt hernieder aus Himmelshöhen, so daß alle Anstürme der Versuchung als nutzlos abgeschlagen werden? Knüpft es im Leid uns nicht immer fester an unsern Gott, so daß alles

Murren und Klagen verstummt?

Macht es in der Freude uns

nicht dankbar gegen den himmlischen Vater, so daß alles Pochen auf eigene Kraft und eigenes Verdienst bei uns zurückgedrängt wird? Ist es nicht gerade das Gebet, das uns mahnt bei Allem, was wir unternehmen, den Willen Gottes im Auge zu behalten, und alles, was uns entgegentritt, einen Wegweiser zum Himmel uns

werden zu lassen? So heißt es denn auch in einem Liede, das wir oft mit einander gesungen: Mache dich, mein Geist, bereit, Wache, fleh' und bete,

Daß dir nicht die böse Zeit Plötzlich nahetrete!

Willst du noch andere Mittel, die Versuchung zu bekämpfen? Ich rathe dir: Lern dich immer mehr selbst erkennen, laß keinen

Tag dahin gehen, ohne Einblick zu halten ins eigene Herz, ohne dich zu fragen, wo es Schaden genommen, wo es im Kampfe sich schwach gezeigt.

feindliche

Kugeln

Pflegt doch auch der kundige Feldherr, wenn

seine

Festung am Tage trafen,

am Abend,

wo die Geschütze schweigen, den Blick darauf zu richten, wo die

Mauern

haben.

schadhaft geworden und sich als unzureichend erwiesen Ich rathe dir ferner: Nimm deine Bibel zur Hand! denn

es sind Worte ewigen Lebens darin, die auch dir ein Leitstern

109 werden können für den Kampf, der dir verordnet ist.

Mit dem

Wort der Schrift hat auch Jesus einst den Versucher von sich gewiesen.

der

Ich rathe dir endlich: Verlaß nicht die Versammlungen

christlichen Gemeinde,

komm zu Predigt und Altar!

Du

ahnst nicht, welche Quellen des Segens du dir verschließest, wenn

du von denselben dich fern hältst.

Hier lernst du, wie Andere die

Versuchung überwunden, was die Erfahrungen von Jahrtausenden

uns lehren, dessen

hier kommst du zusammen mit manchem Bruder,

graues Haupt

dir sagt,

daß

es keine bessere Hülfe im

Kampfe gegen die Versuchung gebe, als deinen Gott im Himmel, hier empfängst du an des Altares Stufen Himmelskost, die dich stärken soll im wahren Glauben zum ewigen Leben. Du aber, o Vater im Himmel, nimm du selbst uns unter

deine Obhut!

Ach bleib' mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesu

Christ, daß uns hinfort nicht schade des Bösen Macht und List.

Amen.

Die siebente Bitte. Matthäus 8, 13.

Sondern erlöse uns von dem Uebel.

Äannst du dich hineinversetzen in die Lage jener Millionen,

die

in

ihr Vaterland

der Jugend

um jenseits

verließen,

Oceans ein Heim sich zu suchen,

des

die dort drüben dem Elend

verfielen und dann des Vaterlandes gedachten, der Stätte, wo

einst die Wiege ihnen gestanden, wo liebende Eltern sie groß ge­ zogen,

wo

Wehmuth Ocean

befreundete Hand

ihnen so

erfüllt da wohl ihr Herz.

von ihnen

getrennt,

Freundschaft ihnen lachte.

gibt

es

oft

hülfteich

Sie wissen,

ein Land,

gewesen? durch

den

wo Liebe und

Aber sie sind an die Scholle gebunden.

Ihre Seufzer dringen nicht in die Heimath und die segelnden

Wolken sagen drüben nicht, was sie geschaut.

Höchstens dringt

eine Bitte um Hülfe in das ferne Vaterland. Hülfe darauf hin kommen?

Aber wird die

Ach, sie müssen warten bis ein be­

freundetes Schiff sie in die Heimath zurückführt.

Aehnlich, wie

ihre Stimmung, ist die des Christen, wenn er die Bitte auf seine Lippen nimmt: „Erlöse uns von dem Uebel".

Die Scholle, an

die er hienieden gebunden, ach, sie bringt ihm so viel bitteres

Herzeleid; er weiß, es gibt eine bessere Heimath, wo kein Tod

mehr ist, werden').

noch Leid,

noch Geschrei,

noch Schmerzen mehr sein

Aber er muß warten bis Gottes Engel sich ihm naht,

um zu lichteren Höhen ihn heimzuführen. J) Offenbarung Johannis 21, 4.

Erlösung!

nicht wahr?

111 wo man die sucht, da leidet man unter Ketten und Banden, da

sehnt man sich nach dem Augenblick, wo dieselben fallen werden und die Brust, statt Kerkerluft zu athmen, in Gottes freier Natur

Wer unter uns kennt denn

wieder aufleben kann.

die Ketten

nicht, die centnerschwer an diese Endlichkeit uns fesseln?

Wer

hatte nie den Seufzer vernommen, den sie der Menschenbrust ent-

pressen: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?"

Aber, daß

eben der Rus nach Erlösung gen Himmel dringt, daß der Mensch

damit aussagt, droben seien jene Berge, von denen uns Hülfe

nahe,

daß dereinst eine Stunde

das zeugt von der Hoffnung,

kommt, wo die Bande der Endlichkeit fallen und die Seele, ihrer

Ketten ledig, in einer besseren Welt wieder aufathmen darf.

So

klingt denn in der letzten Bitte des Vaterunsers entschieden ein

Doppeltes

der höchste Nothschrei

zusammen,

Hoffnung der Seele.

und

die

seligste

Doch, wer unter uns wüßte nicht,

wie

aber

der

beides wohl seine

Berechtigung

Läuterung bedarf.

Der Nothruf darf gen Himmel dringen zu

hat,

doch

gar sehr

dem, der da spricht: Rufe mich an in der Noth, so will ich dich

erretten, so sollst du mich preisen').

Die Hoffnung auf Erlösung

hat ihr gutes Recht, und nicht umsonst preisen wir den Gott, der

uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehnng Jesu Christi von den Todten,

zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unver-

welklichen Erbe, das behalten wird jeder

Nothschrei,

nicht

jede

im Himmels.

Hoffnung

sind

Aber nicht

christlich.

Beide

empfangen durch den Erlöser eine ganz besondere Richtung; und so sei denn das heute unser Thema:

Wie in der siebenten Bitte Nothruf und Hoffnung

zusammenklingen.

Wir fragen dabei:

1. was für ein Nothruf ist es? 2. was für eine Hoffnung ist es? -) Psalm 50, 15. -) 1. Petri 1, 3 u. 4.

112 1. Erlösung! wer hätte diesen Ruf hienieden niemals gehört?

Er erreicht unser Ohr aus so manchem Krankenzimmer, wo das matte Auge bei diesem Worte gen Himmel blickt und die magere

Hand zum Gebet sich faltet.

Wir vernehmen ihn, wo Menschen

am Grabe ihrer Lieben stehen und es als eine Last empfinden,

daß sie hier zurückbleiben müssen, während jene gehen. Erlösung!

das ist der Nothruf, der klingt.

ihn.

durch die ganze Menschheit hindurch­

Pilgere gen Osten, wo die Sonne aufgeht! — du hörst Wandere gen Westen, wo sie untergeht! — du hörst ihn

nicht minder.

Soweit aus Erden des Forschers Fuß gedrungen,

soweit unser Auge zurückzublicken vermag auf die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte, überall vernehmen wir den Seufzer über die Leiden, über die Uebel, über die Nichtigkeit des Erdenlebens. Nimmer geboren zu sein ist Erdgebornen das Beste; Nimmer mit Augen des Lichts strahlende Fackel zu sehn,

Oder geboren sogleich zu des Hades Thoren zu wandeln

Hoch von der Erde bedeckt liegend im hüllenden Grab;

so klagt schon ein alter Dichter.

Alles ist eitel'): so seufzt schon

der fromme Israelit in ernster Zeit, und einer unserer deutschen Dichter singt: Die Herrlichkeit der Erden

Muß Staub und Asche werden, Kein Fels, kein Erz bleibt stehn. Das, was uns hier ergötzet, Was man als ewig schätzet, Muß wie ein leichter Traum vergehn.

Ja, jeder vorübergehende Leichenzug, jeder Gang auf den Fried­ hof, jeder herankommende Herbst, wo das Laub welk zur Erde

fällt, ruft die Wehmuth in uns wach, ruft dem Herzen zu: Warte nur balde,

Ruhest auch du!

*) Prediger Salomonis 1, 2.

113 Wohl gibt es ja der Erdenkinder genug, denen diese Klage zu melancholisch, dieser Seufzer zu schwermüthig erscheint. Lächeln­

den Auges ins Leben hineinschauend, von Genuß nur zu Genuß hineilend glauben sie,

daß das Erdenleben manchen Augenblick

uns bringe, zu dem wir sprechen möchten: Verweile doch, du bist

so schön.

Sie haben die Menschen gesehen bei Spiel und Tanz,

aber nicht seufzend auf ihrem Schmerzenslager.

Sie haben sie

gesehen, wie sie ihren Genüssen nachgehen und schwelgen im Ueberfluß, aber auf die Stätten des Mangels und der Entbehrung haben

sie nur

einen

flüchtigen Blick geworfen.

Sie

durch

sind

die

Gassen gewandert und haben die prächtigen Bauten bewundert,

aber was hinter den Wänden vor sich geht, das haben sie nicht beobachtet.

Sie haben die Schönheit der Natur in Feld und

Fluren angestaunt, aber kein Auge gehabt für den Wurm, der an

der Blüte schon nagt.

Sie haben ein Wohlgefallen am Gesang

der Vögel und am Spiel der Heerden, aber für das Thier, das

unter

ihren Fußtritten

sich

krümmt,

haben

sie

keinen

Blick.

Gleichen sie nicht dem Kinde, das den Kirchhof so schön findet

wegen all seiner Blumen und schattenden Bäume,

das darum

lächelnden Auges eintritt, aber nicht weiß, was die grünen Rasen alles decken? Gleichen sie nicht dem Menschen, der von der Höhe

des Berges ins Thal hinabschaut und vom Totaleindruck über­

wältigt vergißt,

daß die Glockenklänge,

die sein Ohr erreichen

und so harmonisch ihm scheinen, vielleicht die Grabesglocken sind, die einen Wanderer begleiten auf seinem letzten Wege?

Gleichen

sie nicht dem stillen Beobachter, der an einem schönen Sommer­ abend, am Meeresufer sitzend, ein Schiff über den Wasserspiegel

dahingleiten sieht?

Wie wird dem das Herz so weit bei dem

Gedanken: hier fährt das Schiff hinaus in die weite, weite Welt; auch an ferner Küste wohnen glückliche Menschenkinder, die dieser

Schöpfung sich freuen und ihr Leben genießen.

er nicht vergessen,

Und doch sollte

wie das jetzt so friedliche Meer schon so oft­

mals sich empört, wie das jetzt so friedlich dahinziehende Schiff noch mit seiner Tücke zu kämpfen haben wird, wie auch drüben,

114 auf

fernem Eiland,

das

so lieblich

die Fantasie

sich ausmalt,

Menschenherzen seufzen unter der Erde Leid. Ich höre einen Gegner sagen: Ach, das Leid ist da, ich will

es ja nicht leugnen; es mag auch in höherem Maße vorhanden

sein, als ich es kennen gelernt habe; denken, so lange es mir gut geht?

aber wozu soll ich daran

Genug, wenn der Andere das

Kaltes, selbstsüchtiges Erdenkind, das

Unabwendbare tragen muß. du nur an dich selbst denkst!

Was würdest du sagen, wenn dein

Nachbar spielte und jubelte, während du im Todeskampfe rängest?

Ist es aber schon zu viel gefordert, wenn das Gebot der Menschen­

liebe von dir einen ernsten Blick des Mitleids, ein Nachsinnen über fremdes Leid verlangt, dann vergiß wenigstens nicht, daß du

demselben Geschlechte angehörst, wie jene Leidenden, und daß täg­

lich, ja stündlich ihre Leiden auch über dich hereinbrechen können. Ja, wenn Gott von Zeit zu Zeit auf unserm Lebenswege an den

Stätten des Leides uns vorüberziehen läßt,

wenn er durch das

Mitleid, welches in uns sich regt, noch länger nachher mit unsern Gedanken uns bei ihnen verweilen läßt, liegt dann nicht eigentlich ein Wink darin, sollen?

daß wir den Blick auf Anderer Uebel richten

Und wen hälft du denn im letzten Grunde für klüger?

Den, der der Wirklichkeit gegenüber seine Augen absichtlich ver­ schließt,

oder

den,

der

offnen

Auges

ihr

entgegentritt,

den,

der abwartet bis die Uebel des Lebens, als eine ihm völlig un­ bekannte Macht, plötzlich

seine Pläne durchkreuzen und mit un­

widerstehlicher Gewalt ihn zermalmen, oder den, der sie, als den

stets drohenden Feind, nie aus dem Auge verliert, sich von ihnen nicht überrumpeln läßt und zum Kampf wider sie sich rechtzeitig übt und stärkt?

Seele, verschließ' auch du dein Auge nicht gegen die Uebel

des Erdenlebens, vereine auch du deine Bitte mit der der übrigen flehenden Menschheit und sprich:

„Erlöse uns von dem Uebel".

Der Meister hat diese Bitte auf seine Lippen genommen, als er in voller Manneskraft stand, als er, eben in seinem Berufe auf­ getreten, noch

die Volksschaaren in Begeisterung um

sammelt sah und der Kreuzestod ihm noch ferne lag.

sich

ver­

Aber er

115 hat schon an manchem Krankenlager, an manchem Sterbebett ge­

standen,

er hat schon

in

den Volksmassen, die

und Beladenen gefunden,

manchen Mühseligen

ihn umgaben,

und das alles,

was er so an Leid und Uebel gesehen, macht er zur eignen Last

und trägt sie hin vor Gottes Thron. Aber,

Christen.

m. L.,

wir

die

beten

Worte

unserer

Bitte

als

Kann da das unsere Absicht sein, in derselben all all jener Bitterkeit freien Lauf zu lassen,

jenem Unmuth,

mit

denen das Weltkind wider das Uebel sich auflehnt und murrt? Wissen wir ja doch, daß das Leid seine Bedeutung hat als Strafe für die Sünde,

Himmel, daß

als Zuchtruthe

es

haftende Erdenkind

in

nothwendig ist,

an

der Hand

um

die Heimath

zu

das

des Vaters

im

nur am Endlichen

erinnern

und von der

Eitelkeit der Welt abzuziehen, kurz daß das Leid und sein Höhe­ punkt, der Tod, nicht da sein würden, wenn es keine Sünde gäbe.

Sagt ja doch schon St. Paulus: der Tod ist der Sünde Sold*). Heißt es ja doch schon unmittelbar nach dem ersten Sündenfall:

Verflucht sei der Acker um des Menschen willen;

Diesteln soll er tragen2).

Dornen und

Wird denn aber der verständige Mann

die Züchtigung des Vaters verwünschen, mit der dieser einst dem Knaben seine Unlauterkeit,

seine hochfahrenden Gedanken,

Trägheit auszutreiben suchte?

seine

Was uns, als Christen, schmerzt,

muß vor Allem dies sein, daß das Uebel eben noch nothwendig ist, daß es uns daran erinnert, wie weit die Menschheit noch vom

Vaterhause entfernt ist, daß die Sünde, der Leute Verderben, noch so viel Opfer fordert.

Ja, nur wenn wir dies im Auge behalten,

dürfen wir überhaupt an der UeberseHung unsers Luther festhalten.

Denn nach dem griechischen Text hat Jesus gebetet um Erlösung von dem Bösen d. h. der Macht des Satans, auf dessen Ein­

fluß die Schrift eben alles Uebel, sowohl das leibliche, wie das sittliche, zurückführt und nicht, wie unseres Luthers Übersetzung

schließen lassen könnte, um Erlösung vom leiblichen Uebel als

solchem.

*) Römer 6, 23. 2) 1. Moses 3, 17.

116 Seufze immerhin unter der Last des Erdenleids! — du darfst

es und sollst es;

bitte deinen Vater im Himmel um Erlösung

von demselben! — es ist dir ja der Zutritt gewährt.

Aber ver­

giß nicht hinzuzufügen: Herr, befrei' uns von allen Banden des

Bösen, um dessentwillen das Leid noch über mich kommt! Doch, wie gern entzieht sich dem das Menschenherz! Banden

will

Leidenschaften, ihn

wenig.

der Mörder

befreit

seiner Habgier,

Vom

Joch

einer

sein,

aber

Aus des Kerkers die Bande seiner

seiner Gottvergefsenheit kümmern

unglücklichen

Ehe

hören

wir

Tausende seufzen, aber das Joch der eigenen Selbstsucht, der Ge­ nußsucht zu brechen, haben sie kein Verlangen.

Die Anfeindung

der Menschen ist das, worüber unter uns einer nach dem andern klagt,

aber den

eigenen Starrsinn,

das

persönliche

unliebens­

würdige Wesen zu ändern, kommt uns nicht in den Sinn.

Ein

herbes Krankenlager ist dasjenige, was in manchen Häusern die Hände zum Sichfalten zwingt, aber die Bitte um Befreiung von der Sinnlichkeit, die so oft des Krankenlagers letzter Grund ist, wird dem Menschen zu schwer.

Entzündet sich des Krieges Fackel,

verheeren feindliche Schaaren die Aecker, bluten des Vaterlandes

Kinder an empfangenen Wunden, bangt daheim die Mutter um ihren Sohn, dann geht die Bitte um Frieden hinauf zum Vater. Aber wird gleichzeitig gebetet, um Befreiung von den Sünden,

die ein Volk groß gezogen, um Befreiung von der Eitelkeit, dem Hochmuth, der Selbstüberhebung, die andere Völker reizten? Wird das Treiben der politischen und kirchlichen Parteien im Vaterlande

immer unerträglicher, legt es die besten Kräfte lahm, macht es

den vorurtheilsfreien Mann mißmuthig, dann erwacht der Wunsch, daß das Uebel schwinde. Aber bittet man dabei auch um Befreiung

von persönlicher Leidenschaftlichkeit, von jenem Bann, der uns blind macht

auch

für die

Vorzüge

gegnerischer Ansichten? Thörichte

Menschen, die einen Frieden wollen ohne Kampf, eine Krone

ohne Kreuz, die, den Kindern gleich, nur fragen nach dem, was

sie gern möchten, aber nicht nach dem, was ihnen gut ist, die da meinen, auch ihr Gott müsse denken, wie sie und einem Vater ähnlich sein, der sich bemüht, seinem Kinde das Leben nur an-

117 genehm zu machen, ob es auch dadurch verzärtelt, in seinem Trotz

bestärkt, in seinem Eigensinn befestigt wird! Seufze immerhin unter der Last, die auf der ganzen Mensch­

heit liegt, sehn' dich mit Millionen nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde, hör' wie auch die unvernünftige Creatur mit leidet und wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes').

Aber vergiß nicht, Befreiung von der Sünde ist das, was vorauf­

gehen muß.

Würde nicht, wenn wirklich eine neue Welt uns

würde, aber die Sünde bliebe, mit dieser zugleich auch das Leid wieder

in dieselbe hineingetragen werden müssen?

Sehn' dich

immerhin seufzend nach dem Augenblick, wo deine Auflösung naht, wo du deine gebrechliche Hütte ablegen*2) und zu lichtem Höhen

Auch der große Apostel Paulus

dich emporschwingen darfst!



hatte ja Lust

und

abzuscheiden

bei Christo

zu fein3) — aber

bitt' vor Allem, daß du dann erlöst sein mögest von der Sünde; sie würde sonst deine Füße dir so sehr beschweren, daß sie die

Heimkehr dir unmöglich machte.

Denn eitel ist die Hoffnung,

die den Tod schon als solchen für eine Erlösung hält, wohl gar im selbstgesuchten Tode den Befreier von allen Leiden und Qualen

erblickt.

2. Erlösung!

wer könnte dieses Wort hören, ohne an den zu

denken, den wir als unsern Erlöser verehren, der selbst von sich sagt, daß er nicht gekommen sei, um sich dienen zu lassen, sondem

um zu dienen und sein Leben zu geben zu einer Erlösung für

vieles.

Thörichte Herzen Israels, die nur dann als ihren Er­

löser ihn anerkennen wollten, wenn er Zeichen und Wunder ihnen

gäbe! Ihr Erlöser sollte ihnen ein mächtiger irdischer König sein, welcher den Druck Roms dem geknechteten Volk von seinen Schultern

1) 2) 3) ■*)

Römer 8, 19 u. 22. 2. Petri 1, 14. Philipper 1, 23. Matthäus 20, 28.

118 nähme.

Ihr Erlöser sollte von den irdischen Banden sie befreien,

unter denen sie seufzten. gesagt:

Hatte ja doch auch der Prophet Jesaias

„Alsdann werden der Blinden Augen aufgethan werden

und der Tauben Ohren geöffnet werden.

Alsdann werden die

Lahmen löcken wie ein Hirsch und der Stummen Zunge wird lobfagen1)". * 3 4 War ja doch auch die Weissagung zu mächtig ertönt

von einer einstigen äußeren Herrlichkeit Israels,

wo die Heiden

kommen und in Jerusalem den Mittelpunkt alles Lebens suchen würden.

Wie vorwurfsvoll klingt dem gegenüber des Meisters

Wörter

„das ist eine arge Art, sie begehret ein Zeichen und es

wird ihr kein Zeichen gegeben werden, als nur das Zeichen des

Propheten Jona".

Wie ernst und eindringlich bittet er, nicht an

ihm irre zu werden, wenn die äußern Veränderungen, auf welche

man hofft, nicht eintreten.

Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert;

spricht er zum Täufer Johannes. lenkt er den Blick.

Fort von den äußern Leiden

Hinein ins eigene Herz soll sein Volk schauen.

Auf sein religiös-sittliches Leben will er einwirken; dadurch hofft

er ein Erlöser zu werden.

„Die Blinden sehen und die Lahmen

gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören,

die

Todten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt?),

so läßt er dem Täufer sagen, und um dieser Vorgänge willen soll er ihn für den Erlöser seines Volkes halten.

Aber es sind die

geistig Blinden, die nicht sehen können, was zu ihrem Frieden dient, denen die Decke von ihren Augen genommen wird; es sind die geistig Lahmen gemeint, die, bisher durch ihre Schuld gelähmt,

auf dem Wege des Lebens weiter zu wandeln, jetzt, von der Schuld

befreit, nach dem Worte leben können:

„Ich vergesse, was dahinten

ist und strecke mich zu dem, was da vorne ist und jage nach dem

vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu*)", es ist an die vom Aussatz

der Sünde Befallenen gedacht, die wieder rein werden; *) 2) 3) 4)

Jesaias 35, 5 u. 6. Lucas 11, 29 u. 30. Matthäus 11, 5 u. 6. Philipper 3, 13 u. 14.

es sind

119 die geistig Tauben, denen das Ohr für das Wort Gottes wieder

geöffnet wird, so daß sie ausrufen müssen: „Er predigt gewaltig

es sind die geistig Todten,

und nicht wie die Schriftgelehrten

die wieder zu leben beginnen; es sind die geistig Armen, denen das Evangelium gepredigt wird; denn ihrer ist ja

Meister sagt — das Himmelreichs.



wie der

O, selig, wen so die Hoff­

nung beseelt, daß die geistigen Mächte, die von Jesu ausgingen,

der Menschheit zur Erlösung werden! Befremden mag uns wohl, daß er, der sich selbst den Er­

löser der Welt nennt, hier die Bitte gen Himmel sendet: „Erlöse

uns von dem Uebel".

Bittet er damit etwa erst die erlösenden

Kräfte des Himmels hernieder in sein Herz? deshalb jedenfalls

nicht, weil die Bande der Sünde und Schuld jemals ihm selbst zur Fessel werden könnten, oder diese Endlichkeit jemals im Stande

wäre, ihn von der Erfüllung des göttlichen Willens abzuziehen.

Aber auch deshalb nicht, weil er sich etwa noch nicht genügend ausgerüstet geglaubt hätte mit den Mächten, die allein die Menschen

erlösen können.

Er selbst weiß sich ja sünd- und schuldlos und

selbst die Stürme Gethsemanes überwindet er, weil keine Gewalt der Erde den Himmelsflug

seiner Seele zu hemmen vermag.

Was ihm hinderlich im Wege steht, das ist die Herzenshärtigkeit

der Menschen, das ist ihr Weltsinn, ihre Genußsucht, ihre Geistes­

trägheit.

Sie sind es, an denen das Werk der Erlösung noch

scheitern könnte, die von Jahrhundert zu Jahrhundert es aufhalten

werden.

Kreuz!

Wie lange noch, dann droht ja schon von dorther das

Wie viel steinigtet Boden,

wie viel Dornen, wie viel

hart getretene Wege gibt es noch in der Welt, wo der Same des göttlichen Worts verdorren, erstickt werden und von den Vorüber­ gehenden vertreten werden muß!

Wie bald soll sich zeigen, daß

von den Volksmassen, die um ihn versammelt sind, viele hinter sich gehen, daß sie wetterwendisch ihn verlassen, wie sie neugierig

gekommen, daß die eigenen Jünger feige fliehen, der eine ihn ver-

9 Matthäus 7, 29. 2) Matthäus 5, 3.

120 Wie viel Scheiterhaufen,

leugnen, der andere ihn verrathen kann!

wie viel Glaubenskämpfe, wie viel Religionskriege drohen noch

von

Wie

ferne!

viel

Erdenleid muß

Folge

in

noch

dessen

kommen, wie viel Seufzer müssen noch gen Himmel steigen! — Wir können

nicht zweifeln,

Allen fleht.

Er bittet, daß der Vater im Himmel Ströme seines

worum der Meister angesichts des

Geistes ausgehen lasse über die ganze Welt, daß er den Wider­

stand der Erdenkinder breche, daß er, der die Herzen der Menschen

lenkt, wie Wasserbäche, sie dahinführen möge, seine Erlösung zu O, selig, wen die Hoffnung beseelt,

ergreifen.

daß auf

diese

Weise aus Himmelshöhen eine Erlösung uns naht!

Und Seele, was hoffst denn du, wenn du als Christ betest: „Erlöse uns von dem Uebel"?

Dich stellt diese Bitte von selbst

vor den Gekreuzigten hin in der Hoffnung, daß sein Werk auch

uns zu Gute kommen werde.

Du wünschest, daß er dich befreie

von Sünde und Schuld, daß er dein Herz zugänglich mache für

seine Mahnungen und seine Weisungen, daß seine Worte eine Macht daß sein heiliges Vorbild dir als das

werden über dein Herz,

Höchste deiner Ziele vor Augen stehe und daß er dir Kraft gebe demselben nachzujagen.

Du wünschest, daß auch um dich her sein

Geist mächtig werde, daß Zucht und Sitte wieder einkehren in die einzelnen Häuser unseres Volkes, daß Aberglaube und Unglaube, Heuchelschein und Spötterei immer mehr

Sohn unseres Vaterlandes

Christ zu sein.

jeder

schwinden und

seine Mannesehre

darin

suche,

ein

Du hoffst, daß so die Fesseln fallen, welche dich

gebunden halten, daß es besser werde um dich, wenn es besser wird in dir.

„Wer in Unschuld lebt und von Frevel rein", von dem sagt schon der

heidnische Dichter,

daß

er kühn den Gefahren trotzen

könne, und im Sprichwort heißt es: Ein gut Gewissen ist ein

sanftes Ruhekissen.

Wie viel mehr muß die Last der Leiden

schwinden für den, der in Christo Vergebung für seine Sünden empfangen hat, für den, der da weiß, er habe über sich nicht

mehr einen Gott, der ihm zürne, sondern einen Vater, der nur

sein

Bestes

wolle.

Das

was

dem

Leide,

dem

Tode

seinen

121 Stachel verleiht, das ist ja hinweggenommen durch Gottes Gnade.

Stehe auf, hebe dein Bette auf und gehe heim, spricht der Meister zu jenem Gichtbrüchigen, nachdem er zuvor gesagt: „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben"').

Und verspüren

wir nicht etwas Aehnliches heut zu Tage noch an jedem Kranken­

bett? Wo der Heiland hinangetreten ist an dasselbe, wo die Seele die Gewißheit gefunden, daß die Sünde vergeben ist, da richtet der Gebeugte sich wieder empor, da weiß er, der Weg, den Gott

ihn führt, ist sein Heimgang, ob die Leiden schwinden oder bleiben, da nimmt er getrost sein Krankenlager auf sich und trägt es bis

Gott es ihm abnimmt.

Ob je eine Stunde kommen wird, wo hienieden die Sünde überwunden, wo hienieden kein Leid mehr ist — wer unter uns

will's sagen? Aber wer unter uns kann leugnen, daß unendliches

Leid schwindet, je mehr der Bann der Sünde gebrochen wird? Alle selbst zugezogenen Leiden — wo würden sie sein? Alle Leiden,

die ein Mensch dem andern bereitet — wie bald wären sie dahin!

Und die Liebe, wie würde sie thätig sein an Krankenbetten, an den Stätten der Noth, so daß die Thränen abgewischt und die Seufzer

der Brust abgenommen würden!

Wie viel menschlicher würden

wir sein gegen die fühlende Creatur! Wie thätig wäre die Hand, wo es gälte,

die erkannten Gesetze der Natur uns dienstbar zu

machen, Unheil zu verhüten und wieder gut zu machen! — Gewiß ein Wink für uns in Betreff einer bessern Ewigkeit.

Sie wird

zu einer seligen für uns werden, wenn wir von hinnen scheiden,

losgelöst von der Sünde, versöhnt mit dem Vater durch Christum.

Ja, nnsere

Seligkeit wird eben darin bestehen, nur des Vaters

Willen zu thun, nur zu sein in dem, das unsers Vaters ist. Amen.

') Matthäus 9, 2 ff.

Der Gebetsschluß. Matthäus 6, 13.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Amen! wie oft kam seit den Jahren unserer Kindheit das Wort über unsere Lippen! wie oft schloß es die von uns gesprochenen

Gebete ab!

Ob wir mit der Gemeinde im Gotteshause beteten,

oder daheim im stillen Kämmerlein, das Amen fehlte nie.

Denn so

haben wir es ja bei unserer christlichen Erziehung gelernt.

Aber,

m. L., war uns auch immer gegenwärtig, was das „Amen" soll oder sprachen wir es gleichgültig hin?

Glichen wir vielleicht, als

es über unsere Lippen kam, jenen Kindern, die ihr gelerntes Gebet hersagen und in das Amen dann wohl ihre ganze Freude hinein­

legen, daß sie es ohne Anstoß zu Ende gebracht?

Denkt an die

Gebete, die ihr sprächet, wenn die müden Augen am Abend zu­

zufallen drohten oder wenn ihr am Morgen erwachtet und die Pflichten und Genüsse des Tages euch winkten, die ihr sprächet bei Tisch, wenn der Hunger sich einstellte und die Speisen, wohl

bereitet, vor euch standen!

O, wie klang da das Amen?

Hörte

man es demselben an, daß die erklärenden Worte Luthers euch vor Augen standen:

also

geschehen"?

anderes

„Amen! Amen! das heißt: Ja, ja, es soll

Mit dem „Amen",

heißt als „Wahrlich"

welches

eigentlich

nichts

oder „Gewiß", bekräftigt ja der

fromme Beter, es sei seine heilige Ueberzeugung, daß sein Gebet droben erhört werde bei Gott, daß er gleichsam in seiner Seele

eine Stimme Gottes vernehme, welche ihm sage: Ja, ja, es soll

123 also geschehen.

In dem Amen findet ja jene Ruhe, jener Friede

des Herzens einen Ausdruck, der im rechten Gebet desselben sich bemächtigen muß. Meereswoge

Hast du je beobachtet, wie die heranbrausende

an die Felsen des Ufers schlägt?

Gewaltig naht

sie sich zuerst, wenn bei plötzlichem Ungewitter der Sturmwind

die Meerestiefe

Aber durch den jedesmaligen Anprall

aufregt.

an den Felsen wird sie schwächer und schwächer, bis in fried­

licher Abendstille

der glatte Meeresspiegel wieder hergestellt ist.

Sie ist das Bild des menschlichen Gebets.

Gewaltig dringt es oft

aus der Menschenbrust gen Himmel, gewaltig schlägt es an an

Aber je öfter der Betende droben

die Thüren des Vaterhauses. angepocht desto

mehr

köstlicher Friede

die

legen sich die Wogen Seele

erfüllt.

Siehe,

des Herzens,

bis

„Amen"

be­

das

zeichnet dann die Stille nach dem Sturm, die Ruhe nach dem Kampf.

Wohl hat man

gesagt,

daß Jesus die Schlußworte

Vaterunsers gar nicht gesprochen habe.

für einen Zusatz

der

des

Man hat gemeint, sie

alten Kirche erklären zu müssen,

die mit

ähnlichen Lobpreisungen Gottes und einem daran sich anschließenden

„Amen" ihre Gebete zu beenden pflegte.

Wir werden den Streit

der Meinungen hier nicht zur Entscheidung bringen.

schlag gehört der Wissenschaft.

als

würde

etwas fehlen,

wenn

Der Aus­

Aber fast will es mir scheinen,

das Gebet des Herrn mit der

siebenten Bitte schlösse, als könnte das Wort „Uebel" nicht das

letzte Wort in demselben sein, als müßte der schwerste Seufzer

der Seele erst aufgehoben werden durch einen Lobgesang, wie er aus einer bessern Welt zur Ehre Gottes ertönt.

So viel ist aber

jedenfalls sicher, daß die Lobpreisung Gottes mit dem Amen am Schluß mit Nichten den Gedanken des Herrn zuwider ist.

Müßte

doch eigentlich jedes Gebet in einen Lobpreis des göttlichen Namens ausklingen.

Mag daher immerhin vielleicht der Schluß ein späterer

Zusatz sein,

sicher verdankt er dann doch seinen Ursprung dem

Geist des Meisters, der in der Gemeinde lebte. Laßt uns nun dergestalt in die Betrachtung des Vaterunser­

schlusses eintreten, daß wir mit einander fragen:

124 Was

gibt

der

Seele

jene Zuversicht,

freudig ihr „Amen" spricht?

in

der

sie

Die Antwort lautet: die

Gewißheit, daß 1. Gottes das Reich, 2. Gottes die Kraft, 3. Gottes die Herrlichkeit ist.

1.

Dein ist das Reich! spricht der Erlöser.

Dies Wort läßt

uns zunächst hineinschauen in das unermeßliche Weltall, wo die Sterne sich bewegen nach unwandelbaren Gesetzen, in das Weltall

von dem diese unsere Erde nur ein kleiner, unscheinbarer Theil ist.

Wer ist es, so fragt unser Herz, der den Weltkörpern allen

ihre Bahnen vorgeschrieben, so daß sie in ihrem gewaltigen Fluge durch den Weltenraum nicht auf einander platzen und sich gegen­

seitig zertrümmern?

Wer ist es, so fragen wir weiter, der unsere

Erde alltäglich um ihre Achse sich drehen läßt, so daß Tag und

Nacht gleichmäßig

mit

einander wechseln,

und die Schöpfung

Gottes bald, sanftem Schlummer sich hingebend, Ruhe und Er­

quickung sucht, bald, vom Lichte der Sonne beschienen, munter sich

regt — das Vieh auf dem Felde, das Vöglein auf den Bäumen und der Mensch in seinem Tagewerk?

Wer ist es, der da gibt

Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht? — Weß Herz hätte die Antwort nicht vernommen: „Es ist Gott, der in dem allen waltet und wirkt"?

Dein ist das Reich! spricht der Erlöser.

Dies Wort läßt

uns aber speciell das Menschenleben überblicken, wie es hienieden sich abspielt.

Wer ist es, so fragt unser Herz, der die

Geschichte der Völker bestimmt, der sie erhebt und wieder in den

Staub hinabwirft?

Wer ist es, der dafür sorgt, daß trotz aller

menschlichen Leidenschaften, trotz der Kämpfe, in denen die Nationen

im Schlachtengetümmel einander gegenüber stehen, die Weltgeschichte

ihre Ziele verfolgt und schließlich erreicht? Wer ist es, der die Ge­

schicke auch des einzelnen Menschen lenkt, der ihn werden läßt und

125 gehen heißt, wenn seine Stunde gekommen, auf den wir bauen,

wenn es scheint, als ob die Macht der Ereignisse, die rohe Ge­ walt der Natur oder der Menschen uns zermalmen könnte? —

Weß Herz hätte die Antwort nicht vernommen: „Es ist Gott, der in dem allen waltet und wirkt"?

Dein ist das Reich! spricht der Erlöser.

Dies Wort läßt

uns vor allem denken an das Reich, das er selbst auf Erden zu gründen gekommen, das Reich, wo Freude und Friede, Liebe und Hingabe, Gnade und Seligkeit, Sanftmuth und Geduld, Glaube

und Hoffnung herrschen.

Wer ist es, so fragt unser Herz, der

dieses Reich gegründet?

Ist es eine Erfindung des menschlichen

Geistes?

Im Gegentheil.

„Das

kein Auge

gesehen und kein

Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das

hat Gott bereitet denen, die ihn lieben"').

Gott ist es, der dies

Reich in seinem Sohne aus die Erde hernieder gebracht hat, Gott ist es, der schirmend seine Hand über diesem Reich gehalten, so

daß es in allen Stürmen der Jahrhunderte nicht hat untergehen

können, sondern immer weiter sich hat ausbreiten müssen. Wenn nun aber

dies

„dein ist das Reich" am Schluß

unserer Gebete erscheint, wie sollte es dort dann nicht seine Stelle haben, um der Seele jene Gewißheit zu geben, in der sie freudig

ihr „Amen" spricht?

Es sagt ihr ja, daß ihre Gebete nicht hin­

eintönen in einen unermeßlichen Weltenraum, wo kein Ohr sie hörte, wo nur der blinde Zufall herrschte, nur Kraft, aber keine

Vernunft.

Ist Gottes das Reich, dann geht es unsern Gebeten

ja nicht wie dem Schrei eines hülflosen, von entmenschten Eltern

auf

einsamer Bergeshöhe ausgesetzten Kindes.

Das ruft wohl

laut nach Vater und Mutter; das meint wohl zeitweilig im Echo die Stimme einer liebenden Seele zu hören, um dann schließlich

doch

zu erkennen,

dunkle Wald

daß die nackten Felsen nicht hören und der

keine Hülfe gewährt.

Endlich wird der Nothruf

immer schwächer und schwächer, bis die Nacht kommt und dem

geängsteten

Leben

ein frühes

') 1. Corinther 2, 9.

Ende bereitet.

Des

Christen

126 Gebet dringt an das Herz dessen, der Himmel und Erde regieret, der in und über der Welt zu suchen ist.

Der Christ sagt sich

darum auch: Der Wolken, Lust und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn,

Der wird auch Wege finden Da dein Fuß gehen kann.

Der Christ sagt sich: Was ist die Macht des Blitzstrahles, der des Menschen Hab und Gut vernichtet, was des Sturmes

Brausen, was die Macht der Gewässer, was selbst die unwider­

stehliche Gewalt des Todes gegenüber seiner Allmacht? spricht, so geschieht es; so er gebietet, so steht es ba1).

So er Sein ist

ja das Reich und nichts vermag ihm sein Regiment zu stören.

Ja, wenn es zeitweilig scheint,

als ob Menschen dasselbe ihm

streitig machen könnten, als ob sie in ihrem Freiheitstaumel gegen seinen heiligen Willen sich aufzulehnen vermöchten, als ob darunter

sein Kind leiden, als ob es jenen herzlos preisgegeben werden

ob dadurch sein heiliger Wille aufgehalten werden

müßte,

als

könnte,

dann bleibt ihm doch das Reich, und gibt dann nicht

auch der Gedanke uns Hoffnung auf Erhörung unsers Gebets,

gibt

er nicht

ein freudig Amen uns auf unsere Lippen?

Es

gleicht ja unser Gebet nicht dem Nothruf eines Hülflosen, der in den volksbelebten, lärmerfüllten Gassen unserer Stadt durch einen Un­

fall vernichtet wird, weil die Vorübergehenden ihn nicht rufen hören und sein Nothruf im Lärm der Gassen untergeht.

Kein noch so

lautes Toben der Gottentfremdeten vermag den stillen Seufzer der frommen Seele aufzuhalten, zu übertönen; er dringt doch gen

Himmel.

Gott hört ihn und wirft sein Auge auf seine Wider­

sacher, wie auf seine Kinder, um jene zu hemmen und diese zu

retten, wenn seine Zeit gekommen.

Hat er nicht Pharaos Heer­

scharen vernichtet im Schilfmeer, Israel, sein Volk, aus dem Knechts­ hause Aegyptens erlöst und ins Land seiner Väter geführt?

Hat

er nicht Herodes Mordplan verhindert und seinen Sohn durch die

i) Psalm 33, 9.

127 Flucht nach Aegypten gerettet?

Jahrzehnt

einem

eines

deutsches Volk erhöht?

Hat er nicht noch vor reichlich

Gewaltigen Thron

gestürzt und

unser

Keine Bitte um den Sieg der Wahrheit,

um das Fortschreiten der Liebe, um Vernichtung des Heuchelscheins, um Wachsthum im Glauben,

um Freudigkeit in der Nachfolge

Christi, kurz um den Sieg des Guten und den Untergang des Bösen kann droben verschlossene Thüren finden.

Und wenn nun

erst der Glaube festgegründet ist, daß Gott jenes Reiches König

ist, welches Jesus auf Erden gegründet, zu dem er die Mühseligen und Beladenen gerufen, in dem auch der Geringste unter uns auf

Frieden und Seligkeit hoffen darf, dann sagen wir uns: Keine Bitte, selbst nicht die um das irdische Gut, um das tägliche Brot, wie es in der vierten Bitte heißt, bleibt unerhört, es sei denn,

daß die Erfüllung unserer Bitte nicht zum Heil uns wäre.

Sie

findet ja im Himmel kein Herz, das kalt wäre gegen unsere Seufzer, das

vielleicht ein Gefallen hätte an unsern Leiden und Qualen.

Vorüber find ja für uns die Zeiten, wo man die Gottheit als eine Vielheit von Wesen sich dachte, die unter Umständen mit einander

im Kamps sich befanden, und den Menschen je nach ihrer Laune

heut günstig waren und morgen verfolgten.

Unser Gott ist ein

Gott, außer dem wir keinen andern verehren dürfen, ist zugleich

die Liebe, die nur der Erdenkinder Bestes will, ja selbst die nicht

von sich stößt, die, obwohl einst Sünder und tief gefallen, unter Reue und Buße im Glauben

zu seiner Gnade

ihre Zuflucht

nehmen.

2. der Erlöser nun aber dem Worte:

Wenn Reich"

noch

die weiteren hinzufügt:

„Dein ist das

„und die Kraft und die

Herrlichkeit", sagt er dann damit nicht eigentlich etwas aus, was nach

dem

ersten sich von selbst versteht?

Was wäre denn das

für ein Reich Gottes, das nicht von seiner Kraft zeugte, das nicht

wohin man blickte, von seiner Herrlichkeit redete?

Fällt ja doch

schon ein irdisches Reich zusammen, wenn es keine Kraft mehr

128 besitzt, mit der es den Feinden von außen Widerstand leisten und der Wirren im Innern Herr werden kann?

Pflegt ja doch schon

ein irdischer König, um sein Reich zu repräsentiren, sich in Herr­

lichkeit zu hüllen.

Demgemäß lesen wir denn auch in der Schrift

selbst: Das Reich Gottes stehet nicht in Worten sondern in Krafts.

Und doch hat der Erlöser seinen guten Grund, neben dem Reich auch noch Kraft und Herrlichkeit zu erwähnen. Zunächst die Kraft!

— Damit will er nicht etwa von Neuem daran erinnern, daß

wir einen Gott haben, aus dessen starker Hand Niemand uns zu reißen vermag, dem kein Widerstand zu gewaltig ist.

Er denkt viel­

mehr an eine Kraft, die im Menschen sich bethätigen, dem Menschen

gegeben

werden

soll

und

zugleich aus Himmelshöhen stammt.

Verheißt er ja doch auch selbst vor seinem Scheiden von der Welt seinen Jüngern, daß sie angethan werden sollen mit der Kraft

aus der Höhe3*).42 5 Weiß ja doch Paulus,

sein Apostel, zu reden

von der Kraft Gottes, die in den Schwachen mächtig ist3), von dem Glauben, der nicht ruht auf Menschen Weisheit, sondern auf Gottes

Krafts.

Was

gibt denn auch wohl dem Herzen eine größere

Sicherheit für Erhörung seiner Gebete, als eben dies, daß es weiß, der Gott, zu dem es betet, ist der, von welchem die Kraft uns

stammt.

Steht uns nicht das Bild des betenden Meisters vor

der Seele, der in Gethsemane sprach „Vater willst du, so nimm

diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille ge­

schehe"3).

Sagen wir uns nicht: Der Kelch des Todes ist zwar von

Gott nicht hinweggenommen; der Sohn Gottes hat ihn trinken müssen; aber dennoch ist sein Gebet erhört, weil ein Engel her­

nieder gekommen, ihn zu stärken, jener Engel des Friedens, der

seine Seele ruhen ließ in Gott und ihn kühn seinen Feinden ent­ gegenziehen hieß?

Grade je mehr wir Christen sind, desto mehr

lernen wir ja auch, auf manche Wünsche des eigenen Herzens zu ’) 2) 3) 4) 5)

1. Corinther 4, 20. Lucas 24, 49. 2. Corinther 12, 9. 1. Corinther 2, 5. Lucas 22, 42.

129 verzichten, uns zu sagen, daß das eigene Wohl dem des großen

Ganzen untergeordnet werden muß, daß manches, was wir so heiß

ersehnen,

vielleicht

schädlich erscheint.

in

Gottes weiterschauendem Auge als

Aber, wenn wir denn nur wissen, droben ist

die Kraft, von Gott wird sie uns herniedergesandt, dann wissen

wir damit zugleich auch, daß unser Gebet nicht umsonst gewesen, daß es nicht umsonst an die Himmelsthür gepocht, daß aus der­

selben Ströme des Segens hierniederfließen auf unser Herz.

Mag

denn auch das irdische Gut, das uns einst unentbehrlich schien und

worum wir deshalb so heiß flehten, uns vorenthalten werden, auch

das ist ja ein Segen, wenn die Kraft aus der Höhe uns Ent­

sagung, Zufriedenheit, Genügsamkeit lehrt.

Mag denn auch manch'

irdisches Leid, das zu gewaltig uns drückte, manch' herber Verlust, der zu tief uns schmerzte, manch' Krankenlager, auf dem wir der Verzweiflung nahe waren, mancher Todesfall, der uns aller Hülse

beraubte, auf unsere Bitte uns nicht erspart werden, auch das ist ja ein Segen, wenn die Kraft aus der Höhe uns sicher ist, die

mit Geduld uns das Leid tragen, mit Gottergebenheit bei den

schwersten Verlusten uns sprechen läßt: „Der Herr hat's gegeben,

der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobet", mit festem Glauben

uns

ausrüstet,

was er uns nicht tragen hilft.

daß Gott

uns

nichts

auflegt,

Mag denn auch mancher Erfolg

unserer Arbeit, um den wir baten, uns versagt werden, manches

Eintreten für hohe, heilige Ziele scheinbar ohne Nutzen bleiben, auch das ist ein Segen, wenn die Kraft aus der Höhe uns die

Gewißheit gibt, daß kein sittliches Thun umsonst ist, wenn diese

Gewißheit uns anspornt zu immer erneuter Arbeit, wo die Hand schon erlahmen wollte, wenn wir auf dem Sterbebette uns noch sagen können, die Wahrheit, für die wir gekämpft, das Gute wofür

wir gestritten, die Ideale, für die wir eingetreten — sie sind zwar noch nicht zum Siege gekommen, aber ein vorurtheilsfreieres Jahr­

hundert wird sie wieder aufnehmen, und so werden sie schließlich

doch verwirklicht werden. auf

die

dem auf

Scheiterhaufen

Was war es, was Johann Hus freudig

sterben

sein Gebet von oben

ließ?

Es

war

die

Krafts

hernieder kam in seine Seele. 9

130 Was war es, was Stephanum so freudig scheiden ließ unter den Steinwürfen seiner Feinde?

Es war die Kraft, die ihm ward

beim Anblick seines erhöhten Meisters.

Was war es, was den

Erlöser selbst das Opfer seines Todes freudig auf sich nehmen

Es war die Kraft, die die Gewißheit ihm gab: Es sei

ließ?

denn, daß das Weizenkom in die Erde falle und ersterbe, so bleibt

es allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte l).

Und

diese Kraft, sie kommt von oben, sie wird keinem auf sein Gebet

versagt.

Sagt ja doch der Meister selbst: So denn ihr, die ihr

doch arg seid, könnet euren Kindern gute Gaben geben, wieviel

mehr wird der Vater im Himmel den heiligen Geist geben Denen, die ihn bitten?2)3

3.

Zum Schluß lehrt das Gebet des Herrn uns noch Hinblicken auf das, was aller Welten Endzweck ist, was im Himmel, unter

vollkommenen Wesen, der stete Gegenstand der Bewunderung, der Anbetung ist,

die Herrlichkeit Gottes.

alle Herrlichkeit der Welt?

Was ist ihr gegenüber

„Alles Fleisch ist wie Gras und alle

Herrlichkeit der Menschen, wie des Grases Blume; das Gras ist

verdorrt und die Blume abgefallen"2), sagt die Schrift.

Wohl

zeigt dem Sohne Gottes der Versucher alle Reiche der Welt und

ihre Herrlichkeit.

Doch was ist sie ihm gegenüber der Herrlichkeit,

die er beim Vater gesehen?

Seinen Ruhm zu verkünden, seine

Ehre zu preisen, seine Herrlichkeit zu rühmen, dazu sind auch wir berufen.

Schon hienieden sollten wir's — aber unser Rühmen

verstummt so oft, weil die Räthsel und Widersprüche des Lebens

dasselbe ersticken.

Aber würde er wohl in diese Räthsel, diese

Widersprüche uns hineinstellen, wenn er nicht wüßte, daß wir dereinst, wenn wir mit klareren Augen zu schauen vermögen, auch um dieser

willen ihn preisen werden?

*) Johannes 12, 24. 2) Lucas 11, 13. 3) 1. Petri 1, 24.

Dem Kinde, das seiner Eltern be-

131 raubt, zur selbstständigen Verwaltung seines Erdenguts, zur selbst­ ständigen Bestimmung über sein Wohl und Wehe nicht fähig ist,

wird ein Vormund gesetzt. lassen,

nach

der es

Wird er dem Mündel die Giftbeere

als kleines Kindlein

die Hand ausstreckt?

Wird er es nachher wählen lassen, ob es zur Schule gehen will oder nicht?

Wird er es ungestraft hingehen lassen, wenn es die

Unwahrheit spricht oder nach Verbotenem seine Hand ausstreckt?

Ach,

er fürchtet nicht des Kindes Thränen, nicht des Knaben

augenblicklichen Haß.

Er weiß, es kommt eine Stunde, wo der

herangereiste Mann vor ihm steht, wenn die Vormundschaft ihm

abgenommen wird, weiß, daß dieser ihm nur danken wird für das, worüber das Kindlein geweint, der reifere Knabe gegrollt.

Siehe,

mein Christ, der mit mehr Umsicht, als der eines Vormundes dich durchs Leben führt, mit mehr denn Vater- und Mutterliebe dich

leitet, siehe, der führt dich hienieden wohl oftmals dunkle Pfade, aber meinst du nicht, daß du dermaleinst auch um dieser willen, ja vielleicht um dieser willen ganz besonders, ihn preisen wirst?

meinst du nicht, daß all jene bittern Vorwürfe, die Menschen so oft auf ihren Gott zu wälzen suchen, dereinst als eben so viele

bittere Anklagen auf ihr Haupt zurückfallen könnten? Meinst du nicht, daß sie,

die des Vaters Wege hienieden verschmäht und

ihre besondern Wege gezogen, dereinst könnten ihre eigene Blind­ Und wer hätte nicht schon

heit und Kurzsichtigkeit verwünschen?

hienieden oft gelernt, daß Gott weiter schaute, als er, wer nicht schon Gottes Herrlichkeit gepriesen,

wo

er einst nur Finsterniß

gesehen?

Und wenn das uns bei unsern Gebeten vor Augen steht, daß Gottes die Herrlichkeit ist, wie sollten wir dann nicht freudig

unser „Amen" sprechen?

O, wenn sein Kind riefe und er nicht

hörte, wenn er wohl hörte, aber nicht erhörte, wenn er nicht seines

Kindes Heil wollte! — wo bliebe seine Herrlichkeit? wer sollte

seinen Ruhm,

seine Ehre verkünden?

heißung zur Lüge:

Würde nicht seine Ver­

Rufe mich an in der Noth, so will ich dich

erretten, so sollst du mich preisen? Würde nicht seine Liebe, seine Gnade, sein Erbarmen zu einem leeren Schein?

Nein, ihm ge9*

132 hört die Herrlichkeit, und darum sprich freudig dein „Amen" zu

deinen Gebeten.

Sie können nicht umsonst gesprochen sein.

Und nun merke dir wohl, mein Christ, es handelt sich hier nicht um ein Reich, das heute besteht, aber morgen zusammen­ bricht, um eine Kraft, die heute verliehen wird, aber morgen ver­

sagt, um eine Herrlichkeit, die eine Weile leuchtet, aber dann auf

immer schwindet.

In Ewigkeit währt hier alles, so betont der

Schluß des Herrngebets.

Muß sich dir denn da nicht ein freudig

„Amen" auf deine Lippen legen?

selbst dann noch, wenn der

Augenblick deines Abscheidens dir nahe ist?

Es verheißt dir ja

der Gebetsschluß, daß du droben, in einer bessern Welt, sogar noch

viel lauter, als hienieden, preisen wirst, daß Gottes das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit ist.

Amen.

In demselben Verlag erschienen:

Bahnsen, W., Generalsuperintendent,

Oberkonsistorialrat und Ober­

pfarrer in Coburg.

Evangelienpredigten. Gbd. M. 6.—

I. Advent bis Exaudi.

Geh. M. 5.—,

(Bd. II. in Vorbereitung).

Das Christenthum der Bergpredigt.

In Predigten dargelegt.

Geh. M. 3. -, Gbd. M. 4.-

Das Gebet des Herrn. Geh. M. 2—, Gbd. M. 2.75. Passionspredigten. Geh. M. 2.—, Gbd. M. 2.75. Stellung der evangelischen Kirche zur Feuerbestattung. erweiterter Vortrag.

Wobbermin, G.,

M. L —

Dr. phil. Lic. theol., Privatdozent in Berlin.

Zwei akademische Vorlesungen über systematischen Theologie. M. 1.—

Luther, P.,

Ein

Grundprobleme

der

Dr., Oberpsarrer in Kremmen.

Deutsche Bolksabende. abende.

Ein Handbuch für Volksunterhaltungs­

Eins. gbd. M. 3.—, eleg. gbd. M. 4.—