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German Pages 140 Year 1884
Wikhekm Bahnsen, Generalsuperintendent, Oberconsistorialrat und Oberpfarrer in Coburg, früher Pfarrer au St. Philippus-Apostel in Berlin.
Berlin. Verlag von Alexander Dnncker.
Das Gebet des Herrn in
zehn Predigten ausgelegt von
Mtthetm Kahnserr, Prediger an der St. Philippus-Apostel-Kirche in Berlin.
Arolsen. Speyersche Buchhandlung (Fette Dietrich).
1883.
Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin N.
Vorwort. Vorliegende Predigten wurden im Sommer dieses Jahres von mir gehalten.
Auf den Wunsch einzelner, treuer Gemeinde
glieder biete ich sie gedruckt als Andenken an das Lutherjahr 1883 der Gemeinde dar. Steht ihr Inhalt auch in keiner directen Beziehung zur allgemeinen Feier des evangelischen Volks, so
konnte doch über das „Gebet des Herrn" nicht gepredigt werden ohne der Spuren zu gedenken, die der große Reformator zurück
gelassen.
Möchten die vorliegenden Predigten Vielen ein Segen
werden. Berlin, im November 1883.
Bahnsen, Prediger.
Warum müssen wir dem Meister dankbar sein, daß er nns beten gelehrt? Lucas 11, 1—4.
Und es begab sich, daß er war an einem Orte und betete. Und da er aufgehört hatte, sprach seiner Jünger einer zu ihm:
Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Er aber sprach zu ihnen:
Vater im Himmel,
Wenn ihr betet,
so sprecht: Unser
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich
komme. Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel. uns unser täglich Brod
immerdar.
Und
vergib uns
Gib unsere
Sünden; denn auch wir vergeben allen, die uns schuldig sind.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel.
Aus der Höhe eines Berges stand ich und blickte schweigend
Ferner Glockenklang er
hinab in das Thal zu meinen Füßen.
reichte mein Ohr. in das Gotteshaus. ganze Gegend.
Es war Sonntagabend und die Glocken riefen Sabbathstille hatte sich ausgebreitet über die
Wenige Stunden vorher hatte an derselben Stelle
mich auch ein liebliches Bild ergötzt.
Zur Feier des Sonntags
war man hinausgezogen alt und jung,
Freude hatte geleuchtet
aus jedem Auge, Frohsinn sich gezeigt auf jedem Angesicht. Aber
schöner war doch noch das Bild, als Gebetsstimmung sich aus breitete über die ganze Gegend.
Ja, wenn mein Ohr auflauschte
und ich hörte, wie in fernen Orgelklang der Vöglein Gesang sich
mischte, wenn mein Auge hinab sich senkte und ich sah, wie die Blümlein allmälig ihren Kelch zu schließen begannen, wenn hin auf gen Himmel mein Blick sich richtete und der Sterne Heer
schweigend auf mich herniederschien, dann war es mir, als riefe eine Stimme mir zu: Menschen beten, aber die Schöpfung betet
mit; das Vöglein singt sein Abendgebet bevor es schlafen geht, 1
2 es vertraut dem Gott sich an, der es ernährt, ob es gleich weder
säet, noch erntet, noch sammelt in seine Scheuern'); die Blume neigt in Demuth ihr Haupt, als ob sie wüßte, wenn der Wind darüber
gehet, so ist sie nimmer da und ihre Stätte kennet sie nicht mehr*2); 34 auch sie befiehlt sich dem Gott, der die Lilien des Feldes kleidet, sodaß
sie prächtiger
erscheinen,
denn Salomo
in
aller
seiner
Herrlichkeit"); und die Himmel? — sie hüllen sich in majestätisches
Schweigen, aber schweigend erzählen sie des Ewigen Ehre und
verkündiget seiner Hände Werk^).
die Feste
Ich
aber gedachte
der Worte: Und alles betet lebendig Um eine selige Ruh, Und alles mahnt mich inständig: O Menschenkind, bet' auch du.
Noch überwand ich die Eindrücke vergangener Tage nicht.
Dort unten im Thale hatte ich noch vor Kurzem sie knieend ge sehen zu den Füßen des heiligen Crucifixes, hatte die Art ihres Betens
wahrgenommen,
hatte
mir
erzählen
lassen,
wie
des
Priesters Mund dem reuigen Sünder geboten seine Bußübungen zu halten. ist das
Ein Begleiter hatte mir zugerufen: Wie unwürdig
alles
wir haben gelernt den
des denkenden Menschen;
Himmel mit seinem Sternenmeer zu durchforschen, in der Erde
Geheimnisse hinabzusteigen und des Meeres Tiefen zu ergründen; wir wissen, daß die unermeßliche Welt von Ewigkeit zu Ewigkeit ist und sich entwickelt, aber einen Gott haben wir nicht gefunden;
für ihn ist kein Raum mehr in der Welt des neunzehnten Jahr
hunderts, geschweige denn für das, was Priesterbeschränktheit über
diesen Gott der Welt noch vorspiegelt.
Wir waren im Gespräch
auf alle jene Gräuel gekommen, die frommer Wahn im Laufe der Jahrhunderte verübt.
Er hatte sie
betont um das Recht
der Religion zu bekämpfen; ich hatte versucht seine Gründe zu ') Matthäus 6, 26. 2) Psalm 103, 16.
3) Matthäus 6, 28 u. 29. 4) Psalm 19, 2.
3 entkräften.
Ueberzeugt hatte ich ihn nicht.
Mir war's genug, hier
durch die Schöpfung Gottes das Wort hindurchklingen zu hören:
O Menschenkind, bet' auch du; aber zugleich sagte ich mir, nicht jedes Gebet ist würdig, und des Meisters Worte traten mir vor die Seele, wo er die Bitte seiner Jünger erfüllt und sie beten
lehrt.
So sei denn heute unser Thema:
Warum müssen wir dem Meister dankbar sein, daß er uns beten gelehrt? Wir antworten darauf:
1. 2.
weil das Beten erlernt sein will,
weil
grade
der
Meister
am
Besten
uns
beten
lehren kann.
1. Es mag uns wunderbar erscheinen, daß das Beten erst er lernt werden soll, wunderbar vielleicht grade je mehr wir Christen
werden.
Widert uns doch von allen krankhaften Erscheinungen
des religiösen Lebens
vielleicht kaum etwas mehr an, als das
Hersagen langer Gebetsformeln, die das Gedächtniß sich wohl ein geprägt hat,
die
aber Herz
und
Verstand
gleichgültig
lassen.
Sehen wir ja doch auch den Meister selbst auftreten gegen alles
Gelernte und Gewohnheitsmäßige
beim Beten.
Er tadelt
die
Pharisäer wegen ihrer langen Gebete, die sie vor Aller Ohren
plappern, er lobt den Zöllner, der, wie das Herz es ihm eingiebt, einfach und schlicht seine Bitte gen Himmel sendet: Gott, sei mir Sünder gnädig.
Und doch, glauben wir, handelt die Mutter recht,
welche ftühe ihr Kindlein beten lehrt; doch ist es eine berechtigte
Forderung,
daß das Kind in der Schule seine Gebete lerne;
doch zeigt uns unser Text, wie die Jünger Jesu, die gewiß viel
hundert Gebete schon gen Himmel gesandt, die Bitte aussprechen: Herr lehre uns beten, doch sehen wir, wie nicht nur Johannes,
der gewaltige Vorläufer Jesu, dem alles pharisäische Wesen und
alles Gemachte in der Religion so fern lag, seine Jünger beten lehrt, sondern auch der Erlöser selbst voll Einsicht und Weisheit
der Bitte seiner Jünger nachkommt und spricht: Wenn ihr betet, 1*
4 so sprecht:
ein
Unser Vater im Himmel re.
allgemein
menschliches Verlangen
Es muß mithin wohl
sein,
das grade in den
edleren Seelen am meisten ausgeprägt ist, beten zu lernen. Wer
wüßte denn auch nicht von dem Nutzen eines einst in der Kindheit gelernten Gebetes zu reden?
im Leben,
wo
Kommen doch so manche Stunden
wir die Worte zum Gebete nicht mehr finden
können, wo Zunge und Lippen ihren Dienst uns versagen.
Wie
wohl wird uns da, wenn die Erinnerung erwacht an so ein Wort
wie dieses: Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde; wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet,
so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil'), oder wie dieses: Vater, ich habe gesündigt in den Himmel und vor dir und bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Sohn heiße; mache mich als einen deiner Tagelöhner*2).
Der Kampf des
Lebens hat es zum Gebet nicht kommen lassen, die Gebetsstim mung ist nie gesucht und im entscheidenden Augenblick in Folge dessen schwer zu finden; da leuchtet denn so ein Wort aus ferner
Jugend auf und die Seele kann fröhlich wieder aufathmen. Aber das ist der einzige Grund nicht, warum wir beten lernen müssen. Beten ist ja im
letzten Grunde nichts anderes, als Reden mit
Gott, Bethätigung jenes Triebes, den uns die Gottheit in das
Herz gelegt hat, mit ihr uns in Beziehung zu setzen, so daß man mit Recht gesagt hat: Fromm sein und beten sei eigentlich das selbe oder: Zeig' mir, wie du betest, und ich will dir sagen, wie
cs um deine Religion steht.
Wie könnte aber dieser Trieb zur Re
ligion seine Bestimmung erreichen ohne jene Regelung, deren alle unsere Triebe bedürfen?
Seine Religion war es, die so manchen
Götzendiener dazu brachte, selbst Menschenleben seinem Gotte zu opfern, und zu den blutigsten Gräueln, wie sonst die Rache sie
eingiebt, zu greifen.
Seine Religion war es, die selbst manchen
Christen zum blindesten Fanatismus fortriß, so daß er Scheiter-
haufeu errichten und Bannsprüche ersinnen konnte wider Jünger
') Psalm 73, 25 u. 26. 2) Lucas 15, 18 u. 19.
5 des Herrn nur deshalb, weil sie in menschlicher Schwäche dessen
Herrlichkeit anders sich vorgestellt, als er selbst, nicht minder in
menschlicher Schwachheit, es zu thun pflegte.
Und die Gebete der
Menschen? wie oft lauteten sie: Vernichte meine Feinde, sende
deine Feuerstrahlen hernieder aus den Wolken, daß sie vertilgt werden von der Erde; rotte sie aus aus den Reihen der Leben
digen, die da anders glauben, als wir!
Wer hätte je hineinge
blickt in die heiligen Bücher der Menschen, je gehorcht auf die Worte ihrer Priester, ohne in roherer oder feinerer Form solche
Bitten bei ihnen gefunden zu haben?
Waren sie ja selbst jenen
Jüngern nicht fern, die doch schon lange im innigsten Verkehr mit dem Meister gestanden und über jene sündige Stadt Sa-
mariens, welche den Erlöser nicht aufnehmen wollte, Feuer vom Himmel herniederzuflehen im Stande roaren1).
Die menschliche
Selbstsucht, die Wurzel von so viel Leid und Trübsal hienieden, ist es auch hier, welche den reinen Quell trübt und das zarteste Band entweiht, das nämlich, welches die Seele knüpft an ihren
damit man selbst
Man will Vernichtung seiner Feinde,
Gott.
glänzen
kann;
heiligsten
man
Dinge,
duldet
welche
das
keine
andere
Meinung
Menschenherz
kennt,
leichten Kaufs die seinige zur Herrschaft bringe.
über
damit
die
man
Was soll ich
ferner erst reden von all jenen Gebeten, wo nur ein irdischer Vortheil nach dem andern erfleht wird und das nicht selten aus
Kosten anderer Menschen, auf Kosten des großen Ganzen? habe ein Gebet gekannt, das von christlichen Kanzeln
Ich
allsonn
täglich erklang, das lautete: Herr, segne unsern Strand! Gedacht war dabei an die Trümmer und Vorräthe gestrandeter Schiffe,
die der Eigennutz sich dienstbar machen wollte.
Wie viel Angst
und Sorge, wie viel Schmerz und Todeskampf knüpfte sich oft
an
solche
Trümmer!
aber
die
Selbstsucht
fragte nicht
nach
Anderer Noth, sondern nur nach dem eigenen Vortheil und das
selbst im Gebet.
Was soll ich reden von allen kurzsichtigen
Gebeten, die über der Menschen Lippen kommen, wo man sein ') Lucas 9, 54.
6 Glück zu erbitten wähnt und sein Unheil sich heraufbeschwört, wo das nach der Schlange greift in der
man dem Kinde gleicht,
Meinung, es sei ein Fisch, nach dem Stein im Glauben, es sei ein Brod?')
Jenes Wort des Meisters an die Zebedäussöhne gilt
von Tausenden: Sie wissen nicht, was sie bitten?).
Es gilt von
dem Vater, der für seinen Sohn nur Ehrenstellen, nur Erfolge erfleht, ohne zu ahnen, daß dieselben ihm ein Fallstrick sein werden, so daß schließlich Ehrgeiz und Weltlust ihn sittlich zu Grunde
richten.
Es gilt von der Mutter, die um Alles in der Welt ihr
Kind nur nicht will sterben sehen, ohne zu bedenken, wie auch
ein
kleines Kindlein
zum Himmelserben
berufen ist,
wie der
Meister grade gesagt hat:
Lasset die Kindlein zu mir kommen
und
denn solcher ist
wehret ihnen
nicht;
wahrlich ich sage euch:
das Reich
Gottes;
Wer das Reich Gottes nicht empfängt
als ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen 3*),* wie grade das
fortgesetzte Leben den Menschen dem aussetzen kann, den Kindes
sinn zu verlieren, ohne den wir nicht in das Reich können ein gehen.
Was soll ich endlich davon reden, wie der Menschen Ge
bete auf den ruhigen Beschauer so oft den Eindruck machen, als wollte der kurzsichtige, endliche Mensch dem großen, allmächtigen Gott Himmels und der Erde in sein Regiment fahren, als wollte
er ihm vorschreiben, welche Wege er gehen soll?
Ich denke dabei
nicht nur an den Fetischdiener, der seinen Götzen züchtigt, auch wohl ins Feuer wirft, wenn er seinen Wünschen nicht nachkommt; ich denke dabei auch an so manches Gebet unter uns, das mit
Ungestüm
gen
Himmel dringt,
das
so klingt,
als wollte der
Mensch seinen Gott erst auf die Noth aufmerksam machen, die dessen Auge doch
längst gesehen,
als müßte der Allgütige erst
durch Menschenworte ermüdet werden, um ihr Anliegen zu hören.
Gewiß alles Grund genug für uns, erst beten zu lernen!
Wie viel mehr aber noch liegt für uns ein solcher da vor, wo
-) Matthäus 7, 9 u. 10. -) Matthäus 20, 22. 3) Marcus 10, 14 u. 15.
7
man überhaupt nicht beten, überhaupt dem Triebe mit Gott sich in Beziehung zu setzen, nicht nachkommen mag.
Hier zweifelt
man an Gottes Dasein, oder stellt es direct in Abrede, dort ist der Gottesglaube wohl nicht geschwunden, aber der Mund pflegt sich damit zu entschuldigen, daß der Allwissende ja wisse, was uns fehle, der Allweise uns so leite, wie's gut sei, der Allmächtige also
uns führe, wie er es gewollt; sagt ja doch der Heiland selbst: Euer himmlischer Vater weiß, daß ihr deß alles bedürfet'). Wozu
da erst viele Worte machen, wozu da mit nutzlosen Worten die Zeit verbringen?
Aber, Seele, was würdest du sagen, wenn die
Blume des Feldes spräche: Wozu soll ich blühen? wozu meinen
Kelch aufthun? es fällt deswegen kein Sonnenstrahl, kein Tropfen erquickenden Regens mehr auf mich hernieder,
als sonst?
Ich
glaube, du würdest sprechen: die Blume hat ihren Zweck verfehlt,
den sie in der Schöpfung Gottes hat.
Dasselbe aber gilt auch
vom Menschen, der nicht beten mag, der bei allem, was er thut,
nur fragt: was nützt mir das zum irdischen Leben? der es für
unfruchtbar hält, die Beziehung zu Gott zu suchen.
Grade hietin,
grade im Gebet entfaltet der Mensch sein innerstes Wesen, zeigt er seinen Adel, seine Würde, grade im Gebet fühlt er sich wohl. Urtheile selbst, liebe Seele, ob der Krieger dir besser gefällt, der,
nur seiner Heeresmacht vertrauend, seines Feldherrntalents sich be wußt, den feindlichen Kugeln entgegengeht, oder der, welcher mit
tiefem Gefühl menschlicher Endlichkeit, mit dem Gedanken an die wunderbaren Wechselfälle des Lebens erst den Blick gen Himmel
sendet und die Hände zum Gebet faltet?
Nicht wahr, wenn ein
Gustav Adolf in ernster Stunde mit seinem Heere betet zu dem
Lenker der Schlachten, dann macht es einen erhebenden Eindruck, und wem unter uns wären es nicht Weihestunden seines Lebens
gewesen, als im Jahre 1870 des Krieges Fackel entbrannte und unsere Gotteshäuser rings umher in deutschen Landen bis auf den letzten Platz sich füllten?
Urtheile selbst, ob der Vater dir besser
gefällt, der gleichgültig und kalt von dem Sohne scheidet, welcher
’) Matthäus 6, 32.
8 das Vaterhaus verläßt, oder der, welcher erst mit ihm betet, daß
des Himmels Segen ihn begleiten möge? ob es besser ist, wenn stumm oder nur redend von den alltäglichsten Dingen die Familie
um den gedeckten Tisch sich setzt oder wenn der Hausvater erst
voll Andacht anhebt: „Aller Augen warten auf dich und du giebst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit.
Du thust deine Hand auf und
erfüllest alles, was lebet mit Wohlgefallen?"') ob du dich wohler
fühlst in einem Hause, wo man vom Morgen bis zum Abend
nur jagt nach Erdengut und Erdenglück oder in einem Hause, wo
man in besondern Weihestunden mit einander betet? und wenn
du denn auch für die Stunden des Glücks dich zu jenem hinge
zogen fühlen möchtest, ob es auch gilt für die Stunden des Leids, auch für die Stunde des Todes?
Urtheile selbst, ob eine Wissen
schaft dir besser gefällt, die der Erde Tiefen und des Himmels Blau durchsucht, die in vergangenen Jahrhunderten der Menschen Geschicke beobachtet und dabei selbstvermessen ihrer Erfolge sich rühmt,
aber
meint ohne
einen Gott auszukommen,
oder
eine
Wissenschaft, die vorurtheilsfrei ihrem Gegenstände sich zuwendet, aber menschlicher Kurzsichtigkeit sich bewußt bleibt und in Demuth sich beugt vor der Weisheit, die Himmel und Erde erschaffen und
bis hieher erhalten und regiert hat,
vor der Weisheit,
die da
waltet in der Geschichte der Menschenkinder und trotz menschlichen
Widerstrebens ihre Zwecke und Ziele doch schließlich erreicht?
Ja,
gestehen wir es uns nur, erst die Beziehung zu Gott, erst das Gebet giebt dem Leben seine Weihe und
es
giebt auf Erden
nichts, was diese Weihe nicht empfangen könnte, weder Geringes noch Hohes, weder Freud noch Leid, weder Leben noch Tod, und
wenn der Mensch dennoch das Gebet so oft unterschätzt, so ist das ein Beweis dafür, daß er erst beten lernen muß.
2. Wohl uns aber, daß wir nun auch wissen, wo wir beten
lernen
können.
Der Erlöser ist ja einst auf die Bitte seiner
]) Psalm 145, 15.
9 Jünger eingegangen, und wo könnten wir wohl besser beten lernen,
als bei ihm?
Himmel,
War er ja doch so ganz eins mit dem Vater im
daß er von sich sagen konnte:
Wer mich siehet, der
siehet den, der mich gesandt hat') oder: Ich bin vom Vater aus
gegangen und gekommen in die Welt3*).*
Stand er doch in so
innigem Verkehr mit dem Himmel, daß er seinen Jüngern schon am Anfang seines irdischen Wirkens3) verheißen konnte: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, von nun an werdet ihr den Himmel offen
sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des
Stammte er ja doch aus des Vaters Schooß3)
Menschen Sohn.
und konnte verkünden, was er gesehen und gehört hatte.
So
müssen auch die Jünger, die ihn beten sehen, die Empfindung ge
haben,
habt
lehren.
daß
er
ganz besonders geeignet sei,
Und er hat es gethan.
sie beten zu
Nicht als ob er ihnen gezeigt
und Vorschriften gemacht, welche Haltung ihr Körper beim Gebet einnehmen sollte, ob sie dabei knien oder stehen, ob sie die Augen
nach oben oder zu Boden richten, ob sie die Hände falten oder
ausgebreitet gen Himmel strecken sollten.
Nicht als ob er ihnen
bestimmte Tage des Jahres, bestimmte Stunden des Tages zum
Gebet genannt, beten sollten.
oder ihnen Vorschriften gegeben hätte,
wo sie
Sie haben gehört, wie er den Zöllner lobte, der
beim Gebet seine Augen nicht wagte gen Himmel aufzuheben3),
haben wiederum gesehen, wie er selbst die Augen nach oben richtete, als er dankend das Brod nahm, es brach und seinen Jüngern gab3).
Sie haben ihn niederfallen gesehen in Gethsemane, als
er bat, daß der Kelch der Leiden an ihm vorübergehen möchte7). Sie haben ihn beten gesehen am Morgen, beten am Abend, beten
in mitternächtlicher Stunde, beten in der Freude, beten im Leid,
') Johannes 12, 45. -) Johannes 16, 28.
3) Johannes 1, 51.
4) Johannes 1, 18.
5) Lucas 18, 13. «) Matthäus 14, 19.
7) Matthäus 26, 39.
10 beten in der Wüste, beten auf Bergeshöhen, beten im Tempel, beten am Kreuz, beten in der Einsamkeit, beten in der Mitte der Aus dem allen haben sie gelernt, hier giebt es keine
Brüder.
bestimmte Regel und Vorschrift, hier fragt sich's: wozu drängt das Herz?
wozu zeigt sich bei uns das Bedürfniß? wo finden
wir Andere, die mit uns beten, wenn wir ein Verlangen haben,
unsere Bitten mit denen Anderer zu vereinen? zu halten allen äußern Zwang,
Hier gilt es fern
alles Gesuchte und Erkünstelte,
jeden Widerspruch zwischen der äußern Haltung des Körpers und
den innern Regungen des Herzens.
Pflegt man doch sonst zu
sagen, daß der Geist sich seine Hülle bilde, daß in Auge und
Mienen sich abspiegle, was im Innern vor sich geht, und der
betende Geist sollte diese Macht nicht besitzen? Gebetes seine Jüngern zu lehren, an; das zeigt uns unser Text.
Aber Worte des
darauf kam es dem Meister Wir kennen diese Worte und
haben sie seit den Jahren unserer Kindheit oft gesprochen und ge hört.
Auch hier würden wir indeß irren, wollten wir glauben,
der Meister habe mit denselben eine ein für alle Mal feststehende
Gebetsformel uns geben wollen, deren wir bei all unsern Gebeten
uns bedienen müßten.
Hat er doch selbst bei anderer Gelegenheit
besonderer Gebete sich bedient.
Nur was und wie hier gebetet
wird, soll uns ein Vorbild sein, und darauf hat dies Gebet aller
dings einen Anspruch.
Wie ist da alles so einfach und klar; nir
gends ein Wort zu viel; nirgends etwas Schwülstiges; in kurzen,
inhaltsreichen Sätzen schreitet hier alles fort vom Anfang bis zum Schluß.
Wie treten da alle Erdengüter zurück hinter die
höheren, geistigen Güter! Während jene nur in einer, der vierten Bitte, ihren Ausdruck finden, handeln sechs von diesen.
Wie ist
da alles getragen von seligem Glauben an den gütigen Vater im
Himmel, der trotz aller Wechsel des Erdenlebens, trotz aller mensch
lichen Sünde, seine Pläne doch erreicht. zurück hinter das „Dein"!
Wie tritt da das „Mein"
Dein Name werde geheiligt, dein
Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden, so heißt es bevor das Gebet übergeht auf unser täglich
Brod.
Wie fehlt da alles selbstvermessene Vorschreiben der Wege,
11 welche Gott mit uns gehen soll!
Wie fern ist da alles Klügeln,
ob Gott auch höre und erhöre, was über der Menschen Lippen komme!
Der Vater ist allmächtig und kann alles, der Vater ist
allweise und weiß seine Pläne zu erreichen,
der Vater ist die
Liebe selbst und will nur, was zu unserm Besten dient, der Vater
wird darum geben auf unsere Bitte, was gut ist; sie ist nicht nutzlos,
sie wirkt zurück auf unser Herz, sie ist bestimmend für
unser Geschick; das ist der selige Glaube, der alles durchdringt.
Nicht wahr, wer so betet, der thut etwas edel Menschliches; hier muß alles das verstummen, was nur ein Menschenmund gegen
das Gebet überhaupt einzuwenden vermag. Aber ist das nicht eben ein Gebet, wie es der Meister wohl
auf seine Lippen nehmen konnte, der ganz im Vater war, ein Gebet, wie es wohl selige Himmelsbewohner vor dem Throne des Höchsten sprechen, wo es nur klingt: „Heilig, heilig ist der Herr
Zebaoth,
alle Lande sind seiner Ehre voll?"
Ist das ein Gebet
für Bewohner dieser Erde mit all' ihrer Trübsal und all' ihrem
Leid, ein Gebet, wie es die Seele gen Himmel sendet, die sich hienieden unglücklich und verlassen fühlt?
bet, welches wir lernen könnten?
der Erde Last kennen gelernt,
Kurz, ist das ein Ge
Es ist das Gebet dessen, der
so gut wie wir,
ja wie wenige
unter uns, der in der Krippe geboren, am Kreuz gestorben und von seinem Leben hat sagen müssen: „Die Füchse haben Gruben und
die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege"'), das Gebet dessen, der, ob er wohl Gottes Sohn war, doch mit Vorliebe sich des
Menschen Sohn nannte, der ob er wohl reich war, doch arm ward um unsertwillen*2),3 der da zunahm an Weisheit, Alterund
Gnade bei Gott und den Menschen2) der da in Allem, was das
Leben brachte, lernte und auch selbst das Beten lernte; — und
was er gelernt, sollte nicht auch für uns geeignet sein?
’) Matthäus 8, 20. 2) 2. Corinther 8, 9. 3) Lucas 2, 52.
Hat er
12 grade an dem, das er litte, gelernt'), wie sollte nicht diese Welt
des Leidens und der Schmerzen auch uns eine Schule zum rechten Gebet werden können?
Was vom ganzen Leben des Erlösers
gilt, gilt vor Allem auch von seinem Gebet: Ein Beispiel hat er uns gegeben3*)* und ein Vorbild hat er uns gelassen,
daß wir
sollen nachfolgen seinen Fußstapfen3). So sei denn des Meisters Gebet mit Gottes Hülfe an den
nächsten Sonntagen der Gegenstand unserer Betrachtungen.
Er
selbst aber gebe uns Kraft, daß wir annähernd erfassen, was er an hohen Gottesgedanken in der Menschen Worte hineingelegt, daß sein Geist des Gebets auch über uns komme und wir beten
lernen, wie er selbst es gelernt hat, damit auch nach dieser Seite
hin die Erde uns eine Vorbereitungsstufe werde für die Ewigkeit, wo wir nicht mehr mit Menschen-, sondern mit Engelzungen zu dem Vater beten werden.
') Ebräer 5, 8. 3) Johannes 13, 15. 3) 1. Petrus 2, 21.
Amen.
Der Gebetseingang. Matthimr 6, 9.
Darum sollt ihr also beten: Unser Vater in dem Himmel.
2öir stehen am Eingänge ins Heiligthum.
Doch es geht uns,
wie wenn ein Künstler in einen prächtigen Dom uns führt.
Wir
nahen ihm mit heiliger Scheu, uns treibt es rastlos in die ge weihten Räume.
Aber Halt
Aufs
gebietet uns unser Führer.
Portal weist er uns hin; dies allein schon ist staunenswerth.
Wir
wollen beten lernen, hören was der Meister ersteht, aber schon
der Eingang fesselt uns.
Jedes Wort in demselben ist wie ein
Edelstein, und doch ist das Ganze wiederum so einfach.
Nichts
Ueberladenes, nichts Schwülstiges, nichts Ueberschwängliches zeigt sich hier in der Anrede Gottes.
Es ist als hätte der Erlöser
geahnt, wie unter den Seinen selbst beim Eingang ins Gebet
menschliche Eitelkeit und menschliche Selbstgerechtigkeit sich breit machen würde, wenn er einfach und schlicht zu seinen Jüngern
sagt: darum sollt ihr also beten: Unser Vater in dem Himmel. Welch' wunderbarer Zauber liegt über dieser Anrede! sie hat etwas Ergreifendes und Erhebendes.
Welch' feierliche Stille pflegt ein
zutreten, wenn der Prediger im Gotteshaus sie auf seine Lippen nimmt!
Mag manch kaltes Herz gleichgültig geblieben sein bei
Predigt und Gesang, bei diesen Worten beugt sich auch der starrste Nacken.
Mag manche Aufforderung zum Gebet über den Köpfen
verhallt sein, hier falten die Hände sich wie von selbst.
Ja, wie
oft kann man's beobachten, wenn man zu Menschen redet, die dem Worte Gottes entfremdet worden, sowie das Vaterunser beginnt,
14 Ist hier nur maßgebend,
dann neigt sich doch noch das Haupt.
daß diese Worte geweiht sind durch die Erinnerung an so manche Stunde des Lebens?
Am Taufstein schon, auf des Kindes erstem
Gange, den es in Schlafes Arm begann, sind sie über ihm ge
sprochen.
Auf den Knien des Vaters,
aus dem Munde einer
frommen Mutter sind sie einst vernommen worden, als ein Heilig-
thum von ihnen dem Kinde überliefert.
Am Confirmationstage,
wo noch einmal alle Lieben versammelt waren, sind sie so weihevoll durchs Gotteshaus geklungen.
An so manchem Sarge sind sie
das letzte Gebet gewesen, das man theuren Seelen nachgerufen in
die Ewigkeit.
An
den Gräbern
der Reichen
und Großen
dieser Erde sind so viel schwülstige Worte gesprochen, aber durch
ihre Einfachheit und Erhabenheit
haben
diese Worte
dazu in
scharfem Contrast gestanden und darum nur um so tiefer sich dem
Gedächtniß eingeprägt.
An dem prunklosen Sarge des Armen
sind sie nicht minder gesprochen und damit als ein Gebet erkannt,
das über allen irdischen Unterschieden erhaben ist.
Und wo der
Einsame sie betete, da hat er bei diesen Worten sich geeint gewußt mit Millionen im Himmel und auf Erden, die auch also beteten.
Ist hier nur maßgebend, daß diese Worte geweiht sind durch eine jahrhundertelange Geschichte, in
der sie gesprochen
worden in
Freud und Leid, daß sie geweiht sind durch des Erlösers eigne
Lippen, geweiht auch dadurch, daß alle Kirchen sie beten, ob sie auch sonst einander entfremdet sind durch gegenseitigen Haß?
Ich
meine, die Worte selbst besitzen in sich eine unbeschreibliche Gewalt, weil sie alles umfassen, was des Christen Herz beim Eingang ins
Gebet umfassen muß, und weil die empfindende Seele das auch wie
von selbst erkennt. Daraus ergiebt sich denn unser heutiges Thema:
In wiefern der Eingang des Vaterunsers ein Muster uns sein kann für jeden Eingang in's Gebet?
Die Antwort lautet: Weil er uns 1. hinaufweist gen Himmel,
2. hin an das Vaterherz Gottes, 3. hinein in die Gemeinschaft der Brüder.
15
1. Himmel! das Wort hat von jeher einen ganz eigenthüm
lichen Reiz auf uns ausgeübt.
Wir sahen jenes blaue Gewölbe
über unsern Häuptern, wir lernten alsbald, es sei eigentlich kein
Gewölbe, getragen von dieser Erde, es sei der unendliche Welten
raum, in dem auch unsere Erde einen Platz habe, aber nur einen
Platz, wie der Tropfen im Meer.
Wir sahen dort den Feuerball
der Sonne aufgehen im Osten, untergehen im Westen; bei ihrem
Aufgang erwachte die Schöpfung, entstand Leben auf Feld und Fluren, bei ihrem Untergang ward alles finster, fühlte die Seele sich einsam und unsicher; entfernte sie sich von unserm Erdtheil,
legte Schnee und Eis sich über denselben und alles Leben erstarrte; kehrte sie wieder, brachten ihre ersten Strahlen in die Schöpfung neues Licht und neues Leben, und alles jubelte wieder auf.
Wir
sahen droben das Heer der Sterne, groß und majestätisch, unverrück
bar durch die Wolken, die der Sturmwind darüber hinpeitschte, wir lernten, wie sie sich bewegen nach den unwandelbaren Gesetzen der Natur. Vom Himmel kam der Regen, der die schmachtenden Fluren
erquickte; dort ballten die Wolken sich zusammen, deren Blitze die Lüfte reinigten von unerträglicher Schwüle.
Kein Wunder, daß
frühe das Auge sich gewöhnte gen Himmel zu blicken.
dunkel die Erdenpsade, droben war Licht. so kalt, von droben kam Wärme.
war Friede.
Waren
War das Erdenleben
War hienieden Streit, droben
War hier ewiger Wechsel, droben war Beständigkeit.
War hienieden Treulosigkeit, des Himmel Blau verkündete ewige Treue.
Konnten hienieden
die Stürme
des Lebens uns alles
rauben, der Himmel blieb von ihnen unberührt.
Kein Wunder,
wenn die Völker, das, was sie auf Erden vergebens gesucht, in
den Himmel verlegten.
Dort sahen schon die Heiden unsterbliche
Götter fern von den Mühen und Sorgen der Menschen ihre Zeit
verbringen.
Dort hofften sie, nach ruhmvoll vollendetem Leben,
in der Götter Gemeinschaft seligere Tage zu sehen.
Kein Wunder,
wenn ringende Hände nach dem Himmel sich ausstreckten, betende
Augen dort ihr Heil erspähten, wenn der Mensch schon darin den
16
Adel seines Geschlechtes sich ausgeprägt sah, daß aufwärts sein Gang ist, daß Haupt und Auge ihn gen Himmel weisen.
Auch der Erlöser hat das empfunden.
Wenn er als Knabe
hinaufsteigt auf die Höhen, die Nazareth umgeben, wenn er als
Mann dahinfährt über das galiläische Meer, dann macht auf ihn der Himmel einen überwältigenden Eindruck.
er alsbald Engeln,
Droben sieht
des großen Gottes Stuhl'), umgeben von heiligen
die dort
das Angesicht des Vaters schauen").
allezeit
Droben sieht er den Lohn derer aufbewahret, die um seinetwillen
von den Menschen geschmäht und verfolgt werden").
Vom Himmel
weiß er sich selbst gesandt, nicht daß er seinen Willen thue, sondern
deß, der ihn gesandt hat6).
Den Himmel sieht er sich aufthun,
als eine Stimme Gottes ihm zuruft: dies ist mein lieber Sohn,
an
dem ich Wohlgefallen habe").
Aus
des Himmels Wolken
sieht er sich wiederkommen, wenn er von sich weiß, daß ihm das
Weltgericht von seinem Vater übergeben ist6).
Ein Reich der
Himmel, so sagt er sich, muß das Reich sein, das er auf Erden
zu gründen gekommen ist, das Reich des Friedens, das Reich der
Liebe, das Reich der Herrlichkeit. Kind des
19. Jahrhunderts, du rühmst dich deiner vorge
schrittenen astronomischen Kenntnisse, du stellst dir den Himmel nicht mehr vor, wie die kindliche Fantasie vergangener Jahrhunderte.
®tr- sind die funkelnden Sterne unzählige Welten, zum Theil größer, als unsere Erde.
ermeßliche Raum der Welt.
mehr?
Kannst
du
Dir ist das blaue Firmament der un
Aber hast du deshalb keinen Himmel
nicht mehr
mit dem Psalmisten
sprechen:
Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du im Himmel sitzest?")
Seele, auch dich erinnert das Wort „Himmel" an eine höhere, eine
') 3) 3) 4) 5) 6) ?)
Matthäus 5, 34. Matthaus 18, 10. Matthäus 5, 12. Johannes 6, 38. Marcus 1, 10 fg. Matthäus 24, 30. Psalm 123, 1.
17 nach der das Menschenherz sich sehnt unter dem
bessere Welt,
Getümmel und Treiben der Erde.
Auch dich erinnert es an ein
unendliches Wesen, voll Macht, voll Weisheit, voll Liebe, das der
letzte Grund alles irdischen Daseins ist — du heißest es Gott. Auch dich erinnert es an ein besseres, seligeres Leben, zu dem du
wenn der Geist dereinst von dieser Erde scheidet.
berufen bist,
Und daß diese Welt wirklich ist, daß dieser Gott, dieses ewige
Leben nicht ein Fantasiebild deines Geistes ist, das sagt dir deine eigene Erfahrung, die Gewißheit deiner Seele, die auf dieser Er
fahrung sich aufbaut, das sagt dir dein Glaube. du beten,
Stützen,
so
Darum, willst
reiß dich los von der Erde und ihren morschen
so gehe dein Blick zu diesem Himmel empor.
Dort
klopf' an in deiner Noth; dort hoffe einen Lohn dir bewahret, unbefleckt, unverwelklich, wenn die Erde mit Undank dir entgegen kommt und deine edelsten Bestrebungen dir mit Füßen tritt.
Dort
suche ewiges Leben, wenn Endlichkeit und Vergänglichkeit hienieden
auf Schritt und Tritt dich hemmen.
2. Aber Himmel! zu hoch scheint er für den schwachen Staub-
gebornen.
Was ist dies ohnmächtige Kind der Erde gegenüber
jener Allmacht?
Wie will das kurzsichtige Auge sich messen mit
der unendlichen Weisheit? Wesen vor
den
Wo bleibt das selbstsüchtige, sündige
Lichtstrahlen
der Heiligkeit und Gerechtigkeit?
Himmel! das Wort mag uns losreißen von allem irdischen Tichten
und Trachten, aber es ruft auch mit Donnerworten uns zu: Zeuch deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, da du stehst,
ist ein heilig Sani)1), es schreckt uns vielleicht mehr ab, als es uns
zieht.
Es bleibt Tausenden unter uns wohl gar ein dunkler Hinter
grund des Lebens, dem sie furchtsam aus dem Wege gehen möchten.
Sie
gleichen
das
am
ja
angesichts
Weihnachtsabend
desselben
die
dem Kinde
Lichtstrahlen
aus
des Bettlers,
der
Reichen
Fenster sieht, das hinein möchte in den hellen, warmen Raum, *) 2. Moses 3, 5.
18 aber durch die unüberbrückbare Kluft der Stände daran gehindert ist.
Nicht umsonst hat daher der Erlöser uns nicht allein gen
Himmel blicken gelehrt, sondern den Vater anzurufen geboten. Weist er mit dem Worte „Himmel" uns hinauf ins Heiligthum,
mit dem Worte „Vater" giebt er uns Muth ins Heiligthum zu
schauen, ja das Heiligthum zu betreten. Vater! ist ja eins der ersten Worte, welche das Kind auf
seine Lippen nimmt.
Vater! was legt der reich erfahrene, viel ge
prüfte Mann alles in dasselbe hinein, wenn er die kalte Erde sich öffnen,
wenn er den Sarg hinabsinken sieht und er weh-
muthsvoll zu den Seinen sagt: Ich habe nun meinen Vater ver loren! — Vater! ja in dies Wort legt das empfindende Menschen herz alles,
was es an Liebe kennen gelernt.
Und Vaterhaus!
Vaterland! welch' heil'ger Schauder zieht uns bei diesen Worten
durchs Herz! Es war dämm etwas Großes, daß der Meister uns Eine neue Welt erschloß er damit
beten lehrte: „Unser Vater".
der Menschheit. Lehren,
die
Und wüßten wir nichts von all den erhabenen wäre von seinem ganzen heiligen
er uns gebracht,
Leben uns nichts bekannt, hätten wir nie anbetend unter seinem Kreuz gestanden und die Bedeutung seines Todes für das Heil
unserer Seele kennen gelernt,
tiefsinnigen Lehren erfahren,
hätten wir nichts von all jenen
die die Kirche über ihn und sein
Werk- aufgestellt, schon das Eine, daß er uns beten gelehrt „Unser
Uns
Vater", hätte ihm die Verehrung von Millionen gesichert.
scheint das etwas so Einfaches zu sein, und doch ist es einfach
nur für den, der
es
wirklich
erfaßt hat.
Nach
dem
fernen
Tranquebar in Ostindien war einst ein Missionar gekommen, der
durch einen Eingebornen die heilige Schrift in die Sprache des Landes
übersetzen
ließ.
Da
kamen sie auch an die Stelle'):
„Sehet, welch' eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, daß wir Gottes Kinder sollen heißen", aber der Eingeborne zögerte und
wollte nicht wörtlich übersetzen, sondern schon das für genügende Liebe Gottes erklären, daß wir ihm die Füße küßen dürfen. ') 1. Johannes 3, 1.
Zu
19 hoch war ihm der Gedanke, daß Gott unser Vater und wir seine
Kinder sein sollten.
Darum sag' nicht, liebe Seele, es sei nichts
besonders Christliches, Gott als den Vater zu verehren, den ersten
Artikel könnte man auch sprechen, ohne Christ zu sein. Die Heiden haben Götter, aber nicht den Einen; Israel kannte wohl seinen
Jehovah, der da sagt: „Ich, der Herr, dein Gott, bin ein starker, eifriger Gott, der über die, so mich hassen, die Sünden der Väter Heimsucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied", aber
keinen Gott, der unser Vater, der die Liebe selber ist.
Allein der
Christ kann sprechen: Ich glaube an Gott, den Vater, allmächtigen
Schöpfer Himmels und der Erde.
Ja, sollte dir ein Christ be
gegnen, der da einstimmte in das unüberlegte Gerede so mancher Gewohnheitschristen, mit dem Vaternamen für Gott sei noch nichts Besonderes ausgesagt, dann antworte ihm: „O geh' hin und lerne nur deinen Gott erst als Vater verehren, und du wirst ein besserer
Christ sein, als du es jetzt bist; du wirst sie nicht mehr hochmüthig von dir stoßen, deren Höchstes es ist, ihren Gott Vater
zu nennen.
Faßt ja doch auch der Evangelist Johannes die ganze
Bedeutung der Wirksamkeit Jesu in die Worte zusammen: Wie
viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben'). Betende Seele, das unendliche, heilige Wesen im Himmel
darfst du „Vater" nennen. du „du" zu ihm sagen.
Wie ein Kind zu seinem Vater darfst
Nicht wahr? jetzt öffnet sich fröhlich
dein Mund, hebt sich leuchtend dein Auge dem Himmel zu.
Die
Hoffnung taucht aus, daß das schwache Menschenwort im Himmel gehört wird; denn zu dem Vater darf das Kind doch sprechen, ans Vaterherz hat das Kind
Vaters
wird
Stimme hört;
sich
doch ein Anrecht',
das Ohr des
doch nicht verschließen, wenn es des Kindes
der Vater wird doch ganz besonders auflauschen,
wenn sein Kind aus tiefer Noth seinen Namen ruft.
Und wenn
du seit lange in der Fremde geweilt, wenn du des Vaters Wort
seit lange vergessen, du seine Güter mit Prassen umgebracht, wenn
') Johannes 1, 12.
20 du selbst, wenn Andere des Vaters Kind in dir nicht mehr zu
erblicken vermögen, wenn in der Fremde deine Sprache eine andere geworden, als sie im Vaterhause dir mitgetheilt worden, und du
rufst zu ihm — der Vater erkennt des Kindes Stimme doch. Ja, wenn die Sprache dir schwer wird, du nur noch zu stammeln ver
magst,
auch deine unaussprechlichen Seufzer
erhört der Vater.
Irdische Vater- und Mutterliebe ist das Bild des Höchsten, was
wir an Liebe kennen und doch heißt es:
Kann auch ein Weib
seines Kindleins vergessen? — und ob sie sein vergäße, will ich dein doch nicht vergessens.
So muß schon die Anrede des Christen an seinen Gott seinem Gebet jene Ruhe, jene Weihe aufprägen, die demselben eigenthümlich
ist.
Wie stürmt, wie wogt es in unserer Brust, wenn das Erdenleben
mit unwiderstehlicher Gewalt zum Gebet uns treibt!
Doch, wenn
der Vatername erst mit vollem Bewußtsein über unsere Lippen
gebracht ist, dann legen sich die Stürme und der Mensch erkennt
im Erlöser, der ihn also beten gelehrt, denselben, den in seinen Erdentagen die Welt anstaunte als den Gewaltigen, dem Wind und Meer gehorsam ftttb*2).3 Alles Meistern göttlicher Führungen hört auf, alle Anklagen gegen des Ewigen Wege verstummen. Denn vor dem Vater demüthigt sich das Kind, des Vaters Auge sieht ja weiter, als das seine; des Vaters Weisheit muß ihm ja auch
gegenüber den Räthseln des Lebens den Ausruf entlocken: „O welch'
eine Tiefe des Reichthums, beides der Weisheit und Erkenntniß Gottes!
Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforsch-
lich seine Wege!"2)
Alles Murren über zu herbes Geschick, alles
bange Fragen, warum Gott so schwer uns heimsuche, muß zurück treten hinter den einen Gedanken, daß der Vater auch im tiefsten
Leid nur unser Bestes wolle, daß denen, die Gott lieben, alle
Dinge zum Besten dienen müssen4).
Muß es uns doch gehen,
wie jenem Knaben, der in gebrechlichem Kahn mit seinem Vater
*) 2) 3) 4)
Jesaias 49, 15. Matthäus 8, 27. Römer 11, 83. Römer 8, 28.
21 zusammen
übers Meer fuhr,
und
als
man beim Sturm ihn
fragte, ob er sich denn nicht fürchte, zur Antwort gab: Wie sollt'
ich mich fürchten? mein Vater sitzt ja am Steuer. — Ja hat nicht der Erlöser, der das Vaterunser uns gegeben, dies selbst an sich empfunden?
Seine Seele war betrübt bis in den £ob *), als
er am Abend des Verraths mit seinen Jüngern hinauszog nach Gethsemane.
Immer heftiger drängte es ihn gen Himmel;
er
fühlte sich einsam und hatte den Wunsch, daß die Seinen nur eine Stunde mit ihm wachen möchten. wie Blutstropfen über seine Wangen.
Der Schweiß rann ihm
Aber als aus dem Herzen
des Gottessohnes die Worte hinaufstiegen: „Mein Vater, ist es
möglich, so gehe dieser Kelch von mir", da senkte sich des Himmels Friede auf ihn herab, und kühn ging er dem nahenden Feinde Er war ans Kreuz geschlagen, unsägliche Schmerzen
entgegen.
durchzuckten seine Glieder, er sah dem nahen Tode ins Angesicht.
Solange Finsterniß ihn umgab, er über sich nur seinen „Gott" sah, da klang es herzzerreißend vom Kreuz hernieder: Eli, Eli
lama asabthani d. h. mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen??) Aber als die Finsterniß vorüber war und des Vaters
Angesicht ihm wieder entgegenleuchtete, da ward Friede auch am Kreuz,
da
ward
der
Pfahl
der Schande zum
Siegespanier.
Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände, so rief er aus und neigte sein Haupt und verschied3*).* — Anders, als dein Er
löser am Kreuz, hältst du deine Hände beim Gebet, mein Christ. Ihm waren sie durchbohrt und ans Kreuz geheftet.
Du legst sie
gefaltet in einander und das thust du, weil du beten willst als Christ.
Die Hände sind ja das Werkzeug deiner Arbeit, deines
Schaffens und Ringens.
Legst du sie in einander, so ist das ein
Zeichen, daß deine Arbeit ruht, daß du in dem Augenblick ver zichtest auf eigenes Schaffen, daß du ergebungsvoll in einen höheren
Willen dich hingiebst, mithin daß du weißt: „Dein Vater in der
Höhe verläßt dich nicht, versäumt dich nicht."
*) Matthäus 26, 38 fg. -') Matthäus 27, 46. 3) Lucas 23, 46.
22
3.
Aber noch ein Wort steht in der Anrede des Herrengebets,
das von Bedeutung für uns ist.
Hier, wo er die Seinen beten
lehrt, sagt er nicht: Mein Vater, sondern Unser Vater.
Ja,
dies „Unser" oder „Uns" wiederholt sich bedeutungsvoll in den vier
letzten Bitten.
Unser täglich Brod gieb uns heute, so heißt es und
dann: „Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unfern
Schuldigem, führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel." — So dürfen wir denn wohl unsere persönlichen
Angelegenheiten nicht hintragen vor Gottes Thron? so hat er denn wohl für unsere persönlichen Wünsche kein Ohr? so sieht er wohl
nicht auf uns herab, wenn wir einsam im stillen Kämmerlein vor seinem Angesichte knieen? Das wäre ein falscher Schluß.
Sagt
der Erlöser ja doch selbst: Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Thür zu und bete z» deinem Vater im
Verborgenen; und dein Vater, der in das Verborgene siehet, wird dir's vergelten öffentlich').
Heißt es ja doch ausdrücklich beim
Psalmisten: Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisens.
Mit dem „Unser" schließen wir mit
Andern uns zusammen, und das will der Erlöser ja allerdings,
daß im Gebet vor Gott nie das Bewußtsein uns schwinde, daß wir einem großen Ganzen angehören.
Bleibt dies uns gewahrt,
dann mag immerhin das Unser dem Mein weichen.
In Gethse
mane hat ja der Erlöser selbst gebetet: Mein Vater, aber wie
liegt in demselben Augenblick doch das Heil der Menschheit ihm auf der Seele, wie lebt er da mit ihr und für sie.
Bete in der
Stille des Kämmerleins, trag deine persönlichen Angelegenheiten
vor Gottes Thron, aber nicht als einer, der von der übrigen Welt sich absondert, der mehr beanspruchen könnte, als die Andern, der höher stände als sie, für den die Welt allein da wäre.
Unser Vater, so sollst du beten, und auch dies „Unser" soll
') Matthäus 6, 6. 2) Psalm 50, 15.
23 deinem Gebet seine Richtung geben, wenn du sie nicht anders
woher empfängst.
Hienieden Hader und Streit, Zwiespalt und
Feindschaft, aber droben? — Unser Vater!
Siehe, das ist eine
Beobachtung, die wir oftmals machen, vom Himmel hängt es ab, wie die Erde uns erscheint.
Stehen schwere Gewitterwolken droben,
beginnt es zu stürmen, dann erscheint auch das Meer uns so schauerig,
der Wald uns so düster, die Felder so wenig einladend.
Wirft
aber die Sonne vom hellen, blauen Himmel ihre warmen, be lebenden Strahlen hernieder, dann erscheint auch die Landschaft
zu unsern Füßen uns in herrlicher Pracht.
Schauen wir im Gebet
hinauf gen Himmel zu unserm Vater, so kann es nicht anders
sein, auch die Mitmenschen müssen uns in andern: Lichte erscheinen, als es sonst wohl der Fall war.
Es muß Liebe zu ihnen unsere
Seele erfassen; der Vater droben ist ja auch ihr Vater, auch sie sind seine Kinder.
Der Arme, der bittend sich dir naht, ist es
so gut, wie der Reiche, auf den du mit Neid und Mißgunst blickst;
dein Vater, deine Mutter, dein Weib, dein Gatte, dein Kind sind
es nicht mehr, als der Feind, dem du zürnst, den du verfolgst; die in ihren Gräbern ruhen, sind es so gut, als die Lebenden, um
die du sorgst.
Du darfst, du kannst nicht beten, ohne zu denken
an das Wohl der großen Menschheit, der du angehörst, ohne dir zu sagen, wie auch Andere tragen unter des Lebens Last und Leid, so gut wie du, ohne zu berücksichtigen Vaterland und Volk, Kirche
und Gemeinde und die kleinen und kleinlichen Wünsche zurücktreten zu lassen hinter das Wohl des großen Ganzen, ohne dich leidend
und handelnd in den Dienst des Gottesreiches zu stellen und es dir eine Richtschnur sein zu lassen, was der Heiland sagt: Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit,
so wird euch solches alles zufallen').
Du darfst, du kannst nicht
beten, ohne daß alles das sich dir schwer auf die Seele legte, was die Menschheit an Sünde und Schuld auf sich geladen, ohne daß auch du von dir bekennst: Auch ich bin ein Glied dieser sündigen
Menschheit,
auch
ich trage
’) Matthäus 6, 33.
mit an dieser allgemeinen Schuld.
24 Du kannst, du darfst aber auch nicht beten ohne den Gedanken, wie hoch die sündige Menschheit ist begnadigt worden, wie Gott
also die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das
ewige Leben haben'), ohne
daß die selige Gewißheit in dir auf
leuchtet, auch du gehörst der begnadigten Menschheit an.
So giebt uns das Wort „Vater" für unser Gebet die rechte Stellung zu unserm Gott, das Wort „unser" die rechte Stellung
zu den Brüdern.
Jenes
erhebt den
Blick freudig nach oben,
dieses erweitert das Herz hienieden. Möge das denn eine Richtschnur für alle unsere Gebete sein, die wir hienieden stammeln, möge jedem unserer Gebete der Gedanke des Liedes zum Grunde liegen: Herz und Herz vereint zusammen
Sucht in Gottes Herzen Ruh, Lastet eure Liebesflammen
Aufwärts steigen Jesu zu. Er das Haupt, wir seine Gieder; Er das Licht und wir der Schein; Er der Meister, wir die Brüder; Er ist unser, wir sind sein.
') Johannes 3, 16.
Amen.
Die erste Bitte. MatthSus 6, 9.
Dein Name werde geheiliget.
Große Namen! wer unter uns kennte keine? Sie ziehen
vor unsern Augen vorüber all jene Braven, die mit Heldenmuth
ihr Leben dem Vaterlande geweiht, all jene großen Staatsmänner, die für Jahrhunderte die Geschicke der Völker bestimmten, all jene großen Denker, die die letzten, höchsten Fragen des menschlichen
Geistes behandelten, all jene großen Dichter und Meister, die durch ihre Kunst das Menschengemüth über das Alltägliche empor
zuheben verstanden.
Zu tief haben sie alle ihre Spuren einge
prägt in die Geschichte der Menschheit,
als daß eine dankbare
Nachwelt ihr Andenken nicht sollte zum Segen sich
bewahren.
Heilige Namen! wie viele giebt es auch deren! Zu dem Heiligthum der Kaaba zieht es des Muselmanns Herz; Allah ist der
höchste Name, den seine Seele kennt.
Groß ist die Diana der
Epheser') schrie einst in jener Stadt Kleinasiens die erregte Volks
masse, als sie der Göttin Heiligthum gefährdet sah.
Und Israels
Söhne? Ihr Herz zog sie hin gen Moria, gen Zion, gen Jeru salem.
Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten
vergessen.
Meine Zunge müsse an meinem Gaumen kleben, wo
ich deiner nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste
Freude fein*2), so sprach der fromme Beter in der Fremde. *) Apostelgeschichte 19, 28. 2) Psalm 137, 5 u. 6.
Ja
26 Jehovah! bei diesem Namen hüllte sich alles in tiefes Schweigen. Zu
heilig war derselbe um über sterbliche Lippen gebracht zu
werden.
Endlich der Christ! wie viel heilige Namen erfüllen
seine
auch
Seele
mit heiliger Scheu!
Sei's Bethlehem,
sei's
Golgatha, sei's des Meisters eigener heiliger Jesus-Name, nur mit
Ehrfurcht bringt er diese Worte über seine Lippen.
Und doch!
der echte, christliche Beter kennt im letzten Grunde im Hinblick auf alle heiligen Namen nur den einen Wunsch: Dein Name
werde geheiligt, und dies „dein" gilt seinem Gott, zu dem er
soeben gesprochen: Unser Vater in dem Himmel. Aber wie denn? ist dieser Name nicht an sich selbst heilig? Schon vor dem alttestamentlichen Gottesnamen, vor Jehovah, vor dem, der da ist und der da war und der da sein wird, vor dem
Herrn der Heerscharen beugt der Cherub in Demuth sein Haupt, rufen die Seraphim einander zu:
Herr Zebaoth;
heilig,
heilig,
heilig ist der
alle Lande sind seiner Ehre voll')!
Wie sollte
denn der Gott erst menschlichen Thuns, erst menschlicher Bitte be dürfen, um seinen Namen heilig leuchten zu sehen, den wir unsern Vater nennen, den unsere deutsche Sprache „Gott" d. h. den Guten nennt, von dem es heißt: Gott ist die Liebe, und wer in der
Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm3*).2 Wie könnte
er selbst da seine Heiligkeit einbüßen und befleckt erscheinen, wo
Menschen in fleischlicher Sicherheit, in frivolem Witz die Ehre ihm zu rauben suchen, die ihm gebührt?
Wenn des Spötters Mund
sich längst geschlossen und lange schon sein Leib modernd ruht in
der Erde Schooß, dann steht er noch immer da in alter Majestät
von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Siehe, die Sonne bleibt dieselbe, ob
auch Wolken zeitweilig vorüberziehen und sie hindern, ihre Strahlen
auf unsere Erde zu senden, bleibt dieselbe, ob du auch in finstere
Höhle dich verkriechst und von willst.
dem Sonnenlicht nichts wissen
Dieser Sonne gleicht unser Gott.
Er wohnt in einem
Lichte, da Niemand zukommen tarnt3); er ist der Vater des Lichts,
*) Jesaias 6, 3. 2) 1. Johannes 4, 16. 3) 1. Timotheus 6, 16.
27 bei welchem ist keine Veränderung, noch Wechsel des Lichts und
der Finsterniß *). Was wir bitten,
ist darum nicht dies, daß der Heiligkeit
Gottes etwas zugesetzt werde, sondern, wie Luther sagt, daß dieser
Name auch bei uns heilig sei d. h. abgesondert, hoch erhaben da
stehe über allen andern Namen.
Es ist ja schön und gut, wenn
es große Namen giebt, welche unser Herz zu begeistern vermögen, und zu den schlechtesten gehört der Jüngling wahrlich nicht, der
da, wo ein großer Name ihm genannt wird, voll Begeisterung
zu reden weiß von all dem, was an diesen Namen sich knüpft, dem man es anmerkt, nichts liege ihm mehr am Herzen, als die
Verwirklichung all der Pläne und Ideale, die der Träger jenes Namens einst gehabt und für die er sich geopfert.
Aber das
Bild, das der Meister im Auge hat, wenn er betet: dein Name werde geheiligt, geht weit über dies hinaus. eine
Menschheit
vor sich,
Er sieht im Geiste
der der Name „Gott",
„Vater im
Himmel" hoch erhaben über Allem steht, der er Alles in Allem
ist, die diesen Namen nicht ohne heilige Scheu über ihre Lippen
bringt, die sich sagt, das Erhabenste, was der Mensch zu denken, sich vorzustellen vermöge, reiche im Entferntesten nicht an die Er
habenheit jenes Wesens, das der Name Gott bezeichnet.
im Geiste alle Völker der Erde auf den Knien,
Er sieht
sobald dieser
Name das Ohr erreicht; er hört ihn preisen aus dem Munde der Großen und
Kleinen,
der
Frohen
und
der Bekümmerten, der
Reichen und der Armen, der Lebenden und der Sterbenden, an
den kalten Polen und auf dem heißen Sande des Aequators; er
hört im Geist überall die Menschheit rufen: Allein Gott in der Höh' sei Ehr
Und Dank für seine Gnade.
Und daß dies Ziel erreicht werde, das ist des Heilands Wunsch.
Daraus ergiebt sich unser Thema: Wann
wird
des
Heilands
Wunsch
in
gehen, daß Gottes Name geheiligt werde? !) Jacobus 1, 17.
Erfüllung
28 Die Antwort lautet:
1.
wenn wir uns bemühen, daß der Name Gottes nie in die Wogen menschlicher Leidenschaft und
Sünde hinabgezogen werde; 2.
wenn wir
danach
streben,
den
Gottes
Namen
nur mit den erhabensten Vorstellungen in Ver
bindung zu bringen; 3.
wenn wir lernen, im Gedanken an Gottes Ehre,
auf allen eignen Namen zu verzichten.
1. Zum
Heiligen
dies,
daß
oder
menschlicher
göttlichen Namens
des
derselbe nie
vom Staube
Sünde
befleckt
gehört
vor Allem
menschlicher Leidenschaften
werde.
Als
einen
Frevel
empfindet es die fühlende Brust, wenn Menschenmund sich aufttzut zu offner Lästerung dieses Heiligsten, was es im Himmel und auf Erden giebt, und wir gehen in den meisten Fällen nicht
fehl,
wenn
wir
da,
wo
man
den Namen Gottes lästert, auf
einen hohen Grad sittlicher Verkommenheit schließen.
Auch das
empfindet man als einen Beweis sittlicher Roheit, wenn Menschen
die Namen verlästern, welche andere Völker und Religionsge meinschaften ihrer Gottheit beilegen.
Es ist uns, als müßten wir
ja doch auf diese Völker das Heilandswort anwenden: Laßt sie
mit Frieden, sie haben gethan, was sie thun konnten').
Ja selbst
das ist eine Erscheinung, die uns entgegentritt, daß edlere Naturen,
welche durch die Erfahrungen des Lebens zum Bruch mit allem Gottesglauben gekommen, doch zum Lästern der Gottheit nicht fortschreiten mögen, vielmehr es an Andern achten, wenn sie mit
heiliger Begeisterung von der Gottheit reden.
Daher sagt auch
schon das alte Testament: Welcher des Herrn Namen lästert, der
soll des Todes sterben, die ganze Gemeinde soll ihn steinigen; wie der Fremdling, so soll auch der Einheimische sein; wenn er den
J) Marcus 14, 6 u. 8.
29 Namen lästert, so soll er sterben').
Aber das offne Lästern des
göttlichen Namens ist das Einzige nicht,
hüten haben.
vor dem wir uns zu
Es heißt im zweiten Gebot: Du sollst den Namen
deines Gottes nicht unnützlich führen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht, und unser Luther sagt dazu in der Erklärung desselben: Wir sollen Gott
fürchten und lieben,
daß wir bei seinem Namen nicht fluchen,
schwören, zaubern, lügen oder trügen, sondern denselben in allen
Nöthen anrufen, beten, loben und danken.
Ist es ja doch schon
im täglichen Leben also: das Erhabene leidet, wenn wir es mit dem Gemeinen und Gewöhnlichen verbunden sehen.
Der große
Charakter, den wir bewundern, der Gelehrte, dessen Scharfsinn wir anstaunen, der Dichter, dessen Lieder wir mit Begeisterung
fingen, der Geistliche, dessen Predigten wir mit Andacht vernehmen, verlieren, sobald wir sie kennen lernen in ihren Leidenschaften, in
ihren kleinen und kleinlichen Fehlern und Gebrechen.
Die Dich
tung verliert ihren Reiz, sobald die Erinnerung in uns erwacht
an das Komische und Alltägliche, und die Welt hat ihre Absicht dabei, wenn sie es
liebt, das Strahlende zu schwärzen und das
Erhabene in den Staub zu ziehn.
Muß
schon darunter der
göttliche Name leiden, daß du ihn unnütz oder leichtsinnig führst, wo er nicht geführt zu werden brauchte, daß du gedankenlos ihn
auf
deine
Lippen nimmst und
genau
du ihm
so
gleichgültig
gegenübertrittst, wie den alltäglichen Dingen, die dich umgeben,
wie viel mehr leidet er dann, wenn du im Fluch ihn zu Akten
des Zornes oder der Rache mißbrauchst,
wenn du den Namen
der ewigen Liebe anwendest, um den Menschen Unheil und Miß
geschick anzuwünschen, wenn Himmel und Hölle, Gott und Teufel
so auf eine Stufe von dir gestellt werden.
Darum heißt es beim
Apostel Paulus: Segnet die euch verfolgen, segnet und fluchet nichts
oder
beim
Erlöser
selbst:
Liebet
eure Feinde,
segnet
die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die,
') 3. Moses 24, 16. 2) Römer 12, 14.
30 so euch beleidigen und verfolgen').
Wie leidet ferner der göttliche
Name, wenn er im falschen Eide von Menschen angerufen wird,
um Lug und Trug als Wahrheit hinzustellen, wenn der Mensch, seiner Schuld sich bewußt, den Namen des Höchsten zum Zeugen
seiner Unschuld anruft, wenn er mit dem Munde ihn als Rächer
der Unwahrheit herbeiwünscht und doch im Innern mehr oder
weniger sicher dem Gedanken sich hingiebt, Gott werde nicht als Rächer erscheinen, wenn -irgend ein irdischer Vortheil, den man durch den Meineid erhofft, erstrebenswerther erscheint, als Gott, den
man durch denselben auf immer von sich stößt.
Ja es war voller
Ernst beim Erlöser, wenn er von den Genossen seines Reiches
sogar forderte, daß sie allerdings nicht schwören sollten, weder bei dem Himmel, als dem Stuhle Gottes, noch bei der Erde, als
seiner Füße Schemel, noch bei Jerusalem, als der Stadt eines großen Königs"), wenn er sagte: Eure Rede sei ja, ja, nein, nein,
was darüber ist, das ist vom Uebel"); und ich möchte, daß wir, im Andenken an diese Worte des Meisters, alle jene Formen der
Betheuerung unterließen, mit denen wir im täglichen Umgang
unsere Worte zu unterstützen suchen, daß wir auch vor dem Richter nicht auf Eiden bestünden, wo es sich um die geringfügigsten Dinge
handelt oder die Wahrheit
gar durch andere Mittel festgestellt
werden könnte, daß wir nicht leichtfertig schwören und die Worte des Schwures hinsprächen, als wären es Worte des alltäglichen
Umgangs.
Fern sei es von uns, den Eid zu verweigern, wo das
Gesetz ihn von uns fordert.
Denn so lange wir Erdenkinder
Glieder dieser
dieser sündigen Menschheit
endlichen Welt,
wird der Richter des Eides nicht entbehren können.
sind,
Aber ver
gessen wir nie, der Eid ist nur ein Nothbehelf um unserer Sünde willen und in einer vollendeten Menschengemeinschaft bei vollen
deter Gottesgemeinschaft wird er nicht mehr sein. ist
der Name
verwickelt
Gottes,
zu werden.
um —
*) Matthäus 5, 44. 2) Matthäus 5, 34 u. 35. ’) Matthäus 5, 37.
in die Händel
Als
ein
des
Entheiligen
Denn zu hoch
Alltagslebens
des
göttlichen
31 Namens nennt Dr. Martin Luther ferner das Zaubern, bei dem der Mensch vorgiebt, im Namen Gottes die Grenzen menschlichen Wissens
und
menschlicher Kraft überschreiten
zu können.
Wir
werden damit erinnert an jene dunkeln Mächte des Aberglaubens, die vergangene Jahrhunderte beherrschten, wo bald ein geheimniß
volles Wort, bald eine besondere That sollte Krankheiten heilen, den Menschen Glück und Unglück bringen können.
Aber möge diese
Erinnerung nicht in uns erwachen ohne tiefe Beschämung, daß auch unser Jahrhundert, welches sich doch seiner Aufklärung rühmt,
mit Nichten mit dem Aberglauben
gebrochen
hat.
Bestimmte
Tage und Ereignisse, bestimmte Begegnungen, der Vögel Flug und Schrei sind Tausenden unter uns bedeutungsvolle Vorzeichen, aus denen sie die Zukunft herauslesen wollen, um daraufhin sich zu
freuen oder zu zittern.
Des Schwindlers Zauberspruch bei Krank
heiten ist Tausenden unter uns weit lieber, als die Hülse eines ver ständigen Arztes.
Und wie oft knüpft sich dieser Aberglaube an
an die heiligsten Handlungen, wie viele wollen bei Todesgefahren nur deshalb ihr Kind getauft wissen,
weil sie davon körperliche
Heilung erhoffen, oder vor ihrem Ende nur deshalb das heilige
Abendmahl auf dem Sterbebette genießen, weil sie meinen, dann
entscheide es sich mit ihnen entweder zum Leben oder zum Tode. M. L., Gott hat gesagt: Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten,
so sollst du mich preisen1) und
ferner vernehmen
wir die Aufforderung: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn;
er wird es wohl machens.
Er soll uns vor Augen
stehen als der, der allein helfen kann und helfen will zu seiner Zeit, den man nur anzurufen braucht in allen Nöthen, um der Hülfe gewiß zu werden.
Wird darum sein Name geheiligt, wo
Worte der Bitte und des Dankes zu ihm emporgehen, als dem alleinigen Geber aller guten und aller vollkommnen Gabe, so daß
Fernstehende sagen:
Was muß das für ein Gott sein, den die
Seinen also verehren, ehren auch in Noth und Trübsal, so wird
1) Psalm 50, 15. 2) Psalm 37, 5.
32 er entheiligt durch alle Zauberei und allen Aberglauben, weil
der Mensch da an Ehre für sich in Anspruch nimmt, was allein
Gott gebührt, weil der große Gott da als ein solcher erscheint, der zu seinen Zwecken kleinlicher Mittel sich bedient. — Endlich wird von Dr. Martin Luther auch das Lügen und Trügen beim Namen Gottes
als
ein Entheiligen
desselben
hingestellt.
Wir
haben dabei an den Heuchelschein zu denken, wo man den Namen Gottes im Munde führt, Mienen und Gebehrden sucht, die von Demuth und Gottesfurcht reden sollen, aber dennoch innerlich der
Sünde dient, wo man heiligen Pflichten sich entzieht unter dem Schein der bessern Ueberzeugung, wo des Christen Freiheit der
Deckmantel wird für Liederlichkeit und Zuchtlosigkeit, wo
das
Pochen auf den Hauptgrundsatz der Reformation, daß der Mensch
nicht gerecht werde durch des Gesetzes Werk, sondern allein durch den Glauben, ein Deckmantel wird für Lieblosigkeit und Untreue.
Wir könnten hier noch hinzufügen, auch das ist ein Entheiligen
des Namens Gottes, wenn der Mensch Christ heißen will und sich damit als Kind seines Gottes bezeichnet und doch durchs Leben
geht, wie ein Weltkind, doch in der Welt nicht bethätigt, weß
Geistes Kind er sein will und soll.
O, wie leidet darunter der
Name Gottes, wie oft ist um dessenwillen schon der Christenname
verlästert, haben Andersgläubige schon vom Christenthum sich ab gewandt, während auf der andern Seite durch Liebe, durch Treue,
durch Gewissenhaftigkeit der göttliche Name unter uns geheiligt wird, diejenigen, die diese an uns sehen, sich angezogen fühlen und
auch den Christennamen tragen möchten.
Wie haben sie sich unter
einander so lieb, wie sind sie so standhaft in Leid und Verfolgung,
wie führen sie ein so stilles und sittliches Leben! so sprach schon in den ersten Zeiten des Christenthums manch Heidenherz von der
jungen Christengemeinde und fühlte sich hingezogen zu ihr.
Wie
denn auch schon der erste Petrusbrief auffordert: Und führet einen
guten Wandel unter den Heiden, auf daß die, so von euch after-
reden, als von Uebelthätern, eure guten Werke sehen und Gott preisen, wenn es nun an den Tag kommen toirb1).
') 1. Petrus 2, 12.
Ja wenn wir
33 in unsern Tagen uns so viel darüber beklagen,
daß Tausende
dem Christenthum und seinem Gott fern bleiben, daß draußen in den Heidenländern noch Finsterniß das Erdreich decket und Dunkel die Völker,
noch in unserer Mitte wohnt und sich
daß Israel
nicht beugen mag unter das Kreuz, dann laßt uns vor Einem
uns hüten, nur zu eifern wider die schlechte und verderbte Mensch heit um uns; es ziemt uns, den Blick hinzuwenden auf unser Herz und unser Leben, auf das, was Christen thun und reden, sei
es auf unsern Kanzeln, sei es auf dem offnen Markt des Lebens. O, daß wir fragen wollten: Liegt die Schuld vielleicht an mir selbst?
Wird vielleicht durch uns der Name Gottes entheiligt,
weil wir ihn in die Wogen menschlicher Leidenschaften und Sünde
hinabziehen? Dränge nur endlich diese Frage in den Vordergrund aller Verhandlungen,
wie
es
bester werden könnte mit unserm
Volk, wahrlich! wir hätten schon viel erreicht.
2.
Damit hängt nun aber ein Zweites zusammen.
Kann schon
die Art, wie der Gottesglaube auf uns wirkt fürs Leben, zum
Heiligen des göttlichen Namens etwas beitragen, wie viel mehr dann die Anschauungen, welche wir an den Namen Gottes knüpfen, und wähnen wir deshalb nicht, daß diejenigen Recht haben, welche meinen, auf die Vorstellungen von Gott komme es gar nicht an.
Jede unwürdige Vorstellung von Gott muß mit Nothwendigkeit
abstoßen, jede geläuterte die Herzen anziehen, wenn anders diese überhaupt noch religiös zu empfinden vermögen.
Würde unserer
Zeit zugemuthet, die Gottheit als eine Mannigfaltigkeit von ein zelnen Göttern sich zu denken, in einem Gebilde von Menschen hand
den Gott selbst
zu
erkennen,
die Götter
nach Heidenart
fröhlich und betrübt sich vorzustellen, würde ihr gesagt, sie ent
brennen von Leidenschaften,
wie schwache Erdenkinder, sie lasten
sich fortreißen selbst zu unsittlichem Thun, sie fordern Opfer von
Thieren, ja selbst von Menschen, wahrlich! man würde sich mit
Entrüstung abwenden.
Und blickst du hinein in die Kreise der3
34 fettigen, welche, obwohl nicht ohne Ernst das Leben auffassend, mit Gewissenhaftigkeit an die
Aufgaben desselben herantretend, doch
mit dem Christenglauben gebrochen haben, bei wie vielen findest
von mehr
du, nur das trägt die Schuld, daß ein Gottesbild
oder minder
unwürdiger Form ihnen entgegengebracht worden,
daß ihre religiöse Ausbildung
übrigen Entwicklung.
nicht Schritt gehalten mit ihrer
Es giebt Menschen, welche meinen, wer die
Religion pflege, muffe auch den Aberglauben pflegen; aber wer je
einen Blick hineingethan hat in unser Volk, der weiß, wie sehr
die Religion, der Name Gottes grade um des oft mit ihm ver bundenen Aberglaubens willen verlästert wird, wie grade da, wo
viel Aberglaube, auch viel Unglaube ist.
Darum, willst du den
Namen Gottes heiligen, dann ringe nach immer lautereren Vor stellungen von ihm und seinem Heilsrath;
alles das,
menschliche Schwäche und Endlichkeit
gar
oder
an
was an
menschliche
Leidenschaften und Sünde erinnern könnte, das halt von ihm fern.
Du sagst mit Recht, Gott sei ein persönlicher Gott und redest ihn darum mit deinem „du" an im Gebet, aber vergiß nicht, daß er
keine Leiblichkeit besitzt, daß er unsichtbar und über Raum und Zeit erhaben ist.
Du sagst mit Recht, er sei die Liebe, aber ver
giß nicht, daß er nicht bevorzugte Lieblinge sich hält, wie Menschen
dies wohl zu thun pflegen.
Du betest zu ihm mit Recht als zu
deinem Vater, aber vergiß nicht, daß jede Schwäche irdischer
Vaterliebe ihm fern ist.
Mit einem Worte, wende die Gabe
deines Verstandes an, um deine Vorstellungen von Gott immer mehr zu läutern, halt auch dein Kind dazu an und sag ihm, wie
bitter sich das Gegentheil rächen würde im Leben.
Aber hüte
dich auch vor einem Fehler, an dem grade unsere Zeit leidet, mit dem kleinen menschlichen Verstände die Tiefen der Gottheit durch
dringen
und
erfassen zu wollen.
Vergiß nicht,
du stehst dem
Gott gegenüber, den Himmel und Erde nicht zu umfassen ver mögen, vor dem es gilt alle Vernunft gefangen zu nehmen unter
den Gehorsam Christifl.
') 2. Corinther 10, 5.
Hier hat nicht allein der Verstand sein
35 Recht;
der könnte
schließlich
dahin kommen,
mit dem Namen
„Gott" nur noch ein todtes, inhaltsleeres Gedankengebilde zu ver binden, könnte schließlich zu einem Gott gelangen, der im letzten Grunde nichts Anderes mehr ist, als die Natur, die uns umgiebt, als das Weltall, in dem wir uns bewegen — und ein solches
Gottesbild würde nicht minder abstoßen, als das des Aberglaubens, weil es
kein Vertrauen erweckt, keine Liebe verkündet.
Bei der
Vorstellung von Gott haben auch Gefühl und Wille mitzureden.
Diese Vorstellung wird mit bedingt durch jene Stunden, wo du bald Gottes strafende, bald Gottes liebende Hand an dir ver spürtest, jene Stunden,
wo dein Wille durch höhere Kräfte ge
läutert und gestählt ward.
Ohne Erfahrung der göttlichen Liebe
an sich selbst, ohne Gegenliebe zu Gott keine wahre Erkenntniß
Gottes! Denn wer nicht lieb hat, der kennet Gott nicht; denn Gott ist die Liebe, so lesen wir im ersten Briefe des Johannes').
Diese Vorstellung von Gott muß mit bedingt werden durch das, was vor dir und mit dir Andere über Gott gedacht und empfunden
haben, kurz durch jene lange Geschichte der Christenheit, die jetzt
bereits bald zwei Jahrtausende umspannt.
Diese Vorstellung ist
vor allem bedingt durch das, was wir von dem Erlöser wissen,
durch das,
was diejenigen uns lehren,
welche vom Geiste des
Meisters getragen waren und in ihren Erdentagen in dem Sohne den Vater erkannten, seine Herrlichkeit sahen, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahr
heit^).
Wenn daher unser Luther auf die Frage: Wie geschieht
das, daß der Name Gottes auch bei uns heilig werde?,
die
Antwort findet: Wo das Wort Gottes lauter und rein gelehret
wird, so hat er das Rechte gefunden.
Nur dürfen wir das Wort
Gottes nicht etwa beschränken auf die heilige Schrift allein, wenn
sie auch für alle Zeiten die Norm unseres christlichen Glaubens
bleibt.
Denn Gott redet zu uns
auch durch die Natur, auch
durch die Geschichte, auch durch das eigene Herz, und auch dieses
*) 1. Johannes 4, 8.
2) Johannes 1, 14.
36 Wort Gottes gilt es zu
deuten.
Nur müssen wir davor uns
hüten, je anzunehmen, es könnte eine menschliche Form des christ
lichen Gottesglaubens geben, die als solche schon vollkommen wäre. Derjenige, welcher in unserm Katechismus lautere und reine Lehre
fordert, ist ja derselbe, dessen ganzes gegen alle Menschensatzung geweiht war.
Leben eben dem Protest
Die lautere, reine Lehre
bleibt eben ein Gegenstand steten Suchens und Ringens, oder die
Wahrheit haben wir nur, so weit wir sie suchen, und grade da, wo man sie voll zu besitzen wähnt, grade da ist sie nicht.
Wir
sehen ja jetzt nur durch einen Spiegel in einem dunklen Wort,
dann aber von
Angesicht zu Angesicht; jetzt erkenne ich es stück
weise, dann aber werde ich es erkennen, gleich wie ich erkannt bin, sagt der Apostel Paulus *).
3. Aber soll dies hohe Ziel von uns erreicht werden, dann
müssen wir verzichten auf einen eignen Namen vor den Menschen. Was träte wohl allem Suchen nach Wahrheit, allem Deuten
des göttlichen Wortes hinderlicher in den Weg, der Menschen, sich selbst einen Namen zu machen.
als die Sucht
Der Ruhm
hoher Wissenschaftlichkeit soll auch im Reden von Gott und gött
lichen Dingen geerntet werden und läßt dabei dann die
Seele
die Demuth vergessen, mit welcher sie sich in die Geheimnisse des göttlichen Wesens und Wortes versenken sollte.
Die Sucht, geist
reich zu erscheinen und um des willen sich anstaunen zu lassen,
läßt die Seele leichtfertig sich lossagen von der einfachen Sprache
der Bibel und der Art und Weise, wie die Alten vom Heiligsten geredet.
Das Streben, mit geläuterten Vorstellungen von Gott
zu prunken, zieht jenen Stolz groß, in dem die Seele gering schätzig auf das einfache, fromme Gemüth hinabsieht, das seinen Gott weit mehr in sich empfindet, als klare Vorstellungen von
ihm sich zu bilden vermag.
Die Aengstlichkeit, bei den Mode
christen anzustoßen, ihre Gunst zu verlieren, ihre Anfeindung sich
') 1. Corinther 13, 12.
37 zuzuziehen, läßt die Seele oft jene Wahrhaftigkeit verleugnen, die vom Christen fordert, nie anders zu sprechen, als er denkt, mannhaft
im Kampf der Meinungen für das einzutreten, was er für das Rechte
hält.
Das
dagegen
muß
zum Ziele führen,
wenn der
Mensch nach dem eignen Namen nicht fragt, sondern lediglich: Was fordert Gottes Ehre?
was fordert die Wahrheit? wozu
treibt mich der Geist Gottes, der uns in alle Wahrheit leiten soll?
Solcher Sinn hat ja die Verheißung:
so werdet ihr
Suchet,
finden; klopfet an, so wird euch aufgethan') und: Den Aufrichtigen
läßt Gott es gelingen*2).
Was könnte ferner wohl dem Preise des göttlichen Namens hinderlicher sein, als eben die Sucht, dem eigenen Namen oder sich selbst nichts zu vergeben?
Befällt uns Leid und Trübsal,
blicken wir hin aus die Widersprüche des Erdenlebens, dann regt
sich in uns die Sucht, des Ewigen Wege zu meistern.
Es scheint
so viel uns räthselhaft, mit unsern Anschauungen nicht vereinbar,
aber wir mögen daran nicht denken, daß wir kurzsichtig sind, daß schon hienieden in der sichtbaren Welt so viel uns ein Räthsel
ist und darum unser Urtheil nicht maßgebend sein kann. Wir lassen
uns darum dazu fortreißen,
Gott anzuklagen oder gar zu be
haupten, es könnte um dieser Widersprüche willen überhaupt keinen Gott geben.
Blicken wir hinab vor unsere Füße, so fällt unser
Auge auf den Wurm der Erde, der dort kreucht, und wir be-
meistern sein elendes Dasein, oder auf die Blume des Feldes, die köstlicher gekleidet ist, als Salomo in aller seiner Herrlichkeit, und
wir bemeistern, daß sie der Vernichtung preisgegeben ist.
Blicken
wir um uns auf die Bäume in ihrer Pracht, auf ihren Blüten
schmuck im Frühling, dann bemeistern wir, daß so manche Blüte zu Grunde geht, bevor sie ihren Zweck erreicht.
auf gen Himmel, wie die Wolken ziehen,
Blicken wir hin
dann bemeistern wir
heute, daß die Sonne zu viel Wärme uns sendet, morgen, daß
die Wolken so viel Regen herniederströmen lassen.
') Matthäus 7, 7. 2) Sprüche Salomo's 2, 7.
Blicken wir
38 hin auf die Geschichte der Menschheit, dann bemeistern wir die
vielen Rückschritte, die vielen Triumphe menschlicher Leidenschaften
und Sünde. Blicken wir hin auf das eigne Leben, dann bemeistern wir das Durchkreuzen unserer Pläne, das Vereiteln unserer Lieblingswünsche, das
mannigfaltige Leid, das uns trifft, den Tod,
der nach des Lebens Qualen schließlich uns ein jähes Ende be Aber wo dies Meistern verstummt, wo die Seele, ihrer
reitet.
Endlichkeit sich bewußt, sich sagt: Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken und unsere Wege nicht seine Wege, sondern so
viel der Himmel höher ist, denn die Erde, so sind auch seine Wege
höher, denn unsere Wege und seine Gedanken, denn unsere Ge dankens — o, da setzt der Glaube in kühnem Fluge über alle diese
Widersprüche sich hinweg und sagt sich: Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehend und
denen, die Gott
lieben, müssen alle Dinge zum Besten bienen*3), da tritt schließlich der Seele das Bild des großen Gottes in erneutem Glanz und
Heiligkeit entgegen.
Was
könnte
endlich
wohl
einem
christlich-sittlichen
Leben
hinderlicher sein, als die Sucht nach einem eignen Namen, als
das Widerstreben, das eigene Selbst zu opfern.
Sittliches Leben,
wo wir heilig als die Kinder Gottes nach dem lautern Gottes worte leben, das fordert Aufopferung, fordert Liebe, fordert Hin gabe, fordert stetes Sichhineinringen in Gottes Gebote und Forde
rungen.
Wie wäre dies aber möglich, ohne Verzicht auf alles
das, was das eigene Selbst uns gebietet? Sagt doch der Heiland:
Wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht
geschickt zum Reiche Gottes4),5 oder: Wer Vater oder Mutter mehr
liebt, denn mich, der ist meiner nicht werth3) oder: Wer sein Leben erhalten will, der wird eS verlieren, wer aber sein Leben verlieret
*) 3) 3) 4) 5)
Jesaias 55, 8. Apostelgeschichte 14, 22. Römer 8, 28. Lucas 9, 62. Matthäus 10, 37.
39 um meinetwillen, der wird es finden'), oder: Will mir Jemand
nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz aus sich
und folge mir"). Welch' eine Fülle sittlicher Arbeit
Augen!
m. L.
stellt sich
uns
da vor
Aber daß sie durch uns geschehe, das lehrt der
Meister mit der ersten Bitte uns erflehen.
Von der Höhe des
Sinai war es unter Blitz und Donner als ein heiliges Gesetz
Gottes
den Menschen
entgegengetreten:
Du sollst
den Namen
deines Gottes nicht unnützlich führen, denn der Herr wird den
nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.
Doch das
Gebot Gottes hatte die menschliche Unfähigkeit, demselben nach
zukommen,
nur zu deutlich gezeigt.
Christus will nun, daß die
Gnade bewirke, was das Gesetz nicht erreichen konnte.
Er erfleht
von Himmels Höhen, daß dorther die Kraft komme, die uns den
Namen Gottes heiligen läßt.
uns darum beten gelehrt.
') Matthäus 16, 25. 2) Matthäus 16, 24.
Wollte Gott, er hätte heute auch
Amen.
Die zweite Bitte. Matthaus 6, 10. Dein Reich komme. Unser Vater, der du bist im Himmel; so lehrt der Erlöser
Danach steigt als
uns unsern Gott anreden. empor:
erste Bitte diese
dein Name werde geheiligt und folgt die zweite:
Reich komme.
dein
Welch' scharfer Contrast zwischen seinem Gebet
und unsern Gebeten zeigt sich gleich hier!
Kaum ist unser Blick
gen Himmel gerichtet, kaum sind die Hände gefaltet, kaum hat
der Mund sich aufgethan, da dringt heiß und ungestüm über die Lippen, was an kleinlichen Erdensorgen unser Herz erfüllt. Mach'
mein Kind wieder gesund! so lautet die erste Bitte der Mutter, die am Sterbebette ihres Theuersten kniet.
Wend' ab die Gefahr,
die über meinem Haupte schwebt! ruft der Geängstete, den Tod und Todesschatten umgeben. Laß die Saaten gedeihen! ist des Landmanns erste Sorge.
Laß mich bald zu einer Stellung ge
langen unter den Menschen!
so steht der Jüngling.
Wie anders
der Erlöser! Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme! so lauten seine ersten Bitten.
Nicht das „mein", das „unser" ist da
das erste Wort, sondern das „dein", nicht das Irdische ist da die Hauptsorge, sondern das Himmlische, nicht der eigne Name, sondern Gottes Name, nicht das Glück der Erde, sondern das Heiligsein des Höchsten.
Das eben ist der Unterschied zwischen ihm und
uns: Wir wollen im Gebet unsern Gott uns dienstbar machen,
er soll nach unserm Willen den Lauf der Welten ändern, Jesus
41 dagegen will, daß wir im Gebet uns unserm Gott dienstbar machen,
daß wir mit Freudigkeit den Platz im Lauf der Weltgeschichte ein
nehmen, den sie nach dem Rathe des ewigen Vaters uns zuweist.
von Gott nur das Wohl des eignen
Wir fordern im Gebet
Selbst, Christus hat uns gelehrt, im Gebet darum zu flehn, daß das Selbst sich wohl fühle in Gott.
Am vorigen Sonntag versenkten wir uns in die Worte:
Dein Name werde geheiligt.
Wir sahen, wie diese Bitte von uns
forderte, den heiligen Namen Gottes nie in die Wogen mensch
licher Leidenschaften herabzuziehen, vielmehr denselben nur mit den erhabensten Vorstellungen in Verbindung zu bringen, wie wir zu dem Ende aber auf allen eignen Namen verzichten müßten. Doch, mit dem Namen Gottes berühren wir gleichsam nur den Saum
seines Gewandes und doch wollen wir in sein innerstes Wesen
dringen, damit alles in uns und um uns von ihm durchdrungen werde.
Darum schreitet auch das Gebet des Herrn fort von Wir aber machen die zweite
seinem Namen zu seinem Reich.
Bitte des Herrngebets dadurch zum Gegenstand unserer Betrach
tung, daß wir mit einander fragen:
1.
was ersehnt sie?
2.
was fordert sie zu diesem Zweck von uns?
3.
wann
allein
kann
dieser
Forderung
genügt
werden?
1. Reich Gottes! o erhabener Gedanke! so erhaben, daß wir
wohl den Geist aus der Höhe uns erflehen mögen, damit wir er fassen, was der Meister darunter verstanden hat.
Hat er ja doch
selbst dies Reich Gottes immer wieder zum Gegenstände seiner Predigt gemacht,
bildet
es
doch
in
seinen Gleichnissen immer
wieder das Thema, das er vor den herzuströmenden Volksmassen
behandelt.
Er nennt
eS
auch
das Himmelreich, das Reich, in
dem der Himmel d. h. wiederum Gott herrscht.
Er nennt es
auch sein Reich; denn ihm hat ja der Vater übergeben alle Ge-
42 walt im Himmel und auf Erdens; wo er herrscht, da herrscht ja der Vater selbst. seinem
Haupt
die
Wunderbar! dieses Reiches König trägt auf Dornenkrone,
dieses
Reiches Fahne ist das
Kreuz, an dem sein König gestorben, das er zuerst getragen und die Seinen ihm nachtragen sollen.
Dieses
Reich ist nicht ge
gründet durch Bajonett und Heeresmacht, sondern durch die Ge
walt der Liebe, des Glaubens und der Hoffnung.
Wie anders
ist dies Reich des Gekreuzigten, den die Welt von sich stößt mit dem bittern Hohn: dies ist der Juden König! wie anders das
Reich jenes Gewaltigen, der gleichzeitig in Rom als den Bringer des goldenen Zeitalters sich feiern läßt. Kaiser Augustus befiehlt,
und im jüdischen Lande muß alle Welt hinziehen in ihre Stadt,
um sich schätzen zu lassen — da ziehen in ernsten Tagen auch
Joseph und Maria von Nazareth nach Bethlehem und — dort in der Krippe wird der König des Himmelreichs geboren.
Der
Nachfolger des Augustus, der schlaue, von den niedrigsten Sinnen
genüssen zu Grunde gerichtete Tiberius weilt, von Gewissensbissen
verfolgt und der Menschen überdrüssig, auf der Insel Capri — da wird, ohne daß Tiberius etwas davon ahnt, des Aufruhrs an
geklagt, auf der Höhe von Golgatha bei Jerusalem der König des
Himmelreichs
ans Kreuz
geschlagen,
nicht verzweifelnd an der
sündigen Menschheit, die er zur Buße gerufen, fest vertrauend, daß er
das Werk
seines Vaters
Schriftsteller jener Tage
im Himmel
machen
in
getrieben.
Heidnische
schmeichlerischer Weise
des
Rühmens kein Ende über alle jene Gestalten, die den Thron der Cäsaren einnahmen, bringen ihnen sogar göttliche Ehren entgegen. Gleichzeitig ist der Himmelskönig ihnen unbekannt.
Kurz und
gleichgültig berichten sie vielleicht von einem gewissen Jesus, der
einst im verachteten Lande der Juden aufgetreten sei, aber weiter wissen wir nichts.
Und doch!
Augustus,
Tiberius,
die
stolzen
Kaiser Roms alle, wo sind sie geblieben? Die nüchternere Nach
welt hat die Maske des Göttlichen ihnen abgerissen, hat ihnen gegeben, was ihnen zukam, aber vor dem Himmelskönig jubelt sie:
') Matthäus 28, 18.
43 O mächt'ger Herrscher ohne Heere,
Gewalt'ger Kämpfer ohne Speere, O Friedefürst von großer Macht,
Oft wollten dir der Erde Herren Den Weg zu deinem Throne sperren,
Doch du gewannst ihn ohne Schlacht.
Ja, wenn alle Reiche der Welt längst in Trümmern liegen, dann
wird er noch herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Aber woran haben wir bei diesem Reiche Gottes zu denken? Es ist eine vollendete Gemeinschaft der Menschen, in der allein
der Wille Gottes das Bestimmende und Beherrschende, das die
Herzen Verbindende ist,
eine
Gemeinschaft,
in
der
menschliche
Sünde und Selbstsucht, Eifersucht und Bosheit geschwunden, wo
in Folge dessen auch jene Leiden nicht mehr sind, die aus jenen
entstehen, eine Gemeinschaft der Menschen, in der die Seele auch in
vollendeter Gemeinschaft
mit ihrem Gott steht, immer nur
lebend in der seligen Gewißheit, daß seine Vaterhand sie sicher leitet und führt.
Nicht zu verwechseln ist solch Reich Gottes mit
einer menschlichen Gemeinschaft, wo keine Könige herrschen und
keine weltliche Obrigkeit, sondern der Stand, der ganz besonders das Heilige auf Erden zu vertreten hat.
So war es in Israel,
wo der Hohepriester des Tempels zeitweilig die höchste Gewalt
inne hat, so erstrebte man es im römischen Papstthum, dem alle
Könige der Erde, als dem Stellvertreter Gottes, willigen Gehor sam entgegenbringen sollten.
Doch nicht darauf kommt es an,
daß der Stand, der das Heilige auf Erden vertritt und pflegt, auch äußerlich herrsche — er besitzt als solcher noch nicht einmal
die Fähigkeit dazu — sondern darauf, daß das Heilige und Gött liche
selbst
alles
bestimme
und
beherrsche.
Da
hat in dieser
großen Gemeinschaft, an welche der Erlöser denkt, jedes Volk seine
Stätte, wenn es nur die von Gott ihm auferlegten Pflichten er füllt. Da reichen sich die verschiedenen Nationen willig die Hände
zu gemeinsamer Arbeit, da klingt aus aller Munde schließlich das
Lob des höchsten Gottes, da muß, wie der Erlöser sagt, ein Hirt und eine Heerde werden.
endlich
Gewiß ein hohes Ziel, werth
44 Gewiß, wie der Erlöser sagt,
unseres Schweißes, unserer Arbeit.
ein Schatz im Acker, nach dem man graben sollte.
Gewiß eine
köstliche Perle, die man suchen müßte und um deretwillen man alles sollte opfern können.
Beziehung
auf
Darum kennt auch der Erlöser in
die Gemeinschaft
der Menschen
unter
einander
keine höhere Bitte, als eben diese: dein Reich komme.
Wir würden indeß seine Worte mißverstehen, wollten wir unberücksichtigt lassen,
daß derselbe Erlöser, welcher also betet,
gleichzeitig gesagt hat, das Reich Gottes sei schon da.
Es war
thatsächlich schon auf Erden, als er lebte, es war in ihm und
zwar nicht nur als ein von ihm gefaßter Gedanke oder Plan für
die Zukunft, sondern als Wirklichkeit.
In ihm herrschte bereits
der göttliche Wille ganz und voll, in ihm lagen die Kräfte und Mächte,
welche den Erdkreis immer mehr zum Reiche Gottes
machen konnten.
In ihm lag das Reich Gottes wie ein Senfkorn,
zu einem gewaltigen Baum entfalten mußte,
das
dereinst sich
wie
ein Sauerteig,
der alle irdischen Verhältnisse durchdringen
und verklären sollte, von ihm ging es über auf die Seinen, die es inwendig im Herzen trugen').
Und hat die Geschichte uns nicht
gelehrt, daß das Reich Gottes von da ab nicht wieder geschwunden
ist von der Erde?
Wirf einen Stein hinein in das Wasser, und
die Wellen verbreiten sich rings umher bis an die fernen
Ufer.
So trat in Christo das Reich Gottes ein in die Welt und hat seitdem seine Wellen geworfen bis an die entferntesten Küsten der Erde.
Sitte und Cultur, Gesetzgebung und Gesellschaft, Wissen
schaft und Kunst, Schule und Staat, sie alle sind beeinflußt von diesem Reich, beherrscht vom Geiste Christi, so wenig die Feinde
des Kreuzes es
auch oft zugeben wollen.
Aber,
obwohl
das
Reich Gottes d a ist, so betet der Erlöser dennoch, daß es komme, und wir sollen so mit ihm beten.
Ja, die grause Wirklichkeit
des Lebens entpreßt uns diese Bitte, wie von selbst.
Vernimm
all die Seufzer unter der Erde Leid, hör' auf die Klagen über
so viel Unfriede unter den Erdenkindern, blick' hin auf die Eifer-
*) Lucas 17, 21.
45 sucht der Nationen, die mit Millionen von Bewaffneten einander
gegenüberstehen, sieh', wie so vieles sich sträubt wider den Geist des Meisters, wie die Wahrheit sich fürchtet an das Tageslicht
zu kommen, wie die alte gute Sitte so vielfach der Frivolität und
der Gemeinheit gewichen, sieh', wie so viel Unfriede herrscht rings umher in den Häusern, wie das öffentliche Leben zerrissen ist durch so viel Parteiintriguen, wie selbst die Kirche, die vor Allem be rufen
ist
Pflegerin
zur
Tummelplatz
des Reiches Gottes
menschlicher Leidenschaften
auf
geworden,
Erden,
zum
so daß man
ihr das Herrenwort zurufen möchte: Wenn aber das Salz dumm wird, womit soll man falzens? denk an der Heiden Länder, wie
dort noch Finsterniß das Erdreich deckt und Dunkel die Völker, blick' hin in das eigne Herz, wie es oft so kleinmüthig, so verzagt, so glaubensarm ist — dann dringt aus deiner Seele das Gebet
gen Himmel: dein Reich komme.
Wie schön schildert der Apostel
Paulus diese Sehnsucht, wenn er sagt3): „Das ängstliche Harren der
Creatur wartet
auf
die
Offenbarung
der Kinder Gottes.
Sintemal die Creatur unterworfen ist der Eitelkeit, ohne ihren Willen,
sondern um deß willen,
Hoffnung.
der sie unterworfen hat,
auf
Denn auch die Creatur frei werden wird von dem
Dienst des vergänglichen Wesens, zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.
Denn wir wissen, daß alle Creatur sehnet sich
mit uns und ängstet sich noch immerdar. sondern
auch wir
selbst,
Nicht allein aber sie,
die wir haben des Geistes Erstlinge,
sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten
auf unsers Leibes Erlösung, denn wir sind wohl selig, doch in der
Hoffnung."
Aber, wenn wir also um das Kommen des Reiches
beten, kann dann das unsere Absicht sein, den Allwissenden zu bestimmen, auf unsere Bitte Tag und Stunde zu ändern, die er seiner Macht vorbehalten hat? können wir dann wünschen, daß
durch einen Act göttlicher Allmacht herbeigeführt werde, was nach
seiner Weisheit das Resultat sittlicher Entwicklung der Menschheit
*) Matthäus 5, 13. 2) Römer 8, 19 ff.
46 sein soll? Darf dann auch nur der geringste Zweifel uns erfüllen,
ob es zum Kommen seines Reiches erst unserer Gebete bedürfe; darf dann auch nur der Wunsch uns erfassen, daß Gott die Wider sacher seines Reiches möglichst
bald richte und
vertilge?
Wie
schön sagt Dr. Martin Luther zu dieser Frage: das Reich Gottes
kommt auch wohl ohne unser Gebet, aber wir bitten in diesem
Gebete, daß es auch zu uns komme, daß wir mithin Glieder dieses Reiches werden, daß dieses Reiches Segnungen auch auf uns
übergehen,
daß wir diesem Reiche unsere Dienste weihen und
seine Gesetze für uns bestimmend werden.
Das aber führt uns
auf den zweiten Theil unserer Betrachtung.
Wir fragen nämlich
weiter: 2.
Welche Forderung stellt diese Bitte an uns? Um
hierauf
eine Antwort zu finden sei daran erinnert, daß es sich im Reiche Gottes um sittliche Entwicklung handelt.
Gewiß, du wirst ein
Glied dieses Reiches nur durch Gottes Gnade, und Paulus, der
größte Apostel Jesu Christi, sagt von sich: Von GotteS Gnade
bin ich, das ich bin, und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen').
Aber diese Gnade wirkt in deinem Herzen.
Es sei
denn, daß Jemand von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehens; so spricht Jesus zu Nikodemus, und diese
neue Geburt eben soll sich in dir vollziehen; in dieser sollst du aus einem Sünder zu einem Gotteskinde werden.
Wie geschieht
denn nun aber das? Denk' an das Gottesreich und seine heiligen
Aufgaben und frag' dich dann, ob du bisher demselben dich ge weiht?
Wie viel tritt dir dann entgegen von Weltliebe statt von
Gottesliebe, wie viel Trägheit statt Eifer, wie viel Gottesverleug
nung statt Selbstverleugnung, wie viel Untreue statt Treue, wie
viel Zaghaftigkeit und Feigheit statt Ausdauer und Standhaftig keit, wie
viel Lieblosigkeit statt Milde und Erbarmen, wieviel
') 1. Corinther 15, 10. 2) Johannes 3, 3.
47 Eilen auf dem breiten Wege der Sünde statt stillen Pilgerns auf
dem schmalen Weg des Lebens!
Wenn du dann reuevoll nieder
fällst vor deinem Gott, deine Sünden erkennst und bekennst und
sie dich schmerzen, wie
kein
Leid der Erde,
Schritt zur Wiedergeburt geschehen. kommen.
dann ist der erste
Aber dann soll es auch weiter
Der Glaube soll in dir erwachen, daß es für alle Ver
gehungen und Sünden in Christo eine göttliche Gnade giebt, die
selbst dann dir nicht versagt wird, wenn deine Sünden gleich blutroth sind.
Solcher Glaube erst bringt wieder Freudigkeit, läßt
das zu Boden gesenkte Auge wieder fröhlich leuchten, macht die er
lahmte Hand wieder stark und kräftig zur That, macht den Fuß fest, so daß er sicher seinem Ziele zuwandern kann, läßt uns fröh lich mit Paulo sprechen: Ich vergesse, was dahinten ist und strecke
mich zu dem, das da vorne ist1).
So entsteht schließlich in uns ein
neues Leben, wo wir, eingedenk empfangener Gnade, ganz unserm Gott uns zu ergeben bemüht sind, an seinem Herzen uns wohl
fühlen, im Thun seines Willens uns frei wissen, wo wir selbstlos nur den großen Zielen des Gottesreiches dienen. An stillem Waldes saum fließt anspruchslos das Bächlein dahin, mühsam windet es
sich durch Felsblöcke und Baumstämme hindurch, rauschend müssen
seine Wasser von der Höhe in die Tiefe fallen,
und schließlich
mündet es ein in den größeren Fluß, giebt an diesen seine Wasser ab, ohne zu fragen: Was wird aus mir? Ihm gleiche der Christ.
Still und anspruchslos spiele sein Leben sich ab, auf dem Platz, an den Gott ihn gestellt, in dem Beruf, den er empfangen, über winde er Mühe und Arbeit, Widerwärtigkeiten und Kämpfe; nicht
fürchte er sich davor, von der Höhe in die Tiefe hinabgezogen zu werden, und das alles nicht im eignen Dienste, sondern im Dienste
des Reiches Gottes auf Erden, ohne zu fragen: Was wird aus mir? Des Dichters Worte präge er tief sich in das Herz ein: Geh' hin nach Gottes Willen In Demuth und Vertraun, Lern' das Gebot erfüllen, Sein großes Feld zu baun!
*) Philipper 3, 13.
48 Frag' nach der Ernte nicht! Du darfst den Lohn nicht messen, Mußt Freud und Lust vergessen,
Nur sehn auf deine Pflicht.
Aber wir beten: dein Reich komme zu uns.
Wir denken also
nicht bloß an das eigene Herz, sondern an alle, die uns nahe stehen, wir denken an unser Haus, an unsere Stadt, an unser
Volk, an unsere Kirche, an die gesammte Menschheit. Wie könnte es auch anders sein?
Der Gedanke, daß diejenigen, welche uns
nahestehen durch die Bande des Blutes, der Freundschaft, noch nicht Glieder des Gottesreiches sind, müßte uns ja unser Glück stören. So sah der Erlöser, wenn er betete: dein Reich komme, im Geiste schon die Schiffe hinausziehen in alle Welt, die die Boten des
Evangeliums hinaustrügen zu allen Völkern der Erde.
So war
sein ganzes Leben ein stetes Verzichten auf der Erde Glück und Gut, ein stetes Ringen und Arbeiten um Seelen zu suchen, Ge nossen zu finden für das Gottesreich; und vergleicht erden Vater
mit dem Besitzer eines Weinbergs'),
der Arbeiter miethet,
im
letzten Grunde zieht er ja selbst aus um die erste, dritte, sechste, neunte, elfte Stunde.
Wie eine Henne ihre Küchlein, so lockt
er die Menschenkinder.
Ja selbst sein blutiger Tod am Kreuz
sollte noch ein letzter gewaltiger Abschiedsruf sein an diejenigen,
welche nicht bedenken wollten zu ihrer Zeit, was zu ihrem Frieden Als ein großes Opfer der Liebe sollte dieser Tod
diene.
Seelen noch
zurufen:
Ich habe dich je und je geliebet,
habe ich dich zu mir gezogen aus lauter @üte3).
den
darum
Auch ferner
noch werden die Missionsschiffe hinausziehen in die Welt, so lange
es Christen giebt, die den Segen des Gottesreiches an sich ver spüren und fühlen, was denen fehlt, die noch draußen stehen und in Folge dessen ihr Glück, ihr Heiligthum auch Andern mittheilen
möchten.
Ja, nicht ohne tiefe Beschämung, ohne große Wehmuth
können wir sehen,
wie der größte Theil der Erdbewohner dem
Gekreuzigten noch fernsteht, !) Matthäus 20, 1. 2) Jeremias 31, 3.
wie man noch niederfällt
vor
den
49 Aber ist auf diese Weise die dritte Bitte so recht
todten Götzen.
die Missionsbitte, erinnert sie uns an das Wort des Herrn: die Ernte ist groß, aber wenig sind der Arbeiter, darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende'), so mahnt
des göttlichen Reiches in
sie uns vor Allem, zur Ausbreitung
unserm eigenen Kreise thätig zu sein, zu werben, daß sie kommen, um das Wort Gottes zu hören, ihnen zuzurufen: des Worts und nicht Hörer allein*2).
Seid Thäter
Verirrte suchen, Spöttern
das Herz rühren, Verlassenen und Nothleidenden den Trost des
Himmels bringen, die Jugend erziehen in der Furcht des Herrn, das Alter ermahnen, daß es festhalte, was in der Jugend ihm heilig gewesen,
Andern haben.
das ist die Aufgabe,
die wir Einer gegen den
M. L. daß etwas Großes in dieser Richtung ge
schehen müsse, das Bewußtsein geht durch unser Aller Herzen, daß
der Herr Ströme seines heiligen Geistes über das Todtenfeld der Menschheit ausgießen möge, der Wunsch geht durch unser Aller
Seele; daß dies Jahr, in dem wir den 400jährigen Geburtstag Dr. Martin Luthers zu feiern uns anschicken, dazu beitragen möge,
dies Ziel zu erreichen, das hoffen wir alle sehnlichst. die Mittel sind die Meinungen so verschieden.
Aber über
Es ist hier nicht
der Ort, alle jene Mißgriffe zu erwähnen, mit denen wir so oft das Reich Gottes auszubreiten glauben.
Nur auf zwei Fehler
sei hier hingewiesen. Der erste ist der äußere Zwang.
Wir erinnern uns hier
dessen, wie einst die Heere der Erdenkönige auszogen wider unsere heidnischen Vorfahren des
und
Christenthums brachten.
mit
dem Schwert sie zur Annahme
Was
ward
dabei
erzielt?
Eine
äußerlich organisirte Kirche, deren Glieder Namenchristen waren,
unter
denen
aber
heidnischer Aberglaube nach
wie vor blühte.
Wir denken dabei an so viel äußere Einflüsse und Vorspiegelungen irdischer Vortheile, mit denen man in unsern Tagen glaubt dem Reiche Gottes Glieder zu werben, denken daran, wie so viele zum
') Matthäus 9, 37 u. 38. 2) Jacobus 1, 22.
50 aber nicht erzogen werden.
Christenthum überredet, dabei erzielt? gehen,
sobald
Was wird
Im besten Falle Treibhauspflanzen, die da ver sie
den Stürmen
nicht selten Heuchler,
die
des Lebens
den Christennamen
ausgesetzt
werden,
nur mißbrauchen,
um sich Güter der Erde zu erringen, unter allen Umständen aber
ein Gebäude, das dem Hause gleicht, welches der thörichte Mann auf den Sand baute.
Vergessen wir nicht, nur das hat einen
Werth, was auf Freiheit gegründet ist, wie das nur gut ist, was
in Freiheit geschieht.
Wo
der große Gott in seinem Welten
plan die Sünde zuließ, die doch ganze Theile seiner Schöpfung
der Vernichtung weihte und so viel Elend und Leid in dieselbe brachte, da sollen wir nicht denken, durch äußern Zwang erreichen zu können, was in Freiheit zunächst vielleicht nicht zu erzielen ist,
da sollen wir nicht gleich jenen ängstlichen Herzen Gehör schenken,
die jeden Mißbrauch der Freiheit benutzen, um die Freiheit selbst für etwas schädliches zu erklären.
Du bewunderst die Blume,
die am Morgen bei Sonnenaufgang ihren Kelch der Sonne er schließt und ihren Duft hinaussendet in die Lüfte, wie Weihrauch
dieselbe erfüllend.
Aber was wird aus der Knospe, die der un
geduldige Knabe sich anschaut und, weil ihre Entwicklung ihm zu
langsam sich vollzieht, mit roher Hand auseinander reißt? Darum
weiche den Bauleuten am Reiche Gottes niemals der Grundsatz des Apostels:
So sind wir nicht der Magd Kinder, sondernder
Freien'); und wenn jeweilig ein Blick auf unsere Gegenwart uns zeigt, wie Millionen dem Reiche Gottes entfremdet sind, so über
manne uns nicht jener Kleinmuth, in welchem wir glauben unsere protestantische Freiheit darangeben zu müssen, um von Neuem der
Knechtschaft uns zu ergeben; lieber wollen wir uns anklagen, daß wir nicht gethan haben, was wir thun sollten, um für die Zukunft
umzukehren und unsere Pflicht zu erfüllen. Der zweite Fehler ist das Dienstbarmachen kluger Politik
oder
sündiger,
Gottesreiches.
menschlicher
Leidenschaften
für die Zwecke
des
Als hätte nicht schon der Erlöser dies Mittel ver-
') Galater 4, 31.
51 werfen.
Auf
die Höhe
eines Berges
er sich
sah
seinen Füßen hatte er alle Reiche der Erde. in den Herzen all jener Erdenkinder,
allen Landen!
gestellt;
zu
Wie wogte es da
die da wohnten rings in
Blickte er gen Rom, dann erwachte der Gedanke,
wie der gewaltige Thron, der dort aufgerichtet, gegründet worden
auf
List
und
auf Heeresmacht
Ränke,
und
äußere
Gewalt.
Schaute er hin auf Israel, sein eignes Volk, dann gedachte er
der Leidenschaften, die da in Aller Herzen schlummerten.
Ein
Reich aus Erden wollte auch er gründen; wie wäre es, wenn er
die dämonischen Mächte in der Menschenbrust entfesselte und sie für seine Zwecke dienstbar machte, wenn er die Fahne des Auf ruhrs
dann mit den
entfaltete und
ihm
zu Gebote stehenden
Mitteln die Weltherrschaft an sich risse? O, versucherische Stimme!
Er hat nicht gezweifelt, daß es der Teufel wäre, der sie ihm ein
gegeben.
Wohl hörte er die prahlerischen Worte: Alle diese Reiche
will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest, aber mit voller Entrüstung des Gottessohnes antwortet er ihm: hebe dich
hinweg von mir, Satanas; denn es steht geschrieben: du sollst an beten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen').
Er zog es
vor, in jene stillen Dörfer und Städte am galiläischen Meer zu
ziehen und dort zu wirken bis es hieß:
hinauf gen Jerusalem!
Dort die Mühseligen und Beladenen zu rufen, dort mit Trost
und Hülfe an Krankenbetten und Gräbern zu stehen, dort Sünder zur Buße zu rufen,
heilsbegierigen
dort einer vorurtheilsfreien,
Seele zu sagen: Folge mir nach, das erkannte er als das Mittel, das Reich Gottes auf Erden zu gründen.
Nun denn, so laßt uns
von ihm lernen und innehalten auf jenen verderblichen Wegen, das
Reich
Gottes
zu
bauen durch
Entfesselung
schaften, die auch in unserm Volke ruhen.
von
Leiden
Es könnte sonst eine
Zeit kommen, wo wir bitter enttäuscht erkennen, daß wir wohl wähnten, für Gottes Sache zu streiten und doch des Satans
Reich
gefördert hätten.
Aus
dem Samen des Unkrauts wird
keine goldene Aehre, und Leidenschaft kann im letzten Grunde doch
’) Matthäus 4, 8 ff.
4'
52 nichts Anderes, als Leiden schaffen.
Täusche uns nicht der Erfolg,
auf den man marktschreierisch uns Hinweisen will; was in unsern
Gärten wuchert ist ja das Unkraut; die edle Pflanze dagegen entwickelt sich langsam, leidend unter dem Schatten, den jenes
auf sie wirft, entbehrend der Sonnenstrahlen von oben, die jenes ihm wegfängt.
3.
m. L., wie oft ist
Aber, von
Gottes
der
solch stilles Bauen am Reiche
Welt für erfolglos,
Schwärmerei gehalten worden.
fürs
Resultat
nutzloser
So haben sie dem Meister selbst
nachgesagt, er habe den Teufels, und die eigne Mutter, die Großes von ihrem Sohne gehofft, die gejubelt hätte, wenn sie gesehen,
wie er die irdische Königskrone sich aufs Haupt gesetzt, als sie ihn
lehrend
in Mitten
des Volkes
gesehen,
da ist sie
mit
seinen
Brüdern gekommen, um ihn heimzuholen in das Elternhaus"). Dennoch aber weiß der Erlöser, daß seine Arbeit nicht vergeblich
ist.
Es
wird,
so
sagt
er zuversichtlich,
das Evangelium vom
Reich gepredigt werden in der ganzen Welt zu einem Zeugniß über alle Völkers.
Es wird, so sagt er zuversichtlich weiter,
dereinst einem gewaltigen Baum gleichen, unter dem die Vögel
des Himmels ihre Nester bauens, und schon sieht er im Geist die Völker alle kommen von Morgen und Abend, um mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu sitzens.
Ja, diese Gewißheit
endlichen Sieges verläßt ihn auch am Kreuze nicht, wo die lebende Menschheit ihm nur zu deutlich zeigt, was sie von seinem Wirken hält, wo
der Hohepriester des Tempels ihn für einen Gottes
lästerer erklärt hat, der Vertreter der römischen Staatsmacht ihn für einen Schwärmer hält, wo von den Zwölf, die ihm so nahe ge
standen, der Eine ihn verleugnet, der Andere ihn verrathen hat und
2) 3) 4) b)
Johannes Matthäus Matthäus Matthäus Matthäus
8, 48. 12, 47 ff. 24, 14. 18, 31 u. 32. 8, 11.
53 alle feige geflohen sind.
O, seliger Glaube, der so felsenfest auch Könnte er auch uns
von dem überzeugt ist, das er nicht siehet.
ganz und voll beherrschen, dann würden wir mit völliger Freudig keit bauen am Gottesreich, bauen auch mit den Mitteln, mit denen
es
allein
gebaut
werden
Warum
soll.
diesem Gebiet zu äußerm Zwang,
lichen Leidenschaften?
greifen
wir denn auf
zu kluger Politik,
zu mensch
Weil der Glaube uns fehlt, daß das Gute
die Kraft besitzt, durch sich selbst zur Herrschaft zu gelangen, weil wir meinen, durch kleinliche und sündige Mittel den Herrn Himmels
und der Erde unterstützen zu müssen. folge vor Augen haben,
Da wir alltäglich die Er
die die Sünde erringt und der Glaube
uns geschwunden, daß die Sünde der Leute Verderben ist und darum
verlassen wir die
Wege, die Gott selbst uns vorgeschrieben hat.
Und warum sind
ein Volk
nur Gerechtigkeit
erhöht'),
wir so träge überhaupt in den Dienst des Gottesreiches zu treten? warum sehen wir die Völker Millionen opfern für die Reiche der
Welt, während für das Reich Gottes auch das geringste Opfer
zu
groß
ist?
Weil
der Glaube uns
Thron und ein Scepter giebt,
Glaube könnte,
uns
die
daß
fehlt,
durch
eine
fehlt,
daß es noch einen
die man nicht siehet,
weil der
Menschengemeinschaft
entstehen
etwas Anderes
zusammengehalten wäre,
als
durch irdische Interessen, die da ruhte auf Liebe, Gerechtigkeit
und Wahrheit.
Der Glaube dagegen läßt die Seele über Jahr
hunderte und Jahrtausende hinwegsehen und das eine, endliche
Ziel im Auge behalten, vor dessen Herrlichkeit alle Erdengüter, aller
Erdentand
in
ihrer Nichtigkeit
erscheinen
müssen.
Der
Glaube giebt der Seele eine Kraft, in der sie vermag Berge zu versetzen.
Sagt ja doch schon der Meister zu seinen Jüngern:
So ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so möget ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin; so wird er sich heben, und euch wird nichts unmöglich fein3).
Ja, was Großes
im Reiche Gottes geschehen, das war aus dem Glauben geboren.
') Sprüche 14, 34. 2) Matthäus 17, 20.
54 Oder meint ihr, Luther hätte den Kampf ausgenommen gegen Kaiser und Papst, wenn er der große Glaubensheld nicht gewesen wäre, der sich und sein Werk im Schutze des höchsten Gottes
wußte und darum allen menschlichen Schutz verschmähte?
Der
Glaube war es, der einst August Hermann Francke mit der ge
ringen Summe von 7 Gulden munter Hand anlegen ließ an die Gründung jenes Waisenhauses in Halle, von dem so viel Segen
ausgehen sollte bis aus den heutigen Tag.
Möchte denn auch
unter uns dieser fröhliche Glaube wieder erwachen, und wenn die Bitte heute gen Himmel geht:
„dein Reich komme", wir nicht
unterlassen, vor Allem auch das in die Worte mit hineinzulegen: Herr, mehre und stärke unsern Glauben!
Dieser Glaube weist
ja selbst hinaus über die Pforten des Todes, indem er uns sagt, ob hienieden auch alles Suchen und Ringen scheinbar umsonst
ist, ob du hier eine Vollendung des Gottesreiches auch niemals sehen wirst, vergeblich war deine Arbeit doch nicht, ein Glied des
Gottesreiches bleibst auch du; denn über den Tod reicht dieses Reich hinaus, hinein in jene bessere Ewigkeit. ja auf diese Erde nicht beschränkt bleiben.
land muß größer sein.
Amen.
Gottes Reich kann
Des Christen Vater
Matthäus 6, 10.
Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel.
$om Reiche Gottes schreitet das Gebet des Herrn fort zu
dem einen Willen, der dieses Reich regiert. Reich gedeihen und blühen, beherrscht.
Denn, soll ein
dann muß ein Wille sein, der alles
Der Erlöser sagt schon:
„Ein jegliches Reich, so es
mit sich selbst uneins wird, das wird wüste; und eine jegliche Stadt oder Haus, so es mit sich selbst uneins wird, mag nicht
bestehen"*).
Hat die Geschichte uns ja auch von jeher gelehrt,
wie die Reiche zerfallen, wo jeder Einzelne nur seinen Willen
durchzusetzen sich bemüht und es versteht, dem lenkenden Willen fortdauernd Feindschaft entgegenzustellen oder ihm entgegenzuar beiten.
Und ist es im kleinern Kreise nicht ebenso?
Wo blühte
eines Hauses Glück, in welchem Mann und Frau jeder den eignen Willen
durchzusetzen
suchen, wo jedes der Geschwister nur den
eignen Vortheil erstrebt? Aber das Reich Gottes soll ein sittliches
sein.
Darum ist es hier nicht wie im Reiche der Natur.
muß ohne Weigern alles geschehen, wie Gott es will.
Dort
Im großen
Weltenraum kreisen die Sterne in unwandelbaren Bahnen, weil
er es also gebietet.
Seit Tausenden von Jahren dreht sich all
täglich die Erde um ihre Achse, weil Er es so bestimmt hat. Die
Erde bringt hervor allerlei grünende Kräuter und blühende Bäume; sie wachsen, sie tragen ihre Frucht zu ihrer Zeit, weil Gott ihnen
*) Matthäus 12, 25.
56 Kraft und Saft dazu gegeben.
Aber zu einem sittlichen Wesen
hat er den Menschen geschaffen, daß er frei für das Gute und wider das Böse sich entscheide.
Damit ist zugleich die Möglich
keit gegeben, daß des Menschen Wille sich in Widerspruch setze zu Gottes Willen; und wie sollte diese Möglichkeit nicht zur
Wirklichkeit werden bei dem kurzsichtigen Erdenkinde, das so oft
nicht weiß, was zu seinem Besten dient, bei all der Selbstsucht, die in ihm ruht und es ungestüm nur fordern und suchen läßt,
was zum eignen Wohlergehen gehört? In der Natur finden wir darum Harmonie, In
im Menschenleben
der Natur finden
suchen
wir sie vergebens.
wir unbedingtes Sichaufgeben, wo
der
höhere Zweck es fordert: Mond und Sterne erblassen, wenn der
Augenblick kommt, wo die Sonne die Erde bescheinen soll, um still und anspruchslos wieder ihre Dienste zu thun, wenn das hellere Licht untergegangen; die Ähre, die mühsam, mit Dürre und Regengüssen kämpfend, schließlich ihre Körner zur Reife ge
bracht, neigt, von ihrer Last gebeugt, sich schließlich zur Erde, um dann willig ihren Segen dem Menschen zu opfern, daß er ihn
einfahre in seine Scheuern.
Aber beim Menschen finden wir vom
Morgen bis zum Abend nur Ringen für sich selbst, finden wir so viel Auflehnen und Murren wider sein Geschick.
Und doch
sollte der Mensch von der Natur lernen, sollte den Willen Gottes
zu dem seinen machen.
Nur so würde Alles zu einem harmo
nischen Ganzen sich entwickeln. müssen in
der Natur
oft
Nach dem Willen des Ewigen
die Elemente ihre Macht
Entsetzen befällt dann den Menschen. lehnten sie sich
Alles wieder in
entfesseln.
Es will ihm scheinen, als
auf wider den Willen Gottes, und doch lenkt
seine Bahnen
ein.
Ordnend
schwebt
ja der
Gottesgeist über den Wasserwogen, über den Stürmen, so daß
Alles in seine Schranken zurückkehren muß.
liegt eine gewaltige Predigt für dich.
Menschenkind! darin
Sie sagt dir:
Du kannst
dich auflehnen wider deinen Gott, er wird dich eine Weile lassen,
aber du durchkreuzest ihm seine Pläne nicht, und die Stunde kommt, wo du deine Ohnmacht erkennst und die Folgen Deines Wider
standes überblickst; Gott erreicht seine Pläne auch auf dem Ge-
57 biet des sittlichen Lebens; sein Reich geht seiner Vollendung ent
gegen, wenn nicht mit dir, dann ohne dich. Beete,
welche künstlich
des Gärtners Hand
Beschau' dir die sich geschaffen;
da
Erst die Zu
reiht sich Pflanze an Pflanze, Blume an Blume.
sammenstellung der verschiedenen Blätter und Blüten giebt dem
Ganzen seine Schönheit; erst im Ganzen, erst beschnitten und ge
von künstlerischer Hand,
zogen
deutung.
So
der
erfüllt
gewinnt das Einzelne seine Be
seine
Mensch
Bestimmung erst im
großen Ganzen, wenn er demüthig sich beugt unter den höhern, ordnenden Willen, fühlt sich schließlich glücklich und selig nur,
So spricht
wenn er sich hingeben kann an den Willen Gottes.
der Erlöser:
Meine Speise ist die,
daß ich thue den Willen
deß, der mich gesandt hat und vollende sein Werkes. So heißt
es in des Dichters Worten: Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern das Einzelne verschwinden, Da löst sich jeder Ueberdruß. Statt heißem Wünschen, wildem Wollen, Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen
Sich hinzugeben ist Genuß.
So lehrt das Vaterunser uns beten: dein Wille, o Vater,
geschehe!
Wir aber machen heute diese Bitte zu unserm Thema
indem wir uns fragen:
Was erfleht der Christ mit den
Worten: Dein Wille geschehe?
Die Antwort lautet:
1. daß Gottes Wille durch uns und 2. daß er an uns geschehe.
1. Wie oft, mein Christ, hast du schon die Worte auf deine Lippen genommen: „Vater, dein Wille geschehe"! Aber warst du dir dabei immer dessen bewußt, was du batest?
sein Wille Erden
so
geschehe, vielfach
daß
Gott bewirken möge,
vernachlässigter
’) Johannes 4, 34.
Du wolltest, daß
Wille
endlich
daß sein zur
auf
Geltung
58 komme.
Deine Bitte war dabei oft verbunden mit einer bittern
Klage über der Zeiten Schlechtigkeit, über das Ungestraftbleiben so mancher Sünde.
Wie? wenn dein Gott deine Bitte erhörte
nnd seine Blitze hernieder schleuderte auf die Häupter derer, die seine Gebote
nicht
und
gehalten
seine Wege nicht
gewandelt?
wenn er des Spötters Mund auf ewig schlösse, die in Haß er hobene Hand auf immer lähmte, die nur bei unkeuschen Bildern
verweilende Fantasie auf immer verwirrte? — würde das alles nicht auch dich treffen?
Darum ist solche Bitte nicht möglich, so
lange du im offnen Widerspruch stehst zu deinem Gott, so lange
du noch trotzig deinen Willen dem Willen deines Gottes entgegen
stellst, so lange du nicht wenigstens den Wunsch hast, den eignen Willen zu brechen.
In unserer Bitte muß darum der Mensch
sich vor Allem erflehen, daß sein eigner Wille aufgehe in Gottes Willen.
Und was hätte es denn auch für einen Sinn, zu Gott
zu sprechen:
„dein Wille
geschehe"!
wenn wir dabei von der
Meinung ausgingen, daß es unserer Bitte erst bedürfe, damit der
Allmächtige und Allweise seinen Willen vollstrecke?
Als ob
es
nicht hieße: So er spricht, so geschieht es; so er gebietet, so steht es ba1).
So hat denn auch Dr. Martin Luther schon in seiner
Erklärung unserer Bitte gesagt: Gottes guter und gnädiger Wille geschieht auch wohl ohne unser Gebet, aber wir bitten in diesem
Gebete, daß er auch bei uns geschehe.
Aber wie soll Gottes Wille bei uns und also auch durch uns
geschehen,
wenn
wir diesen seinen
Willen
Darum richtet sich hierauf zunächst unser Blick.
nicht kennen? Wohl finden
wir eine Richtschnur für unser Handeln grade in den Lebensver
hältnissen, in denen wir stehen.
Der Beruf, den wir uns erwählen,
die Lebensstellung, die wir einnehmen, das Verhältniß zu Weib und Kind, zu Vater und Mutter, das alles läßt die Hand nicht ruhen
und den Verstand erkennen, was zu geschehen habe.
Des Staates
Gesetz, die gute Sitte, die wir von den Vätern ererbt, die Vor
schriften der Kirche, das alles tritt fordernd und gebietend an uns
') Psalm 33, 9.
59 heran.
Ja, wer will es leugnen, es sind göttliche Gebote, die
dabei in uns aufleuchten!
Pietät von uns fordert,
Jede Geringschätzung dessen, was die jede Vernachlässigung der Liebe gegen
die Eltern, die mit Schmerzen und Sorgen uns erzogen, jedes
Erkalten jener eiligen Entschlüsse, die am Altar des Herrn der Gatten Herz noch beseelten, jede Vernachlässigung der Kindlein,
die Gott dem gemeinsamen Hause geschenkt, wird von der fühlenden Brust wie ein Frevel empfunden an dem Gott, der diese innigen Verhältnisse unter den Menschenkindern selbst gegründet, und Israel
„du sollst
dem auf Sinai's Höhe das heilige Gebot geworden:
deinen Vater und deine Mutter ehren, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen" rc., es war nicht das einzige Volk, das Auch die Heiden haben dafür
dies empfand.
gehabt.
ein
Verständniß
Jedes Uebertreten staatlicher Gesetze, jeder Verstoß gegen
die gute
Sitte,
jede
Geringschätzung
von Ordnungen
unserer
Kirche, verfällt nicht nur der obrigkeitlichen Strafe, dem herben Urtheil des mürrischen Alters, das nur an der guten alten Zeit
hängt, der bittern Anklage der Frommen im Lande, nein es wird empfunden als ein Verstoß gegen Gottes heilige Gebote.
Sagt
ja doch Paulus, der Apostel des Herrn: „Jedermann sei Unterthan
der Obrigkeit,
Obrigkeit,
die
Gewalt
ohne von Gott;
Gott verordnet')."
über
ihn
hat.
Denn
wo aber Obrigkeit ist,
es
ist keine
die ist von
Aber wer wäre trotz alledem nicht oftmals
rathlos gewesen, was er zu thun habe, was in jedem gegebenen
Falle Gottes Wille von ihm fordere.
Wer wüßte nicht davon zu
reden, wie gleichzeitig die verschiedensten Pflichten an ihn heran
getreten, wie der erwählte Beruf oftmals etwas Anderes gefordert, als das Wohl der eigenen Familie?
kommenheit empfunden
menschlicher
zwischen
Gesetze
diesen und
Wer hätte nie die Unvoll
erkannt
dem
und
eigenen
den
Widerspruch
Gewissen?
Wie
könnte darum das Gebet gen Himmel gehen: „dein Wille ge schehe", ohne daß des Christen Herz die Bitte hineinlegte: „Herr,
thu' uns kund zu allen Zeiten, was dein heiliger Wille von uns 9 Römer 13, 1.
60 fordert; versenke du uns immer tiefer und tiefer in dein Wort, daß wir daraus erkennen, was du von uns willst; verleih' uns
den Geist deines Sohnes,
in welchem wir fortschreiten werden
von Erkenntniß zu Erkenntniß; schärf' du den Blick des Geistes,
damit wir immer deutlicher sehen, was gut und böse ist." Doch, m. L., dem Erkennen des göttlichen Willens muß nun
auch die That folgen; je mit der wachsenden Erkenntniß wächst auch unsere Verantwortlichkeit.
Denn während der Heiland auf
der einen Seite betet: „Vater, vergieb ihnen; denn sie wissen
nicht,
was
sie thun"4),
sagt er auf der andern Seite:
„der
Knecht, der seines Herrn Willen weiß und hat sich nicht bereitet, auch nicht nach seinem Willen gethan,
der wird viele Streiche
leiden muffen*2)." 3 4 Und Jakobus schärft seinen Lesern alles Ernstes ein: „Wer da weiß Gutes zu thun und thut es nicht, dem ist es Sünde"2).
Pflegen wir ja doch auch dem unwissenden Kinde
zu verzeihen, was wir an dem Heranwachsenden Knaben bestrafen. Aber wie oft bleiben wir dem erkannten göttlichen Willen gegen über gleichgültig und kalt; wie oft reden wir uns ein, Gott könne
es wohl so gar ernst nicht meinen, trösten uns auch wohl mit der allgemein menschlichen Schwachheit, die uns den unbedingten
Gehorsam gegen Gottes Willen unmöglich mache.
Wie erkaltet
so oft die Begeisterung für hohe Ideale, welche die jugendliche
Brust einst in sich getragen, sobald das Leben uns zeigt, daß man mit Verleugnung
heiliger Grundsätze,
mit heuchlerischer Miene,
mit charakterloser Kriecherei doch so viel weiter zu kommen ver
möge! Und wenn es dann wirklich zum Entschluß kommt, dem Willen Gottes gemäß zu handeln, wie oft sehen wir uns dann
in die Lage versetzt, welche Paulus schildert, wenn er sagt: „Wollen habe ich wohl, aber Vollbringen des Guten finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das thue ich nicht, sondern das Böse,
das ich nicht will, das thue td)"4).
0 2) 3) 4)
Lucas 23, 34. Lucas 12, 47. Jacobus 4, 17. Römer 7, 18 u. 19.
Es fehlt uns die Kraft,
61 auszuführen, was der Wille wohl möchte; es erlahmt die Hand
während der That selbst; wir stoßen auf so viel Schwierigkeiten, wo wir sie gar nicht erwartet; unsere edelsten Absichten werden so vielfach verkannt, und der Menschen Haß und Neid verfolgt
uns auf Schritt und Tritt.
Es will uns nicht in den Sinn,
daß der Heranwachsende Baum erst mancher Blätter und Zweige im Sturmesbrausen beraubt werden muß, damit er dereinst kühner
sein Haupt gen Himmel erheben könne, oder es tritt uns blendend
das Erreichte vor die Seele und erscheint uns als so groß nnd gewaltig, daß wir glauben, die Hände in den Schooß legen zu
dürfen und für die Zukunft göttlicher Gebote überhoben zu sein.
Seele, wie könntest du da noch beten: „Vater, dein Wille geschehe", ohne in diese Worte die Bitte hineinzulegen: Gieb uns aus der
Höhe deines Geistes Kraft, daß wir nicht träge werden zu thun,
was wir thun sollen'),
daß nie Mißmuth uns beschleiche,
als
könnte redliche Arbeit jemals nutzlos und erfolglos sein, aber eben so wenig der Hochmuth, der eigner Erfolge sich rühmt und die
selben sich zum Ruhekissen werden läßt. Bei dem allen aber übersehen wir nicht, wo der Meister bei seiner Bitte das Ideal erblickt, nach dem wir uns haben.
zu
richten
Kein frommer Beter auf Erden, kein noch so strenger
Gesetzesmensch
mit seinem Fasten,
finstern Angesicht ist ihm genügend.
seinen Bußübungen,
seinem
Nur in lichten Himmels
höhen hat er diejenigen gesehen, die den Willen des Vaters voll
kommen erfüllen.
Während hienieden an allen Enden die Selbst
sucht ihre Triumphe feiert, weiß er droben dienstbare Geister"), deren höchste Freude es ist, die Befehle ihres Gottes auszurichten. Während hienieden die Erdenkinder so oft nur sich
selbst ver
herrlichen, nur ihren Ruhm suchen, sieht er um den Thron des
Höchsten jene Seraphim, Während
hienieden
die ihr „heilig, heilig,
lieblos
die
heilig" rufen.
Menschen über Anderer Fehler
richten und nur die eigene Selbstgerechtigkeit anerkennen, sagt er
') Römer 12, 11. ") Ebräer 1, 14.
62 sich, droben ist Freude über einen Sünder, der Buße thut, vor
neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen'). Während hienieden
die Menschen
seit den Tagen Kains dem Grundsätze
huldigen: „Was soll ich meines Bruders Hüter fein"3*)42 und 5 6 7meinen, sie hätten genug gethan, wenn Hand und Arm sich nicht ver
greifen an des Mitmenschen Hab und Leben, heißt es von den
Engeln, daß sie sich lagern um die her, die Gott fürchten, und Während die Menschenkinder sich so oft be
ihnen aushelfen3).
mühen, das Heilige zu entweihen, weiß er droben den Cherub, der mit flammendem Schwert des Gottesgartens Heiligthum be
wahrt.
Während
die Menschen den Gottessohn
hienieden
mit
seinem Heile von sich stoßen, weiß er, droben bedarf es nur seiner
Bitte, und
auf
des Vaters Wink
würden mehr,
Legionen Engel für seine heilige Sache kämpfens.
im Geiste schon jene Seligen,
denn
zwölf
Ja, er sieht
„die da gekommen aus großer
Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider
helle gemacht im Blute des Lammes und werden sein vor dem Stuhl
Gottes
Tempel"3).
und
ihm
dienen
Tag
und
Nacht in
seinem
Wenn darum der Christ betet: „dein Wille geschehe,
wie im Himmel, also auch auf Erden", so will er damit sagen:
Laß, o Vater, nie eine Stunde kommen in unserm Leben, wo wir seitwärts blicken auf andere Menschen, mit dem Gedanken,
uns damit brüsten zu können, daß wir besser seien, als sie; laß uns
zurückschrecken
„Ich
vor
danke dir, Gott,
einem Pharisäerherzen, das da spricht:
daß
ich nicht bin,
wie andere Leute,
Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner"3).
Lehre uns erkennen, daß unsere Pflicht unendlich ist.
Gieb uns
in unser Herz jene Liebe, in welcher allein die Erfüllung deiner
Gebote uns aus einer Last zur Lust wird3). !) 2) 3) 4) 5) 6) 7)
Lucas 15, 7. 1. Moses 4, 9. Psalm 34, 8. Matthäus 26, 53. Offenbarung Johannis 7, 14 u. 15. Lucas 18, 11. 1. Johannes 5, 3.
Laß freudig und
63 ohne Murren unser Herz sich deinem Willen ergeben und uns
nie vergessen, daß, „wer da will groß werden, der sei des Andern Diener und
wer
da
will
der Vornehmste
sein,
der
sei Aller
Knecht"'»).
2. Aber, m. L. der Wille unseres Gottes wendet sich nicht nur an unser Thun, sondern auch an unser Leiden.
er uns entgegen in den unwandelbaren Gesetzen
Unerbittlich tritt der Natur, in
den Geschicken des eignen Lebens; kein Auslehnen dawider würde uns nützen.
Herauf ziehen die Wolken und ergießen ihre Wasser
ströme über unsere Fluren; wiederum gehen Wochen dahin, ohne
daß sich der Himmel mit Wolken bezöge.
Nichts nützt da dem
Landmann sein Klagen und Murren über das Zuviel oder Zu
wenig.
Mit
unwiderstehlicher Gewalt
entfesseln
sich
zu Zeiten
Zündend fällt der Feuerfunke in die Wohnungen
die Elemente.
der Menschen, und das Haus, die Stätte seines Glücks, sein Hab
und Gut, woran sein Herz sich klammert, sind binnen Kurzem
ein Raub der Flammen.
Anschwellend auf Schritt und Tritt
wälzt der Bach sein Wasser vom Gebirge hernieder, reißend durch
strömt in Folge dessen auch der Fluß die Ebene; seine Ufer über schreitend schwemmt er hinweg, was Menschenhand gebildet und
gepflegt.
Einen Blick nach dem Grabe seiner Habe sendet noch
der Mensch zurück, dawider sich
wollte er
aber was würde es ihm nützen,
auslehnen?
Ja, mehr noch,
er selbst, sein eigner
Leib, ist diesen Gesetzen des natürlichen Lebens unterstellt.
Schmerzen wird er geboren;
Mutter Bahre.
oft steht
seine Wiege
neben
Mit
der
Er bleibt dauernd den Einflüssen der Außen
welt unterstellt, die ihn oftmals auf das Krankenbett werfen und
schließlich
in
den Staub
der Erde
hinbsinken
lassen.
Ja auf
Schritt und Tritt schwebt die Gefahr über ihm, den Mächten des Todes zu verfallen.
Aber was helfen alle bittern Klagen über
unser Loos hienieden, die von Jahrhundert zu Jahrhundert sich *) Marcus 10, 43 u. 44.
64 Der Wille, der in dem allen sich kund thut, ist zu
vererben?
gewaltig, als daß wir etwas gegen denselben vermöchten.
„Es erscheint uns vermessen und ruchlos von Seiten eines einzelnen Menschenwesens, stammt,
von
mißbraucht,
dem
so
das
gegenüberzustellen,"
unsers Jahrhunderts. ergeben.
sich
es auch
keck
dem All,
sagt
ein
aus
dem
es
hat,
das es
vielgenannter
Mann
bischen Vernunft
Es gilt eben dem Willen Gottes sich zu
Aber was heißt das? Es giebt eine Stimmung, die bei
schweren Schicksalsschlägen bei uns sich einstellt; da haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, daß hienieden unter der Sonne alles eitel,
alles ganz eitel,
da haben wir gelernt, wie unser
edelstes Streben so vielfach erfolglos sei.
Und mit des Geschickes
Mächten sei kein ewiger Bund zu flechten — und das Unglück schreite schnell.
Sinnend über sein herbes Geschick, gebeugt von
der schweren Last, die auf seinen Schultern liegt, geht der Mensch
dann dahin durchs Leben und der stete Inhalt seiner Rede ist die Wehmuth über sein herbes Geschick; es gewährt ihm sogar eine
innere Befriedigung, immer von Neuem in solchen trüben Stim mungen gleichsam zu schwelgen.
Und das endliche Resultat ist
immer wieder: Man muß sich in das Unvermeidliche fügen.
das die christliche Ergebung in den Willen Gottes?
Ist
Der Ge
danke, daß es eben nicht ein blindes Schicksal ist, sondern der Wille
des gütigen Vaters, der über uns waltet, ohne den kein Haar von
unserm Haupt und kein Sperling vom Dach fällt, der Gedanke, daß in den Gesetzen der Natur dieser Gott an uns wirkt, der
muß unserer Ergebung den rechten Stempel aufdrücken,
zur christlichen macht.
der sie
Da kann das Auge nicht von Thränen
des Schmerzes voll sein, da muß es leuchten von seligem Ent
zücken.
Da kann das Herz nicht klopfen vor innerer Erregung,
vor Ratlosigkeit und Verzweiflung; es muß dem See gleichen, den hohe Berge umgeben, so daß die Stürme wohl brausen, aber die Tiefen des Sees nicht aufzuregen
vermögen.
Siehe, mein
Christ, wie bist du so froh, wenn du deine Wünsche hinaufgesandt hast gen Himmel und du hast sehen dürfen, wie das dir gegeben worden, was du so sehnlich begehrt.
Du fühlst dich dann ver-
65 pflichtet zum Dank
gegen deinen Gott, zu lautem Jubel und
Preis seines heiligen Namens.
Ja, ist das fragliche Ereigniß
ein solches, daß das ganze Vaterland dabei betheiligt ist — und
wir haben es ja alle erlebt — dann geht die Aufforderung zum Dank gegen Gott von Mund zu Munde und findet ihren Wider
hall in allen Gauen — und es ist recht also.
Aber sollte nicht
gleiche Freudigkeit unsere Seele erfüllen, wo unsere Wünsche uns versagt werden, weil Gottes Vaterweisheit weiter schaut, als wir.
Wenn wir darum bitten, „Vater, dein Wille geschehe," so wollen wir eben diese Freudigkeit aus Himmelshöhen uns erflehen, weil wir sie hienieden nicht finden.
Wissen wir ja doch, wie auf die
selbe Bitte in Gethsemane des Himmels Engel herniedergesandt ward, um den Erlöser zu trösten, wie von da ab, mit innerer Siegesgewißheit, von ihm der Todeskampf gekämpft ward bis es
von Golgathas Höhe erscholl:
„Es ist vollbracht".
Wissen wir
ja doch, auch heute ist der Himmel nicht verschlossen, auch heute
noch senken sich des Himmels Kräfte, wenn auch unsichtbar, her
nieder in des Menschen Brust.
Mütter, die ihr bangt ums Leben
eurer Lieblinge, Väter, die ihr sorgenvoll fragt: „Was wird aus
meinem Sohn, meiner Tochter noch werden?" Männer, die ihr steht im heißen Kampf des Lebens, Schwache, die ihr euer Ende nahe wähnt,
weil die Stunde der Heimkehr bald da sein muß,
o betet vor euerm Gott: „deine Wille geschehe", und ihr werdet es alle erfahren, ohne Segen kehrt ihr nicht vom Angesichte eures
Gottes zurück ins Leben.
M. L. wir sind als Christen gewohnt, diese Erde als Vor-
bereitungsstuse für die Ewigkeit zu betrachten.
Wodurch könnte
sie es besser werden, als durch Erfüllung unserer Bitte?
Daß
der Wille Gottes sei Alles in Allem, das ist ja das Streben jener seligen Geister der Heimath.
Und wer droben sich nicht
fremd fühlen will, der muß dies hienieden schon gelernt haben. So sei es denn aller Bitten steter Zusatz; so mögen denn alle Wünsche hienieden
durch denselben verklärt werden,
so sei der
letzte Seufzer, mit dem wir von hinnen scheiden, wenn Gott der
einst uns ruft: Vater, dein Wille geschehe!
Amen.
Die vierte Bitte. Matthäus 6, 11.
Unser täglich Brod gib uns heute.
3>ene gewaltige Rede, in welcher der Erlöser uns auch das
Vaterunser gelehrt, pflegen wir die Bergpredigt zu nennen.
Sie
führt diesen Namen, weil der Meister sie von der Höhe eines Berges an die Volksmassen gehalten.
Aber zugleich ist auch ihr
Inhalt ein solcher, wie er aus den Niederungen des Erdenlebens nicht kommt.
Die hohen Ziele und Ideale, die er dort uns vor
Augen stellt, stammen aus lichteren Höhen.
Doch, kaum hat der
Erlöser seine Bergpredigt vollendet, da heißt es bedeutungsvoll, „er stieg vom Berge herab und es folgte ihm viel Volks", da
heilt er dort unten im Thale ihre Kranken, die zu ihm kommen.
So
er
weiß
also
nicht nur
„vom Berge"
Worte
herab
zu
sprechen, sondern hat auch ein Auge für die Noth und die Leiden im
dunkeln Thal des Lebens.
schon
Aehnliches
Höhen sind
es,
zeigen zu
im
Und wie sollte sich denn nicht
Gebet
des
Herrn
selbst?
Lichte
denen er in den drei ersten Bitten empor
steigt, lichte Höhen, bei denen es uns schwer wird, mit unsern
Gebeten
sofort dahin
ihm
zu folgen.
Aber
alsbald
zeigt er
uns auch, daß er der Erde Last kennen gelernt und mit, uns
empfunden, wenn er nun die vierte Bitte zum Himmel empor steigen läßt.
Nachdem er zuerst gesprochen: „dein Name werde
geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel,
also auch auf Erden", heißt es hier: uns heute."
„Unser täglich Brod gib
Diese Bitte läßt uns denken an wallende Saatfelder,
67 mähende Schnitter, beladene Erntewagen, gefüllte Scheuern und
endlich an den gedeckten Tisch,
an dem wir alltäglich mit den
Unsrigen unsere Speise zu uns nehmen.
Und wie kann der Ge
danke an das Alles beim Erlöser uns wundern?
Hat er doch
eine so feine Beobachtungsgabe gezeigt für den Säemann,
der
da ausgeht und säet seinen Samen, für den guten Samen, der vom Unkraut überwuchert wird, für die Scheuern, in die man die
Garben sammelt, für den Jubel der Erntenden, für das Befriedi
gende, das darin liegt, Vorräthe zu haben für viele Jahre. Hat er doch selbst Stunden gehabt, wo er Hunger und Durst empfand,
Stunden wo er am Brode und am Gewächs des Weinstockes sich freute und es unter dankbarem Aufblick gen Himmel den Seinen
reichte.
Aber, m. L., jedes menschliche Wort pflegt seine Bedeutung erst zu empfangen durch den Zusammenhang, in dem es gesprochen
wird und die Perle erst ihren Glanz zu entwickeln, je nachdem
die Einfassung ist, die man ihr giebt.
Tadeln wir darum schon
denjenigen, der unbekümmert um den Zusammenhang, in dem es steht, irgend ein Bibelwort aufgreift, um darauf ein menschliches
Gedankengebilde aufzubauen, wie viel mehr dann den Beter, der sich geneigt zeigt, nur an die vierte Bitte des Meisters sich zu
klammern und die voraufgehenden und nachfolgenden zu übersehen.
Es ist bedeutungsvoll, daß unsere Bitte eben da ihren Platz ge
funden, wo sie steht. den göttlichen Namen, Willen,
erst
Erst derjenige, der vor Allem gebetet für für des Vaters Reich, für des Vaters
der wird in ächt christlicher Weise weiter beten:
Unser täglich Brod gib uns heute.
Wie ist die Bitte da von
vornherein frei von aller Leidenschaftlichkeit, mit der sie da so oft
gen Himmel dringt, wo sie das erste Wort ist, das der Mensch zu seinem Vater spricht, wie ist sie da geläutert, wie die heiße
Bitte des
Meisters in Gethsemane durch
den
Zusatz:
„Aber
nicht wie ich will, sondern wie du willst", wie sagt sich da der
Mensch von vornherein, daß höhere Güter vorhanden sind, als das Brod, das wir essen, daß es höhere Ziele giebt, als die,
welche die einzelne Seele verfolgt!
68 Nach diesen Bemerkungen laßt uns denn an unsere
Bitte
selbst
herantreten,
indem
wir
nunmehr
zwei
Fragen uns vorlegen: 1.
was
macht
der Mensch
hier
zum Gegenstände
seiner Bitte?
2.
warum macht der Mensch es grade zum Gegen
stände seiner Bitte?
1.
Unser täglich Brod ist dasjenige, worum der Erlöser uns
hier bitten heißt. Bitte.
Zu
Also „Brod" bildet den Gegenstand
irdisch schien dies den Menschen.
seiner
Darum meinte
man, das Wort Brod müsse hier wohl bildlich zu verstehen sein, der Erlöser müsse wohl von geistigem Brode reden.
Sagt er
doch selbst einmal: „Ich bin das Brod des Lebens; wer zu mir
den wird nicht hungern und wer an mich glaubt, den
kommt,
wird nimmermehr bürsten1)."
Läßt er doch selbst dem Versucher
gegenüber das irdische Brod hinter die geistige Speise zurücktreten, wenn er spricht: „der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondem von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht2)".
Und wie ernst fordert er: „Sorget nicht für euer Leben, was ihr
essen und trinken werdet, auch nicht für euern Leib, was ihr an ziehen werdet.
Ist nicht das Leben mehr,
denn die Speise?
und der Leib mehr, denn die Kleidung? — darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: trinken?
Was
werden wir essen?
womit werden wir uns kleiden?
was werden wir
Nach solchem Allen
trachten die Heiden3)". 4 Ja, wie schön wäre es, wenn ein gewaltiger Hunger und Durst über uns käme; „nicht ein Hunger nach Brod
oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Worte des Herrn zu hören"1), wenn ein heiß Verlangen durch unsere Seele ginge nach
*) 2) 3) 4)
Johannes 6, 35. Matthäus 4, 4. Matthäus 6, 25, 31 u. 32. Amos 8, 11.
69 dem lebendigen Brode, das vom Himmel gekommen!
Wer von
diesem Brode essen wird, der wird leben in (Steigseit1), so wird
Wie würde solche Himmelskost im Stande
uns ja verheißen.
sein uns stark zu machen an dem inwendigen Menschen, so daß durch uns und an uns Gottes Wille geschehen könnte, wie die
doch, wer in des Erlösers Herz einen
dritte Bitte es erfleht!
Blick hineingethan, den kann die Bitte um das irdische Brod an dieser Stelle nicht befremden, und sagt selbst: Wer die Sorge
ums tägliche Brod verbietet, kann der das Beten um dasselbe
uns nicht empfehlen?
Ist nicht grade das Gebet das beste Mittel
die Sorge loszuwerden?
Werfen wir nicht grade im Gebet alle
unsere Sorgen auf den Herrn?2)
Wenn daheim die Noth dich
drückte und du nicht wußtest, woher du Brod nehmen solltest für
Weib und Kind, wenn ihr bleiches Gesicht, ihr flehender Blick dich zur Verzweiflung zu treiben drohte und das Auge ging himmel
wärts und das Gebet klopfte an droben beim Vater, fühltest du dich dann nicht erleichtert?
Richtig hat darum schon unser Luther auf die Frage,
was
denn das tägliche Brod sei, die Antwort gegeben: Alles, was zur Leibes
Nahrung
und
Nothdurft
gehöret,
als
Essen, Trinken,
Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld,
Gut, fromm
Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und getreue
Oberherrn, gut Regiment, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.
Denn, so fügt der
selbe Luther im großen Katechismus hinzu, wenn du täglich Brod nennest und bittest, so bittest du alles, was dazu gehöret, das täg liche Brod zu haben und zu genießen und dagegen auch wider
Alles, so dasselbe hindert.
Gewiß ist es also nichts Geringes,
was hier mit dem einfachen Wörtlein „Brod" erbeten wird, so
daß wir, trotzdem drei Bitten um himmlische Güter vorangehen, wahrlich nicht klagen können, daß das Irdische zu kurz gekommen sei.
Es weist uns der Ausdruck weit hinaus über jenen Bissen
9 Johannes 6, 51. 2) 1. Petrus 5, 7.
70 Brodes,
mit dem der Arme nothdürftig sein Leben
zu
fristen
Nicht ausgeschlossen ist da dasjenige, was zu behaglichem
sucht.
Lebensgenuß, zur Erholung und zum Vergnügen, zur Befriedigung
von Kunstsinn und Geselligkeitstrieb, zu einem angenehmen Heim, zur Unterhaltung von Schule und Kirche, zur Bildung und Er
ziehung der Unsrigen gehört, was wir brauchen um unsern Ge wohnheiten nachzugehen, um dem zu genügen, was die gute Sitte,
der Anstand, die Kreise, in denen wir verkehren, von uns fordern. Denn der Erlöser war keiner jener Schwärmer, die int Hinblick auf jene bessere Welt, dieser irdischen Welt ihr Recht nicht wollen
widerfahren lassen,
die
das Genannte alles
darunt ohne Noth darauf verzichten.
geringschätzen und
Er wußte, wie auf dem
Irdischen das Höhere sich aufbaut; er erkannte den sittlichen Werth auch alles Angenehmen und Schönen und wußte es als eine Gabe des gütigen Vaters im Himmel hochzuhalten.
Aber merken wir uns wohl, vor das Wörtlein „Brod" hat
der Erlöser ein Eigenschaftswort gesetzt, welches Luther mit „täg lich" wiedergegeben hat.
Viel haben die Gelehrten gestritten, ob
dies Wörtlein auch „täglich" heiße, und dieser Streit war um so
eher möglich, weil dasselbe uns sonst aus der ganzen alten grie
chischen Literatur nicht weiter bekannt ist.
Die Einen haben über
setzen wollen: „das zum Unterhalt erforderliche Brod", die Andern: „das morgende Brod", noch Andere, und das scheint mir das Wahrscheinlichste: „das bis zum morgenden Tag nöthige Brod".
Was denn aber auch das Richtige sein mag, jedenfalls hat Luther
mit seiner Uebersetzung „täglich Brod" nichts gesagt, was der ur sprünglichen Bedeutung allzufern gelegen hätte.
der Begriff
des Brodes
Jedenfalls soll
durch das vorgesetzte Eigenschaftswort
auf ein geringes Maß beschränkt werden.
Denn der Mensch soll
nicht beten um alles mögliche Erdengut, was er nun einmal für wünschenswerth hält, was er bei Andern sieht und darum auch für sich haben möchte, nein, er soll beten um das, was wirklich
ihm zum Leben, zum Wohlergehen dient, was wirklich gut für ihn ist.
Was er täglich bedarf, was zu seinem Unterhalt erfor
derlich ist, was er braucht noch bis an den morgenden Tag, das
71 mag Gegenstand seiner Bitte sein.
Ausgeschlossen bleibt dagegen
alles, was dem Luxus, der Schwelgerei, der Ueppigkeit, der Ver schwendung, der Hoffart, dem Hochmuth, der Prahlerei dienen
soll, ausgeschlossen auch das, was menschliche Kurzsichtigkeit für ein Heil hält, Gott aber nach seiner Vaterweisheit und Liebe
uns vorenthalten will.
So legt denn der Mensch mit dem Worte,
das Luther durch „täglich" übersetzt, es in des Ewigen Hände, das Maß dessen selbst zu bestimmen, was an Brod ihm werden
soll,
wohl wissend, daß er am Besten erkennt,
Heile dient.
was zu unserm
Er bittet um Nahrung und Kleidung, aber ob die
selben reich und prächtig oder kärglich und einfach sein sollen, das
überläßt er Gott.
Er bittet um einen eignen häuslichen Heerd,
um irdischen Besitz, um Weib und Kind, aber will auch in De
muth sich fassen, wenn das Leben sie ihm versagt oder der Tag
kommt, wo er weinend daran, als an vergangenes Glück, nur noch zurückdenken kann, wo Weib und Kind ihm aus den Armen
gerissen werden.
Er bittet um getreue Oberherrn und ein gut Re
giment, aber er ist bereit auch den wunderlichen Herren zu ge horchen'), vertrauend darauf, daß es noch einen höheren Herrn giebt
im Himmel.
Er bittet um gut Wetter für seine Saaten, aber
will nicht murren, wenn heiße Sonnenstrahlen das aufkeimende
Grün versengen oder Regengüsse die aufgerichteten Garben hin
wegschwemmen.
Er bittet um Friede und Gesundheit, aber will
auch Gottes Finger erkennen, wenn des Krieges wilde Horden
seine Aecker zerstampfen und Krankheit und Seuche das Vaterland und das eigene Haus heimsuchen.
Er bittet um Zucht und Ehre,
aber will auch nicht müde werden im Guten, wenn Zucht und
Ehre rings um ihn her schwinden, und Menschen überall seine Ehre ihm zu rauben suchen.
Er bittet um gute Freunde und
getreue Nachbarn, aber will auch dann seinem Gotte treu bleiben, wenn alle Freunde ihn verlassen und der Nachbar nicht mit ihm eintreten will für Wahrheit und Recht.
Hiemit hängt es zusammen, wenn der Erlöser uns aus-
') 1. Petrus 2, 18
72 drücklich lehrt, daS tägliche Brod nur für den heutigen Tag zu
erbitten.
Wie könnte es denn auch wohl dem Christen ziemen um
seiner Zukunft willen Gebete gen Himmel zu senden, wo er über
haupt noch nicht weiß, ob er nach des Vaters Rath dann noch hienieden pilgert?
Und wozu denn auch bitten für morgen? Ist
da nicht der Zugang zum Himmel wieder offen so gut, wie heute? Oder ist's dir zuviel, alle Tage zu beten, so daß du lieber gleich für längere Zeit auf einmal betest?
Meinst du wohl gar, deine
künftigen Tage müßten ja rechtzeitig vorbereitet und dein Gott daher auch rechtzeitig an die nöthigen Schritte erinnert werden? Oder
kommt dir endlich auch der Gedanke, Gott könnte jenen launigen
Menschen gleich sein, besonders
gern
die ihre bestimmten Tage haben, wo sie
geben?
M. L.
das
„heute"
in unserer Bitte
sei ein Zeugniß der Demuth, die nie vergißt, daß unser Leben
nicht in unserer Macht steht, daß wir die Sonne am Morgen wohl aufgehen sehen, aber nicht wissen, ob wir bei ihrem Unter
gang noch sind, ein Zeugniß des kindlichen Vertrauens, das sich
sagt, „der Zugang zum Vaterherzen unseres Gottes ist niemals
verschlossen; längst
stehen", ein das
wo immer sein Kind ruft, da hört er, und er hat
zuvorgesehen was uns gut ist, ehe wir betend vor ihm
uns
Zeugniß
schon
ausschauen
läßt,
des
rechten Sichwohlfühlens
von Neuem
wo
nach
dem
im
Gebet,
sehnsüchtig
Augenblick
die Hände wieder gefaltet werden dürfen
vor Gott.
Aber m. L., während so des Meisters Worte uns Hinweisen auf Demuth und Vertrauen, hat er doch zugleich einem Irrthum vorgebeugt, zu dem das religiöse Gemüth so leicht geneigt ist. Das denkt sogern an Vorgänge, wie jene in der Wüste, wo Israel
auf wunderbare Weise von Gott durch das Manna gespeist ward, an das Leben des Propheten Elias, den Gott in den Tagen der Theurung zu erhalten wußte, indem er Mehl und Oel nicht aus
gehen
ließ,
an
die
wunderbare Speisung der
vier
Tausend, die der Erlöser in der Wüste vornahm.
oder fünf
Es sähe am
liebsten, wenn Gott auf sein Gebet sofort auch ähnliche Wunder thäte an ihm.
Und,
Seele,
gesteh es nur,
auch du hast bei
73 deinen Gebeten schon an Aehnliches gedacht.
Der einst den Gicht
brüchigen gesund gemacht, sollte auch deine lahmen Glieder heilen
durch ein einfaches:
„Stehe auf und wandle."
Der einst vor
Nams Thoren einem Todten das Leben wieder gegeben,
sollte
auch deines Kindes Hand ergreifen und es lebend dir wieder in
die Arme geben.
Der einst jenen Propheten in seinem Himmels
wagen hinaufgerückt, sollte auch zu dir seine Engel senden, um
schmerzlos die Seele hinaufzutragen ins Vaterhaus. — O gewiß ein thöricht Herz, das wider einen Gott sich sträubt, der Wunder
thut; als umgäben uns nicht Millionen Räthsel; als hätte das Menschenauge schon Alles durchforscht; als gäbe es keinen Zusam
menhang zwischen der sittlichen und natürlichen Weltordnung und wäre nicht jene höher, denn diese; als wäre der Gott, zu dem
wir beten, nichts Anderes, als ein herzloses Geschick, das in den natürlichen Lauf der Dinge uns hineinstellt um durch denselben
uns zermalmen zu lassen und nicht der allgütige, allweise Vater,
der alles überschaut; als legte nicht menschliche Demuth uns von
selbst das Wort auf unsere Lippen: Gott thut große Dinge, die nicht zu forschen und Wunder, deren keine Zahl ist1)! 2
Aber ebenso
thöricht ist das Herz, das da meint, der Ewige hätte so mangel
haft sein Weltregiment geordnet, daß er auf kurzsichtiger Menschen Bitte sofort dasselbe
ändern müßte.
Um unser täglich Brod
heißt der Meister uns bitten, d. h. um das Brod, das uns zu
kömmt, das für uns bestimmt ist, das so an uns gelangt, wie es nach Gottes Rathschluß an uns gelangen soll, wie es geknüpft
ist an unsere Arbeit, wie es bedingt ist durch die Verhältnisse, in denen wir aufgewachsen sind und alltäglich leben.
Schweiße unsers Angesichts
unser Brod
zu
Denn, im
empfangen11),
mit
stillem Wesen arbeiten und das eigene Brod essen3), das ist die heilige Ordnung, die Gott uns auferlegt hat, und derselbe Erlöser,
der uns hier beten lehrt: Unser täglich Brod gib uns heute, hat
3) Hiob 9, 10. 2) 1. Moses 3, 19. 3) 2. Thessalonicher 3, 12.
74 es verschmäht, als etwas Widergöttliches, seine Kräfte anzuwenden,
um durch ein Wunder die Steine der Wüste sich in Brod zu
verwandeln.
Nahrung und Kleidung dürfen wir erbitten, aber
durch unsere Arbeit verdiente, oder durch der Menschen Liebe ge schenkte.
Fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde dürfen
wir uns wünschen, aber dabei nicht vergessen, daß die Frömmig
keit hier mit bedingt ist durch unsere Erziehung, unsere Einwir kung, unser Vorbild.
Nach Frieden dürfen wir uns sehnen, aber
nach einem Frieden, der die Folge eines ehrlichen und wackern
Kampfes ist.
Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn mögen wir
uns wünschen, aber dabei stets bedenken, daß die Art des per
sönlichen Wandels sie uns erst erwirbt.
2. Willst du auf das alles antworten, mein Christ: „Ja das eben ist es, was ich immer wieder erfahre, das tägliche Brod kommt an mich durch meine Arbeit, durch meine Stellung im Leben, durch
die Art, wie Menschen mir entgegentreten, aber eben deshalb ist auch alles Gebet an Gott überflüssig, brauche ich nicht erst zu ihm
zu sagen: Unser täglich Brod gib uns heute?" Du kannst darauf
Hinweisen, wie menschliche Vorkehrungen und Einrichtungen immer
mehr die Elemente bezwingen, so daß sie ihre Gefahr bringende Gewalt nicht mehr entfesseln können, wie sie den Erdboden immer
ergiebiger machen, so daß sich die Erträge des Ackers
mehren,
wie sie so manchen Stoff zu Seuchen und Krankheiten vernichten,
so daß diese nicht mehr verheerend sich ausbreiten können.
Du
kannst darauf Hinweisen, wie Gott seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten und regnen läßt über Ge
rechte und
Ungerechte').
Du kannst dich darauf berufen,
wie
selbst unser Luther sagt: Gott giebt das tägliche Brod auch wohl ohne unsere Bitte allen bösen Menschen. durch denselben Luther auch weiter führen.
') Matthäus 5, 45.
Aber dann laß dich Er
fährt nämlich
75 fort:
Aber wir Bitten in diesem Gebete, daß er's uns wolle er
kennen lassen und wir mit Danksagung empfahen unser täglich Pflegen wir ja doch auch ein Kind schon frühe dazu an
Brod.
zuhalten, daß es nach empfangener Gabe seinen Dank uns sage. Wir gehen dabei von der Ueberzeugung aus, daß es erst so lerne,
die empfangene Gabe zu würdigen, erst so lerne, daß es an die selbe keinen Anspruch habe, erst so lerne, daß die Gabe ein Aus
fluß
sei
jener
die für das Kind sorgt vom
elterlichen Liebe,
Morgen bis zum Abend.
Ein Kind, das nie danken gelernt, dem
alle Gaben ohne Weiteres zufallen, nach denen es begehrt, wie oft wird es gleichgültig und trotzig, wie wenig Verständniß hat
es für das, was Vater und Mutter an ihm thun, wie oft entpreßt es in spätern Jahren den Eltern die bittere Klage: „Ach,
wir haben für unser Kind
uns
aufgeopfert wie wohl selten
Jemand, aber der Dank? — er ist uns versagt, die Gegenliebe? — wir haben sie nie erfahren.
die Welt und
Unser Kind ist hinausgezogen in
hat uns vergessen"!
Möchtest du einem solchen
Kinde gleichen deinem himmlischen Vater gegenüber, mein Christ? Millionen unter uns gleichen ihm, und warum?
Weil sie nicht
gelernt haben, mit Danksagung zu empfahen ihr täglich Brod.
Erst dies fördert in uns das Bewußtsein unserer Endlichkeit und Nichtigkeit, erst dies bewahrt uns vor jenem Dünkel und Hoch
muth, in dem wir meinen, mit unserer menschlichen Macht, unserm
menschlichen Verstände sei alles zu erreichen und
zu erforschen,
als würde nicht in tausend Fällen noch durch der Elemente Macht
zerstört, was des Menschen Hand geschaffen, als bräche nicht in
tausend Fällen, trotz aller menschlichen Vorsichtsmaßregeln,
die
Seuche herein über Vaterland und Volk, als müßte nicht, trotz aller Ergiebigkeit des Bodens, der Acker oftmals unsere Hoffnungen
täuschen, weil plötzlicher Hagelschlag uns alles vernichtet. Erst das Empfahen mit Danksagung erfüllt uns vor den Gaben unseres
Gottes mit dem Bewußtsein empfangener göttlicher Liebe und wer unter uns wüßte nicht, von welcher Bedeutung es für den
inwendigen
daß
grade dies Bewußtsein immer
gekräftigt werde,
wie dadurch grade der Glaube
Menschen ist,
mehr in uns
76 gestärkt wird an den Gott, der nur unser Bestes will? Erst das
Empfahen mit Danksagung läßt uns es immer tiefer uns einprägen, wie unwerth wir doch eigentlich aller göttlichen Gaben sind, wie
sie uns
gereicht werden nur
aus
Gnade
und
Barmherzigkeit,
drängt uns dazu, die Gaben nun auch nicht unausgenutzt aus den
Händen zu geben, sondern sie so anzuwenden, wie Gott es will; wer weiß denn,
wie bald sie uns wieder geboten werden? —
So sehen wir auch den Erlöser selbst nie das Brod und
austheilen
an
die
Seinen,
ohne
daß
er zuvor
nehmen erst gen
Himmel geblickt und Dank gesagt hat. — Und soll der Dank ein recht inniger werden, dann muß die Bitte vorangegangen
sein.
Oder meinst du nicht, der werde den heißesten Dank gen
Himmel senden zu seinem Vater, der vorher aus tiefer Noth zu ihm gerufen, weil seine eigene Kraft und Weisheit zu Ende ge wesen, und Menschenhülfe ihm nicht geworden? Seele, wenn du nicht bitten magst um das tägliche Brod,
dann entziehst du dir eins der wirksamsten Mittel an dir selbst
zu arbeiten, immer mehr ein Kind deines Vaters im Himmel zu werden.
Unser täglich Brod gib uns heute,
so heißt uns
der Erlöser beten, aber kannst du mit dieser Bitte vor den Hei ligen hintreten, ohne daß jedes einzelne Wort zu einer ernsten Ge
wissensfrage wird?
begehrt?
Hast du stets nur das uns zukommende Brod
Mag sein,
daß nie gestohlenes,
geraubtes,
erpreßtes,
Brod in deinen Händen gewesen, aber auch kein erwuchertes, kein
erschlichenes, kein durch Heuchelschein und Sündendienst erworbenes,
keins,
an dem die Seufzer derer hafteten,
an denen du lieblos
dein starres Recht geltend gemacht, keins, das dir nur geworden,
weil dein kluges Auge auf die Unerfahrenheit von Wittwen und Waisen speculirte?
Vergiß nicht, du stehst vor dem Gott, von
dem es heißt: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der
bleibet in Gott und Gott in ihm').
Hast du gern und willig dich
dem gefügt, daß dein Brod eben erarbeitetes sein soll?
Hast du
in des Lebens Mühen und Arbeit eben das Köstliche desselben ver-
') 1. Johannes 4, 16.
77 spürt? oder hast du träge die Hände in den Schooß gelegt und
wenn die
Scheuern
voll waren,
des
Lebens
Glück
dir reiche
Schätze zugeführt hatte, in der Stille gesprochen: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrath auf viele Jahre; habe nun Ruhe,
iß, trink und habe guten Muth"4)?
brauche ich was
nicht mehr;
ich bedarf."
Als
Hast du gedacht „arbeiten
möge Anderer Schweiß mir zuführen,
hieße
es
nicht ausdrücklich:
Ich muß
wirken so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da Niemand wirken tarnt1 2); 3 als hieße es nicht von den Vollendeten: Selig sind
die Todten, die in dem Herrn sterben von nun an; ja der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach2); als hieße es nicht: Wem viel gegeben, von dem
wird auch viel gefordert.
Hast du auch im alltäglichen
Leben
dich so innig mit den übrigen Erdenkindern zusammengeschlossen,
wie du es in deiner Bitte vor Gott thust mit deinem „unser" und „uns"?
Ist wirklich ihre Sorge auch deine Sorge gewesen,
oder ist es eine große Lüge, die du mit dem „unser" und „uns" über deine Lippen bringst, bei der du doch schließlich an nichts anderes denkst, als
an dein eignes Brod.
Der Apostel prägt
uns in seinem Briefe an die Philipper so nachdrücklich ein: Und ein Jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auf das, das des Andern ist4).
Hast du stets danach gehandelt? Deine Bitte, wie
klingt sie so weitherzig, als wolltest du eignes Brod gar nicht
haben.
Aber drängt sich da dir nicht die Schamröthe in
die
Wangen bei dem Gedanken, wie du bisher so viel für dich be halten und so Manchen von dir zurückgestoßen hast, der auf dich
angewiesen war, wie du es dir nicht hast angelegen sein lassen, dem Nächsten sein Gut und Nahrung
Helsen?
bestem
und behüten zu
Bei der vierten Bitte siehst du im Geiste dich in Mitten
der Menschheit auf den Knien vor deinem Gott, siehst wie Aller
1) 2) 3) *)
Lucas 12, 19. Johannes 9, 4. Offenbarung Johannes 14, 13. Philipper 2, 4.
78 Augen warten auf Ihn,
daß er ihnen Speise gebe zu seiner
Zeit" *); hast du dir diesen gütigen Gott auch immer zum Vor
bilde genommen?
Hast du dir immer vorgehalten,
daß Güte
dasjenige ist, worauf du hoffst, um selbst dann auch deinerseits
Güte walten zu lassen? — Hast du wirklich stets das Vertrauen gehabt, welches unsere Bitte voraussetzt, hast du es wirklich stets
Gott anheimgegeben, zu bestimmen,
dir gut sei,
was
hast du
wirklich nie etwas von deinem Gott begehrt, was schließlich nur deiner Sünde dienen sollte?
M. L., das alles sind Gewissens
fragen, wie die vierte Bitte sie uns von selbst aufdrängt, weil
wir ja vor dem Heiligen stehen, dessen Auge zu ernster Selbst
prüfung uns Selbstprüfung
treiben
Und
muß.
zur Buße
wenn wir denn
getrieben würden, und
durch diese
durch Gottes
Gnade neue Menschen aus uns würden, hätte dann unsere Bitte
nicht für uns
einen
unermeßlichen Werth
gehabt? wäre dann
nicht auf unsere Bitte „ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maß uns in den Schooß gegeben?"
Und
nun, du Gegner des Gebets um das tägliche Brod,
willst du sagen, ein Gebet, das so uns innerlich fördere, sei ohne Einfluß auf unsern äußern Lebensgang?
die
Leiden dieser Erde und
meine, du sprichst:
Wozu, sagst du, müssen
die Entbehrungen
kommen?
Mit ihnen züchtigt uns unser Gott.
Ich
Aber
wird ein rechter Erzieher auch züchtigen, wo er das Kind schon
selbst mit seinen Fehlern ringen, sie ablegen sieht?
Seele, wer
will das Geheimniß ergründen, das menschliche Bitte und göttliche Erhörung an einander kettet?
Vergiß nicht,
du gehörst einem
großen Ganzen an, dem völlig zu dienen deine Hauptaufgabe ist.
Vergiß nicht, du hast einen Vater im Himmel, der auch
über dem Kleinsten wacht.
Jenes heißt dich in Demuth verzichten,
wenn Gott deine irdischen Wünsche nicht erfüllt.
Dieses heißt
dich, freudig hoffen, daß du im Himmel nicht nur gehört, sondern auch erhört wirst.
Amen.
1) Psalm 145, 15. 2) Lucas 6, 38.
Matthäus 6, IS. Und vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigem vergeben.
M,
der vierten Bitte ist das Gebet des Herrn herab
gestiegen in das dunkle Thal des Erdenleids, um von da ab nun all jener Seufzer zu gedenken, welche aus der Brust des Staub-
gebornen gen Himmel steigen.
Zunächst hat es das Verlangen
berücksichtigt nach dem, was zu des Leibes Nahrung und Noth
durst gehört.
Aber, was hülse es dem Menschen, wenn er nach
dieser Richtung
selbst im Ueberfluß
schwelgte,
und
doch
jene
Stimme nicht zum Schweigen bringen könnte, die auch den Blick aufs höchste Familienglück, auf die reichsten Erdenschätze, auf die
ausgelassensten Freuden ihm verleiden müßte, jene Stimme, welche
ihn erinnert an den Schaden seiner Seele, an die eigene Schuld?
Wird sie ja doch verglichen mit dem Wurm, der nicht stirbt und dem Feuer,
das
nicht verlischt^).
Pflegten ja
doch
schon die
Alten das Bewußtsein der Schuld zurückzuführen auf die Ein wirkungen der Furien, d. h. jener Plagegeister, die mit Schlangen
in den Händen und den Haaren, den Uebelthäter verfolgen auf
Schritt und Tritt.
Wiederum, sagt unser Luther:
Wo Ver
gebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit. Das Bewußt sein, Vergebung erlangt zu haben, erhöht uns alle Freuden, er
leichtert uns alle Leiden.
Darum schließt unsere fünfte Bitte durch
ein einfaches, zwischengesetztes „Und" sich eng an die vierte Bitte J) Jesaias 66, 24.
80 an.
Vom Getümmel des öffentlichen Lebens, wo die Menschen
ringen und jagen nach der Erde Gut, wendet sich sofort unser Blick in die Stille des Kämmerleins, wo die einsame Seele seufzt
nach der Gnade ihres Gottes.
Von der reichen Fülle, die der
Allgütige uns in unsere Scheuern gegeben, schauen wir hin auf den Mangel, auf die Leere in der eignen Brust.
Nach der Liebe,
die der Allmächtige uns erwiesen, gedenken wir dessen, wie liebe
leer wir allezeit gewesen.
Aber gleichzeitig taucht auch die Hoff
nung auf, daß derselbe Gott, Der künstlich und fein uns bereitet, Der uns Gesundheit verliehen, uns freundlich geleitet — Der unsern Stand sichtbar gesegnet,
Der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet,
daß der auch unserer Schuld gegenüber die Liebe bleibe, daß der
selbe Gott, der Aecker und Berge von Segen triefen läßt, auch von Golgathas Höhe Ströme seiner Gnade ausgehen lassen wolle zur Vergebung unserer
Sünde,
zu
einer Erlösung
für Viele.
Aber, m. L., wie leicht wird diese Bitte des Menschen der des wimmernden Kindes
ähnlich,
das nur deshalb um Verzeihung
bittet, weil es der Eltem Strafe fürchtet, aber im nächsten Augen blick, wo es sich unbeachtet vom Elternauge wähnt, von Neuem in den alten Fehler verfällt.
Möge bei dieser Bitte uns nie das
Bewußtsein schwinden, daß sie hinaufsteigt zu dem Heiligen, vor dem alle Sünde des Menschen ein Gräuel ist,
dem von
aller
menschlichen Sünde nichts verborgen bleiben kann, der in seiner Liebe wohl vergibt, aber nur, wo das Herz so ist, wie er es
dazu verlangt.
Darum legen wir in die Worte unserer Bitte
dies hinein: Gib mir ein Herz, o Vater, wie's deiner Vergebung
gewiß sein kann, und demgemäß laute denn unser Thema: Was ist das für ein Herz, Bitte handelt:
worum es sich bei der
Vergib uns unsere Schuld?
wort lautet: 1. ein reuiges Herz, 2. ein gläubiges Herz,
3. ein versöhnliches Herz.
Die Ant
81 1. Vergib
uns
unsere Schulden,
wie
wir vergeben unsern
Schuldigem! so fleht hier das hohepriesterliche Herz unseres Er
lösers
für die
Menschheit.
schließt er mit uns,
Er,
Ganz
wie bei
der
vierten Bitte,
den übrigen Erdenkindern, sich zusammen.
der da hätte die Steine der Wüste in Brod verwandeln
können, er erbittet sich sein Brod vom Himmel, weil es so die gottgewollte Ordnung der Welt fordert.
Er, der Reine, der von
sich rühmen konnte: „Welcher unter euch kann mich einer Sünde
zeihen"'), sendet die Bitte zum Vater hinaus: Vergib uns unsere Denn wir haben in ihm „nicht einen Hohenpriester,
Schuld.
der nicht könnte Mitleiden haben mit unserer Schwachheit, sondern der versucht ist allenthalben, gleich wie wir, doch ohne Sünde" 2). Tief empfindet er ja mit uns die Macht der Versuchung, die Last
der Sünde,
schwer trägt er mit uns und für uns alle unsere
Schuld; für die Reichsgenosfen, für die ganze Menschheit streckt er seine Hände nach dem Himmel aus.
lag damals die Schuld auf den Herzen!
Und wie centnerschwer Wenn er auf jener
Höhe des Berges, wo er uns beten gelehrt, die Volksschaaren zu
seinen Füßen musterte, wenn das Auge in weite Ferne schaute,
dann sah
er Millionen
unter dieser Last gebeugt.
Auf dem
Throne der römischen Kaiser, bei deren Wink der Erdkreis er
bebte,
saß damals schon das offne Verbrechen,
wenige Jahre,
dann
sollte
und nur noch
es in den Gräueln Kaiser Neros
seinen Höhepunkt erreichen; auf Palästina lastete schon seit Jahren
die
Hand
des
römischen
Landpflegers
Pontius
Pilatus;
in
Griechenland, dessen Söhne einst heldenmüthig für ihre Freiheit
gekämpft, dessen Kunst und Wissenschaft einst geblüht, herrschten
damals die entsetzlichsten Laster; in Rom, wo Mannestugend und Recht einst ihre Blütezeit gehabt, war man in Genußsucht ver
sunken,
so daß Tausende im Ekel am Erdenleben endeten; in
*) Johannes 8, 46. a) Hebräer 4, 15.
82 Israel waren Aller Herzen erfüllt von blindem Haß gegen die herrschenden Römer. Die heidnischen Religionen waren untergraben, so daß ihre eignen Priester nur lächelnd über ihr Treiben an
Heuchelschein sollte im niedern
einander vorüberziehen konnten. Volk noch
Glauben
den
an
dieselben
Und Israels
erhalten.
Gottesdienst? ach, der war erstarrt in todtem Buchstabendienst;
heuchlerische und selbstsüchtige Pharisäer- und Priesterseelen konnten
ruhig zuschauen, wie die Masse des Volkes der Heerde glich, die keinen Hirten hat; am Horizont zogen bereits die Wolken herauf,
die die schwärzeste That der Menschheit ankündeten, die da sagten, daß die Welt sich rüste ihr Heil, den eingeborenen Gottessohn ans Kreuz zu schlagen.
dich im Geist
Versetz'
hinein in die
einzelnen Häuser, mal dir es aus, wie es in den einzelnen Herzen
aussah, und du wirst es verstehen, wenn der Erlöser betend sich Vergib uns
gen Himmel wendet und spricht: die friedlichen
Auch großen
Thäler
Weltgetümmel,
fern
unsere Schuld!
Höhen Galiläas,
und
den
von
Einflüssen
fern
vom
Jerusalems,
konnten von den allgemeinen Zuständen nicht verschont bleiben; auch über ihnen sah er von ferne schon das Strafgericht seines
Gottes heraufsteigen. Gibt unsere Zeit denn nun aber nicht zu ähnlichem Gebete
Anlaß?
Wer
fühlte nicht die Last,
die auch uns niederdrückt?
Wen bangte nicht, wenn er seinen Blick umherschweifen läßt über
unsere gesellschaftlichen Zustände,
über
den Haß politischer und
kirchlicher Parteien, über die Gleichgültigkeit gegen religiöse und sittliche Fragen in allen Klassen unseres Volks, über das wachsende Verbrechen, dessen Raffinement immer höher steigt, über die all
jährlich sich mehrenden Selbstmorde, über die Unsittlichkeit, die
Tausende von Ehen vergiftet, die in den Reihen der Jünglinge und Jungfrauen
dadurch
um so
alljährlich Tausende von Opfern fordert, die
gefährlicher ist,
als dieselbe vielfach gar nicht
mehr für etwas Schlechtes gilt, als es ganze Klassen der Gesell
schaft gibt, in denen man mit lächelnder Miene sie gut heißt. M. L., der ernste, denkende Mensch begnügt sich hier nicht damit, sich zu sagen:
„Was wir vor uns haben, ist eine Thatsache, an
83 der sich nichts ändern läßt", nein, er geht ihren letzten Entstehungs gründen nach; er sieht sich schließlich vor die Thatsache gestellt, daß hier nichts anderes verborgen liege, als eine unendliche Kette
Die persönlichen Leidenschaften, eine maß
menschlicher Schuld.
lose Genußsucht, hochmüthiges, oberflächliches Aburtheilen über die schwierigsten Fragen, rasches, unüberlegtes Handeln, Schamlosigkeit, die sich ungestört breit machen konnte in Worten und Werken,
Unterdrückung der Wahrheit,
Begünstigung der Kriecherei
und
das alles und dergleichen mehr waren die
der Charakterlosigkeit,
schmutzigen Quellen, aus denen der große Strom seine Nahrung zog, aus denen die Dünste aufstiegen, um zu schweren Gewitter
wolken sich zusammenzuballen.
Wo darum im Geist der Erlöser
in unsere Mitte tritt, da ist es immer wieder dies, was er uns als Gebet auf die Lippen legt: Vergib uns unsere Schuld! Aber m. L.,
Jesus
sprach
einst
diese Worte,
als
unser
gnädiger
Hoherpriester, der selbst sündlos war, wir sprechen sie, weil die Sünde
mit
durchdringt. wo wir
tausend
Fasern unser
eigenes
Herz
ergreift
und
Bittere Thränen der Reue sollten wir darum weinen,
das „Vergib uns unsere Schuld" aussprechen.
Nur
ein pharisäisch gesinntes Herz wirft sich zum Richter seiner Zeit auf, ohne sich selbst zu richten.
Du verurtheilst den Dieb, der dem Nächsten sein Eigenthum
nahm, den Mörder, dem des Mitmenschen Leben nicht heilig war,
aber verbreitetest du vielleicht verderbliche Anschauungen über die Bedeutung des Eigenthums, trügest du vielleicht dazu bei, die Achtung vor dem Staat, seiner Obrigkeit, Gesetzen
zu
untergraben?
Du
verurtheilst
und
den
seinen heiligen
Selbstmörder,
der, verzweifelnd an der eignen Existenz, seine Hand an sich selbst
legte, aber hast du vielleicht dazu beigetragen, ihm alles Vertrauen auf die Vaterhand im Himmel zu rauben, hast du vielleicht ihn in der Kindheit gelehrt, nur nach Erdengut, nach Ehre und An
sehen bei den Menschen zu trachten, aber nicht Gott und den Erlöser zu suchen, in der Religion sich einen Halt zu bewahren für Leben und Sterben?
losigkeit,
aber hast
Du klagst über die gewaltige Sitten
du nie über die ernstesten Dinge gewitzelt, 6*
84 war in deiner Gegenwart unsittliche Rede nie möglich, ohne deinen Widerspruch und deine Entrüstung wachzurufen?
Du klagst über
die weit verbreitete Religionslosigkeit, aber hast du nie die Reli gion, und besonders das Christenthum dadurch den Menschen ver
leidet, daß du es nur im Munde führtest, aber nicht in der That oder im Leben bewiesest, daß du es zum Deckmantel politischer Parteibestrebungen machtest, daß du es in Formen kleidetest, gegen
die grade die Besten unter uns sich sträubten?
Ach, der Unter«
lassungs- und Begehungssünden sind so viele, und die Fäden der
selben gehen so weit zurück, sind so eng in einander verschlungen,
daß wir ihren letzten Ursprung nicht mehr zu verfolgen vermögen!
Bei manchem Fluß der Erde bleibt es dem Menschenauge verborgen, wo er entspringt.
Oft mag wohl der Fuß schon dahingegangen
sein über die Stätte, wo in der Tiefe die Quelle verborgen lag;
der Sandboden der Oberfläche ließ sie dort nicht vermuthen. So ruhen auch die letzten Quellen des großen Stromes der Sünde,
der reißend alles mit sich zieht, nicht selten in der Tiefe einer
Menschenbrust, wo das äußere Auftreten, die allgemein genossene
Achtung, der an den Tag gelegte fromme Eifer sie nicht vermuthen lassen.
Gewiß Grund
genug für einen Jeden unter uns,
die
Frage an sich zu richen: Wie steht es um deine eigne Sünde? Aber hier zeigt sich alsbald das hochmüthige Menschenherz.
Es will von eigner Sünde nichts wissen, eine Erscheinung, die
übrigens eben so sehr, wie bei den oberflächlichen Weltkindern, auch bei denen sich findet, die sich ihrer Frömmigkeit und Sittlichkeit
rühmen.
Allenfalls giebt man zu, daß man Sünder sei; Sünder
seien wir ja eben allzumal und alle mangeln wir ja des Ruhmes, den wir an Gott haben sollten*).
Aber man tröstet sich damit,
daß man ja nicht in die Reihe der großen Verbrecher gehöre, überhaupt mit seiner Sündhaftigkeit das gewöhnliche Maß der
Durchschnittsmenschen nicht überschreite.
Man rechnet gern her,
wodurch „man mehr gethan und geleistet in sittlicher Beziehung als Andere; man meint, das also Geleistete sei wohl im Stande *) Römer 3, 23.
85 wiederum auch manche Mängel aufzuwiegen, die sich hier oder Man sucht das Geschehene zu beschönigen,
da etwa gezeigt hätten.
aus den Verhältnissen zu erklären, in denen man sich befunden
habe, sich damit zu entschuldigen, daß man mißverstanden sei und Andere mißverstanden habe, daß die gesprochenen Worte nicht so
bös gemeint gewesen und man nicht habe kränken wollen.
Oder
man schreitet auch wohl dazu fort, das Geschehene aus
einem
Mangel unserer menschlichen Naturanlage zu erklären, als wäre
nicht alle unsere Sünde Uebertretung göttlicher Gebote, die nicht hätte sein sollen und bei der unser Gewissen Niemandem anders
Schuld giebt, als lediglich uns selbst.
Daß wir lieber, jenem
Zöllner gleich, an unsere Brust schlügen und sprächen: „Gott, sei
mir
Sünder gnädig"')
oder
mit dem
verlornen
Sohne ans
Vaterherz Gottes eilten und ihm bekennen wollten: „Vater ich habe gesündigt in den Himmel und vor dir!'") Nicht als ob es dabei etwa auf die Worte, auf die äußere Miene ankäme.
Gibt
es ja doch auch solche Menschen, die gewissermaßen darin schwelgen
von ihren Sünden zu reden, die mehr oder minder von dem Ge
danken beherrscht werden, daß es ein vor Gott löblich Werk sei, den Schmutz des eigenen Herzens vor Aller Ohren auszukramen,
die durch äußere Gebehrde der Menschen Gerede darüber zu er zeugen suchen, wie schwer sie unter ihrer Sünde leiden.
darauf kommt es an,
Nein,
daß wir wirklich unsere Sünde erkennen,
wirklich einen tiefen Schmerz über dieselbe empfinden und endlich
den ernsten Vorsatz fassen, mit ihr zu brechen. hat eine Verheißung,
Erst solcher Sinn
wie es denn ausdrücklich heißt:
liche Traurigkeit wirket zur Seligkeit eine Reue,
„die gött
die Niemand
gereuet, die Traurigkeit aber der Welt wirket den Tod'") oder:
„Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden'").
') 2) 3) 4)
Lucas 18, 13. Lucas 15, 21. 2. Corinther 7, 10. Matthäus 5, 4.
86 2. Aber, m. 8., wie geht's nun von der Traurigkeit zur Freude,
vom Leidtragen zum Getröstetwerden?
Heiden suchten sich ihren
Weg durch das Blut ihrer Opferthiere, Israel nicht minder. Doch, wer wäre unter uns, der sich davon noch etwas verspräche, nach
dem schon ein Jesaias gesagt:
spricht der
Opfer?
Herr.
„Was soll mir die Menge eurer
Ich
bin satt
der
Brandopfer von
Widdern und des Fetten von den Gemästeten und habe keine Lust zum Blute der Farren, der Lämmer und der Böcke. — Bringet
nicht mehr Speisopfer so vergeblich; das Rauchwerk ist mir ein Gräuel" *) und der Psalmist schon gesungen: „du hast nicht Lust
zum Opfer, ich wollte es dir sonst wohl geben, und Brandopfer
gefallen dir nicht.
Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein ge
ängsteter Geist; ein geängstet und zerschlagen Herz wirst du, Gott, nicht verachten"). gehen.
Unter uns rathen Tausende, andere Wege zu
Man will die Stimme der Schuld ertödten.
Der Grund
satz lautet: Stürz dich hinein ins Leben mit seinen Freuden und
Genüssen, mit seinen Aufgaben und Pflichten;
die werden dich
ganz in Anspruch nehmen, dich vom Schmerz in deinem Innern
ablenken.
Aber wer hätte nie erfahren,
wie fortgesetzte Arbeit
uns immer mehr an unser Unvermögen, unsere Schwachheit er
innert, wie grade die Arbeit nicht vorwärts geht, weil das Be wußtsein ungesühnter Schuld Hand und Fuß uns lähmen, wem wäre nicht, wenn im Herzen die Schuld sich regte, grade die welt
liche Lust ein Ekel gewesen? die Werke der Kunst.
Anderswo weist man uns hin auf
Wir sehen vor uns die Gebilde, welche
des Meisters Meißel oder Pinsel geschaffen, wir malen die Bilder
uns aus, die der Dichter uns vor Augen zu stellen bemüht ist, wir lauschen auf die Töne der Musik und des Gesanges. Es ist
wahr, was wir hier vor uns haben, erhebt unser Herz, was wir
i) Jesaias 1, 11 u. 13. s) Psalm 51, 18 u. 19.
87 sehen, ist Glück und Frieden, Frohsinn und Unschuld, was wir
Aber
hören, ist lauter Harmonie.
von dem, was wir gesehen
und gehört, wenden wir wieder der Wirklichkeit des Lebens uns
zu; das geschaute Bild entschwindet unsern Augen, die gehörten Klänge verhallen und der alte Schmerz erfaßt uns von Neuem. Es
gibt ferner Menschen, die meinen, durch ein nachfolgendes
Leben nach
Gottes Geboten
vergangene Stunden wieder
gut
machen zu können; als könnte der Mensch je mehr thun, als seine
Pflicht, als hätte er durch das makelloseste, pflichttreueste Leben auch nur das Geringste mehr geleistet, als was sein Gott ihm ge
boten.
Man
greift endlich zu sogenannten guten Werken,
zu
Bußübungen und Almosen, zu Wallfahrten und Fasten, zu selbst
erwählten Dualen, oder — wie's in den Tagen Luthers geschah — zum Ablaßhandel, in dem der Mensch meint, um Geldeswerth sich die Vergebung seiner Sünde erkaufen zu können.
Und wem
träte nicht aus der großen Zahl frommer Büßer, von denen die Geschichte uns meldet, der Eine oder der Andere vor die Seele, wie er unter diesen Dingen sich abmüht?
Wer dächte nicht z. B.
an unfern Luther, wie er in einsamer Klosterzelle ringt.
Aber
leuchtet Freude aus dem Angesicht dieser Büßer, gelangen sie zum Frieden?
Ach, ihr finsteres Angesicht redet vielmehr davon, daß
sie täglich noch neue Qualen sich suchen. Der rechte Weg, m. L., geht über Bethlehem und Golgatha.
Es heißt: Gedenke dessen, der dort in der Krippe geboren, hier am Kreuze gestorben, gedenke des Werkes der Erlösung, das durch
ihn vollbracht worden ist.
Jesus Christus!
zu dem wir unsere Zuflucht nehmen.
das ist der Name,
Denn von ihm verkündet
schon der Engelmund: Er wird sein Volk selig machen von seinen Sünden.
Und was fordert er von dem bußfertigen Sünder, von
dem mühseligen und
beladenen
Herzen?
Nur das Eine:
den
Glauben an die in ihm dem Sünder angebotene Gnade Gottes,
den Glauben an das Göttliche seines Berufes, den Glauben, daß Gott in ihm ist.
So
fragte der Kerkermeister von Philippi:
„Was soll ich thun, daß ich selig werde"? und die Antwort des Apostels Jesu Christi lautete:
„Glaube an den Herrn Jesum
88 Christum, so wirst du und dein Haus selig"').
So stellten auch
die Reformatoren, im Gegensatz zur Werkgerechtigkeit der römischen
Kirche, den Grundsatz auf, daß der Mensch nicht gerecht werde durch
des
Gesetzes
allein
sondern
Werk,
durch
den Glauben.
Dieser Glaube ist allerdings kein bloßes Fürwahrhalten, keine bloß verstandesmäßige Zustimmung zu dem, was die Kirche seit Alters über Werk und Person des Erlösers sagt; von solchem Glauben
heißt es ausdrücklich im Briefe des Jakobus, auch die Teufel haben ihn und doch auf
persönlicher,
zittern
innerer
dem Sünder aufleuchtet,
sie*2).3
Nein,
Erfahrung
der
dieser Glaube ruht
Gnade
Gottes,
wenn er in heißem Gebet vor
himmlischen Vater um Vergebung fleht.
die
seinem
Der Zöllner im Gleichniß
sendet seinen Seufzer gen Himmel, und darauf hin sagt der Er
löser von ihm: er ging hinab gerechtfertigt in sein Haus2). Jener Knecht, der seinem Herren und König 10,000 Pfund schuldet, tritt reuevoll vor diesen hin, fällt vor ihm nieder, bittet um Ver
gebung, und darauf hin heißt es von dem Könige: „Es jammerte den Herrn des selbigen Knechtes und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch"4).
Der verlorne Sohn im Gleichniß schlägt
in sich, will sich aufmachen und zu seinem Vater gehen und zu ihm sagen: „Vater, ich habe gesündigt in den Himmel und vor
dir, ich bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Sohn heiße,
mache mich als einen deiner Tagelöhner," und sofort heißt es von dem Vater: „Es jammerte ihn des Sohnes und lief und
ihm um den Hals und küßte ihn".
fiel
Was besagt das alles anders,
als dies, daß für den reuevollen Sünder der Augenblick kommt, wo er in seiner Seele der Vergebung seines himmlischen Vaters
gewiß wird.
Er weiß dann, es war der Geist aus der Höhe,
der diese Gewißheit ihm gab, derselbe heilige Geist, der schon in Jesu und durch ihn wirkte, er weiß, diese Vergebung war nur
möglich durch ein Opfer der Liebe Gottes, die ihn auf des Sünders
0 2) 3) 4)
Apostelgeschichte 16, 30 u. 31. Jacobus 2, 19. Lucas 18, 14. Matthäus 18, 23 ff.
89
Bestrafung verzichten ließ, er weiß, er wäre zu dieser Gewißheit nicht gekommen ohne Jesus, ohne das Opfer seines Todes, das
auf Golgatha gebracht worden.
Und so muß denn dies alles den
Inhalt seines Glaubens mitbestimmen.
3. Wo also die Bitte gen Himmel steigt: „Vergib uns unsere
Schuld!" da muß zunächst gebeten werden: Gib mir, o Vater, ein bußfertiges und gläubiges Herz.
Und diese Bitte erscheint ja
doch auch hinreichend vorbereitet durch dasjenige, was im Vater
unser derselben vorangeht. Himmel angerufen,
wie
seinen Kindern machen?
Gottes,
Der
sollte
Christ hat
den
Vater im
der Vater nicht uns wieder zu
Der Christ hat gebetet für den Namen
aber sein Name ist ja „Vater", und wie könnten wir
besser hoffen diesen Namen geheiligt zu sehen, als wenn er sich als Vater an den Herzen erweist?
Der Christ hat gebetet für
das Reich Gottes, aber dies Reich ist ja ein Reich der Gnade, das selbst die Armen, die Krüppel, die Lahmen und die Blinden
nicht verschmäht.
Der Christ hat gebetet,
daß Gottes
Wille
geschehe, aber Gott will ja eben, daß allen Menschen geholfen
werde und daß sie alle zu Gliedern des Gottesreiches heranwachsen,
„er will ja nicht den Tod des Gottlosen, sondern daß sich der Gottlose bekehre von seinem Wesen und lebe" *).
Der Christ hat
gebetet um das tägliche Brod; aber wird der Gott, der den Leib stärkt, der hungerden Seele das Himmelsbrod der Gnade versagen? Doch,
wie schon die Anrede des Vaterunsers uns in
die
Reihen der Brüder verwies, wie keine Bitte über unsere Lippen
kam ohne diesen Blick auf die Mitmenschen zu erneuern, so macht
uns in dieser fünften Bitte der Erlöser selbst darauf aufmerksam, daß
wir mit Nothwendigkeit
müssen und
grade hier der Brüder gedenken
eines versöhnlichen Herzens
besagt der Zusatz:
bedürfen.
Denn
Wie wir vergeben unsern Schuldigern.
*) Hesekiel 33, 11.
das Wie
90 die Worte lauten liegt werden muß.
ein Irrthum
nahe,
der sofort gehoben
Fern liegt es dem Erlöser, uns darauf vor Gott
pochen zu lehren, wie viel wir den Menschen vergeben haben und noch vergeben wollen, um darauf
einen Anspruch zu
auch von Gott Vergebung zu empfangen.
gründen,
Ist es ja doch des
Erlösers Bemühen immerdar, uns zum Bewußtsein zu bringen,
wie wir nichts zu fordern haben, wie alles, was wir sind und haben, eitel Gnade ist von Gott.
Fern liegt auch den Worten
des Meisters, unsere Vergebung zum Maßstab für die erbetene Vergebung Gottes zu machen.
Was will denn die Geringfügig
keit der Schuld besagen, welche die Mitmenschen uns gegenüber
haben, im Verhältniß zu unserer eigenen unendlichen Schuld im
Schuldbuche unseres Gottes?
Des Erlösers Absicht ist vielmehr
diese, auf den Hauptgrundsatz der Genossen des Gottesreichs hin
zuweisen, auf den Grundsatz des Vergebens, den Gott selbst zum
obersten Reichsgesetz gemacht.
Wie wir vergeben sollen, ja als
rechte Reichsgenossen schon vergeben haben sollen, wenn wir beten,
spricht der Erlöser, so vergib auch du, o Vater!
Aber kann so
Jemand sprechen, der es nicht für sich als oberste Pflicht erkennt,
Vergebung zu üben?
Mit der Bitte um Vergebung sollten wir
an das Gesetz der Gnade appelliren können, Leben dasselbe gelten zu lassen?
ohne im täglichen
Siehe, mein Christ, mit der Bitte
um Vergebung unserer Schuld sprichst du vor Gott, als läge
wirklich das Wohl der Menschheit dir auf deiner Seele — würde deine Rede da nicht zur Lüge werden, wenn du für die Bitte
derer kein Ohr hättest, die dich um Vergebung anflehen? ernst sagt doch auch der Erlöser:
Wie
„So ihr den Menschen ihre
Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch ver geben; wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben" *).
Und
jenen selben König, der auf seine Bitten dem Knecht 10,000 Pfund
erläßt, sehen wir sein Geschenk zurücknehmen, als derselbe Knecht den Mitknecht zur Rechenschaft zieht, der ihm nur 100 Groschen
-) Matthäus 6, 14 u. 15.
91 schuldet.
Darum,
vergiß nicht,
wenn du um Vergebung
vor
deinem Gotte betest, recht nachdrucksvoll hinzuzufügen: „Wie wir vergeben unsern Schuldigem", laß diese Worte
dir
eine ernste
Prüfung werden, ob du auch etwas wider den Andern hast, oder ein Anderer etwas wider dich haben könnte.
Wenn
du deine
Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eindenken, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine
Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe, spricht der Meister l).
Gilt das Wort nicht auch für den Fall, daß du betend vor deinen
Gott hintrittst? Vergeben!
ach, wenn nur nicht grade dagegen
Menschenherz sich sträubte!
das eitle
Ist denn Jesu vergebungverheißender
Blick auf den Jünger, der ihn verleugnet2),3 4Jesu * Bitte für seine
Feinde am Kreuzt, Stephani Fürbitte für seine Mörders, Josephs Verhalten gegen seine Brüder6), Davids Handlungsweise an ©aut6)
— sind das alles nicht Ausnahmen, die eben deshalb durch die Geschichte erwähnt werden?
Arbeiten für Andere,
geben an
Andere, dazu schwingt das Menschenherz sich schon empor, aber
Vergeben! daß
man
das wird ihm so schwer.
vergeben
sollte;
denn
Man erkennt wohl an,
das Bild des Unversöhnlichen
möchte man nicht an sich tragen; man hat es zu oft an Andern
gesehen, um davor zurückzuschrecken.
Aber wie oft sucht man sich
damit zu entschuldigen, der andere Theil trage die Schuld,
er
habe gereizt, gekränkt, die Unwahrheit gesprochen, eine gemeine That verübt, der andere Theil zeige so gar kein Entgegenkommen,
werde nur noch in seiner Schlechtigkeit bestärkt, wenn man ihm nachgehe, sage wohl, daß sein Verhalten ihm leid thue, aber ohne innerlich dasselbe zu bereuen. *) 2) 3) 4) b) 6)
Matthäus 5, 23 u. 24. Lucas 22, 61. Lucas 23, 34. Apostelgeschichte 7, 59. 1. Moses 50, 19 ff. 1. Samuelis 24, 12.
Seele, was wäre aus dir geworden,
92 wenn dein Gott dir niemals nachgegangen wäre, weil du ja selbst das Vaterhaus verlassen, weil du ihn betrübt mit Thaten, Worten
und Gedanken, wenn er seinen Blick voll Liebe und Erbarmen
nicht auch da dir nachgesandt hätte, wo du in der Irre gingst, wenn er nicht versucht hätte, immer und immer wieder dich zur Buße zu rufen,
wenn
er
sich
hätte
abweisen
lassen in allen
Stunden, wo du gleichgültig geblieben gegen seine Mahnungen
und Lockungen, wenn er nicht jede bessere Regung in deiner Seele sofort benutzt hätte, um dich weiter zu führen, wenn er nicht ge handelt hätte nach der allgemeinen Erfahrung, daß
die immer wieder und wieder nachgeht,
die
doch schließlich
Liebe, feurige
Kohlen aufs Haupt sammelt, die so tief einbrennen, daß ein heiß
Verlangen nach Umkehr in der Seele sich zeigt. — Wie oft ist
ferner selbst da, wo schließlich die Hand zur Versöhnung gereicht wird, der Act doch nur ein äußerlicher, nur auf die Augen be rechneter, nur durch den augenblicklichen Vortheil
eingegebener!
Man möchte nicht gern, daß die Menschen von einem Zerwürfniß
hörten, das Zerwürfniß selbst ist auch wohl gar lästig, weil man
doch täglich mit einander verkehrt und auf einander angewiesen
ist.
Auch
könnte
einem
ja so
leicht Lieblosigkeit vorgeworfen
werden und das könnte einem den Namen eines guten Christen rauben, auf den man doch sonst so viel Gewicht legt.
Aber der
Christ will vergeben, weil er in einem Reich der Gnade wohnt,
weil er aus eigenster Erfahrung weiß, wie schmerzlich eine Schuld uns drückt,
die nicht vergeben ist,
muß dem Vater ähnlich
sein,
weil er sich sagt,
das Kind
darum auch das Kind Gottes
seinem himmlischen Vater. — Wie oft wird endlich eine Form
der Vergebung gewählt, der man es auf den ersten Blick anmerkt, im letzten Grunde ist eigentlich gar nicht vergeben worden. Man sagt dem, der da bittet: Ich will vergeben, aber ich kann nicht vergessen, was du mir gethan hast.
Und wie gesprochen, wird
auch gehandelt: ein altes inniges Freundschaftsverhältniß, das ge
trübt worden, kehrt nicht wieder; von Aufopferung ist keine Rede,
und auf Schritt und Tritt merkt man's heraus, die alte Wunde kann beim geringsten Anlaß wieder aufklaffen; was vergeben sein
93 sollte, kann im nächsten Augenblick alles von Neuem wieder ver handelt werden.
Man reicht auch wohl dem Bittenden die Hand,
verheißt ihm Vergebung, aber aus Mienen und Worten merkt
man's heraus, es ist der Vorgesetzte und Höhergestellte, der dem Bittenden gegenüber steht und ihm zu verstehen gibt, daß dieser ihn eigentlich auch
wohl
gar nicht habe beleidigen können.
die Vergebung,
welche
Man knüpft
man verheißt,
an
so
viele
„Wenn" und „Aber", an so viel Bedingungen und Leistungen, daß man bald herausfühlt, hier solle nicht vergeben, sondern ab
gezahlt werden.
Mein Christ, was würdest du wohl sagen, wenn
du nicht hoffen dürftest auf deines Gottes ganzes Herz,
wenn
nicht deine ganze Schuld versenkt würde in das Meer der gött lichen Liebe, um nimmermehr von deinem Gott dir vorgehalten
zu werden, wenn er dich nicht sofort wieder ganz in den Stand der Kindschaft versetzte, wenn du nicht jubeln dürftest: „Wer will
die Auserwählten Gottes beschuldigen? gerecht macht;
wer will verdammen?
Gott ist hier,
der da
Christus ist hier, der ge
storben ist, ja vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher ist zur
Rechten Gottes und vertritt uns?"') Was würdest du sagen, wenn du nicht aufblicken könntest zu deinem Gott, ohne stete Angst und
Furcht, der geringste Fehltritt könnte dein Kindesrecht dir wieder rauben,
ohne jene Freudigkeit, daß,
ob wir gleich täglich viel
sündigen und aus Schwachheit fehlen, Gott dennoch unserer sich erbarmt,
wenn du dir sagen müßtest:
Er ist
der Allmächtige,
dessen Ehre wahrlich nichts geraubt wird durch mich, dem ich
viel zu geringe bin,
als daß er nicht ohne mich sollte fertig
werden können, wenn du nicht vielmehr hoffen könntest, auch der
geringste
Sünder ist
ihm
lieb,
und
es wird
Freude sein im
Himmel über einen Sünder, der Buße thut, vor 99 Gerechten,
die der Buße nicht bedürfen, wenn er seine Vergebung knüpfte an Bußübungen und Opfer, an ein in Zukunft völlig untadel-
haftes Leben? Nach dem allen muß der Christ in unsere Bitte ganz be') Römer 8, 33.
94 sonders auch dies hineinlegen: Gib mir, o Vater, ein versöhnlich
Herz,
ein Herz, das
wirklich
bereit
ist zu vergeben,
das alle
Leidenschaft niederzukämpfen sucht, das nicht mißtrauisch hinter
Allem Boßheit sieht, sondern bereit
denken,
ist, überall das Beste zu
das sich nicht einbildet, versöhnlich zu sein, wo es dies
doch nicht ist.
Ja, Erbarmungsreicher! verleih' uns ein Herz, dem du der
Gnade Fülle schenken kannst.
Laß uns
reuig
niederfallen vor
dir, dem Heiligen und Gerechten, laß uns glaubensvoll deine
Gnade in Christo ergreifen.
Gib uns ein versöhnlich Herz, das
da bereit ist wieder zu vergeben, wie du uns vergeben hast. Amen.
Die sechste Bitte. Matthäus 6, 13. Und führe uns nicht in Versuchung.
W°
der Verfasser des Hebräerbriefes uns zeigen will, wie der Erlöser, als Mensch, den Kampf des Lebens keineswegs leichter gehabt habe, als wir, da sagt er:
„Er ist versucht allenthalben
gleich wie wir, doch ohne Sünde" **), und wer unter uns wüßte
denn nicht, wie gerade die Versuchung der gefährlichste Feind ist, der hienieden auf Schritt und Tritt uns bedroht?
Wie manche
Eltern haben mit bangen Ahnungen grade diese sechste Bitte gen
Himmel gesandt, wenn sie vorm Abschied von ihren Kindern noch einmal mit ihnen das Vaterunser gesprochen!
Wie bedeutungsvoll
muß sie auch heute über unsere Lippen kommen, wo wir in dieser Woche — so Gott will — wiederum eine junge Christenschaar ins
Leben hinaussenden werden!*)
Jene letzten Mahnungen, die ihnen
da noch mitgegeben werden, jene Thränen, die da von Vater und
Mutter ihretwegen geweint, die Worte des Segens, die über ihnen beim Abschied gesprochen werden, sie sind uns ja eben nahegelegt
durch den Gedanken an die Versuchungen des Lebens.
zieht unter Hafen.
hellem Sonnenschein
das Schiff
hinaus
So stolz aus
dem
Wie wird es sein, wenn die Stürme gebraust, die Klippen
gedroht haben?
Was werden wir sehen, wenn wir, wartend auf
sie, dereinst an den Ufern der Ewigkeit stehen?
Wird stolz das
Schiff, wie es ausgelaufen, auch droben in den Hafen einlaufen? oder
werden
zerstreute Trümmer,
werden Berichte der Augen-
*) Hebräer 4, 15. *) Zn der Woche fand die Herbstconfirmation Statt.
96 zeugen verkünden, daß das Schiff Schiffbruch gelitten? — Ver
suchung! wem trete die Bedeutung dieses Wortes nicht vor die Seele, der je eins der Seinen in das Getümmel und Treiben
unserer großen Stadt hineingesandt?
Die Seufzer, die da gen
Himmel stiegen, wenn von frühen Krankenlagern, aus Gefängniß zellen,
aus
bittersten
des Lasters,
den Höhlen
Noth
eine Kunde
aus
den Gemächern
heimkehrte ins
Elternhaus,
der
diese
Seufzer waren ein Beweis, daß das Wort „Versuchung" nicht
mit Unrecht
die Herzen
einst
geängstigt hatte.
Ja,
wo wäre
Einer, der im Kampf des Lebens gereift, dessen Haupthaar grau, dessen
Stirn
durchfurcht,
den
das
Wort „Versuchung"
nicht
sinnend das Haupt stützen und mit seinen Gedanken nicht bald
bei diesem bald bei jenem Punkt verweilen ließe, wo er selbst
einst gestrauchelt, gewankt, gefallen?
Grade dem Christen, der
„mit Furcht und Zittern seine Seligkeit schafft"') ist das Wort „Versuchung" so ernst.
Er weiß ja, wie ost sie ihm sein hohes
Ziel verrückt und seinen Lauf ihm hemmt.
Er hat Vergebung
gefunden, als aus tiefbewegter Brust die Schuld seiner Sünde
ihn gen Himmel rufen ließ, aber was ihm mit seiner Schuld zugleich entgegengetreten, das ist der Gedanke an die Versuchung,
der er erlegen, was das frohe Bewußtsein wiedererwachter Kind schaft bei Gott ihm trübt, das ist die Unsicherheit, ob angesichts erneuter Versuchung, dieselbe nicht wieder verloren gehen könnte.
Auch hier schließt sich daher nicht ohne Absicht mit einem ein
fachen „Und" unsere Bitte an die voraufgehende an.
Denn wer
um Vergebung der Schuld gebeten, muß sofort weiter um Ab wendung all der Gefahren flehen, welche die Versuchungen für ihn in sich bergen.
Laßt uns danach der Bitte selbst näher treten.
geschehe dergestalt, daß wir mit einander erwägen: 1. was fürchten wir ohne dieselbe? 2. was wollen wir durch dieselbe erzielen? 3. welche Forderung richtet sie an uns?
') Philipper 2, 12.
Es
97 1. Wer die Bitte gen Himmel sendet: führe uns nicht in Ver der scheint auf den ersten Blick anzunehmen, daß der
suchung!
Heilige droben, daran habe,
dem alle Sünde eine Gräuel ist,
ein Gefallen
den Menschen von dem schmalen Weg des Guten
auf den breiten Weg der Sünde zu locken.
Und doch ist seit den
Tagen unserer Kindheit eine solche Persönlichkeit, die das könnte, der
Gegenstand
unseres
steten
Abscheus.
Den Versucher,
Satanas, den Teufel — wer flöhe ihn nicht!
den
Wir wissen auch
alle, daß wir einer groben Sünde uns schuldig machen, ja daß
wir Gott lästern würden, wenn wir ihn als Versucher zum Bösen ansehen wollten.
Zum Ueberfluß
heiligen Schrift selbst:
heißt es ja auch noch in der
„Niemand sage, wenn er versucht wird,
daß er von Gott versucht werde.
Denn Gott ist nicht ein Ver
sucher zum Bösen, er versucht Niemand"').
Von droben kommt
wohl heute Sonnenschein und morgen Regen, aber nicht so heute
Heil und morgen Sünde.
Er ist der Vater des Lichts und bei ihm
ist keine Veränderung, noch Wechsel des Lichts und der Finsterniß*2).
Was wir sehen, ist dies, Ja, je
uns entgegentritt.
daß eine Welt voll Versuchungen
mehr
das Leben kennen lernen,
wir
desto mehr erkennen wir, daß alles uns zur Versuchung werden kann.
Wir sehen jene Unglücklichen, die, ein Abscheu der mensch
lichen
Gesellschaft,
schmachten.
Sie
eines
sind
Verbrechens
in
wegen
der Versuchung erlegen.
sie oft zu Verbrechern gemacht,
den
Kerkern
Die Noth
hat
der Blick auf Anderer reich be
setzte Tafeln hat ihren Neid erweckt und sie schließlich über mensch
liche
und
frühe
göttliche Ordnungen
Hinscheiden
von
sich
hinwegsetzen
Vater und Mutter,
lassen.
der Mangel
Das
jeder
liebenden Seele aus Erden hat die Herzen bitter, rathlos, gleich
gültig gemacht und schließlich zu einem Act der Verzweiflung ge trieben.
Ihre Versuchung war der Mangel.
') Jacobus 1, 13. 2) Jacobus 1, 17.
Willst du deshalb
98 nun sagen: ich
In der Armuth liegt die Versuchung, darum ziehe
den Reichthum vor?
Dann
vergiß nicht,
wie
der Erlöser
spricht: „Es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme"'), wie wir im
ersten Briefe an den Timotheus lesen: „Die da reich werden wollen,
die
fallen in Versuchung und Stricke und
viele thörichte und
schädliche Lüste, welche versenken die Menschen ins Verderben und
Verdammniß"*2).
Wie sicher wird hier oft das Herz, wie gesellen
sich hier zur Sicherheit oft Hochmuth und Herrschsucht, Genußsucht und Lieblosigkeit, wie erzeugt das Wohlgefallen an reichem Besitz
so oft nur die Gier nach mehr, wie macht es den Menschen oft so gleichgültig gegen die Arbeit und gegen seine Pflichten,
nutzlos die Kräfte und die Zeit vergeudet werden.
sodaß
Ja, wenn dein
Grundsatz wäre: Ich suche nicht Reichthum, ich wünsche mir nicht Armuth, aber so mein bescheiden Theil, könntest du dann darauf
rechnen, keinen Versuchungen ausgesetzt zu werden? würdest arbeiten,
Gewiß, du
denn du würdest sonst nicht auskommen,
du
würdest auch Zeit haben, wo die Arbeit einmal ruhen und du
höheren Genüsse dich hingeben könntest.
Aber stellt nicht grade
hier so oft jene Selbstgefälligkeit sich ein, die meint, Vorwürfe brauche man sich nicht zu machen, wenn das Leben nur in den gewöhnlichen Geleisen sich fortbewege und man weder zur Rechten noch zur Linken Anstoß errege, wenn die Menschen Einen keiner groben Fehler zeihen können?
Ach, Armuth und Reichthum, ja
selbst die vielgepriesene goldene Mittelstraße, sie alle haben ihre Versuchungen.
Hast du viel Freunde, wie leicht gewöhnst du dich
dann daran, nur Gutes über dich zu hören, kurzsichtig zu werden
gegen deine eigenen Gebrechen und in Eitelkeit dich selbst zu über
heben!
Hast du viel Feinde, die dir deine Pläne durchkreuzen
und überall dir Schwierigkeiten machen, wie leicht vergiften da
Bitterkeit, Mißtrauen, Menschenhaß deine Seele!
dir einen siechen Körper durchs Leben,
') Matthäus 19, 24. 2) 1. Timotheus 6, 9.
Trägst du mit
wieviel Stunden werden
99 dann vergeudet in ängstlicher Pflege, wie verzagt bist du dann, etwas Großes zu unternehmen, wie feige fliehst du dann die Gefahren,
die dir drohen!
Strotzt dein Leib von Gesundheit, wie leicht
sinnig meinst du dann darauf losleben zu können, wie lieblos
beurtheilst du
dann den Andern,
der in Arbeit und Genüssen
nicht gleichen Schritt mir dir halten kann!
Rinnt heißes Blut
in deinen Adern, wie leicht entbrennst du dann zum Zorn!
Hast
du ein ruhiges Temperament, wie leicht zeigt sich Trägheit und Stumpfsinn im Denken, wie im Handeln!
Ist Jugendfrische
und Jugendkraft bei dir noch ungebrochen, wie leichtsinnig suchst du dann nur den Augenblick zu genießen, wie setzt du dich dann
hinweg
über jede Stimme
der Mahnung
und der Warnung!
Kommt das mürrische Alter, dann schwinden die Ideale, dann
beginnst du alles zu tadeln, was in deinen engen Gesichtskreis mehr paßt.
nicht
Stehst
du
alltäglich im heißen Kampf des
Lebens, dann vergißt du die Sorge um das Eine, das Noth ist.
Ziehst du dich zurück in die Stille, dann weilt deine Fantasie so
oft bei unkeuschen Bildern, dann verschwindet das Interesse an den großen Aufgaben der Menschheit.
Ist dein Bemf ein solcher,
daß er alltäglich deine ganze geistige Thätigkeit in Anspruch nimmt,
wie leicht kommt dann jener geistige Hochmuth', der über jeden andern Beruf gleichgültig hinwegsieht!
Führt dich dagegen dein
Beruf vor allem dazu, die Kräfte des Körpers in Anspruch zu nehmen,
wie
leicht kommt
geistigen Fähigkeiten!
es
dann zur Vernachlässigung der
Hat dein Gott es dir gegeben, in der Tiefe
des Gemüths seine Stimme zu vernehmen, hat er dich reich ge
macht
an
christlicher Erkenntniß,
sind
deine Lebenserfahrungen
derartig gewesen, daß sie dich nie irre machten in deinem Glauben — siehe auch hier lauert die Versuchung, daß sie jenen wider
wärtigen Pharisäersinn, jenen geistlichen Hochmuth in dir erzeuge, in dem du dich über Andere erhebst und sie zu richten beginnst.
So
ist das Menschenleben überall von Versuchungen umstellt.
Aber können wir bei dieser Thatsache stehen bleiben?
Stammt
nicht für den Christen alles, was er ist und hat, aus Gottes Hand? Ist Gott es dann nicht auch,
der im letzten Grunde selbst die 7*
100 Versuchung sendet?
hauptung zurück,
Und kommen wir nicht so doch zu jener Be
welche wir vorher
als Gotteslästerung abge
wiesen haben?
M. L. Reichthum und Armuth, Feinde und Freunde, Gesundheit und Krankheit, Jugendkraft und Alterschwäche, Stellung in der
Welt, das alles stammt ja von Gott, das alles kann zugleich
uns zur Versuchung werden.
Aber muß es das auch?
Sendet
Gott es wirklich, damit wir darunter zum Fall kommen? müssen wir verneinen.
Hier
Armuth führt in tausend Fällen zu Lastern
und Verbrechen, aber kann sie den Menschen nicht auch anhalten zu Fleiß und Sparsamkeit? ist nicht gerade aus den Kreisen der
wenig Begüterten mancher große Charakter hervorgegangen, der
das, was er nachher geworden, zum großen Theil den Entbehrungen seiner Kindheit dankte?
Reichthum führt in tausend Fällen zur
Weltlust; aber nicht eben so oft zur Wohlthätigkeit, zur ungestörten Ausbildung geistiger Fähigkeiten, die im Menschen liegen?
feindung
der
Charakter
oft
Menschen macht
auch
oftmals
fester
und
bitter,
An
aber sie macht den
standhafter.
Ein
siecher
Körper bringt Gefahren, aber wie oft läßt er den Geist zu solcher
Macht sich aufschwingen, daß er schließlich den Körper sich zum
willigen Werkzeug macht, wie oft läßt er den Menschen mit Paulus
die Stimme Gottes vernehmen: „Laß dir an meiner Gnade ge nügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!"')
Das
selbe Temperament, das zur Stumpfheit und Trägheit führt, wie oft führt es auch wiederum zu weiser Besonnenheit!
Wer kann
danach noch zweifeln, warum Gott alle jene Dinge uns nahe
bringt,
die
unter Umständen
werden können?
allerdings zum Fallstrick für uns
Ja, wer verstünde denn nicht, was Jakobus
meint, wenn er schreibt: „Selig ist der Mann, der die Anfechtung
erduldet; denn nachdem er bewähret ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, welche Gott verheißen hat denen, die ihn lieb
haben" 2).
Liegt nicht in der Ueberwindung der Anfechtung oder
0 2. Corinth er 12, 9. 2) Jacobus 1, 12.
101 Versuchung, wie Luther in der Stelle bei Jakobus ebensogut hätte übersetzen können, ein unendlicher Segen?
Der Soldat, der schon
manche Schlachten bestanden, der unter dem Donner der Geschütze
und im Kugelregen der Feinde, schon oftmals Stand gehalten, ist der dem Feldherrn nicht mehr werth, wenn auch schon manche
Narbe
sein Gesicht entstellt,
manche Zierde
seines Helms ihm
durch feindliche Kugeln abgeschossen ist, als der Jüngling, eben
Rüstung zum ersten Male in die Schlacht zieht?
große Glaubensheld
der
noch mit blanker Waffe und tadelloser
erst ausgemustert, des
Abraham, der
alten Bundes, ward er nicht versucht
und durch die Versuchung im Glauben befestigt?
Der Erlöser
selbst, ist er nicht versucht worden, gleich wie wir? ist er nicht,
weil er gehorsam blieb bis zum Tode, „von Gott erhöht worden und
ihm
ein Name
gegeben,
der über alle Namen
ist?"')
Versuchungen sind eben gleichsam die Schlachten, in denen der
Streiter Gottes erprobt wird.
In ihnen lernt er seine Fehler und
seine Schwächen kennen, wie seine Kräfte entfalten.
In ihnen
lernt er, was die Mächte einer bessern Welt für ihn werth sind. In ihnen sieht er, wo er noch an sich zu arbeiten hat.
will unser Gott uns prüfen.
um zu erkennen, was in dem Andern ist. kündiger, sind wir ja alle längst bekannt.
um
In ihnen
Nicht wie Menschen einander prüfen, Gott, dem HerzensNein, Gott prüft uns,
uns selbst durch das Resultat der Prüfung ein Bild über
den eignen Herzenszustand zu geben. Was wir fürchten, m. L., ist nach diesem Allen nicht etwa
ein Gott über uns, der uns durch Versuchungen zur Sünde ver leiten wollte, den wir durch unsere Bitte erst glauben von seinem bösen Vorsatz abbringen zu müssen.
Nein, wir wissen, wir haben
ein treues Vaterherz droben, das nur unser Bestes will.
Was
wir fürchten ist vielmehr dies, daß das, was Gott uns sendet, für uns ein Anlaß zur Sünde werden könnte, daß unter unsern
Händen das, was uns ein Segen werden sollte, in Fluch sich ver wandeln möchte.
Wir denken an jenen unreinen Geist, der überall
0 Philipper 2, 8 u. 9.
102 Gottes Schöpfung entweiht, der alles Reine unrein zu machen
versteht, von dem die Schrift sagt, daß er in der Lust herrscht'),
weil er gerade da sich einfindet und am gefährlichsten wird, wo der Mensch ihn
nicht vermuthet, der
schon im Paradiese mit
Schlangenklugheit und Schlangenlist den Herzen sich nahte. ist
die Macht
des Bösen in unserer eigenen Brust.
Es
Wie wir
denn auch in der Schrift lesen: „Ein jeglicher wird versucht, wenn
er von seiner eigenen Lust gereizet und gelocket wird.
Darnach,
wenn die Lust empfangen hat, gebietet sie die Sünde; die Sünde
aber, wenn sie vollendet ist, gebietet sie den Tod'"). Es fehlt ja allerdings an solchen Erdenkindern nicht, die die Versuchung
nicht fürchten,
weil sie die Sünde überhaupt nicht
Sie fliehen das Leid, das Mißgeschick, den Tod, sie
fürchten.
suchen das Glück, den Reichthum, den Genuß; aber Versuchung!
und Sünde! sind ihnen nur Worte, mit denen der fromme Schwärmer sich plagt.
Ich glaube, wenn sie ihr Bild in einem andern Menschen
sähen, es würde ihnen nicht gefallen.
Was den Menschen zum
Menschen macht, das haben sie nicht gesucht; was im Menschen das
Bild seines Gottes entstellt, das haben sie nicht gemieden.
Andere
giebt es, die fürchten die Versuchung auch nicht; ihnen ist allerdings die Sünde ein Gräuel, aber die Macht der Versuchung erscheint ihnen nicht allzu groß.
Sie vertrauen auf ihre gute Erziehung,
ihren seinen Takt, ihre gute Naturanlage, ihren sittlichen Ernst, auch wohl schon auf ihren vorgeschrittenen Christenstand.
Wissen
sie ja doch sich dessen kaum zu entsinnen, daß sie je einer Ver
suchung erlegen; jedenfalls liegt ihnen der Augenblick, wo sie fielen,
in weiter Ferne.
Wie kommt es zu solcher Sicherheit?
Weil das
Herz sich gewöhnt hat, nur da von wirklichem Fall zu reden, wo
ein Verbrechen vorliegt, wo die Menschen eine That oder Unter lassung
als Sünde brandmarken; weil
sie sich
nur zu messen
pflegen an andern Menschen und nicht an dem heiligen Gesetz
unseres Gottes,
weil sie übersehen, daß jeder Mensch seine be-
') Epheser 2, 2. 2) Jacobus 1, 14 u. 15.
103 sondere Stelle hat,
wo
er für die Pfeile des Versuchers ver
wundbar ist.
2. Können wir nun aber, m. L., nach dem Gesagten zweifeln,
was der Christ mit Rücksicht auf die Versuchungen zu bitten hat? Kann es sein Wunsch sein, daß alles das, was das Leben an Versuchungen bietet, ihm fern bleibe?
Dann würde er ja denken,
wie jene thörichten Eltern, die ihr Kind verzärteln, es stets unter
ihren Augen behalten wollen, es nie hinausschicken in den Ver kehr mit andern Kindern, nur weil die bange Furcht sie erfüllt,
das Kind könnte Schaden leiden an seiner Seele, dann würde er ja den Gott meistern, der nach seiner Weisheit die Versuchung gewollt.
Wird der Christ denn nun aber vielleicht die Versuchung
von seinem Gott sich erbitten?
Dann würde er dem Soldaten
gleichen, der da meint, alle Leibesübung, alle Anweisung daheim sei überflüssig, der in Folge dessen nun sofort dahin gestellt werden
will, wo er dem Feinde ins Angesicht schaut.
Der Christ spricht
mit seinem Erlöser einfach und schlicht: Führe mich nicht in Ver suchung.
Diese
seine Bitte ist dann
der Ausdruck christlicher
Demuth, die des Fleisches Schwäche kennt gegenüber der Macht, die so gewaltig reizt und lockt, jener Demuth, die sich nicht ver
mißt, schon so stark zu sein, daß sie der Anfechtung vollkommen gewachsen wäre, die da weiß, wie oft das hoffärtige Herz, um
vor den Menschen groß zu erscheinen, die Versuchung aufsucht, aber dann auch sicher in ihr erliegt, die darum bittet, Gott möge im
entscheidenden Augenblick
verhindern,
sichere Herz sich fortreißen lassen könnte.
wozu das
fleischliche,
Aber die Bitte kommt
nicht über des Christen Lippen ohne den stillen Zusatz: „Doch Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst".
Es verläßt
ihn doch bei der Bitte das kindliche Vertrauen nicht, daß die Versuchung, die Gott sendet, trotz unserer Gebete, daß die auch
gut für uns sein muß,
daß „uns keine, denn menschliche Ver
suchung jemals betreten wird, weil Gott treu ist, der uns nicht
lässet versuchen über unser Vermögen, sondern machet, daß die
104 Versuchung so ein Ende gewinne, daß wir's können ertragen"'). Ist es ja doch auch schon etwas anderes, ob ich bitte: „Führe mich hinein in die Versuchung", oder ob ich sage: „Halt alle
Versuchung von mir fern, ob du sie mir auch bestimmt hast". Doch, m. L., was sollen der Eiche die Stürme nützen, in
denen sie befestigt werden soll, sofort
wenn diese selben Stürme sie
entwurzeln und zu Boden werfen?
Wozu sollen dem
Soldaten die ersten Vorpostengefechte dienen, in denen er lernen soll, wenn gleich hier die tödtliche Kugel ihn trifft?
Will darum der
Christ durch sein Gebet die Versuchung nicht aufhalten, die nach Gottes Rath zu seinem Heil kommen muß, wie kann er dann anders, als doch in seine Bitte den Wunsch hineinlegen, daß die Ver
suchung, wenn sie kommt,
möge.
auch wirklich zum Heil ausschlagen
Er spricht: Führe mich nicht in Versuchung, aber meint
damit zugleich:
„Laß mich in der Versuchung nicht allein, steh'
du mir in derselben als ein treuer Führer und Vertheidiger zur
Seite; führe du mich auch durch die Versuchung hindurch". legt in die Worte unserer Bitte den Gedanken hinein:
Er
„Mit
unserer Macht ist nichts gethan, wir sind gar bald verloren, d'rum streift für uns der rechte Mann, den Gott selbst hat erkoren".
Denn was nützt alle menschliche Kraft, was die größte Wachsamkeit? Der Mensch bleibt bei dem Allen doch ein kurzsichtiges, endliches Wesen,
das
auf die Hülfe aus der Höhe angewiesen ist.
Er
will darum, daß Gott ihm in der Versuchung zur Seite stehe, daß Gott ihm selbst die Augen öffne, damit er die Versuchung
erkenne und ihr gegenüber die eigene Kraft nicht überschätze, daß Gott selbst ihm die rechten Waffen in die Hand gebe, damit er
so am bösen Tage Widerstand leisten könne und einen guten Kampf kämpfe.
Der Erlöser hat vor seinem Scheiden seinen Jüngern ge
sagt, so sie etwas Tödtliches trinken würden, so würde es ihnen
nicht schaden.
Mit unserer sechsten Bitte flehen wir, daß diese
Verheißung des Meisters an uns wahr werde.
Einem Becher
mit tödtlichem Gift gleicht so manche Freude, so manches Leid, so
') 1. Corinther 10, 13.
105 mancher Gewinn, so mancher Verlust, so manche Bevorzugung, so manche Zurücksetzung; tausende unter uns trinken davon, um für
immer dem Tode zu verfallen, um langsam an dem Gift dahin Droben aber waltet der gütige Vater, der auch den
zu siechen.
gefährlichsten Becher unschädlich machen und den Trunk daraus
sogar in einen Heiltrunk verwandeln kann.
3.
Aber kannst du zu deinem Gott sprechen: „Führe uns nicht in Versuchung", wenn du nicht wirklich die Versuchung fürchtest,
wenn du dich nicht bemühst, dich selbst und Andere nicht in Ver suchung zu führen, wenn du nicht gern die Mittel ergreifst, welche gegen die Versuchung am wirksamsten erscheinen?
Und doch, wie
oft lassen in dieser Richtung die Menschen es an der rechten Treue fehlen!
Kennst
du
die Stunden,
wo Gottes heiliges Gebot mit
seinem „du sollst" und „du sollst nicht" dir wohl vor der Seele
stand, aber das eigene Herz dir vorredete: „Vom Gedanken bis zur That ist noch gar weit"?
Die Verlockung zu einer
ehe
brecherischen That hättest du voll Entrüstung mit dem Josephs worte abgewiesen: Wie sollte ich denn nun ein solch groß Uebel thun und wider Gott sündigen')?
Aber das Verweilen bei un
keuschen Bildern für einen Augenblick schien dir so schlimm nicht zu sein.
Kennst du die Stunden, wo dein Herz pochte vor einem
Gange, der dir bisher so gefahrvoll geschildert worden, wo aber gleichzeitig eine versucherische Stimme dir sagte: Der Mensch muß
alles
kennen lernen,
können?
um es nachher desto besser beurtheilen zu
Kennst du solche Stunden, wo du jenem Petrus glichst,
den der Meister so nachdrücklich warnte: „Simon, Simon! siehe der Satanas hat euer begehret, daß er euch möchte sichten, wie den Weizen'").
Wie kühn wies jener Petrus den Gedanken an
0 1. Moses 39, 9. 2) Lucas 22, 31.
106 die drohende Gefahr ab! wie kühn pochte er auf seine Petrus-,
seine Felsennatur! wie kühn ging er in den Hof des hohepriesterlichen Palastes und mischte sich mitten unter die Feinde! Wie kühn
wiesest auch du jede warnende Stimme von dir! erschien sie dir,
Wie thöricht
dem Mann, der in Kämpfen erprobt,
Charakter von Eisen dir bekannt!
dessen
Wie siegesgewiß tratest du
an die Stelle, wo die Gefahren dich umzingelten!
Frag dich,
o Seele, sind alle diese Stunden ohne bittere Folgen für dich
geblieben?
Hast
du
dich nicht schließlich doch auf Pfaden ge
funden, auf die du ursprünglich nicht gewollt?
Hast du nicht oft
mals Dinge kennen gelernt, Erfahrungen gemacht, urtheilen gelernt für einen Preis, der dir schließlich doch allzu hoch erschien?
Hast
du nicht schon Stunden durchgemacht, wie jener Petrus, als er hinaus wanderte in die finstere Nacht, um bittere Thränen der
Reue zu weinen über seine Sünden?
Seele, führe dich nicht
selbst in Versuchung! das ist die ernste Mahnung die du daraus mitnehmen magst.
Wo Gott die Versuchung dir schickt, wo sie
dir durch die Verhältnisse des Lebens entgegengebracht wird, o da murre nicht; sie kann, sie soll dir zum Segen werden.
Aber wo
du sie dir suchst, wohl gar gegen die Warnung der Deinen, gegen
die Warnung
deines Gottes,
da muß sie zum Fluch dir aus
schlagen. Viel unvorsichtiger aber noch, als da, wo es sich ums eigene
Heil handelt, pflegt der Mensch zu sein, wo Fremder Wohl und
Wehe in seiner Hand liegt.
Und doch spricht der Erlöser so ernst:
„Es ist unmöglich, daß nicht Aergernifie kommen, wehe aber dem, durch welchen sie kommen!
Es wäre ihm nützer, daß man einen
Mühlstein
an
denn
er dieser Kleinen einen ärgerte"').
daß
seinen Hals
hängete und würfe ihn ins Meer,
Was heißt das
anders, als dies: Hüte dich davor, einem andern Menschen der
Anlaß zu seinem Fall zu werden!
Aber wie viel Aergerniß ist
in der Welt; wie viel Millionen gehen dadurch zu Grunde! Wie
giebt es so viele Stätten der Schande, wo das Heil von Jung’) Lucas 17, 1 u. 2.
107 frauen und Jünglingen auf immer untergraben wird, wie so viele
Stätten, da menschliche Kunst, die himmelwärts die Herzen ziehen sollte, die gemeinste Sinnenlust wach ruft, wie so viele Bücher,
die mit vielversprechenden Titeln an die jugendliche Fantasie sich
wenden, wie so viele Druckschriften, denen die Absicht zum Grunde
liegt, dem Volke den Glauben der Väter, die Liebe zum Vater lande zu rauben, wie so viele Häuser, wo Rohheit und Lieder
lichkeit, Flüche und Gotteslästerung dasjenige sind, was dem Kinde
stets vor Augen tritt!
Wehe dem Menschen, durch welchen das
Aergerniß kommt! spricht der Meister.
Sie alle, die da enden
als Opfer der Wollust, die ihre schönsten Kräfte in ihrem Dienste
vergeudeten, sie alle, die als Verbrecher in den Kerkern ihr Leben beschlossen, sie alle, die von Verzweiflung erfaßt, in der Noth des
Lebens keinen Halt mehr haben, sie alle, die sich versündigen an König und Vaterland, sie alle werden dereinst anklagend hintreten vor die, die da Aergerniß gaben.
aller Schuld,
treffen!
nur
weil hier
Wähne du dich nicht frei von
die gröbsten Vorwürfe dich nicht
Wenn dein Kind ohne allen sittlichen Halt hinauszog
ins Leben, wenn die Religionsstunden in der Schule und bei der Vorbereitung zur Confirmation nichts fruchteten, war deine spöt
telnde Miene, deine Geringschätzung alles Heiligen vielleicht mit daran Schuld?
Wenn dein Knecht, deine Magd, aus einem christ
lichen Hause einst in die versuchungsreiche Stadt geschickt, hier unter gingen, trugst du dann vielleicht mit an der Schuld, weil du nur ihre Körperkraft ausnutztest, aber gleichgültig bliebst gegen ihr Seelen
heil, weil du durch Ueberbürdung mit Arbeit den Weg ins Gottes haus ihnen sperrtest?
Ach, an Waffen fehlt es ja nicht, die wir im Kampfe gegen
die Versuchung zur Anwendung bringen könnten.
Wäre es nicht
schön, wenn wir zu diesen Waffen griffen, auch Andere sie ergreifen
lehrten?
Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet')!
so empfiehlt der Meister seinen Jüngern, und durch diese Waffen
hat er selbst im nächsten Augenblick die Versuchung überwunden,
') Matthäus 26, 41.
108 den Leidenskelch von sich zu weisen.
Zieht doch auch der irdische
Feind sich zurück, der in nächtlicher Weile die Feste zu überrumpeln denkt, wenn er die Posten wachend findet.
Meinst du denn, dein
Kind wäre der schmeichlerischen Stimme des Versuchers erlegen, wenn es klaren Auges ihm gegenüber gestanden, wenn es nicht
halb träumend über das Erdenleid, das seiner wartete, über die nothwendig nachfolgenden Thränen der Reue, über den Zorn seines Gottes im Himmel sich hinweggesetzt, wenn nicht die böse Lust,
der lockende Genuß, des Verführers schöne Rede es kurzsichtig ge macht und eingeschläfert hätte?
Und das Gebet? zieht es nicht die
Kräfte einer bessern Welt hernieder aus Himmelshöhen, so daß alle Anstürme der Versuchung als nutzlos abgeschlagen werden? Knüpft es im Leid uns nicht immer fester an unsern Gott, so daß alles
Murren und Klagen verstummt?
Macht es in der Freude uns
nicht dankbar gegen den himmlischen Vater, so daß alles Pochen auf eigene Kraft und eigenes Verdienst bei uns zurückgedrängt wird? Ist es nicht gerade das Gebet, das uns mahnt bei Allem, was wir unternehmen, den Willen Gottes im Auge zu behalten, und alles, was uns entgegentritt, einen Wegweiser zum Himmel uns
werden zu lassen? So heißt es denn auch in einem Liede, das wir oft mit einander gesungen: Mache dich, mein Geist, bereit, Wache, fleh' und bete,
Daß dir nicht die böse Zeit Plötzlich nahetrete!
Willst du noch andere Mittel, die Versuchung zu bekämpfen? Ich rathe dir: Lern dich immer mehr selbst erkennen, laß keinen
Tag dahin gehen, ohne Einblick zu halten ins eigene Herz, ohne dich zu fragen, wo es Schaden genommen, wo es im Kampfe sich schwach gezeigt.
feindliche
Kugeln
Pflegt doch auch der kundige Feldherr, wenn
seine
Festung am Tage trafen,
am Abend,
wo die Geschütze schweigen, den Blick darauf zu richten, wo die
Mauern
haben.
schadhaft geworden und sich als unzureichend erwiesen Ich rathe dir ferner: Nimm deine Bibel zur Hand! denn
es sind Worte ewigen Lebens darin, die auch dir ein Leitstern
109 werden können für den Kampf, der dir verordnet ist.
Mit dem
Wort der Schrift hat auch Jesus einst den Versucher von sich gewiesen.
der
Ich rathe dir endlich: Verlaß nicht die Versammlungen
christlichen Gemeinde,
komm zu Predigt und Altar!
Du
ahnst nicht, welche Quellen des Segens du dir verschließest, wenn
du von denselben dich fern hältst.
Hier lernst du, wie Andere die
Versuchung überwunden, was die Erfahrungen von Jahrtausenden
uns lehren, dessen
hier kommst du zusammen mit manchem Bruder,
graues Haupt
dir sagt,
daß
es keine bessere Hülfe im
Kampfe gegen die Versuchung gebe, als deinen Gott im Himmel, hier empfängst du an des Altares Stufen Himmelskost, die dich stärken soll im wahren Glauben zum ewigen Leben. Du aber, o Vater im Himmel, nimm du selbst uns unter
deine Obhut!
Ach bleib' mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesu
Christ, daß uns hinfort nicht schade des Bösen Macht und List.
Amen.
Die siebente Bitte. Matthäus 8, 13.
Sondern erlöse uns von dem Uebel.
Äannst du dich hineinversetzen in die Lage jener Millionen,
die
in
ihr Vaterland
der Jugend
um jenseits
verließen,
Oceans ein Heim sich zu suchen,
des
die dort drüben dem Elend
verfielen und dann des Vaterlandes gedachten, der Stätte, wo
einst die Wiege ihnen gestanden, wo liebende Eltern sie groß ge zogen,
wo
Wehmuth Ocean
befreundete Hand
ihnen so
erfüllt da wohl ihr Herz.
von ihnen
getrennt,
Freundschaft ihnen lachte.
gibt
es
oft
hülfteich
Sie wissen,
ein Land,
gewesen? durch
den
wo Liebe und
Aber sie sind an die Scholle gebunden.
Ihre Seufzer dringen nicht in die Heimath und die segelnden
Wolken sagen drüben nicht, was sie geschaut.
Höchstens dringt
eine Bitte um Hülfe in das ferne Vaterland. Hülfe darauf hin kommen?
Aber wird die
Ach, sie müssen warten bis ein be
freundetes Schiff sie in die Heimath zurückführt.
Aehnlich, wie
ihre Stimmung, ist die des Christen, wenn er die Bitte auf seine Lippen nimmt: „Erlöse uns von dem Uebel".
Die Scholle, an
die er hienieden gebunden, ach, sie bringt ihm so viel bitteres
Herzeleid; er weiß, es gibt eine bessere Heimath, wo kein Tod
mehr ist, werden').
noch Leid,
noch Geschrei,
noch Schmerzen mehr sein
Aber er muß warten bis Gottes Engel sich ihm naht,
um zu lichteren Höhen ihn heimzuführen. J) Offenbarung Johannis 21, 4.
Erlösung!
nicht wahr?
111 wo man die sucht, da leidet man unter Ketten und Banden, da
sehnt man sich nach dem Augenblick, wo dieselben fallen werden und die Brust, statt Kerkerluft zu athmen, in Gottes freier Natur
Wer unter uns kennt denn
wieder aufleben kann.
die Ketten
nicht, die centnerschwer an diese Endlichkeit uns fesseln?
Wer
hatte nie den Seufzer vernommen, den sie der Menschenbrust ent-
pressen: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?"
Aber, daß
eben der Rus nach Erlösung gen Himmel dringt, daß der Mensch
damit aussagt, droben seien jene Berge, von denen uns Hülfe
nahe,
daß dereinst eine Stunde
das zeugt von der Hoffnung,
kommt, wo die Bande der Endlichkeit fallen und die Seele, ihrer
Ketten ledig, in einer besseren Welt wieder aufathmen darf.
So
klingt denn in der letzten Bitte des Vaterunsers entschieden ein
Doppeltes
der höchste Nothschrei
zusammen,
Hoffnung der Seele.
und
die
seligste
Doch, wer unter uns wüßte nicht,
wie
aber
der
beides wohl seine
Berechtigung
Läuterung bedarf.
Der Nothruf darf gen Himmel dringen zu
hat,
doch
gar sehr
dem, der da spricht: Rufe mich an in der Noth, so will ich dich
erretten, so sollst du mich preisen').
Die Hoffnung auf Erlösung
hat ihr gutes Recht, und nicht umsonst preisen wir den Gott, der
uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehnng Jesu Christi von den Todten,
zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unver-
welklichen Erbe, das behalten wird jeder
Nothschrei,
nicht
jede
im Himmels.
Hoffnung
sind
Aber nicht
christlich.
Beide
empfangen durch den Erlöser eine ganz besondere Richtung; und so sei denn das heute unser Thema:
Wie in der siebenten Bitte Nothruf und Hoffnung
zusammenklingen.
Wir fragen dabei:
1. was für ein Nothruf ist es? 2. was für eine Hoffnung ist es? -) Psalm 50, 15. -) 1. Petri 1, 3 u. 4.
112 1. Erlösung! wer hätte diesen Ruf hienieden niemals gehört?
Er erreicht unser Ohr aus so manchem Krankenzimmer, wo das matte Auge bei diesem Worte gen Himmel blickt und die magere
Hand zum Gebet sich faltet.
Wir vernehmen ihn, wo Menschen
am Grabe ihrer Lieben stehen und es als eine Last empfinden,
daß sie hier zurückbleiben müssen, während jene gehen. Erlösung!
das ist der Nothruf, der klingt.
ihn.
durch die ganze Menschheit hindurch
Pilgere gen Osten, wo die Sonne aufgeht! — du hörst Wandere gen Westen, wo sie untergeht! — du hörst ihn
nicht minder.
Soweit aus Erden des Forschers Fuß gedrungen,
soweit unser Auge zurückzublicken vermag auf die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte, überall vernehmen wir den Seufzer über die Leiden, über die Uebel, über die Nichtigkeit des Erdenlebens. Nimmer geboren zu sein ist Erdgebornen das Beste; Nimmer mit Augen des Lichts strahlende Fackel zu sehn,
Oder geboren sogleich zu des Hades Thoren zu wandeln
Hoch von der Erde bedeckt liegend im hüllenden Grab;
so klagt schon ein alter Dichter.
Alles ist eitel'): so seufzt schon
der fromme Israelit in ernster Zeit, und einer unserer deutschen Dichter singt: Die Herrlichkeit der Erden
Muß Staub und Asche werden, Kein Fels, kein Erz bleibt stehn. Das, was uns hier ergötzet, Was man als ewig schätzet, Muß wie ein leichter Traum vergehn.
Ja, jeder vorübergehende Leichenzug, jeder Gang auf den Fried hof, jeder herankommende Herbst, wo das Laub welk zur Erde
fällt, ruft die Wehmuth in uns wach, ruft dem Herzen zu: Warte nur balde,
Ruhest auch du!
*) Prediger Salomonis 1, 2.
113 Wohl gibt es ja der Erdenkinder genug, denen diese Klage zu melancholisch, dieser Seufzer zu schwermüthig erscheint. Lächeln
den Auges ins Leben hineinschauend, von Genuß nur zu Genuß hineilend glauben sie,
daß das Erdenleben manchen Augenblick
uns bringe, zu dem wir sprechen möchten: Verweile doch, du bist
so schön.
Sie haben die Menschen gesehen bei Spiel und Tanz,
aber nicht seufzend auf ihrem Schmerzenslager.
Sie haben sie
gesehen, wie sie ihren Genüssen nachgehen und schwelgen im Ueberfluß, aber auf die Stätten des Mangels und der Entbehrung haben
sie nur
einen
flüchtigen Blick geworfen.
Sie
durch
sind
die
Gassen gewandert und haben die prächtigen Bauten bewundert,
aber was hinter den Wänden vor sich geht, das haben sie nicht beobachtet.
Sie haben die Schönheit der Natur in Feld und
Fluren angestaunt, aber kein Auge gehabt für den Wurm, der an
der Blüte schon nagt.
Sie haben ein Wohlgefallen am Gesang
der Vögel und am Spiel der Heerden, aber für das Thier, das
unter
ihren Fußtritten
sich
krümmt,
haben
sie
keinen
Blick.
Gleichen sie nicht dem Kinde, das den Kirchhof so schön findet
wegen all seiner Blumen und schattenden Bäume,
das darum
lächelnden Auges eintritt, aber nicht weiß, was die grünen Rasen alles decken? Gleichen sie nicht dem Menschen, der von der Höhe
des Berges ins Thal hinabschaut und vom Totaleindruck über
wältigt vergißt,
daß die Glockenklänge,
die sein Ohr erreichen
und so harmonisch ihm scheinen, vielleicht die Grabesglocken sind, die einen Wanderer begleiten auf seinem letzten Wege?
Gleichen
sie nicht dem stillen Beobachter, der an einem schönen Sommer abend, am Meeresufer sitzend, ein Schiff über den Wasserspiegel
dahingleiten sieht?
Wie wird dem das Herz so weit bei dem
Gedanken: hier fährt das Schiff hinaus in die weite, weite Welt; auch an ferner Küste wohnen glückliche Menschenkinder, die dieser
Schöpfung sich freuen und ihr Leben genießen.
er nicht vergessen,
Und doch sollte
wie das jetzt so friedliche Meer schon so oft
mals sich empört, wie das jetzt so friedlich dahinziehende Schiff noch mit seiner Tücke zu kämpfen haben wird, wie auch drüben,
114 auf
fernem Eiland,
das
so lieblich
die Fantasie
sich ausmalt,
Menschenherzen seufzen unter der Erde Leid. Ich höre einen Gegner sagen: Ach, das Leid ist da, ich will
es ja nicht leugnen; es mag auch in höherem Maße vorhanden
sein, als ich es kennen gelernt habe; denken, so lange es mir gut geht?
aber wozu soll ich daran
Genug, wenn der Andere das
Kaltes, selbstsüchtiges Erdenkind, das
Unabwendbare tragen muß. du nur an dich selbst denkst!
Was würdest du sagen, wenn dein
Nachbar spielte und jubelte, während du im Todeskampfe rängest?
Ist es aber schon zu viel gefordert, wenn das Gebot der Menschen
liebe von dir einen ernsten Blick des Mitleids, ein Nachsinnen über fremdes Leid verlangt, dann vergiß wenigstens nicht, daß du
demselben Geschlechte angehörst, wie jene Leidenden, und daß täg
lich, ja stündlich ihre Leiden auch über dich hereinbrechen können. Ja, wenn Gott von Zeit zu Zeit auf unserm Lebenswege an den
Stätten des Leides uns vorüberziehen läßt,
wenn er durch das
Mitleid, welches in uns sich regt, noch länger nachher mit unsern Gedanken uns bei ihnen verweilen läßt, liegt dann nicht eigentlich ein Wink darin, sollen?
daß wir den Blick auf Anderer Uebel richten
Und wen hälft du denn im letzten Grunde für klüger?
Den, der der Wirklichkeit gegenüber seine Augen absichtlich ver schließt,
oder
den,
der
offnen
Auges
ihr
entgegentritt,
den,
der abwartet bis die Uebel des Lebens, als eine ihm völlig un bekannte Macht, plötzlich
seine Pläne durchkreuzen und mit un
widerstehlicher Gewalt ihn zermalmen, oder den, der sie, als den
stets drohenden Feind, nie aus dem Auge verliert, sich von ihnen nicht überrumpeln läßt und zum Kampf wider sie sich rechtzeitig übt und stärkt?
Seele, verschließ' auch du dein Auge nicht gegen die Uebel
des Erdenlebens, vereine auch du deine Bitte mit der der übrigen flehenden Menschheit und sprich:
„Erlöse uns von dem Uebel".
Der Meister hat diese Bitte auf seine Lippen genommen, als er in voller Manneskraft stand, als er, eben in seinem Berufe auf getreten, noch
die Volksschaaren in Begeisterung um
sammelt sah und der Kreuzestod ihm noch ferne lag.
sich
ver
Aber er
115 hat schon an manchem Krankenlager, an manchem Sterbebett ge
standen,
er hat schon
in
den Volksmassen, die
und Beladenen gefunden,
manchen Mühseligen
ihn umgaben,
und das alles,
was er so an Leid und Uebel gesehen, macht er zur eignen Last
und trägt sie hin vor Gottes Thron. Aber,
Christen.
m. L.,
wir
die
beten
Worte
unserer
Bitte
als
Kann da das unsere Absicht sein, in derselben all all jener Bitterkeit freien Lauf zu lassen,
jenem Unmuth,
mit
denen das Weltkind wider das Uebel sich auflehnt und murrt? Wissen wir ja doch, daß das Leid seine Bedeutung hat als Strafe für die Sünde,
Himmel, daß
als Zuchtruthe
es
haftende Erdenkind
in
nothwendig ist,
an
der Hand
um
die Heimath
zu
das
des Vaters
im
nur am Endlichen
erinnern
und von der
Eitelkeit der Welt abzuziehen, kurz daß das Leid und sein Höhe punkt, der Tod, nicht da sein würden, wenn es keine Sünde gäbe.
Sagt ja doch schon St. Paulus: der Tod ist der Sünde Sold*). Heißt es ja doch schon unmittelbar nach dem ersten Sündenfall:
Verflucht sei der Acker um des Menschen willen;
Diesteln soll er tragen2).
Dornen und
Wird denn aber der verständige Mann
die Züchtigung des Vaters verwünschen, mit der dieser einst dem Knaben seine Unlauterkeit,
seine hochfahrenden Gedanken,
Trägheit auszutreiben suchte?
seine
Was uns, als Christen, schmerzt,
muß vor Allem dies sein, daß das Uebel eben noch nothwendig ist, daß es uns daran erinnert, wie weit die Menschheit noch vom
Vaterhause entfernt ist, daß die Sünde, der Leute Verderben, noch so viel Opfer fordert.
Ja, nur wenn wir dies im Auge behalten,
dürfen wir überhaupt an der UeberseHung unsers Luther festhalten.
Denn nach dem griechischen Text hat Jesus gebetet um Erlösung von dem Bösen d. h. der Macht des Satans, auf dessen Ein
fluß die Schrift eben alles Uebel, sowohl das leibliche, wie das sittliche, zurückführt und nicht, wie unseres Luthers Übersetzung
schließen lassen könnte, um Erlösung vom leiblichen Uebel als
solchem.
*) Römer 6, 23. 2) 1. Moses 3, 17.
116 Seufze immerhin unter der Last des Erdenleids! — du darfst
es und sollst es;
bitte deinen Vater im Himmel um Erlösung
von demselben! — es ist dir ja der Zutritt gewährt.
Aber ver
giß nicht hinzuzufügen: Herr, befrei' uns von allen Banden des
Bösen, um dessentwillen das Leid noch über mich kommt! Doch, wie gern entzieht sich dem das Menschenherz! Banden
will
Leidenschaften, ihn
wenig.
der Mörder
befreit
seiner Habgier,
Vom
Joch
einer
sein,
aber
Aus des Kerkers die Bande seiner
seiner Gottvergefsenheit kümmern
unglücklichen
Ehe
hören
wir
Tausende seufzen, aber das Joch der eigenen Selbstsucht, der Ge nußsucht zu brechen, haben sie kein Verlangen.
Die Anfeindung
der Menschen ist das, worüber unter uns einer nach dem andern klagt,
aber den
eigenen Starrsinn,
das
persönliche
unliebens
würdige Wesen zu ändern, kommt uns nicht in den Sinn.
Ein
herbes Krankenlager ist dasjenige, was in manchen Häusern die Hände zum Sichfalten zwingt, aber die Bitte um Befreiung von der Sinnlichkeit, die so oft des Krankenlagers letzter Grund ist, wird dem Menschen zu schwer.
Entzündet sich des Krieges Fackel,
verheeren feindliche Schaaren die Aecker, bluten des Vaterlandes
Kinder an empfangenen Wunden, bangt daheim die Mutter um ihren Sohn, dann geht die Bitte um Frieden hinauf zum Vater. Aber wird gleichzeitig gebetet, um Befreiung von den Sünden,
die ein Volk groß gezogen, um Befreiung von der Eitelkeit, dem Hochmuth, der Selbstüberhebung, die andere Völker reizten? Wird das Treiben der politischen und kirchlichen Parteien im Vaterlande
immer unerträglicher, legt es die besten Kräfte lahm, macht es
den vorurtheilsfreien Mann mißmuthig, dann erwacht der Wunsch, daß das Uebel schwinde. Aber bittet man dabei auch um Befreiung
von persönlicher Leidenschaftlichkeit, von jenem Bann, der uns blind macht
auch
für die
Vorzüge
gegnerischer Ansichten? Thörichte
Menschen, die einen Frieden wollen ohne Kampf, eine Krone
ohne Kreuz, die, den Kindern gleich, nur fragen nach dem, was
sie gern möchten, aber nicht nach dem, was ihnen gut ist, die da meinen, auch ihr Gott müsse denken, wie sie und einem Vater ähnlich sein, der sich bemüht, seinem Kinde das Leben nur an-
117 genehm zu machen, ob es auch dadurch verzärtelt, in seinem Trotz
bestärkt, in seinem Eigensinn befestigt wird! Seufze immerhin unter der Last, die auf der ganzen Mensch
heit liegt, sehn' dich mit Millionen nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde, hör' wie auch die unvernünftige Creatur mit leidet und wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes').
Aber vergiß nicht, Befreiung von der Sünde ist das, was vorauf
gehen muß.
Würde nicht, wenn wirklich eine neue Welt uns
würde, aber die Sünde bliebe, mit dieser zugleich auch das Leid wieder
in dieselbe hineingetragen werden müssen?
Sehn' dich
immerhin seufzend nach dem Augenblick, wo deine Auflösung naht, wo du deine gebrechliche Hütte ablegen*2) und zu lichtem Höhen
Auch der große Apostel Paulus
dich emporschwingen darfst!
—
hatte ja Lust
und
abzuscheiden
bei Christo
zu fein3) — aber
bitt' vor Allem, daß du dann erlöst sein mögest von der Sünde; sie würde sonst deine Füße dir so sehr beschweren, daß sie die
Heimkehr dir unmöglich machte.
Denn eitel ist die Hoffnung,
die den Tod schon als solchen für eine Erlösung hält, wohl gar im selbstgesuchten Tode den Befreier von allen Leiden und Qualen
erblickt.
2. Erlösung!
wer könnte dieses Wort hören, ohne an den zu
denken, den wir als unsern Erlöser verehren, der selbst von sich sagt, daß er nicht gekommen sei, um sich dienen zu lassen, sondem
um zu dienen und sein Leben zu geben zu einer Erlösung für
vieles.
Thörichte Herzen Israels, die nur dann als ihren Er
löser ihn anerkennen wollten, wenn er Zeichen und Wunder ihnen
gäbe! Ihr Erlöser sollte ihnen ein mächtiger irdischer König sein, welcher den Druck Roms dem geknechteten Volk von seinen Schultern
1) 2) 3) ■*)
Römer 8, 19 u. 22. 2. Petri 1, 14. Philipper 1, 23. Matthäus 20, 28.
118 nähme.
Ihr Erlöser sollte von den irdischen Banden sie befreien,
unter denen sie seufzten. gesagt:
Hatte ja doch auch der Prophet Jesaias
„Alsdann werden der Blinden Augen aufgethan werden
und der Tauben Ohren geöffnet werden.
Alsdann werden die
Lahmen löcken wie ein Hirsch und der Stummen Zunge wird lobfagen1)". * 3 4 War ja doch auch die Weissagung zu mächtig ertönt
von einer einstigen äußeren Herrlichkeit Israels,
wo die Heiden
kommen und in Jerusalem den Mittelpunkt alles Lebens suchen würden.
Wie vorwurfsvoll klingt dem gegenüber des Meisters
Wörter
„das ist eine arge Art, sie begehret ein Zeichen und es
wird ihr kein Zeichen gegeben werden, als nur das Zeichen des
Propheten Jona".
Wie ernst und eindringlich bittet er, nicht an
ihm irre zu werden, wenn die äußern Veränderungen, auf welche
man hofft, nicht eintreten.
Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert;
spricht er zum Täufer Johannes. lenkt er den Blick.
Fort von den äußern Leiden
Hinein ins eigene Herz soll sein Volk schauen.
Auf sein religiös-sittliches Leben will er einwirken; dadurch hofft
er ein Erlöser zu werden.
„Die Blinden sehen und die Lahmen
gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören,
die
Todten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt?),
so läßt er dem Täufer sagen, und um dieser Vorgänge willen soll er ihn für den Erlöser seines Volkes halten.
Aber es sind die
geistig Blinden, die nicht sehen können, was zu ihrem Frieden dient, denen die Decke von ihren Augen genommen wird; es sind die geistig Lahmen gemeint, die, bisher durch ihre Schuld gelähmt,
auf dem Wege des Lebens weiter zu wandeln, jetzt, von der Schuld
befreit, nach dem Worte leben können:
„Ich vergesse, was dahinten
ist und strecke mich zu dem, was da vorne ist und jage nach dem
vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu*)", es ist an die vom Aussatz
der Sünde Befallenen gedacht, die wieder rein werden; *) 2) 3) 4)
Jesaias 35, 5 u. 6. Lucas 11, 29 u. 30. Matthäus 11, 5 u. 6. Philipper 3, 13 u. 14.
es sind
119 die geistig Tauben, denen das Ohr für das Wort Gottes wieder
geöffnet wird, so daß sie ausrufen müssen: „Er predigt gewaltig
es sind die geistig Todten,
und nicht wie die Schriftgelehrten
die wieder zu leben beginnen; es sind die geistig Armen, denen das Evangelium gepredigt wird; denn ihrer ist ja
Meister sagt — das Himmelreichs.
—
wie der
O, selig, wen so die Hoff
nung beseelt, daß die geistigen Mächte, die von Jesu ausgingen,
der Menschheit zur Erlösung werden! Befremden mag uns wohl, daß er, der sich selbst den Er
löser der Welt nennt, hier die Bitte gen Himmel sendet: „Erlöse
uns von dem Uebel".
Bittet er damit etwa erst die erlösenden
Kräfte des Himmels hernieder in sein Herz? deshalb jedenfalls
nicht, weil die Bande der Sünde und Schuld jemals ihm selbst zur Fessel werden könnten, oder diese Endlichkeit jemals im Stande
wäre, ihn von der Erfüllung des göttlichen Willens abzuziehen.
Aber auch deshalb nicht, weil er sich etwa noch nicht genügend ausgerüstet geglaubt hätte mit den Mächten, die allein die Menschen
erlösen können.
Er selbst weiß sich ja sünd- und schuldlos und
selbst die Stürme Gethsemanes überwindet er, weil keine Gewalt der Erde den Himmelsflug
seiner Seele zu hemmen vermag.
Was ihm hinderlich im Wege steht, das ist die Herzenshärtigkeit
der Menschen, das ist ihr Weltsinn, ihre Genußsucht, ihre Geistes
trägheit.
Sie sind es, an denen das Werk der Erlösung noch
scheitern könnte, die von Jahrhundert zu Jahrhundert es aufhalten
werden.
Kreuz!
Wie lange noch, dann droht ja schon von dorther das
Wie viel steinigtet Boden,
wie viel Dornen, wie viel
hart getretene Wege gibt es noch in der Welt, wo der Same des göttlichen Worts verdorren, erstickt werden und von den Vorüber gehenden vertreten werden muß!
Wie bald soll sich zeigen, daß
von den Volksmassen, die um ihn versammelt sind, viele hinter sich gehen, daß sie wetterwendisch ihn verlassen, wie sie neugierig
gekommen, daß die eigenen Jünger feige fliehen, der eine ihn ver-
9 Matthäus 7, 29. 2) Matthäus 5, 3.
120 Wie viel Scheiterhaufen,
leugnen, der andere ihn verrathen kann!
wie viel Glaubenskämpfe, wie viel Religionskriege drohen noch
von
Wie
ferne!
viel
Erdenleid muß
Folge
in
noch
dessen
kommen, wie viel Seufzer müssen noch gen Himmel steigen! — Wir können
nicht zweifeln,
Allen fleht.
Er bittet, daß der Vater im Himmel Ströme seines
worum der Meister angesichts des
Geistes ausgehen lasse über die ganze Welt, daß er den Wider
stand der Erdenkinder breche, daß er, der die Herzen der Menschen
lenkt, wie Wasserbäche, sie dahinführen möge, seine Erlösung zu O, selig, wen die Hoffnung beseelt,
ergreifen.
daß auf
diese
Weise aus Himmelshöhen eine Erlösung uns naht!
Und Seele, was hoffst denn du, wenn du als Christ betest: „Erlöse uns von dem Uebel"?
Dich stellt diese Bitte von selbst
vor den Gekreuzigten hin in der Hoffnung, daß sein Werk auch
uns zu Gute kommen werde.
Du wünschest, daß er dich befreie
von Sünde und Schuld, daß er dein Herz zugänglich mache für
seine Mahnungen und seine Weisungen, daß seine Worte eine Macht daß sein heiliges Vorbild dir als das
werden über dein Herz,
Höchste deiner Ziele vor Augen stehe und daß er dir Kraft gebe demselben nachzujagen.
Du wünschest, daß auch um dich her sein
Geist mächtig werde, daß Zucht und Sitte wieder einkehren in die einzelnen Häuser unseres Volkes, daß Aberglaube und Unglaube, Heuchelschein und Spötterei immer mehr
Sohn unseres Vaterlandes
Christ zu sein.
jeder
schwinden und
seine Mannesehre
darin
suche,
ein
Du hoffst, daß so die Fesseln fallen, welche dich
gebunden halten, daß es besser werde um dich, wenn es besser wird in dir.
„Wer in Unschuld lebt und von Frevel rein", von dem sagt schon der
heidnische Dichter,
daß
er kühn den Gefahren trotzen
könne, und im Sprichwort heißt es: Ein gut Gewissen ist ein
sanftes Ruhekissen.
Wie viel mehr muß die Last der Leiden
schwinden für den, der in Christo Vergebung für seine Sünden empfangen hat, für den, der da weiß, er habe über sich nicht
mehr einen Gott, der ihm zürne, sondern einen Vater, der nur
sein
Bestes
wolle.
Das
was
dem
Leide,
dem
Tode
seinen
121 Stachel verleiht, das ist ja hinweggenommen durch Gottes Gnade.
Stehe auf, hebe dein Bette auf und gehe heim, spricht der Meister zu jenem Gichtbrüchigen, nachdem er zuvor gesagt: „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben"').
Und verspüren
wir nicht etwas Aehnliches heut zu Tage noch an jedem Kranken
bett? Wo der Heiland hinangetreten ist an dasselbe, wo die Seele die Gewißheit gefunden, daß die Sünde vergeben ist, da richtet der Gebeugte sich wieder empor, da weiß er, der Weg, den Gott
ihn führt, ist sein Heimgang, ob die Leiden schwinden oder bleiben, da nimmt er getrost sein Krankenlager auf sich und trägt es bis
Gott es ihm abnimmt.
Ob je eine Stunde kommen wird, wo hienieden die Sünde überwunden, wo hienieden kein Leid mehr ist — wer unter uns
will's sagen? Aber wer unter uns kann leugnen, daß unendliches
Leid schwindet, je mehr der Bann der Sünde gebrochen wird? Alle selbst zugezogenen Leiden — wo würden sie sein? Alle Leiden,
die ein Mensch dem andern bereitet — wie bald wären sie dahin!
Und die Liebe, wie würde sie thätig sein an Krankenbetten, an den Stätten der Noth, so daß die Thränen abgewischt und die Seufzer
der Brust abgenommen würden!
Wie viel menschlicher würden
wir sein gegen die fühlende Creatur! Wie thätig wäre die Hand, wo es gälte,
die erkannten Gesetze der Natur uns dienstbar zu
machen, Unheil zu verhüten und wieder gut zu machen! — Gewiß ein Wink für uns in Betreff einer bessern Ewigkeit.
Sie wird
zu einer seligen für uns werden, wenn wir von hinnen scheiden,
losgelöst von der Sünde, versöhnt mit dem Vater durch Christum.
Ja, nnsere
Seligkeit wird eben darin bestehen, nur des Vaters
Willen zu thun, nur zu sein in dem, das unsers Vaters ist. Amen.
') Matthäus 9, 2 ff.
Der Gebetsschluß. Matthäus 6, 13.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Amen! wie oft kam seit den Jahren unserer Kindheit das Wort über unsere Lippen! wie oft schloß es die von uns gesprochenen
Gebete ab!
Ob wir mit der Gemeinde im Gotteshause beteten,
oder daheim im stillen Kämmerlein, das Amen fehlte nie.
Denn so
haben wir es ja bei unserer christlichen Erziehung gelernt.
Aber,
m. L., war uns auch immer gegenwärtig, was das „Amen" soll oder sprachen wir es gleichgültig hin?
Glichen wir vielleicht, als
es über unsere Lippen kam, jenen Kindern, die ihr gelerntes Gebet hersagen und in das Amen dann wohl ihre ganze Freude hinein
legen, daß sie es ohne Anstoß zu Ende gebracht?
Denkt an die
Gebete, die ihr sprächet, wenn die müden Augen am Abend zu
zufallen drohten oder wenn ihr am Morgen erwachtet und die Pflichten und Genüsse des Tages euch winkten, die ihr sprächet bei Tisch, wenn der Hunger sich einstellte und die Speisen, wohl
bereitet, vor euch standen!
O, wie klang da das Amen?
Hörte
man es demselben an, daß die erklärenden Worte Luthers euch vor Augen standen:
also
geschehen"?
anderes
„Amen! Amen! das heißt: Ja, ja, es soll
Mit dem „Amen",
heißt als „Wahrlich"
welches
eigentlich
nichts
oder „Gewiß", bekräftigt ja der
fromme Beter, es sei seine heilige Ueberzeugung, daß sein Gebet droben erhört werde bei Gott, daß er gleichsam in seiner Seele
eine Stimme Gottes vernehme, welche ihm sage: Ja, ja, es soll
123 also geschehen.
In dem Amen findet ja jene Ruhe, jener Friede
des Herzens einen Ausdruck, der im rechten Gebet desselben sich bemächtigen muß. Meereswoge
Hast du je beobachtet, wie die heranbrausende
an die Felsen des Ufers schlägt?
Gewaltig naht
sie sich zuerst, wenn bei plötzlichem Ungewitter der Sturmwind
die Meerestiefe
Aber durch den jedesmaligen Anprall
aufregt.
an den Felsen wird sie schwächer und schwächer, bis in fried
licher Abendstille
der glatte Meeresspiegel wieder hergestellt ist.
Sie ist das Bild des menschlichen Gebets.
Gewaltig dringt es oft
aus der Menschenbrust gen Himmel, gewaltig schlägt es an an
Aber je öfter der Betende droben
die Thüren des Vaterhauses. angepocht desto
mehr
köstlicher Friede
die
legen sich die Wogen Seele
erfüllt.
Siehe,
des Herzens,
bis
„Amen"
be
das
zeichnet dann die Stille nach dem Sturm, die Ruhe nach dem Kampf.
Wohl hat man
gesagt,
daß Jesus die Schlußworte
Vaterunsers gar nicht gesprochen habe.
für einen Zusatz
der
des
Man hat gemeint, sie
alten Kirche erklären zu müssen,
die mit
ähnlichen Lobpreisungen Gottes und einem daran sich anschließenden
„Amen" ihre Gebete zu beenden pflegte.
Wir werden den Streit
der Meinungen hier nicht zur Entscheidung bringen.
schlag gehört der Wissenschaft.
als
würde
etwas fehlen,
wenn
Der Aus
Aber fast will es mir scheinen,
das Gebet des Herrn mit der
siebenten Bitte schlösse, als könnte das Wort „Uebel" nicht das
letzte Wort in demselben sein, als müßte der schwerste Seufzer
der Seele erst aufgehoben werden durch einen Lobgesang, wie er aus einer bessern Welt zur Ehre Gottes ertönt.
So viel ist aber
jedenfalls sicher, daß die Lobpreisung Gottes mit dem Amen am Schluß mit Nichten den Gedanken des Herrn zuwider ist.
Müßte
doch eigentlich jedes Gebet in einen Lobpreis des göttlichen Namens ausklingen.
Mag daher immerhin vielleicht der Schluß ein späterer
Zusatz sein,
sicher verdankt er dann doch seinen Ursprung dem
Geist des Meisters, der in der Gemeinde lebte. Laßt uns nun dergestalt in die Betrachtung des Vaterunser
schlusses eintreten, daß wir mit einander fragen:
124 Was
gibt
der
Seele
jene Zuversicht,
freudig ihr „Amen" spricht?
in
der
sie
Die Antwort lautet: die
Gewißheit, daß 1. Gottes das Reich, 2. Gottes die Kraft, 3. Gottes die Herrlichkeit ist.
1.
Dein ist das Reich! spricht der Erlöser.
Dies Wort läßt
uns zunächst hineinschauen in das unermeßliche Weltall, wo die Sterne sich bewegen nach unwandelbaren Gesetzen, in das Weltall
von dem diese unsere Erde nur ein kleiner, unscheinbarer Theil ist.
Wer ist es, so fragt unser Herz, der den Weltkörpern allen
ihre Bahnen vorgeschrieben, so daß sie in ihrem gewaltigen Fluge durch den Weltenraum nicht auf einander platzen und sich gegen
seitig zertrümmern?
Wer ist es, so fragen wir weiter, der unsere
Erde alltäglich um ihre Achse sich drehen läßt, so daß Tag und
Nacht gleichmäßig
mit
einander wechseln,
und die Schöpfung
Gottes bald, sanftem Schlummer sich hingebend, Ruhe und Er
quickung sucht, bald, vom Lichte der Sonne beschienen, munter sich
regt — das Vieh auf dem Felde, das Vöglein auf den Bäumen und der Mensch in seinem Tagewerk?
Wer ist es, der da gibt
Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht? — Weß Herz hätte die Antwort nicht vernommen: „Es ist Gott, der in dem allen waltet und wirkt"?
Dein ist das Reich! spricht der Erlöser.
Dies Wort läßt
uns aber speciell das Menschenleben überblicken, wie es hienieden sich abspielt.
Wer ist es, so fragt unser Herz, der die
Geschichte der Völker bestimmt, der sie erhebt und wieder in den
Staub hinabwirft?
Wer ist es, der dafür sorgt, daß trotz aller
menschlichen Leidenschaften, trotz der Kämpfe, in denen die Nationen
im Schlachtengetümmel einander gegenüber stehen, die Weltgeschichte
ihre Ziele verfolgt und schließlich erreicht? Wer ist es, der die Ge
schicke auch des einzelnen Menschen lenkt, der ihn werden läßt und
125 gehen heißt, wenn seine Stunde gekommen, auf den wir bauen,
wenn es scheint, als ob die Macht der Ereignisse, die rohe Ge walt der Natur oder der Menschen uns zermalmen könnte? —
Weß Herz hätte die Antwort nicht vernommen: „Es ist Gott, der in dem allen waltet und wirkt"?
Dein ist das Reich! spricht der Erlöser.
Dies Wort läßt
uns vor allem denken an das Reich, das er selbst auf Erden zu gründen gekommen, das Reich, wo Freude und Friede, Liebe und Hingabe, Gnade und Seligkeit, Sanftmuth und Geduld, Glaube
und Hoffnung herrschen.
Wer ist es, so fragt unser Herz, der
dieses Reich gegründet?
Ist es eine Erfindung des menschlichen
Geistes?
Im Gegentheil.
„Das
kein Auge
gesehen und kein
Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das
hat Gott bereitet denen, die ihn lieben"').
Gott ist es, der dies
Reich in seinem Sohne aus die Erde hernieder gebracht hat, Gott ist es, der schirmend seine Hand über diesem Reich gehalten, so
daß es in allen Stürmen der Jahrhunderte nicht hat untergehen
können, sondern immer weiter sich hat ausbreiten müssen. Wenn nun aber
dies
„dein ist das Reich" am Schluß
unserer Gebete erscheint, wie sollte es dort dann nicht seine Stelle haben, um der Seele jene Gewißheit zu geben, in der sie freudig
ihr „Amen" spricht?
Es sagt ihr ja, daß ihre Gebete nicht hin
eintönen in einen unermeßlichen Weltenraum, wo kein Ohr sie hörte, wo nur der blinde Zufall herrschte, nur Kraft, aber keine
Vernunft.
Ist Gottes das Reich, dann geht es unsern Gebeten
ja nicht wie dem Schrei eines hülflosen, von entmenschten Eltern
auf
einsamer Bergeshöhe ausgesetzten Kindes.
Das ruft wohl
laut nach Vater und Mutter; das meint wohl zeitweilig im Echo die Stimme einer liebenden Seele zu hören, um dann schließlich
doch
zu erkennen,
dunkle Wald
daß die nackten Felsen nicht hören und der
keine Hülfe gewährt.
Endlich wird der Nothruf
immer schwächer und schwächer, bis die Nacht kommt und dem
geängsteten
Leben
ein frühes
') 1. Corinther 2, 9.
Ende bereitet.
Des
Christen
126 Gebet dringt an das Herz dessen, der Himmel und Erde regieret, der in und über der Welt zu suchen ist.
Der Christ sagt sich
darum auch: Der Wolken, Lust und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden Da dein Fuß gehen kann.
Der Christ sagt sich: Was ist die Macht des Blitzstrahles, der des Menschen Hab und Gut vernichtet, was des Sturmes
Brausen, was die Macht der Gewässer, was selbst die unwider
stehliche Gewalt des Todes gegenüber seiner Allmacht? spricht, so geschieht es; so er gebietet, so steht es ba1).
So er Sein ist
ja das Reich und nichts vermag ihm sein Regiment zu stören.
Ja, wenn es zeitweilig scheint,
als ob Menschen dasselbe ihm
streitig machen könnten, als ob sie in ihrem Freiheitstaumel gegen seinen heiligen Willen sich aufzulehnen vermöchten, als ob darunter
sein Kind leiden, als ob es jenen herzlos preisgegeben werden
ob dadurch sein heiliger Wille aufgehalten werden
müßte,
als
könnte,
dann bleibt ihm doch das Reich, und gibt dann nicht
auch der Gedanke uns Hoffnung auf Erhörung unsers Gebets,
gibt
er nicht
ein freudig Amen uns auf unsere Lippen?
Es
gleicht ja unser Gebet nicht dem Nothruf eines Hülflosen, der in den volksbelebten, lärmerfüllten Gassen unserer Stadt durch einen Un
fall vernichtet wird, weil die Vorübergehenden ihn nicht rufen hören und sein Nothruf im Lärm der Gassen untergeht.
Kein noch so
lautes Toben der Gottentfremdeten vermag den stillen Seufzer der frommen Seele aufzuhalten, zu übertönen; er dringt doch gen
Himmel.
Gott hört ihn und wirft sein Auge auf seine Wider
sacher, wie auf seine Kinder, um jene zu hemmen und diese zu
retten, wenn seine Zeit gekommen.
Hat er nicht Pharaos Heer
scharen vernichtet im Schilfmeer, Israel, sein Volk, aus dem Knechts hause Aegyptens erlöst und ins Land seiner Väter geführt?
Hat
er nicht Herodes Mordplan verhindert und seinen Sohn durch die
i) Psalm 33, 9.
127 Flucht nach Aegypten gerettet?
Jahrzehnt
einem
eines
deutsches Volk erhöht?
Hat er nicht noch vor reichlich
Gewaltigen Thron
gestürzt und
unser
Keine Bitte um den Sieg der Wahrheit,
um das Fortschreiten der Liebe, um Vernichtung des Heuchelscheins, um Wachsthum im Glauben,
um Freudigkeit in der Nachfolge
Christi, kurz um den Sieg des Guten und den Untergang des Bösen kann droben verschlossene Thüren finden.
Und wenn nun
erst der Glaube festgegründet ist, daß Gott jenes Reiches König
ist, welches Jesus auf Erden gegründet, zu dem er die Mühseligen und Beladenen gerufen, in dem auch der Geringste unter uns auf
Frieden und Seligkeit hoffen darf, dann sagen wir uns: Keine Bitte, selbst nicht die um das irdische Gut, um das tägliche Brot, wie es in der vierten Bitte heißt, bleibt unerhört, es sei denn,
daß die Erfüllung unserer Bitte nicht zum Heil uns wäre.
Sie
findet ja im Himmel kein Herz, das kalt wäre gegen unsere Seufzer, das
vielleicht ein Gefallen hätte an unsern Leiden und Qualen.
Vorüber find ja für uns die Zeiten, wo man die Gottheit als eine Vielheit von Wesen sich dachte, die unter Umständen mit einander
im Kamps sich befanden, und den Menschen je nach ihrer Laune
heut günstig waren und morgen verfolgten.
Unser Gott ist ein
Gott, außer dem wir keinen andern verehren dürfen, ist zugleich
die Liebe, die nur der Erdenkinder Bestes will, ja selbst die nicht
von sich stößt, die, obwohl einst Sünder und tief gefallen, unter Reue und Buße im Glauben
zu seiner Gnade
ihre Zuflucht
nehmen.
2. der Erlöser nun aber dem Worte:
Wenn Reich"
noch
die weiteren hinzufügt:
„Dein ist das
„und die Kraft und die
Herrlichkeit", sagt er dann damit nicht eigentlich etwas aus, was nach
dem
ersten sich von selbst versteht?
Was wäre denn das
für ein Reich Gottes, das nicht von seiner Kraft zeugte, das nicht
wohin man blickte, von seiner Herrlichkeit redete?
Fällt ja doch
schon ein irdisches Reich zusammen, wenn es keine Kraft mehr
128 besitzt, mit der es den Feinden von außen Widerstand leisten und der Wirren im Innern Herr werden kann?
Pflegt ja doch schon
ein irdischer König, um sein Reich zu repräsentiren, sich in Herr
lichkeit zu hüllen.
Demgemäß lesen wir denn auch in der Schrift
selbst: Das Reich Gottes stehet nicht in Worten sondern in Krafts.
Und doch hat der Erlöser seinen guten Grund, neben dem Reich auch noch Kraft und Herrlichkeit zu erwähnen. Zunächst die Kraft!
— Damit will er nicht etwa von Neuem daran erinnern, daß
wir einen Gott haben, aus dessen starker Hand Niemand uns zu reißen vermag, dem kein Widerstand zu gewaltig ist.
Er denkt viel
mehr an eine Kraft, die im Menschen sich bethätigen, dem Menschen
gegeben
werden
soll
und
zugleich aus Himmelshöhen stammt.
Verheißt er ja doch auch selbst vor seinem Scheiden von der Welt seinen Jüngern, daß sie angethan werden sollen mit der Kraft
aus der Höhe3*).42 5 Weiß ja doch Paulus,
sein Apostel, zu reden
von der Kraft Gottes, die in den Schwachen mächtig ist3), von dem Glauben, der nicht ruht auf Menschen Weisheit, sondern auf Gottes
Krafts.
Was
gibt denn auch wohl dem Herzen eine größere
Sicherheit für Erhörung seiner Gebete, als eben dies, daß es weiß, der Gott, zu dem es betet, ist der, von welchem die Kraft uns
stammt.
Steht uns nicht das Bild des betenden Meisters vor
der Seele, der in Gethsemane sprach „Vater willst du, so nimm
diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille ge
schehe"3).
Sagen wir uns nicht: Der Kelch des Todes ist zwar von
Gott nicht hinweggenommen; der Sohn Gottes hat ihn trinken müssen; aber dennoch ist sein Gebet erhört, weil ein Engel her
nieder gekommen, ihn zu stärken, jener Engel des Friedens, der
seine Seele ruhen ließ in Gott und ihn kühn seinen Feinden ent gegenziehen hieß?
Grade je mehr wir Christen sind, desto mehr
lernen wir ja auch, auf manche Wünsche des eigenen Herzens zu ’) 2) 3) 4) 5)
1. Corinther 4, 20. Lucas 24, 49. 2. Corinther 12, 9. 1. Corinther 2, 5. Lucas 22, 42.
129 verzichten, uns zu sagen, daß das eigene Wohl dem des großen
Ganzen untergeordnet werden muß, daß manches, was wir so heiß
ersehnen,
vielleicht
schädlich erscheint.
in
Gottes weiterschauendem Auge als
Aber, wenn wir denn nur wissen, droben ist
die Kraft, von Gott wird sie uns herniedergesandt, dann wissen
wir damit zugleich auch, daß unser Gebet nicht umsonst gewesen, daß es nicht umsonst an die Himmelsthür gepocht, daß aus der
selben Ströme des Segens hierniederfließen auf unser Herz.
Mag
denn auch das irdische Gut, das uns einst unentbehrlich schien und
worum wir deshalb so heiß flehten, uns vorenthalten werden, auch
das ist ja ein Segen, wenn die Kraft aus der Höhe uns Ent
sagung, Zufriedenheit, Genügsamkeit lehrt.
Mag denn auch manch'
irdisches Leid, das zu gewaltig uns drückte, manch' herber Verlust, der zu tief uns schmerzte, manch' Krankenlager, auf dem wir der Verzweiflung nahe waren, mancher Todesfall, der uns aller Hülse
beraubte, auf unsere Bitte uns nicht erspart werden, auch das ist ja ein Segen, wenn die Kraft aus der Höhe uns sicher ist, die
mit Geduld uns das Leid tragen, mit Gottergebenheit bei den
schwersten Verlusten uns sprechen läßt: „Der Herr hat's gegeben,
der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobet", mit festem Glauben
uns
ausrüstet,
was er uns nicht tragen hilft.
daß Gott
uns
nichts
auflegt,
Mag denn auch mancher Erfolg
unserer Arbeit, um den wir baten, uns versagt werden, manches
Eintreten für hohe, heilige Ziele scheinbar ohne Nutzen bleiben, auch das ist ein Segen, wenn die Kraft aus der Höhe uns die
Gewißheit gibt, daß kein sittliches Thun umsonst ist, wenn diese
Gewißheit uns anspornt zu immer erneuter Arbeit, wo die Hand schon erlahmen wollte, wenn wir auf dem Sterbebette uns noch sagen können, die Wahrheit, für die wir gekämpft, das Gute wofür
wir gestritten, die Ideale, für die wir eingetreten — sie sind zwar noch nicht zum Siege gekommen, aber ein vorurtheilsfreieres Jahr
hundert wird sie wieder aufnehmen, und so werden sie schließlich
doch verwirklicht werden. auf
die
dem auf
Scheiterhaufen
Was war es, was Johann Hus freudig
sterben
sein Gebet von oben
ließ?
Es
war
die
Krafts
hernieder kam in seine Seele. 9
130 Was war es, was Stephanum so freudig scheiden ließ unter den Steinwürfen seiner Feinde?
Es war die Kraft, die ihm ward
beim Anblick seines erhöhten Meisters.
Was war es, was den
Erlöser selbst das Opfer seines Todes freudig auf sich nehmen
Es war die Kraft, die die Gewißheit ihm gab: Es sei
ließ?
denn, daß das Weizenkom in die Erde falle und ersterbe, so bleibt
es allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte l).
Und
diese Kraft, sie kommt von oben, sie wird keinem auf sein Gebet
versagt.
Sagt ja doch der Meister selbst: So denn ihr, die ihr
doch arg seid, könnet euren Kindern gute Gaben geben, wieviel
mehr wird der Vater im Himmel den heiligen Geist geben Denen, die ihn bitten?2)3
3.
Zum Schluß lehrt das Gebet des Herrn uns noch Hinblicken auf das, was aller Welten Endzweck ist, was im Himmel, unter
vollkommenen Wesen, der stete Gegenstand der Bewunderung, der Anbetung ist,
die Herrlichkeit Gottes.
alle Herrlichkeit der Welt?
Was ist ihr gegenüber
„Alles Fleisch ist wie Gras und alle
Herrlichkeit der Menschen, wie des Grases Blume; das Gras ist
verdorrt und die Blume abgefallen"2), sagt die Schrift.
Wohl
zeigt dem Sohne Gottes der Versucher alle Reiche der Welt und
ihre Herrlichkeit.
Doch was ist sie ihm gegenüber der Herrlichkeit,
die er beim Vater gesehen?
Seinen Ruhm zu verkünden, seine
Ehre zu preisen, seine Herrlichkeit zu rühmen, dazu sind auch wir berufen.
Schon hienieden sollten wir's — aber unser Rühmen
verstummt so oft, weil die Räthsel und Widersprüche des Lebens
dasselbe ersticken.
Aber würde er wohl in diese Räthsel, diese
Widersprüche uns hineinstellen, wenn er nicht wüßte, daß wir dereinst, wenn wir mit klareren Augen zu schauen vermögen, auch um dieser
willen ihn preisen werden?
*) Johannes 12, 24. 2) Lucas 11, 13. 3) 1. Petri 1, 24.
Dem Kinde, das seiner Eltern be-
131 raubt, zur selbstständigen Verwaltung seines Erdenguts, zur selbst ständigen Bestimmung über sein Wohl und Wehe nicht fähig ist,
wird ein Vormund gesetzt. lassen,
nach
der es
Wird er dem Mündel die Giftbeere
als kleines Kindlein
die Hand ausstreckt?
Wird er es nachher wählen lassen, ob es zur Schule gehen will oder nicht?
Wird er es ungestraft hingehen lassen, wenn es die
Unwahrheit spricht oder nach Verbotenem seine Hand ausstreckt?
Ach,
er fürchtet nicht des Kindes Thränen, nicht des Knaben
augenblicklichen Haß.
Er weiß, es kommt eine Stunde, wo der
herangereiste Mann vor ihm steht, wenn die Vormundschaft ihm
abgenommen wird, weiß, daß dieser ihm nur danken wird für das, worüber das Kindlein geweint, der reifere Knabe gegrollt.
Siehe,
mein Christ, der mit mehr Umsicht, als der eines Vormundes dich durchs Leben führt, mit mehr denn Vater- und Mutterliebe dich
leitet, siehe, der führt dich hienieden wohl oftmals dunkle Pfade, aber meinst du nicht, daß du dermaleinst auch um dieser willen, ja vielleicht um dieser willen ganz besonders, ihn preisen wirst?
meinst du nicht, daß all jene bittern Vorwürfe, die Menschen so oft auf ihren Gott zu wälzen suchen, dereinst als eben so viele
bittere Anklagen auf ihr Haupt zurückfallen könnten? Meinst du nicht, daß sie,
die des Vaters Wege hienieden verschmäht und
ihre besondern Wege gezogen, dereinst könnten ihre eigene Blind Und wer hätte nicht schon
heit und Kurzsichtigkeit verwünschen?
hienieden oft gelernt, daß Gott weiter schaute, als er, wer nicht schon Gottes Herrlichkeit gepriesen,
wo
er einst nur Finsterniß
gesehen?
Und wenn das uns bei unsern Gebeten vor Augen steht, daß Gottes die Herrlichkeit ist, wie sollten wir dann nicht freudig
unser „Amen" sprechen?
O, wenn sein Kind riefe und er nicht
hörte, wenn er wohl hörte, aber nicht erhörte, wenn er nicht seines
Kindes Heil wollte! — wo bliebe seine Herrlichkeit? wer sollte
seinen Ruhm,
seine Ehre verkünden?
heißung zur Lüge:
Würde nicht seine Ver
Rufe mich an in der Noth, so will ich dich
erretten, so sollst du mich preisen? Würde nicht seine Liebe, seine Gnade, sein Erbarmen zu einem leeren Schein?
Nein, ihm ge9*
132 hört die Herrlichkeit, und darum sprich freudig dein „Amen" zu
deinen Gebeten.
Sie können nicht umsonst gesprochen sein.
Und nun merke dir wohl, mein Christ, es handelt sich hier nicht um ein Reich, das heute besteht, aber morgen zusammen bricht, um eine Kraft, die heute verliehen wird, aber morgen ver
sagt, um eine Herrlichkeit, die eine Weile leuchtet, aber dann auf
immer schwindet.
In Ewigkeit währt hier alles, so betont der
Schluß des Herrngebets.
Muß sich dir denn da nicht ein freudig
„Amen" auf deine Lippen legen?
selbst dann noch, wenn der
Augenblick deines Abscheidens dir nahe ist?
Es verheißt dir ja
der Gebetsschluß, daß du droben, in einer bessern Welt, sogar noch
viel lauter, als hienieden, preisen wirst, daß Gottes das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit ist.
Amen.
In demselben Verlag erschienen:
Bahnsen, W., Generalsuperintendent,
Oberkonsistorialrat und Ober
pfarrer in Coburg.
Evangelienpredigten. Gbd. M. 6.—
I. Advent bis Exaudi.
Geh. M. 5.—,
(Bd. II. in Vorbereitung).
Das Christenthum der Bergpredigt.
In Predigten dargelegt.
Geh. M. 3. -, Gbd. M. 4.-
Das Gebet des Herrn. Geh. M. 2—, Gbd. M. 2.75. Passionspredigten. Geh. M. 2.—, Gbd. M. 2.75. Stellung der evangelischen Kirche zur Feuerbestattung. erweiterter Vortrag.
Wobbermin, G.,
M. L —
Dr. phil. Lic. theol., Privatdozent in Berlin.
Zwei akademische Vorlesungen über systematischen Theologie. M. 1.—
Luther, P.,
Ein
Grundprobleme
der
Dr., Oberpsarrer in Kremmen.
Deutsche Bolksabende. abende.
Ein Handbuch für Volksunterhaltungs
Eins. gbd. M. 3.—, eleg. gbd. M. 4.—