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German Pages 302 [315] Year 2022
Sabrina Sattler Curriculum und Mehrsprachigkeit
Pädagogik
Sabrina Sattler (Dr. phil.), geb. 1989, arbeitet im Observatorium für Schulqualität in Luxemburg und promovierte 2021 an der Universität Luxemburg im Fach Erziehungswissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bildungsplanung in mehrsprachigen Gesellschaften, soziale Ungleichheiten in Bildungssystemen und Curriculumgeschichte.
Sabrina Sattler
Curriculum und Mehrsprachigkeit Planung und Gestaltung sprachlicher Identität in Luxemburg
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Inhalt
Vorwort ............................................................................ 9 Abbildungsverzeichnis ............................................................. 11 Abkürzungsverzeichnis.............................................................13 I 1 2 3 4 5 II
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Problemaufriss Curriculumentwicklung in Luxemburg .......................................... 17 Problemstellung ............................................................... 17 Das Luxemburger Schulsystem. Curriculumentwicklung und aktuelle Sprachenunterrichtspolitik ............... 23 Forschungsziel ............................................................... 28 Forschungsstand, Forschungslücke und Forschungsbeitrag ..................... 31 Lesehinweis .................................................................. 37 Zugang Methodologische und methodische Anlage. Curriculum, Unterricht und die Normierung von Sprechern ..................... 39 Theoretische und konzeptionelle Verortung des Curriculumbegriffes ............ 41 1.1 ›Curriculum‹ als Konzept ............................................... 41 1.2 ›Curriculum‹ als Forschungsobjekt..................................... 49 Die Historisierung der Curriculumentwicklung ................................. 54 2.1 ›Curriculum‹ und die Imaginierung einer zukünftigen Idealgesellschaft .................................... 54 2.2 Wie ›Curriculum‹ in Luxemburg denken? ............................... 58 Forschungsdesign ............................................................ 66 3.1 Quellen – Zeitdokumente ............................................... 69 3.2 Empirisches Material – Experteninterviews ............................. 74
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Historischer Hintergrund Curriculare Vorgaben im historischen Wandel. Nationenbildung und sprachliche Identität im Spiegel der Luxemburger Schulgeschichte ............................................ 87 Schulpolitische Implikationen des Nation Building ............................. 90 1.1 »[A]tiny wedge between overbearing neighbours«. Die Territorialgeschichte Luxemburgs und die Herausbildung der Mehrsprachigkeit .................................................. 90 1.2 (Mehr-)Sprachigkeit und nationaler Einheitsgedanke .................... 93 1.3 Die vollständige Unabhängigkeit Luxemburgs........................... 96 Die Pädagogisierung der Luxemburger Gesellschaft........................... 100 2.1 Das Schulgesetz von 1843 und die Institutionalisierung von Bildung........................................................... 100 2.2 Sprachenlegitimation durch die Organisation des Unterrichts .......... 105 2.3 Das Schulgesetz von 1912. Oder: die Curricularisierung eines dreisprachigen Sprechers?........... 115 Curriculare Performanz im Spannungsfeld zwischen nationalstaatlicher Rhetorik und Internationalisierungsprozessen ... 125 3.1 Die Parallelisierung von Wirtschaftswachstum und Bildungspolitik ..... 125 3.2 Luxemburg zwischen nationaler Bildungstradition und institutioneller ›Weltkultur‹ ........................................ 131 Zwischenfazit. Schulbildung und die Herstellung von Mehrsprachigkeit ....................... 138 Der Reformkontext von 2009 Bildungspolitische Positionierungen zur Mehrsprachigkeit in Luxemburg: »Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander«? ........................... 141 Das Schulgesetz von 2009: Reformhintergründe, Reformabsichten und Reformmotive ........................................................... 143 1.1 Kontextualisierung der Reform ........................................ 143 1.2 Reformabsichten und Problemlage .................................... 153 1.3 Kompetenzorientierung ............................................... 159 Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld zwischen curricularem Paradigma und schulischer Realität ................... 169 2.1 Mythos Gleichsprachigkeit. »Le plurilinguisme comme ›véritable‹ langue maternelle des Luxembourgeois«? ............................................... 169 2.2 Deutsch und Französisch als Unterrichtssprachen ..................... 188
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2.3 Luxemburgisch als ›Integrationssprache‹? ............................ 203 2.4 Englisch als ›globale Lingua franca‹ .................................... 221 Konzeptionelle Implikationen des Fächerkanons und die Herstellung von Mehrsprachigkeit ........................................................ 227 3.1 Die Konstruktion von Einzelfächern ................................... 227 3.2 Einzelfächer und das Verständnis von Mehrsprachigkeit ............... 232 Zwischenfazit. Sprachliches Denkkollektiv und die Stilisierung modellhafter Sprecher ........ 243 Schlussbetrachtung Die Curricularisierung einer Mehrsprachigkeit? Chancen, Grenzen und Entwicklungstendenzen ............................... 249 Fazit. Curriculumentwicklung und Identitätskonstruktion ........................... 251 Schluss und Ausblick ........................................................ 260 Quellen- und Literaturverzeichnis .......................................... 263 Quellenverzeichnis........................................................... 263 1.1 Gesetzestexte, Gesetzesentwürfe, großherzogliche Verordnungen ...... 263 1.2 Parlamentarische Anfragen und Debatten ............................. 265 1.3 Sitzungsprotokolle der Programmkommissionen Deutsch ESC und EST ................................................. 267 1.4 Curriculare Rahmendokumente, Veröffentlichungen des Bildungsministeriums und weiterer Bildungseinrichtungen......... 268 1.5 Veröffentlichungen des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission .................................... 269 1.6 Zeitungsartikel ....................................................... 270 Literaturverzeichnis ......................................................... 273
Anhang ........................................................................... 295
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung wurde 2017 aufgenommen und 2021 an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luxemburg als Dissertation angenommen. Genauso wie Curriculumentwicklung nicht im leeren Raum entsteht, wäre diese Arbeit nicht ohne die fachliche und moralische Unterstützung geschrieben worden, die ich während dieser Zeit erfahren durfte. Ganz besonders danke ich meinem Erstbetreuer Prof. Dr. Georg Mein, der mich zu der Themenstellung motivierte und der mich stets in meiner akademischen Entwicklung bestärkte. Gleichermaßen bedanke ich mich für die kontinuierliche Unterstützung meines Zweitbetreuers Dr. Thomas Lenz, der mir bei der Erstellung der Arbeit immer zur Seite stand und dessen bereichernde Hinweise die Arbeit wiederholt in neue Bahnen gelenkt hat. Des Weiteren danke ich Prof. Dr. Till Dembeck für die produktiven und inspirierenden Gespräche. Ebenso geht mein Dank an Prof. Dr. Norbert Grube und Prof. Dr. Markus Rieger-Ladich für die Begutachtung meiner Dissertation als externe Mitglieder der Prüfungskommission. Diese Arbeit wäre nicht ohne meine Interviewpartnerinnen und Interviewpartner zustande gekommen, genauso wenig wie ohne die Hilfe der Archivare des Luxemburger Wortes und des Tageblattes, die mir Zugang zu den Zeitungsbeständen gewährten. Ein großer Dank gilt ihnen für ihre Bereitwilligkeit und damit auch ihren Zuspruch zu dieser Arbeit. Während meiner Promotion durfte ich in einem großartigen Team arbeiten und danke allen Kolleginnen und Kollegen für die positive und ereignisreiche Zeit sowie den fachlichen Austausch. Herzlich danken möchte ich Dr. Isabell Baumann, Dr. Dominic Harion, Dr. Kerstin te Heesen, Dr. Wilhelm Amann und Dr. Susanne Backes für die wertvollen Gespräche, Motivation, den kollegialen Input und die Durchsicht meiner Arbeit. An dieser Stelle möchte
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ich mich ebenso bei Dr. Katrin Becker, Dr. Adrian de Silva und Dr. Sandy Artuso für ihre Anregungen bedanken. Als große fachliche und persönliche Bereicherung empfand ich es, in gleich zwei Instituten angesiedelt zu sein. Zum einen im Luxembourg Centre for Educational Testing (LUCET) und zum anderen im Institut für deutsche Sprache, Literatur und Interkulturalität an der Universität Luxemburg, an dem ich meine Kolloquien halten durfte. Ich möchte mich an dieser Stelle bei dem Direktor des LUCET, Prof. Dr. Antoine Fischbach, sowie dem Leiter des Instituts für deutsche Sprache, Literatur und Interkulturalität, Prof. Dr. Dieter Heimböckel, und allen Kolleginnen und Kollegen der beiden Forschungsinstitute für ihre Unterstützung bedanken. Auch den beiden ehemaligen studentischen Hilfskräften Anna Unterholzner und Debbie Platzbecker, die mich bei der Interviewauswertung unterstützten, gilt mein Dank. Sehr zu schätzen weiß ich das übergreifende akademische Angebot und die finanzielle Unterstützung durch die Doctoral School (DHSS). So hatte ich während meiner Promotion neben der Teilnahme an internationalen Konferenzen die Möglichkeit, an der University of Wisconsin-Madison im Department of Curriculum & Instruction zu forschen. An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Prof. Dr. Thomas Popkewitz, Prof. Dr. Bernadette Baker und den Teilnehmenden der »Wednesday-Group« für die bereichernden Diskussionen während meines dortigen Aufenthaltes bedanken. Gelungen wäre diese Arbeit nicht ohne die Unterstützung meiner Freunde und meiner Familie. Für ihren freundschaftlichen Rückhalt über die Dissertation hinaus und ihre Unterstützung, insbesondere in den letzten Monaten vor Abgabe, danke ich Bernadette Borkam und Carolyn Knaup. Zudem danke ich Marc Gorges, der mich bei der Fertigstellung begleitet und mir den Rücken freigehalten hat. Mein besonderer Dank gilt meiner Mutter und meinem Bruder, die mich in den letzten Jahren bei meinem Vorhaben unterstützt und auch zu dieser Veröffentlichung ermutigt haben. Luxemburg, im Februar 2022
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Sequenzmodell – Auswahlverfahren Zeitungsartikel. S. 74 Abb. 2: Differenzierte Sprachniveaus nach dem GER. S. 175 Abb. 3: L’alphabétisation et la langue allemande – compréhension de l’oral. S. 177 Abb. 4: La langue française – compréhension de l’oral. S. 178 Abb. 5: Das Luxemburger Bildungssystem. S. 298-299
Abkürzungsverzeichnis
ADR: Alternativ Demokratesch Reformpartei APESS: Association des Professeurs de I’Enseignement Secondaire et Supérieur du Grand-Duché de Luxembourg APFL: Association des Professeurs de Français du Luxembourg CCP: Certificat de Capacité Professionnelle CEEC: Committee of European Economic Cooperation CERI: Centre for Educational Research and Innovation CHD: Chambre des Députés CNEF: Commissions nationales des programmes de l’enseignement fondamental CNES: Commissions nationales de l’enseignement secondaire CSV: Chrëschtlech Sozial Vollekspartei DAP: Diplôme d’Aptitude Professionnelle DP: Demokratesch Partei DT: Diplôme de Technicien
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EGKS: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ÉpStan: Épreuves Standardisées ERP: Ethics Review Panel ESC: Enseignement Secondaire Classique ESG: Enseignement secondaire général ESP: Europäisches Sprachenportfolio EST: Enseignement Secondaire Technique (Bezeichnung bis 2017, danach umbenannt in Enseignement Secondaire Général) EWG: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Féduse: Fédération des Universitaires au Service de l’État GEDELIT: Gesellschaft für deutsche Literatur GER: Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen HISEI: Highest International Social and Economic Index IBO: International Baccalaureate Organization INL: Institut National des Langues ISCED: International Standard Classification of Education LISER: Luxembourg Institute for Socio-Economic Research LSAP: Lëtzebuerger Sozialistesch Aarbechterpartei LUCET: Luxembourg Centre for Educational Testing LW: Luxemburger Wort
Abkürzungsverzeichnis
MEN: Ministère de l’Éducation nationale et de la Jeunesse MENFP: Ministère de l’Éducation Nationale et la Formation Professionelle; Bezeichnung des Bildungsministeriums bis 2014 MENJE: Ministère de l’Éducation nationale, de l’Enfance et de la Jeunesse; seit 2014 aktuelle Bezeichnung des Bildungsministeriums NASA: National Aeronautics and Space Administration NDEA: National Defense Education Act OECD: Organisation for Economic Co-operation and Development OEEC: Organisation for European Economic Co-operation; Vorgängerorganisation der OECD OGBL: Onofhängege Gewerkschaftsbond Lëtzebuerg OIF: Organisation internationale de la Francophonie oIGL: Offizielles Internetportal des Großherzogtums Luxemburg OLO: Orthographie Luxembourgeoise Officielle PAL: Plan d’action des Langues Pdl: Projet de loi PISA: Programme for International Student Assessment PKs: Programmkommissionen PROCI: Projet Pilote Cycle Inférieur de l’Enseignement Secondaire Technique RGD: Règlement grand-ducal
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SCRIPT: Service de Coordination de la Recherche et de l’Innovation Pédagogiques et Technologiques SEW: Syndikat Erzéiung a Wëssenschaft SNE: Syndicat National des Enseignants TB: Tageblatt TIMSS: Trends in International Mathematics and Science Study VdL: La Voix du Luxembourg
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Problemaufriss Curriculumentwicklung in Luxemburg
Problemstellung
Dem offiziellen Internetportal des Großherzogtums Luxemburg zufolge zeichnet sich die Luxemburger1 Gesellschaft durch ihre Offenheit gegenüber Sprachen aus; neben den seit dem Sprachengesetz von 1984 offiziell anerkannten Amtssprachen Deutsch, Französisch und Luxemburgisch ist die tagtägliche Lebensrealität durch das Aufeinandertreffen zahlreicher weiterer Sprachen geprägt (vgl. oIGL 2020). Dass die Mehrsprachigkeit demzufolge nicht auf die drei Landessprachen beschränkt werden kann, ist angesichts der Gesellschaftszusammensetzung mit 47 Prozent2 (vgl. STATEC 2021a) an nicht Luxemburger Einwohnern3 evident. Die größte Migrationsgruppe machen dabei die Portugiesen mit 15 Prozent der Gesamtbevölkerung4 aus (vgl. ebd.). Hinzu kommen über 200.000 Grenzpendler aus Belgien, Deutschland
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In Anlehnung an Péporté et al. (2010) werden ›Luxemburger‹ und ›luxemburgisch‹ im weiteren Verlauf der Arbeit nicht synonymhaft verwendet. Die Bezeichnung ›Luxemburgisch‹ ist zuvorderst mit der (luxemburgischen) Sprache zu verbinden; dagegen bezieht sich ›Luxemburger‹ auf Eigenschaften, die etwa Gruppen, Personen oder Einstellungen in bzw. aus Luxemburg betreffen (vgl. ebd.: 16). Diese Zahl beinhaltet all diejenigen Einwohner, die nicht im Besitz der Luxemburger Staatsbürgerschaft sind, unabhängig davon, ob sie in Luxemburg oder im Ausland geboren wurden. Zu den restlichen, d.h. den ca. 53 Prozent der Einwohner, die als Luxemburger gezählt werden, gehören auch diejenigen, die neben der Luxemburger noch eine weitere Staatsbürgerschaft besitzen. Aus Gründen der Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit die männliche Form verwendet, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter. 634.700 insgesamt (vgl. STATEC 2021a; Stand 2021).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
und Frankreich, die am Wirtschaftsstandort Luxemburg einer Beschäftigung nachgehen (STATEC 2021b). In den Erläuterungen zum Sprachenunterricht hebt das Internetportal die sprachliche Integration im Schulwesen hervor, demnach gehört die Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit zum bildungspolitischen Verantwortungsbereich (vgl. oIGL 2020). Bevor eine Aktualisierung der Internetseite ›Sprachen in der Schule‹ im Jahr 2020 erfolgte, wurde die offizielle landestypische Dreisprachigkeit akzentuiert, die für Luxemburg und damit für seine Einwohner ›lebenswichtig‹ sei, was mit der geografischen Lage zwischen den deutsch- und französischsprachigen Nachbarländern und dem dadurch bedingten Austausch mit diesen begründet wurde (vgl. oIGL 2018). Im Einklang mit der proklamierten ›lebenswichtigen‹ Dreisprachigkeit gehören die gesetzlich anerkannten Amtssprachen völlig natürlich zum Sprachenrepertoire der Luxemburger, obgleich dem Luxemburgischen in der Loi sur le régime des langues der Sonderstatus der Nationalsprache zugeschrieben wird (vgl. Mémorial A16 1984: 196f.). Aus dem Nebeneinander und zugleich Miteinander von Französisch, Deutsch und Luxemburgisch resultiert entsprechend eine Triglossiesituation. Mit dieser sprachlichen Realität ist auch das gesellschaftliche Sprachideal für die Luxemburger Bevölkerung verbunden, die drei Landessprachen zu beherrschen. Die Umsetzung dieses Ideals wird dabei an den Aufgabenbereich des Erziehungswesens delegiert. Die Akzentverschiebung von der lebenswichtigen amtlichen Dreisprachigkeit hin zur bildungspolitischen Öffnung zu anderen Sprachen zeigt beispielhaft an, dass Mehrsprachigkeit in Luxemburg sehr unterschiedlich interpretiert und vermittelt wird und die mit ihr verknüpften Haltungen gegenüber Sprachkompetenz zeitlich variabel sind. Der Umdeutungsmechanismus bezieht sich dabei auf das gesamte Großherzogtum, da es in Luxemburg weniger konkrete territoriale Abgrenzungen hinsichtlich der Sprachverwendung gibt und diese sprachenpolitisch flächendeckend organisiert ist. Nachdem das Schulsystem zunächst seit der ersten Primärschulgesetzgebung von 1843 mit Deutsch und Französisch zweisprachig war, ist es seit 1912 mit der Aufnahme des Luxemburgischen in den Fächerkanon offiziell dreisprachig, und so werden die drei Landessprachen bereits im Vor- und Grundschulbereich eingeführt. Zudem fungieren sie als Instruktionssprachen in den nichtsprachlichen Fächern. Gesetzestexte, ministerielle Anordnungen, Rahmenlehrpläne für einzelne Fachbereiche, Lehrprogramme mit konkreten inhaltlichen Angaben und Lernzielen für die jeweilige
I Problemaufriss
Jahrgangsstufe und Unterrichtsfächer sowie die daran anschließenden, von einzelnen Fachgruppen ausgearbeiteten Arbeitspläne für die eigene Schule schreiben dabei offiziell vor, welche sprachlichen Fähigkeiten Schüler erwerben sollen. All diese Referenzdokumente für die Unterrichtsgestaltung lassen sich auf den Begriff des Curriculums bringen, der als Dachstruktur jene administrativen, unterrichtsorganisatorischen und pädagogischen Teilaspekte verbindet. Gleichwohl stellt das Curriculum mehr als nur einen Oberbegriff einer pädagogisch-didaktischen Richtschnur und instruktiven Handreichung für den Unterricht dar. Es ist vielmehr als Mittel zu verstehen, bildungs- und gesellschaftspolitische Vorstellungen zu harmonisieren. Das Curriculum fungiert demnach als Scharnierstück zwischen der Organisation des Unterrichts sowie sozialen Prozessen.5 Dieses Wechselverhältnis zwischen Unterrichtsorganisation und sozialer Wirksamkeit kann am Beispiel des Sprachenunterrichts in Luxemburg problematisiert werden: In den Bildungsstandards für Sprachen, die seit 2008 als ein curricularer Orientierungspunkt für die gesamte sprachliche Unterrichtsorganisation dienen sollen, wird die Mehrsprachigkeit zum Unterrichtsprinzip erklärt und als »sprachenpolitisch gewoll[t]« (Kühn 2008: 16) ausgewiesen. Zuvor wurde in einer vom Europarat durchgeführten Analyse zur Sprachensituation für Luxemburg jedoch dezidiert hervorgehoben, dass Mehrsprachigkeit zu sozialer Ungleichheit führen kann (MENFP/Conseil de l’Europe 2006: 9ff.). Mehrsprachigkeit sollte demnach, so könnte man meinen, als soziale Herausforderung des Schulsystems pädagogisiert werden. Mit der Pädagogisierung sozialer Probleme (Smeyers/Depaepe 2008) ist die Idee verbunden, dem Bildungsbereich die soziale Verantwortung zu übertragen, gesellschaftlichen Herausforderungen durch Bildung und Erziehung zu begegnen (vgl. ebd.: 1f.). Die sozialen Probleme sind dabei jedoch nicht unbedingt per se bildungspolitische Probleme, sondern werden auf den schulischen Bereich übertragen. Dieses Zusammenspiel wird in Luxemburg angesichts der Tatsache offenkundig, dass die vertretenden Nationalitäten im Luxemburger Schulsystem sehr vielfältig sind und sich die zu Hause gesprochenen Sprachen der Schüler oftmals von den drei offiziellen Sprachen des Landes unterscheiden. Im Schuljahr 2019/20 besuchten 58.313 Schüler die Vor- und Grundschule (École fondamentale) (MENJE/SCRIPT 2021: 10). Neben 54,1 Prozent an Luxemburger Schülern hatten 45,9 Prozent der Schüler einen ausländischen Pass 5
Zur etymologischen Begriffsbestimmung sowie detaillierten Darlegung von ›Curriculum‹ vgl. Kap. II.1 und II.2.
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(vgl. ebd.: 13). Die nächstgrößeren vertretenen Nationalitätengruppen neben den Luxemburgern sind Schüler mit einem portugiesischen Pass (18,7 %), Franzosen (6,7 %) und Schüler mit italienischer Nationalität (2,2 %) (vgl. ebd.). Dabei war bei 33,7 Prozent der Schüler das Luxemburgische die zu Hause gesprochene Sprache und 66,3 Prozent der Schüler wuchsen mit einer anderen Sprache als Erstsprache auf; bei über einem Drittel (39,8 %) war Portugiesisch die Erstsprache (vgl. ebd.: 16).6 Angesichts dieser sprachlichen Diversität entwickelt sich die Dreisprachigkeit im Schulsystem zunehmend zur Herausforderung für die Schülerschaft. Deutsch und Französisch dominieren formal das Curriculum und gehören auch in den nichtsprachlichen Fächern zu den Hauptunterrichtssprachen. Dadurch ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass »Fachunterricht […] gleichzeitig also auch immer Sprachunterricht [ist]« (Hu et al. 2015: 63) und die Sprachenkenntnisse, die im Grundschulbereich erworben und gefestigt werden, zum wichtigen Indikator der Schullaufbahnempfehlung avancieren. Sprachenkenntnisse werden vor diesem Hintergrund zum »Selektionsinstrument« (ebd.: 64). Im Verlaufe der gesamten Luxemburger Schulzeit wird für den Sprachenunterricht dabei die Hälfte der gesamten Unterrichtsstunden aufgebracht, und im Sekundarschulbereich I (ISCED-Level 2) sind alle Schüler mit zwei oder mehr Sprachen in Kontakt getreten. In den Nachbarländern sieht es dagegen anders aus: In Deutschland sind es knapp 40 Prozent, die im Sekundarbereich I bereits in zwei oder mehr Sprachen unterrichtet werden; in Frankreich etwas mehr als die Hälfte; im flämischen Teil Belgiens sind es die Hälfte der Schüler und im wallonischen Teil Belgiens sind die Schüler mit einer, aber nicht mit zwei oder mehreren Sprachen in Kontakt getreten (vgl. RAT 2017: 64; Stand 2014).
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Angesichts unabhängiger Kontextelemente, wie die Nationalitätenpolitik, ist die Herkunft der Schüler alleinig kein verlässlicher Indikator, um Aussagen über die Zusammensetzung der Schülerpopulation zu treffen. Schließlich werden zu den Schülern Luxemburger Herkunft auch die Schüler gezählt, die neben der Luxemburger auch über eine andere Staatsangehörigkeit verfügen (zum Gesetz über die Luxemburger Staatsbürgerschaft vgl. Mémorial A289 2017). Die Trends bei der zu Hause gesprochenen Sprache sind über die Jahre gleichmäßiger und zeigen, dass Luxemburgisch als erste zu Hause gesprochene Sprache kontinuierlich sinkt. Im Schuljahr 2009/10 wuchsen 45,8 Prozent der Grundschüler mit dem Luxemburgischen als Erstsprache auf (vgl. MENFP 2011b: 106). Im Schuljahr 2020/21 waren es dagegen nur noch 34,5 Prozent (vgl. MENJE/SCRIPT 2021).
I Problemaufriss
Bei genauerer Betrachtung der mehrsprachigen Unterrichtsorganisation in Luxemburg zeigte sich besonders in der Vergangenheit, dass nicht zwangsläufig von einem erfolgreicheren Bildungsmodell zu sprechen ist, sofern man den Ergebnissen von internationalen Längsschnittuntersuchungen folgt. Die Resultate internationaler Vergleichsstudien, wie etwa der erstmals im Jahr 2000 durchgeführten PISA-Studie, veranschaulichen, dass sich das Luxemburger Schulwesen statistisch signifikant unter dem OECD-Durchschnitt positioniert und mehr leistungsschwache und weniger leistungsstarke Schüler ›produziert‹ (vgl. MENJE et al. 2016: 14f.), obwohl Luxemburg über das teuerste Schulsystem im internationalen Vergleich verfügt7 (vgl. OECD 2016: 173f.). Neben sozioökonomischen und soziokulturellen Faktoren werden speziell in Luxemburg die Kompetenzen der Schüler in den Testsprachen, Deutsch oder Französisch, mit der Leistungsperformanz bei der PISA-Studie ins Verhältnis gesetzt. Insbesondere die ernüchternden Ergebnisse der ersten PISA-Studie 2000 führten zu einem Umdenken in der (inter-)nationalen Bildungspolitik. Im Falle Luxemburgs wurde als Argument für das unterdurchschnittliche Abschneiden der Schüler u.a. die mangelnde Passung zwischen Sprachenpolitik8 im Erziehungswesen und der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit herangezogen. Im Kielwasser der ersten PISA-Studie wurde schließlich ein Reformpaket zunächst für den Grundschul- und anschließend auch den Sekundarschulbereich ausgearbeitet, das dem heterogenen Gesellschaftskontext nunmehr besser Rechnung tragen sollte. Am 16. Februar 2009 wurde in Luxemburg angesichts dieser bildungspolitischen Impulse schließlich ein neuer Gesetzesrahmen veröffentlicht, der das bis dato gültige Primärschulgesetz von 1912 ablöste.9 Diese Reform kennzeichnet einen kategorischen Einschnitt in das Luxemburger Schulsystem und ist als historischer Wendepunkt zu begreifen, was das Schulwesen im 7 8
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Gemessen an Lehrergehältern und Ausgaben für Bildungseinrichtungen pro Schüler. In Anlehnung an Fehlen (2008: 45) wird in der vorliegenden Arbeit und mit Blick auf den Luxemburger Untersuchungsschwerpunkt der Plural ›Sprachenpolitik‹ verwendet, da auch die politische Konzentration auf eine einzelne Sprache implizit das Sprachengefüge in mehrsprachigen Gesellschaften insgesamt beeinflusst. Das Schulgesetz von 1912 erhielt bis zu dessen Aufhebung 2009 24 Modifikationen, die meisten von ihnen erfolgten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Überwiegend betreffen die gesetzlichen Anpassungen jedoch die Organisation des Lehrpersonals und kaum den Sprachenunterricht (Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg 2020).
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Allgemeinen und die Curriculumarbeit im Besonderen angeht. Die historische Reform von 2009 ist eine der wenigen klaren gesetzlichen Neuausrichtungen im schulischen Bereich. So wurde nach beinahe 100 Jahren und zahlreichen soziodemografischen Veränderungen – u.a. bedingt durch Einwanderungswellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder die Expansion des Finanzsektors, wodurch Luxemburg viele Arbeitskräfte aus dem Ausland anzog – ein Schulcurriculum entworfen, das den gesellschaftlichen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts entsprechend begegnen sollte. In Anlehnung an die Grundschulreform wurde in einem weiteren Schritt eine Sekundarschulreform anvisiert, letztlich jedoch in der Legislaturperiode 2009 bis 2013 nicht umgesetzt. Eine regelrechte Reformlawine wurde in Gang gesetzt, sodass die Schulreform auch noch Jahre nach der Promulgation des Primärschulgesetzes Zündstoff für bildungspolitische Diskussionen lieferte. Einer der Hauptaspekte der Reform war es, das Curriculum für alle Schulzweige in Richtung Kompetenzorientierung umzustrukturieren. Die Kompetenzorientierung, die sich seit Ende des 20. Jahrhunderts bzw. Anfang des 21. Jahrhunderts zum Leitgedanken auf dem internationalen Bildungsparkett entwickelte, zielt allgemein darauf ab, den Lernfortschritt von Schülern besser nachvollziehen zu können und transparent zu gestalten. Der Fokus liegt dadurch weniger auf den inhaltsvermittelnden und inhaltsprüfbaren Aspekten des Unterrichts. Stattdessen geht es in erster Linie um das Erreichen von Lernzielen. Diese definieren sich anhand von Kompetenzen, die ein Schüler in der jeweiligen Jahrgangsstufe erwerben soll. Durch den kompetenzorientierten Ansatz sollen die Schüler die Fähigkeit entwickeln, das im Unterricht vermittelte Wissen10 fächerübergreifend und über den Schulkontext hinaus situativ anwenden zu können. Die Anschlussfähigkeit von Wissen und der
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Der Wissensbegriff wird in der vorliegenden Arbeit im Sinne einer curricularen Konstruktion reproduzierbarer Inhalte gedeutet und von ›Kompetenz‹ und damit dem Fokus auf seine Transformation, d.h. einen Inhalt auf andere Gegenstände zu übertragen, unterschieden. ›Wissen‹ und ›Kompetenz‹ werden dabei jedoch nicht als völlig entgegengesetzte Paradigmen verstanden (vgl. zur detaillierten Bestimmung des Kompetenzbegriffes Kap. IV 1.3: 159ff.). Anzumerken ist, dass sich das ›Wissen über etwas‹ in einem stetigen epistemologischen und ontologischen Aushandlungsprozess befindet und historisch kontingent ist (vgl. Popkewitz 2020: 21ff.). Betrachtet man z.B. das ›Kind‹ als benachteiligt, kreativ, lebenslang lernend etc., sind dies prozesshafte Qualifizierungen, die an eine spezifische und historisch bedingte Sichtweise gebunden sind (vgl. ebd.: 37). Das ›Wissen über etwas‹ spiegelt demnach das komplexe Verhältnis von Denkordnung und den Objekten wider, die in dieser Ordnung produziert werden.
I Problemaufriss
Entwicklungsstand des Schülers rücken in den Mittelpunkt des Geschehens. Die neue Schwerpunktsetzung betraf sowohl den Grundschul- als auch Sekundarschulbereich und ist heute fester Bestandteil der Sprachenunterrichtspolitik, die einleitend anhand des Aufbaus des Luxemburger Schulsystems11 im Folgenden dargestellt wird.
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Das Luxemburger Schulsystem. Curriculumentwicklung und aktuelle Sprachenunterrichtspolitik
Die aktuelle Sprachenunterrichtspolitik wurde wesentlich durch die Primärschulreform von 2009 und ihre curricularen Änderungen in der Unterrichtsorganisation mitbestimmt. Bei der Reform gab es vor allem strukturelle Neuerungen, was z.B. den generellen Aufbau der Primärschule betrifft oder die zuvor angeführte Akzentverschiebung in Richtung Kompetenzorientierung. Zudem wird seither der Fokus sprachlicher Bildung verstärkt auf Differenzierung und Flexibilisierung im Sprachenunterricht gelegt, um der heterogenen Schülerschaft gerechter begegnen zu können. Mit Sprachenpolitik innerhalb des Bildungssystems wird demzufolge gleichzeitig auch eine soziale Politik betrieben. Der Erwerb der drei Landessprachen erfolgt heute wie auch schon vor der Reform 2009 weiterhin nach einem kumulativen Prinzip: In der fakultativen und unentgeltlichen Früherziehung (Éducation précoce), die von Kindertagesstätten in dieser Form seit 199812 angeboten wird (vgl. Neumann 2018: 16) und die Kinder in einem Alter von drei Jahren besuchen können, wird primär auf Luxemburgisch unterrichtet. Die Herkunftssprachen der Kinder sollen hierbei berücksichtigt werden, indem darauf Wert gelegt wird, dass es genügend Erzieher gibt, die auch die Erstsprachen der Kinder beherrschen. Herkunftssprachen nicht Luxemburger Kinder sollen vermehrt gefördert und gleichzeitig verstärkt Förderinstrumente für das Erlernen der Landessprachen bereitgestellt werden. Seit der Reform der frühkindlichen Erziehung im Jahr 2017
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Vgl. ebenso Abbildung 5 des Luxemburger Schulsystems in Anhang 3, S. 298f. Die Abbildung stellt den aktuellen Aufbau (Stand Schuljahr 2020/21) des Schulwesens dar. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Éducation précoce damit schon vor 2009 existierte, das frühkindliche Erziehungsangebot und mit ihm weitere pädagogische Strukturen, besonders im nonformalen Bildungsbereich, insgesamt seit 2009 jedoch rapide ausgeweitet wurden (vgl. im Detail Neumann 2018).
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I Problemaufriss
Entwicklungsstand des Schülers rücken in den Mittelpunkt des Geschehens. Die neue Schwerpunktsetzung betraf sowohl den Grundschul- als auch Sekundarschulbereich und ist heute fester Bestandteil der Sprachenunterrichtspolitik, die einleitend anhand des Aufbaus des Luxemburger Schulsystems11 im Folgenden dargestellt wird.
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Das Luxemburger Schulsystem. Curriculumentwicklung und aktuelle Sprachenunterrichtspolitik
Die aktuelle Sprachenunterrichtspolitik wurde wesentlich durch die Primärschulreform von 2009 und ihre curricularen Änderungen in der Unterrichtsorganisation mitbestimmt. Bei der Reform gab es vor allem strukturelle Neuerungen, was z.B. den generellen Aufbau der Primärschule betrifft oder die zuvor angeführte Akzentverschiebung in Richtung Kompetenzorientierung. Zudem wird seither der Fokus sprachlicher Bildung verstärkt auf Differenzierung und Flexibilisierung im Sprachenunterricht gelegt, um der heterogenen Schülerschaft gerechter begegnen zu können. Mit Sprachenpolitik innerhalb des Bildungssystems wird demzufolge gleichzeitig auch eine soziale Politik betrieben. Der Erwerb der drei Landessprachen erfolgt heute wie auch schon vor der Reform 2009 weiterhin nach einem kumulativen Prinzip: In der fakultativen und unentgeltlichen Früherziehung (Éducation précoce), die von Kindertagesstätten in dieser Form seit 199812 angeboten wird (vgl. Neumann 2018: 16) und die Kinder in einem Alter von drei Jahren besuchen können, wird primär auf Luxemburgisch unterrichtet. Die Herkunftssprachen der Kinder sollen hierbei berücksichtigt werden, indem darauf Wert gelegt wird, dass es genügend Erzieher gibt, die auch die Erstsprachen der Kinder beherrschen. Herkunftssprachen nicht Luxemburger Kinder sollen vermehrt gefördert und gleichzeitig verstärkt Förderinstrumente für das Erlernen der Landessprachen bereitgestellt werden. Seit der Reform der frühkindlichen Erziehung im Jahr 2017
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Vgl. ebenso Abbildung 5 des Luxemburger Schulsystems in Anhang 3, S. 298f. Die Abbildung stellt den aktuellen Aufbau (Stand Schuljahr 2020/21) des Schulwesens dar. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Éducation précoce damit schon vor 2009 existierte, das frühkindliche Erziehungsangebot und mit ihm weitere pädagogische Strukturen, besonders im nonformalen Bildungsbereich, insgesamt seit 2009 jedoch rapide ausgeweitet wurden (vgl. im Detail Neumann 2018).
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wird zudem verstärkt auf die mündliche Frühvermittlung des Französischen im Vorschulbereich gesetzt (vgl. Mémorial A617 2017: 3). Hier wird offenkundig, dass bereits im frühkindlichen Erziehungsbereich das Curriculum durch die Sprachenthematik geprägt wird. Erzieher sollen grundsätzlich sprachensensibel auf die Kinder reagieren können, um dadurch Sprachgrenzen zu öffnen. Das Luxemburgische soll hierbei unter Berücksichtigung der Kinder mit Migrationshintergrund vor allem als ›Integrationssprache‹ dienen (vgl. MENJE 2016a: 3). Mit vier Jahren sind Kinder in Luxemburg schulpflichtig und besuchen dann die Grundschule, die École fondamentale. Diese organisiert sich seit der Reform von 2009 in zweijährigen Zyklen. Beginnend mit Zyklus 1 im obligatorischen Vorschulbereich (Éducation préscolaire), fungiert das Luxemburgische weiterhin als Instruktionssprache und wird dann in Zyklus 2 vom Deutschen als Alphabetisierungssprache und dominanter Unterrichtssprache abgelöst. Seit 2017 wird mündliches Französisch ebenfalls ab Zyklus 2 vermittelt; ab Zyklus 3.1 wird dann das Schreiben auf Französisch gelernt.13 Nach der achtjährigen Grundschulzeit am Ende des Zyklus 4.2 werden die Kinder dann in der Regel in einem Alter von zwölf Jahren an die weiterführenden Schulen orientiert, d.h. entweder an den klassischen Sekundarschulbereich (Enseignement secondaire classique), der zugleich den höchsten schulischen Bildungszweig im staatlichen Schulsystem markiert, oder an den eher berufsvorbereitenden Sekundarschulzweig (Enseignement secondaire général)14 , bzw. das dort angegliederte Régime préparatoire15 für leistungsschwächere Schüler (vgl. MENJE 2016b: 20). Nachdem Schüler den klassischen Sekundarschulbereich sieben Jahre besucht haben, erhalten sie mit dem Abschluss des Lycée
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An dieser Stelle sei angemerkt, dass der Französischunterricht zuvor sowohl mündlich als auch schriftlich erst in Zyklus 2.2 eingeführt wurde, ohne dass die Kinder vorher systematisch mit der Sprache in Kontakt kamen. Im Zuge der Sekundarschulreform 2017 wurde der eher berufsvorbereitende Zweig von Enseignement secondaire technique (EST) in Enseignement secondaire général (ESG) umbenannt und in der Zählweise der Klassenstufen (7e-1e) an das Classique angepasst, um Vorurteile abzubauen. Gleichwohl wurden die Bezeichnungen für die Gymnasien Lycée classique und Lycée technique beibehalten. Da sich der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf den Zeitraum vor der rezenten Sekundarschulreform bezieht, wird in Originalzitaten sowie in einer direkten Bezugnahme im Text die vorherige Nomenklatur EST verwendet. Der Unterricht im Régime préparatoire ist modular organisiert, um der individuellen Leistungsfähigkeit der Schülerschaft Rechnung zu tragen und diese entsprechend fördern zu können (vgl. MENJE 2016b: 20).
I Problemaufriss
classique nach der 13. Klassenstufe (1e) die allgemeine Hochschulreife, die sie zum Universitätsstudium befähigt. Im Enseignement secondaire général können unterdessen unterschiedliche Abschlüsse im Bereich der Berufsausbildung, der Formation Professionelle, erworben werben: Neben dem Technikerdiplom (DT), auf das sich die Schüler ab der 10. Klasse (4e) vorbereiten können und das unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls zum Universitätsstudium berechtigt, existieren weitere Berufsabschlüsse, wie das Berufsbefähigungszeugnis (CCP) oder der berufliche Eignungsnachweis (DAP). Das CCP und das DAP werden nach einem abwechselnden Besuch zwischen Schule und Betriebsstätte erteilt. Der Erhalt eines Berufsbefähigungszeugnisses entspricht der deutschen Fachhochschulreife, der berufliche Eignungsnachweis ist dagegen mit der mittleren Reife in Deutschland zu vergleichen (vgl. MENJE 2016b: 24). Allgemein wechselt die Hauptunterrichtssprache im klassischen Sekundarschulzweig sukzessiv vom Deutschen ins Französische. Im allgemeinen Sekundarschulbereich ist traditionell gesehen das Deutsche überwiegend Vehikularsprache, wenngleich je nach Bildungsabschluss und beruflicher Orientierung die Instruktionssprache variiert, in welcher der Unterricht erfolgt. Im Régime préparatoire wird zudem eher auf Deutsch unterrichtet, wie zum Beispiel im Fach Mathematik, das sonst in den übrigen Schulzweigen auf Französisch gelehrt wird. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Bildungswege ist zu beobachten, dass das sprachliche Leistungsniveau der Schüler oft gemeinsam mit dem soziokulturellen Status ausschlaggebend dafür ist, an welchen Schulzweig sie nach der Grundschule orientiert werden. Dies veranschaulichen folgende Zahlen: Betrachtet man die Verteilung der Schüler an die weiterführenden Sekundarschulen nach Nationalität der Schüler, so wird offenkundig, dass etwa die Hälfte der Schüler Luxemburger Herkunft (49 %) in die erste Klasse des Sekundarschulwesens (7e) des prestigeträchtigen Enseignement secondaire classique im Schuljahr 2016/17 und damit dem Untersuchungsbeginn der vorliegenden Studie wechselte, wohingegen etwa nur ein Neuntel (10,9 %) der Schüler mit portugiesischer Herkunft und ungefähr ein Drittel (34,9 %) der Kinder mit einem anderen Migrationshintergrund an das Classique orientiert wurden (vgl. MENJE 2018a: 89). In beinahe umgekehrter Verteilung verhalten sich die Schülerzahlen an den niedrigsten
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Schulzweig, das Régime préparatoire.16 Eine mögliche Begründung für dieses Ungleichgewicht liegt im Sprachhintergrund. Dabei ist vor allem angesichts des Deutschen als Alphabetisierungs- und Hauptunterrichtssprache in der Grundschule zu erwähnen, dass es Kindern, die zu Hause nicht primär deutsch- oder luxemburgischsprachig sind, weniger häufig gelingt, eine Sekundarschulempfehlung für das Lycée classique zu erhalten (vgl. Hadjar et al. 2018: 77). Dementsprechend wird die Beherrschung des Deutschen zum Differenzierungsfaktor im Hinblick auf den weiteren Bildungsweg. Eine beobachtbare Problematik ist hierbei, dass besonders der Anteil der Schülerschaft mit einem romanophonen bzw. lusophonen Sprachhintergrund meist Schwierigkeiten hat, das entsprechende Leistungsniveau im Deutschen zu erreichen. Dies erschwert ihnen nach der Primärschule die Orientierung auf den höheren Sekundarschulzweig, das klassische Gymnasium. Die Krux ist jedoch, dass im klassischen Sekundarschulbereich das Deutsche sukzessiv vom Französischen als Hauptunterrichtssprache abgelöst wird, wohingegen – zumindest vor der Sekundarschulreform 2017 – im allgemeinen Sekundarschulbereich, d.h. dort, wohin eher die Schüler nicht Luxemburger Herkunft orientiert werden, überwiegend auf Deutsch in den nichtsprachlichen Fächern unterrichtet wird. Seit 2017 ist der Sprachenunterricht im allgemeinen Sekundarschulbereich jedoch flexibler geworden; so gibt es die Unterscheidung in Grund- und Leistungskurse sowie vermehrt französischsprachige oder deutschsprachige Intensivklassen und Tracks. Zudem wurde das Angebot an öffentlich internationalen Bildungsabschlüssen vergrößert. Diese internationalen Abschlüsse setzen unterschiedliche sprachliche Schwerpunkte mit anglophonen oder frankophonen Tracks, bei denen jedoch Französisch, Deutsch und Luxemburgisch als Sprachenfächer curricular verankert sind. Der Bildungsbericht von 2018 zeigt vor diesem Hintergrund auf, dass die Anzahl an Schülern, die dem internationalen Curriculum in Luxemburg folgt, in den letzten Jahren gestiegen ist (Schuljahr 2016/17, vgl. Lenz/Heinz 2018: 25). Basierend auf den vorherigen Ausführungen, drängt sich die Frage auf, wie curriculare Vorgaben in Luxemburg grundsätzlich festgelegt werden. Ganz allgemein werden diese sowohl seitens des Bildungsministeriums als auch von Lehrkräften aus dem Schulbetrieb erstellt und sind daher als 16
Lediglich 8,8 Prozent der Luxemburger, aber 28,1 Prozent der portugiesischen und 15,8 Prozent der Schüler mit anderen Nationalitäten wechselten an den niedrigsten Schulzweig (vgl. MENJE 2018a: 89).
I Problemaufriss
Kombination eines Bottom-up-17 und Top-down18 -Prozesses zu verstehen. Im Zuge des Reformprozesses um 2009 wurde der Curriculumbereich sukzessiv professionalisiert. Curriculumentwicklung ist Aufgabe verschiedener Schulpartner wie dem Bildungsministerium (MENJE), seit 2017 auch der Division curriculaire des SCRIPT, das als ministerielle Schaltstelle für Bildungsangelegenheiten fungiert, und jeweiligen Fachorganisationen in den Schulen. Im Detail erfolgt Curriculumentwicklung nach den einzelnen Schulzweigen. Zur Zeit der Primärschulreform 2009 erarbeiteten für die École fondamentale an das Bildungsministerium abgeordnete Lehrpersonen gemäß von oben definierten Vorgaben das noch heute geltende Primärschulcurriculum (Plan d’études). Im Sekundarschulbereich organisieren sich die Lehrer für die Lehrplanausarbeitung und -besprechung in Fachgruppen und halten in regelmäßigen Abständen Fachkonferenzen ab. Diese sogenannten Programmkommissionen (PKs) besprechen für das jeweilige Fach und den jeweiligen Schulzweig ministerielle Curriculumvorgaben und bestimmen den Lehrstoff, wie etwa die Kursivlektüren in den Sprachenfächern, und legen Prüfungsmodalitäten gemäß nationalen Rahmenstandards fest. Die Programmkommissionen sind als beratendes Organ des Bildungsministeriums zu verstehen und daher institutionalisiert. Jedes Lycée des Landes sollte in diesen Fachgruppen mit einer Lehrperson vertreten sein. Demzufolge gibt es je nach Schultyp auch für ein Fach verschiedene PKs, wie im Bereich des Enseignement secondaire classique oder des Enseignement secondaire général. Seit 2018 gibt es zudem auch PKs für den Grundschulbereich, die sogenannten CNEFs, die das Curriculum für größere Fächerfamilien organisieren. Der letzte Schritt der Curriculumentwicklung erfolgt dann in der Schule, indem die einzelnen Fachgruppen für das kommende Schuljahr Arbeitspläne beschließen, in denen z.B. die Stoffverteilung expliziert wird. Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Funktion der Programmkommissionen einmalig und Ausdruck einer besonderen Machtkonstellation. Bei diesem Modellfall der curricularen Planung ist jedoch zu berücksichtigen, dass in der Realität
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Bottom-up kennzeichnet einen von unten nach oben gerichteten Vorgang, d.h. von der Unterrichtsebene mitsamt seinen Akteuren (Lehrer) hin zur staatlichen Curriculumplanung. Top-down bezieht sich auf einen von oben nach unten gerichteten Vorgang, d.h., staatliche bzw. politische Entscheidungen zur Curriculumplanung werden auf die Unterrichtsebene herunterdekliniert.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
nicht immer von einem linearen Top-down- bzw. Bottom-up-Prozess in der Bildungsplanung zu sprechen ist.
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Forschungsziel
Die vorliegende Studie untersucht die Entwicklung des Sprachencurriculums im Luxemburger Schulwesen und analysiert, welche Vorannahmen über Sprachenvielfalt und Sprachenerwerb einerseits und welche erzieherischen Zielvorstellungen andererseits diese Entwicklung prägen. Die Luxemburger Curriculumentwicklung wird im Folgenden als ein kulturhistorisch19 gewachsener Prozess verstanden. Wie sich das mehrsprachige Luxemburger Curriculum im geschichtlichen Verlauf entwickelte und welche Bedeutung dabei den Einzelsprachen zuteilwird, rückt ins Zentrum der Untersuchung. Der Begriff Curriculumentwicklung umfasst zwei Dimensionen: Zum einen nimmt er das Ausgestaltungsverfahren mitsamt den verantwortlichen Bildungsakteuren in den Blick. Es ist dabei von Interesse, welche Diskussionen bezüglich der sprachlichen Unterrichtsorganisation geführt wurden. Zum anderen bezieht sich Curriculumentwicklung auch auf den historischen Entwicklungsprozess, bei dem verschiedene Lehrgegenstände über die Zeit unterschiedlich bewertet werden, neu hinzukommen oder abgeschafft werden. Mit diesem Prozess korrelieren gesellschaftliche Erwartungen und damit auch Wertvorstellungen, die sich im geschichtlichen Verlauf herausbildeten und spezifische Zuschreibungen über die Eigenschaften einer Person festmachen. Vor diesem Hintergrund liegt angesichts der institutionellen Dreisprachigkeit und der extrem heterogenen Gesellschaftszusammensetzung und Sprachensituation in Luxemburg das Kerninteresse in der Frage, wie über die Curriculumentwicklung eine distinkte Vorstellung über die Luxemburger Sprachenidentität konstruiert wird und inwieweit die spezifisch kulturhistorisch geprägten Erfahrungen die Grundlage für bildungspolitische Entscheidungen liefern. Sprachliche Identität und Bildungsplanung sind demnach eng miteinander verknüpft. Um sich von einer essenzialistischen Deutung des Identitätsbegriffes zu distanzieren, wird in der vorliegenden Untersuchung unter
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In der vorliegenden Arbeit bezieht sich der Begriff ›kulturhistorisch‹ auf historisch entstandene kultur- und gesellschaftspolitische Prozesse. Schulbildung und deren Organisation (konkret das Curriculum) nehmen Einfluss auf diese Prozesse, die zeitgleich in einem Wechselverhältnis zur schulischen und außerschulischen Lebenswelt stehen.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
nicht immer von einem linearen Top-down- bzw. Bottom-up-Prozess in der Bildungsplanung zu sprechen ist.
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Forschungsziel
Die vorliegende Studie untersucht die Entwicklung des Sprachencurriculums im Luxemburger Schulwesen und analysiert, welche Vorannahmen über Sprachenvielfalt und Sprachenerwerb einerseits und welche erzieherischen Zielvorstellungen andererseits diese Entwicklung prägen. Die Luxemburger Curriculumentwicklung wird im Folgenden als ein kulturhistorisch19 gewachsener Prozess verstanden. Wie sich das mehrsprachige Luxemburger Curriculum im geschichtlichen Verlauf entwickelte und welche Bedeutung dabei den Einzelsprachen zuteilwird, rückt ins Zentrum der Untersuchung. Der Begriff Curriculumentwicklung umfasst zwei Dimensionen: Zum einen nimmt er das Ausgestaltungsverfahren mitsamt den verantwortlichen Bildungsakteuren in den Blick. Es ist dabei von Interesse, welche Diskussionen bezüglich der sprachlichen Unterrichtsorganisation geführt wurden. Zum anderen bezieht sich Curriculumentwicklung auch auf den historischen Entwicklungsprozess, bei dem verschiedene Lehrgegenstände über die Zeit unterschiedlich bewertet werden, neu hinzukommen oder abgeschafft werden. Mit diesem Prozess korrelieren gesellschaftliche Erwartungen und damit auch Wertvorstellungen, die sich im geschichtlichen Verlauf herausbildeten und spezifische Zuschreibungen über die Eigenschaften einer Person festmachen. Vor diesem Hintergrund liegt angesichts der institutionellen Dreisprachigkeit und der extrem heterogenen Gesellschaftszusammensetzung und Sprachensituation in Luxemburg das Kerninteresse in der Frage, wie über die Curriculumentwicklung eine distinkte Vorstellung über die Luxemburger Sprachenidentität konstruiert wird und inwieweit die spezifisch kulturhistorisch geprägten Erfahrungen die Grundlage für bildungspolitische Entscheidungen liefern. Sprachliche Identität und Bildungsplanung sind demnach eng miteinander verknüpft. Um sich von einer essenzialistischen Deutung des Identitätsbegriffes zu distanzieren, wird in der vorliegenden Untersuchung unter
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In der vorliegenden Arbeit bezieht sich der Begriff ›kulturhistorisch‹ auf historisch entstandene kultur- und gesellschaftspolitische Prozesse. Schulbildung und deren Organisation (konkret das Curriculum) nehmen Einfluss auf diese Prozesse, die zeitgleich in einem Wechselverhältnis zur schulischen und außerschulischen Lebenswelt stehen.
I Problemaufriss
›Identität‹ ein historisch veränderliches Konzept verstanden, das mitunter bildungspolitisch konstruiert ist. ›Identität‹ ist demnach als eine konstruierte Grundlegung individueller und kollektiver Eigenschaften zu verstehen, die sich im schulischen und außerschulischen Bereich niederschlagen und in einem Wechselverhältnis zueinanderstehen. Gleichwohl ist hierbei hervorzuheben, dass auch diese Deutung von Identität konstruiert ist. Der Zusammenschluss von Sprachenidentität und Curriculum wird in dieser Arbeit als ›Curricularisierung‹ ausgewiesen. Curricularisierung bedeutet, dass sich bildungspolitische Aspirationen und damit spezifische Sprachenvorstellungen in das Curriculum einschreiben, diese aber gleichzeitig auch durch die Lehrprogramme bzw. Lehrprogrammatiken hervorgebracht werden. Die Ausarbeitung des Curriculums und Sprachvorstellungen bedingen sich daher gegenseitig und kennzeichnen eine Kokonstruktion kollektiver Identität. In diesem Zusammenhang ist die Curriculumentwicklung – so die These der Arbeit – nicht nur als intendierte, sondern eben auch als nichtintendierte Steuerung schulischer Realitäten zu begreifen; intendiert insofern, dass Bildungsplanung politisch bewusst als Schaltstelle für gesellschaftliche Interventionen genutzt wird, nicht intendiert, weil diese Steuerung gleichzeitig mit unbewussten, d.h. gewohnheitsgemäßen, kulturhistorisch geprägten Erfahrungen korreliert. Die Forschungsthese soll anhand des zeitlichen Untersuchungsschwerpunktes des Luxemburger Reformkontextes 2009 geprüft werden, welches das Fallbeispiel der Arbeit darstellt. Mit »Kontext« ist gemeint, dass nicht ausschließlich das Jahr 2009 für die Studie von Bedeutung ist. Gleichermaßen sind die Vorläufer der Schulreform von 2009 untersuchungsrelevant, die historisch betrachtet werden. So wird aufgezeigt, wie die drei Landessprachen zueinander im historischen Verlauf verhandelt werden und welches Spannungsverhältnis damit in der schulischen Realität einhergeht. Das Augenmerk richtet sich daher ebenso auf die Nachwirkungen, welche die Gesetzesänderung von 2009 auf das Sprachenverständnis hatte, da die Reform den Versuch darstellte, die institutionelle Dreisprachigkeit für den schulischen Kontext neu zu definieren und das Sprachencurriculum für Schüler nicht Luxemburger Herkunft zu öffnen. Der Reformkontext 2009 wird als Umschlagpunkt betrachtet, da mit der Reformierung der Primärschule das beinahe 100 Jahre alte schulische Vorgängergesetz abgelöst wurde. Dieser Prozess stellte den Versuch dar, die bis dato vorherrschenden Vorstellungen hinsichtlich der Verzahnung von Sprache und Identität aufzubrechen. Dies war auch Initialzündung weiterer Reformprojekte, die ohne die Debatten zur Primärschulreform nicht möglich gewesen wären. Grundsätz-
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
liche Diskussionen über Sprachfertigkeit und die Art und Weise, wie über Sprachen in Luxemburg gedacht wird, wurden demensprechend durch die Primärschulreform veranlasst. Der konkrete Ausgangspunkt des Reformkontextes wird in der vorliegenden Arbeit auf das Jahr 2001 festgelegt. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Ergebnisse der ersten PISA-Studie veröffentlicht, bei der Luxemburg im europäischen Vergleich am schlechtesten abschnitt. Das Ende des Untersuchungszeitraums wird ungefähr auf das Jahr 2013 gelegt. ›Ungefähr‹, weil es dort einen politischen Wechsel im Bildungsministerium gab, die Grundgedanken zur Reform jedoch bis heute nachwirken und sich einige Reformbewegungen zeitlich überschneiden, wie die Reform der Berufsausbildung im Jahr 2010 oder die anvisierte Sekundarschulreform 2012. Angesichts dieses Reformkontextes mitsamt seinen Vorläufern und Nachwirkungen zeichnet sich eine Überlagerung politischer und pädagogischer Agenden ab, die sich teilweise widersprechen, wodurch das Curriculum nicht mehr funktional ist. Die Untersuchung dieses Reformkontextes soll exemplarisch die folgenden allgemeineren Leitfragen beantworten: a) Wie wird die Luxemburger Sprachenidentität durch Curriculumentwicklung hervorgebracht und gedacht? b) Inwieweit interferieren die supranationalen Bildungsagenden mit der Ausgestaltung einer Luxemburger Sprachenidentität? c) Mit welchen Argumentationslogiken legitimieren verschiedene schulische Akteure ihre sprachenpolitischen Positionierungen im Rahmen der Curriculumentwicklung? d) Welche Konflikte entstehen dadurch angesichts der unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Schülerschaft? Welche Rolle spielen hierbei (supra-)nationale Bildungsstandards?
Angesichts der forschungsleitenden Fragen erscheint es nur folgerichtig, die kulturgeschichtlichen Implikationen in Bezug auf Sprache in den Blick zu nehmen, die persönliche und kollektive Einstellungen bzw. spezifische Denkweisen beeinflussen. Diese Denkweisen werden terminologisch in Anlehnung an das erkenntnistheoretische Konzept nach Ludwik Fleck (2017) als ›Denkstile‹ bezeichnet. Ein ›Stil‹ gibt eine bestimmte (Denk-)Richtung vor, die sozial gebilligt und institutionell fest verwurzelt ist. ›Denkstile‹ beziehen sich in der vorliegenden Arbeit auf strukturell und institutionell verankerte Einstellun-
I Problemaufriss
gen gegenüber Sprache, die das Denken unweigerlich durchdringen.20 Durch das stilgeleitete – d.h. ›so und nicht anders‹-Denken bilden sich spezifische Argumentationslogiken aus, mit denen z.B. politische Entscheidungen legitimiert werden. Um spezifische Denkstile zu identifizieren, müssen daher Argumentationslogiken untersucht werden. Mit ›Logiken‹ ist an dieser Stelle gemeint, dass ihnen bestimmtes Wissen inhärent ist und diese Logiken in ihrer Realisierung einem generativen Prinzip folgen. Das bedeutet, dass, sobald bestimmte Logiken verinnerlicht wurden, bestimmte strukturelle Merkmale hervorgebracht werden. Curriculumentwicklung und Mehrsprachigkeit werden dementsprechend historisiert, um die symptomatischen und weniger offensichtlichen Denkstile und mit ihnen die bildungspolitischen Argumentationslogiken herauszuarbeiten. In Anbetracht zunehmender heterogener Gesellschaften und einer beruflichen Mobilität haben die Forschungsfragen zudem eine soziale und politische Relevanz, die über das Beispiel Luxemburgs hinausgehen.
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Forschungsstand, Forschungslücke und Forschungsbeitrag
Für den Luxemburger Kontext lassen sich einige Studien zur Mehrsprachigkeit festmachen (vgl. u.a. Gilles 2009; Gilles/Moulin 2009), die vor allem aus sprachhistorischer Sicht die Stellung der Einzelsprachen im schulischen und außerschulischen Bereich untersuchen (vgl. u.a. Redinger 2010; Fehlen 2013; Sieburg 2013; Scheer 2017). Forschungsarbeiten, die sich aus einem historischen Blickwinkel mit dem Zusammenspiel von Schule, Bildungsplanung, d.h. im Detail dem Curriculum, und (sprachlichen) Identitätskonzeptionen beschäftigen, sind dagegen bisher nur in überschaubarer Anzahl vorzufinden. Die Primärschulreform von 2009 fand vor diesem Hintergrund in der Forschung bisher keine Beachtung und wurde unter dem Aspekt von Sprachplanung lediglich schlaglichtartig aus soziolinguistischer Perspektive beleuchtet (vgl. exemplarisch Fehlen 2006, 2007b, 2010). Die vorliegende Studie thematisiert demnach ein Forschungsdesiderat, indem sie das Wechselverhältnis von Mehrsprachigkeit, Identität und Curriculum eines rezenten Zeitraums historisiert. Dabei werden die kulturhistorisch generierten Denkstile in Bezug
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Zur detaillierten Darlegung des Konzeptes zum Denkstil nach Ludwik Fleck vgl. Kap. II.2.2: 58ff.
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I Problemaufriss
gen gegenüber Sprache, die das Denken unweigerlich durchdringen.20 Durch das stilgeleitete – d.h. ›so und nicht anders‹-Denken bilden sich spezifische Argumentationslogiken aus, mit denen z.B. politische Entscheidungen legitimiert werden. Um spezifische Denkstile zu identifizieren, müssen daher Argumentationslogiken untersucht werden. Mit ›Logiken‹ ist an dieser Stelle gemeint, dass ihnen bestimmtes Wissen inhärent ist und diese Logiken in ihrer Realisierung einem generativen Prinzip folgen. Das bedeutet, dass, sobald bestimmte Logiken verinnerlicht wurden, bestimmte strukturelle Merkmale hervorgebracht werden. Curriculumentwicklung und Mehrsprachigkeit werden dementsprechend historisiert, um die symptomatischen und weniger offensichtlichen Denkstile und mit ihnen die bildungspolitischen Argumentationslogiken herauszuarbeiten. In Anbetracht zunehmender heterogener Gesellschaften und einer beruflichen Mobilität haben die Forschungsfragen zudem eine soziale und politische Relevanz, die über das Beispiel Luxemburgs hinausgehen.
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Forschungsstand, Forschungslücke und Forschungsbeitrag
Für den Luxemburger Kontext lassen sich einige Studien zur Mehrsprachigkeit festmachen (vgl. u.a. Gilles 2009; Gilles/Moulin 2009), die vor allem aus sprachhistorischer Sicht die Stellung der Einzelsprachen im schulischen und außerschulischen Bereich untersuchen (vgl. u.a. Redinger 2010; Fehlen 2013; Sieburg 2013; Scheer 2017). Forschungsarbeiten, die sich aus einem historischen Blickwinkel mit dem Zusammenspiel von Schule, Bildungsplanung, d.h. im Detail dem Curriculum, und (sprachlichen) Identitätskonzeptionen beschäftigen, sind dagegen bisher nur in überschaubarer Anzahl vorzufinden. Die Primärschulreform von 2009 fand vor diesem Hintergrund in der Forschung bisher keine Beachtung und wurde unter dem Aspekt von Sprachplanung lediglich schlaglichtartig aus soziolinguistischer Perspektive beleuchtet (vgl. exemplarisch Fehlen 2006, 2007b, 2010). Die vorliegende Studie thematisiert demnach ein Forschungsdesiderat, indem sie das Wechselverhältnis von Mehrsprachigkeit, Identität und Curriculum eines rezenten Zeitraums historisiert. Dabei werden die kulturhistorisch generierten Denkstile in Bezug
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Zur detaillierten Darlegung des Konzeptes zum Denkstil nach Ludwik Fleck vgl. Kap. II.2.2: 58ff.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
auf bildungspolitische Entscheidungen reflektiert und konkrete Ansatzpunkte für die sprachliche Curriculumentwicklung aufgezeigt. Um dies leisten zu können, stützt sich die Arbeit auf einen breiten Curriculumbegriff, der die Relation von Schule/Curriculum und Subjekt- bzw. Kollektivbildung sichtbar macht. Dieses erweiterte Verständnis von Curriculum speist sich aus dem besonders im angloamerikanischen Raum populären Forschungsfeld der Curriculum Studies,21 das das Curriculum seit den 1960er-Jahren verstärkt als Sujet bildungswissenschaftlicher, bildungshistorischer, soziologischer Fragen betrachtet und bewertet. Der Forschungszweig sieht den Curriculumbegriff daher ganzheitlich und berücksichtigt den kulturhistorischen Kontext, in dem das Curriculum entsteht und wirkt. Eine aus dem europäischen Kontext bekannte und vergleichbare Forschungstradition ist kaum vorzufinden. In den 1960er-Jahren gab es in Deutschland vereinzelt Studien, die sich mit den bildungskulturellen Implikationen des Curriculums beschäftigten. Zeitweise ersetzte der Begriff »Curriculum« auch die Bezeichnung des »Lehrplans« (zu den unterschiedlichen kulturellen Deutungshorizonten angesichts der Begriffe Curriculum und Lehrplan und dem Konzept von Bildung vgl. exemplarisch Horlacher 2011). Zu diesem neuen Verständnis von Unterrichtsplanung trugen insbesondere Schriften des deutschen Bildungsforschers Saul Benjamin Robinsohn bei, der mit Veröffentlichungen wie Bildungsreform als Revision des Curriculum (1967) den Begriff »Curriculum« nach Deutschland importierte und damit eine Reflexion des humanistischen Lehrkanons ermöglichte (vgl. Horlacher/De Vincenti 2014: 482). Mit der Idee des Curriculums etablierte sich daher auch verstärkt die Verzahnung von Schule und Gesellschaft (vgl. ebd.). In den 1980ern wurde dieser Forschungszweig jedoch von der Allgemeinen Didaktik wieder verdrängt (vgl. Tröhler 2014: 61; 65 im Einzelnen Anm. 5). Ähnlichkeiten zum angloamerikanischen Curriculumbegriff finden sich dagegen vermehrt in der Bildungsgeschichte der Schweiz, die Daniel Tröhler in Languages of Education. Protestant Legacies, National Identities, and Global Aspirations (2011) auf eine geteilte Bildungstradition zurückführt, die im amerikanischen und schweizerischen Calvinismus22 wurzelt. Aufgrund der jungen
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Für einen Überblick eignet sich exemplarisch der Curriculum Studies Reader von Flinders/Thornton (2013). Zum Verhältnis von C alvinismus und der Deutung des C urriculumbegriffes vgl. S. 42, Anm. 5 der vorliegenden Arbeit.
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Universitätsgeschichte ereignete sich in Luxemburg eine Auseinandersetzung mit den Ideengütern ›Curriculum‹ und ›Didaktik‹ dagegen nicht. Im angelsächsischen Forschungsbereich prägten u.a. David Hamilton, Herbert Kliebard, William Pinar und Thomas Popkewitz die Interpretation von Curriculumarbeit (vgl. exemplarisch die Monografien von Pinar 1975; Kliebard 2004; Popkewitz 2008; Hamilton 2009). Ihren Forschungsarbeiten ist gemein, dass sie methodologisch die Entstehung des Curriculums historisieren. Einen Überblick über die Entstehungs- und Wirkmechanismen im angloamerikanischen Raum gibt die Monografie Understanding Curriculum: An Introduction to the Study of Historical and Contemporary Curriculum Discourses (Pinar et al. 2008). Die Autoren behandeln verschiedene Diskurse, die ihren Niederschlag im Curriculum seit den 1970er-Jahren finden. So gesehen wohnen der gegenwärtigen Deutung von Curriculum in der Forschung vermehrt ›symbolische Repräsentationen‹ inne, d.h. institutional and discursive practices, structures, images and experiences that can be identified and analyzed in various ways, i.e. politically, racially, autobiographically, phenomenologically, theologically, internationally, and in terms of gender and deconstruction. (Ebd.: 16) Dieses Verständnis von Curriculum setzt voraus, dass stets kulturgeschichtlich überlieferte Vorstellungen über Identitätskonzeptionen in der Curriculumplanung mitzudenken sind und in den Blick genommen werden muss, welche Akteure an der Planung beteiligt sind. Das Curriculum dient nicht nur zur didaktisch-methodischen Organisation des Unterrichts, sondern ist ebenso universeller Ausdruck eines »social engineering« (Popkewitz 2011: 164), d.h. einer schulischen Planungsgrundlage, um Gesellschaftsmitglieder zu formen. In Cosmopolitanism and the Age of School Reform: Science, Education, and Making Society by Making the Child (2008) untersucht Thomas Popkewitz am Beispiel des aufklärerischen Ideals des Kosmopolitismus, wie über Schule und curriculare Strategien ein idealer Staatsbürger23 konstruiert wird. Dabei ar23
Anstelle der Kategorie »Staatsbürger«, die besonders während des 19. Jahrhunderts und den damit verbundenen Nationsbildungsprozessen entstand, werden für den zentralen Untersuchungsteil (Kap. IV) die neutraleren Begriffe »Gesellschaftsmitglied« oder »Gesellschaftsangehöriger« gewählt. Diese terminologische Unterscheidung wird mit Blick auf die heterogene Schülerpopulation in Luxemburg getroffen. Zu Beginn des Untersuchungsschwerpunktes waren im Schuljahr 2001/02 35,6 Prozent der Schüler nicht Luxemburger (vgl. MENFP 2003: 19). Die Gesamtzahl der Schüler betrug zu diesem Zeitpunkt 75.099 im öffentlichen und privatsubventionierten Bil-
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beitet er heraus, dass die curricularen Bedingungen nicht für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen funktionieren und daher auch als Exklusionsmechanismen wirken. Kosmopolitismus stellt nach Popkewitz den Inbegriff menschlicher Vernunft und Handlungsfähigkeit dar. Schule und Curriculum avancieren zur Heilsbotschaft einer unbekannten Zukunft, die durch den Menschen selbst steuerbar ist. Der Mensch wird nach Popkewitz auch nicht als Staatsbürger geboren, sondern durch Bildung dazu gemacht (2018: 80). Von tragender Bedeutung ist hierbei, dass Schulfächer wie Mathematik, moderne Sprachen usw. auf soziale Interessen reagieren und gleichzeitig Idealvorstellungen aufzeigen, über welche Eigenschaften ein künftiges Gesellschaftsmitglied verfügen soll (Popkewitz 2004). An diesem Leitgedanken orientierten sich zwei Forschungsprojekte der historischen Bildungsforschung, die sich an der Universität Luxemburg ansiedelten. Zum einen Schooling as Institutional Heritage in Cultural Settings (SIHICS), das von 2010 bis 2013 durchgeführt wurde, und zum anderen Educating the Future Citizens: Curriculum and the Formation of Multilingual Societies in Luxembourg and Switzerland (EFC-LS) aus dem Projektzeitraum 2013 bis 2016. Beide Projekte haben den Ausgangspunkt, dass der Entstehung des modernen Schulwesens kulturelle Idiosynkrasien zugrunde liegen und
dungsbereich. In der Stichprobe wurde die Schülerzahl der Éducation préscolaire, Éducation primaire, Enseignement spécial, Enseignement secondaire, Enseignement technique und Éducation différenciée berücksichtigt (vgl. ebd.: 16). Im Schuljahr 2009/10 und damit im ersten Jahr, in dem die Primärschulreform in Kraft trat, waren 41,4 Prozent der Schüler nicht Luxemburger, gemessen an einer Gesamtschülerzahl von 84.992 (vgl. MENFP 2011b: 15). Gemäß den strukturellen Reformierungen wurde in dem Sample der gesamte Grundschulbereich (Zyklus 1-4) berücksichtigt und so auch die Éducation précoce (Zyklus 1) hinzugezählt (vgl. ebd.: 13). Als die vorliegende Studie aufgenommen wurde, besuchten im Schuljahr 2016/17 42,5 Prozent an Schülern ohne Luxemburger Nationalität das Schulwesen (88.484 Gesamtzahl an Schülern) (vgl. MENJE 2018a: 17). Da sich der prozentuale Anteil an Schülern mit Luxemburger Nationalität und nicht Luxemburger Nationalität jeweils in Richtung der Hälfte der Gesamtzahl bewegt, reicht die Kategorie »Staatsbürger« nicht mehr aus. Darüber hinaus empfiehlt sich »Nationalität« und mit ihr die Kategorie »Staatsbürgerschaft« nicht mehr alleinig als reliabler Indikator, da auch Schüler, die neben der Luxemburger noch eine andere Nationalität besitzen, nur als Luxemburger gezählt werden. Dies erklärt auch den minimalen, aber dennoch nennenswerten Anstieg Luxemburger Schüler in der Luxemburger Grundschule, die im Schuljahr 2020/21 56,2 Prozent der Schülerpopulation ausmachten (107.106 Gesamtzahl an Schülern im Bildungssystem) (vgl. MENJE/SCRIPT 2021).
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diese gleichzeitig durch das Schulwesen selbst hervorgebracht werden.24 Anschließende Publikationen aus den Projekten, wie der Sammelband Die Schule der Nation. Bildungsgeschichte und Identität in Luxemburg (Gardin/Lenz 2018), parallelisieren die Entwicklung des Luxemburger Bildungswesens mit der Formierung des modernen Nationalstaates. Bei dem Projekt SIHICS stand in erster Linie die Frage im Vordergrund, inwieweit die globale Schulpolitik auf die nationale Schulorganisation einwirkte und wie mit diesem bildungspolitischen Druck von außen u.a. mit Blick auf Reformbestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg, auf nationaler Ebene umgegangen wurde. EFC-LS beschäftigte sich dagegen verstärkt mit den curricularen Strategien der staatsbürgerlichen (Aus-)Bildung in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel von Luxemburg und ausgewählten Kantonen der Schweiz. Mit Blick auf Staatsbürgerschaftskonstruktionen arbeitete Catherina Schreiber (2015) in ihrer Dissertation exemplarisch für Luxemburg Lehrplanmechanismen heraus, die Aufschluss über verschiedene Staatsbürgertypen geben. In ihrer Untersuchung konzentriert sich Schreiber auf die Zeiträume 1878 bis 1896, 1916 bis 1930 sowie 1960 bis 1974, für die sie, unter Einbeziehung unterschiedlicher curricularer Quellen wie Lehrplänen, Zeitungsartikeln oder Beiträgen aus der Lehrerpresse, kulturell normierte Zuschreibungen in Bezug auf die Luxemburger Staatsbürgerschaft aufzeigt. Ein zentraler Befund dieser Studie sind die curricularen Variationen, die die Autorin z.B. anhand von Aufgabenstellungen in Lehrwerken feststellt, die sich u.a. nach Geschlecht, Stadt-Land-Gefälle etc. unterscheiden können und sich somit an unterschiedliche Staatsbürgertypen richten und diese gleichzeitig konstruieren. Dem Konzept von Staatsbürgerschaft ist auch hier eine integrative und zugleich exkludierende Dimension inhärent, die wiederum ihren Niederschlag im Curriculum findet (vgl. zur sozialen Inklusion und Exklusion im Bildungsbereich ebenso Osberg/Biesta 2010). Weitere Forschungsarbeiten, die sich gleichermaßen mit den Modi Operandi der Bildungsplanung und Identitätszuschreibungen in Luxemburg beschäftigen, sind u.a. Lenz et al. (2013); Tröhler (2016); Schreiber et al. (2014); Schoentgen (2010). Richtet man das Augenmerk verstärkt auf die Planungsebene über den Luxemburger
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In diesem Zusammenhang sind Standardisierungsprozesse in der Bildungsplanung, die sich insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildeten, auch nicht als absolute Homogenisierung nationaler Bildungspolitiken zu verstehen, da kulturhistorisch geprägte Leitlinien beim Planungsprozess nicht ausgeklammert werden können (vgl. Tröhler 2013; Rohstock/Lenz 2012; 2018).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Kontext hinaus, so ist insbesondere die historische Untersuchung von Regula Bürgi (2017) anzuführen. Die Autorin analysiert in ihrer Studie mit der durch Bruno Latour geprägten Akteur-Netzwerk-Theorie die seit den 1960er-Jahren zunehmenden Akteurverschiebungen in Richtung einer supranationalen Interessenvertretung in der Bildungsplanung. Bürgi konzentriert sich hierbei allgemein auf die Wirkungsmacht der OECD in der Bildungsplanung. Bezüglich der Vormachtstellung der OECD in der Bildungsentwicklung zeigt sich mit Blick auf Luxemburg, dass die Debatte um Chancengleichheit und Leistungsorientierung im Schulunterricht besonders seit den ernüchternden PISA-Ergebnissen um die Jahrtausendwende verstärkt Auftrieb gewinnt. Dass Bildungserfolg und Sprachenkenntnisse in Luxemburg korrelieren, wird in den Analysen der nationalen Bildungsberichte von 2015 und 2018 anhand einer statistischen Datengrundlage aufgezeigt (vgl. MENJE et al. 2015; LUCET/SCRIPT 2018). Des Weiteren sei angesichts des Zusammenwirkens von Schulkarriere und Sprachhintergrund aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive auf den hohen Stratifikationsgrad des Luxemburger Schulwesens verwiesen. Vor dem Hintergrund des Übergangs von Primär- auf Sekundarschule beschäftigen sich u.a. Glock et al. (2013), Klapproth et al. (2013) mit den askriptiven Merkmalen, wie Sprachhintergrund und sozioökonomischem Status, die Einfluss auf die Schullaufbahnempfehlung nehmen und das Entscheidungsverhalten der Lehrpersonen beeinflussen können (vgl. KrolakSchwerdt et al. 2015; Hörstermann et al. 2018). Besonders problematisch ist dies vor allem, weil das stratifizierte Luxemburger Schulsystem wenig permeabel und immobil zwischen dem akademischen ESC und technischen EST ist (Backes 2018). Da sich die vorliegende Arbeit zuvörderst auf die sprachliche Identitätskonstruktion konzentriert, sind in Bezug auf Bildungsungleichheiten wissenschaftliche Studien wegweisend, die das Verhältnis von Sprachfertigkeit und Bildungsungleichheiten behandeln. Dieses Verhältnis bringt Barbara Rothmüller in ihrer Studie treffend mit der These auf den Punkt, dass soziale Probleme in Luxemburg in erster Linie ›lingualisiert‹ werden (2017: 359). Anhand ausgewählter Reformprojekte und den damit korrelierenden Reformthemen zur Gesamtschule, Sexualpädagogik und Sprachenpolitik in den 1970er- und 1980er-Jahren zeigt sie in einer diskursanalytischen Auswertung historischer Quellen und Experteninterviews, inwieweit sich Migration, Sprachen und Bildungsungleichheiten seit den 1970ern zum wesentlichen Problem- und Themenkomplex in der Luxemburger Bildungspolitik und zum zentralen Rechtfertigungsmuster für Reformprojekte entwickelte.
I Problemaufriss
In Anbetracht des Forschungsstandes ist festzustellen, dass sich die historischen Forschungsaktivitäten zum Luxemburger Bildungskontext hauptsächlich auf einen Forschungszeitraum seit der ersten Primärschulgesetzgebung 1843 bis zu den Internationalisierungstendenzen der 1970er-Jahre konzentrierten. Welchen Einfluss die ›empirische Wende der Pädagogik‹, also die verstärkte Orientierung an den Ergebnissen von Längsschnittstudien, und die supranationale Bildungsentwicklung auf das traditionelle Curriculum haben und welche Idealvorstellungen dadurch unter Einbeziehung der Luxemburger Dreisprachigkeit vermittelt werden, ist weitgehend unerforscht. Gleiches gilt für die Frage, wie die drei Landessprachen curricular zusammenwirken und welchen Einfluss dies auf die sprachliche Identitätskonstruktion und die mit ihr verbundenen ›Denkstile‹ hat. Der Umgang mit Mehrsprachigkeit im Luxemburger Schulwesen ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als Fallstudie zu betrachten, die für den internationalen Kontext unter Berücksichtigung anwachsender Globalisierungsprozesse und Migrationsbewegungen aufschlussreich sein kann. Aus der heutigen Perspektive ist Luxemburg ein absoluter Spezialfall, weil es in Mittel- bzw. Westeuropa das einzige Territorium ist, indem es eine offizielle Dreisprachigkeit gibt, die nicht territorial unterteilt ist, wie z.B. in der Schweiz oder in Belgien. Dagegen war die Gleichzeitigkeit mehrerer Sprachen bis zum späten 18. Jahrhundert noch in vielen Gebieten die alltägliche Sprachenrealität, man denke etwa an ostmitteleuropäische Gesellschaften (vgl. Bömelburg/Daiber 2020). Die Entwicklung Luxemburgs ist dagegen einmalig, weil diese flächendeckende Dreisprachigkeit bis heute erhalten ist und ein völlig einzigartiges Bildungssystem erzeugt. Wie unter einem Brennglas eröffnet das traditionell mehrsprachige Luxemburger Schulsystem exemplarisch, wie angesichts einer extrem heterogenen Schülerpopulation verstärkt auf Sprachunterschiede eingegangen werden kann und wie dies z.T. im Widerspruch mit kulturhistorisch geprägten Erfahrungen und Sprachidealen steht.
5
Lesehinweis
Um den Reformkontext von 2009 zu historisieren und die Forschungslücke zu schließen, gliedert sich die Arbeit nachfolgend in vier aufeinander aufbauende Teile: II. Methodische und methodologische Anlage, III. Historischer Hintergrund, IV. Analyse zu den curricularen Neuordnungen 2009
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I Problemaufriss
In Anbetracht des Forschungsstandes ist festzustellen, dass sich die historischen Forschungsaktivitäten zum Luxemburger Bildungskontext hauptsächlich auf einen Forschungszeitraum seit der ersten Primärschulgesetzgebung 1843 bis zu den Internationalisierungstendenzen der 1970er-Jahre konzentrierten. Welchen Einfluss die ›empirische Wende der Pädagogik‹, also die verstärkte Orientierung an den Ergebnissen von Längsschnittstudien, und die supranationale Bildungsentwicklung auf das traditionelle Curriculum haben und welche Idealvorstellungen dadurch unter Einbeziehung der Luxemburger Dreisprachigkeit vermittelt werden, ist weitgehend unerforscht. Gleiches gilt für die Frage, wie die drei Landessprachen curricular zusammenwirken und welchen Einfluss dies auf die sprachliche Identitätskonstruktion und die mit ihr verbundenen ›Denkstile‹ hat. Der Umgang mit Mehrsprachigkeit im Luxemburger Schulwesen ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als Fallstudie zu betrachten, die für den internationalen Kontext unter Berücksichtigung anwachsender Globalisierungsprozesse und Migrationsbewegungen aufschlussreich sein kann. Aus der heutigen Perspektive ist Luxemburg ein absoluter Spezialfall, weil es in Mittel- bzw. Westeuropa das einzige Territorium ist, indem es eine offizielle Dreisprachigkeit gibt, die nicht territorial unterteilt ist, wie z.B. in der Schweiz oder in Belgien. Dagegen war die Gleichzeitigkeit mehrerer Sprachen bis zum späten 18. Jahrhundert noch in vielen Gebieten die alltägliche Sprachenrealität, man denke etwa an ostmitteleuropäische Gesellschaften (vgl. Bömelburg/Daiber 2020). Die Entwicklung Luxemburgs ist dagegen einmalig, weil diese flächendeckende Dreisprachigkeit bis heute erhalten ist und ein völlig einzigartiges Bildungssystem erzeugt. Wie unter einem Brennglas eröffnet das traditionell mehrsprachige Luxemburger Schulsystem exemplarisch, wie angesichts einer extrem heterogenen Schülerpopulation verstärkt auf Sprachunterschiede eingegangen werden kann und wie dies z.T. im Widerspruch mit kulturhistorisch geprägten Erfahrungen und Sprachidealen steht.
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Lesehinweis
Um den Reformkontext von 2009 zu historisieren und die Forschungslücke zu schließen, gliedert sich die Arbeit nachfolgend in vier aufeinander aufbauende Teile: II. Methodische und methodologische Anlage, III. Historischer Hintergrund, IV. Analyse zu den curricularen Neuordnungen 2009
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
während des schwerpunktmäßig untersuchten Reformkontextes, V. Schlussbetrachtung und Ausblick. Kapitel II widmet sich der methodischen Herangehensweise und wird diese vertiefend darlegen. Dazu wird das theoretische Rahmenkonzept mit Blick auf den Curriculumbegriff und seiner Verwendung angesichts des Luxemburger Untersuchungsschwerpunktes erläutert. Ebenso wird die theoretische Grundlage für die sprachliche Denkstilanalyse ausgeführt und anschließend das Forschungsdesign erläutert. Um einen holistischen Blick auf den Untersuchungszeitraum zu gewähren und die Forschungsfragen zu beantworten, basiert die Materialsammlung u.a. auf Debatten der Luxemburger Abgeordnetenkammer (Chambre des Députés), gesetzlichen Dokumenten, Zeitungsartikeln des Luxemburger Wortes und des Tageblattes und curricularen Rahmendokumenten zur Zeit der Reform. Nach welchen Maßstäben die Auswahl und Auswertung der Quellen erfolgte, wird an dieser Stelle expliziert. Im Anschluss wird der empirische Teil der Arbeit ausgeführt. Um Positionierungen zur Sprachenunterrichtspolitik und der ihr unterliegenden Denkstile zu identifizieren, verarbeitete die Verfasserin für die vorliegende Untersuchung 15 leitfadengestützte Interviews mit zentralen Akteuren der Reform und weiteren Beteiligten, die an der curricularen Diskussion partizipierten und unter den reformierten Vorgaben arbeiteten. Die Forschungskonzeption der vorliegenden Arbeit gliedert sich anschließend in zwei Untersuchungskomplexe. Zunächst wird auf der Grundlage von Forschungsarbeiten und der historiografischen Aufarbeitung von Quellen ein kursorischer Überblick der Luxemburger Schulgeschichte (III.) gegeben, um ein spezifisches Verständnis in Bezug auf Sprachfertigkeit und Identitätskonstruktion herauszuarbeiten. Hierbei wird besonders die Rolle verschiedener Bildungsakteure untersucht. Vor dem Hintergrund der historischen Einbettung wird der Reformprozess 2009 anschließend qualitativ erforscht (IV.). In diesem zentralen Analysekapitel werden die Ergebnisse, die auf unterschiedlichen Zugangswegen gewonnen wurden (Experteninterviews und Quellen), gemeinsam dar- und gegenübergestellt. Bezüglich des Aufbaus der Abschnitte II bis IV ist anzumerken, dass diese sich strukturell ähneln und stets mit einer Kapiteleinführung beginnen, die die anschließende Vorgehensweise genau erläutert. In den Untersuchungskomplexen III und IV wird zudem jeweils ein Zwischenfazit gezogen, das im Fazit V zusammengetragen wird. In Abschnitt V werden zuletzt die forschungsleitenden Fragen beantwortet und die sich aus der Arbeit ergebenen Entwicklungsmöglichkeiten in der Curriculumplanung ausblickartig dargestellt.
II Zugang Methodologische und methodische Anlage. Curriculum, Unterricht und die Normierung von Sprechern Curriculum, it has been argued, is not developed in a vacuum. Haye 1982: 19
In diesem Kapitel wird die methodologische und methodische Rahmung der vorliegenden Arbeit adressiert und damit die theoretischen und konzeptionellen Vorstellungen, die sich aus einer kulturhistorischen Perspektive mit Blick auf den Curriculumbegriff ergeben. Mit Lehr- und Lernprozessen sind in der internationalen Curriculumforschung verschiedene inhaltliche Überlegungen verbunden, die für die definitorische Bestimmung der hier verwendeten Curriculumtheorie maßgeblich sind. Geht die Bezeichnung etymologisch auf das lateinische currere zurück und heißt so viel wie ›(Zeit-)Ablauf‹ oder auch ›Rennstrecke‹1 (vgl. exemplarisch Baker 2009: xiv), ist übertragen auf den Unterricht ganz allgemein der aufeinanderfolgende Lehr- und Lernverlauf gemeint. In der englischen Deutung des Begriffes tritt zudem eine semantische Unterscheidung hervor, weshalb »es möglich [ist], von einer Ordnung im Sinne einer Struktur zu reden (z.B. soziale Ordnung), aber auch im Sinne einer Abfolge (einer natürlichen Ordnung der Unterweisung)«
1
Hier zeigt sich die semantische Mehrdeutigkeit des Begriffes: »currere referring initially to a race track or course [which, significantly, one is to understand as circular]« (Baker 2009). Übertragen auf den Unterricht bedeutet dies, dass die aufeinander aufbauenden Unterrichtsinhalte am Ende einer Unterrichtssequenz, -reihe, Jahrgangsstufe etc. in sich abgeschlossene bzw. abgerundete Einheiten bilden sollen, durch die ebenso der Lernprogress der Schüler abbildbar wird.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
(Hamilton 1995: 85). In diesem Zusammenhang sind die folgenden Leitfragen zentral: •
• •
Welche terminologischen und konzeptionellen Unterscheidungen ergeben sich in Hinblick auf den Curriculumbegriff und wie sind diese in ihren spezifischen Entstehungskontext eingebunden? Wie schreiben sich kulturelle bzw. soziale Differenzierungen in den Unterrichtskanon ein? Wie werden dadurch bestimmte Vorstellungen eines Schülers und damit Gesellschaftsmitgliedes antizipiert?
Um diese Fragen zu beantworten, wird zunächst die in erster Linie aus dem angloamerikanischen Kontext stammende Idee von ›Curriculum‹2 vor ihrem historischen Hintergrund erörtert (1.1). Da die Grundidee der vorliegenden Studie darin besteht, den Begriff des Curriculums, wie er vor allem in der amerikanischen Bildungsforschung – im Speziellen den Curriculum Studies – ausgebildet worden ist, auf den mehrsprachigen Luxemburger Kontext anzuwenden, wird ›Curriculum‹ gegenüber einer zuvörderst europäischen Vorstellung von ›Didaktik‹ abgegrenzt. Auf dieser Grundlage werden in einem zweiten Schritt der Begriff ›Curriculum‹ unter Einbeziehung der angloamerikanischen Curriculumforschung präzisiert und definitorische Variationen ausgeleuchtet (1.2). Diese konzeptionellen Überlegungen werden anschließend in Kapitel II.2 zusammengeführt und mit Blick auf die methodologische Rahmung der Arbeit konkretisiert. Wie das eingangs angeführte Zitat aufzeigt, entsteht Curriculumentwicklung schließlich nicht im luftleeren Raum und so wird ergründet, wie spezifische Vorstellungen darüber, was Bildung leisten soll, hervortreten und wie sich diese Ideen ins Curriculum einschreiben. Wie dadurch neben Idealvorstellungen über einen Lernenden auch gleichzeitig kulturelle und
2
Da hierbei die konzeptionellen Implikationen des Curriculumbegriffes (ebenso wie bei ›Didaktik‹) gemeint sind, wird der Begriff in diesem Kapitel entsprechend in Anführungszeichen gesetzt, um sich von den konkret inhaltlich-fachlichen und praxisorientierten Gehalten abzugrenzen. Es sei hier ebenso auf die Unterscheidung zwischen Curriculum und Curricula verwiesen. Beziehen sich Curricula auf konkrete Fachinhalte und sind somit disziplinär verankert, vereint das Curriculum auch fächerübergreifende und über den Unterricht hinauswirkende Lernziele. Zur historischen Entwicklung dieser Unterscheidung vgl. Hamilton (1995: 87f.).
II Zugang
soziale Differenzierungen sichtbar werden, ist zentraler Bestandteil des anschließenden Teilkapitels (2.1). Rekurrierend auf erkenntnistheoretische Positionen, wird im darauffolgenden Kapitel (2.2) das methodologische Instrumentarium mit Blick auf die Untersuchung der Luxemburger Primärschulreform 2009 dargelegt. Dabei wird diskutiert, wie die Curriculumentwicklung kulturhistorisch in Luxemburg ›denkbar‹ wird. Im Lichte dieser methodologischen Überlegungen werden anschließend die Quellen und die empirische Materialbasis der vorliegenden Arbeit vorgestellt (3.1 und 2) und die methodische Herangehensweise sowie das Auswertungsverfahren erläutert.
1 1.1
Theoretische und konzeptionelle Verortung des Curriculumbegriffes ›Curriculum‹ als Konzept
Im transnationalen erziehungswissenschaftlichen Dialog werden der Unterrichtsgestaltung und den mit ihr verbundenen Vorstellungen von Lehren und Lernen unterschiedliche historisch und kulturell gewachsene Traditionen vorangestellt. Diese beziehen sich einerseits auf ein primär angloamerikanisches Verständnis von ›Curriculum‹ und andererseits auf eine nordeuropäische, zuvörderst deutsch geprägte Idee von ›Bildung‹ und ›Didaktik‹. Auf dem akademischen Terrain entwickelten sich aus diesen Gedankengebäuden ebenso verschiedene Forschungszweige: die seit den 1920er- und 1930er-Jahren verbreitete Curriculumtheorie in den USA und der europäischen, besonders aber deutschen Fokussierung auf Allgemeine Didaktik bzw. Fachdidaktik3 (vgl. Tröhler 2016: 23), die sich Mitte des 19. Jahrhunderts als wissenschaftliche Disziplin konsolidierte (vgl. Hopmann 2015: 15). Auch wenn beide Traditionen geringen Einfluss aufeinander ausübten (vgl. ebd.), ist herauszustellen, dass es weder eine einheitliche Didaktiktradition für den gesamteuropäischen Kontext gibt (vgl. Autio 2006: 1) noch eine trennscharfe Unterscheidung
3
Die deutsche Vorstellung von ›Didaktik‹ wurzelt in Comenius’ Schrift Didactica Magna (1633-1638) (vgl. Doyle 2017: 220). Konzentriert sich die Allgemeine Didaktik auf den ›formgebenden‹ Charakter von Bildung (vgl. hierzu im Folgenden S. 46ff. dieses Kap.), beschäftigt sich die Fachdidaktik insbesondere im gymnasialen Bereich mit der Vermittlung festgeschriebener disziplinärer Fachinhalte (vgl. Doyle 2017: 220).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
für beide Ideengüter und der damit verbundenen Überlegungen zu ›Education‹ und ›Bildung‹ existiert (vgl. Autio 2014: 17f.).4 ›Curriculum‹ und ›Didaktik‹ sind eher als »zwei Seiten einer Medaille« (Westbury 1995) oder als »zwei sehr ungleiche Geschwister unterschiedlicher kultureller Wertesysteme« (Tröhler 2016: 27) zu betrachten, obgleich es doch bei beiden im Wesentlichen um die Festlegung und Vermittlung von Lerninhalten geht. Hieraus lassen sich gleichzeitig verschiedene Benennungen mit Blick auf die Unterrichtsplanung ableiten. So umfasst der ›Lehrplan‹ bzw. die ›Lehrplanung‹ nur teilweise das, was mit der angloamerikanischen Idee des ›Curriculums‹5 4
5
Desgleichen ist darauf hinzuweisen, dass es auch hier mehrere Konzepte von ›Bildung‹ oder dem Zusammenschluss von ›Bildung‹ und Erziehung gibt, die ideengeschichtlich ebenso auf ältere Traditionen blicken, wie etwa die der griechischen Antike (vgl. Hopmann 2015: 15; vgl. hierzu ebenso S. 48, Anm. 12 der vorliegenden Arbeit). Die nachfolgenden Ausführungen zu ›Curriculum‹ und ›Didaktik‹ dürfen demnach nicht als Pars-pro-toto-Prinzip missdeutet werden. Vor diesem Hintergrund sei auf den Einfluss des reformierten Calvinismus im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert, in der die Vorstellung von ›Curriculum‹ und Klassenorganisation wurzelt, nur am Rande verwiesen, da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Die Bezeichnung ›Curriculum‹ ist in Calvins Schriften zwar nicht im erziehungswissenschaftlichen Sinne gebräuchlich, doch bezieht sich Cursus auf die Prädestinationslehre Calvins und das damit verknüpfte, göttlich vorbestimmte Schicksal des menschlichen Lebensverlaufes und dem Bedürfnis nach einer geordneten sozialen Organisation (vgl. Hamilton 2009: 13). Darin wurzelt ebenso die Idee, eine geregelte Form der Unterweisung und dementsprechend soziale Kontrolle durch die Einteilung in Schulklassen herbeizuführen (vgl. ebd.: 14). Zentrale Schauplätze für die Implementierung calvinistischer Leitlinien im Erziehungswesen waren insbesondere die Universitäten Leiden und Glasgow, die vor allem protestantische Lehrer ausbildeten (vgl. ebd.: 10f.). Die von Calvin begründete Genfer Akademie und ihre geistigen Vertreter, wie etwa Andrew Melville, der im späten 16. Jahrhundert Direktor der Universität St. Andrews in Glasgow wurde, folgte in seiner Führungsposition den z.T. sehr strengen organisationalen Leitlinien Calvins und interpretierte diese für den schulischen Kontext. So waren Lehrbefugte in der Ausübung ihrer Tätigkeit zumeist an ein Fach gebunden und Studenten wurden anhand ihres Lernfortschritts gemessen und entsprechend am Ende des Studienjahres befördert (vgl. ebd.: 14). Im Gegenzug zertifizierte die Universität diesen Lernprogress. Der Begriff ›Curriculum‹ trat dann erstmals erziehungswissenschaftlich in Erscheinung: »[T]hese proposals not only meant that teaching was to follow a ›rigid plan‹, but also that the ›whole life‹ of each student was to be rendered open to teacher supervision« (ebd.). Das Curriculum dient folglich zur Sequenzierung und Disziplinierung des Lebensverlaufes über den schulischen Kontext hinaus. Zum calvinistischen Einfluss auf die Vorstellung einer urbanisierten Gemeinschaft vgl. Tröhler (2011).
II Zugang
gemeint ist, bei der die enge Verbindung zwischen Lehrplanung, inklusive Lehrbüchern, Lernzielen und den daraus hervortretenden gesellschaftlichen Erwartungen betont wird (vgl. Horlacher/De Vincenti 2014: 476). Lehrpläne beziehen sich zumeist auf ein Fach oder verwandte Fächerkombinationen. Obschon diese Zuweisungen nicht immer eindeutig gebraucht werden, können auch die Grenzen je nach Anwendungskontext verwischen. Auch in Luxemburg fristet die Bezeichnung ›Curriculum‹ eher ein Randdasein. ›Lehrplan‹ oder ›Programm‹6 stellen die geläufigeren Bezeichnungen dar, wobei der ›Rahmenlehrplan‹ bzw. ›Cadre curriculaire‹ den zu erwartenden Lernhorizont übergreifend beschreibt und am ehesten dem angloamerikanischen Verständnis in der Curriculumtheorie nahekommt. Gründe für die verschiedenen Benennungen, also ›Programm‹, ›Lehrplan‹ oder ›Curriculum‹, sind in erster Linie kulturgeschichtlich in den beiden (Forschungs-)Traditionen der Curriculumtheorie und Didaktik zu verorten. So liegen beiden erziehungswissenschaftlichen Modellen spezifische nationale und kulturelle Eigentümlichkeiten zugrunde, wodurch eine international vergleichende Diskussion bis heute z.T. erschwert wird (vgl. Tröhler 2016: 23). Ein erziehungswissenschaftlicher Verständigungsprozess fand vorrangig zwischen US-amerikanischen Curriculumforschern und deutschen Didaktikern in den späten 1990ern statt (vgl. Doyle 2017: 219). In Luxemburg ereignete sich eine vergleichbare systematische Auseinandersetzung mit den beiden Denkfiguren dagegen nicht, was einerseits auf die späte Gründung der Universität 2003 zurückzuführen ist und andererseits mit der historischen Entwicklung des Schulsystems zusammenhängt.7 Auf eine eingehende inhaltliche und historische Behandlung von »Bildung-Didaktik«8 (Autio 2014: 18) und ›Curriculum‹ sowie auf eine systematische Analyse dieser landesspezifischen Schulen wird hier folglich verzichtet.9 Des Weiteren bildeten sich die strukturellen Merkmale der Unterrichtsorganisation im US-amerikanischen und europäischen Kontext in verschiedenen Jahrhunderten unter verschiedenen kontextuell gebundenen Voraussetzungen aus. 6 7
8 9
›Lehrprogramm‹ ist vor allem die gängige Bezeichnung in Luxemburg. Aufgrund wechselnder Herrschaftsansprüche und Gebietszuweisungen fanden neben einem deutschen auch der belgische und französische Einfluss Niederschlag in der Organisation des Luxemburger Schulsystems. In Kapitel III wird auf seine historische Entwicklung detailliert eingegangen. Tero Autio (2014) verwendet die Bezeichnung »Bildung-Didaktik«, um eine spezifisch deutsche Lehrtradition zu beschreiben. Vgl. zu einer weiteren Analyse u.a. Hopmann/Riquarts (1995); Westbury (1998).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Dennoch würde eine inhaltliche Reduktion auf die Frage, ›was‹ ›wie‹ unterrichtet wird, dem hier verwendeten Curriculumbegriff methodologisch nicht gerecht werden. Zur Konturierung der beiden Denkmodelle und ihren konzeptionellen Implikationen wird die historische Entwicklung von ›Didaktik‹ und ›Curriculum‹ im Folgenden verkürzt dargestellt. Ohne dabei auf eine systematisch vergleichende Untersuchung sowie epistemologische Verortung der beiden Traditionen abzuzielen, wird die für die vorliegende Arbeit verwendete Idee von Curriculum heuristisch gedeutet und für den Luxemburger Untersuchungsschwerpunkt fruchtbar gemacht. Darüber hinaus kann am Beispiel der beiden Denkgebäude exemplifiziert werden, wie die spezifischen erziehungswissenschaftlichen Geisteshaltungen kulturhistorisch geprägten und kollektiven Anschauungen entspringen. Am Beispiel der pädagogischen Überlegungen zu ›Curriculum‹ und ›Didaktik‹ wird historisch sichtbar, wie die Etablierung des modernen Schulsystems mit dem Gedanken von nationaler Erziehung und sozialer Kohäsion zusammenhängt. Das US-amerikanische Schulcurriculum bildete sich während der progressiven Ära (ca. 1880-1920) aus;10 einer Zeit, in der sich Nationalbewusstsein und nationale Identität im Spiegel von Sozial- und Bildungsreformen sowie politischen Bewegungen fundierten (vgl. Popkewitz 2019: 3). Dabei spielten gleich zu Beginn demografische Faktoren eine elementare Rolle. So wurden die USA im 19. Jahrhundert mit einer starken Immigration, Urbanisierung und wirtschaftlichen Veränderungen durch die Industrialisierung konfrontiert. Die daraus hervorgehenden heterogenen Gesellschaftsbedingungen machten sich auch in der Schule bemerkbar. Migrationsbewegungen sowie die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Industrialisierung waren zwar ebenso in Europa bildungspolitisch zentral, jedoch treten an dieser Stelle kulturell voneinander zu unterscheidende Deutungsmuster hervor, wie auf diese Entwicklungen reagiert wurde (vgl. Tröhler 2016: 24f.). Das US-amerikanische Schulsystem reagierte insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer curricularen Reform auf die strukturellen Schwachstellen unabhängiger Schulen sowie auf die sozialen Herausforderungen der Massenimmigration (vgl. Westbury 1998: 215). Rekurrierend
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Freilich ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass das öffentliche Schulsystem sowie das Schulcurriculum der USA keinem einheitlichen Entwicklungsprozess folgten, da zwischen der ersten Einführung der Schulpflicht 1852 im Staat Massachusetts und der letzten 1918 im Staat Mississippi 66 Jahre liegen (vgl. Baker 2009: 43).
II Zugang
auf die Studie The Evolution of an Urban School System 1750-1850 (1973) des USamerikanischen Erziehungswissenschaftlers Carl Kaestle, exemplifiziert der Curriculumforscher Ian Westbury (1995: 215) anhand der öffentlichen Schulen der Stadt New York, dass soziale Probleme durch eine Standardisierung des Schulsystems und dessen flächendeckender Ausweitung11 reguliert werden sollten: Das Schulsystem wurde daher zu einer Behörde par excellence: Die Schulen waren einerseits von ihren Strukturen, Regeln und Verfahren bestimmte und durchdrungene Organisation. Allgemeiner betrachtet lieferte es die Mittel und Wege, um die gesellschaftliche Aufgabe der schulischen Unterweisung, der Sozialisation und der Erziehung zu erfüllen. (Ebd.) Vor dem Hintergrund der Kaestle’schen Studie identifiziert Westbury zwei für die Deutung der US-amerikanischen Curriculumarbeit wichtige Gedanken, die auch noch den heutigen Bildungsideen – allgemein und über den US-amerikanischen Kontext hinaus – inhärent und für eine Studie zum Luxemburger Bildungssystem zentral sind: »Das System wandte kollektive Entscheidungen auf eine große Masse von Menschen an. Es verbreitete detaillierte Verfahren und versuchte dann, Qualität dadurch zu garantieren, daß es jede Abweichung unterdrückte« (ebd.: 216). Die Unterrichtsorganisation normiert demnach gesellschaftliche Vorstellungen und richtet sich an den »öffentlichen ›Bedürfnisse[n]‹« (ebd.: 218) aus. Die Bildungsplanung folgte einem hochgradig institutionalisierten Prinzip, indem sie von einer curricularen Verwaltungsbehörde zentral koordiniert wurde (vgl. ebd.). Angesichts dieser exemplarischen Ausführungen zu Kaestles Studie lässt sich eine für das angloamerikanische Verständnis von Curriculum symptomatische Beobachtung festhalten, nämlich dass es als »die Summe institutionalisierter formaler Schulstrukturen, Übergangsregimes, Lehrpläne […] [und] Lehrmittel« (Tröhler 2016: 28) anvisierte Gesellschaftsideale normiert und damit die Idee eines Lesson plan übersteigt, der sich einzig auf den instruktivorganisatorischen Teil der Unterrichtsintervention bezieht. Insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte sich im angloamerikanischen Bildungsdiskurs die Vorstellung einer Demokratieerziehung und der Idee des sozialen Fortschritts weiter aus (vgl. Tröhler 2014: 60). »[S]ocial unity in diversity« (ebd.) ist hier ein Stichwort, das die USamerikanischen Bildungsziele entsprechend beschreibt. In Anbetracht dieser 11
Flächendeckend in der Stadt New York.
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bildungs- und sozialhistorischen Voraussetzungen in den USA gehen gleichermaßen konzeptionelle Vorstellungen über die Lehrtätigkeit hervor, die bereits strukturell im Curriculum verankert sind. So gibt es nach dem angloamerikanischen Traditionsverständnis im Curriculum keine systematische Unterscheidung zwischen Inhalten (Curricular matter) und Gehalten (Lesson meaning) bzw. zwischen Lehren und Unterrichtsplanung (vgl. Hopmann 2015: 16; vgl. ebenso Doyle 2017: 219). Vielmehr wird beides als Einheit verstanden (vgl. Hopmann 2015: 16). Die Lehrpersonen sind in diesem Zusammenhang als Agenten des Systems zu betrachten, die die institutionellen Vorschriften im Unterricht umsetzen (vgl. Westbury 1995: 223). Diese Umdeutung der Lehrerrolle wurzelt ebenso in den sozialen Bedingungen des 19. Jahrhunderts: With the change in the social role of the school came a change in the educational center of gravity; it shifted from the tangible presence of the teacher to the remote knowledge and values incarnate in the curriculum. (Kliebard 2004: 1) Die Aufgaben der Lehrperson werden demnach durch das Curriculum festgelegt. Zugleich erfüllt der Lehrer unter Einbeziehung des Curriculums eine soziale Rolle. Das Curriculum dient gemäß der angloamerikanischen Tradition nicht alleinig als Direktive für einen erfolgreichen Unterricht, sondern wird gleichsam zum institutionalisierten Mittel, um die Frage nach akuten gesellschaftlichen Themen zu behandeln, wie etwa Diversität und sozialer Ungleichheit. Dagegen steht im Zentrum der europäischen Lehrtradition der Didaktik der Lehrer als ›ausgebildeter Fachmann‹, ohne aber durch sie völlig bestimmt zu sein. Die Didaktik sucht nach Denkformen, die den Lehrer zu systematischen Überlegungen darüber anregen können, wie sich im Beziehungsfeld der Klasse eine persönliche, subjektive Begegnung oder Beziehung zum pädagogischen ›Inhalt‹ des Curriculums, den wesentlichen sozialen Lebensformen und dergleichen mehr realisieren ließ. (Westbury 1995: 223) Die Lehrperson nimmt ebenso eine Vermittlerposition ein, jedoch wird ihr gleichzeitig ein größeres Deutungsangebot über den zu vermittelnden Inhalt gewährt. Der Lehrstoff wird demnach in einem interpretatorischen Zwischenschritt pädagogisch transformiert. Kulturgeschichtlich wird dies vor allem mit der Vorstellung von ›Bildung‹ in Einklang gebracht. Dieser primär deutsche Gedanke zum Bildungskonzept erhielt seinen Anstoß durch die
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Reformationsbewegung und wurde insbesondere im Zeitalter der Aufklärung weiter ausformuliert. Mit ›Bildung‹ ist an dieser Stelle gemeint, dass dem Menschen seit der Aufklärung bzw. in Anlehnung an den Renaissancegedanken die Fähigkeit zugesprochen wird, selbstständig – und damit autonom gegenüber einer göttlichen Obhut – zu reflektieren und zu handeln. Bildung steht in diesem Zusammenhang für einen Individualisierungsprozess, eine ›Selbstkultivierung‹ (vgl. Horlacher 2011: 12) oder eben eine ›Selbstbildung‹, durch die der Mensch sich in einem stetigen ›Werden‹ befindet. Es handelt sich dabei in erster Linie um eine innere Transformation, die ihren Ursprung jedoch in der gesellschaftlichen Umwelt hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch wenig verwunderlich, dass sich Reformatoren wie Luther, Erasmus oder Sturm gleichzeitig für eine Umgestaltung der Gesellschaft und der Erziehung aussprachen (vgl. Hamilton 1995: 84): »Ähnlich war die Herausbildung von Curriculum und Didaktik Teil einer pädagogischen Bewegung, die in den größeren Kontext einer politischen Reform gehörte« (ebd.). Dieser speziell deutsche Bildungsgedanke entsteht vor dem Hintergrund eines repressiven politischen Systems. Insofern ist es den Konzepten des 18. Jahrhunderts fast durchgehend gemein, dass sie die Verantwortung für Bildung und damit zugleich für die Befreiung aus der (bildungs-)politischen Repression auf das Individuum selbst übertragen. In diesem Sinne werden innere Vorgänge des Menschen und äußere lebensweltliche Umstände als voneinander getrennte Prozesse verstanden. Der Fokus liegt auf den individuellen Kräften des Menschen und nicht auf seiner Funktion als Bürger und damit als staatlicher Untertan (vgl. Horlacher 2011: 50). Die Bildungsidee ist in diesem Duktus zunächst einmal unpolitisch motiviert und grenzt sich zu äußeren ökonomischen, sozialen und politischen Vorgängen ab (vgl. Horlacher/De Vincenti 2014: 477). Mit Verweis auf den deutschen Pädagogen Herman Nohl (1933) und dessen Bildungstheorie argumentiert Tröhler (2016), dass sich die innere Vervollkommnung des Menschen und seine nationale Identität gegenseitig ermöglichen (vgl. ebd.: 25): ›Bildung‹ gilt folglich als ›zweckfrei‹ und kann vor diesem Hintergrund eine politische – z.B. demokratische – Dimension eines Programms zur ›Verwirklichung solchen totalen höheren Lebens im Individuum gegenüber allen Trennungen der Kultur‹ (Nohl 1933, 26f.) gar nicht anerkennen, weil Nation eine erhabene Idee sei und dadurch Politik im Sinne der Aushandlung und der mit ihr verbundenen Tugenden ausschließt. (Ebd.: 25f.)
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Vor diesem Hintergrund sowie im Zuge der Säkularisierung entstehen im 19. Jahrhundert primär im deutschen Raum Bildungsprogramme. Durch die Trennung von Kirche und Staat wird Bildung zur staatlichen Aufgabe; eine herausragende Rolle sowohl für die Gestaltung des Bildungsprogramms als auch für die Lehrerausbildung kann dabei Wilhelm von Humboldt zugeschrieben werden. Geprägt durch eine antike Vorstellung,12 vertritt er eine humanistische Bildungsidee, in deren Zentrum die individuelle Vervollkommnung als Ausgangspunkt für das übergeordnete Ziel der Verbesserung und Vervollkommnung des Staates steht (vgl. Horlacher 2011: 50 und im Detail das Fragment Theorie der Bildung des Menschen [Humboldt 1980: 235]). In einem evolutionären Sinne entwickelt Humboldt in seiner Funktion als Bildungsminister u.a. den Königsberger Schulplan (1809); die von ihm eingeführten Änderungen und Neuerungen in der Bildungspolitik wirken bis heute nach. Das deutsche Bildungskonzept ist mit Blick auf das Verständnis von Lehrplan oder Programm von entscheidender Bedeutung, geht damit doch ein spezifischer Unterrichtskanon einher. Der Lehrplan beschränkt sich zumeist darauf, Lerninhalte festzuschreiben, und steht oft weniger im Verhältnis zu äußeren Prozessen. Um den Unterschied zwischen den beiden Traditionen noch einmal in aller Kürze zu verdeutlichen: Vervollkommnet sich der Mensch nach dem deutschen humanistischen Ideal durch Bildung selbst und mit ihm auch die ganze Menschheit – also im konkreten Beispiel der Staat –, so lernt der Mensch in der angloamerikanischen Tradition, wie der ideale Staat aussieht und er selbst idealer Staatsbürger wird. Konkret wird in der angloamerikanischen Tradition von einer republikanischen Bürgerkonzeption ausgegangen. Wie ein guter Staatsbürger auszusehen hat und welchen Werten er folgt, ist demgemäß Teil seiner Schulbildung (vgl. Horlacher 2011: 44).
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Gemeint ist hiermit das altgriechische Erziehungsideal der Paideia, auf das hier nur am Rande verwiesen sei. Übersetzt steht Paideia für Bildung und ist als das Ergebnis des Erziehungsprozesses zu betrachten. Paideia bzw. Bildung dient zur Ausformung der Seele und zielt auf ein höheres und zweckfreies Leben ab, d.h. die »Bildung eines höheren Menschentums« (Nohl 1963: 24). Plato sowie sein Schüler Aristoteles sahen dieses höhere Ideal im Staate (Politeia) verwirklicht bzw. als erzieherisches Ideal des »charaktervollen Staatsbürgers« (Weimer 1962: 10).
II Zugang
1.2
›Curriculum‹ als Forschungsobjekt
Im Rahmen dieser kulturgeschichtlich geprägten Deutungen über die Vermittlung von Lerninhalten entwickelte sich im US-amerikanischen Kontext nicht nur ein anderes Verständnis darüber, was Unterricht zu leisten habe, sondern gleichermaßen ein spezifischer Wissenschaftsdiskurs. Eine eindeutige definitorische Klärung des ›Konzepts‹ von Curriculum wäre jedoch illusorisch und bleibt ebenso in der Curriculumforschung unbestimmt und wandelbar (vgl. u.a. Pinar et al. 2008: 25f.; Au 2012: 29; Henson 2015: 9).13 Ebenso zeichnen sich in der Curriculumforschung Fokusverlagerungen ab. Im Wesentlichen sind schlaglichtartig drei dominante Betrachtungsweisen in Bezug auf die Interpretation der Curriculumarbeit anzuführen.14 In aller Kürze sind die expliziten, impliziten und marginalisierten Stellen mit Blick auf die Konzeption der Lehre gemeint, die den für die vorliegende Arbeit verwendeten Curriculumbegriff konturieren. Der amerikanische Erziehungswissenschaftler Elliot Eisner (1994: 47ff.) spricht von curricularen ›Ideologien‹15 und damit von spezifischen Wertvorstellungen, die sich in das Curriculum einschreiben. Diese Wertvorstellungen sind dabei historisch kontingent, wie die nachfolgenden Erläuterungen veranschaulichen. Entstanden in den USA die ersten Überlegungen zur nationalen Erziehung vor dem Hintergrund der äußerst heterogenen Gesellschaftsbedingungen Mitte des 19. Jahrhunderts, wurden die damit korrelierenden Strategien in der Bildungsplanung zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiter ausdifferenziert. Mit der Curriculumentwicklung war zunächst die Idee von Brauchbar13
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Der Curriculumforscher Thomas Popkewitz vermeidet es z.B. in seinen Schriften, über Curriculum als Konzept zu sprechen, und ersetzt es durch Notion (vgl. Pereyra/Franklin 2014: 11). An dieser Stelle ist anzumerken, dass es sich dabei keineswegs um homogene Deutungskomplexe handelt und es freilich weitere Gegen- und Paratrends in der Curriculumforschung gibt (vgl. im Detail Pinar et al. 2008, das Kapitel zu Historical Discourses 1828-1979: 186ff.). »The term ideologies, rather than ideology, is used here to indicate that there is no single ideology that directs education. Values, particularly in America, proliferate, and these values find their educational expression in the ways in which schooling, curriculum, teaching, and evaluation are to occur. Curriculum ideologies are defined as beliefs about what schools should teach, for what ends, and for what reasons. Insofar as an ideology can be tacit rather than explicit, it is fair to say that all schools have at least one ideology – and usually more than one – that provides direction to their functions« (Eisner 1994: 47).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
keit und zweckmäßiger Rationalisierung verbunden. Gesellschaftlichen Voraussetzungen sollte durch spezifische Lernformate begegnet werden. Die Definition von Curriculum bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Planbarkeit von Aktivitäten innerhalb des Klassenzimmers, die maßgeschneidert auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse anwendbar sein sollen. An dieser frühen curricularen Diskussion nahmen im US-amerikanischen Kontext primär vier verschiedene Reformgruppen teil, die das 20. Jahrhundert maßgeblich prägten, wie der Curriculumforscher Herbert Kliebard in The Struggle for the American Curriculum (vgl. 2004: 23f.) weiter ausführt. Obschon diese Gruppierungen unterschiedliche Interessen in Bezug auf die Curriculumentwicklung verfolgten, zielten sie darauf ab, soziales Wissen zu professionalisieren (vgl. Popkewitz 2019: 12). Ihnen ist gemein, dass sie die sozialen Bedürfnisse konzeptionell auf das Klassenzimmer übertrugen. Im Einzelnen gehörten zu den Interessengruppen Vertreter der Child Study-Bewegung und eng mit ihnen verwandt die Developmentalists, für die die natürliche Ordnung des Kindes, d.h. dessen psychologischer Entwicklungsstand und damit seine inneren Zustände, Anhaltspunkte darüber geben, was in der Schule unterrichtet wird (vgl. Kliebard 2004: 11). Wird ›Jugend‹ heute unhinterfragt als eine natürliche Entwicklungsphase des menschlichen Lebens definiert, d.h. der Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, waren es in erster Linie die Forscher in den Child Studies16 , die ›Jugend‹ als psychologische Kategorie definierten bzw. als Zustand, der äußerer Intervention (Erziehung) bedarf (vgl. Popkewitz 2018: 79; vgl. ebenso 2008: 19). Daneben sind als weitere Interessengruppen in Bezug auf das Curriculum die Humanists zu nennen, die sich an einem antiken Bildungsideal orientierten; dann die Social meliorists, die die Schule als zentrale Schaltstelle für soziale Gerechtigkeit erachteten (vgl. Kliebard 2004: 25), und letztlich die Social efficiency educators, deren Hauptinteresse in der sozialen Wirksamkeit von Bildung lag (vgl. ebd.: 24). Die Vorstellung von Social efficiency und mit ihr die Idee, soziale Leistungsfähigkeit über das Curriculum zu erreichen, konnte sich in den nachfolgenden Jahrzehnten im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der USA durchsetzen und avancierte zum Hauptkriterium einer erfolgreichen Bildungsplanung (vgl. ebd.). So gibt der Erziehungswissenschaftler Franklin Bobbitt in The Curriculum (1918) sowie How to make a Curriculum (1924) konkrete Vorschläge für die Curriculumgestaltung und verbindet diese mit der Frage 16
Einer der bekanntesten Vertreter unter ihnen ist der Psychologe und Jugendforscher G. Stanley Hall (1846-1924).
II Zugang
nach dem sozialen Fortschritt: »Education must take a pace set, not by itself, but by social progress« (Bobbitt 1918: III). In beiden Schriften finden sich in diesem Zusammenhang Kapitel zur ›Entwicklung eines aufgeklärten Kollektivbewusstseins‹17 (vgl. ebd.: 131ff.), Erläuterungen zur ›Natur des guten Staatsbürgers‹18 (vgl. ebd.: 117ff.) sowie einer ›effizienten Staatsbürgerschaft‹19 (ebd. 1924: 15ff.).20 Das Interesse an der Curriculumentwicklung ist dabei in erster Linie bürokratischer Natur. Vor diesem Hintergrund entstanden die ›Grundprinzipien zur Curriculumarbeit‹ von Ralph Tyler (1949), der mit seiner sogenannten Tyler Rationale eines der Standardwerke in der Curriculumentwicklung veröffentlichte. Seine Empfehlungen richten sich konkret an die Lehrkräfte sowie an den Verwaltungsbereich im Schulwesen. Das Curriculum wurde dabei als neutrales Dokument gesehen, durch das sich Unterricht (und im weiteren Sinne die Gesellschaft) steuern ließe. Die Neutralität der curricularen Inhalte wurde insbesondere in Folge neu ausgearbeiteter Bildungsprogramme und einer zunehmenden staatlichen Kontrolle auf das Bildungswesen infrage gestellt, nachdem 1957 mit Sputnik die ehemalige Sowjetunion und nicht die USA den ersten Erdraumsatelliten ins All geschickt hat, was einen kollektiven Schockzustand westlicher Industrienationen herbeiführte.21 In den 1970er-Jahren, und der damit in der Curriculumforschung assoziierten Zeit der ›Rekonzeptionalisierung‹, vollzog sich anschließend eine konzeptionelle Wende in Bezug auf die Interpretation der Curriculumarbeit. Vertreter der ›Rekonzeptionalisierung‹, unter ihnen William Pinar, positionierten sich u.a. gegen die Grundprinzipien von Tyler (vgl. Pinar 1975: 401f.) und hinterfragten die scheinbare Objektivität des Curriculums. Das Curriculum wird folglich nicht mehr eindimensional als
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The Development of enlightened large-group consciousness. The Nature of the good citizen. Efficient Citizenship. In dieser kollektiven Erziehungstradition steht ebenso die philosophische Denkrichtung des Pragmatismus, wie sie seinerzeit John Dewey vertrat. Demokratieerziehung und direkter Lebensbezug sind ideengeschichtlich bei Dewey hervorzuheben. Darüber hinaus betont er etwa in seinem ›Glaubensbekenntnis‹ Ende des 19. Jahrhunderts sein Verständnis von Schule als Mikrokosmos der Gesellschaft (vgl. Dewey 2013: 35). Der politische Bezugspunkt ist dem US-amerikanischen schulischen Kontext dabei inhärent. Dies zeigt sich exemplarisch an dem Schulfach Citizenship Education (vgl. Horlacher 2011: 44). Vgl. ausführlich Kap. III.3.1, S. 126ff. der vorliegenden Arbeit.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Dokument betrachtet, durch das lediglich administrativ abgesegnete Lernziele vermittelt werden. Es existieren vielmehr zwei (vgl. Jackson 1968: 34) bzw. drei (vgl. Eisner 1994: 87) latente Größen innerhalb des Curriculums. Gemeint ist damit, dass darin neben offiziellen, d.h. expliziten, gleichermaßen auch implizite oder ›versteckte‹ Lernziele enthalten sind. Philip Jackson prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des Hidden Curriculum (1968: 33ff.) und adressierte damit die sozialen Normen, die in der Lehr- und Lernsituation innerhalb des Klassenzimmers vermittelt und evaluiert werden und nicht Teil des offiziellen Curriculums sind. Dieser eher funktionalistische Ansatz wird in den folgenden Jahrzenten weiter ausdifferenziert (vgl. u.a. Giroux/Purpel 1983; Apple 2004; McLaren 2015). Das Hidden Curriculum bezieht sich folglich auf »the unintended outcomes of the schooling process« (McLaren 2015: 147). Bestimmte legitime kulturelle Wertvorstellungen schreiben sich in diesem Zusammenhang in das Curriculum ein und wirken daher normativ (vgl. Apple 2004: 78). Damit korrelieren ebenso hegemoniale Differenzierungen, die entsprechend im Curriculum konserviert und durch die schulische Praxis repetiert werden (vgl. ebd.: 25ff.). Daneben weist Eisner (1994: 87) auf die ausgelassenen und marginalisierten Stellen im Curriculum bzw. der dritten latenten curricularen Größe hin. Das sogenannte Null Curriculum22 bezieht sich konkret auf das, was in den Schulen nicht unterrichtet bzw. bewusst oder unbewusst ausgelassen wird: It is my thesis that what schools do not teach may be as important as what they do teach […] The absence of a set of considerations or perspectives or the inability to use certain processes for appraising a context biases the evidence one is able to take into account. (Ebd.: 97) Diese Aussparungen veranschaulichen, dass innerhalb des Curriculums bestimmtes Wissen präsentiert und anderes dagegen nicht weiter berücksichtigt wird. Das Curriculum enthält demnach explizite und implizite Botschaften darüber, welches Wissen als erwerbswürdig erachtet und Schülern zugänglich gemacht und welches Wissen sanktioniert wird (vgl. Au 2012: 51). Das Curriculum kann folglich nicht als völlig wertfreies Dokument betrachtet werden. Vielmehr ist es ein ›politischer Text‹ (vgl. Pinar et al. 2008: 243ff.), mit dem spezifische Machtkonstellationen korrespondieren. Fragen zum Curriculum
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Alternativ auch Unstudied Curriculum (vgl. Apple 2004: 27; vgl. auch Pinar et al. 2008: 27).
II Zugang
können folglich nicht alleinig technischer Natur sein, wie Pinar et al. (2008) ausführen: What is interesting is how your life history, politics, gender, race, and theology have come together in complicated ways to make a problematic situation. The field no longer sees the problems of curriculum and teaching as ›technical‹ problems, that is, problems of ›how to‹. The contemporary field regards the problems of curriculum and teaching as ›why‹ problems. Such a view requires that we understand what was before considered only something to be solved.23 (Pinar et al. 2008: 8) Mit diesem curricularen Verstehensprozess, den Pinar et al. (2008) in Understanding Curriculum fordern, geht gleichzeitig eine konzeptionelle sowie terminologische Unterscheidung einher. So wird mit ›Curriculumentwicklung‹ in der angloamerikanischen Forschung ein administratives Vorgehen und die praxisorientierte Ausarbeitung von Lernzielen und deren Implementierung im Klassenzimmer assoziiert: The main concepts are quite different from those which grew out of an era in which school buildings and populations were growing exponentially, and when keeping the curriculum ordered and organized were the main motives of professional activity. That was a time of curriculum development. Curriculum Development: Born: 1918. Died: 1969. (Ebd.: 6)24 Durch die Rekonzeptionalisierung konsolidierten sich zudem verschiedene disziplinäre Strömungen innerhalb der Curriculum Studies, wie Curriculum Theory, Curriculum History und Curriculum Planning (vgl. Baker 2009: 10). Diese Unterscheidung ist in den Kontext größerer sozialer und akademischer Bewegungen einzuordnen u.a. im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften, die laut Bernadette Baker insbesondere die Objektivität von quantitativer Forschung seit den 1950ern infrage stellten (vgl. ebd.: ix). Im Zuge dieser
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Soweit nicht anders vermerkt, folgen Hervorhebungen in den Zitaten dem Original. Wenngleich vor allem im angloamerikanischen Forschungskontext mit der Bezeichnung Curriculum Development in erster Linie ein administratives Vorgehen verbunden wird, wird der Begriff ›Curriculumentwicklung‹ in der vorliegenden Arbeit breiter definiert und differenziert verwendet. Wie an einleitender Stelle erläutert, impliziert die Bezeichnung ›Curriculumentwicklung‹ neben einer politisch motivierten und praxisorientierten Organisation von Unterricht sowie Festlegung von Lernzielen zugleich die historische ›Entwicklung‹ des Curriculums.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
weniger praktisch-administrativen Überlegungen zum Curriculum entwickelte sich die Curriculumforschung insgesamt zu den »cultural studies of education« (ebd.: x). Aufgrund zunehmender internationaler, nationaler und lokaler Verflechtungen im Bildungsbereich setzen sich die Curriculum Studies seit den 1990erJahren verstärkt mit der Bedeutung des Curriculums auf diesen verschiedenen Ebenen auseinander (vgl. Slattery 2006: 8). Dominierte zur Hochzeit der Rekonzeptionalisierung in den 1970ern vor allem die Frage danach, ›wessen‹ Wissen legitim im Curriculum verankert wird, interessiert seit den 1990ern vermehrt die Frage danach, ›was‹ dieses Wissen ist. Die Zeit der »post-reconceptualization« (Malewski 2010) war nunmehr eingeleitet. Die Dezentrierung des Subjekts (vgl. Baker 2009) sowie poststrukturalistische Forschungsansätze setzen sich fortan mit der Frage auseinander, was als Wissen zählt und wie es u.a. historisch produziert bzw. ›wirksam‹ (vgl. Foucault 1977: 23) wird. In Anbetracht dieser Erläuterungen wird nicht nur deutlich, dass das Curriculum von einem ›administrativen‹ zu einem ›politischen Text‹ umgedeutet wurde und dadurch eine konzeptionelle Ausdehnung erfuhr, sondern dass auch die dahinterliegende wissenschaftliche Idee von ›Curriculum‹ ebenso historischen Brüchen unterliegt.
2 2.1
Die Historisierung der Curriculumentwicklung ›Curriculum‹ und die Imaginierung einer zukünftigen Idealgesellschaft
Angesichts dieser erziehungswissenschaftlichen Forschungskulturen und den mit ihnen korrelierenden Deutungshorizonten in Bezug auf das Curriculum zeigt sich, dass der erzieherische Gedanke und die Präsentierung von bestimmtem Wissen historisch je nach Kontext wandelbar und kontingent sind. Das Curriculum wird dementsprechend zur Blackbox der Schule (vgl. Kliebard 2004). Ohne an dieser Stelle auf systemtheoretische Überlegungen einzugehen, impliziert die Vorstellung einer Blackbox ganz allgemein jene heimlichen und ausgelassenen Versionen der Lehr-, Lern- und Planungssituation, die curricular stets mitzudenken sind und bestimmte Identitätszuschreibungen konstruieren. Diese Identitätszuschreibungen äußern sich konkret in der Imaginierung eines bestimmten Schülertypus, wie angesichts der Kategorien ›Staatsbürger‹, ›lebenslang Lernende‹ usw. exemplarisch sichtbar wird (vgl.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
weniger praktisch-administrativen Überlegungen zum Curriculum entwickelte sich die Curriculumforschung insgesamt zu den »cultural studies of education« (ebd.: x). Aufgrund zunehmender internationaler, nationaler und lokaler Verflechtungen im Bildungsbereich setzen sich die Curriculum Studies seit den 1990erJahren verstärkt mit der Bedeutung des Curriculums auf diesen verschiedenen Ebenen auseinander (vgl. Slattery 2006: 8). Dominierte zur Hochzeit der Rekonzeptionalisierung in den 1970ern vor allem die Frage danach, ›wessen‹ Wissen legitim im Curriculum verankert wird, interessiert seit den 1990ern vermehrt die Frage danach, ›was‹ dieses Wissen ist. Die Zeit der »post-reconceptualization« (Malewski 2010) war nunmehr eingeleitet. Die Dezentrierung des Subjekts (vgl. Baker 2009) sowie poststrukturalistische Forschungsansätze setzen sich fortan mit der Frage auseinander, was als Wissen zählt und wie es u.a. historisch produziert bzw. ›wirksam‹ (vgl. Foucault 1977: 23) wird. In Anbetracht dieser Erläuterungen wird nicht nur deutlich, dass das Curriculum von einem ›administrativen‹ zu einem ›politischen Text‹ umgedeutet wurde und dadurch eine konzeptionelle Ausdehnung erfuhr, sondern dass auch die dahinterliegende wissenschaftliche Idee von ›Curriculum‹ ebenso historischen Brüchen unterliegt.
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Die Historisierung der Curriculumentwicklung ›Curriculum‹ und die Imaginierung einer zukünftigen Idealgesellschaft
Angesichts dieser erziehungswissenschaftlichen Forschungskulturen und den mit ihnen korrelierenden Deutungshorizonten in Bezug auf das Curriculum zeigt sich, dass der erzieherische Gedanke und die Präsentierung von bestimmtem Wissen historisch je nach Kontext wandelbar und kontingent sind. Das Curriculum wird dementsprechend zur Blackbox der Schule (vgl. Kliebard 2004). Ohne an dieser Stelle auf systemtheoretische Überlegungen einzugehen, impliziert die Vorstellung einer Blackbox ganz allgemein jene heimlichen und ausgelassenen Versionen der Lehr-, Lern- und Planungssituation, die curricular stets mitzudenken sind und bestimmte Identitätszuschreibungen konstruieren. Diese Identitätszuschreibungen äußern sich konkret in der Imaginierung eines bestimmten Schülertypus, wie angesichts der Kategorien ›Staatsbürger‹, ›lebenslang Lernende‹ usw. exemplarisch sichtbar wird (vgl.
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Popkewitz 2008). Das Curriculum ›klassifiziert‹ bzw. ›fabriziert‹25 Gesellschaftsmitglieder (vgl. ebd.), Leute werden »(zurecht)gemacht« (Hacking 2000) und dadurch eine zukünftige Idealgesellschaft antizipiert. Die curriculare Konstruktion des Kindes ist demgemäß – um es mit Popkewitz zu sagen – als ›kulturelle These spezifischer Lebensweisen‹ zu verstehen (2008: 5), die durch verschiedene ›historische Praktiken‹ hervorgebracht werden (vgl. ebd.: 20). Diese können sich gegenseitig überschneiden, sind zeitlich begrenzt (vgl. ebd.) und dementsprechend ›historisch instanziiert‹ (Popkewitz 2020: 23).26 Zurückzuführen sind diese Überlegungen auf die nordamerikanische sowie europäische Aufklärung und den damit korrelierenden »Glaube[n] […] an das emanzipatorische Potential der menschlichen Vernunft«27 (Popkewitz 2006: 214), das auch »heute, wenn auch mit einigen Zweifeln und Vorbehalten, weiterhin Bestand« hat (ebd.). Bildung und Erziehung entwickelten sich entsprechend »zu einer säkularisierten Version der kirchlichen Heilsbotschaft« (Depaepe 2006: 248) und die Glaubenssätze der modernen Wissenschaft transzendierten vielmehr zur Richtschnur des (autonomen) menschlichen Da-
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Popkewitz (vgl. 2020: 29) grenzt Fabricating konkret gegenüber Manufacturing ab. Angesichts des Begriffs »Fabrizierung« betont er, dass dieser sowohl einen imaginierenden als auch herstellenden Moment berücksichtigt. ›Fabrizieren‹ umfasst den Vorgang des Vorstellens und den Prozess seiner Realisierung, durch den spezifische Schülerfigurationen hervorgebracht werden. Werden Schüler kategorisierend als Jugendliche und zukünftige Arbeitende etc. gedacht, äußert sich dies in einer konkreten Materialität des Denkens, wie am Beispiel von Adoleszenztheorien deutlich wird. So ›entdeckten‹ die Vertreter der Child Study-Bewegung ›Jugend‹ als Entwicklungsphase und definierten sie als Interventionskategorie gesellschaftlicher Defizite, die das urbanisierte Leben mit sich führt. Da die vorliegende Arbeit auf Deutsch verfasst ist, werden im folgenden Verlauf neben ›fabrizieren‹ ebenso ›herstellen‹ und ›machen‹ verwendet. Das innere Konzeptionsmoment ist diesen Bezeichnungen dabei inhärent. Popkewitz (vgl. exemplarisch 2020: 25) spricht hierbei metaphorisch von einem historischen ›Gitternetz‹ (Historical Grid). Dieses Netz ist historisch montiert, d.h., es besteht aus multiplen historischen Erfahrungen, die regelhaft werden. Das Gitter steht sinnbildlich für Porosität und symbolisiert dementsprechend die Kontingenz des historischen Entwicklungsverlaufes (vgl. ebd.). Das Gitternetz ist daher nicht deterministisch angelegt. Ähnlich hierzu verhält sich der Begriff des »Paradigmas« von Thomas Kuhn (vgl. Kuhn 1976). Wie am Beispiel des deutschen Bildungsgedankens gezeigt werden konnte, ist die innere ›Selbstveredelung‹ pädagogisch wirksam.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
seins (vgl. Popkewitz 2006: 231).28 An die Stelle der göttlichen Obhut tritt »das Handeln des rationalen, einheitlichen, sich selbst gegenwärtigen Subjekts, des logozentrischen Subjekts« (ebd.: 229). Hieraus lässt sich ein neues historisches Bewusstsein erklären, in dem ›Zeit‹ seither linear und progressiv dargestellt und die eher statische Zeitlichkeit des christlichen Lebensweges mit seinem Erlösungsversprechen verdrängt wurde (vgl. Popkewitz 2008: 25). ›Zeit‹ wurde nunmehr in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sequenziert und sozialer Fortschritt damit planbar (vgl. ebd.). Planbarkeit ist folglich als konkreter Ausdruck von Selbstbestimmung zu interpretieren, die erzieherisch unverzichtbar ist: Pädagogik ist die Gestaltung der Handlungsfähigkeit, um den Wandel in einer geordneten Zeit zu zähmen. Sie macht das Innere des Kindes zu einem Ort der Intervention. Theorien über den Unterricht und die Kindheit sind eine Strukturierung des Lebens als Entwicklungs- und Wachstumsprozess. (Popkewitz 2006: 229) Handlungsfähigkeit wird demnach pädagogisch erzeugt. Besonders seit dem 19. Jahrhundert – einer Zeit, die in Europa mit der Herausbildung moderner Nationen nach der Französischen Revolution verbunden war – wird die gesellschaftspolitische Idee verfolgt, Menschen zu ›planen‹ (vgl. Popkewitz/Lindblad 2016: 731).29 Gesellschaftlichen Bedürfnissen wurde dementsprechend durch die Planung von Unterricht begegnet.30 Bildungsplanung avanciert zum sozialen Auftrag und gesellschaftspolitische Maßnahmen avisieren einen autonomen Schüler mit spezifischem Wissen
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Zur Illusion von Autonomie vgl. Meyer-Drawe (1990). Meyer-Drawe erläutert, inwieweit Autonomie politisch unabdinglich einzufordern ist, sich gleichzeitig aber auch einer vollständigen individuellen Realisierung entzieht. Zum konkreten Luxemburger Kontext und der Formierung des Nationalstaates siehe Kapitel III. Popkewitz (2006) führt diesen Gedanken anhand des Kosmopolitismus weiter aus, der im Zuge der Aufklärung zum universellen Ideal menschlicher Vernunft transzendierte (vgl. ebd.: 214; Popkewitz 2020: 23). Der lokale und provinzielle Charakter einer Nation sollte durch den autonomen Weltbürger überwunden werden (vgl. Popkewitz 2008: 3). Gleichwohl liegt dieser Anschauung eine gewisse Ironie zugrunde, schrieben sich diese universellen Werte des Kosmopolitismus doch gleichsam in die neuen Nationalstaaten ein und werden dazu genutzt, ein spezifisches Staatsbürgerschaftsideal zu propagieren (vgl. ebd.).
II Zugang
und Fertigkeiten. Innerhalb der Schule als »zentraler Ort […], um die gesellschaftliche Zukunft zu sichern« (Popkewitz 2006: 215), wird demnach die Frage verhandelt, wie das Kind und mit ihm der zukünftige Bürger zu steuern sei (vgl. ebd.). In Hinblick auf den Luxemburger Untersuchungsschwerpunkt stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie das Curriculum ein sprachliches Ideal determiniert, das sprachliche Ideal aber zugleich das Curriculum selbst bestimmt und wie dadurch spezifische Schüleridentitäten historisch von wem verhandelt werden. Ohne jedoch das kontextgebundene inhaltliche Verständnis, das mit der angloamerikanischen Curriculumforschung verbunden ist, auf den Luxemburger Untersuchungsschwerpunkt zu oktroyieren, können die konzeptionellen Überlegungen für die Erforschung des Reformkontextes von 2009 genutzt werden, um Fragen zur Konstruktion von sozialen und kulturellen Differenzierungen und deren Normativität im Curriculum zu ergründen. ›Curriculum‹ wird daher als »complicated conversation« (Pinar et al. 2008: 848) und als Ausdruck impliziter, versteckter sowie ausgelassener Erziehungsziele verstanden. Geht man dementsprechend von einem weiten Curriculumbegriff aus, bei dem das Curriculum nicht alleinig Lerninhalte festschreibt, sondern konkreter Bestandteil von Policy Making ist, zeigt sich das Potenzial dieser theoretischen Rahmung: Das Curriculum liefert begriffliche Hilfestellungen, wenn institutionelle Formen und die für die Verwirklichung sozialer Bestrebungen nötigen Institutionen zur Debatte stehen. So gesehen bietet Theorie und Praxis des Curriculums eine Möglichkeit, über ›Schulreform‹ und ›qualitative Bildungsplanung‹ nachzudenken, aber auch darüber, wie sich institutionelle Bestrebungen organisatorisch ›durchsetzen‹ lassen. (Westbury 1995: 230)31 Das Curriculum ist daher als Reform- und Sozialisierungsinstrument zu betrachten. Welche Vorstellungen sich über Schüler und damit Mitglieder einer Gesellschaft kulturhistorisch bedingt in das Curriculum einschreiben und wie zugleich soziale Unterscheidungen getroffen werden, ist hierbei von zentraler Bedeutung. Mit den kulturhistorisch veränderlichen Gehalten der Schulbildung variieren ebenso die Vorstellungen, über welche Eigenschaften Schüler
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Westbury (1995: 230) sieht in diesen institutionellen Bestrebungen auch die Begründung, weshalb die amerikanische Curriculumtheorie im schwedischen Reformkontext der 1950er- und 1960er-Jahre und in den Reformdebatten Ende der 1960er- und 1970erJahre in der BRD an Bedeutung gewann.
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verfügen sollen. Das ›Curriculum‹ zu ›verstehen‹ (Pinar et al. 2008), bedeutet gleichwohl die historische und methodologische Blickrichtung miteinzubeziehen. Diese wird nachfolgend vor dem Hintergrund der Luxemburger Curriculumkonstruktion erläutert.
2.2
Wie ›Curriculum‹ in Luxemburg denken?
Methodologisch wird der Luxemburger Untersuchungsschwerpunkt, der sich auf die Curriculumentwicklung für Sprachen während des Reformkontextes 2009 bezieht, durch eine Historisierung der curricularen Sprachplanung zugänglich gemacht. Spezifische Denkstile und Legitimationsmodi, die bis heute die Bildungsplanung dominieren, sollen hierdurch sichtbar werden. Bildungsplanung und die daran geknüpften Akteurinteressen unterliegen kulturellen und zeitlich bedingten Veränderungsprozessen. So gesehen sind sämtliches Denken, Erkennen und Handeln sowie die daraus hervortretenden Subjekteigenschaften kulturhistorische Erzeugnisse (vgl. Popkewitz 2020: 2). Scheinbar apodiktische Regelstrukturen und durch Forschung legitimierte und nicht weiter hinterfragte ›Wahrheiten‹ sind stets in Relation zu ihrer historischen Standortgebundenheit zu lesen. Der methodologische Zugang soll dementsprechend intersubjektiv nachvollziehbar machen, wie spezifische Haltungen zu Unterricht und vorausgesetzte Selbstverständlichkeiten in Bezug auf Schule ›denkbar‹ und dadurch spezifische Schüleridentitäten konstruiert werden. ›Denken‹ wird dabei als gemeinschaftlicher Prozess verstanden, der sich ›stilgebunden‹ manifestiert. Diesbezüglich sind zwei ähnliche theoretische Strategien und damit zugleich – und das ist methodologisch herauszustellen – ›Denkmodelle‹ anzuführen: zum einen die von dem polnischen Serologen und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägten Begriffe des »Denkstils«32 und des »Denkkollektivs«, zum anderen die Bezeichnung »Style of Reasoning«, die der kanadische Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking seit Mitte der 1980er-Jahre in seinen Schriften
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Zu den Ursprüngen und Vordenkern des ›stilvollen‹ Denkens vgl. exemplarisch Zittel (2012: 56ff.). Wenngleich u.a. Karl Mannheim in Das Problem einer Soziologie des Wissens (1925) sowie Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation (1921/1922) den Begriff ›Denkstil‹ prägte und ihn auf den wissenschaftlichen Bereich übertrug, kann bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden, dass Fleck von den Ideen Mannheims beeinflusst wurde (vgl. Zittel 2012: 56).
II Zugang
behandelt. Beiden Denkmodellen ist gemein, dass sie Wissen, Erkennen und (Be-)Wahrheiten als sozial hergestellte und kulturgeschichtlich bedingte Prozesse verstehen. Ein universalistischer Wahrheitsbegriff wird dadurch negiert und die wissenschaftliche Ratio ist als ein kollektives, historisches ›Gemachtes‹ zu begreifen. ›Stilvoll‹ bzw. ›stilgebunden‹ bedeuten ganz allgemein, dass Denken und Denkausdruck, das heißt im konkreten Fall ›handeln‹, durch kontextuelle Rahmenbedingungen konditioniert sind. In Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (2017) stellt Fleck in diesem Zusammenhang den Tatsachenbegriff und Objektivitätsanspruch der Forschung33 infrage, ohne diesen vollständig zurückzuweisen. Vielmehr kontextualisiert Fleck »objektives Wissen […], das die Spuren des Wissenden nicht verwischt, sodass ihm die subjektfreie Objektivität nicht als entscheidendes Gütekriterium alltäglicher Forschungspraxis gilt« (Zillien 2017: 28). Der besagte ›Denkstil‹ ist dabei als kollektives Produkt spezifischer und als legitim erachteter Erkenntnisstrukturen zu begreifen. Fleck argumentiert weiter, dass der ›Denkstil‹ nicht auf einen im Denken verharrenden Vorgang zu beschränken ist, sondern vielmehr ist dieser zugleich auch handlungsimmanent: Der Denkstil besteht, wie jeder Stil, aus einer bestimmten Stimmung und der sie realisierenden Ausführung. Eine Stimmung hat zwei eng zusammenhängende Seiten: sie ist Bereitschaft für selektives Empfinden und für entsprechend gerichtetes Handeln. Sie schafft die ihr adäquaten Ausdrücke: Religion, Wissenschaft, Kunst, Sitte, Krieg usw., je nach Prävalenz gewisser kollektiver Motive und der angewandten kollektiven Mittel. Wir können also Denkstil als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen, definieren. (2017: 130; Hervorh. der Verf.) Der Denkstil bringt demzufolge bestimmte Erscheinungsformen hervor (»Religion, Wissenschaft, Kunst, Sitte, Krieg usw.«) und reguliert durch legitimes 33
Fleck exemplifiziert seine Beobachtungen anhand des medizinischen Wissenschaftsdiskurses zum Syphilisbegriff. Unverkennbar ist, dass Fleck selbst dieser Forschungsgemeinschaft angehört und seinen theoretischen Überlegungen dadurch ebenso Grenzen gesetzt sind. In der Forschungsliteratur werden Flecks erkenntnistheoretische Arbeiten daher sehr unterschiedlich bewertet (vgl. hierzu Zillien 2017: 29ff.). Am Beispiel der Studie Über spezifische Merkmale des serologischen Denkens (1939) veranschaulicht Nicole Zillien, dass Fleck seine eigene Position als Mitglied einer serologischen Forschergemeinschaft durchaus bewusst ist und diese mitreflektiert (vgl. ebd.: 31).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Wissen die damit verbundenen Aussagen. Tatsachen sind demnach nicht feststehend, sondern werden gemeinschaftlich von einem ›Denkkollektiv‹, bestehend aus zwei oder mehreren Personen (vgl. ebd.: 135), als »gemeinschaftlichen Träger des Denkstils« (ebd.) hergestellt und im »sozialen Gedächtnis« (ebd.: 5) stabilisiert. Implizit wurde dies anhand der beiden Denkmodelle ›Didaktik‹ und ›Curriculum‹ und den mit ihnen verbundenen Forschungskulturen zum Ausdruck gebracht, mit denen sich gleichermaßen gesonderte Lehrtraditionen etablierten. Ferner wird durch ein Denkkollektiv oder mehrere Denkkollektive der Lernstoff im Curriculum festgelegt. Mittels des Begriffs des Denkstils, wie ihn Ludwig Fleck verwendet, wird die Forschungsidee der vorliegenden Arbeit operationalisiert. Welche Denkstile curriculare Realitäten prägen und wie sich diese in Bezug auf Sprachen festigen, bildet das Kerninteresse der vorliegenden Untersuchung. Als ›Denkkollektiv‹ werden all jene bildungspolitischen und sprachlichfachlichen Gruppen begriffen, die Curriculumentwicklung betreiben. Dieses Denkkollektiv kann sich freilich auf mehreren Aggregierungsebenen von der Bildungspolitik bis zur Unterrichtsebene situieren. Vor diesem Hintergrund seien die Terminologien, die den Vorgang des ›Denkens‹ beschreiben, genauer vorgestellt: ›Denken‹ ist nach Fleck eine »soziale Tätigkeit« (ebd.: 129), »die keineswegs innerhalb der Grenzen des Individuums vollständig lokalisiert werden kann« (ebd.). Der Denkstil stellt »die denkmäßigen Voraussetzungen [dar], auf denen das Kollektiv sein Wissensgebäude aufbaut« (Schäfer/Schnelle 2017: XXV). Das Denkkollektiv ist weniger substanziell als funktional, wie Fleck (2017: 135) weiter ausführt: Ein Denkkollektiv ist immer dann vorhanden, wenn zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen: dies sind momentane, zufällige Denkkollektive, die jeden Augenblick entstehen und vergehen. Doch auch in ihnen stellt sich eine besondere Stimmung ein, der keiner der Teilnehmer sonst habhaft wird, die aber oft wiederkehrt, wenn die bestimmten Personen zusammenkommen. Diese zufälligen Denkkollektive unterscheidet er von den stabilen bzw. relativ stabilen Denkkollektiven, die sich besonders »um organisierte soziale Gruppen« bilden (ebd.), wie etwa im Falle von Religion, Politik, Kunst, der gleichen Berufsgruppe usw. ersichtlich wird (vgl. ebd.: 141) und wie es auch bei Bildungs- und Sprachplanung der Fall ist. Bei der Glaubensgemeinschaft einer Religion ist exemplarisch anzuführen, dass man ihr nur zutreten kann,
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sofern die stilgemäßen Voraussetzungen – hier u.a. der gemeinsame Glaube – erfüllt sind. Der Denkstil festigt sich und ist generisch: Existiert eine größere Gruppe lange genug, so fixiert sich der Denkstil und bekommt formale Struktur. Die realisierende Ausführung dominiert über die schöpferische Stimmung, die auf ein gewisses diszipliniertes, gleichmäßiges, diskretes Niveau sinkt. (Ebd.: 135f.) Durch diese ›formale Struktur‹ werden die aus ihr hervortretenden ›Wahrheiten‹ nicht weiter hinterfragt. Am Beispiel des wissenschaftlichen Denkkollektivs, also die »soziale Einheit der Gemeinschaft der Wissenschaftler eines Faches« (Schäfer/Schnelle 2017: XXV), die übertragen auf das Erkenntnisinteresse z.B. die Interessenvertreter eines sprachlichen Faches sein können, wird die bestimmte Stimmung, die jedem Denkstil innewohnt, dadurch realisiert, dass die Person des Forschenden zugunsten einer »überpersönlichen Idee« zurücktritt (Fleck 2017: 140). Die »intrakollektive Gedankenwanderung« (ebd.: 188), d.h. der Austausch zwischen den Mitgliedern eines Denkkollektivs, der unweigerlich auch eine gewisse »Denksolidarität im Dienste einer überpersönlichen Idee« (ebd.: 140) mit sich bringt, führt zu einer »Versachlichung des Denkgebildes« (ebd.: 188). Tatsachen sind hiernach nicht veräußerlicht, sie werden vielmehr von der Denkgemeinschaft objektiviert. Jedem Denkkollektiv gehören dabei Mitglieder eines exoterischen und esoterischen Kreises an, in denen es hierarchische Unterschiede geben kann. Der esoterische Kreis besteht aus Spezialisten und ›Eingeweihten‹, den exoterischen Kreis bildet dagegen die »öffentlich[e] Meinung« (ebd.: 139) der »allgemeingebildeten Laien« (Zillien 2017: 25) ab. Dieser exoterische Kreis ist insbesondere vor dem Hintergrund der Stabilisierung spezifischer Ansichten von Bedeutung, da »die Ideale der Wahrheit, Klarheit und Genauigkeit aus dem exoterischen Kollektiv, d.h. dem Common Sense herleiten, ja, daß sie überhaupt nur zur populären Darstellung des Wissens gehören« (Schäfer/Schnelle 2017: XLV; Hervorh. der Verf.). Der ›gesunde Menschenverstand‹ manifestiert sich demnach durch die Entfernung zwischen esoterischem und exoterischem Kreis. Je größer die räumliche und zeitliche Distanz zum esoterischen Zirkel ist, und damit die Reichweite eines Gedankens desselben Denkkollektivs, desto stabiler und sicherer ist dieser (vgl. Fleck 2017: 140). Denkkollektive können sich zeitlich und räumlich überlagern, sie können kombiniert und durchlässig sein, und ihre Mitglieder dementsprechend meh-
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reren Denkgemeinschaften angehören (vgl. ebd.: 145).34 Denkstile sind ebenso transformierbar, z.B. wenn im intrakollektiven Denkverkehr zwischen verschiedenen Denkkollektiven ein Sachverhalt unterschiedlich bewertet wird und dadurch neue Erkenntnisgewinne bereitgestellt werden (vgl. ebd.). Die Transformation im kollektiven Denken wirkt daher schöpferisch bzw. selbst stilbildend und das ›So-und-nicht-anders-Denken‹ wird zur natürlichen Denkgewohnheit: [D]er kollektive Denkstil [erfährt] die soziale Verstärkung […], die allen gesellschaftlichen Gebilden zuteilwird und unterliegt selbstständiger Entwicklung durch Generationen. Er wird zum Zwange für Individuen, er bestimmt ›was nicht anders gedacht werden kann‹. (Ebd.: 130; Hervorh. der Verf.) Dieser Denkzwang, der durch die stetige kollektive Betätigung und Bestätigung angesichts der ›überpersönlichen Idee‹ nicht bewusst wahrgenommen werden muss, zeigt, dass sich dieser völlig selbstverständlich im Denkkollektiv manifestiert und dadurch Denkgewohnheiten entstehen und normiert werden (vgl. ebd.: 140). Diese normative Wechselwirkung ist zugleich auf spezifische Denkverzweigungen im Erkenntnisprozess zurückzuführen, die Fleck als aktive und passive Koppelungen bezeichnet (vgl. ebd.: 16). Die aktiven Koppelungen beziehen sich auf die sozialen und kulturhistorischen Implikationen des zu untersuchenden Gegenstandes, die passiven dagegen auf jene Beobachtungen, die zunächst als unabhängig von den aktiven Koppelungen anmuten und nicht auf bereits Bekanntes zurückführbar sind (vgl. ebd.: 68f.). Diese passiven Koppelungen sind jedoch nicht losgelöst von den aktiven Koppelungen zu denken und so ist »[k]ein einziger Satz […] aus nur passiven Koppelungen aufzubauen, immer ist Aktives, oder wie man es unzweckmäßig nennt, Subjektives anwesend« (ebd.: 68; Hervorh. der Verf.; vgl. ebenso Zillien 2017: 27). Dieses Subjektive ist dabei nicht als Persönliches zu verstehen, sondern als ein Gemeinsames. 34
Fleck merkt hierbei an, dass sich möglicherweise widersprechende Denkelemente, die aus der Zugehörigkeit mehrerer Denkkollektive resultieren können, beim Individuum nicht zwangsläufig zu einem inneren Widerspruch führen, da sie getrennt wahrgenommen und eingeordnet werden (vgl. Fleck 2017: 144): »[G]ewisse Zusammenhänge gelten z.B. als Glaubenssache, andere als Wissenssache und beide Bereiche haben keinen Einfluß aufeinander, obwohl logisch nicht einmal solche Trennung zu legitimieren ist. Es geschieht auch viel öfter, dass ein Mensch an einigen sehr divergenten Denkkollektiven teilnimmt als an einigen sehr verwandten […,] handelt es sich dagegen um verwandte Denkstile, so ist solches Trennen nicht gut möglich« (ebd.: 144f.).
II Zugang
Analog hierzu verhält sich der Begriff Style of Reasoning (Hacking 1992a; 1992b), den Hacking als ›Handwerkszeug‹ für Philosophen und Historiker ausweist (vgl. Hacking 1992b: 1) und der besonders in der angloamerikanischen Curriculumforschung zum Einsatz kommt (vgl. exemplarisch Popkewitz 2008). Unter Style of Reasoning versteht Hacking eine Weiterführung von Kants Kritik der reinen Vernunft, indem er erklärt, wie (vermeintliche) Objektivität zustande kommt (vgl. 1992b: 4). Hacking betont hierbei den historischen und kollektiven Aspekt: »Kant did not think of scientific reason as a historical and collective product. We do« (ebd.). Unverkennbar sind hier die Bezüge zu Ludwik Flecks ›Denkstilen‹ sowie Michel Foucaults Archäologie des Wissens (1969) sowie Die Ordnung der Dinge (1966). Den wesentlichen Unterschied zu Foucault veranschaulicht Hacking nach eigenen Angaben anhand der Foucault’schen Epistemes (vgl. Hacking 1992a: 137) und damit verbunden in der Art und Weise, wie sich ein Stil in unserem Denken manifestiert: »His [Foucault’s] epistemes come into being and later perish at two moments of transformation. My styles are evolutionary, and might be with us evermore« (ebd.). Hacking fokussiert sich demnach in seinen Schriften darauf, wie spezifische Styles of Reasoning unser Denken durchdringen und weniger auf ihren ideologischen Impetus und den damit verbundenen Wissens- und zugleich Machtsystemen. Entgegen Fleck vermeidet Hacking es jedoch, von Thought Style zu sprechen, und begründet dies damit, dass Reasoning den gemeinschaftlichen Aspekt stärker berücksichtige: »Thinking is too much in the head for my liking. Reasoning is done in public as well as in private: by thinking, yes, but also by talking and arguing and showing« (Hacking 1992b: 3). In der deutschen Ausgabe von Hackings Historical Ontology (2006) wird Style of Reasoning mit »Stil des Vernunftgebrauches« übersetzt, was jedoch nur unzulänglich das beschreibt, was der Tätigkeit Reasoning bereits inhärent ist, nämlich das Vermögen zu denken (Thinking), zu handeln (Agency) und dieses Handeln so zu begründen, dass es für andere (logisch) nachvollziehbar erscheint und damit völlig selbstverständlich verinnerlicht wird. Gleichwohl darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass Fleck (2017: 130) dem ›Denkstil‹ die Handlungsimmanenz bereits zuschreibt, indem er ebenso die ›realisierende Aufführung‹ des Stils miteinbezieht. Den Denkmodellen Hackings und Flecks ist gemein, dass sie den ›Stil‹ als kollektiv und entpersonalisiert betrachten: »Nevertheless a thought style is impersonal, the possession of an enduring social unit, the ›thought collective‹« (Hacking 1992b: 3). Hacking meint mit Styles of Reasoning genauer:
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My styles of reasoning, eminently public, are part of what we need to understand what we call objectivity. This is not because styles are objective (i.e. we have found the best impartial ways to get at the truth), but because they have settled what it is to be objective (truths of certain sorts are just what we obtain by conducting certain sorts of investigations, answering to certain standards). (Ebd.: 4) Auch hier ist das Wissen über die Welt überliefert und temporär. Wie wir in einem Sachverhalt begründen, ist dabei im Lichte übergeordneter Organizing Concepts zu reflektieren (vgl. Hacking 1999: 53). Die damit verbundenen Vorstellungen, zu denen er neben ›Objektivität‹ zum Beispiel auch die ›Wahrscheinlichkeit‹ zählt, ordnen unser Denken (vgl. Sciortino 2016: 244). Um ein konkretes Beispiel anzuführen: In Anbetracht von statistischen Erhebungen führt Hacking den Begriff Statistical Style of Reasoning ein (1992a: 140), vor dessen Hintergrund er erläutert, wie durch Wahrscheinlichkeitsberechnungen bzw. Statistiken moderne Gesellschaften gesteuert werden. Statistiken bilden dabei keinen ›unverfälschten Zustand‹ ab (vgl. Hacking 2002: 6), sondern ordnen und klassifizieren die Bevölkerung, indem sie Aussagen über Geburts-, Sterbe-, Kriminalitätsraten oder auch Lernstandserhebungen von Schülern treffen (vgl. Hacking 1992b; vgl. u.a. auch Popkewitz 2008). Übertragen auf den Untersuchungsschwerpunkt in Luxemburg ist auf der Folie dieser Erläuterungen zum stilvollen Denken (und Handeln) zentral, wie spezifische Argumentationslogiken mit Blick auf die Curriculumarbeit denkbar werden. Zu diesem Zwecke wird die Fallstudie, das ist der Reformkontext 2009, historisiert, um historisch gewachsene Denkstile in Bezug auf Sprachplanung in Luxemburg zu identifizieren. Um dies zu erreichen, müssen die Argumentationslogiken innerhalb der Bildungsplanung analysiert werden. Betrachtet man die Interessen der Bildungsplaner historisch, so wird deutlich, dass diese keineswegs linearen Logiken folgen. Angestrebte Schülerideale setzen sich z.T. aus bildungsplanerischen Kompromissen oder auch Widersprüchen zusammen. ›Curriculum‹ unterliegt demnach epistemischen Denkhaltungen, die festlegen, was curricular gilt. Die vorliegende Arbeit operiert mit der Denkstilanalyse, weil diese als eine historiografische Wissenssoziologie betrachtet werden kann, die über mehrere zeitliche Phasen hinweg Texterzeugnisse systematisiert (Sabisch 2016; 2017). Dieses Verständnis entspricht der der Arbeit zugrunde liegenden Datenlage und grenzt sich sonach gegenüber potenziellen zeitgenössischen Alternativen zu Fleck ab. Die Betrachtung der Denkstile ermöglicht es, diese
II Zugang
Widersprüche greifbar zu machen und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Welche Haltungen dadurch z.B. gegenüber Sprache und Sprachfertigkeiten legitim und folglich denkwürdig werden, ist in diesem Zusammenhang zentral. Zudem treten Denkstile konkreter in Bildungsreformen hervor, implizieren Reformen doch den Versuch, einen Wechsel im kollektiven Denken herbeizuführen. Reformen sollen daher denkstiltransformierend wirken. Terminologisch ist herauszustellen, dass in dieser Arbeit der Begriff ›Denkstil‹ anstelle von Style of Reasoning verwendet wird. Die hier verwendete Interpretation von ›Denkstil‹ beinhaltet dabei ebenso den handelnden, ausführenden Aspekt. Vermag die Bezeichnung ›Denkstil‹ methodologisch schwächer anmuten als beispielsweise Denkmuster, Denksystem, Diskurs etc., können diese Bezeichnungen jedoch zu vorschnellen a priori Realisierungen spezifischer Ausdrucksformen führen (vgl. Zittel 2012: 59). Für die vorliegende Studie bedeutet dies, dass das Denken in seinen Realisierungen nicht zwangsläufig zu apodiktischen und schemenhaften Strukturen führt. Gleichwohl wird der Stilbegriff nicht als indifferentes Instrumentarium betrachtet. Ferner darf nicht unerwähnt bleiben, dass jede methodologische Herangehensweise ebenso in einem stilgebundenen Denken verwurzelt ist. Der Reflexionsweg unterliegt daher ebenfalls spezifischen Denkstilen. Da ein Stil sonach selbst bedeutungsgenerierend bzw. ›wahrheitserzeugend‹35 ist (vgl. Hacking 1992a: 135), sind Wahrheitsvoraussetzungen und Stilgeleitetheit gleichsam auch gegenseitig selbstauthentifizierend (vgl. ebd.). Diese methodologische Eingrenzung wird in der vorliegenden Studie mitreflektiert und die Verfasserin nimmt – im Luhmann’schen Sinne – die Position des Beobachters zweiter Ordnung ein. Um das Curriculum und die damit korrelierenden Assoziationen hinsichtlich der Sprachenkompetenz in Luxemburg ›denkbar‹ und intersubjektiv zugänglich zu machen, wird der Analyseprozess entsprechend transparent dargestellt. Die Auswertungsmethode berücksichtigt explizit den bedeutungsgenerierenden Aspekt der Studie, was in der nachfolgenden Erläuterung zum Forschungsdesign behandelt wird.
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Hacking (1992a: 135) verweist in diesem Zusammenhang auf den Erkenntnisphilosophen Charles Sanders Peirce, der die Qualitäten von Forschungsmethoden und ihren truth-producing virtues untersucht und hierdurch den Begriff der Validität hinterfragt. Zur weiteren Lektüre vgl. Foster (1989).
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Forschungsdesign
Die Studie zum Reformkontext 2009 teilt sich in zwei Analysekomplexe: Zunächst werden spezifische Denkstile in Bezug auf die Luxemburger Mehrsprachigkeit herausgearbeitet, indem die Luxemburger Schulgeschichte und mit ihr die historisch gewachsenen und institutionellen Rahmenbedingungen der Curriculumentwicklung beleuchtet werden. Dies erfolgt durch eine historiografische Aufarbeitung von Quellen unter Einbeziehung weiterer Forschungsarbeiten (Kap. III). Auf dieser historischen Kontextualisierung gründet anschließend der zentrale Untersuchungsteil (Kap. IV), der sich mit dem Reformprozess von 2009 auseinandersetzt. Dieser Analyse liegt eine diversifizierte Datenbasis zugrunde, um die kulturhistorisch gewachsenen Denkstile in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Sprachplanung zu identifizieren. Mithilfe dieser Herangehensweise soll aufgezeigt werden, wie Sprachenidentität bzw. Sprachenidentitäten curricular konstruiert werden. Wie sich die unterschiedlichen Interessengruppen sprachenpolitisch positionieren bzw. welche curricularen Strategien eingesetzt wurden, um spezifische Denkstile mit Blick auf die Mehrsprachigkeit zu festigen, ist dabei zentral. Vor diesem Hintergrund wird der esoterische und exoterische Kreis der Denkstilmanifestierung untersucht. Im Detail soll ergründet werden, welche sprachlichen Eigenschaften Luxemburger Schüler während ihrer Schulkarriere entwickeln sollen, um mit ihnen ein Mitglied einer funktionierenden Gesellschaft zu sein. Sehen die einzelnen Bildungsakteure z.B. unterschiedliche Typologien von Sprechern, d.h. einen per se ein-, zwei-, drei- oder generell mehrsprachigen Schüler vor und wie wird dies zu welchen Bedingungen curricular verwertet? Über welche Eigenschaften verfügt dieser von verschiedenen Akteuren erzählte Sprecher? Werden in den einzelnen Sekundarschulzweigen in Luxemburg unterschiedliche Sprechertypen anvisiert? Welche Bedeutung kommt dabei den jeweiligen Einzelsprachen zu? Wie operieren die Bildungsakteure, um ein spezifisches Sprachencurriculum voranzutreiben? Im Lichte dieser Nebenfragestellungen sollen verschiedene Denkstile in Bezug auf die Luxemburger Bildungsplanung und mit ihnen latente Argumentationslogiken herausgearbeitet werden, die sich als curricular gefestigte Sprachideen einschreiben. So gesehen wird die bildungspolitische Debatte rund um den Reformprozess nicht einfach reproduziert, sondern es werden dahinterliegende »geteilte bzw. kollektive Relevanzstrukturen herausgearbeitet« (Sabisch 2017: 7), die Denkstile konstituieren und die durch die Analyse von verschiedenen Argumentationslogiken aufgezeigt werden.
II Zugang
Angesichts dieses Erkenntnisinteresses werden verschiedene Datenkorpora miteinander kombiniert, um einen holistischen Blick in den Untersuchungszeitraum zu gewähren.36 Essenziell ist, dass explizit zwischen Quellen, das sind schriftlich fixierte Zeitdokumente, und empirischem Material differenziert wird. So gesehen unterscheiden sich auch die Auswertungsstrategien. Das Quellenmaterial impliziert neben festgeschriebenen Programmen und Gesetzen ebenso Quellen, die den Prozess der curricularen Entwicklung nachzeichnen, und wird im sich anschließenden Abschnitt 3.1 erläutert. Da sich die vorliegende Arbeit auf einen weiten Curriculumbegriff stützt, dient die eher deskriptiv-analytische Aufbereitung des Quellenmaterials in erster Linie der Hypothesengenerierung und der Rahmung des Reformkontextes. Auf Basis dieser Quellen ließen sich überdies Experten für den empirischen Teil, die Experteninterviews, identifizieren. Vor dem Hintergrund der Experteninterviews liegt der Untersuchung neben der Dokumentenanalyse ein empirisches Auswertungsverfahren zugrunde. Zum Zwecke der empirischen Analyse optiert die vorliegende Studie Erhebungs- und Auswertungsmethoden der qualitativen Sozialforschung. Demnach »ist der zu untersuchende Gegenstand Bezugspunkt für die Auswahl von Methoden und nicht umgekehrt« (Flick 2007: 27), was letztlich dazu führt, dass die qualitative Sozialforschung eher ›theoriegenerierend‹ und nicht per se ›theorietestend‹ ist (vgl. Gläser/Laudel 2010: 24, Anm. 24) und demnach andere Grundmotive im Zentrum stehen, die im Lichte des thematisierten Forschungsdesiderates zielführend sind. Ferner »sucht [sie] nach den Kausalmechanismen, die unter bestimmten Bedingungen bestimmte Effekte hervorbringen« (ebd.: 26). Sie zielt nicht darauf ab, quantifizierbar und repräsentativ zu sein, wenngleich zu betonen ist, dass qualitative und
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An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass auf ein trianguläres Forschungsdesign, um die Grenzen einer einzelnen Methode zu relativieren und um Verzerrungseffekte zu minimieren (vgl. hierzu insbesondere Denzin 1977), verzichtet wird. Denzin verfolgte mit seiner Triangulationstypologie (das sind im Einzelnen die Daten-Triangulation, Investigator-Triangulation, Theorien-Triangulation und Methoden-Triangulation) die Absicht, eine höhere Validierungsleistung zu erzielen und »eine Realität zum Vorschein zu bringen, die eine Wahrheit der Interpretation zu finden, um das objektiv Richtige eines Forschungsprozesses präsentieren zu können« (Schründer-Lenzen 2013: 150). In Anlehnung an Schründer-Lenzen wird in der vorliegenden Studie dezidiert von einer vermeintlichen Validierungsstrategie durch die Triangulation Abstand genommen, denn »Realität befindet sich ebenso wie die Theorien über Realität in einem kontinuierlichen Herstellungs- und Veränderungsprozess« (ebd.).
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quantitative Sozialforschung nicht per se in Opposition zueinander gesehen werden dürfen.37 Bei einem qualitativen Forschungsansatz ist zudem die Interpretation und Analyse des Einzelfalles zentral.38 Der Einzelfall ist ausdrücklich untersuchungsrelevant, da dadurch verschiedene sprachenpolitische Agenden unterschiedlicher Akteure des Luxemburger Bildungswesens nebeneinandergestellt und analysiert werden können. So können Übereinstimmungen und Widersprüche, die sich stilgemäß niederschlagen, angemessen herausgearbeitet werden. Die Datenbasis situiert sich auf verschiedenen Aggregierungsebenen im esoterischen und exoterischen Kreis, wodurch unterschiedliche Akteurinteressen in der Bildungsplanung durchleuchtet werden. Im Folgenden wird das für die vorliegende Arbeit definierte Untersuchungsmaterial genauer vorgestellt.
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So können quantitative Forschungsansätze durchaus qualitative Aspekte beinhalten, wenn es z.B. um die Entwicklung von Theoremen geht (vgl. Hülst 2013: 283). Beide Forschungsansätze sowie deren Anwendungsbereich und Kombinationsmöglichkeiten ausführlich darzulegen, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Zum Verhältnis zwischen quantitativer und qualitativer Forschung vgl. im Detail Oswald (2013). Dagegen operiert die quantitative Forschung i.d.R. nur auf der Ebene der Generalisierung; der Einzelfall interessiert hier weniger (vgl. Oswald 2013: 187). In der qualitativen Forschung geht man zudem weniger von einer Generalisierbarkeit aus bzw. ist die Generalisierbarkeit des Einzelfalles dort kontextgebunden, wodurch sie eine an den Einzelfall gebundene Aussagekraft besitzt (vgl. Flick 2007: 522). Die Verallgemeinerungsmöglichkeit wird demnach in Abhängigkeit der Sättigung des Samples diskutiert. Es bedarf folglich spezifischer Strategien in der Analyse, um den Einzelfall von seiner Kontextgebundenheit zu lösen und seine Aussagekraft unabhängig auf einen größeren Zusammenhang zu übertragen (vgl. ebd.). Diese Strategien sind in der vorliegenden Arbeit in erster Linie im Bereich der Experteninterviews relevant und werden in dem Subkapitel 3.2.2, S. 81ff. diskutiert.
II Zugang
3.1 3.1.1
Quellen – Zeitdokumente Esoterischer Kreis: Protokolle, Chamberdebatten, Gesetzestexte, curriculare Rahmendokumente
Das Quellenkorpus betrachtet schwerpunktmäßig den Reformprozess von 2004 bis 2013 aus verschiedenen Perspektiven und fällt demnach sehr heterogen aus. Um die Reformhintergründe genauer beschreiben zu können, finden sich auch vereinzelt Quellen wieder, die vor 2004 und nach 2013 veröffentlicht wurden. Ganz allgemein interessierte bei der Quellenuntersuchung, wie sich verschiedene bildungspolitische Positionen zur Mehrsprachigkeit oder Förderung einzelner Sprachen konstellieren. Diese bildungspolitischen Positionen werden in der vorliegenden Arbeit als esoterischer Kreis definiert, da dieser Meinungen von Spezialisten und ›Eingeweihten‹ umfasst. In diesem esoterischen Kreis werden verschiedene bildungsplanerische Ebenen berücksichtigt. Es handelt sich bei ihnen im Detail um die supranationale, die national-bildungspolitische und die schulische Ebene. Die supranationale Ebene dient der kontextuellen Verortung der Reform. Hierzu wurden Berichte der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates kursorisch verwendet, um den Reformimpetus genauer auszuleuchten. Die national-bildungspolitische Ebene umfasst zum einen Gesetzestexte zur Reform, inklusive großherzogliche Verordnungen (Règlements grand-ducaux) und ministerielle Anordnungen, und zum anderen ausgewählte parlamentarische Debatten. Die Auswahl der parlamentarischen Debatten fokussiert sich auf die parlamentarischen Anfragen der Abgeordneten der Chambre des Députés an die damalige Bildungsministerin, die im digitalen Archiv auf der Internetseite der Chamber zugänglich sind. Die Antwortschreiben der Ministerin gehören ebenso zum Quellenmaterial. Gleichermaßen sind Regierungs- und Aktionspläne, Tätigkeitsberichte und Gesetzesentwürfe als parlamentarische Debatten zu begreifen, um den curricularen Verhandlungsprozess und unterschiedliche Positionen nachvollziehen zu können, bevor es zu festgeschriebenen Gesetzen, ministeriellen Anordnungen und ausgearbeiteten Lehrplänen kam. An dieser Stelle ist anzumerken, dass der Plan d’études des Grundschulbereiches ebenfalls gesetzlich im 2009er-Gesetzesrahmen festgeschrieben ist, weshalb sich national-bildungspolitische und schulische Ebene an dieser Stelle überschneiden. Das betrifft auch die Lehrprogramme, da diese nach übergreifenden bildungspolitischen Prinzipien für die Umsetzung im Klassenzimmer ausgearbeitet
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sind. Genauer handelt es sich bei den Lehrprogrammen um den Plan d’études in seinen unterschiedlichen Fassungen vor und nach der Reform (1989, 2009 und 2011). Zudem wurden Rahmendokumente für sprachliche Fächer des Sekundarschulbereiches, die während des Reformkontextes 2004 bis 2013 ausgearbeitet wurden, sowie punktuell auch Lehrprogramme nichtsprachlicher Fächer berücksichtigt. Die schulische Ebene wird auf der Grundlage von Sitzungsprotokollen von Programmkommissionen, d.h. den Fachorganisationen des Sekundarschulwesens (CNES), behandelt. Auf Anfrage bei ehemaligen und, zur Zeit der Zusammenstellung der Quellen, amtierenden Präsidentinnen der Programmkommissionen des Enseignement secondaire général und Enseignement secondaire classique konnten für die Arbeit einige Sitzungsprotokolle der Programmkommissionen aus den Jahren 2006 bis 2018 (ESC) und 2007, 2009 bis 2016 (EST) herangezogen werden. Da die Protokolle nicht an zentraler Stelle zugänglich waren, konnte dies nur durch die Kooperation mit drei ehemaligen PKPräsidentinnen gelingen. Der Bestand beschränkt sich auf den Deutschunterricht im Sekundarschulwesen und umfasst 45 Protokolle aus dem klassischen Sekundarschulwesen sowie 31 Protokolle aus dem technischen Sekundarschulbereich. Mit Blick auf die forschungsleitenden Fragen wurden daraus Berichte berücksichtigt, die Stellungnahmen zu der Primärschulreform und dem Reformvorhaben im Sekundarschulbereich, den curricularen Neuerungen, Prüfungsmodalitäten und der eigenen Fachverortung enthalten. Letztere beinhaltet ebenso Haltungen gegenüber anderen sprachlichen Fächern. Aussortiert wurden Berichte, in denen es z.B. inhaltlich um Kooperationen mit Schulbuchverlagen, Festlegung von Schulbuchlisten und Kursivlektüren sowie infrastrukturelle Fragen geht. Die 20 hier zitierten Protokolle wurden aus Datenschutzgründen anonymisiert. Zu diesem Zwecke finden sich in der vorliegenden Arbeit keine direkten Zitate und keine Namensnennungen aus den Kommissionsberichten.39
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Für eine weiterführende Untersuchung gibt es noch weitere Quellen, die interessant wären, wie Schulbücher oder Schulhefte von Schülern, um zu sehen, wo genau der Unterschied liegt zwischen dem, was im Lehrplan steht, und dem, was tatsächlich im Unterricht behandelt wurde. Dies hätte jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt und wurde ausgeklammert, da sich die Studie primär auf die institutionellen Voraussetzungen von Curriculumentwicklung konzentriert.
II Zugang
3.1.2
Exoterischer Kreis: Zeitungsartikel
Neben dieser Binnenperspektive, die die esoterische Ebene stabilisiert, wurde anhand zwei ausgewählter Luxemburger Tageszeitungen eine nicht per se bildungspolitische Sichtweise berücksichtigt, die sich im exoterischen Kreis situiert. Die für das Korpus integralen Pressetexte wurden nach der Frage ausgewählt, wie sich die (ver-)öffentlich(t)e Meinung zur bildungspolitischen Agenda während des Reformkontextes positionierte und wie die Reform reflektiert wurde. Zugrunde liegen hierfür Veröffentlichungen aus dem Luxemburger Wort und dem Tageblatt. Die Eingrenzung auf diese beiden Presseorgane ist damit zu begründen, dass es sich bei ihnen um die beiden auflagenstärksten Tageszeitungen des Großherzogtums handelt.40 Zudem wird durch die Auswahl ein möglichst differenzierter Blick in den Reformprozess gewährt, da das Luxemburger Wort und das Tageblatt politisch sehr unterschiedlich ausgerichtet sind. So ist das Luxemburger Wort eher katholisch konservativ und das Tageblatt eher sozialistisch geprägt.41 Darüber hinaus erscheinen die Artikel in beiden Presseorganen hauptsächlich in deutscher und französischer Sprache, was mit Blick auf die spätere Schlagwortsuche eine größere Trefferzahl versprach. Die Sichtung der Archivbestände der beiden Verlagshäuser Saint-Paul (Luxemburger Wort) und Editpress Luxembourg (Tageblatt) fanden von Januar bis einschließlich Juni 2019 statt. Bei der Suche interessierten primär die Jahre 2001 bis 2013, beginnend mit der Veröffentlichung des ersten PISABerichtes im Jahr 2001 und endend mit der Legislaturperiode, unter der das Primärschulgesetz verabschiedet wurde.42 Zum Zeitpunkt der Suche waren
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Das Luxemburger Wort ist die am häufigsten gelesene Tageszeitung mit einer Leserschaft von 30,7 Prozent und das Tageblatt mit acht Prozent die zweithäufig gelesene Tageszeitung (gemessen an mindestens 15-jährigen Lesern und älter) (vgl. Ilres 2019; Stand 2018, Zeitpunkt der Festlegung der Quellenauswahl). Die Auflagen des Luxemburger Wortes beliefen sich im Jahr 2017 auf 63.000 (vgl. eurotopics 2020b; aktuellster Stand von 2017), beim Tageblatt sind es 21.916 (vgl. eurotopics 2020c; aktuellster Stand 2016). An dieser Stelle sei angemerkt, dass die eher liberale Tageszeitung Lëtzebuerger Journal aus dem Datenkorpus ausgeklammert wurde, da die Zeitung lediglich eine Leserschaft von 1,2 Prozent hat (gemessen an mindestens 15-jährigen Lesern und älter). Zudem liegt die gedruckte Auflage bloß bei 5.000 Exemplaren (eurotopics 2020a; aktuellster Stand 2018). Vereinzelt finden sich vier zitierte Artikel, die über diesen Zeitraum hinaus veröffentlicht wurden. Diese Artikel wurden berücksichtigt, weil sie auf schulische Veränderungen verweisen, die während des Reformprozesses 2009 angeregt wurden.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
die Jahre 2001 bis 2013 im Archiv des Luxemburger Wortes komplett digitalisiert. Durch eine gezielte Volltextsuche von zuvor festgelegten Schlagworten und erschöpfender Schlagwortkombinationen auf Deutsch und Französisch wurde das digitale Archiv durchsucht. Das Archiv des Tagesblattes war dagegen nur z.T. digitalisiert. Die Jahre 2001 bis 2004 waren beim Tageblatt nur in gebundenen Ausgaben verfügbar und wurden vor Ort komplett gesichtet. Ab dem Jahr 2004 sind sämtliche Veröffentlichungen als PDF-Dokumente in der Redaktion hinterlegt gewesen, wenngleich keine elektronische Datenbank wie beim Luxemburger Wort existierte, die durch erschöpfende Schlagwortkombinationen den Bestand eingrenzte oder einzelne Artikel herausfilterte. Das maschinelle Erschließungsverfahren beim Tageblatt unterscheidet sich aus diesem Grund von dem beim Luxemburger Wort und musste noch einmal angepasst werden. Es konnten daher nicht dieselben Schlagwortkombinationen wie beim LW verwendet werden, da sich die Presseartikel nicht durch eine Volltextsuche, sondern durch eine Freitextsuche systematisieren ließen. Zudem wurden ganze Ausgaben durch die Freitextsuche angezeigt, weshalb das generierte Material beim Tageblatt erneut gesichtet werden musste, um so relevante Artikel zur Reform herauszufiltern. Durch die Schlagwortsuche bei beiden Tageszeitungen und anschließende Sichtungskontrolle wurde ein sehr umfangreiches Datenmaterial generiert, das in sich noch einmal eingegrenzt wurde. Thematisch nicht weiter relevante Artikel fielen somit automatisch aus dem Korpus heraus. So interessierten in erster Linie meinungsäußernde Darstellungen, wie Leitartikel, Kommentare, Berichterstattungen und zeitgenössische Interviews mit Bildungsakteuren, die eine Denkstilstabilisierung im exoterischen Kreis anzeigten. Die Rentrée-Ausgaben, die jedes Jahr zum Schulanfang im September einen gesonderten Teil in beiden Zeitungen umfassen, wurden separat berücksichtigt, auch wenn diese zuvor noch nicht durch die Schlagwortsuche generiert wurden. Da die flächendeckende Durchsetzung der Reform interessierte, wurde der Lokalteil der Zeitungen ausgeschlossen. Auch einfache Meldungen, die keine meinungsbildenden Darstellungen abbilden, wurden nicht analysiert. Letztlich wurden insgesamt 207 exemplarische Artikel aus dem TB und LW43 tabellarisch in einer Exceltabelle aufgeführt. Aus diesen
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Dazu gehört auch die vom Luxemburger Wort herausgegebene Programmzeitschrift Télécran sowie das von 2001 bis 2011 herausgegebene speziell französischsprachige Produkt La Voix du Luxembourg.
II Zugang
207 Artikeln, die die Auswahleinheit44 bilden, wurden exemplarisch 45 Artikel als Analyseeinheit45 definiert, die in dieser Arbeit zitiert wurden (vgl. zum Auswahlverfahren Abb. 1). Diese exemplarische Auswahl erfolgte inhaltlich. So interessierte es gemäß dem Erkenntnisinteresse, wie die Reform hinsichtlich der Neuordnung des Sprachenunterrichts öffentlich wahrgenommen und verhandelt wurde.
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»Die Auswahleinheit ist eine formal (physikalisch) definierte Einheit, die n mal im Sample und n mal in der Grundgesamtheit [die durch die Schlagwortliste generierten Artikel aus dem TB und LW] vertreten ist. Auswahleinheit kann z.B. eine Zeitungsausgabe an einem bestimmten Tag, eine politische Rede oder ein therapeutisches Interview sein, aber auch das Vielfache dieser Einheiten (z.B. alle Ausgaben eines Monats, alle Reden einer Woche, alle Interviews eines Tags etc.)« (Merten 1983: 281). »Analyseeinheit (Untersuchungseinheit, Recording Unit) ist die Einheit, die untersucht werden soll. Wenn z.B. eine Zeitungsausgabe die Auswahleinheit ist, dann kann als Analyseeinheit der einzelne Artikel, der Absatz, der Satz oder ein einzelnes Wort definiert werden […,] im Gegensatz zur Auswahleinheit wird die Analyseeinheit also nicht formal, sondern inhaltlich, nach dem Ziel der Untersuchung, definiert« (Merten 1983: 282).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Abb. 1: Sequenzmodell – Auswahlverfahren Zeitungsartikel (eigene Darstellung)
3.2
Empirisches Material – Experteninterviews
Als basale Methode der qualitativen Sozialforschung zielen Experteninterviews auf das Aggregieren von Expertenwissen ab, das durch die restlichen Bestandteile der Datenbasis nicht zugänglich gemacht werden kann. Generell geht es bei Experteninterviews darum, »die von den ExpertInnen ausgehenden ›außerbetrieblichen‹ Effekte und Normierungen als Kontextbedingungen zu bestimmen« (Meuser/Nagel 2002: 75). Gemessen an dem hier erforschten Untersuchungszeitraum, sind Experteninterviews als »rekonstruierende Un-
II Zugang
tersuchungen« (Gläser/Laudel 2010: 13) zu verstehen, die retrospektive Einsichten in den Reformkontext gewähren sollen. Durch dieses Verfahren sollen spezifische Argumentationslogiken schulischer Akteure herausgearbeitet und gegenübergestellt werden, um die dahinter liegenden sprachlichen und historisch gewachsenen Denkstile zu identifizieren. Die Experteninterviews situieren sich daher ebenso wie die dargestellten Quellen in Kapitel 3.1.1 im esoterischen Kreis, da sie eine Binnenperspektive auf den Reformkontext gewähren. Angesichts des untersuchungsleitenden Interesses lassen sich die durchgeführten Interviews als systematisierende Experteninterviews charakterisieren, bei denen es um eine systematische Erschließung des Reformkontextes geht.46 Bei diesen Experteninterviews wird das Expertenwissen als ›exklusiv‹ angesehen, das rein korpusbasiert nicht zugänglich wäre und damit für die Studie als ein »aus der Praxis gewonnene[s], reflexiv verfügbare[s] und spontan kommunizierbare[s] Handlungs- und Erfahrungswissen« (Bogner/Menz 2002: 37) zentral ist. Im Vordergrund steht bei den systematisierenden Experteninterviews zudem die »thematische Vergleichbarkeit der Daten« (ebd.: 38), was mit Blick auf die Gegenüberstellung sprachenpolitischer Argumentationslogiken zentral ist und im Auswertungsverfahren 3.2.2 genauer beschrieben wird. Der Expertenstatus und das mit ihm verbundene Expertenwissen wurden im Rahmen der vorliegenden Arbeit wissenssoziologisch bestimmt. Das Expertenwissen unterliegt in der wissenssoziologischen Deutung gesellschaftlichen Prozessen und ist veränderlich, d.h., es handelt sich um eine soziale Hergestelltheit des Wissens in einer gesellschaftlichen Praxis, die anderswo anders verläuft, zu anderen Ergebnissen kommt und insofern als nicht-notwendig, als kontingent gelten muss. Verstärkt werden die Konstrukthaftigkeit des Expertenwissens und die Kontingenz der Expertenstandpunkte durch den Umstand, dass es sich bei den Netzwerken, in denen Expertenwissen ausgehandelt wird, tendenziell um Gemeinschaften auf Zeit handelt, sodass das Expertenwissen in seiner Temporalität, als Wissen mit begrenztem Geltungsanspruch, erkennbar wird. (Meuser/Nagel 2009: 49) 46
Ferner kann zwischen explorativen und theoriegenerierenden Experteninterviews unterschieden werden (vgl. Bogner/Menz 2002: 36ff.). Auf weitere, in der Methodenliteratur genannte Interviewformen wird hier nicht weiter eingegangen, da dies nicht im Forschungsinteresse liegt.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Freilich mag diese Beliebigkeit des Expertenwissens auf den ersten Blick ernüchternd klingen, dennoch liegt in dieser Betrachtungsweise eine wichtige Erkenntnis: Das Expertenwissen kann niemals als absolut gelten, wodurch die Aussagen der Interviewpartner von ihren persönlichen Einstellungen abstrahiert werden können. Folglich geht es darum, das erzählte Wissen »in der Dimension des ›diskursiven Bewusstseins‹ [zu verorten]« (Meuser/Nagel 2009: 49)47 und damit die übergeordnete, kulturhistorisch geprägte Erfahrung der Interviewpartner zu berücksichtigen, die letztlich Denkstile manifestieren. Die Befragten sind demnach dazu angehalten, »einen Ausschnitt ihrer Wirklichkeit« (Flick 2007: 49) zu rekonstruieren. Diese wissenssoziologische Deutung des Expertenbegriffes geht auf eine Typologie Alfred Schütz’ (1972) zurück, der zwischen dem ›Experten‹, dem ›Mann auf der Straße‹ und dem ›gut informierten Bürger‹ differenziert, die sich wiederum in »ihrer Bereitschaft, Dinge als fraglos gegeben anzunehmen« (ebd.: 89), unterscheiden.48 Der ›Mann auf der Straße‹ akzeptiert Sachverhalte unhinterfragt und »lebt sozusagen naiv in seinen eigenen wesentlichen Relevanzen und in denen seiner in-group« (ebd.: 96), wohingegen sich der ›gut informierte Bürger‹ zwischen dem Experten und dem Mann auf der Straße bewegt: »Gut informiert zu sein bedeutet ihm, zu vernünftig begründeten Meinungen auf den Gebieten zu gelangen, die seinem Wissen entsprechend ihn zumindest mittelbar angehen, obwohl sie seinem zuhandenen Zweck direkt nichts beitragen« (ebd.: 88). Dieser Typus ist ferner in der Lage zu erkennen, wer ein Experte ist und auch zwischen mehreren Experten mit unterschiedlichen Positionen zu unterscheiden (vgl. ebd.). Der ›Experte‹ kennzeichnet sich nach Schütz dadurch, daß nicht nur das auf seinem Gebiet errichtete Problemsystem relevant ist, sondern, daß es auch das allein relevante System ist. All sein Wissen bezieht sich auf diesen Bezugsrahmen, der ein für allemal gezimmert worden ist.
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48
Zur Unterscheidung zwischen dem praktischen und dem diskursiven Bewusstsein vgl. Giddens (1988) bzw. die Veröffentlichung von Meuser/Nagel (2009: 49), aus der dieser Hinweis entnommen ist. Zur weiteren, detaillierten Beschreibung dieser drei konstruierten »Idealtypen des Wissen[s]« (Schütz 1972: 96) vgl. im Detail ebd. (87ff.) und Sprondel (1979: 144ff.) Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, dass es sich bei diesen Begriffen nicht um apodiktische Wissens- und Wesenszuschreibungen handelt und so kann jeder in seinem Alltag sowohl Experte, Mann auf der Straße oder gut informierter Bürger sein (vgl. Schütz 1972: 88).
II Zugang
Wer es nicht als sein monopolisiertes System der wesentlichen Relevanzen akzeptiert, teilt mit ihm nicht sein kommunikatives Universum. (Ebd.: 96f.) Letztlich wird das Wissen des gut informierten Bürgers sowie das des Experten sozial gebilligt und kann sich sowohl im eso- und exoterischen Kreis stabilisieren (vgl. ebd.: 100). Das Expertenwissen kann demnach auch im exoterischen Kreis anerkannt sein, wenn es einem äußeren, sozialen Legitimationsprozess unterzogen wurde. Durch eine wissenssoziologische Brille betrachtet, hat dies zur Konsequenz, dass das Expertenwissen eine größere Reichweite erfährt und sich als Denkstil manifestiert. Auf die gleiche Weise kann sich durch seine soziale Billigung ein nicht per se durch Experten legitimiertes Wissen im esoterischen Zirkel einprägen. Auf Grundlage dieser Typologien rückt in der wissenssoziologischen Diskussion gleichermaßen das Begriffspaar »Experte« und »Laie« ins Zentrum des Interesses, bei dem der damit zugeschriebene Wissensbestand dichotomisiert wird (vgl. Bogner/Menz 2002: 38). Walter Sprondel (1979: 141) misst das Expertenwissen überdies an dem Professionalisierungsgrad des Befragten und sieht es damit an dessen berufliche Rolle geknüpft, aus der sich eine »sozial institutionalisierte Expertise« ableiten lässt. Die rein an die berufliche Rolle gebundene Bestimmung des Expertenbegriffs ist jedoch nicht unkritisch zu betrachten, denn im Rahmen der »Expertokratisierung der Moderne« (Meuser/Nagel 2009: 41) bildete sich vermehrt eine transdisziplinäre Art der Wissensproduktion aus, wodurch sich Wissen netzwerkartig ausbreitet und u.a. neue Akteure und Wissenssysteme in Erscheinung treten (vgl. ebd.). So gesehen kann das Expertenwissen ebenso ›sozial institutionalisiert‹ sein, indem die Befragten über eine außerberufliche Expertise verfügen, die dennoch zum Funktionskontext beiträgt (vgl. ebd.: 44). Die Unterscheidung zwischen »Experte« und »Laie« ist im schulischen Kontext und dem daran anknüpfenden Forschungsfeld nicht eindeutig. Akteure, die beispielsweise direkt im Bereich der Schule agieren, haben ein Expertenwissen, das aus dem unmittelbaren Anwendungskontext generiert wird. Obgleich Wissenschaftlern, die zum Bildungswesen forschen, dieses ›praktische‹ Wissen nicht im Vorhinein in Abrede gestellt werden darf, verfügen sie eher über ein anderes »spezialisierte[s] Sonderwissen« (Sprondel 1979: 148). Entlang dieser Differenzierung wird deutlich, dass das Selbstverständnis der Expertengruppen im schulischen Kontext vehement differieren kann und so gesehen schafft »[n]icht die Existenz von Laien […] Experten, sondern das Vorhandensein von Experten stempelt alle übrigen Mitglieder
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
eines Sozialverbandes zu Laien« (ebd.: 142). Die Trennung der beiden Figuren lieferte im Verlaufe der Interviewführung weitere Erkenntnisse über die Akteurkonstellationen im Luxemburger Bildungswesen.
3.2.1
Sampling und Generierungssituation
Um einen multiperspektivischen Einblick in die curriculare Arbeit zu erhalten, wurden die Experteninterviews als persönliche Einzelinterviews49 mit verschiedenen Funktionsträgern des Luxemburger Bildungswesens und zentralen Figuren des Reformprozesses 2009 geführt. Insgesamt finden sich in dieser Untersuchung 15 verarbeitete Experteninterviews, die im Zeitraum zwischen Januar und Mai 2019 geführt wurden. Die Auswahl erfolgte nichtstandardisiert und setzte ein fundiertes Vorwissen der Forscherin gegenüber dem zu untersuchenden Gegenstand voraus, das über die schriftlich fixierten Zeitdokumente generiert wurde (vgl. Kap. 3.1). Die Befragten mussten dabei nicht zwangsläufig zur Zeit der Reform in ihrem heute spezifischen Bereich tätig gewesen sein. Da in der vorliegenden Arbeit die Ansicht vertreten wird, dass durch die Primärschulreform 2009 bis heute weitere Reformprojekte initiiert wurden, wurden ebenfalls Funktionsträger interviewt, die 2009 gegebenenfalls noch nicht ihre heutige Funktion innehatten, jedoch unter den curricularen Neuerungen der Reform arbeiteten. Die Fallauswahl erfolgte aufgrund der Expertise der Interviewpartner mit Blick auf die Curriculumentwicklung, ihrer Erfahrungen in der schulischen Realität und/oder ihrer Funktion während der Reform von 2009. Neben absoluten Merkmalen wie dem Tätigkeitsbereich spielten auch relationale Merkmale, d.h. Merkmale, die Abhängigkeitsfaktoren unterliegen und erst durch die Beziehung zwischen Personen (Merkmalsträgern) zum Vorschein kommen (vgl. Diekmann 2009: 118), eine wichtige Rolle. Die relationalen Merkmale beziehen sich in der vorliegenden Studie beispielsweise auf ähnliche oder divergierende sprachenpolitische Einstellungen, die durch das Verhältnis zwischen zwei Befragten, die z.B. der gleichen Berufsgruppe zugeordnet werden können, offengelegt werden. Die Fallauswahl erfolgte demnach möglichst kontrastiv, um verschiedene bildungs- bzw. sprachenpolitische Einstellungen aufzuzeigen. Die Anzahl der Interviewpartner wurde dennoch nicht vollständig vorab
49
Mit Ausnahme des Interviews mit dem Direktor des SCRIPT und seinem, zum Zeitpunkt des Interviews, beigeordneten Direktor, die sich vor der unmittelbaren Interviewdurchführung beide bereiterklärten, am Interview teilzunehmen.
II Zugang
festgelegt, sondern ergab sich sukzessiv im Verlaufe der Datengenerierung und -auswertung.50 Bei der Erhebungsmethode handelt es sich um leitfadengestützte, teilstrukturierte Experteninterviews. Der Interviewleitfaden wurde teiloffen gestaltet, um eine natürliche Gesprächssituation herzustellen. Das bietet den Vorteil, dass die Interviewantworten weder durch die Forscherin dominiert werden noch Wissen rigide abgefragt wird. Den Gesprächspartnern soll vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, ihr Wissen eigens zu vernetzen und mit der Forscherin zu teilen. Dadurch wird zudem vermieden, dass die Akteure politische Legitimationsmuster nicht einfach nur reproduzieren, da sich dadurch kein Erkenntnisgewinn hervortäte. Vielmehr sollen die dahinterliegenden latenten Argumentationslogiken herausgestellt werden, die in kulturhistorisch gewachsenen Denkstilen wurzeln. Zudem erlaubt die leitfadengestützte Interviewführung eine Vergleichbarkeit der daraus transkribierten Interviewtexte (vgl. Meuser/Nagel 2009: 56). Vor diesem Hintergrund ist der Interviewleitfaden nach übergeordneten Themenfeldern strukturiert, die ebenso in den Reformdebatten auftreten. Diese lauten ›Offizielle Dreisprachigkeit und individuelle Mehrsprachigkeit‹, ›supranationale Bildungsstandards – PISA 2000 und Schwerpunktverlagerung Kompetenzlernen‹, ›Chancengleichheit‹ und ›Akteure‹. Je nach Funktion der Interviewpartner und dem damit verbundenen Expertenwissen können sowohl die Interviewfragen als auch die Themenfelder variieren. Die Klassifikation der Themenbereiche ist in Hinblick auf die spätere Auswertung der Interviews und die deduktive Kategorienbildung – die im Folgekapitel 3.2.2 erläutert wird – ein wichtiger Schritt, da hierdurch einer inhaltlichen Rahmung des Datenmaterials Rechnung getragen wird. Daneben ist der Gebrauch eines Leitfadens gemäß der vorausgegangenen Bestimmung des Expertenwissens maßgeblich, sodass »nicht die Biographie des jeweiligen Experten im Fokus [steht], sondern die auf einen bestimmten Funktionskontext bezogenen Strategien des Handelns und Kriterien des Entscheidens« (ebd.: 52). Durch eine explizite Fragestellung soll somit vermieden werden, dass die Interviewpartner Meinungen fernab des zu untersuchenden Gegenstandes in den Interviewprozess miteinfließen lassen. Bei der Interviewführung ist zudem die Position der Forscherin zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund darf nicht unerwähnt bleiben, dass anstelle von ›Datenmaterial sammeln‹ in der vorliegenden Arbeit dezidiert 50
Vgl. hierzu nachfolgend die Erläuterungen zur Auswertungsstrategie, Kap. 3.2.2, S. 81ff.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
von ›Datenmaterial generieren‹ zu sprechen ist (vgl. Mason 1996: 35f.). Der Begriff der »Generierung« impliziert, dass die forschende Person keine völlig neutrale Haltung einnimmt. Neben unveränderlichen askriptiven Merkmalen kann diese je nach Gesprächspartner variieren. Vor dem Hintergrund ihrer Forschungsarbeit kann die Forscherin z.B. aufgrund ihrer »fachliche[n] ›Autorität‹« (Bogner et al. 2014: 54) als Koexpertin wahrgenommen werden; sie kann ebenfalls zur ›Evaluatorin‹ werden, die das Gesagte bewertet (vgl. ebd.). Eine mögliche Folge dessen wäre, dass die Interviewpartner Risiken für ihre Person befürchten und deshalb »[k]ritische Sachverhalte und Probleme […] z.B. verschwiegen [werden]« und »der Interviewer […] Gegenstand strategischen Handelns« wird (ebd.). Um diesen Risiken vorzubeugen, wurde ebenso die Möglichkeit der Pseudonymisierung geboten, was gleichzeitig auch für einzelne, möglicherweise delikate Aussagen gilt. Mögliche berufliche oder persönliche Konsequenzen der Interviewten sollen dadurch vermieden werden.51 Fernab der Befürchtung vor persönlichen Konsequenzen können inhaltliche Aussparungen auch bedeuten, dass Bestandteile des expliziten Curriculums oder deren Genese vom jeweiligen Interviewpartner nicht besprochen oder rekonstruiert werden möchten. Demgemäß können Auslassungen auf einen impliziten Gehalt des Curriculums (Null Curriculum) hindeuten. Der Interviewleitfaden wurde zunächst einem Pretest unterzogen. Das Pretestgespräch wurde im Januar 2019 mit einer Soziologin durchgeführt, die an dem Plan d’action des langues (PAL) von 2007 beteiligt war, in dem 66 Handlungsempfehlungen gegeben wurden, um den Sprachenunterricht im Zuge der Reform 2009 neu auszurichten. Zum Zeitpunkt des Pretests war die Soziologin im Bereich der qualitativen Bildungsforschung an der Universität Luxemburg tätig und stand somit einerseits als Expertin für den Untersuchungszeitraum und andererseits als Beraterin für die Überarbeitung des Interviewleitfadens zur Verfügung. Auf Grundlage des Pretestinterviews wurde der Leitfaden noch einmal überarbeitet und schließlich finalisiert. Durch das Pretestverfahren konnte sichergestellt werden, dass der Leitfaden solide ist und auch als Grundlage für die folgenden Interviews dienen konnte. Die Experteninterviews dauerten in der Regel jeweils durchschnittlich zwischen
51
An dieser Stelle sei angemerkt, dass der Forschungsprozess und die mit ihm verbundenen ethischen Fragen vor der Durchführung vom Ethics Review Panel (ERP) der Universität Luxemburg geprüft und am 19.12.2018 positiv begutachtet wurden. Die ethischen Fragen betreffen den Prozess der Datengenerierung, Datenverarbeitung und Datenspeicherung.
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45 und 60 Minuten und wurden mit einem Audiogerät aufgezeichnet und im Anschluss vollständig in Schriftform gebracht.52 In der Regel wurden dabei keine paralinguistischen Äußerungen transkribiert, es sei denn, es ließen sich spezifische Einstellungen aus dem Gesagten ableiten. Gemeint ist damit z.B. das Lachen eines Interviewpartners, das ironische Bemerkungen zu einem spezifischen Sachverhalt kennzeichnet. Zudem wurde das Gesagte dem Hochdeutschen angepasst und leicht geglättet. Da sämtliche Interviews mit Luxemburgern geführt wurden, sind sprachliche Eigentümlichkeiten beibehalten worden. So wurden beispielsweise die französischen Begriffe, die auch in offiziellen Dokumenten auffindbar sind, nicht eingedeutscht.53
3.2.2
Auswertungsstrategie
Bei der Auswertung der Experteninterviews war es die Forschungsprämisse, dass das Auswertungsverfahren dem zu untersuchendem Gegenstand Rechnung tragen muss, um latente Argumentationslogiken angemessen herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund inspiriert sich die vorliegende Arbeit an verschiedenen Auswertungsverfahren der qualitativen Sozialforschung und kombiniert diese miteinander. So wurden die Experteninterviews methodisch in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2015), Mayring/Brunner (2013) bzw. Kuckartz (2016) computergestützt untersucht und ausgewertet.54 Die qualitative Inhaltsanalyse ist als ein systematisches und regelgeleitetes Auswertungsverfahren zu charakterisieren: Das methodische Vorgehen ist dadurch gekennzeichnet, dass die zuvor transkribierten Experteninterviews thematisch kodiert, d.h. in Kategorien55 eingeteilt werden, um das Datenmaterial anschließend systematisch zu interpretieren. Durch die Kategorienbildung sollen die Ergebnisse dementsprechend dadurch gesichert werden, indem die relevanten Analyseeinheiten56 klassifiziert werden (vgl. ebd.: 31). Einzelne Analyseschritte werden folglich
52 53 54 55 56
Das Transkriptionsregelwerk befindet sich in Anhang 1, S. 295. An dieser Stelle ist anzumerken, dass es den Interviewpartnern grundsätzlich freigestellt war, auf Deutsch oder Luxemburgisch zu antworten. Die computergestützte Auswertung erfolgte mit dem lizenzierten Analysetool MAXQDA (Version 2018). Zur detaillierten Definition von »Kategorie« vgl. Kuckartz (2016: 31ff.). Die Klassifizierung erfolgt durch das Kodieren von Sinneinheiten, »d.h. komplexe Aussagen, die bei der späteren Analyse auch außerhalb des Kontextes noch verständlich sind« (Kuckartz 2016: 84).
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nachvollziehbar gemacht, indem das sprachliche Material inhaltlich strukturiert wird. Zentrale Kernaussagen werden dadurch erfasst und latente Denkstile herausgearbeitet, die die Curriculumplanung beeinflussen. Zu den Analyseeinheiten gehören hierbei die Kodiereinheit, Kontexteinheit und Auswertungseinheit. Die kleinste, zentrale bedeutungstragende Einheit in einem transkribierten Interview bildet die Kodiereinheit; das Einzelinterview die Kontexteinheit; und die Gesamtheit der gesamten Interviews die Auswertungseinheit. Gleiche Befunde werden sodann zusammengefasst und gegenübergestellt. Die Einteilung in ein Kategoriensystem57 ist demnach keineswegs als assoziativer Vorgang zu verstehen, sondern erfolgt interpretativ, systematisch und regelgeleitet (vgl. Mayring/Brunner 2013: 325). Entscheidend für die Auswahl dieser Analysemethode waren mehrere Faktoren. Zunächst soll durch ein systematisches Kodieren der Interviewtranskripte das generierte Datenmaterial intersubjektiv nachvollziehbar und überprüfbar gemacht werden. Potenzielle Verzerrungseffekte, die z.B. durch eine freie Interpretation des Gesagten entstehen können, werden dementsprechend minimiert. Der Vorwurf der ›selektiven Plausibilität‹ (vgl. Flick 2007: 488), womit das Illustrieren thesenstützender und z.T. dekontextualisierter Textstellen ohne nachvollziehbare Analyse und Auswertung gemeint ist, kann damit an dieser Stelle zurückgewiesen werden. Mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse wird im Lichte des forschungsleitenden Interesses ein komparativer Ansatz verfolgt, um sprachenpolitische Interessen gegenüberzustellen. Die Vergleichbarkeit des Einzelfalles ist in der qualitativen Forschung jedoch nicht im Vorfeld gegeben (vgl. Oswald 2013: 187). Die nichtstandardisierte Durchführung der Experteninterviews führt dementsprechend dazu, dass sich die Forscherin einer Analysetechnik (qualitative Inhaltsanalyse) bedienen muss, um eine thematische Komparabilität zu erzeugen. Zudem ist die qualitative Inhaltsanalyse theoriegeleitet und kann demnach an das theoretische Vorwissen mit Blick auf den zu untersuchenden Gegenstand anknüpfen (vgl. Mayring 2015: 13).58 Die theoriegeleitete Herangehensweise ist immanent für den Ausgleich methodischer Fallstricke, da die qualitative Inhaltsanalyse keinen vorgefertigten Analyseleitfaden bietet und
57 58
Das Kodiersystem befindet sich in Anhang 2, S. 296f. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die theoriegeleitete Herangehensweise nicht ausschließlich Eigenschaft der qualitativen Inhaltsanalyse ist. Sie kann z.B. ebenso theoriegenerierend sein (vgl. Mayring 2015: 22ff.), was in erster Linie bei dem verwandten Auswertungszweig Grounded Theory der Fall ist (vgl. Corbin/Strauss 2015).
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sich z.T. durch sehr unterschiedliche Festlegungen und Entscheidungen auszeichnet (vgl. ebd.: 52). Theorien, so wird häufig gesagt, würden das Material verzerren, den Blick zu sehr einengen […] Begreift man jedoch Theorie als System allgemeiner Sätze über den zu untersuchenden Gegenstand, so stellt sie nichts anderes als die gewonnenen Erfahrungen anderer über diesen Gegenstand dar. Theoriegeleitetheit heißt nun, an diese Erfahrungen anzuknüpfen, um einen Erkenntnisfortschritt zu erreichen. (Ebd.: 60) Bei der Auswertung des empirischen Materials kann überdies nicht von dem einen validen Verfahren die Rede sein. Die klassischen Gütekriterien, wie Objektivität, Reliabilität und Validität, die überwiegend im Bereich der quantitativen Forschung Anwendung finden, können nicht per se auf qualitative Methoden übertragen werden (vgl. Flick 2007: 487ff.). Um die Güte der Forschung zu ›gewährleisten‹, müssen die Kriterien der Besonderheit der qualitativen Forschung und dem Forschungsprozess Rechnung tragen (vgl. ebd.: 489). Es ist daher auch plausibel, eher von »Strategien der Geltungsbegründung« (ebd.: 508) anstelle von ›Gütekriterien‹ im Bereich der qualitativen Forschung zu sprechen. Die Auswertungsstrategie kennzeichnet sich durch eine Mischform einer deduktiven und induktiven Kategorienbildung. Zudem wurden einige Textstellen aus dem Material unter Einbeziehung von Sekundärliteratur expliziert, um die Äußerungen theoretisch genauer einordnen zu können. Durch diese Kombination der Auswertungsmethoden sollen monoperspektivische Interpretationsschritte vermieden und einem ›naiven Empirismus‹ durch eine rein induktive Herangehensweise ohne jegliches Kontextwissen vorgebeugt werden. Ein Kriterium bei der Auswertung war zudem, das Potenzial des empirischen Materials nicht zu schmälern, indem theoretische Vorannahmen gänzlich dem zu untersuchenden Gegenstand aufoktroyiert werden. Vielmehr sollten aus dem empirischen Material weitere theoretische Überlegungen abgeleitet werden. So wurden zunächst inhaltliche Oberkategorien auf Grundlage des Interviewleitfadens deduktiv gebildet und an die Interviewtranskripte herangetragen. Dieses deduktive Verfahren erlaubte es, ohne einen vorab festgelegten Theorierahmen das sprachliche Material inhaltlich zu strukturieren und Generalaussagen abzuleiten. Die Oberkategorien sollten dabei möglichst neutral formuliert werden. Es wurden hierfür Kodierregeln aufgestellt, wodurch Überschneidungen minimiert wurden. Nach einem ersten thematischen Kodierungsdurchlauf von zwei
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Interviewtranskripten mit den vorab festgelegten Oberkategorien wurden diese noch einmal von der Forscherin geprüft und z.T. modifiziert, bevor das restliche sprachliche Material in diese übergeordneten Oberkategorien eingeteilt wurde. Während dieses Prozesses wurden zudem Memos und Paraphrasen59 angelegt, auf deren Grundlage in einem erneuten Durchlauf die induktiven Codes erzeugt und den Oberkategorien zugeteilt wurden. Die Subkategorien werden überwiegend nicht vorab festgelegt, sondern bilden sich erst im Analyseprozess auf Grundlage des zu interpretierenden Materials, ohne sich auf vorgefertigte Theorien zu beziehen (vgl. Mayring 2015: 85). Diese induktive Vorgehensweise weist zudem Parallelen zu den Methodologien60 (vgl. Mey/Mruck 2011) der Grounded Theory (vgl. u.a. Corbin/Strauss 2015) auf. Theoretische Konzepte werden dabei aus dem Material selbst generiert. In Anlehnung an das von den Gründervätern der Grounded Theory inspirierte Kriterium der ›theoretischen Sättigung‹, also »das Kriterium, um zu beurteilen, wann mit dem Sampling (je Kategorie) aufgehört werden kann« (Glaser/Strauss 1998: 69, zit.n. Strübing 2008: 33), galt der Gegenstandsbereich als erschlossen, nachdem die Forscherin feststellte, dass sie keine neuen Erkenntnisse durch weitere Interviewdurchführungen gewinnen konnte: Mit Sättigung ist der Punkt im Verlauf der Analyse gemeint, an dem zusätzliche Daten und eine weitere Auswertung keine neuen Eigenschaften der Kategorie mehr erbringt und auch zu keiner Verfeinerung des Wissens um diese Kategorie mehr beiträgt. Die Idee dieses Abbruchkriteriums liegt also darin festzustellen, ab wann sich die Beispiele für eine Kategorie im Material wiederholen. (Strübing 2008: 33) Aus dem Material ergaben sich zudem ›natürliche Kategorien‹ (vgl. Kuckartz 2016: 35) oder In-vivo-Codes, das sind buchstäblich von einem Interviewten verwendete Bezeichnungen, die sich inhaltlich auch in Aussagen eines anderen Interviewten wiederfinden. Dies deutet dementsprechend auf spezifi-
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Wie Kuckartz in Anlehnung an Mayrings induktive Kategorienbildung hervorhebt, werden dabei nicht das gesamte sprachliche Material, sondern nur »bestimmte Aspekte des Materials, die sich auf das Thema der Kategorienbildung beziehen« (Kuckartz 2016: 77), berücksichtigt. ›Die‹ Grounded-Theorie-Methodologie existiert nicht, zumal sich die Gründerväter Anselm Strauss und Barney Glaser in der Deutung der Methodologie und Anwendung der Methode selbst nicht einig sind.
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sche Sprachvorstellungen hin. Gleichwohl ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass einige Subkategorien bei der Untersuchung des sprachlichen Materials mit theoretischer Anbindung gebildet wurden, da sie sich aus dem Untersuchungsgegenstand selbst ergaben. Die Abgrenzung zwischen deduktiv und induktiv ist in diesen Fällen demnach ebenfalls als Mischform zu betrachten. Als weitere ›Strategie der Geltungsbegründung‹ wurde das Kategoriensystem mit zwei studentischen Hilfskräften61 in insgesamt zehn Kodierkonferenzen diskutiert, von einer durchschnittlichen Dauer von 60 Minuten. Bei den jeweiligen Besprechungen wurden je nach Umfang der Kontexteinheit ein bis zwei Interviewtranskripte und Kodierungen der Forscherin besprochen. Dieser Vorgang diente der Forscherin dazu, die eigenen Interpretationsschritte zu reflektieren und das Material intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Überdies wurde dadurch überprüft, ob die Struktur des Kategoriensystems Bestand hat. Dieses Verfahren verlief ebenfalls regelgeleitet und folgte daher bestimmten Besprechungsmodi. So lasen die beiden Hilfskräfte unabhängig voneinander die gleichen Interviewtranskripte und machten sich mit den Kodierungen der Forscherin und den Kodierregeln vertraut. Die zu besprechenden Interviews wurden zu jeder Sitzung systematisch in verschiedene Gruppen eingeteilt. Dementsprechend wurden einzelne Fälle, d.h. die Interviews mit einzelnen Personen je nach Aufgabenbereich und Zusammenarbeit, gruppenweise verglichen und analysiert (vgl. Kuckartz 2016: 49).62 61
62
Es handelte sich zum Zeitpunkt der Auswertung (Mai bis Juli 2019) um zwei Masterstudentinnen der Universität Luxemburg. Beide Studentinnen kommen aus verschiedenen Fachrichtungen (Master in Learning and Communication in Multilingual and Multicultural Contexts und Master in Modern and Contemporary European Philosophy), wodurch eine multiperspektivische Betrachtung auf den zu untersuchenden Gegenstand möglich ist. Es wurde jedoch dezidiert davon abgesehen, die studentischen Hilfskräfte thematisch kodieren zu lassen und per Intercoderreliabilität eine vermeintlich höhere Reliabilität zu erzielen (zur Kritik am klassischen Gütekriterium ›Intercoderreliabilität‹ vgl. Mayring 2015: 124f.). Beide Hilfskräfte arbeiteten ebenfalls mit der MAXQDA-Software (Version 2018). In dem Programm MAXQDA wurden die Transkripte in die Gruppen »zentrale Akteure der Reform«, »Gewerkschaftsvertreter«, »Wissenschaftler«, »ehemalige und aktive Bildungspolitiker« und »aktive oder detachierte Lehrer mit curricularer Verantwortung« eingeteilt. Dabei ist anzumerken, dass diese verschiedenen Verantwortungsbereiche durchlässig sind und sich einzelne Funktionsträger tendenziell auf mehreren Ebenen situieren können. Gleichwohl wurde während der Kodierkonferenzen darauf geachtet, die zu besprechenden Transkripte aufgrund ähnlicher Funktionsbereiche zu besprechen.
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Beiden Hilfskräften waren die Forschungsfragen und der Interviewleitfaden bekannt. Während der jeweiligen Teamsitzungen wurden dann die Kodierungen der Forscherin besprochen, gegebenenfalls Modifikationen vorgenommen und im kommunikativen Austausch wahlweise weitere induktive Codes herausgefiltert. Interpretative Abweichungen wurden entsprechend berücksichtigt und gemeinsam diskutiert. In Sitzung fünf wurde dann in einem Zwischenschritt die Struktur des Kategoriensystems kontrolliert, bevor die restlichen Interviewtranskripte ausgewertet wurden. Nach Beendigung der Einzelinterviewanalyse wurde zuletzt in zwei abschließenden Besprechungssitzungen noch einmal diskutiert, ob das Kategoriensystem Bestand hat und dieses dann schließlich von der Forscherin finalisiert. Die Einzelfälle wurden mithilfe der Kodierungen vergleichbar gemacht, um die sprachenpolitischen Positionierungen nebeneinanderstellen zu können und um diese folglich fallübergreifend zu interpretieren. Freilich darf nicht unerwähnt bleiben, dass eine abgeschlossene Interpretation des Datenmaterials nicht möglich ist und stets neu gedeutet werden kann (vgl. Mayring 2015: 38). Bevor das hier explizierte Forschungsdesign im zentralen Analysekapitel IV zum Einsatz kommt, werden im nachfolgenden Abschnitt die Schulgeschichte Luxemburgs und die mit ihr verknüpften Spracheinstellungen historiografisch ausgearbeitet. Nur so können die Aussagen aus den Interviews und den Reformdokumenten in einen größeren kulturhistorischen Zusammenhang gestellt werden.
III Historischer Hintergrund Curriculare Vorgaben im historischen Wandel. Nationenbildung und sprachliche Identität im Spiegel der Luxemburger Schulgeschichte Reden über Erziehung ist geschichtlich. Es wird in ihm immer etwas über Geschichte gesagt, und es wird auf geschichtliche Weise gesagt. Noch die gegen Vergangenheit gleichgültigste pädagogische Behauptung hat Geschichte zum Thema, mindestens die Geschichte einer Generation, zukünftige Geschichte. Das ist trivial, aber es hat Konsequenzen. Mollenhauer 1983: 12
In dem nachfolgenden historischen Kapitel werden basale Zensuren der Luxemburger Territorial- und Nationalgeschichte vorgestellt und unter dem Aspekt der Mehrsprachigkeit und ihrer Verankerung im Schulsystem betrachtet. Die Curriculumentwicklung wird dementsprechend vor dem Hintergrund soziopolitischer Entwicklungen untersucht und in ihrem Verhältnis zu Identitätskonzeptionen kulturgeschichtlich eingeordnet. Dem Curriculum – verstanden als Fahrplan für nationalpolitische und im Kontext der Untersuchung insbesondere sprachenpolitische Bildungsmaßnahmen und erzieherische (Re-)Aktion hinsichtlich gesellschaftlicher sowie historischer Umbrüche – wird eine identitätsstiftende Rolle zuteil. In diesem Zusammenhang ist das Curriculum bereits ein heimlicher Lehrplan eo ipso, da mit ihm spezifische, zumeist auch temporäre, Idealvorstellungen in der Bildungsplanung korrespondieren. Es sind die heimlichen Versionen des
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Lehrplans, die für die Erschließung des Reformkontextes von 2009 (Kap. IV) von entscheidender Relevanz sind. Angesichts der Luxemburger Bildungsstruktur und der Sprachenorganisation im Schulwesen bildeten sich z.T. divergierende Positionen in Bezug auf die Dreisprachigkeit heraus. In dem vorliegenden Kapitel III wird daher untersucht, unter welchen historischen Bedingungen die drei Landessprachen in ihren unterschiedlichen Funktionen im Luxemburger Schulunterricht eingeführt wurden. Auf dieser Grundlage wird es möglich, die getroffenen bildungspolitischen Entscheidungen während der Reform 2009 zu beleuchten. Zentral ist, dass die Entwicklung eines spezifischen (nationalen) Selbstverständnisses oftmals die Vorstellung über eine gemeinsam gesprochene Sprache voraussetzt. Im Zuge der in Europa stattfindenden Nationenbildung1 während des 19. Jahrhunderts avancierte die Einheitssprache zum wesentlichen Kollektivsymbol nationaler Einheit und gleichzeitig zum Abgrenzungsmechanismus gegenüber anderen Sprachgemeinschaften, die sinnbildlich für weitere Nationalstaaten stehen. Angesichts des spezifischen drei- bzw. mehrsprachigen Gesellschaftskontextes Luxemburgs ist es zunächst plausibel, die Vorläufer der Nation unter dem Aspekt der sprachlichen und kulturellen Außeneinflüsse in den Blick zu nehmen, »da die Geschichte des Kleinstaats gar nicht anders als transnational, d.h. durch die Einbindung in größere Räume, nachzuvollziehen ist« (Pauly 2011: 8). So lässt sich anhand der im Mittelalter ansetzenden Territorialgeschichte des heutigen Luxemburgs aufzeigen, dass der Kleinstaat traditionell an andere Sprach- und Kulturräume gekoppelt ist. Entsprechend beginnt der historische Abriss in Kapitel III.1 mit dem Mittelalter (1.1), da sich in dieser Zeit ein domänenspezifischer Sprachengebrauch in Luxemburg herausbildete. Anschließend wird die Verquickung der einen Sprache mit der einen Nation genauer beleuchtet, welche besonders bei den deutschen und französischen Nachbarn zu einem nationalen Bezugspunkt avancierte und in
1
Auf eine ausführliche Darlegung des Nationenbegriffs wird an dieser Stelle verzichtet. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird der Begriff der ›Nation‹ heuristisch verwendet. In Anbetracht der forschungsleitenden Fragen erweist sich das im Kontext des bereits abgeschlossenen Forschungsprojektes Nationenbildung und Demokratie elaborierte Verständnis von Nation als »eine politische, kulturelle und wirtschaftliche Solidargemeinschaft, ein Ergebnis permanenter gesellschaftlicher Praxis, das seit dem 18. Jahrhundert zur wichtigsten Form von Begründung politischer Herrschaft wurde« (Franz/Lehners 2013: 20) als folgerichtig.
III Historischer Hintergrund
diesem Sinne nicht für Luxemburg gilt. Dementsprechend werden in den Unterkapiteln 1.2 und 1.3 die Alternativmodelle zur einen Sprache beleuchtet, die sich in Luxemburg entwickelten und die durch die Sprachenunterrichtspolitik erzieherisch wirksam wurden. Unter Einbeziehung institutioneller Faktoren, wie der Schulgesetzgebung, wird überdies veranschaulicht, dass das nationale Selbstverständnis und die damit einhergehende sprachliche Identität durch die Organisation des Schulwesens konstruiert ist (2.1, 2.2). Im Fokus stehen dabei die zwei großen Schulgesetze von 1843 und 1912, da diese von elementarer Bedeutung für das Verständnis des Reformkontextes 2009 und die mit ihm verbundene Sprachenunterrichtspolitik sind. In diesem Zusammenhang werden ebenso die schulpolitischen Interessen verschiedener Akteure beleuchtet und herausgearbeitet, inwiefern eine Vorstellung über eine einheitliche, nationale Identität gleichsam curricularisiert wurde (2.3). Im dritten Abschnitt wird anschließend die Zeitspanne nach dem Zweiten Weltkrieg und den stattfindenden weltwirtschaftlichen Entwicklungstendenzen beleuchtet. Wie in Luxemburg mit dem zunehmenden bildungspolitischen Druck von außen, d.h. einer supranationalen Interessenvertretung und der Forderung nach Anpassung des Bildungswesens an eine heterogene Gesellschaft, umgegangen wurde, steht im Zentrum von Kapitel III.3. In diesem Zusammenhang gliedert sich der Abschnitt in zwei Teile: Erstens wird untersucht, welche Einflussgrößen in der internationalen Bildungsplanung eine Rolle spielten und welche Interessen dabei im Vordergrund stehen (3.1). Zweitens wird die Frage verhandelt, wie speziell in Luxemburg mit Globalisierungs- und Internationalisierungsprozessen umgegangen wurde und welche Konsequenzen daraus für die Luxemburger Curriculumentwicklung resultieren (3.2).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
1 1.1
Schulpolitische Implikationen des Nation Building »[A]tiny wedge between overbearing neighbours« 2. Die Territorialgeschichte Luxemburgs und die Herausbildung der Mehrsprachigkeit
In seiner Entwicklungsgeschichte wurde Luxemburg nicht zuletzt aufgrund seiner Flächenbegrenzung, umgeben von den römisch-deutschen und französischen Herrschaftsmächten, eine strategische Bedeutung zugeschrieben (vgl. Trausch 2008: 14). Aufgrund der mediativen Funktion des zwischen Romania und Germania gelegenen Sprachgebietes waren Sprachbarrieren dahingehend unbekannt (vgl. Mannes 2007: 13). Die erste urkundliche Erwähnung findet das heutige Großherzogtum, als Graf Siegfried I., Vogt der Reichsabtei Sankt Maximin in Trier, in dieser Grenzregion im Zuge eines Tauschgeschäftes einen Felsvorsprung am Fluss Alzette erwarb und dort zwischen 963 bis 987 die Burg Lucilinburhuc errichten ließ (vgl. Trausch 2008: 26f.). Obgleich Siegfried I. in der Geschichtsschreibung als der Gründervater des heutigen Luxemburgs gilt, bezeichnete sich erst Konrad I. mit der Herausbildung des Fürstentums im Jahr 1083 als Graf von Luxemburg, was Gilbert Trausch zufolge Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses sei (vgl. ebd.: 28). Letzteres wurde durch jene Luxemburger Herrscher bestärkt, die Kaiser des Römischen Reiches (Heinrich VII., Karl IV., Wenzel, Sigismund) oder Könige Böhmens waren (Johann der Blinde, der ›letzte Ritter‹), wodurch das mittelalterliche Luxemburg Bekanntheit erlangte (vgl. ebd.: 14). Entlang der ›Lützelburg‹ entstand eine gleichnamige Stadt,3 die ihren Namen an das sich im 11. Jahrhundert herausbildende Fürstentum und spätere Herzogtum (ab 1356) bzw. Großherzogtum (seit 1815) weitergab, das bis ins Jahr 1795 zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörte (vgl. ebd.). 2
3
Das vollständige Zitat lautet: »Luxembourg is no longer a tiny wedge between overbearing neighbours, but a sovereign state dealing with various sub-national entities« (Péporté et al. 2010: 9; Hervorh. der Verf.) und bezieht sich auf die globale Bedeutung Luxemburgs in der Gegenwart. Gleichzeitig impliziert es demzufolge auch, dass dem Großherzogtum lange Zeit zuvor die Funktion eines verbindenden Scharnierstücks zwischen den beiden Großmächten inhärent war. Der Stadtstatus konnte Luxemburg Anfang des 13. Jahrhunderts zugesprochen werden, als der Marktplatz erweitert wurde, d.h. der zentrale Standort, der »mithin so viele Zentralfunktionen politisch-administrativer, wirtschaftlicher und kultisch-kultureller Natur [vereinte]« (Pauly 2011: 29).
III Historischer Hintergrund
Seit 1340 ist das spätmittelalterliche Luxemburg entlang einer von Norden nach Süden4 verlaufenden Sprachgrenze in einen westlichen wallonischen und östlichen germanischen bzw. moselfränkischen Verwaltungsraum eingeteilt (vgl. Fehlen 2008: 47; Trausch 2008: 15). Diese beiden administrativ eingeteilten Sprachräume waren etwa gleich groß. Luxemburg-Stadt gehörte dabei aufgrund seines geografischen Standortes, östlich der Sprachgrenze, zum germanischen Sprachgebiet (vgl. Trausch 2008: 15). Im soziolinguistischen Sinne resultierte aus dieser Teilung eine Diglossiesituation, d.h. ein Nebeneinander des Deutschen und einiger regionaler Varietäten sowie des Französischen (vgl. Gilles et al. 2010: 63). In den zumeist alltäglichen Bereichen des Lebens wurde überwiegend Deutsch bzw. die moselfränkische Sprachvarietät des Westmitteldeutschen gesprochen, das man heute als Luxemburgisch ausweisen würde (vgl. Trausch 2008: 20). Ein höherer Stellenwert wurde jedoch dem Französischen zuteil, da es seit dem Ende des Mittelalters die Sprache der Zentralverwaltung war und sich diese Funktion bis heute durchgesetzt hat (vgl. ebd.: 15). Der soziale Status korrelierte ebenfalls mit der Sprachenverwendung: Französisch galt als Hochsprache und das Deutsche als Sprache der Kirche sowie der einfachen Leute (vgl. Weber/Horner 2012: 8). Demnach wurde dem Französischen ein gesellschaftspolitisch höherer Status zugesprochen. Die Signifikanz des Französischen wurde dann noch einmal mit Blick auf das Jahr 1443 eindeutiger, das im nationalgeschichtlichen und teleologischen Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts zum politischen und nationalkulturellen Wendepunkt erklärt wurde: Als die männliche Linie des Hauses Luxemburg, die auf Siegfried I. aus dem Ardennergeschlecht zurückgeht, ausstarb und das Herzogtum durch Heirat an das Haus Habsburg übertragen wurde, war nunmehr Brüssel das administrative Zentrum (vgl. Trausch 2008: 14; Péporté et al. 2010: 4f.). Amtsgeschäfte wurden demnach auf Französisch geführt. Aufgrund der Handelsbeziehungen zwischen den französisch- und deutschsprachigen Nachbarländern wurde in Luxemburg-Stadt im Jahr 1499 eine ›gemeine‹ Stadtschule erbaut, in der Deutsch und Französisch gelehrt wurden und die nicht wie in den kirchlichen Schulen Latein im Lehrplan vorsahen (vgl. Pauly 1994: 104f.). Der Einfluss der Kirche auf das spätere Schulwesen wurde besonders dadurch forciert, nachdem Luxemburg-Stadt im Mittelalter eine durch den Benediktinerorden geprägte »kirchlich[e] Zentralfunktion« (Pauly 2011: 28) erhielt. In erster Linie ist das Kolléisch zu 4
Gemäß den heutigen Ländergrenzen.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
nennen, eine Anfang des 17. Jahrhunderts von dem Jesuitenorden gegründete Sekundarschule, die auch nach dessen Auflösung 1773 eine wesentliche Rolle angesichts des intellektuellen, kulturellen und religiösen Daseins spielte. 1818 wurde das klassische Lyzeum in Athénée umbenannt und besitzt bis heute eine prestigeträchtige Stellung im Land (vgl. Haag 2015: 30). In enger Verbindung mit dem Kolleg formierten sich im 19. Jahrhundert ebenso das in Luxemburg-Stadt angesiedelte Lehrerseminar, die klassischen Lyzeen in Diekirch und Echternach sowie das auf dem Limpertsberg angesiedelte Lycée de Garçons (vgl. ebd.). In seiner langen akademischen Tradition gilt das Kolleg mit seinem Hochschulzyklus als Wegbereiter der heutigen Universität (vgl. ebd.). Im historischen Verlauf ist die angesehene (bildungs-)politische Stellung und Einflussnahme des Lehrpersonals der Schule herauszustellen. Seit das Herzogtum nicht mehr von Herrschern aus dem Hause Luxemburg regiert wurde – eine Zeit, die rückwirkend von Geschichtsschreibern im 19. Jahrhundert als Periode der ›Fremdherrschaft‹ konstruiert wurde –, entwickelte sich Luxemburg zum Gegenstand verschiedener Annexionspläne der Nachbarländer und wurde beinahe an die Spanischen Niederlande (16. und 17. Jahrhundert)5 , an Frankreich (17. Jahrhundert), an die Österreichischen Niederlande (18. Jahrhundert), erneut an Frankreich und auch an Deutschland (19. und 20. Jahrhundert) angegliedert (vgl. u.a. Trausch 2008: 14; Pauly 2011: 52). Die oftmals als repressiv konnotierte Epoche der ›Fremdherrschaft‹ wird in der gegenwärtigen Forschung durchaus differenziert betrachtet, da die Zeitgenossen die Legitimation der ›fremden‹ Regierungsperioden nicht infrage stellten (vgl. Pauly 2011: 52). Hierbei wird insbesondere vor dem Hintergrund des unausgeprägten Nationalgefühls der Einheimischen argumentiert, welches sich erst Jahrzehnte nach der Staatsbildung entwickelte (vgl. Péporté et al. 2010: 43f.), denn if there were no Luxembourgers (in a ›national‹ sense of the word) in the early modern period, there could also be no ›foreigners‹. During rebellions, for example, it is noticeable that contemporaries never justified their actions with reference to any ›national oppression‹ as a result of foreign intrusion. (Ebd.: 44)
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In dieser Zeit fand zudem die erste territoriale Aufteilung, kurz Teilung, des Großherzogtums statt, nachdem die Spanischen Niederlande nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges den südlichen Teil Luxemburgs, d.h. die Festungen Thionville und Montmédy, an Frankreich abtreten mussten (vgl. Trausch 2008: 16).
III Historischer Hintergrund
In der Retrospektive wird den Einheimischen Luxemburgs mit dem Begriff der ›Fremdherrschaft‹ vielmehr ein ›proto-nationales Bewusstsein‹ (vgl. ebd.: 10) unterstellt, was jedoch aufgrund der mangelnden Wahrnehmung über Eigen und Fremd kritisch betrachtet werden muss. Die Rolle der Sprachenverwendung und nationalen Zugehörigkeit wurde nach der Französischen Revolution eindeutiger, wenngleich diese auch dann nicht vollständig geklärt wurde.
1.2
(Mehr-)Sprachigkeit und nationaler Einheitsgedanke
Während der Französischen Revolution und der Gebietsausweitung Frankreichs wurde Luxemburg 1795 von der Französischen Republik annektiert und nach zentralstaatlichem Prinzip in Départements aufgeteilt, von denen der größte Teil Luxemburgs zu dem Département des Forêts6 gehörte (vgl. Scuto 2013: 250). Die Grenzen Europas wurden dann schließlich auf dem Wiener Kongress 1815 mit dem Ziel neu verhandelt, ein politisches Gleichgewicht nach dem Ende der napoleonischen Kriege wiederherstellen zu können. Für die politische Landkarte Europas bedeutete dies vor allem, dass die Staatenbildung gleichzeitig die Idee von nationaler Einheit legitimieren sollte. Dennoch kann dieses Vorgehen nicht ohne kultur- und ideengeschichtlichen Vorlauf betrachtet werden und so wurde »die Nationalstaatenbildung des 19. Jahrhunderts […] nicht ohne Vorgeschichte […] auf dem Reißbrett neu entworfen« (Horlacher 2011: 42). Habsburg-Österreich verzichtete wegen des Zuspruchs italienischer Territorien auf sein niederländisches Hoheitsgebiet, und durch das Insistieren Großbritanniens angesichts der Schaffung eines neutralen Pufferstaates in der niederländisch-belgischen Region konnte Preußen seinen Regierungsbereich nicht bis an die Maas ausdehnen (vgl. Pauly 2011: 66). Ohne Mitspracherecht der Luxemburger Bevölkerung wurde auf dem Wiener Kongress der aus »rein diplomatischen Opportunitätsgründen« (Pauly 2013: 41) politisch motivierte Beschluss der Großmächte gefasst, aus dem Großteil des bis dato bestehenden Herzogtums Luxemburg einen neuen souveränen Staat zu erschaffen (vgl. Trausch 2008: 18). Dies zeigt einmal mehr, dass die Zukunft des Kleinstaates in seiner historischen Entwicklung in der politischwirtschaftlichen Entscheidungsgewalt der drei Nachbarländer lag und so 6
Neben dem ›Wälderdepartement‹ wurde Luxemburg in die kleineren Départements ›Ourthe‹ und ›Sambre et Meuse‹ aufgeteilt (vgl. Scuto 2013: 250).
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diente er »[b]ei Schwierigkeiten und Interessenkonflikten […] – in der Metapher des Schachspiels – als Bauer auf dem internationalen Schachbrett« (ebd.: 22). In einer Personalunion zwischen den Niederlanden und dem Großherzogtum regierte der aus dem Hause Oranien-Nassau stammende König der Niederlande, Wilhelm I., das neuformierte Großherzogtum. Das Recht des König-Großherzogs wurde Wilhelm I. als Ausgleich seiner zuvor verlorenen Territorien an Preußen zugesprochen (vgl. Pauly 2011: 66). Die Hauptstadt Luxemburg blieb zumindest weiterhin Bundesfestung einer preußischen Garnison. Während dieses europaweiten Prozesses des Nation Building zeigte sich, dass es für gewöhnlich die eine gemeinsame Sprache war, die als Werkzeug dienen sollte, nationale Einheit und soziale Kohäsion zu konturieren. Sprache wird damit zur Demarkationslinie stilisiert, die über Zugehörigkeit und Ausschluss entscheidet. Am Beispiel von Deutschland oder Frankreich lässt sich exemplarisch aufzeigen, dass die Einheitssprache zum wesentlichen Symbol einer gemeinsamen Identität versinnbildlicht wurde. Die Erschaffung einer verbindlichen Hochsprache im Deutschen und Französischen setzte sich gegen Sprachenvielfalt und regionale Dialekte durch. Zentral ist in diesem Zusammenhang, dass die Unterscheidung in Ein-, Zwei-, Drei- oder Mehrsprachigkeit gleichermaßen die Bezeichnung »Sprachigkeit« impliziert, d.h. eine Systematisierung von Sprachen, die eindeutig voneinander zu unterscheiden sind (vgl. Arndt et al. 2007: 26, zit.n. Gramling 2017: 35). Die Vorstellung über die Einsprachigkeit, in die der Mensch gewissermaßen von Geburt an ganz natürlich hineinwächst, ist dabei als eine »Erfindung der Neuzeit« zu werten, »die im Namen des ›nation building‹ kulturelle Homogenität und einen einheitlichen Kommunikationsraum herstellen soll« (Dembeck/Mein 2012: 133). Legitimiert wird die Idee der Einheitssprache durch die Vorstellung über ein ontologisch intrinsisches Sprachvermögen, den der Begriff »Muttersprache« am besten zusammenfasst. Yasemin Yildiz (2012) zufolge kennzeichnet dieses ›Einsprachigkeitsparadigma‹7 das Schlüsselprinzip in der gesellschaftlichen Organisationsstruktur, wodurch die de facto auftretende – und keineswegs als unnatürlich zu betrachtende – Mehrsprachigkeit verschleiert wurde (vgl. ebd.: 2). Diese birgt im Kontext des Nation Building schließlich das Risiko, die nationale Einheitlichkeitsphilosophie zu 7
Als Paradigma wird im Folgenden eine spezifische Geisteshaltung (Mindset) verstanden, die darüber entscheidet, wie und durch wen Wissen über etwas legitimiert wird (vgl. Pinar et al. 2008: 12). Geisteshaltungen unterliegen stets historischen Prozessen.
III Historischer Hintergrund
bedrohen (vgl. ebd.: 6). Die Massenverschulung, die im Zuge der Staatenbildung sukzessiv institutionalisiert wurde, kennzeichnet vor diesem Hintergrund »one of the primary means of such a social engineering of monolingual populations« (ebd.: 3). Wenn auch nicht vergleichbar mit den Nachbarstaaten, gab es auch im mehrsprachigen Luxemburg zu Beginn der Eigenstaatlichkeit Parallelen zu diesem Einsprachigkeitsparadigma, obgleich dies nicht bedeutete, einsprachig zu sein. Vielmehr standen die offiziell anerkannten Amtssprachen nebeneinander. So wurde nach dem Ende des Ancien Régime und im Zuge der Mitgliedschaft Luxemburgs im Deutschen Bund8 Niederländisch als weitere Amtssprache neben dem Französischen eingeführt und der preußische Einfluss damit über die Sprachenpolitik zurückgedrängt (vgl. Fehlen 2008: 47). Niederländisch wurde dabei die Funktion einer allgemeinen Verkehrssprache, gar ›globalen‹ Sprache zuteil (vgl. Weber/Horner 2012: 6). Inwieweit das Niederländische jedoch tatsächlich auch für die Luxemburger Bevölkerung zugänglich gemacht wurde, ist fraglich, da der König-Großherzog den Einheimischen die Ausführung eigener Verwaltungsaufgaben untersagte und öffentliche Ämter lediglich von niederländischen Beamten besetzt werden konnten (vgl. Pauly 2011: 67). Niederländisch fungierte hiernach als Exklusionsinstrument, zumal es zu diesem Zeitpunkt noch keine verbindliche Gesetzgebung in Hinblick auf eine einheitliche Organisation des Schulwesens gab. Auch wenn das Niederländische grundsätzlich im Grundschulbereich eingeführt wurde, fielen der Aufbau und möglicherweise auch das Angebot des Sprachenunterrichts abweichend voneinander aus (vgl. Fehlen 2008: 47; Weber/Horner 2012: 7). Folglich ist anzunehmen, dass der Großteil der Bevölkerung weiterhin Deutsch bzw. den moselfränkischen Dialekt sprach, Bildungsprivilegierte Französisch und politisch einflussreiche Bürger auch Niederländisch. Ungeachtet der Modernisierungsmaßnahmen durch Wilhelm I., der den ländlich geprägten Kleinstaat u.a. bildungspolitisch nach niederländischem Vorbild organisierte, war es jedoch nicht die autochthone Luxemburger Bevölkerung, die sich an den Neugestaltungsprozessen aktiv beteiligen konnte. Daran lässt sich der absolutistische Regierungsstil Wilhelms I. aufzeigen, der Luxemburg vielmehr als 18. Provinz der Niederlande anstatt eines unabhängigen Staates regierte (vgl. u.a. Trausch 2008: 17f.; Fehlen/Heinz 2016: 13). Etwa
8
Luxemburg verblieb bis ins Jahr 1866 in dem losen Staatenbund.
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zwei Jahrzehnte nach dem Wiener Kongress widersetzten sich die Luxemburger – mit Ausnahme der zum Bürgertum gehörenden Hauptstadtbewohner, die dem Hause Oranien getreu gegenüberstanden – schließlich dem Regiment Wilhelm I. und schlossen sich der Belgischen Revolution von 1830 an (vgl. Pauly 2011: 68). Neben den autoritären Strukturen der niederländischen Regierung waren es zudem die hohen Steuerbelastungen in Luxemburg, die zur Triebfeder des Protestes zählten (vgl. ebd.: 67f.). Als Ergebnis wurde auf der Londoner Konferenz von 1831 die Unabhängigkeit Belgiens von den Niederlanden beschlossen, doch stellte sich die Frage, welcher Status dem Großherzogtum zugesprochen werden sollte, da sowohl Belgien als auch die Niederlande eine Annexion forderten (vgl. Trausch 2008: 18). Die Verwaltungsstruktur wurde im Zuge dessen geteilt: Bis auf Luxemburg-Stadt, das mitsamt der preußischen Bundesfestung weiterhin zur niederländischen Regierung gehörte, wurde das Großherzogtum unter einen belgischen Gouverneur gestellt (vgl. Pauly 2011: 68). Zugleich bildeten sich zwei Schulsysteme aus, da zum einen der kirchliche Einfluss in der niederländisch-preußischen Hauptstadt eingeschränkt wurde (vgl. Thyssen 2018: 16). Zum anderen verkündete das unter dem belgischen Regime von 1830 bis 1839 organisierte Schulwesen im übrigen Teil des Landes die Religions- und Unterrichtsfreiheit (vgl. ebd.). Das gesamte Schulsystem wurde dadurch außerhalb der Hauptstadt auf der Lokalebene verwaltet. Dementsprechend wurde sowohl die École modèle, die für die Lehrerausbildung zuständig war, als auch das Schulinspektorat abgeschafft (vgl. Voss 2012a: 55). Das Unterrichtsangebot lag danach in der finanziellen Eigenverantwortung der Gemeinden, und so konnte sogar in einigen Fällen, wie etwa aus Kostengründen, komplett auf die Primärschulerziehung verzichtet werden (vgl. Voss 2011: 148).
1.3
Die vollständige Unabhängigkeit Luxemburgs
Als 1838 das Schicksal Luxemburgs erneut verhandelt wurde, stimmte Wilhelm I. einer vollständigen Trennung von den Niederlanden zu. Die Beweggründe der Grenzziehung sind in der seit dem Wiener Kongress pulsierenden Germanisierungspolitik unter Wilhelm I. zu suchen (vgl. Fehlen 2018: 59). Die Luxemburger Bevölkerung stand dieser deutschnationalen Entwicklung jedoch eher indifferent als opportunistisch gegenüber (vgl. ebd.). Dahingehend wird offenkundig, dass auch Jahrzehnte nach der Formierung des Großherzogtums auf dem Wiener Kongress ein nationales Zugehörigkeitsgefühl immer noch nicht sonderlich ausgeprägt war. Ein Großteil der
III Historischer Hintergrund
Luxemburger Abgeordneten im belgischen Parlament setzte sich daher auch für einen belgischen Einheitsstaat ein, der sich von der Mosel, d.h. mitsamt den Luxemburger Territorien, bis an die Nordsee erstrecken sollte (vgl. Pauly 2011: 68). Allerdings wurden die Luxemburger Vertreter von einer absoluten Mehrheit überstimmt, und die Geburtsstunde des autonomen Großherzogtums wurde durch den Londoner Vertrag von 1839 besiegelt, der die bis heute gültigen territorialen Gebietszuweisungen festlegte: Nach 1815 wurde 1839 die letzte Teilung des Kleinstaates vollzogen, indem das westliche, primär französischsprachige Gebiet als wallonische Province du Luxembourg an Belgien annektiert wurde. Dagegen gehörte der östliche, deutschsprachige Teil des Landes mitsamt der preußischen, oranisch sympathisierenden Hauptstadt weiterhin zum Hoheitsgebiet Wilhelm I. (vgl. Trausch 2008: 18). Unter Einbeziehung seiner geolinguistischen Lage überlappte Luxemburg seit dem Mittelalter die germanische und romanische Sprachgrenze bis zu dieser Teilung, und das nunmehr zum deutschsprachigen Raum zugehörige Gebiet bildete fortan das eigenständige Großherzogtum (vgl. Fehlen 2008: 47).9 Obwohl die vollständige Trennung von den Niederlanden durch einen Dynastiewechsel erst 1890 vollzogen wurde, gilt das Unabhängigkeitsjahr 1839 als maßgeblicher national- und sprachhistorischer Marker in Bezug auf die Eigenstaatlichkeit, »weil erst jene Grenzziehung eine sprachliche Einheit geschaffen hat, die die weitere sprachenpolitische Entwicklung entscheidend beeinflussen sollte« (ebd.). Trotz des Abtretens der wallonischen Gebiete an Belgien war es jedoch keineswegs das Standarddeutsche, das alleinig diese sprachliche Einheit kennzeichnete, obwohl Luxemburg nunmehr durch die Grenzziehung zum deutschsprachigen Gebiet gehörte. Im Gegenteil: Man hielt an der im Mittelalter entstandenen Zweisprachigkeit fest, die 1848 in die Verfassung aufgenommen wurde (vgl. Mémorial A52 1848a: 395, Art. 330), nachdem sie zunächst 1843 im Primärschulgesetzesrahmen ratifiziert wurde.10 Es waren die Luxemburger Notabeln, die Einfluss auf Verwaltungsentscheidungen hatten und sich für die Beibehaltung des Französischen als
9
10
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die vormals existierende Sprachgrenze zwischen Ost und West nicht exakt mit der neuen geografischen Grenzziehung übereinstimmt. So wurde das deutschsprachige Département Arlon, das geografisch in den primär französischsprachigen Teil des Großherzogtums einzuordnen war, an Belgien annektiert. Dagegen verblieben einige französischsprachige Dörfer auf Luxemburger Boden (vgl. Péporté et al. 2010: 6). Zur Primärschulgesetzgebung siehe nachfolgendes Kapitel 2, S. 100ff.
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offizielle Sprache einsetzten (vgl. Trausch 2008: 20). Dies kann einerseits als Abgrenzungsmechanismus gegenüber Preußen gewertet werden, andererseits als Versuch, die soziale Schere zwischen französischsprachigem Bildungsbürgertum und der moselfränkisch sprechenden Landbevölkerung zu minimieren (vgl. Scuto 2012: 26f.). Die Autonomie Luxemburgs wurde durch den Regierungswechsel in den Niederlanden bestärkt: 1841 trat Wilhelm II. nach dem Rücktritt seines Vaters dessen Nachfolge an, beendete dessen Germanisierungspolitik und übertrug den Einwohnern fortan Führungs- und Regierungsaufgaben, und so wurde die Verwaltungsgliederung von einer bisherigen Provinz- zu einer Staatsverwaltung umstrukturiert (vgl. Scuto 2013: 251). Das neue Selbstbestimmungsrecht führte jedoch nicht unmittelbar zu einem Gefühl der nationalen Verbundenheit, und so darf die Eigenstaatlichkeit nicht als Versuch missdeutet werden, »politische und kulturelle Legitimität zu schaffen« (Péporté 2013: 49). Diese Bestrebungen kamen im Großherzogtum erst später, mit Ende des 19. Jahrhunderts bis nach dem Ersten Weltkrieg, zum Vorschein (vgl. ebd.). Politisch orientierte sich Wilhelm II. eher gen Frankreich, was auch einen erheblichen Einfluss auf administrative und pädagogische Belange in der Schulorganisation zur Folge hatte (vgl. Thyssen 2018: 17; 19). Die erste Luxemburger Verfassung von 1848 arbeitete man jedoch mit Blick auf den restaurativen Gedanken des Deutschen Bundes aus (vgl. Pauly 2011: 69). Innenpolitisch bedeutsam dabei war, dass es sich um eine Ständeverfassung handelte und sich diese nach dem Zensuswahlrecht erneuerte (vgl. Pauly 2011: 69). Demzufolge hatten lediglich finanziell abgesicherte Bürger politisches Mitspracherecht, die im Übrigen auch häufiger des Französischen mächtig waren. Große Teile der Bevölkerung wurden somit per se von einer politischen Partizipation ausgeschlossen. Sprachenpolitisch war dies bedeutsam, weil diejenigen, die überwiegend die Luxemburger Mundart sprachen, politisch benachteiligt waren. Der ökonomisch unterentwickelte Kleinstaat war zudem weiterhin wirtschaftlich an die Nachbarländer gebunden. Von politisch-wirtschaftlicher Relevanz ist hierbei die Mitgliedschaft im Deutschen Zollverein ab 1842 zu nennen, wodurch die Beziehungen zum Deutschen Bund intensiviert wurden (vgl. Trausch 2008: 21; Scuto 2013: 251). Kulturgeschichtlich ist währenddessen die dem historischen Verlauf geschuldete Nähe zum Deutschen bzw. zum Deutschtum hervorzuheben. So zählte mitunter dieser hohe kulturelle und sprachliche Identifikationsgrad zu den Beweggründen der Luxemburger, sich politisch aktiv an der Deutschen Revolution 1848 zu beteiligen (vgl. Pauly
III Historischer Hintergrund
2011: 72f.). Unter Berücksichtigung der verstärkten politischen und kollektiven Treue zum östlichen Nachbarn ist die Aussage des ersten Luxemburger Regierungschefs, Gaspard-Théodore-Ignace de la Fontaine, zu nennen, der sich wie folgt äußerte: »Wir können unsere Natur nicht verleugnen, wir sind Deutsche« (zit.n. ebd.: 74). Gleichwohl erteilte das Parlament den drei Luxemburger Vertretern im Zuge der Frankfurter Nationalversammlung 1848 die Anordnung, für die Unabhängigkeit des Großherzogtums einzustehen und jegliche Beschlüsse der Abgeordnetenkammer und des König-Großherzogs ratifizieren zu lassen (vgl. ebd.). Da es dort auch keine Übereinkunft hinsichtlich einer deutschen Einheit gab, wurde auch die Anbindung Luxemburgs in einen deutschen Einheitsstaat nicht weiterverfolgt und die Autonomie des Großherzogtums stand nunmehr im politischen Fokus (vgl. ebd.: 57). Einen elementaren Schritt in die Selbstständigkeit stellte vor diesem Hintergrund, neben der eigenen Verfassung, das neue Einbürgerungsgesetz von 1848 dar (vgl. Mémorial A97 1848c), welches als Reaktion auf die unter Wilhelm I. initiierte niederländische Verwaltungsstruktur zu verstehen ist. Als Folge dieser regelrechten Unmündigkeit verschärften sich im Zuge der Staatenbildung und vollständigen Unabhängigkeit Luxemburgs von den Niederlanden die Einbürgerungskriterien, dich sich schlussendlich »zu einem wichtigen politischen Instrument« (Scuto 2013: 254) entwickelten. Die Frage entlang der Staatsbürgerschaft führte sonach zwangsläufig auch dazu, dass zeitgleich festgelegt werden musste, wer in die Gemeinschaftsform integriert wurde und wer nicht. Daraufhin wurden die Anwärter, die nach dem Unabhängigkeitsjahr 1839 einen Einbürgerungsantrag stellten, genau überprüft, sodass ein Konkurrieren mit Luxemburgern um Staatsstellen ausgeschlossen werden konnte (vgl. ebd.).11 Ebenso wurden die neuen Einbürgerungsbestimmungen im Jahre 1848 gesetzlich festgehalten, die den territorialen 11
Hierbei sei anzumerken, dass für die Besetzung von Staats- bzw. Beamtenstellen auch heutzutage oftmals die Luxemburger Nationalität und/oder gute Kenntnisse in den Landessprachen als Voraussetzung gelten. Betrachtet man beispielsweise die Verteilung von Luxemburgern (Einwohner mit einem Luxemburger Pass) und denjenigen, die die Luxemburger Staatsangehörigkeit nicht besitzen, so zeigt sich, dass im Jahr 2017 97 Prozent der Stellen im öffentlichen Dienst von Luxemburgern besetzt waren (vgl. STATEC 2017: 35f.). Zu den weiteren Bereichen, bei denen die Anzahl der Luxemburger überwiegt, gehören Stellen im Bildungsbereich (79 %) sowie im Sozialwesen (49 %) (vgl. ebd.). Dagegen arbeitetet der Hauptteil der Grenzgänger (Frontaliers) im Privatsektor und nur zwei Prozent der Stellen im öffentlichen Dienst sind von Grenzgängern besetzt (vgl. ebd.: 39).
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Verschiebungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts Rechnung tragen und das Territorialitätsprinzip in Anschlag bringen (vgl. Mémorial A97 1848c: 848, Art. 811). So erhielten diejenigen die Luxemburger Staatsbürgerschaft, die im ehemaligen Herzogtum geboren sind und seit 1814 im Großherzogtum leben sowie die in Luxemburg geborenen Kinder ausländischer Eltern (vgl. ebd.). Dagegen stellten Sprachenkenntnisse zu diesem Zeitpunkt – als Inbegriff kultureller Integration – noch kein Einbürgerungskriterium dar.12 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich im Mittelalter ein domänenspezifischer Gebrauch der beiden Verkehrssprachen Deutsch und Französisch herausbildete. Anhand ihrer Sprecher wird zudem eine innergesellschaftliche Differenzierung bemerkbar, die mit der Aufrechterhaltung der Zweisprachigkeit im Zuge der Staatenbildung weiterhin konserviert wurde. Im Gegensatz zu den Nachbarländern ist im Falle Luxemburgs nicht von einer Sprache zu sprechen, die durch die Nation definiert wurde. Vielmehr wurden allmählich die Mitglieder der Nation auf Grundlage ihrer Sprachen bestimmt. Wie das anschließende Kapitel zeigen wird, spielte die Massenverschulung eine gewichtige Rolle im Hinblick auf die gesellschaftliche Homogenisierung während des Nation Building und darüber hinaus.
2 2.1
Die Pädagogisierung der Luxemburger Gesellschaft Das Schulgesetz von 1843 und die Institutionalisierung von Bildung
Nach den Beschlüssen auf dem Wiener Kongress waren die daraus hervorgegangenen modernen Nationalstaaten vor die Aufgabe gestellt, eine Gesellschaftsform zu definieren, in die ihre Mitglieder integriert werden sollten. Unter der Ägide einer elitären Führungsschicht ist demnach eine Verfassung in Luxemburg verabschiedet worden, in der u.a. auch zur Reorganisation des Schulwesens aufgerufen wurde. Daraufhin erschien 1843 schließlich das erste Luxemburger Primärschulgesetz (vgl. Mémorial A51 1841: 335, Art. 352). Dieses im Kontext der gesamteuropäischen Staatenbildung häufig auftretende Phänomen, dass auf die Verabschiedung einer Verfassung unmittelbar ein
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Nachweisliche Sprachenkenntnisse in den drei Landessprachen sind seit 2001 ein Einbürgerungskriterium (vgl. Mémorial A101 2001: 2028, Art. 1.6.4).
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Verschiebungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts Rechnung tragen und das Territorialitätsprinzip in Anschlag bringen (vgl. Mémorial A97 1848c: 848, Art. 811). So erhielten diejenigen die Luxemburger Staatsbürgerschaft, die im ehemaligen Herzogtum geboren sind und seit 1814 im Großherzogtum leben sowie die in Luxemburg geborenen Kinder ausländischer Eltern (vgl. ebd.). Dagegen stellten Sprachenkenntnisse zu diesem Zeitpunkt – als Inbegriff kultureller Integration – noch kein Einbürgerungskriterium dar.12 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich im Mittelalter ein domänenspezifischer Gebrauch der beiden Verkehrssprachen Deutsch und Französisch herausbildete. Anhand ihrer Sprecher wird zudem eine innergesellschaftliche Differenzierung bemerkbar, die mit der Aufrechterhaltung der Zweisprachigkeit im Zuge der Staatenbildung weiterhin konserviert wurde. Im Gegensatz zu den Nachbarländern ist im Falle Luxemburgs nicht von einer Sprache zu sprechen, die durch die Nation definiert wurde. Vielmehr wurden allmählich die Mitglieder der Nation auf Grundlage ihrer Sprachen bestimmt. Wie das anschließende Kapitel zeigen wird, spielte die Massenverschulung eine gewichtige Rolle im Hinblick auf die gesellschaftliche Homogenisierung während des Nation Building und darüber hinaus.
2 2.1
Die Pädagogisierung der Luxemburger Gesellschaft Das Schulgesetz von 1843 und die Institutionalisierung von Bildung
Nach den Beschlüssen auf dem Wiener Kongress waren die daraus hervorgegangenen modernen Nationalstaaten vor die Aufgabe gestellt, eine Gesellschaftsform zu definieren, in die ihre Mitglieder integriert werden sollten. Unter der Ägide einer elitären Führungsschicht ist demnach eine Verfassung in Luxemburg verabschiedet worden, in der u.a. auch zur Reorganisation des Schulwesens aufgerufen wurde. Daraufhin erschien 1843 schließlich das erste Luxemburger Primärschulgesetz (vgl. Mémorial A51 1841: 335, Art. 352). Dieses im Kontext der gesamteuropäischen Staatenbildung häufig auftretende Phänomen, dass auf die Verabschiedung einer Verfassung unmittelbar ein
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Nachweisliche Sprachenkenntnisse in den drei Landessprachen sind seit 2001 ein Einbürgerungskriterium (vgl. Mémorial A101 2001: 2028, Art. 1.6.4).
III Historischer Hintergrund
neues Schulgesetz folgte, verlief mit wenigen Ausnahmen stets im Gleichschritt und spiegelt symptomatisch eine ›Pädagogisierung der Welt‹ wider, in der realpolitischen Geschehnissen durch eine Reformierung des Bildungswesens begegnet wird (vgl. Tröhler 2016: 28f.; 2011). Die ›Bildung der Massen‹ war demgemäß von nationalpolitischer Bedeutung. In diesem Zusammenhang kann die Verabschiedung dieses ersten Primärschulgesetzes auch als Ausgangspunkt für die curricularen Planungsverfahren gesehen werden, die letztlich die gesellschaftliche Ordnung des neu formierten Nationalstaates legitimeren sollte. Im Zuge der Errichtung eines einheitlichen Schulwesens war es nicht unüblich, sich bildungspolitisch an anderen Staaten zu orientieren. Erfolgreiche Bildungsprogramme einzelner Länder wurden von anderen Staaten oftmals adaptiert und auf die eigenen nationalen und kulturellen Bedürfnisse zugeschnitten (vgl. Tröhler 2014: 63). So wurde beispielsweise das französische Schulgesetz von Guizot während der Helvetischen Republik ins Deutsche übersetzt (vgl. ebd.). Diese frühe Form von Internationalisierung von Bildungsprogrammen in der Schulgesetzgebung zeigt sich ebenfalls anhand des Luxemburger Primärschulgesetzes vom 26. Juli 1843, das unter Wilhelm II. verabschiedet wurde. Wichtige Referenzpunkte in der Ausarbeitung der Luxemburger Primärschulgesetzgebung stellten vermutlich drei zuvor veröffentlichte Schulgesetze der angrenzenden Länder dar. So sind das batavische (1806), ebenfalls das französische Schulgesetz von Guizot (1833) sowie das belgische Schulgesetz (1842) zu nennen, wenngleich das belgische Gesetz den größten Bezugspunkt bildete (vgl. Thyssen 2018: 17). Genauer gesagt dienten in pädagogischen und administrativen Belangen vor allem das batavische sowie das französische Schulgesetz als Vorbilder, wohingegen das belgische eher im Zuge religiöser Unterrichtsfragen zum Tragen kam (vgl. ebd.: 20). Darüber hinaus ist der Luxemburger Gesetzesbeschluss als eine Übereinkunft zwischen dem liberalen Lager, das ein laizistisches Bildungsideal verfolgte, und den Vertretern der katholischen Kirche zu verstehen, die eine religiöse Schulbildung propagierten (vgl. Moes 2012: 8). Die Rechtsverordnung zielt dabei darauf ab, das Schulsystem durch eine staatlich zentralisierte Struktur zu organisieren und die Elementarbildung zu vereinheitlichen. Gleichermaßen sollten der Lehrerberuf sowie die Unterrichtsplanung professionalisiert werden. In seinen wesentlichen Punkten regelte das Primärschulgesetz u.a. den Aufbau von privaten (vgl. Mémorial 39 1843: 564f., Kap. II) und öffentlichen Schulen (vgl. ebd.: 566ff., § 2), deren Finanzierung (vgl. ebd.: 567, Art. 21; 568f., Art. 24ff.), das allgemeine Fächerangebot sowie die Zusammensetzung
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
und Aufgaben der Schulaufsicht, die nunmehr für die Sicherstellung schulischer Vorgaben zuständig war (vgl. ebd.: 579ff., Kap. IV). Gewiss ist die Promulgation des Primärschulgesetzes als erster wichtiger Schritt in Hinsicht auf die Demokratisierung des Bildungswesens zu betrachten, indem es grundsätzlich eine Unterrichtversorgung für die gesamte Bevölkerung bereitstellte (vgl. Moes 2012: 8). Dennoch war die Primärschule weder obligatorisch noch unentgeltlich. Auch wenn die Schulgebühren für nachweislich bedürftige Kinder erlassen werden konnten (vgl. Mémorial A39 1843: 569, Art. 26), war die Nachfrage nach der Elementarbildung recht gering und so besuchten um 1850 in ländlichen Gegenden wegen des Arbeitsbedarfs in der Landwirtschaft nur etwa die Hälfte der Kinder während des Sommers die Grundschule (vgl. Moes 2012: 8). Ferner wurde durch die Organisation in Winterschulen die »implizit[e] Anerkennung saisonaler Kinderarbeit« (Thyssen 2018: 31) gefördert. Auch die weiterführenden Bildungsmöglichkeiten zu dieser Zeit zeigen, dass sich diese nur Schüler aus einem privilegierten Elternhaus auch tatsächlich finanziell leisten konnten. Überdies war die Möglichkeit der Sekundarschulbildung nur denen geboten, die LuxemburgStadt rasch erreichen konnten, da sich dort die meisten weiterführenden Bildungseinrichtungen befanden. Bei der Verabschiedung des Primärschulgesetzes handelte es sich insgesamt also weniger um ein philanthropisches Wohlfahrtsprogramm, als um ein utilitaristisches Kalkül. Für die Investition in Bildung wurde von Seiten des Staates eine staatsbürgerliche Gegenleistung erwartet, die, vereinfacht gesagt, darin bestand, ein guter Luxemburger zu werden. (Voss 2012a: 63) Die neu formierte Primärschule diente als Ankerpunkt für die Konstruktion einer gemeinsamen Identität der Einwohner, welche »[ü]ber das Primärschulwesen […] in den neuen Staat eingebunden und zu Luxemburgern ›gemacht‹« wurden (ebd.: 56). Durch diese »pädagogische Verwandlung von Einwohnern in Nationalbürger« (Tröhler 2018: 34) wird Bildung dergestalt zum Bürgerrecht und gleichzeitig zur Bürgerpflicht und damit in den Planungsinstrumenten des Unterrichts verdinglicht. Die Modernisierungsmaßnahmen mit Blick auf ein einheitliches Schulwesen lieferten demzufolge einen wesentlichen Beitrag im Nationsbildungsprozess. Durch den Institutionalisierungsprozess wird der Staat zur Kontrollinstanz des Schulwesens und Staatsmacht wird schließlich über das Bildungswesen legitimiert (vgl. Voss 2011: 144). Folglich wird
III Historischer Hintergrund
[d]er Staat […] Schulstaat. Der Kampf um die Schule wird zu einem neuen und wesentlichen Stück der Auseinandersetzung politischer und gesellschaftlicher Kräfte; Schule wird zum Gegenstand der Politik, Schulpolitik ein neues Jahrhundertphänomen. Die Schule schafft die neue Gruppe der Jugend, sie prägt Lebenschancen, sie formt die Gesellschaft nach Berufsstruktur und Schichtung; Gesellschaft wird Schulgesellschaft, ja allmählich verschulte Gesellschaft. (Nipperdey 1983: 451, zit. in Voss 2011: 144) Dieser Verschulungsprozess implizierte jedoch zeitgleich einen Exklusionsmoment, da die Bildungsziele und damit implizit auch ideale Vorstellungen über Gesellschaftsmitglieder von denjenigen vorgegeben werden, die bereits Mitglieder dieser spezifischen Gesellschaft sind und zu den politischen Entscheidungsträgern zählten. Demnach wurden auch die curricularen Vorgaben von einer Luxemburger Führungsschicht bestimmt, die zudem eher französischaffin war. Die Luxemburger Schulorganisation zeichnete sich dementsprechend im Zuge dieser frühen Jahre der Verstaatlichung durch einen von oben nach unten gerichteten Instruktionsvorgang aus, d.h. durch einen Topdown-Prozess. Die staatliche Kontrolle wurde durch die Schulbehörde – d.h. die königlich-großherzogliche Unterrichtskommission (Commission Royale Grand-Ducale d’Instruction) und ein Regierungskollegium – gesichert, der die jeweiligen Schulbezirke und die dazugehörigen Gemeinderäte untergeordnet waren. Die aus 18 bis 19 Personen bestehende Unterrichtskommission setzte sich aus dem Gouverneur des Großherzogtums (Präsident), dem apostolischen Vikar, einem Justiz- sowie Verwaltungsbeamten, dem Direktor der Elitenschule Athénée, dem Direktor der Normalschule13 , den zwölf Schulinspektoren des Landes sowie einem Sekretär zusammen. Ein Drittel der Mitglieder musste dem geistlichen Stand angehören (vgl. Mémorial A39 1843: 580, Art. 59). Die Unterrichtskommission war in erster Linie mit der Aufgabe betraut, die Lehrgegenstände für den Unterricht festzulegen, diese zu kontrollieren und somit den Unterrichtserfolg zu sichern (vgl. ebd.: 583f., Art. 73f.). Ferner kann die Unterrichtskommission als Vorläufer der heutigen Programmkommissionen betrachtet werden, die für die curriculare Planung des Unterrichts in den jeweiligen Schulfächern verantwortlich sind. 13
Die 1845 gegründete Normalschule war zuständig für die zunächst drei- und später vierjährige Lehrerausbildung (vgl. Barbu 2018: 85f.). Sie stand unter der Ägide einer staatlichen und kirchlichen Leitung und die Lehrinhalte der Lehrerausbildung waren daher weitgehend katholisch geprägt (vgl. ebd.).
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Das Regierungskollegium sollte dagegen zu Beginn eines jeden Schuljahres die Lehr- und Lernverhältnisse der jeweiligen Schule prüfen und die Ergebnisse in Form eines Gutachtens an die staatliche Schulverwaltung weiterleiten (vgl. ebd.: 579ff., Kap. IV). Die kantonalen Schulinspektoren fungierten dabei als Bindeglied zwischen der staatlichen Schulaufsicht und den kommunalen Akteuren, wie Lehrer, Pfarrer und Elternschaft (vgl. Voss 2011: 150), indem sie das Unterrichtsangebot kontrollierten und zugleich »Beschützer und der Rathgeber der Lehrer« (Mémorial A39 1843: 581, Art. 561) waren. Sie inspizierten mindestens zweimal jährlich die Schulen (vgl. ebd.: Art. 63), prüften die Organisation des Primärschulunterrichts, stellten ein Gutachten für jedes kommende Schuljahr aus und teilten ihre Beschlüsse anschließend den Gemeinderäten mit (vgl. ebd.: 582, Art. 66). Diese im Luxemburger Schulgesetz festgeschriebene Funktion des Inspektorats war im Vergleich zu den batavischen, belgischen und niederländischen Rechtsvorbildern einzigartig (vgl. Thyssen 2018: 29).14 Obschon mehrere Akteure auf staatlicher und kommunaler Ebene zusammenarbeiteten, war es dennoch eine nationale Elite, die für die Umsetzung der im Primärschulgesetz angeordneten Schulorganisation verantwortlich war. Betrachtet man z.B. die Zusammensetzung der Unterrichtskommission, so wird augenfällig, dass deren Mitglieder nicht durch ein Wahlverfahren einberufen, sondern aufgrund ihrer Funktion und ihrer angesehenen Position offiziell von dem Regierungskollegium ernannt wurden. Zudem hatte die katholische Kirche einen erheblichen Einfluss auf die Schulorganisation, was sich neben der Zusammensetzung der Unterrichtskommission in dem klerikalen Inspektionsrecht des Religionsunterrichts äußerte sowie in den von der örtlichen Kirchengemeinde ausgestellten ›Moralitätszeugnissen‹, die Aufschluss über die Lehrleistung des Lehrers und dessen Unterrichtsqualität geben sollten (vgl. Moes 2012: 9). Neben der Disziplinierung durch die Kirche geriet die Lehrerschaft überdies in eine kommunale Abhängigkeit, da sie in ihrem Amt nicht vom Staat, sondern von den jeweiligen Gemeinden ernannt
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Das Amt des Schulinspektors im Grundschulbereich existierte bis vor Kurzem noch und stellte gewissermaßen das Alternativmodell zu dem in anderen Ländern üblichen Posten des Schuldirektors dar. Seit dem Schuljahr 2017/18 gibt es nun 15 regionale Direktorenteams (Équipe de Direction), bestehend aus einem Hauptdirektor und zwei bis vier beigeordneten Direktoren, deren Ziel es ist, enger mit Schüler-, Lehrer- und Elternschaft zusammenzuarbeiten und die Schulentwicklung zu fördern (vgl. LW 29.11.2016).
III Historischer Hintergrund
wurde (vgl. Elcheroth 2012: 96).15 Der Einfluss der Kirche auf die Schulorganisation zeigt, dass das idealtypische Luxemburger Gesellschaftsmitglied katholisch sein und diesen kirchlich-religiösen Werten folgen sollte. Ein weiterer wichtiger Aspekt in Hinsicht auf das Zusammenspiel von Identitätskonturierung und Verschulungsprozess geht zwar über den Primärschulgesetzesrahmen hinaus, spielt jedoch angesichts der spezifisch identitätsbildenden Funktion der Mehrsprachigkeit eine gewichtige Rolle: Der 1848 gesetzlich festgeschriebene und im Land einmalige Oberstufenzyklus, der Cours supérieur, am prestigeträchtigen Athénée, welcher die Geburtswiege des späteren Centre Universitaire und damit der Universität darstellt, sollte die Schüler zum Studium im Ausland befähigen (vgl. Mémorial A57: 1848b). Das Fehlen einer eigenen Universität wurde zu diesem Zeitpunkt keinesfalls als Mangel wahrgenommen. Im Gegenteil: Die daraus resultierende Mobilität wurde zum Ausdruck einer nationalen Identität und zugleich kosmopolitischen Eigenheit stilisiert, da die Studierenden dazu angehalten waren, ihre Ausbildung außerhalb Luxemburgs fortzuführen (vgl. Rohstock 2010: 45). Die Sprachkenntnisse im Deutschen und Französischen verhalfen ihnen dazu, sich als kompetente Sprecher vor allem im angrenzenden Ausland zu bewegen. Allerdings war dieses Privileg erneut nur einer überschaubaren Gruppe an Schülern vorbehalten, die neben der Zeit für die Bewältigung der schulischen Anforderungen ebenso über die finanziellen Mittel verfügen mussten, um den Cours supérieur besuchen zu können. Am Beispiel des Athénée zeigt sich zudem, dass bis in die 1830er-Jahre Französisch die einzige Unterrichtssprache war (vgl. Fehlen 2018: 58). Deutsch und Niederländisch waren hingegen fakultative Fremdsprachen (vgl. ebd.). In den 1830er-Jahren wurde das Athénée jedoch nach deutschem Vorbild organisiert und so gewann die deutsche Sprache wieder an größerer Bedeutung (vgl. ebd.: 59).
2.2
Sprachenlegitimation durch die Organisation des Unterrichts
Dass die Bildung der Nation – und zwar im doppelten Sinne – insbesondere über den schulischen Bereich vollzogen wurde, zeigt sich angesichts der Unterrichtsorganisation. Unterricht organisiert sich einerseits entlang der Frage 15
Dies änderte sich mit der Primärschulreform 2009. Seither wird das Lehrpersonal nicht mehr von den Gemeinden, sondern vom Staat ernannt, der gleichsam für die Kontingentierung des Lehrpersonals zuständig ist (vgl. TB 19.01.2009).
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nach gesellschaftlichen Entwicklungen und binnenwirtschaftlichen Bedürfnissen, andererseits beeinflusst die Bildungsplanung zugleich das Bild einer zukünftigen, leistungsfähigen Gesellschaft wesentlich. Dies lässt sich exemplarisch anhand der Lehrgegenstände im Schulgesetz aufzeigen. Das in dem Gesetz verankerte Unterrichtsangebot des Großherzogtums war zu Beginn recht übersichtlich und beschränkte sich auf »den religiösen u. moralischen Unterricht, Deutsch und Französisch-Lesen, Schreiben, die Anfangsgründe beider Sprachen, und das Rechnen« (Mémorial A39 1843: 562, Art. 1), obgleich der Primärunterricht je nach Bedarf auch erweitert werden durfte. Eine gesonderte Rolle kam dabei der Planung des Religionsunterrichts zu, da die hier abzuhaltenden Schulstunden in Absprache mit dem Schulinspektor und einem Geistlichen festgelegt wurden (vgl. ebd.: 577, Art. 52). Für die Durchführung des Religionsunterrichts war ebenfalls ein Geistlicher verantwortlich, der je nach Sachverhalt – jedoch stets unter kirchlicher Aufsicht – durch einen Lehrer vertreten werden konnte (vgl. ebd.: 577, Art. 51). So gesehen stand das Lehrpersonal in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Kirche. Die entsprechenden Schulstunden und Schultage für das gesamte Fächerangebot wurden jedes Jahr vom Gemeinderat bestimmt (vgl. ebd.: 575, Art. 41). Bildungs- und sprachenpolitisch signifikant war im Rahmen des Primärschulgesetzes, dass sowohl Deutsch als auch Französisch in den Fächerkanon der Grundschule aufgenommen wurden. Obgleich Luxemburg seit der letzten territorialen Teilung im Jahr 1839 entlang der Sprachgrenze überwiegend zum deutschen Sprachraum gehörte, wurde die Zweisprachigkeit im Schulsystem verordnet, noch bevor diese verfassungsrechtlich 1848 in Kraft trat. Dies verlieh dem Luxemburger Schulgesetz ein Alleinstellungsmerkmal und legte den Grundstein für die institutionelle Mehrsprachigkeit (vgl. Voss 2012a: 60). Demgemäß kennzeichnen die offiziellen Richtlinien für den Sprachenunterricht den Ausgangspunkt für die curriculare Implementierung der Zweisprachigkeit. Zugleich bedeutete dies im Umkehrschluss, dass das Curriculum und daran anschließend die schulische Praxis die institutionelle Zweisprachigkeit im Land induzierte und die Schüler durch den Lehrplan zu zweisprachigen Sprechern ›gemacht‹ werden sollten. Hinter diesem zweisprachigen Schulsystem verbergen sich verschiedene sprachen- und damit auch gesellschaftspolitische Agenden, die z.T. auch sehr unterschiedlich interpretiert wurden, insbesondere hinsichtlich der Implementierung des Französischen im Schulsystem. So wollte man sich durch die Zweisprachigkeit von Preußen abgrenzen und die Unabhängigkeit des Großherzogtums gegenüber dem östlichen Nachbarn sprachlich wahren (vgl. Moes 2012: 8). Eine weitere nahe-
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liegende Deutung ist, dass durch die Zweisprachigkeit in der Schule soziale Unterschiede zwischen der Landbevölkerung und dem eher frankophilen Bildungsbürgertum nivelliert werden sollten. Gleichwohl war Schulbildung zu dieser Zeit noch nicht unentgeltlich, weshalb sich die Frage stellt, inwieweit die Landbevölkerung tatsächlich im Schulsystem vertreten war und Französisch lernte. Darüber hinaus waren es die Bildungsprivilegierten, die in erster Linie für die Curriculumentwicklung verantwortlich waren. In diesem Zusammenhang sei jedoch auch auf die historische Genese des Französischen in der Luxemburger Gesellschaft hingewiesen, weshalb die Beibehaltung der französischen Sprache nicht ohne Weiteres als elitärer und innergesellschaftlicher Protektionismus der Luxemburger Funktionselite zu verstehen ist (vgl. Fehlen 2018: 57). Hinsichtlich der curricularen Verankerung des Französischen drängt sich überdies die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen die Sprache im Unterricht eingesetzt wurde. Die Beibehaltung des Französischen könnte ebenso gut symbolischer Natur sein, wonach »nicht die Beherrschung, sondern die Anerkennung der französischen Sprache als Teil der Luxemburger Identität das eigentliche Ziel der Luxemburger Bildungspolitik sei« (ebd.: 56). Dies lässt sich in erster Linie damit belegen, dass der Französischunterricht in begründeten Ausnahmefällen erlassen werden konnte (vgl. Mémorial A39 1843: 562, Art. 561). Die mögliche Streichung des Französischunterrichts ist in erster Linie mit der mangelnden bilingualen Ausbildung der Lehrer zu begründen (vgl. Weber/Horner 2012: 8). Dies zeigt einmal mehr, dass die Beibehaltung des Französischen im Schulunterricht vor allem ideologisch motiviert war. Zudem wird dem Deutschen dadurch implizit im Fächerkanon der Schule eine höhere Bedeutung beigemessen, die jedoch im historischen Kontext zu verstehen ist. So verweist eine zeitgenössische Stimme auf den ›anerzogenen‹ Sprach- und Kulturgehalt des Französischen und der Nähe zum Deutschen: Eine gröszere belohnung für meine bemühungen könnte ich mir nicht denken, als wenn ich durch diese blätter dazu beigetragen hätte unser volk einen schritt näher zu führen zur alleinigen quelle einer kernigen, nationalen bildung für den Luxemburger, zu der quelle, von der ihn seit den letzten fünfzig Jahren das ihm anerzogene Franzosenthum zum nachtheil seiner geistigen und moralischen entwicklung künstlich entfernte, zum alten, angestammten ›deutschen‹ sinn. Wenigstens wird der unbefangene leser überzeugt werden, dasz das Luxemburger volk, wie seine sprache, durchaus deutsch ist. Dasz dann nur deutsche bildung aus dem innersten kern sich
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entwickeln kann, alles Franzosenthum aber, äuszerlich aufgeklebt, den gesunden keim ersticken und uns zu einem elenden zwittergeschlecht machen musz, ist eine Wahrheit, die die erfahrung alzu schlagend beweist, als dasz man sie bezweifeln könnte. (Klein 1855: 4) In dem Zitat aus der sprachenpolitischen Schrift Die Sprache der Luxemburger werden die regionalsprachlichen Varietäten des Deutschen aufgewertet und sind als Ausdruck einer gemeinsamen Verbundenheit, einer sprachlichen Nähe zu deuten. Standardsprachliche Abweichungen avancierten zu einem gesellschaftskritischen Instrument einer gesamten Volksbewegung etwa im Deutschen Bund, der sich Luxemburg zumindest sprachlich zugehörig fühlte. Nach Klein (1855) wird der französische Einfluss eindeutig als ›anerzogen‹ ausgewiesen. Die moselfränkische Sprachvarietät des Westmitteldeutschen, das lëtzebuerger Däitsch, kennzeichnet die »gemeinsamste Sprache« (Berg et al. 2013: 14), wenngleich es für Klein weiterhin ein deutscher Dialekt blieb. Dennoch wurde dieses lëtzebuerger Däitsch – auch ons Daitsch, d.h. ›unser Deutsch‹, genannt – verstärkt zum identifikatorischen Bezugspunkt der Luxemburger Bevölkerung konstruiert. Dabei fand dieses lëtzebuerger Däitsch zunächst keinen Niederschlag in den Schulprogrammen. Ein unabhängiges Sprachbewusstsein existierte daher noch nicht, wenngleich es ein paar wenige Bestrebungen gab, eine einheitliche Orthografie für die moselfränkische Mundart einzuführen. Zu nennen sind hierbei lediglich ein paar wenige Veröffentlichungen, wie die Gedichtsammlung E’ Schréck op de Lëtzebuerger Parnassus16 (1829) von Antoine Meyer oder das erste Lexicon der Luxemburger Umgangssprache (1847) von Jean-François Gangler (vgl. Péporté et al. 2010: 234ff.). Entgegen einem ›Eigensprachlichkeitsbewusstsein‹ ist zu dieser Zeit in Bezug auf das heutige Verständnis des Luxemburgischen vielmehr von einem ›Eigendialektbewusstsein‹ zu sprechen (vgl. ebd.: 234). Diese sehr unterschiedlichen Tendenzen in der Sprachenperzeption zeigen sich überdies in der regionalen Unterrichtsgestaltung, denn »[j]e nach den Bedürfnissen und den Mitteln des Ortes, kann der Primär-Unterricht eine weitere Ausdehnung erhalten« (Mémorial A39 1843: 581, Art. 561). Wie angesichts der fakultativen Kürzung des Französischunterrichts deutlich wird, konnten freilich große regionale Unterschiede bezüglich der Sprachkompetenzen auftreten. Unter Einbeziehung der Lokalbedürfnisse wurden folglich verschiedene
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Diese ging als erstes ›wahres‹ Werk auf Luxemburgisch in die Geschichtsschreibung ein (vgl. Péporté et al. 2010: 234).
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Gesellschaftsmitglieder mit unterschiedlichen Sprachfertigkeiten herangezogen. Die Curricularisierung einer nationalen Identität wurde neben dem Schulgesetz auch über schulische Verwaltungsorgane, Presse und Literatur vollzogen. Wichtiger Bestandteil der Organisation des Schulunterrichts waren vor allem offizielle Mitteilungsblätter, die die Lehrerschaft über didaktische Methoden und Lehrinhalte unterrichtete und sie ebenso in »ihre[r] Pflicht als moralische, nationale Hüter des Klassenzimmers« (Gardin et al. 2018: 123) disziplinierte. Besonders hervorzuheben ist das von der Unterrichtskommission herausgegebene, monatlich erschienene amtliche Mitteilungsblatt Der Luxemburger Schulbote17 , das gänzlich im Zeichen einer allgemeinen Richtschnur der katholisch orientierten Schulpolitik dienen sollte. Insbesondere in den ersten Jahren nach der Verabschiedung des Primärschulgesetzes avancierte der Schulbote zur Verbindungsstelle zwischen der Lehrerschaft und den schulischen Autoritäten, denen es zugleich gezielt als Anordnungsinstrument diente und die Lehrerschaft entsprechend über die Unterrichtsgegenstände informierte (vgl. Voss 2012b: 205). Ferner wurden Lehrpläne und Schulstunden für die jeweiligen Fächer in dem Amtsblatt angeordnet. Betrachtet man exemplarisch die Lehrgegenstände für den Sprachenunterricht der untersten Klasse der Primärschule, so wird wie bereits im Primärschulgesetz augenfällig, dass Lesen (in Verbindung mit Sprachlehre oder Sprechübungen), Schreiben, Rechtschreibung nach Diktat und Schönschreiben (vgl. Luxemburger Schulbote 4 1845: 55ff.) nicht namentlich mit der deutschen Sprache in Verbindung gebracht werden. Da es offensichtlich noch keine hinreichende Distanzierung gegenüber dem Deutschen als eine ›andere Sprache‹ gab, gewinnt der nachfolgende Satz in Bezug auf das durch Sprache konstruierte Identitätsverständnis an wesentlicher Bedeutung: »Das Erlernen der Muttersprache besonders muß in den Primärschulen den Kindern durch aufmerksames Lesen, häufiges Diktieren und Erklären beigebracht werden« (ebd.: 88, Hervorh. der Verf.). Die Alphabetisierung fand wie auch
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Die erste Ausgabe ist auf den 5. Oktober 1844 datiert. Die Bedeutung des Schulboten für die nationale Schulorganisation sowie hinsichtlich der Vorstellung über einen guten Unterricht wird in seiner fast 100-jährigen Geschichte evident. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Amtsblatt schließlich 1942 eingestellt und erst nach Beendigung der deutschen Besatzungszeit zunächst unter dem Titel Le Courrier des écoles du Grand-Duché de Luxembourg und ab 1952 unter der Federführung des Bildungsministeriums als Courrier de l’Éducation nationale publiziert (vgl. Voss 2012b: 211).
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heute noch auf Deutsch statt, d.h. die Funktion, die per se der Muttersprache zuteilwird. Diese Textstelle impliziert demzufolge, dass mit der Bezeichnung der Muttersprache das Deutsche gemeint ist, wenngleich die Luxemburger Mundart vermutlich als Varietät inbegriffen ist. Französisch wird dagegen explizit als ›fremde Sprache‹ ausgewiesen, deren zu erlernende Inhalte durch einen anderen didaktischen Zugang vermittelt werden müssen (vgl. ebd.). Wie Voss entsprechend herausstellt, ist es vor diesem Hintergrund nicht weiter verwunderlich, dass sich der Französischunterricht im Grundschulbereich als »Problemfach« (Voss 2012b: 223) herauskristallisierte. Einer der möglichen Gründe dafür ist, dass die Schülerschaft mit zwei unterschiedlichen Schriftsystemen konfrontiert war, d.h. der Kurrentschrift im Deutschen und anschließend mit der Lateinschrift im Französischen und sich dahingehend eine Überlastung angesichts des Schriftsprachenerwerbs abzeichnete. Um dieser Diskrepanz entgegenzuwirken, wurden im Schulboten Artikel über Lehrmethoden abgedruckt und so entwickelte er sich zu einem didaktisch wegweisenden Organ. Dabei lassen sich jedoch hauptsächlich Artikel aus dem ausländischen, zumeist deutschen und französischen Schulkontext finden (vgl. ebd., im Einzelnen Anm. 246). In geringem Maße schafften es einige wenige lokale Artikel, die in den frühen Ausgaben des Schulboten abgedruckt wurden, in verkürzter Form oder als Vorwort in die Luxemburger Schulbücher und Lehrpläne (vgl. ebd.: 225). Darüber hinaus ist an dieser Stelle anzumerken, dass seit den 1870er-Jahren eine detailliertere Herangehensweise in Bezug auf den Erwerb der Lese- und Schreibkompetenz erfolgte und dem Deutschen dabei – zumindest in den ersten Lernphasen – eine Brückenfunktion beim Erlernen des Französischen zugeschrieben und vermehrt auf deutsche Lehrwerke in französischer Sprache zurückgegriffen wurde (vgl. Voss 2012a: 61; Weber/Horner 2012: 8). Deutsch wurde ab dem ersten und Französisch ab dem dritten Schuljahr gelehrt (vgl. Weber/Horner 2012: 8). Die didaktische Anbindung zwischen Deutsch und Französisch ist hierbei als bildungspolitische Handhabe zu begreifen, um den Bilingualismus gewissermaßen als natürlich zu inszenieren und damit dessen gesellschaftliche Akzeptanz zu fördern. Über das Deutsche – und damit auch irgendwie implizit über die Luxemburger Mundart – lernt man demnach Französisch. Dabei handelt es sich um eine für Luxemburg typische kohäsive Sprachenunterrichtspolitik, die sich heute noch implizit fortschreibt (vgl. Kap. IV). Insgesamt ist der Stundentafel des Primärschulunterrichts zu entnehmen, dass die höchste Anzahl an den Gesamtschulstunden – wie auch heute noch – in die Sprachenvermittlung investiert wurde (vgl. Luxemburger Schulbote 4 1845: 85ff.).
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Zudem wurde die Lehrerschaft dazu ermutigt, sich an der Herausgabe des Schulboten zu beteiligen und so aktiv dem Gestaltungsprozess der besonderen Schullandschaft Luxemburgs beizuwohnen (vgl. Voss 2012b: 226f.). Um das Jahr 1870 kam es aufgrund der von oben geleiteten restriktiven Bedingungen allerdings zu einer kompletten Einstellung der Beiträge vonseiten der Lehrerschaft (vgl. ebd.: 228). Vielmehr organisierten sich die Lehrer allmählich in Lehrerverbänden, wodurch ihr Einfluss sukzessiv wuchs. Sie engagierten sich ebenfalls im Bereich der unabhängigen Lehrerpresse, die vor allem die Schulalltagsinteressen vertrat. Korrespondenzblätter, wie etwa der Luxemburger Schulfreund (1872-1939), Pädagogischer Sprechsaal (1884-1901) oder die Luxemburger Lehrerzeitung (1904-1940), dienten als allgemeine Austauschforen, durch welche sich die Lehrer über das Land hinweg vernetzten und sich gegenseitig über schulrelevante Themen informierten. Die Lehrerschaft partizipierte dadurch aktiv am Prozess der Nationenbildung, indem sie in ihren z.T. ideologischen Beiträgen distinkte kulturelle, politische Einstellungen vertrat. Des Weiteren ist der Aufschwung der allgemeinen Presse nach 1848 Ausdruck der autonomen Verwaltungsorganisation des Kleinstaates. Bereits einige Jahre zuvor, d.h. in den Jahren 1815 bis 1848, wurden zahlreiche Zeitungen in Luxemburg veröffentlicht,18 deren regionale Themen an Luxemburger Einwohner adressiert waren und zum kollektiven Nationalbewusstsein beitrugen (vgl. Péporté et al. 2010: 235f.). Diese Zeitungen hatten entweder deutsche oder französische Titel. Die Gründe dafür sind zum einen in der offiziellen Zweisprachigkeit zu suchen, zum anderen kommt hierbei gleichzeitig eine soziokulturelle Kodierung in Hinblick auf die Sprachverwendung zum Tragen. So dominierte hauptsächlich das Deutsche die Presselandschaft und erreichte die breite Öffentlichkeit.19 Vom höheren Bürgertum wurde dagegen Französisch rezipiert, wodurch es vermehrt den Status einer Prestigesprache
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Das Luxemburger Wochenblatt (1821-1826), das Journal de la Ville et du Grand-Duché de Luxembourg (1821-1826), das Echo du Luxembourg (1836) sowie das Wochen-Blatt für Bürger und Landsleute (1837) (vgl. Péporté et al. 2010: 235). An dieser Stelle sei im Hinblick auf das Fallstudienkapitel IV und der Quellenauswahl angemerkt, dass der Einfluss der deutschsprachigen Printmedien in der Luxemburger Presselandschaft auch heute noch dominiert (Tageblatt, Luxemburger Wort etc.) und dies mit der aufstrebenden deutschen Presse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts historisch zu erklären ist. Das von der katholischen Kirche 1848 begründete deutschsprachige Luxemburger Wort hatte eine Vorreiterrolle in der Etablierung der deutschen Sprache in der Presse (vgl. Gilles 2009: 191f.).
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erhielt. Für die weniger Bildungsprivilegierten führte dies zum gesellschaftlichen und politischen Ausschluss (vgl. Pauly 2011: 71). Überdies wirkten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich Schriftsteller, Dichter und Komponisten, die ihre Texte inzwischen in der Luxemburger Mundart verfassten, bei der Entstehung eines spezifischen Nationalgefühls mit. Die Genese vom bloßen mündlichen Gebrauch des Dialektes bis hin zu seiner Verschriftlichung hatte dabei einen erheblichen Stellenwert mit Blick auf das Kollektivbewusstsein. Dabei waren es in erster Linie ebenfalls Lehrer, die sich an der Entstehung einer Nationalliteratur beteiligten.20 Dadurch, dass sie als Akteure des Schulwesens in der täglich gebräuchlichen Mundart schrieben, wurde der Dialekt allmählich zur Sprache ›gemacht‹. So gesehen handelte es sich weniger um einen Elitennationalismus, der die Vorstellung über eine gemeinsame Identität bestimmte, als vielmehr um ein »nation building from below« (Lenz/Rohstock 2011: 65). Hervorzuheben sind hierbei Michel Rodange, der u.a. das Luxemburger Pendant zu Goethes Reineke Fuchs verfasste, oder Nicolas Steffen, der Das Vaterland (1869-1870) herausgab. Daneben sind die Schriftsteller Dicks21 und Michel Lentz22 zu nennen, deren literarisches Schaffen zum Ausdruck eines neuen Selbstbildes wurde.23 Lentz, der zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls den Text der Luxemburger Nationalhymne Ons Hémecht verfasste, ist zudem der Begründer einer heute vor allem als politischer Wahlspruch bekannten Phrase. So schrieb er anlässlich der Einweihung des Bahnhofs in Luxemburg-Stadt 1859 folgende Zeilen auf Luxemburgisch: »Komm mit aus Frankreich, Belgien, Preisen, mir wëllen Iech ons Heemecht weisen. Fro Dir no alle Säiten hin, mir wëlle bleiwe wat mir
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Darüber hinaus leisteten Lehrer ebenfalls als Geschichtsschreiber einen erheblichen Beitrag zum historischen Bildungsnarrativ. Als essenzielles Lehrwerk, welches das nationale Geschichtsbild und vor allem den gymnasialen Geschichtsunterricht bis in die 1970er-Jahre vehement prägte, ist das Manuel d’histoire nationale (1918) des Geschichtslehrers Arthur Herchen zu nennen (vgl. Péporté et al. 2010: 40f.; 78). Bürgerlicher Name: Edmond de la Fontaine. Als wichtiger sprachenpolitischer Marker in Bezug auf das Luxemburgische im öffentlichen Raum gilt hierbei die Trauerrede, die der Staatsminister Paul Eyschen während Lentzens Begräbnis hielt und komplett auf Luxemburgisch sprach. Dies war überdies das erste Mal, dass ein Politiker öffentlich seine ›Muttersprache‹ verwendete (vgl. Péporté et al. 2010: 239). Zur Konstruktion nationaler Identitäten durch Luxemburger Literatur vgl. im Detail Baumann (2019).
III Historischer Hintergrund
sinn«24 (zit.n. Pauly 2016: 57). ›Wir wollen bleiben, was wir sind‹ entwickelte sich fortan zu einem politischen Slogan, der ins kollektive Gedächtnis der Luxemburger einging. Vor diesem Hintergrund und unter Einbeziehung der gegenwärtigen Migrationsgeschichte Luxemburgs weist Michel Pauly folgerichtig auf den reaktionären Gehalt der Phrase hin: Man will etwas bleiben, nicht etwas werden. Der bis heute gepflegte Wahlspruch macht eine Anpassung an neue Verhältnisse, etwa die starken Migrationsflüsse, schwierig, weil er eigentlich im Sinne von ›wir wollen bleiben, was wir einst waren‹ verstanden wird[.] (Ebd.) Darüber hinaus geht daraus nicht eindeutig hervor, auf wen sich das Pronomen ›wir‹ bezieht. Schließlich heißt es nicht »wir Luxemburger wollen bleiben, was wir sind«. Dadurch wird offenkundig, dass diese politische Devise Ausdruck eines noch nicht eindeutig umrissenen Selbstverständnisses ist (vgl. Fehlen 07.03.2018). Dass diese noch nicht völlig gefestigte Kollektividentität vor allem durch außenpolitische Vorgänge bedroht wurde, sollte sich nach Ende des Deutschen Krieges und der Auflösung des Deutschen Bundes 1866 zeigen. In dieser ungewissen politischen Situation wurde die Unabhängigkeit Luxemburgs erneut gefährdet, da Napoleon III. beabsichtigte, das Großherzogtum und somit auch die preußische Bundesfestung in der Hauptstadt von Wilhelm III. aufzukaufen. Bismarck verweigerte den Verkauf und so wurde in London eine Konferenz einberufen und erneut verhandelten fremde Mächte über das Schicksal des Kleinstaates (vgl. Pauly 2011: 74f.). Die Aushandlungen wurden schließlich im Londoner Vertrag von 1867 festgehalten und die ›Luxemburgkrise‹ galt offiziell als beendet. Als Ergebnis erhielt Luxemburg seine Neutralität und die preußische Garnison musste trotz der wirtschaftlichen Bedeutung für Luxemburg ihre Zelte abbrechen. Nach diesen Entwicklungen und dem anschließenden wirtschaftlichen Aufschwung der Eisen- und Stahlindustrie im Süden des Landes, der Modernisierung der Landwirtschaft und der Ausarbeitung der Sozialgesetzgebung rückten nunmehr innenpolitische Angelegenheiten in den Fokus (vgl. Elcheroth 2012: 85). Hierbei war es vor allem das Verhältnis von Kirche und
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»Kommt aus Frankreich, Belgien, Preußen, wir möchten euch unsere Heimat zeigen. Fragt ihr nach allen Seiten: wir wollen bleiben was wir sind« [soweit nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin]; Titel: De Feierwon, wörtlich der Feuerwagen, sinnbildlich die Eisenbahn (vgl. Pauly 2016: 57).
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Staat, das schulpolitisch neu verhandelt wurde. Besonders unter dem Einsatz der Lehrer, die sich seit dem Ende der 1860er-Jahre zusammenschlossen und gemeinsam für eine bessere Bezahlung und gegen die klerikale Einflussnahme eintraten, verabschiedete die Regierung am 20. April 1881 ein neues liberales Schulgesetz (vgl. ebd.: 94). Eine der wichtigsten Änderungen umfasste die Einführung der allgemeinen Schulpflicht für Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren (vgl. Mémorial A32 1881: 370, Art. 375), die fortan in den Fächern Religion und Moral, Deutsch, Französisch, Rechnen, Maß- und Gewichtssystem, »Anfangsgründe« in Geografie und Landesgeschichte, Gesang bzw. in der Mädchenschule in Handarbeiten unterrichtet werden sollten (vgl. ebd.: 369, Art. 1). Das Fach Religion und Moral wurde immer noch von einem Geistlichen erteilt, der in Ausnahmefällen von einem Lehrer vertreten werden konnte (vgl. ebd.: 375, Art. 21). Ferner wurde der Religionsunterricht in die Stundentafel der Elementarschule integriert und im Schulgebäude abgehalten (vgl. ebd.: 374f., Art. 20) und so wurde »[d]urch dieses Schulgesetz […] der Lehrerstand aus der geistlichen Vormundschaft entlassen« (Elcheroth 2012: 94). Überdies war die Unterrichtsorganisation sowohl für private als auch für öffentliche Schulen verbindlich im Lehrplan festgelegt, der durch die oben genannten Lehrgegenstände entsprechend erweitert wurde (Mémorial 32 1881: 374, Art. 19). Wenngleich die Loi Kirpach den obligatorischen Schulbesuch festschrieb, war dieser außer für die bedürftigen Kinder nicht unentgeltlich, jedoch übernahmen die Gemeinden einen Großteil der Gebühren (vgl. ebd.: 381, Art. 43). Die Gemeindeverwaltungen waren sogar dazu befugt, die Klasseneinteilung nach dem Vermögen der Eltern und somit der Höhe der zu zahlenden Schulgebühren vorzunehmen (vgl. ebd.: Art. 44). Vor diesem Hintergrund stellen Lenz et al. (2013) anhand der Analyse exemplarischer Lehrpläne heraus, dass sich aufgrund des im Gesetz weiterhin verankerten Artikels zur Anpassung des Unterrichtsangebotes an die Lokalverhältnisse (vgl. Mémorial A32 1881: 374, Art. 20) die regionale Differenzierung in Lehrplänen zugleich zu einer sozialen Differenzierung entwickelte (vgl. Lenz et al. 2013: 318). Angesichts des Sprachenunterrichts lässt sich dabei beobachten, dass in Vororten und ländlichen Gebieten der Fokus eher auf den Schulfächern Geschichte und Geografie lag. Der Französischunterricht wurde in den Randgebieten gekürzt, wohingegen er in städtischen Schullokalen weiterhin unterrichtet wurde (vgl. ebd.). Die Hochsprache Französisch wurde entsprechend in Luxemburg-Stadt gesprochen. Demgemäß differenzierten sich die sozialen Verhältnisse entlang der Sprachenverwendung nach dem Stadt-Land-Gefälle aus. Um dieser Interferenz zwischen sozialer und sprach-
III Historischer Hintergrund
licher Heterogenität entgegenzutreten, gab es Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem Überlegungen darüber, wie eine gemeinsame kulturelle Identität auszusehen habe. Dieser Prozess wurde u.a. auf schulpolitischer bzw. curricularer Ebene mit einem reformierten Schulgesetz 1912 vollzogen, auf dem bis 2009 die Schulorganisation der Primärschule gründete.
2.3
Das Schulgesetz von 1912. Oder: die Curricularisierung eines dreisprachigen Sprechers?
»Fransous och beim Champagner, beim Rhäinwäin si mer Preiss«25 (Rodange 1987: 169) – dieses aus der Feder von Michel Rodange stammende Zitat weist auf das spezifische Selbstverständnis der Luxemburger bzw. über die Luxemburger hin, bei dem kulturgeschichtlich vor allem das Konstrukt der ›Mischkultur‹ in den Blick rückt und schulpolitisch genutzt wurde. Die Ursprünge der von dem Luxemburger Journalisten und Schriftsteller Batty Weber (1860-1940) geprägten Denkfigur gehen auf die Kulturzeitschrift Floréal26 zurück. Das Modell der ›Mischkultur‹ wird zudem immer wieder innerhalb seiner feuilletonistischen Schriften im Abreißkalender thematisiert. Mit der Idee einer ›Mischkultur‹ wehrt sich Weber (1909) in erster Linie gegen den von »Schweizer Kulturpuristen« (Weber 1909: 121) erhobenen Vorwurf der »geistigen Unfruchtbarkeit« (ebd.), die in Luxemburg vorzufinden sei. Anhand der ›Mischkultur‹ beschreibt Weber die spezifische Luxemburger Identitätsprägung, in der sich sowohl französische als auch deutsche Kulturelemente vereinen, wie sich u.a. anhand der Sprachenverwendung aufzeigen lässt. Nach Weber profitiert der Luxemburger davon, dass sich sowohl der französische als auch der deutsche ›Geist‹ in dem Großherzogtum vereinen und die Bevölkerung in den Genuss »zweier Weltsprachen« (ebd.: 122) kommt und so »die Sprachenvermischung tatsächlich in jedem Individuum vorhanden ist, allerdings nur bis zu einem gewissen Grade« (ebd.). Das Konglomerat aus deutschen und französischen Entlehnungen ergibt sich Weber zufolge jedoch nicht aus einem Luxemburger Kulturmangel, sondern vielmehr läge in dieser Verschränkung der Kulturräume das eigentümliche Alleinstellungsmerkmal Luxemburgs (vgl. ebd.: 46ff.). Kultur versteht Weber als historisch gewachsen
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»Franzose noch beim Champagner, beim Rheinwein sind wir Preußen«. Die zweisprachig unter der Federführung von Marcel Noppeney, Franz Clement und Eugène Forman in zwölf Heften von 1907 bis 1908 erschien (vgl. Kmec 2014: 42).
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und kontingent und dergestalt nicht als eine – u.a. an Einsprachigkeit gebundene – ontologische ›Wahrheit‹ über den Charakter eines Volkes. Dadurch handelt es sich bei Webers Kulturverständnis um eine liberale Vorstellung, indem er den prozessual veränderlichen und hybriden Charakter von Kultur unterstreicht und sein Kulturideal nicht per se an ein Volk bindet, wenngleich er sich dieser Deutung auch nicht vollständig entziehen kann (vgl. Kmec 2014: 51). Denn auch wenn die Elemente kultureller Hybridität in Webers Denkfigur enthalten sind (Péporté et al. 2010: 262ff.), versucht Weber dennoch, die kulturelle Identitätsbeschreibung der Luxemburger auf einen Begriff zu bringen. Dies wird dadurch deutlich, dass der deutsche und der französische ›Geist‹ auf den Luxemburger einwirken. Hierbei ist Webers Identitätsentwurf u.a. als Homogenisierungsprojekt zu verstehen, indem der Versuch unternommen wird, spezifische Identitätszuschreibungen zu bündeln und verschiedene Gesellschaftsschichten zu integrieren. Dass nämlich die soziale Differenzierung ebenso mit einem unterschiedlichen sprachlichen Leistungsniveau vor allem im Französischen korreliert, wird dadurch offenkundig, dass es zu Beginn der Staatsgründung – wie in den vorangegangenen beiden Kapiteln 2.1 und 2.2 erläutert – vor allem die Französisch und Niederländisch sprechende Verwaltungselite war, die Einfluss auf politische Entscheidungen hatte. Deren Angehörige verstanden sich jedoch nicht per se als ›typische‹ Luxemburger, zumal der Nationalstolz ohnehin im Vergleich zu anderen europäischen Nationalstaaten schwach ausgeprägt war. Vielmehr orientierten sie sich nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell an Frankreich oder den Niederlanden. Die vor allem den moselfränkischen Dialekt sprechende Landbevölkerung war hingegen nicht nur politisch, sondern auch kulturell ausgeschlossen, wodurch sich sukzessiv eine entzweite Gesellschaft herauszubilden drohte. In der ›Mischkultur‹ begegnen sich dagegen sowohl das Deutsche als auch das Französische zumindest theoretisch auf Augenhöhe, schließlich sprachen nicht ausschließlich Bildungsprivilegierte Französisch, sondern wegen der Grenznähe beispielsweise auch Handwerker, die ihrer Tätigkeit in französischsprachigen Gebieten nachgingen (vgl. Kmec 2014: 52). Die Vorstellung einer ›Mischkultur‹, einer »zusammengeflickte[n] Kulturhaut« (Weber 1909: 124), ist demnach als Angebot zu betrachten, Eliten, Mittelstand und Arbeiterschaft miteinander zu verbinden. Webers Gedankengebäude avanciert entsprechend zum ideologischen Überbau sprachlicher und kultureller Bedingungen. Das Denkmodell ist ebenso als Abgrenzungsmechanismus gegenüber den Nachbarstaaten zu werten. Zudem erfuhr bei Weber das Luxemburgische eine Aufwertung, sozusagen als sprachliches Verbindungsglied der
III Historischer Hintergrund
(autochthonen) Luxemburger Bevölkerung, das Weber dezidiert als »wirkliche Muttersprache« (ebd.: 121) herausstellt, die darüber hinaus »nicht nur im Volk gesprochen [wird], sondern bis hinauf in die höchsten Kreise« (ebd.). Das Besondere bei Weber ist folglich, dass er das Luxemburgische in sein Denkmodell einbindet. Anhand der Vorstellung über eine Identität der »Mischkultur« wird der sich allmählich verstärkende Nationalgedanke der Luxemburger sichtbar. Freilich handelt es sich bei der Bezeichnung »Mischkultur« zwar nicht um ein »ausformuliertes, soziologisch oder philosophisch ausgereiftes Konzept« (Kmec 2014: 55) und die Vorstellung darüber, was eine Vermischung von Kulturen denn auszeichnet, vermittelt mitunter Auffassungen, die aus einer kulturtheoretischen Perspektive nicht unproblematisch erscheinen. Im Rahmen der vorliegenden Studie ist der Begriff der »Mischkultur« jedoch vor dem Hintergrund seines historischen Kontextes und als ein (bildungs-)politisch genutztes Konstrukt zu begreifen. An dieser Stelle sei demnach dezidiert hervorgehoben, dass die »Mischkultur« der vorliegenden Arbeit nicht als Kulturbegriff zugrunde gelegt wird.27 Es interessiert vielmehr, inwiefern der Begriff der »Mischkultur« vom Luxemburger Bildungswesen genutzt wurde – unabhängig davon, ob damit das gemeint war, was Batty Weber mit seinem Denkmodell beabsichtigte –, um eine spezifische Luxemburger Identitätszuschreibung und damit ein schulisches Ideal zu propagieren, das sich gleichermaßen in der Curriculumentwicklung niederschlägt. Schließlich war auch die Bildungspolitik vor die Aufgabe gestellt, die nationale Identität über einen entsprechenden Gesetzesbeschluss, die Curriculumentwicklung und nachfolgend über die schulische Praxis zu instruieren. Durch eine Reformierung des Schulgesetzes und dessen Promulgation im Jahr 1912 wurde der erste Schritt in diese Richtung getan. Vor diesem Hintergrund seien an dieser Stelle zunächst die gesellschaftspolitischen Entwicklungen zu nennen, die zu dieser Gesetzesänderung führten. Zunächst ist hierbei das Kräftemessen zwischen Kirche und Staat anzuführen, welches die bildungspolitischen Debatten rund um die Gesetzesreform 1912 bestimmte. Innerhalb der Regierung bildeten die Sozialdemokraten und Liberalen seit 1908 in einer Koalition die politische Mehrheit und ließen einen Gesetzesentwurf zur Überarbeitung der 1898 verabschiedeten Loi Prüm ausarbeiten (vgl. Elcheroth 2012: 96). Die Loi Prüm ist nicht als komplette Revision des 1843er- bzw. 1881er-Schulgesetzrahmens zu betrachten. 27
Zu den Ausführungen rund um Batty Weber und die ›Mischkultur‹ vgl. Millim (2017b).
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Vielmehr zielte sie darauf ab, die Gehälter im Lehrerstand aufzubessern sowie den Lehrer wieder in den Religionsunterricht miteinzubeziehen, was jedoch zu politischen Unstimmigkeiten zwischen Klerikalen und Liberalen führte (vgl. ebd.: 95). Gleichwohl bot die Diskussion rund um die 1898erGesetzesanpassung den Nährboden für die bildungspolitischen Diskussionen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Als Reaktion auf die anvisierte Gesetzesänderung, die als institutioneller Befreiungsschlag gegen die klerikalen Strukturen im Schulcurriculum zu verstehen ist, war eine Spaltung der politischen Lager zu beobachten, die zur Bildung einer konservativen und rechtsorientierten Gegenbewegung führte (vgl. Moes 2012: 7). Aufgrund der eingeschränkten kirchlichen Kontrolle im Schulwesen verweigerte die konservative Großherzogin Marie-Adelheid zunächst die Bekanntmachung des neuen Schulgesetzes, was zu Unruhen in der politischen Linken führte (vgl. Pauly 2011: 84). Als Kompromisslösung zwischen dem antiklerikalen linken Flügel und den katholischen Konservativen erfolgte die Verabschiedung des neuen Schulgesetzes schließlich erst 1912 (vgl. Moes 2012: 7). In seinen wesentlichen Punkten zeichnete sich das neue Primärschulgesetz von 1912, die Loi Braun, u.a. durch die Verlängerung der allgemeinen Schulpflicht von sechs auf sieben Jahre (vgl. Mémorial A61 1912: 761, Art. 1), die Unentgeltlichkeit des Primärschulbesuches für alle Schüler (vgl. ebd.: 788ff., Kap. VIII), die Einführung von Schulzeugnissen (vgl. ebd.: 767, Art. 19), die Erweiterung des Fächerkanons (vgl. ebd.: 769, Art. 23) sowie durch eine Modifizierung des Religionsunterrichts aus, der nunmehr staatlich organisiert und überwacht wurde. Die wöchentlichen Religionsstunden konnten weiterhin im Schulgebäude durch den Ortsgeistlichen oder die von ihm ernannten Vertreter abgehalten werden (vgl. ebd.: 771, Art. 26). Dabei war der Kultuschef in der Verantwortung, den Religionsunterricht zu beaufsichtigen und durch die Regierung anzuzeigende Delegierte besuchen zu lassen (vgl. ebd.: 794, Art. 27; Art. 93). Entsprechend [nahmen] [d]ie politischen Auseinandersetzungen um das Primärschulgesetz von 1912 […] im Großherzogtum Luxemburg die Ausmaße eines regelrechten ›Kulturkampfes‹ an, in dem das Verhältnis von Kirche und Staat neu verhandelt wurde. (Voss 2013: 90) Die neuen Unterrichtsmodalitäten waren durchaus innovativ, da die Lehrperson dazu angehalten war, kultursensibel auf die Schülerschaft zu reagieren und »die religiöse Ueberzeugung der Kinder eines andern Kultus, welche seinen Unterricht befolgen, nicht [zu] kränken, nicht [zu] verletzen« (Escher
III Historischer Hintergrund
Tageblatt 13.10.1937).28 Das Lehrpersonal war nicht länger mit der Aufgabe betraut, den Religionsunterricht zu erteilen, und stand folglich nicht weiter in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Kirche. Rückblickend bezeichnete das bildungspolitisch engagierte und sozialdemokratische Escher Tageblatt das Vorhaben, die Autonomie der Kirche im Religionsunterricht einzudämmen, wie folgt: Es galt, die allzu weit getriebene Konfessionalisierung des gesamten Unterrichts auf ein richtiges Maß zurückzuführen, und die zu Demütigungen aller Art führende untergeordnete Stellung des Lehrers gegenüber dem Geistlichen von Gesetzes wegen zu revidieren. (Escher Tageblatt 1937) Wenngleich diese Bestrebung einen der zentralen Punkte im Schulgesetz kennzeichnete, »wurde dabei doch nie an das Grundsätzliche der überlieferten religiösen Erziehungsform gerührt« (ebd.). Darüber hinaus veränderten sich die gesellschaftlichen Strukturen, die der wirtschaftliche Aufschwung der Stahlindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts herbeiführte. Da das Großherzogtum nicht über genügend Fachkräfte verfügte, immigrierten zunehmend ausländische Arbeitnehmer nach Luxemburg. So waren es in erster Linie italienische Stahlarbeiter, die nach Luxemburg kamen, gefolgt von einigen deutschen bzw. preußischen Fachkräften (vgl. Weber/Horner 2012: 8f.). Durch diese Veränderungen war die nationale Schulpolitik vor die Herausforderung gestellt, den neuen wirtschaftlichen und damit auch gesellschaftlichen Voraussetzungen Rechnung zu tragen. Hierbei lassen sich zwei unterschiedliche Interpretationen beobachten, die im Rahmen der Reform von 1912 zu nennen sind. Einerseits war das Schulsystem mit der Aufgabe konfrontiert, der wachsenden Heterogenität zu begegnen und die Kinder ausländischer Arbeiter kulturell und sprachlich zu integrieren. Schließlich zeichnete sich eine verstärkte Diskrepanz zwischen dem Verantwortungsbereich der Fachkräfte, ihrer Herkunft sowie ihrem Ausbildungsgrad ab. Es waren vor allem Deutsche, die aufgrund ihres Bildungsgrades, zumeist als Ingenieure, in den höheren Verantwortungsbereichen tätig waren (vgl. Moes 2013: 35). Die Kinder der
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Anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Schulgesetzes von 1912 gab das Tageblatt eine 13-teilige Serie heraus, die die Entwicklungsgeschichte des Schulgesetzes und der Bildungsgeschichte unter einer sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Betrachtungsweise schildert (vgl. Scuto et al. 2013: 90). Zur Rolle der Presse angesichts der schulpolitischen Diskussionen vgl. Lenz/Voss (2013).
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ausländischen Fachkräfte trafen mit ihren unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen im Klassenzimmer mit den ›autochthonen‹ Luxemburger Schülern aufeinander. Als Reaktion auf diese wachsende Heterogenität sollten die Schüler nunmehr verstärkt im eigenen Land ausgebildet werden, um eine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit mit den Nachbarländern zu gewährleisten. Die Schule sollte das gesellschaftliche Bild entsprechend harmonisieren: Malgré l’explosion du nombre d’élèves et les transformations profondes de la société luxembourgeoise, les défis de l’école populaire restent inchangés : une école publique pour tous, qui doit permettre l’intégration de tous les enfants.29 (Ebd.: 38) Andererseits kennzeichnet der Versuch, Fachkräfte im eigenen Land auszubilden, auch einen innergesellschaftlichen Protektionismus: Um in Zukunft nicht mehr in der Intensität wie zuvor auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen zu sein, sollte die Schule ihre Schüler mit einem spezifischen Lehrprogramm versorgen, das den Herausforderungen des Arbeitsmarktes entspricht. Angesichts dieser gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse, d.h. die klerikale Emanzipation einerseits und der industrielle Aufschwung andererseits, zielt das 1912er-Gesetzespaket darauf ab, »Kinder […] zur Übung aller christlichen, bürgerlichen und sozialen Tugenden anzuleiten« (Mémorial A61 1912: 769, Art. 22), um somit eine neue Generation an Gesellschaftsmitgliedern herauszubilden. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die Idee der ›Mischkultur‹, wenngleich diese nicht namentlich im Bereich der Bildungspolitik artikuliert wurde. Dennoch finden sich hinreichende Hinweise dafür, dass diese Denkfigur vor allem auf curricularer Ebene dazu genutzt wurde, um einen spezifischen Luxemburger Identitätsentwurf zu festigen. Sprachenpolitisch signifikant ist hierbei besonders die Ergänzung des Fächerkanons, in den das Luxemburgische aufgenommen wurde (vgl. ebd.: Art. 23). Unter Berücksichtigung der Festigung des Nationalgedankens ist dies ein wichtiger Schritt in Richtung der demokratischen Partizipation in Schule und Gesellschaft, wie Moes anmerkt:
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»Trotz steigender Schülerzahlen und des tiefgreifenden Wandels der Luxemburger Gesellschaft bleiben die Herausforderungen der Volksschule unverändert: Eine öffentliche Schule für alle, die die Integration aller Schüler zu ermöglichen hat.«
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L’apprentissage de la langue luxembourgeoise fait également son apparition dans la perspective du renforcement du caractère national et démocratique de l’école publique qui vise aussi à créer une conscience nationale, considérée comme corollaire nécessaire à l’extension du droit de vote.30 (2013: 36) Obschon das Luxemburgische ohnehin informell im Unterricht gesprochen wurde, ist es jedoch zweifelhaft, ob es sich durch dessen Aufnahme in das Curriculum sprachenpolitisch tatsächlich um einen emanzipatorischen Wendepunkt handelte. Schließlich wurde das Luxemburgische nicht als sprachliches Unterrichtsfach gelehrt. Vielmehr handelte es sich um eine Unterrichtung in der Landesgeschichte (vgl. Mémorial A61 1912: 769, Art. 23) und so erhielt »das Luxemburgische […] seinen Platz im Fächerkanon nicht als zu unterrichtende Hochsprache, sondern als Träger der Vaterlandsliebe und Emblem der nationalen Identität« (Fehlen 2018: 72). Der Luxemburger Soziologe Fernand Fehlen identifiziert anhand dieser frühen Organisation des Faches Luxemburgisch und dessen heute immer noch vergleichsweise geringem Stundenkontingent, dass »es nicht als richtiges Fach empfunden [wird] und somit wird den Schülern, als Teil des Hidden Curriculum, vermittelt, dass Luxemburgisch keine richtige Sprache sei« (2007b: 35). Die curriculare Verankerung des Luxemburgischen und dessen Erwähnung im Primärschulgesetz von 1912 ist lediglich symbolisch zu begreifen. Anhand dieser bildungspolitischen Platzzuweisung des Luxemburgischen im Fächerkanon zeigt sich, dass es sich auch nicht um eine natürliche sprachenemanzipatorische Entwicklung vom Deutschen handelt. Die für die Luxemburger Identitätskonzeption geradezu als selbstverständlich inszenierte Dreisprachigkeit, die erst 1984 mit dem Sprachengesetz eine offizielle wurde, impliziert zugleich einen internationalen Charakterzug, indem auf dem überschaubaren Terrain Luxemburgs kompetente Sprecher (zwei) wichtiger Verkehrssprachen herangezogen wurden. Daraus ist ebenso die Idee abzuleiten, dass sich die Luxemburger aufgrund ihrer sprachlichen Mobilität im angrenzenden Ausland ohne Hindernis zurechtfänden. Für das Lehrpersonal war diese Argumentation nicht uninteressant, da mit der herausfordernden Lehrbelastung eines zweisprachigen Unterrichts eine Statusaufwertung des Lehrberufes begründet werden konnte, selbstverständlich einhergehend mit Gehaltsanpassungen (vgl. Gardin et 30
»Das Erlernen der luxemburgischen Sprache wird zudem im Kontext der Stärkung des nationalen und demokratischen Wesens der öffentlichen Schule als Faktor erkennbar, die ebenfalls darauf abzielt, ein Nationalbewusstsein zu schaffen, das als notwendige Folge der Erweiterung des Wahlrechts betrachtet wird.«
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al. 2018: 130). So waren die Lehrer nicht uneigennützig daran interessiert, am schulisch gedeuteten Ideal der ›Mischkultur‹ mitzuwirken. Grundlegend änderten weder die Krisenzustände der beiden Weltkriege, die mitunter auch zu einem antagonistischen Sprachenbild führten – man denke nur an die GEDELIT31 -Bewegung während des Zweiten Weltkrieges oder an die Ressentiments gegenüber dem Deutschen als Sprache der Besatzungsmacht – noch wirtschaftliche Neuausrichtungen, wie der Austritt aus dem Zollverein und die Gründung der Belgisch-Luxemburgischen Wirtschaftsunion, etwas Wesentliches an der schulischen Sprachenorganisation. Im Zentrum der bildungsplanerischen Bemühungen stand jedoch vermehrt das Luxemburgische, um sich so vom Deutschen zu emanzipieren. Kurz nach dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde am 25. Mai per ministerieller Anordnung veranlasst, dass das Unterrichtsangebot im postprimären Bereich um die Weiterbildung in luxemburgischer Sprache, Literatur und Geschichte erweitert wird (vgl. Mémorial A27 1945: 310, Art. 7).32 Der vom Bildungsministerium unternommene Versuch, eine Orthografie für das Luxemburgische einzuführen, um sich damit von der deutschen Schreibweise zu lösen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen.33 Trotz gelegentlich unterschiedlicher Sprachpräferenzen, der Befangenheit gegenüber dem Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich institutionell dadurch äußerte, dass Deutsch und Französisch seither verfassungsrechtlich nicht mehr gleichgestellt sind (vgl. im Detail Fehlen 2008: 49) und weiterer bildungspolitischer Diskussionen, wurde das Argument der Zweisprachigkeit mit Deutsch und Französisch als Teil der Luxemburger Identität nicht aufgegeben. Vielmehr wurde es bestärkt, indem ein Abhängigkeitsverhältnis der Sprachen weiterhin und unter konkreter Einbeziehung des Luxemburgischen inszeniert wurde: Nach dem Deutschen als Alphabetisierungssprache wurde das Französische als »notre seconde langue maternelle«
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Zur nationalsozialistischen Gesellschaft für deutsche Literatur, kurz GEDELITBewegung in Luxemburg, vgl. im Detail Fratini (2009). Aufgrund der Vorbehalte gegenüber der deutschen Sprache ist die Schulgesetzgebung seit Veröffentlichung dieses Dekrets nicht mehr zweisprachig auf Deutsch und Französisch verfasst, sondern nur noch auf Französisch. Die 1946 eingeführte Orthographie Luxembourgeoise Officielle (OLO), auch MargueFeltes-Orthografie genannt, ist eine auf dem phonetischen Prinzip beruhende Schreibweise, die als eine Art konstruierte Sprache zu verstehen ist, um sich vom Standarddeutschen zu distanzieren (vgl. Gilles 2015).
III Historischer Hintergrund
(Wagener 1930: 412f., zit.n. Weber/Horner 2012: 10) eingeführt, als notwendige Fähigkeit, um zugleich auch Luxemburgisch sprechen zu können (vgl. ebd.). Weber und Horner folgern daraus, dass Deutsch als die ›erste‹ Muttersprache wahrgenommen und Luxemburgisch zu diesem Zeitpunkt noch nicht als eigenständige Sprache verstanden wurde (vgl. ebd.). Hinzuzufügen wäre dem noch, dass der Luxemburger während seiner Schulzeit an das Französische im Grunde durch das, was man heute als Nationalsprache benennt, herangeführt wird, da Luxemburgisch die Sprache ist, in der er sich schon zu Beginn seiner Schulbildung informell im Klassenzimmer mit Lehrern und Klassenkameraden verständigt. Da das Luxemburgische nicht konzeptuell schriftlich gefestigt war, ist die Alphabetisierungssprache Deutsch hierbei als Vehikel zu betrachten. Anhand dieser bi- und heute als trilingual zu interpretierenden Sprachenpraxis zeigt sich, dass von Beginn an ein reziprokes Verhältnis der drei Einzelsprachen zueinander im Luxemburger Schulwesen angelegt und dabei ein spezifisches Identitätsverständnis konstruiert wurde. Bei genauerer Betrachtung rekurriert dieses Identitätsverständnis auf die Vorstellung, dass der Luxemburger Schüler per se auch genuin luxemburgischsprachig sei. Interessant ist hierbei jedoch, dass der inszenierte Übergang der Sprachen nicht explizit vom Luxemburgischen selbst ausging. Dies änderte sich formal mit dem Reformkontext von 2009 und damit auch erst 25 Jahre nach der Sprachengesetzgebung von 1984. Zudem bleibt es fraglich, inwiefern die Gesetzesänderung von 1912 von einem zweisprachigen zu einem augenscheinlich offiziell dreisprachigen Schulsystem tatsächlich auf die neuen gesellschaftlichen Entwicklungen respektive die Zuwanderung reagierte. Die Deutung liegt nahe, dass es sich bei der Erhebung des Luxemburgischen zum Unterrichtsfach eher um einen sprachenpolitischen Protektionismus handelte als um einen Integrationsversuch für Nichtluxemburger. Schließlich gab es bis in die 1960er-Jahre hinein kein tatsächliches sprachliches Lehrprogramm,34 wodurch der Spracherwerb im Luxemburgischen im Prinzip für Zuwandererkinder nicht stattfand. Dass dem schulisch definierten Denkmodell der ›Mischkultur‹ insbesondere mit Blick auf die mehrsprachige Praxis keineswegs ein positivistisches Verständnis zugrunde gelegt werden kann, ist daran abzulesen, dass die proklamierte Mehrsprachigkeit in der curricularen Entwicklung als voneinander abgegrenzte Einzelsprachen ausgewiesen und unter einer additiven Prämisse
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Vgl. im Kapitel 3.2, S. 131f.
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eingeführt wird. Deutsch war weiterhin die Alphabetisierungssprache, Französisch wurde dem neuen Lehrplan zufolge ab der dritten Klasse gelehrt, was jedoch nach dem Ersten Weltkrieg wieder rückgängig gemacht und ins zweite Schuljahr zurückverlegt wurde (vgl. Fehlen 2018: 71f.). Wie Anne-Marie Millim folgerichtig anmerkt, fordert Batty Weber von seinen Lesern z.B. selbst, dass sie sich als kompetente Sprecher in den Sprachen bewegen: Während die Mischung von französischen, deutschen und luxemburgischen Kulturelementen für Weber den verallgemeinerten Luxemburger ausmacht, stellt er sprachliche Interferenzen als Fehler dar. Diese Fehlerhaftigkeit ist stark kontextabhängig: Im Sprachgebrauch der Bevölkerung stellt Weber Vermischungen von Sprachsystemen oft als Zeichen von Inkompetenz und Anmaßung dar, aber im Bereich der Kunst zeuge sie, ihm zufolge, von Kreativität, Individualität und luxemburgischer Eigenart. (2017a: 86) Weber unterscheidet demzufolge zwischen einem Gebrauch von Mehrsprachigkeit als künstlerische bzw. literarische Ausdrucksmöglichkeit, die durchaus standardsprachliche Abweichungen zulässt, und einem makellosen, alltäglichen Sprachgebrauch. Dem Sprachgebrauch im Deutschen und Französischen wird ein monolinguales Prinzip zugrunde gelegt, d.h., Weber orientiert sich an einem muttersprachlichen Niveau35 im Deutschen und Französischen. Insgesamt ist festzuhalten: Obwohl z.T. widersprüchliche Interessen bei Webers Denkmodell zu finden sind und es »auf bildungspolitischer Ebene sehr unterschiedlich interpretiert [wurde,] […] [es] ein nützliches Werkzeug, eine alternative Methode zur Förderung der Nation durch Erziehung« (Gardin et al. 2018: 130) darstellt. Aus der Vorstellung heraus, dass der Luxemburger völlig selbstverständlich Deutsch, Französisch und Luxemburgisch spricht und in der Schule zu einem solchen Sprechertyp herangezogen wird, ist eine Art Elitenvorhaben und Abgrenzungsmechanismus geworden. Man denke hierbei an die Besetzung von Staatsstellen, bei denen ein nahezu muttersprachliches Niveau in allen drei Sprachen vorausgesetzt wird, oder an die schulische Integration immigrierter Kinder. Daran lässt sich ablesen, dass das Luxemburger Schulwesen für den Luxemburger konzipiert wurde. Dass dieses Gedankengebäude, das schulpolitisch durch die Dreisprachigkeit 35
Einen ähnlichen Gedanken führt Millim (2017a: 90f.) mit Blick auf eine für Luxemburg ›verdreifachte Einsprachigkeit‹ aus (vgl. ebd.: 91). Sie bezieht sich hierbei nicht auf die schulische Praxis.
III Historischer Hintergrund
im 1912er-Primärschulgesetz verankert wurde, in zunehmendem Maße ins Wanken gerät, lässt sich anhand einer seit den 1960er-Jahren wachsenden Internationalisierungstendenz in Wirtschaft und Bildung aufzeigen, die auch für den bildungspolitischen Kontext von 2009 eminent ist. Der bildungspolitische Druck von außen nahm vor allem durch den wirtschaftlichen Fortschrittsgedanken zu, wodurch es erneut zu Akteurverlagerungen in der nationalen Bildungsplanung und Ausrichtung des Sprachenunterrichts kam.
3
3.1
Curriculare Performanz im Spannungsfeld zwischen nationalstaatlicher Rhetorik und Internationalisierungsprozessen Die Parallelisierung von Wirtschaftswachstum und Bildungspolitik
Die Organisation des Sprachenunterrichts war in Luxemburg stets fester Bestandteil der curricularen Debatten, doch insbesondere seit den 1960erJahren war das Großherzogtum mit der Frage konfrontiert, wie seine Bildungs- und Sprachenpolitik im Zuge verstärkter Internationalisierungsprozesse und wachsender Migrationsbewegungen in Zukunft aussehen sollte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges intensivierte das Großherzogtum seine internationalen Beziehungen. Mit zunehmendem Einfluss der seit den 1950er-Jahren begründeten überstaatlichen Initiativen, wie der NATO, der OECD, der IEA36 oder der Weltbank, wandelte sich sukzessiv der Blick auf Bildung. Bildungsinteressen, die einer ökonomischen und internationalen Interessensgemeinschaft Rechnung trugen, spielten verstärkt eine zentrale Rolle in der nationalen Schulpolitik. Bildungspolitik wurde somit »auf ganz grundsätzliche Weise« (Rohstock/Lenz 2018: 173) Gegenstand internationaler Prozesse. Für die nationale Schulpolitik galt es mit dieser Grundsätzlichkeit umzugehen, ohne dass nationale Bildungsziele und eine systeminhärente und primär durch die Mehrsprachigkeit gesicherte Identitätskonturierung dadurch gefährdet würden. Mit Blick auf das Verständnis heutiger Bildungs-
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Die IEA war vor allem die Initiatorin einer vergleichenden empirischen Bildungswissenschaft, die den Trend des internationalen Testings hervorbrachte (vgl. Carnoy 2019: 4).
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III Historischer Hintergrund
im 1912er-Primärschulgesetz verankert wurde, in zunehmendem Maße ins Wanken gerät, lässt sich anhand einer seit den 1960er-Jahren wachsenden Internationalisierungstendenz in Wirtschaft und Bildung aufzeigen, die auch für den bildungspolitischen Kontext von 2009 eminent ist. Der bildungspolitische Druck von außen nahm vor allem durch den wirtschaftlichen Fortschrittsgedanken zu, wodurch es erneut zu Akteurverlagerungen in der nationalen Bildungsplanung und Ausrichtung des Sprachenunterrichts kam.
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3.1
Curriculare Performanz im Spannungsfeld zwischen nationalstaatlicher Rhetorik und Internationalisierungsprozessen Die Parallelisierung von Wirtschaftswachstum und Bildungspolitik
Die Organisation des Sprachenunterrichts war in Luxemburg stets fester Bestandteil der curricularen Debatten, doch insbesondere seit den 1960erJahren war das Großherzogtum mit der Frage konfrontiert, wie seine Bildungs- und Sprachenpolitik im Zuge verstärkter Internationalisierungsprozesse und wachsender Migrationsbewegungen in Zukunft aussehen sollte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges intensivierte das Großherzogtum seine internationalen Beziehungen. Mit zunehmendem Einfluss der seit den 1950er-Jahren begründeten überstaatlichen Initiativen, wie der NATO, der OECD, der IEA36 oder der Weltbank, wandelte sich sukzessiv der Blick auf Bildung. Bildungsinteressen, die einer ökonomischen und internationalen Interessensgemeinschaft Rechnung trugen, spielten verstärkt eine zentrale Rolle in der nationalen Schulpolitik. Bildungspolitik wurde somit »auf ganz grundsätzliche Weise« (Rohstock/Lenz 2018: 173) Gegenstand internationaler Prozesse. Für die nationale Schulpolitik galt es mit dieser Grundsätzlichkeit umzugehen, ohne dass nationale Bildungsziele und eine systeminhärente und primär durch die Mehrsprachigkeit gesicherte Identitätskonturierung dadurch gefährdet würden. Mit Blick auf das Verständnis heutiger Bildungs-
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Die IEA war vor allem die Initiatorin einer vergleichenden empirischen Bildungswissenschaft, die den Trend des internationalen Testings hervorbrachte (vgl. Carnoy 2019: 4).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
prozesse ist dies ebenso wichtig,37 da ihnen zusehends ein komparativer Denkstil zugrunde liegt, der wesentlich durch Global Player wie die OECD geprägt wurde. Dies gilt vor allem im Lichte vergleichender Schulleistungsuntersuchungen, wie der von der OECD geleiteten PISA-Studie, die Anfang der Jahrtausendwende eine Akzentverschiebung in der nationalen Bildungsentwicklung herbeiführte. Nachfolgend werden die ursächlichen Gründe für den Perspektivwechsel in Richtung einer »›Performanz-orientierte[n] Kultur‹« (Radtke 2003: 113) in der (inter-)nationalen Bildungspolitik benannt und dann am Beispiel Luxemburgs erläutert. Den Ausgangspunkt der gemeinsamen und wettbewerbsorientierten Zielsetzungen in der internationalen Bildungsplanung bildete der USamerikanische Marshallplan, mit dessen finanzieller Unterstützung die europäischen Volkswirtschaften – als Garant für eine politische Stabilität – nach dem Kriegsende konsolidiert wurden; vor diesem Hintergrund wurde auf der durch das wirtschaftliche Wiederaufbauprogramm initiierten Pariser Konferenz von 1947, zu deren Teilnehmern auch Luxemburg zählte, das Komitee für die Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit CEEC begründet (vgl. Kim 1994: 13f.). Dessen Mitglieder arbeiteten ein Sanierungskonzept aus, das schlussendlich neben dem amerikanischen Gesetz zur Auslandshilfe zur Gründung eines Europäischen Wirtschaftsrates, der OEEC und Vorgängerorganisation der OECD führte (vgl. ebd.: 13ff.). Hauptaufgabe der OEEC war es, unter Einbeziehung des Marshallplans die wirtschaftliche Kooperation der Mitgliedstaaten sowie den internationalen Austausch zu intensivieren. Dass der ökonomische Förderungsaspekt eng mit einer universalen Bildungsplanung verknüpft wurde, zeigte sich besonders am Beispiel des Kalten Krieges und dessen Auswirkungen auf das westliche Bildungsverständnis. Als Initialzündung für Reformbestrebungen, die z.T. auf dem internationalen Parkett stattfanden,38 ist das Jahr 1957 zu nennen, als der erste Erdraumsatellit Sputnik von der Sowjetunion ins All geschossen wurde. Dies kam
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An dieser Stelle ist festzuhalten, dass es sich dabei nicht per se um eine lineare Entwicklung handelte und sich die Verfasserin von einer teleologischen Deutung der Bildungsgeschichte distanziert. Die Internationalisierungstendenzen nach Ende des Zweiten Weltkrieges forderten nicht zwangsläufig ein Umdenken in der Bildungsplanung Anfang der Jahrtausendwende. Mit ›international‹ ist in erster Linie der Austausch zwischen den westlichen Industrienationen gemeint.
III Historischer Hintergrund
in den USA einem gesellschaftlichen Krisenzustand gleich, wodurch deren Selbstbild angesichts der technologischen und zugleich wissenschaftlichen Inferiorität gegenüber der kommunistischen Sowjetunion grundlegend erschüttert wurde. National beantwortet wurde der Sputnikschock in den USA neben der Gründung der NASA vor allem bildungspolitisch, indem der National Defense Education Act (NDEA) verabschiedet wurde. Hierbei lässt sich erneut aufzeigen, dass gesellschaftliche Herausforderungen an den Aufgabenbereich des Bildungswesens delegiert wurden, das demgemäß mit der Aufgabe betraut wurde, die vermeintliche Rückschrittlichkeit und Unterlegenheit gegenüber der Sowjetunion auszugleichen. Bildungspolitik wurde gleichsam zur Gesellschaftspolitik (vgl. ebd.: 9). Durch diese ›Pädagogisierung‹ des Kalten Krieges sollte die nächste Generation zu gut ausgebildeten Wissenschaftlern und kritischen Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft herangezogen werden. Sputnik wurde jedoch nicht ausschließlich als Infragestellung der primär US-amerikanischen Vormachtstellung in Wissenschaft und Technik wahrgenommen, sondern generell als Offensive gegen den Westen und dessen konzeptualisierte demokratische Weltsicht. Im Lichte der Modernisierung, die allgemein auf die Anpassung des Bildungswesens an die gesellschaftlichen Entwicklungen abzielte, und der Humankapitaltheorie wurde die Schul- und Hochschulbildung – um im sozialwirtschaftlichen Duktus zu verweilen – zur verheißungsvollen ›Produktionsstätte‹ von Arbeitskräften, die mit ihrem Spezialwissen einen wirtschaftsfördernden Beitrag in der Gesellschaft leisten können. Dadurch zeichnete sich ein Paradigmenwechsel im Bildungsbereich ab, da sich die Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften verstärkt auseinanderdifferenzierten und das humanistische Bildungsideal vom technokratischen Fortschritt scheinbar überholt wurde. Exemplifizieren lässt sich dies anhand der Neuen-Mathematik-Bewegung, einem international angeregten Reformprogramm, bei dem die Schwerpunktverlagerung im Unterricht in Richtung Mathematik und Naturwissenschaften anvisiert und der klassische Sprachenunterricht im Sekundarschulwesen einzelner Länder dagegen reduziert wurde. Für das Curriculum bedeutete dies konkret, dass die Unterrichtsinhalte in Mathematik sowie den naturwissenschaftlichen Fächern ausdifferenziert wurden, um moderne technokratische Staaten als Gegengewicht zur Sowjetunion auszubilden. Über das Curriculum in Mathematik und Naturwissenschaften wurde daher die ›irrationale‹ Vorstellung verfolgt, nationale Überlegenheit zu demonstrieren (vgl. Pinar et al. 2008: 6). Im Sinne der dogmatischen Schlagwörter
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
›Fortschritt‹ und ›Entwicklung‹ wird das Curriculum gleichsam ökonomisiert. Forschung und Wirtschaft entscheiden nunmehr darüber, welches Wissen Schüler und welche Eigenschaften allgemein Gesellschaftsmitglieder in der sogenannten Wissensgesellschaft bzw. in der Wissensökonomie akquirieren müssen (vgl. Popkewitz 2011: 163). Fortan war das Curriculum in den meisten westlichen Ländern einer erhöhten ›Verwissenschaftlichung‹ ausgesetzt. Die aus der OEEC hervorgegangene Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) veranstaltete seit ihrer Gründung 1961 zahlreiche Konferenzen zu diesem Thema, bei denen u.a. die Neuausrichtung des Mathematikunterrichts besprochen wurde.39 Die OECD, deren Mitgliederzahl u.a. mit den USA oder Kanada erweitert wurde, hatte entgegen ihrer Vorgängerin der OEEC, die in erster Linie zur Umsetzung des europäischen Wirtschaftsförderungsprogramms nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, eine beratende Funktion in ganz unterschiedlichen Politikbereichen; neben der Wirtschaftspolitik u.a. in der Finanz- oder Gesundheitspolitik einer nunmehr transatlantischen Interessengemeinschaft.40 Dagegen gehörte die Bildungspolitik zuerst nicht zum erklärten Aufgabenbereich der OECD.41 Ihrem ersten Generalsekretär, Thorkil Kristensen (1961-1969), zufolge war das selbst erklärte Ziel der OECD to develop a common value system at the level of civil servants in the OECD countries that should form the basis for consensually shared definitions of problems and solutions in economic policy making. (Leibfried/Martens 2008: 4f.)
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Als bedeutendste ist das Seminar New Thinking in School Mathematics in Royaumont 1959 zu nennen, bei dem auch zwei Mathematiklehrer aus Luxemburg teilnahmen (vgl. Lenz et al. 2013: 321). Interessanterweise entwickelte sich mit der Gründung der OECD z.B. in Deutschland erst eine Auseinandersetzung mit dem curricularen Forschungsfeld, die jedoch schon ein Jahrzehnt später vom bildungspolitischen Radar verschwand und durch die ›Allgemeine Didaktik‹ verdrängt wurde (vgl. Tröhler 2014: 61 sowie Kapitel II.1.1, S. 41). Die innerorganisatorische Expertengruppe CERI (Centre for Educational Research and Innovation) wurde einige Jahre später (1968) angesichts bildungspolitischer Fragen gegründet und spezialisierte sich explizit auf den Forschungsbereich Bildung. Das CERI ist auch heute noch ein wichtiges Organ der OECD, das sich mit Qualitätsentwicklung in Bildungsfragen beschäftigt. Im Jahr 2002 wurde dem innerorganisatorischen Bereich für Bildung eine eigene Direktionsstelle zugewiesen (vgl. Rubenson 2008: 243).
III Historischer Hintergrund
Oder um es polemisch auf die Spitze zu treiben: »Elitenkoordination und Eliten-Entwicklungspolitik für wirtschaftliches Wachstum und sozialen Fortschritt« (ebd.: 5). In ihrer bildungspolitischen Tätigkeit legte die Organisation Vorgaben fest, nach denen die Einzelstaaten ihren Bildungsbereich ausrichten und ihr Curriculum entsprechend anpassen sollten. Standardisierung wurde hierbei zum vermeintlichen Inbegriff von Egalität und Chancengleichheit. Längsschnittstudien steckten zu dieser Zeit zwar noch in den Kinderschuhen, dennoch waren die Länderberichte der OECD schon damals ein wichtiges Mittel der Qualitätssicherung. Schließlich gaben sie Aufschluss darüber, ob ein Mitgliedsstaat mit den Bildungsvoraussetzungen der internationalen Gemeinschaft Schritt halten konnte. Durch Vergleichsberichte, wie etwa dem 1960 von der OECD herausgegebenen Forecasting Manpower: Needs for the Age of Science, wurde die Kluft in Bildungsfragen zwischen Nordamerika und Europa sichtbar (vgl. Rubenson 2008: 249). Unter dem Deckmantel des sozialen Fortschritts wird dabei die hegemoniale Struktur der supranationalen Organisation evident, deren Tätigkeit über eine rein beratende Funktion hinausgeht. Folgt man den Darstellungen von Daniel Tröhler (2013: 61ff.), so beanspruchte die Entwicklungsstrategie der OECD dabei eine distinkte Rhetorik für sich, wonach die Organisation ihre (national-)politische Dimension abmilderte und eine geradezu unpolitische Sprache zu jenem strategischen Konzept gehörte, das an und für sich nicht artikuliert wurde: [D]iese spezifische Rhetorik [beschränkte sich] nicht einfach auf ›Auslassungen‹, sondern bediente sich eines weiteren Mittels, nämlich der ›Verschleierung‹, die Sachverhalte verdeckt, relativiert und die Herkunft verwendeter Argumentation teilweise im Unklaren lässt. (Ebd.: 66) Die OECD inszenierte sich folglich durch ihre normierte Sprache als eine neutrale, begrüßenswerte und nicht weiter hinterfragte Politikberaterin und Unterstützerin der jeweiligen Nationalstaaten, die [es] ermöglichte, kulturelle sowie nationale Differenzen so auszugleichen, dass die bildungspolitischen Ideen von den verschiedenen Teilnehmern akzeptiert und deshalb in den jeweiligen Herkunftsländern implementiert werden konnten. (Ebd.: 61) Propagiert wurden die Entwicklungsbestrebungen der OECD danach durch eine »›ideologiefreie‹ Ideologie« (ebd.: 63), wodurch sich die westliche,
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
›freie Welt‹ (vgl. Bürgi 2017)42 von dem planwirtschaftlichen, ideologischen Führungsstil der Länder hinter dem Eisernen Vorhang unterscheidet. Gleichwohl folgen die als Unterstützungsleistung ausgeflaggten bildungspolitischen Aspirationen der OECD einer spezifisch motivierten Anschauung, die gänzlich im Zeichen des Fortschritts und der Entwicklung steht (vgl. ebd.). Daran zeigt sich, dass die Organisation mit »historischen und kulturellen Denkstile[n]« (ebd.: 211) operiert und sich dadurch »normativ[e] Glaubenssets« (ebd.: 224) herausbildeten, nach denen die Gesellschaftspolitik über den Bildungsbereich vollzogen werden könne. In ihrer wissenschaftlichen Expertenfunktion43 und verschiedenen innerorganisatorischen Expertenteams beabsichtigte die OECD, Einzelstaaten in der Realisierung ihrer bildungspolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungsziele zu unterstützen, und folglich ließ sich die Tendenz beobachten, dass [a]us einer sachlich eng begrenzten internationalen Organisation (Wirtschaft und Steuern) […] eine Großinstitution geworden [ist], die fast Universalzuständigkeit beansprucht und gewissermaßen das ›ideelle Gesamtspiegelreferat‹ zum Nationalstaat darstellt. Bildung war da nur ein Schlussstein für ein umfassendes Zuständigkeitsgebäude. Damit wird die OECD zum Universal-Clearing-House der Nationalstaaten. (Leibfried/Martens 2008: 6) Gegen diese Ansicht ist jedoch kritisch einzuwenden, dass diese Ideen nicht alleinig auf den Arbeitsauftrag der OECD zurückzuführen sind und schon vorher existierten. Die Tätigkeit der OECD einzig auf einen angenommenen Neoliberalismus zu reduzieren, wäre zu kurz gegriffen. Gleichwohl ist die Vormachtstellung der OECD durch PISA exponiert, weshalb sie sich in der Fähigkeit »to manufacture the ›common sense‹ of society« (Rubenson 2008: 242)
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Vgl. hierzu im Detail die Dissertation von Regula Bürgi (2017), die sich mit der historischen Entwicklung der OECD zur Bildungsexpertin in der freien Welt im Rahmen des Kalten Krieges beschäftigt und methodologisch mit der Akteur-Netzwerk-Theorie distinkte Funktionsmechanismen und Machtverhältnisse in der Bildungsplanung der Organisation aufdeckt. Von Kerninteresse ist dabei, mit welchen Strategien die OECD eine Generalzuständigkeit in der Bildungsplanung für sich beansprucht und sich hinter der von ihr propagierten wissenschaftlichen Erkenntnis als Inbegriff der absoluten Wahrheit selbst normierte und ideologiebehaftete Denkstile verbreitete. In Anlehnung an Bürgi (2017) wird unter der politikberatenden Expertenfunktion der OECD »eine permanente, d.h. institutionalisierte und professionalisierte Verschränkung von Politik und Wissenschaft verstanden« (Bürgi 2017: 19).
III Historischer Hintergrund
behaupten konnte. Im Hinblick auf internationale Schulleistungsuntersuchungen ist überdies anzuführen, dass der Fortschrittsgedanke und die Vergleichbarkeit mit anderen Nationalstaaten keineswegs nur eine Erscheinung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind. Punktuell gab es bereits während der Ausbildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und der damit verbundenen Errichtung eines einheitlichen Schulsystems Anstrengungen, nationale Progression und Kompetitivität durch den Vergleich mit anderen zu stimulieren. Veranschaulicht werden kann dies anhand der Weltausstellungen, insbesondere der von 1878 in Paris, bei der die Fortschritte verschiedener europäischer Schulsysteme veranschaulicht wurden (vgl. Tröhler 2018: 34f.). Obschon dies weniger institutionalisierte und rationalisierte Züge trug, stand dabei der Versuch im Vordergrund, das eigene Schulwesen als Prototyp einer erfolgreichen Schulbildung und damit zugleich als Ausdruck des nationalen Stolzes zu proklamieren (vgl. ebd.). Zudem muss an dieser Stelle herausgestellt werden, dass die Bildungsempfehlungen der OECD und weiterer Global Player – natürlich in unterschiedlichen Schweregraden – im Spannungsverhältnis mit den Zielvorstellungen der nationalen Bildungsagenden stehen können. Am Beispiel von Luxemburg lässt sich im Folgenden aufzeigen, wie mit dem Einfluss supranationaler Initiativen auf Bildungsentscheidungen umgegangen wurde.
3.2
Luxemburg zwischen nationaler Bildungstradition und institutioneller ›Weltkultur‹
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Ländern gehörte zur politischen Agenda Luxemburgs. Der Beitritt in die EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) im Jahr 1951 sowie in die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) 1957 verdeutlichen diesen Kurs in Richtung einer europäischen Wirtschaftsunion. Darüber hinaus war Luxemburg Gründungsmitglied der OEEC, NATO sowie UNESCO und ließ seine Delegierten, bei denen es sich vor allem um Lehrer handelte, an verschiedenen Programmen zum Thema Bildung teilnehmen, wie beispielsweise an der Neuen-MathematikBewegung. Das Großherzogtum beteiligte sich ebenfalls an der Organisation verschiedener Veranstaltungen zu dem Thema oder hatte den Vorsitz von Konferenzen (vgl. im Detail Rohstock/Lenz 2018: 177ff.). Die Idee einer vertieften Nutzung von Humanressourcen machte sich überdies auf der schulischen Organisationsebene bemerkbar, als die Sekundarschulbildung 1979 in die beiden Schulzweige Enseignement secondaire classique und Enseignement secondaire
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technique ausdifferenziert wurde (vgl. Mémorial A41 1979). Das neu formierte Lycée technique bildete den eher berufsvorbereitenden Schulzweig, in dem die Schüler schneller ins Berufsleben verabschiedet werden können als im allgemeinbildenden Classique. Der im technischen Lyzeum eher auf praktisches Wissen gelegte Fokus sollte dementsprechend für eine Disziplinarisierung gesellschaftlicher Bedürfnisse sorgen. Der Standardisierungsprozess oder, pointierter ausgedrückt, die ›Gleichmacherei‹ (Rohstock 2010) nationaler Bildungspolitiken wurde jedoch weitgehend vom Luxemburger Lehrpersonal – dessen Stellung sich im 20. Jahrhundert frappierend veränderte, indem die Lehrer sukzessiv Einfluss auf politische Entscheidungen gewannen – kritisch beäugt. Dies wird besonders angesichts der Organisation des Sprachenunterrichts offenkundig. Das Sprachencurriculum sollte vor allem mit Blick auf die OECD-Empfehlungen sowie auf seinen technokratischen und wirtschaftlichen ›Gebrauchswert‹ hin modernisiert werden. Das klassische Sprachenangebot und damit besonders die Lateinstunden wurden daraufhin im Großherzogtum zugunsten der modernen Sprachen von sieben auf fünf Stunden die Woche gekürzt (vgl. Rohstock/Lenz 2018: 184). Dieser von den oppositionellen Sozialdemokraten und Kommunisten geteilte Vorschlag stieß besonders im klassischen Sekundarschulunterricht auf Ablehnung, da dies einen Bruch mit der humanistischen Bildungstradition bedeutete und dadurch die zuvor elitäre Stellung der Lateinlehrer am Gymnasium entgegen der Lehrenden für Naturwissenschaften unterminiert wurde (vgl. ebd.: 183f.). Welche Haltungen gegenüber supranationalen Empfehlungen in Luxemburg entgegengebracht und wie mit ihnen national umgegangen wurde, zeigt sich am Beispiel der Neuen-MathematikBewegung. In Luxemburg führte die Neue Mathematik nicht zu einer grundlegenden Neuregelung der Unterrichtsorganisation und so gab es nur wenige Veränderungen.44 Die wöchentliche Stundenanzahl betrug in den Fächern Biologie, Mathematik und Geografie in den untersten drei Klassen des Sekundarschulwesens trotz Orientierung an wirtschaftlicher Praktikabilität und dem bildungspolitischen Druck von außen weniger als die Hälfte angesichts der Stundenanzahl sprachlicher Fächer (Deutsch, Französisch, Luxemburgisch,
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Beispielsweise wurden neue Mathematikbücher aus dem an der Bewegung beteiligten Frankreich in den Mathematikunterricht der Sekundarschule eingeführt. Dies führte jedoch eher zu Unmut unter der Lehrerschaft, welche die Lehrbücher der Nachbarn als eher ungeeignet für den Luxemburger Kontext befanden (vgl. Lenz et al. 2013: 322).
III Historischer Hintergrund
Englisch und Latein) (vgl. Schreiber 2015: 356). Im Grundschulbereich gab es sogar bis in die 1980er-Jahre hinein keinen in einzelnen Fächern organisierten naturwissenschaftlichen Unterricht. Vielmehr wurde der Themenbereich u.a. im Deutschunterricht behandelt (vgl. Lenz et al. 2013: 322). Hierbei zeigt sich, dass Fachunterricht in Luxemburg auch explizit Gegenstand des Sprachunterrichts war und die Kenntnisse der Unterrichtssprache über Erfolg oder Misserfolg im jeweiligen Unterrichtsfach entscheiden. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass sich auch spezifisch nationale Eigentümlichkeiten verstärkt herausbildeten. Wie die Autoren Rohstock und Lenz (2012, 2018) entsprechend für den Zeitraum 1945 bis 1970 herausstellen, handelte es sich im Falle Luxemburgs um »ein[en] nationale[n] Weg zur Internationalisierung« (ebd.). Durchaus war die Zäsur rund um Sputnik im Großherzogtum ebenso wie in den anderen westlichen Industrienationen Gegenstand bildungspolitischer Debatten, wenngleich die Neuanpassungen in der Schulorganisation nicht offenkundig auf den Sputnikschock zurückzuführen, sondern »Reformen […] an ein ausdrücklich ›nationales Erbe‹ gebunden [waren]« (ebd.: 186). Dabei lässt sich eine distinkte Argumentationsführung beobachten und dergestalt fanden internationale Reformbestrebungen, die Einzug in die nationale Bildungspolitik halten sollten, kaum Niederschlag in den Parlamentsdebatten oder anderen amtlichen Zeugnissen. Die internationale Einflussnahme auf die Luxemburger Bildungspolitik wurde demnach zurechtgelegt, sodass sie an historische und traditionelle Leitlinien anknüpfte (vgl. ebd.). Ein Phänomen, das zum Beispiel international zu beobachten war, war die Verlängerung der Schulpflicht nach dem Zweiten Weltkrieg zumeist auf neun Jahre, um den Qualifizierungsgrad der Schüler zu intensivieren. In Luxemburg wurde die Schulpflicht von sieben auf neun Jahre erweitert, was jedoch nicht mit der Orientierung an internationalen Reformdebatten begründet wurde, sondern vielmehr mit der sich stetig ausweitenden Luxemburger Schulzeit seit Ende des Zweiten Weltkrieges (vgl. ebd.: 185f.). Überdies wurde 1964, während der Hochkonjunktur supranationaler Außeneinflüsse, das Fach Luxemburgisch mit eigenem Lehrplan in der Primärschule implementiert und der vormals zweisprachige Sprachenunterricht der Grundschulzeit ist seither auch tatsächlich dreisprachig (vgl. Schreiber 2015: 309). Zwar wurde Luxemburgisch bereits mit dem 1912er-Gesetzesrahmen als Fach eingeführt, wenngleich es sich dabei in erster Linie eher um Volkskunde handelte. Die Valorisierung des Luxemburgischen als sprachliches Unterrichtsfach 1964 mit eigenem Lehrplan ist jedoch in erster Linie als ein poli-
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
tisch motivierter Protektionismus zu werten (vgl. ebd.). Dies lässt sich zum einen daran ablesen, dass Luxemburg erst mit der Sprachengesetzgebung 1984 offiziell dreisprachig wurde und zum anderen erst 1979 die Entwicklung luxemburgischer Unterrichtsmaterialien vom Bildungsministerium in Auftrag gegeben wurden (vgl. Péporté et al. 2010: 315). Gleichwohl ist die Aufnahme des Luxemburgischen in den Fächerkanon als Emanzipation vom Deutschen zu betrachten, denn auch Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges war die ›Identitätskrise‹ des Deutschunterrichts noch nicht überwunden (vgl. Schreiber 2015: 309f.). Dies äußerte sich vor allem darin, dass die Schulbücher für den Deutschunterricht, die aus Deutschland stammten, gegenüber denjenigen für den Französischunterricht als unzeitgemäß eingestuft wurden und daher eher auf deutschsprachige Schulbücher aus der Schweiz zurückgegriffen wurde (vgl. ebd.: 309f.).45 Die Orientierung an einem anderen mehrsprachigen Land in Bezug auf den Deutschunterricht verdeutlicht neben einer möglicherweise spezifischeren didaktischen Herangehensweise in Bezug auf das Schulfach auch die kritische Distanzhaltung zu Deutschland selbst. Der ›nationale Weg zur Internationalisierung‹ lässt sich ferner am Beispiel der Luxemburger Forschungslandschaft beobachten: Der internationale Standardisierungsdruck erhöhte sich zunehmend aufgrund von vergleichenden und für Luxemburg besonders ernüchternden UNESCO- und OECDLänderberichten Anfang der 1960er, bei denen die Qualität der Bildungs- und Forschungslandschaft des Großherzogtums auf den Prüfstand gestellt wurde. Anschließend wurden die Luxemburger Forschungseinrichtungen zentralisiert, was z.B. 1974 zur Gründung des Centre Universitaire führte. Die Errichtung dieses Forschungszentrums wurde jedoch nicht auf Grundlage des OECD-Reports legitimiert; vielmehr begründeten die Abgeordneten ihre Entscheidung nach nationalen Argumentationslogiken, indem sie sich auf einen Gesetzesentwurf von 1969 stützten (vgl. Rohstock/Lenz 2018: 182). Dieser zielte darauf ab, ausländische Abschlüsse in Luxemburg anzuerkennen, was nach nationalem Legitimationsschema die Fortführung einer nationalen
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Heute ist dies im Übrigen anders. Im Deutschunterricht wird etwa vonseiten der Programmkommissionen mit deutschen Schulbuchverlagen zusammengearbeitet, um Schulbücher für den Luxemburger Kontext zu produzieren, wie z.B. das obligatorische Kombi-Buch Deutsch 7 Lese- und Sprachbuch vom deutschen Buchner Verlag für die 7e des klassischen Sekundarschulunterrichts. Gleichzeitig kommen aber auch nicht per se Luxemburger Adaptionen zum Einsatz, wie etwa das Arbeitsheft Deutsch in der Oberstufe, Ausgabe Bayern des Schöningh Verlags (vgl. im Detail eSchoolBooks 2020).
III Historischer Hintergrund
Forschungstradition ermöglichte (vgl. ebd.). Der Vorgang, internationale Bildungsbewegungen als Versatzstücke nationaler Bildungsinteressen zu interpretieren, lässt sich im Übrigen auch bei anderen Mitgliedsstaaten beobachten. Bei der Implementierung supranationaler Entwicklungsempfehlungen stellte sich demnach recht schnell heraus, dass die Einzelstaaten unterschiedliche Vorstellungen von ihrer Bildungsplanung hatten (vgl. Bürgi 2017: 220). Angesichts dessen erscheint auch eine neoinstitutionalistische Deutung, wie sie maßgeblich von Vertretern der sogenannten Stanford School (vgl. exemplarisch Meyer/Ramirez 2007) in den 1970ern geprägt wurde, verkürzt. In der Organisationstheorie werden Institutionalisierungsprozesse auf verschiedenen Ebenen, sei es im Gesundheits- oder Bildungswesen oder in politischen Systemen, nicht als zufällig entstanden betrachtet und in ihrer gleichmachenden Funktion (Isomorphismus) untersucht. Der gemeinsame Ausgangspunkt für diese strukturellen Angleichungsprozesse in ›modernen‹ Gesellschaften gründet sich auf der aufklärerischen Vorstellung, dass metaphysische Kräfte, wie eine göttliche Obhut, zunehmend in die Verantwortung der Gesellschaft selbst übertragen wurden und sich somit ganz natürlich neue weltliche Akteure herausbildeten, die netzwerkartig Organisationsstrukturen legitimieren (vgl. Rademacher 2009: 111f.). Übertragen auf den Bildungskontext wird die Angleichung von bestimmten Bildungsvorstellungen, die mehr oder weniger in allen europäischen Staaten diffundierten, als Herausbildung einer ›Weltkultur‹ betrachtet. Massenverschulung und Schulpflicht führen die Autoren Ramirez und Boli (1987) als symptomatische Beispiele dafür an, die in Konkordanz mit der Herausbildung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert entstanden sind und ›moderne‹ Gesellschaften kennzeichnen. Wenngleich nicht von der Hand zu weisen ist, dass es ähnliche Merkmale in der Bildungsplanung und Bildungsentwicklung gibt, wie etwa die Vermittlung bestimmter fachlicher Inhalte und ihrer Darstellung als Einzelfächer im Fächerkanon (vgl. nachfolgend Kap. IV.3), wird auf eine neoinstitutionalistische Deutung einer »substantative sameness in the educational definition of the world« (Meyer/Ramirez 2007: 293) in der vorliegenden Untersuchung verzichtet. Diese sehr abstrakte Theorie klammert zu viele Unterschiede auf nationaler Ebene aus. Der Vorstellung einer Weltkultur ist vor allem zu entgegnen, dass es zwar ähnliche, aber nicht gleichsam identische Entwicklungstendenzen in der Bildungsplanung und der Errichtung nationaler Schulsysteme gibt. Das Paradox zwischen zunehmenden Übereinstimmungen und einer aufrechterhaltenen Varianz in den Bildungspolitiken beruht auf national-
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staatlich und historisch gewachsenen Denkstilen, die eine Begründung dafür liefern, weshalb es sich bei transnationalen Verbreitungen nie um copy and paste gehandelt hat, sondern stets um die Übersetzungen in das, was man als genius loci bezeichnen könnte: in das jeweils vorliegende kulturelle Wertsystem und die Institutionen, die diesem entsprechen. (Tröhler 2018: 37) Indes ist die Annahme berechtigt, dass bestimmte Vorstellungen von überstaatlichen Akteuren, wie der OECD etc., nachgerade zu universalisierten Bildungselementen führten, diese aber nicht ohne Weiteres und ohne jegliche Spannungen in nationale Systeme übertragen werden. Internationale Programme wurden etwa auch im Großherzogtum adaptiert und so verdichteten sich Internationalisierungstendenzen in der Bildungspolitik seit den 1960erJahren zunehmend, jedoch blieb dieser Standardisierungsprozess in Luxemburg zu weiten Teilen unvollständig (vgl. Rohstock/Lenz 2012: 127). Standardisierung war jedoch nur ein Themenkomplex, der fortan zum Gegenstand der Luxemburger Bildungsdebatten gehörte. Überdies musste die Frage nach der sprachlichen und damit auch kulturellen Integration immigrierter Arbeitskräfte bildungspolitisch neu verhandelt werden. Nachdem die Luxemburger Regierung 1972 ein Abwerbeabkommen mit Portugal unterzeichnete (vgl. Mémorial A26 1972), wuchs die Anzahl an portugiesischen Gastarbeitern stetig. Im Unterschied zu den italienischen Gastarbeitern reisten die portugiesischen Arbeitskräfte überwiegend mit ihren Familien nach Luxemburg, wodurch das Bildungssystem im Allgemeinen und die verschiedenen Verantwortlichen für den Sprach- und damit zugleich auch Fachunterricht vor neue Herausforderungen gestellt wurden (vgl. Rothmüller 2017: 69). Die regierende sozialistisch-liberale LSAP-DP-Koalition von 1974 bis 1979 bediente dabei die Themenkomplexe Demokratisierung, Chancengleichheit und Sexualpädagogik und nutzte sie argumentativ für Reformbestrebungen, wie für die Schaffung eines Gesamtschulmodells (Tronc commun) in Luxemburg, dessen Umsetzung letztlich am konservativen Widerstand der Lehrer scheiterte (vgl. Hadjar/Rothmüller 2016: 52; Rothmüller 2017: 360).46 Der Themen-
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Neben der Intention, eine gerechtere Chancenverteilung von Bildungsressourcen zu gewährleisten, ist das Reformprojekt der Gesamtschule als Aufwertungsversuch des eher berufsvorbereitenden Lycée technique zu verstehen. Dieses Vorgehen ist ebenfalls am Beispiel der Diskussionen rund um die 2017er-Sekundarschulreform zu beobachten, bei der das Enseignement secondaire technique in Enseignement secondaire général um-
III Historischer Hintergrund
bereich der Chancengleichheit bezog sich in erster Linie jedoch auf die Nivellierung von sozialen Klassenunterschieden, die nicht per se mit der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte in Verbindung gebracht wurden. Spätestens ab 1980, als die Koalition LSAP und DP von der konservativen CSV als regierende Partei abgelöst wurde, bestimmt das Thema Migration und dazugehörig auch die Sprachdiversität tatsächlich die bildungspolitischen Diskussionen (vgl. Rothmüller 2017: 359). Das Bildungssystem reagierte darauf, indem für Schüler seit 1983 die Möglichkeit besteht, reinen Portugiesischunterricht zu je zwei Wochenstunden außerhalb des regulären Stundenplans zu belegen (vgl. oIGL 2018). Darüber hinaus gibt es auch Kurse auf Portugiesisch, die in den regulären Stundenplan aufgenommen wurden. Naturwissenschaften, Geografie und Geschichte wurden demnach ebenfalls insgesamt mit zwei Wochenstunden auf Portugiesisch unterrichtet (vgl. ebd.). Mit Blick auf die zunehmend sprachlich diversifizierte Gesellschaft und unter Einbeziehung des Luxemburgischen als Nationalsprache trat 1989 schließlich ein revidierter Plan d’études für den Grundschulbereich in Kraft, in welchem zu einer Sprach- und Kultursensibilität aufgerufen wurde. Dieser Lehrplan war bis zur Primärschulreform 2009 gültig. Zusammenfassend zeigte sich, dass die durch den Sputnikschock bildungspolitisch grassierenden Initiativen als erster wichtiger Schritt in Richtung einer gemeinsamen Vertretung transatlantischer und europäischer Bildungsinteressen sowie der zu erreichenden Bildungsziele in der Schule zu betrachten sind. National wurde damit dennoch unterschiedlich umgegangen und supranationale Empfehlungen wurden entsprechend nationalisiert. Die supranationale und nationale Bildungsplanung passte sich somit sukzessiv – wenn auch nur bedingt – aneinander an. Grundsätzlich sollten durch Standardisierungsprozesse in der Bildungsplanung schulische Leistungen im Längsschnitt vergleichbarer werden. Dementsprechend werden empirische Datensätze verstärkt seit Mitte der 1990er-Jahre dazu genutzt, um über das sogenannte Schulmonitoring eine valide Aussage darüber zu treffen, ob das Leistungsniveau der Schülerschaft den anvisierten Bildungszielen im internationalen Vergleich Rechnung trägt. Bildungserfolg wird demnach über Testing Scores, d.h. empirisch messbare Schülerleistungen, definiert. Diese sogenannte empirische Wende in der Pädagogik hatte zur Folge, dass benannt wurde, um Vorurteile abzubauen. Diese Umbenennung wurde bereits durch die verantwortliche Bildungsministerin der schwerpunktmäßig betrachteten 2009erReform, Mady Delvaux-Stehres, angeleitet.
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die Bildungspolitik und Bildungsforschung veränderten Argumentationslogiken folgten, die ein verändertes Bildungsverständnis in Gang setzten. Daraus ergeben sich kollektive Wahrnehmungsmuster, die sich entlang von statistischen Daten situieren.47
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Zwischenfazit. Schulbildung und die Herstellung von Mehrsprachigkeit
Der Überblick über die Luxemburger National- und Schulgeschichte veranschaulichte, dass die Ausgestaltung einer gemeinsamen Luxemburger Sprachenidentität wesentlich durch die Historie des Bildungswesens geprägt ist. Der Institutionalisierungsprozess von Bildung avancierte dabei zum Signum der Eigenstaatlichkeit und festigte allmählich die Idee einer überwiegend auf der Zweisprachigkeit (Deutsch und Französisch) beruhenden Sprachenidentität. Im Verlauf der Schulgeschichte zeigten sich dabei zwei wesentliche Aspekte, die mit Blick auf den Reformkontext von 2009 relevant sind und unter Einbeziehung der behandelten Primärschulgesetzgebungen von 1843 und 1912 zum Tragen kommen: Erstens zeichneten sich seit der ersten Primärschulgesetzgebung Akteurverschiebungen in der Bildungsplanung ab. Zur Zeit der Primärschulgesetzgebung 1843 waren es vor allem klerikale Interessengruppen, die für die Schulorganisation verantwortlich waren und die mit ihren kirchlichreligiösen Vorstellungen die schulischen Inhalte prägten. In diesen Anfängen des Luxemburger Schulwesens waren Mitglieder einer Funktionselite für den Bereich der Bildungsplanung zuständig. Durch die sukzessive Aufwertung des Lehrerstandes und die damit zunehmende Einflussnahme der Lehrer auf die Bildungspolitik entwickelte sich der Planungshergang von einem Top-down-Prozess – der in sich noch einmal Abstufungen verzeichnete – zu einem Konglomerat aus Top-down- und Bottom-up-Prozessen. Mit den nachfolgenden Schulgesetzen machte sich dann sukzessiv eine Säkularisie-
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Historisch gesehen, erinnert dies ebenso an den Realistic Turn, der in den angloamerikanischen Erziehungswissenschaften bzw. der Bildungspsychologie Anfang des 20. Jahrhunderts zu beobachten war und in dessen Rahmen eine eher humanistisch geprägte Auffassung von Bildung von einem neuen Empirismus verdrängt wurde (vgl. Horlacher/De Vincenti 2014: 482).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
die Bildungspolitik und Bildungsforschung veränderten Argumentationslogiken folgten, die ein verändertes Bildungsverständnis in Gang setzten. Daraus ergeben sich kollektive Wahrnehmungsmuster, die sich entlang von statistischen Daten situieren.47
4
Zwischenfazit. Schulbildung und die Herstellung von Mehrsprachigkeit
Der Überblick über die Luxemburger National- und Schulgeschichte veranschaulichte, dass die Ausgestaltung einer gemeinsamen Luxemburger Sprachenidentität wesentlich durch die Historie des Bildungswesens geprägt ist. Der Institutionalisierungsprozess von Bildung avancierte dabei zum Signum der Eigenstaatlichkeit und festigte allmählich die Idee einer überwiegend auf der Zweisprachigkeit (Deutsch und Französisch) beruhenden Sprachenidentität. Im Verlauf der Schulgeschichte zeigten sich dabei zwei wesentliche Aspekte, die mit Blick auf den Reformkontext von 2009 relevant sind und unter Einbeziehung der behandelten Primärschulgesetzgebungen von 1843 und 1912 zum Tragen kommen: Erstens zeichneten sich seit der ersten Primärschulgesetzgebung Akteurverschiebungen in der Bildungsplanung ab. Zur Zeit der Primärschulgesetzgebung 1843 waren es vor allem klerikale Interessengruppen, die für die Schulorganisation verantwortlich waren und die mit ihren kirchlichreligiösen Vorstellungen die schulischen Inhalte prägten. In diesen Anfängen des Luxemburger Schulwesens waren Mitglieder einer Funktionselite für den Bereich der Bildungsplanung zuständig. Durch die sukzessive Aufwertung des Lehrerstandes und die damit zunehmende Einflussnahme der Lehrer auf die Bildungspolitik entwickelte sich der Planungshergang von einem Top-down-Prozess – der in sich noch einmal Abstufungen verzeichnete – zu einem Konglomerat aus Top-down- und Bottom-up-Prozessen. Mit den nachfolgenden Schulgesetzen machte sich dann sukzessiv eine Säkularisie-
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Historisch gesehen, erinnert dies ebenso an den Realistic Turn, der in den angloamerikanischen Erziehungswissenschaften bzw. der Bildungspsychologie Anfang des 20. Jahrhunderts zu beobachten war und in dessen Rahmen eine eher humanistisch geprägte Auffassung von Bildung von einem neuen Empirismus verdrängt wurde (vgl. Horlacher/De Vincenti 2014: 482).
III Historischer Hintergrund
rung und Ökonomisierung bemerkbar. Letztere wurde besonders durch die internationale Einflussnahme supranationaler Initiativen geprägt. Zweitens verfestigten sich seit der Institutionalisierung der Schulorganisation 1843 neue Denkstile, die schulpolitisch neue Verknüpfungen zur Dreisprachigkeit offenlegen und Aufschluss über einen ›idealen Sprecher‹ in Luxemburg geben. Unter diesem Aspekt wird ein curriculares Innovationsbedürfnis sichtbar. Dieses unterliegt, so konnte gezeigt werden, in Luxemburg stets einem sprachenpolitischen Moment: Das Curriculum ist dabei einerseits als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen, die in Luxemburg mit einer wachsenden Sprachenheterogenität korrelieren, andererseits aber auch als Triebfeder für gesellschaftliche Idealvorstellungen zu verstehen. Diese können jedoch in unterschiedlichen Schweregraden mit internationalen Bildungsvorgaben konkurrieren. Kulturgeschichtlich wird ersichtlich, dass vor allem die Vorstellung über eine ›Mischkultur‹ als ein Luxemburger Identitätsmerkmal in der Loi Braun von 1912 Niederschlag fand, deren ideologische Tragweite auch beinahe 100 Jahre zu spüren war. Seit 1912 ist das Schulsystem offiziell dreisprachig, wenngleich sich das Luxemburgische als eigenes sprachliches Unterrichtsfach erst durch den Lehrplan von 1964 mit entsprechenden Unterrichtsmaterialien etablierte und erst 1984 als Nationalsprache anerkannt wurde. Einerseits ist das schulische Ideal der ›Mischkultur‹ als Versuch zu betrachten, kulturelle Homogenität zu legitimieren. Der ›idealtypische Luxemburger‹ sollte demnach zumindest nach außen hin bilingual48 sein. Andererseits ist die ›Mischkultur‹ ebenso als ein Elitenprojekt, d.h. ein von oben definiertes Idealbild eines Gesellschaftsangehörigen, zu verstehen. Dass sich der Prototyp des Luxemburgers demnach völlig souverän zwischen zwei bzw. – unter Einbeziehung des Luxemburgischen – drei Sprachen bewege, erscheint nicht nur im Hinblick auf die Unterrichtsrealität hinfällig, sondern auch mit Blick auf die Ausbildung verschiedener Sprachpräferenzen. Durch die unangetastete Idealvorstellung eines im Luxemburger Sprachenunterricht gefertigten zwei- bzw. dreisprachigen Sprechers wird eine eindimensionale Gesellschaft perpetuiert. Im Zeitalter einer pluralen Einwanderungsgesellschaft geschieht dies auf Kosten derer, die das Cluster dieser sprachlichen Normierung unterlaufen, die eindeutig auf das Gesellschaftsmitglied mit Erstsprache Luxemburgisch ausgerichtet ist. In Hinsicht auf die heterogene Gesellschaftszusammensetzung in Luxemburg, die sich 48
Bezogen auf die Deutsch- und Französischkenntnisse, da Luxemburgisch noch nicht als eigene Sprache anerkannt war.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
verstärkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausbildete, näherte man sich diesen gesellschaftlichen Herausforderungen auf der schulischen Gesetzesebene erst 2009 an. Das reformierte Primärschulgesetz von 2009 ist dabei als zentraler Wendepunkt zu betrachten, der die sprachlichen und mit ihnen zugleich auch gesellschaftlichen Identitätszuschreibungen von 1912 aufzubrechen versuchte. Welche veränderten Denkstile in Bezug auf die Sprachvorstellungen in Gang gesetzt wurden, inwiefern diese curricularisiert sind und welche Konflikte dadurch gleichzeitig entstehen, wird nachfolgend in der Schwerpunktanalyse des 2009er-Reformkontextes und der mit ihm verbundenen curricularen Neubestimmungen herausgearbeitet.
IV Der Reformkontext von 20091 Bildungspolitische Positionierungen zur Mehrsprachigkeit in Luxemburg: »Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander«? Le système scolaire doit pourvoir aux besoins d’une société en pleine mutation.2 Pdl 579 (15) 2009: 5
Die Primärschulreform von 2009, die in der vorliegenden Arbeit vorrangig unter ihrer curricularen Neuausrichtung im Sprachenunterricht und der mit ihr verknüpften Formierung sprachlicher Denkstile untersucht wird, ist im Zusammenhang größerer und nationalpolitisch übergreifender sowie – wie das vorangegangene Kapitel III zeigte – historisch zu verortender Reformfaktoren zu begreifen. Nach der Jahrtausendwende wurde sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene debattiert, was die Schule des 21. Jahrhunderts zu leisten und welche Eigenschaften das zukünftige Gesellschaftsmitglied aufzuweisen habe. Diese Ideen sind in Luxemburg eng mit sprachlichen Idealvorstellungen verbunden, und so beinhaltet Curriculumplanung immer auch einen sprachenpolitischen Aspekt. Die Primärschulreform von 2009 stellte den Versuch einer Neubestimmung der bis dato vorherrschenden sprachlichen Identitätsprägung dar, die wesentlich durch das auf dem 1912er-Gesetzesrahmen basierende Curriculum konstruiert wurde. Inwieweit der Reformprozess zur Formierung neuer Denkstile führte und in welcher Art
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Das Zitat im Untertitel stammt aus Kühn (2008: 12). »Das Schulsystem muss den Bedürfnissen einer sich wandelnden Gesellschaft gerecht werden.«
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
und Weise wiederum althergebrachte Vorstellungen in Bezug auf die Mehrsprachigkeit implizit und explizit im Curriculum fortgeschrieben werden, ist Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung. Dazu wird zunächst die Primärschulreform kontextualisiert (1.). Zu diesem Zweck wird aufgezeigt, welchen Einfluss supranationale Bildungsagenden auf die Reformentwicklungen hatten (1.1). Wie die supranationalen Bildungsempfehlungen in die nationalen Reformabsichten mündeten (1.2) und zu welchen Konflikten der zentrale Gestaltungsaspekt der Curriculumreform, die Kompetenzorientierung, führte, wird anschließend behandelt (1.3). In diesem letzten Abschnitt wird analysiert, inwieweit die Kompetenzorientierung Einfluss darauf nahm, anders über Sprachfertigkeit zu denken, und welche Diskussionspunkte mit ihr verbunden waren. Diese neue konzeptionelle Schwerpunktsetzung kollidierte mit den sprachlichen Identitätsvorstellungen in Luxemburg und taucht symptomatisch in den Aushandlungen über die schulische Mehrsprachigkeit in Kapitel 2 auf. In diesem zweiten Abschnitt wird dann im Detail untersucht, inwieweit das Verhältnis von Deutsch, Französisch und Luxemburgisch in den Reformdebatten curricular neu verhandelt wurde und wie dies im Spannungsverhältnis zur schulplanerischen Realität steht. Das bereits im Schulgesetz von 1912 illustrierte sprachliche Identitätsverständnis einer gleichwertig dreisprachigen Sprachkompetenz, die in den Reformdokumenten als Équilinguisme, also als Gleichsprachigkeit, ausgewiesen wird, soll in einem ersten Schritt genauer beleuchtet werden (2.1). In den Folgeabschnitten werden dann die einzelnen Funktionszuschreibungen der Sprachen in der Schule und ihr Bezug zur außerschulischen Lebenswelt adressiert. Zuerst werden die Funktionen und Stellungen des Deutschen und des Französischen im Unterricht sowie ihre Rolle in der außerschulischen Lebenswelt erläutert und beides zueinander ins Verhältnis gesetzt (2.2). Da das Deutsche und Französische als Hauptunterrichtssprachen in der Luxemburger Schule häufig in Relation zueinander verhandelt werden, wird ihre jeweilige Stellung gemeinsam in einem Kapitel diskutiert und kontrastiert. Im Anschluss daran wird erläutert, inwieweit der Status des Luxemburgischen während des Reformprozesses neu definiert wurde und welche Inkongruenzen sich hierbei abzeichnen (2.3). Obschon der Untersuchungsschwerpunkt auf der offiziellen Dreisprachigkeit Luxemburgs liegt, kristallisierte sich anhand der Dokumentenanalyse und des empirischen Materials die wachsende Bedeutung des Englischen als globale Verkehrssprache zusehends heraus. Wie sich sein curricularer Status da-
IV Der Reformkontext von 2009
durch veränderte und was dies letztlich für das Sprachengefüge der Luxemburger Schule bedeutete, wird abschließend besprochen (2.4). Die Überlegungen aus dem zweiten Kapitel werden dann im dritten Teil dieses zentralen Untersuchungskapitels IV zusammengeführt. Dabei wird die Frage diskutiert, welche sprachlichen Denkstile sich durch den konzeptionellen Aufbau des Fächerkanons verfestigen. Diese hauptsächlich konzeptionelle Analyse soll strukturell verankerte Haltungen aufschlüsseln und aufzeigen, wie durch den Fächerkanon ein idealtypischer Schüler konstruiert wird und wie zeitgleich soziale Differenzierungen curricular (re-)produziert werden. Eingangs wird zu diesem Zweck die Konstruktion von Einzelfächern und ihre Wirkweise untersucht (3.1). Darauf aufbauend, wird ergründet, wie durch die Organisation des Fächerkanons und mit ihm der Fachorganisationen in der Luxemburger Schule ein spezifisches Verständnis von Mehrsprachigkeit konstruiert wird (3.2). Abschließend wird das Zwischenfazit (4.) der Untersuchung IV gezogen. Die Positionierungen zur Sprachenunterrichtspolitik werden hier zusammengetragen, und dabei wird modellhaft aufgezeigt, welche sprachlichen Ideen weiter bestehen, wie Sprachenidentität durch die Curriculumreform 2009 neu verhandelt wurde und welche sprachlichen Denkstile sich aus den untersuchten Argumentationslogiken ableiten lassen.
1 1.1
Das Schulgesetz von 2009: Reformhintergründe, Reformabsichten und Reformmotive Kontextualisierung der Reform
Der Luxemburger Reformprozess ist in den größeren Kontext internationaler Bildungsdiskussionen zu stellen, die erstens mit den Ergebnissen des Schulmonitorings PISA im Jahr 2000 Auftrieb erfuhren und sich zweitens inmitten einer strukturellen Europäisierung des Bildungswesens situieren, wie durch die Bildungsinitiativen und Angleichungsprozesse von Bologna 1999 bis zur Lissabon-Strategie 2000 ersichtlich wird. Diese Einflussfaktoren machen deutlich, dass die Umsetzung der Luxemburger Primärschulreform und mit ihr ein veränderter Umgang mit der schulischen Mehrsprachigkeit nicht einzig und allein auf einer nationalen Modernisierungsoffensive fußt und nicht losgelöst von internationalen Bildungsmotiven zu verstehen ist. Beide Prozesse, d.h. die Verwirklichung einheitlicher europäischer Bildungsziele
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
und zunehmende Vergleichstendenzen durch PISA, verliefen zwar parallel, sind jedoch nicht per se in einen Kausalzusammenhang zu stellen und werden nachfolgend getrennt voneinander betrachtet.
1.1.1
Europäisierung der Luxemburger Bildungslandschaft
Auf einem Gipfeltreffen des Europäischen Rates in Lissabon im Frühjahr 2000 wurde von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten ein strategisches Konzept mit dem Ziel auf den Weg gebracht, die Union in dem kommenden Jahrzehnt »zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen« (RAT 2000). Entsprechend sollten in Form von Bildungsinitiativen und damit verbunden einem gesteigerten Humankapital möglichst viele junge EU-Bürger zu einem weiterführenden Schul- bzw. Berufsabschluss befähigt werden, um den Herausforderungen einer modernen, globalisierten Informationsund Wissensgesellschaft begegnen zu können (vgl. ebd.). Zeitlich gesehen gehört die Lissabon-Strategie ebenso mit dem Bologna-Prozess von 1999 in einen gesamteuropäischen Reformzusammenhang, in welchem nationale Bildungssysteme durchlässiger und vergleichbarer gestaltet werden. Getragen wurde dieses Reformmotiv von dem EU-vermittelten Ansatz des ›lebenslangen Lernens‹3 , das der »Förderung der aktiven Bürgerschaft, des sozialen Zusammenhalts, der Beschäftigung und der persönlichen Entfaltung« (KOM 2002: 5) dienen soll und nicht mit der Schullaufbahn beendet ist. Wenngleich die Definition des ›lebenslangen Lernens‹ je nach bildungspolitischem Fokus und je nach Entscheidungsträgern variieren kann, umfasst »[l]ebenslanges Lernen […] jede zielgerichtete Lerntätigkeit, die einer kontinuierlichen Verbesserung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen dient« (ebd.: 7). Konkreter bedeutet dies mitunter, dass Bildungschancen gerechter werden und der Zugang zu ihnen einheitlicher gestaltet werden sollte. Ferner steht bei dieser Lerntätigkeit die Brauchbarkeit von Wissen im Zentrum bildungspolitischer Debatten. Curricular wurde der praktische Anwendungsbezug mit dem Begriff der Kompetenzorientierung tradiert, die den handlungsorientierten Umgang mit Wissen betont. Im Kontext der Kompetenzorientierung konzentriert sich das ›lebenslange Lernen‹ auf einen schülerzentrierten, selbstbestimmten Lernprozess. Mit dem Ideal 3
Zur Unterscheidung der Begriffspaare Education und Learning und dem strategischen Konzept hinter dem Lifelong Learning, das anstelle von Lifelong Education verwendet wird, vgl. Rubenson (2008: 256).
IV Der Reformkontext von 2009
des lebenslang Lernenden wird gleichsam ein Schülertypus antizipiert, der im interkulturellen Austausch mit seinen Kenntnissen erfolgreich an der Wirtschaft einer globalisierten Welt partizipiert. Die Idee des ›lebenslangen Lernens‹ entwickelte sich in der EU zu einem unhinterfragten Bestandteil nationaler Bildungsdiskussionen (vgl. Rubenson 2008: 257). Im März 2002 trat der Europäische Rat erneut zusammen, um über die Umsetzung der Lissabon-Ziele zu beraten. In den Schlussfolgerungen der Sitzung heißt es, dass die Bildungsmaßnahmen bis 2010 allgemein von drei Leitgedanken getragen werden, nämlich »Verbesserung der Qualität, Erleichterung des Zugangs für alle und Öffnung gegenüber der Welt« (RAT 2002: 19). Hierzu sollten z.B. Abschluss- bzw. Befähigungszeugnisse harmonisiert und eine gezieltere Sprachenpolitik ausgeübt werden. Ergänzend zu den Zielen des Treffens in Lissabon und Barcelona schreibt der Aktionsplan 2004 bis 2006 zur Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt der sprachlichen Kompetenz eine Schlüsselrolle zu; demzufolge sollte jeder EU-Bürger neben seiner Muttersprache noch in zwei weiteren Fremdsprachen Kenntnisse besitzen, um sich im europäischen Ausland verständigen zu können und dort auch auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen (vgl. KOM449 24.07.2003: 3f.). Neben interkultureller Kompetenz wird die Erweiterung der Sprachenkenntnisse demnach effektiv dazu genutzt, wirtschaftlichen Fortschritt zu fördern (vgl. ebd.). Die Frühförderung in zwei Fremdsprachen sei eine wichtige Basis zur Aneignung von Grundkenntnissen und stelle somit »gewissermaßen ein Geburtsrecht aller europäischen Bürger« (KOM356 01.08.2005: 10) dar, wie es in einer Mitteilung der Kommission über die Einführung eines europäischen Sprachenindikators heißt. Dieses Geburtsrecht kann historisch gesehen – ohne dabei einen linearen Entwicklungsprozess zu unterstellen – als Ausweitung des ›Eine-Nation-eine-Sprache‹-Gleichnisses interpretiert werden, welches, wie in Abschnitt III gezeigt, soziale Kohäsion in den Nationsbildungsprozessen des 19. Jahrhunderts vorsah. Das durch die eine gemeinsame Sprache bestimmte Zugehörigkeitsversprechen wird durch die Europäisierung im Erziehungsbereich ergänzt, indem sich Schüler nunmehr in mindestens zwei weiteren Fremdsprachen verständigen können sollen. Sprachenlernen wird dabei als Teil des ›lebenslangen Lernens‹ begriffen (vgl. ebd.: 10). Verschiedene europäische Mitgliedsstaaten4 entwickelten dahingehend neue Spra4
U.a. Bulgarien, Ungarn, Italien, Frankreich etc. (vgl. im Detail S. 8 im Aktionsplan) lieferten umfassende Berichte bzw. Teilinformationen (Zypern, Rumänien, Deutschland und Luxemburg) zur Umsetzung des europäischen Aktionsplans.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
chenstrategien, um ihre Sprach- und Sprachenunterrichtspolitik zu verbessern. Der Bericht über die Durchführung des Aktionsplans stellt heraus, dass sich dabei eine klare Tendenz zur Curriculumreform abzeichne (vgl. KOM554 25.09.2007: 18). Gemäß diesen gesamteuropäischen Bildungstrends hinterfragte auch das Großherzogtum die Qualität seines Bildungssystems, und so sind die schulischen und damit curricularen Reformpläne um 2009 in Beziehung zu einer EU-Kohäsionspolitik zu setzen. Wenngleich Luxemburg das Ideal der EU ›eins plus zwei‹ Sprachen aufgrund der frühen Einführung aller drei Landessprachen in der Schule auf den ersten Blick zu erfüllen erscheint, wurde das nationale Bildungskonzept grundlegend auf den Prüfstand gestellt. Luxemburg ließ seine Sprachenpolitik in den Jahren 2005 bis 2006 auf der Grundlage des Länderprofils des Europarates und von ausländischen Schulexperten des Europarates evaluieren und analysierte, inwieweit diese der sozialen Realität und der Schülerpopulation gerecht wird, da sich das Curriculum zu diesem Zeitpunkt immer noch auf den 1912er-Gesetzesrahmen im Grundschulbereich und ein 1968er-Gesetzespaket (vgl. Mémorial A789 2017: 18, Art. 3) im Sekundarschulbereich bezog. Das Länderprofil zielte allgemein darauf ab, den Trilingualismus Luxemburgs neu zu definieren (vgl. MENFP/Conseil de l’Europe 2006: v). Im Anschluss an das Expertengutachten wurde dann vom Luxemburger Bildungsministerium der Plan d’action des langues 2007-2009 (PAL) in Auftrag gegeben, der 66 Handlungsempfehlungen für eine verbesserte Sprachenplanung gibt (vgl. KOM554 25.09.2007: 10). Der von Luxemburger Schul- und Jugendforschern federführend verfasste PAL sei »ein Kernstück aller Reformen« (LW 15.09.2007) und dient zur Orientierung für die fachspezifische Lehrplanänderung, wie aus den Protokollen der Programmkommissionen Deutsch hervorgeht (vgl. ESC-D-11 2008). Kritisch beäugt, stellt der PAL jedoch eine Anneinanderreihung einzelner Maβnahmen dar. Interessant ist an dieser Stelle, dass der Plan d’action sozusagen das nationale Ergänzungsprotokoll zum Sprachenprofil des Europarates darstellt. Dementsprechend wurde der Aktionsplan 2004 bis 2006 der Europäischen Union für Luxemburg nationalisiert. Der EU-inspirierte Reformimpetus wurde von den Bildungsverantwortlichen gegenüber der Tagespresse abgeschwächt und ein nationales Reformnarrativ betont (LW 12.03.2002). So könne ›Brüssel‹ »im Erziehungsbereich nur eine koordinierende Rolle spielen« (ebd.), zitierte das Luxemburger Wort die ehemalige EU-Kommissarin Viviane Reding. Zwar habe die EU in der nationalen Schulpolitik eine zunehmende Bedeutung, doch
IV Der Reformkontext von 2009
liege die Handhabe und Umsetzung dieser supranationalen Leitlinien in der nationalen Entscheidungsgewalt, wie die damalige Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres gegenüber dem Luxemburger Wort 2007 äußerte (vgl. LW 15.09.2007). Das Gutachten der Schulexperten des Europarates (Profil de la politique linguistique éducative: Grand-Duché de Luxembourg) wurde ferner als eine Art Handreichung beschrieben, die »Reformansätze auf[zeigen]« (TB 18.09.2006a) solle, sodass die Ergebnisse der Evaluation idealerweise »nicht als Aktionsprogramm, sondern als Denkanstöße verstanden werden« (LW 21.03.2006). Die von der EU getragenen Vorgaben wurden eher als Empfehlungen abgeschwächt und nicht als Richtlinien ausgewiesen. In der Bildungspolitik sei schließlich besonders der schulische Bereich an eine nationale Tradition gebunden, wenngleich Luxemburg weder isoliert betrachtet werden noch hinter den anderen europäischen Mitgliedsstaaten zurückstehen darf (vgl. LW 15.09.2007). Die (ver-)öffentlich(t)e Meinung, die sich in Form der Tagespresse auf der exoterischen Ebene in der Denkstilmanifestierung situiert, marginalisierte dementsprechend die Einwirkung der EU und forcierte den nationalen Handlungsspielraum. Die 2009er-Primärschulreform wurde als nahezu autonomes Modernisierungsverfahren eines gesellschaftlich überholten Grundschulgesetzes Anfang des 20. Jahrhunderts dargestellt.
1.1.2
PISA-Schock
Im Zusammenhang überstaatlicher Reformfaktoren führte auch die Bildungsdebatte rund um die ersten Ergebnisse des OECD-Indikatorenprogramms PISA zu einer Hinterfragung der Bildungspolitiken und des schulischen Gesellschaftsauftrags in Europa.5 Die Ergebnisse der ersten PISA-Studie sind ganz allgemein für einen veränderten Blick auf Bildung und die Umstrukturierungen im Curriculum anzuführen. Auf Geheiß der Bildungsminister der OECD-Mitgliedsstaaten wurde die PISA-Studie nach einem Pretest 1999 erstmalig im Jahr 2000 durchgeführt (vgl. MENFP 2000: 11). Anschließend wurden im Dezember 2001 die ersten Ergebnisse aller Teilnehmerländer veröffentlicht. An der ersten PISA-Studie nahmen ins-
5
Im nationalen PISA-Bericht für Luxemburg von 2016 wird z.B. mit dem schulischen Auftrag des ›lebenslangen Lernens‹ argumentiert und so heißt es, dass »[m]it PISA […] u.a. untersucht werden [soll], wie gut die Jugendlichen auf das Erwachsenenleben und das lebenslange Lernen vorbereitet sind« (MENJE et al. 2016: 4).
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gesamt 32 Länder6 teil. Seither erfolgt PISA in einem dreijährigen Turnus. Je nach Schwerpunkt werden dabei die Kompetenzbereiche Naturwissenschaften, Mathematik und die Lesekompetenz7 15-jähriger Schüler auf den Prüfstand gestellt.8 Aufgrund der Flächenbegrenzung Luxemburgs werden im Vergleich zu anderen Ländern so gut wie alle 15-jährigen Schüler geprüft. Das selbsterklärte Ziel von PISA ist es, anhand der Testergebnisse weltweit Schulsysteme zu evaluieren, um deren Leistungsfähigkeit im internationalen Vergleich sukzessiv zu verbessern (vgl. MENJE et al. 2016; OECD 2018). Durch das Zugeständnis von Autonomie soll die anvisierte Effizienzsteigerung der Bildungssysteme jedoch in erster Linie durch die nationalen Bildungseinrichtungen selbst verwirklicht werden. Bei PISA geht es schließlich nicht darum, Informationen für Einzelschulen oder Lehrkräfte bereitzustellen, die in eine konkrete Verbesserung der Unterrichtsgestaltung ›vor Ort‹ münden könnten. Erklärtes Ziel ist vielmehr ein ›system monitoring‹, mit dem Daten über Teilbereiche nationaler Bildungssysteme erhoben werden. (Fuchs 2003: 163) Auf dem internationalen Bildungsparkett hatten die ersten Testresultate einen geradezu traumatischen Zäsurcharakter in der Bildungspolitik und Bildungsforschung. Freilich ist PISA nicht die erste und einzige internationale Vergleichsstudie gewesen, man denke nur an die seit Mitte der 1990erJahre durchgeführte TIMSS-Studie,9 bei der die mathematischen Fähigkeiten der Schüler getestet werden. Jedoch erbrachten erst die Ergebnisse der PISA-Studie von 2000 eine weltweite bildungspolitische Aufmerksamkeit, die
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Darunter 28 OECD-Mitgliederstaaten und zu diesem Zeitpunkt vier Nichtmitgliederstaaten (Brasilien, Lettland, Liechtenstein, Russische Föderation; vgl. Stanat et al. 2002: 3). Schwerpunkt der PISA-Studien 2000, 2009 und 2018: Lesekompetenz; Schwerpunkt PISA-Studien 2003 und 2012: Mathematik; Schwerpunkt der PISA-Studien 2006 und 2015: Naturwissenschaften. Die PISA-Studie mit Schwerpunkt Mathematik, deren Durchführung ursprünglich für 2021 geplant war, wurde um ein Jahr nach hinten verschoben, um die aktuelle Coronasituation und ihren Einfluss auf das Lernen zu reflektieren (OECD 2021). In Kooperation mit den nationalen Bildungsministerien werden PISA-Konsortien mit Bildungsexperten aus den jeweiligen Teilnehmerländern zusammengestellt, die die Studie in ihrem Land durchführen und auswerten. An der TIMSS-Studie beteiligte sich Luxemburg nicht.
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vor allem auf das unerwartet schlechte Abschneiden von wirtschaftlich ›entwickelten‹ Ländern im internationalen Ranking zurückzuführen ist. Der aus PISA resultierende Schockzustand veränderte das Bildungsverständnis vehement, wodurch sukzessiv ein Umdenken in der Bildungsplanung und der Bildungsvermittlung in Gang gesetzt wurde. Insbesondere bei den deutschen Nachbarn Luxemburgs zerrüttete die Pilotstudie das Selbstbild der selbsterklärten Bildungsnation. Ferner war der PISA-Schock auch in Luxemburg Initialzündung einer grundlegenden Bildungsdebatte (vgl. Lenz et al. 2013: 324). PISA führte nicht nur zu einer basalen Auseinandersetzung des curricularen Aufbaus insgesamt, sondern auch mit dem Sprachengefüge der Luxemburger Schule. Die unterdurchschnittlichen Ergebnisse der ersten PISA-Studie und die entsprechende Bildungsdebatte legen dies entsprechend dar. So belegte das Großherzogtum bei der ersten PISA-Studie im geprüften Kompetenzbereich ›Lesen‹ einen der untersten Plätze vor Mexiko und Brasilien (vgl. MENFP 2000: 71). Innerhalb der europäischen Vergleichsländer schnitt Luxemburg sogar am schlechtesten ab (vgl. ebd.: 72). Auch in der zweiten PISA-Studie 2003 lagen die Ergebnisse unter dem OECDDurchschnittswert. Gleichwohl positioniert sich das Luxemburger Schulwesen in den jeweiligen Kompetenzschwerpunkten innerhalb der gesamten Erhebungszeiträume von 2000 bis 2018 international im mittleren Bereich, jedoch unter dem OECD-Durchschnitt (vgl. ebd.: 14f.). Was die Stichproben bzw. die Testvoraussetzungen in Luxemburg anbelangt, sind die Datensätze von 2000 und 2003 nicht ganz unbedenklich (vgl. MENJE et al. 2016: 4). So konnte in der Pilotstudie die Testsprache, d.h. Deutsch oder Französisch, nicht unmittelbar vor dem Test von den Luxemburger Schülern gewählt werden (vgl. OECD 2004: 107). Ein bildungspolitisches Erklärungsmuster für das schlechte Abschneiden der ersten beiden PISA-Studien zeichnet sich mittlerweile darin ab, dass die Sprachkenntnisse für einige Schüler eine Hürde darstellten und die Ergebnisse der ersten PISA-Studie die eigentlichen Schülerleistungen nicht eindeutig widerspiegeln (vgl. ebd.; vgl. MENJE et al. 2016: 4). Mehrfach wurde in diesem Zusammenhang als Erklärung angeführt, dass Deutsch und Französisch Unterrichtssprachen seien, nicht aber die Muttersprachen der Luxemburger. Unmittelbar nach Veröffentlichung des PISA-Berichtes wurde die Bedeutung der Sprachwahl bildungspolitisch jedoch eher zurückhaltend und abgeschwächt formuliert. Im Vorwort des PISA-Berichtes von 2000 führt die von 1999 bis 2004 amtierende Bildungsministerin Anne Brasseur (DP) die spezifische Sprachensituation des Landes an und hebt hervor, dass Luxembur-
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
ger Schüler die Aufgaben zwar nicht in ihrer Muttersprache lösen, dies könne jedoch nur eine Teilerklärung für das unterdurchschnittliche Abschneiden sein (vgl. MENFP 2000: 9). Die schlechten Ergebnisse dürfen dadurch nicht heruntergespielt werden (vgl. ebd.). Während einer Sondersitzung der Chambre des Députés wurden die Einschätzungen zu PISA und der Durchführung der Studie überdies von verschiedenen Bildungsakteuren vorgelegt (vgl. CHD 13.02.2003). Der Bildungsausschuss bereitete hierfür einen Fragebogen vor, in dem u.a. das Bildungsministerium Stellung zu den PISA-Ergebnissen bezog und mögliche Ursachen für das unterdurchschnittliche Abschneiden diskutierte. Konkret wurde z.B. in dem Fragebogen erfragt, inwieweit die Sprachensituation in Luxemburg Einfluss auf die Ergebnisse hatte, wie der Sprachenunterricht und seine Programme künftig gestaltet werden sollen und ob Luxemburger Schüler und Zuwandererkinder aufgrund sprachlicher Unterschiede differenzierter unterrichtet werden müssen. Dergleichen wurden Maßnahmen erwogen, um positivere Bewertungsmethoden zu ermöglichen und das grammatikbetonte Sprachencurriculum zu modernisieren. Der breite Konsens der einzelnen Befragten, das waren neben Vertretern des Bildungsministeriums auch Vertreter des Kultusministeriums, Gewerkschaften, Migrationsbeauftragte und weitere (schul-)politische Akteure, bestand darin, dass PISA zwar lediglich einen Ausschnitt der Luxemburger Schulrealität abbildet, zugleich aber auch die Möglichkeit bietet, die Unterrichtsqualität insgesamt zu überdenken. Brasseur merkte als damalige Ressortministerin auch hier an, dass die Sprachenkenntnisse sicherlich Einfluss auf die Testergebnisse hätten, das genaue Ausmaß zu diesem Zeitpunkt aber nicht abschätzbar sei (vgl. ebd.: 5). Die PISA-Studie ist, wie in allen Teilnehmerländern, in den jeweiligen Instruktionssprachen durchgeführt worden. Die mathematische Kompetenz wurde in Französisch geprüft, da Mathematik in der Sekundarschule – bis auf das Régime préparatoire10 – auf Französisch unterrichtet wird (vgl. ebd.). Die freie Wahl zwischen Deutsch und Französisch bestand im Bereich Lesen und Naturwissenschaften. Eine Benachteiligung sei demnach durch die freie Sprachwahl in Lesen und Naturwissenschaften vermieden worden – zumindest, wenn auch so nicht direkt von Brasseur artikuliert, mit Blick auf die Luxemburger Schüler – wenngleich die Instruktionssprachen für die Mehrheit der Schüler nicht die Muttersprachen darstellen (vgl. ebd.). Selbiges bestätigt Brasseur auch in einer parlamentarischen 10
Schüler des Régime préparatoire wurden nicht in das Sample der ersten PISA-Studie aufgenommen.
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Anfrage von einem Abgeordneten der rechtskonservativen ADR nach der Bedeutung der muttersprachlichen Kompetenz beim Lösen der PISA-Aufgaben (vgl. R1468 04.02.2002: 3). Es gäbe keinen Nachweis für ein besseres Abschneiden, so Brasseur, wenn Schüler den Test in ihrer Muttersprache lösen (vgl. ebd.). Sie räumt jedoch ein, dass fremdsprachige Schüler, bei denen Luxemburgisch nicht die zu Hause gesprochene Sprache ist, schlechtere Ergebnisse erzielten (vgl. ebd.). Es läge jedoch im Verantwortungsbereich der Schulen, dass alle Schüler in den Unterrichtssprachen Deutsch und Französisch ausreichende Kenntnisse haben, um die Aufgaben zu lösen (vgl. ebd.). In der parlamentarischen PISA-Debatte No. 491 stellt das Bildungsministerium des Weiteren deutlich heraus, dass die Mehrsprachigkeit Luxemburgs – und damit ist die offizielle Dreisprachigkeit gemeint – ein elementarer Bestandteil der nationalen Identität sowie ein Vorteil in Hinsicht auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit darstelle und die Qualität des Sprachenunterrichts, z.B. durch Differenzierung im Regelschulsystem besonders mit Blick auf die Frühförderung, gewährleistet werden müsse (vgl. CHD 13.02.2003: 7). Auch wenn PISA durchaus die Schwachstellen im Leseverständnis und in der schriftlichen Produktion sichtbar machte, weist das Bildungsministerium positiv auf das Alleinstellungsmerkmal der institutionellen Dreisprachigkeit hin. Schließlich erfüllen Luxemburger Schüler dadurch das von der EU vorgegebene Ziel, sich neben ihrer Muttersprache noch in zwei weiteren Fremdsprachen verständigen zu können. Dennoch müsse man sich von der Illusion befreien, dass Luxemburger germanophon und frankophon seien und die Sprachensituation durchaus komplexer ist (vgl. ebd.). So gesehen wurde z.B. auch die OECD-Empfehlung einer zweisprachigen Alphabetisierung eher kritisch betrachtet, wie ein Kommentar im Tageblatt nach Veröffentlichung der zweiten PISA-Studie mit der Frage »Wat soll dat Ganzt!?!«11 (TB 02.11.2004) pointiert zusammenfasst. Differenzierung bedeute gleichwohl nicht, eine parallele Alphabetisierung auf Deutsch oder Französisch anzubieten, da dies zu einer sozialen Spaltung führe (vgl. CHD 13.02.2003: 7). Die Meinung teilt die Vereinigung der Luxemburger Schulinspektoren, die sich ebenso für eine Promotion des Luxemburgischen im Grundschulbereich aussprechen, um so eine stärkere Integrationspolitik zu betreiben (vgl. ebd.: 21). Hier taucht auf Grundlage der Dokumentenanalyse erstmals die Idee auf, dass Spannungsverhältnis zwischen Deutsch
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und Französisch über die Förderung des Luxemburgischen im schulischen Bereich auszugleichen.12 Wenngleich die PISA-Ergebnisse in Luxemburg nicht zu einer ähnlich großen bildungspolitischen Auseinandersetzung wie vergleichsweise im Nachbarland Deutschland führten (vgl. Winter et al. 2012: 166, Anm. 2), wurde auch in Luxemburg die öffentliche Diskussion darüber angeregt, wie zeitgemäß das Schulsystem und die Organisation der sprachlichen und naturwissenschaftlichen Fächer sind. Die bisherige Haltung gegenüber dem Deutschen, dem Französischen und dem Luxemburgischen wurde entsprechend reflektiert. Daneben lassen sich die Reformversuche nicht auf den sprachlichen Unterricht begrenzen. So »nutzte« (Lenz et al. 2013: 315) die Luxemburger Regierung die Ergebnisse von PISA, um eine Bildungsreform durchzusetzen, die sich neben der Einführung von nationalen Bildungsstandards für Sprachen 2008 ebenso in der Erprobung innovativer Lehrmethoden in naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern im Jahr 2003 äußerte (vgl. ebd.). Nach der ersten PISA-Studie konnte man noch nicht die bildungspolitischen Herausforderungen abschätzen, mit denen die Verantwortlichen der Curriculumentwicklung fortan konfrontiert wurden. Nach der Veröffentlichung der ersten Studie waren die nationalen Lehrpläne zunächst nicht direkt von einer Umstrukturierung betroffen. Indes erkannte man in der Bildungsforschung, dass der Trend von Schulleistungsuntersuchungen unweigerlich zu einer überstaatlich organisierten Curriculumplanung und damit Harmonisierung nationaler Lehrpläne führe.13 Im PISA-Bericht von 2006 werden dahingehend Perspektiven für das Luxemburger Schulsystem unter Einbeziehung des geprüften Schwerpunktes »Naturwissenschaften« abgeleitet und eine basale Überarbeitung der Lehrpläne gefordert (vgl. Faber 2007: 93). Im Zuge internationaler Angleichungsprozesse in der Bildungsplanung entwickelte sich in den Bildungspolitiken ein zunehmend komparativer Denkstil. Dadurch rückte verstärkt die hegemonial angelegte Struktur der Studien in den Vordergrund, was zudem deutlich macht, dass die Idee des Nationalstaates keineswegs obsolet erscheint. Ferner stellte sich heraus, dass internationale Bildungstrends in erster Linie unter Einberufung von spezifisch nationalen Leitlinien tradiert werden. Der Reformprozess um 2009 ist 12 13
Vgl. zur Idee, das Luxemburgische während des Reformprozesses verstärkt als Integrationsfaktor zu etikettieren, Kap. 2.3, S. 203ff. Zu den Überlegungen eines ›Weltcurriculums‹ vgl. allgemein auch Fuchs (2003).
IV Der Reformkontext von 2009
demnach in einem stetigen Spannungsverhältnis zwischen überstaatlichen Bildungsdirektiven und kultur- und gesellschaftspolitischen Idiosynkrasien auf nationaler Ebene zu verorten. Welche Reformziele konkret verfolgt und umgesetzt wurden und inwieweit Luxemburg nach PISA seine Sprachenunterrichtspolitik zum Anlass einer Reformierung nahm, kann mit Blick auf die zentralen Reformabsichten herausgestellt werden.
1.2
Reformabsichten und Problemlage
Angesichts dieser schlaglichtartig beleuchteten Reformhintergründe sollte die Luxemburger Schule so konzipiert werden, dass sie den gesellschaftlichen Bedürfnissen des 21. Jahrhunderts Rechnung trägt und allen Schülern – unabhängig von askriptiven Merkmalen wie Herkunftssprache, Nationalität und sozioökonomischem Status – die gleichen Bildungschancen ermöglicht. Dass das Schulgesetz von 1912 nicht mehr der heterogenen Gesellschaftsstruktur Rechnung trägt, darüber waren sich die Parteien und Gewerkschaften weitgehend einig (vgl. TB 16.09.2004; TB 12./13.05.2007). Die Steigerung des Lernerfolgs, mitunter gemessen an internationalen Performanzrankings, und die Verbesserung der Schulqualität standen unmissverständlich auf der bildungspolitischen Agenda. Im Jahr 2003 wurde unter der Regierung Juncker-Polfer (1999-2004) und dem DP-geleiteten Bildungsministerium dem Staatsrat bereits ein entsprechender Gesetzesentwurf zur Reformierung des 1912er-Gesetzesrahmens vorgelegt (vgl. Pdl 5224 15.10.2003). Durch den bildungspolitischen Wechsel im Ministerium wurde dieses Gesetz jedoch letztlich nicht mehr abgestimmt. Diese anfänglichen Reforminitiativen stellen den juristischen Ausgangspunkt für die Primärschulreform 2009 dar und zu Beginn der neuen Legislaturperiode Juncker-Asselborn I (2004-2009) im Jahr 2004 arbeitete die neue Bildungsministerin und Nachfolgerin von Anne Brasseur Mady Delvaux-Stehres (LSAP) auf Grundlage der Diskussionen um PISA, der gesamteuropäischen Bildungsstrategien und ganz allgemein der Modernisierung und Qualitätssicherung der Luxemburger Schule ein entsprechendes Reformpaket für die Grundschule aus. Zu einem späteren Zeitpunkt sollte die Reform auch auf das Sekundarschulsystem ausgeweitet werden, um das Luxemburger Schulwesen insgesamt kohärenter zu gestalten. In einem von der Regierung herausgegebenen Dokument zur anvisierten Sekundarschulreform 2012 (vgl. MENFP 2010a), die ebenso im Reformjahr 2009 beschlossen wurde, wurden in Anlehnung an die Grundschulreform ähnliche strukturelle und didaktische Maßnahmen für den
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Sekundarschulbereich erwogen. Dadurch sollte z.B. der Übergang zwischen Grund- und Sekundarschule harmonisiert werden. Zu dieser Sekundarschulreform sollte es jedoch während der Regierung Juncker-Asselborn II (2009-2013) nicht mehr kommen, da diese am Widerstand schulischer Akteure scheiterte und Lehrer und Schüler vor dem Bildungsministerium 2011 gegen die geplanten Maßnahmen protestierten. Danach ›verschwand‹ die unter Delvaux-Stehres angeregte Bildungsdebatte vom Tapet der Bildungspolitik (vgl. LW 09.11.2013). Sie legte jedoch mit ihren Reformmotiven den »Grundstein« für die rezente Sekundarschulreform 2017, die unter dem amtierenden Bildungsminister Claude Meisch durchgeführt wurde (vgl. TB 09./10.09.2017). Die 2009er-Primärschulreform setzte demzufolge ein grundsätzliches Umdenken in Gang, zumal die einzelnen Zielsetzungen nicht nur pädagogische, sondern vor allem institutionelle Fragen behandeln. Das mit dem Schuljahr 2009/10 in Kraft getretene Primärschulgesetz umfasst nämlich drei Teilgesetze, die die Schulpflicht, die Organisation des Grundschulbereiches und die des Lehrpersonals betreffen (vgl. Mémorial A20 2009). Im Detail sollten die Zielsetzungen zur gerechteren Schule durch die Reorganisation des sprachlichen Unterrichts, der pädagogischen Aufwertung der Lehrerausbildung und Überarbeitung der Lehrprogramme erfolgen. Ferner sollte der Dialog zwischen den Schulpartnern und den Eltern intensiviert werden, wie es u.a. in einem Gesetzesentwurf zur neuen Primärschule (vgl. Pdl 579(15) 2009: 10f.) und letztlich dem reformierten Grundschulgesetz selbst steht (vgl. Mémorial A20 2009: 202, Art. 9). In einem Tätigkeitsbericht vom Bildungsministerium im Jahr 2007 heißt es zudem, dass es ein größeres autonomisiertes Schulmodell geben solle, sodass die Handhabe der lokalen Voraussetzungen, die sich z.B. in der Zusammensetzung der Klassen äußert, flexibel erfolgen kann (vgl. E-2008-11-02 2008: 1). Mit Blick auf die Verantwortungsbereiche zeigte die Reform außerdem, dass mehrere Akteure dazu eingeladen wurden, die Reformabsichten umzusetzen. Das SCRIPT z.B. hat im Auftrag des Bildungsministeriums u.a. zur Aufgabe, Bildungsforschung und Qualitätssicherung im Schulwesen zu betreiben (vgl. Mémorial A19 2009: 192, Art. 2). So wurde zeitgleich mit der Primärschulreform eine Reform des SCRIPT veranlasst. Auch ausländische Forscher und externe Experten wurden verstärkt zurate gezogen, besonders was die Umstrukturierung der Lehrpläne anbelangte. Diese sollten nunmehr einem einheitlichen pädagogischen Konzept folgen, da sie zu wenig zwischen Primär- und Sekundarschule abgestimmt seien (vgl. MENFP/SCRIPT 2006: 51). Abhilfe sollte die einheitliche Formulierung von zu erreichenden Bildungszielen schaffen, um damit
IV Der Reformkontext von 2009
curriculare Unterschiede ausgleichen zu können (vgl. Mémorial A20 2009: 202, Art. 9). Zudem wurde beabsichtigt, die Lehrpläne zu entschlacken, da diese zu inhaltsüberladen seien (vgl. MENFP/SCRIPT 2006: 49f.). Schüler und Lehrer hätten so zu wenig Zeit, den Lehrstoff zu vertiefen und auf individuelle Defizite einzugehen (vgl. ebd.: 50). In diesem Zusammenhang werden die Lehrpläne auch als Grund für die hohe Anzahl an Klassenwiederholungen und Dropouts genannt (vgl. ebd.: 49f.),14 ebenso wie der Sprachenunterricht als solcher (vgl. TB 29.05.2012). Die Abbruchszahlen und Klassenwiederholungen sollen gemäß den Reformzielen verringert werden, das Schulniveau jedoch erhalten bleiben (vgl. LW 24.04.2012). Treffend auf den Punkt gebracht, heißt es angesichts dieser Reformabsichten im Tageblatt: »Luxemburg braucht eine neue Schule« (TB, 09.05.2008). Diese neue Schule drückte sich vor allem durch ihren Aufbau aus, da inhaltliche Fragen zur Chancengleichheit bzw. zum schulischen Erfolg von den politischen Verantwortlichen in erster Linie strukturell beantwortet wurden: Das Vorschul- und Grundschulsystem, d.h. die frühere Spillschoul und Primärschoul, wurden zur École fondamentale zusammengefasst. Das erklärte Ziel war es, das Schulsystem dadurch kohärenter zu gestalten (vgl. E-2008-11-02). Die Primärschule ist zudem seit dem Inkrafttreten der Reform nicht mehr in den Klassenstufen eins bis sechs organisiert, sondern gliedert sich nunmehr in vier Zyklen von einer jeweiligen Dauer von zwei Jahren. Das sollte den Vorteil haben, dass die Kinder nun zwei Jahre statt zuvor ein Jahr Zeit haben, die schulischen Anforderungen der jeweiligen Jahrgangsstufe zu erfüllen, wie es in einer von der Regierung herausgegebenen Informationsbroschüre für Eltern steht (vgl. MENFP 2009c: 14). Dadurch sollten auch die Klassenwiederholungen minimiert werden. Überdies wurde die Schulpflicht um ein Jahr verlängert (viertes bis 16. Lebensjahr) (vgl. ebd.: 13). Neu ist seit der Reform außerdem, dass die Lehrerschaft in jedem Zyklus in pädagogischen Teams (Équipes pédagogiques) zusammenarbeitet und sich dadurch kontinuierlich besprechen soll (vgl. ebd.: 14). Nach Bedarf können sich die Équipes pédagogiques zzgl. von multiprofessionellen Teams entlasten lassen, deren Mitglieder als psychologische und pädagogische Spezialisten
14
Zu den genauen Zahlen, Faktoren und Entwicklungen des schulischen Misserfolgs in Form von Klassenwiederholungen, retard scolaire und Schulabbruchzahlen vgl. u.a. MENFP/SCRIPT (2006); MENJE (2018b). Vgl. hierzu ebenso die Studie von Susanne Backes (2018) zu Schullaufbahnen im Vergleich.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Schüler mit Lernschwierigkeiten unterstützen (vgl. ebd.: 15). Um Qualitätssicherung zu gewährleisten, wurde die Agence de qualité de l’enseignement sowie ein Institut de formation continue für das Schulpersonal gegründet (vgl. ebd.: 13). Zudem sollten die Schulen ihren eigenen Entwicklungsstand fortan durch einen Plan de développement scolaire (PDS) autoevaluieren. Ein weiteres Reformanliegen, was sich jedoch nicht durchsetzen ließ, war es, einen Schuldirektor für den Grundschulbereich einzusetzen und damit das historisch gewachsene Inspektorat abzuschaffen. Um einen gerechteren Zugang zu Bildungschancen zu ermöglichen, wurde mit dem reformierten Primärschulgesetz 2009/10 ferner ein Quotenmechanismus zur Ressourcenverteilung (Contingent de leçons) eingeführt, um den Grundschulen in jeder Gemeinde entsprechend ihrer soziodemografischen Zusammensetzung und ihrem Bedarf Personal zuzuweisen (vgl. Mémorial A20 2009: 207, Art. 38). Der Contingent de leçons wird auf Grundlage einer Sozialindexberechnung bestimmt, die alle drei Jahre erfolgt. Gemeinden mit einer höheren sozioökonomisch benachteiligteren Schülerpopulation werden durch den Verteilungsmechanismus eine höhere Anzahl an Lehrstunden und damit Planstellen zugewiesen.15 Wenngleich die Auswertung der Quellen und Experteninterviews zeigt, dass sich die Reformauslöser maßgeblich auf den PISA-Schock konzentrieren und die daraus resultierenden pädagogischen Überlegungen der Luxemburger Öffentlichkeit vor Augen führte, wie ungleich das Bildungssystem ist, überschneiden sich unterschiedliche Aussagen, welche Bedeutung der Sprachenunterricht bei der Reform hatte. Grund dafür ist, dass die inhaltlichen Ziele der Reform sehr kleinteilig und dadurch sehr uneindeutig wurden und nicht in gleicher Weise konsequent verfolgt werden konnten, zumal die curricularen Neuerungen sehr schnell im Luxemburger Schulwesen zum Einsatz kommen sollten und z.T. als zu wenig ausgereift wahrgenommen wurden (vgl. 15
Zehn Jahre nach dessen Einführung wird der Sozialindex und die durch ihn berechnete Ressourcenverteilung in den Gemeinden vom Luxemburger Observatorium für Schulqualität (ONQS) in Zusammenarbeit mit der Universität Luxemburg und dem LISER innerhalb des ONQS geleiteten Projektes Évaluation de l’application de l’indicateur social dans le cadre de l’attribution du contingent par commune dans l’enseignement fondamental (EsicS; Laufzeit 2020 bis 2024) evaluiert. Das Projekt überprüft zehn Jahre nach Einführung des Contingents die Methodologie der Indexberechnung und analysiert die Wirkung des Sozialindexes in Bezug auf Ungleichheiten in der Grundschulbildung und schlägt Möglichkeiten zur Verbesserung der Berechnungsmethoden und zur Optimierung der Ressourcenverteilung vor.
IV Der Reformkontext von 2009
ESC-D-4 2007). Die Einbeziehung verschiedener Bildungsakteure forderte etwa eine Zusammenarbeit, die nicht immer auf allen Ebenen durchführbar war und der reformleitenden Bildungsministerin u.a. den Vorwurf einbrachte, »sich von den kurzsichtigen und leicht durchschaubaren Interessen einzelner Sprachenlehrerlobbys leiten [zu lassen]« (Fehlen 2007b: 36). Der Eindruck partieller Unausgegorenheiten manifestierte sich insbesondere einige Jahre nach der Reformumsetzung, in denen eine erste Bilanz gezogen werden konnte (vgl. König 2013) und neben dem zu hohen administrativen Aufwand ebenso Unklarheiten, wie die Reformziele umzusetzen seien, beklagt wurden (vgl. LW 23.07.2012; LW 19.12.2012; LW 19.01.2013). So sind sich etwa die verschiedenen Bildungsakteure über die Bedeutung der sprachlichen Unterrichtsorganisation während des 2009er-Reformprozesses nicht in gleicher Weise einig. Da der gesamte Fächerkanon mit der sprachlichen Unterrichtsorganisation verknüpft ist, wurden auch nicht von allen Beteiligten einheitliche Zielsetzungen verfolgt. Zu Beginn der Reformbestrebungen von 2004 heißt es beispielsweise in einem Tageblatt-Artikel, dass die Vertreter der damaligen Oppositionspartei Déi Gréng den Sprachenunterricht als zentrales Problem im Schulwesen sehen und das Vorhaben kritisieren, Englisch früher in der Schule einzuführen (vgl. TB 23.11.2004). Ein ehemaliger Abgeordneter und Mitglied des Bildungsausschusses zur Zeit der Reform äußerte sich jedoch im Experteninterview eher zurückhaltend bezüglich der sprachlichen Reformbestrebungen: Sprache sehe ich jetzt nicht so direkt für die Grundschule, dass das ein sehr großes Thema war. Die Änderungen im Sprachunterricht sind ja eigentlich jetzt auch rezenter. (Ehemaliger Parlamentsabgeordneter [Déi Gréng]) Auch die von 1999 bis 2004 tätige Bildungsministerin Anne Brasseur sowie der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft SNE sprechen der Sprachen(-unterrichts-)politik während des Reformprozesses eine eher geringe Rolle zu: Sprachenpolitische Impulse gab es [während der Reformvorbereitungen] eigentlich nicht. (Anne Brasseur, Bildungsministerin 1999-2004) Sprachenpolitische Impulse gab es bei der Reform von 2009 eigentlich sehr wenig, da wir eigentlich noch immer dieselbe Philosophie hatten sowohl für Deutsch wie auch für Französisch. (Gewerkschaftspräsident SNE) Dagegen spricht Delvaux-Stehres als zentrale politische Figur der Primärschulreform der Neuordnung des Sprachenunterrichts eine Schlüsselrolle zu:
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Wenn man im Luxemburger Bildungswesen, wenn man da nicht ansetzt am Sprachenunterricht, dann kommt man da nicht weiter. Da bin ich fest von überzeugt. (Mady Delvaux-Stehres, Bildungsministerin 2004-2013) Wie sehr die Sprachenfrage in Luxemburg darüber hinaus schulisch institutionalisiert ist und dadurch nicht nur die sprachlichen Fächer betrifft, merkte Delvaux-Stehres auch gegenüber dem Tageblatt an, sei doch jeder Lehrer in Luxemburg auch Sprachenlehrer (vgl. TB 18.09.2006b: 5). Dergleichen sieht der Kommissar für luxemburgische Sprache und ehemaliger erster Regierungsrat in der sprachlichen Unterrichtsorganisation eine Stellschraube der Reform, da sprachlicher mit schulischem Erfolg in Luxemburg gleichzusetzen ist: Denn für luxemburgische Muttersprachler ist Deutsch lernen eigentlich sehr einfach. Für die Schüler, die Luxemburgisch nicht beherrschen, ist es sehr viel schwieriger. Und das waren natürlich die Auslöser, dass festgestellt wurde, wir müssen an dem … vor allem an dem Sprachenunterricht arbeiten. Denn der Sprachenunterricht ist wirklich das große Problem, nimmt auch bei weitem den größten Anteil an Schulstunden ein und ist auch die bei weitem höchste Ursache für mangelnden Schulerfolg. (Kommissar für luxemburgische Sprache) Die Gründe für diese unterschiedlichen Positionierungen zur Sprachen(unterrichts-)politik und der Überlagerung sprachenpolitischer Agenden müssen vor allem in dem Spannungsverhältnis zwischen nationaler Curriculumvorstellung und internationalen Bildungsempfehlungen gesucht werden. Exemplifiziert werden kann dies anhand der gesetzlichen Beschreibung zum Konzept des ›lebenslangen Lernens‹, das als Teil einer erfolgreichen EU-Gesellschaftspolitik (vgl. LW 15.09.2007) in das neue Primärschulgesetz von 2009 aufgenommen wurde: L’enseignement fondamental vise à développer progressivement auprès des élèves […] la citoyenneté, le sens de la responsabilité et le respect d’autrui, afin de les rendre aptes à suivre des études ultérieures et à apprendre tout au long de la vie.16 (Mémorial A20 2009: 201, Art. 6.6)
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»Die Grundschule zielt darauf ab, bei den Schülern schrittweise […] Staatsbürgerschaft, Verantwortungsbewusstsein und Respekt für andere zu vermitteln, um sie für ein weiteres Studium und lebenslanges Lernen fit zu machen.«
IV Der Reformkontext von 2009
Unter dem Aspekt, dass die hier erwähnte Idee von Staatsbürgerschaft neben formaler Zugehörigkeit, individuellen Rechten und Pflichten auch nationale Identität beschreibt, sind dementsprechend auch die curricularen Neuerungen zu berücksichtigen. Zugespitzt auf die sprachliche Identitätskonstruktion ist maßgeblich der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER) des Europarates zu nennen, der im Bericht über die Durchführung des gesamteuropäischen Aktionsplans zur Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt als Mittel zur Vereinheitlichung von Lehrplänen empfohlen wird (vgl. KOM554 25.09.2007: 18). Der GER als überstaatlicher Orientierungspunkt für die sprachliche Lehrplanentwicklung wurde auf Basis dieser Untersuchung als elementares Reforminstrument identifiziert, an dem das Verhältnis von sprachlicher Unterrichtsorganisation und nationalsprachlicher Identität aufeinandertreffen, wie Abschnitt 2 und 3 im Detail zeigen werden. Der Referenzrahmen schreibt für die 24 Amtssprachen der Europäischen Union, zu denen das Luxemburgische im Übrigen nicht zählt, Sprachniveaus von ›A: Elementare Sprachverwendung‹ bis ›C: Kompetente Sprachverwendung‹ für Sprachlernende fest (vgl. Trim et al. 2001: 34). Der Prozess im Sprachenlernen soll dadurch transparenter gemacht werden und kommt besonders in der Fremdsprachendidaktik zum Einsatz. Nach dem ›PISA-Schock‹ waren die unterschiedlichen Kompetenzstufen des GER sowie das Europäische Sprachenportfolio (ESP), das zur Autoevaluation von Lernfortschritten von Schülern dienen soll, für viele nationale Bildungsministerien in Europa wegweisend und so auch in Luxemburg. Das Prinzip des GER stützt sich auf den kompetenzorientierten Ansatz, der während des Reformprozesses zu zahlreichen Diskussionspunkten führte.
1.3
Kompetenzorientierung
Mit der in der Luxemburger Presse symptomatisch bezeichneten ›Jahrhundertreform‹ (vgl. u.a. TB 21.01.2009), »die das bisherige Verständnis von Schule ziemlich auf den Kopf gestellt hat« (LW 15.07.2013), wurde die Kompetenzorientierung in Luxemburg für alle Fächer in der École fondamentale sowie zunächst in der unteren Klasse des Sekundarschulwesens, der 7e, eingeführt. Insofern überstieg die Reform von 2009 auch den reinen Grundschulkontext, da das gesamte Curriculum künftig nach Kompetenzrastern ausgerichtet und der Übergang zwischen Primär- und Sekundarschule curricular vereinheitlicht werden sollte. Dementsprechend sollte in Anlehnung an die Grundschulreform auch die Unterstufe der Sekundarschule in Zyklen
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
ab dem Schuljahr 2013/14 eingeteilt werden. Was die Kompetenzorientierung anbelangt, so herrschte nach Meinung der Bildungsministerin Mady DelvauxStehres ein allgemeiner politischer Konsens (vgl. TB 19.01.2009). Bei Einführung der Kompetenzorientierung in der Luxemburger Schule gab es jedoch anfängliche Passungsschwierigkeiten, die insbesondere die Handhabe im Unterricht und die Bewertung betrafen. Ohne im Folgenden auf einzelne Kritikpunkte bezüglich der allgemein kompetenzbasierten Evaluierung einzugehen, interessiert in erster Linie, inwieweit die Kompetenzorientierung zu einem veränderten sprachlichen Bildungsverständnis in Luxemburg führte und welche Konfliktlinien sich dabei abzeichneten. Um die Wirkweise der Kompetenzorientierung auszuleuchten, ist es zunächst hilfreich, den bereits zuvor angerissenen Kompetenzbegriff genauer zu bestimmen, der allenthalben die Curriculumentwicklung veränderte. Die synonymhaft zu verwendenden Begriffe Output-, Outcome- bzw. Kompetenzorientierung beziehen sich auf die Anwendung von Wissen in variablen (Alltags-)Situationen. Somit rücken vor allem Metakompetenzen wie Problemlöse- oder Kommunikationsfähigkeit in den Vordergrund und von isolierter, rein fachbezogener Wissensvermittlung, die alleinig zur Förderung intellektuellen Potenzials dient, wird zusehends abgesehen. Schule sei kein Selbstzweck und so liegt der Fokus nunmehr auf einer gesellschaftlichen Teilhabe über den Unterrichtskontext hinaus. Der kompetenzorientierte Ansatz wurde in Luxemburg als Teil einer nachhaltigen Bildung begriffen und als »eine der wichtigsten bildungspolitischen Prioritäten« (Comité interministeriél ›Éducation au développement durable‹ 2009: 10) in dem politischen Programm ›Wëssen, Kënnen, Wëllen‹17 während der Reform forciert. Wissen, Können und Schülermotivation (Wollen) stehen demgemäß pädagogisch im Vordergrund. Folgt man dem Kompetenzbegriff des deutschen Psychologen Franz Weinert (2001), der für die erziehungswissenschaftliche Diskussion im Allgemeinen und für die konkrete Umstrukturierung des Curriculums in Luxemburg im Besonderen richtungsweisend ist, sind bei der Kompetenzorientierung Handlungs- und Problemlösefähigkeit zentral. Kurzum wird danach das Anwendungspotenzial von Wissen betont. Bei der Kompetenzorientierung rückt folglich eher das ›Können‹ in den Blick und nicht mehr nur das kumulativ angeeignete ›Kennen‹. Dieser performative Aspekt des
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»Wissen, Können, Wollen«.
IV Der Reformkontext von 2009
Lernens18 wurde curricular in die Unterrichtsgestaltung eingeschrieben, Bildungsziele wurden anhand von zu erreichenden Kompetenzbeschreibungen festgelegt und gängige Sozialformen des Lernens, wie etwa der wissensvermittelnde frontale Unterricht, hinterfragt. Bildungsstandards19 beschreiben im Curriculum die Kompetenzen, die Schüler am Ende einer Jahrgangsstufe erreicht haben sollen und die bei der Ergebniskontrolle zur ›positiven‹ Bewertung dienen (vgl. Klieme et al. 2007: 19ff.). Mit Letzterer sollen anstelle einer Fehlerfokussierung die Fähigkeiten der Schüler betont werden. Schüler sollen dementsprechend motiviert und in ihrer Lernerfahrung bestärkt werden. Aus konzeptioneller Sicht wurde mit der Kompetenzorientierung Abstand genommen von inhaltsunterfütterten Direktiven für den Unterricht und inputorientierten Lerntechniken, um eine ›Wissensbasis‹ zu schaffen. Darunter fällt etwa das ›traditionelle‹ Auswendiglernen, das in Luxemburg in der Legislaturperiode 1999 bis 2003 mit dem Slogan Back to Basics und der damit verbundenen Förderung von Basiskenntnissen bildungspolitisch regelrecht zelebriert wurde. Seit dem politischen Wechsel im Bildungsressort 2004 orientiert man sich dagegen an konstruktivistischen Lernprozessen und an eher reformpädagogisch inspirierten Ansätzen, was sich u.a. in pädagogischen Projekten wie der Laborschule Eis Schoul20 niederschlägt (Pdl 6804 04.08.2015).
18
19 20
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das gesamte Reflexionsfeld hinsichtlich ›Kompetenz‹, die z.B. Noam Chomsky ebenso von ›Performanz‹ unterscheidet, an dieser Stelle nicht eröffnet wird (vgl. zur detaillierteren Auseinandersetzung Oelkers 2014). Richtungsweisend für eine erziehungswissenschaftliche Debatte bzgl. der konzeptionellen Ausgestaltung des Curriculums ist der Kompetenzbegriff Franz Weinerts, der Kompetenzen als »Erträge des schulischen Unterrichts« (Weinert 2001: 23) bezeichnet und zwischen »fachliche[n] Kompetenzen (z.B. physikalischer, fremdsprachlicher, musikalischer Art), fachübergreifende[n] Kompetenzen (z.B. Problemlösen, Teamfähigkeit)« sowie »Handlungskompetenzen, die neben kognitiven auch soziale, motivationale, volitionale und oft moralische Kompetenzen enthalten und es erlauben, erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen erfolgreich, aber auch verantwortlich zu nutzen« (ebd.), unterscheidet. Die Bildungsstandards werden in Luxemburg in Anlehnung an die Klieme-Expertise definiert (vgl. z.B. Kühn 2008). Das unter Mady Delvaux-Stehres initiierte Pilotprojekt in Luxemburg-Stadt ist eine Ganztagsschule im Grundschulbereich, die die Aufgabe verfolgt, dem individuellen Lernrhythmus der Schüler, Schülern mit Lernschwierigkeiten und der Heterogenität im Klassenzimmer Rechnung zu tragen. Dass der reformpädagogische Impetus in der Pilotschule nicht unkritisch zu betrachten und das pädagogische Konzept von Eis Schoul nicht stringent ist und sich nicht auf empirischen Befunden gründet, ergaben etwa die
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Ganz allgemein sind ›Wissen‹ und ›Kompetenz‹ als unterschiedliche, nicht aber als entgegengesetzte Paradigmen zu verstehen. Zwar unterscheiden sie sich formal in ihrem konkreten Anbindungspotenzial, d.h. ›Wissen‹ als eher persönlicher Prozess und ›Kompetenz‹ vermehrt als Anwendung im gesellschaftlichen Bereich, doch handelt es sich um einen weit verbreiteten Trugschluss, dass Kompetenzen unabhängig von Inhalten existieren (vgl. Brunisholz et al. 2018: 7). Gleichwohl wird der durch Kompetenzbeschreibungen messbare Leistungsfortschritt in der Schule mit Gesellschaftsfortschritt gleichgesetzt. Dieses funktionalistische Prinzip unterstreichen auch Schulleistungsuntersuchungen, die Kompetenzen und Lernprogress messen, vergleichen und letztlich auch zu einem bestimmten Maße festlegen, welche Kompetenzen erwerbswürdig sind. Allgemein angestoßen wurde die Kompetenzorientierung durch die PISA-Studie, da dadurch eine einheitlichere Vergleichsgrundlage geschaffen wurde (vgl. Radtke 2003: 125). Kompetenzorientierung soll hierbei einer Leistungsindividualisierung und -beurteilung gleichkommen. Auf nationalem Niveau wird analog zu PISA und Co. und als Folge der 2009er-Reform in Luxemburg seit 2011 jährlich das nationale Schulmonitoring Épreuves Standardisées (ÉpStan) durchgeführt, das Kompetenzleistungen untersucht. Bei den ÉpStan handelt es sich um ein nationales standardisiertes Evaluierungssystem, das jedoch entgegen PISA kulturauthentische, d.h. auf die Bedürfnisse der Luxemburger Schullandschaft zugeschnittene Rückmeldungen über den Lernstand der Schüler gibt.21 Die Passung zwischen kompetenzorientierter Unterrichtsgestaltung und Lernstandserhebungen evozierte in Luxemburg einen neuen Bildungstopos, der sich auf die Qualitätssicherung
21
Analysen von Prof. Dr. Jürgen Oelkers der Universität Zürich (vgl. Pdl 6804 04.08.2015: 57-73). Jährlich im November werden anders als bei PISA entgegen einem Kompetenzschwerpunkt gleich alle Kompetenzbereiche gleichermaßen in den Jahrgangsstufen 3, 5, 7, 9, also den Zyklen 2.1, 3.1, 4.1 des Grundschulbereiches sowie der 7e und 9e des Sekundarschulwesens überprüft. Anhand der Testergebnisse der ÉpStan werden sowohl Leistungsniveaus im Hinblick auf das Erreichen der unterschiedlichen Kompetenzniveaus (Niveau socle bis Niveau avancé) als auch die Lernmotivation in unterschiedlichen Jahrgangsstufen beobachtet, ausgewertet und dokumentiert (vgl. Martin et al. 2015). Darüber hinaus berücksichtigen die ÉpStan zugleich auch die Unterrichtsqualität und das Klassen- bzw. Schulklima. Als weitere Bemessungsfaktoren in der Testauswertung zählen Geschlecht, sozioökonomischer Status (wie bei PISA gemessen durch den HISEI), Migrationshintergrund sowie der Sprachhintergrund der Schülerschaft (vgl. Muller et al. 2015: 35).
IV Der Reformkontext von 2009
im Bereich Schule konzentriert, wie der Bildungspsychologe und als Direktor des LUCET Hauptverantwortliche des Schulmonitorings ÉpStan im Experteninterview erläutert: Aber nichtsdestotrotz ist diese Qualitätsidee zum ersten Mal 2009 aufgetaucht. Das ist das erste Mal, dass man in der Luxemburger Bildungslandschaft von Qualität gesprochen hat. Und natürlich ist diese systematische Qualitätssicherung wichtig. (Direktor des Luxembourg Centre for Educational Testing) Für die Curriculumentwicklung bedeutete dies eine neuartige Zusammenarbeit und veränderte Abstimmungsprozesse verschiedener nationaler und internationaler Bildungsakteure. Bildungsprogramme wurden sukzessiv ›assessmenttauglich‹ an den Kompetenzgedanken angepasst. Mit Blick auf die noch nicht reformierten Lehrprogramme mutete dies jedoch zu Beginn der Reformvorbereitungen wie eine Herkulesaufgabe an, da Kompetenzen vor allem bei PISA unabhängig von curricularen Inhalten gemessen werden (vgl. Tröhler et al. 2013: 17). Mit der Konzentration auf den ›Output‹ der Lernenden ging während der Reformvorbereitungen ebenso der Vorwurf einher, einen eingeengten ökonomisierten und damit zweckorientierten Bildungsschwerpunkt zu setzen, bei dem Wissen lediglich als ›Ware‹ gehandelt wird (vgl. TB 24.11.2005). Übertragen auf den Sprachenunterricht, rückte mit der Kompetenzorientierung die kommunikative Handlungsfähigkeit verstärkt ins Zentrum. In Luxemburg zählte dieser Aspekt zu den maßgeblichsten Kritiken an der Reform, sahen die Bildungsakteure doch vor allem das sprachliche Selbstverständnis durch den deklarierten ›Paradigmenwechsel‹ bedroht (vgl. E-2008-11-02 2008: 8). Am Beispiel der Kompetenzorientierung kann daher besonders gut die Verquickung zwischen sprachlicher und zugleich kultureller Identitätskonstruktion im Bildungswesen aufgezeigt werden. Mit der Kompetenzorientierung wurde ein utilitaristisches Bildungsverständnis22 in Verbindung gebracht, das Sprache lediglich auf ihren Gebrauchswert reduziere: [M]an [versucht] den Sprachenunterricht ja irgendwie an die Gesellschaft anzupassen. Die Frage ist immer: Brauchen wir die Sprache, um zu kommunizieren? Oder geht es auch darum, Kultur zu vermitteln? Die Lehrerschaft ist immer der Meinung
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Kodierung ›utilitaristisches Bildungsverständnis‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt zehn Kodierungen in der Auswertungseinheit.
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gewesen, dass es darum geht, dass man nicht nur eine Sprache lernt, sondern versucht, den kritischen Geist zu entwickeln; dass man versucht, sich auszudrücken, dass man auch mit der Kultur einmal in Verbindung kommt, dass man irgendwie auch, ja, sich kulturell weiterentwickeln kann. Insofern haben wir auch immer großen Wert auf den Literaturunterricht gelegt. Mady Delvaux ist eine Ministerin gewesen, die eher davon ausgegangen ist, dass es wichtig ist, dass man sich richtig ausdrückt. Und wir haben das immer eher als utilitaristisch bezeichnet, das heißt, ich bin auch persönlich dagegen, dass man jetzt einmal sagt ›wir lehren nur noch Sprache, damit die Jugendlichen nachher im Stande sind, sich auf Französisch oder auf Deutsch auszudrücken‹ und ›ausdrücken‹ bedeutet Kommunizieren im Alltag. Das ist ein großes Ziel gewesen und das hätte bedeutet, dass eigentlich im Sprachunterricht nur noch die Sprache als Kommunikationsmittel unterrichtet würde. Und das ist Gott sei Dank nicht eingetroffen. (Schuldirektor des klassischen Lyzeums Athénée de Luxembourg) Zweckgerichtete Ausdrucksfähigkeit unterminiere daher die kulturelle Setzung von Sprache und literarische Bildung drohte dadurch ins Hintertreffen zu geraten, wie der Schuldirektor und Deutschlehrer entsprechend erläutert.23 Implizit steht die Behandlung literarischer Originaltexte im Sprachenunterricht für das schulisch genutzte Ideal der Mischkultur, das durch das Curriculum in den Klassenraum gebracht wurde und durch den Kompetenzgedanken gefährdet war. Insbesondere mit Blick auf die anvisierte Folgereform für den Sekundarschulbereich wurde die Kritik geäußert, dass dem Literaturunterricht eine geringere Rolle zukäme. Sprache sei schließlich mehr als Sprache (vgl. LW 02.06.2007) und so wurde auch der Plan, die Sektionen24 in der Oberstufe, d.h. ab der 3e, abzuschaffen und zwei Spezialisierungsmöglichkeiten, Dominantes, anzubieten – entweder Naturwissenschaften (Dominante sciences naturelles) oder Geisteswissenschaften (Dominante sciences humai-
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Wenn auch nicht direkt in Verbindung mit der Kompetenzorientierung artikuliert, wurde in den Fachorganisationen des Faches Deutsch auch ein Rückgang literarischer Kompetenz bemängelt und die Frage aufgeworfen, inwieweit freies Sprechen evaluiert wird, zumal auch die individuelle Persönlichkeit auf freies Sprechen Einfluss nimmt und bei der Evaluierung zu berücksichtigen ist (vgl. EST-D-14 2010). Die heutige Oberstufe, deren Abschluss zum Universitätsstudium befähigt, ist in die Sektionen A bis I eingeteilt: Moderne Sprachen (A), Mathematik/Informatik (B), Naturwissenschaften/Mathematik (C), Wirtschaftswissenschaften/Mathematik (D), Kunst (E), Musik (F), Geistes- und Sozialwissenschaften (G) und Informatik/Kommunikation (I).
IV Der Reformkontext von 2009
nes) – von Lehrern und Schülern gleichermaßen abgelehnt (LW 09.11.2011). Der Literaturunterricht würde dadurch nur noch wählbar sein und: Sprache als Kulturgut wird – unter dem Deckmantel der Förderung der Sprachkenntnisse – außen vor gelassen, die Fachrichtung für künstlerisch Begabte wird im ›Classique‹ – keineswegs heimlich – kurzerhand wegrationalisiert. Zu rational, zu produktivitätsorientiert ist die Herangehensweise der Ministerin, für die das Luxemburg der Zukunft offenbar nur noch aus Ärzten, Anwälten, Bankern, Ingenieuren und Wirtschaftsexperten besteht. Für Berufe mit so genanntem humanistischem – beziehungsweise nicht rein profitorientiertem Hintergrund bleibt da kein Platz. Nur die Rendite zählt. (LW 20.06.2011) Die Brauchbarkeit von Wissen und eine durch Sprache konturierte Identitätskonstruktion standen sich im Reformprozess zeitweise antagonistisch gegenüber. Kompetenzbasierte Instrumente, wie der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen, der als Richtlinie für den Sprachenunterricht dienen sollte, wurden vor diesem Hintergrund als kulturelle Verarmung empfunden, wie auch der Direktor des SCRIPT, einer institutionellen Schaltstelle für Bildungsplanung, im Experteninterview erläutert: Es war eher die Idee, dass durch den Verweis auf den Europäischen Referenzrahmen eigentlich ganz viel verloren ginge, was der Französisch- und Deutschunterricht in der Vergangenheit mittransportiert hat. Eben Identität, über Identitätsvermittlung oder Hilfe für die Identitätsfindung, aber auch kulturelle mitgeborene Texte oder ja überhaupt Kultur, Allgemeinbildung also alles das, was über den Referenzrahmen hinausgeht, dass das verloren gehen könnte, wenn man sich strikt am Referenzrahmen orientiert. (Direktor des SCRIPT) Die Bildungspolitik musste sich vor diesem Hintergrund den Vorwurf gefallen lassen, neoliberalen und bildungsökonomischen Interessen zu folgen. Der komparative Denkstil, der durch Large Scale Assessments schulisch vermittelt wird, forderte die bisherige Curriculumplanung heraus und verschiedene Akteure u.a. Ministeriumsmitarbeiter, fachliche Arbeitsgruppen, Universitätsangehörige etc., waren binnen kurzer Zeit mit der Aufgabe betraut, ein outputorientiertes Curriculum zu entwerfen. Die Beziehung zwischen Erziehung und Wirtschaft ist jedoch weitaus vielschichtiger, weswegen ein rein auf ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit und Erfolg basierendes Bildungsverständnis zu eindimensional wäre. Die Relevanz von praktischem Wissen wird überdies unterschiedlich produziert und so wäre es zu kurz gegriffen,
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den internationalen Bildungspolitiken eine eindeutige und damit ideologisch unterlegte Wirtschaftsgläubigkeit zu attestieren, die sich durchweg in den Lehrprogrammen äußere. Zur bildungspolitischen Absichtserklärung der 2009er-Reform gehörte nämlich auch, dass durch die Kompetenzorientierung eine größere Chancengleichheit gewährleistet werden könne. Die Einteilung in Kompetenzbereiche ermögliche es gemäß einem parlamentarischen Antwortschreiben der Ressortministerin Delvaux-Stehres, Stärken und Schwächen in der Sprachfertigkeit isolierter betrachten und Schüler entsprechend differenziert bewerten zu können (vgl. R2522 07.05.2008: 4). Da die Performanz in den sprachlichen Teilbereichen sehr unterschiedlich sein kann, bietet die Einteilung in die Kompetenzbereiche »Leseverstehen«, »Hörverstehen«, »Sprechen, Reden und Zuhören« und »Texte schreiben« den Schülern die Gelegenheit, einzelne Sprachfertigkeitsbereiche in der Evaluation auszugleichen. Zudem berücksichtige ein kompetenzorientierter Unterricht den eigenen Lernrhythmus, was strukturell durch die Anordnung in zweijährige Zyklen in der Grundschule anstelle von einjährigen Klassenstufen gekennzeichnet ist. Schüler haben so theoretisch ein Jahr mehr Zeit, das Kompetenzniveau der Stufe zu erreichen.25 Das dahinterliegende Erfolgsversprechen der Approche par compétences wurde jedoch nicht von allen Schulpartnern gleichermaßen geteilt. Von den Lehrergewerkschaften wurden z.B. sehr unterschiedliche Bewertungen vorgenommen. Zeigte sich der SEW gegenüber der Bildungspolitik von Delvaux-Stehres durchaus aufgeschlossen und positiv gestimmt, wünschte er sich angesichts der curricularen Neuordnung dennoch eine bessere Abstimmung zwischen Akteuren in Politik und Akteuren auf dem schulischen Terrain (vgl. TB 22.09.2006). Die Lehrergewerkschaft Féduse positionierte sich eher zurückhaltend gegenüber der Kompetenzorientierung und warnte davor, sie als Problemlöser für die Sekundarschule zu betrachten (vgl. LW 26.01.2011). Erscheint die Kompetenzorientierung heute in allen Schultypen 25
Bezogen auf die theoretische Lernverlängerung der zweijährigen Zyklen weist der Direktor des LUCET auf eine verschleiernde Rhetorik hin: »Das ist auch einer der Gründe, warum man auf diese zweijährigen Zyklen ging in der Reform, um zu sagen, so kann man theoretisch nur noch jedes zweite Jahr wiederholen. Problem war, man hat es dann nicht mehr ›Wiederholen‹ genannt, sondern ›Allongement de cycle‹, was weniger negativ klingt und wir sehen eigentlich, dass tendenziell mehr Schüler auch schon sehr früh jetzt eine ›Allongement de cycle‹ bekommen, weil es weniger stigmatisiert ist« (Direktor des Luxembourg Centre for Educational Testing).
IV Der Reformkontext von 2009
durchgesetzt, gab es zu Beginn ihrer Einführung vor allem Kritiken bei der curricularen Umsetzung sowie der Leistungsbeurteilung. Die kompetenzbasierte Leistungsbewertung mit den dazugehörigen Rahmenrichtlinien wurde etwa von Lehrkräften bemängelt, da diese nicht der konkreten Unterrichtsrealität entspräche26 , wie auch das nachfolgende Ankerbeispiel belegt: Weil das Ganze sehr, sehr mechanisch ist. Das heißt, früher haben wir immer nur Form und Inhalt bewertet auf 60 Punkte. Heutzutage wird auf 100 Punkte evaluiert und es gibt einen Korrekturschlüssel, das heißt, jede Klassenarbeit muss aufgeteilt sein in Hörkompetenz, Lesekompetenz und so weiter und das Ganze ist meines Erachtens relativ gekünstelt, weil wir doch immer davon ausgehen, dass die Sprache etwas Ganzes bildet. Wir haben auch festgestellt, dass eigentlich jetzt die Sprachkompetenz nicht notgedrungen, ja, dass sie besser geworden ist, dass sie sich verbessert hat durch dieses kompetenzorientierte Unterrichten. (Schuldirektor des klassischen Lyzeums Athénée de Luxembourg) Kritisiert wurde darüber hinaus, dass die Bewertungsmethoden z.T. sehr unübersichtlich wurden, wie es in einer Studie zur Überarbeitung der Bilans intermédiaires heißt (vgl. Tröhler et al. 2013). Die Bilans, die zum Zwecke der transparenten und individuellen Leistungsmessung der Schüler eingeführt wurden und eine Art schriftliches Zwischenzeugnis darstellen, in denen Kompetenzbeschreibungen Schülern und ihren Eltern Aufschluss über ihren Leistungsstand geben sollen, ersetzten nach der Reform das traditionelle 60-Punkte-Notensystem in der Primärschule. Die ursprünglichen Bilans wurden jedoch wieder abgeschafft, da sie in der schulischen Realität als problematisch empfunden wurden (vgl. ebd.). Insbesondere beim Übergang von der Primär- zur Sekundarschule waren die Bilans umstritten, da es im Sekundarschulbereich wieder Noten gibt. Die Bildungspolitik kehrte zwar nicht zum Punktesystem zurück, jedoch wurde seit dem Schuljahr 2016/17 eine vereinfachte Notengebung (A, B, C, D) in der Grundschule eingeführt. Die Studie zu den Bilans intermédiaires machte zudem Fallstricke der Kompetenzorientierung sichtbar. So vermittelt das Bildungsministerium mit der curricularen Einteilung in zu erreichende Sockelkompetenzen, synonymhaft auch Mindeststandards genannt, einen fortlaufenden bzw. progressiven Ent-
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Kodierung ›Spannungsverhältnis zur schulischen Realität‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt 38 Kodierungen in der Auswertungseinheit.
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wicklungsstand des Schülers, wie die Erläuterungen zur neuen Grundschule zeigen: Man könnte die neue Grundschule mit einem mehrstöckigen Haus vergleichen. Jeder Sockel wäre demnach ein Stockwerk. Man kann das nächste Stockwerk nur über eine mehrstufige Treppe erreichen. Das Kind nimmt dabei eine Stufe nach der anderen. (MENFP 2009c: 19) Der Wissenserwerb von Schülern erfolgt jedoch nicht konsequent linear (vgl. Tröhler et al. 2013: 13). Angesichts der Idee eines progressiv aufbauenden Lernprozesses werden Rückschritte per se ausgeschlossen und das hat konkrete Auswirkungen auf den Klassenverband, da Unterschiede deutlicher in den Vordergrund rücken (vgl. ebd.: 14). Die Unterschiede träten demnach sogar durch die verstärkte Differenzierung zutage, wie die ehemalige Präsidentin (1996-2010) der eher links ausgerichteten Lehrergewerkschaft SEW/OGBL diesen blinden Fleck des Kompetenzgedankens beschreibt: Wir hatten unter Frau Delvaux auch um den neuen Lehrplan auszuarbeiten SEHR sehr viele Versammlungen, an denen wir immer ganz interessiert teilgenommen haben. Wir haben diese ganzen Fragebögen ausgefüllt, die es damals zu »was wäre der Mindestsockel« usw. gab. Das war eine sehr mühselige, harte Arbeit und anfangs haben wir gesagt »ja, das ist ja klar, Kompetenzen«, das war für uns klar, dass man sein Wissen anwenden muss. Und irgendwann ist das dann aber in eine Richtung abgedriftet, bei der wir gesagt haben »hey, so kann es nicht gemeint sein« […] und ja, da haben wir das hinterfragt […] Schule hat jetzt als Aufgabe, die ganzen Schüler anzuschauen und zu schauen, was kann er, was bringt er mit, was bringt er mit von zu Hause? Und das wird mitbewertet und da haben wir eine große Aufgabe und dann stellen wir fest, dass es sehr große Unterschiede gibt und es ist aber nicht mehr das gemeinsame Lernen das gemeinsame Ziel, was dann im Vordergrund steht, sondern es ist auf einmal so, dass ich jedem auf seinem Niveau weiterhelfen muss, sich weiterzuentwickeln. Und dadurch zerfällt der Unterricht. Deshalb ist ja auch der Frontalunterricht, der ist total verpönt […] wir haben trotzdem nicht die richtige Methodologie gefunden, um diesen Kompetenzunterricht dann auch so umzusetzen, dass er wirklich in einer Klasse mit 18 Schülern gelingen kann. (Pensionierte Grundschullehrerin und ehemalige Präsidentin des SEW/OGBL [1996-2010]) Dieser Aussage nach zu urteilen führte die Individualisierung im Unterricht eher zur Vereinzelung und weniger zu einem gemeinsamen Klassenfortschritt.
IV Der Reformkontext von 2009
Insgesamt forderte die Kompetenzorientierung eine neue Definition von Curriculum und Bildung, die jedoch mit der Unterrichtpraxis wenig zu tun hatte. Auch Diskussionen über den Gegensatz von ›Wissen‹ (innere Bildung) vs. ›Kompetenz‹ (utilitaristisch) (vgl. exemplarisch Oelkers 2014) sind teilweise ideologisch so aufgeladen und im realen Bildungskontext nicht weiterführend. In diesem Widerspruch stand auch die Mehrsprachigkeit im Luxemburger Schulsystem. Historisch geprägte Vorstellungen von der mehrsprachigen Luxemburger Schule und dem mehrsprachigen Luxemburger Schüler kollidierten etwa mit neuen curricularen Zuschreibungen und Funktionen. Nachfolgend werden diese bildungs- und sprachenpolitischen Auseinandersetzungen in Hinsicht auf das sprachliche Selbstverständnis in Luxemburg behandelt.
2 2.1
Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld zwischen curricularem Paradigma und schulischer Realität Mythos Gleichsprachigkeit. »Le plurilinguisme comme ›véritable‹ langue maternelle des Luxembourgeois«27 ?
Wie das vorangegangene Kapitel mit Blick auf die Kompetenzorientierung und denen mit ihr verbundenen konzeptionellen Umstrukturierungen im Curriculum zeigte, stellten internationale Bildungstrends das sprachliche Selbstverständnis in Luxemburg auf den Prüfstand, welches zuvor durch den 1912er-Primärschulgesetzesrahmen konstruiert wurde und somit mehrere Generationen von Schülern prägte. Während des 2009er-Reformprozesses wurde sonach ein Curriculum ausgearbeitet, das die Idee der sprachlichen Souveränität in den drei Landessprachen infrage stellte. Nachdem die sprachliche Unterrichtsorganisation nach den ersten PISA-Ergebnissen zunehmend in die Kritik geraten ist, sollten ein differenzierender Sprachenunterricht und eine entsprechend frühkindliche Förderung im Sprachenerwerb Ungleichheiten verringern. Mit einer Umgestaltung des Sprachenunterrichts wurde versucht, der gesellschaftlichen Sprachenrealität des Landes und damit Zuwandererkindern gerecht zu werden, wie aus der Presse hervorgeht 27
(Berg/Weis 2007: 19). »Die Vielsprachigkeit als ›wahre‹ Muttersprache der Luxemburger.«
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Insgesamt forderte die Kompetenzorientierung eine neue Definition von Curriculum und Bildung, die jedoch mit der Unterrichtpraxis wenig zu tun hatte. Auch Diskussionen über den Gegensatz von ›Wissen‹ (innere Bildung) vs. ›Kompetenz‹ (utilitaristisch) (vgl. exemplarisch Oelkers 2014) sind teilweise ideologisch so aufgeladen und im realen Bildungskontext nicht weiterführend. In diesem Widerspruch stand auch die Mehrsprachigkeit im Luxemburger Schulsystem. Historisch geprägte Vorstellungen von der mehrsprachigen Luxemburger Schule und dem mehrsprachigen Luxemburger Schüler kollidierten etwa mit neuen curricularen Zuschreibungen und Funktionen. Nachfolgend werden diese bildungs- und sprachenpolitischen Auseinandersetzungen in Hinsicht auf das sprachliche Selbstverständnis in Luxemburg behandelt.
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Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld zwischen curricularem Paradigma und schulischer Realität Mythos Gleichsprachigkeit. »Le plurilinguisme comme ›véritable‹ langue maternelle des Luxembourgeois«27 ?
Wie das vorangegangene Kapitel mit Blick auf die Kompetenzorientierung und denen mit ihr verbundenen konzeptionellen Umstrukturierungen im Curriculum zeigte, stellten internationale Bildungstrends das sprachliche Selbstverständnis in Luxemburg auf den Prüfstand, welches zuvor durch den 1912er-Primärschulgesetzesrahmen konstruiert wurde und somit mehrere Generationen von Schülern prägte. Während des 2009er-Reformprozesses wurde sonach ein Curriculum ausgearbeitet, das die Idee der sprachlichen Souveränität in den drei Landessprachen infrage stellte. Nachdem die sprachliche Unterrichtsorganisation nach den ersten PISA-Ergebnissen zunehmend in die Kritik geraten ist, sollten ein differenzierender Sprachenunterricht und eine entsprechend frühkindliche Förderung im Sprachenerwerb Ungleichheiten verringern. Mit einer Umgestaltung des Sprachenunterrichts wurde versucht, der gesellschaftlichen Sprachenrealität des Landes und damit Zuwandererkindern gerecht zu werden, wie aus der Presse hervorgeht 27
(Berg/Weis 2007: 19). »Die Vielsprachigkeit als ›wahre‹ Muttersprache der Luxemburger.«
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(vgl. LW 09.05.2008). Eine entsprechende »Sprachenöffnung« (Ouvertures aux langues) wurde dahingehend bildungspolitisch anvisiert und ein dazugehöriges Programm ausgearbeitet, das ebenso im Plan d’études curricular verankert wurde. In diesem Zusammenhang beschreibt der neu aufgelegte Lehrplan es als Kernkompetenz, wenn Schüler untereinander ein ›metalinguistisches Bewusstsein‹ entwickeln, um sprachensensibel in unterschiedlichen Situationen reagieren zu können (vgl. MENFP 2011a: 59). Das Bewusstsein gegenüber Sprachenvielfalt sowie die Valorisierung anderer Herkunftssprachen und kultureller Hintergründe sollte danach verstärkt ins Unterrichtsgeschehen einbezogen werden (vgl. MENFP 2010c). Im wöchentlichen Stundenplan werden für die Fächer »alphabétisation, langue allemande, langue française et ouverture aux langues« ab Zyklus 2 zehn Wochenstunden veranschlagt und zwei Jahre später, d.h. ab Zyklus 3, sind für Deutsch, Französisch und die Sprachenöffnung insgesamt zwölf Wochenstunden vorgesehen. Dabei wird nicht genau aufgeschlüsselt, wie viele Stunden für die einzelnen Sprachfächer aufzubringen sind. Luxemburgisch wird dagegen getrennt und durchgängig mit einer Wochenstunde in der École fondamentale gelehrt (vgl. MENFP 2011a: 237ff.). Ohne jedoch Grundsätzliches am Sprachenunterricht zu verändern, wie das Angebot eines zweigleisigen Schulsystems mit einem französischsprachigen Track im Grundschulbereich, wurde am historisch geprägten kumulativen Lernprozess vom Deutschen als Alphabetisierungssprache zum Französischen festgehalten. Um die Schüler so gut wie möglich individuell fördern zu können, kamen gleichwohl vermehrt Stützkurse in sprachlichen und nichtsprachlichen Fächern oder Projektklassen28 zum Einsatz. Vereinzelte Programme, die eine bilinguale Beschulung anvisierten, konnten
28
Wie etwa in der Unterstufe des technischen Gymnasiums. Anzuführen ist hierbei exemplarisch das Projet pilote cycle inférieur de l’enseignement secondaire technique (PROCI). Nach den ersten PISA-Ergebnissen wurden in ausgewählten Unterstufen PROCI-Klassen eingeführt, die als Beispiel für eine flächendeckende Reformierung der Unterstufe im enseignement secondaire technique dienen sollte. Die Besonderheit dieser Klassen war es, dass der Lehrplan dem individuellen Förderungsbedarf der Schüler angepasst wurde, um lernschwächere Schüler gezielt zu fördern. Beim PROCI-Unterricht wurde der Klassenverband nicht aufgelöst und in den ersten beiden Jahren der PROCIKlassen gab es i. d. R. keine Klassenwiederholungen und keine Nachprüfungen (vgl. MENJE 2016b: 20). PROCI-Klassen sollten insgesamt zu besseren Leistungen beitragen, die für die Orientierung nach der Klasse 9e relevant sind.
IV Der Reformkontext von 2009
sich nicht flächendeckend durchsetzen. Der Vorwurf, dass das Luxemburger Schulsystem primär für Luxemburger Schüler konzipiert und kaum permeabel für Kinder mit anderen Sprachbiografien sei, war einer der Hauptdiskussionspunkte während des Reformprozesses. In der 2005 von ausländischen Schulexperten des Europarates durchgeführten Evaluation der Sprachenpolitik wird festgehalten, dass die didaktischen Ziele curricular zu unklar seien und die Dreisprachigkeit auf schulischem Terrain eine lückenlose Sprachenkompetenz in den drei Landessprachen bedeute (vgl. MENFP/Conseil de l’Europe 2006: 23). Dieses schulische Ideal wird von den Evaluatoren als ›ambitiöses, aber schwach definiertes Ziel‹ (vgl. ebd.: 22) bzw. als ›naive Vorstellung von Mehrsprachigkeit‹ (vgl. ebd.: 23) bezeichnet, die auf der Idee eines Äquilinguismus (Équilinguisme), d.h. einem »(ungefähr) gleichgewichtigen Sprachstand« (Burwitz-Melzer et al. 2016: 287) in Deutsch, Französisch und Luxemburgisch, fuße.29 Diese ›alten Gewissheiten‹ müssten hinterfragt werden, wie der französische Schulexperte und einer der Hauptverantwortlichen des Sprachenprofils, Francis Goullier, in der Präsentation des Berichtes gegenüber dem Tageblatt zusammenfasst (vgl. TB 18.09.2006a). Die Modernisierung des Schulsystems oszillierte jedoch während des Reformprozesses stets zwischen nationalem sprachlichem Selbstverständnis und einer überstaatlichen Außenperspektive. Dementsprechend lassen sich in der Luxemburger Reformdebatte verschiedene Konfliktpunkte ermitteln, die deutlich machen, wie fest verbunden historisch gewachsene Denkstile mit der Curriculumplanung sind. Auf Basis des Datenmaterials wird vor dem Hintergrund der idealisierten Gleichsprachigkeit deutlich, wie sich die Bildungsplaner Identitätsrhetoriken bedienen, um ein spezifisches und historisch erklärbares Verständnis von Mehrsprachigkeit in Luxemburg zu erzeugen. Dabei lassen sich gleichzeitig Inkongruenzen identifizieren, die zeigen, wie sich verschiedene Argumentationslogiken überlagerten und Einfluss auf die Funktionalität des Curriculums nahmen. Das nationale Äquivalent zum Sprachenprofil, der Plan d’action des langues, folgt z.B. der
29
Im Original : »Sans une définition plus claire des objectifs assignés au système scolaire, le trilinguisme est compris spontanément comme l’addition de la maîtrise complète et parfaite de trois langues. Cette idée naïve du plurilinguisme repose sur une représentation ›équilingue‹. L’objectif devient dès lors, de façon automatique et non réfléchie, d’atteindre les standards de performance propres à une langue maternelle pour chacune des langues concernées« (MENFP/Conseil de l’Europe 2006: 23).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Argumentation der Sprachenexperten des Europarates und erklärt den Équilinguisme gleichermaßen für utopisch (vgl. Berg/Weis 2007: 12). Ferner müsse anerkannt werden, dass die Vielsprachigkeit die ›wirkliche Muttersprache der Luxemburger‹ sei (vgl. ebd.: 19). Im Plan d’action des langues ist zudem von Plurilinguisme anstatt Multilinguisme30 die Rede, um dem individuellen Sprachenrepertoire der Schüler gerecht zu werden. Rhetorisch gesehen sollte dadurch der Komplexität der sprachlichen Situation Rechnung getragen werden (vgl. ebd.), obgleich konkrete Handlungsempfehlungen nicht über diesen Symbolcharakter hinausgehen. Im Übrigen trägt der Plan d’action den Untertitel Réajustement de l’enseignement des langues, also ›Neuausrichtung des Sprachenunterrichts‹. Damit bediente sich die Bildungspolitik einer verharmlosenden Rhetorik, wie der Hauptautor des PAL im Experteninterview auf die Frage nach dem Zustandekommen der Zusammenarbeit zwischen Europarat und Bildungsministerium ausführt: Dass in dem Regierungsprogramm diese Zauberformel »Réajustement de l’enseignement des langues«, anstatt, dass man Reform oder Erneuerung oder sowas sagte. Es hieß nur »Réajustement«, was ja, also einerseits merkt man die Juristensprache dahinter und andererseits diese übertriebene Vorsicht. Und dann, wie das so ist bei Koalitionsabkommen, man schreibt da etwas rein, aber man weiß nicht, wie man das machen soll. Und ein Ausweg war dann, dass man sagte, wir fragen den Europarat und dann haben wir praktisch jemanden von außen, der uns eine Richtlinie gibt.« (Verfasser des Plan d’action des langues) Hier wird nicht nur darauf verwiesen, dass sich die Bildungspolitik bewusst mit Aussagen über eine konkrete Sprachenreform zurückhielt, sondern sich der curriculare Ausgestaltungsprozess vermehrt durch einen Blick von und nach außen31 kennzeichnete, um inhaltliche Ziele festzulegen. Dieser Blick von bzw. nach außen stellt sich als sprachplanerischer Kompromiss dar. 30
31
Gemäß dem Sprachenprofil des Europarates wird zwischen ›multilingual‹ und ›plurilingual‹ folgendermaßen unterschieden: ›Multilingualismus‹ bezieht sich auf ein geografisches Gebiet mit mehreren Sprachvarianten. Dagegen bezieht sich ›Plurilingualismus‹ auf das individuelle Sprachvermögen, das unabhängig vom Status dieser Sprachen in der Schule und in der Gesellschaft zum Einsatz kommt. Die offizielle Dreisprachigkeit in Luxemburg wird dabei als eine besondere Form der Plurilingualität ausgewiesen (vgl. MENFP/Conseil de l’Europe 2006: 10). Kodierung ›Blick von/nach außen – externe/wissenschaftliche Begleitung‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt 46 Kodierungen in der Auswertungseinheit.
IV Der Reformkontext von 2009
In der Abgeordnetenkammer wurde die historisch geprägte Vorstellung von der ›Gleichsprachigkeit‹ dagegen kaum thematisiert, wenngleich die Bildungsministerin, Mady Delvaux-Stehres, in ihrer Bildungspolitik die Ansicht vertrat, dass eben nicht mehr alle Sprachen der Luxemburger Schule auf einem gleichen Niveau beherrscht werden müssen. Der Équilinguisme findet in der Abgeordnetenkammer dagegen erst Jahre nach der Evaluation der Sprachenpolitik explizit Erwähnung im Gesetzesentwurf zur geplanten Sekundarschulreform unter Delvaux-Stehres: Die Gleichsprachigkeit wird hier als ein ›ambitiöses Ziel‹ dargestellt, das zwar für die ›begabtesten Schüler erreichbar sein kann, für viele unter ihnen aber unrealistisch‹ sei32 (vgl. Pdl 6573 14.05.2013: 10f.). An dieser Stelle wird deutlich, dass das sprachliche Ideal der Gleichsprachigkeit nicht alleinig im Kontext einer heterogenen Gesellschaft zur Hürde werden kann, sondern auch für diejenigen, die Luxemburgisch als Erstsprache sprechen, als problematisch artikuliert wird. Durch die Historisierung der (schulischen) Mehrsprachigkeit in Kapitel III konnte bereits verdeutlicht werden, dass sich in Luxemburg während des Nationsbildungsprozesses anstelle der Vorstellung über eine legitime Sprache die Idee einer ›multilingualen legitimen Kompetenz‹33 (vgl. Fehlen 2013: 91; vgl. ebenso Fehlen 2009: 11) durchsetzte, die hauptsächlich über den Bildungsbereich vollzogen wurde. Geprägt durch den kulturellen und wirtschaftlichen Austausch mit den Nachbarländern, wird die Beherrschung sowie der situativ korrekte Gebrauch von Deutsch, Französisch und Luxemburgisch, aber auch des Englischen »als erster wirklicher Fremdsprache« (Fehlen 2007a: 48) gleichsam als gesellschaftliches Ideal vorausgesetzt (vgl. ebd.). Dieses Leitmotiv wird in der Schule jedoch nicht per se als dynamische Mehrsprachigkeit gehandelt, indem Schüler im Unterricht ›legitim‹ ihr gesamtes sprachliches Repertoire anwenden können. Vielmehr kann »[h]inter der Fassade der Luxemburger Mehrsprachigkeit eine originäre einheitliche 32
33
Im Original : »Ainsi qu’en témoignent les études du Conseil de l’Europe, l’équilinguisme (mêmes capacités linguistiques dans toutes les langues du pays pour chaque élève) est un objectif ambitieux que les plus doués des élèves peuvent atteindre, mais cet objectif est irréaliste pour un grand nombre d’entre eux. L’École doit donc nuancer ses exigences, stimuler au maximum le potentiel de chacun en différenciant les méthodes et les outils, et donner aux langues leur juste place dans l’orientation des élèves« (Pdl 6573 14.05.2013: 10f.). Derselbe Wortlaut findet sich bereits zwei Jahre zuvor in einer Sitzung der Abgeordnetenkammer (vgl. P-2011-O-ENFPS-06-01 2011: 16). In-vivo-Code ›multilinguale legitime Kompetenz‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt 29 Kodierungen in der Auswertungseinheit.
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Sprachkompetenz identifiziert werden« (Fehlen 2009: 11, Anm. 1), die im schulischen Kontext offiziell an die Einhaltung der Vehikularsprachen geknüpft ist. Das Gesellschaftsideal einer ›multilingualen legitimen Kompetenz‹ stehe jedoch nun mehr denn je im Spannungsverhältnis zur sprachlichen Realität des Landes, wie ein Luxemburger Soziologe und Mehrsprachigkeitsforscher, der die Reform wissenschaftlich begleitete, im Experteninterview erläutert: Die Probleme haben sich verstärkt, das Hauptausgangsproblem ist das Problem einer totalen Inadäquation zwischen diesem dreisprachigen … ich nenne das in meiner Forschung die multilinguale Kompetenz, die die Schule vermittelt und der Schulpopulation, denn diese multilinguale legitime Kompetenz ist eigentlich nur an deutsch- oder luxemburgischsprachige Kinder vermittelbar, die auch hier in Luxemburg aufgewachsen sind[.] (Reformbegleitender Soziologe) Die Gründe für diese ›legitime multilinguale Kompetenz‹ bzw. den ›gleichsprachigen‹ Denkstil, der sich über den kompetenten Muttersprachler definiert und der sozial differenziert bzw. der nicht für alle Schüler gleichermaßen funktioniert, sind historisch gewachsen: Wohingegen wir hier auch teilweise wieder aus historischen Gründen davon ausgehen, dass jeder, ich würde mal unter Anführungszeichen sagen, dass jeder ›Luxemburger am Ende des Tages so drei Erstsprachen hat‹. Implizit geht man davon aus, dass am Ende der Sekundarstufe jeder perfekt drei-, wenn nicht sogar viersprachig ist. Da lügen wir uns natürlich absolut in die eigene Tasche […] Und ich glaube nicht, dass das Luxemburger Gehirn neuronal anders funktioniert als das von allen anderen. Also die Ansprüche sind enorm. Wir sind uns alle einig, also, diese Mehrsprachigkeit ist ganz wunderbar, wenn es funktioniert, aber es darf halt nicht zum Hindernis werden. (Direktor des Luxembourg Centre for Educational Testing) Diese ›enormen Ansprüche‹ sollten formal mit dem Kompetenzgedanken gemindert werden. Der Einsatz neuer Instrumente der Qualitätssicherung, wie der bereits erwähnte Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER), soll Aufschluss über die individuelle Sprachfertigkeit eines Schülers geben und einen transparenten Lern- und Evaluationsprozess ermöglichen. Diese durch den Plan d’action angeregte Prüfungsform bezeichnete die Bildungsministerin als wahrheitsfindenden Prozess, eine »opération vérité« (R1655 23.05.2007: 4), die die Chance bietet, die Qualität des Schulsystems und die Fähigkeiten einzelner Schüler zu verbessern (vgl. ebd.: 3f.). Mit Sprachniveaus, die von A1 bis C2 reichen, wird die Sprachkompetenz eines Schülers
IV Der Reformkontext von 2009
entsprechend akkreditiert. In der zweiten Version des Plan d’études von 2011 finden die Sprachniveaus in Anlehnung an ein Modell des GER erstmalig Anwendung. Wie exemplarisch in Abbildung 2 dargestellt, wurden auch im Plan d’études die mittleren Stufen (A2, B1, B2) ausdifferenziert und noch einmal in Unterstufen unterteilt (A2.1, A2.2 etc.). Diese Unterstufen sind im Grundschullehrplan sogar dreiteilig gegliedert (A2.1, A2.2, A2.3 etc.) und demzufolge speziell auf den Luxemburger Sprachenunterricht zugeschnitten.
Abb. 2: Differenzierte Sprachniveaus nach dem GER
(Trim et al. 2001: 42)
Im Zuge des Bologna-Prozesses und der damit korrelierenden Angleichung der Bildungssysteme wurden einheitliche Sprachzertifikate auf Abschlusszeugnissen z.T. zur Voraussetzung, um sich für ein Hochschulstudium außerhalb Luxemburgs zu bewerben. Das setzte die Luxemburger Bildungspolitik unter Druck, entsprechende Sprachniveaus auf dem Abiturzeugnis anzugeben. Schließlich war die inländische Universität zu diesem Zeitpunkt noch recht jung und das Angebot an Studiengängen überschaubar. Zudem gehört ein Auslandsstudium, das sinnbildlich für die sprachliche Mobilität der Luxemburger steht, kulturhistorisch betrachtet zum Identitätsnarrativ, wie es sich bereits am Denkmodell über die Mischkultur zeigen ließ. Die vereinheitlichenden Zertifizierungsgrade und mit ihnen die Universalisierung von Sprachfertigkeit kollidierten während des Reformprozesses mit dem nationalisierten Leitbild des Équilinguisme, das zuvor jedoch nicht transparent für den Sprachenunterricht in Niveaus aufgeschlüsselt und somit zertifiziert wurde. Auch wenn in einigen Zeitdokumenten zur Reform betont wird, dass der Équilinguisme illusorisch sei und nicht zu den Bedürfnissen einer Einwanderungsgesellschaft passe, zeigt sich auf Basis der Experteninterviews, wie stark die ideelle Gleichsprachigkeit im Denkkollektiv der Bildungsplaner verankert war und welche Verschleierungsmechanismen intentional genutzt wurden, um
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dieses nationale Sprachideal zu konservieren. Konzeptionell wird dies anhand der zweiten Version des Plan d’études von 2011 (vgl. MENFP 2011a) ersichtlich. Deskriptoren beschreiben dabei eine spezifische Niveaustufe, eine Sockelkompetenz, die ein Schüler nach einem jeweiligen Grundschulzyklus erreicht haben sollte. Interessanterweise wurden die Kompetenzniveaus in den drei Landessprachen absichtlich ähnlich gehalten, wie der folgende Interviewausschnitt mit einem der Federführer des reformierten Grundschullehrplans (2009 und 2011) bzw. des Grundschulgesetzes veranschaulicht: Als wir den Lehrplan 2011 noch einmal neu auflegen wollten, haben wir eigentlich absichtlich die Sprachniveaus im Luxemburgischen, Französischen und Deutschen ziemlich ähnlich gehalten. Es gab nur Verschiebungen, was den Ausgangspunkt angeht und was den Endpunkt angeht […] einmal sind es Niveaus, die auf einem niedrigeren Niveau rauskommen, dann gibt es Niveaus, die auf einem höheren Niveau rauskommen. (Mitwirkender am reformierten Grundschullehrplan und Grundschulgesetz) Die Niveauunterschiede hinsichtlich des Ausgangs- und Endpunktes werden also auf den bis dato additiven Aufbau des Sprachenunterrichts in der Reihenfolge Luxemburgisch (Zyklus 1), Deutsch (Zyklus 2.1), Französisch (Zyklus 2.2) und dadurch mit der zeitlich versetzten Einführung der Sprachen zurückgeführt. So sollen die Schüler mit einem sprachlichen Mindestniveau von A2.3 im Französischen und B1.1 im Deutschen an die weiterführenden Schulen orientiert werden. Der Unterschied in einem Sprachniveau von A2.3 zu B1.1 ist nicht nur geringfügig, er ist vor allem mit der späteren Einführung des Französischen zu begründen. Schüler haben schließlich ein Jahr weniger Zeit, Französisch in der Grundschule systematisch zu erlernen. Schaut man sich im Lehrplan exemplarisch die Niveaustufen in der Rubrik »Hörverstehen/Gesprächspartner verstehen« für Deutsch und Französisch34 in den nachfolgenden Abbildungen 3 und 4 an, zeigt sich ebenso, dass die Beschreibung je nach Niveau ähnlich ist. Allerdings stellt sich an dieser Stelle die Frage, weshalb die Beschreibungen der einzelnen Sprachstufen nicht durchgängig deckungsgleich sind, wenn man Abbildung 3 und Abbildung 4 miteinander vergleicht. Werden die Sprachniveaus A1.1, A2.2, A2.3 inhaltlich in beiden Sprachen gleich dargestellt, unterscheiden sich die übrigen Sprachniveaus 34
Das Luxemburgische wurde zwar in die Niveaustufen 1 bis 8 eingeteilt, jedoch ohne diese einer Sprachkompetenz A1 bis C2 nach dem GER zuzuweisen (zur Erläuterung dieser curricularen Sonderstellung vgl. das Kap. 2.3: 203ff.).
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A1.2, A1.3, A2.1 – wenn auch nur minimal – in ihren Anforderungen. Kann der Schüler im Französischen auf dem Niveau A1.3 einfache Botschaften über sich selbst und das Leben im Klassenzimmer (z.B. Anweisungen usw.) verstehen, die in einem im Unterricht vorbereiteten Kontext formuliert werden, kann er im Deutschen kurzen Gesprächen über Themen folgen, die ihm vertraut sind, vorausgesetzt, dass langsam und deutlich gesprochen wurde.
Abb. 3: L’alphabétisation et la langue allemande – compréhension de l’oral
(MENFP 2011a: 12f.; eigene Auswahl und Darstellung)
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Abb. 4: La langue française – compréhension de l’oral
(MENFP 2011a: 20f.; eigene Auswahl und Darstellung)
Irritierend ist, dass die Voraussetzungen trotz gleicher Sprachstufe nicht einheitlich formuliert sind, obwohl die Niveaus des GER vorsehen, transponierbar und vergleichbar zu sein. Auffällig ist dabei, dass sich die Voraussetzungen unterscheiden (›langsames und deutliches Sprechen‹ und ›Vorbereitung im Unterrichtskontext‹). Langsames und deutliches Sprechen ist im Hörverstehen Niveau A1.3 im Französischen keine Voraussetzung, im Deutschen dagegen schon. Zu argumentieren wäre an dieser Stelle, dass die nicht einheitliche Formulierung der Sprachstufen zwischen Deutsch und Französisch ein Indiz für die bestehende Inflexibilität des Luxemburger Sprachenunterrichts ist, der
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sich weiterhin an den traditionellen Leitlinien des Luxemburger Lehrprogramms orientiert. Pointiert ausgedrückt: Hinter den gleichen Niveaustufen, die z.T. jedoch unterschiedliche Beschreibungen aufweisen, verbirgt sich ein latenter Denkstil, da sich der Spracherwerbsprozess immer noch nach den Bedingungen einer homogenen Luxemburger Schulpopulation richtete. Das wird überdies dadurch ersichtlich, weil eine Konkretisierung der Handhabe dieser Kompetenzniveaus für die Lehrperson gänzlich fehlt. Was in der Sprachenpolitik grundsätzlich öffentlich propagiert wurde, nämlich eine verstärkte Anpassung an die zunehmende Heterogenität in der Schule, wird nicht genau expliziert. Dies wird beim konkreten Ausarbeitungsprozess evident, da sich die Curriculumentwickler an den bereits existenten Lehrplänen orientierten: Auf einmal war das Gesetz dann im Februar gestimmt. Und wir haben dann festgestellt, dass wir jetzt keinen offiziellen Lehrplan hatten […] Ich habe den alten Lehrplan genommen. Ich habe, was die Arbeitsgruppen bis dahin schon geschafft hatten, also es lagen eigentlich nur Deutsch, Französisch, Mathematik, Wissenschaften, Musik vor. Also die meisten Fächer lagen irgendwie in einer Vorversion vor … und weil in diesen Heftchen eigentlich auch nur die Sockelkompetenzen beschrieben waren als Outcome, gab es 2009 auch nur eine Beschreibung der Sockelkompetenzen, also keine Kompetenzraster eigentlich. (Mitwirkender am reformierten Grundschullehrplan und Grundschulgesetz) Nicht der Sprachenunterricht passte sich den neuen Gegebenheiten an, sondern die Kompetenzorientierung wurde für den existenten Unterrichtsvorgang passend gemacht und versucht, mit den bisherigen Vorgaben in Einklang zu bringen. Die Orientierung an bereits bestehenden und bekannten Richtlinien ist dahingehend als akzeptanzfördernde Maßnahme gegenüber den Reformveränderungen zu werten, die auch bei der Rentrée 2009 mit dem Slogan »Des nouveautés dans la continuité – La continuité dans les nouveautés«35 (LW 15.09.2009) zum Ausdruck gebracht wurde und die gemäß der Tagespresse die Schullage passend beschreibt (vgl. ebd.). Schließlich passt man sich auf schulischem Terrain eher widerwillig den neuen Anforderungen an und verzichtete nur ungern auf Altbewährtes, wie es exemplarisch in einer Programmkommission Deutsch des klassischen Gymnasiums angebracht wird (vgl. ESC-D-4 2007). Der Fokus auf Kontinuitäten wird im Vorwort der
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»Neuerungen in der Kontinuität – Kontinuität in den Neuerungen«.
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ersten herausgegebenen Deutschstandards für die Klassenstufe 6e gleichermaßen aufgegriffen: Vieles von dem, was in den [sic!] Kompetenzsockel jetzt explizit formuliert ist, stellte immer schon eine gängige Unterrichtspraxis dar, so etwa die angestrebten Kompetenzen in den Bereichen Rezeption und Produktion schriftlich. (MENFP 2007: 2) Neben der Beibehaltung von vorhandenen Lehrvorgaben inspirierten sich die Bildungsplaner bei der Ausarbeitung des Plan d’études zudem an bereits outputorientierten Lehrplänen aus anderen mehrsprachigen Gesellschaften, deren Sprachenunterricht flexibilisiert ist. Folgt man der weiteren Argumentation des Interviewpartners, so wird ersichtlich, dass eine Flexibilisierung des Sprachenunterrichts in Luxemburg politisch nicht erwünscht war. Der größte Widerstand ging dabei von Luxemburger Sekundarschulvertretern aus: Und wir wollten eigentlich, wie das auch in Finnland ist […] Finnland ist ja auch mehrsprachig, da gibt es ja auch Schwedisch, Russisch und Sami, Finnisch. Die sind ja auch ein mehrsprachiges Land. Die Schweiz ist auch, aber das ist ja weniger plurilingual, sondern multilingual, weil […] die Sprachen ja trotzdem nebeneinander [stehen] usw. Und wie gesagt, da wollten wir eigentlich auch nicht Deutsch, Französisch und Luxemburgisch über diese Rubriken schreiben, sondern einfach Erstsprache, Zweitsprache, Drittsprache, sodass Schüler eigentlich mit einem romanophonen Background, für die wäre dann Französisch die Erstsprache und Deutsch als Zweitsprache oder Fremdsprache. Für luxemburgische Kinder wäre eigentlich das Luxemburgische Erstsprache, Deutsch Zweitsprache, sodass man flexibel mit diesem Tool umgehen könnte. Da waren aber die Vertreter im Ministerium des Sekundarbereiches strikt dagegen […] Das heißt, die mussten wir uns wieder aus dem Kopf schlagen. SS: Wieso waren die dagegen? Weil das die Tradition ist. Damals gab es ja noch keine internationalen Schulen, also das Schulsystem in Luxemburg ist ja eigentlich ein Schulsystem für das luxemburgische Kind, das typische luxemburgische Kind […] Wenn ich das jetzt etwas grob ausdrücken soll, das ist ja schon seit ich den Lehrplan, den ich noch hatte […] von 1946 war immer trotzdem die deutsche Sprache die erste Sprache. Auch 1843 beim Schulgesetz war Französisch eigentlich schon Pflichtfach. Es wurde aber besonders im umliegenden Land nicht so ernst genommen, weil die luxemburgische Bevölke-
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rung ist ja eigentlich germanophon. Der wallonische Teil liegt ja eigentlich in der belgischen Region. Das heißt die Stadt Luxemburg war natürlich eher frankophil, das umliegende Land war aber eher germanophil und das hat sich besonders in der Grundschule [gezeigt], was ja eine Volksschule ist, die war eigentlich immer vor allem deutschsprachig. (Mitwirkender am reformierten Grundschullehrplan und Grundschulgesetz) Diesem Interviewausschnitt nach zu urteilen sahen die Curriculumplaner ursprünglich einen auf die jeweilige Sprachbiografie der Schüler abgestimmten Lernprozess vor. Damit korreliert freilich auch die Wahl der Unterrichtssprache (Langue véhiculaire), die ähnlich wie in Finnland – einem der erfolgreichsten Teilnehmerländer bei PISA – flexibilisiert werden sollte. Dass dies jedoch vehement abgelehnt wurde, weil es eben nicht zur Luxemburger ›Tradition‹ passe, versinnbildlicht, wie sehr der gleichsprachige Denkstil gemeinsam mit der kohäsiven Sprachenlehre vom Luxemburgischen zum Deutschen und dann zum Französischen im Denkkollektiv der reformformenden Akteure verankert und durch den additiven Sprachlernprozess strukturiert ist. Die ehemalige SEW-Gewerkschaftspräsidentin gesteht dieser Vorstellung auch heute noch eine nicht völlig wegzudenkende Relevanz zu: Die Sekundarschule hat nachher die Grammatik und Literatur [im Französischen] dann seriöser 36 gebraucht, aber die waren trotzdem noch auf der alten Schiene von »Wir lernen das Französische vom Deutschen her.« ((SS: Ja, das ist interessant.)) Man kann nicht sagen, das ist von dannen. (Pensionierte Grundschullehrerin und ehemalige Präsidentin des SEW/OGBL [1996-2010]) Die schulisch inszenierte und seit Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschende Idee, dass Schüler in der Luxemburger Schule Französisch über das Deutsche lernen, an das sie zuvor – damals noch implizit – durch das Luxemburgische herangeführt wurden, ist demnach als eine besonders rigide Form eines sprachlichen Denkstils zu werten, der zugleich voraussetzt, die Sprachen gleich hoch und besonders gut zu beherrschen. Inwieweit die nationale Dreisprachigkeit durch den Kompetenzgedanken bzw. den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und den damit verbundenen Fragestellungen zur Klassifizierung von Erst-, Zweit- oder Fremdsprache neu definiert werden müsse – und was curricular abgelehnt wurde –, wurde folglich
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Gemeint ist der systematischere Gebrauch des Französischen im Vergleich zur Grundschule.
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kontrovers diskutiert. Die Vorstellung, dass Deutsch, Französisch und Luxemburgisch auf einem muttersprachlichen Niveau beherrscht werden sollen, ist schließlich eng mit der Luxemburger Identität verknüpft, wie der Direktor des Luxembourg Centre for Educational Testing und eine Deutschlehrerin und ehemalige Präsidentin der Programmkommission Deutsch des technischen Sekundarschulbereiches weiter ausführen: Das ist direkt politisch ein sehr, sehr heißes Eisen, weil der Europäische Referenzrahmen für Sprachen, ja für Fremdsprachen gebaut wurde. Und ab dem Moment, wo man es z.B. versuchen würde, Französisch oder Deutsch oder wie auch immer in diesem Rahmen zu verorten, wird man automatisch auch anerkennen, dass das Fremdsprachen sind. Und in unserem Identitätsverständnis sind das ja irgendwie alles Erstsprachen. Und das ist eine riesen politische Hürde, die hier aus einer reinen linguistischen und pädagogischen Perspektive keinen Sinn ergibt. (Direktor des Luxembourg Centre for Educational Testing) Ich muss so lachen, weil das war auch KATASTROPHAL, weil hier in Luxemburg unterrichten wir ja keine FREMDsprachen, ja, wir unterrichten ja MUTTERsprache, ich muss lachen, weil es ist ja nicht wahr, aber das war die Diskussion. Das heißt das Ding [der GER] wurde hier niedergeschmettert […] Also nein, hat man absolut nicht akzeptiert. (Ehemalige Präsidentin der Programmkommission Deutsch EST 2010-2016) Die Kategorisierungen in Erst-, Zweit- und Fremdsprache, die curricular aus der Kompetenzlogik resultieren, wurden einem Nivellement vers le bas, d.h. einer Niveausenkung, gleichgesetzt. Nivellement vers le bas37 ist eine Reformkritik, die in Luxemburg zum geschichtlichen Reformdiskurs gehört.38 Im Reformkontext von 2009 wird die befürchtete Niveausenkung insbesondere mit einem differenzierenden Unterricht gleichgesetzt, wie sich bereits anhand einer Stellungnahme des Grundschullehrerverbandes SNE in der parlamentarischen Debatte zu PISA im Jahr 2003 aufzeigen lässt: Eis Schoul versicht (nach ëmmer) sämtlech Auslännerkanner ze intégréieren, och um Niveau vun de Sproochen; vun dohier kënnt noutgedrongen e 37 38
Kodierung Nivellement vers le bas aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt sechs Kodierungen in der Auswertungseinheit. So sind bereits die Reformversuche zur integrierten Gesamtschule in den 1970erJahren von der Sorge einer Niveausenkung begleitet, wie Barbara Rothmüller in ihrer Dissertation beschreibt (vgl. 2017: 117f.).
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gewëssen allgemèngen Nivellement vers le bas; zevill Kanner an eise Schoulen sin des ›élèves à problèmes‹, ganz vill ›des élèves à problèmes de langue‹.39 (CHD 13.02.2003: 73) Sprachliche Integration nicht Luxemburger Schüler führe hiernach zwar automatisch ein Nivellement vers le bas herbei, das jedoch notwendig ist, um den schulischen Erfolg insgesamt zu verbessern. Die Befürchtung der Niveausenkung erkannte die Bildungspolitik gleichwohl an. So könne eine Verbesserung des Unterrichts nur eintreten, wenn auch Lehrer dazu bereit wären, die neuen Lehrmethoden in ihren Unterricht zu integrieren, wie es in einem parlamentarischen Sitzungsprotokoll im Rahmen der anvisierten Reformierung der Unterstufe im Sekundarschulwesen heißt (vgl. P-2009-O-ENFPS-27-01 2011: 6). Dass die Kritik am Nivellement vers le bas besonders aus dem gymnasialen Bereich stammte, merkt auch Delvaux-Stehres rückblickend in Bezug auf die Frage nach dem kohäsiven Sprachenlernen und dem gleichsam ›natürlich‹ inszenierten Übergang vom Luxemburgischen zum Deutschen und dann zum Französischen an: Und dann geht man über zum Französischen. Ja, das ist der traditionelle Weg der luxemburgischen Schule, weil wir von einer ziemlich homogenen Bevölkerung ausgingen, da sprachen alle Luxemburgisch und die lernten dann Deutsch ziemlich einfach und eine Minderheit lernte gut Französisch. Man soll nicht denken, das denke ich, ist die Illusion gewesen, vielleicht nicht mehr heute, weiß ich nicht, aber die der luxemburgischen Lehrerschaft, dass sie sagen, wir bilden perfekt multilinguale Schüler aus und ich war immer der Meinung, dass niemand perfekt, also einige wenige, außerordentliche, aber die brauchen die Schule sowieso nicht, die sind perfekt multilingual […] und unsere Idee war, jeder muss eine Sprache gut beherrschen. Also nicht Luxemburgisch, aber Deutsch oder Französisch und dann die andere Sprache auf einem niedrigeren Niveau. Und das war besonders bei den Sekundarlehrern sehr, sehr umstritten. SS: Wieso?
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»Unsere Schule versucht [noch immer] sämtliche Ausländerkinder zu integrieren, auch auf dem sprachlichen Niveau, wodurch notgedrungen eine gewisse, allgemeine Niveausenkung kommt; in unseren Schulen sind zu viele Kinder ›Problemschüler‹, ganz viele sind ›Schüler mit Sprachproblemen‹.«
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Ja, weil die der Meinung sind, dass man die Perfektion in zwei Sprachen als Luxemburger erreichen kann. (Mady Delvaux-Stehres, Bildungsministerin 20042013) Diese Sprachenperfektion bezieht sich auf die beiden Unterrichtssprachen Deutsch und Französisch, die einem als Luxemburger jedoch nicht per se in die Wiege gelegt, sondern durch die Schule vermittelt wird. Gleichwohl nimmt man dabei die Schüler zum Ausgangspunkt bildungspolitischer Maßnahmen, die zu Hause mit Luxemburgisch aufwachsen. Wie stark die Verweigerung vonseiten der Sekundarschullehrer gegenüber einem flexibilisierten Sprachenunterricht war, geht neben weiteren Aussagen aus den Experteninterviews gleichermaßen aus Zeitdokumenten hervor – insbesondere mit harscher Kritik aus dem klassischen Lyzeumsbereich. So befürchtete die Lehrergewerkschaft Féduse etwa eine ›Zersplitterung‹ des Sprachenunterrichts, insbesondere für den klassischen Gymnasialbereich, wie das Tageblatt ein Treffen zwischen der Unterrichtsministerin und der Gewerkschaft zusammenfasst (vgl. TB 09./10.10.2004). Die ›Zersplitterung‹ bezieht sich auf den bisherigen Sprachenaufbau und so sahen die Gewerkschafter besonders die kohäsive Sprachenpraxis bedroht. Auch die Gewerkschaft SEW warnte vor diesem Hintergrund noch einige Jahre nach der Grundschulreform vor einer Anpassung an den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen, da dieser nicht der sprachlichen Realität gerecht und Deutsch und Französisch als Mutter- oder Zweitsprachen unterrichtet würden (vgl. LW 14.09.2013). Auf Grundlage der Sitzungsprotokolle der Programmkommissionen für das Fach Deutsch wird im Detail deutlich, dass der GER auf schulischem Terrain oft als unklar empfunden (vgl. ESC-D-4 2007) und sein Einsatz regelrecht abgelehnt wurde (vgl. ESC-D-26 2011). So prangerte die PK Deutsch des klassischen Sekundarschulunterrichts an, dass der Referenzrahmen weder der sprachlichen Realität Luxemburgs, dem Sprachenerwerb der Schüler noch dem Deutschunterricht gerecht würde (vgl. ebd.; ESC-D-27 2012; ESCD-32 2013). Zudem wurde die zunehmend sprachliche Heterogenität in Luxemburg konkret dafür genutzt, den GER als inadäquat zu bezeichnen. Es stellte sich nämlich die Frage, ob die Sprachenniveaus in den drei Landessprachen überhaupt einheitlich formuliert werden können aufgrund der stetig wachsenden Sprachdiversität im Land (vgl. ESC-D-26 2011). Dabei kam jedoch nicht infrage, den regulären Deutschunterricht (ALLEM) zugänglicher zu gestalten. Vielmehr wurde eine Herabsetzung des Faches auf ›Deutsch als
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Fremdsprache‹ befürchtet (vgl. ESC-D-7 2007) bzw. für das Classique in Gänze ausgeschlossen (vgl. ESC-D-8 2008).40 Dass der GER auf die Luxemburger Sprachensituation erst angepasst werden müsse, wird auch vonseiten der Bildungspolitik in einer Unterredung zwischen der PK Deutsch des allgemeinen Sekundarschulzweigs und der Bildungsministerin deutlich (vgl. EST-D-11 2009). Hier zeigt sich erneut, dass nicht der Luxemburger Sprachenunterricht als Stellschraube für Veränderungen begriffen wurde, sondern die internationale Bildungsentwicklung nationalisiert wurde. Wenngleich Unterschiede sprachlicher Natur im Reformprozess reflektiert und durch Kompetenzniveaus formal transparent gemacht wurden, kollidierten die Anpassungen mit den Positionierungen zum gleichsprachigen Denkstil. Wagt man etwa am Rande einen Blick in das aktuelle und 2017 reformierte Sekundarschulgesetz, so wird ersichtlich, dass der GER nach anfänglichen Akzeptanzschwierigkeiten seither auch im Sekundarschulbereich Anwendung findet und generell erstmalig im Luxemburger Schulsystem gesetzlich verankert wurde. Zertifizierende Sprachniveaus werden demgemäß auf dem Abiturzeugnis vermerkt. So wird für das Englische ein Niveau B2(+)41 und für das Deutsche und Französische in beiden Sekundarschulzweigen jeweils eine Kompetenz von C1 anvisiert (vgl. Mémorial A789 2017: 17).42 Der Verweis auf den GER hat hierbei eine doppelte Bedeutung, die wiederum augenscheinlich macht, wie bildungspolitische Argumentationslogiken funktionieren, historisch gewachsene Denkstile durch sie zementiert und ein spezifischer Schülertypus stilisiert werden. Zum einen wird durch den Einsatz des GER und seiner gesetzlichen Erwähnung formal anerkannt, dass Deutsch und Französisch Fremdsprachen sind. Zum anderen kennzeichnet der zu erreichende Mindeststandard C1 im Deutschen und Französischen das mindestens zu erreichende Sprachenniveau. Dadurch wird mit der Vorstellung, ein nahezu muttersprachliches Niveau in den beiden Sprachen zu sprechen, 40 41 42
In Kapitel 2.2: 188ff. wird auf die Debatte zur Fremdsprachendidaktik noch genauer eingegangen. B2 im allgemeinen und B2+ im klassischen Sekundarschulbereich. Dagegen zielten die Reformideen der vorherigen Legislaturperiode darauf ab, dass die Schüler der Oberstufe eine sprachliche Schwerpunktsetzung wählen können. Diese Schwerpunktsetzung sollte dann in ein oder zwei Sprachen im Classique erfolgen, bei denen ein C1-Niveau erreicht werden solle, unabhängig davon, ob es sich dabei um Deutsch oder Französisch handle. In den übrigen Sprachen müsse dann mindestens ein B2 erreicht werden. Im Technique sollte der Mindeststandard von B2 in allen Pflichtsprachen (Deutsch, Französisch, Englisch) gelten (vgl. TB 13.05.2011).
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eine für den Luxemburger scheinbar selbstverständliche Gleichsprachigkeit weiterhin aufrechterhalten. Die Festlegung auf ein C1-Niveau ist demgemäß zum einen als sprachenprotektionistische Maßnahme zu werten. Überdies wurde während der curricularen Ausarbeitungen für den Sekundarschulbereich, wie auch schon beim Plan d’études, darauf geachtet, die Bildungsziele in den Fächern Deutsch und Französisch im Enseignement secondaire classique ebenfalls möglichst ähnlich zu halten (vgl. ESC-D-46 2016). Legitimiert wurde dies mit der Aussage, dass so besser Vergleiche in den Sprachkompetenzen gezogen werden können (vgl. ebd.). Zum anderen gibt es aber auch recht pragmatische Gründe, da beispielsweise auch deutsche Universitäten als Zulassungskriterium das Sprachniveau C1 fordern, wie in einer Sitzung der PK Deutsch des allgemeinen, ehemals technischen Sekundarschulzweigs besprochen wurde (vgl. EST-D-19 2011). Sprachliche Differenzierung gilt im Übrigen eher für den allgemeinen Sekundarschulzweig (Enseignement secondaire général) und so kommen dort seit der Sekundarschulreform 2017 Grundkurse (Cours de base) und Leistungskurse (Cours avancé) in den Sprachen zum Einsatz. Das hat zur Folge, dass das klassische Gymnasium weitgehend immer noch sein traditionelles Sprachenprogramm verfolgt und mehr Schüler mit Sprachschwierigkeiten an das allgemeine Lyzeum orientiert werden: Die Antwort auf diese Undurchlässigkeit ist, dass man das Angebot in dem Technique vergrößert hat und dass man alternative Schulen aufgemacht hat. Das ist nicht die beste Lösung. Und das hat dann zur Konsequenz, dass weniger Schüler in den klassischen Lyzeen sind und mehr in den anderen. (Mady Delvaux-Stehres, Bildungsministerin 2004-2013) Wenngleich das Regelschulsystem also implizit weiterhin einem althergebrachten Denkstil folgt, bildeten sich durch die zunehmende Heterogenität gewissermaßen zwei Schulsysteme heraus. Das heißt neben den Regelschulen, die dem nationalen Curriculum folgen, steigt die Anzahl an öffentlich internationalen Schulen, deren Instruktionssprachen entweder Englisch, Deutsch oder Französisch und die als Unterrichtssprachen frei wählbar sind. Auf der curricularen Agenda dieser Schulen steht in der Regel die Festigung von Einzelsprachen, die nicht zwangsläufig mit der institutionellen Dreisprachigkeit des Landes konform sind. Für Fachkräfte aus dem Ausland, vor allem für die sogenannten Expats unter ihnen, die z.B. nur für einen gewissen Zeitraum mit ihren Familien in Luxemburg bleiben, ist dieses Angebot durchaus interessant. Überdies machen die Schüler der internationalen
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Schulen ein Jahr früher Abitur als diejenigen, die eine Regelschule besuchen, und die Bildungsorganisation folgt eher einem Top-down-Prozess, da es in den internationalen Schulen keine derartigen Programmkommissionen wie im Regelschulsystem gibt. Die Luxemburger Tagespresse betitelte diese Entwicklung vor ein paar Jahren als »Lernen in einer Parallelwelt« (LW 12.09.15), da das Curriculum nicht dem nationalen Curriculum folgt. Das zunehmende Öffentlichmachen internationaler Schulen seit 2017 zeigt jedoch auch, dass dieses Schulprofil auch für per se luxemburgischsprachige Schüler attraktiv sein kann, da dieses Schulmodell eine viel größere Flexibilität in Bezug auf die Vehikularsprachen als die Regelschulen bietet. Das Sprachengefüge der Regelschulen und damit insbesondere der des klassischen Sekundarschulzweigs bleibt durch dieses parallele Angebot weitgehend unberührt.43 Aktuell zeigt sich zudem, dass der Staat mehr und mehr internationale Schulmodelle in das Bildungskonzept der Regelschulen übernimmt. Mit dem Reformkontext erfuhren die international ausgerichteten Schulzweige, wie das Bac International, in Luxemburg Auftrieb und so stieg die Zahl der Schüler, die einem internationalen Curriculum folgen, in den vergangenen Jahren kontinuierlich – insbesondere im Enseignement classique (vgl. Lenz/Heinz 2018). Das Schulwesen versucht dadurch verstärkt, einerseits dem individuellen Sprachenrepertoire der Schüler gerecht zu werden und das Sprachenlernen flexibler zu gestalten und andererseits das traditionelle Schulsystem beizubehalten. Die Ausführungen über den Reformtopos zur Sprachflexibilisierung und dem Ideal der Gleichsprachigkeit zeigen, dass es während des Reformprozesses um 2009 ähnlich wie bei dem schulisch definierten Projekt der »Mischkultur« darum ging, einen Kompromiss für verschiedene Sprach- bzw. Gesellschaftsgruppen zu finden. Gleichwohl wurde an dem schulischen und außerschulischen Ideal der Dreisprachigkeit auf einem nahezu muttersprach43
Vgl. hierzu ebenso den folgenden Interviewausschnitt: »Ja, also die erste Reformvorlage [Sekundarschulreform 2017] war ja noch von Frau Ministerin Delvaux, die ist … ich würde sagen, wirklich gescheitert. Vor allem auch, weil sie eine größere Öffnung der Sprachkompetenzen in Erwägung gezogen hat. Und die jetzt, Minister Meisch, der hat zwar auch, das geht auch in die Richtung, aber ich habe das Gefühl, er hat eigentlich das klassische Gymnasium ziemlich ausgespart. Es gibt eine größere Flexibilität in Sprachkenntnissen, erste Sprache, zweite Sprache, aber das bezieht sich meiner Meinung nach hauptsächlich auf das frühere Secondaire technique, also den allgemeinen Sekundarunterricht. Das Classique ist eigentlich das schwerfälligste Glied in dieser Kette« (ehemaliger Parlamentsabgeordneter [Déi Gréng]).
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lichen Niveau festgehalten. Die Vorstellung eines dreisprachigen Sprechers als nationales Ideal wird folglich weiterhin ›curricularisiert‹. Wie das Deutsche, Französische, Luxemburgische und das Englische zueinander verhandelt, ihre Stellung im Unterricht z.T. neu definiert und welchen Argumentationslogiken dabei politisch gefolgt wurde, wird nachfolgend diskutiert. Die Frage nach der Klassifizierung in Erst-, Zweit- oder Fremdsprache ist den Debatten oftmals inhärent. Dabei wird ein Spannungsverhältnis sichtbar, das insbesondere am Beispiel der Unterrichtssprachen Deutsch und Französisch Widersprüche zum gleichsprachigen Denkstil aufzeigt. Sobald es um curriculare Veränderungen geht, wird der traditionelle Sprachenaufbau argumentativ zurechtgelegt und zugunsten und damit auch auf Kosten der einen oder anderen Unterrichtssprache verteidigt.
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Deutsch und Französisch als Unterrichtssprachen
Die Debatten zur Gleichsprachigkeit und der mit ihnen schlaglichtartig beleuchtete ›Maschinenraum‹ der Sprachenpolitik zeigten, dass der kompetenzbasierte Bildungsgedanke an die nationalen Bildungsvorstellungen adaptiert wurde, die sich immer noch sehr stark an einer Schülerschaft orientieren, die zu Hause luxemburgischsprachig aufwächst. Dabei schienen curriculare Aushandlungen mit Blick auf das Deutsche und Französische besonders schwerfällig zu sein. Ganz allgemein fungieren Deutsch und Französisch als Unterrichtsprachen bzw. als Sprachen, über die »[d]er Zugang zum Wissen geschieht« (LW 03.08.2006), wie die ehemalige Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres die sprachlichen Funktionen gegenüber dem Luxemburger Wort beschreibt. Ruft man sich noch einmal die kulturhistorisch geprägten Bewertungen beider Sprachen ins Gedächtnis, so wird ersichtlich, wie fest verwurzelt diese Attribuierungen im sprachlichen Denkkollektiv sind und curricular repetiert werden: die frankophile Haltung dem »Franzosentum« gegenüber und damit verbunden Französisch als Prestigesprache und sprachliche Grundlage, auf welcher das Großherzogtum heute noch sein Rechtssystem gründet. Darüber hinaus gelten Deutsch und Französisch als große Kultursprachen der Nachbarländer, derer sich der Luxemburger nach dem Ideal der ›Mischkultur‹ bedient. Dennoch reflektierten die schulischen Akteure während des Reformprozesses die Stellung des Deutschen und Französischen im Schulunterricht und ihre Passung zur gesellschaftlichen Sprachenrealität. In diesen Debatten sind erhebliche Überschneidungen und Inkongruenzen sprachlicher Denk-
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stile festzumachen, die letztlich dazu führten, dass das modifizierte Curriculum wenig operabel erscheint. Sprachliche Identität und damit Zugehörigkeit wird daher sehr unterschiedlich interpretiert. Deutsch und Französisch werden oftmals zueinander ins Verhältnis gesetzt, wodurch gleichermaßen ein hierarchisiertes Verhältnis zwischen den Sprachen zu identifizieren ist, bei der je nach Kontext die eine oder andere Sprachfertigkeit herausgestellt wird und sich damit ebenso ein gesellschaftliches Statut fortschreiben lässt. Das Deutsche dominiert vor allem in der schriftsprachlichen Domäne und ist traditionell im Schulwesen als Instruktions- und Alphabetisierungssprache verankert. Es wird im ersten Schuljahr (Zyklus 2.1) der École fondamentale eingeführt. Wie es auch heute von offizieller Seite weiterhin heißt, soll die Alphabetisierungssprache als Schmelztiegel dienen, sodass »alle Schüler zusammen vorankommen, ganz gleich was die Muttersprache des Kindes ist« (oIGL 2020). Bildungspolitisch werden dem Deutschen damit eindeutige Funktionen zugeteilt, die sich aus der Historie des Bildungswesens ergeben. Insbesondere die Alphabetisierung ist üblicherweise eine Funktion, die oftmals der Muttersprache zugeschrieben wird, weshalb die Debatte um eine mögliche Zweit- oder Fremdsprachendidaktik in Bezug auf das Deutsche verstärkt kontrovers diskutiert und wahrgenommen wurde als vergleichsweise beim Französischen. Dies erscheint vor dem historischen Hintergrund des Großherzogtums nicht weiter verwunderlich, da Deutsch und Luxemburgisch in ein Verwandtschaftsverhältnis gesetzt und das Luxemburgische als Varietät des Deutschen, als ons Daitsch, zur Zeit des Nationsbildungsprozesses perzipiert wurde. Überdies wird die Nähe zwischen Deutsch und Luxemburgisch von der Bildungspolitik argumentativ für den didaktischen Aufbau des Sprachenunterrichts genutzt. Deutsch tritt im Grundschulbereich (Zyklus 2.1) an die Stelle des Luxemburgischen und übernimmt – zumindest offiziell – die Funktion der Vehikularsprache. Dieser scheinbar fließende Wechsel wird als organischer und damit natürlicher Sprachlernprozess dargestellt. Ab dem ersten Schuljahr ist Deutsch dann bis zum Ende der Grundschulzeit Unterrichtssprache in den Fächern Mathematik, Éveil aux sciences, les Sciences naturelles et humaines und l’Éducation morale et sociale (vgl. RGD A178 11.08.2011: 2990, Art. 4). In den musischen Fächern können die Instruktionen variabel auf Deutsch, Französisch oder Luxemburgisch erfolgen, die schriftlichen Anweisungen sind hier jedoch auf Deutsch expliziert (vgl. ebd.). Französisch wurde bis 2017 systematisch ein Jahr nach dem Deutschen in Zyklus 2.2 eingeführt und auch heute wird schriftliches Französisch erst ab Zyklus 3.1 gelehrt. Das Französische löst das Deutsche dann im postprimären Bereich sukzessiv als
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Vehikularsprache ab. Das Fach Mathematik funktioniert dann ab dem ersten Schuljahr der Sekundarschule, das ist die siebte Klassenstufe (7e), i.d.R. auf Französisch. Der Unterricht der restlichen nichtsprachlichen Fächer wird weiterhin auf Deutsch bis zur zehnten Klassenstufe (4e) abgehalten. Danach bis zur Abiturklasse (1e) wechselt die Vehikularsprache auch in den Nebenfächern auf Französisch. Somit sind nur noch der Deutsch- und Englischunterricht neben möglichen weiteren fakultativen Sprachfächern in der Oberstufe von dem Sprachwechsel ausgenommen. Schaut man sich zunächst die Stellung des Deutschen im schulischen und außerschulischen Kontext genauer an, so wird deutlich, dass diese mit einer gewissen Janusköpfigkeit in Luxemburg verbunden ist. Diese kam besonders im Reformkontext 2009 mit Blick auf das Reformziel, die Bildungschancen zu vergrößern, und der Anpassung an die sprachliche Realität der Schüler und damit auch die Stellung im Vergleich zu den anderen Unterrichtssprachen zum Tragen. Außerhalb der Unterrichtssituation kommt dem Deutschen eher der Status einer »stille[n] Sprache« (Scheer 2017: 74) zu, da es außer mit deutschsprachigen Gesprächspartnern kaum gesprochen wird (vgl. ebd.). Gleichzeitig gibt es zum Deutschen eine gewisse Distanzhaltung und durchaus die Einsicht, dass Luxemburgisch nicht Deutsch ist: Die Situation vom Deutschen ist wieder anders, weil es einerseits die Sprache ist, die uns eigentlich am nächsten liegt und dann ist doch die Distanz da. Und manchmal gibt es sogar Schüler, die sich regelrecht bemühen, schlecht Deutsch zu reden, weil man ja markieren will, dass man nicht Deutsch ist. (Verfasser des Plan d’action des langues) Es gibt so eine Hassliebe zum Deutschen […] Es ist eigentlich ein zwiegespaltenes Verhältnis. Sprachenpolitik erklärt sich auch immer aus dem, was kulturell dahintersteckt. (Mitwirkender am reformierten Grundschullehrplan und Grundschulgesetz) Das ambivalente Verhältnis gegenüber dem Deutschen kann auch anhand konkreter sprachenpolitischer Entscheidungen aufgezeigt werden. Ein entsprechendes sprachenpolitisches Exempel wird in einem parlamentarischen Antwortschreiben von Delvaux-Stehres zur Frage nach der deutschen Rechtschreibreform statuiert: L’allemand n’est pas la langue nationale des luxembourgeois. Il n’appartient donc pas au Gouvernement luxembourgeois de prendre une décision au sujet de
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l’orthographe allemande avant que les pays germanophones, à savoir l’Allemagne, l’Autriche, la Suisse et le Liechtenstein n’aient modifié leur position officielle.44 (R0039 18.08.2004; Hervorh. der Verf.) Da Deutsch nicht die Nationalsprache der Luxemburger ist, sei es auch nicht Bestandteil der nationalen Entscheidungsgewalt, die orthografischen Reformvorschläge für das Deutsche mitzubestimmen, und läge zunächst in der Verantwortung der ›germanophonen Länder‹. Offiziell zählt sich Luxemburg zu den frankophonen Ländern, da es seit dem Jahr 1970 Mitglied der Organisation internationale de la Francophonie (OIF) ist (vgl. Scheer 2017: 253). Nach außen verkörpert Luxemburg damit sozusagen »zwei Luxemburgbilder, die politisch, je nach Kontext, unterschiedlich stark akzentuiert werden: Das Profil des mehrsprachigen Staates und das Profil eines frankophonen Staates« (ebd.: 252), wenngleich seit der letzten Teilung des Großherzogtums 1839 Luxemburg rein territorialgeschichtlich germanophon ist. Politisches und sprachliches Selbstverständnis werden entsprechend zusammengedacht und avancieren zu einem bildungspolitischen Legitimationsverfahren. Ungeachtet dieser außenpolitischen Darstellungen begleitet das Deutsche die Schüler von Beginn an durch ihre Schulkarriere, dominiert dabei vor allem formal den Grundschulbereich und zählt zu den Gelingensfaktoren der schulischen Laufbahn. So entscheiden die Sprachkenntnisse im Deutschen schon früh über den Erfolg in den nichtsprachlichen Fächern, in denen das Deutsche zur Instruktion dient. Laut einer Studie zur Übergangsentscheidung in die Sekundarschule stellt die Sprachkompetenz den ausschlaggebenden Faktor der Schullaufbahnempfehlung dar (vgl. Klapproth et al. 2013: 372). Insbesondere die Schulnoten im Französischen, das im (klassischen) Sekundarschulwesen sukzessiv das Deutsche als Vehikularsprache ablöst, werden als stärkster Prädiktor der Schullaufbahnempfehlung in der Primärschule genannt, dicht gefolgt von den Sprachkompetenzen im Deutschen, die schließlich überwiegend im Grundschulsystem ausgebaut werden und wo Deutsch den größten sprachlichen Anteil hat (vgl. ebd.). Die Problematik dabei ist, dass das Deutsche eine Hürde für die Schullaufbahnempfehlung darstellt und ihm damit zusehends »eine Eliminierungsfunktion« (Verfasser des Plan d’action des langues im Experteninterview) für nicht Luxemburger Kinder in der 44
»Deutsch ist nicht die Nationalsprache der Luxemburger. Es ist daher nicht Sache der luxemburgischen Regierung, eine Entscheidung über die deutsche Rechtschreibung zu treffen, bevor die deutschsprachigen Länder, namentlich Deutschland, Österreich, die Schweiz und Liechtenstein, ihre offizielle Position geändert haben.«
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Grundschule zugeschrieben wird. Französisch wird dagegen als »Selektionsapparat im Lyzeum« (Mady Delvaux-Stehres im Experteninterview) beschrieben, das dort verstärkt gebraucht wird. Ich glaube, das ist wirklich ein Phänomen, dass dieses Deutsche einen Großteil der luxemburgischen Schulpopulation bereits in einem sehr zarten Alter bricht. Einfach weil man immer nur defizitär funktioniert und weil man sich wirklich dann immer nur auf schriftliche Produktion und da auch nur noch wirklich auf die sehr formellen Aspekte konzentriert. Und ich denke, das ist nicht der Sinn von Sprache […]. Und da finde ich, dieser Strukturfetischismus, den irgendwie das Luxemburger System betreut, das ist natürlich bequem, denn das kann man sehr einfach evaluieren, entweder es ist richtig oder es ist falsch. Das ist eine sehr bequeme Sache und das ist, glaube ich, sehr, sehr stark bei uns verankert. Und da denke ich, ist es gut mit den neuen Bilans, die dann auch mit der 2009er-Reform kamen, dass man wirklich diese Sprache in diese vier Dimensionen aufgedröselt hat und irgendwie dann feststellen kann: »O. k., schriftliche Rezeption ganz wunderbar, mündliche Rezeption ganz wunderbar, mündliche Produktion ist auch ganz o. k. und schriftliche Produktion, ja, da passieren dann ein bisschen Fehler, aber eigentlich ist der Text vollkommen verständlich.« Und ich glaube, dass, wenn die deutsche Sprache immer nur das Vehikel von Misserfolg ist, dann lädt das natürlich nicht dazu ein, sie zu benutzen und so weiter und so fort. Das gleiche Phänomen haben wir mit der Luxemburger Schülerschaft, was das Französische angeht […] Wenn wir auf unserem höchsten Gymnasialtrack noch in der Unterstufe systematisch irgendwie einen ganzen Teil der Schülerschaft in den Misserfolg, also ins Redoublement führen, weil sie dann die französische Sprache nicht formell beherrschen. Weil sie irgendwie den Subjonctif plusqueparfait dann da irgendwie falsch machen. Das ist eine Sprache, die kein lebender Franzose noch benutzt. Das ist jetzt selbstverständlich überspitzt, was ich hier sage, aber es ist trotzdem die Realität. (Direktor des Luxembourg Centre for Educational Testing) Dass der Sprachenunterricht in Luxemburg demgemäß eine selektive Rolle habe, sei während den Reformvorbereitungen »allgemein bekannt« (LW 30.10.2006) gewesen, wie es vonseiten der Tagespresse heißt. Zwar entwickelte sich nach den ersten PISA-Ergebnissen ein größeres Bewusstsein für Differenzierung im (Sprachen-)Unterricht, jedoch handelt es sich bei der konkreten curricularen Einbettung bei genauerer Betrachtung eher um »punktuell[e] Interventionen« (Wiltzius 2011: 14). Seit dem Schuljahr 2003/04 kommen z.B. sogenannte ALLET-Klassen (Allemand comme langue étrangère) in klassischen Sekundarschulen parallel zu den regulären Klassen von der 7e bis 5e zum
IV Der Reformkontext von 2009
Einsatz. ›Regulär‹ bedeutet an dieser Stelle freilich, dass Deutsch außerhalb des ALLET-Angebotes nicht als fremdsprachliches Fach unterrichtet wird. Die ALLET-Klassen können Schüler mit sehr guten Französisch- und Mathematikkenntnissen, aber einem unzulänglichen Kompetenzniveau im Deutschen besuchen. Ein entsprechendes Äquivalent für den Französischunterricht war während des Reformprozesses nicht angedacht, würde Französisch im Luxemburger Schulsystem doch grundsätzlich als Fremdsprache unterrichtet werden, wie die Ministerin auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen antwortete (vgl. R1170 08.09.2006). Mittlerweile gibt es jedoch auch konkrete Förderklassen für Französisch, und so werden Schüler mit einer Schwäche im Französischen, aber sehr guten Deutsch- und Mathematikkenntnissen in den Förderklassen Français plus untergebracht. Gleichwohl handelt es sich bei den Förderklassen nicht um ein flächendeckendes Angebot in allen Schulen. Diese einzelnen und auf unterschiedliche Defizite zugeschnittenen Unterstützungsinstrumente verdeutlichen, dass Fördermaßnahmen absolut notwendig sind, stellen jedoch einzelne Schwachstellen exponiert dar und untergraben ein eher dynamisches Gesamtkonzept von Unterricht. Die Klasseneinteilung nach »Defizitgruppen« (Wiltzius 2011: 14), die a priori darauf abzielen, allen Schülern gleiche Lernbedingungen zu ermöglichen, zementiert folglich die ursprünglichen ›Unzulänglichkeiten‹ weiterhin. Dahinter verbirgt sich ein sogenanntes Gleichheitsdilemma45 , das »[darin besteht], dass die Gleichbehandlung von Ungleichen Ungleichheit nicht abbaut, sondern reproduziert oder verstärkt« (Wetterer 2003: 17, zit.n. Wiltzius 2011: 20, Anm. 18). Der basale Aufbau des Sprachenunterrichts bzw. der Wechsel in den Vehikularsprachen wurde dabei jedoch nicht als strukturelle Krux des Luxemburger Schulsystems begriffen, an der die Bildungspolitik curricular hätte ansetzen können. Vielmehr wurde der Status quo des Sprachenunterrichts weiterhin aufrechterhalten und mit einem konkreten Sprachideal in Luxemburg argumentiert. Beispielhaft wird das auch bei einer parlamentarischen Auseinandersetzung zum Thema Baccalauréat International, also einem internationalen Abiturzweig,46 und der Frage nach der Benachteiligung beim Orientie-
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Kodierung ›Gleichheitsdilemma‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt vier Kodierungen in der Auswertungseinheit. Das Baccalauréat International wurde 1968 in Genf ins Leben gerufen (vgl. CHD 13.07.2006: 577, Fernand Diederich [LSAP]) und ist damit zur Hochzeit der internationalen Bildungspolitik organisiert worden. In Luxemburg besteht der Zweig seit 1994
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rungsverfahren sichtbar. Grundlegend soll dafür Sorge getragen werden, dass ausländischen Schülern, die nicht die Luxemburger Primärschule durchliefen, der Zugang zum klassischen Sekundarschulwesen nicht aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse verwehrt bleibt, wie es ein Abgeordneter in einer Parlamentsdebatte erklärt: Den Exposé des motifs hält fest, datt all Joer ongeféier 150 jonk Leit tëschent zwielef a 15 Joer aus alle Länner op Lëtzebuerg kommen an no hiren intellektuelle Fäegkeete wëlle scolariséiert ginn. Wann och eng Rei Moossname geholl si ginn, fir dëse Schüler Studien am Secondaire technique ze erméiglechen, esou hu se meeschtens keen Accès zu de klassesche Secondairesstudien, well se, och wa se a kuerzer Zäit héich Kompetenzen am Franséischen erreecht hunn, déi däitsch Sprooch net um selwechten Niveau beherrsche wéi hir Kolleegen, déi duerch d’Lëtzebuerger Primärschoul gaange sinn.47 (CHD 13.07.2006: 577, Fernand Diederich [LSAP]) Gleichzeitig kommt jedoch die Frage auf, ob das Baccalauréat International auch wirklich für authochtone Luxemburger geeignet sei, weil dort dem Deutschen ein geringerer Stellenwert als im regulären Abitur zuteilwird: Et ass kritiséiert ginn, dass d’Lëtzebuerger och dëse Schoulsystem [das Bac International] kënne maachen. Wa se dat wëllen, solle se dat och maachen. Et muss een awer allerdéngs soen: Den däitsche Programm ass allégéiert; dat gëtt net esou staark gepréift, an do mussen d’Lëtzebuerger sech iwwerleeën, ob se sech domat en Déngscht leeschten, wa se duerch e System ginn, wou Däitsch net esou am Virdergrond steet, well onse méisproochege Sys-
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und wird aktuell in vier Lyzeen angeboten, dem Athénée, in der International School of Luxembourg, der Fräi-ëffentlech Waldorfschoul Lëtzebuerg und dem Lycée Technique du Centre. Die Vehikularsprachen sind entweder Englisch oder Französisch (vgl. IBO 2020). »Das Exposé über die Zielsetzungen hält fest, dass jedes Jahr etwa 150 junge Menschen im Alter von zwölf bis 15 Jahren aus allen Ländern nach Luxemburg kommen und sich nach ihren intellektuellen Fähigkeiten beschulen lassen möchten. Obwohl eine Reihe von Maßnahmen ergriffen werden, um diesen Schülern die Beschulung im technischen Sekundarschulbereich zu ermöglichen, haben sie in der Regel keinen Zugang zum klassischen Sekundarbereich, weil sie, auch wenn sie in kurzer Zeit hohe Kompetenzen im Französischen erreicht haben, die deutsche Sprache nicht auf dem gleichen Niveau wie ihre Schulkameraden beherrschen, die die Luxemburger Grundschule durchlaufen haben.«
IV Der Reformkontext von 2009
tem huet jo awer wierklech Avantagen, och wat déi weiderféierend Studien dono ubelaangt.48 (Ebd.: 578, Marie-Thérèse Gantenbein-Koullen [CSV]) Die Abgeordnete CSV-Politikerin argumentiert hier mit einem sprachlichen Ideal, das voraussetzt, dass das Deutsche im Sprachenrepertoire des Luxemburgers selbstverständlich vorkommt und Bestandteil einer systeminhärenten Mehrsprachigkeit ist. Die Kenntnisse im Deutschen stellen sonach einen unverzichtbaren Bestandteil der Luxemburger Sprachenidentität dar, der nicht durch eine Schwerpunktverlagerung im Sprachenregime verloren gehen darf. Dieser ›doppelte Gestus‹ (vgl. Popkewitz et al. 2017: 9ff.) der Bildungsplanung findet sich symptomatisch in den europäischen und USamerikanischen Reformgeschichten wieder, in denen integrative Versuche, wie zuvor am Beispiel internationaler und sprachlich flexiblerer Sprachprogramme deutlich wurde, gleichsam immer auch exkludierend wirken können. The hope is of making the child as a future and productive citizen who embodies collective values and norms to contribute to the common good. At the same moment, embedded in that gesture are principles about kinds of people that threaten the envisioned future. (Ebd.: 12) Übertragen auf die angeführte parlamentarische Auseinandersetzung zur Reduktion des Deutschen im Bac International, ist mit dem ›doppelten Gestus‹ die Befürchtung verbunden, das traditionelle Sprachengefüge in Luxemburg zu torpedieren. Entsprechend würde nämlich die Vorstellung eines idealisierten mehrsprachigen Schülers ins Wanken gebracht werden. ›Mehrsprachig‹ zu sein, wird auf Grundlage der Diskussion nach den Vehikularsprachen Deutsch und Französisch im Schulsystem definiert. Die Einstellung, dass das Deutsche ein unverzichtbarer Bestandteil des Luxemburger Schulsystems sei, steht jedoch in einem paradoxen Verhältnis zur historisch begründbaren Distanzhaltung gegenüber dieser Sprache. Auf der einen Seite das Deutsche, das eben auch nicht die Nationalsprache der Luxemburger sein kann (vgl. R0039 18.08.2004; S. 190f. des vorliegenden Kap.), 48
»Es wurde kritisiert, dass Luxemburger auch dieses Schulsystem [das Bac International] absolvieren können. Wenn sie es wollen, sollten sie es auch tun. Es muss jedoch gesagt werden, dass das deutsche Programm reduziert ist. Dieses wird nicht so sehr geprüft und hier müssen Luxemburger überlegen, ob sie sich selbst einen Gefallen tun, wenn sie ein System durchlaufen, in dem Deutsch nicht so wichtig ist, weil unser mehrsprachiges System wirklich Vorteile hat, auch was weiterführende Studien betrifft.«
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und auf der anderen Seite das Deutsche, das selbstverständlich zum Sprachengefüge des Luxemburgers gehört und ebenso wie das Französische idealiter auf einem muttersprachlichen Niveau zu beherrschen ist. Obgleich man sich doch einig zu sein scheint, dass beide Sprachen nicht eindeutig als Muttersprachen zu identifizieren sind, besteht Uneinigkeit gegenüber der Frage, ob überhaupt, und wenn, wie Deutsch und Französisch als Zweitsprachen oder Fremdsprachen im regulären Unterricht gelehrt werden sollen. Sowohl retrospektiv auf Basis der Aussagen in den Experteninterviews als auch in den curricularen Rahmendokumenten zur Zeit der Reformausarbeitung 2009 lassen sich dahingehend zahlreiche Widersprüche festmachen. Bezeichnen die einen das Französische und/oder das Deutsche bereits als (gelehrte) Zweit- oder Fremdsprachen des Luxemburger Unterrichtskanons, sprechen andere wiederum vom Deutschen und/oder Französischen als Sprachen, denen definitiv keine Fremdsprachen- oder Zweitsprachendidaktik in der Schule zugrunde liegt. Möchte man vom ›Vetorecht der Quellen‹49 (vgl. Koselleck 1979: 206) Gebrauch machen, so offenbaren sich auch hier keine kohärenten Positionierungen zur Zweit- bzw. Fremdsprachendidaktik. Konkrete Uneindeutigkeiten finden sich etwa im Plan d’action, dem Sprachenprofil des Europarates und den Bildungsstandards für Sprachen, wenn es um die ›Neuausrichtung‹ des Sprachenunterrichts geht. Der Plan d’action befürwortet das Angebot, Deutsch und Englisch als Fremdsprachen zu unterrichten, indem er auf künftige Projekte im Sprachenlernen verweist: »Une étude des compétences en allemand et en anglais langues étrangères sera réalisée auprès d’échantillons représentatifs de la population des bacheliers de la promotion 2008«50 (Berg/Weis 2007: 83; Hervorh. der Verf.). Die in Kooperation mit dem Europarat durchgeführte Evaluation der Sprachenunterrichtspolitik in Luxemburg – womit dann gleichzeitig auch eine gewisse Distanzhaltung durch 49
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»Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. Falsche Daten, falsche Zahlenreihen, falsche Motiverklärungen, falsche Bewußtseinsanalysen: all das und vieles mehr läßt sich durch Quellenkritik aufdecken. Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen« (Koselleck 1979: 206). »Es wird eine Studie über die deutschen und englischen Fremdsprachenkenntnisse bei repräsentativen Stichproben aus der Population der Abiturienten aus dem Jahrgang 2008 durchgeführt.«
IV Der Reformkontext von 2009
den von außen gerichteten Blick auf den Luxemburger Sprachenunterricht besteht – bezeichnet Deutsch und Französisch als ›anspruchsvolle Sprachen‹ sowie als Fremdsprachen, die eines anderen didaktischen Zugangs bedürfen, als es bis dato der Fall gewesen sei (vgl. MENFP/Conseil de l’Europe 2006: 28). Die Bildungsstandards für Sprachen legen sich dagegen nicht auf eine Klassifizierung fest, um so möglicherweise auch sprachpolitischen Diskussionen aus dem Wege zu gehen: Auf Grund der besonderen Sprachensituation in Luxemburg ist es müßig und vergebliche Liebesmüh, die verschiedenen Sprachen mit linguistischen Begriffen wie ›Muttersprache‹, ›Fremdsprache‹, ›Erstsprache‹, ›Zweitsprache‹, ›Herkunftssprache‹, ›Familiensprache‹, ›Begegnungssprache‹, ›Partnersprache‹, ›Umgebungssprache‹ usw. ›einfangen‹ zu wollen. (Kühn 2008: 16) Umso verwunderlicher erscheinen diese Aussagen, wenn man den Entstehungskontext der Dokumente miteinbezieht. Sie bauen aufeinander auf und sind im gleichen Arbeitsprozess zur Neuausrichtung des Sprachenunterrichts entstanden. Dadurch wird ersichtlich, wie konträr die curricularen Vorstellungen sind und wie unterschiedlich die Reformbestrebungen im Allgemeinen ausgelegt wurden. Diese Inkongruenzen führten auf der didaktisch-curricularen Ebene zu Unsicherheiten und evozierten gleichermaßen das Bedürfnis, eine Standortbestimmung der Sprachenfächer vorzunehmen. In einem Sitzungsprotokoll der PK des technischen Sekundarschulbereiches heißt es etwa, dass Deutsch keine Fremdsprache im Schulwesen sei, weil es in mehreren Fächern Vehikularsprache ist (vgl. EST-D-1 2007). Es wird ihm dagegen der Status einer Zweitsprache zugewiesen (vgl. ebd.). Wie bereits in Kapitel 2.1 erläutert, sahen jedoch vor allem die Sekundarschullehrer des klassischen Lyzeums den bisherigen Status quo ihrer Fächer gefährdet. Ein von politischer Seite interessanterweise vorsichtig als ›bemerkenswert‹ (vgl. Q1655 24.03.2007) bezeichneter Leserbrief von Deutschlehrern aus dem Diekircher Lycée classique mit dem Titel Dem Deutsch sein Tod … (2007) wurde vor diesem Hintergrund sowohl parlamentarisch (vgl. ebd.; R1655 23.05.2007) als auch in der Programmkommission Deutsch des klassischen Sekundarschulunterrichts diskutiert (vgl. ESC-D-4 2007). Die Verfasser des Briefes bezeichnen die politisch verordnete Kompetenzausrichtung und didaktischen Neuerungen als »verantwortungslos« (Deutschlehrer des Lycée Classique de Diekirch [17 von 18] 2007) und kritisieren, dass die Ministeriumsmitarbeiter »nicht wie bisher,
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den einheimischen, sondern den Schüler mit Migrationshintergrund, womöglich auch noch den aus bildungsfernem Milieu, zum Maßstab des künftigen Deutschunterrichts machen« (ebd.). Die Sekundarschullehrer positionieren sich gegen eine Fremdsprachendidaktik und damit gegen ein Nivellement vers le bas: »Sollte eines Tages die, noch bestehende, Dreisprachenbarriere fallen, werden die ausländischen Muttersprachler allemal besser sein. Wem dann wohl die Quittung präsentiert wird?« (ebd.). Zudem beklagen sie die beobachtbare unzulängliche Sprachfertigkeit der Abiturienten: Geht es ans Eingemachte, Komplexe, wirkt ihr Deutsch häufig kümmerlich, ihr Französisch ist mitunter kaum noch verständlich. Nun soll diese ohnehin schon bedenkliche Tendenz noch einmal dahingehend verstärkt werden, dass Deutsch, das viele Luxemburger immer noch auf ›muttersprachlichem‹ Niveau beherrschen, zu einer Fremdsprache degradiert wird; es sollen für den Luxemburger die gleichen Bewertungskriterien gelten, die einen freundlichen Südseebewohner schon zum ›deutschsprachigen‹ Neckermann-Reiseführer machen, wenn er ein paar Informationen zu Land und Leuten in einem irgendwie verständlichen Deutsch vermitteln kann. (Ebd.) Die schulisch anvisierte muttersprachliche Kompetenz im Deutschen mit einer Fremdsprachendidaktik scheinbar zu ›schmälern‹, wäre für diese Lehrer offenbar undenkbar gewesen. Von der Programmkommission des klassischen Sekundarschulbereiches wurde die Fremdsprachenfrage über die Fächergrenzen hinaus in Relation zum Französischunterricht verhandelt (vgl. ESC-D-4 2007). Das Sprachengefüge der Luxemburger Schule wurde folglich curricular in ihrem Verhältnis zueinander debattiert. Es stellte sich hierbei die Frage, welcher Status dem Deutschen gegenüber dem Französischen einzuräumen wäre, wenn Französisch als Zweitsprache definiert wird (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund führten die Kommissionsmitglieder die zunehmende Anglisierungsund Romanisierungsbestrebung ministerieller Mitarbeiter an, mit der eine Funktionsminderung des Deutschen als Vehikularsprache in den Nebenfächern befürchtet wurde (vgl. ebd.; ESC-D-10 2008). Dieser anhand der Sitzungsprotokolle der PK Deutsch ESC exemplifizierte und sehr auf das Unterrichtsfach bezogene Denkstil zeigt, wie schwierig eine Neupositionierung der Mehrsprachigkeit insgesamt war und an der Unbeweglichkeit der einzelnen Fachorganisationen zu scheitern drohte. Eine ähnliche Haltung gegenüber einer Flexibilisierung des Sprachenunterrichts wird ebenso der ›Lobby‹ der Französischlehrer attestiert:
IV Der Reformkontext von 2009
Das ist eigentlich immer ein Nachhutgefecht, eine Anpassung an die neue Schulpopulation und dann die Trägheit des Systems, die hauptsächlich dann auch durch die Lehrerlobbys, besonders durch die Lobby der Französisch-Gymnasiallehrer ging. Das sind eigentlich die, die sich am meisten zu Wort melden, aber bei den anderen findet man dieselbe Trägheit auch wieder. Das heißt also, wir haben das Luxemburger Bildungssystem, was sich nicht wirklich bewegt[.] (Reformbegleitender Soziologe) Dieser als lethargisch wahrgenommene Schulapparat,51 der sich durch einzelne Bildungsakteure, wie der in diesem Ankerbeispiel angeführten Französischlehrer, verfestigt, kann historisch begründet werden. Der Status des Französischen als Prestigesprache sollte nicht durch den Fokus auf den Gebrauchswert von Sprache, kurzum die Kompetenzorientierung, gefährdet werden. Dies spiegelt ebenso eine Debatte zur Reduktion der Französischstunden wider. Nach den PISA-Ergebnissen von 2006 regte das Bildungsministerium an, die Französischstunden im Sekundarschulwesen zugunsten der Naturwissenschaften zu kürzen. Die Französischfachvertreter der Organisation APFL reagierten hierauf mit vehementer Ablehnung und warfen der Bildungspolitik eine inkonsequente Haltung vor (vgl. VdL 21.02.2008). Ferner wähnte auch die Fachorganisation des Deutschunterrichts (ESC) sprachliche Einbußen im Curriculum. Zwar nicht mit Blick auf die naturwissenschaftlichen Fächer, jedoch gegenüber dem Französischen und dem Englischen, denen im außerschulischen Kontext immer mehr Bedeutung beigemessen wird. Französisch wird in erster Linie als Lingua franca auf dem Luxemburger Arbeitsmarkt52 empfunden, zumal die meisten Einpendler aus französischsprachigen Gebieten kommen, d.h. Frankreich bzw. der belgischen Wallonie (vgl. IBA 2019: 18; Stand 2017). So gesehen gibt es auch regionale Sprachdifferenzen, wird im Süden und Zentrum des Landes doch eher Französisch gesprochen (vgl. Fehlen/Heinz 2016: 141). Zwar wird die Stellung der französischen Sprache im außerschulischen Bereich als immer bedeutsamer dargestellt, strukturelle Veränderungen im Curriculum, wie durch ein französisches Alphabetisierungsangebot, werden jedoch eher abgelehnt: 51 52
Kodierung ›lethargischer Schulapparat‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt 18 Kodierungen in der Auswertungseinheit. Kodierung Relevanzzuweisung Französisch als ›Sprache des Arbeitsmarktes‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt fünf Kodierungen in der Auswertungseinheit.
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Das liegt an den Arbeitnehmern, die hier sind. Das heißt, wir haben sehr viele Franzosen und Belgier, die hier arbeiten. Wir haben auch eine gewisse, ja wie soll man das nennen … »Frankophilie«, die man hier feststellt. Unsere Gesetze wurden früher auf Deutsch geschrieben, die werden jetzt in französischer Sprache verfasst. Unser Staat funktioniert Französisch, unser Gerichtswesen funktioniert Französisch. Sie brauchen sich nur umzuschauen, auf den Schildern überall, beim Bäcker überall müssen Sie Französisch reden, und das ist, ja wie soll man sagen, die Perversion. Der Luxemburger fühlt sich normalerweise in der deutschen Sprache wohler, wählt eben auch Französisch ab, weil es irgendwie eine Hürde darstellt, muss aber als zukünftiger Arbeitnehmer in Luxemburg eigentlich der französischen Sprache mächtiger sein als der deutschen. Und insofern könnte man von einer Alphabetisierung in der französischen Sprache reden, aber wenn ich mir jetzt einen kleinen Luxemburger anschaue von sieben oder acht Jahren, der Luxemburgisch zu Hause redet und der müsste jetzt einmal ab dem achten Lebensalter in der Schule Französisch reden, das wird sehr, sehr schwierig. Der wird letzten Endes sehr wenig verstehen. (Schuldirektor des klassischen Lyzeums Athénée de Luxembourg) Das von dem Schuldirektor hervorgehobene ›pervertierte‹ Verhältnis zu Deutsch und Französisch verdeutlicht, dass es erstens auch nach der Reform noch eine Kluft zwischen curricularem Paradigma und gesellschaftlicher Realität gibt und sich durch diesen Zwiespalt zweitens sprachliche Regimes bzw. Sprachpräferenzen schulisch niederschlagen. Obwohl Französisch mittlerweile eher der sprachlichen Realität zu entsprechen scheint, sahen die Interviewpartner eine Alphabetisierung auf Französisch kritisch. Die Vertreter der Demokratischen Partei, »die Hautevolée der luxemburgischen Bourgeoisie« (Mitwirkender am reformierten Grundschullehrplan und Grundschulgesetz im Experteninterview), die traditionell eine eher frankophile Haltung haben (vgl. ebd.) und im Regierungsprogramm eine Stärkung der französischen Alphabetisierung anvisierten, entschieden sich letztlich doch dagegen: Es gibt die Diskussion immer wieder im Land. Ich weiß, dass meine Partei das einmal auch über mehrere Wahlkämpfe hindurch gefordert hat, die französische Alphabetisierung stand auch im letzten Regierungsprogramm. Wir haben es dann trotzdem nicht genau so gemacht, weil ich auch festgestellt habe, alleine eine französische Alphabetisierung macht nicht mehr Sinn für ein Kind, das jetzt zum Beispiel portugiesischsprachig zu Hause aufwächst … das geht dann vielleicht in die Kindertagesstätte, mit etwas Glück hört es da Französisch, vielleicht auch Luxemburgisch, geht in Cycle 1 in die Spielschule, hört nur Luxemburgisch und soll dann auf Fran-
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zösisch, was in der Regel wiederum, aber trotzdem eine komplett fremde Sprache für das Kind ist, alphabetisiert werden. Da macht es nicht mehr Sinn, denke ich, auf Französisch zu alphabetisieren als auf Luxemburgisch. (Claude Meisch, Bildungsminister seit 2013) Eine Alphabetisierung auf Französisch trage sonach nicht zu einer größeren Chancengleichheit für portugiesische Kinder bei, wie der amtierende Bildungsminister erläutert. Hinter seiner Erklärung verbergen sich zwei wichtige Argumentationslogiken: Zum einen wird anerkannt, dass ›frankophon‹ grundsätzlich nicht mit ›lusophon‹ gleichzusetzen ist und die portugiesischen Kinder nicht automatisch einen Vorteil durch eine Alphabetisierung auf Französisch hätten. Gleichermaßen tritt aber auch der versteckte Denkstil in Erscheinung, bei dem sich die Sprachplanung weiterhin am Luxemburger Schüler orientiert, der jedoch nicht mehr in der Mehrheit im Schulwesen vertreten ist. Das wurde ebenso in weiteren Experteninterviews deutlich: Ja, Alphabetisierung auf Französisch für luxemburgische Kinder wahrscheinlich nicht, weil es auch schwierig ist[.] (Französischlehrerin an einem Lycée classique, Präsidentin der Programmkommission Französisch ESC 2008-2011) Die Alphabetisierung auf Französisch, würde ich sagen, die wäre sehr schwierig. Erstens, weil wir keine Tradition darin haben. Zweitens, weil es viel schwieriger ist, auf Französisch zu alphabetisieren, und drittens würde ich sagen, es fehlt auch die Kompetenz der Lehrkräfte, das müsste man dann jetzt erst ausbilden, denn ich glaube, dass es etwas ganz anderes ist. Ich habe mich einmal damit befasst und ich finde, dass es etwas ganz anderes ist, auf Französisch zu alphabetisieren […] das ist ein ganz, ganz anderes Vorgehen und das müsste man aber wirklich dann seriös didaktisch aufbereiten und ja … und da ist dann auch wieder die Frage, wenn man auf Französisch alphabetisiert, sind da nicht viele Luxemburger, die sagen würden, jetzt habe ich noch keinen Wortschatz ((lacht)) also da würde man auch bestimmt anecken. Und wenn man die beiden Möglichkeiten anbietet, dann führt man die Kinder nie mehr zusammen, also das wird, weil das dann auch oft sozial unterschiedliche Gruppen sind und man muss ja auch sagen, die Portugiesen sind auch keine Franzosen, das heißt, für die wäre das auch nicht SO einfach[.] (Pensionierte Grundschullehrerin und ehemalige Präsidentin des SEW/OGBL [1996-2010]) Was die Alphabetisierung auf Französisch anbelangt, erscheint eine Anpassung der Sprachenunterrichtspolitik an die zunehmend französischsprachige Bevölkerung besonders schwerfällig zu sein. Gleichwohl wird dem Fran-
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zösischen der exponierte Status einer ›Bildungssprache‹53 zugesprochen, gegenüber der die Fehlertoleranz traditionell eher gering ist. Großer Wert wird beim Schulfranzösisch schließlich auf formalsprachliche Aspekte gelegt. Die daraus resultierende Form der Sprachverwendung wird curricular konserviert und unterscheidet sich so gesehen vom tatsächlichen, außerschulischen Gebrauch: Beim Französischen ist inzwischen das Problem, dass die luxemburgischen Kinder sehr viele Schwierigkeiten damit haben, weil es eine Sprache ist, die schwierig zu erlernen ist und wo sie eigentlich keine gute Praxis haben. Man spricht Französisch dauernd in Luxemburg, aber man spricht es im Restaurant, man spricht es in den Geschäften, aber das ist nicht unbedingt das Französisch, was wir in einem klassischen Gymnasium gebrauchen. (Französischlehrerin an einem Lycée classique, Präsidentin der Programmkommission Französisch ESC 2008-2011) Das Schulfranzösisch wirkt dadurch artifiziell und entspricht nicht der sprachlichen Realität. Zudem wurde während des Reformkontextes verstärkt die abnehmende Sprachkompetenz im Französischen bemängelt, obwohl die meisten Schulstunden für das Französische veranschlagt werden, inklusive der nichtsprachlichen Fächer, die auf Französisch unterrichtet werden (vgl. LW 24.04.2012). Revisionsbedarf wurde zu diesem Zeitpunkt vor allem bei den französischsprachigen Schulbüchern geäußert, deren Qualität zu wünschen übrigließe und die z.T. veraltet seien und weiterhin auf dem Lehrplan stehen (vgl. ebd.). Abschließend ist anzumerken, dass sowohl das Deutsche als auch das Französische in dem untersuchten Reformkontext als sprachliche Hürden anerkannt wurden. Die kulturhistorisch geprägten Zuschreibungen der beiden Sprachen sind jedoch so stark im sprachplanerischen Denkkollektiv verankert, dass der Sprachenunterricht curricular nicht durchlässiger wurde. Ferner ist festzustellen, dass die gesellschaftliche Sprachenrealität nicht mehr der curricularen Aufmachung der beiden Fächer entspricht und ein sprachliches Idealbild konserviert wird, das sich noch immer aus dem Schulgesetz von 1912 speist. Strukturänderungen bedrohten diese Idealbilder, weshalb eine grundlegende Neudefinierung der beiden Sprachen für den schulischen Kontext nicht umsetzbar erschien. Als bildungspolitisches Ablenkungsmanö-
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Kodierung Relevanzzuweisung Französisch als ›Bildungssprache‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt drei Kodierungen in der Auswertungseinheit.
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ver ist vor diesem Hintergrund ebenso die Promotion des Luxemburgischen zu betrachten, die nachfolgend untersucht wird.
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Luxemburgisch als ›Integrationssprache‹? A [dialect] is a [language] with an army and a navy. Max Weinreich, zit.n. Maxwell 2018: 26454
Die Umstrukturierung des Curriculums und die Orientierung an internationalen Bildungsentwicklungen waren u.a. mit der Frage verbunden, welche Stellung dem Luxemburgischen im schulischen Bereich zukommen sollte. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden drei für den Reformkontext bezeichnende Zuschreibungen für das Luxemburgische adressiert: ›Integrationssprache, ›Kommunikationssprache‹ und ›Sprungbrett zum deutschen Spracherwerb‹. Diese drei Sprachattribute geben Aufschluss darüber, wie das sprachplanerische Denkkollektiv in Bezug auf das Luxemburgische funktioniert und wie ein damit korrelierender Denkstil plausibilisiert wird. Durch die Klassifizierung in unterschiedliche Sprachniveaus nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen wurden das Verhältnis von Deutsch, Französisch und Luxemburgisch und distinkte Sprachhierarchien im Zuge der Reform 2009 curricular für das Regelschulsystem sichtbar gemacht. Die für Luxemburg bezeichnende kohäsive Sprachenunterrichtspolitik wurde dementsprechend vor neue Herausforderungen gestellt. Dem Luxemburgischen drohte durch die curriculare Neuordnung und Einteilung in Kompetenzbereiche eine eher untergeordnete Rolle zuzukommen, da es in erster Linie mündlich vermittelt und während der Schullaufbahn vom Deutschen als Schrift- und Instruktionssprache abgelöst wird. Historisch gesehen fristet das Luxemburgische schon seit dessen Aufnahme in den Fächerkanon 1912 eher ein Randdasein: So kommt es hauptsächlich im Vorschulbereich zum Einsatz und wird heute in der Primärschule und in der ersten Unterstufenklasse (7e) des klassischen Sekundarschulbereiches mit einer Unterrichtsstunde pro Woche unterrichtet. In der 7e des technischen Sekundar-
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Im Original heißt es »a language is a dialect with an army and a navy« und bezieht sich darauf, dass eine Sprache und ein Dialekt sich nur durch ihren soziopolitischen Zusammenhang voneinander unterscheiden, der einen Dialekt zur Sprache macht.
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schulbereiches wird das Luxemburgische innerhalb des Deutschunterrichts behandelt. Eine – zumindest symbolisch betrachtet – stärkere curriculare Stellung erhielt das Luxemburgische, nachdem es 1984 als Nationalsprache gesetzlich verankert wurde. Eine bewusste didaktische Förderung ist damit jedoch nicht gemeint, was in Anbetracht des Lehrplans von 1989, der bis zur Reform 2009 gültig war, deutlich wird: In dem 1989er-Plan d’études heißt es etwa, dass das Luxemburgische gemäß der Sprachengesetzgebung den Platz »an eise Schoulen […] kréien, dei et verdengt«55 (MEN 1989: 19), ohne jedoch die Schüler zu überfordern (vgl. ebd.). »Spill a Spaass«56 stehen vielmehr im Vordergrund und keinesfalls soll »[d]uerch d’ Schreiwe vum Lëtzebuergesche […] d’Kand […] strapazéiiert gin«57 (ebd.). Neben der Tatsache, dass das Luxemburgische auch konzeptionell dadurch abgebildet ist, weil dieser Teil des Lehrplans auf Luxemburgisch selbst verfasst ist,58 weist die Vorgängerversion des Grundschullehrplans von 2009 Luxemburgisch explizit als »Mammesprooch« (ebd.), also ›Muttersprache‹ aus. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass es sich beim Luxemburgischen um ein ontologisch intrinsisches Sprachvermögen handelt, das jedoch keine zusätzliche Hürde für Zuwandererkinder darstellen darf und den Voraussetzungen des Klassenverbandes Rechnung tragen muss (vgl. ebd.). Im Reformkontext von 2009 wurde die Position des Luxemburgischen im Curriculum bildungspolitisch neu verhandelt,59 wenn auch z.T. eher implizit durch das gesamte Sprachengefüge der Luxemburger Schule. Bereits vor der Verabschiedung des Primärschulgesetzes 2009 gab es in der Legislaturperiode unter Anne Brasseur (1999-2004) Überlegungen dazu, welche Funktion
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»in unseren Schulen […] erhält, den es verdient«. »Spiel und Spaß«. Keinesfalls »soll durch das Schreiben vom Luxemburgischen […] das Kind […] überfordert werden«. Anders ist dies im Übrigen bei den reformierten Versionen des Plan d’études von 2009 und 2011, die einheitlich auf Französisch verfasst sind. Auch im außerschulischen Bereich wird stets eine Aufwertung des Luxemburgischen anvisiert. So gibt es immer wieder die Diskussion, ob Luxemburgisch in die Verfassung aufgenommen werden solle. Als Hauptakteur ist hier die Actioun Lëtzebuergesch anzuführen, eine Vereinigung, die sich für die Förderung der luxemburgischen Sprache im Großherzogtum einsetzt und die u.a. während des Reformprozesses eine entsprechende Verfassungsänderung forderte, diese sich jedoch nicht umsetzen ließ.
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dem Luxemburgischen in Zeiten von vermehrten Migrationsbewegungen und angesichts ökonomischer Interessen zukommt.60 Unter der Bildungspolitik von Delvaux-Stehres wurde die Bezeichnung ›Muttersprache‹ dann schließlich curricular zur ›Integrationssprache‹ (vgl. Kühn 2008: 13; 16) für alle in Luxemburg Lebenden umetikettiert, gleichsam als ›gemeinsamer sprachlicher Nenner‹61 , der soziale Kohäsion erzeugen soll. Neben der Funktion ›Integrationssprache‹ wird das Luxemburgische zudem verstärkt als ›Kommunikationssprache‹ ausgewiesen. Wie es in einem vom Luxemburger Wort herausgegebenen Presseartikel im Télécran aus dem Jahr 2004 mit dem Titel »Integrationssprache Luxemburgisch. Raus aus dem Abseits« (Télécran 14.02.2004) heißt, »mutierte Luxemburgisch [in den 1990er-Jahren] vom einfachen Schulfach – seit 1912 im Lehrplan verankert – zur Kommunikations- und Integrationssprache« (ebd.; Hervorh. der Verf.). Fraglich ist bei dieser Aussage, wie substanziell die Zuschreibung »Kommunikationssprache« ist – so könnte angenommen werden, dass sich zuvor nicht auf Luxemburgisch verständigt wurde. Auch in öffentlichen Stellungsnahmen zur sprachlichen Unterrichtsorganisation zur Zeit der Reformvorbereitungen taucht die Bezeichnung »Kommunikationssprache« vonseiten der Bildungspolitik vermehrt auf, wie etwa in dem jährlichen Frühjahrsrundschreiben (Lettre circulaire de printemps) des Unterrichtsministeriums
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Die Förderung des Luxemburgischen zählte u.a. zu den Kernthemen der Bildungspolitik von Anne Brasseur, besonders im Schuljahr 2001/02, wie es in der Tagespresse heißt (vgl. TB 07./08.05.2005). Im außerschulischen Bereich gab es ebenso während des Reformkontextes Entwicklungen, die die Förderung des Luxemburgischen betreffen. So wurde etwa im Mai 2009 in einer internen Verordnung der Chambre des Députés festgehalten, dass es eine Professur für Luxemburgistik geben solle. Zugleich öffnete 2009 das Institut national des langues (INL) seine Pforten und bietet Sprachkurse im Bereich der Erwachsenenbildung an. Zudem wurde der universitäre Studiengang Master en langue et littératures luxembourgeoises ins Leben gerufen. Das Bildungsministerium schuf vor diesem Hintergrund speziell Stellen für Lehrer, die luxemburgische Sprache und Literatur unterrichten. Die Voraussetzung hierfür ist, dass die Absolventen einen Masterabschluss in Luxemburgistik haben (vgl. R2019 28.03.2012: 2). Das Stage absolvierten die Lehramtsanwärter jedoch zu diesem Zeitpunkt am INL, werden aber ebenso an Lyzeen unterrichten, dort jedoch nur in Schulklassen mit Schülern, für die Luxemburgisch eine Fremdsprache ist (vgl. ebd.). Kodierung Relevanzzuweisung Luxemburgisch als ›gemeinsamer sprachlicher Nenner‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt neun Kodierungen in der Auswertungseinheit.
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(vgl. MENFP 2002: 9). In den Experteninterviews zeigt sich interessanterweise, dass die Zuschreibung »Kommunikationssprache« des Öfteren dann gebraucht wird, wenn zugleich über die Rolle von Deutsch und Französisch in der Schule gesprochen oder wenn die Funktion des Luxemburgischen ergänzend legitimiert wird: SS: Also das Luxemburgische hat jetzt abgesehen davon, dass nicht auf Luxemburgisch alphabetisiert wird, ein relativ geringes Stundenkontingent, vor allem im Sekundarschulwesen. Richtig. Aber das Luxemburgische wird trotzdem gebraucht. Es wird, auch wenn es jetzt nicht in den Stundenzahlen steht, trotzdem als Kommunikations- und Integrationssprache benutzt … in der Schule. (Grundschullehrer und Gewerkschaftsvorsitzender des SNE) Zu Beginn der Legislaturperiode Juncker-Asselborn II verwendet ebenso die neue Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres im Lettre circulaire de printemps die Bezeichnung »Kommunikationssprache«, stellt jedoch die integrative Funktionszuschreibung stärker heraus. So soll das Luxemburgische vor allem als ›Kommunikationssprache‹ zwischen Luxemburger und nicht Luxemburger Kindern dienen (vgl. MENFP 2005: 15). Luxemburgisch solle nachdrücklich in der Éducation précoce gefördert werden und als Sozialisierungsinstrument für Kinder unterschiedlicher Herkunft dienen (vgl. ebd.). Auf dieser sprachlichen Basis werden dann Deutsch und Französisch gelernt. In einem Gesetzesentwurf zum reformierten Primärschulgesetz äußerte die Handwerkskammer (Chambre de Métiers) Bedenken in Hinsicht auf die Eigenschaft des Luxemburgischen als Integrationssprache. Angesichts einer zunehmenden diversifizierten Gesellschaftsstruktur fragt sie, ob »der Zug nicht schon längst abgefahren sei« (Pdl 579(15) 2009: 12). Betonte der Staatsrat (Conseil d’État) gemeinsam mit der Handwerkskammer laut Luxemburger Wort ein Jahr vor Veröffentlichung des Gesetzesentwurfes noch die Integrationsfunktion des Luxemburgischen, die stärker in den Fokus rücken müsse (vgl. LW 20.05.2008), stellt er im Projet de loi das Luxemburgische als sprachliches Verbindungsglied infrage und fordert eine gezieltere Einwanderungspolitik (vgl. Pdl 579(15) 2009: 14). Zudem weist der Staatsrat auf den ambivalenten Status der Mehrsprachigkeit hin, die die Bildungspolitik einerseits als unbestreitbaren Vorteil und andererseits als Hürde darzustellen vermag (vgl. ebd.).
IV Der Reformkontext von 2009
Vor der Reformumsetzung wurde die Stellung des Luxemburgischen parlamentarisch unter den Abgeordneten diskutiert. So kritisierte etwa ein ehemaliges Parteimitglied der ADR in einer parlamentarischen Anfrage ebenfalls den geringen Stellenwert, den das Luxemburgische im Plan d’études von 1989 erhält. Er fordert eine gezieltere Sprachenpolitik angesichts der Überarbeitung des Curriculums. Solange im Curriculum nicht vorgesehen wird, Luxemburgisch als Schriftsprache im Unterricht einzuführen, sei das Luxemburgische gegenüber dem Deutschen und dem Französischen benachteiligt (vgl. Q1677 05.04.2007: 1). Der Abgeordnete betont hierbei die unpräzise Zuschreibung, die die Bildungspolitik gegenüber dem Luxemburgischen macht. Schließlich müsse es zur Nationalsprache einen gleichberechtigten Zugang wie zum Deutschen und Französischen geben. Das Luxemburgische könne als ›wirkliches‹ (vgl. ebd.: 2) Integrationsinstrument nur dann dienen, wenn Schüler auch lernen, Luxemburgisch zu schreiben: Seit Joren gëtt vun der Opwertung vun eiser Mammesprooch als Integratiounsinstrument geschwaat. Doofir misst de Grondsteen schon bei alle Kanner an der Primärschoul geluet gin […] Et geet drëm fir eis Mammesprooch als Kulturgut iwwer all Kanner hei am Land ze erhalen. Fir d’Lëtzebuerger Sprooch richteg kennen ze léieren, gehéeiert och derzou se schreiwen ze kënnen.62 (Ebd.: 1) Delvaux-Stehres entgegnet in ihrem Antwortschreiben, dass dem Luxemburgischen primär die Funktion einer ›gesprochenen Sprache‹ zuteilwird und bereits in der frühkindlichen Erziehung gefördert werden müsse (vgl. R1677 14.05.2007). Luxemburgisch schreiben zu lernen, trage auch nicht zu einer besseren Integration bei und stelle für Schüler eher eine Herausforderung dar: Déi schwieregst Kompetenz am Lëtzebuergeschen ass d’Schreiwen, dréit kaum eppes zu enger Verbesserung vun der Integratioun bäi. Ech denken net drun ze verlaangen dass all Kand elo och nach eng zousatzlech Belaaschtung operluegt kritt. Dat géif nëmmen op Käschte vun deenen zwou
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»Seit Jahren wird von der Aufwertung unserer Muttersprache als Integrationsinstrument gesprochen. Dafür muss der Grundstein schon bei sämtlichen Kindern in der Primärschule gelegt werden […] Es geht darum, unsere Muttersprache als Kulturgut für alle Kinder im Land zu erhalten. Um die Luxemburger Sprache richtig lernen zu können, gehört es auch dazu, sie schreiben zu können.«
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anere Sprooche méiglech sinn a wier sozial an ekonomesch net ze verantwerten a géif eise Kanner e ganz schlechten Déngscht leeschten. Et ass och aus deem Grond, wou de Léierplang op d’obligatorescht Schreiwe léiere vum Lëtzebuergesche verzicht an dat och esou bleiwe waert.63 (Ebd.) Die Ministerin argumentiert folglich umgekehrt als der Antragsteller. Eine curriculare Schwerpunktsetzung in der Lese- und Schreibkompetenz im Luxemburgischen würde keineswegs zu einer gelungenen Integration beitragen und darüber hinaus zur Folge haben, dass Deutsch und Französisch im Fächerkanon benachteiligt würden. Vonseiten der Bildungspolitik sei dies ökonomisch und sozial nicht zu verantworten. Im Plan d’action des langues wird der geringe Stellenwert des Luxemburgischen überdies mit Verweis auf einen kulturhistorischen Impetus begründet, weil Luxemburgisch schließlich noch lange als Dialekt wahrgenommen wurde und damit vorrangig zur mündlichen Kommunikation diente und folglich weniger ›angemessen‹ für den schulischen und akademischen Kontext sei (vgl. Berg/Weis 2005: 76). Auch ein Jahrzehnt nach der Verabschiedung des Primärschulgesetzes von 2009 reagierten die meisten Interviewpartner auf die Frage hin, ob denn auf Luxemburgisch alphabetisiert werden solle, überwiegend zurückhaltend und skeptisch. So wird befürchtet, dass Luxemburgisch als Alphabetisierungssprache nicht ausreiche, da es eher eine mündliche Sprache, eben eine Sprache der reinen Kommunikation sei (Grundschullehrer und Gewerkschaftsvorsitzender des SNE) und man sich zugleich der anderen beiden Sprachen »behelfen« müsse (Französischlehrerin an einem Lycée classique, Präsidentin der Programmkommission Französisch ESC 2008-2011), da »wir [mit Luxemburgisch] irgendwann an unsere Grenzen stoßen« (ehemaliger Parlamentsabgeordneter [Déi Gréng]). Ähnlich wie in dem parlamentarischen Antwortschreiben von 2007 wird überdies eine Bedrohung der kohäsiven Sprachenpolitik
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»Die schwierigste Kompetenz im Luxemburgischen ist das Schreiben, die kaum etwas zu einer Verbesserung der Integration beiträgt. Ich halte es nicht für notwendig, den Kindern eine zusätzliche Belastung aufzuerlegen. Dies wäre nur auf Kosten der beiden anderen Sprachen möglich und wäre sozial und wirtschaftlich nicht zu verantworten und würde unseren Kindern einen sehr schlechten Dienst erweisen. Aus diesem Grund wird auch der Lehrplan auf das obligatorische Schreiben vom Luxemburgischen verzichten und das wird auch weiterhin so bleiben.«
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befürchtet, was zugleich auf eine sprachliche Klandestinenhierarchie64 hindeutet: Also, wenn wir die Alphabetisierung auf Luxemburgisch machen würden, glaube ich, dann können wir das Deutsche vergessen, dann werden wir kein Deutsch machen. (Pensionierte Grundschullehrerin und ehemalige Präsidentin des SEW/OGBL [1996-2010]) Ich weiß nicht, ob einfach so ein ›Hauruckwechsel‹ auf eine, also was die, … ich habe das Gefühl, dass die Alphabetisierung auf Luxemburgisch mehr Schaden als Gewinn macht. (Verfasser des Plan d’action des langues) Zudem böte die Alphabetisierung auf Luxemburgisch keinen wirklichen »Mehrwert« (Direktor des SCRIPT) und [e]ine Alphabetisierung auf Luxemburgisch ((Pause)) Luxemburgisch ist eine relativ schwere Sprache beim Schreiben durch verschiedene Umstände und da kann man sich natürlich fragen, was soll das? (Kommissar für luxemburgische Sprache) Wir [Parteimitglieder Déi Gréng] waren nie so richtig begeistert, weil wir das Gefühl hatten, dass wir uns nicht ärmer machen sollten, als wir es sind. Wenn wir uns die ganze Medienwelt angucken und wir gucken Filme und Bücher und dann sehen wir doch, dass wir da aber auf etwas Kleineres zurückgreifen müssten und das Problem wäre ja auch nicht an sich gelöst […] wir haben das nicht als Gewinn angesehen. (Ehemaliger Parlamentsabgeordneter [Déi Gréng]) Zwei Interviewpartner bewerten eine Alphabetisierung auf Luxemburgisch als positiv, vor allem vor dem Hintergrund, wenn Luxemburgisch tatsächlich als Unterrichts- und Integrationssprache dienen soll: Wenn man Luxemburgisch wirklich als Integrationssprache der Luxemburger Gesellschaft ernst nimmt, wie es der Diskurs der Politiker vorgibt, dann muss man es auch als Sprache unterrichten, aber das Luxemburger Schulsystem ist noch immer so aufgebaut, als ob Luxemburgisch nicht als Unterrichtssprache taugen würde. (Reformbegleitender Soziologe)
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In-vivo-Code ›Klandestinenhierarchie‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt 21 Kodierungen in der Auswertungseinheit.
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Obschon dem Luxemburgischen mit dem Attribut ›Integration‹ ein hoher sozialer Stellenwert zugeschrieben wird, erhält es keinen gesonderten Platz im Curriculum. Für Schüler nicht Luxemburger Herkunft kann dies zu Schwierigkeiten führen, wie das folgende Ankerbeispiel zeigt: Und wenn ich auch meine Meinung sagen dürfte, ich wäre sowieso dafür, dass man jetzt irgendwann überlegen sollte, ob man nicht die Kinder auf Luxemburgisch alphabetisieren sollte […] ausländische Kinder haben Schwierigkeiten, zwischen dem Deutschen und dem Luxemburgischen zu unterscheiden. Und die Eltern gehen eigentlich oft davon aus, dass die Kinder in der Schule Luxemburgisch lernen. Die fallen aus allen Wolken, wenn wir sagen: »Nein, das ist Deutsch.« Und dann fragen die Eltern immer: »Warum müssen die Kinder in den luxemburgischen Schulen Deutsch lernen? Wir sprechen doch Luxemburgisch hier.« (Mitwirkender am reformierten Grundschullehrplan und Grundschulgesetz) Aufgrund der hohen Anzahl an Schülern mit portugiesischer Herkunft sollte zudem das Portugiesische im Luxemburger Bildungswesen vermehrt eingesetzt und durch dementsprechend ausgebildete Fachkräfte vermittelt werden. Dieses Vorhaben wurde auch von Verantwortlichen der portugiesischen Bildungspolitik begrüßt, wie es auch in einem Schreiben an die Bildungsministerin aufgegriffen wird (vgl. Q0887 13.09.2010). In dieser Anfrage, erneut vonseiten eines ADR-Deputierten, wurde die Integration der portugiesischen Sprache in den Luxemburger Schulunterricht vor dem Hintergrund diskutiert, ob nicht die Integration aller Schüler – und damit nicht nur derjenigen portugiesischer Herkunft – über die luxemburgische Sprache erfolgen solle (vgl. ebd.). Luxemburgisch müsse dann jedoch systematisch als Unterrichtssprache unterrichtet werden (vgl. ebd.). In ihrem Antwortschreiben erläutert die Ministerin, weshalb es »zu einfach [sei] zu glauben, dass ›der beste Weg, die Integration der portugiesischen Gemeinschaft zu fördern, darin besteht, die luxemburgische Sprache systematisch zu unterrichten‹« (R0887 29.09.2010: 3)65 und damit bezieht sich DelvauxStehres konkret auf den Lautwort des ADR-Fragestellers. Eine Integration in den Luxemburger Lebensalltag setze vor allem voraus, dass Französisch ausreichend beherrscht wird, zeigen doch Studien über den Sprachge-
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»Il est trop simple de penser que ›la meilleure façon pour favoriser l’intégration de la communauté portugaise est l’enseignement systématique de la langue luxembourgeoise‹« (R0887 29.09.2010 : 3).
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brauch66 , dass dies die am häufigsten gebrauchte Sprache in der beruflichen und persönlichen Kommunikation sei (vgl. ebd.).67 Gleichwohl ist Luxemburgisch für die mündliche Kommunikation von großer Bedeutung (vgl. ebd.). Die ehemalige Bildungsministerin betont zudem, dass die sprachliche Integration für Schüler mit portugiesischem Hintergrund dennoch vom Zeitpunkt des Eintritts in das Luxemburger Schulsystem abhängig sei. Besuchen sie bereits den Luxemburger Vorschulbereich, lernen sie genauso wie ihre Luxemburger Klassenkameraden die drei Landessprachen (vgl. ebd.). Anders sei dies jedoch, wenn sie in einem höheren Alter ins Land kommen und direkt die Sekundarschule besuchen. Diese Schüler besuchen dann im technischen Sekundarunterricht Aufnahme- und Integrationsklassen. Wenn sie in Portugal kein Französisch, sondern Englisch lernten, werden sie in den Aufnahmeklassen zunächst im Französischen unterrichtet und profitieren gleichzeitig von einem Konversationskurs auf Luxemburgisch (vgl. ebd.). Aus dem Antwortschreiben geht demnach hervor, dass Integration über das Luxemburgische nicht für alle Altersgruppen gleich funktioniere und mit Blick auf ökonomische Interessen andere Sprachen von Vorteil wären und entsprechend gefördert werden müssten. Da die parlamentarische Debatte aus dem Jahr 2010 stammt, d.h. bereits nach Umsetzung der Primärschulreform, wird deutlich, dass Luxemburgisch als ›Integrationssprache‹ lediglich für den Vorschulbereich definiert wurde und danach keine größere Rolle im Curriculum spielt. Dies wurde zu diesem Zeitpunkt politisch auch nicht weiterverfolgt. In eine ähnliche Richtung geht die Anfrage Q0823 desselben ADR-Deputierten im August 2010 (vgl. Q0823 04.08.2010). Darin fragt er die Bildungsministerin, weshalb in der Grundschule Fragebögen auf Deutsch,
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Auf welche Studien sich die Ministerin bezieht, geht aus dem Antwortschreiben nicht hervor. An dieser Stelle ist anzumerken, dass es auch in der außeruniversitären Erwachsenenbildung zur gleichen Zeit die Diskussion gab, inwieweit das Luxemburgische als Integrationssprache auf dem Arbeitsmarkt funktioniert. Ein CSV-Abgeordneter merkte in seiner schriftlichen Anfrage an die ehemalige Bildungsministerin Mady DelvauxStehres und die damalige Familienministerin Marie-Josée Jacobs an, dass dem Luxemburgischen eine größere Bedeutung zuteilwerde und sowohl für ausländische Einwohner als auch für Arbeitnehmer aus der Großregion zur besseren Integration beitragen würde (vgl. Q0988 05.11.2010: 1). Die Anfrage nach Sprachkursen auf Luxemburgisch wachse daher und so stellt sich die Frage, welches Angebot es auf staatlicher und privater Ebene gibt, um den Bedarf an Luxemburgischkursen zu decken (vgl. ebd.).
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Französisch und Portugiesisch ausgeteilt werden, nicht aber auf Luxemburgisch, obwohl die luxemburgische Sprache doch ›die einzige nationale Sprache des Landes sei‹. Daraufhin entgegnet die Ministerin: Il importe aussi d’appliquer correctement les dispositions de la loi du 24 février 1984 sur le régime des langues. Le luxembourgeois est la langue nationale des Luxembourgeois, non pas celle du Grand-Duché de Luxembourg.68 (R0823 16.08.2010: 3) Ihre Schulpolitik legitimiert die Ministerin auch hier wieder damit, dass das Luxemburgische in erster Linie mündlich vermittelt wird und die Mehrheit der Luxemburger eher widerwillig auf Luxemburgisch verfasste Texte lesen und es bevorzugen, diese auf Deutsch oder Französisch zu lesen (vgl. ebd.: 2). Auf Grundlage der Dokumentenanalyse und des empirischen Materials lassen sich zudem weitere Kausalzusammenhänge beobachten, die das curriculare Nischendasein des Luxemburgischen, aber auch seine Bedeutung in der tatsächlichen Unterrichtsrealität thematisieren. In der vom Europarat durchgeführten Analyse zur Sprachensituation in Luxemburg wird die Funktion des Luxemburgischen als Vehikularsprache in der Vorschule adressiert (vgl. MENFP/Conseil de l’Europe 2006: 16) und wie diese zum Garanten einer gelungenen Integration wird (vgl. ebd.: 12). Im Grundschulbereich wird Luxemburgisch dann auf eine Wochenstunde reduziert, kann jedoch weiterhin als Vehikularsprache in den musischen und sportlichen Fächern dienen (vgl. ebd.: 16). Die Experten stellen zudem fest, dass, obwohl Deutsch die offizielle Instruktionssprache in den übrigen Fächern ist, dennoch oft auf das Luxemburgische zurückgegriffen wird (vgl. ebd.). Auch in den Gesprächen mit einigen Interviewpartnern wurde deutlich, dass dem Luxemburgischen im Verhältnis zu Deutsch und Französisch die Bedeutung eines ›informellen Hilfsvehikels‹69 im Unterricht beigemessen wird: Wenn es schwierig wird, dann switchen natürlich auch die Lehrer schnell einmal ins Luxemburgische um, um eine zweite Erklärung nachzuschieben. Da hat das Luxemburgische wieder diese Bedeutung des, ja, da wird es noch einmal umgangssprachlich, sage ich einmal neu erklärt, wenn es auf Deutsch nicht geklappt hat. 68
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»Es ist auch wichtig, die Bestimmungen der Sprachengesetzgebung vom 24. Februar 1984 korrekt anzuwenden. Das Luxemburgische ist die Nationalsprache der Luxemburger, nicht die des Großherzogtums Luxemburg.« Kodierung ›informelles Hilfsvehikel‹ aus dem Kodiersystem der Experteninterviews. Insgesamt zwölf Kodierungen in der Auswertungseinheit.
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Aber es macht ja auch den Charme des Landes aus, dass diese pragmatische Herangehensweise an die Sprache vorhanden ist. (Ehemaliger Beigeordneter Direktor des SCRIPT) Das Luxemburgische wird daher zur informellen Vehikularsprache und in diesem Moment gleichsam tatsächlich zur Integrationssprache, und das in allen Schulzweigen. Im Klassenzimmer wird oftmals auf Luxemburgisch umgeschaltet, insbesondere in den nichtsprachlichen Fächern, um Sachverhalte genauer zu erklären. Dies kann besonders dann passieren, wenn Schüler Schwierigkeiten haben, dem Unterricht zu folgen: Was aber manchmal geschieht, dass die Kinder oder die Jugendlichen dann wirklich irgendwie nicht mitkommen, dann auf Luxemburgisch nachfragen […] im Prinzip wird der Kurs in der Umgangssprache70 abgehalten. (Französischlehrerin an einem Lycée classique, Präsidentin der Programmkommission Französisch ESC 2008-2011) Dieser gleichsam ›natürliche‹ Rückgriff auf das Luxemburgische wurde jedoch nicht immer toleriert. So galt es beispielsweise verstärkt in der Legislaturperiode 1999 bis 2004, d.h. vor der Primärschulreform, dass die Vehikularsprachen Deutsch und Französisch einzuhalten sind und das Luxemburgische lediglich als ›Kommunikationssprache‹ außerhalb des Unterrichts zwischen Lehrern und Schülern dient (vgl. MENFP 2002: 9). Das Luxemburgische solle dennoch vermehrt und strukturiert – ohne damit eine konkrete didaktische Vorgehensweise zu benennen – im Vorschulcurriculum eingebunden und zudem parallel laufende Stützkurse (Cours d’appui) angeboten werden (vgl. ebd.: 16). Das implizite Verbot, Luxemburgisch im Unterricht zu sprechen, ist ein Relikt aus einer Zeit, in der das Luxemburgische noch nicht als autonome Sprache wahrgenommen wurde (vgl. Fehlen 2010: 294). Fehlen bezeichnet die Luxemburger Sprachenpolitik sogar als ›fehlschlagend‹ (vgl. ebd.), da sie nicht die historischen Entwicklungen der Sprachen berücksichtigt und das Luxemburgische weiterhin ›wildwüchsig‹ im Unterricht zum Einsatz kommt (vgl. ebd.). Während der darauffolgenden Legislaturperiode, 2004 bis 2009, näherte sich die Bildungspolitik curricular der schulischen Realität an, indem der partielle Gebrauch des Luxemburgischen im Unterricht offiziell zugelassen
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›Umgangssprache‹ bezieht sich an dieser Stelle auf die Verwendung des Luxemburgischen als nicht offizielle Instruktionssprache im Französischunterricht.
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wird. So verabschiedete das Unterrichtsministerium im Jahr 2010 eine ministerielle Anordnung, die die flexiblere Handhabe der Vehikularsprachen im Luxemburger Schulwesen betrifft (vgl. MENFP 2010b).71 Dieses Dokument entstand im Dialog zwischen Bildungsministerium und einzelnen Vertretern des Sekundarschulwesens, was ausdrücklich darin hervorgehoben wird (vgl. ebd.: 1). Die Instruction ministerielle ist jedoch von einigen Widersprüchen durchzogen. Im bemerkenswerten Gegensatz zur parlamentarischen Antwort R0823 vom 16.08.2010 – in der die Ministerin noch zwischen Luxemburgisch als Sprache der Luxemburger und nicht als Sprache des Luxemburger Landes unterschied – stellt Delvaux-Stehres in der einen Monat später herausgegebenen ministeriellen Anordnung das Luxemburgische als gemeinsame Kommunikationssprache aller in Luxemburg lebender Bürger heraus. Das gesellschaftliche Miteinander, insbesondere angesichts der zunehmenden Immigration, wird so gesehen über Luxemburgisch sichergestellt (vgl. ebd.: 2). Das Luxemburgische wird zum natürlichen sprachlichen Nenner subsumiert. Begründet wird dies damit, dass mehrsprachige Schüler außerhalb des Unterrichts völlig selbstverständlich ins Luxemburgische wechseln, sobald sie miteinander kommunizieren.72 Die Verwendung des Luxemburgischen fördere zudem den Zusammenhalt des Klassenverbandes (vgl. ebd.: 3). Verfügt ein Schüler nicht über ausreichende Luxemburgischkenntnisse, sollen Lehrpersonal und Mitschüler beim Erwerb der Sprachkompetenz behilflich sein, um ein vollwertiges Mitglied der Luxemburger Gesellschaft ausbilden zu können.73 Dem Luxemburgischen wird hier von der Bildungspolitik erneut eine soziale Bindegliedfunktion zugeschrieben, d.h., es wird als eine ›Vermittlungssprache‹ für Schüler angesehen, die Schwierigkeiten haben, dem Unterricht in der Vehikularsprache zu folgen, bzw. als ›sprachliche
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An dieser Stelle möchte ich mich bei Fernand Fehlen für den Hinweis zu diesem Dokument bedanken. »On observe couramment que les enfants qui parlent une ou deux autres langues avec leurs proches passent naturellement au luxembourgeois, dès qu’ils retrouvent leurs copains de classe« (MENFP 2010b: 2). »Dans certaines situations au sein de l’école, surtout dans les classes où il y a un nombre élevé de jeunes issus de l’immigration qui ne maîtrisent pas suffisamment le luxembourgeois, le professeur et les camarades de classes les aident à acquérir les compétences et l’aisance qui leur permettront de devenir un membre à part entière de la société luxembourgeoise« (MENFP 2010b: 2).
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Erleichterung‹, um bestimmte Sachverhalte genauer ›auszuleuchten‹.74 Für bestimmte Berufszweige, die zwar hier nicht namentlich genannt werden, sind Sprachkenntnisse des Luxemburgischen ebenso elementar (vgl. ebd.: 3). Die Verwendung des Deutschen und Französischen als ›Sprachen der Schule‹ (vgl. ebd.) sollen dennoch weitgehend eingehalten werden, zumal die Schüler dadurch ihren Platz in der Gesellschaft finden und durch sich aufgrund ihrer sprachlichen Mobilität für einen Studienplatz im Ausland entscheiden können (vgl. ebd.: 1). In der ministeriellen Anordnung wird die Alphabetisierung auf Deutsch und der sukzessive Wechsel ins Französische als kulturhistorisch gewachsen begründet (vgl. ebd.). Dieses Sprachenprinzip in der Schule und die daraus hervorgehende sprachliche Mobilität der Schulabgänger bewährten sich einerseits mit Blick auf einen beruflichen Werdegang im Ausland, andererseits auch innergesellschaftlich (vgl. ebd.). Dass die Verwendung des Luxemburgischen jedoch weiterhin einen informellen Charakter im Luxemburger Schulwesens hat, wird in der Anordnung dennoch explizit herausgestellt: Le recours explicite et raisonne au luxembourgeois, doit cependant se limiter à des situations exceptionnelles, clairement délimitées et justifiées, ou l’enseignant répond à une demande des élèves ou à un besoin ponctuel. Une fois cette intervention terminée, l’enseignant veillera à ce que les éléments essentiels de la thématique expliquée en luxembourgeois soient repris et explicites par lui-même et par les élèves dans la langue véhiculaire.75 (Ebd.: 5; Hervorh. der Verf.) Das Luxemburgische bleibt hiernach ein ›sprachlicher Ausnahmefall‹, der eindeutig vom restlichen Unterrichtsgeschehen abgetrennt bleiben soll. Überdies sind Textbücher und Prüfungsmodalitäten weiterhin in der jeweiligen Instruktionssprache verfasst, weshalb es sich bei der Flexibilisierung der Vehikularsprachen eher um eine Scheinlockerung handelt. In diesem Zusam74
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»Comme langue de médiation«; »Comme moyen de communication faciliteur«; »Comme coup de projecteur«; »Comme langue de communications entre les élèves« (MENFP 2010b: 8f.). »Der ausdrückliche und begründete Gebrauch von Luxemburgisch muss sich jedoch auf Ausnahmesituationen beschränken, die klar abgegrenzt und begründet sind, wenn der Lehrer auf eine Anfrage der Schüler oder auf einen bestimmten Bedarf reagiert. Nach Abschluss dieser Intervention stellt der Lehrer sicher, dass die wesentlichen Elemente des auf Luxemburgisch erklärten Themas von ihm selbst und von den Schülern in der Vehikularsprache aufgegriffen und explizit gemacht werden.«
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menhang ist demnach rhetorisch auch nicht von einem systematischen Gebrauch die Rede, sondern lediglich von einem Rückgriff (Recours) auf das Luxemburgische. Darin offenbart sich eine spezifische Sprachenhierarchie, die überdies kognitiv begründet wird. So stellen Deutsch und Französisch die Sprachen dar, in denen Schüler ihr Wissen generieren und Kompetenzen entwickeln (vgl. ebd.). Der Kompetenzgedanke wird dem Luxemburgischen dadurch abgesprochen. Zudem verhindere der konsequente Gebrauch des Luxemburgischen die Fähigkeit, einen einheitlichen Sprachgebrauch in den Vehikularsprachen zu entwickeln (vgl. ebd.: 6). In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass dem Luxemburgischen seit der 2009er-Reform explizit eine »Sprungbrettfunktion« (MENJE 2016a: 3; vgl. auch Freiberg et al. 2007: 198) in Hinsicht auf den deutschen Spracherwerb unterstellt wird. Damit ist gemeint, dass aufgrund der sprachlichen Verwandtschaft der beiden Sprachen das Luxemburgische als Brücke zum Deutschen funktionieren solle, wenngleich es hierfür jedoch keine wissenschaftlich gesicherten Befunde gibt. Im nationalen Bildungsbericht von 2018 wird der Mythos vom automatischen Transfer vom Luxemburgischen zum Deutschen sogar widerlegt (vgl. Hoffmann et al.: 2018). Auf Basis einer ÉpStan-Stichprobe der Grundschulzyklen 2.1 und 3.1 konnte für den geprüften Kompetenzbereich Hörverständnis kein linearer Entwicklungsverlauf vom Luxemburgischen zum Deutschen festgestellt werden (vgl. ebd.: 88). Dennoch handelt es sich bei der Annahme, dass das Luxemburgische beim Erlernen des Deutschen als Stütze dient, um ein bildungspolitisches Narrativ, das auch curricular dargestellt wird. Im technischen Sekundarschulbereich wird dies am Beispiel des Faches ALLUX (Allemand et Luxembourgeois)76 in den unteren Klassen des technischen Sekundarschulzweigs deutlich, bei dem der Luxemburgischunterricht innerhalb des Faches Deutsch integriert ist.77 Deutsch und Luxemburgisch werden hiernach formal zusammengedacht. Der 2009 ausgearbeitete Rahmenlehrplan für ALLUX gibt vor, dass im Unterricht luxemburgische Texte behandelt werden, wie etwa aus
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Seit der Sekundarschulreform 2017 und der Aufteilung in Cours de base und Cours avancé heißt das Fach nicht mehr ALLUX, sondern wurde im Zuge der Reform in der 8. und 9. Klasse offiziell in ›ALL-CA‹ und ›ALL-CB‹ aufgeteilt. Die Schüler werden am Ende der 7. Klasse (ALLEM) aufgrund ihres Notendurchschnittes jeweils in diese Klassen orientiert. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Fächer Luxemburgisch und Deutsch im klassischen Sekundarschulbereich getrennt sind.
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der Pflichtlektüre Lies de bal, die Fortsetzung des Buches Lies a fléi aus der Grundschule (vgl. MENFP 2009a). Seit 2014 gibt es in dem Rahmenlehrplan außerdem den Zusatz, dass mindestens zwei Texte aus Lies de bal pro Semester im Fach ALLUX behandelt werden sollen (vgl. ebd.). In einer Sitzung der Programmkommission des technischen Sekundarschulzweiges für das Fach Deutsch wurde zudem Unmut darüber geäußert, dass es inkohärente Vorgaben bzgl. des Luxemburgischen gibt und das Stundenkontingent des Deutschen nicht aufgrund des Luxemburgischen verringert werden darf (vgl. EST-D-26 2014). Es geht ferner weniger darum, Luxemburgisch als Sprache zu lernen, als um die Einbindung luxemburgischer Autoren und Texte (vgl. EST-D-27 2014). Zudem wird eine sprachliche Überforderung der Schüler durch das Luxemburgische befürchtet (vgl. EST-D-26 2014). Anhand dieser Diskussionen und dem begrenzten Lehrstoff im Luxemburgischen zeigt sich, dass Luxemburgisch vordergründig im Curriculum enthalten ist, jedoch einen geringen Stellenwert hat. Bis auf die Einbindung luxemburgischer Texte im Deutschunterricht wird die Stellung des Luxemburgischen in den Sitzungsprotokollen der Programmkommissionen des Faches Deutsch ESC und ESG wenig thematisiert. Es macht sich sogar die Tendenz bemerkbar, das curriculare Randdasein des Luxemburgischen zu befeuern, sodass es keinen größeren Stellenwert innerhalb des Deutschunterrichts erhält. So hat das Luxemburgische z.B. keinen Einfluss auf die Bewertung im Fach Deutsch (vgl. EST-D-29 2015). Erst am Ende der 9e sollen dann gesondert Luxemburgischkenntnisse geprüft werden (vgl. EST-D-27 2014). In diesem Zusammenhang war überdies angedacht, Sockelkompetenzen für Sprechen und Hörverstehen von Luxemburgischlehrern und dem INL ausarbeiten zu lassen, jedoch wurde dezidiert betont, dass die Kenntnisse im Luxemburgischen nicht versetzungsrelevant seien (vgl. ebd.). Des Weiteren wird im Grundschullehrplan der augenscheinliche Transfer zwischen dem Luxemburgischen und dem Deutschen nicht didaktisch unterfüttert. Anhand der zwei Versionen des Plan d’études von 2009 und 2011 wird ersichtlich, dass die erste Version von 2009 noch keine Sprachniveaus gemäß dem Kompetenzraster des GER aufweist. Um die sogenannte Brückenfunktion vom Luxemburgischen zum Deutschen transparent zu gestalten und den Lernfortschritt der Schüler zu messen, wäre dies jedoch von Vorteil, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Luxemburgisch für die Mehrheit der Schüler nicht die Erstsprache ist. Das Sprachenprofil wies auch schon vor der Ausarbeitung des Lehrplans darauf hin, dass die Klassifizierung in Sprachniveaus
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insbesondere für das Luxemburgische wichtig ist, um letztlich als Integrationssprache zu funktionieren (vgl. MENFP/Conseil de l’Europe 2006: 30). Die zweite Version des Plan d’études wurde in Kompetenzraster angelegt, wenngleich für das Luxemburgische entgegen dem Deutschen und dem Französischen keine Sprachniveaus nach dem GER festgelegt wurden. Dies hängt ebenso mit der historischen Entwicklung und dem Verhältnis zwischen dem Deutschen und dem Luxemburgischen zusammen. So wird curricular davon ausgegangen, dass Deutsch auf dem Luxemburgischen aufbaut und es einen scheinbar nahtlosen Übergang gibt. Zwischen den beiden Sprachen wird demnach keine Unterscheidung getroffen und Luxemburgisch, das in erster Linie mündlich vermittelt wird, wird in Zyklus 2.1 vom Deutschen verdrängt. Dieser nahtlose Übergang im Schulsystem vom Luxemburgischen ins Deutsche wird kulturhistorisch begründet: Luxemburgisch ist nicht gleich Deutsch. Historisch ist man da absolut einverstanden, aber paradoxerweise, wenn es um Bildung geht, sagt man, das ist die perfekte Brücke zu Deutsch. Das vielleicht mal infrage zu stellen, ist schon mal ein No-Go. Und dann auch vielleicht zu sagen, wir führen Französisch vielleicht ein bisschen später ein oder als Fremdsprache, das geht auch wieder von der Identität her nicht. (Direktor des Luxembourg Centre for Educational Testing) Das identitätsprägende Moment zeigt sich ebenso in der aktuellen Bildungspolitik. So wurde im Jahr 2017 festgelegt, dass Französisch nicht mehr erst in Zyklus 2.2 der Grundschule, also wenn die Kinder etwa sieben Jahre alt sind, sondern dass sie bereits früher im Alter zwischen drei und fünf ›spielerisch‹ (vgl. LW 12.07.2017) an das Französische herangeführt werden. In diesem Zusammenhang steht mitunter die Frage im Raum, ob es nicht auch sinnvoll sein könnte, das Deutsche bereits im Vorschulbereich einzuführen, sodass dadurch möglichst vielen Schülern ähnliche Voraussetzungen angesichts des späteren Schriftsprachenerwerbs ermöglicht werden. Auf die Frage, ob es je angedacht war, das Deutsche ebenfalls im Vorschulbereich einzuführen, antwortete der amtierende Bildungsminister im Experteninterview: Das ist eine berechtigte Frage. Wir sind bisher immer davon ausgegangen, dass es ausreichend ist, genügend Luxemburgischkenntnisse zu haben, um auf Deutsch alphabetisiert zu werden. Und deshalb haben wir einzig und allein auf die Vermittlung der luxemburgischen Sprache gesetzt … Ich denke, dass das wissenschaftlich auch noch einmal analysiert werden muss, denn das war so ein bisschen so ein Bauchgefühl auch. (Claude Meisch, Bildungsminister seit 2013)
IV Der Reformkontext von 2009
Dieses ›Bauchgefühl‹, mit dem in Luxemburg Curriculumenwicklung betrieben wurde, veranschaulicht, wie das sprachliche Denkkollektiv funktioniert und wie sprachliche und damit auch nationale Identität curricular festgeschrieben wird. Auch wenn dem Luxemburgischen eine integrative Funktion zugesprochen wird, zeigt sich angesichts der konkreten Anwendung im schulischen Kontext, wie ambivalent dieser Status ist. Neben dem geringen Stundenkontingent und der Tatsache, dass Luxemburgisch im Verlauf der Schulzeit keine offizielle Vehikularsprache ist, wird deutlich, dass das Luxemburgische sukzessiv einen extracurricularen Status erhält. Wenngleich das Luxemburgische im Sinne der kohäsiven Sprachenpolitik als sprachlicher Ausgangspunkt festgemacht wird, wie das nachfolgende Zitat aus dem Protokoll einer Sitzung der Abgeordnetenkammer nach Inkrafttreten der Grundschulreform zeigt, wird das Luxemburgische im Sinne eines Null Curriculum in der Definition der schulischen Mehrsprachigkeit ausgelassen: Au sein de l’École, le multilinguisme (allemand, français, anglais) constitue aussi une force et doit le rester. Or, aujourd’hui, il est devenu pour nombre de jeunes un obstacle à la qualification ou aux études. L’environnement linguistique a changé. Au cycle 1 de l’École fondamentale, plus de 60 % des enfants ne parlent pas le luxembourgeois comme première langue à la maison[.]78 (P-2011-O-ENFPS-06-01 2011: 16) Dergleichen wurde vereinzelt in den Experteninterviews auf den informellen Status des Luxemburgischen im schulischen Kontext gegenüber den beiden Schulsprachen Deutsch und Französisch hingewiesen. Integration über das Luxemburgische geschehe vor allem außerhalb der Unterrichtssituation, wie etwa auf dem Pausenhof. Dieser informelle Charakter, der dem Luxemburgischen im schulischen Kontext zugeteilt wird, macht augenscheinlich, dass es sich bei der Bezeichnung ›Integrationssprache‹ um ein bildungspolitisches Diskurskonstrukt handelt, wie es auch z.T. implizit aus den Interviews hervorgeht: Luxemburgisch als Kommunikationssprache, Integrationssprache scheint mir klar zu sein, scheint auch politischer Wille zu sein. Luxemburgisch als Schulsprache 78
»Innerhalb der Schule ist die Mehrsprachigkeit (Deutsch, Französisch, Englisch) ebenfalls eine Stärke und sollte dies auch bleiben. Heute ist sie jedoch für viele junge Menschen zu einem Hindernis für eine Qualifikation oder ein Studium geworden. Das sprachliche Umfeld hat sich verändert. Im Zyklus 1 der École fondamentale sprechen mehr als 60 % der Kinder Luxemburgisch nicht als zu Hause gesprochene Sprache.«
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dazu sind wir, denke ich, nicht bereit[.] (Ehemaliger Parlamentsabgeordneter [Déi Gréng]) [Dass Luxemburgisch Integrationssprache sein soll,] ja, ich bin davon nicht so überzeugt ((lacht)). Also wir brauchen eine gemeinsame Sprache, da bin ich einverstanden … um miteinander zu reden, muss es eine gemeinsame Sprache geben und dann war eben das Leitmotiv zu sagen, man muss einfach immer Luxemburgisch reden. (Mady Delvaux-Stehres, Bildungsministerin 2004-2013) Tja, das ist ein politischer Ausdruck. (Mitwirkender am reformierten Grundschullehrplan und Grundschulgesetz) Ja, politisch ist natürlich die luxemburgische Sprache von großer Bedeutung; die, die jetzt sagen, »wir vermitteln die luxemburgische Sprache nicht mehr, denn für den weiteren Verlauf der Schulkarriere ist es vielleicht weniger von Bedeutung, deshalb setzen wir gleich auf Deutsch«, wäre der luxemburgischen Bevölkerung, denke ich, nicht vermittelbar. (Claude Meisch, Bildungsminister seit 2013) Luxemburgisch wird als ›gemeinsame Sprache‹ dargestellt, ist das ›Leitmotiv‹ sowie ›politischer Wille‹ und alles andere wäre gewissermaßen politisch ›nicht vermittelbar‹. Angesichts der curricular unklaren Funktionszuschreibungen des Luxemburgischen und der Frage, inwieweit Luxemburgisch in der Unterrichtssituation tatsächlich als Integrationssprache fungiert, lässt sich beispielhaft aufzeigen, dass die Dialekt-Sprachunterscheidung letztlich nicht eindeutig geklärt ist. Anhand des eingangs angeführten und von der Autorin ausgetauschten bzw. umgekehrten Originalzitats des Linguisten Max Weinreich – ›eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine‹ – kann dies genauer exemplifiziert werden: So sind es nicht die sprachstrukturellen Merkmale, die eine Sprache definieren, sondern vielmehr politische Aspekte (Armee und Marine), die die Sprache von einem Dialekt unterscheiden. Das Luxemburgische scheint je nach Kontext ›Sprache‹ oder ›Dialekt‹ zu sein, manchmal auch beides. Einerseits als Sprache, der größere Bedeutung zuteilwerden muss, andererseits als Dialekt, der jedoch curricular nicht zu sehr an Gewichtung erhalten darf. Das Bildungssystem ist mit dieser Spannung offensichtlich überfordert. Die Bildungspolitik bedient sich einer spezifischen Rhetorik und weniger eines didaktischen Vermittlungskonzeptes, um das Luxemburgische im Schulcurriculum zu festigen und gegenüber einer supranatio-
IV Der Reformkontext von 2009
nalen Bildungsentwicklung und Sprachenpolitik zu verteidigen. Das Luxemburgische kommt weiterhin informell zum Einsatz und die Funktion einer Integrationssprache wird curricular nicht weiter expliziert. Die für Luxemburgs Primärschulsystem bezeichnende kohäsive Sprachenpolitik wurde im Reformprozess zudem dadurch gewahrt, dass das Luxemburgische in Zyklus 1 bewusst als Geburtshelfer für das Deutsche in Zyklus 2.1 inszeniert wird. Unlängst wurde jedoch nachgewiesen, dass die Brückenfunktion vom Luxemburgischen zum Deutschen nicht für alle Schüler gleichermaßen funktioniert und der Transfer besonders bei Zuwandererkindern problematisch ist. Es wäre allerdings zu voreilig, der Bildungspolitik hierbei den Vorwurf einer intentionalen Verschleierungstaktik in Bezug auf die Symbolstellung des Luxemburgischen zu machen. Vielmehr ist der geringe curriculare Status des Luxemburgischen das Resultat eines historisch gewachsenen Denkstils. Im Vergleich zum Deutschen und Französischen wird das Luxemburgische sowohl in den parlamentarischen Debatten als auch in den Experteninterviews als unterlegen wahrgenommen, da es vor allem in der mündlichen und weniger in der formal schriftlichen Kommunikation eine Rolle spielt. Der Gebrauch des Luxemburgischen ist eher in privaten, informelleren Zusammenhängen als Form der Nähe zu begreifen, wenngleich sich seine Funktion als medial schriftlich gefestigte Sprache in den letzten Jahren insbesondere innerhalb der Neuen Medien wie Chatrooms, E-Mail etc. verstärkt ausdehnte (vgl. Gilles 2011). Sprachlich mobil sind die Luxemburger jedoch mit dem Deutschen und dem Französischen, die Sprachen, die auch im Berufsleben von größerer Bedeutung bzw. Reichweite sind. Während des Reformkontextes wurde diese Vorstellung mit dem Vorhaben akzentuiert, dem Englischen eine stärkere Gewichtung im Curriculum zu geben, zumal seine Bedeutung in Wirtschaft und Gesellschaft immer vielschichtiger wird.
2.4
Englisch als ›globale Lingua franca‹
In den unterschiedlichen Debatten zur Förderung von Mehrsprachigkeit, offizieller Dreisprachigkeit und individuellem Sprachenrepertoire schien das Englische zum ›ultimativen Impfstoff‹ (vgl. TB 07.06.2010) gegen all die vordergründig unlösbaren Sprachenprobleme zu avancieren, die strukturell im mehrsprachigen Schulsystem Luxemburgs verankert sind (vgl. ebd.). »Ist das Englische vielleicht der wahre Schlüssel zur Integration?«, fragt die Tagespresse, obgleich es bizarr anmutet, wenn Englisch curricular propagiert wird, es innergesellschaftlich im Vergleich zum Portugiesischen, Italienischen oder
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auch Serbokroatischen eine geringe Rolle spielt (vgl. ebd.). Pathetisch wurde das Englische zudem als »success story« (Berg/Weis 2007: 54) im Plan d’action betitelt, mit der Schüler einen ›kulturellen Beitrag‹ leisten können (vgl. ebd.). Konzentriert man sich auf das Englische, so rücken Fragen zur historisch konstruierten Sprachenidentität in Luxemburg erst einmal in den Hintergrund. Die Bedeutung des Englischen wird auf den ersten Blick, vor allem aus globalwirtschaftlicher Sicht, und damit losgelöst von sprachidentitärer Dimension, immer essenzieller. Größerer Wert auf das Englische wird etwa vermehrt im Berufsleben gelegt, als das vor der Gesetzesreform 2009 der Fall war. Wie die vorherigen Analysekapitel zeigten (vgl. Kapitel 2.1, 2.2, 2.3), ist es in Luxemburg eher umstritten, ob Deutsch und Französisch als Fremdsprachen gelehrt werden sollen. Dagegen wird Englisch zweifelsohne im Regelschulsystem als Fremdsprache vermittelt. Einerseits bieten sich durch die fremdsprachendidaktische Vermittlung des Englischen aus konzeptioneller Sicht Chancen für die Neuausrichtung des übrigen Sprachenunterrichts. Anderseits können anhand des Versuches, Englisch verstärkt zu fördern, rhetorische Ausweichmanöver in der Sprachenunterrichtspolitik aufgezeigt werden. Die grundsätzliche Diskussion um die internationale Vormachtstellung des Englischen als ›Weltsprache‹, die sich vor allem aus den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien usw. speist, wurde freilich schon zur Genüge geführt, und so ist das Englische aus den internationalen Bildungssystemen nicht mehr wegzudenken. Laut Eurydice-Bericht der Europäischen Kommission ist Englisch die am häufigsten gelernte Pflichtfremdsprache in fast allen europäischen Schulsystemen (vgl. KOM 2017: 12; 44).79 Auch in Luxemburg wird Englisch als obligatorische Fremdsprache im regulären Schulsystem ab Klassenstufe 8 (6e), also wenn die Schüler i.d.R. 13 Jahre alt sind, durch die Klassenstufen hindurch mit vier bis sechs Wochenstunden gelehrt (vgl. RGD A247 02.09.2020; RGD A741 02.09.2020). Setzt man die Sprache ins Verhältnis zum restlichen Sprachengefüge der Luxemburger Schule, so zeigt sich, dass die Debatte um Erst-, Zweit- oder Fremdsprachenerwerb in Hinsicht auf den Englischunterricht hinfällig ist bzw. überhaupt nicht geführt wurde. Vielmehr herrscht ein allgemeiner Konsens darüber, dass Englisch als fremdsprachliches Fach zu unterrichten sei. Das Englische entwickelt sich dahingehend zum Allheilmittel, da doch die meisten Schüler bei dieser Sprache ähnliche Voraussetzungen haben und es gezielt über 79
Der Bericht der Europäischen Kommission weist Deutsch und Französisch interessanterweise als gelehrte Pflichtfremdsprachen in Luxemburg aus (vgl. KOM 2017: 44).
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eine Fremdsprachendidaktik vermittelt bekommen. Als Randnotiz ist dabei anzumerken, dass sich dahinter auch die Möglichkeit verbirgt, den übrigen Sprachenunterricht differenzierter und in seinen Zielsetzungen klarer zu gestalten: Ich würde mal behaupten, ohne es beweisen zu können, das müssten wir überprüfen, dass sogar im klassischen Gymnasium das Englischniveau nach ein, zwei Jahren höher ist als das Französischniveau, wobei man Französisch bereits seit dem Kindergarten hat. Einfach weil es [das Englische] explizit als Fremdsprache eingeführt wird und weil man einfach ein ganzes Metawissen über Sprache hat, was dann auch diesen Erwerb vereinfacht. (Direktor des Luxembourg Centre for Educational Testing) Der vergleichsweise späte Beginn mit dem Englischen ab der 6e gründet im Sekundarschulgesetz 1968 und bietet durchaus Nährboden für Kritik (vgl. Fehlen 2017: 60). So könne die Schere zwischen bildungsprivilegierten und benachteiligten Schülern größer werden, da die Englischkenntnisse am Ende der Schulzeit z.T. nicht ausreichen, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen (vgl. ebd.: 61). Dergleichen bildete sich in den beiden Sekundarschulzweigen auch ein anderes curriculares Angebot in Bezug auf die Englischfrage heraus. Das Luxemburger Wort bezog 2011 zu den bis dato zweijährigen Reformbestrebungen in der Sekundarschule Stellung und wies darauf hin, dass im technischen und damit eher berufsvorbereitenden Sekundarschulunterricht nunmehr größerer Wert auf das Englische gelegt werde, um der Arbeitswelt gerecht zu werden (vgl. LW 09.11.2011). Insgesamt würde Englisch trotz seiner internationalen Bedeutung im Vergleich zu den beiden Amtssprachen Deutsch und Französisch dennoch weiterhin stiefmütterlich behandelt (vgl. Berg/Weis 2007: 54). Auf der Grundlage dieser Argumentationen wurde ein früherer Einstieg mit dem Englischen in Klassenstufe 7 während des Reformprozesses anvisiert. Im Gleichschritt wurde die Förderung des Englischen als »Lingua franca der Naturwissenschaften« (Schuldirektor des klassischen Lyzeums Athénée de Luxembourg im Experteninterview) bzw. Wissenschaftssprache »par excellence« (MENFP 2008: 12) mit der Aufstockung des Stundenkontingents in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern verhandelt. Die wöchentliche Stundenanzahl des Englischen wurde in diesem Zusammenhang, wenn auch nur geringfügig, von zuvor dreieinhalb auf vier Stunden hochgesetzt (vgl. ebd.) Englisch sollte gleichsam auch zur Vertiefung naturwissenschaftlicher Kenntnisse dienen, denen aufgrund der Sprachlastigkeit
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der Luxemburger Schule curricular ein geringerer Stellenwert zukommt. Die Förderungsmaßnahmen in Bezug auf das Englische waren jedoch nicht vor neoliberalistischer Kritik gefeit. Besonders in der Tagespresse, die in der vorliegenden Studie als exoterischer Kreis der Denkstilformierung definiert ist, wurde die Promotion des Englischen kritisch reflektiert, und so ließen sich verschiedene Artikel finden, die die Haltung zum Englischen im Reformkontext exemplarisch aufzeigen: Wenn immer mehr Europapolitiker aus Gründen der angeblichen Einfachheit und Geldersparnis nur noch eine einzige Sprache fordern, und zwar Englisch, dann ist das eine Sünde wider die Kultur und Zivilisation, ein Kniefall vor der rein technisch-wissenschaftlich-wirtschaftlichen Dominanz unserer Zeit. Das ist Extremismus, der sich nicht einmal um den goldenen Mittelweg bemüht. (LW 02.06.2007) Der im Reformkontext symptomatisch getätigte Vorwurf eines utilitaristischen Sprachverständnisses wird auch angesichts einer gesamteuropäischen Interessenvertretung deutlich. Das Englische stelle nicht nur die übrigen Sprachen in den Hintergrund, sondern wird gleichsam entkulturalisiert. Die Promotion des Englischen fuße hiernach lediglich auf dem Effizienzgedanken, wodurch die beiden ›Kultursprachen‹ Deutsch und Französisch als bedroht wahrgenommen wurden, wie es der Presseartikel weiter polemisch auf die Spitze treibt: Schauen wir über den nationalen Tellerrand hinaus, dann liegt das Problem tiefer. Der Zusammenprall des geistig-kulturellen Gewichts Europas mit dem wissenschaftlich-wirtschaftlichen Utilitarismus hat wie ein Schwerthieb den Primat der lang herangereiften reichen europäischen Werteordnung gespalten. Die großen Kultursprachen blieben natürlich nicht verschont. (Ebd.) Dabei sahen verschiedene Schulpartner, darunter z.B. die Lehrergewerkschaft APESS (vgl. LW 23.10.2006), das traditionelle Sprachengefüge der Luxemburger Schule gefährdet. Zwar wird die wachsende Bedeutung der englischen Sprache durchaus anerkannt, doch steht diese in Konkurrenz zum traditionellen Sprachencurriculum: Endlich, könnte man sagen, denn – ob es den Luxemburgern nun gefällt, oder nicht – an der Sprache Shakespeares führt in der Welt, in der wir leben, nun wirklich kein Weg mehr vorbei. In der (luxemburgischen!) Wirt-
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schaftswelt, aber längst auch schon im kulturellen Bereich ist Englisch das kommunikative Bindeglied schlechthin. Dem können sich die Luxemburger nicht verschließen. Es sei denn, wir sind tatsächlich dazu bereit, eine der bisherigen systemischen Stärken aufzugeben, die unser Bildungswesen bis dato ausgezeichnet hat, nämlich die Vielsprachigkeit. (LW 13.03.2010) Englisch sei hiernach für beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg ohne Zweifel essenziell, jedoch steht die ›Sprache Shakespeares‹ in Konkurrenz zur systeminhärenten Vielsprachigkeit des Luxemburger Regelschulsystems. Der bildungspolitische Versuch, Englisch ab der 7e in das Curriculum zu integrieren, scheiterte letztlich an einer befürchteten Reduktion der beiden Amtssprachen Deutsch und Französisch. Auch im ministeriellen Aktionsplan wird zurückgerudert. Offiziell legitimiert wurde der Verzicht auf eine frühere Einführung des Englischen letztlich mit einer (sprachlichen) Überlastung der Schülerschaft: L’importance des autres langues de l’École, notamment le français comme langue de l’administration et de la juridiction, est fréquemment évoquée comme argument en défaveur de l’anglais obligatoire. D’aucuns craignent en effet que la mise en exergue de l’anglais comme seule langue obligatoire se fasse au détriment des efforts – et donc des compétences – des élèves en français et en allemand.80 (P-2009-O-ENFPS-26-01 2010: 31; vgl. ebenso Berg/Weis 2007: 54) Dass die globale Bedeutung des Englischen jedoch auch nicht in Luxemburg wegzudenken und Teil der gesellschaftlichen Realität ist, wurde bildungspolitisch gleichwohl anerkannt, jedoch vermehrt abgeschwächt vermittelt. Statt einer systematischen Einführung ab der 7e wurden nunmehr Überlegungen in den Bildungsplan mitaufgenommen wie der ›spielerische‹ Einsatz des Englischen im Vorschulbereich oder die Entwicklung einer englischsprachigen Bildungssendung für jüngere Kinder (vgl. ebd.: 55). Stets hervorgehoben und per bewusst zurückhaltender Formulierung in Szene gesetzt, wird Englisch also per ›spielerischer‹ Vermittlung in die Reformpläne aufgenommen, um
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»Die Bedeutung der anderen Schulsprachen, besonders die des Französischen als Verwaltungssprache und Gesetzessprache, wird häufig als Argument gegen das obligatorische Englisch vorgebracht. In der Tat befürchten einige, dass die Betonung des Englischen als einzige Pflichtsprache zu Lasten der Fähigkeiten der Schüler in Französisch und Deutsch geht.«
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nicht in ein Spannungsverhältnis zum Deutschen oder Französischen zu geraten. Darüber hinaus wurde das Englische sozusagen curricular parallelisiert. Projektschulen, wie etwa das während des Reformprozesses eröffnete Schengen Lyzeum oder das in einigen Lyzeen angesiedelte und bereits erwähnte Bac International, bieten seither neben französischsprachigen auch englischsprachige Tracks an.81 Losgelöst von Herkunftssprachen, ermöglicht das Bac International einen internationalen Schulabschluss, mit dem die Schüler überall auf der Welt beruflichen Anschluss finden könnten. Besonders Vertreter finanzökonomischer Interessen forderten eine englischsprachige Ausrichtung der internationalen Strukturen, wie es im Rapport d’activité des Bildungsministeriums von 2009 heißt (vgl. MENFP 2009b: 36). Auf die Frage, wieso dieses Parallelangebot nicht in das reguläre Schulsystem direkt integriert wurde, antwortete die ehemalige Bildungsministerin im Experteninterview wie folgt: Das war eine Illusion. Ich habe mir vorgestellt, wenn man alternative Schulen anbietet, Schulmodelle anbietet, dass das dann überschwappt sozusagen oder ein Beispiel sein kann für die Klassischen. Das hat aber nicht geklappt. Sogar im Athénée, da haben wir ja dieses Englisch, den Bac International da gemacht. Aber das ist absolut zweigleisig. Also das englische System läuft unabhängig oder sagen wir das luxemburgische System läuft unabhängig und die Lehrer sagen mir, »das ist ein gutes Modell, aber das können wir nicht in der luxemburgischen Schule machen«. Also das hat mich unheimlich enttäuscht. SS: Wieso kann man das denn nicht in der Luxemburger Schule umsetzen?
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Im Schengen Lyzeum wird Englisch ein Jahr früher, d.h. bereits ab der 7. Klasse, gelehrt (vgl. E-2008-11-02 2008: 25). Seit dem Schuljahresbeginn 2007-2008 bietet das Athénée als bis dato zweite Schule im Land erstmals den englischsprachigen Track an (vgl. ebd.). Das Athénée ist seit 2010 IBO-zertifiziert und seit 2017 bietet das Lyzeum zudem die Möglichkeit, nicht nur in der Oberstufe, sondern die gesamte Sekundarschulzeit in internationalen Klassen zu besuchen, in denen Englisch die Instruktionssprache ist (vgl. Athénée de Luxembourg 2020). Seitdem internationale Schulmodelle 2017 nunmehr öffentlich gemacht wurden, rückt das Englische weiter in den Fokus. In den internationalen Schulen werden überwiegend englisch- oder französischsprachige Tracks angeboten, was die Schulen u.a. für diejenigen Schüler interessant macht, die Schwierigkeiten mit dem herkömmlichen Sprachengefüge der Luxemburger Schule haben.
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Ja, weil man die Zeit nicht hat und weil die Schüler, ich weiß nicht. Also da werden alle möglichen Argumente angebracht … Ich habe das wirklich diskutiert auch mit den Lehrern des Athenäums, sie haben mir ganz klar gesagt: »Das machen wir im Bac International, aber das machen wir nicht in der Schule.« (Mady DelvauxStehres, Bildungsministerin 2004-2013) Dem Englischen als globale Lingua franca ein größeres curriculares Gewicht zu geben, wurde bildungspolitisch letztlich nicht umgesetzt und der Argumentation beigegeben, dass dies auf Kosten der übrigen Sprachen ginge. Zwar geht aus den Quellen hervor, dass die Mehrsprachigkeit im Unterricht betont gefördert werden solle, auch wenn nicht alle Sprachen auf einem gleich hohen Niveau beherrscht werden müssen (vgl. LW 15.09.2009), doch wird angesichts der Englischdebatte deutlich, dass eine wirkliche ›Neuausrichtung‹ des Unterrichts aufgrund der lethargischen Struktur des traditionellen Sprachenangebotes nicht umgesetzt wurde. Jegliche Umstrukturierungen, wie die frühere Einführung des Englischen, gingen schließlich zulasten der traditionellen Sprachenlehre. Entgegen der Neujustierungen im Deutsch-, Luxemburgischund Französischunterricht wurde die Frage zum Englischunterricht nicht im Kern weiter ausgeführt. Daran ist zu erkennen, dass vonseiten der Bildungsakteure die Frage nach der systeminhärenten Dreisprachigkeit akuter war. Die hier angedeutete Systeminhärenz ist strukturell durch den Fächerkanon bereits so vorgegeben, dass Veränderungen sehr schwerfällig waren und von den Fachvertretungen selbst, wie dieses Hauptkapitel bereits anzeigte, z.T. sehr kritisch beäugt wurden. Zurückzuführen ist dies auf ein strukturell vorgeprägtes Verständnis von Mehrsprachigkeit, das im Detail in der Vorstellung von Einzelfächern, Unterrichtsgegenständen und dem Stundenkontingent selbst begründet liegt. Inwiefern die Fachkonzeptionen das Verständnis von Mehrsprachigkeit beeinflussen, wird im nachfolgenden Abschnitt untersucht.
3 3.1
Konzeptionelle Implikationen des Fächerkanons und die Herstellung von Mehrsprachigkeit Die Konstruktion von Einzelfächern
Das vorangegangene Kapitel zeigte, dass die curricularen Neuperspektivierungen während der Reform ideell aufgeladene Vorstellungen über die
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Ja, weil man die Zeit nicht hat und weil die Schüler, ich weiß nicht. Also da werden alle möglichen Argumente angebracht … Ich habe das wirklich diskutiert auch mit den Lehrern des Athenäums, sie haben mir ganz klar gesagt: »Das machen wir im Bac International, aber das machen wir nicht in der Schule.« (Mady DelvauxStehres, Bildungsministerin 2004-2013) Dem Englischen als globale Lingua franca ein größeres curriculares Gewicht zu geben, wurde bildungspolitisch letztlich nicht umgesetzt und der Argumentation beigegeben, dass dies auf Kosten der übrigen Sprachen ginge. Zwar geht aus den Quellen hervor, dass die Mehrsprachigkeit im Unterricht betont gefördert werden solle, auch wenn nicht alle Sprachen auf einem gleich hohen Niveau beherrscht werden müssen (vgl. LW 15.09.2009), doch wird angesichts der Englischdebatte deutlich, dass eine wirkliche ›Neuausrichtung‹ des Unterrichts aufgrund der lethargischen Struktur des traditionellen Sprachenangebotes nicht umgesetzt wurde. Jegliche Umstrukturierungen, wie die frühere Einführung des Englischen, gingen schließlich zulasten der traditionellen Sprachenlehre. Entgegen der Neujustierungen im Deutsch-, Luxemburgischund Französischunterricht wurde die Frage zum Englischunterricht nicht im Kern weiter ausgeführt. Daran ist zu erkennen, dass vonseiten der Bildungsakteure die Frage nach der systeminhärenten Dreisprachigkeit akuter war. Die hier angedeutete Systeminhärenz ist strukturell durch den Fächerkanon bereits so vorgegeben, dass Veränderungen sehr schwerfällig waren und von den Fachvertretungen selbst, wie dieses Hauptkapitel bereits anzeigte, z.T. sehr kritisch beäugt wurden. Zurückzuführen ist dies auf ein strukturell vorgeprägtes Verständnis von Mehrsprachigkeit, das im Detail in der Vorstellung von Einzelfächern, Unterrichtsgegenständen und dem Stundenkontingent selbst begründet liegt. Inwiefern die Fachkonzeptionen das Verständnis von Mehrsprachigkeit beeinflussen, wird im nachfolgenden Abschnitt untersucht.
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Konzeptionelle Implikationen des Fächerkanons und die Herstellung von Mehrsprachigkeit Die Konstruktion von Einzelfächern
Das vorangegangene Kapitel zeigte, dass die curricularen Neuperspektivierungen während der Reform ideell aufgeladene Vorstellungen über die
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Funktionen von Sprachfertigkeit fest- bzw. fortschreiben, diese Funktionen der Unterrichtsrealität jedoch nicht immer entsprechen. In erster Linie ist dies darauf zurückzuführen, dass spezifische Haltungen gegenüber Sprachfertigkeit durch die Struktur des Fächerkanons bereits vorgeprägt sind. Nachfolgend wird daher verstärkt auf diese strukturellen Anlagen des Curriculums eingegangen und die konzeptionelle Anordnung des Fächerkanons untersucht. Im Detail wird die Wirkweise von Schulfächern in Bezug auf das sprachliche Selbstverständnis dargelegt und erläutert, wie dies im Widerspruch zu dem Reformmotiv steht, das mehrsprachige Luxemburger Schulsystem durchlässiger zu gestalten. Schulfächer entstanden im historischen Verlauf nicht zufällig und so etablierten sich institutionalisierungsgeschichtlich bestimmte Fächer wie Mathematik, moderne Sprachen usw. beinahe flächendeckend als Teil einer modernen Massenbildung (vgl. Meyer/McEneaney 1999: 178). Mit der Systematisierung von Unterricht in einzelne Fächer oder Fächerfamilien werden Themen der außerschulischen Lebenswelt zum Lerngegenstand formiert und inhaltlich sequenziert, wie der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth ausführt: Schulfächer sind daher als eigenständiger kognitiver Zugang zur Welt qualifizierbar; denn über das Schulfach wird nicht nur – sachlich – der Bezug zum Wissen und letztlich auch zu den Wissenschaften ermöglicht, sondern zugleich auch – personal – die Erschließung der Welt für den Lernenden ermöglicht. (1999: 193) Diese ›Erschließung der Welt‹ erfolgt demnach fachgebunden, wird in der Unterrichtspraxis repetiert und der Lehrstoff dadurch konserviert. Unterrichtsinhalte werden kanonisiert und »die Fächer artikulieren […] den gesellschaftlichen Zugriff auf die Schule: So sind sie zu unentbehrlichen Mitteln der Administration geworden« (Giel 1997: 34). Schule wird folglich durch den Fächerkanon steuerbar. Die Inhalte, die als ›wissenswert‹ festgelegt sind, werden durch die fachliche Anordnung offiziell legitimiert. Exemplarisch lässt sich dies anhand der Aufnahme des Luxemburgischen in den Fächerkanon im 1912er-Primärschulgesetz aufzeigen, das dadurch offiziell als Sprache in der Schule legitimiert wurde. Die Transponierung disziplinären Wissens in Einzelfächer impliziert spezifische Idealvorstellungen über den Schüler und mit ihm das künftige (arbeitende) Gesellschaftsmitglied. Der Curriculumforscher Thomas Popkewitz (2004; et al.: 2017) vergleicht diese Verwandlung von Subjekteigenschaften mit einem alchemistischen Pro-
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zess, das ist die naturphilosophisch geprägte Auffassung der Alchimisten des 17. und 18. Jahrhunderts, Nichtedelmetalle zu Gold zu synthetisieren: Like the alchemists who sought to transmute one substance into another, the formation of the school subjects are seemingly magical processes in which disciplinary knowledge is translated into particular images, words, ideas, and experiences for children […] At the same moment, reference to the alchemy provides a way to think about how the subjects embody practices of translation that require a simultaneous traveling from one social/cultural space to another. That is, the disciplines of physics and history are produced in social and cultural spaces that entail epistemic machinery, routines, and cultural practices concerned with the production of specific kinds of knowledge systems. (Popkewitz et al. 2017: 8) Nach dieser Vorstellung wird durch Schulfächer disziplinäres Wissen in bestimmte Eigenschaften übertragen, die einem spezifisch soziokulturellen und historischen Kontext entspringen. Das in den Schulfächern artikulierte Fachwissen soll Schülern ›richtiges‹ und nützliches Inhaltswissen bereitstellen (vgl. ebd.). Dieses Wissen wird in der Unterrichtsorganisation hierarchisch gewichtet, was die Klassifizierung in Haupt-, Nebenoder Optionalfächer und das dazugehörige Stundenkontingent und den Leistungsaufwand illustriert: Fächer sind, wie der Name sagt, Schubladen, in denen das Wissen, nach Relevanz-Graden und -Kategorien sortiert, abgelagert wird. So bildet die Ordnung, der Kanon der Schulfächer, eine Topographie des kollektiven Gedächtnisses der Wissenschaften: Jedes Fach ist eine Ordnung von Örtern, an denen relevantes Wissen aufbewahrt ist und gefunden werden kann. (Giel 1997: 34) Auch innerhalb einer Unterrichtsstunde wird den einen Unterrichtsgegenständen mehr Zeit eingeräumt als den anderen.82 Durch die disziplinäre Struktur der Unterrichtsgestaltung und der fachlichen Schwerpunktsetzung wird folglich ein bestimmter Schülertypus imaginiert, womit gleichermaßen auch unterschiedliche Schüler ›fabriziert‹ werden. Jede ›Herstellung‹ impliziert dadurch auch einen Exklusionsmoment (vgl. Popkewitz 2008: 20). Kulturelle und soziale Differenzierungen werden somit in das Curriculum
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Zur Zeitdimension in der Unterrichtsgestaltung vgl. Werner (1999).
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miteingeschrieben und durch die schulische Praxis reproduziert. Aufgezeigt werden kann dies am Beispiel stratifizierter Schulsysteme und deren speziellen curricularen Vorgaben bzw. ›Tracks‹, bei denen unterschiedliche Schülereigenschaften in den jeweiligen Schultypen anvisiert werden. Mit der Festlegung von Bildungszielen für Schulfächer korrelieren folglich soziale Erwartungen und stehen modellhaft dafür, spezifische Identitäten zu konstruieren (vgl. ebd.: 77). Die Identitätszuschreibungen äußern sich etwa darin, dass sich bestimmte Fächer bzw. Fachrichtungen auf bestimmte Berufsgruppen konzentrieren, wie die Aufteilung in berufsbildende oder allgemeinbildende Abschlüsse veranschaulicht und bei denen unterschiedliche curriculare Aspekte berücksichtigt werden. Schüler werden so mit Blick auf verschiedene gesellschaftliche Bedürfnisse trainiert. Dies zeigt sich exemplarisch anhand von Schwerpunktsetzungen in bestimmten Sektionen, wie Sprachen oder Naturwissenschaften oder speziell zugeschnittenen Schulabschlüssen, wie sie z.B. an technischen Sekundarschulen erworben werden können. Die in Schulfächern artikulierten Gesellschaftsbedürfnisse sind demnach auch nicht allgemeingültig und zeitlich begrenzt, z.B. wegen eines akuten Fachkräftemangels, der über den Fächerkanon ausgeglichen werden soll. Neben der Präsentierung zeitlich zu verortender Inhalte werden überdies spezifische Interessengruppen in Fächern repräsentiert (vgl. Goodson 1999: 154). Zu Beginn des institutionalisierten Schulwesens Mitte des 19. Jahrhunderts dominierte u.a. eine Wissenselite den Luxemburger Fächerkanon, die eine katholische Schulbildung anvisierte und die Zweisprachigkeit im Schulsystem verordnete. Ökonomische Interessengruppen sind historisch ebenso vertreten, wie durch die Reduktion von Lateinstunden und Aufstockung naturwissenschaftlicher Fächer nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich wurde (vgl. Kap. III.3.2). Das Schulfach verkörpert daher kulturelle Logiken83 , die anzeigen, welche Eigenschaften das Kind haben sollte und welche Eigenschaften außerhalb dieser Normierung stehen (vgl. Popkewitz 2018: 77). Die Idee von Schulfächern als in sich abgeschlossene Systeme und die Disziplinarisierung von Wissen wurde jedoch nach den ersten Ergebnissen internationaler Schulleistungsuntersuchungen öffentlich problematisiert (vgl.
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Popkewitz (2018) verwendet jedoch nicht den Begriff der Logik, sondern spricht von kulturellen Prinzipien (vgl. ebd.: 77).
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Hopmann/Riquarts 1999: 16).84 Die fachgebundene Wissensvermittlung erscheint schließlich auf den ersten Blick weniger relevant zu sein, wenn z.B. bei Large Scale Assessments weniger curriculare Inhalte als die fächerübergreifende Wissensanwendung (Kompetenzen) geprüft werden. Die Vorstellung von Schulfächern als ›Schubladen‹, wie das zuvor angeführte Zitat von Giel (1997: 34) aufzeigt, scheint demnach zugunsten transversaler Kompetenzentwicklung in den Hintergrund zu rücken. Das Motiv des fächerübergreifenden Lehrens und Lernens stand während des Luxemburger Reformprozesses ebenso auf der bildungspolitischen Agenda, wie die Erläuterungen zur Kompetenzorientierung (vgl. Kap. IV.1.3) bereits zeigten. Auch auf der exoterischen Ebene stabilisierte sich der Gedanke zur Fächeröffnung und wurde entsprechend reflektiert: Die Tagespresse befürwortete etwa ein modulares Unterrichtssystem, das Schülern die Möglichkeit geben soll, vereinzelte Schwächen in Einzelfächern auszugleichen und damit schulisches Versagen in Form von Klassenwiederholungen zu minimieren (vgl. LW 30.10.2006). Projektschulen, wie das Neie Lycée85 , das mit dem Schuljahr 2005/06 die erste Schülerkohorte empfing, zielten u.a. verstärkt auf eine alternative Wissensvermittlung in Form von themenorientierten anstatt rein fachbezogenen Inhalten ab. Schüler sollen so eigenständig ihre individuellen Fähigkeiten ausbauen. Ein Kommentar im Tageblatt lobt den »[g]elungene[n] Einstand« (TB 14.04.2005) der Pilotschule, wenngleich es neben Zuspruch durchaus Ablehnung gegenüber dem innovativen Schulprofil gab. Befürworteten z.B. der SEW und die Elternvereinigung Fapel den neuartigen Lehransatz, befürchteten APESS-Gewerkschaftsvertreter eine Herabsetzung des Sprachenunterrichts sowie ein »multidisziplinäres Allerlei« (ebd.). Dass trotz dieser neuen Schulprofile disziplinäre Unterrichtsverortung keineswegs obsolet ist, zeigt sich in den curricularen Rahmendokumenten. 84
85
Hopmann/Riquarts (1999) stellen am Beispiel von Deutschland einen bemerkenswerten Widerspruch fest, da Schulleistungsuntersuchungen innerfachliche Kompetenzen abprüfen, diese in der konkreten Lehrplanarbeit jedoch nicht für die beteiligten Fachdidaktiker vordergründig sind. Der Fokus läge bei der konkreten Lehrplanausarbeitung eher auf dem allgemeinbildenden und fächerübergreifenden Potenzial des Faches (vgl. ebd.: 16). Gleichwohl heben die Autoren dezidiert hervor, dass es sich um einen Eindruck handle und die empirische Basis u.a. Befragungen mit Lehrkräften und Lehrplanmachern, zu schwach sei, um daraus zu folgern, dass sich die Fachdidaktik zurückbilde (vgl. ebd.: 17). Heute trägt die Sekundarschule den Namen Lycée Ermesinde.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Wirft man einen Blick in die Erläuterungen zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen, so werden bei den Überlegungen zur Sprachenvielfalt und Implementierung im Curriculum modulare Unterrichtsszenarien empfohlen, ohne dass die Einzelfächer dadurch beeinträchtigt werden sollen (vgl. Trim et al. 2001: 169f.). Vielmehr sollen diese eine gemeinsame Linie verfolgen und in ihren Lernzielen aufeinander abgestimmt werden (vgl. ebd.: 170). Zählte die Harmonisierung der Programme zu den allgemeinen bildungspolitischen Forderungen, demonstrieren jedoch die Aushandlungen über die Neuordnung des Sprachenunterrichts, wie eng spezifische Sprachvorstellungen und einzelne Fachdisziplinen im Luxemburger Schulwesen miteinander verknüpft sind und der Fächerkanon dadurch wenig flexibilisiert werden konnte. Fächer und das in ihnen verdinglichte Wissen stabilisieren demnach spezifische sprachliche Denkstile,86 die z.T. einander widersprechen können. Wie sich die einzelnen Denkstile auf Grundlage des Fächerkanons zusammensetzen und ein spezifisches Verständnis von Mehrsprachigkeit zeitigen, wird im nachfolgenden Kapitel behandelt.
3.2
Einzelfächer und das Verständnis von Mehrsprachigkeit
Bezogen auf den Reformkontext von 2009, kristallisierte sich auf Grundlage des Untersuchungsmaterials mitunter die Vorstellung heraus, dass Sprachsysteme eindeutig voneinander zu trennen seien und historische Prozesse mit kognitiven Eigenschaften parallelisiert werden könnten, wie der nachfolgende Interviewausschnitt mit einem der Federführer des reformierten Grundschullehrplans veranschaulicht: Ein Schüler, der im Gehirn dreisprachig ist … das ist das Bild, das viele haben im Unterricht … das ist dieser »monolinguale Habitus«. Das heißt, wir sind jetzt im Luxemburgischen, wir machen Luxemburgisch. Da gab es ja auch die Anekdoten, gibt es ja immer wieder und gab es auch Skandale in den Zeitungen, wo Kindergärtnerinnen eigentlich den Kindern verboten haben, Portugiesisch zu nutzen. Das war, glaube ich, auch noch in der Anfangszeit von Claude Meisch, das muss 2013 in Esch gewesen sein[.] (Mitwirkender am reformierten Grundschullehrplan und Grundschulgesetz) 86
In Anlehnung an Klaus Giel (1997: 34) ist hervorzuheben, dass die Stabilisierung des ›Erfahrungswissens‹ der außerschulischen Lebenswelt u.a. durch seine Exteriorisierung in das Schulfach erfolgt, das seine stetige Vergewisserung fordert und sich das Erfahrungswissen somit im ›kollektiven Gedächtnis‹ manifestiert.
IV Der Reformkontext von 2009
Dieser sogenannte monolinguale Habitus ist ein Relikt der europäischen Staatenbildung des 19. Jahrhunderts, ein Prozess, bei dem soziale Kohäsion über eine gemeinsame Sprache definiert wurde, die jedem Menschen nachgerade ganz natürlich gegeben sei. Im Gleichschritt mit Nationsbildungsprozessen setzte sich überdies die heutige Vorstellung von Schulfächern durch, deren Formierung in Luxemburg mit dem Grundschulgesetz von 1912 weitgehend abgeschlossen war. Der monolinguale Habitus87 , der in der vorliegenden Arbeit vorzugsweise als monolingualer Denkstil bezeichnet wird, äußert sich symptomatisch in der Struktur des Fächerkanons. Das institutionell einverleibte monolinguale Selbstverständnis wird anhand der Unterrichtsorganisation in zwei Richtungen deutlich, bei denen zugleich zwei Dimensionen von ›Fach‹ im Vordergrund stehen: zum einen die sprachliche Fachdidaktik selbst und zum anderen der traditionelle Gebrauch von Deutsch und Französisch als Vehikularsprachen in den nicht sprachorientierten Fächern. In der erstgenannten Fachdimension, der sprachlichen Fachdidaktik, lässt sich der monolinguale Denkstil im mehrsprachigen Schulsystem am additiv-progressiven Aufbau im Sprachenlernen aufzeigen, der vom Luxemburgischen zum Deutschen und anschließend zum Französischen erfolgt. Bildungspolitisch wird hierbei ein scheinbar völlig natürlicher Übergang inszeniert, bei dem Luxemburgisch die Brücke zum Deutschen darstellt. Dieser Übergang erfolgt jedoch sehr abrupt und so wird das Luxemburgische 87
In Anlehnung an Pierre Bourdieus Habitusbegriff als ›Erzeugungsmodus von Praxisformen‹ (Bourdieu 1979: 164, zit.n. Gogolin 2008: 30) ergründet Ingrid Gogolin in ihrer Studie Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule (2008), ob und inwieweit eine fachspezifische und »berufstypische« (ebd.: 30) Handlungsorientierung von Lehrpersonen in der BRD auf einem institutionell einverleibten monolingualen Selbstverständnis fußt. Ohne den vom Interviewpartner angebrachten Begriff des ›monolingualen Habitus‹ schmälern zu wollen, wird der von Ingrid Gogolin in Anschlag gebrachte Habitusbegriff Pierre Bourdieus hier jedoch nicht als theoretischer Bezugsrahmen berücksichtigt, da er in Bezug auf den hiesigen Untersuchungsschwerpunkt zu schemenhaft wirken würde. So begründet Gogolin die Verwendung des Habitusbegriffes wie folgt: »Die monolinguale Orientierung der Lehrerschaft als eine habituelle Praxisform zu begreifen, ermöglicht es, Geschehen besser zu verstehen, das bei isolierter Betrachtung einzelner Aspekte – Einstellungen, Wissensbestände, Handlungsbedingungen – eher unerklärlich bleibt, weil es in sich selbst so widersprüchliche Züge zeigt« (ebd. 2008: 32). Bezogen auf die vorliegende Studie sind jedoch gerade neben den einstimmigen auch die widersprüchlichen und zeitlich begrenzten Wahrnehmungen über Sprachenvielfalt relevant, da sie spezifische sprachliche Denkstile konstruieren, mit denen die Sprachplanung konfrontiert wird.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
vom Deutschen im Zyklus 2.1 verdrängt. Luxemburgisch erhält danach einen zusehends extracurricularen Status, wie bereits in Kapitel 2.2 veranschaulicht wurde. Jedes Sprachfach funktioniert demnach trotzdem einzelsprachlich und der Brückenschlag vom Luxemburgischen ins Deutsche kann dabei für manche Schüler unvollendet bleiben. In der zweitgenannten Fachdimension, die sich auf den Gebrauch der Vehikularsprachen bezieht, agiert der monolinguale Denkstil verborgener. Zur vertieften Erläuterung sei daher noch einmal auf die Rolle der Vehikularsprachen im Luxemburger Schulwesen hingewiesen: Deutsch ist in der Primärschule Hauptunterrichtssprache und wird dann im postprimären Bereich vom Französischen nach und nach als Vehikularsprache abgelöst. Das Fach Mathematik, das in der Grundschule noch auf Deutsch unterrichtet wurde, funktioniert z.B. ab dem ersten Schuljahr der Sekundarschule (7e) in beiden Sekundarschulzweigen (mit Ausnahme des Régime préparatoire) auf Französisch.88 Im klassischen Gymnasium wird der Unterricht der restlichen nichtsprachlichen Fächer weiterhin auf Deutsch bis zur 4e abgehalten. Ab dann, bis zur Abiturklasse (1e), wechselt die Vehikularsprache auch in den Nebenfächern auf Französisch. Somit sind nur noch der Deutsch- und Englischunterricht neben möglichen weiteren fakultativen Sprachfächern in der Oberstufe von dem Sprachwechsel ausgenommen. Durch den Sprachwechsel in einem Fach, z.B. in Mathematik, wird deutlich, dass bildungspolitisch davon ausgegangen wird, es handle sich bei einzelnen Sprachen um neutrale Medien, zwischen denen man erstens problemlos wechseln kann und sich zweitens die Fachinhalte durch den Wechsel nicht verändern. Im eher berufsvorbereitenden Sekundarschulzweig, dem Enseignement général, ist die Zuweisung der Unterrichtssprachen nicht ganz so eindeutig. Deutsch bleibt überwiegend Vehikularsprache und je nach Bildungsabschluss gibt es spezifische Fächer, die entweder auf Deutsch oder auf Französisch unterrichtet werden. Schaut man sich beispielsweise die Lehrpläne der Abiturklasse des allgemein-technischen Ausbildungsbereiches an, so wird das sektionsspezifische Fach Teleinformatik (vgl. 1GIN 2019-2020) auf Deutsch
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Auf die Frage, weshalb der historisch gewachsene Sprachwechsel im Fach Mathematik vollzogen wird, antwortete einer der Federführer des reformierten Grundschulgesetzes im Experteninterview: »Böse Zungen behaupten, dass das eigentlich eingeführt wurde, damit die Luxemburger Bauern eigentlich da rausselektiert werden können«. Dies zeigt einmal mehr, dass sprachliche und soziale Selektion in Luxemburg curricular evoziert werden.
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unterrichtet. Dagegen werden im kaufmännischen Bereich Fächer wie Buchhaltung (vgl. 1GCC 2019-2020) oder Wirtschaftsmanagement auf Französisch gelehrt (vgl. 1GCG 2019-2020). Anhand dieser Beispiele wird sehr deutlich, dass bestimmte Berufsgruppen und damit Gesellschaftsmitglieder sprachlich (an-)gesteuert werden. Stellenweise darf seit der reformierten Primärschule auch im Sekundarschulunterricht auf Luxemburgisch zurückgegriffen werden, was in den Lehrprogrammen sichtbar gemacht wird und vor der Reform noch nicht der Fall war. So wurde noch im Schuljahr 2007 bis 2008 Französisch als einzige Vehikularsprache im Lehrprogramm Buchhaltung ausgewiesen (vgl. 13CC 2007-2008), bei dem mittlerweile partiell auf Luxemburgisch zurückgegriffen werden darf. Obwohl dem Luxemburgischen gegenüber nunmehr ein sprachliches Zugeständnis gemacht wird, sind jedoch die curricularen Materialien, wie Schulbücher, weiterhin französischsprachig. Der amtierende Bildungsminister begründete den Fokus auf die Einhaltung der Vehikularsprachen im Experteninterview wie folgt: Es gibt einen zweiten Punkt, wo wir eigentlich auch immer mit Bauchgefühl rangegangen sind und gesagt haben, wir lehren auch einzelne Fächer in einer Sprache, damit wir die Sprachkompetenz in dieser Sprache verbessern. Und da gehen wir davon aus, dass das dann auch so passiert, deshalb haben wir im klassischen Sekundarunterricht auch sehr viele Fächer, die anfangs in Deutsch unterrichtet werden und dann drei Jahre vor dem Abitur, die letzten drei Jahre, werden sie auf Französisch unterrichtet […] Mein Bauchgefühl sagt mir, dass das stimmt für Schüler, die schon gut in der Sprache sind. Bei Schülern, die sich allerdings mit dieser Sprache schwertun, sich noch einmal ein zweites Defizit entwickeln kann, nämlich in dem Fach, das dann in der Sprache gelehrt wird. Aber das ist wiederum mein Bauchgefühl, deshalb denke ich, können wir uns nicht nur von Bauchgefühlen leiten lassen, sondern auch das müsste noch einmal von Grund auf analysiert werden. (Claude Meisch, Bildungsminister seit 2013) Das insgesamt fünfmal in dem gesamten Interview erwähnte ›Bauchgefühl‹, mit dem sprachenpolitische Entscheidungen getroffen werden, ist im engeren Sinne nichts weiter als ein handlungsleitender Denkstil, der sich aufgrund der eigenen kulturhistorischen Sozialisation ergibt. Durch die curriculare Zuweisung der Sprachverwendung je Fach resultiert gleichermaßen ein Nebeneinander von sprachlicher Kompetenz, die im Schulkanon sorgfältig aufgetrennt wird. Wenngleich die Bildungspolitik in ihren Reformabsichten darauf abzielte, der individuellen Sprachenbiografie der Schüler gerechter zu begegnen, wurde der nebeneinanderstehende
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Sprachgebrauch bzw. dessen Bewertung durch die Neustrukturierung des Curriculums und die neueingeführte Kompetenzorientierung implizit aufrechterhalten. Als konkretes Beispiel kann hier erneut der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen als kompetenzbasiertes Evaluierungsinstrument angeführt werden, der nach einigen Diskussionen schließlich in den Luxemburger Schulen zum Einsatz kam und 2017 gesetzlich verankert wurde. Die Systematisierung von Sprachkompetenzen nach dem Referenzrahmen als »truly multiplicative paradigm« (Gramling 2016: 30) evoziert die Vorstellung, dass es 24 Sprachsysteme gibt, d.h. die 24 Amtssprachen der EU, die eins zu eins übersetzbar und somit transponierbar sind (vgl. ebd.: 31f.). Ein Sprecher ist demnach nicht einfach nur noch ›einsprachig‹ – wenn er dies denn je war –, sondern soll zudem über die Fähigkeit verfügen, sprachliche Äußerungen und mit ihnen ihre Bedeutungen in eine andere Sprache zu übertragen. Gramling spricht dergestalt auch vom ›translingualen Menschen‹ (vgl. 2017: 35). Die Idee von eindeutig abgrenzbaren Einzelsprachen ist dem Referenzrahmen folglich inhärent und verstärkt diese sogar und so [gilt] […] aller Rede vom ›postmonolingualen Zustand‹ und von der Obsoletheit der Einsprachigkeitsideologie zum Trotz, weiterhin, dass die moderne Welt (Globalisierung, Interkulturalität, Kulturtransfer und Weltliteratur einbegriffen) zunächst aus parallelen, gleichwertigen und panfunktionalen Einsprachigkeiten besteht, die kollektiv, ordentlich und übersichtlich das globale Sprachsystem ausmachen. Mehrsprachigkeit gilt in diesem märchenhaften Denkmodell als absichtliche, strategische oder auch zufällige Erweiterung des natürlichen Zustands der Einsprachigkeit. (Ebd.: 36) So gesehen ist »Mehrsprachigkeit nichts weiter als die Vervielfältigung von Einsprachigkeit« (ebd.: 25). Diese Einsprachigkeitslogik des Referenzrahmens schreibt sich gleichermaßen in die Unterrichtsorganisation ein. Obschon das alleinig nicht ein Phänomen des Luxemburger Unterrichts ist, wird ein dynamischer Gebrauch von Mehrsprachigkeit, bei dem Schüler ihr gesamtes Sprachenrepertoire anbringen, curricular unterbunden. Daraus kann ein Exklusionsmoment resultieren, wie es in anderen Ländern durch die Kopplung der einen Nation an die eine Sprache bewirkt wird. In der Evaluation der Sprachenunterrichtspolitik im Zuge der Reformvorbereitungen wurde sogar davor gewarnt, dass die Dreisprachigkeit nicht exklusiv zum Ausgrenzungsfaktor wird, indem sie wie eine vervielfältigte Einsprachigkeit funktioniert:
IV Der Reformkontext von 2009
Il serait dommageable que le trilinguisme, facteur de réussite individuelle et collective pendant des décennies, ne se transforme progressivement en dispositive exclusive, fonctionnant en fait de la même façon que le monolinguisme qui a prévalu longtemps (et qui prévaut encore parfois) dans certains pays.89 (MENFP/Conseil de l’Europe 2006: 14) Nach Gramling ist die Vorstellung von eins zu eins übertragbaren Einzelsprachen jedoch auch stark verkürzt, da es immer einen ›unübersetzbaren Rest‹ gibt, der eben nicht eins zu eins übertragbar ist. Um dies zu erklären, muss das Verhältnis zwischen Sprache und Bedeutung genauer betrachtet werden. Hierzu bieten sich die von Michael Halliday (2002) geprägten Termini Semiodiversität und Glossodiversität an, die sich beide auf Sprachvielfalt beziehen und die Gramling (2016: 31ff.) weiter ausarbeitet: Semiodiversität bezieht sich auf die Vielfalt von Bedeutungen und damit Ausdrucksmöglichkeiten, die letztlich zu Unübersetzbarkeit führen. So gibt es verschiedene Bedeutungskomponenten, die auf das zu Bezeichnende zutreffen können (vgl. ebd.: 31f.). Ein scheinbar klar umrissener Begriff kann daher in verschiedene Sprachen übersetzt zahllose unterschiedliche und zugleich auch gegensätzliche Bedeutungskonstellationen bezeichnen.90 Verschiedene Sprachen können demnach unterschiedliche Bedeutungen entwickelt haben, die sich abhängig von den historischen Bedingungen der Sprachen untereinander wandeln können (vgl. ebd.: 31). Mit Semiodiversität wird daher eine Varianz im Sprachgebrauch beschrieben, die sowohl im einsprachigen als auch im mehrsprachigen Kontext auftreten kann. Ein Beispiel für Letzteres wäre, wenn in einem per se einsprachigen Sprechakt mehrsprachige Sequenzen eingebaut werden, um eine spezifische Bedeutung zu übermitteln, die nicht in einer Sprache – selbst durch eine korrekte Überset-
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»Es wäre bedauerlich, wenn die Dreisprachigkeit, die jahrzehntelang ein Faktor des individuellen und kollektiven Erfolgs war, nicht allmählich zu einem ausschließlichen Dispositiv würde, das in der Tat genauso funktioniert wie die Einsprachigkeit, die in einigen Ländern lange Zeit vorherrschte (und manchmal immer noch vorherrscht).« Gramling (2016: 31) führt als Beispiel das jordanische Wort zgurt an, das übersetzt so viel bedeutet wie »stark«, »verlässlich« und »männlich«. Zgurt beinhaltet jedoch auch eine nicht übersetzbare Bedeutungskomponente, weil es, so Gramling, in einem translingualen Spannungsverhältnis zur Geschichte Jordaniens unter der britischen Mandatsmacht steht, während der das anglophone Prädikativum is good im jordanischen Lexikon zu zgurt inmitten kontaktlinguistischer Prozesse gekürzt wurde.
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zung – getroffen werden kann. Das Prinzip systematisierter Einsprachigkeit wird dadurch unterlaufen.91 Glossodiversität betont dagegen die Verschiedenheit von Sprachen und sprachlichen Formen. Jede Sprache stellt demnach ein abgeschlossenes System dar und jede sprachliche Äußerung in einer Sprache kann zugleich auch in einer anderen Sprache getroffen werden. Glossodiversität geht von der Übersetzbarkeit von sprachlichen Äußerungen aus. Sprachvielfalt erschöpft sich jedoch nicht in Glossodiversität und so gibt es die Dynamik sprachlichen Ausdrucks auch in einer Sprache, wenn etwa Standardsprache und Dialekt aufeinandertreffen. Mit Blick auf die Luxemburger Unterrichtsrealität können diese beiden Spielarten von Bedeutungsvielfalt der Sprachen gleichermaßen beobachtet werden. Einerseits durch die Sprachenfächer selbst und andererseits durch die Fachvermittlung in einer Vehikularsprache. Denn durch die Vorgabe der Vehikularsprachen wird nur vordergründig eine einsprachige Unterrichtssituation geschaffen. Zum einen wird die Einsprachigkeit dann unterlaufen, wenn Lehrer und Schüler immer wieder auf das Luxemburgische zurückgreifen, um Erklärungen besser auszuführen. Die Kapitel 2.2 und 2.3 zeigten bereits, dass dies eine gängige Praxis im Unterricht ist und das Luxemburgische als informelles Hilfsvehikel fungiert. Zum anderen können bestimmte Bezeichnungen in der Vehikularsprache durch Luxemburgismen ersetzt werden, weil es keine passgenaue Übertragung in die Zielsprache gibt. Hier ist es z.B. auch schwer nachvollziehbar, inwiefern der mündliche Gebrauch dann überhaupt sanktioniert wird. So laufen in der schulischen Sprachenpraxis stets mehrsprachige Codes mit, auch wenn diese zumindest curricular gesehen in weiten Teilen ausgeklammert werden, indem z.B. Prüfungsmodalitäten einsprachig funktionieren und Sprachfertigkeit im Schulwesen weitgehend nebeneinandergestellt wird. Auch hier zeigt sich erneut die Idee des curricularen Einsprachigkeitsprinzips, bei dem Luxemburgisch einen didaktischen Platzverweis erhält. Schließlich sind weder die Funktion »Integra-
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Auch Batty Weber weist in seinem Denkmodell der ›Mischkultur‹ auf die Uneindeutigkeit in Übersetzungen am Beispiel des Luxemburger Idioms hin, das nicht ohne Weiteres ins Schriftdeutsche übertragen werden kann: »Tausende von malerischen und charakteristischen Redewendungen, die den Reiz dieser Mundart ausmachen, sind im Deutschen nicht zu gebrauchen, weil sie auf Kulturzustände anspielen, die dem deutschen Leser fremd sind« (1909: 124).
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tionssprache« noch »Kommunikationssprache« mit konkreten didaktischen Anweisungen im Lehrprozess versehen. Das monolinguale Paradigma zeigt sich nicht nur in der Organisationslogik der Luxemburger Schule, sondern auch in der Luxemburger Lehrerausbildung. Für angehende Sekundarschullehrer für die sprachlichen Fächer Deutsch, Französisch und Englisch war es bis zur Gründung fachspezifischer Lehramtsstudiengänge an der Universität Luxemburg Voraussetzung, einen festgelegten Studienzeitraum in dem Land abzuleisten, dessen Landessprache im Kernfach belegt wurde (vgl. Mémorial A85 2010: 1580, Art. 1581.d). Dies gilt ausschließlich für den Sekundarschulbereich, da Grundschullehrkräfte für alle Fächer ausgebildet werden. Neben der rein praktischen Absicht, durch den Auslandsaufenthalt die sprachliche Kompetenz in dem studierten Fach zu verbessern, was freilich im Widerspruch zur scheinbar vermittelten muttersprachlichen Kompetenz in der Schule selbst steht, kann auch hier mit dem schulischen Ideal der ›Mischkultur‹ argumentiert werden. Nach dieser vom Schulwesen interpretierten Denkfigur sollen Abiturienten im angrenzenden Ausland ihrer Ausbildung nachgehen und mit den dort erworbenen kulturellen Erfahrungen zum nationalen Zugewinn im Großherzogtum beitragen. In den Fachorganisationen der Sprachenfächer wird dieser kulturelle Denkstil in Anbetracht der gescheiterten Sekundarschulreform von 2012 sichtbar, wie eine ehemalige Präsidentin der Programmkommission Deutsch EST erläutert: Aber die Französischlehrer das haben wir eben da gemerkt […] also das war Mord und Totschlag, das war krass, die haben ANONYM und mich beinahe lebendig gefressen, also als wir da als Vertreter vom Ministerium hinkamen und wir nehmen ihnen jetzt die Punkte weg und … das französische System ist denen glaube ich in Leib und Blut irgendwie übergegangen und die konnten sich damit gar nicht anfreunden. (Präsidentin der Programmkommission Deutsch EST 2010-2016) Hier wird deutlich, dass auch die Ausbildungskultur spezifische Sprachideale festschreibt, die sich geradezu systemisch in den Köpfen von schulischen Akteuren verankern und einer fachspezifischen Organisationslogik folgen. Gegenüber einem der Ziele der Primärschulreform, die Zusammenarbeit zwischen einzelnen Fachbereichen zu intensivieren, wurde von Lehrerseite dementsprechend mit Ablehnung reagiert. So sollten Lehrer sich fortan in multidisziplinären Teams organisieren, dem sich einige Vertreter der Berufsgruppe jedoch verweigerten. Das Tageblatt kommentierte diese Haltung zur Zeit der Reformvorbereitungen wie folgt:
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Auch das kritische Hinterfragen des Lehrauftrags löst bei den Pädagogen Sorgenfalten aus. Dabei müsste doch klar sein, dass sich der Lehrberuf nicht an Denkschemen und Gewohnheiten von gestern klammern kann. Der gesellschaftliche Wandel kennt kein Pardon. Auch Lehrer müssen mit den neuen Herausforderungen Schritt halten. Die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei. Die Schule von morgen braucht eine konsequente Offenheit. Mit Betonköpfen lassen sich zwar Mauern errichten, nicht aber grundlegende Reformen durchsetzen. (TB 20.02.2006) Die hier beschriebenen althergebrachten Denkschemen im Lehrberuf und die einzelkämpferische Natur des Lehrers liegen neben den Ausbildungsvoraussetzungen auch in der Organisationsstruktur der jeweiligen Fachdidaktiken selbst begründet. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass ein fachspezifischer sprachlicher Denkstil den Unterrichtskanon dominiert und dieser sich zwischen den beiden Sekundarschultypen unterscheidet. Auf Grundlage der Sitzungsprotokolle der Programmkommissionen Deutsch für das klassische und technische Gymnasium zeigt sich nämlich, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Sprachenfächern nicht die Regel war. Die PK Deutsch des klassischen Sekundarschulbereiches vermied z.B. den stärkeren fachlichen Austausch mit der Programmkommission für das Fach Französisch. Interdisziplinäre Deutsch-Französisch-Arbeitsgruppen wurden zwar punktuell eingesetzt, um synergetische Konstellationen zu nutzen, von einer vertiefenden Zusammenarbeit wird jedoch abgesehen, wie es aus einem Sitzungsprotokoll aus dem Jahr 2007 des klassischen Sekundarschulbereiches heißt (vgl. ESC-D-4 2007). Die Autonomie der Fächer solle weiterhin bestehen bleiben (vgl. ebd.). Zudem wurde eine Angleichung der Kompetenzsockel zwischen Classique und Technique von der PK Deutsch der klassischen Lyzeen ausgeschlossen. Zu sehr unterscheiden sich die einzelnen Zielsetzungen und von Seite des klassischen Sekundarschulbereiches wurde überdies ein Nivellement vers le bas befürchtet, also eine Niveausenkung der Sprachkompetenz. Dagegen gab es im technischen Sekundarschulunterricht eine produktive Zusammenarbeit in den einzelnen Sprachenfächern, um die Lernziele nach Möglichkeit zu vereinheitlichen und um Prüfungsmodalitäten abzustimmen (vgl. EST-D-6 2010; EST-D-9 2010; EST-D-10 2010). Angesichts dieser Erläuterungen wird ersichtlich, dass die beiden Sekundarschultypen unterschiedliche Ziele hinsichtlich der Festigung sprachlicher Kompetenz verfolgen und damit zeitgleich unterschiedliche Sprecher ›fabriziert‹ wer-
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den.92 Durch die verstärkt fächerübergreifende Zusammenarbeit im technischen Sekundarschulbereich wird Sprachfertigkeit nicht isoliert betrachtet, wie es eher im klassischen Gymnasium der Fall ist. Diese Flexibilisierung in der Fachorganisation ist sicherlich auch als Grund dafür anzuführen, weshalb sich der technische und nicht der klassische Sekundarschulbereich mittlerweile in differenzierte (Sprach-)Klassen organisieren ließ, wie etwa mit frankophonen Regimes. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der sprachliche Bildungsaufbau der mehrsprachigen Luxemburger Schule so disziplinarisiert ist, dass das Reformziel, die sprachliche Selektion zu verringern, nicht über die Verfächerung hinauskam. Mehrsprachigkeit wird fachspezifisch gedeutet und ein monolingualer Denkstil curricular zementiert. Eine natürliche mehrsprachige Praxis wird curricular zudem unterbunden, indem die Vehikularsprachen des jeweiligen Faches grundsätzlich einzuhalten sind. Die Unterrichtsorganisation war zwar bildungspolitisch in Teilen mit einem neuen Anstrich versehen worden, wie die Gliederung zweijähriger Zyklen anstelle der vorherigen Schuljahre in der Grundschule zeigt, doch die curriculare Einzelfachorganisation blieb weitgehend unangetastet. So änderte sich etwa auch nicht der additive Aufbau im Sprachenlernen und Stützkurse kamen vorwiegend extracurricular zum Einsatz. Die Handhabe der Unterrichtssprachen, die im Reformprozess z.T. gelockert wurden, wird momentan besonders im Grundschulbereich neu organisiert. So gibt es seit der Rentrée 2018 nun auch Programmkommissionen für die Grundschule, die sogenannten CNEFs, die jedoch, anders als im Sekundarschulbereich üblich, Programme nicht für einzelne Fächer, sondern für Fächerfamilien festlegen. Damit entwickelt sich allmählich ein anderes Verständnis von Mehrsprachigkeit. Der curriculare Blick öffnet sich dahingehend, dass die traditionelle Bildungsplanung dann nicht mehr von Einzelfächern ausgeht und Mehrsprachigkeit dadurch als »Pluralisierung von Einsprachigkeit« (Pennycook 2010: 132) organisiert ist, die von klar abgetrennten Sprachsystemen ausgeht. Vielmehr wird durch diese Neuorganisation – und damit auch Formierung von neuen Denkstilen in Bezug auf Mehrsprachigkeit – von einer dynamischeren Mehrsprachigkeit ausgegangen, die das gesamte sprachliche Repertoire der Schüler einbeziehen möchte und so auch eher der sprachlichen Realität des Landes Rechnung trägt. 92
Auch nach dem politischen Wechsel im Bildungsministerium wird eher davon abgesehen, die Programmkommissionen im ESC und ESG eines Faches zu verbinden, unterscheiden sich doch die einzelnen Zielsetzungen (vgl. ESC-D-41 2015).
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Eine Überlegung, an die hier für das Sekundarschulwesen anzuknüpfen wäre, ist die Entwicklung eines Mehrsprachencurriculums, um Sprachheterogenitäten im Klassenzimmer besser koordinieren zu können. Für Luxemburg wurde bisher noch kein Mehrsprachencurriculum entwickelt, obgleich die Bildungsstandards für Sprachen eine Unterrichtsplanung im Kontext der Language Awareness vorsehen und auch die Autoren des 2016 erschienenen PISABerichtes dezidiert auf den »inadäquaten Umgang« (MENJE et al. 2016: 13) mit der heterogenen Schülerpopulation hinweisen und dahingehend eine neue Sprachenpolitik vorschlagen (vgl. ebd.). In Anlehnung an die Sprachforscher Krumm und Reich (2011), die im Auftrag des österreichischen Bildungsministeriums ein Mehrsprachencurriculum im Rahmen der Lehrerausbildung93 erarbeiteten, kann die tatsächliche Vielsprachigkeit dadurch bewusst als Ressource genutzt werden. Mehrsprachige Bildung wird dabei als Bestandteil allgemeiner Bildung betrachtet (vgl. ebd.: 10). Somit kommt mehrsprachige Bildung nicht extracurricular zum Einsatz und Denkstile einzelner Fachkulturen können dadurch aufgebrochen werden. Das Mehrsprachencurriculum übernimmt eine entlastende, koordinierende und sprachpädagogische Funktion (vgl. ebd.: 8f.): Lernschritte werden aufeinander abgestimmt und Dopplungen vermieden (entlastend); Lernergebnisse des Mehrsprachenunterrichts werden im sprachlichen Einzelfach vertieft und differenziert (koordinierend) und letztlich Sprachzusammenhänge identifiziert (sprachpädagogisch), wodurch gleichzeitig Sprach- und Kultursensibilität im Unterricht geschult wird. Die konkrete Umsetzung und Unterrichtsorganisation kann dabei sehr unterschiedlich aussehen und flexibel an die Lokalbedürfnisse angepasst werden, wie am österreichischen Beispiel zu sehen ist (vgl. ebd.: 10): Die Autoren veranschlagen zwei Wochenstunden, bei denen das Thema Mehrsprachigkeit entweder als einzelnes Fach oder fächerintegrativ gelehrt wird. Letzteres ist dabei mit Blick auf das Aufbrechen des einzelsprachlichen Kanons von besonderer Bedeutung. Das Thema Mehrsprachigkeit kann etwa in gemeinsamer Abstimmung der Sprachlehrer und vor allem auch als geteilte Verantwortung der sprachlichen Einzelfächer erteilt werden. Kombinationsfächer wären hierbei ebenso denkbar. Lehrinhalte und Aufgabenverteilung können zu Beginn des Schuljahres von den Lehrkräften festgelegt werden oder die Schule beschließt selbst einen »permanenten Stoffverteilungsplan« (ebd.: 11). Ein93
Seit 2014 wird das Rahmenmodell von Krumm und Reich von allen Pädagogischen Hochschulen und Universitäten in der österreichischen Lehrerausbildung vermittelt (vgl. ÖSZ 2020).
IV Der Reformkontext von 2009
zelsprachliche Verantwortung für das Thema Mehrsprachigkeit wäre ebenso denkbar, indem je nach Schulstufe ein anderes Sprachenfach das Thema behandelt (vgl. ebd.). Unabhängig davon, wie die genaue Organisation aussieht, bietet das Mehrsprachencurriculum den Vorteil, sprachliche Ziele als gemeinsame Aufgabe wahrzunehmen. In den Experteninterviews wurde konkret die Frage gestellt, ob die Befragten die Entwicklung eines Mehrsprachencurriculums in Luxemburg für sinnvoll erachten. Da es nicht das primäre Ziel der Befragung war, die Aussagen evaluativ zu bewerten, wird an dieser Stelle auf den Verweis persönlicher Einschätzungen verzichtet, zumal den meisten Interviewpartnern das Hintergrundwissen zum Mehrsprachencurriculum nach Krumm/Reich (2011) fehlte. Implizit kam jedoch an anderen Stellen der Interviews zum Tragen, dass während des Reformprozesses die Idee verstärkt verfolgt wurde, das individuelle Sprachenrepertoire der Schüler in das Unterrichtsgeschehen miteinzubeziehen. Um das Konzept des Mehrsprachencurriculums für den Luxemburger Kontext fruchtbar zu machen, müssten jedoch zunächst die strukturellen Weichen in den Fachorganisationen gestellt sein und die Einbeziehung der Erstsprachen durch intracurriculare Aktivitäten fokussiert werden.
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Zwischenfazit. Sprachliches Denkkollektiv und die Stilisierung modellhafter Sprecher
Entlang des schwerpunktmäßig untersuchten 2009er-Reformkontextes lassen sich verschiedene Grundpositionen schulischer Akteure identifizieren, die darauf abzielen, Mehrsprachigkeit in der Luxemburger Schule zu vermitteln. Reformtopoi, wie die Neuausrichtung des Sprachenunterrichts, zogen zahlreiche Kontroversen auf unterschiedlichen Aggregierungsebenen von der Bildungspolitik bis zu den Akteuren im Klassenzimmer nach sich, die das durch den Gesetzesrahmen von 1912 konstruierte sprachliche Selbstverständnis auf den Kopf stellten. Summa summarum ließen sich auf Basis des Untersuchungsmaterials drei signifikante Argumentationslogiken und mit ihnen sprachliche Denkstile rekonstruieren, aus denen sich modellhaft Ideen darüber ableiten lassen, wie der stereotypische Luxemburger Schüler bzw. Gesellschaftsangehörige zu denken ist und welche (sprachlichen) Eigenschaften dieser vorzuweisen habe. Diese sprachlichen Denkstile sind in der curricu-
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IV Der Reformkontext von 2009
zelsprachliche Verantwortung für das Thema Mehrsprachigkeit wäre ebenso denkbar, indem je nach Schulstufe ein anderes Sprachenfach das Thema behandelt (vgl. ebd.). Unabhängig davon, wie die genaue Organisation aussieht, bietet das Mehrsprachencurriculum den Vorteil, sprachliche Ziele als gemeinsame Aufgabe wahrzunehmen. In den Experteninterviews wurde konkret die Frage gestellt, ob die Befragten die Entwicklung eines Mehrsprachencurriculums in Luxemburg für sinnvoll erachten. Da es nicht das primäre Ziel der Befragung war, die Aussagen evaluativ zu bewerten, wird an dieser Stelle auf den Verweis persönlicher Einschätzungen verzichtet, zumal den meisten Interviewpartnern das Hintergrundwissen zum Mehrsprachencurriculum nach Krumm/Reich (2011) fehlte. Implizit kam jedoch an anderen Stellen der Interviews zum Tragen, dass während des Reformprozesses die Idee verstärkt verfolgt wurde, das individuelle Sprachenrepertoire der Schüler in das Unterrichtsgeschehen miteinzubeziehen. Um das Konzept des Mehrsprachencurriculums für den Luxemburger Kontext fruchtbar zu machen, müssten jedoch zunächst die strukturellen Weichen in den Fachorganisationen gestellt sein und die Einbeziehung der Erstsprachen durch intracurriculare Aktivitäten fokussiert werden.
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Zwischenfazit. Sprachliches Denkkollektiv und die Stilisierung modellhafter Sprecher
Entlang des schwerpunktmäßig untersuchten 2009er-Reformkontextes lassen sich verschiedene Grundpositionen schulischer Akteure identifizieren, die darauf abzielen, Mehrsprachigkeit in der Luxemburger Schule zu vermitteln. Reformtopoi, wie die Neuausrichtung des Sprachenunterrichts, zogen zahlreiche Kontroversen auf unterschiedlichen Aggregierungsebenen von der Bildungspolitik bis zu den Akteuren im Klassenzimmer nach sich, die das durch den Gesetzesrahmen von 1912 konstruierte sprachliche Selbstverständnis auf den Kopf stellten. Summa summarum ließen sich auf Basis des Untersuchungsmaterials drei signifikante Argumentationslogiken und mit ihnen sprachliche Denkstile rekonstruieren, aus denen sich modellhaft Ideen darüber ableiten lassen, wie der stereotypische Luxemburger Schüler bzw. Gesellschaftsangehörige zu denken ist und welche (sprachlichen) Eigenschaften dieser vorzuweisen habe. Diese sprachlichen Denkstile sind in der curricu-
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
laren Praxis z.T. weniger konform, überlagern sich, können aber auch kombiniert werden oder sich gegenüberstehen. Symptomatisch zeichnen sie sich durch ein Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander von Vorstellungen über Sprachfertigkeit aus. Bei den drei Grundpositionen handelt es sich im Einzelnen um: Erstens die Argumentationslogik einer kohäsiven Sprachenunterrichtspolitik. Mit ihr korreliert der Denkstil einer sich gegenseitig befruchtenden Sprachenpraxis vom Luxemburgischen zum Deutschen und dann letzten Endes zum Französischen. Dieser von der Bildungspolitik als völlig natürlich inszenierte Übergang zwischen den Sprachen und mit ihm die Vorstellung eines sprachlichen Abhängigkeitsverhältnisses ist historisch gesehen eng mit dem schulisch gedeuteten Ideal der ›Mischkultur‹ verbunden und gesetzlich bereits in dem Vorgängergesetz von 1912 implementiert. Das Luxemburgische wurde hier bereits als nationalstaatlich gedeutetes sprachliches Verbindungsglied unter den Luxemburgern sowie als Ausdruck sprachlicher Nähe verstanden. Deutsch und Französisch sind das sprachliche Surplus des Luxemburgers, derer er sich in seiner Schulkarriere völlig souverän zu bedienen lernt. Im 2009er-Reformkontext wurde diese Idee nicht verworfen, sondern ihr wurde bildungspolitisch ein neuer Anstrich verpasst, indem dem Luxemburgischen eine integrative Schlüsselfunktion für Luxemburger und Nichtluxemburger zugeschrieben wurde. Dadurch soll ein verstärkt interkulturelles Bewusstsein geschaffen werden, das für mehr Chancengleichheit sorgt. Anders als zuvor werden der Übergang im Sprachenlernen und die daraus abgeleiteten Synergieeffekte nunmehr dezidiert auf Grundlage des Luxemburgischen und damit nicht mehr von den Schriftsprachen Deutsch oder Französisch aus konzipiert. Einerseits wird das Luxemburgische dadurch gesellschaftspolitisch über den Schulbereich aufgewertet. Andererseits ist die plakative Zuschreibung der integrativen Brückenfunktion Ausdruck eines bildungspolitischen Ablenkungsmechanismus, da dem Luxemburgischen im Vergleich zum Deutschen und Französischen in der Luxemburger Schule weiterhin ein extracurricularer und informeller Status zukommt. Auch wenn im Zuge des Reformkontextes politisch veranlasst wurde, dass das Luxemburgische verstärkt partiell im Unterricht zum Einsatz kommen kann, wird ihm dabei kein systematischer Gebrauch attestiert. Zweitens die Argumentationslogik der isolierten Sprachkompetenz, bei welcher davon ausgegangen wird, dass Mehrsprachigkeit einzelsprachlich funktioniert und weniger kombiniert vermittelt wird. Der dahinter liegende Denkstil, der eine nebeneinanderstehende Sprachkompetenz in den
IV Der Reformkontext von 2009
drei Landessprachen voraussetzt, ist maßgeblich durch den Fächerkanon geprägt und der damit einhergehenden Einhaltung der vorgeschriebenen Vehikularsprachen. Dieser Denkstil ist kombinierbar mit der kohäsiven Sprachenpolitik, da der Übergang zwischen den Sprachen teilweise auch eine sprachlich-curriculare ›Ablöse‹ impliziert, wie etwa vom Luxemburgischen zum Deutschen in Zyklus 2.1. Die Vorstellung einzelner, in sich abgeschlossener Sprachsysteme ist eine besonders schwerfällige Konstruktion von Mehrsprachigkeit: Sie widersprach dem Reformziel, die Luxemburger Dreisprachigkeit zugänglicher zu gestalten. Historisch gesehen war dieses Verständnis des nebeneinanderstehenden Sprachgebrauches lange und ist z.T. immer noch mit dem Denkstil verknüpft, dass vor allem Französisch und Deutsch, mittlerweile verstärkt auch Englisch, gleich gut auf einem möglichst hohen Sprachniveau beherrscht werden sollen. Die Sprachkompetenz wird dabei mit Blick auf den kompetenten Muttersprachler bestimmt. Im Zuge der Kompetenzorientierung musste die Dreisprachigkeit für Luxemburg jedoch neu definiert werden und das gleichsprachige Sprachverständnis wurde dadurch sukzessiv aufgebrochen. Das imaginierte Bild des dreisprachiggleichsprachigen Sprechers wird dementsprechend mit dem Gesetzesrahmen von 2009 überdacht. Unterschiedliche Sprachniveaus sollten beispielsweise durch den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen sichtbar gemacht und ein differenzierter Unterricht dadurch ermöglicht werden. Im Zuge der Europäisierung der Bildungspolitiken seit der Jahrtausendwende sollten überdies Sprachkenntnisse für den Hochschulzugang zertifiziert werden, sodass Schüler nach ihrem Abschluss den Bedürfnissen des globalisierten Arbeitsmarktes entsprechend begegnen können. Der Prozess der Sprachzertifizierung nach dem Referenzrahmen war jedoch in Luxemburg mit zahlreichen Kontroversen verbunden. Vor allem die Vorstellung der Gleichsprachigkeit bzw. muttersprachlichen Sprachkompetenz in den drei Landessprachen wurde dementsprechend infrage gestellt. Die Anpassung an den GER evozierte zudem die Frage nach Sprachhegemonien, d.h., ob die drei Landessprachen im Unterricht z.B. in Form einer Zweitoder Fremdsprachendidaktik vermittelt werden. Da das Luxemburgische nicht zu den 24 EU-Sprachen gehört und auch weiterhin nicht als akademische Hochsprache betrachtet wird, gerät es ins Hintertreffen. Durch den inszenierten Übergang vom Luxemburgischen zum Deutschen und damit der schul- sowie nationalpolitischen Stärkung des Luxemburgischen entging die Bildungspolitik der Gefahr, die Dreisprachigkeit zum Gegenstand grundlegender Reformversuche werden zu lassen. Dies belegte auch die Analyse
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
der politisch verschleiernden Rhetorik im Hinblick auf die ›Neuausrichtung‹ des Sprachenunterrichts anstelle einer ›Reformierung‹ sowie auf die Tendenz, supranationale Bildungsvorgaben zu nationalisieren. Das Ideal der Dreisprachigkeit als Signum einer nationalen Identitätszuschreibung sollte dadurch konserviert werden. Mittlerweile ist der GER und mit ihm die Sprachdifferenzierung in den Luxemburger Schulen angekommen und mit dem für die Grundschule ausgearbeiteten Plan d’études von 2011 und der Sekundarschulreform 2017 auch gesetzlich verankert. Der gleichsprachige Denkstil findet sich jedoch teilweise heute noch symptomatisch in schulischen Strukturen. So handelt es sich nach dem Ende des Sekundarschulabschlusses bei dem sprachlichen Mindeststandard – und nicht Regel- oder Exzellenzstandard – um ein C1-Niveau, das die Schüler nach dem Abitur an beiden Sekundarschulzweigen in Deutsch und Französisch erreicht haben sollen. Das Luxemburgische wird im Schulbereich nicht nach den GER-Sprachniveaus akkreditiert. Mögliche Begründungen dafür wären, dass das Luxemburgische nicht als Fremdsprache gilt und deswegen nicht in verschiedene Sprachniveaus eingeteilt wird, oder aber – und aus curricularer Sicht liegt diese Argumentation näher – der eher informelle Status des Luxemburgischen im Lehrprogramm dazu führt, dass sich das Luxemburgische sprachlich weniger dazu eignet, am Ende der Schullaufbahn zertifiziert zu werden. Des Weiteren zeigte die Untersuchung, dass sprachliche Differenzierung hauptsächlich im Enseignement secondaire général, ehemals technique, stattfindet, da dort, je nach sprachlicher Kompetenz, Grund- und Leistungskurse angeboten werden. Eine Flexibilisierung des Sprachenunterrichts wurde in den letzten Jahren vor allem in Form einer Parallelstruktur von Europaschulen und Internationalen Schulen durchgesetzt, die stellenweise ins Regelschulsystem übertragen wurden und bei denen sprachliche Schwerpunkte gesetzt werden können. Dadurch konnte vermieden werden, das klassische Gymnasium wesentlich strukturell zu verändern. So gesehen bilden sich zwei Schulsysteme heraus, in denen Schüler sprachlich unterschiedlich gesteuert werden. Drittens entwickelt sich allmählich ein in der vorliegenden Untersuchung als ›dynamisch‹ bezeichnetes Verständnis von Mehrsprachigkeit und löst allmählich den Denkstil einer nebeneinanderstehenden, isolierten Sprachenpraxis ab. Diese Vorstellung geht von dem Standpunkt aus, dass das gesamte Sprachenrepertoire der Schüler verstärkt zu berücksichtigen ist und Mehrsprachigkeit nicht kompartimentalisiert wird. Nach dieser Argumentationslogik werden Sprachsysteme daher nicht als völlig abgetrennte Entitäten be-
IV Der Reformkontext von 2009
griffen. Dahingehend wäre sogar der Begriff ›Mehrsprachigkeit‹ hinfällig, sofern ›Sprachigkeit‹ die Zählbarkeit und Systematisierung von Sprachen impliziert. Dieser recht junge und durch Sprachenöffnung gekennzeichnete Denkstil wurde durch den Reformkontext angestoßen und steht entgegen der nationalstaatlichen Idee von Einheitssprachen, wenngleich diese nicht völlig obsolet erscheint und eingebunden werden kann. Curricular gesehen soll neben dem individuellen sprachlichen Ausgangspunkt auch die Vermittlung in den Landessprachen anders aufeinander abgestimmt werden. Diese Vorstellung von Mehrsprachigkeit wird auf der Programmebene im Grundschulbereich seit wenigen Jahren konstruiert, indem sich Programmkommissionen für sprachliche Fächer zusammenschließen und gemeinsam über Sprachenvermittlung diskutieren und synergetische Konstellationen nutzen. Weitet man dieses Verständnis künftig vermehrt im Sekundarschulbereich aus, muss auch hier auf der Programmebene angesetzt werden, um ein fachspezifisch gedeutetes Verständnis von Sprachen neu zu denken. Der modellhafte Schülertypus kann dabei sein gesamtes sprachliches Wissen vernetzen und situativ einsetzen, was wiederum auch dem Kompetenzgedanken entspräche. Für das Curriculum bedeuten diese drei bildungspolitischen und ideologisch aufgeladenen Zugriffsformen auf die schulische Mehrsprachigkeit konkret, dass dessen Funktionalität entsprechend beeinträchtigt ist. Zum einen mangelte es während des Reformprozesses an einem sprachunterrichtspolitischen Konsens und zum anderen sind die Programme durch die Überlagerung verschiedener Denkstile geprägt und kaum harmonisiert. Die Anpassung sprachlicher Kompetenzniveaus und die Integration der nicht Luxemburger Schülerpopulation in das vor allem für Luxemburger Schüler konzipierte Schulsystem kennzeichnen dabei eine der größten Herausforderungen, zumal sich an den Reformlinien national disponierte kulturhistorische Erfahrungen stoßen. Die Vorstellung, dass der stereotypische Luxemburger sozusagen mindestens dreimal einsprachig ist, wurzelt in den Nationsbildungsprozessen des 19. Jahrhunderts. Denkkollektive können sich dahingehend nur sukzessiv verändern. Die Luxemburger Dreisprachigkeit wurde zwar als Hürde anerkannt, doch änderte sich an der sprachlichen Unterrichtsorganisation im Jahr 2009 wenig, da der kumulative Aufbau im Sprachlernprozess aufrechterhalten wurde. Prinzipiell gingen die politischen Bestrebungen in Richtung einer Sprachenöffnung und so entsteht nicht zufällig, sondern im Lichte gesamteuropäischer Sprachvorstellungen ein neuer sprachlicher Denkstil.
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V Schlussbetrachtung Die Curricularisierung einer Mehrsprachigkeit? Chancen, Grenzen und Entwicklungstendenzen
»Denn ich glaube, es liegt nicht an der Sprache, es liegt an den Verhältnissen. Die Verhältnisse sind das Primäre« (Weber 1909: 124). Die Verhältnisse, die Batty Weber hier in seinen Erläuterungen zur ›Mischkultur‹ beschreibt, beziehen sich auf den speziell kulturhistorisch gewachsenen Kontext in Luxemburg, durch den spezifische Gesellschaftsvorstellungen und mit ihnen bestimmte Formen von Sprachverständnis avisiert werden. Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass sich diese Vorstellungen besonders in curricularen Strukturen manifestieren und durch sie gleichzeitig hervorgebracht werden. Das Curriculum wird folglich als Scharnier zwischen der Organisation des Unterrichts und sozialen Prozessen gedeutet. Unter Einbeziehung einer angelsächsischen Curriculumtheorie wurden Identitätsformierung und Curriculumentwicklung in der vorliegenden Studie als kokonstruierende Prozesse verstanden. Die Untersuchung des Reformprozesses von 2009, der in der Arbeit schwerpunktmäßig als Drehkreuz für Neujustierungen im sprachlichen Selbstverständnis betrachtet wird, belegte, dass es verschiedene, sich widersprechende sowie überlagernde curriculare Konstruktionen von Mehrsprachigkeit gibt, aus denen zugleich unterschiedliche Auffassungen von Sprachvermittlung und Sprachkompetenz erzeugt werden. Wie sich sprachliches Selbstverständnis und Curriculum gegenseitig bedingen und inwiefern dabei kulturhistorisch geprägte Denkstile die Grundlage für bildungspolitische Entscheidungen liefern, bildete das Kerninteresse der vorliegenden Arbeit. Vor diesem Hintergrund wurde forschungsleitend gefragt, wie die Luxemburger Sprachenidentität durch Curriculumentwicklung hervorgebracht und gedacht wird und wie dabei supranationale Bildungsagenden mit der Ausgestaltung einer Luxemburger Sprachenidentität interferieren.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Dazu wurde untersucht, mit welchen Argumentationslogiken verschiedene schulische Akteure ihre sprachenpolitischen Positionierungen im Rahmen von curricularen Reformversuchen legitimierten und welche Konflikte dadurch angesichts der unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Schülerschaft entstehen. Curriculumentwicklung wurde in diesem Zusammenhang nicht nur als intendierte, sondern eben auch als nichtintendierte Steuerung schulischer Realitäten begriffen. Diese These konnte in der vorliegenden Arbeit belegt werden. Zum einen ist Curriculumentwicklung als intendierte Steuerung zu verstehen, da durch die Festlegung des Lehrstoffes das Curriculum bildungspolitisch bewusst für gesellschaftliche Interventionen genutzt wird. Dies wurde durch den geschichtlichen Verlauf seit der Institutionalisierung des Schulwesens bis zu den Reformplänen 2009 deutlich. Zum anderen unterliegt Curriculumentwicklung auch einer nichtintendierten Steuerung, weil curriculare Inhalte bereits durch spezifische (sprachliche) Denkstile – das sind besonders strukturell und institutionell verankerte Einstellungen (gegenüber Sprache) – vorgeprägt sind. Diese Denkstile sind demzufolge oft unbewusst durch die kulturhistorische Sozialisierung bestimmt und beeinflussen den bildungspolitischen Entscheidungsprozess. Dass diese kulturhistorischen Implikationen gleichermaßen mit Neuordnungen im Bildungsbereich in Konflikt stehen können, wurde am Beispiel einer historischen Reform aufgezeigt, wie sie 2009 im Primärschulbereich in Luxemburg stattfand. Das Untersuchungsmaterial, das verschiedene bildungsplanerische Blickwinkel berücksichtigt und sich im Einzelnen aus schriftlichen Chamberdebatten, Gesetzestexten, Protokollen von Lehrplankommissionen, curricularen Rahmendokumenten und Zeitungsartikeln sowie 15 leitfadengestützten Experteninterviews zusammensetzt, war sehr heterogen und möglichst kontrastiv. Auf dieser Grundlage wurden verschiedene Argumentationslogiken schulischer Akteure identifiziert und aus ihnen als ›Denkstile‹ definierte Einstellungen gegenüber Sprache extrahiert. Die verschiedenen Argumentationslogiken und Denkstile geben Aufschluss darüber, wie die Luxemburger Gesellschaft funktionieren und über welche sprachlichen Eigenschaften ihre Mitglieder idealerweise verfügen sollen. Kurzum, welche sprachlichen Identitätsvorstellungen unter welchen Bedingungen konstruiert werden. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene und z.T. konfligierende Deutungen von Drei- oder allgemein Mehrsprachigkeit und mit ihnen Vorstellungen eines modellhaften Schülertypus herausgearbeitet, die nicht losgelöst von ihrem kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu denken sind.
V Schlussbetrachtung
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Fazit. Curriculumentwicklung und Identitätskonstruktion
Im Verlaufe der Schulgeschichte wurde deutlich, dass Sprachenpolitik im Großherzogtum schon früh abhängig von geopolitischen Faktoren war, was sich an den unterschiedlichen Herrschaftsansprüchen und Annexionsplänen der Nachbarländer vor der Eigenstaatlichkeit Luxemburgs 1839 aufzeigen ließ. Ein Nationalbewusstsein bildete sich in Luxemburg dadurch eher schleichend und im Vergleich zu anderen europäischen Nationalstaaten verspätet heraus. Dieses Bewusstsein wurde, anders als in anderen Ländern üblich, nicht über eine Einheitssprache, sondern über die Luxemburger Mehrsprachigkeit mit Deutsch, Französisch und Luxemburgisch, welches zu dieser Zeit noch als Mundart begriffen wurde, und ihrer Einbettung im Schulwesen vermittelt. Sowohl die Aufarbeitung des historischen Kontextes als auch die Schwerpunktanalyse des Reformprozesses von 2009 veranschaulichten, dass die Luxemburger Mehrsprachigkeit und das Verhältnis der Sprachen zueinander curriculumgeschichtlich neu inszeniert und Sprachenidentität dementsprechend in vielfältiger Weise gedacht werden kann. Dabei wurden aus verschiedenen Kontroversen drei übergeordnete kulturhistorisch geprägte Denkstile herausgearbeitet, die sich durch die Analyse verschiedener Argumentationslogiken identifizieren ließen. Aus Denkstilen gehen demnach unterschiedliche Argumentationslogiken hervor, mit denen bildungspolitische Entscheidungen begründet werden und die Aufschluss über spezifische Identitätsvorstellungen und mit ihnen idealtypische Schüler geben. Noch einmal zusammengefasst zeigte die Auswertung des Untersuchungsmaterials, dass Mehrsprachigkeit als Luxemburger Identitätsmerkmal kulturhistorisch im Curriculum einzelsprachlich und nebeneinanderstehend (Argumentationslogik der isolierten Sprachkompetenz), ineinander übergehend und sich gegenseitig befruchtend (Argumentationslogik der kohäsiven Sprachenunterrichtspolitik) oder dynamisch (Argumentationslogik von nicht abgeschlossenen Sprachsystemen) konstruiert und entsprechend gedacht wird. Gleichwohl stehen diese Konstruktionsmechanismen z.T. in Konflikt mit außerschulischen Einflüssen, der heterogenen Schülerpopulation und mit ihr den sprachlichen Voraussetzungen der Schülerschaft. Dass curriculares Paradigma und schulische bzw. sprachliche Realität nicht immer passungsfähig sind, konnte die Studie zweifelsohne belegen. Die historische Verortung des Luxemburger Schulwesens machte hierbei deutlich, dass die Curriculumentwicklung von unterschiedlichen Interessen-
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
gruppen dominiert wurde, die Einfluss auf die Ausgestaltung einer Luxemburger Sprachenidentität nahmen. Die Arbeit konnte nachweisen, dass die Idealvorstellungen über sprachliche Eigenschaften von Schülern bzw. insgesamt Luxemburger Gesellschaftsmitgliedern in drei große Schulgesetze gegossen wurden: das erste Primärschulgesetz von 1843, durch das die Luxemburger Schule zunächst offiziell mit Deutsch und Französisch zweisprachig funktionierte; gefolgt von der Loi Braun 1912, mit der das Schulwesen aufgrund der curricularen Aufnahme des Faches Luxemburgisch formell dreisprachig wurde; und letztlich das reformierte Grundschulgesetz von 2009, durch das die im 1912er-Gesetzesrahmen konstruierten und beinahe 100 Jahre kulturhistorisch begründeten Ideen von Sprache und Identität in einen Konflikt gerieten. Blickt man zunächst noch einmal auf die erste Primärschulgesetzgebung von 1843, so wird deutlich, dass das Curriculum in erster Linie von kirchlich-religiösen Vorstellungen katholischer Interessenvertreter geprägt wurde. Das sprachliche Angebot variierte zu dieser Zeit und eine einheitliche Unterrichtsversorgung war nicht flächendeckend in Luxemburg gesichert, sondern von lokalen Gegebenheiten abhängig. Am Beispiel des ersten Primärschulgesetzes 1843 wurde nachvollziehbar gemacht, dass über die Unterrichtsorganisation eine sprachliche Identität konstruiert wurde, die vor allem sprachprotektionistisch motiviert war, um sich gegenüber Preußen abzugrenzen. Dies wird territorialgeschichtlich sichtbar, da Luxemburg 1839 trotz Abtreten seiner französischsprachigen Gebiete vier Jahre später die Zweisprachigkeit im Schulwesen verordnete, wenngleich Französisch eher als fremde Sprache empfunden wurde, die von vielen Einwohnern gar nicht gesprochen wurde. Gleichwohl wurde zu diesem Zeitpunkt bereits der Grundstein für die Vorstellung einer bestimmten schulisch vermittelten mehrsprachigen Praxis gelegt, die hier als kohäsive Sprachen(-unterrichts-)politik definiert und über das Curriculum inszeniert wurde. Zwischen dem Deutschen und dem Französischen wurde ein scheinbar natürliches und didaktisch anbindbares Abhängigkeitsverhältnis konstruiert, das im weiteren historischen Verlauf immer weiter ausgebaut wurde. Dem Deutschen wurde dementsprechend eine Brückenfunktion zum Französischen zugeschrieben. Curricular bedeutete dies, dass Deutsch ab dem ersten Schuljahr gelehrt wird und wie auch heute noch als Alphabetisierungssprache fungiert, über die man anschließend Französisch lerne. Der Französischunterricht konnte jedoch, sofern nicht anders möglich, erlassen werden. Dies hing in erster Linie mit den lokalen Voraussetzungen zusammen und so variierte das Unterrichtsangebot vor allem regio-
V Schlussbetrachtung
nal. Im Zentrum des Landes, d.h. in Luxemburg-Stadt, wurde vorwiegend Französisch gelehrt. Demnach wurden überwiegend in der Hauptstadt per Französisch, dem die soziokulturelle Attribuierung als Sprache der einflussreichen Eliten zukam, Gesellschaftsmitglieder mit anderen sprachlichen Eigenschaften und mit ihnen soziale Zuschreibungen herangezogen als im restlichen Teil des Großherzogtums. Der Erwerb des Französischen blieb der vorwiegend deutsch- bzw. dialektsprechenden Landbevölkerung verwehrt, was letztlich zum Ausschluss politischer Partizipation führte. Die soziale Schere ging dementsprechend aufgrund der Sprachkompetenz immer weiter auf, auch wenn Französisch 1848 in die Verfassung aufgenommen wurde und dadurch formal gemeinsam mit dem Deutschen die Sprache aller Luxemburger Gesellschaftsangehörigen war. Des Weiteren war Schule nicht unentgeltlich, weshalb vorrangig finanziell abgesicherte Schüler von der zweisprachigen Unterrichtsversorgung profitierten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Schulbesuch mit einem reformierten Schulgesetz unentgeltlich und somit allen Schülern zugänglich gemacht. Das Gesetz von 1912 schuf ein stärkeres Bewusstsein dafür, eine gesellschaftliche Homogenisierung durch systematische Schulbildung, kurzum das Curriculum, herbeizuführen. Über das Curriculum wurde folglich gezielt ein Identitätsentwurf entwickelt, der nationale Einheit konstruieren sollte, was wiederum für die sprachliche Denkstilanalyse im Reformkontext 2009 von tragender Bedeutung war. Schließlich wurde das Primärschulgesetz von 1912 erst 2009 von dem jetzig gültigen Gesetzesrahmen abgelöst. Die wichtigsten Änderungen 1912 betreffen neben der Schulgeldfreiheit den Sprachenunterricht und den curricularen Ausarbeitungsprozess. In aller Kürze zusammengefasst bedeutete dies, dass sich zum einen eine Akteurverschiebung bemerkbar machte, indem der Einfluss der Kirche eingedämmt und der Lehrerstand in seiner curricularen Einflussnahme aufgewertet wurde. Dass sich Lehrer nunmehr aktiv an der Curriculumarbeit beteiligen und dadurch ebenso bildungspolitisch partizipieren, ist keineswegs selbstverständlich und bis heute ein Alleinstellungsmerkmal der Luxemburger Bildungsplanung. Curriculumentwicklung stellt in Luxemburg daher ein Zusammenspiel aus Bottom-upProzess – eine von der bildungsplanerischen Basis (Lehrer) ausgehende Partizipation – und Top-down-Prozess – eine von der Bildungspolitik nach unten gerichtete Einflussnahme auf die Bildungsplanung – dar. Das Schulsystem wurde zum anderen mit der Aufnahme des Luxemburgischen in den Fächerkanon offiziell dreisprachig, was als erster Schritt in Richtung der Ausbildung eines Sprachbewusstseins gegenüber dem Luxem-
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
burgischen zu werten ist. Allerdings wurde Luxemburgisch dabei noch nicht als sprachliches Unterrichtsfach gelehrt, sondern eher als Landesgeschichte. Die Bildungsplanung orientierte sich damit an einer homogenen Schülerpopulation, die zu Hause bereits Luxemburgisch sprach. Mit der Anerkennung des Luxemburgischen als Unterrichtsfach erfuhr das Luxemburgische eine Rollenzuweisung in der kohäsiven Sprachenpolitik, auch wenn diese zu diesem Zeitpunkt eher implizit war. Demnach diente das Luxemburgische vor allem als im privaten Raum gesprochene Sprache als Grundlage zum Erwerb des Deutschen und anschließend des Französischen. Das konstruierte Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Sprachen wurde mit der Aufnahme des Luxemburgischen in den Fächerkanon verstärkt; die Beherrschung des Deutschen, Französischen und Luxemburgischen wird somit zu einer regulativen Leitidee, die soziale bzw. nationale Einheit garantieren soll. Hinter dieser ideologisch geprägten Vorstellung, über Schule soziale Kohäsion zu erzeugen, verbarg sich bei genauerer Betrachtung jedoch weniger ein Homogenisierungs- als vielmehr ein implizites Elitenprojekt, was anhand des schulischen Ideals der ›Mischkultur‹ in der Arbeit anschaulich gemacht wurde. Das von Weber geprägte Denkmodell wurde schulisch genutzt – und das vollständig unabhängig davon, ob es das war, was Weber meinte –, um Gesellschaftsangehörige unterschiedlicher sozioökonomischer Herkunft miteinander zu verbinden. Dabei sind zwei Elemente dieses spezifischen Identitätsentwurfes herauszustellen, die im Lichte des Erkenntnisinteresses bedeutsam sind: Mit der ›Mischkultur‹ bildete sich der Denkstil einer natürlich vorhandenen, aber zugleich auch schulisch vermittelten Sprachsouveränität im Deutschen, Französischen und Luxemburgischen und mit ihr die Annahme eines als völlig selbstverständlich erachteten Sprachwechsels zwischen den drei Sprachen aus. Unter dem Gesichtspunkt eines ›natürlich vorhandenen‹ Sprachvermögens ging die Bildungspolitik von einem Schülertypus aus, der zu Hause luxemburgischsprachig aufwächst und an den die Sprachsouveränität im Deutschen und Französischen durch den kumulativen Aufbau des Sprachenunterrichts vermittelbar ist. Dies gipfelt letztlich im Denkstil einer gleichsprachigen Sprachkompetenz, d.h., alle drei Sprachen besonders gut und auf einem besonders hohen Sprachniveau zu beherrschen. Dabei ging man ähnlich wie bei dem Einsprachigkeitsparadigma des 19. Jahrhunderts davon aus, dass die drei Sprachen drei abgeschlossene Systeme bilden, die nebeneinanderstehen. Die Sprachsouveränität sollte den Luxemburgern einen Standortvorteil verschaffen und sie u.a. dazu befähigen, ein Studium im angrenzenden Ausland aufzunehmen. Die sprachliche Mobilität wurde damit
V Schlussbetrachtung
Ausdruck eines kosmopolitischen Denkens und mehrsprachig zu sein hiernach vor allem zur elitistischen Vorstellung, die schulisch vermittelt wird. Die schulisch definierte Idee der ›Mischkultur‹ und das mit ihr verknüpfte Konzept von sprachlicher Identität wurde im Verlaufe des 20. Jahrhunderts jedoch mit einigen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Zunächst wurde die Gesellschaft durch Zuwanderungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges verstärkt heterogener und es gestaltete sich zunehmend schwierig, bildungsplanerisch vom primär luxemburgischsprachigen Schüler auszugehen. Zwar kamen besonders seit den 1980er-Jahren schulische Fördermaßnahmen für Zuwandererkinder zum Einsatz, doch waren diese, wenn auch nicht ausschließlich, überwiegend extracurricularer Bestandteil des Schulkanons. Zudem nahmen internationale Standardisierungsprozesse vermehrt Einfluss auf die nationale Bildungspolitik. Der inländische Druck, mit anderen Industrienationen ökonomisch Schritt halten zu können, wuchs stetig. In erster Linie äußerte sich dies über internationale Bildungsprogramme, wie z.B. die Förderung naturwissenschaftlicher Fächer und der Mathematik. Curriculumentwicklung wurde sukzessiv verwissenschaftlicht, was sich auch in Luxemburg bemerkbar machte, und so wurde z.B. das klassische Sprachenangebot zugunsten moderner Sprachen gekürzt. Argumentativ wurde die Orientierung an supranationalen Bildungsempfehlungen jedoch politisch und rhetorisch so zurechtgelegt, dass sie an nationale Leitlinien anknüpfte und damit das kulturelle und sprachliche Selbstverständnis nicht irritierte. Curriculare Neuordnungen wurden dementsprechend nicht per se als Ergebnis einer supranationalen Außeneinwirkung, sondern vielmehr als logische Konsequenz historisch bedingter Bildungsentwicklungen im Großherzogtum selbst dargestellt. Beim schwerpunktmäßig analysierten Reformprozess von 2009 wurde das Verhältnis zwischen supranationalen Bildungsentwicklungen, insbesondere im Zuge von internationalen Schulleistungsuntersuchungen, und nationaler Bildungsplanung neu austariert. Dementsprechend ließen sich auch hier spezifische Argumentationslogiken identifizieren, mit denen die bildungsplanerischen Verantwortlichen ihre sprachenpolitischen Positionierungen legitimierten. Der Reformkontext von 2009 wurde dabei in seinem historischen Zusammenhang analysiert, schließlich tauchen historisch bedingte sprachliche Identitätszuschreibungen wie das der Gleichsprachigkeit, dem souveränen Wechsel zwischen den Sprachen und damit auch die Idee eines nebeneinanderstehenden Sprachengebrauchs immer wieder, teils explizit teils implizit, in den Reformdebatten zum Schulgesetz von 2009
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auf. Deutlich kamen die Denkstile bei Betrachtung der übergeordneten Reformmotive zum Ausdruck, die sich allgemein um die Themenfelder Chancengleichheit, Sprachenflexibilisierung, Integration und Qualitätssicherung bewegten. Diese bildungspolitisch verfolgten Ziele, die zu einer größeren Durchlässigkeit und Effizienzsteigerung des Luxemburger Bildungssystems führen sollten, kollidierten z.T. mit den althergebrachten Denkstilen über Sprache und Sprachvermittlung. Zum Vorschein kam dies durch länderübergreifende und den rein nationalen Kontext übersteigende Bildungsmotive, die sich in erster Linie nach den Ergebnissen der ersten PISA-Studie herausbildeten. Gesamteuropäische bzw. supranationale Angleichungsprozesse und Reformeinwirkungen im Bildungsbereich, wie etwa die Vereinheitlichung von Bildungsabschlüssen, Leistungsmessung und die Idee, internationale Bildungsvergleiche zu ziehen, nahmen dementsprechend Einfluss auf die Reformdebatten in Luxemburg. In der Untersuchung wurde u.a. anhand ausgewählter Artikel aus der Tagespresse nachgewiesen, dass die gesamteuropäische Kohäsionspolitik und deren Einfluss auf die Luxemburger Reformdebatten von den Reformverantwortlichen abgeschwächt dargestellt und ein nationaler Reformwille betont wurden. Gleichwohl wurden die vom Europarat gegebenen Bildungsempfehlungen für die konzeptionellen Umstrukturierungen im Curriculum genutzt, um die einzelnen Schulzweige und Schulübergänge kohärenter zu gestalten und das Curriculum zu harmonisieren. Neue Elemente der Unterrichtssteuerung, allen voran die Kompetenzorientierung und mit ihr der kompetenzbasierte Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen, der vom Europarat zur Förderung der Mehrsprachigkeit inventiert wurde und Sprachenkenntnisse zertifiziert, sollten in Luxemburg ebenso wie in anderen Ländern zum Einsatz kommen. Das nunmehr auf das Anwendungspotenzial von Wissen ausgerichtete Bildungsdogma ist eine konkrete Folge internationaler Schulleistungsuntersuchungen. In Luxemburg interferierten diese neuen bildungspolitischen Maßnahmen mit den traditionellen Denkstilen und Argumentationslogiken der Sprachen(-unterrichts-)politik, die maßgeblich durch die vorherigen Grundschulgesetze konstruiert wurden und Einfluss auf die Ausgestaltung einer spezifischen Sprachenidentität nahmen. Die Modernisierung des Schulsystems stand dementsprechend im Spannungsverhältnis zwischen nationalem sprachlichem Selbstverständnis und überstaatlicher Außenperspektive, das sich konkret an der Curriculumentwicklung aufzeigen ließ. So wurde in der Untersuchung nachgewiesen, dass die supranationa-
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len Bildungsentwicklungen und die traditionellen Lehrvorstellungen nicht aufeinander abgestimmt waren und besonders im Bereich des Sprachenunterrichts etliche Diskussionen nach sich zogen. Äußerst drastisch kam dies angesichts der Fremdsprachenkontroverse zum Vorschein, die durch die Kompetenzorientierung bzw. den Referenzrahmen ausgelöst wurde. Die vom Europarat empfohlene Orientierung am GER entfachte auf schulischem Terrain die Diskussion, ob und inwieweit Deutsch und Französisch in das Raster eingeordnet werden können, zumal es sich nach traditionellem Sprachverständnis nicht um Fremdsprachen handle. Das bildungsplanerische Vorhaben, den Sprachenunterricht nach den Deskriptoren des GER auszurichten, führte zu einem Ungleichgewicht innerhalb des Konzepts der Dreisprachigkeit. Eine Einordnung in den Referenzrahmen würde demnach nicht nur einem Nivellement vers le bas – d.h. einer sprachlichen Niveausenkung – gleichkommen und damit auch die Herabsetzung einer vorausgesetzten Gleichsprachigkeit bedeuten, sondern auch das gesamte Sprachengefüge der Luxemburger Schule ins Wanken bringen. Die Idee, dass nicht alle drei bzw. mit dem Englischen – dessen weltwirtschaftliche Bedeutung nach der Jahrtausendwende weiterhin zunahm – vier Sprachen gleich gut beherrscht werden müssen, wäre jedoch für Schüler mit anderen zu Hause gesprochenen Sprachen eine Erleichterung. Der GER als supranationaler Orientierungspunkt für die nationale Entwicklung des Sprachencurriculums musste für die Luxemburger Sprachensituation erst zurechtgeschneidert werden. In der ersten gesetzlich verankerten Version des Plan d’études von 2009 finden sich daher noch keine Sprachniveaus, diese wurden jedoch in der bis heute gültigen Folgeversion von 2011 ergänzt. Um internationale Standardisierungsprozesse und nationale Schulpolitik formal miteinander zu vereinen, wurde nicht der Luxemburger Sprachenunterricht flexibilisiert, sondern vielmehr der Referenzrahmen den bisherigen Gegebenheiten des Unterrichts angepasst, was exemplarisch anhand der Konzeption des Grundschullehrplans nachgewiesen wurde. Die Primärschulreform blieb dadurch in weiten Teilen unvollständig. Dies zeigt einmal mehr, wie Sprachenpolitik schulisch gemacht wird. Die Engführung von curricularem Paradigma und schulischer Realität veranschaulichte die Herausforderungen, mit denen die Bildungsplanung fortan konfrontiert wurde. Die Frage, ob und inwieweit Deutsch und Französisch als Zweit- oder Fremdsprachen wahrzunehmen sind, war höchst umstritten und so ließen sich keine einheitlichen Argumentationslinien festmachen. Je nach anvisierten Veränderungen wurde das Sprachverständ-
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
nis argumentativ so aufgeladen, dass entweder Deutsch oder Französisch im Vordergrund standen und je nach Interessengruppen unterschiedlich gefördert wurden. Insbesondere die Fachvertreter, die die Luxemburger Bildungsplanung wesentlich beeinflussen, setzten sich freilich dafür ein, dass ›ihr‹ Fach nicht unter den Neuordnungen curriculare Einbußen erfährt. Das dadurch evozierte Spannungsverhältnis ist der Bildungspolitik durchaus bewusst und so wurden in der Arbeit bildungspolitische Ablenkungsmanöver identifiziert, die sich in erster Linie auf rhetorischer Ebene äußerten. Anhand der curricularen Stellung des Luxemburgischen wurde dies exemplarisch vor Augen geführt. Die im Reformkontext propagierten Funktionszuschreibungen und Identitätsrhetoriken ›Integrationssprache‹, ›Sprungbrettfunktion zum Deutschen‹ sowie ›Kommunikationssprache‹ wurden in diesem Zusammenhang beleuchtet. Die Untersuchung dieser Zuweisungen zeigte, dass es sich dabei weniger um eine sprachliche oder curriculare Förderungsmaßnahme in Hinsicht auf das Luxemburgische handelte, sondern vielmehr um Scheinzuschreibungen. Das Luxemburgische hat nicht nur weiterhin einen informellen und z.T. auch extracurricularen Status, sondern hinsichtlich der sprachlichen Förderung an sich einen politisch vergleichsweise geringen Stellenwert. Eine explizite Förderung des Luxemburgischen hätte gemäß der Argumentation das Sprachengefüge insgesamt ins Wanken gebracht. Zu sehr wurde eine Verringerung des Stundenkontingents in Deutsch und Französisch befürchtet. Die Etikettierungen als Sprungbrettfunktion, Kommunikations- sowie Integrationssprache hatten zuvörderst protektionistische Gründe, um Luxemburgisch einen symbolischen Status zu geben, da es ohnehin in der Schule weiterhin eine Außenseiterrolle spielt und sprachliche Beurteilungsraster wie der GER nicht mit Blick auf das Luxemburgische im schulischen Terrain zum Einsatz kommen, da es nicht zu den 24 anerkannten EU-Amtssprachen zählt. Die konzeptionelle Umstrukturierung in Richtung Kompetenzorientierung hätte danach beim Luxemburgischen nicht zum Einsatz kommen können und so wurde das Luxemburgische gegen supranationale Außeneinflüsse in der Bildungsplanung symbolisch verteidigt. Insgesamt jedoch schienen sich die Bildungsakteure über die Funktion des Luxemburgischen nicht in gleicher Weise einig zu sein und je nach Kontext – schulisch, außerschulisch, privat oder öffentlich – wird die Haltung zum Luxemburgischen unterschiedlich betont. Das Bildungssystem ist mit dieser Spannung offensichtlich überfordert, was dadurch deutlich wird, dass die symbolischen Etikettierungen als ›Integrationssprache‹, ›Kommunikationssprache‹ und ›Sprungbrettsprache zum Deutschen‹ letzt-
V Schlussbetrachtung
lich auch nicht mit einem spezifischen didaktischen Unterbau versehen und curricular expliziert sind. Zugespitzt formuliert wird das Luxemburgische curricular gesehen eher als sprachliche Randerscheinung gehandelt. Dies ist vor allem darauf zurückführen, dass sich das Luxemburgische historisch erst langsam im 20. Jahrhundert als Sprachvarietät vom Deutschen emanzipierte, im 1912er-Gesetzesrahmen bereits separat als Schulfach aufgelistet ist, aber erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sukzessiv und nicht durchgängig in der Schullaufbahn didaktisch gefördert wurde. Im Zuge des Reformkontextes wurde Luxemburgisch vermehrt als Vehikularsprache im deutsch- und französischsprachigen Unterricht zugelassen, um eine weniger manierierte Unterrichtssituation zu schaffen. Der partielle Rückgriff aufs Luxemburgische ist dadurch zwar erlaubt, jedoch zeigte die Analyse, dass es sich dabei weniger um eine curriculare Stärkung des Luxemburgischen als Sprache handelte, da die Unterrichtsmaterialien und Prüfungsmodalitäten weiterhin auf der jeweiligen Instruktionssprache verfasst sind und Luxemburgisch somit der sprachliche Ausnahmefall bleibt. Die Diskussion um tiefgreifende strukturelle Änderungen mit Blick auf das Deutsche und Französische als fest verankerte Vehikularsprachen konnte so jedoch abgemildert werden. Nichtsdestotrotz war die Lockerung in Hinblick auf die Vehikularsprachen ein sprachenpolitischer Schritt, der erstmals im Zuge der Reformnachwirkungen offiziell vollzogen wurde und heute, wenn auch nicht in allen Fächern, fester Bestandteil des Curriculums ist. Dadurch entsteht allmählich auch ein Umdenken bzgl. der Vorstellung in sich abgeschlossener Sprachsysteme und einer einsprachigen Unterrichtssituation, die es im realen Schulalltag vermutlich kaum gibt. Am Beispiel dieser sprachenpolitischen Entscheidung zeigte sich zudem, dass Mehrsprachigkeit über das Curriculum bzw. die Programmebene eine spezifische Deutung erfährt und schulische Realitäten dadurch gesteuert werden. Dies wurde u.a. anhand des Aufbaus des Fächerkanons geprüft. Im Fokus stand hierbei die Organisation in Einzelfächer, anhand derer deutlich wurde, dass das mehrsprachige Luxemburger Schulwesen im strukturellen Aufbau des Sprachenunterrichts mit einem monolingualen Denkstil operiert, wenngleich dies nicht offensichtlich artikuliert wird. Die Sprachdidaktik, auch im Sinne einer kohäsiven Sprachenunterrichtspolitik, orientiert sich weitgehend an der Idee, das erstens sprachliche Kenntnisse über den kompetenten Muttersprachler definiert werden und zweitens der Übergang vom Luxemburgischen zum Deutschen und zum Französischen letztendlich einen isolierten Sprachgebrauch impliziert. Anhand dieser Analyse wurde heraus-
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
gearbeitet, wie eng spezifische Sprachvorstellungen und Fachdisziplinen miteinander verbunden sind und dies wiederum die Harmonisierung der Fachprogramme erschwert, zumal sich die fachspezifischen Deutungen von Mehrsprachigkeit auch nach Schultyp unterscheiden. Diese Vorstellungen wurden mit dem Reformprozess von 2009 allmählich aufgebrochen und in der aktuellen Curriculumplanung für den Grundschulbereich wird insofern ein neues Verständnis von Mehrsprachigkeit über die Programmebene erzeugt, die nicht nur das Einzelfach betrachtet, sondern sprachliche Fächer aufeinander abstimmt und das gesamte sprachliche Repertoire der Schüler berücksichtigen möchte. Welche Folgen dies auf das Mehrsprachigkeitsverständnis und die soziale Stellung der Schüler hat und inwieweit sich die kohäsive Sprachenpolitik in Zukunft mit der zzgl. mündlichen Vermittlung des Französischen seit der Reform der Früherziehung 2017 ändern wird, bietet Anknüpfungspunkte für weitere Studien.
2
Schluss und Ausblick
In der vorliegenden Arbeit wurden verschiedene sprachenpolitische bzw. bildungspolitische Argumentationslogiken herausgearbeitet, die in kulturhistorisch geprägten Denkstilen wurzeln und in unterschiedlichen Vorstellungen darüber münden, was die Qualität des Curriculums nach Ansicht unterschiedlicher Bildungsakteure ausmacht. Scheinbar selbstverständliche Annahmen über Sprachkompetenz, Mehrsprachigkeit und Unterrichtsplanung wurden dementsprechend hinterfragt. Der Sprachenbegriff wurde hierbei über das Curriculum definiert, dessen Planung per definitionem als Ergebnis bewusster politischer Steuerung, aber auch unbewusster kulturhistorischer Prozesse zu identifizieren ist. Die Konsequenz hieraus ist, dass sich die Bildungsakteure dieses unausgesprochenen und ›versteckten‹ Bestandteils von Curriculumentwicklung vielfach nicht bewusst sind und sie eine eher implizite Annahme davon haben, wie der Luxemburger Schüler und Gesellschaftsangehöriger bzw. der ideale Luxemburger Sprecher aussehen soll. Diese impliziten Annahmen stellten sich letzten Endes als sehr unterschiedlich heraus, was das Reformanliegen, das inhaltsüberladene Curriculum zu entschlacken, deutlich erschwerte. Daraus ist zu schließen, dass die Art und Weise, wie Sprachenidentität in Luxemburg zu denken ist respektive die drei Denkstile der ›isoliert nebeneinanderstehenden‹, ›gegenseitig befruchtenden‹, ›dynamischen‹ und damit weniger systemischen
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
gearbeitet, wie eng spezifische Sprachvorstellungen und Fachdisziplinen miteinander verbunden sind und dies wiederum die Harmonisierung der Fachprogramme erschwert, zumal sich die fachspezifischen Deutungen von Mehrsprachigkeit auch nach Schultyp unterscheiden. Diese Vorstellungen wurden mit dem Reformprozess von 2009 allmählich aufgebrochen und in der aktuellen Curriculumplanung für den Grundschulbereich wird insofern ein neues Verständnis von Mehrsprachigkeit über die Programmebene erzeugt, die nicht nur das Einzelfach betrachtet, sondern sprachliche Fächer aufeinander abstimmt und das gesamte sprachliche Repertoire der Schüler berücksichtigen möchte. Welche Folgen dies auf das Mehrsprachigkeitsverständnis und die soziale Stellung der Schüler hat und inwieweit sich die kohäsive Sprachenpolitik in Zukunft mit der zzgl. mündlichen Vermittlung des Französischen seit der Reform der Früherziehung 2017 ändern wird, bietet Anknüpfungspunkte für weitere Studien.
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Schluss und Ausblick
In der vorliegenden Arbeit wurden verschiedene sprachenpolitische bzw. bildungspolitische Argumentationslogiken herausgearbeitet, die in kulturhistorisch geprägten Denkstilen wurzeln und in unterschiedlichen Vorstellungen darüber münden, was die Qualität des Curriculums nach Ansicht unterschiedlicher Bildungsakteure ausmacht. Scheinbar selbstverständliche Annahmen über Sprachkompetenz, Mehrsprachigkeit und Unterrichtsplanung wurden dementsprechend hinterfragt. Der Sprachenbegriff wurde hierbei über das Curriculum definiert, dessen Planung per definitionem als Ergebnis bewusster politischer Steuerung, aber auch unbewusster kulturhistorischer Prozesse zu identifizieren ist. Die Konsequenz hieraus ist, dass sich die Bildungsakteure dieses unausgesprochenen und ›versteckten‹ Bestandteils von Curriculumentwicklung vielfach nicht bewusst sind und sie eine eher implizite Annahme davon haben, wie der Luxemburger Schüler und Gesellschaftsangehöriger bzw. der ideale Luxemburger Sprecher aussehen soll. Diese impliziten Annahmen stellten sich letzten Endes als sehr unterschiedlich heraus, was das Reformanliegen, das inhaltsüberladene Curriculum zu entschlacken, deutlich erschwerte. Daraus ist zu schließen, dass die Art und Weise, wie Sprachenidentität in Luxemburg zu denken ist respektive die drei Denkstile der ›isoliert nebeneinanderstehenden‹, ›gegenseitig befruchtenden‹, ›dynamischen‹ und damit weniger systemischen
V Schlussbetrachtung
Vorstellung von Sprachkompetenz bzw. Mehrsprachigkeit und mit ihnen die unterschiedlichen Ideen modellhafter Schülertypen dazu führen, dass das Curriculum diese drei Denkstile zu kombinieren versucht. Die Schwierigkeit besteht darin, dass man durch diese curriculare Kombination und ihre stetige Umsetzung und Behandlung im Unterricht immer wieder auf diese drei Varianten zurückfällt. Die Denkstile stabilisieren sich sonach im ›sozialen Gedächtnis‹ und werden durch eine Curricularisierung zementiert, das ist die Einschreibung spezifischer Sprachvorstellungen in das Curriculum und deren gleichzeitige Hervorbringung durch die Festlegung von Lerninhalten und ihrer Repetition im Unterricht. Das Luxemburger Curriculum ist dementsprechend von verschiedenen Idealvorstellungen überladen und kann dadurch nicht richtig funktional zum Einsatz kommen. Hinzu kommen Konflikte, die zum einen mit Blick auf eine verstärkt supranationale Bildungsentwicklung, die auf die nationale Curriculumarbeit einwirkt, und zum anderen in Hinsicht auf eine zunehmende sprachliche Heterogenität der Schüler beobachtet werden konnten. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen ist die Bildungs- bzw. Sprachplanung mit einem stetigen Austarieren zwischen nationaler Sprachenidentität und einer Standardisierung im Bildungsbereich konfrontiert. Die inhaltsanalytische Auswertung der Experteninterviews sowie die Auswertung des Quellenmaterials zeigte, dass die standardisierten Bildungsziele mit sozialem und ökonomischem Fortschritt gleichgesetzt werden. Die Überlagerung bildungsplanerischer und sprachlicher Agenden, die diesem Prozess geschuldet ist, veranschaulichte, dass das Curriculum nicht alle Schüler gleichermaßen einschließt. Bildungspolitisch wird dem zurzeit vor allem mit einer Parallelstruktur in Form von internationalen Schulmodellen im Schulwesen begegnet. Angesichts dieser Ergebnisse lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass sich die Bildungsverantwortlichen darüber bewusst werden müssen, dass erstens die hier herausgearbeiteten unterschiedlichen Denkstile nebeneinander existieren und wirken und sich diese zweitens von Akteur zu Akteur je nach Vorprägung unterscheiden und dass daraus drittens realpolitische Konsequenzen für die Curriculumplanung entstehen. Die ideelle Grundlage der Curriculumentwicklung wurde in der vorliegenden Studie vor Augen geführt und die hieraus gewonnenen Einsichten führen abschließend zu der Frage, wie ein zukünftiges Curriculum in Luxemburg gedacht werden kann. Vor der 2009er-Primärschulreform war das Curriculum stark auf einen Idealtypus des Luxemburger Gesellschaftsangehörigen ausgerichtet, der mit Luxemburgisch als zu Hause gesprochener Sprache aufwächst. Dass diese Vorstellung
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
jedoch nicht mehr der sprachlichen Realität Luxemburgs entspricht, müsste als bewusster Bestandteil des Curriculums konsequent verfolgt werden. Die Reform von 2009 diente als Anschauungsobjekt, bei welcher der erste Grundstein in diese Richtung gelegt wurde, die Umsetzung der Reformziele jedoch z.T. unvollständig blieb. Die kleinteiligen und überlappenden Reformziele führten zu einer gewissen Resilienz des Schulapparates. Obschon es nicht die eine Deutung von Mehrsprachigkeit gibt, zumal diese auch wieder zum Ausschluss spezifischer Sprachgruppen führen kann, ist als konkrete Forderung anzubringen: Mehrsprachigkeit darf sich nicht im Widerspruch von ›Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander‹ verlieren. Um ein Curriculum zu entwickeln, das für möglichst viele Schüler passend ist, muss langfristig eine politische Klärung darüber erfolgen, welcher Sprechertyp bzw. welches Konzept von Mehrsprachigkeit über das Curriculum ausgebildet wird. Die vorliegende Studie zeigte die impliziten, versteckten und ausgelassenen Stellen der Curriculumarbeit auf, die vor dem Hintergrund wachsender Migrationsbewegungen und Globalisierungsprozesse sowie beruflicher Mobilität auch für andere multilinguale Kontexte aufschlussreich sein kann. Luxemburg bildet eine Art Laborsituation ab, in der sich die Herausforderungen in der Bildungsentwicklung sehr konzentriert darstellen. Die sprachlichen Identitätsfragen, die in dieser Arbeit behandelt wurden, sind dementsprechend auch für weitere moderne Gesellschaften relevant. Migration, Globalisierung und Diversität führen schließlich auch in anderen nationalen Schulsystemen dazu, dass der Unterricht mit einer vermehrt und teilweise auch rapide wachsenden heterogenen Schülerpopulation konfrontiert ist. Anschlussstudien zum Vergleich von Bildungssystemen zwischen Luxemburg und anderen europäischen mehrsprachigen Gesellschaften, wie etwa Finnland, könnten hier über den nationalen Kontext hinaus vertiefende Erkenntnisse zur Wirkmacht von historisch gewachsenen Denkstilen in der Sprachplanung geben. Dies kann vor allem mit Blick auf die Umsetzung der EUpolitischen Zielsetzungen zur Förderung der Mehrsprachigkeit aufschlussreich sein.
VI Quellen- und Literaturverzeichnis
1 1.1
Quellenverzeichnis Gesetzestexte, Gesetzesentwürfe, großherzogliche Verordnungen
Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg (2020): Loi du 10 août 1912 concernant l’organisation de l’enseignement primaire. http://legilux.publ ic.lu/eli/etat/leg/loi/1912/08/10/n1/jo. Mémorial A51 (1841): Königlich-großherzogliche Verordnung in Betreff der landständischen Verfassung für das Großherzogthum Luxemburg vom 12. Oktober 1841, in: Mémorial législatif et administratif du Grand-Duché de Luxembourg, 426-452. Mémorial A39 (1843): Loi du 26 juillet 1843 sur l’instruction primaire, in: Mémorial législatif et administratif du Grand-Duché de Luxembourg, 561-592. Mémorial A52 (1848a): Constitution du 9 juillet 1848 du Grand-Duché de Luxembourg, in: Mémorial législatif et administratif du Grand-Duché de Luxembourg, 389-420. Mémorial A57 (1848b): Gesetz über den höheren und mittleren Unterricht vom 23. Juli 1848. No. 1, in: Mémorial législatif et administratif du GrandDuché de Luxembourg, 453-467. Mémorial A97 (1848c): Loi du 12 novembre 1848. No. 2, concernant la naturalisation, in: Mémorial législatif et administratif du Grand-Duché de Luxembourg, 845-852. Mémorial A32 (1881): Loi du 20 avril 1881, sur l’instruction primaire, in: Mémorial législatif et administratif du Grand-Duché de Luxembourg, 369-408. Mémorial A61 (1912): Loi du 10 août 1912 concernant l’organisation de l’enseignement primaire, in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 761-798.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Mémorial A27 (1945): Arrêté grand-ducal du 25 mai 1945 modifiant et complétant certaines dispositions de la loi du 10 août 1912 sur l’organisation de l’enseignement primaire et de la loi du 3 juin 1939 sur le statut disciplinaire du personnel enseignant des écoles primaires et écoles primaires supérieures, in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 299-314. Mémorial A26 (1972): Loi du 11 avril 1972 portant approbation de l’accord entre le Grand-Duché de Luxembourg et la République portugaise relatif à l’emploi des travailleurs portugais au Luxembourg, signé à Lisbonne, le 20 mai 1970, in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 856-863. Mémorial A41 (1979): Loi du 21 mai 1979 portant 1. organisation de la formation professionnelle et de l’enseignement secondaire technique; 2. organisation de la formation professionnelle continue, in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 849-863. Mémorial A16 (1984): Loi du 24 février 1984 sur le régime des langues, in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 196-197. Mémorial A101 (2001): Loi du 24 juillet 2001 portant modification de la loi du 22 février 1968 sur la nationalité luxembourgeoise, telle qu’elle a été modifiée, in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 2027-2030. Mémorial A19 (2009): Loi du 6 février 2009 portant modification: 1. de la loi du 7 octobre 1993 ayant pour objet a) la création d’un Service de Coordination de la Recherche et de l’Innovation pédagogiques et technologiques, in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 191-193. Mémorial A20 (2009): Loi du 9 février 2009 relative à l’obligation scolaire; portant organisation de l’enseignement fondamental; concernant le personnel de l’enseignement fondamental, in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 197-227. Mémorial A85 (2010): Examens-concours carrières supérieures cadres du personnel de l’enseignement postprimaire (02.06.2010), in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 1577-1582. Mémorial A289 (2017): Loi du 8 mars 2017 sur la nationalité luxembourgeoise et portant abrogation de: 1. la loi du 23 octobre 2008 sur la nationalité luxembourgeoise; 2. la loi du 7 juin 1989 relative à la transposition des noms et prénoms des personnes qui acquièrent ou recouvrent la nationalité luxembourgeoise, in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 1-25. Mémorial A789 (2017): Loi du 20 août 2017 portant sur l’enseignement secondaire, in: Journal officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 1-25.
VI Quellen- und Literaturverzeichnis
Mémorial A617 (2017): Modification de la loi modifiée du 6 février 2009 portant organisation de l’enseignement fondamental, in: Journal Officiel du Grand-Duché de Luxembourg, 1-12. Pdl 5224 (15.10.2003): Projet de loi concernant l’organisation de l’éducation préscolaire et de l’enseignement primaire. CHD: Luxemburg. Pdl 579(15) (27.01.2009): Projet de loi portant organisation de l’enseignement fondamental. Rapport de la commission de l’éducation nationale et de la formation professionnelle. CHD: Luxemburg. Pdl 6573 (14.05.2013): Projet de loi portant sur l’enseignement secondaire. CHD: Luxemburg. Pdl 6804 (04.08.2015): Projet de loi portant modification de la loi modifiée du 13 mai 2008 portant création d’une école préscolaire et primaire de recherche fondée sur la pédagogie inclusive. CHD: Luxemburg. RGD A178 (11.08.2011): Règlement grand-ducal du 11 août 2011 fixant le plan d’études pour les quatre cycles de l’enseignement fundamental, 2989-3182. RGD A247 (02.09.2020): Règlement grand-ducal du 2 septembre 2020 fixant les grilles horaires, les coefficients des disciplines et des disciplines combinées, ainsi que les disciplines fondamentales des classes de l’enseignement secondaire général, 1-62. RGD A741 (02.09.2020): Règlement grand-ducal du 2 septembre 2020 fixant les grilles horaires, les coefficients des disciplines et des disciplines combinées, ainsi que les disciplines fondamentales des classes de l’enseignement secondaire classique, 1-56.
1.2
Parlamentarische Anfragen und Debatten
CHD (13.02.2003): Session ordinaire 2002-2003. Debat d’orientation sur l’étude PISA (Programme for International Student Assessment) réalisée dans les pays de l’OCDE. Debat no. 491. Luxemburg: CHD. CHD (13.07.2006): 50e séance. Luxemburg: CHD. Comité interministeriél ›Éducation au développement durable‹ (2009): Nachhaltigkeit lernen – Zukunft gestalten. Vorschlag einer nationalen Strategie zur Bildung für nachhaltige Entwicklung, in: Réponse à la question parlementaire no. 3261 du 26 mars 2009 de Monsieur le Député Aly Jaerling (Anhang). Luxemburg: CHD. P-2009-O-ENFPS-26-01 (2010): Procès-verbal de la réunion du 16 septembre 2010. Luxemburg: CHD.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
P-2009-O-ENFPS-27-01 (2011): Procès-verbal de la réunion du 29 septembre 2010. Luxemburg: CHD. P-2011-O-ENFPS-06-01 (2011): Procès-verbal de la réunion du 07 décembre 2011. Luxemburg: CHD. Q1655 (24.03.2007): Question no. 1655 de M. Robert Mehlen concernant Enseignement des langues. Luxemburg: CHD. Q1677 (05.04.2007): Question no. 1677 de M. Aly Jaerling concernant Enseignement de la langue luxembourgeoise. Luxemburg: CHD. Q0823 (04.08.2010): Question no. 0823 de Monsieur Fernand Kartheiser concernant Emploi de la langue luxembourgeoise dans les questionnaires sur l’enseignement fondamental. Luxemburg: CHD. Q0887 (13.09.2010): Question no. 0887 de Monsieur Fernand Kartheiser concernant Meilleure intégration de la communauté portugaise par une meilleure intégration de l’enseignement de la langue portugaise dans le système éducatif luxembourgeois. Sprinkange: CHD. Q0988 (05.11.2010): Question no. 0988 de Monsieur Marc Spautz concernant Cours de langue luxembourgeoise. Luxemburg: CHD. R1468 (04.02.2002): Réponse de Mme Brasseur à la question no. 1468 de M. Jean Colombera – Influence de la langue maternelle sur les résultats de l’étude PISA. Luxemburg: CHD. R0039 (18.08.2004): Réponse à la question parlementaire no. 0039 du 9 août 2004 de Monsieur le Député Xavier Bettel. Luxemburg: CHD. R1170 (08.09.2006): Réponse du Ministre de l’Éducation nationale et de la formation professionnelle à la question no. 1170 de M. Claude Adam concernant Classes ›ALLET‹ (enseignement de l’allemend comme langue étrangère). Luxemburg: CHD. R1677 (14.05.2007): Réponse du Ministre de l’Éducation nationale et de la Formation professionnelle à la question no. 1677 de M. Aly Jaerling concernant Enseignement de la langue luxembourgeoise. Luxemburg: CHD. R1655 (23.05.2007): Réponse du Ministre de l’Éducation nationale et de la Formation professionnelle à la question no. 1655 de M. Robert Mehlen concernant Enseignement des langues. Luxemburg: CHD. R2522 (07.05.2008): Réponse à la question parlementaire no. 2522 du 7 mai 2008 de Monsieur le Député Robert Mehlen. Luxemburg: CHD. R0823 (16.08.2010): Réponse de la Ministre de l’Éducation nationale et de la Formation professionnelle à question no. 0823 de Monsieur Fernand Kartheiser concernant Emploi de la langue luxembourgeoise dans les questionnaires sur l’enseignement fondamental. Luxemburg: CHD.
VI Quellen- und Literaturverzeichnis
R0887 (29.09.2010): Réponse de la Ministre de l’Éducation nationale et de la Formation professionnelle à question no. 0887 de Monsieur Fernand Kartheiser concernant Meilleure intégration de la communauté portugaise par une meilleure intégration de l’enseignement de la langue portugaise dans le système éducatif luxembourgeois. Luxemburg: CHD. R2019 (28.03.2012): Réponse de la Ministre de l’Éducation nationale et de la Formation professionnelle à question no. 2019 de Monsieur André Bauler concernant Professeur de langue luxembourgeoise. Luxemburg: CHD.
1.3
Sitzungsprotokolle der Programmkommissionen Deutsch ESC und EST
ESC-D-4 (2007): Bericht Programmkommission Deutsch ESC. ESC-D-7 (2007): Bericht Programmkommission Deutsch ESC. ESC-D-8 (2008): Bericht Programmkommission Deutsch ESC. ESC-D-10 (2008): Bericht Programmkommission Deutsch ESC. ESC-D-11 (2008): Bericht Programmkommission Deutsch ESC. ESC-D-26 (2011): Bericht Programmkommission Deutsch ESC. ESC-D-27 (2012): Bericht Programmkommission Deutsch ESC. ESC-D-32 (2013): Bericht Programmkommission Deutsch ESC. ESC-D-41 (2015): Bericht Programmkommission Deutsch ESC. ESC-D-46 (2016): Bericht Programmkommission Deutsch ESC. EST-D-1 (2007): Bericht Programmkommission Deutsch EST. EST-D-11 (2009): Bericht Programmkommission Deutsch EST. EST-D-6 (2010): Bericht Programmkommission Deutsch EST. EST-D-9 (2010): Bericht Programmkommission Deutsch EST. EST-D-10 (2010): Bericht Programmkommission Deutsch EST. EST-D-14 (2010): Bericht Programmkommission Deutsch EST. EST-D-19 (2011): Bericht Programmkommission Deutsch EST. EST-D-26 (2014): Bericht Programmkommission Deutsch EST. EST-D-27 (2014): Bericht Programmkommission Deutsch EST. EST-D-29 (2015): Bericht Programmkommission Deutsch EST.
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268
Curriculum und Mehrsprachigkeit
1.4
Curriculare Rahmendokumente, Veröffentlichungen des Bildungsministeriums und weiterer Bildungseinrichtungen
1GCC (2019-2020): Enseignement secondaire général. Division de la formation administrative et commerciale. Section communication et organisation. Comptabilité. Programme 1GCC. Luxemburg: MENJE. 1GCG (2019-2020): Enseignement secondaire général. Régime général. Division de la formation administrative et commerciale. Section gestion COMPT Comptabilité. Programme 1GCG. Luxemburg: MENJE. 1GIN (2019-2020): Enseignement secondaire général. Régime technique. Division technique générale. Cycle supérieur. Section informatique. TEINF/Téléinformatique et réseaux. Programme 1GIN. Luxemburg: MENJE. 13CC (2007-2008): Enseignement secondaire technique. Régime général. Division de la formation administrative et commerciale. Section communication et organisation. COMPT Comptabilité. Programme 13CC. Luxemburg: MENFP. Athénée de Luxembourg. (2020). International classes. http://www.al.lu/fr/i nternational-classes. E-2008-11-02 (2008): Rapport d’activité 2007 du Ministère de l’Éducation nationale et de la formation professionelle. Luxemburg: MENFP. eSchoolBooks (2020): Enseignement secondaire. Manuels scolaires [2020/21]. https://ssl.education.lu/eSchoolBooks/Web/ES/-1/-1/TextBooks/Search. Kühn, P. (2008): Bildungsstandards Sprachen. Leitfaden für den kompetenzorientierten Sprachenunterricht an Luxemburger Schulen. Luxemburg: MENFP. Luxemburger Schulbote 4 (1845): Le Courrier des Écoles dans le Grand-Duché de Luxembourg. Eine Zeitschrift zunächst für die Schullehrer des Großherzogthums Luxemburg bestimmt. Luxemburg: J. Lamort. MEN (Hg.) (1989): L’enseignement primaire au Grand-Duché de Luxembourg. Plan d’études. Luxemburg: MEN. MENFP (2000): PISA 2000. Kompetenzen von Schülern im internationalen Vergleich. Nationaler Bericht Luxemburg. 2. korr. Aufl. Luxemburg: MENFP. MENFP (2002): No. spécial. Lettre circulaire de printemps au personnel enseignant et aux administrations communales concernant l’organisation scolaire 2002/2003. Courrier de l’éducation nationale.
VI Quellen- und Literaturverzeichnis
MENFP (2005): No. spécial. Lettre circulaire de printemps au personnel enseignant et aux administrations communales concernant l’organisation scolaire 2005/2006. Courrier de l’éducation nationale. MENFP (2007): Deutschstandards. Sprachkompetenzen im Deutschunterricht. 6e ES. Luxemburg: MENFP. MENFP (2008): Rapport d’activité 2008. Luxemburg: MENFP. MENFP (2009a): Enseignement secondaire technique. Cycle inférieur. ALLUX Cadre et Programme. 7ST_8TE_8PO_9TE_9PO_9PR. MENFP (2009b): Rapport d’activité 2009. Luxemburg: MENFP. MENFP (Hg.) (2009c): Schule zum Erfolg machen. Erklärungen für die Eltern zur neuen Grundschule. MENFP (2010a): Dossier de presse: La réforme des classes inférieures de l’enseignement secondaire et secondaire technique. MENFP (2010b): Instruction ministérielle sur l’utilisation de la langue véhiculaire dans l’enseignement luxembourgeois, 10.09.2010, 1-9. MENFP (2010c): Ouverture aux langues à l’école. Vers des compétences plurilingues et pluriculturelles. Luxemburg: MENFP. MENFP (Hg.) (2011a): École fondamentale. Plan d’études. Luxemburg: MENFP. MENFP & Conseil de l’Europe (Hg.) (2006): Profil de la politique linguistique éducative: Grand-Duché de Luxembourg. Straßburg/Luxemburg: MENFP.
1.5
Veröffentlichungen des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission
KOM (2002): Bericht über die Qualitätsindikatoren für das lebenslange Lernen in Europa. Brüssel: Europäische Kommission. KOM449 (24.07.2003): Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt: Aktionsplan 2004-2006. Brüssel: Europäische Kommission. KOM356 (01.08.2005): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und der Rat. Europäischer Indikator für Sprachenkompetenz. Brüssel: Europäische Kommission.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
KOM554 (25.09.2007): Arbeitsdokument der Kommission. Bericht über die Durchführung des Aktionsplans ›Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt‹. Brüssel: Europäische Kommission. KOM (2017): Schlüsselzahlen zum Sprachenlernen an den Schulen in Europa – Ausgabe 2017. Eurydice-Bericht. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. RAT (2000): Europäischer Rat. 23. und 24. März 2000. Lissabon. Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Lissabon: Europäischer Rat. RAT (2002): Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat (Barcelona) 15. und 16. März 2002. Barcelona: Europäischer Rat. RAT (2017): Europäischer Rat. Schlüsselzahlen zum Sprachenlernen an den Schulen in Europa. Eurydice-Bericht. Brüssel: Europäische Kommission.
1.6 1.6.1
Zeitungsartikel Luxemburger Wort
LW (12.03.2002): ›Wachstum und Arbeitsplätze basieren auf einer besseren Bildungspolitik.‹ Verfasser: Werle, G., in: Luxemburger Wort, o. S. LW (21.03.2006): ›Neuausrichtung des Sprachenunterrichts in den Schulen. Vielsprachigkeit: eine Chance, kein Hindernis. Untersuchung des Europarats weist Reformwege auf.‹ Verfasser: Merges, J., in: Luxemburger Wort, 3. LW (03.08.2006): ›Mady Delvaux-Stehres im Sommerinterview. Der lange Weg der Kompetenzen.‹ Verfasser: Schumacher, D., in: Luxemburger Wort, 2-3. LW (23.10.2006): ›Asti sieht Licht am Ende des Tunnels‹. Verfasser: Merges, J. & Zeimet, L., in: Luxemburger Wort, 4. LW (30.10.2006): ›Reformen für mehr Qualität in der Schule.‹ Verfasser: Retter, M., in: Luxemburger Wort, 10. LW (02.06.2007): ›Sprache ist mehr als Sprache.‹ Verfasser: Zeches, L., in: Luxemburger Wort, 2-3. LW (15.09.2007): ›Erziehungsministerin Mady Delvaux zum Schulanfang: Nicht jeden Tag das Rad neu erfinden. Reformprojekte gehen voran/ Schuljahr 2007-2008 im Zeichen der Konsolidierung und Stabilisierung.‹ Verfasser: Houtsch, R., in: Luxemburger Wort, 60-61. LW (09.05.2008): ›Schüler sollen fürs Leben lernen.‹ Verfasser: Fohl, A., in: Luxemburger Wort, 15.
VI Quellen- und Literaturverzeichnis
LW (20.05.2008): ›Schulreform: Staatsrat ist positiv gestimmt.‹ Verfasser: Unbekannt, in: Luxemburger Wort (online), o. S. LW (15.09.2009): ›Rentrée-Pressekonferenz von Erziehungsministerin Mady Delvaux-Stehres. Kontinuität angesagt. Weitere Reformen im Sekundarunterricht und der Berufsausbildung.‹ Verfasser: Houtsch, R., in: Luxemburger Wort, 2-3. LW (13.03.2010): ›Mehrwert Bildung.‹ Verfasser: Glesener, M., in: Luxemburger Wort, 3. LW (26.01.2011): ›Zuerst wird verhandelt. Féduse/CGFP distanziert sich von der Protestaktion.‹ Verfasser: Beffort, B., in: Luxemburger Wort, 13. LW (20.06.2011): ›Kommerz frisst Kunst.‹ Verfasser: Feyereisen, C., in: Luxemburger Wort, 2-3. LW (09.11.2011): ›Umstrukturierung des klassischen und technischen Sekundarunterrichts. Die Krux mit der Reform.‹ Verfasser: Gantenbein, M., in: Luxemburger Wort, 6. LW (24.04.2012): ›Fir eng Schoul mat méi héijem Niveau a manner Echecen (Deel 1).‹ Verfasser: Muller, C., in: Luxemburger Wort, 5. LW (23.07.2012): ›Schlechter Reformstart. Andre Bauler (DP): Grundschulreform muss nachgebessert werden.‹ Verfasser: Gantenbein, M., in: Luxemburger Wort, 2-3. LW (19.12.2012): ›Bilanz am 24. Januar.‹ Verfasser: Gantenbein, M., in: Luxemburger Wort, 4. LW (19.01.2013): ›Anforderungen an die Schule von heute.‹ Verfasser: Scholtes, T., in: Luxemburger Wort, 6. LW (15.07.2013): ›Vier Jahre Bildungspolitik. Die Unvollendete.‹ Verfasser: Gantenbein, M., in: Luxemburger Wort, 2-3. LW (14.09.2013): ›Schulrentrée. Reformchaos. Lehrergewerkschaft SEW präsentiert bildungspolitische Forderungen.‹ Verfasser: Gantenbein, M., in: Luxemburger Wort, 6. LW (09.11.2013): ›Über das erstaunliche Verschwinden der Bildungsdebatte.‹ Verfasser: Redaktion LW, in: Luxemburger Wort, 20. LW (12.09.2015): ›Lernen in einer Parallelwelt.‹ Verfasser: Hermes, S., in: Luxemburger Wort, 27. LW (29.11.2016): ›Neuerungen im Grundschulwesen. Das Ende des Inspektorats.‹ Verfasserin: Gantenbein, M., in: Luxemburger Wort (online), o. S. LW (12.07.2017): ›Bessere Startchancen. Parlament verabschiedet Gesetz über frühkindliche Sprachförderung.‹ Verfasser: Gantenbein, M., in: Luxemburger Wort, 3.
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Curriculum und Mehrsprachigkeit
Télécran (14.02.2004): ›Raus aus dem Abseits. Integrationssprache Luxemburgisch.‹ Verfasser: Kuttler, J., in: Télécran, o. S. VdL (21.02.2008): ›Réduction du nombre de leçons de français. Un grignotage qualitatif et quantitatif consternant.‹ Verfasser: Beffort, B., in: La Voix du Luxembourg, 3.
1.6.2
Tageblatt
TB (16.09.2004): ›Schulpolitische Rentrée an alter Wirkungsstätte. Ungleiche Bildungschancen wettmachen.‹ Verfasser: Fohl, A., in: Tageblatt, 16. TB (09./10.10.2004): ›Lehrer-Verband traf Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres. Féduse warnt vor Zersplitterung des Fremdsprachenunterrichts.‹ Verfasser: Fohl, A., in: Tageblatt, 27. TB (02.11.2004): ›D’Lag vun der Schoulnatioun no 100 Deeg Mady Delvaux!‹ Verfasser: Roden, J.-P., in: Tageblatt, o. S. TB (23.11.2004): ›Unterrichtspolitik der neuen Ressortministerin. Ein Duft, der neugierig macht.‹ Verfasser: Marx, L., in: Tageblatt, 17. TB (14.04.2005): ›Gelungener Einstand.‹ Verfasser: Fohl, A., in: Tageblatt, 1. TB (07./08.05.2005): ›Hausaufgaben: Kernfrage oder Nebenkriegsschauplatz. Schulpolitische Vorgaben per Rundschreiben.‹ Verfasser: Fohl, A., in: Tageblatt, 15. TB (24.11.2005): ›Wissen als Ware.‹ Verfasser: Reisen, T., in: Tageblatt, o. S. TB (20.02.2006): ›Offenheit.‹ Verfasser: Fohl, A., in: Tageblatt, 11. TB (18.09.2006a): ›Europarat-Experten erstellten Sprachenprofil für Luxemburg. Gewissheiten hinterfragen.‹ Verfasser: Fohl, A., in: Tageblatt, 5. TB (18.09.2006b): ›Neuordnung des Sprachunterrichts: Eine große Baustelle.‹ Verfasser: Fohl, A., in: Tageblatt, 5. TB (22.09.2006): ›SEW-OGBL zu aktuellen Problemen im Schulwesen: Reformen absprechen.‹ Verfasser: Molinaro, C., in: Tageblatt, 12. TB (12./13.05.2007): ›Bremser fehl am Platz.‹ Verfasser: Fohl, A., in: Tageblatt, 15. TB (09.05.2008): ›Ein Ziel.‹ Verfasser: Fohl, A., in: Tageblatt, 1. TB (19.01.2009): ›Vor dem Votum zur Schulreform. Mady Delvaux-Stehres im ›T‹-Gespräch: Ein großer Schritt nach vorn.‹ Verfasser: Redaktion TB., in: Tageblatt, 13. TB (21.01.2009): ›Überlegungen über die Neugestaltung der Schule. Die Grundschulreform, eine Jahrhundertreform.‹ Verfasser: Hollerich, F., in: Tageblatt, 22.
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TB (07.06.2010): ›Réflexions autour de la réforme des classes supérieures de l’EST et de l’ES. ›Ne vous contentez pas d’agir, parlez!‹ (II).‹ Verfasser: Fiorucci, A., in: Tageblatt, 20. TB (13.05.2011): ›Schulreform. Zweiter Anlauf zur Quadratur des Kreises.‹ Verfasser: Marx, L., in: Tageblatt, 14. TB (29.05.2012): ›Gutachten der Chambre de commerce zur geplanten Reform des Sekundarunterrichts. Sprachliche Flexibilität gegen Exklusion.‹ Verfasser: Wenandy, T., in: Tageblatt, 10. TB (09./10.09.2017): ›School on demand.‹ Verfasser: Wildschutz, N., in: Tageblatt, 2.
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291
292
Curriculum und Mehrsprachigkeit
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293
Anhang
1
Transkriptionsregelwerk
Transkriptionsregeln in Anlehnung an Kallmeyer/Schütze (vgl. Mayring 2016: 92) SS:
Kürzel für Interviewerin
…
Kurze bis mittlere Pause (bis zu drei Sekunden)
((Pause))
Lange Pause (länger als drei Sekunden)
SICHER
Großschreibung für auffällige Betonung
XX
unverständliche Textstellen
((lacht))
Paraverbale Phänomene, wie »ähm«, »hmm«, »ne« etc. werden i.d.R. nicht transkribiert. Ausnahme: Lachen bzw. wenn die Äußerungen als bedeutungstragend zu verstehen sind
((SS: Ja, das ist interessant))
Zwischenfragen bzw. Unterbrechungen werden mit den jeweiligen Initialen in doppelten Klammern eingefügt.
Sprachliche Glättungen Original: Den Sprachenunterricht, für mich ist das, also wenn man im Luxemburger Bildungswesen, wenn man da nicht ansetzt an den Sprachenunterricht, dann kommt man da nicht weiter. Da bin ich fest davon überzeugt.
Sprachliche Glättungen dürfen den Sinngehalt der Aussage nicht verändern. Geglättet: Wenn man im Luxemburger Bildungswesen, wenn man da nicht ansetzt am Sprachenunterricht, dann kommt man da nicht weiter. Da bin ich fest von überzeugt.
296
Curriculum und Mehrsprachigkeit
2
Kodiersystem
Kodierungen (Haupt- und Subcodes)
n
1. Curriculum(-entwicklung)
23
1.1 Gestaltungsprozess allgemein (Überschriftenfunktion)
0
1.1.1 Konfliktlinien
44
1.1.2 Konzeptionelle Implikationen
37
1.1.2.1 Kompetenzorientierung
42
1.1.2.1.1 Utilitaristisches Bildungsverständnis
10
1.1.2.2 Mehrsprachencurriculum
20
1.2 Zusammenarbeit (verschiedener) Bildungsakteure
29
1.2.1 Blick von/nach außen – externe/wissenschaftliche Begleitung
46
1.2.2 Mangel an Professionalisierung
7
1.2.3 Konsensprinzip
6
1.3 Bildungs- und sprachenpolitische Einstellungen
44
1.4 Spannungsverhältnis zur schulischen Realität
38
1.5 Unterschiede ESG – ESC
33
1.6 Politische Rhetorik
10
2. Reform 2009 (Überschriftenfunktion)
0
2.1 Neue Bildungsakteure
13
2.2 Nivellement vers le bas
6
2.3 Reformauswirkungen
34
2.4 Reformauslöser
25
2.5 Reformziele
17
3. Chancen(-un-)gleichheit
24
3.1 Sprachliche Differenzierung
26
3.2 Gleichheitsdilemma
4
3.3 Frühkindliche Bildung
5
4. Außerschulische Lebenswelt und Sprache(n)
7
4.1 Sprachenrealität
9
4.2 Multilinguale legitime Kompetenz
29
Anhang
Kodierungen (Haupt- und Subcodes)
n
4.3 Relevanzzuweisung Luxemburgisch im außerschulischen Kontext
16
4.3.1 Muttersprache
8
4.4 Relevanzzuweisung Deutsch im außerschulischen Kontext
3
4.5 Relevanzzuweisung Französisch im außerschulischen Bereich
8
4.5.1 Sprache des Arbeitsmarktes
5
5. Schule und Sprache(n)
10
5.1 Relevanzzuweisung Deutsch im schulischen Kontext
38
5.2 Relevanzzuweisung Luxemburgisch im schulischen Kontext
44
5.2.1 Informelles Hilfsvehikel
12
5.2.2 Brückenfunktion zum Deutschen
13
5.2.3 Integrationssprache
33
5.2.3.1 Gemeinsamer sprachlicher Nenner
9
5.3 Relevanzzuweisung Französisch im schulischen Kontext
39
5.3.1 Bildungssprache
3
5.4 Équilinguisme
24
5.5 Klandestinenhierarchie
21
5.6 Sprachliche Selektion
39
5.7 Allgemeine Sprachdidaktik
29
5.7.1 Einsprachigkeit(-sdidaktik)/-sprinzip
32
5.7.2 Fremdsprachen(-didaktik)
40
5.8 Schulisches Ideal ›Mischkultur‹
11
6. Regionale Sprachinterferenzen
10
7. Relevanzzuweisung Englisch allgemein
15
8. Supranationale Bildungsziele
3
8.1 Lethargischer Schulapparat
18
8.2 Öffnung des Schulapparates
17
8.3 Large-Scale-Untersuchungen
22
8.4 Nationale Idiosynkrasie
10
297
298
Curriculum und Mehrsprachigkeit
3
Der Aufbau des Luxemburger Bildungssystems
Abb. 5: Das öffentliche Schulsystem in Luxemburg 2020 bis 2021
(Lifelong-Learning 2020)
Anhang
299
Pädagogik Tobias Schmohl, Thorsten Philipp (Hg.)
Handbuch Transdisziplinäre Didaktik August 2021, 472 S., kart., Dispersionsbindung, 7 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5565-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5565-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-5565-0
Andreas de Bruin
Mindfulness and Meditation at University 10 Years of the Munich Model April 2021, 216 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5696-1 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5696-5
Andreas Germershausen, Wilfried Kruse
Ausbildung statt Ausgrenzung Wie interkulturelle Öffnung und Diversity-Orientierung in Berlins Öffentlichem Dienst und in Landesbetrieben gelingen können April 2021, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 8 Farbabbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5567-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5567-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Pädagogik Andreas de Bruin
Achtsamkeit und Meditation im Hochschulkontext 10 Jahre Münchner Modell Februar 2021, 216 S., kart., durchgängig vierfarbig 20,00 € (DE), 978-3-8376-5638-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5638-5
Ivana Pilic, Anne Wiederhold-Daryanavard (eds.)
Art Practices in the Migration Society Transcultural Strategies in Action at Brunnenpassage in Vienna March 2021, 244 p., pb. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5620-6 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5620-0
Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.)
Geschlecht: divers Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit Februar 2021, 264 S., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 34,00 € (DE), 978-3-8376-5341-0 E-Book: PDF: 33,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5341-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de