Computerpoesie: Studien zur Modifikation poetischer Texte durch den Computer [1. Aufl.] 9783839401606

Die Konzeption und Realisierung von Computerpoesie basiert auf der Grundlage der besonderen Eigenschaften und Bedingunge

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German Pages 302 [299] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
SCHRIFTWECHSEL
I. Schrift zwischen Buch und Computer
1. Schriftkrisen – medientheoretische Positionen
2. Als die Buchstaben laufen lernten
II. Poesie – Gedicht – Lyrik
1. Gattungsgeschichtliche Aspekte
2. Das Gedicht als Experiment
3. Poesie und neue Medien
COMPUTERPOESIE
I. Dispositive
1. Holographie: Holopoesie
2. VR-System: virtuelle Poesie
3. Video: Videopoesie
4. Computerbildschirm
Animierte Multimediapoesie
Generierte Poesie – Poesiemaschinen
Hypertextpoesie
II. Historischer Kontext: Anfänge und Vorläufer
1. Chronologischer Abriss
2. Gruppen, Zentren, Schulen
Stuttgarter Gruppe/Schule
Noigandres und PO.EX
OuLiPo 148 | A.L.A.M.O. und L.A.I.R.E
III. Zeiterfahrung poetischer Wahrnehmung
1. Sichtbar/unsichtbar: die Eigenbewegung der Texte
2. Interaktive Transformationen
3. Hybridität von Bild und Schrift
MODIFIKATIONEN
I. Codierungen
1. Visuelle Poesie: WORTschrift oder SchriftBILD?
2. Maschinenschrift
Flusser
Kittler
3. Multimediale Codierungen in der Computerpoesie
II. Lesarten und Modalitäten der Computerpoesie
1. Lesarten der Computerpoesie
Der lesende Körper
Prozessuales Lesen
2. Modalitäten der Computerpoesie
Immateriale Materialität
Text-Spaltungen
»Poiesis«
ANHANG
Interviews
Jean-Pierre Balpe
Philippe Bootz
Register der ausgewählten Computergedichte
Literatur
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Computerpoesie: Studien zur Modifikation poetischer Texte durch den Computer [1. Aufl.]
 9783839401606

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Computerpoesie

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Saskia Reither (Dr. phil.) ist zurzeit Postdoktorandin im Graduiertenkolleg »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung« der Universität Frankfurt/Main. Veröffentlichungen zu elektronischer Literatur, Medienkunst und Musikvideos.

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Saskia Reither Computerpoesie Studien zur Modifikation poetischer Texte durch den Computer

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) T00_03 innentitel.p 26718898936

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2003 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: more! than words, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-160-4

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Inhalt Dank 9

Einleitung 11

SCHRIFTWECHSEL I. Schrift zwischen Buch und Computer 21 1. Schriftkrisen – medientheoretische Positionen 21 2. Als die Buchstaben laufen lernten 37

II. Poesie – Gedicht – Lyrik 53 1. Gattungsgeschichtliche Aspekte 53 2. Das Gedicht als Experiment 63 3. Poesie und neue Medien 71

COMPUTERPOESIE I. Dispositive 83 1. Holographie: Holopoesie 85

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2. VR-System: virtuelle Poesie 90 3. Video: Videopoesie 92 4. Computerbildschirm 95 Animierte Multimediapoesie 95 | Generierte Poesie – Poesiemaschinen 108 | Hypertextpoesie 111

II. Historischer Kontext: Anfänge und Vorläufer 118 1. Chronologischer Abriss 119 2. Gruppen, Zentren, Schulen 131 Stuttgarter Gruppe/Schule 131 | Noigandres und PO.EX 142 OuLiPo 148 | A.L.A.M.O. und L.A.I.R.E. 156

III. Zeiterfahrung poetischer Wahrnehmung 163 1. Sichtbar/unsichtbar: die Eigenbewegung der Texte 165 2. Interaktive Transformationen 173 3. Hybridität von Bild und Schrift 185

MODIFIKATIONEN I. Codierungen 201 1. Visuelle Poesie: WORTschrift oder SchriftBILD? 203 2. Maschinenschrift 209 Flusser 209 | Kittler 216 3. Multimediale Codierungen in der Computerpoesie 220

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II. Lesarten und Modalitäten der Computerpoesie 230 1. Lesarten der Computerpoesie 230 Der lesende Körper 230 | Prozessuales Lesen 240 2. Modalitäten der Computerpoesie 242 Immateriale Materialität 242 | Text-Spaltungen 248 »Poiesis« 254

ANHANG Interviews 263 Jean-Pierre Balpe 263 Philippe Bootz 270

Register der ausgewählten Computergedichte 278

Literatur 280

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Die alphanumerischen und ikonischen Botschaften beginnen, sich von materiellen Unterlagen, insbesondere vom Papier, loszulösen und ins elektromagnetische Feld hinüberzuwechseln. Sie fliegen ab, und sie werden beflügelt. Das wird für die künftige Kultur weitreichende Folgen haben. (Vilém Flusser)

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DANK

Dank Die Arbeit wurde ermöglicht durch ein dreijähriges Promotionsstipendium der DFG im Rahmen des Graduiertenkollegs Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die regelmäßigen Workshops, Vorträge und Tagungen haben wichtige Anstöße für mein Projekt gegeben. Dafür danke ich allen an diesem Kolleg beteiligten Kollegiaten, Postdoktoranden und Professoren. Mein Aufenthalt in Paris wurde mit Unterstützung eines DAAD-Doktorandenstipendiums im Rahmen des gemeinsamen Hochschulprogramms III von Bund und Ländern ermöglicht. Eine Gratwanderung zwischen eigenen Erwartungen an ein Projekt und tatsächlicher Realisierung der Arbeit ist meinem Betreuer, Prof. Dr. Burkhardt Lindner, in geduldiger, toleranter, kritischer und in einer immer bereichernden Weise gelungen. Ihm möchte ich für die zahlreichen Gespräche, die die Entstehung dieser Arbeit begleitet haben, besonderen Dank aussprechen. Ferner gilt mein Dank auch dem Zweitgutachter, Prof. Dr. Hans-Thies Lehmann, der die Arbeit mit einem interdisziplinären Blick aufmerksam betreut hat. Die Arbeit wäre sicherlich noch in Teilen ein Fragment geblieben, hätten mir nicht die Autoren offen und engagiert in einem EMail-Wechsel über mehrere Jahre Rede und Antwort gestanden. Ich danke daher herzlich Jean-Pierre Balpe, Philippe Bootz, Ladislao Pablo Györi, Eduardo Kac und Brian Kim Stefans. Die Einwilligung in ein ausführliches Interview ist keine Selbstverständlichkeit und daher habe ich besonders zu schätzen gewusst, dass mir Jean-Pierre Balpe und Philippe Bootz die Möglichkeit zu einem persönlichen Gespräch gegeben haben. Eine Arbeit über elektronische Literatur ist mit einer schwierigen Quellenlage konfrontiert. Ich danke daher allen, die mir unveröffentlichtes Material bereitgestellt haben und die mir technisches Know-how zu vermitteln wussten, besonders Friedrich W. Block, Philippe Bootz, Dietrich Hahne, Richard Kostelanetz und Vito Orazem. In die Entstehung und Abfassung einer Arbeit gehen eine Vielzahl von Anregungen ein, deren Quellen hier nicht einzeln genannt werden können. Zu danken habe ich jedoch Jens Schröter für entscheidende Impulse zu Beginn, Katia Glaser für die lange Unterstützung im Graduiertenkolleg und ganz besonders Timo Skrandies für die Beglei9

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COMPUTERPOESIE

tung während der Endphase der Arbeit. Nicht zu vergessen sind schließlich die beiden Korrektoren. Ich danke herzlich Sabine Ruhnau für die Durchsicht der französischen Interviews und Hendrik Rost für die Endkorrektur. Für die liebevolle Unterstützung in dieser Zeit danke ich besonders meinen Eltern.

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EINLEITUNG

Einleitung 1959, vor mittlerweile über 40 Jahren, hat das erste elektronische Gedicht eine Großrechenanlage als Papierausdruck verlassen. Computer wurden zu dieser Zeit noch ausschließlich zur Durchführung von Rechnungen unterschiedlicher Daten verwendet. Textverarbeitungsprogramme in unserem heutigen Sinne gab es noch nicht, weshalb die Generierung von Texten ein befremdliches Unterfangen war. In einer frühen Publikation aus dem Jahr 1967 werden derartige literarische Computertexte gar als »Kuriosa am Rande« gesehen, die, immerhin, »einen winzigen Teil der faszinierenden Möglichkeiten des Computers zu demonstrieren«1 vermögen. Die Angst vor rätselhaften, weil unverstandenen Vorgängen in der elektronischen Maschine und nicht zuletzt die Ersetzung des Autors, d.h. einer menschlichen Intelligenz durch Maschinen, dürften die Gründe gewesen sein, warum man maschinell erzeugten Computertexten mit Misstrauen begegnete. »Stochastische Texte« hießen diese Versuche von Theo Lutz, die die Diskussion um maschinengesteuerte Literatur entzündeten. Sie wurden möglich, weil einer Großrechenanlage ein bestimmter Vorrat an Wörtern eingegeben wurde, zusammen mit einem bestimmten Regelwerk, das die Wörter in einer syntaktisch sinnvollen Abfolge anordnen sollte. Weder Geisterwerk noch »maschineneigene […] Denkpotenz«2 waren dazu nötig. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte entwickelten sich die neuen ästhetischen Formen elektronischer Poesie im Wechselspiel mit den technologischen Entwicklungen zu einem eigenen Genre der elektronischen Literatur. Das polarisierende Feld der Fragen von damals, zwischen Fortschrittsenthusiasmus und der »haßerfüllten Furcht vor dem Golem, der die Menschheit versklavt«3, hat sich bis heute, wenn auch unter veränderten wissenschaftlichen und technischen Bedingungen, nur wenig verändert. Heute hat Computerpoesie mit den kargen, rein textbasierten und aleatorisch erzeugten Wortkombinationen der Anfangszeit nur noch wenig gemein. Durch Anleihen und Mischformen

1. Krause und Schaudt 1967, 18. 2. Krause und Schaudt 1967, 8. 3. Krause und Schaudt 1967, 7. 11

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COMPUTERPOESIE

aus anderen Disziplinen (Kunst, Medienkunst, Fernsehen, Werbung, Musik, Videospiel etc.) gelang ihr eine Ausdifferenzierung, die von kurzen, sich wiederholenden Textschleifen im Computer bis hin zu interaktiv begehbaren Texträumen in virtuellen Umgebungen (VR-System) reicht. Auch der Papierausdruck von damals, aus Ermangelung eines visuellen Monitors, ist heute dem Bildschirm gewichen. Die bewegte Schrift heutiger Computerpoesie entsteht im Computer und ist auch nur durch ihn oder ein anderes technisches Dispositiv sichtbar bzw. lesbar. In der gegenwärtigen literatur- bzw. medienwissenschaftlichen Diskussion ist elektronische Literatur, d.h. Literatur in oder im Umfeld von Computern, unter der Bezeichnung »digitale Literatur«4 ins Zentrum des Interesses gerückt. Hauptgegenstand sind hier jedoch nicht jene Computergedichte, sondern Hyper- bzw. Netztexte. Die neue Textsorte »Hyperfiction«, eine literarische Anwendung des Hypertexts, die dem Leser statt eines stringenten Narrationswegs mehrere Anschlussalternativen durch eine Verweisungsstruktur (Link) anbietet, stellte eine neue Textstrategie dar, die auf der Basis des Computers erst in ihrer besonderen Form möglich war. Die Verbindung dieser Literaturform mit dem Internet liegt nahe, da das Internet selbst aus Plänen zu einer globalen Vernetzung hervorgegangen ist und den Hypertext par excellence implementiert hat: das World Wide Web. Obwohl sich zeitgleich dazu unterschiedliche Formen der Computerpoesie entwickelten, findet die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Computerliteratur beinahe ausschließlich im Rahmen des »Hypertexts« und der »Netzliteratur« statt, mit dem Effekt eines Kurzschlusses: elektronische Literatur = Hypertext = Netzliteratur. Erst in jüngster Zeit ist eine Differenzierung der Diskussion zu erkennen, die der Tatsache Rechnung trägt, dass neben Hyper- bzw. Netztexten auch andere Formen elektronischer Literatur im Computer entstanden sind, die auch andere Entstehungsgeschichten erzählen. Computerpoesie ist eine jener Formen, die vermutlich deshalb so lange unbemerkt blieb, weil sie einem anderen historischen Kontext als die Entwicklung des Internets entstammt.5

4. Simanowski 2001. Der Begriff einer »digitalen Literatur« ist sicherlich unglücklich gewählt, da auch das Alphabet streng genommen ein digitales, d.h. diskretes und abzählbares Zeichensystem ist. Dies würde bedeuten, dass jegliche Literatur digital ist und nicht nur jene, die durch den Computer entsteht. Eine eindeutigere Bezeichnung wäre daher »elektronische Literatur« bzw. »Computerliteratur«. Der Begriff »digital« wird hier nur im technischen Sinn als Gegensatz zu »analog« verwendet. 5. Block stellt fest: »Die Anfänge der Dichtung mit dem Computer sind von daher keine Erfindung im luftleeren Raum, auch nicht – wie vielfach erzählt wird – der 12

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EINLEITUNG

Computerpoesie lässt sich weder allgemein in die Hypertextliteratur einordnen, noch handelt es sich dabei um Netzliteratur im besonderen Sinne.6 Gegenstand sind in vorliegender Arbeit diejenigen Texte, die z.B. auf CD-ROMs oder Disketten vertrieben oder innerhalb einer Ausstellung im musealen Raum gezeigt werden.7 Die Eigenschaften, die einen elektronischen Text (auch einen Netztext) kennzeichnen, sind Bewegung, Multimedialität, Interaktivität, Prozessualität. Sie entstehen, weil diese Texte mit und durch den Computer produziert wurden. Die zentralen Fragen lauten daher: Welche Änderungen zieht der Medienwechsel nach sich vom Schreiben auf Papier zum Schreiben mit dem Computer für die Produktion poetischer Texte? Und: Welche Konsequenzen folgen daraus für die Wahrnehmung und die Modalitäten des Texts? Computerpoesie ist dafür ein geeigneter Gegenstand, da sie sich direkt auf der Schnittstelle befindet. Denn die ersten poetischen Texte entstanden in einem Umfeld, in dem sowohl experimentelle Poesie auf dem Papier verfasst als auch neue Formen mit neuen Technologien ausprobiert wurden. Computerpoesie hat sich aus einer literarischen Tradition entwickelt, die in ihrem Bestreben, die Papierseite zu überwinden und den Text aus dem Buch zu lösen, im Computer ein neues Medium gefunden hat. Die hier vertretenen Autoren, JeanPierre Balpe, Philippe Bootz, Augusto de Campos, Frédéric Develay, J. Dutey, Ladislao Pablo Györi, Eduardo Kac, Richard Kostelanetz, Claude Maillard, Ernesto de Melo e Castro, Tibor Papp, Christoph Petchanatz, Raimond Queneau, Jim Rosenberg und Brian Kim Stefans, schreiben mit dem Computer, indem sie dessen besondere Eigenschaften in die poetischen Konzeptionen integrieren. Die Funktionsweise des Computers wird zu einer Bedingung der Poetik. Poetische Experimente mit dem Internet werden hier bewusst ausgeklammert, da weniger die Möglichkeiten einer globalen Kommunikationsstruktur in der Funktion

amerikanischen Hyperfiction in den späten Achtzigern. Sie liegen vielmehr weitaus früher im Einzugsbereich experimenteller und konkreter Poesie […].« Block 2001, 102. 6. Unter Netzliteratur im besonderen Sinn sind diejenigen Arbeiten zu verstehen, die mit den Eigenschaften des Internets konzeptionell umgehen. Sie können z.B. von unterschiedlichen Teilen der Erde weitergeschrieben werden, treten in einen Dialog mit anderen Internettexten ein, manipulieren auf technischer Ebene Internetprotokolle oder sind Knotenpunkt eines globalen Literaturprojekts. Dass es auch Formen von Computerpoesie gibt, die als spezifische Netzpoesie konzipiert ist, wird hier nicht angezweifelt. Beispiele finden sich bei Cramer 2000, o.S. und 2001, 112-123. Umgekehrt ist auch eine Anwendung der Hypertextstruktur auf poetische Arbeiten möglich, wie die Beispiele von Rosenberg verdeutlichen. Vgl. hierzu auch Kap. Computerpoesie/I, 4. (Hypertextpoesie). 7. Selbstverständlich lassen sich auch einige der hier ausgewählten Arbeiten im Internet finden, wenngleich sie keine netzspezifischen Eigenschaften aufweisen. 13

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COMPUTERPOESIE

eines Distributionsmediums im Vordergrund stehen, sondern die Frage nach der Veränderung der Poesie im Medienwechsel gestellt wird. Der Schwerpunkt liegt auf dem Computer als Medium der Poesie anstatt auf dem Internet.8 Die hier versammelten Autoren verorten sich alle unterschiedlich stark ausgeprägt in der Tradition der internationalen experimentellen Poesie seit den 1960er Jahren, deren Hauptanliegen es war, den ästhetischen Umgang mit Schrift und Sprache zu erweitern und neue Grenzen der Präsentation von Schrift – außerhalb des Buchs und außerhalb der Seite – zu setzen. Zwei Eigenschaften zeichnen Computerpoesie gegenüber gedruckten Texten besonders aus: die Bewegung der Buchstaben und die Präsentation durch Licht. Beides hängt direkt zusammen, da Bewegung durch Licht sichtbar gemacht werden kann. Die Wahrnehmung der elektronischen Poesie ist daher im Besonderen mit einer Zeitlichkeit konfrontiert, die erst durch den Computer und seine Fähigkeit, Zeitstrukturen zu berechnen und darzustellen (Echtzeit, Interaktion, Flüchtigkeit etc.) möglich wird. Computerpoesie hat im Laufe ihrer Entwicklung unterschiedliche Formen ausgebildet, bewegte Schrift sichtbar zu machen, indem sie sich unterschiedlichen Dispositiven bedient: Holographie, Video, Computerbildschirme, VR-Systeme etc. Wenn also im Folgenden die Frage nach den Auswirkungen im Mittelpunkt steht, die der Wechsel vom Papier zum Computer auf die Wahrnehmung und Konstitution poetischer Texte hat, dann spielt gerade auch eine Differenzierung der Dispositive zur Sichtbarmachung der Gedichte eine wesentliche Rolle. Wie verändert sich das Lesen eines Textes, der sich vor den Augen des Rezipienten bewegt? Was bedeutet es für die Lektüre, wenn Buchstaben anfangen zu tanzen, ihre Form verändern, Wörter auseinanderbrechen, sich zu neuen Sätzen zusammenschließen oder zu dreidimensionalen Objekten werden? Wie ist eine ästhetische Leseerfahrung beschaffen, wenn der Leser sich nicht mehr mit kontemplativer Ruhe in das Geschriebene versenken kann, weil er permanent dazu aufgefordert ist, interaktiv am Entstehen (und Vergehen) des Textes mitzuwirken? Welcher ist »der« zu lesende Text, wenn dieser in einem fortwährenden Prozess neu generiert wird? Der Frage nach der Modifikation der Wahrnehmung bewegter Texte geht die Frage nach dem Text selbst voraus: Wie verändert sich der traditionelle Textbegriff, wenn dem elektronischen Text eine Programmstruktur unterliegt? Bewirkt diese seine Spaltung in zwei unterschiedlich geartete »Texte«, einen Oberflächentext und einen Programmcode? Wo ist der Ort eines solchen Textes, auf der Festplatte oder auf dem Bildschirm? Oder tritt

8. Im Übrigen entstehen auch Arbeiten, die mit den spezifischen Eigenschaften des Internets konzipiert sind, zunächst im Computer. 14

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EINLEITUNG

an die Stelle des Texts nur die »Möglichkeit zu einem Text« in Form eines unendlichen Entstehungs- und Vergehensprozesses? Der Weg, den die vorliegende Arbeit zur Annäherung an die medial bedingten Folgen einer Poesie im Computer einschlagen wird, unterteilt sich in drei Abschnitte. Der erste Teil, »Schriftwechsel«, dient hierbei zur Eingrenzung der Problemstellung aus medientheoretischer sowie literaturwissenschaftlicher Perspektive. Ihm folgt der zweite Teil mit der Überschrift »Computerpoesie«, der sowohl die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Computerpoesie darstellt, sie in ihrem historischen Kontext verortet als auch ihre besondere Zeiterfahrung der poetischen Wahrnehmung analysiert. Der abschließende dritte Teil ist den »Modifikationen« gewidmet, die sich aus den bisherigen Untersuchungen der beiden ersten Teile sowohl historischer als auch analytischer Art für die Wahrnehmung und Konstitution des poetischen Texts im Wechsel vom Papier zum Computer ergeben. Der erste Teil thematisiert den »Schriftwechsel« aus zwei Perspektiven, die sich beide an der Schnittstelle zwischen Buch und Computer bewegen und dabei einen Bogen vom allgemeinen (Schrift und Medien) zum besonderen Problem (Poesie und neue Medien) spannen. Die Skizze einschlägiger Medientheorien, die im Besonderen den Übergang vom alten Leitmedium Buch zum neuen Leitmedium Computer als Krise der Schrift beschreiben, eröffnet den thematischen Horizont einer Diskussion um Buch, Schrift und Computer, innerhalb derer auch die Computerpoesie verortet ist (I.1). Der darauf folgende kurze Parcours durch die Geschichte der Buchstabenbewegung versteht den Schriftwechsel wörtlich hin zu neuen Aufschreibemedien (Film, Video, Fernsehen und Computer), die nun in der Lage sind, Buchstaben und Wörter zu animieren (I.2). Da der zu analysierende Gegenstand nicht Schrift im Allgemeinen, sondern poetische Schrift im Besonderen ist, sind dem Begriff der Poesie drei getrennte Kapitel gewidmet. Zunächst werden in einem Überblick gattungsgeschichtliche Aspekte des Begriffs der Lyrik erörtert, der stets mit der Schwierigkeit konfrontiert war, einerseits die Fülle an lyrischen Erscheinungsformen durch eine möglichst offene Struktur zu integrieren, als auch eine Abgrenzung zu den übrigen Gattungen Epik und Dramatik zu etablieren (II.1). Ihre spezifische Variante als umstrittenes experimentelles Gedicht der 1960er Jahre nähert sich einer zufalls- und maschinengesteuerten Textherstellung an (II.2). Auf diese Weise entstehen neue Möglichkeiten des ästhetischen Umgangs mit Sprache und Schrift, die einerseits die Gattungsgrenzen erneut infrage stellen und sich andererseits der ursprünglichen Bedeutung von Poesie – »poiesis« – im Sinne einer Hervorbringung von etwas Neuem wieder annähern. Durch die Besetzung eines immer größer werdenden verbalen, auditiven und visuellen Raums unserer Wahrnehmung durch die neuen Medien ist die Poesie genötigt, sich in einer neuen Umgebung im medialen Spannungsfeld zu 15

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COMPUTERPOESIE

verorten. Computerpoesie stellt sich dieser Herausforderung, indem sie sich den universellen Eigenschaften des Computers als Gestaltungsmittel öffnet (II.3). Der zweite Teil beginnt mit einem Überblick über unterschiedliche Formen der »Computerpoesie«, erhebt jedoch nicht den Anspruch einer flächendeckenden Taxonomie sämtlicher Erscheinungsweisen elektronischer Poesie. Die hier ausgewählten Arbeiten wurden nach Dispositiven eingeteilt: Holographie (I.1), VR-System (I.2), Video (I.3) und Computerbildschirm (I.4). Die jeweiligen Formen der poetischen Texte umfassen die flüchtigen Buchstaben der Holopoesie (Kac), die virtuelle Poesie als simulierte Textwelt im virtuellen Raum (Györi) und die Videopoesie (de Melo e Castro/Kostelanetz) bis hin zu Formen animierter Multimediapoesie (Bootz/Campos, Develay/Dutey/Maillard/ Papp/Stefans), Poesiemaschinen (Balpe/Petchanatz, Queneau) und Hypertextpoesie (Rosenberg). Dieser Abschnitt beschränkt sich zunächst darauf, die Funktionen, die technischen Bedingungen und die Erscheinungen der einzelnen Beispiele zu beschreiben. Der anschließende historische Kontext rekonstruiert die Anfänge und Vorläufer der Computerpoesie. Er setzt ein mit einem chronologischen Abriss, der nicht nur einschlägige Daten der Entwicklungsgeschichte elektronischer Poesie darstellt, sondern auch deren zunehmende Etablierung innerhalb der Literaturszene und auch der wissenschaftlichen Auseinandersetzung verdeutlicht (II.1). An dieser Stelle wird klar, dass sich die Computerpoesie aus einem Kontext heraus entwickelt hat, der zwar in enger Verbindung mit der technologischen Entwicklung stand, jedoch parallel zur Entstehung des Hypertexts (Internets) verlief. Die anschließenden vier Kapitel konzentrieren sich auf vier Gruppen, die eine Schlüsselstellung innerhalb der Entwicklung der Computerpoesie eingenommen haben. Sie rekonstruieren die Motivation der Autoren, mit neuen Medien zu experimentieren, und beschreiben die Ergebnisse (II.2). Den zweiten Teil schließt eine Analyse der zuvor allgemein dargestellten Computergedichte mit einem speziellen Fokus ab, der die Zeiterfahrung ihrer poetischen Wahrnehmung thematisiert. Denn die besondere Zeitlichkeit stellt eine der fundamentalen Differenzen gegenüber gedruckter Poesie dar. Die einzelnen poetischen Texte, die zuvor Gegenstand des 2. Kapitels waren, werden hier erneut zugrunde gelegt und nun aus drei unterschiedlichen Perspektiven nach ihrer Zeitlichkeit befragt: nach ihrer Eigenbewegung (III.1), ihrer besonderen Struktur als interaktive Transformationen (III.2) und nach ihrer Hybridität von Schrift und Bild (III.3). Im dritten Teil werden anhand der Analyseergebnisse die Modifikationen erarbeitet, die sich für die Wahrnehmung und den Status dynamischer Poesie beobachten lassen. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich aus diesem Grund mit den unterschiedlichen Codierungen, die im multimedialen Gedicht zusammentreffen. Bereits für die experimentel16

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EINLEITUNG

le bzw. visuelle (Druck-)Poesie war die Einbeziehung unterschiedlicher Zeichensysteme signifikant (I.1). Die daraus resultierende Mehrfachcodierung des poetischen Texts wird nun im Fall der Computerpoesie um eine zusätzliche Ebene erweitert, den Programmcode (I.2). Dieser ist zwar normalerweise nicht auf der Oberfläche sichtbar, jedoch für das Funktionieren des Computers und damit auch für die durch ihn entstehenden Texte essentiell. Auf der Grundlage zweier einschlägiger Medientheorien, die den Status des Computercodes als Ablösung der alphabetischen Schrift beschreiben (Flusser und Kittler), soll erörtert werden, inwieweit dies tatsächlich für den konkreten Fall der Computerpoesie zutrifft. Beobachten lässt sich, dass durch den Einsatz des Computers die Vermischung unterschiedlicher Zeichensysteme im bewegten Text potenziert wird, was Gedichte zu einem multimedialen Phänomen macht (I.3). Der Frage, ob sich daraus Veränderungen der Wahrnehmung (II.1) und der Modalitäten des Texts (II.2) beobachten lassen, wird das abschließende Kapitel nachgehen. Bereits durch den besonderen Ort der bewegten Poesie im Computer oder Museum wird deutlich, dass sich der Lektüreakt von der stillen, kontemplativen Versenkung zur zunehmenden körperlichen Einbeziehung des Lesers verändert. Der Text wird zudem nicht mehr als singuläres, abgeschlossenes Gebilde wahrgenommen, sondern befindet sich in einem permanenten Prozess der Entstehung und Verlöschung. Der Leser nimmt daran durch die Möglichkeit (oder Pflicht) zur Interaktivität teil, durch die sich auch die Lektüre in einen prozessualen Akt verwandelt, da der Text immer wieder neue Formen und Inhalte annehmen kann. Die Bewegung der Schrift, die Möglichkeit zur Interaktion und die grundsätzliche Prozesshaftigkeit der poetischen Computertexte basieren auf dem Modus der immaterialen Materialität. Der Text spaltet sich in einen virtuellen (Programmcode/Matrix) und einen aktuellen (im Augenblick realisierter Bildschirmtext), wobei nur beide zusammengenommen »den« Text ergeben. Es handelt sich um einen von der Maschine selbst hervorgebrachten Text (poiesis), der immer erst im Akt seiner Generierung sichtbar und damit existent wird. Ein Anhang mit Interviews, die die Autorin mit zwei Computerdichtern, Jean-Pierre Balpe und Philippe Bootz, geführt hat, schließt die Arbeit ab. Wie sich an dieser kurzen Beschreibung des Aufbaus der Arbeit erkennen lässt, versucht diese, den roten Faden eng am Begriff der Poesie auszulegen. Der Computer ist immer als Medium der Poesie zu betrachten. Die Konzentration auf den konkreten Gegenstand soll die Auswirkungen der Computernutzung als neue Schreibtechnik für den ästhetischen Umgang mit Sprache und Schrift an die Diskussion der Literaturwissenschaft anbinden. Damit setzt sich die Arbeit Unwägbarkeiten aus, die durch den Gegenstand selbst hervorgerufen werden und gleichzeitig seine Faszination ausmachen: die Offenheit neuer Begriffe im Zusammenhang mit möglichen Modifikationen traditioneller litera17

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COMPUTERPOESIE

turwissenschaftlicher Begriffe; die Schwierigkeit, neue Phänomene des Computers gegeneinander abzugrenzen; die Behandlung eines Gegenstands, dessen Entwicklung erst am Anfang steht und der sich zunehmend mit anderen Genres und Kunstformen zu vermischen beginnt; und nicht zuletzt die Schwierigkeit einer adäquaten Darstellung bewegter Texte in einem »unbeweglichen« Medium.

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Schriftwechsel

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) T02_00 respekt.p 26718899416

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) vakat 020.p 26718899480

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I. Schrift zwischen Buch und Computer 1. Schriftkrisen – medientheoretische Positionen

»Den ganzen Nachmittag verbrachte ich in der Buchhandlung. Dort gab es nicht etwa Bücher. Seit fast einem halben Jahrhundert wurden keine mehr gedruckt. […] Die Buchhandlung erinnerte an ein elektronisches Labor. Bücher waren kleine Kristalle mit gespeichertem Inhalt. Lesen konnte man sie mit Hilfe eines Optons. Der sah einem Buch sogar ähnlich, allerdings mit nur einer einzigen Seite zwischen Einbanddeckeln. Berührte man dieses eine Blatt, so erschienen hintereinander die Textseiten in ihrer Reihenfolge. […] Eine Handvoll kristallartiger Körner – so sahen die Bücher aus. […] Die Originale – Kristallmatrizen – waren unsichtbar, sie befanden sich hinter hellblau emaillierten Stahlplatten. Also wurde das Buch sozusagen jedesmal neu gedruckt, wenn jemand es brauchte. Probleme von Auflagen, ihrer Höhe oder des Vergriffenseins hatten aufgehört zu existieren.«1 Hal Bregg, der Held in Stanislav Lems Sciencefictionroman Transfer, kommt nach einer zehnjährigen Weltraumexpedition auf die Erde zurück, wo inzwischen hundert Jahre vergangen sind. Er muss feststellen, dass sich seither auch elementare Veränderungen des kulturellen Lebens vollzogen haben. Bei seinem Besuch in einer »Buchhandlung« findet er statt Büchern nur elektronische Chips vor. Bücher sind hier keine Gegenstände in bestimmter Auflage, sondern für einen potentiellen Leser augenblicklich von Kristallmatrizen hergestellte Objekte. Was für Lem noch Zukunftsvision war, gehört mittlerweile nicht mehr ausschließlich fiktionalen Phantasien an, sondern ist längst bereits (wenn nicht Realität so doch) intensiver Forschungsgegenstand geworden. Verständlicherweise hat diese Vorstellung zu düsteren Zukunftsprognosen Anlass gegeben, das Buch werde neben dem Computer nicht länger existieren können und schließlich durch das neue Medium

1. Lem 1996, 98-99. 21

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verdrängt und überflüssig gemacht2. Auch Hal Bregg muss angesichts der Lesekristalle eingestehen: »Es war wirklich ein großer Erfolg. Aber mir tat es leid um die Bücher«.3 Die Auseinandersetzung mit den neuen Medien hat auch die Frage nach der neuen bzw. veränderten Rolle der Schrift als kulturelles Speichermedium aufgeworfen. Erst seitdem mit den elektronischen Medien eine Konkurrenz für den gedruckten und gebundenen Wissensspeicher Buch existiert, sind nicht nur dessen Möglichkeiten und Qualitäten, sondern auch Bedingungen, Zwänge und Einschränkungen ins Blickfeld geraten. Im Überschwang der euphorischen und pessimistischen Einschätzungen des Computers wurde die veränderte Situation der Schrift nicht selten auf einen Medienwechsel reduziert und im Sinne einer Ablösung der Medien (Buch durch Computer) beurteilt. Doch tatsächlich, so jedenfalls die augenblickliche Situation gut vierzig Jahre nach Beginn der Debatte, handelt es sich nicht um eine Verdrängung bzw. gegenseitige Ablösung der Medien, sondern um ein gleichzeitiges Vorhandensein unterschiedlicher Speicher- und Verbreitungstechniken mit je unterschiedlichen Qualitäten, die wiederum je unterschiedliche Plätze im Feld der Kommunikationsmedien einnehmen. Die Frage stellt sich vielmehr nach einem Wechsel des Leitmediums, das einen kulturellen Abschnitt oder eine Epoche prägt und in seiner Funktion als dominanter Wissensspeicher das Verhältnis einer Kultur gegenüber ihrem Wissen wiedergibt oder in dieser Rolle abgelöst wird. Der Computer als Schreibinstrument produziert und speichert Schrift anders als das Buch. Für die Produktion poetischer Texte sind diese Unterschiede elementar, da sie auch den ästhetischen Umgang mit Schrift beeinflussen. Es hat wenig Sinn, eine Gegenüberstellung zwischen Buch und Computer herzustellen, indem die Eigenschaften des einen »neuen« Mediums mit den Eigenschaften des anderen »alten« Mediums wertend aufgerechnet würden.4 Denn selbst wenn die Realisierung der Lesekristalle von Lem noch der Zukunft angehört, so gibt es bereits seit geraumer Zeit (literarische) Texte, die im und durch den Computer entstehen und auch nur über den Bildschirm wahrgenommen werden können, ohne dass ein Produktionsrückgang traditioneller Bücher zu verzeichnen wäre. Neben der Feder, den beweglichen Drucktypen oder der Schreibmaschine ist der Computer längst zum Schreibmedium avanciert, der Texte nicht nur visuell abbilden, sondern sie durch seine

2. Viele Publikationen haben daher das Ende des Buches thematisiert. Vgl. hierzu Moskin 1983, Wetzel 1991, Bolz 1993 und Birkerts 1997. 3. Lem 1996, 99. 4. Das Buch wird zwangsläufig zum »alten« Medium, solange das andere Medium das »neue« genannt wird. 22

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besonderen Eigenschaften in ihrem Wesen fundamental verändern kann. Die Frage lautet daher, welche Folgen der Medienwechsel an der Grenze zwischen Buch und Computer für die (poetische) Schrift haben wird. Denn auch wenn der Computer eine Reihe von neuen Eigenschaften aufweist, die nicht auf dem Papier realisiert werden können, so löst sich die Schrift als Medium nicht restlos vom Papier ab, sondern behält ihren Ort zwischen zwei Medien. Die im Folgenden skizzierten Medientheorien von Marshall McLuhan, Vilém Flusser und Friedrich A. Kittler setzen sich vor allem mit den Möglichkeiten und Einschränkungen der Schrift unter elektronischen Bedingungen auseinander. Sie eröffnen einen medientheoretischen Horizont, der die Situation der Schrift als Krise näher beschreibt und in diesem globalen Rahmen zunächst Fragen aufwirft als Antworten geben kann. Die Theorien stecken das diskursive Feld ab, in dem das spezielle Phänomen der Computerpoesie, das einen Medienwechsel poetischer Schrift vom Buch zum Computer innerhalb der Gattung vollzieht, angesiedelt ist. Anfang der 1960er Jahre rief der kanadische Anglist Herbert Marshall McLuhan als einer der Ersten das Ende des Gutenberg-Zeitalters aus und wurde damit zum bedeutendsten Theoretiker der elektronischen Medien, insbesondere des damals neuen Fernsehens. Zum ersten Mal wurde hier in einem größeren Rahmen die Technik des Buchdrucks als eine Schreibtechnik unter mehreren (Handschrift, Schreibmaschine, Computer) gesehen, weshalb überhaupt erst die medialen Bedingungen von Schrift, Schreiben und Aufschreiben zum Vorschein traten.5 McLuhan arbeitete seine Thesen zu einer Zeit aus, in der auch die Computerpoesie ihren Anfang nahm. Insofern ist sie bereits Ausdruck dieses medialen Wandels, den McLuhan reflektierend beschreibt. McLuhans Thema sind die Schnittstellen soziokultureller Veränderungen. Insbesondere die Medien zur Produktion, Speicherung und Verarbeitung von Wissen stehen im Mittelpunkt seines Interesses. Der grundlegende Wandel vollzieht sich in der frühen Neuzeit, als die beweglichen Typen Gutenbergs das Kommunikations- und Informationssystem grundlegend veränderten. Die Handschrift wird in ihrer Vorrangstellung durch den Buchdruck abgelöst. Der zweite bedeutende Wechsel der Leitmedien vollzieht sich im Spannungsfeld der elektronischen Medien. Dieser Wechsel ist für die heutige Gesellschaft nicht weniger einschneidend, als es noch der Buchdruck für die frühe Neu-

5. McLuhan war der erste Theoretiker, der die Zusammenhänge und Auswirkungen der umfassenden Elektrifizierung auf unsere Kultur populär gemacht hat. Es sei hier darauf hingewiesen, dass sich seine Argumente auf vorangegangene theoretische Ansätze, wie z.B. Innis 1951 und Havelock 1963 stützen. 23

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zeit gewesen war. Die Analyse der Bedeutungen und Auswirkungen der Medien für den Wissensumgang einer Gesellschaft ist geprägt von einer der Hauptthesen McLuhans, die besagt, dass die menschliche Wahrnehmung gegenüber Kulturtechniken nicht invariant ist. Mehr noch, das Medium selbst ist die Botschaft, es also gleichzeitig auch sein eigener Inhalt. Bislang war die vorherrschende Meinung die, dass ein Medium lediglich die Form der Kommunikation bestimmte. Die Untersuchungen McLuhans fokussieren im Wesentlichen die Ausweitungen oder Verlängerungen der menschlichen Sinne (»extension of man«) durch mediale Techniken, die gleichsam als Leitmotiv die Kulturgeschichte der Medien begleiten. Innerhalb der Entwicklung der Medien im europäischen Kulturraum ist die Einführung der alphabetischen Schrift als ein wesentlicher medialer Einschnitt zu betrachten, durch den auditive Wahrnehmungen in visuelle Zeichen transformiert werden konnten und als solche gespeichert und verbreitet wurden. Eine weit folgenschwerere Umwälzung waren die beweglichen Typen Gutenbergs, die den Buchdruck ermöglichten. Der Einschnitt war besonders prägend, da auf dieser Technik die Vorstellung des bürgerlichen Individuums innerhalb einer nationalen Kultur fußte, die mit den Eckpfeilern Sprache, Nation, Wissenschaft, Handel, Literatur und Recht unmittelbar von den Kulturtechniken des Lesens und Schreibens zusammengehalten wurde. In der Entwicklung und Verbreitung der elektronischen Medien hat McLuhan erneut einen Wandel des Leitmediums gesehen, der (ähnlich dem Buchdruck) soziokulturelle Veränderungen mit sich bringen wird. Und das aus dem Grund, dass durch die Dominanz der elektronischen Bilder das System Buchdruck in seiner gesellschaftsbildenden Rolle herausgefordert wird: Die als Konstante über viele Jahrhunderte vorherrschende Linearität des Buchdrucks wird, so McLuhan, durch die Erzeugung von Simultaneität und Vernetzung mittels elektronischer Medien infrage gestellt werden. Der Begriff Medium ist in McLuhans Theorien weit gefasst. Er setzt voraus, dass z.B. das Rad, die Schrift, der Buchdruck, die Elektrizität (Licht), das Grammophon, die Schreibmaschine, das Kino, das Fernsehen, aber auch das Geld, die Strassen, die Kleidung und das neue elektronische Kommunikationsmedium Computer Medien sind, ohne dass er ihre besonderen Eigenschaften und Funktionen gegenüber anderen Gegenständen abgrenzt. Im weitesten Sinne sind sie »Mittel« zu irgendetwas, im engeren Sinne Mittel zur Erzeugung, Speicherung und Verbreitung von Information. Enger wird das Medium mit dem Begriff der Technik gekoppelt. Nicht selten ist ein Medium gleichbedeutend mit einer technischen Entwicklung, so dass eine Unterscheidung zwischen Technik und Medium oft nicht mehr möglich ist. Nach McLuhan sind alle Medien Ausweitungen des menschlichen Körpers und dienen dazu, Leistungen, die die Natur des Menschen überschreiten, extern, mit Hilfe technisch konstruierter Körper24

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teile, erbringen zu können.6 Die Urszene der Externalisierung unseres Körpers sieht McLuhan in der Spiegelszene des Mythos von Echo und Narziss. Narziss kann sich nur selbst betrachten, wenn er die Wasseroberfläche als Spiegel zu Hilfe nimmt. Seine Faszination jedoch lässt ihn erstarren, so dass sich der Vorgang des Spiegelns und Gespiegelt-Werdens unaufhaltsam fortsetzt und seine Wahrnehmung betäubt. So wird er zum »Servomechanismus« dieses Vorgangs, weil er sich der Technik unbewusst bedient und gleichzeitig nicht auf sie verzichten kann, um das sehen zu können, was ihn so überaus fasziniert, nämlich sein eigenes Abbild.7 Das Verharren von Narziss resultiert aus dem Zustand der Betäubung, der Narkose. Hierin sieht McLuhan einen Zustand, der unsere heutige Gesellschaft insgesamt kennzeichnet. Denn auch sie trägt narkotische Züge, da wir in hohem Maße auf technische Ausweitungen unserer Körper angewiesen sind, ohne dies bislang reflektiert zu haben. Wir sind sogar den Ausweitungen unseres Körpers ausgeliefert und werden permanent durch diese in unserer Wahrnehmung verändert, denn Technik bestimmt die Art und Weise, in welcher der Mensch die Welt wahrnimmt und erfährt. McLuhan sieht in jeder neuen Erfindung oder Technik eine Selbstamputation oder Ausweitung unseres natürlichen Körpers, die nicht ohne Folgen auf unsere Wahrnehmung bleibt. Im Gegenteil, jede Erweiterung unserer selbst, jedes Sehen oder Wahrnehmen mittels einer Technik, muss in unser körpereigenes System einbezogen werden.8 Die ständige Nutzung unserer Technik im Alltag versetzt uns in die Lage von Narziss: in eine unbewusste und betäubte Starre gegenüber den Abbildern unserer selbst. Wir dienen der Technik, indem wir uns zu ihren Sklaven machen. »[T]he medium is the message«9 – es ist nicht relevant, was die Ausweitung zu oder für uns bringt, sondern entscheidend ist die Form der Ausweitung selbst: Nicht, welchen Inhalt der Fernseher ausstrahlt, ist medienwissenschaftlich von Bedeutung, sondern in welcher Form.10 Die Technik beeinflusst also nicht nur unsere Wahrneh-

6. »Any invention or technology is an extension or self-amputation of our physical bodies […]«. McLuhan 1999, 45. 7. Unter Berufung auf einschlägige medizinische Forschungsergebnisse erklärt McLuhan, dass sich bei überhöhtem Stress oder Überreizung der Körper damit hilft, das überlastete Organ abzustoßen, d.h. zu amputieren. So wird bspw. das Rad zur Erweiterung des Fußes, weil dieser dem Druck neuer Belastungen, wie sie ein schnellerer Austausch durch die neuen Schriftmedien und das Geld verursachte, nicht mehr standhalten konnte. Vgl. McLuhan 1999, 42. 8. Vgl. McLuhan 1999, 46. 9. McLuhan 1999, 7. 10. Für McLuhan ist das elektrische Licht das »medium without a message« par excellence. Es ist gleichgültig, ob es bei einem medizinischen Eingriff oder einer 25

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mung der Welt im Allgemeinen, sondern bestimmt auch, wie sich unsere Beziehungen untereinander und zu uns selbst verändern. Als Beispiel dient McLuhan immer wieder das Fernsehen. Es ist für ihn zu einem jener dominierenden elektrischen Medien geworden, die den Übergang vom Buchzeitalter ins digitale Zeitalter markieren. In der mosaikartigen Struktur des Fernsehbildes, die auf die Rezeptionshaltung des Zuschauers einwirkt, sieht er einen Zusammenhang für die veränderte Wahrnehmung der Welt schlechthin: von der Linearität zur Simultaneität.11 Während die Spur der geschriebenen Texte linear aufgelesen wird, konfrontiert uns das Fernsehen mit einem bunten Mosaik aus Bildern, die erst durch den aktiven Zuschauer in einen Zusammenhang gebracht werden können. Simultaneität von gleichzeitig ausgesandten und wahrgenommenen Bildern bringt uns wieder in die Nähe einer (Stammes-)Gemeinschaft (»tribe«), wie sie durch den Buchdruck im Übergang von der Oralität zur Literalität verloren ging. Denn die orale Kultur wird für McLuhan vor allem durch Diskontinuität und Simultaneität gekennzeichnet. Die Orientierung erfolgt hauptsächlich über das Ohr, wobei mehrere Aussagen gleichzeitig wahrgenommen (gehört) werden können und es keine Distanz zum Gesagten gibt. Die Wahrnehmung der gesprochenen Sprache ist synästhetisch, d.h., sie ist von der Einbeziehung aller Sinne geprägt. Während sich die Mitglieder eines Stammes auf diese Weise noch in einer »magically, discontinuous and traditional world of the tribal word«12 befanden und sich noch keine Trennung zwischen Sinnen und Funktionen vollzogen hat, führte das Alphabet zur Zersplitterung eben dieser Gemeinschaft. »It can be argued, then, that the phonetic alphabet, alone, is the technology that has been the means of creating ›civilized man‹ – the individuals equal before a written code of law.«13 Das Alphabet intensiviert die Funktion des Visuellen und lässt gleichzeitig die anderen Sinne, wie z.B. Hören, Tasten und Schmecken innerhalb der Gesellschaft an Bedeutung verlieren. Der Buchdruck schließlich wurde zum neuen Leitmedium und forderte Linearität als Prinzip. Durch diese Technik, dem ersten Massenmedium, etablierte sich auch ein Mittel für Individualismus und Selbstausdruck. Abgeschlossene gedruckte Schriften zirkulierten nun innerhalb der Mitglieder der Gesellschaft, und es wurde möglich, sich auf diese Schriften zu berufen. Der Buchdruck begann, die Sinne voneinander zu trennen und ließ erstmals eine Distanz und dadurch auch

Sportveranstaltung verwendet wird. Vielmehr sind diese Tätigkeiten der Inhalt des elektrischen Lichts, da sie ohne es nicht sein können. McLuhan 1999, 8. 11. Vgl. McLuhan 1999, 321. 12. McLuhan 1999, 83. 13. McLuhan 1999, 84. 26

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eine selbstbewusste Haltung, einen Standpunkt, gegenüber dem Geschriebenen zu. Die Rolle des Autors wurde, im Gegensatz zum Zeitalter der Handschrift, bestärkt. Die beweglichen Drucktypen transformierten die orale Gesellschaft des Mittelalters in eine literale Gesellschaft, die durch eine gemeinsame Sprache und einen gemeinsamen Gesetzeskodex eine nationale Kultur und Politik zu formen imstande war. Mit der elektronischen Schrift entsteht nun die Möglichkeit, zu einer neuen Form der Stammesgebundenheit zurückzukehren: »Electric writing and speed pour upon him, instantaneously and continuously, the concerns of all other men. He becomes tribal once more.«14 Der Übergang von der Gutenberg-Ära zum elektrischen Zeitalter markiert das Verschwinden der Linearität zugunsten einer totalitären Gleichzeitigkeit aller Daten, die McLuhan heute vermutlich am Beispiel des Internets analysiert hätte. Mit der Entwicklung der Elektrotechnik steht dem Menschen ein »live model«15 seines eigenen Zentralnervensystems zur Verfügung, das in der Externalisierung durch den Computer seine Entsprechung findet, da die Stimulus-Reiz-Übertragung des Nervensystems dem Übertragungssystem des elektronischen Kabelnetzes entspricht. Durch elektromagnetische Wellen entsteht ein Raum der Gleichzeitigkeit, der die Linearität des Buchdrucks ablöst. McLuhans eigenes Dilemma beim Verfassen einer visionären Medientheorie des globalen Dorfes im alten Medium Buch zwingt sich dem Leser seiner Schriften gleichsam visuell auf. Das »ZettelkastenPatchwork«16 seiner Argumentationen hat nicht nur die zeitgenössischen Kollegen am Fundament seiner Argumente zweifeln lassen. Doch die Eigenwilligkeit der Texte McLuhans liegt im Gegenstand selbst begründet. Die beiden medial geprägten Kulturen, die er beschreibt, könnten verschiedener nicht sein. War im Zeitalter des Buchdrucks eine logisch-argumentative Linearität vorherrschend, zeichnet die virtuelle Gemeinschaft des »global village« eine simultane Gleichzeitigkeit aus, die sich folglich nur schwer im Medium Buch darstellen lässt. So liefert McLuhan innerhalb seiner Medientheorie über das elektronische Zeitalter den Grund für die hybride Textsorte seiner eigenen Schriften, die zwangsläufig selbst Teil seines Gegenstandes sind, gleich mit: Das elektronische Zeitalter zeichnet sich demnach durch eine unvermeidliche Redundanz aus, »in which the concentric pattern is imposed by the instant quality, and overlay in depth, of electric speed. But the concentric with its endless intersection of planes is necessary for insight.«17 Das konzentrische Umkreisen ein und desselben Gegen-

14. 15. 16. 17.

McLuhan 1999, 172. McLuhan 1999, 43. Hoffmann 2002, 118. McLuhan 1999, 26. 27

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standes aus unterschiedlichen Perspektiven wird zur Technik der Erkenntnis schlechthin. Redundanz wird hier zur nachempfundenen Gleichzeitigkeit in einem linearen Medium, das im wahrsten Sinne des Wortes selbst zur Botschaft wird.18 Auch Vilém Flusser sieht in der Ablösung der Schrift durch die technischen Bilder einen Zerfall der Linearität hin zu Punktelementen. Diese Stufe, die des Kalkulierens, ist die der heutigen Zeit, in der Schrift nicht mehr als Erklärung der Phänomene ausreicht, sondern diese mit Hilfe von technischen Bildern dargestellt werden müssen.19 Flussers Terminologie fußt auf einer eigenwilligen Adaption etymologischer Wortbedeutungen, die ihm dazu verhelfen, sich außerhalb eines verbindlichen Fachvokabulars den Dingen aus unterschiedlichsten Disziplinen zu nähern. Innerhalb seiner unorthodoxen Sicht auf die Gesellschaft und ihre Praktiken steht immer wieder, ähnlich wie bei McLuhan, die Kommunikation und ihre Medien im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Er sieht dabei die Entwicklungen und Auswirkungen kultureller Praktiken in einer streng historischen Linie, wobei stets drei Fragen im Mittelpunkt stehen: Wie werden Informationen erzeugt? Worin werden Informationen ausgedrückt? Wie werden sie verteilt? Flusser gebraucht den Begriff Information nicht in einem streng informationstheoretischen Sinne, sondern verwendet ihn offener: Information ist das, was »Form in etwas bringt«. Am Beispiel des Schuhmachers erklärt er, dass dieser den Schuh »informiert«, er formt ihn. Der Träger des Schuhs ist der Empfänger der Information, da er den Schuh als Schuh nutzt. Flusser versteht unter »informieren« im weitesten Sinn, Ordnung in etwas zu bringen. Der Begriff rangiert auf derselben Ebene wie Arbeiten, Herstellen, Verfügbar-Machen. Indem Ordnung in ein zuvor ungeformtes, ungeordnetes Material kommt, wird es zu einem brauchbaren Gegenstand. Das Ritzen des Stilus auf dem Untergrund ist eine »informierende Geste«: »Diese Struktur unserer Geste des Schreibens wurde ihr durch akzidentielle Faktoren wie den Widerstand der Tontafel gegen den zugespitzten Stab, die Konvention des lateinischen Alphabets und den Zuschnitt des Papiers in Form von Blättern aufgezwungen. Gleichwohl ist es diese Struktur, die eine ganze Dimension unseres Seins innerhalb der Welt in eine Form bringt (informiert).«20

18. Vgl. zum auffälligen Stil McLuhans auch Eco 1996, 245-265 und Hoffmann 2002, 118-121. 19. Vgl. Flusser 1999a, 11. 20. Flusser 1991a, 41. Nach der Terminologie von Flusser sind »Gesten« Bewegungen des Körpers und im weiteren Sinne Bewegungen der mit dem Körper verbundenen Werkzeuge. Eine Geste drückt aus und artikuliert, was sie symbolisch darstellt. Vgl. Flusser 1991a, 7-21. 28

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Der Begriff des Mediums ist bei Flusser eng an die Fragestellung nach Information, Kommunikation und Speicherung geknüpft. Medien sind die Art und Weise, in der eine Gesellschaft ihre Informationen erzeugt, speichert und verbreitet. Sie sind im wörtlichen Sinne Mittel zur Vermittlung. Gleichzeitig ist er überzeugt, dass ein bestimmtes Medium eine bestimmte Art zu denken, zu fühlen und wahrzunehmen mit sich bringt. Die wichtigsten Medien sind für ihn die Schrift und das (traditionelle und technische) Bild. An beiden exemplifiziert er sein Modell der Kulturgeschichte der Medien, die gleichzeitig eine Geschichte der Entfernung vom Konkreten zum Abstrakten ist. Sie beginnt vor etwa zwei Millionen Jahren mit der Stufe des konkreten Erlebens und führt über das Veranschaulichen der Dinge durch (Höhlen-)Malerei und schließlich durch lineare Schrifttexte bis hin zur abstrakten Stufe der Punktelemente (Computer). Denn da sich die linearen Texte als unzulänglich erwiesen haben und zu unanschaulich geworden sind, zerfallen sie zu Punktelementen. Statt durch Schrift, visualisieren wir die Komplexität der Welt mittels (technischer) Computerbilder. Flusser beschreibt damit zwei große Zäsuren der Menschheitsgeschichte, die auf die Entwicklung unserer Kultur Einfluss genommen haben: Er nennt erstens die Ablösung des traditionellen Bildes durch die Schrift vor mehr als 4.000 Jahren und zweitens die Ablösung der Schrift durch die technischen Bilder in der digitalen Gegenwart. Auch Flusser sieht, wie McLuhan, einen direkten Zusammenhang zwischen dem Medium einerseits und der Wahrnehmung unserer Welt andererseits. Einher mit dem Medienwechsel, dem Übergang von der alphabetischen Schrift zu den technischen Bildern, geht auch ein Wechsel des Denkens und Wahrnehmens. Schrift ist untrennbar mit dem »historischen Bewusstsein« (Flusser) verbunden, da Schrift nicht ein per se vorhandenes Geschichtsbewußtsein in der Rolle eines beliebigen Codes ausdrückt, sondern durch ihr System der Aneinanderreihung von Zeichen es überhaupt erst möglich macht. »Erst wenn man Zeilen schreibt, kann man logisch denken, kalkulieren, kritisieren, Wissenschaft betreiben, philosophieren – und entsprechend handeln.«21 Wenn jedoch alphabetische Texte zur Erfahrung und Vorstellung der Welt nicht länger genügen und stattdessen von technischen Bildern, die durch programmierte Apparate entstehen, abgelöst werden, bedeutet das gleichzeitig, dass auch das »historische« von einem neuen, noch unbekannten Bewusstsein verdrängt wird. Apparate schreiben nicht so, wie wir schreiben. Sie benutzen andere Codes. Um diesem Problem auf die Spur zu kommen, stellt Flusser die Frage nach der »Denkart«, die dem alphanumerischen Code mit den für ihn charakteristischen Buchstaben zugrunde liegt und erklärt:

21. Flusser 1999b, 21. 29

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»Schreiben soll Bilder erklären, wegerklären. Das bildliche, vorstellende, imaginäre Denken soll einem begrifflichen, diskursiven, kritischen weichen. Man schreibt alphabetisch und nicht ideografisch, um ikonoklastisch denken zu können.«22 Dahinter steht erneut Flussers historisches Entwicklungsmodell einer präalphabetischen, alphabetischen und nachalphabetischen Zeit. Die präalphabetische Epoche hatte keinen (speicherbaren) Code für die gesprochene Sprache. Informationen wurden mündlich übertragen, ohne verlässliche, weil genaue Speicher. Flusser nennt sie, wie auch schon McLuhan, das magisch-mythische Universum, das keine Kontinuität und kein logisches Fortschreiten kannte. Erst die Einführung des Alphabets ermöglichte es, Information verlässlich zu speichern. Im linearen Schreiben manifestierte sich linearer Fortschritt und damit Geschichte. Die nachalphabetische Zeit schließlich löst das Alphabet durch den Binärcode ab. Programmieren trennt den alphabetischen Code von der gesprochenen Sprache. Technische Bilder übernehmen die Erzeugung, Weitergabe und Speicherung von Information. Wir können unsere hochkomplexe Welt besser durch technische Bilder erfassen, weshalb Flusser uns numerisch statt alphabetisch denken sieht.23 »Schreiben im Sinne einer Aneinanderreihung von Buchstaben und anderen Schriftzeichen scheint kaum oder überhaupt keine Zukunft zu haben. Es gibt mittlerweile Codes, die besser als die der Schriftzeichen Informationen übermitteln. Was bisher geschrieben wurde, kann besser auf Tonbänder, Schallplatten, Filme, Videobänder, Bildplatten oder Disketten übertragen werden. […] Künftig wird mit Hilfe der neuen Codes besser korrespondiert, Wissenschaft getrieben, politisiert, gedichtet und philosophiert werden können als im Alphabet oder in arabischen Zahlen.«24 Für Flusser wird Schrift durch »technische Bilder« verdrängt. Sie beruhen auf Programmen und sind mit Hilfe von Apparaten hervorgerufen.

22. Flusser 1987a, 34. 23. Vgl. Flusser 1987a, 30. Wie sehr Flusser auf die Theorie des Computers als Medium eingewirkt hat, zeigt folgende Äußerung Norbert Bolz’, der den Vorteil der visuellen Kommunikation gegenüber der alphabetischen Schrift herausstellt: »Das Hauptproblem in der Datenflut ist ja, zu wissen, was man weiß. Informationsüberlastung erscheint heute als Normalfall der Weltwahrnehmung. Deshalb stellt die Informationsgesellschaft immer entschiedener von verbaler auf visuelle Kommunikation um, denn man kann Information in numerischen Bildern viel stärker verdichten als in Sprache. Scientific Visualisation und Fraktale Geometrie sind prominente Beispiele dafür, wie man – computergestützt – komplexe Strukturen sichtbar machen kann. Damit endet die Epoche eines unanschaulichen Denkens und einer bilderlosen Textualität.« Bolz 1994, 15. 24. Flusser 1987a, 7. 30

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Das neu entstehende »Universum der technischen Bilder«25 beginnt, mit Hilfe von »Fotos, Filmen, Videos, Fernsehschirmen und Computerterminals« jenen Platz zu besetzen, der bislang von geschriebenen Texten eingenommen wurde, nämlich »für die Gesellschaft und den einzelnen lebenswichtige Informationen zu tragen.«26 Computer werden mit Algorithmen »gefüttert«, von ihnen »umcodiert«, und diese »umcodierten mathematischen Ausdrücke erscheinen dann als Bilder auf den Schirmen. Infolgedessen bedeuten diese Bilder die Kalkulation und nicht mehr die Welt. Es sind keine Abbilder, sondern Projektionen aus Kalkulationen.«27 Mit der Frage, »Hat Schreiben Zukunft?«, stellt Flusser nicht nur eine von mehreren Schrifttechniken, nicht nur eines unter mehreren Schreibmedien infrage, sondern die alphabetische Schrift als Zeichensystem schlechthin. Es bleibt jedoch unklar, ob Flusser hier an eine Ersetzung der Schrift durch (technische) Bilder oder an eine Schrift im Sinne neuer elektronischer Hieroglyphen denkt, wie sie bereits als »Bilderschrift« von Walter Benjamin angedacht wurde. Letzterer sah den Augenblick kommen, in dem »Schrift, die immer tiefer in das graphische Bereich ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt, mit einem Male ihrer adäquaten Sachgehalte habhaft wird. An dieser Bilderschrift werden Poeten, die dann wie in Urzeiten vorerst und vor allem Schriftkundige sein werden, nur mitarbeiten können, wenn sie sich die Gebiete erschließen, in denen […] deren Konstruktion sich vollzieht: die des statistischen und technischen Diagramms.«28 Friedrich Kittler hat die Position Flussers, insbesondere die Frage nach dem Wesen und den Folgen des alphanumerischen Codes, weiterverfolgt. Das, was McLuhan und Flusser historisch im Modell der (Medien-)Zeitalter zu fassen versuchen, untersucht Kittler diskursanalytisch als Aufschreibesysteme. Dieser Begriff umfasst nicht nur technische Maschinen, sondern stellt ein komplexes Gebilde dar, das erst den

25. Flusser 1999a. 26. Flusser 1999a, 9. 27. Flusser 1990a, 96. Zum Verhältnis von Kalkulation und Repräsentation im Computerbild siehe auch Krämer 1997, 111 und 119. Krämer ordnet hier mathematische Symbole bzw. formal-logische Formelschrift wie z.B. digitale Daten dem Typ der »operationalen« Symbolisierungen zu. Im Gegensatz zum »ontologischen« Symbolsystem (Alphabet der »natürlichen« Sprachen), bei dem die Gegenstände » ›ihren‹ Symbolen vorausgehen«, sind die Symbole der Kalküle der Gegenstand selbst. Kalküle bilden daher »das, was sie symbolisieren, nicht einfach ab, sondern stellen es auch her«. Vgl. hierzu auch Kap. Modifikationen/I, 3. 28. Benjamin 1991, Bd. IV.1, 104. 31

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Begriff des Menschen ermöglicht.29 In der wissenschaftlichen Methode sieht sich Kittler dem poststrukturalistischen Denken, vor allem den Schriften von Lacan und Foucault verpflichtet. Zentrales Movens hier ist die Theorie vom Verschwinden des Subjekts, d.h. die Determination des menschlichen Bewusstseins durch soziokulturelle Gegebenheiten, wie sie sich z.B. in der Sprache, dem jeweils herrschenden Diskurs oder dem Dispositiv der Macht verstecken. So wie Foucault im Begriff des Diskurses das historische Apriori erblickt, das die Bedingungen aller Aussagen einer Epoche enthält, so entwirft Kittler (analog zu Foucault) den Begriff des Aufschreibesystems als technisches Apriori, das jeglicher Sinnproduktion vorausgeht. Die Analyse von Diskursen über Macht- und Wissensformen habe sich noch nicht erschöpft, da eine Archäologie der Gegenwart auch »Datenspeicherung, -übertragung und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen«30 müsse. Sein Ziel ist, eine Diskursanalyse unter Bedingungen der technischen Medien fortzuschreiben. Der Begriff des Mediums ist bei Kittler selbst durch eine historische Entwicklung bedingt, nämlich die Ausdifferenzierung der technischen Medien im 19. Jahrhundert. Erst das Auftreten von Konkurrenzmedien zur Schrift (vorher Monopol und nicht als Medium erkannt) ermöglicht, Schrift selbst als eines unter mehreren Medien wahrzunehmen, was zugleich die Einführung des Begriffs Medium erforderlich macht. Kittler behauptet, dass durch die Methode der Alphabetisierung zwei Faktoren gegeben waren, die das Buch um 1800 zum universalen Medium werden ließen: Zum einen erlangten immer mehr Menschen durch das Lesenlernen Zugang zu literarischen Werken, zum anderen produziert der »neue Status von Lettern und Büchern« nicht nur Bücher massenweise, sondern lässt sie auch »Sinnlichkeit selbst«31 reproduzieren. Vor allem die Dichtung wurde dabei zu einem alle anderen Kunstformen ersetzenden Medium zum Ausdruck des menschlichen Geists schlechthin: »Soviel Sinnlichkeit […] speichert die Dichtung einer Zeit, da das Medium Buch zum erstenmal universal – für alle Sinnesdaten und Leute – und zum letztenmal noch ohne Konkurrenz anderer Ton- oder Bildträger ist.«32

29. Kittler versteht unter dem Begriff »Aufschreibesystem« ein »Netzwerk von Techniken und Institutionen«, das »einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten« erlaubt, so wie z.B. der »Buchdruck und an ihn gekoppelte Institutionen wie Literatur und Universität eine historisch sehr mächtige Formation [darstellten], die im Europa der Goethezeit zur Möglichkeitsbedingung von Literaturwissenschaft selber wurde.« Kittler 1995, 519. 30. Kittler 1995, 519. 31. Kittler 1995, 149. 32. Kittler 1995, 149. Vgl. für Kittlers Position zur Universalität der Poesie als 32

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Erst um 1900 etabliert sich eine Ausdifferenzierung der Medien und führt damit auch zu einer einschneidenden Veränderung des Aufschreibesystems. Mit den neuen Techniken der Speicherung und Übertragung wie z.B. der Fotografie, dem Phonographen, dem Grammophon, dem Film und der Schreibmaschine wurde das Prinzip der Zerlegung eingeführt, das auch in den damals neuen Wissenschaftszweigen, wie z.B. der Psychophysik, virulent war. Fortan war nicht mehr die Seele der Gegenstand des Interesses, sondern das Funktionieren des menschlichen Gehirns. Die Welt wurde vermessbar und war nicht mehr darauf angewiesen, metaphorisch in literarischen Werken gespeichert zu werden. Das Monopol der Schrift zerfiel, da sie von nun an lediglich eines unter mehreren Speichermedien darstellte. Das einst synästhetische Medium Dichtung spaltete sich um 1900 auf: Grammophone speicherten von nun an akustische Phänomene aller Art (wozu auch die menschliche Stimme zählt) und Zelluloid optische Daten. Alphabetische Buchstaben haben von Apparaten Konkurrenz bekommen, die Daten analog aufzeichnen, ohne sie in ein Zeichensystem von Buchstaben oder Noten überführen zu müssen. Die Folgen sind einschneidend: Philosophische Konzeptionen des Menschen werden durch empirisch gesicherte Daten ersetzt, die den Körper medial rastern (Stimme, Physiognomie, Fingerabdrücke, Netzhautmuster etc.) und ihn identifizierbar machen. Schriftliche oder künstlerische Darstellungen des Menschen als Individualitätsentwürfe unterliegen der Objektivierung exakter wissenschaftlicher Technik. Der Medienbegriff Friedrich Kittlers ist weit weniger offen als der McLuhans, da er nicht jede Technik schlechthin als Medium begreift, sondern nur jene, die mit den Funktionen von Speichern, Übertragen und Verarbeiten von Information in Verbindung stehen.33 Er beschreibt Kommunikationssysteme als Informationssysteme, die auf Speicherung, Verarbeitung und Übertragung von Nachrichten ausgelegt sind34 und fasst ihre Entwicklung historisch. Er stellt dabei fest, dass es sich bei beiden Medienwechseln um einen Prozess der Ausdifferenzierung und Entkoppelung gehandelt hat: der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit als Entkoppelung von Interaktion und Kommunikation und der Übergang von Schrift zu den technischen Medien als Entkoppelung von Kommunikation und Information.35

alle anderen Kunstformen übergeordnete Gattung auch Kap. Schriftwechsel/II, 3., insbesondere die Gattungskonstitution der Lyrik durch Hegel. 33. McLuhan erfasste die Kommunikationssysteme in einem erweiterten Begriff, der über Nachrichten hinausgeht und auch Verkehrsmittel und den Transport von Personen und Gütern einschloss. 34. Vgl. Kittler 1993b, 170. 35. Vgl. Kittler 1993b, 172. 33

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Kittler zieht eine Verbindungslinie von a) der »Schrift« (Handschrift und Druckschrift) zu b) den »technischen Medien«. Deren historische Entwicklung unterteilt er weiter in analoge und digitale Medien, wobei der Computer hier den Schluss bildet. Entscheidend für die Entwicklung der Kommunikationsmedien war von Anfang an die physikalische Materialität von Schreibwerkzeugen und Trägerflächen: »Von diesen Variablen rührt der Zeitverbrauch beim Senden und Empfangen, die Permanenz oder Löschbarkeit des Geschriebenen und nicht zuletzt die Ortsfestigkeit oder Mobilität der Nachrichten.«36 Dass einzelne Papyrusseiten im Gegensatz zu Ton- oder Steinplatten leichter zu transportieren waren oder im Gegensatz zu Schriftrollen eine Indizierung und Adressierung des Geschriebenen erlaubten, trug dazu bei, dass Wissensvermittlung durch die gesprochene Sprache allmählich von der stillen Lektüre abgelöst wurde. Kommunikation war nicht mehr zwingend an eine mündliche Interaktion geknüpft, sondern wurde von dieser sogar abgekoppelt. Die Adressierung und Katalogisierung des Geschriebenen erlangte vorläufige Perfektion in der Erfindung Gutenbergs und dessen bahnbrechender Technik, mit beweglichen Lettern seriell zu Drucken. Die Botschaft des Drucks sah schon McLuhan in ihrer Wiederholbarkeit, die das Kernstück des mechanischen Prinzips schlechthin darstellt.37 Die Folge nämlich war, dass jedes Schriftstück einer Auflage dieselben Texte, Bilder und Verzierungen an derselben Stelle aufwies. Damit war es katalogisierbar und konnten in alphabetische Register aufgenommen werden38 – und mehr noch, es konnte wiedergefunden werden. Es scheint, als sei die Geschichte der Kommunikationstechniken eine Entwicklung der möglichst effizienten Zuordnung von Daten und ihre ebenso möglichst effiziente Weise der Decodierung und Zugänglichmachung. Der Sieg des Vokalalphabets ist der Eindeutigkeit der Phonemzuordnung zu verdanken, durch die der Aufwand des Schrifterwerbs minimiert wurde. Einen ähnlichen Erfolg erlangte die Druckpresse Gutenbergs aufgrund der Tatsache, dass sie ebenfalls eine eindeutige Zuordnung erlaubte, nämlich die der Schriftstücke innerhalb eines großen Systems, das wir Literaturverzeichnis oder Bibliothekskatalog nennen.39 Die Erfindung des Morsesystems bedeutete einen ersten Schritt in Richtung Informatik. Auch hier handelt es sich um eine erneute Effizienz des Zeichencodes, der Buchstaben an einer bestimmten Frequenz erkennbar macht und ihre Anzahl zu Wörtern verrechnet. Zum ersten Mal wird Information ein »masseloser Fluß elektromagnetischer

36. 37. 38. 39.

Kittler 1993b, 173. Vgl. McLuhan 1999, 160. Vgl. auch Kittler 1993b, 78. Vgl. Kittler 1993b, 178. 34

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Wellen«40 und damit von Kommunikation losgelöst. Die Entwicklung der technischen Medien ist davon gekennzeichnet, verschiedene analoge Speichermedien (Film, Grammophon, Fotografie) und Übertragungsmedien (Radio, Fernsehen) zu koppeln. Auch Kittler behauptet wie McLuhan, dass jedes Medium ein anderes zum Inhalt hat, wobei die analogen Medien dem Problem unterliegen, dass ihre Steuerung nicht vereinheitlicht ist und sie daher auf Übersetzungen angewiesen sind. Erst dem Computer, der in der historischen Entwicklung vorläufig am Ende steht, gelingt mit der bislang radikalsten Zeichenminimierung in Nullen und Einsen eine Steuerung, die alle anderen Medien gleichschalten kann. Schreiben wird damit – wie jeder vom Computer simulierte Vorgang – zum Rechnen. Alphabetische Schrift schreibt sich auch im Computer als numerischer Algorithmus. Insofern handelt es sich hier bei Kittler um eine Unterwanderung des Alphabets durch den digitalen Code, also einen Vorgang, der Schreiben zum Programmieren macht.41 Simultaneität der Zeichen (McLuhan), technische Bilder (Flusser) und Schreiben als Programmierung (Kittler) – alle drei hier zusammengefassten Medientheorien setzen Schrift in einen größeren medienhistorischen Zusammenhang und stellen die Frage, inwieweit sich der Zustand der (alphanumerischen) Schrift im Wechsel der Leitmedien vom Buch zum Computer verändern wird und welche Auswirkungen diese Veränderung auf unsere Wahrnehmung nehmen wird. In allen drei Theorien wird durch das Aufkommen der neuen elektronischen Medien das System der bisher etablierten Kommunikations- und Speichermedien infrage gestellt und in ihrer jeweiligen Rolle neu definiert: »A new medium is never an addition to an old one, nor does it leave the old one in peace. It never ceases to oppress the older media until it finds new shape and position for them.«42 Auch wenn sich Medien ihre Kompetenz gegenseitig streitig machen, gibt es kein perfektes Medium, das alle andere verlustlos ersetzen könnte. Deshalb unterstreicht Kittler, dass neue Medien »alte nicht obsolet [machen], sie weisen ihnen andere Systemplätze zu«43. Indem sie aber neue Systemplätze einnehmen, verändern sie auch das Verhältnis von Erzeugung, Speicherung und Verbreitung von Wissen. Denn die Wahrnehmung der Welt und der Umgang mit Information und Wissen ist maßgeblich von den verwendeten Medien abhängig und wird sogar davon beeinflusst. Bei McLuhan ist die Frage, wie das Medium Information spei-

40. Kittler 1993b, 182. 41. Zum Verhältnis von Schreiben und Programmieren siehe auch Kap. Modifikationen/I, 2. (Kittler). 42. McLuhan 1999, 174. 43. Kittler 1993b, 178. 35

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chert und vermittelt, bedeutsamer als deren Inhalt selbst, da es durch seine spezifische Medialität Information prägt. An unseren Gesten, so auch Flusser, ist die »Art und Weise zu ›entziffern‹, wie wir in der Welt existieren«44. Kittler erkennt im Prinzip der Zerlegung die dominierende Struktur der technischen Medien des 20. Jahrhunderts, die in den Schaltungszuständen Null und Eins der digitalen Rechenmaschine ihre radikalste Ausprägung erlangt hat. In allen drei Theorien ist angedeutet, dass Wahrnehmung zukünftig unter synästhetischen Vorzeichen stattfinden wird, in Annäherung an die simultane sinnliche Wahrnehmung einer oralen Gesellschaft im »global village« (McLuhan), der Veranschaulichung »technischer Bilder« (Flusser) oder unter Vorzeichen einer Multimedialität der Universalmaschine Computer (Kittler). Die im großen soziohistorischen und kulturästhetischen Rahmen aufgeworfenen Fragen der Medientheorien lassen sich genauer erörtern, wenn man sie an einzelnen Problemzusammenhängen und Gegenständen verfolgt. Sie haben bestimmte allgemeine Fragen der Mediengeschichte und -theorie gestellt, die es nun an dem konkreten Phänomen der Computerpoesie zu prüfen gilt. Wenn im Folgenden vom Computer als Medium die Rede ist, dann im Blick auf die Erzeugung, Speicherung und Verbreitung von ästhetisch-literarischer Kommunikation, d.h. als Medium der Kunst, der Poesie. Nun scheint mit dem Computer ein universales Medium vorhanden zu sein, das theoretisch alle anderen Medien simulieren könnte. Doch wie sich bereits durch Beispiele im Bereich der elektronischen Literatur zeigen ließe, weist das Buch Eigenschaften auf, die der Computer nicht realisieren kann. Allein die Materialität des Buchkörpers – in der experimentellen Literatur sogar bewusst in seiner physikalischen Präsenz konzeptuell ästhetisiert – kann ein Computer nicht simulieren. Zwar kann der Computer Druckseiten ersetzen, indem er den Text auf dem Bildschirm wiedergibt, diese »Seite« hat jedoch nicht mehr dieselbe Qualität wie eine papierne. Die Qualität der Buchstaben auf dem Bildschirm beruht auf ihrer Beweglichkeit, ihrer Manipulierbarkeit und ihrer Temporalität. Diese Eigenschaften verändern unsere Wahrnehmung der Texte erheblich. Wenn Buchstaben sich bewegen, werden sie anders gelesen als gedruckte Zeichen. Das bedeutet jedoch auch, dass der Text anders beschaffen sein muss, als ein gedruckter Text, wenn er den Leser mit der Fülle seiner Möglichkeiten erreichen will. Insofern wirkt der Medienwechsel der Schrift vom Papier zum Bildschirm im Fall der Computerpoesie nicht nur auf die Textwahrnehmung ein, sondern setzt schon viel früher an, nämlich in der Konstitution des Textes selbst. Wenn man bedenkt, dass Computerprogramme zur Herstellung elek-

44. Flusser 1991a, 245. 36

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tronischer Texte notwendig sind, dann sind die »hinter hellblau emaillierten Stahlplatten« befindlichen unsichtbaren »Kristallmatrizen« von Stanislav Lem, die einen noch inexistenten Text augenblicklich generieren können, genau jene Programmcodes, die Anweisungen für einen (literarischen) Text enthalten.

2. Als die Buchstaben laufen lernten

Abbildung 1: »Die Scheuche« von K. Schwitters, K. Steinitz, T. van Doesburg, aus: Adler und Ernst 1988, 273.

Für McLuhan ist das Licht, in Form von Elektrizität, das Medium schlechthin. Seiner Auffassung nach verändert Elektronik unsere typographische Kultur so einschneidend, wie der Druck das Mittelalter der Handschrift und der Scholastik veränderte. In Understanding Media berichtet McLuhan von Beatrice Ward, wie sie auf dem Weg ins Theater ihre Eindrücke beim Anblick eines elektronischen Displays schilderte, auf dessen Oberfläche Buchstaben durch Licht gebildet wurden: »Do you wonder that I was late for the theatre that night, when I tell you that I saw two club-footed Egyptian A’s … walking off arm-in-arm with the unmistakable swagger of a musical-hall comedy-team? I saw base-serifs pulled together as if by ballet shoes, so that the letters tripped off literally sur les pointes … after forty centuries of the necessarily static Alphabet, I saw what its members could do in the fourth dimension of Time, ›flux‹, movement. You may say that I was electrified.«45 Bei den elektronisch erzeugten Buchstaben handelte es sich um einen

45. Ward zitiert nach McLuhan 1999, 171. 37

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Teil einer Kinowerbung von Norman McLaren. Ward war selbst »elektrifiziert« beim Anblick der tanzenden Buchstaben und ihren visuellen Erscheinungsmöglichkeiten in der vierten, der zeitlichen Dimension. Wie sehr wir Buchstaben mit unbeweglichen Lettern auf dem Papier assoziieren, zeigt die erstaunte Reaktion selbst einer Buchstabenexpertin: »Mrs. Ward has spent her life in the study of typography and she shows sure tact in her startled response to letters that are not printes by types but painted by light.«46 Die animierte Kinowerbung integriert hier zwei wesentliche Themen der Medienkunst seit dem ausgehenden 19. und dem 20. Jahrhundert: »Licht« in der Herstellung der Buchstaben auf dem Display und »Zeit« (Bewegung) in Form ihrer Animation. Die technischen Errungenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts – Eisenbahnen, Automobile, Flugzeuge und elektronisches Licht – verursachten in erster Linie eine Mobilisierung der Gesellschaft, der die Kunst durch eine Darstellung neuer räumlich-zeitlicher Prozesse gerecht zu werden versuchte. Zeiterfahrung in Form von Bewegung, Geschwindigkeit aber auch Zerlegung und Fragmentarisierung wurde ebenso zum eigenständigen künstlerischen Gegenstand wie der Umgang mit dem (Im-)Material Licht. Besonders die Künstler des russischen Konstruktivismus und des Futurismus machten die Bewegung zum bestimmenden Element ihrer Arbeiten, die ihren Ausdruck vor allem in kinetischen Objekten fanden. Als einem der ersten Künstler gelang es Naum Gabo, Zeit im Kunstwerk wahrnehmbar zu machen. In seiner Arbeit mit dem paradoxen Titel Kinetische Skulptur: stehende Welle ließ er das sichtbar werden, was eine Linie auf dem Papier nicht darzustellen vermag, das Bewegungsphänomen in seinem zeitlichen Ablauf. Dazu hat Gabo einen von Federn gehaltenen Metallstab mit Hilfe eines Elektromotors in kontinuierliche Schwingungen versetzt. Peter Zec erkennt darin, dass zum ersten Mal die »Zeit als ein dynamischer Prozess räumlicher Veränderung unmittelbar in das Kunstwerk«47 integriert wurde. Der Darstellung von Bewegung kam als künstlerisches Mittel das Licht entgegen. Lichtwirkung, eines der bedeutensten Phänomene der Malerei seit dem 16. Jahrhundert schlechthin – die Darstellung des Sichtbaren hat immer auch das Licht zur Voraussetzung, da Dinge erst sichtbar sind, wenn sie Licht von ihrer Oberfläche reflektieren –, entwickelte sich im 20. Jahrhundert zu einem eigenständigen künstlerischen Ausdrucksmittel. 48 Die innerhalb einer Lichtkunst verfügbaren Lichtquellen sind so unterschiedlich wie die mit ihnen gestalteten künstlerischen Arbeiten und umfassen u.a. einfache Glühbirnen (auch Projekto-

46. McLuhan 1999, 171. 47. Zec 1986b, 19. 48. Vgl. zur Lichtkunst Hirner 1999, 9-15. 38

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ren) und Halogenlampen, Leuchtstoffröhren, Gasentladungslampen (Neon), Flüssigkeitskristallstrukturen (LCD-Monitor), Kathodenstrahlbzw. Bildröhren (CRT-Monitor), Transistoren (TFT-Flachbildschirm) oder Schwarzlichtröhren. Diesen Lichtquellen sind jeweils unterschiedliche Erscheinungsweisen des Lichts eigen, wie sie René Hirner für einige von ihnen beschreibt, ausgehend vom »punktförmigen Licht der Glühbirne, über das stabförmige glühende Licht der Leuchtstoffröhre, das flexibel formbare und gleißende Farblicht der Gasentladungslampe, das im rechteckigen Ausschnitt des Bildschirms glimmende Licht des Kathodenstrahls bis hin zum Schwarzlicht […], dessen Lichtenergie erst in der ›Reflexion‹ des kalten Fluoreszenzlichts sichtbar wird.«49 Ihre materiale Äußerlichkeit erhalten die Quellen in ebenso unterschiedlichen Dispositiven wie der Projektion (punktförmig), dem Lichtkasten (selbstleuchtend durch Leuchtstoffröhren), der Neonröhre oder dem Monitor (Kathodenlicht). Für einen ganz bestimmten Teil der Lichtkunst wurde das Kathodenlicht zentral, nämlich für die Computerkunst. 1950 erzeugte der Wissenschaftler Ben F. Laposki »erste von elektronischen Geräten generierte Zeichnungen«50. Es handelte sich dabei um graphische Darstellungen von sich zeitlich überlagernden elektronischen Schwingungen, die auf dem Monitor eines »Kathodenstrahloszillographen« sichtbar gemacht wurden.51 Diese Zeichnungen, mit dem Titel oscillons, stellten genau das dar, was ihr Name sagt: oszillierende elektronische Bewegungen. Ihr Darstellungsmittel, das Licht, ist in der Lage, die Veränderungen der unterschiedlichen, zeitabhängigen Zustände zu visualisieren, da es auch aus elektronischen Bewegungen besteht. Licht gelingt es auf diese Weise, Bewegung sichtbar zu machen. »Zeit, die sich ursprünglich in mechanischen Bewegungsabläufen widerspiegelte, wird nunmehr, bedingt durch die Entwicklung der elektronischen Medien, hauptsächlich als ein Fließen bzw. NichtFließen von Information erfahren.«52 Das ist durchaus wörtlich zu verstehen, denkt man etwa an die elektronischen Informationsbänder in Flughäfen oder anderen öffentlichen Gebäuden, die den Bildschirm durchlaufen, als hätten sie weder Anfang noch Ende. Die Geschichte der bewegten Buchstaben hat in konzeptioneller Weise mit Experimenten auf dem Papier begonnen und durch die Nutzung technischer Medien ihre konkrete Realisierung gefunden. Sie ist gleichzeitig die Geschichte von der Loslösung der Buchstaben vom Pa-

49. 50. 51. 52.

Hirner 1999, 13. Zec 1986b, 26. Zec 1986b, 26. Zec 1986b, 26. 39

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pier und ihrer Freisetzung im Raum, die mit der literarischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Schriftzeichen verlassen allmählich ihren begrenzten materialen Ort, um sich in einer zeitlich dominierten, immaterialen Umgebung freizusetzen. In Un coup de dés jamais n’abolira le hasard hat Stéphane Mallarmé gezeigt, dass durch die Verteilung der Wörter auf dem Papierraum eine Trennung zwischen visueller Erscheinung und semantischer Bedeutung erreicht wird. Damit verlieh er gegenüber dem semantischen Aspekt der graphischen Seite des Buchstabens eine neue und eigene Qualität, die in den nachfolgenden Jahren die poetologische Grundlage für experimentelle Dichtung schlechthin werden sollte: die Auseinandersetzung mit der Materialität des Zeichens (Letter). Die ersten Arbeiten mit unterschiedlichen Typographien gehen auf die russischen Formalisten und italienischen Futuristen zurück und datieren aus den frühen 1910er und 1920er Jahren. In Paris war es Apollinaire, der sich durch visuelle Umsetzung der im semantischen Text enthaltenen Bewegung hervorgetan hat. Das Gedicht Il pleut ahmt visuell durch die schräg untereinandergeschriebenen Wörter »il« und »pleut« einen Regenfall nach, der durch den Wind in Schräglage gebracht wurde. Die Loslösung der Buchstaben aus ihrer linearen Anordnung und ihre neue Verteilung auf der Papierfläche haben den visuellen Effekt einer Bewegung zur Folge. Im Falle von Il pleut scheinen sie auf das Blatt Papier zu regnen. Die italienischen Futuristen, mit ihrem wichtigsten Vertreter Filippo Marinetti, verankerten die »Befreiung der Wörter« (»parole in libertà«) sogar in ihrem Manifest als einen zentralen poetologischen Grundsatz.53 Buchstaben näherten sich der gesprochenen Sprache an, da durch ihre typographische Gestaltung – große und kleine, dicke und dünne Lettern etc. – der akustische Höreindruck von (aus-)gesprochenen Wörtern visuell nachempfunden wurde. Die Gedichte der Dada-Poeten Hugo Ball, Tristan Tzara und Raoul Hausmann waren Objekte, die erst in ihrem theatralischen Vortrag durch die Autoren zu ihrer vollen Geltung kamen. Die Karawane von Ball besteht aus den unterschiedlichsten Drucktypen in abwechselnd kursiver und nichtkursiver Schrift, was dem geschriebenen Text eine dynamische Spannung verleiht. Es wirkt, als ob die Buchstaben wie die ziehende Karawane sich selbst langsam voranwälzten. Die visuelle Bewegung erhielt jedoch im Vortrag der Dichter ihre zweite, nämlich akustische Bewegung, die das Schriftbild, über es hinausgehend, erst komplettierte. Die »zweite Generation« experimenteller Dichter, nach der Avantgardepoesie der frühen Moderne, entwickelte das internationale Phänomen der konkreten Poesie. Eugen Gomringer wurde zu einem

53. Marinetti 1931. 40

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ihrer rigorosesten Theoretiker und Poeten. Seine Arbeiten sind in einem Feld angesiedelt, das wiederum deutlich durch Strömungen der bildenden Kunst und Architektur (Bauhaus und De Stijl) gekennzeichnet war. Durch das Konzept der konstellation setzte er seine Arbeit mit dem Schluss von Mallarmés Coup de Dés in Beziehung. Denn die letzte Zeile lautet dort: rien n’aura lieu excepté peut-être une constellation

mallarmé

Für Gomringer ist eine Konstellation »eine ordnung und zugleich ein spielraum mit festen größen. sie erlaubt das spiel. sie erlaubt die reihenbildung der wortbegriffe a, b, c und deren mögliche variationen.«54 Das Wort wird elementares Gestaltungsmittel der Texte. Gomringer isoliert das einzelne Wort auf der Fläche und lässt es mit benachbarten Wörtern in Beziehung treten oder mit der Leere der es umgebenden Fläche. Die Wortkonstellation auf dem Papier wird zum Spiel, da unterschiedliche Verknüpfungen möglich werden und die Wörter sich auch auf dem Papier unsichtbar hin- und herbewegen. Der Einfluss Gomringers war besonders für die brasilianische Noigandres-Gruppe elementar. Während innerhalb der deutschsprachigen konkreten Poesie die Materialität der Buchstaben auf der Fläche im Vordergrund stand und das Interesse vor allem der visuellen und physischen Substanz von Buchstabe und Wort galt, erweiterte Noigandres das Konzept hin zu einer »synästhetischen« Annäherung zum Material der Poesie. Das von McLuhan geprägte Wort »verbi-voco-visual«, das sie zur Bezeichnung ihrer Poesie u.a. verwendeten, integriert neben der visuellen auch die akustische Seite der Zeichen in die poetische Konzeption. Dada-Texten ähnlich, muten ihre Gedichte nicht selten Partituren an, was bedeutet, dass die akustische Realisierung Bestandteil der Konzeption ist. Ein ähnlich großes Interesse, wie es die experimentelle Poesie an der Animation von Buchstaben und Wörtern hatte, lässt sich immer wieder an der Schnittstelle zwischen Literatur und den an sie angrenzenden Disziplinen beobachten. Ein solcher Berührungspunkt ist in der Musik zu finden, bei Komponisten wie John Cage oder Bernard Heidsieck. Ihre Partituren waren nicht bloße Spielanweisungen in einem konventionalisierten Notat, sondern selbst ein Feld der Aktivität, der Bewegung, »in which the visual presentation of a work demonstrates a primary engagement with the rhythm, patterns, and emphasis of pho-

54. Gomringer 1988, 11. 41

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nemes within language.«55 Heidsieck war der Ansicht, dass das Buch und die Seite zu einschränkend seien und er eine Form der Inszenierung suche, die es der Sprache ermögliche, diesen Grenzen zu entfliehen. So verwendete er unterschiedliche Materialien und prägte die Bezeichnung »poetry action« bzw. »action poetry«56 für seine poetischen Partituren. Der Versuch, Sprache bzw. Text zu bewegen und in Aktion zu versetzen, reiht sich in die Tradition der »sound poetry« der 1960er und 1970er Jahre ein. Für eine Grenzüberschreitung der Künste in virtuoser Weise ist die Fluxus-Bewegung bekannt geworden. Ob Poesie, Musik oder bildende Kunst – Fluxus integrierte unterschiedliche Künste auf der Basis zufallsgesteuerter Kompositionstechniken und dem Prinzip der Kombinatorik. Den Aufführungen lag eine Partitur zugrunde, die nie endgültig oder fixiert war, sondern einen Ausgangspunkt für die jeweilige Performance in einer bestimmten Zeit darstellte. Durch die Situation einer temporal bedingten Realisierung nähert sich der poetische Text der Musik an, die ebenso nur in einem bestimmten Augenblick erklingt und sofort wieder verlischt. Eine wichtige Rolle in der Loslösung der alphabetischen Zeichen, nicht nur aus ihrer Fixierung auf der Seite, sondern auch der Determinierung der Wörter in ihrer syntaktischen Abfolge, spielte das durch Williams S. Burroughs und Brion Gysin in den 1950er Jahren entwickelte Verfahren des »cut-up«. Die zuvor zeilenweise zerschnittenen Textseiten wurden anschließend wieder, in zufälliger Anordnung, zu einem neuen Text zusammengefügt. Buchstaben, Wörter und Sätze sind so nicht nur visuell in Bewegung gesetzt, sondern sogar strukturell zerlegt, wodurch sie potentiell immer wieder andere Formen und syntaktische Strukturen annehmen können und permanent in Aktion bleiben: »The permutated poems set the words spinning off on their own; echoing out as the words of a potent phrase are permutated into an expanding ripple of meanings which they did not seem to be capable of when they were struck and then stuck into that phrase.«57 Genau jene aleatorischen Permutationen bildeten Anfang der 1960er Jahre den Ausgangspunkt zu den ersten computergestützten Gedichten im Umfeld von Max Bense. Denn mathematische Kombinatorik lässt sich hervorragend durch den Computer berechnen und Textpermutationen aufgrund von entsprechenden Computerprogrammen herstellen. Da die damals seltenen Großrechenanlagen ausschließlich für ma-

55. Drucker 1996, 47. 56. Drucker 1996, 48. 57. Gysin und Burroughs 1978, 34. 42

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thematische Berechnungen genutzt wurden, entstanden genau hier, in der Zusammenführung von Permutation und Literatur, die ersten Computergedichte.58 Bevor wir nun einen genaueren Blick auf die Nutzung der neuen Medien für den ästhetischen Umgang mit Sprache und Schrift werfen, seien hier noch drei Entwicklungen genannt, die parallel zu der damaligen visuellen, konkreten und experimentellen Poesie verliefen und nicht selten davon beeinflusst wurden oder selbst beeinflussten, nämlich Pop-Art, Konzeptkunst und »The artists’ book«. Während Pop-Art sich der auffälligen, kommerziellen und produktorientierten Sprache genauso wie der graphischen Form der Annoncen- und Werbesprache bediente, suchte die Konzeptkunst gerade das Gegenteil: visuell neutrale, unbetonte und bisweilen immateriale Typographien. Beiden gemein war die Idee, Sprache als solche und Sprache als visuelles und geschriebenes Zeichen in ein Kunstwerk zu verwandeln. Die Werbeindustrie ist heute mehr denn je von diesem Umgang des alphabetischen Zeichens als selbständiges Objekt, als Kunst, geprägt. A. M. Cassandre äußerte sich Zur Ästhetik des Plakats folgendermaßen: »Die Buchstaben […] sind in der Tat von entscheidender Bedeutung. Sie spielen die Hauptrolle in dem Theaterstück, das auf einer Mauer inszeniert wird, denn sie, und nichts anderes, haben die Aufgabe, dem Publikum die magische Formel einzuprägen, die den Verkauf fördert. […] Denn ein Plakat ist kein Gemälde. Ein Plakat ist zuallererst ein Wort.«59 Durch die Exposition typographischer Zeichen in der Produktwerbung erhält die Bewegung der Buchstaben eine neue Dynamik. Indem Werbeschriftzüge auf die Produkte selbst gedruckt sind, werden auch die Botschaften mobil: »Die Sprache wohnt in unserem Kleiderschrank […], als gehauchtes Gedicht weht sie uns vom Kosmetikpapier an, schimmert an der Seite des Bauchs des Busses […].«60 Bevor technische Medien imstande sind, Buchstaben vollkommen von der Seite zu lösen und in einen immaterialen, (scheinbar) unbegrenzten Raum zu versetzen, stand mit dem »Artists’ Book« eine Form zur Verfügung, die es erlaubte, die Seite durch Umgehung der drucktechnischen Normen (auf material-physikalische Weise) zu überwinden. Ähnlich wie die Vertreter der Pop-Art oder auch der Webung bedienen sich die Künstler an vorgefundenem Material, um es zu erweitern oder zu manipulieren und ihm damit eine neue Form aufzu-

58. Vgl. hierzu auch Kap. Computerpoesie/II, 1. und II, 2. (Stuttgarter Gruppe/Schule). 59. Cassandre (1926) 1986, 311. 60. Schuldt 2000, 3. 43

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prägen. Durch das Verlängern der genormten Buchseiten eines gekauften Buchs, das Zerschneiden von Texten oder Einfügen drehbarer oder aufklappbarer Seiten gelang es den Autoren zumindest teilweise, Texte aus dem Rahmen der Seite zu lösen und beweglich zu machen. Insofern ist auch diese Kunstform einzureihen in den Versuch, Buchstaben in Bewegung und Mobilität zu versetzen – ein Versuch, der in der literarischen Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts seinen Anfang genommen hat und erst durch die technischen Medien, angefangen vom Film bis hin zum Computer, tatsächlich realisiert werden konnte. Götz Großklaus fasst zusammen: »Diese Wahrnehmung von Geschwindigkeit und Simultaneität der Geschehnisflüsse versuchten Poeten ebenso wie die futuristischen Maler […] zu übersetzen in den ästhetischen ›Dynamismus‹ ihrer Texte und Bilder; […] Sowohl die literarischen Texte als auch das gemalte Bild aber konnten das metropolitane Zeitgefühl – wie es sich in der Wahrnehmung von ›velocità‹ und ›simultaneità‹ auch programmatisch anzeigte – nur annähernd verbalisieren bzw. visualisieren. Erst dem Film gelingt die adäquate Abbildung von Bewegung und Geschwindigkeit […].«61 Als die Bilder laufen lernten, lernten dies auch die Buchstaben. Der Film ist das erste technische Medium, das Schrift bewegen kann und zwar in einer zeitlich »adäquaten Abbildung«. Wie eingangs erwähnt, haben die neuen technischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts Veränderungen unserer Wahrnehmung und unserer Beziehung zur Wirklichkeit hervorgerufen: (beschleunigte) Bewegung, Zergliederung/Zusammensetzung und eine neue Form der Visualisierung durch Licht. Großklaus sieht diese Prinzipien des »neuen technisch-mechanischen Zeitalters als Elemente der technischen und ästhetischen Struktur« im Medium des Films »vollkommen wiederkehren«62. Durch das kinematographische Prinzip selbst, der Aufeinanderfolge der 25 Phasenbilder in der Sekunde, wird das Medium das der Bewegung schlechthin und damit zu einer »Ästhetik der Bewegung überhaupt«63. Das Prinzip der Zergliederung und Zusammensetzung ist nicht nur der Technik selbst eigen (Phasenbild-Segmentierung), sondern auch strukturell durch bestimmte Schnitt- und Montagetechniken präsent. Durch das Licht des Projektors können alle Bilder und Zeichen auf einer Projektionsfläche visualisiert und bewegt werden. Die Schrift-Inserts oder Zwischentitel der frühen Stummfilme dienten zunächst dazu, die Stimme des Erklärers zu ersetzen, jedoch

61. Großklaus 1995, 31. 62. Großklaus 1989, 497. 63. Großklaus 1989, 497. 44

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nicht den fehlenden Ton zu kompensieren.64 Es war bis dahin üblich, die (komplexer werdenden) bewegten Bilderszenen auf der Leinwand für das Publikum zu erläutern, wozu der Vorführer selbst den Kommentar gesprochen hat, ohne dass der Text visualisiert wurde. Nachdem die Inserts und Titel schließlich in die Abfolge der Bilder eingefügt wurden, erklärten sie dort das fehlende Handlungs-Bild, »d.h. daß die Schrift im Film an die Stelle der Stimme des Erklärers vor dem Film tritt, aber nicht die Stimmen im Film repräsentiert«65, wie Joachim Paech beobachtet. Der Titel im Stummfilm ersetzte ursprünglich die gesprochene Erklärung des Vorführers, die dieser in kurzer Zeit zwischen den Bildern gegeben hat. Dadurch dass diese Erklärungen in Form von Schrift-Inserts nun in die Abfolge der Bilder selbst eingefügt wurden, sind auch sie bewegt, d.h. solange sichtbar, bis man sie in durchschnittlicher Lesegeschwindigkeit gelesen hat. Hier liegt eine Parallele zur Poesie der Avantgarde vor, die zum einen zeigt, dass sich neue Medien an alten orientieren und zum anderen auf die (neue) Zeitlichkeit von Schrift hinweist, die schon in der Poesie die Ablösung der Schrift von der Seite vorbereitete. Während die Avantgardepoeten die Eigenheiten einer gesprochenen Sprache visuell (durch die unterschiedliche Gestaltung der Typographie) sichtbar gemacht haben, gelingt es dem Film, die zeitliche Dimension gesprochener Sprache durch das Bewegungs(schrift)bild herzustellen. Dass spätestens der Tonfilm diese Unterbrechungen der Bilderfolge verdrängt hat, mag damit zusammenhängen, dass die über Sprünge und Zeitraffungen hinweghelfenden Erklärungen nun auch von einer im Film agierenden Personen innerhalb der narrativen Handlung geleistet werden konnten.66 Die Schrift im Film ist dennoch nicht verschwunden, sondern hat sich zunehmend »in« bzw. »auf« die Bilder selbst geschoben, in Form einer »Einbildung der Schrift in die Bildschicht«67. Einer der berühmtesten Filme, der Buchstaben in der Bildfolge einbildet, ist Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wienes aus den Jahren 1919/20. Schriftzeichen erscheinen hier als Visualisierung unausgesprochener Gedanken oder Vorgänge des Geistes. In der Schlüsselszene im Park der Irrenanstalt stürzt der Direktor ins Freie und irrt entlang der Allee

64. Vgl. Paech 1994, 214. 65. Paech 1994, 214. 66. Hinzu kommt, dass der geübte Zuschauer heute über so viel kinematographische Sehkompetenz verfügt, dass er mit (konventionellen) zeitlichen Strukturen (z.B. Raffungen, Dehnungen oder Sprüngen) innerhalb der filmischen Narration umzugehen weiß und daher keine Erklärung mehr benötigt. Das Stummfilmpublikum stellten die bewegten Erzählungen von damals allerdings noch vor eine ungewohnte Rezeptionssituation. 67. Paech 1994, 216. 45

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zwischen Bäumen und Sträuchern, während ihm gleichzeitig vor seinem (geistigen) Auge und für den Zuschauer sichtbar suggestive Worten erscheinen: »Du mußt Caligari werden! Du mußt Caligari werden! Du mußt Caligari werden!«. Die Buchstaben wurden nachträglich und nacheinander auf der Abbildungsschicht hinzugefügt, so dass durch die Bewegung der Eindruck entsteht, jemand rede beschwörend auf den Direktor ein. Auch hier imitiert die Bewegung die zeitliche Abfolge ausgesprochener Wörter und unterstützt durch das plakative und plötzliche Erscheinen der Buchstaben die Dramatik der Szene.68 Die Filmkamera hat das Licht der Objekte analog aufgezeichnet und verwandelt dieses wiederum in elektrische Energie, »mit der die Dinge noch einmal geschrieben werden«69. Dadurch dass die Kamera in der Lage ist Bewegung aufzuzeichnen, ist der Projektor in der Lage, mit Licht diese Bewegung wiederzugeben und auf die Leinwand zu schreiben. Im Falle der auf das Filmbild eingebildeten Schrift wird in doppeltem Sinn geschrieben und zwar nicht nur als Abbildung von Buchstaben, sondern auch durch die Wiedergabe der zeitlichen Erscheinung von Schrift. Schrift spielt im Kino noch eine ganz andere wesentliche Rolle in Form des Titels und der Namen im Vor- und Abspann oder als Untertitel im fremdsprachigen Film. Da diese Schrift nicht zur narrativen Handlung gehört, läuft sie immer Gefahr, im Bild zu stören. Daher ist im Laufe der vergangenen Jahre zu beobachten gewesen, dass diese Schrift entweder zunehmend transparent und flüchtig oder in die beginnende Handlung integriert wurde. Der Titelvorspann zu Star Wars von George Lucas (1977) zeigt diese Integration in auffälliger Weise. Die Vorgeschichte zur anschließend gezeigten Handlung wird in großen Lettern schriftlich dargestellt, wobei das Textband am unteren Bildrand noch die gesamte Breite einnimmt, während es sich nach oben verjüngt. Die Zeilen wandern dabei vom unteren Bildrand nach oben. Im Illusionsraum des Films entsteht der Eindruck, der Textteppich verliere sich in den Weiten des Universums.70 Im Gegensatz dazu scheint im Experimentalfilm So Is This (1982) von Michael Snow die

68. Die Technik der eingebildeten Schrift auf dem Filmbild als Ausdruck der Gedanken des Darstellers, lässt sich auch in anderen Beispielen bebachten. In Paul Wegeners Golem schreibt der Geist seine Worte auf den Nebel seines Atems. Marcel L’Herbier, von dem Paech sagt, dass er, »am konsequentesten den Charakter der Sprechblase aus den Comics übernommen« hat, lässt in L’Inhumaine die gesungenen Worte der Sängerin wie »Leuchtschrift in der Luft« stehen, um sie dann von Einar Norton in Gedanken lesen zu lassen. Paech 1994, 216-217. 69. Paech 1994, 221. 70. Vgl. hierzu auch Paech 1994, 224-227, insbesondere seine Ausführungen zur Konzeption des schriftlichen Vorspanns als »Schatten der Schrift« auf dem Bild. 46

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Schrift das Bild vollkommen zu verdrängen. Schrift ist hier nicht eingebildet oder als semi-transparenter Schatten auf einem Bild aufgebracht, sondern wird selbst ganz und gar Bild. Der Film zeigt das, was er ist – »so is this«. Nacheinander in unterschiedlichen Geschwindigkeiten erscheinen einzelne Wörter, die Einstellung für Einstellung hintereinandergeschnitten und als Sätze zu lesen sind. Was sich gegenüber gedruckten Texten im Lesevorgang bewegter Schrift verändert, zeigt der Film in wörtlicher, weil rein selbstbezüglicher Weise – er schreibt es direkt auf den Monitor: This / is / not / a / script. / One / of / the / interests / of / this / system / is / that / each / word / can / be / held / (held / held) / on / the / screen / for / a /specific / length / of / time. / You / can’t / see / what’s coming. / A / sentence / could / take / an / unexpected / turn. / The / words / could / change / to / black / on / white / or / be / in / colour. / Words / in / capital / could / be / used / and / different / typefaces. / Words / could / fade / in / and / out / or / slide / on / and / off. / Images / or / sound / could / be / introduced. / Notice / how / each / word / is / a / different / size ? / Some / words / would / get / so / attenuated / or / so / big / that / only / a / section / of / them / would / be / shown / on / the / screen. / Or / they / could / get / extremely / tiny. / The / decision / has / be / made / to / concentrate / on / the / distinctive / capacity / of / films / to / structure / time: / the / word / as / the / individual / unit / of / writing, / the / frame / as / the / smallest / unit / of / film. / Dem Film stehen hier Möglichkeiten für den ästhetischen Umgang mit Sprache/Schrift zur Verfügung, die z.B. das Wort »length« zeitlich betonen können, indem es länger auf dem Bildschirm verharrt als die anderen. An anderer Stelle ist die Wortfolge mitunter so schnell und erfährt zudem noch eine Beschleunigung, dass man den Satz gerade eben noch lesen kann: »A / sentence / could / take / an / unexpected / turn.« So is this zeigt auf exemplarische Weise, wie es dem Film als Medium gelingt, Zeitabläufe zu strukturieren: Indem jedes Wort (»individual unit of writing«) Einzelbild für Einzelbild (»smallest unit of film«) hintereinandergeschnitten ist, wird auch der geschriebenen Satz zeitlich strukturiert. Eine ebensolche kritische und selbstreferentielle Auseinandersetzung mit dem Medium Fernsehen forderte der Dichter Klaus Peter Dencker in den 1970er Jahren. Er sah in den Produktionen der Fernsehanstalten bis dato lediglich eine affirmative, meinungsverstärkende Haltung gegenüber den medialen TV-Bedingungen. Fernsehen wurde zum bloßen Transportmittel, statt als »ausdrucksgebende Komponente

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eingesetzt«71 zu werden. Dennoch gab es eine kleine Gruppe von Autoren, die im wörtlichen Sinne mit den Möglichkeiten und Einschränkungen des Fernsehens spielten und TV-Poesie produzierten: Klaus Peter Dencker (starfighter, astronaut und rausch, SWF), Ferdinand Kriwet (Apollovision, WDR), Gerhard Rühm ( 3 Kinematographische Texte, SFB) und Cramer/Jandl/Mayröcker (Taube, WDR).72 Dencker, der um die Fortsetzung und Etablierung dieses Genres sehr bedacht war, definierte TV-Poesie als eine Form, die der visuellen Poesie entstammt: »Der einzelne Film stellt eine Komposition bewegter und starrer optischer Elemente und akustischer Ereignisse dar. Die optischen Elemente umfassen auf der einen Seite Filmstücke, Fotografie, Illustration aus Zeitschriften und Zeitung, die Ausnützung der Blue-Box, Cox-Box, der Tricks usw., auf der anderen Seite über den Trick eingebrachte Texte, Sätze, Wörter, Buchstaben und Konstellationen der Wörter bzw. Buchstaben. Die akustischen Ereignisse sind Zuordnungen. Sie umfassen Sprache, Gesang, Geräusche (natürliche und künstlich erzeugte).«73 Die Verwendung des Films im Bereich der Literatur führte zu einer medialen Übergangszone vom Buch zu den digitalen Medien. Die frühen Textfilme von Gerhard Rühm und der Versuch einer TV-Poesie von Klaus Peter Dencker zeigen, dass die Abbildung der Schrift und die Wiedergabe ihrer zeitlichen Erscheinung in die Literatur Eingang gefunden hat. Dass das Medium jedoch ein anderes ist als noch das Papier, ist keine bloße Variante, sondern eine notwendige Grundlage für die Konzeption dieser Form der Poesie. Denn ihre Inhalte sind »nicht beschreibbar, sondern nur zu zeigen, nicht oder nur schwer literarisch fixierbar, sondern nur mit Mitteln des Mediums [TV] zu produzieren.«74 Der Einsatz der Bildmedien Film (So is This) und Fernsehen (TV-Poesie) hat gezeigt, dass das materiale Schriftzeichen selbst zum Bild wird und dennoch lesbar wie Schrift bleibt. Immer, wenn Bildmedien sich mit dem alphabetischen Zeichensystem auseinandersetzen, scheint diese Spannung zwischen Lesen und Betrachten vorherrschend zu sein. So auch in der bildenden Kunst, insbesondere in ihrer Ausprägung als Medienkunst. 1965 realisierte Joseph Kosuth das Neonobjekt Five Words in Blue Neon, das aus fünf Wörtern besteht, die aus blau leuchtenden Neonröhren nachgebildet wurden. Ihre visuelle Erscheinung fällt mit ihrem semantischen Inhalt zusammen. In Bewegung ge-

71. 72. 73. 74.

Dencker 1973, 327. Vgl. auch Dencker 1973, 327. Dencker 1973, 328. Dencker 1973, 331. 48

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rät die Neonschrift, wenn sie in unterschiedlichen Phasen leuchtet, wie im Beispiel American Violence aus den Jahren 1981/82 von Bruce Naumann. Hier befinden sich direkte Aufforderungssätze in Neon geschrieben an der Wand, die zusammen ein Hakenkreuz bilden. Die Sätze können in verschiedenen Abschnitten gelesen und zusammengefügt werden, was die abwechselnd blinkende Beleuchtung der Satzteile noch zu diktieren scheint. Die einzelnen Wörter blitzen auf, als würden sie einem mobilen Passanten in einer Stadt von der Mauer als Graffiti anspringen. Diese Assoziationen einer durch Texte jeglicher Art beschrifteten Großstadt ruft auch die Installation The Legible City von Jeffrey Shaw (1988) hervor. Wie der Titel verspricht, ist diese Stadt ganz und gar lesbar, ohne dass man sich physisch von der Stelle bewegen muss. Der Benutzer der Hybridinstallation sitzt auf einem Fahrrad vor einer Projektionsfläche. Tritt er in die Pedale bewegt sich eine simulierte Stadt vor seinen Augen, deren Häuser und Straßenzüge nur aus Buchstaben bestehen. Die Zeichen geraten in Bewegung, weil sich auch der Rezipient bewegt: Das Fahrrad dient hier als Schnittstelle zwischen Benutzer und Leinwand. Der Rezipient selbst veranlasst damit einen Computer, die Buchstabenhäuser in Echtzeit auf einer Projektionsfläche zu generieren. Im Musikvideoclip The Child von Alex Gopher (1999) sind alle Gegenstände durch die Buchstaben ihres jeweiligen Namens ersetzt und die Buchstaben selbst »sind« die Dinge. Zu sehen ist die Stadt New York mit ihren Häuserschluchten, ihren Sehenswürdigkeiten, öffentlichen Gebäuden, Verkehrsmittel und ihren Fußgängern und Passanten. Alle Gegenstände, selbst die Personen, bestehen ausschließlich aus alphabetischen Zeichen und sind, im Unterschied zu Legible City, zudem noch computeranimiert. Die filmische Narration spielt innerhalb einer dicht bebauten und mit zahlreichen Verkehrsadern durchzogenen Stadt, deren Stadtplanstruktur durch den Rhythmus der Schnittfolge zusätzlich verdichtet wird. Nicht zufällig handelt es sich um ein Ereignis – der Fahrt einer schwangeren Frau zum Krankenhaus –, bei dem schnelle Handlung vonnöten ist. Der Clip zeigt eine dreiminütige Taxifahrt quer durch die ganze Stadt. Er beginnt mit einer Hubschrauberfahrt durch die Wolken in einem noch verhältnismäßig langsamen Tempo. Einen Geschwindigkeitsschub allerdings erfährt die Handlung, sobald das Taxi aus der Parklücke auf die Straße biegt und sich in den alltäglichen New Yorker Stadtverkehr einfädelt. Die Geschwindigkeit der Bildfolge verkürzt sich und bei Einfahrt des Taxis in den Tunnel tritt zusätzlich die Bass-Spur der Musik dazu, die ihr einen deutlich profilierteren Rhythmus (»groove«) verleiht und der Autofahrt einen drängenden Charakter gibt. Parallel zur Bewegung des Verkehrs ist auch die Schrift dem rhythmischen Diktat der Schnittfolge unterworfen. Die Namen der Gebäude fliegen vorbei, als wäre man selbst in der Stadt unterwegs – durch die subjektive Kameraperspektive sind wir es 49

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sogar. Wir schnappen die Zeichen auf, und ehe wir sie in die dazugehörigen Gebäude, Gegenstände und Menschen »übersetzt« haben, sind sie auch schon vorüber. Mit der Kurzlebigkeit der urbanen Mitteilungen spielt auch die Künstlerin Jenny Holzer, wenn sie öffentliche Werbedisplays nutzt, die ein aus Punktelementen zusammengesetzter Lichttext scheinbar endlos durchläuft. Normalerweise sind hier entweder Kaufempfehlungen, Sicherheitsvorschriften, Sportergebnisse oder Nachrichten in öffentlichen Gebäuden, Stadien oder Plätzen zu lesen. Holzer nutzt die Displays jedoch für ihre provozierenden Mitteilungen an die Gesellschaft. Der Text hat weder Anfang noch Ende. Er ist temporär und in einer Endlosschleife festgeschrieben. Die Buchstabenkette ist flüchtig und, aufgrund der permanenten Wiederholung, dauerhaft gegenwärtig. Schrift wird hier austauschbar und zur Dauerberieselung wie Musik in einem Kaufhaus. Die roten Lichtpunkte können jeden beliebigen Text nachzeichnen, ohne dass dieser konserviert würde. Das endlose Textband erinnert uns wieder an die Literatur, an einen literarischen Vordenker des elektronischen Displays, Jean Paul. In der Romanfiktion der Flegeljahre lesen wir von der Erfindung eines jungen Juristen, ein einzeiliges Gedicht zu verfassen: »er machet Gedichte nach einem freien Metrum, so nur einen einzigen, aber reimfreien Vers haben, den er nach Belieben verlängert, seiten-, bogenlang; was er den Streckvers nennt, ich einen Polymeter. […] Ich bemerkte bei dieser Gelegenheit, daß es dem Dichter keinen Vorteil schafft, daß man seine Streck- und Einverse nicht als eine Zeile drucken lassen kann […]«.75 Stellt man sich eine Papierseite normalen Ausmaßes vor, so ist die »Absurdität des Unterfangens«76, die Dieter Burdorf hier erkennt, als Urteil gerechtfertigt. Mit Hilfe der neuen technischen Medien wie Film, Fernsehen, Video oder Computer ist der Polymeter des erfindungsreichen Dichters bei Jean Paul jedoch denkbar. Ende der 1970er Jahre realisierte der Videodichter Richard Kostelanetz ein solches einzeiliges (Video-)Gedicht, das mehrere Minuten scheinbar endlos von rechts kommend nach links verschwindend auf dem Fernsehbildschirm vorüberzieht: Stringfiveteranciderideafencerebrumblendives…77 Der kurze Parcours durch die Geschichte der Buchstabenanimation hat gezeigt, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine zunehmen-

75. Jean Paul 1975, Bd. 4, 634 und 680-681. 76. Burdorf 1997, 16. 77. Im Übrigen experimentierte Kostelanetz für diese Gedichtserie mit den Techniken, die man zur Herstellung eines Filmabspanns verwendete. 50

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de Mobilisierung der Schrift zu beobachten ist.78 Die Auflösung des Papiers geht einher mit dem Heraustreten der Buchstaben aus dem Buch, wie sie Benjamin bereits seinerzeit beobachten konnte: »Wenn vor Jahrhunderten sie allmählich sich niederzulegen begann, von der aufrechten Inschrift zur schräg auf Pulten ruhenden Handschrift ward, um endlich sich im Buchdruck zu betten, beginnt sie nun ebenso langsam sich wieder vom Boden zu heben. Bereits die Zeitung wird mehr und mehr in der Senkrechten als in der Horizontalen gelesen, Film und Reklame drängen Schrift vollends in die diktatorische Vertikale. Und ehe der Zeitgenosse dazu kommt, ein Buch aufzuschlagen, ist über seine Augen ein so dichtes Gestöber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern niedergegangen, daß die Chancen seines Eindringens in die archaische Stille des Buches gering geworden sind.« 79 Angefangen mit der Bewegung durch das Medium Film und gefolgt von Fernsehen, Video und Computer hat Schrift einen Dynamisierungsschub erfahren, der sich in unterschiedlichen Disziplinen, Künsten und Diskursen äußert. Wie die Beispiele verdeutlicht haben, hat der Film nicht nur die Bilder in Bewegung versetzt, sondern auch als erstes Medium die Schrift. Wenn man die »Bewegung« der Schrift in einem anderen Sinn versteht, einem wörtlicheren, physikalischen, dann waren die ersten mobilen Speichermedien diejenigen, die auf transportierbaren Trägermedien wie dem Papyros oder Papier vorhanden waren. Ihr Vorteil war die örtliche Flexibilität gegenüber sakralen Deckengemälden, Statuen oder Wandmalereien. Durch das Vokalalphabet wurde Schrift zu einer abzählbaren Menge von Elementen, die durch eine jeweilige Zuordnung in andere Elemente ein hohes Maß an Beweglichkeit aufwies: »Buchstaben ließen sich mithin in Zahlen, Zahlen in Noten und Noten wieder in Buchstaben übersetzen […].«80 Durch die ›beweglichen‹ Typen Gutenbergs waren Buchstaben auch in technischer Hinsicht mobil geworden, da jeder Buchstabe die Stelle des anderen einnehmen oder ersetzen konnte. Druckerzeugnisse konnten seriell hergestellt werden und erlangten durch ihre Masse ein Maß an Mobilität, das zuvor noch undenkbar war. Bilder dagegen bestehen aus nicht abzählbaren Elementen und sind für eine Übertragung, einen Transport oder eine Animation nicht in Einzelteile zerlegbar bzw. in einen entsprechenden Code zu bringen.

78. Hier sei nicht ausgeschlossen, dass es experimentelle Versuche zur Bewegung von Schrift bereits vor diesem Zeitpunkt gegeben hat. Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch lässt sich im Zuge der Entwicklung und Etablierung technischer Medien ein deutliches Interesse daran beobachten. 79. Benjamin 1991, Bd. IV.1, 103. 80. Kittler 2000a, 51. 51

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Erst mit dem Computer haben es »technische Bildteile […] den Buchstaben abgelernt, eine abzählbare Menge zu sein.«81 »Im« Computer bestehen auch Bilder aus einer abzählbaren Menge von Einzelelementen, den »picture elements« (abgekürzt: PixEl). Diese sind jedoch weder kleine Bilder noch Buchstaben, sondern Zahlen (eine Matrix), die es erst ermöglichen, dass Bilder und Buchstaben auf der Bildschirmfläche erscheinen oder gar animiert sind. »Alle Bewegung von Schriften geht heute aus Algorithmen hervor.«82 Die Grundlage also für bewegte Bilder und Schriften im Computer ist die Tatsache, dass Buchstaben und Bildelemente in Zahlen verwandelt werden. Die Dynamik der Schrift scheint mit den elektronischen Medien zum grundlegenden Thema eines Genres wie der Computerpoesie geworden zu sein.

81. Kittler 2000a, 51. 82. Kittler 2000a, 51. 52

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POESIE – GEDICHT – LYRIK

II. Poesie – Gedicht – Lyrik 1. Gattungsgeschichtliche Aspekte Die Begriffe, die der Literaturwissenschaft zur Beschreibung, Klassifizierung und Analyse von poetischen Texten zur Verfügung stehen, lassen erkennen, dass Literatur bislang immer im Zusammenhang mit dem Buch gedacht wurde. Der Druck als Medium der Literatur ist so selbstverständlich mit dem literarischen Text verbunden, dass er unsichtbar und, im Umkehrschluss, eine mit dem Computer gemachte Literatur oft gar nicht als Gegenstand der Literaturwissenschaft erkannt wird. Daher steht einer Ausweitung des literaturwissenschaftlichen Begriffsapparates hin zu einer elektronischen bzw. Computerliteratur der Einwand entgegen, dieses Genre gehöre in den Bereich der Medien- bzw. Netzkunst.1 Als Folge haben sich aktuelle Diskussionen über elektronische Literatur zu überwiegenden Teilen auch im Bereich der Netzkunst angesiedelt und sich damit auch teilweise der Frage nach der Einbindung in literaturwissenschaftliche Zusammenhänge und Traditionen entzogen. Dass sich aber in der literarischen Produktion, Speicherung und Verbreitung ein Medienwechsel vollzogen hat, der den ästhetischen Umgang mit Sprache und Schrift maßgeblich verändert, ist nicht von der Hand zu weisen und als ästhetische Verwendung von Sprache im Besonderen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen.2 Es ist notwendig, sich über die Funktion und Brauchbarkeit grundlegender Begriffe der Literaturwissenschaft zu verständigen, da mit ihnen ein Gegenstand bezeichnet wird, der sich unter Computerbedingungen fundamental verändert hat. Der hier diskutierte Wechsel der Poesie vom Trägermedium Papier hin zum Computer(-bildschirm) vollzieht sich mit einem über die literarischen Epochen hinweg konstituierten Begriff der Lyrik – der sich bislang bewusst

1. Vergleiche hierzu auch die Einleitung zu Schmidt-Bergmann und Liesegang 2001, 14. 2. Auch hier ist Medienwechsel nicht einseitig zu verstehen als Ablösung des Buchs durch den Computer als literarisches Medium, sondern lediglich die Tatsache, dass Sprache und Schrift seit geraumer Zeit ein weiteres Medium zur Verfügung stehen. 53

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oder unbewusst im Spannungsfeld des Buchdrucks herauskristallisierte. Seit der italienischen Renaissancepoetik und außerhalb Italiens seit dem 18. Jahrhundert werden literarische Formen in die drei großen Gattungen »Epik«, »Dramatik« und »Lyrik« eingeteilt.3 Lyrik gehört dabei von jeher zu der Erscheinungsform literarischer Produktion, deren Formen und Ausprägungen so vielfältig und unübersichtlich waren und sind, dass ihr Gattungsbegriff stets zur Diskussion gestanden hat. Das Wort »Lyrik« stammte wortgeschichtlich von der lateinischen Bezeichnung »lyricus« (griechisch: »lyrikós«) ab, die wörtlich »zur Lyra, zum Spiel der Lyra gehörig« bedeutet und bezieht »sich anfangs entsprechend antiker Vorstellung auf zur Leier zu singende Dichtung«4. In früheren Kulturpraktiken ist Lyrik zur Musik vorgetragen worden und hat daher ihre Affinität zu Rhythmik und Sangbarkeit. Lyrik war gleichbedeutend mit Lied und bezeichnete eine gesungene Dichtung. Das Wort »Dichtung« bzw. »Gedicht« entstammt dem althochdeutschen Ausdruck »tihton«, der so viel wie »›sprachlich gestalten, abfassen‹«5, also »alles schriftlich Niedergelegte«6 bedeutete. Wenn man von Lyrik als Lied spricht, so geht dem der Gedanke voraus, dass es sich dabei um schriftlich niedergelegte Texte handelt, die zur Musik vorgetragen wurden. »Die Schriftlichkeit ist in unserer literarischen Tradition im allgemeinen das vorherrschende Prinzip, und bei Liedern ist bekanntlich eine doppelte Notation, die des Textes und parallel dazu die der Melodie, notwendig.« 7 Burdorf sieht sogar in der Reim- und Sangbarkeit früher lyrischer Texte einen Weg zur Weitergabe und Erhaltung dieser Texte (Volks- und Kirchenlieder) bis in unsere Zeit hinein, da zu vermuten ist, dass die Fähigkeiten zum Notenlesen eher weniger ausgeprägt waren. Der Begriff Dichtung bleibt schwierig, da er nicht nur lyrische Texte im engeren Sinne bezeichnet, sondern auch für Sprachkunst im Allgemeinen stehen kann. So spricht Goethe noch im 18. Jahrhundert von Dichtung und Wahrheit, obwohl Martin Opitz bereits hundert Jahre zuvor im Buch von der Deutschen Poeterey (1624) den Begriff Dichtung auf Versdichtung eingeschränkt hatte. Neben ihm existieren auch die

3. Trissino teilt in seiner theoretischen Schrift Poetica literarische Formen systematisch den heute noch gültigen drei Gattungsbereichen Lyrik, Epik und Dramatik zu. Trissino 1529, 63. Die Geschichte der Gattung »Lyrik« kann hier nur skizzenhaft nachgearbeitet werden. Für eine ausführlichere Erörterung vgl. auch Burdorf 1997 und Völker 2000. 4. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1999, 819r. 5. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1999, 223r. 6. Burdorf 1997, 2. 7. Burdorf 1997, 24. 54

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POESIE – GEDICHT – LYRIK

Synonyme Dichtkunst, Sprach- oder Wortkunstwerk, literarisches Kunstwerk oder Poesie (z.B. konkrete Poesie). Dagegen ist das von Dichtung abgeleitete »Gedicht« seit dem 18. Jahrhundert semantisch eindeutiger zu fassen als »lyrische Dichtung (in Versen)«8. »Die Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kann / erfordern zueföderst ein freyes lustiges gemüte / vnd wollen mit schönen sprüchen vnnd lehren häuffig geziehret sein […]«9 Martin Opitz verwendet den Begriff »getichte« hier bereits eingeschränkt auf Versdichtung, die er mit Lyrik (»lyrica«) gleichsetzt. Einen allgemeinen Sammelbegriff für die unterschiedlichen Ausformungen der lyrischen Verskunst kennt Opitz noch nicht, und so beschreibt er jede Form (z.B. Hymne, Elegie, Silva oder Echo) als eigenständige Form neben Epos, Tragödie und Komödie. Auch Johann Christoph Gottsched entwickelt in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen noch keinen gattungssystematischen Lyrikbegriff, sondern ordnet die literarischen Formen historisch, nach ihren Entstehungszusammenhängen. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die aus dem Lied entwickelte Lyrik auch die ursprüngliche Form aller Dichtung sei: »[E]in Lied ist ein Text, der nach einer gewissen Melodie abgesungen werden kann. Die Gesänge sind dergestalt die älteste Gattung der Gedichte, und die ersten Poeten sind Liederdichter gewesen.«10 Prägend für die weitere Entwicklung der Verskunst hin zu einer eigenständigen Gattung wird allerdings Gottscheds Bemerkung zum Konzept der Nachahmung. Damit legt Gottsched den Grundstein für eines der zentralen Kriterien der späteren Definition von Lyrik als empfindsam-subjektiven Ausdruck von Unmittelbarkeit: »Die […] Art der Nachahmung geschieht, wenn der Poet selbst die Person eines andern spielet oder einem, der sie spielen soll, solche Worte, Gebärden und Handlungen vorschreibt und an die Hand giebt, die sich in gewissen Umständen für ihn schicken. Man macht z.E. ein verliebtes, trauriges, lustiges Gesicht, im Namen eines andern; ob man gleich selbst weder verliebt noch traurig noch lustig ist. Aber man ahmet überall die Art eines in solchen Leidenschaften stehenden Gemüthes so genau nach und drückt sich mit so natürlichen Redensarten aus, als wenn man wirklich den Affect bey sich empfände.« 11 Seit dem 18. Jahrhundert lässt sich die Tendenz beobachten, die Formenvielfalt der Gedichte unter den zentralen Begriff der Lyrik zu subsumieren. Abbé Charles Batteux’ populäres Lehrbuch Les beaux arts réduits à un même principe von 1746 versuchte auf der Basis eines Prin-

8. 9. 10. 11.

Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1999, 223r. Opitz 1963, 23. Gottsched 1962, 69. Gottsched 1962, 145. 55

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zips ein umfassendes System der literarischen Gattungen zu entwickeln. Batteux widmete sich dabei neben den Gattungen Epik und Dramatik auch der neuen Gattung der Lyrik und führte alle drei auf die aristotelische Nachahmung zurück, derzufolge die Wirklichkeit von keiner der literarischen Gattungen unmittelbar, sondern immer nur als künstlich reproduzierte wiedergegeben werden kann. Dem widersprach Johann Adolf Schlegel in vehementer Weise, indem er seiner Übersetzung der Schriften Batteux’ einen kritischen Kommentar anfügte. Im Gegensatz zu Batteux nämlich traute Schlegel der lyrischen Sprache die Fähigkeit zum unmittelbaren Ausdruck wirklicher Empfindungen zu. Lyrik wird damit zum Erfahrungsort eines (lyrischen) Subjekts. Johann Gottfried Herder band durch eine umfangreiche Sammlung verschiedener Lieder unterschiedlicher Zeiten den Begriff der Poesie an das Volkslied als dessen Ursprung zurück. Damit weichte er die zuvor etablierte Gattungstheorie z.T. wieder auf, indem er eine Lyrisierung aller Gattungen vornahm. Durch seinen Verweis auf die »›Tonart‹, die sich in Dichtungen aller Art finden könne«12, hat Herder nicht nur die romantische Vorstellung der Lyrik stark beeinflusst. Nachdruck erhält diese Definition der Dichtung auch durch die Ästhetiken Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Friedrich Theodor Vischers. War bei Batteux zwar »die Materie der lyrischen Poesie durchgängig eitel Empfindungen«, so war sie gleichzeitig auch »nichtsdestoweniger der Nachahmung unterworfen […]«13. Hegel dagegen bestimmte die lyrische Poesie als Domäne der Subjektivität, als »totale Aussprechung des inneren Geistes […]«14: »Wenn daher sonst schon Schmerz und Lust, in Worte gefasst, beschrieben, ausgesprochen, das Herz erleichtern können, so vermag zwar der poetische Erguß den gleichen Dienst zu leisten, doch er beschränkt sich nicht auf den Gebrauch dieses Hausmittels; ja, er hat im Gegenteil einen höheren Beruf: die Aufgabe nämlich, den Geist nicht von der Empfindung, sondern in derselben zu befreien.«15 Als Beispiel dient ihm hier der Lobgesang Pindars auf einen Sieger in den Wettspielen, dessen Werk kein »Gedicht auf den Sieger wurde, sondern ein Erguß, den er aus sich selbst heraussang.«16 Der lyrische Inhalt nährt sich, im Gegenteil zur objektiven Handlung des Epos und dessen Anspruch zur Totalität, aus der Besonderheit, der Partikularität und des Einzigartigen des subjektiven Empfindens:

12. 13. 14. 15. 16.

Burdorf 1997, 4. Batteux, zitiert nach Völker 2000, 48. Hegel 1993, Bd. 15, 435. Hegel 1993, Bd. 15, 416-417. Hegel 1993, Bd. 15, 425. 56

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»Indem es endlich im Lyrischen das Subjekt ist, das sich ausdrückt, so kann demselben hierfür zunächst der an sich geringfügigste Inhalt genügen. […] Der Inhalt, die Gegenstände sind das ganz Zufällige, und es handelt sich nur noch um die subjektive Auffassung und Darstellung, deren Reiz in der lyrischen Poesie teils in dem zarten Hauche des Gemüts, teils in der Neuheit frappanter Anschauungsweisen und in dem Witz überraschender Wendungen und Pointen liegen kann.«17 Auch die Form des Gedichts wird ganz von der subjektiven Empfindung des Verfassers geprägt und ist ihr untergeordnet. So wird die lyrische Einheit nicht vom äußeren Anlass und dessen Realität bestimmt, sondern allein von der subjektiven inneren Bewegung: »Denn die einzelne Stimmung oder allgemeine Betrachtung, zu welcher die Gelegenheit poetisch erregt, bildet den Mittelpunkt, von dem aus nicht nur die Färbung des Ganzen, sondern auch der Umkreis der besonderen Seiten, die sich entfalten können, die Art der Ausführung und Verknüpfung und somit der Halt und Zusammenhang des Gedichts als Kunstwerkes bestimmt wird.«18 Während Herder noch allen Ursprung der Dichtung im Volkslied verortete, sieht Hegel dort einen Mangel, der nur in der »wahren Poesie«19 aufgehoben werden kann. Das Volkslied zeichnet sich vielmehr durch eine »unmittelbare Ursprünglichkeit« aus, die ihm zwar »reflexionslose Frische kerniger Gedrungenheit und schlagender Wahrheit« verleiht, jedoch ohne der Stimme eines Subjekts »das diese Form und deren Inhalt als Eigentum gerade seines Herzens und Geistes und als Produkt seiner Kunstbildung« 20 ausgesprochen hätte. Denn die lyrische Äußerung bleibt kein bloßes sich Äußern des individuellen Inneren. Sie ist »Lyrik in erster Linie als hochartifizielle Formierung der subjektiven Befindlichkeit«21. In Hegels Ausführungen hat die Lyrik »kunstreich« auch noch das »Sachlichste und Substantiellste als subjektiv empfunden, angeschaut, vorgestellt oder gedacht«22 zu äußern. Sie wird zum Sprechen, das sich selbst vernimmt, zur Lyrik als gesprochenes Wort. »Die lyrische Grundsituation ist die Konfrontation eines isolierten Dichtersubjekts mit der übermächtigen Natur, die Auflösung der Grenze zwischen Subjekt und Objekt in der ›Stimmung‹.«23 Mit dem Primat der Subjektivierung als Kennzeichen der Lyrik geht ihre besondere

17. 18. 19. 20. 21. 22. 23.

Hegel 1993, Bd. 15, 420. Hegel 1993, Bd. 15, 427. Hegel 1993, Bd. 15, 431. Hegel 1993, Bd. 15, 433. Plumpe 1993, 336. Hegel 1993, Bd. 15, 431. Burdorf 1997, 5. 57

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Zeitlichkeit einher, die sich im Augenblick konzentriert. Vischer sieht darin den Gegenstand durch den Dichter mit einem »raschen Lichte beleuchtet«: »Ist ihr zeitliches Element die Gegenwart, also der Augenblick, so ist in Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenständen ihr Charakter die Punktualität; sie ist ein punktuelles Zünden der Welt im Subjekte: in diesem Moment erfasst die Erfahrung dieses Subjekt auf diese Weise.«24 Punktualität und Vereinzelung als Wesensmerkmal subjektiver Erfahrung und als Thema der Lyrik schlechthin prägt noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die Definition der Gattung, bevor die Lyrik der Moderne (seit Baudelaire) die zentrale Charakterisierung als Erlebnisund Stimmungsdichtung infrage stellt. Die Experimente der Dadaisten Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich überschritten nicht nur die Grenzen der Poesie sondern sogar die der Literatur. Formen der experimentellen Poesie waren heftig umstritten, da sie sich zunehmend von subjektiver Erlebnis- und Stimmungslyrik entfernten, ihre Reimstruktur aufgaben und auch keine unbedingte Nähe zur Musik mehr erkennen ließen, sondern stattdessen dem Zufall ein stärkeres Gewicht verliehen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts bewegten sich poetische Texte so weit von den traditionellen Vorstellungen der Lyrik weg, dass ihre Gratwanderungen zwischen Grafik, Sprache, Schrift und Bild zwar als Experimente akzeptiert, jedoch ihre poetischen Qualitäten bezweifelt wurden. Auch neuere Lyriktheorien haben ihre Mühe, die mannigfaltigen Erscheinungsformen poetischer Texte mit verbindlichen Kriterien zu charakterisieren.25 Das Ergebnis der Definitionsversuche der letzten Jahre lässt sich in einer Liste an Kriterien wie folgt zusammenfassen: Liedhaftigkeit, Kürze, Entpragmatisierung des Sprachgebrauchs und Versform. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass diese Kriterien nicht ausreichen, um lyrische Texte von anderen Gattungen zu unterscheiden. Die Nähe der Lyrik zur Musik bzw. dem Lied wird vor allem von Bernhard Asmuth als Hauptmerkmal genannt26, obwohl er später einschränkend feststellen muss, dass die »literarische Lyrik […] im Laufe der Zeit eine Eigengesetzlichkeit entwickelt [hat], die sie immer mehr von der Liedform abrücken ließ«27. Als Folge seiner Definition wird moderne Lyrik bei Asmuth vor dem Hintergrund der Lied-

24. Vischer 1923, Bd. 6, §886, 208. 25. Für eine ausführlichere Betrachtung und Kommentierung neuerer Lyriktheorien siehe Burdorf 1997, 6-21. 26. Vgl. Asmuth 1984, 125-139. 27. Asmuth 1984, 135. 58

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haftigkeit nur mehr als »Verfallsform«28 wahrgenommen. Aus Gründen der Undefinierbarkeit der lyrischen Erscheinungsformen beschränkt sich Walther Killy auf eine Beschreibung derselben, statt eine Begriffsdefinition zu versuchen.29 Ein Ergebnis seiner Beobachtungen ist die relative Kürze der Texte gegenüber einer epischen Länge. Obwohl mit der Kürze ein Kriterium gefunden zu sein scheint, das jenseits inhaltlicher, motivischer oder struktureller Vorgaben für einen großen Teil der Dichtung heute zutreffen mag, bringt sie eine begriffliche Unschärfe mit sich, da keine verbindliche Aussage über die qualitativen und quantitativen Grenzen von »kurz« gefunden werden können. Eine andere Antwort auf die Frage, was Poesie sei, entwickelte der russische Formalismus und führte den Begriff der Differenzqualität ein. Roman Jakobson definiert die poetische Sprache in seinem Aufsatz Was ist Poesie? von 1934 als Abweichung von der Alltagssprache.30 Seiner Auffassung nach, kann die poetische Qualität weder inhaltlich noch formal definiert werden, da zum einen alles zum Thema der Dichtung werden kann und zum anderen die formalen Verfahren einem ständigen Wandel unterzogen sind, der eine strenge Unterscheidung zwischen den Kunstwerken und anderen Werken unmöglich macht. Unterscheiden lässt sich dagegen – und das ist das zentrale Argument Jakobsons – zwischen der poetischen und anderen Funktionen der Sprache: »Weder Tynjanov noch Mukarˇovsk´y, weder ˇSklovskij noch ich selbst – wir proklamieren nicht die Selbstgenügsamkeit der Kunst, sondern verweisen darauf, daß die Kunst ein Bestandteil des gesellschaftlichen Systems ist, ein Element, das mit anderen Elementen in Beziehung steht, ein wandelbares Element, denn: sowohl der Kunstbereich wie auch sein Zusammenhang mit den übrigen Sektoren der sozialen Struktur befindet sich in steter dialektischer Veränderung. Was wir betonen, ist nicht der Separatismus der Kunst, sondern die Autonomie der ästhetischen Funktion.«31 Während die bislang beschriebenen Definitionsversuche der Lyrik sich anschickten, die poetischen Formen von anderen literarischen Gattungen abzugrenzen, versuchen die Theoretiker des russischen Formalismus eine Definition aus der Verwendung der Sprache selbst zu leisten, die je nach System (ob Alltag oder Literatur) ihre Funktion verändert. »Poetizität« manifestiert sich demnach dadurch, »daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder

28. 29. 30. 31.

Burdorf 1997, 7. Vgl. Killy 1972. Vgl. Jakobson 1993, 67-82. Jakobson 1993, 78. 59

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als Gefühlsausbruch empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen.« 32 Nach Jakobson überträgt die »poetische Funktion […] das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.«33 Während der Prosasatz einem syntagmatischen Prinzip folgt, das alle Satzelemente zu Äquivalenzklassen werden lässt, die auf dieser horizontalen Ebene je nach Sinn, Absicht und Funktion des Satzes unterschiedlich kombiniert werden können, erfolgt die Selektion in der Sprache der Poesie auf paradigmatischer, d.h. vertikaler Ebene. Sie wird besonders augenfällig am Ende der Verszeile innerhalb eines Reimschemas, wie z.B. in einem Vers (aus Der Taucher) von Schiller: »Und reißend sieht man die brandenden Wogen / Hinab in den strudelnden Trichter gezogen«. Für das Wort »Wogen« könnte auch das Wort »Wellen« stehen, würde jedoch keinen Reim auf »gezogen« bilden. Ein anderes Beispiel sind Stilfiguren wie etwa die Alliteration, die deutlich machen, dass mit der Selektion des Wortes in der vertikalen Ebene eine zusätzliche (in den Worten Jakobsons »sekundäre«) ästhetische Codierung eingeführt wird, die die poetische Sprache gegenüber der Prosasprache besonders kennzeichnet (»Poetizität«). Mit dem Blick auf die jeweilige Funktion der Sprache entgeht Jakobson zwar dem Zwang, durch eine Auflistung unterschiedlicher Kriterien die Form, Thematik und Struktur der Lyrik als Gattung zu definieren. Sein Modell der Poetizität bleibt jedoch gleichzeitig so offen, dass es als Unterscheidungskriterium für jegliche Art von Literatur gelten kann. Auch im Roman oder im Drama ändert sich die Sprache in ihrer ästhetischen Funktion, womit jedoch noch nicht die Gattungen selbst unterschieden sind. Demgegenüber scheint die Feststellung Jakobsons, dass wir genau dann von Poesie sprechen, wenn die Poetizität (die poetische Funktion) in einem Wortkunstwerk »richtungsweisende Bedeutung«34 erhält, zu wenig griffig zu sein, um als Definitionsversuch der Gattung Lyrik gegenüber anderen literarischen Formen zu genügen. So vermag es auch nicht zu überraschen, dass am Ende des Poesie-Aufsatzes Jakobson erneut die Frage stellt: Was ist Poesie?35 Mit dieser abschließenden Frage signalisiert er, dass das, was Poesie zu Poesie macht, immer wieder neu infrage gestellt werden muss, da sich mit der Sprache selbst auch ihre ästhetische Funktion wandelt. Abschließende Definitionen, die besagen, was ein Gedicht ist und was es

32. 33. 34. 35.

Jakobson 1993, 79. Jakobson 1971a, 153. Jakobson 1993, 79. Jakobson 1993, 81. 60

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nicht ist, scheinen unmöglich, zumal auch im Zuge der Moderne – insbesondere der experimentellen Literatur – die Gattungen sich aufzulösen beginnen. In dieser Sache haben die Theoretiker des russischen Formalismus Weitsicht bewiesen, indem sie nicht die Gattungen zu definieren versuchten, sondern die Verwendung der Sprache selbst, innerhalb ihrer Kontexte und Funktionen. Nach der kurzen Zusammenfassung der Gattungsgeschichte der Lyrik ist festzuhalten, dass eine lange literarische Tradition besteht, Lyrik nach Form und Inhalt zu definieren und von anderen Gattungen abzugrenzen. Dabei ist jedoch zu erkennen, dass diese Kriterien stark von der jeweiligen Zeit (Epoche) selbst abhängen, von Poetiken (Opitz, Gottsched) oder durch einen dominanten Diskurs einer die Literaturgeschichte begleitenden und beeinflussenden Philosophie (Herder, Schlegel, Hegel) gesetzt wurden. Dass es von jeher schwierig war, die mannigfaltigen Formen und Erscheinungsweisen von Poesie in einem verbindlichen Begriff zu bestimmen, zeigen die zahlreichen Ausnahmen, die immer wieder den Katalog der Kriterien durcheinander brachten. Zu denken wäre hier an die poetischen Texte, die aufgrund ihres regelwidrigen Sprach- oder unkonventionellen Formgebrauchs durch das Raster fielen und erst viele Jahre später als Poesie entdeckt wurden. Hierzu gehören besonders auch aleatorische und kombinatorische sowie figurative, optische und visuelle Gedichte, nicht nur des 20. Jahrhunderts. Burdorf geht abschließend auf ein Kriterium ein, das in dieser Form bislang noch nicht zur Sprache kam und besonders in Bezug auf experimentelle Schreibweisen wichtig zu sein scheint: »Das einzige eindeutig feststellbare Merkmal, das den größten Teil der heute als Gedicht bezeichneten Texte auszeichnet, ist die Versstruktur.«36 Burdorf stützt sich dabei auf die Definition Dieter Lampings, wonach Versrede als Rede bezeichnet wird, »die durch ihre besondere Art der Segmentierung rhythmisch von normalsprachlicher Rede abweicht. Das Prinzip dieser Segmentierung ist die Setzung von Pausen, die durch den Satzrhythmus der Prosa, und das heißt vor allem: durch die syntaktische Segmentierung des Satzes nicht gefordert werden. Das Segment, das durch zwei solche, aufeinander folgende Pausen geschaffen wird, ist der Vers.«37 Bei dieser Minimaldefinition muss sich das Gedicht nach Lamping zunächst lediglich als Versrede erweisen, was eine bestimmte Segmentierung ihrer Redeweise voraussetzt, die durch die Setzung von Pausen erreicht wird (jedoch vom Reim unterschieden ist). In der Drucklegung

36. Burdorf 1997, 11. 37. Lamping 1993, 24. 61

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macht sich dies im Satzspiegel bemerkbar, wo jedem Vers eine Zeile gehört und die Anfangsbuchstaben einer Zeile häufig in Großbuchstaben gesetzt sind. Hat das Gedicht auch im Lied seinen Ursprung und war lange Zeit eine gesungene Kunstform (die allenfalls durch eine Hand schriftlich niedergelegt wurde), so treten seit der frühen Neuzeit andere Kriterien in den Vordergrund, die auf die besondere Technik des Buchdrucks zurückzuführen sind: Die graphische Anordnung der Lettern wird bestimmend für den lyrischen Text. Das bislang gesungene/gesprochene und d.h. variierte Gedicht wird nun an (Druck-)Schrift gebunden. Dadurch entstehen Anordnungen auf dem Papier (unterschiedliche lange Verszeilen, große Anfangsbuchstaben, Zwischenräume, unterschiedlich große Buchstaben oder so genannte »Bildgedichte« etc.), die lautlich nicht in dieser Form repräsentiert werden können. Der Druck weist den beweglichen Lettern feste Plätze auf einer limitierten Seite zu, wobei jedes Zeichen auch durch ein anderes ersetzt werden könnte. Insofern hat das Spiel mit der graphischen Seite der Lettern bereits im Barock seinen Ursprung und ist nicht erst eine Erfindung der Moderne im 20. Jahrhundert, wenngleich es dort eine neue Qualität erhält. Somit unterscheidet sich ein gedruckter Gedichttext von einem Prosasatzspiegel durch die ungewöhnliche und von Versen geprägte Zeilenbrechung. Wolfgang Kayser bemerkt in der Kleinen deutschen Versschule, dass unser Auge schnell merkt, was Verse sind. Wenn auf »einer Seite um das Gedruckte herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun.«38 So lapidar und selbstverständlich uns dieser Satz auch zunächst vorkommen mag, so macht er auf einen Gedanken aufmerksam, der erst in den letzten Jahren, im Zuge der Verwendung neuer Medien als Ausdrucksmittel der Kunst, zu neuer Bedeutung gekommen ist: Lyrik ist bislang überwiegend als gedruckte Schrift auf Papier in Erscheinung getreten, was unbewusst auch in ihre Definition eingegangen ist. Auch wenn Burdorf sofort einschränkt, dass die »raumgreifende Darstellungsweise von Versen« nicht zwingend sei und als Beispiel dafür Verse des 17. Jahrhunderts nennt, die fortlaufend notiert und lediglich durch einen Schrägstrich voneinander getrennt sind, so zeigen uns Günter Eichs Inventur, zahlreiche Gedichte Bertolt Brechts oder Peter Handkes Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968, das einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Prosa und Lyrik die definierte Form der Verszeilen ist, die sich in den beiden genannten Beispielen auch hauptsächlich in ihrer Drucksetzung zeigt. Vielmehr werden durch eine spezifische Zeilentrennung und Pausensegmentierung diese Texte erst zu Lyrik, da sie

38. Kayser 1992, 9. 62

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damit auch eine andere Sprechweise fordern, in einen anderen Kontext gesetzt sind und die Sprache eine andere ästhetische Funktion hat. Wenig einleuchtend bleibt allerdings, warum Burdorf lyrische Texte der Dadaisten (z.B. Kurt Schwitters Dada-Gedicht) nicht als Dichtung anerkennt, obschon sie eine Pausensegmentierung und ein entsprechendes Druckbild aufweisen. Seiner Auffassung nach sei jedoch »weder in den Einzelzeichen noch in ihrem Zusammenhang ein Sinn auszumachen«, weshalb es sich »nicht um eine Rede und einen Text und folglich auch um kein Gedicht, sondern um ein reines Nonsens-Gebilde«39 handele. Er verkennt hier, dass sich ein großer Teil der experimentellen Dichtung des 20. Jahrhunderts an der Grenze zwischen Sinn und Unsinn bewegt und eher seine Materialität visuell ausstellt, als sich bloß auf die (sinnhafte) semantische Bedeutung der Buchstaben zu reduzieren. Vielleicht ist dies genau der (problematische) Übergang, an dem sich die traditionelle Literaturwissenschaft mit Formen konfrontiert sieht, die aus einem Zusammenspiel von Literatur und Technik bzw. von Literatur und technischen Speichermedien erwachsen sind und auch ohne deren Einfluss nicht hinreichend beschrieben werden können. Burdorf arbeitet am Ende seiner Betrachtung zwei wesentliche Merkmale heraus, wonach sich ein Großteil poetischer Texte als Lyrik identifizieren lässt: Erstens sei jedes Gedicht »eine mündliche oder schriftliche Rede in Versen, ist also durch zusätzliche Pausen bzw. Zeilenbrüche von der normalen rhythmischen oder graphischen Erscheinungsform der Alltagssprache abgehoben«, und zweitens sei es kein »Rollenspiel, also nicht auf szenische Aufführungen hin angelegt«40. Wie schwierig jedoch und vielleicht auch unmöglich es ist, Lyrik exakt zu definieren, zeigen die Entwicklungen der letzten 50 Jahre, in denen experimentelle Formen nicht nur die Grenzen zu dem, was Poesie ist, sondern auch zu dem, was Literatur ist, stetig unterwandert haben. Wie kann man Kriterien für eine Textsorte entwickeln, wenn diese sich – wie in der Computerpoesie – selbst stets verändert, geschweige denn sich als »Druckbild« manifestiert?

2. Das Gedicht als Experiment Der Begriff der experimentellen Poesie ist als eine Bezeichnung in die Literaturgeschichte eingegangen, die eine Verbindung zwischen literarischem Herstellungsprozess mit dem naturwissenschaftlichen Expe-

39. Burdorf 1997, 17-18. 40. Burdorf 1997, 20-21. 63

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riment ausdrückt. Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert erscheint, gleichzeitig mit einem Zweifel an der Unumstößlichkeit der Gattungsund Normpoetiken, der Begriff des literarischen Experiments zum ersten Mal. Auf die romantische Dichtung und ihre theoretischen Reflexionen geht der Versuch zurück, das physikalische und das poetische Experiment zu definieren. So heißt es bei Novalis: »Experimentiren mit Bildern und Begriffen im Vorstell[ungs] V[ermögen] ganz auf eine dem phys[ikalischen] Experim[entieren] analoge Weise. Zus[ammen] Setzen. Entstehen lassen – etc.«41 Die Idee einer Sprache, die, wie der Romantiker schreibt, »sich blos um sich selbst bekümmert«42, mutet aus dem Blickwinkel des ausgehenden 20. Jahrhunderts bereits äußerst aktuell an. Hier klingt bereits die Vorstellung einer Sprache an, die als Zeichenreservoir begriffen wird, das experimentell verwendet werden kann, »ohne Zusammenhang, jedoch mit Association, wie Träume […]«43. Nicht uninteressant ist hier der Gedanke an die »écriture automatique«, die durch ihre Versuche, das bewusste subjektive Ich möglichst vollständig aus dem Entstehungsprozess des Textes zu eliminieren, eine Variante des automatischen Schreibvorgangs vorwegnimmt, wie er später in der generativen Computerdichtung der 1970er Jahre in radikaler Konsequenz umgesetzt wurde. Erst jedoch mit den mathematischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, die auch das Mögliche in die wissenschaftlichen Überlegungen mit einschlossen, ist die Grundlage für eine spätere Informationstheorie im Sinne von Claude Shannon, Abraham A. Moles und Max Bense gelegt worden, die das Experiment in einer neuen Variante mit der Literatur in Verbindung brachten. Seine differenzierteste, aber auch umstrittenste Ausprägung hat der Experimentbegriff in der so genannten experimentellen oder konkreten Dichtung um die 1950er bis 1970er Jahre vor allem in Südamerika, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland erfahren. Hier haben sich u.a. Alfred Andersch und Hans Magnus Enzensberger vehement gegen eine Applizierung des Begriffs experimentell auf literarische Schreibweisen ausgesprochen.44 Sie wandten sich vor allem gegen die Unschärfe des Etiketts, indem sie es als unsinnig oder sogar als »Bluff«45 bezeichneten und sich davon in ihrer eigenen Arbeit deutlich distanzierten. Das Experimentelle wurde mitunter als künstlerische Anbiederung an ein außerkünstlerisches Gebiet, nämlich der Naturwissenschaft, verkannt.

41. 42. 43. 44. 45.

Novalis 1960, Bd. 3, 443. Novalis 1960, Bd. 2, 672. Novalis 1960, Bd. 3, 572. Vgl. Enzensberger 1962 und Andersch in: Bienek 1965, 144-145. Enzensberger 1962, 310. 64

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Die Kritik des Begriffs in der Literatur stützt sich vor allem auf dessen semantische Unschärfe und mangelnde theoretische Verbindlichkeit. Besonders über die Nähe des künstlerischen Experimentbegriffs zu dem der Physik herrscht Uneinigkeit, die sich vor allem an der wiederum unterschiedlichen Auffassung des physikalischen Experiments entzündet. Die wesentliche Frage der Kritiker ist die, ob eine Übertragung des physikalischen Experimentbegriffs auf den künstlerischen gerechtfertigt sei. Man versuchte diesen Konflikt in der Literatur durch den Verweis auf unterschiedliche Vorstellungen des physikalischen Experiments zu entschärfen, indem man zwischen klassischem und modernem Experimentbegriff unterschiedt. Bei ersterem geht man davon aus, dass alle Versuchsparameter kontrollierbar seien und das Experiment jederzeit exakt wiederholbar sei46. Letzteres bezieht sich vornehmlich auf die umwälzenden Erkenntnisse der Unschärferelation in der Quantenphysik und besagt, dass im Mikrobereich keine exakte Kontrolle der Parameter möglich sei und daher das Experiment auch nicht zwingend wiederholbar47. Die Schriftsteller, die sich gegen eine Verwendung des Begriffs in der Literatur gestellt haben, bezweifelten vor allem die Übertragbarkeit des naturwissenschaftlichen Begriffs auf die Literatur, da Experimente in der Literatur weder wiederholbar noch exakt kontrollierbar seien. So behauptet Enzensberger: »Sinnvoll ist ein Experiment nur, wenn die auftretenden Variablen bekannt sind und begrenzt werden können. Als weitere Bedingung tritt hinzu: jedes Experiment muß nach-

46. Vgl. hierzu Strolz 1963, 20: »Das physikalische Experiment folgt dem […] induktiven Verfahren. Dessen entscheidende Merkmale sind: 1. Aufstellung einer Hypothese, über deren Brauchbarkeit die Natur selbst entscheiden soll. 2. Die richtige Fragestellung, die aus der Gesamtheit der Vorgänge einen begrenzten Bereich herausnimmt und störende Nebeneinflüsse ausschaltet und vermindert. 3. Synthesis der einzelnen Teilmessungen zur allgemeinen Aussage, zum Gesetz.« Und dazu Hartung 1975, 11-12: »Zu den Bedingungen des Experiments gehören also Isolierbarkeit des aufzuklärenden Vorgangs, Begrenzung der auftretenden Variabeln und Reproduzierbarkeit, d.h. jedes Experiment muß bei seiner Nachprüfung stets zum gleichen eindeutigen Resultat führen. Erst aufgrund der bestätigten Reproduzierbarkeit des Experiments kann im Sinn der induktiven Methode auf die Allgemeingültigkeit der gewonnenen Ergebnisse geschlossen werden.« 47. Vgl. Hartung 1975, 12: »Die strenge Kausalität der klassischen Physik hat in der modernen Quantenphysik dem Begriff der statistischen Kausalität weichen müssen; sie gestattet nur Wahrscheinlichkeits-Vorhersagen. Aus dem gleichen Anfangszustand können sich verschiedene Folgezustände ergeben, aber es gilt für sie immer dieselbe Statistik. Hier haben wir offensichtlich den Punkt, der eine Begriffsübertragung auf künstlerische Prozesse verlockend macht.« 65

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prüfbar sein und bei seiner Wiederholung stets zu ein und demselben, eindeutigen Resultat führen. Das heißt: ein Experiment kann gelingen oder scheitern nur in Hinblick auf ein vorher genau definiertes Ziel.«48 Die Frage nach der Übertragbarkeit des Begriffes von der Physik auf die Kunst bekommt Anfang der 1970er Jahre eine zusätzliche Dynamik durch eine Theorie, die in der Literaturwissenschaft kontroverse Diskussionen ausgelöst hat: Die Informationsästhetik mit ihrem besonderen Fokus auf Computerkunst. Zu ihren ersten Vertretern in den 1970er Jahren gehörten die Theoretiker Max Bense und Abraham A. Moles. Der Stuttgarter Professor für Wissenschaftstheorie, Bense, zielte mit seiner 1960 verfassten Schrift Die Programmierung des Schönen auf eine »Informationstheoretische Ästhetik« als eine objektive, im naturwissenschaftlichen Sinne exakte Ästhetik. Das besondere Anliegen der Informationsästhetik ist die Parallelisierung des Übergangs von der klassischen zur modernen Physik, mit dem Übergang von der klassischen zur modernen informationstheoretischen Ästhetik. Entscheidend ist hier die Betonung der Modifikation des Experimentbegriffs in der modernen Physik gegenüber der klassischen, der sich am Begriff der Wahrscheinlichkeit festmachen lässt. »Die Thermodynamik«, so Bense weiter, »war von Anfang an eine höchst entscheidende Disziplin der Physik gewesen. In ihr, genauer mit der kinetischen Wärmetheorie und der mathematischen Fassung des zweiten Hauptsatzes, vollzog sich eigentlich der früheste Übergang von der klassischen zur nichtklassischen Physik.«49 Wichtige operationale Größe der statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnung ist der Begriff der Entropie, den Bense später – aufgrund der von ihm vorausgesetzten Analogie – in die Informationsästhetik überträgt. Der Begriff der Entropie »sollte als Maß für die Wahrscheinlichkeit einer Verteilung von Partikeln dienen, die den thermodynamischen Zustand eines Gases repräsentierte. Entropie konnte darüber hinaus als Maß für Unordnung (im Sinne wahrscheinlicher, gleichmäßiger Verteilung), ja sogar als Maß für Unkenntnis gewisser das einzelne Teilchen betreffender Bestimmungsstücke gedeutet werden. Angesichts dieser Theorie konnte dann der integrale Naturprozeß bzw. der physikalische Weltprozeß schlechthin als ein Prozeß aufgefaßt werden, der auf ein Maximum an Entropie tendiert, was einem Maximum an gleichmäßiger Verteilung ent-

48. Enzensberger 1962, 309; vgl. auch Anderschs Aussage »Ich lehne den Begriff des Experiments im Bereich der Kunst rundweg ab. Der Begriff des Experiments stammt aus dem naturwissenschaftlichen Labor […] Die Wissenschaft kann Versuchsreihen veröffentlichen, der Künstler nicht.« In: Bienek 1965, 144-145. 49. Bense 1960, 19. 66

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spricht, und diese gleichmäßige Verteilung beschreibt den wahrscheinlichen Zustand der Welt«.50 Physikalische Vorgänge basieren folglich auf dem Prinzip der Mischung, die das Kennzeichen der Unordnung aufweisen. Als Gegenbewegung sieht Bense nun den Vorgang des ästhetischen Prozesses an. Seine Basis ist geradezu antipodisch zu der des physikalischen Vorgangs, stellen sich ästhetische Vorgänge »als ›Entmischungen‹, als ›Gliederungen‹ dar […], die als ›Anordnungen‹ deutbar sind«51. Damit tendiert der ästhetische Zustand nicht auf einen wahrscheinlichen, sondern auf einen unwahrscheinlichen Zustand. Der ästhetische Prozess, ebenso wie auch der physikalische, sind nach Meinung Benses somit die einzigen »wirkliche[n] und verwirklichende[n], also erzeugende[n] Weltprozesse« 52, die es gibt, wobei beide eine gegenläufige Tendenz besitzen. Die sehr verallgemeinerte Verwendung des Begriffs Entropie im Sinne von Mischung und seine Applikation auf literarische Vorgänge lässt zu, dass auch im Bereich der Texttheorie von Elementen des Textes gesprochen werden kann, die Bense in ihrer statistischen Beschaffenheit erfassen will. So kommt er zu der Behauptung: »Kunstwerke sind Objekte in einem relativ unwahrscheinlichen Zustand«53. Sowohl bei Bense als auch später in der Informationstheorie von Moles liegt einerseits die Zerlegbarkeit des Materials in seine einzelnen Parameter zugrunde und andererseits dessen Zusammensetzung zu einem Objekt, einem Text, einem Werk, d.h. zu einer ästhetischen Information. Ein Verfahren, das dem des physikalischen Experiments eigen ist.54 Durch die Parallelisierung des physikalischen Ex-

50. Bense 1960, 19-20. 51. Bense 1960, 20. 52. Bense 1960, 20. 53. Bense 1960, 45. Vgl. hierzu auch Flussers Adaption des physikalischen Begriffs der Entropie. Demnach wird die Welt, in der wir leben, als ein Prozess aufgefasst, der zu einem Maximum an Entropie tendiert, was einem Maximum an gleichmäßiger Verteilung entspricht, und diese gleichmäßige Verteilung beschreibt den Zustand der Welt als einen wahrscheinlichen, nämlich als Zustand der Unordnung, des Chaos. Indem Information jedoch »Form gibt«, tendiert sie zu einem unwahrscheinlichen, ordnenden Zustand. Flusser 1999a, 22. Vgl. auch Kap. Modifikationen/I, 2. (Flusser). 54. Moles unterscheidet in seiner Informationstheorie zwei Grundstrukturen zur Erzeugung einer ästhetischen Nachricht, die sich wiederum eng an die physikalische Verfahrensweise der Zerlegung und Zusammenführung anlehnen: »In einem ersten Stadium wird durch die Analyse der Klänge, der Bewegung, der visuellen Formen, der Farben, der architektonischen Elemente, der Zeichen der Sprache ein Repertoire gebildet; dann werden diese in geordneter und zugänglicher Form gespeichert; schließlich wird ihre Verteilungsfrequenz beim Sender und beim Empfänger untersucht. – In einem zweiten 67

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perimentbegriffs mit dem ästhetischer Zustände scheint – wie auch Hartung bemerkt – »der Begriff des Experiments auch in der Ästhetik legitimiert«55. Besonders interessant ist an dieser Stelle Moles Auffassung, die Möglichkeit, Kunst zu reproduzieren, habe Künstler schon vor der Nachrichtentechnik dazu veranlasst, nach deren Kriterien zu arbeiten. So sieht er in der technischen Perfektionierung der Bildzerlegung im Reproduktionsverfahren die Quelle für das künstlerische Verfahren der Zerlegung, das vor allem im Bereich der Malerei, insbesondere der Technik des Pointillismus und später der Op-Art, an Bedeutung gewinnt. »Offenbar hat das Prinzip der Zerlegung vom Reproduktionsprozeß auf den Produktionsprozeß übergegriffen«56, resümiert Hartung. Dieser Gedanke ist uns heute geläufig. Für die Literaturwissenschaft der damaligen Zeit bedeutete die Auseinandersetzung mit Technik und Naturwissenschaft einen ungewöhnlichen Schritt. Der Einfluss technischer Möglichkeiten auf literarische Konzeptionen wurde nur zögerlich eingeräumt. Erst durch den radikalen Vorstoß Kittlers ab Mitte der 1980er Jahre wurde dieses Thema intensiver innerhalb der Literaturwissenschaft diskutiert.57 Vielleicht, so merkt Hartung an, »kann man sagen, dass erst im Zusammenhang einer statistischen Informationsästhetik, gipfelnd in der Idee der Computer-Kunst der Begriff des Experiments in wissenschaftlicher Reinheit auf ästhetische Phänomene übertragen werden kann […]«58 Die Ausführungen zur Informationstheorie jedenfalls zeigen, dass hier ein Begriff der Literatur und im Speziellen der Lyrik geformt wird, der auf eine weitgehende Ausschaltung des Subjekts zielt und damit eine Computerlyrik fokussiert, die durch algorithmische und zufallsgesteuerte Programme erzeugt und weitgehend automatisiert wird59.

Stadium wird man sie eventuell nach Regeln, die das Produkt der kreativen Imagination sind, Regeln, denen man mit unbeugsamer Strenge in all ihren Implikationen folgt, wieder neu zu Formen kombinieren.« Moles 1973, 261. 55. Hartung 1975, 14. 56. Hartung 1975, 14. 57. Obwohl bereits McLuhan in den 60er Jahren am Beispiel des Buchdrucks auf eine Wechselbeziehung zwischen Technik und Literatur hingewiesen hat. 58. Hartung 1975, 18. 59. Wie man in Kap. Computerpoesie/II, 1. erkennen kann, gab es Anfang der 1970er Jahre zunächst hauptsächlich zufallsgenerierte Dichtung, d.h. Texte, die auf der Basis von Programmen und einem begrenzten Wortschatz nach bestimmten Regeln durch den Computer erzeugt wurden. Die Idee, die elektronischen Eigenschaften des Rechners zur Grundlage einer neuen Poetik zu machen und das Endergebnis des Textes als Autor in Inhalt, visueller Erscheinung und Form zu kontrollieren – im Sinne der multimedialen Dichtung – wurde erst später (Mitte bis Ende der 1970er Jahre) entwickelt. 68

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Für die Frage, ob der Begriff experimentell sinnvoll bestimmte Produktionsweisen der Dichtung bezeichnet, trägt das Problem der Übertragbarkeit des Begriffs von der Physik in die Literatur nicht zur Lösung bei, da es sich um zwei verschiedene Systeme handelt, die jeweils andere Zielsetzungen verfolgen. Offensichtlich ist, dass in der Naturwissenschaft Experimente nach einer genauen und vorher formulierten Zielvorlage durchgeführt werden. Tritt das prognostizierte Ergebnis nicht ein, ist entweder das Experiment ungültig oder die Theorie falsch und muss durch eine neue ersetzt werden. In der Kunst steht gerade die Frage nach dem ungewissen Ausgang im Zentrum bzw. am Anfang des Experiments. Daher gibt es auch kein vorgegebenes (allenfalls ein projektiertes) Ziel und auch kein Scheitern des Experiments. Der Begriff bleibt metaphorisch und lässt sich in seiner Bedeutung für die Kunst nicht präziser ausarbeiten, da er Schaffensprozesse charakterisiert, die zeitlich vor einem Endergebnis stehen, dessen Ausgang erst wieder zu einer theoretisch fundierten poetologischen Position führen kann.60 Die Frage, ins Ungewisse gestellt, scheint also die entscheidende Rolle zu spielen und nicht in erster Linie die »›wissenschaftliche Methode‹ bei der Herstellung von Texten«61. Aus heutiger Sicht, mit einer Distanz von rund 40 Jahren, stellt sich manches, das auf heftigen Widerspruch gestoßen ist, anders dar. Die Frage nach der Angemessenheit des technisch-funktionalen Begriffs Experiment trifft genau auf jene Situation der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in der zugleich die rasante Entwicklung neuer Kommunikationsmittel für Diskussionsstoff sorgte. Durch den Drang, objektive Strukturen dem subjektiven Ausdruck entgegenzustellen, bildete sich die Tendenz, aus dem literarischen Prozess das schöpferische Subjekt soweit auszuschalten, dass in der Tat eher von Experimenten mit Variablen, als von imaginären Prozessen gesprochen werden kann. Ein Teil der Autorengeneration dieser Zeit orientierte sich nicht selten an Mechanismen der Informationsübertragung und Datenverarbeitung und geriet gerade deshalb ins Kreuzfeuer der Kritik. Die damalige Faszination der Technik ging zum ersten Mal auch in die theoretischen und poetologischen Positionen der Literatur ein, was als befremdende Provokation empfunden wurde. Gerade die Dichtung als Hort der Emotion, der Subjektivität und des tiefen intellektuellen Sinns schien unvereinbar mit funktionalistischen und sogar automatischen Verfahrensweisen gewesen zu sein62.

60. Vgl. hierzu auch Block 1999c, der den Begriff des Experiments an den der Erfahrung koppelt, die jedem Experiment innewohnt. 61. Hartung 1975, 12. 62. Lämmert weist in seinem Text Die Herausforderung der Künste durch die 69

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Es verwundert nicht, dass Harald Hartung zu der Vermutung kommt, dass es das ist, was mit »dem Begriff Kunst oder Poesie geschieht, wenn er von wissenschaftlichen Methoden im strengen Sinne berührt wird«63: Eine mathematisierte, entsubjektivierte MaschinenPoesie. Die die Lyrik zuvor kennzeichnende Subjektivierung, die ihren Ausdruck in der besonderen Lautsprachlichkeit hatte, verschiebt sich in der Moderne zur technischen »poiesis« – zum Machen, zum Herstellen von poetischen Versen. Enzensberger sieht darin den »technologischen Charakter der modernen Poesie«64, der in enger Verbindung mit industriellen Produktionsweisen steht. In diesem Zusammenhang ist auch die Äußerung Theodor W. Adornos zu verstehen, die besagt, dass das Experiment in der Literatur positiv zu wenden ist, denn »nur als experimentierende, nicht als geborene hat Kunst überhaupt noch eine Chance – basiert technisch auf derlei Erfahrungen und Erwägungen.«65 Diese Feststellung verschiebt allerdings die Frage nach der Angemessenheit des Begriffs experimentell zur Frage nach der Kunst überhaupt. Obwohl Enzensberger die »Gemachtheit« poetischer Texte in der Moderne beobachtet, steht er dem Begriff des Experiments in der Literatur dennoch kritisch und bisweilen ablehnend gegenüber. Eine Ausnahme bilden für ihn »die Experimente, die Max Bense und seine Schüler mit Hilfe von elektronischen Rechenanlagen angestellt haben«66, weshalb er ihnen auch als Ergebnisse der Kombinatorik und der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine »sinnvolle« Anwendung des Begriffs Experiment zuspricht. Es bleibt allerdings fraglich, ob diese Texte Literatur bzw. Poesie genannt werden können, bestehen. Enzensberger weist tatsächlich im Anschluss an seine Ausführungen auf dasselbe Problem hin: »Ob die dabei hergestellten ›stochastischen Tex-

Technik darauf hin, dass zwar der Surrealismus als die erste radikale Revolte der Emotionen gegen eine von Technik geprägte Lebenswirklichkeit anzusehen ist, das Vokabular wie z.B. »Zonenüberschneidung«, »Magnetfelder«, »Automatismus« etc., aber »wider Willen [verrät], daß auch diese traumwandlerische Assoziationskunst in Vorstellungsmustern befangen ist, die der technischen Fabrikation abgewonnen sind.« In: Großklaus und Lämmert 1989, 27. 63. Hartung 1975, 15. 64. Enzensberger 1980, 775-776. Vgl. hierzu auch Andreas Thalmayr (Enzensberger) 1997. 65. Adorno 1974, Bd. II, 440. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die von Adorno hervorgehobene Emanzipation des Zufälligen in der modernen Lyrik in Kap. Schriftwechsel/II, 3. 66. Enzensberger 1962, 310; Enzensberger bezieht sich hier auf die 1959 realisierten stochastischen Texte von Lutz. 70

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te‹ als ästhetische Gegenstände gelten können, ist eine Definitionsfrage.«67 In der Definitionsfrage, die Hartung als bloße Verschiebung des Problems erkennt, liegt ein großer Teil des hier diskutierten Kritikpotentials. Offensichtlich stellte die allgemeine und stetig zunehmende Technisierung dieser und der folgenden Jahrzehnte eine latente Bedrohung der Künste dar, deren Zusammenschluß mit mathematischen, technischen oder formelhaften Rahmenbedingungen auf Kosten der subjektiven Vorrangstellung über Produktion und Beschaffenheit der künstlerischen Arbeiten (ob Malerei, Literatur oder Musik) einer besonderen ästhetischen Legitimation bedurfte.

3. Poesie und neue Medien Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marjorie Perloff beginnt ihre Studie Radical Artifice mit einer Anekdote. In einem ihrer Seminare über die Schnittstelle zwischen postmoderner Poesie und Theorie (The interface of postmodern poetry and theory) stellte ihr eine Studentin die entwaffnende Frage, warum postmoderne Dichter nicht wie Kafka schreiben könnten. Damit war gemeint, dass Kafkas Syntax, so schwierig und doppeldeutig sie auch sein mag und so kompliziert auch das damit konstruierte Flechtwerk an Bedeutungen war, dennoch transparent und klar, kurz gesagt, »verstehbar« bleibt. Perloff antwortete darauf: »Kafka, as I told my Yugoslavian student in what was of course a preliminary and filp answer to her very good question, didn’t have television.«68 Perloff widmet sich den Bedingungen von Poesie innerhalb einer Welt, deren Kommunikation hauptsächlich durch technische Medien geleistet wird: »Perhaps it is time to drop the lables and consider what it is that is happening to poetic writing in the late twentieth century. The central fact […] is that we now live in an electronic culture. This is, of course, a truism but we have yet to understand the interplay between lyric poetry, generally regarded as the most conservative, the most intransigent of the ›high‹ arts, and the electronic media.«69 Poesie befindet sich in einem Umfeld, in einem akustischen, verbalen und visuellen Raum, der heute zunehmend von elektronischen Medien bestimmt ist. Statt jedoch diesen Zustand der medialen Sprachnivellierung, der elektronischen Bilderflut und der akustischen Dauerberieselung zu beklagen, beginnen Autoren, sich mit den gegebenen

67. Enzensberger 1962, 310. 68. Perloff 1991, xi-xiii. 69. Perloff 1991, xii. 71

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Phänomenen auseinander zu setzen und ihren Ort und den der Poesie in diesem Spannungsfeld neu zu definieren. In der Gegenüberstellung der zeitgenössischen Poesie mit der Sprache des Fernsehens, des Videos, der Werbung und des Computers gelingt es Perloff an Beispielen zu zeigen, dass sie sich aktiv mit der Medialisierung des täglichen Diskurses auseinandersetzt und dabei ihrerseits Sprachkonstruktionen bildet, die das (Kunst-)Handwerk (»artifice«) und die Materialität des Schreibprozesses selbst bedingungslos (»radical«) in den Vordergrund rückt. Auch Kittler untersucht, wie sich der Ort der Dichtung im Gefüge der technischen Konkurrenzmedien allmählich verändert. Vor der Entwicklung von Grammophon, Film und Schreibmaschine war Dichtung (bzw. das Lied) als Ausdruck der subjektiven Stimme auch zugleich deren alleiniges Medium: »Vor allen anderen Diskursen im Aufschreibesystem von 1800 macht die Dichtung den erreichten technischen Standard zur Regel. […] Das registrieren […] auch die philosophischen Ästhetiken. Beim Begriffsbestimmen der Dichtung können und dürfen sie vergessen, wie grundsätzlich geschrieben und gedruckt sie ihnen vorliegt.«70 Dem poetischen Wort, das auf technischer Ebene ein Signifikat ohne Referenz wäre, spricht Kittler eine psychologische Seite zu, der die Schrift hier erst ihre Universalisierung verdankt: Buchstaben werden auf der psychologischen Ebene »endogene Stimmen oder Bilder, die Lust und Autoren machen«, kurz, »audiovisuelle Halluzinationen«71, die die Materialität des Alphabets schon längst hinter sich gelassen haben. Dichtung nimmt im ästhetischen System eine Sonderstellung ein: »Andere Künste definiert jeweils ihr sinnliches Medium (Stein, Farbe, Baustoff, Klang); das Medium der Dichtung dagegen – Sprache oder Ton, Sprache als Ton, selbstredend keine Buchstaben – verschwindet unter ihrem Gehalt, damit wie im Fall Nostradamus/ Faust der Geist direkt dem Geist erscheinen kann.« (1995, 144) Kittler bezieht sich hier auf einen Abschnitt in Hegels Ästhetik, wonach dieser der Dichtung die Macht einer »totalen Kunst« einräumt, als die sie die »Darstellungsweise der übrigen Künste«72 zu wiederholen

70. Kittler 1995, 143. Vgl. zum Medienaspekt des Gattungsbegriffs der Lyrik auch Schenk 2000, 13-79. 71. Kittler 1995, 140. 72. »Was nun die Gestaltungsweise der Poesie angeht, so zeigt sie sich in dieser Rücksicht als die totale Kunst dadurch, daß sie, was in der Malerei und Musik nur relativ der Fall ist, in ihrem Felde die Darstellungsweise der übrigen Künste wiederholt.« Hegel 1993, Bd. 14, 262. 72

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vermag. Selbstredend kann sie das nicht materialiter vollbringen, jedoch mit Hilfe eines anderen Mediums, einem, wie Kittler sagt, »unsinnlichen« und »universalen« Medium: der Phantasie oder Einbildungskraft. Diese wird nach Hegel zum eigentlichen Material der Dichtung73, was Kittler folgendermaßen kommentiert: »So offen kommt zu Wort, daß poetische Worte die Liquidation sinnlicher Medien sind. Nicht genug, daß auf ihrem eigenen Feld der fließende Ton statt des Buchstabens herrscht; sie liquidieren und d.h. verflüssigen Steine und Farben, Klänge und Baustoffe, Materialitäten und Körpertechniken jeder Art, bis ›Einbildungskraft alle Sinne ersetzen kann‹. […] Nach McLuhans Gesetz, daß der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium ist, supplementiert Dichtung auf reproduzierbare und multiplikatorische Weise sinnliche Daten.«74 Noch arbeitet das Aufschreibesystem 1800 ohne technisch ausdifferenzierte Medien wie etwa Grammophon oder Fotoapparat, die sinnliche Eindrücke in ihrer Einmaligkeit festzuhalten imstande wären und damit die Speicherung von auditiver oder visueller Sinnlichkeit der Dichtung infrage stellen könnten. Noch ist das Buch das diskursbestimmende Medium ohne Konkurrenz anderer Ton- und Bildträger und alleinherrschender Speicher von Sinnesdaten. Erst mit der Zäsur um 1900 und dem Wechsel des Aufschreibesystems werden die technischen Speicher »die halluzinatorischen Sinnlichkeiten der Unterhaltungsindustrie preisgeben und ernste Literatur auf jene Askese verpflichten, die nurmehr weißes Papier und schwarze Lettern kennt«75. Friedrich Nietzsche sitzt vor eben jenem weißen Papier in der von Kittler zitierten »Urszene« des Schreibaktes, die im Detail widerspiegelt, dass sich die Komponenten des Diskurssystems um 1900 grundsätzlich verschieben werden. Nietzsche berichtet in seinem Fragment Euphorion alias »F W v Nietzky homme étudié en lettres«: »In meiner Stube ist es totenstill – meine Feder kratzt nur auf dem Papier – denn ich liebe es schreibend zu denken, da die Maschine noch nicht erfunden ist unsere Gedanken

73. Indem die Dichtung »nämlich weder für die sinnliche Anschauung arbeitet wie die bildenden Künste noch für die bloß ideelle Empfindung wie die Musik, sondern ihre im Innern gestalteten Bedeutungen des Geistes nur für die geistige Vorstellung und Anschauung selber machen will, so behält für sie das Material, durch welches sie sich kundgibt, nur noch den Wert eines wenn auch künstlerisch behandelten Mittels für die Äußerung des Geistes an den Geist und gilt nicht als ein sinnliches Dasein, in welchem der geistige Gehalt eine ihm entsprechende Realität zu finden imstande sei.« Hegel 1993, Bd. 14, 261. 74. Kittler 1995, 145-147. 75. Kittler 1995, 149-150. 73

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auf irgend einem Stoffe, unausgesprochen, ungeschrieben, abzuprägen. Vor mir ein Tintenfaß, um mein schwarzes Herz drin zu ersäufen, eine Scheere um mich an das Halsabschneiden zu gewöhnen, Manuscripte, um mich zu wischen und ein Nachttopf.«76 Im Vergleich mit der Studierzimmerszene des Goetheschen Faust fehlen hier alle Requisiten, die darauf hindeuteten, dass das Geschriebene »in Geist und Bedeutung zu überführen wäre«77. So beobachtet Kittler: »Der einsame Schreiber ist Schreiber und sonst nichts: kein Übersetzer, kein Abschreiber, kein Interpret. Kahl und dürftig kehrt das Federkratzen eine nie beschriebene Funktion heraus: Schreiben in seiner Materialität.«78 Schrift ist ihr eigenes Medium geworden, weil keine Stimme dem Schreibenden mehr Geist einflößt und ihn zur Niederschrift zwingt. Als Requisiten umgeben ihn stattdessen Tintenfass, Feder, Schere und Nachttopf – in Nietzsches nüchterner Beschreibung Dinge, die keinem Individuum mehr dienen. Mit dieser Szene Nietzsches wird ein Nullpunkt beschrieben, der aus Dichtung um 1900 Literatur macht. Statt der sinneinflößenden Stimme hinter dem Schreibenden steht hier das Geräusch in Nietzsches Rücken, wenn dieser schreibt: »was ich fürchte, ist […] der schauderhaft unartikulierte und unmenschliche Ton jener Gestalt.«79 Was Nietzsche hier allzu unangenehm empfindet und bei seinen Schreibübungen anwesend spürt. ist das allgegenwärtige Rauschen der Information, das zugleich alles und nichts enthält: »Die Stimme, die Nietzsches Schreibübungen grundiert, bleibt so lange hinter seinem Stuhl, wie er das Entsetzen nicht wieder verlernt hat. Sie stoppt allen Liebeshandel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, um Schreiben auf pure Materialität zu reduzieren.«80 Schreiben wird zum Akt des Zufallsereignisses und so trägt auch eines der berühmtesten Gedichte jener Zeit von Mallarmé den Zufall im Titel: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Beide, Nietzsche und Mallarmé verstehen sich als »Worte-macher«81. Erst mit der um 1900 einsetzenden Ausdifferenzierung der Medien beginnt eine Auseinandersetzung des Schreibenden mit dem Material der Schrift selbst. Solange das Buch noch das Diskursmonopol hatte, wurde, fast ausschließlich, mit ihm Sinnlichkeit gespeichert und vermittelt. Durch Erfindungen wie Phonograph und Fotografie aber werden sichtbare und hörbare Sinneseindrücke anders speicherbar als

76. Nietzsche 1933, Bd. II, 71. 77. Kittler 1995, 228. 78. Kittler 1995, 228. 79. Nietzsche 1933-42, Bd. V, 205. 80. Kittler 1995, 231. 81. Mallarmé zu Degas: »Ce n’est point avec des idées, mon cher Degas, que l’on fait des vers. C’est avec des mots.« In: Valéry 1957, Bd. I, 1324. 74

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durch Schrift. Die zuvor von der Dichtung in ihrer Gesamtheit repräsentierten Sinneseindrücke werden nun in getrennte Wahrnehmungsfelder aufgespaltet. Die den sinnlichen Ersatz vermittelnde Lyrik wird durch eine exakte Reproduktion von Sinnlichkeit ersetzbar. Eine Fotografie ist nicht nur ihrem Gegenstand ähnlich, sondern garantiert für diese Ähnlichkeit dadurch, dass sie von ihm selbst hervorgebracht wurde: »Eine Reproduktion, die der Gegenstand selber beglaubigt, ist von physikalischer Genauigkeit. Sie betrifft das Reale von Körpern, wie sie mit Notwendigkeit durch alle symbolischen Gitter fallen.«82 Körper werden von nun an medial eingefangen und aufgrund exakter Messungen identifizierbar. Damit ist für Kittler das Verschwinden des Subjekts gänzlich vollzogen, da zu dessen Identitätsbildung keine philosophischen Konzepte mehr notwendig sind, sondern nur seine empirisch gesicherten Daten. Aus diesem Grund nehmen im Kittlerschen Theoriegebäude die Psychophysik und Psychoanalyse einen so wichtigen Platz ein, handelt es sich doch auch hier um Spurensuche, die mit der technisch-medialer Aufzeichnungsmedien vergleichbar ist. »Erfinder wie Kempelen, Maelzel oder Mical bauten erste Automaten, die durch Erregung und Filterung bestimmter Frequenzbänder genau jene Laute technisch simulieren konnten, die die gleichzeitige Romantik poetisch als Seelensprache feierte […]. Damit entstand, fernab aller Romantik, ein praktisches Wissen über Vokalfrequenzen.«83 Mit den technischen Möglichkeiten des Phonographen, reale Stimmen aufzuzeichnen, gibt es plötzlich Schriften ohne Subjekt. Die Frage nach dem Autor wird irrelevant. Kittler illustriert dies an dem Beispiel Rilkes, der, »alle Forscherkühnheiten in den Schatten stell[end]«84, auf die Idee gekommen war, Rillenspuren auf menschlichen Schädeldecken mittels einer Grammophonnadel akustisch abzutasten. Im Jahre 1897 beauftragte man den wilhelminischen Staatsdichter Ernst von

82. Kittler 1986, 21-22. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass Kittler seinen Medienbeobachtungen eine eigenwillige Adaption des Lacanschen Begriffsinstrumentariums von »symbolisch«, »real« und »imaginär« zugrunde legt. Für ihn ist es keine Frage, dass die Distinktionen der Psychoanalyse mit den technischen Distinktionen der Medien zusammenfallen. »Das Symbolische umfaßt fortan die Sprachzeichen in ihrer Materialität und Technizität.« (27-28) Das Imaginäre als Spiegelphantom eines Körpers geht in der optischen Illusion des Films auf. Das Reale schließlich ist der »Rest oder Abfall, den weder der Spiegel des Imaginären noch auch die Gitter des Symbolischen einfangen können« (28). Für Kittler fällt das Reale mit den psychophysischen Aufzeichnungsmedien Phonograph bzw. Grammophon zusammen. Vgl. hierzu auch Kloock und Spahr 2000, 188-193. 83. Kittler 1986, 43. 84. Kittler 1986, 71. 75

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COMPUTERPOESIE

Wildenbruch eine Phonographenwalze zu besprechen. Nach der Anekdote um dieses Ereignis erscheint das auf die Walze gesprochene Gedicht jedoch nicht in den gesammelten Schriften des Dichters, sondern konnte nur im Tonarchiv ausfindig gemacht werden: »Selbst der Vielschreiber Wildenbruch reimte nicht immer so dürftig. Die Phonographenverse aber klingen, als hätte er sie ohne Schriftvorlage einfach in den Schalltrichter improvisiert.«85 Anders als noch die orale Kultur in der Frühzeit der Dichtung verlangt das Medium Phonograph keine Rhythmisierung und keinen Reim mehr, um im Gedächtnis haften zu bleiben, da die Walze alles speichert, auch die ungeordnetsten Satzfragmente. An der Notwendigkeit, das menschliche Gedächtnis durch Reimtechniken und Satzrhythmen zu stützen, »ändert auch die Verschriftlichung von Versen nur wenig. Denn immer noch sollten die Texte aus dem Speicher Buch zurückfinden in Ohren und Herzen ihrer Empfänger […].«86 Grammophone allerdings adressieren das Ohr direkt, ohne dass ihre Daten von einem alphabetischen Code rückübersetzt werden müssten. Mehr noch, sie zeichnen bedingungslos jedes Geräusch auf, ohne einen Unterschied zwischen Sinn und Unsinn zu machen. So wird vor allem im Bereich der Psychiatrie der Phonograph zum erfolgreichen Experimentalmedium, bei dem nicht, wie im Falle schriftlicher Protokolle, nur das in die Aufzeichnung eingeht, was bewusst oder unbewusst als sinnvoll selektiert wurde. »Durch Mechanisierung wird das Gedächtnis den Leuten abgenommen und ein Wortsalat gestattet, der unter Bedingungen des Schriftmonopols gar nicht laut werden konnte.«87 Weiter oben, in der historischen Analyse der Gattung Lyrik, kam Burdorf zu dem Schluss, dass nur dann von Lyrik gesprochen werden kann, wenn in den »Einzelzeichen noch in ihrem Zusammenhang ein Sinn auszumachen« ist. Andernfalls handele es sich um ein Nonsensgebilde, nicht aber um ein Gedicht. Jedoch lassen sich innerhalb der gesamten Lyrikgeschichte immer wieder Nonsenstexte erkennen, die z.B. durch aleatorische oder permutative Kombinationen hervorgerufen wurden. Verstärkt tritt das kontingente Sprachspiel Anfang des 20. Jahrhunderts im Dadaismus oder Futurismus auf, was auch auf die zunehmende Auseinandersetzung der Poesie mit ihren Bedingungen innerhalb des technisch-medialen Umfeldes zurückzuführen ist.88 Gera-

85. Kittler 1986, 124. 86. Kittler 1986, 125. 87. Kittler 1986, 134. 88. Schenk 2000 weist dies in Anlehnung an Kittler an zahlreichen Einzelbeispielen der experimentellen Poesie nach. Warum er diese Poesie jedoch Medienpoesie nennt, bleibt fraglich, da er ausschließlich gedruckte Texte im Spannungsfeld zu ihrem medialen Umfeld behandelt und keine elektronisch hervorgebrachte Poesie. 76

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de aber für die Lyrik ab der frühen Moderne wird die graphische Materialität der Zeichen bedeutungstragend. Die phonographische Walze gestattet den Wortsalat »kritiklos« und erschafft damit die Legitimation von Nonsens. Von nun an können auch Maschinen schreiben, nicht nur durch Finger angestoßen, wie im Fall der Schreibmaschine, sondern selbständig schreiben, wenn man ihnen Regeln vorgibt. Was einst die Autoren kombinatorischer und aleatorischer Lyrik noch per Hand ausführten, gelingt nun durch den Einsatz von Maschinen – nicht nur als Aufzeichnungstechnik (Phonograph), sondern auch als Schöpfer selbst. 1959 beginnt die erste Großrechenanlage ZUSE Z 22 unter Vorgabe eines bestimmten Programms Stochastische Texte zu dichten.89 Der Zufall – ob per Hand oder maschinell herausgefordert – wird zu einem Parameter poetischer Texte90 und damit die Produktion von Nonsenstexten eingeschlossen. Durch die äußerste Subjektivierung und Emanzipation des Zufälligen wird der Primat des Subjekts infrage gestellt. Theodor W. Adorno erkennt jenes Moment als ein »nicht gänzliche[s] Dabeisein[…] des Subjekts im Werk«. Das Zufällige deckt auf, was eine alte Wunde war: »Denn die Versöhntheit von Subjekt und Objekt, eben das vollkommene Dabeisein des Subjekts im Kunstwerk, war immer auch Schein, und wenig fehlt, dass man diesen Schein dem ästhetischen schlechthin gleichsetzen möchte.«91 Ob in der »potentiellen« Literatur der französischen OuLiPo-Gruppe, der »cut-up«-Texte der Beatnik-Generation, der aleatorischen Sprachspiele John Cages oder der interaktiven Computerpoesie: Der Zufall greift nicht nur in den Produktionsvorgang von Poesie ein, sondern beeinflusst auch ihre Wahrnehmung. Durch die Verwendung unterschiedlicher Schreibtechniken hat sich nicht nur die äußere Form und inhaltliche Thematik der Gedichte stark verändert, sondern auch ihre Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Der traditionelle Lyrikbegriff reicht bei weitem nicht mehr aus, um seine gesamte Bedeutung zu erfassen. Er muss durch einen offenen Begriff ersetzt werden, zumal nicht abzusehen ist, wohin die Entwicklung der Poesie, insbesondere der Computerpoesie, führen wird.

89. Lutz 1959, o. S. Der Großrechner ZUSE Z wurde nach dem Namen seines Erbauers Konrad Zuse benannt. 1939 entstand das erste Modell Z1, das noch auf der Basis von Lochkarten funktionierte. 1958 wurde Z 22 mit Röhrentechnik gebaut. Insgesamt wurden davon 50 Anlagen hergestellt, deren Hauptspeicher aus Magnettrommeln bestanden. Vgl. auch Hagen 1989, 214 und Hiebel 1999, 1042-1047. 90. Adorno 1974, Bd. II, 442. 91. Adorno 1974, Bd. II, 442. Im Gegensatz zu einigen Schriftstellern seiner Zeit, erfährt der Begriff des Experiments in der Literatur bei Adorno auch eine positive Aufwertung. Vgl. hierzu auch Kap. Schriftwechsel/II, 2. 77

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COMPUTERPOESIE

Das Phänomen der mit dem Computer hergestellten und wahrgenommenen Poesie wurde im englischsprachigen Raum unter new media poetry und e-poetry bekannt. Hierzulande existieren die Begriffe Computerpoesie, Computerlyrik, Medienpoesie, digitale oder elektronische Poesie. Die französische Sprache hat die Namen der poésie d’ordinateur und poésie informatique oder numérique geprägt. An den unterschiedlichen Bezeichnungen der diversen Formen elektronischer Schreibweisen lässt sich erkennen, dass es schwierig ist, eine Definition zu finden, die alle Ausprägungen mit einschließt. In den meisten Fällen werden damit Texte bezeichnet, die aus der Tradition der (experimentellen) Poesie entstanden sind und nur mit dem Computer realisiert und meistens auch nur mit dem Computer rezipiert werden können. Die Eigenschaften des Computers sind als irreduzible Faktoren zur Bedingung dieser Texte geworden. Eine Aufrechterhaltung der Gattungsdifferenzierung wird auch deshalb zunehmend schwieriger, da das Medium zur Produktion der Computerliteratur hybrid ist und selbst die Grenzen zu benachbarten Künsten überschreitet: »Als digitale Rechenmaschine stellt der Computer eine Technik der Informationsverarbeitung dar, die für verschiedene semiotische Systeme, ob Schrift, Bild oder Ton, gleichermaßen geeignet ist. Insofern ist eine Aufhebung der Grenzen zwischen Bild, Literatur und Musik bereits im Medium angelegt und stetig komplexer werdende Arbeiten schöpfen diese Möglichkeiten durch die Verbindung von Text, Ton und Bild zunehmend aus.« 92 Da im Begriff der Lyrik die Geschichte einer Gattungsabgrenzung kondensiert, die stets von der Medialität des Buches begleitet war und auch auf dessen Grundlage konstruiert wurde93, ist es heute problematisch, diesen Begriff (der stets die anderen Gattungen Epik und Dramatik mit aufruft) auf Computertexte anzuwenden. Das veränderte Verhältnis von Phonetik und Schriftbild sowie Kompositionsprinzipien, wie sie die Technisierung in der Moderne erst ermöglicht (Automation, Reproduktion durch Maschinen und Digitalisierung), »bringt« auch eine andere Poesie »hervor«. Insofern erhält das Wort »poiesis« in seiner ursprünglichen Bedeutung ausgerechnet durch eine sich im 20. Jahrhundert von dem Lyrikbegriff eher entfernende mediale Poesie eine überlegenswerte neue Variante: nämlich »poiesis« im Sinne einer Hervorbringung von Texten durch Maschinen.94

92. Schmidt-Bergmann und Liesegang 2001, 13. 93. Sieht man einmal von solchen lyrischen Formen ab, die nur mündlich produziert und tradiert wurde, im Gedächtnis gespeichert und als Aufführung im Akt der Rezitation rezipiert wurde. 94. Am Ende dieser Untersuchung wird der Gedanke noch einmal aufgenommen. Vgl. daher auch Kap. Modifikationen/II, 2. (»poiesis«). 78

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POESIE – GEDICHT – LYRIK

Durch diese neue Art der Hervorbringung wirft Computerpoesie auch neue Fragen für die Poesie schlechthin auf. Sie besteht nicht mehr aus feststehenden Verszeilen, sondern ist bewegt und zeichnet sich in hohem Maße durch eine Flüchtigkeit aus, die sowohl ein neues Licht auf die poetische Form, ihre Wahrnehmung als auch auf die Konstitution des Textes selbst wirft. Im Folgenden wird zu zeigen sein, inwiefern der Computer als Medium der Poesie zu neuen Strategien der Wahrnehmung herausfordert, indem er Gedichten eine eigene Zeitstruktur verleiht, die über eine inhaltliche Thematisierung des Augenblicks hinausgeht und sich in einer eigendynamischen Bewegung der Buchstaben vor den Augen des Lesers manifestiert. Damit einher geht die Frage nach dem Status bzw. dem Wesen des poetischen Texts selbst, dem, aufgrund seiner Herstellung auf der Basis der besonderen Funktionsweise des Computers (Programmcode), eine zweite und ihm vorausgehende Zeichenschicht unterliegt, die bewirkt, dass er zu dem wird, was er auf der Bildschirmoberfläche zu sein scheint.

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I. Dispositive In der 1996 publizierten Sondernummer der Zeitschrift Visible Language wird unter dem Titel New Media Poetry: Poetic Innovation and New Technologies einer Gruppe von Dichtern Aufmerksamkeit geschenkt, die die Eigenschaften des Computers zur Grundlage ihrer poetischen Arbeit machen.1 Versammelt sind dort poetische Texte, die nicht etwa deshalb im Computer zu sehen sind, weil sie als Drucktexte entstanden und anschließend in ein Textverarbeitungsprogramm übertragen wurden, sondern deren Herstellung auf der Grundlage der besonderen Eigenschaften des Computers selbst basiert. Es handelt sich hier um hybride, multimediale Texte zwischen Schrift, Bild und Ton, die weder auf Papier ausgedruckt werden können noch ohne den Computer bzw. ein anderes elektronisches Dispositiv (Licht, Monitor, VR-System) rezipierbar sind. In den Anfängen der Computerdichtung bot vor allem die Möglichkeit zur Steuerung aleatorischer Prozesse Anreiz zu Experimenten, da hier ein Anschluss an traditionelle Lyrikkonzepte gegeben war. Denn durch die Fähigkeit, mit dem Computer Informationen nicht nur zu speichern, sondern auch zu verarbeiten, lassen sich kombinatorische Texte in anderer Weise umsetzen als auf dem Papier. Während die Permutationen der Proteusverse von Georg Philipp Harsdörffer oder der Cent Mille Milliards de Poèmes von Raymond Queneau entweder noch mit Papier und Bleistift oder mit zerschnittenen Papierseiten vom Leser (d.h. analog) erspielt wurden, kann man sie mittels geeigneter Algorithmen durch den Computer in Sekundenschnelle errechnen lassen.2 An Arbeiten aus den beginnenden 1980er Jahren lässt sich jedoch ablesen, dass im weiteren Verlauf der Entwicklung die Re-

1. Kac, brasilianischer Medienkünstler und Herausgeber der Sondernummer, fasste diese Form der Poesie unter dem Namen »new media poetry« zusammen. Kac 1996a . 2. Vgl. die Internetseite von Cramer (http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/ index.cgi). Cramer hat sich zur Aufgabe gemacht, kombinatorische Dichtung von der Spätantike bis zur Gegenwart durch Perl-CGI-Programme zu rekonstruieren. Vgl. hierzu auch Cramer 2000. 83

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COMPUTERPOESIE

chenmaschine nicht nur einer Automatisierung von Prozessen diente.3 Ein großer Teil der hier besprochenen Dichter arbeitet mit visuellen Strukturen, die außerhalb des Computers nicht realisiert werden können, z.B. mit der Bewegung von Schrift und den daraus resultierenden veränderten Zeit- und Wahrnehmungserfahrungen. Mittlerweile, nach rund 40 Jahren, haben sich die poetischen Experimente vervielfältigt. Wenn sie auch alle ihre Entstehung dem Computer verdanken, ist die Form ihrer Visualisierung sehr verschieden. Computerpoesie ist nicht nur »im« oder »durch« den Computer lesbar. Die Verwendung der jeweiligen Technik beeinflusst auch das Ergebnis, dessen Visualisierung eine je spezifische Rezeptionshaltung fordert. Eine Unterscheidung der Dispositive ist daher unumgänglich4: Die holographische Glasplatte muss erst durch eine dahinter liegende Lichtquelle beleuchtet werden, damit in ihr Bilder oder Buchstaben zu sehen sind. Durch die Körperbewegung des Lesers entsteht auch die Bewegung der Objekte. Im VR-System befindet sich der Leser mit Datenhelm und Datenhandschuhen in einem simulierten Raum (dem virtuellen des Helms) und einem realen Raum (dem Ort, an dem er tatsächlich physisch anwesend ist). Der Leser steht also keinem Text gegenüber, sondern ist umgeben von ihm und kann ihn sogar mit seinen Händen »begreifen« bzw. manipulieren. Beim Lesen eines Videos hält der Rezipient Distanz zum Monitor, auf dem der Text ohne Interaktionsmöglichkeiten (außer der Betätigung der Bedienungstasten des Recorders) wie ein Kurzfilm abläuft. Am Computerbildschirm schließlich wird der Text vergleichbar dem Videomonitor visualisiert, mit dem Unterschied, dass dem (stillsitzenden) Leser hier Tastatur und Maus zur Verfügung stehen, womit der Text auf unterschiedliche Weise manipuliert werden kann. Für nachfolgende Untersuchungen, die die Bedingungen und Veränderungen einer Wahrnehmung poetischer Computertexte in den Mittelpunkt rücken, ist es also nicht unerheblich, auf

3. Das hätte nur ihre technische Überlegenheit demonstriert und »alte« Konzeptionen in »neuer« und mitunter schnellerer Weise ausführen lassen, jedoch nicht wirklich das kreative Potential des Computers ausgeschöpft. Poesiemaschinen, wie die Generatoren zur automatischen Herstellung poetischer Texte genannt werden, bekommen dann eine zusätzliche Qualität, wenn sie, wie im Fall der Arbeiten Balpes, ihre eigene Bedingtheit reflektieren und die Produktionsweise selbst ästhetisieren. 4. Der Begriff »Dispositiv« ist hier wörtlich zu verstehen, d.h. vom französischen »le dispositif« (= technische Vorrichtung, Apparat) ins Deutsche zu übertragen. Barthes hat in seiner Schrift La chambre claire den Begriff »dispositif optique« verwendet und damit optische Vorrichtungen bezeichnet. Barthes 1995, Bd. III, 1155. An diese Definition schließt vorliegende Arbeit an, indem sie Vorrichtungen und Apparate bezeichnet, mit deren Hilfe Schrift elektronisch erzeugt, verarbeitet und sichtbar gemacht werden kann. 84

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welche Weise oder durch welches Dispositiv der Text überhaupt wahrnehmbar gemacht wird. Denn nur durch eine Differenzierung der einzelnen Phänomene ist im Anschluss daran eine ebenso differenzierte Analyse der Texte möglich. Diese erst kann Aufschluss über die Auswirkungen der neuen Medien auf die Poesie geben, ohne sich der Gefahr auszusetzen, über die konkreten Phänomene hinwegzugehen und in den Ergebnissen allgemein zu bleiben.

1. Holographie: Holopoesie Unter der Überschrift Holopoèmes konzipierte 1973 François Le Lionnais, Gründungsmitglied der französischen Literaturwerkstatt OuLiPo, bereits holographische Gedichte in der Theorie: »Les principes de l’holographie pourraient servir à représenter des poèmes en images aériennes dans l’espace. Lorsque le lecteur bougerait la tête il pourrait voir des mots ou des phrases qui lui étaient cachés auparavant.«5 Er beschreibt hier Holographie als eine Möglichkeit, neue Formen und Techniken zur Gestaltung von Schrift zu erproben, ohne sie tatsächlich zu realisieren. Gedichtzeilen könnten, so der Mathematiker, als Luftbilder (»images aériennes«) im Raum schweben, während der Leser seinen Kopf und damit auch die Buchstaben bewegt. Zuvor noch versteckte Wörter oder Sätze, könnten sich unter der neuen Perspektive dem Blick zeigen oder umgekehrt, zuvor vorhandene Fragmente plötzlich verschwinden.6 Anfang der 1980er Jahre widmete sich der südamerikanische Medienkünstler Eduardo Kac diesem Verfahren und begann mit der Herstellung von Texthologrammen, die er später »holopoetry« nennt.7

5. Le Lionnais 1999a, 286. 6. In den 1970er Jahren bot die Holographie eine der ersten Möglichkeiten, mittels lichtempfindlicher Platten Gegenstände dreidimensional darzustellen. Das bereits in den Jahren 1947/1948 ausgearbeitete theoretische Konzept Dennis Gabors fand seine vollständige Realisierung erst, nachdem 1960 eine ausreichend starke Lichtquelle (Laser) und acht Jahre später das erste Weißlichthologramm, das mit einer beliebigen Lichtquelle betrachtet werden konnte, entwickelt wurden. Während die Bilder eines Hologramms zunächst noch analoge Bilder waren, wurden 1974 zum ersten Mal zur Herstellung eines holographischen Films Computergrafik und Holographie kombiniert. 7. Dass Holographie einen besonderen Reiz auf den Umgang mit Schriftzeichen ausübt, zeigen die Arbeiten weiterer Autoren, die mit dieser Technik experimentierten. Bereits 1978 entwarf Kostelanetz sein erstes Hologramm mit dem Titel On Holography. Es handelte sich dabei um einen rotierenden Zylinder, der fünf in ihrer Syntax kreisförmigen Sätze enthält. Durch die permanente Drehung des Zylinders nach links scheinen diese Sätze unendlich vor den Augen des Betrachters abzulaufen. Zwischen 1985 85

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Dabei handelt es sich (wie bei Le Lionnais schon theoretisch entworfen) um Gedichte, die im eigentlichen Sinne des Wortes nichtlinear in einem immaterialen, dreidimensionalen Raum organisiert sind. »A holopoem is not a poem composed in lines of verse and made into a hologram, nor is it a concrete or visual poem adapted to holography.«8 Holographische Texte werden direkt in Verbindung mit dem Herstellungsprozess der Holographie, gestützt durch Computergraphik und Computeranimation, entworfen.9 Dabei werden auf der Ebene des »Computermodelings« die Textelemente im simulierten Raum des Computerbildschirms mit Hilfe von Rasterung und vektorbasierter Software oder unter Verwendung von »Samples« (z.B. ein digitales Foto eines Buchstabens) generiert und graphisch bearbeitet (Schattenwürfe, Oberflächenstrukturen und Texturen). Die animierten Sequenzen werden schließlich ähnlich einem »motion scripting« erarbeitet, in eine Animationssoftware exportiert und ediert. Zum Schluß wird das Textmaterial mit einer Kamera präzise Bild für Bild in einzelnen Szenen, die mit diskreten Textmomenten übereinstimmen, abgefilmt. Diese einzelnen Szenen werden auf ein Laserhologramm aufgenommen und auf ein zweites Hologramm überspielt, das im Weißlicht betrachtet werden kann. Zu sehen ist später lediglich eine im Raum aufgehängte oder -gestellte Glasplatte mit holographischer Beschichtung. Die auf dem holographischen Film aufgenommenen Objekte – hier Buchstaben und Wörter – können nur mittels einer Lichtquelle sichtbar gemacht werden. Dazu wird das Hologramm mit monochromatisch kohärentem Licht aus derselben Richtung angestrahlt, aus der bei der Aufnahme die Referenzwellen einfielen. Hinter dem Hologramm entstehen zwei Bilder, ein virtuelles und ein reales. Beide Bilder konstituieren die dreidimensionale Wiedergabe des Objektes, wobei das Bild, das der Rezipient erkennen kann, in der Physik als virtuelles Bild bezeichnet wird.10 Kac beschäftigte sich zwischen 1978 und 1982 intensiv mit experimenteller Poesie. Zunächst arbeitete er mit unterschiedlichen Materialien und Techniken wie Papier, Graffiti, Kollagen, Objektgedichten, Klangexperimenten und Performance. Doch was er für seine Arbeit

und 1987 verfasste Augusto de Campos ebenfalls poetische Holographietexte, u.a. die Arbeit luzmentemudacor (1985). 8. Kac 1996a, 186. 9. Die folgende Darstellung bezieht sich zum einen auf verschiedene Texte von Kac, die auf dessen Internet Homepage zu finden sind (http://www.ekac.org), und zum anderen auf einen E-Mail-Wechsel zwischen dem Künstler und der Autorin. 10. Zur den physikalischen Grundlagen der Holographie vgl. Heiß 1986, 4552; Eichler und Ackermann 1993. Zur Holographie in der Kunst vgl. Zec 1986a, 53-58 und Coyle 1990, 65-88. 86

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Abbildung 2: »HOLO/OLHO« (1983)

problematisch erachtete, war die Tatsache, dass die gedruckte Seite das Wort durch ihre Zweidimensionalität gefangen hält und damit den poetischen Ausdruck begrenzt. Andererseits waren ihm die Konstruktionen von soliden, dreidimensionalen Objekten zu statisch. Sie verliehen den Wörtern eine Dauerhaftigkeit und physische Anwesenheit, die der grundlegenden Dynamik der Sprache zuwiderläuft. »I was looking for a poetic language that would be malleable, fluid, and elastic. It was clear that I had to work with a new medium, beyond the page and the object a new medium that would still allow for the private experience of reading a poem. My conclusion was that the solution might lie somewhere between the two-dimensional surface and the three-dimensional volume in thin air.«11 Die Holographie schien schließlich seine Vorstellungen eines poetischen Textes jenseits der Papierseite, aber auch jenseits einer Verkörperung als greifbares Objekt, zu verwirklichen. In den darauffolgenden Jahren begann er, mit der neuen Technik zu experimentieren, die ersten Hologramme zu erarbeiten und seine Theorie der »holopoetry« zu entwickeln. Erste Ergebnisse seiner Arbeit wurden 1985 im Museum of Image and Sound in Sao Paulo gezeigt.

11. Kac 1996b, 247. 87

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»I immediately realized that holography was much more complex than the touted illusion of three-dimensional space. This new medium has an incredible power not only to create an immaterial visual poetic experience, but to manipulate temporal systems, and to store information in ways that can be carefully controlled to generate fascinating new perceptual experience.«12 Die poetischen Texte sind auf die charakteristischen Eigenschaften der Holographie zugeschnitten und spielen mit der Flüchtigkeit der Wörter und dem binokularen Lesen13. Die Dynamik der Texte ist die wichtigste Differenz zum Papier und zum Objekt. Es werden spezielle Bewegungen für die Syntax von Hologedichten entworfen und anschließend in ein Hologramm transferiert. Animationen, die später auf einem Bildschirm rezipiert werden sollen, sind monoskopisch, während der holographische Betrachtungsraum stereoskopisch ist. Dies hat zur Folge, dass der Betrachter später das (fertige) Hologedicht aus unterschiedlichen Perspektiven auch unterschiedlich lesen kann, da es keine, vom Medium vorgegebene Sichtweise (wie z.B. bei einem Fernsehbildschirm oder Monitor) gibt: Ein Hologramm kann auch von der Seite oder von hinten betrachten werden. Kac über seine Arbeit HOLO/OLHO (Abb. 2)14: »HOLO/OLHO (Holo/Eye) […] is a combination of anagrams in which the word ›holo‹ mirrors ›olho‹ and vice-versa. The mirroring effect, however, was conceived so that fragments of the poem would contain enough letters to form both holo and eye. The arrangement of letters in space was holographed five times; each hologram was fragmented and the five holograms were reassembled in a new visual unit. This holopoem was an attempt to recreate, in its own syntax, a structure that would correspond to the holographic model, according to which the information of the whole is contained in the part and vice-versa.«15

12. Kac 1996b, 248. 13. Normalerweise nehmen wir bei der Betrachtung der um uns liegenden Dinge durch unsere Augen zwei unterschiedliche Blickpunkte ein und desselben Objektes wahr. Wir sehen binokular, d.h. beidäugig. Die mit den Augen wahrgenommenen Bilder sind aufgrund der verschiedenen Augenpositionen geringfügig unterschiedlich, weshalb wir die Dinge räumlich bzw. plastisch sehen können. Die unterschiedlichen Bilder verschmelzen zu einem kohärenten Bild. Sehen wir diesen Gegenstand als Fotografie oder Bild, dann geht diese Dreidimensionalität verloren, da es sich um zweidimensionale Bildträger handelt. Die Holographie jedoch ist in der Lage, gleichzeitig jedem der beiden Augen unterschiedliche Buchstaben und Wörter zu präsentieren. Durch die Texthologramme von Kac ist es daher möglich, binokular zu lesen. Die Buchstaben werden plastisch. Vgl. Kac 1995c, 123-137. 14. Vgl. auch die Analyse in Kap. Computerpoesie/III, 1. 15. Kac 1996a, 197. 88

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Da die Hologrammtexte sich nicht auf einmal darbieten, sondern sich je nach Blickwinkel und Betrachterperspektive neu zusammensetzen, zum ersten Mal erscheinen oder auch verschwinden können, sind sie in Bewegung. Kac sieht darin die zeitliche Dimension der Texte: »[…] holopoems are actually quadri-dimensional because they integrate dynamically the three dimensions of space with the added dimension of time. This is not the subjective time of the reader found in traditional texts, but a perceived time expressed in the holopoem itself. […] What matters is the creation of a new syntax, exploring mobility, nonlinearity, interactivity, fluidity, discontinuity and dynamic behaviour only possible in holographic space-time.«16

Abbildung 3: »Maybe Then, If Only As« (1993)

Die Präsenz der Wörter und Satzfragmente ist relativ zur Position des Betrachters. Die Buchstaben bewegen sich, wenn sich auch der Leser bewegt. Insofern ist jedes Hologedicht ein Text, der nur dann präsent ist, wenn das Hologramm angestrahlt ist und der Leser eine bestimmte körperliche Position einnimmt. Innerhalb dieser Zeit, ist der Text sichtbar und verwandelbar, in der übrigen Zeit ist er unsichtbar.

16. Kac 1996a, 187-188. 89

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COMPUTERPOESIE

2. VR-System: virtuelle Poesie Einen Schritt weiter als die Technik der Holographie geht die Implementierung typographischer Zeichen in den virtuellen Raum. Im Inneren des VR-Systems kann der Betrachter die Textwelt immersiv mit dem ganzen Körper erfahren und ist nicht nur mit einem Bildschirmausschnitt oder einem Holographiefenster konfrontiert. Virtuelle Gedichte, so wie sie der Computerdichter Ladislao Pablo Györi entwirft, sollen ausschließlich innerhalb einer Virtuellen Realität existieren, durch deren Programmstruktur sie auch hervorgebracht werden. Diese Form der Computerpoesie ist derzeit noch in der Entwicklungsphase, jedoch denkbar, da heute bereits simulierte Welten in VR-Systemen möglich sind.

Abbildung 4: »vpoem13« (1995), aus: Györi 1998, 10 Virtuelle Poesie existiert bislang lediglich als simulierte Version, die im Computer eine Vorstellung des zukünftigen virtuellen Textraums vermittelt. Sie ist von der Konsole des VRML-Programms aus navigierbar, jedoch noch nicht, wie später beabsichtigt, mit dem ganzen Körper erfahrbar: »The intention is to take the reader into a virtual reality system, so that he/ she will perceive the work into an interactive digital 3D 90

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space, inside of which the poems react according to the user manipulations and evolutions.« 17 Mittels Interfacetechniken (Cybermaske und Datenhandschuhe) soll der Benutzer Satzfragmente wie Gegenstände berühren können, auseinandernehmen und an anderer Stelle wieder zusammensetzen. Seit 1984 experimentierte Györi mit dem Computer und entwickelte eine Form der 3-D-Kunst. Es entstanden Strukturen, Reliefs, Skulpturprojekte die mit dem Designprogramm CAD (»Computer Aided Design«) hergestellt wurden. 1984 veröffentlichte er Estiajes, eine bereits 1988 entstandene Gedichtsammlung. 1994 war er an der Gründung der interdisziplinären Gruppe TEVAT beteiligt, zu deren Mitglieder auch der Semiologe und Ingenieur José E. García Mayoraz und der Videokünstler G. Kosice gehören, die an Projekten im Bereich künstlicher und virtueller Realität, der Kunst im virtuellen Raum sowie Studien zur Semantik arbeiten. Die computerbasierten Texte von Györi stehen auf theoretischer Ebene in einem engen Zusammenhang mit der Informationstheorie und der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie sind interaktiv, animiert, hyper-linked, navigierbar und existieren ausschließlich im elektronischen Raum, innerhalb von Computernetzwerken. Wörter reihen sich hier zu Sätzen aneinander, und Sätze brechen ebenso wieder in einzelne Wörter auseinander. Dabei drehen sich die Fragmente, verschwinden im Hintergrund, wandern von der einen Bildseite zur anderen, schieben sich in den Vordergrund oder werden plötzlich durch vordergründige Schriftzeichen verdeckt oder zerteilen sich und verbinden sich auf ihrer Bewegungsbahn mit anderen, driftenden Satzfragmenten. Die Form der VR-Dichtung wird durch Software oder Routinen, die zur Entwicklung von virtuellen Realitäten und zur Erforschung von Echtzeitprozessen angewendet werden, generiert. Solche Programme liefern verschiedene Möglichkeiten zur Manipulation, Navigation und Verhaltenssteuerung von Objekten und bieten zusätzlich alternative Eigenschaften wie z.B. Klangemission und animiertes Morphing. Der künstlich hergestellte Textraum, die »Virtual Poetry Domain« (VPD), ist für Györi eine Erweiterung der traditionellen Druckseite: »The printed page only establishes a superficial and static contact; it is very restricted in relation to the requirements of large versatility and global artificiality that also dominate contemporary poetic production, and which will dominate those of the future.«18

17. E-Mail-Wechsel mit der Autorin. 18. Györi 1996, 162-163. Vgl. hierzu auch Kap. Modifikationen/II, 1. (Der lesende Körper). 91

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3. Video: Videopoesie »Literary video differs from other video art in its base of a text whose language is enhanced, rather than mundane – a text that is conceived within the traditions of literature and a contemporary sense of verbal possibilities. […] Literary video will not supercede the printed page but will become yet another possibility for heightened language exploration.«19 Auf der Suche nach neuen Darstellungsformen jenseits des Papiers konzipierte Richard Kostelanetz Ende der 1970er Jahre einen Text mit dem Titel Strings (1979), der aus einer einzigen Buchstabenkette bestand. Die Wörter überschnitten sich jeweils am Anfang und Ende um zwei oder drei Buchstaben20: Stringfiveteranciderideafencerebrumblendivestablishmentertaintegerund… Mögliche Wörter, die daraus gelesen werden könnten, sind: Stringfi(ve)te(ran)(ci(d)er)(i(de)a)(fen)(cer)eb(rum)(bl(e)n(d)ive)st)… Die Möglichkeiten des Papiers waren jedoch ausgeschöpft, als die Strings in einer literarischen Zeitschrift abgedruckt wurden, indem man aus technischen Gründen Zeilenumbrüche mit Bindestrichen eingearbeitet und damit dem Gedicht seine Konzeption genommen hat. Auf der Suche nach neuen Darstellungsformen entschloss sich Kostelanetz, das Wortband, das tatsächlich als eine Einheit gesehen werden sollte, per Hand auf Endlospapier zu schreiben und dieses dann auszustellen. Der beste Ort dafür war der öffentliche Raum, wie er später in den frühen 1980er Jahren entdeckte: »[T]he best place to ›publish‹ these Strings – to make them available to the public – might be in an extended public space, such as a wide wall or a long hallway, like that at an airport or, better yet, the floor along the edge of a train platform. […] Because these Strings are linguistically difficult, they cannot be fully comprehend in a few minutes. […] they need an audience with time to spare – people waiting for a train.« 21

19. Kostelanetz 1995, 199 und 203. 20. In seinem Aufsatz Thirty Years of Visible Writing: A Memoir, zeichnet er in ausführlicher Weise den Weg nach, wie er über unterschiedlichste Techniken und Verfahren schließlich zur Form der Videodichtung gelangte. Kostelanetz 1999, 6-41. 21. Kostelanetz 1999, 11. Die Künstlerin Jenny Holzer nutzte für ihre Nachrichten ebenfalls den öffentlichen Raum, wobei sie sich einer Technik bedient, die auch Kostelanetzs Bandtexten entgegenkommen würde: Leuchtbänder, durch die gewöhnlich Werbetext an Flughäfen, in Stadien oder an Verkehrsknotenpunkten hindurchfließen. 92

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Später nahm er dieselben Texte auf Videobänder auf und präsentierte sie dem Leser in einem über den Bildschirm (von rechts kommend nach links verschwindend) ziehenden Textstreifen. So wie dem Reisenden auf dem Bahnsteig, bleibt dem Rezipienten nur eine bestimmte Zeit zum Lesen zur Verfühgung. Anfang der 1980er Jahre konzipierte Kostelanetz mit einer Maschine, die normalerweise dazu benutzt wurde, Fernsehbilder zu untertiteln oder um den Filmabspann zu erstellen (»electronic letter-making machine«), das Gedicht Partitions (1981). Da der Speicher der Buchstabenmaschine nur acht Seiten zuließ, war Kostelanetz gezwungen, seinen Text in ebenfalls acht Stufen zu konzipieren. Es entstand eine kurze Sequenz, die folgenden Rhythmus hatte: »PARTITIONS / PA / PAR / PART / ART / TIT / IT / PARTITIONS«. In den ersten zwei Sequenzen erscheint lediglich ein Wort auf dem Bildschirm, in den nächsten zwei, sind jeweils zwei Wörter zu sehen und in den anschließenden zwei, je drei Wörter usw., bis sich schließlich zehn Wörter gleichzeitig verwandeln und insgesamt 96 Wörter durch Kombinationen einzelner Wortteile entstehen. Der brasilianische Dichter Ernesto de Melo e Castro sieht die unmittelbare Referenz zur »videopoetry« in der experimentellen Dichtung der 1960er Jahre, was zugleich auf seine eigene Tradition verweist. Er gehörte zusammen mit Ana Hatherly, José Alberto Marques, Antonio Aragao und Salette Tavares zur ersten Generation der portugiesischen Experimentaldichter und war Gründungsmitglied der POESIA EXPERIMENTAL (PO.EX)22. Diese Form der experimentellen konkreten Poesie orientierte sich stark an der portugiesischen Barockliteratur und legte besonderen Wert auf das Spiel mit dem Leseakt des Rezipienten. Seit 1961 hat Melo e Castro eine führende Rolle in der Entwicklung der experimentellen Dichtung in Portugal. Sein Interesse gilt der Reduktion des Wortmaterials, weshalb er die konventionelle Grammatik zu überschreiten beginnt und mit kombinatorischen Algorithmen experimentiert, die er auf sein Wortmaterial anwendet. »I went from the hypotaxis to the parataxis abolishing the difference between verbal and non-verbal and reaching a totally visual concept of invention.«23 Konkrete Poesie war für ihn eher ein Ausgangspunkt als das eigentliche Ziel. Zunächst begann er, in Handschrift, unter Verwendung von alten Typographen und später mit Hilfe von Druckpressen (»letterpress«), experimentelle Gedichte zu schreiben. Das Probieren mit Buchstaben und unterschiedlichen Materialien schien ihm bald der geeignete Weg zu sein, visuelle Dichtung zu verfassen, und er begann mit Gedichten aus Papier, Holz, Textilien, Stein und Plastik in

22. Hatherly 1996, S. 69. Vgl. auch Kap. Computerpoesie/II, 2. (Noigandres und PO.EX). 23. Melo e Castro 1996, 144. 93

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Kollagetechnik. Heute benutzt Melo e Castro Licht, um Info- und Videogedichte mit dem Computer zu schreiben. Für ihn stellt die Textwahrnehmung die größte Herausforderung im Umgang mit neuen Medien dar: »But the ultimate goal is to investigate video as a medium capable of developing by itself a new kind of reading pleasure.«24 Sein bisheriges Werk beschreibt Melo e Castro als eine Entwicklung in drei unterschiedlichen Zeitabschnitten. Sein erstes Videogedicht Roda Lume bestand aus animierten geometrischen Formen und Buchstaben in schwarz-weiß, die er vorher von Hand gezeichnet hat. Dabei wurde die Animation der Buchstaben noch durch eine direkte Bild-für-Bild-Editierung (ähnlich dem Zeichentrickverfahren) mit der Kamera erreicht. Vorher wurde ein genaues Storyboard angefertigt, in dem die Bildfolge und die Zeitdauer aufgezeichnet waren. Der vom Autor selbst erstellte Ton wurde erst danach aufgenommen, als eine improvisierte klangliche Lektüre der visuellen Bilder. Anfang 1969 wurde dieses Videogedicht im portugiesischen Fernsehen ausgestrahlt, wo es jedoch einen Skandal unter den Zuschauern auslöste und daraufhin vom Fernsehsender aus mangelndem Interesse vernichtet wurde. »Now I am told that it is probably the first videopoem made as such, and that it is different from the techniques and aesthetics of videoart«.25 Später, 1986, entwickelte der Künstler unter Verwendung des alten Materials eine neue Version, wobei er im Jahr zuvor die Gelegenheit hatte, die technischen Möglichkeiten der Fernsehstudios des Portuguese Institute of Distance Learning (IPED) und später auch der Freien Universität in Lissabon auszuschöpfen. Er realisierte u.a. in dieser Zeit ein Projekt, das portugiesische Literaturstudenten mit den spezifischen Möglichkeiten des Videos als neues Lektüremedium für Dichtung konfrontierte (Signagens, 1989). Hierfür begann Melo e Castro zunächst Videos zu produzieren, die ausschließlich aus bereits existierenden Gedichten der 1960er Jahre bestanden. Er erkannte, dass sich eine Übersetzung von druckbasierter visueller und experimenteller Dichtung anbot, da das Medium Video zur Animation von Buchstaben und Wörtern nahezu perfekt schien.26 Doch die bloße Übertragung von zuvor auf Papier konzipierten Texten hatte seiner Auffassung nach nichts mit der Auslotung neuer Möglichkeiten eines anderen Mediums zu tun:

24. Melo e Castro 1996, 142. Vgl. hierzu auch die Analyse des Videogedichts Ideovideo in Kap. Computerpoesie/III, 3. (Hybridität von Bild und Schrift). 25. Melo e Castro 1996, 145. 26. Er begann, einige seiner eigenen experimentellen Gedichte in Videogedichte umzusetzen, woraus folgende Videoarbeiten entstanden: As Fontes do Texto, (8’30’’), Sete Setas, (1’29’’), Sede Fuga, (1’23’’), Hipnotismo (33’’), O Soneto, Oh! (5’34’’) und Escrita da Memória (2’14’’). 94

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»[T]he use of new technological devices by the poet should not be taken as just the use of different semiotic systems to translate our old experience and achievements to give them a new dressing. That would be to miss totally the point, as I believe by personal experience that technological means bring with them new possibilities for inventive work and even of a new poetics of verbal and non-verbal signs.«27 Für Melo e Castro ist das Video eine Möglichkeit, die starre, weiße Papierseite zu überwinden: »The poet is no longer facing a white page. He or she faces a complex set of electronic apparatus and their multiple possibilities to generate text and image in color and movement.«28 In der Aneignung neuer Techniken sieht er die große Herausforderung der Dichtung im 20. bzw. 21. Jahrhundert, die Grenzen der etablierten Kanons und Ausdrucksmöglichkeiten zu überschreiten. Mit den technischen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der damit einhergehenden rasanten Ausbreitung und Etablierung neuer Speicher-, Übertragungs- und Informationsverarbeitungsmedien änderte sich auch unsere Wahrnehmung der Welt: »The page is no longer there nor is it white, not even as a metaphore. Also space is now equivalent to time and writing ist not a score but a dimensional virtual reality.«29

4. Computerbildschirm Animierte Multimediapoesie Der französische Dichter Philippe Bootz entwarf 1990 das Gedicht Icône, das mit Hilfe einer Variante der Programmiersprache Basic entstanden ist und die neue Rolle des Lesers exemplarisch vorführt. Zu sehen ist auf dem Bildschirm Folgendes: (1) Eine lange, nicht interaktive Phase leitet das Gedicht ein, in der sich ein Text auf dem Bildschirm bewegt und auflöst, bis schließlich der Schirm weiß ist. (2) Die Farbe des Hintergrunds schlägt um von weiß in schwarz. Darauf erscheinen ein Rechteck und Schriftzüge. (3) Ein kleines blaues Quadrat entsteht auf der Linie der Schrift und der Cursor (Maus) befindet sich im Rechteck. Der Betrachter kann nun durch die Maus den blinkenden Cursor und das blaue, quadratische Icon platzieren, wobei sein Bewegungs-

27. Melo e Castro anläßlich des Symphosymposium on Contemporary Poetics and Concretism: A world view from the 1960s in Yale, zitiert nach Jackson 1996, 408. 28. Melo e Castro 1996, 140. 29. Melo e Castro anläßlich des Symphosymposium on Contemporary Poetics and Concretism: A world view from the 1960s in Yale, zitiert nach Jackson 1996, 406. 95

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rahmen durch das Viereck begrenzt wird. (4) Sobald der Leser klickt, läuft die Schlussphase des Gedichtes ab (Abb. 5).

Abbildung 5: Bildschirmfoto aus »Icône« (1991) Das Besondere des Gedichts liegt darin, dass der Leser gezwungen ist, zu handeln (wenn auch in einer sehr eingeschränkten Weise), da ansonsten der Text kein Ende finden und auf dem Bildschirm verharren würde. Wenn der Leser also nicht die Maus bewegt, wartet der Computer bis auf unbestimmte Zeit. Dieser Text ist einer der ersten, der das visuelle Interface in die Arbeit selbst integriert hat. So gesehen ist Icône ein Prototyp, der die Konzeption der lesergesteuerten Lektüre sowie der lesergesteuerten Textgenerierung etabliert und dient im Wesentlichen dazu, sich der Modifikation der Lesemodalitäten bewusst zu werden. Zudem bedeutet der Name Icône gleichzeitig das zentrale Element moderner Benutzeroberflächen, das für die Möglichkeiten der jeweiligen Interaktion steht. Abribes abattues, zu dessen Lektüre die Pausentaste wichtig ist, thematisiert die Differenz zwischen Papierseite und Bildschirmseite durch Animation. Betätigt man die Taste an irgendeiner beliebigen Stelle, während auf dem schwarzen Bildschirm farbige Satzfragmente vorbeiziehen, konstituiert man durch Stillstellung eine »Seite« (Abb. 6):

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Abbildung 6: Bildschirmfoto aus »A bribes abattues« (1995)

Die Bewegung der Wörter und Sätze wird gestoppt. Durch die Unterbrechung ist es dem Leser möglich, die animierte Schrift auf dem Bildschirm wie auf einer Seite zu rahmen und als Text zu konstituieren. Der Leser ist jedoch nicht in der Lage, den permanenten Fluss visueller Information als Text im Ganzen zu erfassen. Auch in Frédéric Develays Gedichtserie La fatigue du papier no. 4, 22 und 23 zieht der Text in einem bestimmten Tempo aus verschiedenen Richtungen über den Bildschirm, wobei man die Geschwindigkeit mit den Funktionstasten »F1« (sehr schnell) bis »F9« (sehr langsam) variieren oder mit der Pausentaste vollkommen anhalten kann (Abb. 7). Einzelne Wörter oder Satzelemente blinken, lösen sich auf oder verwandeln ihren Sinn durch Überlagerung oder Umstellung der Buchstaben.30 Bootz hat 1994 ein Konzept entwickelt, das auf besondere Weise mit der Zeitlichkeit der elektronischen Dichtung spielt. Mit dem Gedicht Passage (1995) hat er einen Typus animierter Poesie etabliert, den er Poème à lecture unique nennt. Bereits im Namen klingt an, was den Kern des Textes ausmacht: Passage (Abb. 8) basiert auf einer irreversiblen Struktur, d.h., der Endzustand des Textes kann nur einmal pro Leser und Lektüre erreicht werden. Der Leser kann eine Entscheidung weder widerrufen noch den Text in seinen Ausgangszustand zurücksetzen (keine »reset«-Funktion). Die Struktur des Gedichts entwickelt sich in drei Phasen, wobei die zweite interaktiv programmiert ist. Während dem Leser zu Beginn seiner Lektüre noch mehrere Optionen

30. Vgl. hierzu auch die Analyse in Kap. Computerpoesie/III, 1. 97

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in Form einer Menüleiste bereitstehen, reduzieren sich diese Wahlmöglichkeiten mit zunehmendem Fortgang der Lektüre. Lesen wird hier in konfrontierender Weise zum einmaligen Akt der Auswahl und des Voranschreitens oder wie Bootz formulierte: »reading is choosing, closing a door in order to move forward.«31

Abbildung 7: Bildschirmfoto aus »La fatigue du papier no. 22« (1989)

Abbildung 8: Bildschirmfoto aus »Passage« (1997).

31. Bootz 1999a, 39. Vgl. auch die Analyse in Kap. Computerpoesie/III, 2. 98

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Der US-amerikanische Autor Brian Stefans verfasste 1999 ein animiertes Gedicht, das gleichzeitig auch in einer gedruckten Version vorliegt: The dreamlife of letters32. Der Text hat eine originelle Entstehungsgeschichte. 1999 wurde Stefans zusammen mit anderen Schriftstellern gebeten, an einem Roundtable-Gespräch zum Thema »Sexualität und Literatur« im Internet teilzunehmen. Die Ergebnisse des Diskussionsforums, dessen Beiträge ausschließlich über E-Mail versendet wurden, sollten später in der »Poetics List«33 veröffentlicht werden. Alle Teilnehmer wurden in unterschiedliche Gruppen und Positionen eingeteilt. Stefans erhielt die Position zwei und hatte damit auf die Position eins zu antworten, die von der Dichterin und feministischen Literaturtheoretikerin Rachel Blau DuPlessis eingenommen wurde. Da DuPlessis sich in einer auffallend komplexen und hermetischen Weise äußerte, entschied sich Stefans dazu, ebenso ausführlich zu antworten, wurde sich jedoch schnell bewusst, dass die konventionelle Prosa dazu nicht ausreichte. Er entschied sich schließlich dazu, die Worte DuPlessis zu alphabetisieren und in kurzen konkreten Gedichten aneinander zu reihen. Stefans gab sich allerdings mit seinem Beitrag zum RoundtableGespräch nicht zufrieden, da ihn das Gedicht zu sehr an die über 50 Jahre alten Experimente der konkreten Dichter (z.B. von de Campos oder Eugen Gomringer) erinnerte. Er entschloss sich dazu, seinen Text zu animieren und in einen Zeitrahmen von 11 Minuten zu setzen. Der animierte Text ist als ein Kurzfilm zu verstehen und nicht interaktiv. In der Animation zeigt Stefans, dass den einzelnen Wörtern durch ihre Temporalisierung zusätzlich Spannung und Dynamik verliehen wird (Abb. 9). Zudem entstehen durch noch nicht verschwundene und gerade auf dem Bildschirm erscheinende Buchstaben oder Silben neue Komposita, die durch den Zwang zur Sukzession auf dem Papier nicht möglich sind. Die Fülle an Kombinationsmöglichkeiten wird durch die Dynamisierung der Buchstaben transparent gemacht, und dennoch ist das Spiel der Wortneuschöpfungen immer noch zu potenzieren, wie der Autor abschließend bemerkt: »I don’t think I reveal the dreamlife of letters in this piece; the letters have too many dreams, as I’ve discovered, though perhaps not enough for me in the end.«34

32. Vgl. hierzu auch Kap. Computerpoesie/III, 3. (190-194). 33. Forum für digitale Dichtung im Internet; [email protected]. 34. Stefans 1999, o. S. 99

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Abbildung 9: Bildschirmfotos aus »The dreamlife of letters« (1999)

Da der Computer zur Integration von Schrift, Bild und Ton herausfordert, haben einige der hier beschriebenen Autoren neben Schrift und Bild auch klangliche Strukturen integriert, die aber in den Hintergrund treten. Es gibt jedoch auch Gedichte, die explizit mit der Möglichkeit arbeiten, neben dem sichtbaren Text auch einen auditiven zu präsentieren, der sich sogar unabhängig vom ersten verhalten kann. Avantgardistische Gruppen versuchten bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, orale Sprache in der Dichtung hörbar und sichtbar zu machen. Es entstanden Lautgedichte, die den zugrundeliegenden Drucktext regelrecht zur musikalischen Partitur erklärten wie z.B. in der Ursonate Kurt Schwitters. Während die Klangeindrücke der gesprochenen Sprache dort noch aus dem Drucktext selbst hervorgingen, der als Text zugleich Sprachanweisung für z.T. inhaltlich unsinnige Vokalmusik war, bietet sich durch den Computer die Möglichkeit, zusätzlich zu dem auf dem Bildschirm präsentierten Text, gesprochene Sprache hörbar zu machen, die nicht mit diesem Text übereinstimmen muss. Wenn auf 100

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dem Bildschirm ein Text erscheint, jedoch ein anderer rezitiert wird, können beide dennoch gleichzeitig existieren. Im Gegensatz zur Lautdichtung, die sich erst im mündlichen Vortrag vollkommen entfalten kann, war es für die visuelle Dichtung schon immer problematisch, Lesungen zu veranstalten, d.h. vorgetragen zu werden. Denn was bleibt vorzulesen, wenn man einen Text wie Eugen Gomringers Gedicht Silence zur Vorlage hat? Richard Kostelanetz beschreibt das Dilemma aus eigener Erfahrung: »To celebrate the publication of his anthology, Carroll sponsored a series of ›readings‹ featuring his contributors. Since such visual poems could not be declaimed (without compromising their silent integrity), his invitation prompted me to develop the presentational form I still use – ›an illuminated demonstration‹, in which a caroussel slide projector throws my visual poems up on a screen, while I, as their author, standing behind the audience, declaim a nonsynchronous, voice-over narration that is filled, not with specific explanations but general concepts that the audience may or may not choose to relate to what they see.«35 Um der Unmöglichkeit des mündlichen Vortrags visueller Texte zu entgehen, entschied sich Kostelanetz, elektronische Techniken zu Hilfe zu nehmen, um ausgewählte Texte für einen größeren Rahmen rezipierbar zu machen. Der dabei rezitierte mündliche Vortrag, den er als »nonsynchronous, voice-over narration« verstand und der lediglich ein optionales Angebot an die Hörer darstellte, weist bereits auf die autonome Verwendung von schriftlichem Text und mündlicher Sprache innerhalb der auditiven Computerdichtung. Entscheidend ist, das der mündliche Text zwar nicht den schriftlichen synchronisiert, sich jedoch zur selben Zeit ereignet. Augusto de Campos verfasste 1953 eine Serie visueller Texte, die er Poetamenos (»minus eines Poeten«) nannte. Darin verarbeitete er Kenntnisse über die Klangfarbenmelodie von Anton Webern und der ideogrammatischen Technik der Cantos von Ezra Pound. Das Gedicht ist polychrom, um anzuzeigen, welche Stimme welches Wort zu welcher Zeit sprechen soll. 1955 wurde es in der Teatro Arena in Sao Paulo aufgeführt, indem es auf eine Leinwand projiziert wurde.36 Währenddessen trugen vier Stimmen den Text laut und der entsprechenden Farbcodierung gemäß vor. Später, als die Entwicklung digitaler Rechenmaschinen die Bedingungen dafür bereitet hatte, versah der Dichter seinen Text mit einer Tonspur, die nun parallel zur Betrachtung des

35. Kostelanetz 1999, 8. 36. Am geeignetsten schienen de Campos Leuchtbuchstaben, wie sie z.B. in der Straßenreklame genutzt werden, die automatisch an- und ausgingen. Da dies jedoch an der Finanzierung scheiterte, verwendete der Dichter farbige Wörter. 101

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Gedichts am Bildschirm abläuft. Auch hier sind mehrere Stimmen zu hören, die sich, je nach den räumlichen Orten der Wörter, überschneiden oder synchronisieren.

Abbildung 10: »Lygia Fingers« (1953, »Poetamenos«) Kac hat in Insect Desperto (1997) auch von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, einen animierten Text mit Stimmen zu überlagern. Zu sehen sind auf dem Bildschirm einzelne Wörter, die schlaglichtartig und abrupt, in weißer Schrift vor schwarzem Hintergrund aufblitzen und sogleich wieder verschwinden. Dabei wird ein Text in unterschiedlichen Sprachen rezitiert, der den sichtbaren Text zu überlagern, jedoch nicht zu rezitieren scheint. Durch die relativ hohe Geschwindigkeit der Textbewegung synthetisieren sich die einzelnen Wörter zu neuen Begriffen

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oder auch zu Assoziationsfelder, da sie immer einem bestimmten Wort nachfolgen oder vorausgehen, das sie in ihrer Bedeutung beeinflusst.37

Abbildung 11: Bildschirmfotos aus »Insect Desperto« (1997) Einen Schritt weiter gehen die französischen Dichter Claude Maillard und Tibor Papp. Unter Nutzung sämtlicher multimedialer Eigenschaften des Computers verfassen sie Computerpoesie, die durch den Einsatz von Typographien, Stimmen und Bildern einem Kurzfilm nahe kommt. Der 1998 verfasste Text Rupture38 weist dabei neben einer humorvollen Dramaturgie auch eine interaktive Komponente auf: Er ermöglicht dem Leser, nach der Exposition, aus drei Varianten eine Fortsetzung auszuwählen. Auffallend ist, dass sich die rezitierenden Stimmen vom sichtbaren Text gelegentlich lösen und parallel einen eigenen, oralen Text präsentieren. Rupture beginnt mit einer Art Prolog, indem die Oberkörper zweier Frauen auf dem Bildschirm erscheinen.

37. Interessanterweise lässt sich von diesem Gedicht jeweils nur ein Wort pro Bildschirmfoto festhalten (s. Abb. 11), was bedeutet, dass die Zeit des Aufblitzens sehr kurz ist und tatsächlich immer nur ein Wort auf dem Bildschirm zu sehen ist. Als Leser hat man jedoch den Eindruck, dass mehrere Wörter gleichzeitig anwesend sind, da man die vorangehenden Wörter immer noch in Erinnerung hat und das Auge zu träge ist, mit der Geschwindigkeit der Textanimation mithalten zu können. 38. Alire11 1999. 103

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Der Körper der einen Frau ist links oben am Bildschirm zu sehen und ist um 90 Grad zur Seite nach rechts gedreht, der Oberkörper der zweiten Frau erscheint rechts unten und ist um 90 Grad nach links gedreht (Abb. 12). Gemeinsam halten sie einen nicht zu verstehenden Dialog mit in hohen Tönen verzerrten Stimmen. Anschließend folgt ein filmähnliches Titelbild, auf dem der Schriftzug Rupture vor dem Hintergrund eines computertechnisch verfremdeten Bildes einer Gerichtsszene vorüberzieht. Dieses wird abgelöst durch eine Phase bewegter Schrift (Abb. 13), wobei am oberen Bildrand ein Textband von rechts nach links durchläuft auf dem folgender Satz zu lesen ist: »mets-toi à la table d’un paysage nonchalant je marcherai à rebours sur ta peau je ne souhaite rien d’autre que l’inverse de ton blé.« Im unteren Teil des Bildes konkurrieren zwei weitere Sätze in größeren Typen um die Gunst des Platzes, bewegen sich unterschiedlich zitternd hin und her, wobei der gelbe Schriftzug (oberhalb des roten) von rechts nach links und der rote Schriftzug (unterhalb des gelben) in die Gegenrichtung ziehen. Die Sätze »transportieren« dabei folgenden Inhalt: »offrant un nombre phi incalculables de jambes et de bretelles« (gelber Satz) und »la mésaillance est là menu affable et friable va s’en dire« (roter Satz). Zu einem wahren Stimmengewirr verwandelt sich die nächste Szene, in der die Wörter »demeure«, »sans effrayant« »sous-sols« in der Mitte des Bildschirms als Raute angeordnet sind. Sie blinken, verschwinden kurzfristig und erscheinen dann wieder, lösen sich auf oder verharren hin- und herzitternd auf der Stelle. Die Tonspur unterlegt eine Stimmenkollage aus verfremdeten, überlagerten Stimmen, wobei andere Wörter als die auf dem Bildschirm sichtbaren deklamiert werden. Zu diesem Zeitpunkt hat das Gedicht quasi seine Exposition durchlaufen und endet mit einem statischen Bild, das dem Leser drei Wahlmöglichkeiten für den weiteren Verlauf unter folgenden Überschriften offeriert: 1. Les Fiançailles, 2. Randonnée rupestre, 3. Le bateau de taux Amélonde. Mit der Wahl der ersten Überschrift (Les Fiançailles) wird eine Phase ausgelöst, in deren Verlauf sich ein Bild im impressionistischen Stil entwickelt, das mit computergestützten Verfremdungseffekten manipuliert wird. Dazu sprechen zwei Stimmen zwei unterschiedliche Gedichttexte, die echoartig angelegt sind. Die zweite Überschrift (Randonnée rupestre) wartet mit einem bunten Gitter aus 35 Quadraten auf. Eine Person sowie ein großer Mund sind auf dem Gitter angeordnet, während in einigen Kästchen Wörter und Satzfragmente zu lesen sind (Abb. 14).39

39. Auffallend ist die Parallele zu den aleatorischen Strukturplänen der OuLiPo-Gruppe, deren Werke oft eine ähnliche schematische Anordnung zur Grundlage haben. Vgl. hierzu Einband und Beilage in Ritte 1995 und Kap. Computerpoesie/II, 2. (OuLiPo). 104

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Abbildungen 12 und 13: Bildschirmfotos aus »Rupture« (1998)

Abbildung 12

Abbildung 13

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Abbildung 14

Abbildung 15

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Weder die Person noch die überdimensionierten Lippen noch der Text und die Anordnung der farbigen Kästchen bleiben während dieser Phase stehen. Vielmehr bewegen sie sich hin- und her, während die einen Wörter auf der Oberfläche erscheinen und die anderen verschwinden. Eingeleitet wird die Stimmsequenz mit dem zweimal gesprochenen Satz »cinq multiplié par sept«, gefolgt von den mehrmals repetierten Sätzen »le carré vide« und »les yeux de lire«. Anschließend werden von mehreren verfremdeten und überlagerten Stimmen Satzfragmente vorgelesen, die auch innerhalb der Quadrate sichtbar sind (z.B. »t’affronter«). Im Anfangsbild der dritten Wahlmöglichkeit (Le bateau de taux Amélonde) erscheinen nacheinander vor einem gezeichneten Hintergrund mit Torbögen (ähnlich einer Lavierung) die Figuren zweier Frauen (Abb. 15). Dabei ist zu hören, wie Stimmen durcheinander sprechen und in wellenartiger Dynamik Meeresgeräusche lautmalerisch imitieren (»ffffffff«, »ssssss« etc.). Außer den beiden Frauenfiguren sind auf dem Bildschirm noch einzelne farbige Wörter und griechische Buchstaben zu sehen (z.B. ×, – etc.). Nun wechselt der Hintergrund, und es ist ein schwarz-weiß gezeichnetes Meer zu sehen, an dessen stilisiertem Horizont ein Schiff mit dem Namen »gâteau« (in Anlehnung an »bâteau«) von rechts nach links vorüberfährt. Schließlich wechselt der Hintergrund wieder von der Meeresszene zu den Torbögen samt der Personnagen und beendet damit die dritte Wahlmöglichkeit. Als Schlusssequenz folgt nun, gleich einer Coda, eine Szene, die jede der drei Optionen abschließt. Darauf ist ein computertechnisch verfremdeter Wald zu sehen, der sich im Laufe dieser Sequenz verändert und in dessen Vordergrund plötzlich eine kleine Person auftaucht und immer größer wird. Währenddessen rezitieren Stimmen simultan unterschiedliche Texte, die sich entweder überlagern oder echoartig ergänzen. Dieser Text macht deutlich, dass mit der auditiven Computerdichtung dem Leser eine neue Wahrnehmungskompetenz abverlangt wird. Es ist nicht immer leicht, sich sowohl auf die bewegten Schriftzeichen zu konzentrieren als auch auf die (einen anderen Text) rezitierenden Stimmen zu achten. Beides findet in seiner jeweiligen Zeit statt, wie auch das Lesen und Hören seinen eigenen Zeitverlauf hat. Auf diese Weise geht zwangsläufig Information verloren oder es entstehen in der Synchronisation beider Komponenten neue Inhalte. Claude Maillard sieht die Herausforderung für den Rezipienten darin, den Spalt zwischen dem, was geschrieben ist und dem, was zu hören ist, zu überwinden: »Entre ce qui s’écrit et ce qui s’écoute la passe vide. Dé-roulante. Déroutante. Il y a du pari à faire entendre la voix incolore des mots. La voix prend et déprend les mots. Les re-dépose. Vitesse, fréquence, intensité, tonalité,

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autant de paramètres machines (inexistant sur le papier) avec et par lesquels le plié déplié de la chaîne signifianet se déchaîne.«40

Generierte Poesie – Poesiemaschinen Textgeneratoren sind Computerprogramme, die auf der Basis von Algorithmen und speziell zugrundegelegten Vokabularien Texte generieren. Der Computer wird hier zum Zeichenmanipulator. Auf der Grundlage einer bestimmten Menge linguistischer Zeichen (Repertoir/Vokabular), eines bestimmten Regelwerks (Grammatik) und einer bestimmte Menge von Programmanweisungen (Algorithmen) verbindet er Wörter zu Texten, indem er die von aktuellen Lesern eingegebenen Daten verarbeitet. Die ersten elektronischen Experimente wurden auf diese Weise 1959 in Stuttgart von Theo Lutz unter dem Titel Stochastische Texte unternommen. Sie beruhten auf einem Programm, das auf der Grundlage eines bestimmten Vokabulars (das Franz Kafkas Schloss entnommen war) sowie bestimmter syntaktischer und logischer Operationen beliebige Textzeilen generierte.41 Während die Großrechenanlagen zu Beginn der 1960er Jahre noch keine reichhaltigen Varianten zur computergestützten Texterzeugung anboten, war eine der wenigen Möglichkeiten die Erzeugung zufallsgenerierter Texte – meist waren es Gedichte, da sie sich wegen ihre Kürze zu Experimenten eigneten. Mit zunehmender Entwicklung der Computerpoesie aber wurden Textgeneratoren zu eigenständigen Formen, die nicht nur einen Text »auf Knopfdruck« versprachen, sondern eine eigene Poetik formuliert haben. Absicht war nicht die Automatisierung jeglicher poetischer Arbeit oder gar ihre Ökonomisierung, sondern eine Auseinandersetzung mit einer Maschine, die nicht nur in der Lage war, zufallsgesteuerte, d.h. nicht vorhersehbare Texte zu generieren, sondern auch potentiell unendlich viele.42 Der Computerversion von Cent Mille Milliards de Poèmes von Raymond Queneau liegt ein solcher Zufallsgenerator zugrunde, wenngleich dieser nicht imstande ist, unendlich viele Gedichte zu produzieren, sondern lediglich 1014.43 Im Gegensatz zu animierten Computer-

40. Maillard 1994, 120. 41. Siehe auch Kap. Computerpoesie/II, 1. 42. Vgl. hierzu auch den Poesie-Automaten von Hans Magnus Enzensberger aus den Jahren 1998-2000. Dieser besteht aus einer Anzeigetafel, wie sie in Flughäfen verwendet wird. Ein Zufallsgenerator auf der Basis von 360 Sprachelementen ist hier in der Lage, 1036 Gedichte zu generieren. Enzensberger 2001, 133-141. 43. Die Sonettmaschine bildet innerhalb der Textgeneratoren insofern eine Ausnahme, da sie ursprünglich auf dem Papier konzipiert und erst später eine Computer108

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texten, bewegen sich die Sonettzeilen auf dem Bildschirm nicht von selbst, sondern warten auf eine Auswahl durch den Leser. Dieser kann durch Eingabe bestimmter Buchstaben- und Zahlenkombinationen einzelne Zeilen bestimmen, die dann vom Generator an der entsprechenden Stelle auf den Bildschirm geschrieben werden (Abb. 16). Es besteht auch die Möglichkeit, durch die Eingabe des Buchstaben »z« ein »fertiges« Sonett zu generieren. Dabei bleibt der Prozess dem Zufall überlassen und der erscheinende Text unvorhersehbar und ephemer, denn sobald der Leser eine neue Eingabe macht, ist der vorangegangene Text schon wieder verschwunden.44 Eine notwendige Konsequenz generativer Texte, deren Poetik darin besteht, ohne Unterlass erzeugt zu werden, veranschaulicht der Generator von Petchanatz mit dem Titel Cut Up (1992). Hier bleibt der durch ein Programm aus zwei unterschiedlichen Basistexten generierte Bildschirmtext noch nicht einmal stehen, sondern läuft unaufhörlich weiter. Während der Leser dabei kaum eine Chance hat, den Inhalt wahrzunehmen, demonstriert der Computer den generativen Prozess an sich, ohne Absicht gelesen zu werden.45

Abbildung 16: Bildschirmfoto aus »Cent Mille Milliards de Poèmes« (1989) Der französische Dichter Jean-Pierre Balpe gehört zu den avanciertesten Autoren, die sich mit der besonderen Philosophie der generativen Texterzeugung auseinandergesetzt haben: »Ce qui m’intéresse, c’est

version erstellt wurde. Daher ist der Generator entsprechend der zugrundeliegenden Idee auf 1014 Möglichkeiten begrenzt, obwohl die Pointe der meisten Textgeneratoren (gemäß ihrer Eigenschaften) im unendlichen Produzieren von Texten liegt. 44. Vgl. hierzu die Analyse in Kap. Computerpoesie/III, 1. 45. Vgl. hierzu die Analyse in Kap. Computerpoesie/III, 2. 109

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l’infinité des formes appliquée à la multiplication des choses. Ce qui m’intéresse, c’est l’infini! Non la durée, l’éternité; mais l’inépuisable: l’infini.«46 Balpe versteht unter generativer Literatur keine elektronisch verarbeitete Literatur (»littérature informatisée«), sondern ausschließlich Computerliteratur (»littérature informatique«), also Texte, die mit den Bedingungen des Computers arbeiten.47 Eine zentrale Rolle spielen dabei der Zufall, die Unendlichkeit, die Unvorhersagbarkeit und die rasche Vergänglichkeit der Texte: »L’usage littéraire de l’ordinateur n’a pas pour vocation de produire une souslittérature technologisée, aussitôt morte que née, une littérature d’atelier qui expose ses procédures.« 48 Dabei konzipiert der Autor nicht den Text, sondern lediglich seine Voraussetzung, er entwirft das Schema einer noch inexistenten Literatur: »Ce qu’il [l’auteur] donne à lire est alors à la fois un texte et son mode d’emploi.«49 In Stances d’amour éternel (1991), einem Liebesgedichtgenerator, hat der Leser die Möglichkeit zu mehreren Parametereingaben, die anschließend durch den Generator zu einem Gedichttext verrechnet werden. Zu Beginn von Stances erscheint auf dem Display acht Mal der Satz »Lettres d’amour«, der damit die gesamte Bildschirmfläche ausfüllt, als ob er damit signalisieren wollte, dass es sich hier um eine per se unzählbare Menge an Liebesgedichten handelt, die potentiell generiert werden können. Anschließend schickt das Programm eine leere Seite mit einer Art Menüleiste am oberen Rand, in der die Wahlmöglichkeiten, die dem Leser zur Generierung des Gedichts zur Verfügung stehen, aufgelistet sind. Er kann hier zunächst zwischen unterschiedlichen Stilen wählen – »schüchtern«, »mystisch«, »verzweifelt«, »demütig«, »zärtlich« etc. –, bevor sich ein zweites Fenster öffnet und der Computer weitere Parameter verlangt. Unter Eingabe von Ziffern kann der Leser nun die Länge, die Rhythmik oder die Variationen festlegen. Am unteren Bildrand erscheint nun ein letzter Rahmen, der Auskunft über die bisher eingegebenen Daten gibt. Entsprechend der Leistungsfähigkeit des Computerprozessors zum Errechnen der Daten benötigt das Programm etwa vier Minuten, um das gewünschte Gedicht zu generieren.50 In Hommage à Jean Tardieu (1993) dagegen bleibt dem Leser nur ein beliebiger Mausklick auf den Hintergrund, der die Generierung eines Gedichtes verursacht. Der Computer antwortet hierzu zuerst mit

46. Balpe 1997b, 81. 47. Balpe 1995, 19. 48. Balpe 1995, 22. 49. Balpe 1995, 25. 50. Vgl. auch Barras 1999, 161-164. Vgl. hierzu auch die Analyse in Kap. Computerpoesie/III, 2. 110

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dem Satz, »Juste un petit peu de patience. Je compose mon poème en hommage à Jean Tardieu«, und lässt anschließend vor dem Bildschirmhintergrund ein rechteckiges Textfeld erscheinen, in den der soeben zufallsgenerierte poetische Text geschrieben steht. Grundsätzlich unterliegt jeder Textgenerator der Vorannahme, dass jeder so entstandene Text Teil eines stets unvollendeten Projekts ist, da ein derart programmierter Computer in der Lage ist, unendlich viele Texte auf der Basis der jeweiligen Regeln zu generieren. »Ne me demandez pas ce qu’il va écrire«, bittet Balpe, »je n’en ai qu’une vague idée… Tout ce que je peux affirmer, c‘est qu’il pourrait écrire ainsi, ou autrement, à l’infini, et que, s’il recommence dans une heure, ce qu’il écrira sera différent.«51

Hypertextpoesie Während die Form des Hypertexts als wichtigste Textstruktur im Internet dominiert und dort zur Vernetzung unterschiedlichster Textfragmente genutzt wird, scheint sie für den Bereich der Poesie unbrauchbar. Wenn man eines der allgemeinen Kriterien zur Definition von Poesie heranzieht, dann ist es gerade die Kürze und Knappheit der Texte (gegenüber z.B. episch narrativen Erzählungen), die sie als Form oder Gattung auszeichnet. Linkstrukturen jedoch, wie man sie aus Hypertexten kennt, organisieren große Textmengen, um möglichst viele Zusatzinformationen zusammenzustellen (Informationstexte) oder die narrative Struktur möglichst vielschichtig zu gestalten (literarische Erzähltexte/Hyperfiction). Dennoch gibt es Versuche in der Poesie, mit hypertextuellen Organisationsformen zu experimentieren, wie man vor allem an den Arbeiten The Barrier Frames und Diffractions through von Jim Rosenberg sehen kann. Im Zentrum steht dort das Problem der (Un-)Möglichkeit, Textpassagen oder einzelne Wörter ohne Verlust auf deren Lesbarkeit zu überlagern: »Consideration of my work in poetry over more than twenty-five years begins with an analysis of the difficulties of juxtaposition for the poet.«52 Während man zwei Klänge zur gleichen Zeit erzeugen kann und als Resultat einen Mischklang erhält oder durch zwei Farbpigmente einen Mischton herstellen kann, ist es Schrift nicht möglich, zwei Wörter übereinanderzuschreiben und gleichzeitig ein neues, durch zwei andere Worte synthetisiertes (Misch-)Wort, zu erhalten. »Whether it is done by means of sound – either via simultaneous readings by multiple performers, or by overlaying magnetic or digital media – or visually, the result of juxta-

51. Balpe 1995, 19. 52. Rosenberg 1996a, 103. 111

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posing words – in the almost palpable physical sense of putting them directly on top of one another – is likely to be sheer unintelligibility: one will be lucky to make out any of the words at all.«53 Ist es dennoch möglich, Überlagerungen vorzunehmen, ohne die Lesbarkeit der Texte zu opfern? Jedes Wort hat eine strukturelle Funktion, steht also in direkter Beziehung zu einem anderen Wort kraft seiner Platzierung innerhalb der syntaktischen Ordnung. Ein sinnvoller Satz, in dem die Wörter nur anwesend sind, ohne zueinander in Beziehung zu stehen, ist schwer vorstellbar. Als Methode bleibt also entweder nur die Überlagerung der Satzteile mit gleichzeitigem Verlust der Lesbarkeit oder die Aufrechterhaltung der syntaktischen Struktur, die jedoch keine Überlagerungen duldet. »One could say that syntax ›has no zero‹: in a sentence every element has it structural role with respect to the syntax diagram, or parse tree; there is no way to have words in a sentence whose syntactical relationship to one another is the null relationship: nothing at all except that they are brought together.« 54 Zunächst arbeitete Rosenberg mit Graphik- sowie mit Hypertextprogrammen, durch die er jedoch seine Vorstellung eines übereinandergelagerten Textes nur bedingt realisieren konnte, da Hypertextprogramme zwar eine nichtlineare Verknüpfung erlauben, nicht aber Textschichten, die übereinandergesetzt sind. Graphikprogramme hingegen ermöglichen zwar eine Überlagerung, aber nur mit dem Verlust der Lesbarkeit des Textes. Interaktive Software (HyperCard) schien schließlich die Lösung zu sein, auf deren Basis die Hypertextgedichte Intergrams (1993), Diffractions through (1996) und The Barrier Frames (1996) entstanden. Sie bestehen aus einer Grundkonstruktion, d.h. einem Anfangszustand, den der Autor »Simultaneität« nennt: Alle Wörter sind am gleichen Ort platziert, so dass man zunächst ein unleserliches Textgewirr sieht. In diesem Zustand nennt Rosenberg die gleichzeitige Präsenz aller Fragmente (Simultaneität) »geschlossen«. Der Weg, sie zu öffnen, besteht nun darin, den Cursor durch die Bewegung der Maus zu einem bestimmten »hot spot« (visuell nicht gekennzeichneter Link) auf dem Bildschirm zu führen. Wenn der Cursor diese Kontaktstelle erreicht, werden bis auf eine Schicht automatisch alle anderen Schichten der »Simultaneität« ausgeblendet: Die eine sichtbare Schicht kann nun von den übrigen Textfragmenten ungehindert gelesen werden und ist dennoch Teil der Gesamtüberlagerung, da der Ausgangszustand der komplexen Textschichtung bei Verlassen des »hot

53. Rosenberg 1996a, 104. 54. Rosenberg 1996a, 104. 112

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spots« sofort wieder hergestellt wird. Auf diese Weise wird Lesen doppelt zeitabhängig – von der individuellen Lesezeit des Rezipienten und der Zeit, in der der Text freigelegt, d.h. überhaupt lesbar ist. Diffractions through ist ein interaktives Gedicht in diagrammatischer Form. Die Gesamtstruktur, die aus acht Textclustern besteht, wird von einem Hauptdiagramm (»master diagram«) zu Beginn der Lektüre gezeigt, das durch eine Pfeilstruktur die syntaktische Beziehung der acht Cluster veranschaulicht. Alle Cluster erscheinen in Kleinformat und sind gleichzeitig die entsprechenden Icons, um den jeweiligen Textabschnitt zu öffnen (Abb. 17). Ruft man einen dieser Cluster auf, zeigt die Anfangseinstellung alle Textschichten dieses Clusters übereinandergelagert (Abb. 18). Bei Bewegung der Maus zum unteren Bildrand, an dem sich eine Reihe weißer Kästchen befindet, kann durch Berührung des jeweiligen Kästchens die entsprechende Schicht freigelegt und ohne die übrigen Schichten sichtbar gemacht werden. Jeder Cluster besteht aus einer Überlagerung mehrerer Einzelbilder, die in zwei Arten unterschieden werden können: Wortnetze (»word nets«, Abb. 19) und Unterdiagramme (»sub-diagrams«, Abb. 20). Die »word nets« bestehen aus mehreren Sätzen, die in einer nichtlinearen Weise angelegt sind. Jeder Satz innerhalb eines Wortnetzes ist in einer anderen Schriftart geschrieben und beginnt jeweils mit einem Großbuchstaben. Der Satz besteht aus mehreren Wortgruppen (in Abb. 19 bis zu dreizeiligen Gruppen), die räumlich verteilt angeordnet sind und in einer »normalen« Ordnung (von links oben nach rechts unten) gelesen werden. Dabei können die Gruppen jedoch vom Leser permutiert werden, wie der Autor in der Einleitung zu Diffractions through ankündigt: »[H]owever the groups may be strung out through the screen space in any direction. I. e. you may need to read the groups from the bottom up or from right to left.«55 Das »sub diagram« verknüpft Wörter in einer bestimmten syntaktischen Ordnung, die durch ein System von Pfeilen definiert ist.56

55. Rosenberg 1996b, o. S. 56. Rosenberg 1996b, o. S. 113

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Abbildungen 17-20: Bildschirmfotos aus »Diffractions through« (1996)

Abbildung 17

Abbildung 18

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Abbildung 19: »word net«

Abbildung 20: »sub diagram«

Das Hypertextgedicht The Barrier Frames besteht aus neun Teilen, die ebenfalls in der ersten Einstellung als räumliche Übersichtskarte präsentiert werden (Abb. 21). Während die Freilegung der Textschichten bei Diffractions noch nacheinander verlief, indem der Leser jede Seite 115

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einzeln auf dem Bildschirm isolieren konnte, ist in The Barrier Frames die Schichtstruktur deutlicher zu erkennen, da die »hot spots« wesentlich empfindlicher reagieren. Lesen wird damit zum vorsichtigen Ertasten und zeitlich deutlich eingeschränkten Wahrnehmen (Abb. 22). Man könnte sagen, dass Rosenberg durch das Konzept der Übereinanderlagerung die Art und Weise, in der Hypertexte normalerweise organisiert sind, auf den Kopf stellt. Während der Ort, das »Hier« im Hypertext gewöhnlich die jeweilige geöffnete Lexia auf dem Bildschirm ist und die anderen Verknüpfungen nur potentiell bleiben, präsentiert der Autor gleich alle Textschichten auf einmal. Das Prinzip der Vernetzung ist dabei konsequent zu Ende gedacht, da Rosenberg nicht nur Textfragmente aneinander knüpft, sondern die Technik der Verknüpfung in das Innere der Sprachstruktur selbst verlegt: »Hypertext does not go nearly far enough. The non-linearity should be extended all the way down into the fine structure of language. Syntax itself can operate through the same kinds of operations as the hypertext link.«57 Abbildung 21 und 22: Bildschirmfotos aus »The Barrier Frames« (1996)

Abbildung 21

57. Rosenberg 1991, 4. Vgl. hierzu auch die Analyse in Kap. Computerpoesie/ III, 1. 116

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Abbildung 22

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II. Historischer Kontext: Anfänge und Vorläufer Entgegen vielen Vermutungen zeigt Computerpoesie, im Gegensatz zum Hypertext, überraschend wenig Parallelen mit dem derzeit aktuellen Diskurs über Medien- bzw. Netzkunst. Philippe Castellin und Jean Torregrosa von der Multimediagruppe AKENATON weisen mit ihrer Antwort auf eine Frage zur heutigen Situation der elektronischen Poesie darauf hin, dass es sich bei Computerpoesie um eine spezielle Form der experimentellen Poesie handelt, die auf ihrem Entstehungsweg andere Vorgänger, Entwicklungsstufen und Impulse erfahren hat als Formen der Medien- oder Netzkunst im Allgemeinen: »Notre travail se situe, au point de départ, dans le champ de la poésie expérimentale: nous ne nous sentons guère le droit de parler quant à l’art électronique en général.«1 Selbstredend ist Computerpoesie auch von Medien- und Netzkunst bzw. Video, Film und Fernsehen, Graphikdesign, Werbung, elektronischer Musik oder Computerspielen beeinflusst, und es gibt zahlreiche Mischformen, die sich längst in einem permanenten transitorischen Zustand zwischen zwei oder mehreren Genres befinden. Dennoch gehen die Anfänge der elektronischen Poesie, insbesondere ihre Konzeption und ihre poetologischen Ziele, überwiegend auf eine Zeit zurück, in der die experimentelle Poesie auf der Suche nach radikal neuen poetischen Ausdrucksformen auch die Möglichkeiten der Informations- und Datenverarbeitung einbezog. Sowohl aus dem Selbstverständnis der Autoren als auch aus den thematischen und formalen Bezügen der elektronischen Arbeiten lässt sich erkennen, dass sie vor dem Hintergrund früher Avantgardebewegungen wie Dadaismus, Futurismus, Kubismus, Konstruktivismus und Lettrismus und deren nachfolgende Formen wie L=A=N=G=U=A=G=E, Spatialismus, Lettrismus, Beat, visuelle oder konkrete Poesie und Fluxus entstanden sind. In den 1960er Jahren bildeten sich in loser oder enger Zusammensetzung Zentren der experimentellen Poesie. Ihre Mitglieder wid-

1. Es handelt sich hierbei um ein Interview von Marc Roudier mit der Multimediagruppe Akenaton über die Sondernummer der elektronischen Zeitschrift Alire10/ DOC(K)S 1997 und die derzeitige Position der Computerpoesie in der Medienkunst (http://www.sitec.fr/users/akenatondocks/). 118

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HISTORISCHER KONTEXT

meten sich der Suche nach neuen Schreibtechniken, Ausdrucksmöglichkeiten, Materialien, Distributionsformen und Synthesen einzelner Kunstformen. Die erste Generation der Computerdichter arbeitete noch am Übergangsbereich beider Medien (Papier und Computer) und hatte damit eine verbindende Funktion.2 Auffallend ist der internationale Charakter, der, über die Grenzen Frankreichs, Portugals, der Bundesrepublik Deutschlands und Brasiliens (u.a.) hinweg, den literarischen Austausch und gegenseitigen Einfluss zu einer Bewegung vernetzte. Die ersten elektronischen Versuche gingen von drei Gruppen aus, die Schnittstellen zwischen experimenteller Druckpoesie und Computerpoesie bildeten: die Stuttgarter Gruppe, Noigandres und OuLiPo. Aus Letzterer spalteten sich in den 1980er Jahren erneut zwei Gruppen ab, die kennzeichnend für zwei unterschiedliche Wege sind, die die Computerpoesie seither eingeschlagen hat. Einerseits eine mathematisch orientierte kombinatorische bzw. generative Poesie, die auf der Grundlage bestimmter Programme in unendlicher Weise produziert werden kann, und andererseits eine visuell und auditiv orientierte Multimediapoesie, deren Hauptmerkmal die Animation der Schrift ist. Es ist daher wichtig, die engsten Verbindungen zu rekonstruieren, die Impulse und ersten Anfänge der Computernutzung, um zu erkennen, aufgrund welcher Motivationen, welcher Zufälle oder welcher Utopien ein Wechsel zwischen den Schreibtechniken stattgefunden hat. Es handelt sich hierbei vorwiegend um Gruppen, die in besonderer Nähe zur Kybernetik, zur Informations- und Spieltheorie, zur Semiotik und zur Mathematik standen. Die Frage richtet sich auf die literarischen (und auch geographischen) »Orte«, an welchen Computerpoesie ihren Anfang genommen hat.

1. Chronologischer Abriss Über 40 Jahre sind seit der Generierung erster stochastischer Texte vergangen, in denen sich Computerpoesie von den ersten Lochkartenexperimenten bis zu heutigen, mit dem gesamten Körper begehbaren virtuellen Textuniversen entwickelt hat. An den einzelnen Daten kann man ablesen, wie sich aus verstreuten Versuchen, den Computer ästhetisch in den Produktionsprozess einzubeziehen, allmählich Gruppen etablierten, deren Arbeiten heute Gegenstand von Ausstellungen oder elektronischen Publikationen sind. Die Autoren von anfänglich noch vereinzelten Experimenten entwickelten bald eine Dynamik, die aus

2. Vgl. auch das Interview von Roudier mit der Multimediagruppe Akenaton (http://www.sitec.fr/users/akenatondocks/DOCKS-datas_f/forums_f/theory_f/AKENA TON_f/akenaton.html). 119

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der Computerpoesie nicht nur ein internationales Phänomen machte, sondern diese auch institutionell durch Symposien und Zeitschriften etablierte. Die folgenden Daten entstammen verstreuten Texten, die die Entwicklungsabschnitte der Computerpoesie dokumentieren. Die Daten wurde hier in einen chronologischen Verlauf von 1959 bis heute gebracht, der die bereits weitverzweigte und reichhaltige Geschichte von vier Jahrzehnten nachzeichnet.3 1959 Theo Lutz (Schüler von Max Bense) veröffentlicht in der Ausgabe augenblick (Okt./Nov.) der Zeitschrift für Tendenz und Experiment einen Artikel unter dem Titel: Stochastische Texte, in dem er seine Experimente mit der Großrechenanlage ZUSE Z 22 beschreibt. In Zusammenarbeit mit dem Mathematiker Ian Sommerville realisiert Brion Gysin das Gedicht I am that I am, das 120mal nach einer mathematischen Formel permutiert wird. 1965 gelingt den beiden Autoren eine Permutation bis ins Unendliche durch den Computer Honeywell. 1960 24. November: Gründung der Literaturwerkstatt OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle) durch Raymond Queneau und den Mathematiker François Le Lionnais 1961 Oktober: Nanni Balestrini, Mitglied der Gruppe 63, schreibt in Mailand das Gedicht Tape Mark I mit dem Computer IBM 7070. Es basiert auf drei unterschiedlichen Texten (darunter u.a. das Journal d’Hiroshima von Michihito Hachiya und das Taoteking von Laotse), die in Sinneinheiten zerlegt und nach metrischen Regeln rekombiniert werden. 5.-7. Mai: Kolloquium Morsbroicher Kunsttage 1961 in Schloß Morsbroich. Max Bense hält einen Vortrag mit dem Titel: Zeitgenössische Literatur in Deutschland, der sich vor allem mit Computertexten auseinandersetzt. 1962 François Le Lionnais verfasst das erste Manifest der Gruppe OuLiPo unter dem Titel: La Lipo. In der von Max Bense und Elisabeth Walther herausgegebenen Reihe rot erscheint Abraham A. Moles Erstes Manifest der permutationellen Kunst. 1963 April: Nanni Balestrini schreibt mit dem Computer IBM 1401 das Gedicht Tape

3. Der chronologische Abriss versammelt u.a. Daten aus folgenden Texten: Bootz 1996, Döhl 1997a/2001, Donguy 1997, Vuillemin 1997. Da die Aktivitäten in der Computerpoesie weitverzweigt und daher schwer zu dokumentieren sind, erhebt diese Synopse keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vgl. zur historischen Entwicklung der Computerpoesie auch Block 2001. 120

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Mark II, das nach denselben Regeln wie Tape Mark I (1961) funktioniert, jedoch auf der Basis von Balestrinis eigenen Texten angelegt ist. Augusto de Campos, Mitglied der südamerikanischen Noigandres-Gruppe, verfasst das Permutationengedicht ACASO. 29. Oktober: 3. Biennale im Musée d’Art Moderne in Paris, im Rahmen derer die Veranstaltungsreihe Art du langage mit Gedichten der Stuttgarter Gruppe (u.a. Heißenbüttel, Döhl, Harig) stattfindet. 1964 2. Oktober: Konferenz an der Universität Liège unter dem Titel: Machines Logiques et Electroniques et Littérature, veranstaltet von François Le Lionnais (OuLiPo). Clair Philippy, Informatiker der RCA Service Company aus Pennsylvanien, USA, programmiert ein Vokabular aus 100 Wörtern, das der Computer anschließend in Strophen ordnet. Jean A. Baudot veröffentlicht La Machine à Ecrire (Paris), eine Sammlung freier Verse, die mit dem Computer und der Software PHRASE generiert wurden. Max Bense und Reinhard Döhl verfassen das Manifest der Stuttgarter Gruppe: Zur Lage. Es handelt sich u.a. um eine Beschreibung experimentell erprobter Textsorten. 1965 Emmett Williams, konkreter Dichter aus den USA, realisiert ein Computergedicht unter Verwendung von 101 Wörtern aus Dantes Göttlicher Komödie. 1966 Emmett Williams realisiert The IBM Poem (The ultimate poem). Das Spiel besteht darin, dass 26 zufälligen Wörtern 26 Buchstaben des Alphabets zugeordnet sind. Ein beliebiger Satz wird nun durch die den Buchstaben zugeordneten Wörter Buchstabe für Buchstabe ersetzt usw. 1967 John Morris veröffentlicht in der Michigan Quarterly Review einen Artikel unter der Überschrift: How to write Poems with a computer. Er beschreibt darin ein Haïku-Programm, das aus einer zuvor definierten Vokabelliste Gedichte generiert. Anlässlich der Weltausstellung realisiert Jean A. Baudot eine zweite Version seines Gedichtgenerators PHRASE, REPHRASE, der in Zusammenhang mit dem Theaterstück Equation pour un homme actuel steht. Manfred Kruse und Götz F. Schaudt programmieren und publizieren einen Band mit dem Titel: Computer-Lyrik. Poesie aus dem Elektronenrechner. 1968 Anlässlich der Geburtstagsfeier für Guillaume Apollinaire im Londoner Institute of Contemporary Art (I.C.A.) entwirft Emmett Williams in Zusammenarbeit mit Peter G. Neumann das Gedicht Guillaume Apollinaire. Es handelt sich um ein »visualsound-poem«, das auf den Wörtern GUILLAUME APOLLINAIRE basiert.

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2. Aug.-20. Okt.: Ausstellung Cybernetic Serendipity im Londoner Institute of Contemporary Art (I.C.A.), veranstaltet von Jasia Reichardt. Die Ausstellung ist in mehrere Sektionen unterteilt: »Computers and music«, »Computerprogrammed choreography«, »Computer poems and texts«, »Computer paintings«, »Computer films« und »Computer graphics«. Besucher der Ausstellung können mit dem von Alan Sutclife realisierten Programm SPASMO nach einer Idee von Margaret Masterman und Robin McKinnin Wood eigene Haïkus generieren lassen und den Ausdruck anschließend mit nach Hause nehmen. Der Saarländische Rundfunk sendet Die Maschine von George Perec (in einer Übersetzung von Eugen Helmlé). Das Hörspiel simulierte die Arbeitsweise eines Computers. 1970 Dick Higgins veröffentlicht Computers for the Arts (Somerville, Mass.), eine theoretische Reflexion der Computerdichtung mit Beispielen. Der Westdeutsche Rundfunk sendet den Radioessay Sprache und Elektronik. Über neue technische Möglichkeiten, Literatur zu erstellen und rezipieren von Reinhard Döhl. 1971 Die große Amsterdamer Wanderausstellung klankteksten /? konkrete poezie / visuele teksten macht in Stuttgart im Württembergischen Kunstverein Station. An Konzept, Katalog und Aufbau waren maßgeblich Mitglieder der Stuttgarter Gruppe beteiligt. Die Ausstellung ging von Antwerpen über Nürnberg, Liverpool auch nach Oxford. 1972 Staatsgalerie Stuttgart: Grenzgebiete der bildenden Kunst. Wanderausstellung mit folgenden Sektionen: »Konkrete Poesie / Bild Text Textbilder«, »Computerkunst« und »Musikalische Graphik« 1973 Richard W. Bailey veröffentlicht in den USA eine Anthologie über Computerpoesie. Darin enthalten sind 17 Autoren aus den USA, Kanada, Großbritannien. Abraham A. Moles veröffentlicht unter Mitarbeit von Marie-Luce André Kunst &Computer. (Köln). 1974 Carole Spearin McCauley veröffentlicht Computers and Creativity. (New York). 1976 Julien Blaine gründet die Zeitschrift DOC(K)S, die 1990 als elektronische Zeitschrift von der Multimediagruppe AKENATON fortgesetzt wird. 1977 Philippe Bootz unternimmt erste Experimente in Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Jean-Michel Helincks an der Ecole Universitaire des Ingénieurs de Lille (EUDIL). Juni: Das A.R.T.A. ( = Atelier de Recherches Avancées du Centre d’Art et de Culture George Pompidou) organisiert die Schriftsteller-Computer-Tage, anlässlich 122

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derer u.a. die computergenerierte Fassung von Cent Mille Milliards de Poèmes von Raymond Queneau und Paul Brafford gezeigt wird. 1978 18. Juli: Die computergenerierte Fassung von XLIe Baiser d’Amour von Quirinius Kuhlmann (1651-1689) und Paul Brafford wird im C.I.R.C.A. de la Chartreuse de Villeneuve-les-Avignon gezeigt. 1981 Claude Maillard realisiert mit dem Computer Matière de Vertige, eine Arbeit, die sich zwischen Buchstaben und Braille bewegt. Später wird die Arbeit unter dem Titel Machines Vertige (unter Verwendung abstrakter, informatischer Icons) weitergeführt. Juli: Gründung der Gruppe A.L.A.M.O. (Atelier de Littérature Assistée par la Mathématique et l’Ordinateur) durch Paul Braffort und Jacques Roubaud. Roger Laufer produziert an der Universität Paris VIII in Zusammenarbeit mit Michel Bret einen kleinen animierten Text mit dem Titel: Deux Mots. 1983 Roy Ascott initiiert das Kollektivprojekt La Plissure du Texte für die Ausstellung Electra am Musée d’Art Moderne in Paris. 1984 Texte Autre: eine Ausstellung, veranstaltet von Mots-Voir in Villeneuve d’Ascq. Die französische Literaturzeitschrift Action Poétique veröffentlicht unter dem Titel A.L.A.M.O.: écriture et informatique eine Sondernummer (Nr. 95). Jean-Pierre Balpe realisiert eine Software, die 32.500 Rengas produziert. Guillaume Loizillon veröffentlicht traitement du texte. In: Intervention 22/23 Marathon/écritures (Frühjahr). Die Multimediagruppe AKENATON wird von Philippe Castellin und Jean Torregrosa ins Leben gerufen. 1985 Ausstellung: Les Immatériaux im Centre George Pompidou in Paris. Die erste telematische Kunstzeitschrift, Art Access, unter der Regie von Orlan und Frédéric Develay wird anlässlich der Ausstellung Les Immatériaux im Centre Pompidou in Paris ins Leben gerufen. Kolloqium Génération automatiques de textes in Cerisy, veranstaltet von JeanPierre Balpe und Bernard Magné. 1986 Zweite und letzte Ausgabe von Art Access wird veröffentlicht, mit Texten von Frédéric Develay, Tibor Papp und Philippe Bootz. Jean-Pierre Balpe veranstaltet La Bibliothèque du Futur im Centre George Pompidou in Paris. Ausstellung Images et Mots in Villeneuve d’Ascq. 123

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1987 Anlässlich einer Hommage an Kurt Schwitters verfasst der New Yorker FluxusKünstler Jackson Mac Low 42 Merzgedichte in memoriam Kurt Schwitters unter Verwendung unterschiedlicher Computer. 1988 21.-23. Oktober: Eröffnung der Maison de la Poésie des Nord Pas de Calais (lokales Lyrik Festival), veranstaltet in Beuvry-les-Béthune im Pas de Calais. Die Gruppe L.A.I.R.E. (Lecture, Art, Innovation, Recherche, Écriture) wird gegründet. 1989 Januar: Die erste Ausgabe der elektronischen Literaturzeitschrift Alire wird publiziert und im Rahmen der Revue parlée im Centre George Pompidou in Paris präsentiert. 1991 Die erste Ausgabe der elektronischen Literaturzeitschrift KAOS wird publiziert (letzte Ausgabe 1994). Jean-Pierre Balpe veröffentlicht L’Imaginaire Informatique de la Littérature. (Colloque de Cerisy; Saint-Denis). 1992 12. Sep.-3. Okt.: p0es1e. digitale dichtkunst. Ausstellung computergenerierter Gedichte in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge, kuratiert von André Vallias und Friedrich W. Block (unter Mitwirkung von Augusto de Campos, Richard Kostelanetz, Fritz Lichtenauer, Jim Rosenberg, Silvestre Pestana, Arnaldo Antunes, Eduardo Kac), gewidmet Vilém Flusser. 1993 6. April: (Pré)texte à voir: Ausstellung, organisiert von Art 3000 in Paris. Es wurden 24 Werke durch die Medien Computer und Video präsentiert. 12. Mai: Kolloquium A:\ LITTERATURE an der Universität Lille 3 (Colloque Nord Poésie et Ordinateur), organisiert von Mots-Voir unter Mitwirkung des Forschungszentrums CIRCAV-GERICO und der Maison de la Poésie (Nord-Pas-de-Calais). 1994 Philippe Bootz: A:\ LITTERATURE. (Colloque Nord Poésie et Ordinateur). Roubaix, Villeneuve d’Ascq (Konferenzband + 2 Floppy-Disketten). 20.-22. April: Kolloquium Journées d’Etudes Internationales sur Littérature et Informatique (Littérature générée par Ordinateur). in Paris VII Jussieu, veranstaltet von Michel Lenoble und Alain Vuillemin. 9.-10. September: Symposium Max Bense in der Stadtbücherei im Wilhelmspalais Stuttgart. Sektionen: I Semiotik und Ästhetik, II Ungehorsam der Ideen, III Wirkungen. 1995 Alain Vuillemin und Michel Lenoble (Hg.): Littérature et Informatique/La Littérature Génerée par Ordinateur. Artois.

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Louise Poissant (Hg.): Esthétique des arts médiatique. 2 Bde. Saint-Foy. 1996 Jacques Donguy: Tag-Surfusion. Programme von Guillaume Loizillon. Paris. Die Zeitschrift Visible Language veröffentlicht eine Sondernummer mit dem Titel New Media Poetry. Poetic Innovation and New Technologies, die unterschiedliche Formen der Computerpoesie gewidmet ist. Herausgeber ist der Medienkünstler Eduardo Kac. 1997 Alire10/DOC(K)S: Poésie animée par ordinateur (1997). Hg. v. Akenaton. Ajaccio (CD-ROM und Begleitbuch). 2000 27. Mai-16. Juni: Schrift und Bild in Bewegung – Ausstellungen, Installationen, Performances in München Gasteig, veranstaltet vom Medienforum München e.V. 20.-21. Oktober: 1. Forum Ästhetik digitaler Literatur Kassel/Erfurt, veranstaltet von Friedrich W. Block, Christiane Heibach und Karin Wenz an der Universität Gesamthochschule Kassel. p0es1s. Internationale digitale Poesie. Ausstellung in Kassel, kuratiert von Friedrich W. Block in Zusammenarbeit mit André Vallias. Start der p0es1s-Website: Plattform für digitale Dichtung, entworfen und installiert von Friedrich W. Block und André Vallias. 2001 18.-21. April: e-poetry. An International Digital Poetry Festival, Buffalo, NY. 27.-30. September: p0es1s. poetics of digital text – Poetologie digitaler Texte. Symposium, veranstaltet von Friedrich W. Block, Christiane Heibach und Karin Wenz in der Universität Erfurt und der LiteraturWerkstatt Berlin. 2002 Friedrich W. Block, Christiane Heibach und Karin Wenz (Hg.): p0es1s. Ästhetik digitaler Literatur. Aesthetics of digital literature. Kodikas/Code. Ars Semeiotica. An international Journal of Semiotics, Vol. 24, No. 3-4. 2003 23.-26. April: e-poetry. An International Digital Poetry Festival veranstaltet von Loss Pequeño Glazier an der West Virginia University, Morgantown, USA. Es besteht Konsens darüber, dass der erste Versuch, mit dem Computer Texte zu generieren, im Jahre 1959 von Theo Lutz, einem Schüler Max Benses, unternommen wurde.4 In den 1960er Jahren stand noch

4. Vuillemin datiert in seiner Studie Informatique et Littérature (1950-1990) erste Projekte zur computergestützten Textarchivierung in die Mitte der 1950er Jahre. Gleichzeitig schränkt er ein, dass zu diesem Zeitpunkt Rechenanlagen noch nicht in der Lage waren, literarische Information so zu behandeln, wie es später (erst Ende der 1950er Jahre) im Falle der Computerpoesie kennzeichnend war. Vuillemin 1990, 24. 125

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kein Desktop-Computer zur Verfügung, sondern Großrechenanlagen, die zudem noch keine graphisch-visuellen Benutzeroberflächen hatten, sondern lediglich Monitore, auf deren Bildschirmen wiederum nur Zahlen in Form von Codes zu sehen waren. Da mit Hilfe der Großrechenanlagen fast ausschließlich komplexe Rechnungen durchgeführt wurden, lag es nahe, die Konzeption von literarischen Texten diesen Rechenprozessen anzugleichen. Aufgrund noch fehlender Bildschirme standen kombinatorische Textstrategien der damaligen Verwendung des Großrechners näher, als visuelle Manipulationen der Schrift auf der Oberfläche. Die Idee, den Computer auch für die Arbeit mit alphabetischer Schrift einzusetzen, wurde in dieser Zeit erst allmählich entwickelt. So entstanden erste Programme zur Übersetzung von alphabetischen Texten in andere Sprachen sowie zur automatischen Erstellung von Kurzfassungen wissenschaftlicher Texte, was die an einer textuellen Arbeit mit dem Computer Interessierten ermutigte, weitere Experimente durchzuführen: »Die Existenz solcher Programme demonstriert wohl eindeutig, daß sich die Verwendung programmgesteuerter elektronischer Rechenanlagen tatsächlich nicht nur auf Probleme beschränkt, die an den Begriff der Zahl gebunden sind. Der Begriff ›Rechnen‹ erhält durch solche Programme eine wesentlich allgemeinere Bedeutung. Für die Benutzer einer solchen Anlage ist nicht entscheidend, was die Maschine tut; wichtig ist allein, wie man die Funktion der Maschine interpretiert.«5 Lutz entwickelte für die Großrechenanlage ZUSE Z 22 ein Programm zur Erzeugung computergenerierter Texte auf der Basis einer bestimmten Auswahl von Subjekten, Prädikaten, logischen Operatoren, logischen Konstanten und dem Wort »ist«. Die Grundlage bildete hierzu Franz Kafkas Roman Das Schloss. Als Ergebnis erhielt Lutz einen ausgedruckten Text, der aus computergenerierten Sätzen bestand: NICHT JEDER BILCK IST NAH. KEIN DORF IST SPAET. EIN SCHLOSS IM FREIEN UND JEDER BAUER FERN. JEDER FREMDE IST FERN. EIN AUGE IST TIEF: NICHT JEDES SCHLOSS IST ALT. JEDER TAG IST ALT. NICHT JEDER GAST IST WÜTEND. EINE KIRCHE IST SCHMAL. usw.6 Besonders deutlich ist zu erkennen, dass das Programm mit logischen Operatoren (ein, eine/jeder, jede/kein, keine/nicht jeder, nicht jede) gespeist war, die logische Verknüpfungen im Stil elementargeometrischer Lehrsätze zuließen. Dies lag deshalb besonders nahe, da zuvor in

5. Lutz 1959, o. S. 6. Lutz 1959, o. S. 126

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den USA ein Computerprogramm entwickelt wurde, das mathematische Lehrsätze auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen sollte. Die (un-)freiwillige Beeinflussung literarischer Texte durch mathematische Programme aus den Anfängen der Computerzeit wird hier besonders deutlich. Die Idee Wahrscheinlichkeits- und Zufallsoperationen mit literarischen Experimenten zu verknüpfen, lag aus zwei Gründen nahe: Zum einen wurde in dieser Zeit der Computer vornehmlich zu mathematischen Rechnungen und insbesondere stochastischen Operationen eingesetzt, zum anderen war man an einer Loslösung der Texte von subjektiver Autorschaft zugunsten einer Unterwerfung unter aleatorische Mechanismen interessiert. Der Einsatz des Computers zur Erstellung kombinatorischer Texte lag auf der Hand und bildete die erste Schnittstelle zwischen Computertechnik und Poesie. Die Literaturwerkstatt OuLiPo erkannte den Nutzen des Computers bei der konzeptionellen Arbeit an kombinatorischer Literatur als eine der ersten und hielt 1962 programmatisch fest: »Ce que certains écrivains ont introduit dans leur manière […] l’Ouvroir de Littérature Potentielle (OuLiPo) entend le faire systématiquement et scientifiquement, et au besoin en recourant aux bons offices des machines à traiter l’information.«7 In den 1960er und 1970er Jahren basierten die mit dem Computer erstellten Texte überwiegend auf der Grundlage eines Programms, das mit Hilfe eines Zufallsgenerators unter Verwendung zuvor eingegebener, bereits existierender (Druck-)Texte neue computergenerierte Texte zusammenwürfelte und anschließend ausdruckte. Die Arbeiten waren, aufgrund der noch aufwändigen und teuren Technik der Großrechenanlagen, auf eine Minderheit der Avantgarde beschränkt, die »sich in einem spielerischen, nicht-erzählerischen und auf ihre Materialität orientierten Umgang mit Sprache verschrieben hatte«8. Es entstand eine Reihe von Softwareprogrammen, die mit dem Namen der Gedichtform, die sie generierten, benannt waren: HAIKU, AMOUR, RENGA (Jean-Pierre Balpe), PHRASE/REPHRASE (Jean A. Baudot). Es handelt sich dabei um Programme zur Erzeugung eines bestimmten Gedichttypus, wobei das Interesse der Dichter eher in der Erstellung der Software lag als am Endprodukt, das vielmehr lediglich das Funktionieren des Programms überprüfte. Hier entstand eine literarische Ästhetik, die sich vornehmlich mit dem Herstellen von Texten unter Computerbedingungen auseinandersetzte. Die Eigenschaft des Computers, algorithmische Berechnungen in einer kurzen Zeit auszuführen, war auch der Anlass, bereits existierende permutative und kombinatorische Texte, die in der Lyrikgeschichte eine lange Tradition haben,

7. Le Lionnais 1999b, 17. 8. Schmidt-Bergmann und Liesegang 2001, 11-12. 127

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gleichsam unter neuen Produktionsbedingungen wieder aufzunehmen. Lutz bemerkt hierzu: »Unser Programm hatte die Aufgabe, das im allgemeinen recht mühsame Herstellen von stochastischen Texten zu übernehmen. Früher hatte man solche Texte bestimmt, indem man durch Würfeln oder einen sonstigen Zufallsprozeß Sätze oder Satzteile auswählte und diese aneinander setzte.«9 Zur selben Zeit wurde ein Programm für das im 17. Jahrhundert verfasste Permutationengedicht Le XLIe Baiser d’Amour von Quirinus Kuhlmann entwickelt. Emmett Williams realisierte 1966 ein permutatives Computergedicht mit dem Titel The ultimate poem (The IBM poem). Die Idee entsprang einem spielerischen Verfahren der konkreten Dichtung. Grundlage waren 26 zufällig ausgewählte Wörter, denen jeweils einer der 26 alphabetischen Buchstaben zugeordnet wurde10, so dass als Resultat ein »Alphabet der Wörter« entstand. Ein weiteres Wort wurde anschließend als Titel gewählt und jeder seiner Buchstaben mit dem Wort ersetzt, das dem Alphabet der Wörter entsprach. Dieses Verfahren generierte eine Gedichtzeile. Als Titel wählte Williams IBM (gemäß dem Computertyp, mit dessen Hilfe der Text entstand). Daraus ergab sich anschließend die erste Zeile: »red up going«. Die zweite Zeile lautete: »perilous like sex« (für »red«), »yes hotdogs« (für »up«) und »evil jesus red black evil« (für »going«) und so fort. Die erste Sammlung computergenerierter Gedichte war die Publikation La Machine à Ecrire von Jean A. Baudot Mitte der 1960er Jahre. Carole McCauley beschrieb in ihrem 1974 publizierten Buch Computers and Creativity ausführlich unterschiedliche Softwareprogramme zur Erstellung generativer Lyrik, wofür sie die Namen »computer poetry« prägte. Jacques Donguy stellte in seinem Aufsatz poésie et ordinateur (1997) fest, dass bereits Abraham A. Moles Kriterien einführte, wonach sich zwei unterschiedliche Vorgehensweisen, Computertechnik und Poesie zu kombinieren, voneinander unterschieden. So schilderte Donguy: »Abraham A. Moles, dans son livre Art et Ordinateur, distingue la ›création fondamentale‹ par l’homme et la ›création variationnelle‹ par la machine […]« und Donguy selbst schlägt vor, zwischen »les ingénieurs qui font à l’occasion des programmes pour créer des poèmes selon des schémas traditionnels« und »les poètes qui ont

9. Lutz 1995, o. S. 10. Folgende Wörter wurden den 26 Buchstaben zugeordnet: A = money, B = up, C = idiots, D = sex, E = like, F = quivering, G = evil, H = old, I = red, J = zulus, K = ticklish, L = cool, M = going, N = black, O = jesus, P = hotdogs, Q = coming, R = perilous, S = action, T = virgins, U = yes, V = easy, W = fear, X = death, Y = naked, Z = white. Vgl. auch Donguy 1997, 139. 128

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une œuvre par ailleurs, et qui se servent de l’ordinateur dans un processus de création« zu unterscheiden. Erstere wären demnach diejenigen Autoren, die sich vornehmlich mit der Programmierung der entsprechenden Software beschäftigen. Die anschließend damit produzierten Gedichttexte sind jedoch selbst nur Ergebnis des kreativen Prozesses, der in der Phase der Programmierung stattgefunden hat. Die zweite von Donguy unterschiedene Strategie ist Autoren zuzuschreiben, die die Programmierung spezieller Software als nur einen Schritt im kreativen Prozess ansehen und stärker am entstehenden Gedichttext interessiert sind. Sie nutzen die neue Technik des Computers als Möglichkeit, mit Sprache und Schrift anders umzugehen und neue Wahrnehmungsformen experimentell zu erproben. Zu dieser Form bedurfte es allerdings nicht nur einer Weiterentwicklung der Computertechnik, sondern auch der Kenntnis, den Computer für die Erstellung poetischer Texte nutzbar zu machen. So entstanden Ende der 1970er Jahre im Kontext einer interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem Computer multimediale Gedichte (im Zusammenschluss von Bild, Text und Ton), die nicht durch die Auslösung eines Logarithmus zufällig entstanden, sondern deren Struktur mit Hilfe der neuen Technik in weiten Teilen determiniert wurde. Ein Zufallsgenerator, sofern er überhaupt eingesetzt wurde, wirkte nicht an sich, sondern immer im Zusammenhang mit einer interaktiven Autor-Leser-Handlung. In Frankreich wurde die konzeptionelle Aufspaltung der Computerdichtung sogar durch die Bildung zweier Gruppen institutionalisiert. Die Gruppe A.L.A.M.O. (1982) widmete sich fortan weiterhin der zufallsgenerierten Poesie, während L.A.I.R.E. (1988) die Entwicklung der Computerpoesie unter multimedialen Parametern verfolgte. Zur Verbreitung der Computerpoesie trugen einschlägige Publikationen bei, wie z.B. die bereits erwähnten Studien von Carole McCauley (Computers and Creativity, 1974) und Abraham A. Moles (Kunst & Computer, 1973) oder Computers for the Arts von Dick Higgins (1970). 1984 veröffentlichte die französische Literaturzeitschrift Action Poétique eine Sondernummer, die sich ausschließlich mit der zwei Jahre zuvor gegründeten Gruppe A.L.A.M.O. beschäftigte. 1996 publizierte die Zeitschrift Visible Language ebenfalls eine Sondernummer mit dem Titel New Media Poetry: Poetic Innovation and New Technologies. Neben der metatheoretischen Reflexion der Computerpoesie dienten elektronische Zeitschriften wie Art Access, KAOS und Alire zur Verbreitung und Diskussion computergestützter poetischer Arbeiten, wobei Alire bis heute diese Funktion übernimmt. Seit 1991 findet auch eine universitäre Auseinandersetzung mit Computerpoesie statt, die mehrere Kolloquien zur Folge hatte: Machines Logiques et Electroniques et Littérature (Liège, 1964), L’Imaginaire Informatique de la Littérature (Colloque de Cerisy, 1991), A:\LITTERATURE (Colloque Nord-Pas-de-Calais, 1993), Journées d’Etudes Internationales sur Littérature et Informatique 129

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(Littérature générée par Ordinateur, Paris, 1994), 1. Forum Ästhetik digitaler Literatur (Kassel, 2000), e-poetry. An International Digital Poetry Festival (Buffalo, 2001 und 2003) und p0es1s. poetics of digital text – Poetologie digitaler Texte (Erfurt/Berlin, 2001). Ihren Präsentationsort fand die Computerdichtung von Anfang an innerhalb von Ausstellungen oder Museen. Bereits die 1968 und 1972 veranstalteten Ausstellungen Cybernetic Serendipity im Londoner Institute of Contemporary Art und Grenzgebiete der bildenden Kunst in der Staatsgalerie Stuttgart spiegeln in ihren Konzeptionen wider, dass Experimente mit dem Computer nicht auf Literatur bzw. Poesie beschränkt waren. Vielmehr fand eine allgemeine Auseinandersetzung mit der neuen Technik in unterschiedlichen Disziplinen wie z.B. Grafik, Musik, Malerei, Film oder Choreographie statt. Eine der wichtigsten Ausstellungen, die 1985 vom Pariser Centre Pompidou veranstaltet wurde, trug den Titel Les Immatériaux, an deren Konzeption u.a. auch François Lyotard mitgewirkt hat.11 Lyotards Absicht war es, interaktive Schreibweisen zu erproben, die sich mit der Auflösung des Autorsubjekts auseinandersetzten. Verschiedenen Autoren wie Nanni Balestrini, Michel Butor, Jacques Derrida, Maurice Roche, Jacques Roubaud und weiteren französischen Intellektuellen waren hierfür Minicomputer vom Typ Olivetti M20 zur Verfügung gestellt. Die Kommunikationspartner bekamen einige Stichwörter, über die sie sich online austauschen sollten. Die Besucher konnten dies in Echtzeit innerhalb der Ausstellung verfogen, da alle Computer mit einem Zentralrechner (Olivetti M24) verbunden waren. Aber nicht alle Autoren spielten mit dem gleichen Engagement, wie Vuillemin berichtet: »Certains protestèrent véhémentement contre les contraintes de l’expérience. D’autres acceptèrent de faire en sorte que les textes se répondent les uns aux autres. D’autres enfin préfèrent les garder, les travailler d’une manière traditionnelle et ne les transmettre que sous une forme achevée.«12 Für die Entwicklung elektronischer Dichtung gab Les Immatériaux die entscheidenden Impulse, wie Philipp Bootz rückblickend schreibt: »It is to be noted that Les Immatériaux appeared as a climax for A.L.A.M.O. and as a starting point for the dynamic poetry which was to develop in the following years.«13 Dynamische oder animierte Dichtung fand ihre erste Präsentation anlässlich der Eröffnung der Maison de la Poésie in Nord Pas de Calais 1988, während derer sich auch die Gruppe

11. Die Initiatoren dieser Ausstellung waren Ch. Noël und N. Toutcheff. Vgl. auch Vuillemin 1990, 252-258 und Weibel 1985. 12. Vuillemin 1990, 253. 13. Bootz 1996, 121. 130

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L.A.I.R.E. zusammenschloss. Im deutschsprachigen Raum fand 1992 die erste Ausstellung zur Computerdichtung, p0es1e. digitale dichtkunst, in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge statt. Acht Jahre später (2000) wurde in Kassel erneut eine Ausstellung zum Thema p0ies1s. internationale dichtkunst (anlässlich der Tagung 1. Forum Ästhetik digitaler Literatur) von Friedrich W. Block kuratiert. Der chronologische Abriss dokumentiert die einschlägigen Ereignisse, die zur Entwicklung, Verbreitung und Institutionalisierung der neuen Form der Computerpoesie beigetragen haben. Interessant ist dabei, wie sich die ersten Experimente noch an den Aufgabenfeldern orientierten, zu deren Lösung Anfang der 1960er Jahre Großrechenanlagen verwendet wurden. Das Interesse lag vornehmlich darin, aleatorische Prozesse zu entwickeln, die mit Wortlisten arbeiteten statt mit Zahlenreihen, wobei das technisch Machbare zuungunsten des literarischen Textes im Vordergrund stand. Erst allmählich begann man sich davon zu lösen und das damals noch fehlende Selbstbewusstsein zu entwickeln, die Eigenschaften des Computers als Grundlage zu neuen ästhetischen Erfahrungen zu nutzen.

2. Gruppen, Zentren, Schulen Stuttgarter Gruppe/Schule Der Name »Stuttgarter Schule«14 ist 1961 anlässlich eines Kolloquiums der Morsbroicher Kunsttage auf eher zufälliger Weise entstanden. Max Bense verwendete in seinem mit Zeitgenössische Literatur in Deutschland überschriebenen Vortrag den, wie Reinhard Döhl bemerkt, »akademischen Plural auctoritatis« und spricht von einem »wir in Stuttgart«, was offensichtlich den Eindruck »eines ästhetisch konspirativen Stuttgarter Unternehmens, eben einer Stuttgarter Schule weckte«15. Von Bense ausgesprochen und in die Nähe seiner provozierenden ästhetischen Informationstheorie gerückt, wurde der Begriff im Verlauf der Diskussion jedoch eher abwertend gegenüber den Stuttgarter Ideen verstanden. Eine andere Konnotation erhielt er 1963 auf einer Tagung

14. Reinhard Döhl hat mit anderen Autoren der Stuttgarter Gruppe zusammen eine Internetseite mit dem Titel Als Stuttgart Schule machte (http://www.stuttgarterschule.de) konzipiert, die zur Dokumentation der Stuttgarter Geschichte der experimentellen Poesie dient und der die meisten hier im Zusammenhang zitierten Texte entnommen sind. Ebenso auf seine Initiative geht die Internetseite Der Elektronische Lesesalon der Stadtbücherei Stuttgart zurück, die die literarischen Internetarbeiten der Gruppe versammelt. 15. Döhl 1987, o. S. 131

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COMPUTERPOESIE

der Tel-Quel-Gruppe und der italienischen Gruppe 63. Dort bezeichnete der Name »Stuttgarter Schule« (wie ihre Vertreter Manfred Esser und Ludwig Harig es verstanden wissen wollten) die im Umkreis von Bense entstandene Literaturform der experimentellen Dichtung sowie der sich damals in Stuttgart entwickelnden bildenden Kunst. Dennoch ist aus der Sicht der Mitglieder der Begriff nicht unumstritten, wie sich aus Döhls Ausführungen über die Geschichte der Gruppe entnehmen lässt: »Stuttgarter Schule bezeichnete entweder die ästhetische Diskussion oder die Produktion, kaum je beides. So daß es in jedem Fall sinnvoller ist, ihn für die Produktion und die künstlerische Hervorbringungen durch Stuttgarter Gruppe zu ersetzen, falls man nicht ganz darauf verzichten will, denn eine im soziologischen Sinne abgeschlossene Gruppe, wie die Wiener Gruppe zeitweilig, ist die Stuttgarter Gruppe nie gewesen.«16 Die Autoren und Künstler der Stuttgarter Gruppe waren bemüht, eine Etikettierung zu vermeiden, zumal ihre Zusammensetzung seit der 1960er Jahre stark gewechselt hat. Dennoch kursiert der Name bis heute, nicht zuletzt in den eigenen Publikationen und Aufsätzen aus Stuttgart, wenngleich auch mit einer ironisch-humorvollen Note. Döhl beschreibt in seinem Aufsatz Stuttgarter Gruppe oder Einkreisung einer Legende seinen Versuch, allzu verzerrte und darüber hinaus falsche Vorstellungen einer strengen Schulenbildung, wie sie von einschlägigen Literaturlexika heute vermittelt wird, entgegenzuwirken. Die Differenz der Mitglieder hinsichtlich der Bezeichnung »Schule« bzw. »Gruppe« dauerte noch bis weit in die 1980er Jahre hinein an. Man einigte sich schließlich darauf, unter »Schule« diejenigen Mitarbeiter zu fassen, die, wie Döhl formuliert, »im Sinne exakter Ästhetik oder Semiotik geforscht und geschrieben haben und schreiben« und den Titel »Gruppe« für all jene zu reservieren, die »der Zeitschrift ›augenblick‹, der Publikationsfolge ›rot‹, der Studiengalerie oder sonst Bense«17 verbunden waren, was alle lose assoziierten Autoren, Künstler, Komponisten, Übersetzer und Interpreten mit einschließen sollte. Ein besonderes Kennzeichen der Stuttgarter Gruppe waren ihre beständigen Grenzüberschreitung zwischen künstlerischen Disziplinen und – in ganz wörtlicher Hinsicht – Überschreitungen unterschiedlicher Landesgrenzen. In heutige Terminologie gefasst, würde man sie als »Plattform« oder »Schnittstelle« bezeichnen, die Ideen verwaltete, Ausstellungen und Foren organisierte, also künstlerische Infrastruktur bereitstellte und nutzte und vor allem selbst produzierte. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Trennung von Theorie und Praxis.

16. Döhl 1987, o. S. 17. Döhl 1997b, o. S. 132

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Selbst im Inneren der Stuttgarter Literaturszene der 1960er und 1970er Jahre stellte die informationstheoretische Ästhetik und Texttheorie Max Benses eine Extremposition dar, der sich nicht selbstverständlich alle anderen Stuttgarter Künstler anschlossen. Entscheidend ist jedoch, dass in Stuttgart ein Nebeneinander unterschiedlicher, gerade auch extremer Positionen, möglich und gewünscht war, wenn sie nur zur Erweiterung des künstlerischen Ausdrucksfeldes im Sinne der intendierten »Mischformen« und »Grenzverwischungen«18 beitrugen. Sicherlich entstand durch Benses Theorie und gleichzeitiger Erprobung rein maschinell erzeugter Texte in Stuttgart eine Mischform zwischen Literatur und Technik, die sich im Verlauf der folgenden Jahrzehnte noch intensivieren sollte und einen entscheidenden Beitrag zur heutigen Textform der Computerpoesie geleistet hat – nicht zuletzt deshalb, weil hier die entsprechende Infrastruktur zur Verfügung stand wie z.B. die Nutzung der Technischen Hochschule (die mit einer Großrechenanlage ausgestattet war19) und der Hochschule für Gestaltung. Künstler aus dem In- und Ausland wurden angezogen, mit der neuen Technik zu experimentieren, darunter auch der brasilianische Computerdichter Haroldo de Campos. Die Schwierigkeit der richtigen Namensfindung lässt den Schluss zu, dass es offensichtlich zwei Personenkreise in Stuttgart gab. Zum engeren Kreis gehörten die in Stuttgart ansässigen Autoren Max Bense, Helmut Heißenbüttel, Reinhard Döhl, hinzu kommen die nicht in Stuttgart lebenden, jedoch maßgeblich an den dort ins Leben gerufenen Publikationsorganen augenblick und rot beteiligten Dichter Ludwig Harig, Franz Mon und Ernst Jandl. Eigene Interessen vertretend und laut Döhl eine »Satelliten«20-Stellung zum eigentlichen Kern einnehmend sind noch Manfred Esser, Helmut Mader und Karin Kiwus zu nennen. Dem Umfeld der Stuttgarter Gruppe wären demnach in »unterschiedlich engen Verbindungen, Annäherungen und Entfernungen«21 nachfolgende Namen zuzurechnen: u.a. Klaus Burkhardt, Dieter Rot, Claus Bremer, der Computergrafiker Frieder Nake, der Komponist Erhard Karkoschka, Bazon Brock, Siegfried Cremer, Günther C. Kirchberger, André Thomkins, Friederike Mayröcker, Hansjörg Mayer, Yüksel Pazarkaya, Claus Henneberg, Eugen Gomringer, Gerhard Rühm, Konrad Balder Schäuffelen, Wolfgang Schmidt, Tim Ulrichs, Ferdinand

18. Döhl 1997b, o. S. 19. Ab Mitte der 1950er Jahre wurde am Rechenzentrum der TH auf Initiative von Herrn Prof. Knödel die Großrechenanlage ZUSE Z 22 angeschafft, die fortan für Experimente auch auf dem Gebiet der Literatur und bildenden Kunst zur Verfügung stand. Vgl. Elisabeth Walter 1999, o. S. 20. Döhl 1997b, o. S. 21. Döhl 1997b, o. S. 133

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COMPUTERPOESIE

Kriwet und Heinz Gappmayr. Internationaler Kontakt bestand zu den französischen Lettristen Ilse und Pierre Garnier, zu Heroldo de Campos, Emmet Williams, den Prager Experimentalkünstlern Bohumila Grögerová, Josef Hirsˇal, Jiri Kolar und Ladislav Novák und dem türkischen Autor Özdemir Nutku. Darüber hinaus stand die Stuttgarter Gruppe in zeitlich begrenztem, aber auch längerfristigem Kontakt zu folgenden nationalen und internationalen Dichtergruppen und -werkstätten: Darmstädter Kreis, Forum Stadtpark, Wiener Gruppe und Grazer Kreis (Österreich), Gruppe 63 (Italien), Noigandres-Gruppe (Brasilien), Asa-Gruppe und Shi-Shi-Gruppe (Japan), der Literaturwerkstatt OuLiPo und der Tel-Quel-Gruppe (Frankreich). Der Vollständigkeit halber seien noch Kontakte zu Dichterkreisen aus Mexiko, den USA, Dänemark und Schweden erwähnt. Das 1964 von Max Bense und Reinhard Döhl verfasste Manifest der Stuttgarter Gruppe trägt den Titel: Zur Lage und formuliert programmatisch sechs Tendenzen: »1. Buchstaben = Typenarrangements = Buchstaben-Bilder 2. Zeichen = grafisches Arrangement = Schrift-Bilder 3. Serielle und permutationelle Realisation = metrische und akustische Poesie 4. Klang = klangliches Arrangement = phonetische Poesie 5. stochastische und topologische Poesie 6. kybernetische und materiale Poesie«22 Döhl präzisiert: »Wichtig scheint mir dabei der Hinweis, dass diese Experimente mit stochastischen Texten bzw. Autopoemen, mit computergenerierter Grafik, konkreter Musik und der Verbindung von Sprache und Elektronik parallel zu verstehen sind mit dem in Stuttgart damals virulenten Interesse an einer konkreten bzw. visuellen Poesie, an Permutationen, Würfeltexten oder dem Cut-up-Verfahren […].«23 Die Autoren machen deutlich, dass das Ziel nicht die Klassifikation der Ausformungen in jene sechs unterschiedlichen Kategorien ist, sondern die Mischformen, die daraus entstehen. Ihre Strukturen gehen dabei nicht selten aus den Verfahren des Spiels, der Permutation, Reduktion, Iteration, Störung, Streuung und der Serie hervor. Dabei ist es den Autoren ein Anliegen, den Begriff der Dichtung, wie er in traditioneller Weise durch die literarische Romantik als subjektives und emotionales Sprechen geprägt wurde, durch einen am Material orientierten Begriff abzulösen:

22. Bense und Döhl 1964, o. S. 23. Döhl 2001, 35-36. 134

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»Das Erzeugen ästhetischer Gebilde erfolgt nicht mehr aus Gefühlszwängen, aus mumifizierender oder mystifizierender Absicht; […] Wir sprechen von einer materialen Poesie oder Kunst. An die Stelle des Dichter-Sehers, des Inhalts- und Stimmungsjongleurs ist wieder der Handwerker getreten, der die Materialien handhabt, der die materialen Prozesse in gang setzt und in gang hält. […] Wir sprechen wieder von einer Poietike techne.«24 Die Stuttgarter Gruppe lehnt sich konzeptionell an die Tradition der experimentellen Kunst des Dadaismus, des Kubismus, der Kybernetik und der Sprachphilosophie an. Im Sinne Letzterer hatten die Arbeiten Gertrude Steins Vorbildcharakter für die Gruppe. Zu nennen sind schließlich auch die Autoren Stéphane Mallarmé, James Joyce und Gottfried Benn sowie Raymond Queneau und die Werkstatt OuLiPo, die Nouveau Romanciers Nathalie Sarraute und Michel Butor, George Perec, Jean Genet und die Vertreter des Beatnik, die insbesondere mit der Methode des »cut-up« arbeiteten. Im Grunde lassen sich zwei grobe Tendenzen feststellen, die die ansonsten offene und heterogene Stuttgarter Gruppe verbindlich zusammengehalten hat: Zum einen herrschte Einigkeit, wieder an die Anfang des 20. Jahrhunderts ausgerufene und durch den Nationalsozialismus unterbrochene Bewegung der Kulturrevolution anzuschließen. Zum anderen verband die Mitglieder ein »vergleichsweise ähnliches (theoretisches) Bewusstsein den Materialien gegenüber«25, mit denen sie experimentierten. Die literarischen Arbeiten der Gruppe erschöpfen sich nicht in der zunächst bekannt gewordenen konkreten und visuellen Poesie, sondern umfassen vor allem auch, wie Döhl es formuliert, »akustische Spielmöglichkeiten«26, die hauptsächlich vom Westdeutschen Rundfunk dokumentiert wurden. »Immerhin haben die […] Autoren […] zur Geschichte des ›Neuen Hörspiels‹ seit Ende der 1960er Jahre mit über 50 gesendeten Hörspielen nicht unwesentlich beigetragen«27. Zu den zentralen Stuttgarter Aktivitäten zählen in jedem Fall die Anfang der 1960er Jahre von Schülern Max Benses veranlassten Experimente, durch die es ihnen gelang, computergeneriert Texte mit Hilfe von Großrechnern zu erstellen. Bense entwickelte daraus die nicht nur zu jener Zeit stark diskutierte Theorie der »künstlichen« Poesie und stellte diese der »natürlichen« Poesie gegenüber. Für ihn lag die wesentliche Differenz der Textsorten in der Art der Entstehung:

24. Bense und Döhl 1964, o. S. 25. Döhl 1997b, o. S. Döhl beruft sich hier auf die Grazer Zeitschrift für Literatur, Kunst, Kritik, die im März 1965 eine Sondernummer über die Stuttgarter Gruppe veröffentlichte. 26. Döhl 1997b, o. S. 27. Döhl 1997b, o. S. 135

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COMPUTERPOESIE

»Unter natürlicher Poesie wird hier die Art von Poesie verstanden, die, es ist der klassische und traditionelle Fall, ein personales poetisches Bewußtsein, wie es Hegel schon nannte, zur Voraussetzung hat; ein Bewusstsein, das […] eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu verleihen vermag. […] Unter der künstlichen Poesie hingegen wird hier eine Art von Poesie verstanden, in der es, sofern sie z.B. maschinell hervorgebracht wurde, kein personales Bewusstsein, […] also keine präexistente Welt gibt, und in der das Schreiben keine ontologische Fortsetzung mehr ist, durch die der Weltaspekt der Worte auf ein Ich bezogen werden könnte.«28 Daraus folgert Bense, dass es für die natürliche Poesie einen intentionalen Anfang gibt, an dessen Ort sich das Gesagte immer wieder zurückbinden lässt, währenddessen dieser Ursprung der künstlichen Poesie fehlt, die stattdessen eine materiale Herkunft hat. Die Programme, die zur Realisierung künstlicher Poesie entwickelt wurden, funktionieren alle nach dem Prinzip der Selektion. D.h. auf ein begrenztes und zuvor ausgewähltes Wörterreservoir wendet das Programm bestimmte Parameter zur Auswahl daraus an, die dann als Endprodukt – als generierter Text im Sinne der künstlichen Poesie – den Computer meist in (aus-)gedruckter Form verlassen. Bense unterscheidet nun drei Varianten der Selektion: Das Programm arbeitet »statistisch«, »sofern es zur Bildung der selektierten Wortfolgen bestimmte Häufigkeitsverteilungen der Worte ausnützt […]«29. Lässt das Programm aus dem Reservoir nur ganz bestimmte Wortklassen, Verben, Substantive etc. zu oder ordnet diese nach bestimmten Gesichtspunkten auf einer Fläche an, so spricht Bense von einer »strukturellen« Selektion »und topologisch nennen wir das Programm, wenn Worte auf Grund eingeführter Nachbarschaftsverhältnisse oder Deformationen bzw. Deformationsklassen ausgewählt werden«30. Entscheidend ist nach Benses Auffassung, dass natürliche Poesie, aufgrund ihres semantischen Gehaltes, interpretiert werden kann und muss, »weil zumeist erst mit der Interpretation die Ichrelation der Worte einerseits und ihr Weltaspekt andererseits apperzipierbar wird und der kommunikative Vorgang auf diese Weise erst zum Abschluß kommen kann«31. Da die künstliche Poesie keine Herstellung der Ichrelation und des Weltaspektes bedarf und auf der Ebene der »realisierten Information« eher »nichtkommunikative Bestandteile« enthält, ist sie als »reine, ab-

28. Bense 1962, 143. 29. Bense 1962, 144. 30. Bense 1962, 144. Das Wort »Deformationen« wird von Bense im Originaltext noch mit einem Hinweis versehen, der erklärt: »Unter Deformation ist dabei jede Veränderung eines Wortes im Verhältnis zu seinem Vorkommen im ursprünglichen, zugrundeliegenden Wortraum (Wörterbuch des Wortschatzes) zu verstehen.« 31. Bense 1962, 146. 136

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solute«32 Poesie möglich. Dem geht eine der wesentlichen Grundlagen der Benseschen Informationsästhetik voraus, derzufolge »ästhetische Information im Unterschied zur semantischen nicht kodierbar, nur realisierbar«33 ist. Wenn nun künstliche Poesie keinem intentionalen Anfang entspringt, dem ein personales Bewusstsein vorausgeht, enthält sie auch keine »semantischen Träger im üblichen Sinne (Aussagen, Vorstellungen etc.)«34. Künstliche Poesie besteht also aus Realisationsbeiträgen, nicht aus semantisch codierten, und Bense führt weiter aus: »[S]ie hat gewissermaßen, wie die Zahlen, nur eine existenzsetzende, keine essentielle Kraft, sie realisiert die Worte und ihre Konnexe als linguistische Materialien, nicht als sprachliche Bedeutungsträger«.35 Wie schon Döhl bemerkte, nimmt Bense mit der Unterscheidung in natürliche und künstliche Poesie eine Einteilung wieder auf, die in der Jenenser Romantik bereits 150 Jahre zuvor schon einmal in der Poesie eine Rolle gespielt hat.36 Novalis versuchte – übrigens ebenso im Zusammenhang einer Erklärung des Experimentbegriffs in der Literatur – zu definieren, was natürliche und was künstliche Poesie sei. So heißt es bei Novalis: »Zur künstlichen Poësie, oder zur technischen überhaupt gehört die Rhetorische. Der Karacter der künstlichen Poësie ist Zweckmäßigkeit – fremde Absicht – Die Sprache im eigentlichsten Sinne gehört ins Gebiet der künstlichen Poësie. Ihr Zweck ist bestimmte Mittheilung. […] Der Roman gehört zur natürlichen Poesie – die Allegorie zur Künstlichen.«37 Die natürliche Poesie dagegen ist von einer Sprache, die weder Werkzeug noch Mittel zum Zweck sondern sich selbst Mittel und Zweck ist, d.h., »sich blos um sich selbst bekümmert«38. Die Freiheit vom Zwang der Vermittlung der natürlichen Sprache vergleicht Novalis an anderer Stelle mit der mathematischen Formelsprache, indem er sagt, »daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts

32. Bense 1962, 146. 33. Bense 1962, 146. 34. Bense 1962, 146. 35. Bense 1962, 146. Er weist allerdings auch darauf hin, dass es durchaus Wortfolgen geben kann, die einen semantischen Sinn zulassen. »Künstliche Poesie kann durchaus die Züge der natürlichen annehmen«. Ist dies der Fall, so unterscheidet Bense zwischen einer »willkürlichen«, von einem interpretierenden Willen abhängigen präfixierten, und einer »unwillkürlichen« Bedeutungswelt. 36. Döhl 1989, 367-368. 37. Novalis 1960, Bd. 2, 572. 38. Novalis 1960, Bd. 2, 672. 137

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als ihre wunderbare Natur aus […].« Im Allgemeinen Brouillon notiert Novalis unter dem Eintrag 280, dass die »gem[eine] Sprache […] die Nat[ur]Spr[ache] – die Büchersprache die Kunstsprache« sei. Und weiter heißt es im Notat 643: »[…] die allgemeine Sprache ist ein Logarythmen [sic!] System. Sollten die Töne nicht gewissermaßen Logarythmisch fortschreiten.«39 Vergleicht man die beiden Definitionen künstlicher und natürlicher Poesie von Novalis und Bense, so scheint es, dass beide dasselbe beschreiben, jedoch mit konträren Adjektiven benennen. Auf der einen Seite steht eine Form der Poesie, die eine unverstellte, dem Zufall überlassene, nur sich selbst bedeutende Sprache als Voraussetzung hat und bei Novalis »natürlich« genannt wird. Bei Bense jedoch tritt diese Art der unverstellten, nichts als sich selbst bedeutenden Sprache in Form einer maschinell erzeugten Computerpoesie auf und wird daher als »künstlich« bezeichnet. »Künstlich« aber ist bei Novalis die Buchsprache, weil sie mit »fremder Absicht« und »Zweckmäßigkeit« versehen ist. In den Worten Benses formuliert, spricht diese Poesie aus der Warte eines personalen Bewusstseins und sei daher immer schon gefiltert und mit semantischer Bedeutung versehen, weshalb er sie mit »natürlich« bezeichnet. Benses Bezeichnung »künstlich« scheint zunächst offensichtlich zu sein, ordnet man dem Menschen den Begriff natürlich und der Maschine den Begriff künstlich zu. »Künstlich« bezeichnet die Art der Herstellung, nämlich der unter vorgegebenen Parametern (z.B. strukturell, seriell, topologisch) selektierten Wörter, die sodann als Zufallstext den Computer verlassen. Es liegt also keine Absicht eines Autors zugrunde, der Wörter in syntaktisch-semantischer Codierung anordnet, so dass sie vom Leser wieder decodiert werden könnten.40 Was der künstlichen Poesie zugrunde liegt, sind lediglich »materiale Programme«, deren »materiale Realisation der Worte bzw. der Wortfolge mit der ästhetischen zusammenfällt, der semantische Gehalt also unberücksichtigt bleibt« und »a priori alle Worte gleichberechtigt«41 sind. Eine vom Zufall erzeugte Poesie konnte sich auch Novalis vorstellen, ja sogar als eine »natürliche« Poesie idealisieren, wenngleich er sie selbst nur theoretisch gedacht hat. So heißt es im 953. Notat des allgemeinen Brouillon: »Der Poët braucht die Dinge und Worte, wie Tasten und die ganze Poësie beruht auf thätiger Idéenassociation – auf selbstthätiger, absichtlicher, idealischer Zufallproduktion – (zufällige – freye

39. Novalis 1960, Bd. 3, 290 und 386. 40. Wenngleich dies nicht bedeutet, dass künstliche Texte keinen Autor haben. Dieser agiert jedoch auf einer anderen Ebene, z.B. der der Programmierung des Generators. 41. Bense 1962, 145. 138

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Catenation.) (Casuïstik – Fatum. Casuation.) (Spiel.)«42 Und eine berühmt gewordene Stelle aus den Fragmenten und Studien 1799-1800, die gern als Ankündigung des französischen Surrealismus, aber auch des Dadaismus und der literarischen Avantgardebewegung der 1920er Jahre gelesen und zitiert wird, lautet: »Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Association, wie Träume. Gedichte – blos wohlklingend und voll schöner Worte – aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang – höchstens einzelne Strofen verständlich – sie müssen, wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen [seyn]. Höchstens kann wahre Poësie einen allegorischen Sinn im Großen haben und eine indirecte Wirckung wie Musik etc. thun – Die Natur ist daher rein poëtisch – und so die Stube eines Zauberers – eines Physikers – eine Kinderstube – eine Polter und Vorrathskammer.«43 Auch Novalis rückt eine der genannten Poesieformen (bei ihm die »natürliche«) in die Nähe des Zufalls, der mathematischen Formelsprache, des unbewussten Traumes, d.h. in jedem Fall in die Nähe einer Produktionsweise, die von einem menschlichen Bewusstsein abgelöst ist – was auch Bense im Falle der generativen Computerpoesie tut. Wie man es auch dreht und wendet, im Vergleich bleibt der Verdacht, dass sich die beiden theoretischen Ansätze nicht so diametral gegenüberstehen, wie die unterschiedliche Begriffsverwendung von »künstlich« und »natürlich« es suggeriert.44 Offen bleibt hier zwangsläufig die Frage, mit welchem Adjektiv Novalis eine durch den Computer zufallsgenerierte Dichtung näher bestimmt hätte, die auch aus einer Sprache ohne Absicht, »bloß sich selbst bedeutend«, gleich der mathematischen Formelsprache par excellence bestehen würde. Das Begriffsdilemma zwischen Bense und Novalis kann hier zwar nicht gelöst werden und bedarf einer ausführlicheren Betrachtung, jedoch macht sie eines deutlich, was für die Anfänge der Computerpoesie wichtig ist: Unabhängig von der Zuweisung der Adjektive »natürlich« und »künstlich« geht es in beiden Fällen um eine Sprachform, die von einem kontrollierenden Autorbewusstsein, das dem Text bestimmte semantische Codierungen mitgibt45, losgelöst scheint. Der Computertext beginnt sich durch die dazwischengeschaltete Maschine vom Autor zu lösen und autonom zu wer-

42. Novalis 1960, Bd. 3, 451. 43. Novalis 1960, Bd. 3, 572. 44. Vgl. hierzu auch Döhls Bemerkung: »Es wäre einer gründlicheren Untersuchung wert, zu fragen, wieweit bzw. ob überhaupt sich Bense von der umgekehrten Unterscheidung des Novalis’ entfernt hat […].« Döhl 1989, 368. 45. Dies ist unabhängig von der Frage, ob die Codierungen durch den Rezipienten auch im Sinne des Autors decodiert werden können. 139

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den46. Die Suche nach einer neuen Definition für computergenerierte Texte bedeutet auch, dass es sich bei derartigen Texten tatsächlich um neue, noch unbekannte, noch nicht definierte Textformen handelt – und deren Vorhandensein auch theoretische Reflexionen nach sich ziehen.47 In den letzten Jahren hat mit Zunahme der Diskussionen über den Einsatz technischer Medien innerhalb der Literatur und Kunst der Name Bense und seine Auseinandersetzung mit generierter Poesie wieder Interesse gefunden. Zwar ist Bense kein Vordenker der Computerpoesie, da die elektronischen Experimente den Theorien vorausgingen, er hat jedoch in den 1960er Jahren eine Diskussion in Gang gesetzt, die in Fachkreisen (insbesondere der Computerdichter selbst) noch heute eine Rolle spielt48. Indem er Technik und Literatur direkt konfrontierte, suchte Bense »nach philosophischen und künstlerischen

46. Vgl. hier Benses Äußerung der »reine[n], absolute[n]« Poesie, 1962, 146. 47. Mit dem Verweis auf Hegel, den er mit den Worten »es ist der klassische und traditionelle Fall«, zitiert, führt Bense als Gegenbegriff zur Maschinenpoesie einen Lyrikbegriff ein, der sich als epochemachende Definition von Lyrik als Ausdruck von Subjektivität, Lautgestalt und Bedeutungskonstitution etabliert hat. Bense, der also die Maschinenpoesie der romantisch-idealistischen Dichtung gegenüberstellt, schafft damit eine Vereinfachung des Sachverhalts, indem er personales Bewusstsein und künstliche, vom Menschen abgekoppelte Phänomene gegeneinander hält. Vor dem Hintergrund der von Bense entwickelten Interpretationsmethode, die mit einer statistischen Auswertung der Wörter innerhalb eines Textes arbeitet und anhand bestimmter Worthäufungen den ästhetischen Wert ermittelt, tritt dieser Gegensatz zwischen menschlichem Bewusstsein und technischer Künstlichkeit jedoch in den Hintergrund. Benses Theorie der Programmierung des Schönen (1960) beansprucht für sich, beide Textformen (künstlich oder natürlich) nach demselben Muster auf ihre Funktionsweise und vor allem auf ihre ästhetische Qualität hin zu untersuchen. Überspitzt formuliert kann man behaupten, dass der Informationstheoretiker Bense damit zeigen will, dass es keinen Unterschied zwischen den Textformen bezüglich ihres ästhetischen Gehalts gibt, dass nämlich das menschliche Bewusstsein genauso funktioniert wie technische Prozesse und es keinen ästhetischen Mehrwert der »natürlichen« Poesie gegenüber der »künstlichen« gibt. Dass diese Position heftig umstritten war und ist, liegt auf der Hand. Bense 1962, 143. 48. Bense war einer der einflussreichsten Personen der Stuttgarter Szene und hat mit seinem Interesse an generativer Poesie einen wesentlichen Impuls für die nachfolgende Entwicklung der Computerpoesie geleistet. Vgl. hierzu auch den Aufsatz Max Bense und die Kybernetik von Walther 1999. Demnach war Bense als Mathematiker und Physiker bereits seit den 1940er Jahren mit neuesten Forschungslaboratorien zur Entwicklung von Bild- und Tontechniken in Kontakt. Siehe hierzu auch das Interview mit Bootz im Anhang an diese Studie. 140

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Positionen […], die der Unschärferelation in den Mikrowelten der Physik gerecht werden.«49 Reinhard Döhl stellt in seiner historischen Betrachtung der Stuttgarter Gruppe für die 1970er Jahre ein Ende der konkreten Dichtung fest, da sich ein »Verschleiß«, eine »Abnutzung« der Methode abzeichnete, die die konkrete Poesie »museal«50 hat werden lassen. Aufgrund einer Ausreizung der »reinen Demonstration des Sprachmaterials«51 war eine Rückkehr einiger Autoren zur erzählenden Prosa zu beobachten. Für den engeren Stuttgarter Dichterkreis bedeutete das keineswegs eine Einstellung des literarischen Experimentierens. Vielmehr wurden ihre Aktivitäten auf neue, noch unbestellte Felder, wie das Internet, umgelenkt. Anlässlich des Symposiums zu Ehren Max Benses im September 1994 wurden einige Internetprojekte vorgestellt, darunter Epitaph Gertrude Stein52 , H.H.H. Eine Fastschrift53 (zu Ehren Helmut Heißenbüttels), Epilog und Poemchess. Aus den 7 Thesen zur Netzliteratur54 des Poeten Johannes Auer geht hervor, dass die Stuttgarter Arbeiten überwiegend im Bereich der Netzliteratur und der Hyperfiction angesiedelt sind. Dominante Struktur ist das Linksystem des Hypertextes und die erzählende Prosa thematisiert vor allem eine selbstreferentielle Auseinandersetzung mit der Produktionsweise von elektronischer Literatur wie z.B. der Frage nach der Autorschaft und nach der Möglichkeit kollaborativer Texte (Mail-Art). Obwohl zwar von den Autoren auf theoretischer Ebene eine experimentelle Auseinandersetzung mit elektronischen Computertexten im Allgemeinen angestrebt ist, konzentrieren sich die Beispiele tatsächlich jedoch auf Netzkunst und Hyperfiction. Es handelt sich hauptsächlich um so genannte »offene« Internetprojekte, die auf eine kollaborative Beteiligung des Lesers setzen und sich speziell mit den Eigenschaften und Möglichkeiten des Internets beschäftigen.55 Insofern lässt sich von einer Ver-

49. Zitiert nach einem Ausschnitt der Rezension der Frankfurter Allgemeinen Zeitung innerhalb der Werbeanzeige der Zeitschrift Computer-art-faszination 1999, 261. 50. Döhl 1997b, o. S. 51. Döhl 1997b, o. S. 52. Am 50. Todestag Gertrude Steins errichtete die Stuttgarter Gruppe zu Ehren der Dichterin ein virtuelles internationales Epitaph, das mit einer Ausstellung vernetzten wurde (http://www.s.netic.de/auer/epitaph/epitaph. htm). 53. Dabei handelt es sich um eine Ehrung Heißenbüttels anlässlich seines 75. Geburtstags. (http://www.reinhard-doehl.de/hhh/h_h_h.htm). 54. Auer 2000. 55. Döhl 2000a/2000b, Auer 1997/1999/2000. Obwohl mit dem Stuttgarter Umfeld hier eine Keimzelle der Computerdichtung genannt ist, sind die heutigen Arbeiten von Döhl und Auer in vorliegender Arbeit nicht Gegenstand der Analyse, da sie mit 141

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schiebung des Interesses sprechen, da nicht mehr »nur« poetische Texte, sondern eher narrative Netzstrukturen im Vordergrund stehen.

Noigandres und PO.EX Zu den zahlreichen internationalen Aktivitäten der Stuttgarter Gruppe gehörte auch ein reger Kontakt zu den brasilianischen Autoren der Noigandres Gruppe, insbesondere zu dessen Gründungsmitglied Haroldo de Campos, der Anfang der 1960er Jahre Stuttgart besuchte, um deutschsprachige konkrete Dichter kennen zu lernen.56 Angeregt durch die Begegnung mit de Campos, beschloss Bense noch im September des gleichen Jahres, Arbeiten der brasilianischen Dichtergruppe in der Studiengalerie der Technischen Hochschule auszustellen. Darauf folgte im Wintersemester 1959/60 der Stuttgarter Hochschule ein Leseabend mit sowohl Texten der Noigandres-Gruppe als auch Stuttgarter Autoren. Reisen in unterschiedlichste Länder sowie der Austausch mit anderen Schriftstellern, die am gleichen Projekt der konkreten Dichtung schrieben, war unverkennbar vorherrschend. So blieb die Kontaktaufnahme Haroldo de Campos im Jahre 1959 kein Einzelfall, sondern löste eine Reihe gegenseitiger Besuche zwischen Deutschland und Brasilien aus. Bei einem Besuch in den USA traf Campos u.a. auch auf den Medientheoretiker Marshall McLuhan und kam durch ihn zum ersten Mal mit elektronischen Medien in Berührung.57 Ihren unübersetzbaren Name Noigandres entlieh die brasilianische Dichtergruppe dem Canto XX von Ezra Pounds Werk Cantos, in dem das Wort bereits als Nonsensnamen erscheint. Die Gruppe wurde offiziell im Jahre 1956 in Sao Paulo von den Autoren Augusto de Campos, Haroldo de Campos und Décio Pignatari gegründet.58 Später wurde sie erweitert und schloss auch die Autoren Pedro Xisto, Edgard Braga, José Lino Grünewald, Mário Chamie und Alexandre Wollner ein.59 Die angloamerikanischen Dichter Ezra Pound, James Joyce, Gertrude Stein, die französischen Symbolisten Stéphane Mallarmé und Guillaume Apollinaire und die Dadaisten und Futuristen gehörten (wie auch

den besonderen Bedingungen des Internet konzipiert sind, das, wie eingangs erwähnt, hier ausgeklammert ist. 56. Am 7. Juli 1959 erhielt Bense ein Schreiben des Brasilianers: »Je suis un ami d’Eugen Gomringer, lié au mouvement de poésie concrète du Brésil. J’aimerais beaucoup vous connaître personellement, et vous montrer des travaux de notre groupe. Estce que vous pourrez me donner un rendez-vous? Haroldo de Campos. Nous sommes au Brésil très interessés au sujet de votre nouvelle erthétique.« Walther-Bense 1996, 353. 57. Vgl. Walther-Bense 1996, 365. 58. Schwartz 1996, 76. 59. Walther-Bense 1996, 354. 142

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schon in Stuttgart) zu den literarischen Vorbildern von Noigandres. Ebenso prägend war der Einfluss benachbarter Künste wie der Musik von John Cage, Anton Webern, Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen oder Bereiche der Graphik und des Designs. Das konzeptionelle Interesse der Noigandres-Gruppe bestand hauptsächlich in der Auseinandersetzung mit formalen Strukturen der Schrift. Das von Pound formulierte Konzept des Ideogramms »as a model of poetic composition (a model in which the structure and content of a poem approach a non-verbal condition of identification so that the ›image‹ of the work both form and meaning are one and the same)«60 spielte eine fundamentale Rolle ihrer Poetik. Diese wurde oft mit dem von Marshall McLuhan entliehenen Wort »verbi-voco-visual« umschrieben, was zeigt, dass die Gruppe an einer synästhetischen Form der Poesie arbeitete.61 Das Gedicht Poetamenos (1953) von Augusto de Campos ist dafür beispielhaft, da es in mehreren Farben geschrieben ist und neben dem visuellen Eindruck der Schrift eine Lektüre mit verteilten (männlichen und weiblichen) Stimmen vorsieht.62 Johanna Drucker bemerkt hierzu: »Noigandres searched for a form of metacommunication in which visual and verbal means would coincide and communication would occur through form as an inseparable fusion of form-content, rather than through the conventions of message communication in arbitrary symbols or signs.«63 Wie es schon für die personelle und konzeptionelle Struktur der Stuttgarter Gruppe kennzeichnend gewesen ist, haben auch die brasilianischen Autoren unterschiedliche Ausgangspunkte und Ziele64. Zusammengehalten aber werden sie durch ihr Interesse an der visuellen Kraft und der materialen Substanz der Sprache und der Schrift. Richtungsweisend waren zu Beginn der experimentellen und insbesondere der konkreten Dichtung vor allem die veröffentlichten Manifeste wie z.B. die Schrift Eugen Gomringers vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung (1955), Zur Lage (1964) von Max Bense und

60. Drucker 1996, 44. 61. McLuhan in: Eric McLuhan und Zingrone 1997, 194. 62. Siehe auch die Erläuterung zu Poetamenos im Kap. Computerpoesie/I, 4. (animierte Multimediapoesie). 63. Drucker 1996, 45. 64. So merkt Knauth an, dass das Spektrum der Arbeiten von Haroldo de Campos von neo-barocker visuell-emblematischer Dichtung der frühen 1950er Jahre über konkrete Dichtung der revolutionären »verbivocovisual«-Phase der Noigandres-Gruppe Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre bis hin zu experimentellen Arbeiten der 1980er Jahre reichte. Knauth 1996, 169. 143

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Reinhard Döhl oder das Manifest plano pilôto para poesia concreta, das 1958 im Namen der Noigandres-Gruppe von den beiden de Campos Brüdern Haroldo und Augusto sowie Decio Pignatari verfasst wurde65. Gleich im ersten Abschnitt des Manifests stehen die wesentlichen Eckpunkte, die das Ziel der brasilianischen Variante konkreter Dichtung bestimmen: »concrete poetry begins by being aware of graphic space as structural agent.«66 Die Betonung des graphischen Raums bedeutet eine Abkehr des linearen Verses zu Gunsten einer räumlichen Beziehung der Buchstaben und Wörter zu ihrem Hintergrund und Träger (Papier)67. Die Form des Ideogramms entspricht dieser Struktur, da es eine räumlich-visuelle Syntax durch die Nebeneinanderstellung der Elemente hervorbringt. Die Autoren berufen sich an dieser Stelle auf den französischen Dichter Guillaume Apollinaire, dessen Kalligramme sie als literarische Vorbilder nahmen: »Il faut que notre intelligence s’habitue à comprendre synthético idéographiquement au lieu de analytico-discursivement«68 Für die Noigandres-Autoren war es wichtig, nicht mit der literarischen Tradition zu brechen, sondern diejenigen Arbeiten hervorzuheben, in deren Struktur das Potential einer zukünftigen – neuen – Dichtung liegen könnte. Zu diesen Texten gehörten allen voran Mallarmés Gedicht Un coup de dés, das einen völlig neuen Umgang mit dem Verhältnis Schrift und Raum eröffnete, die Calligramms Guillaume Apollinaires und die Atomisierung der Wörter in den Gedichten e. e. cummings, auch Gertrude Steins Tender Buttons, Ezra Pounds Cantos, James Joyce Ulysses und Finnegans Wake und Kurt Schwitters Sonate in Urlauten. Letzterer war insofern von großer Bedeutung, da die Autoren ein besonderes Interesse an einer synästhetischen Umsetzung von Schrift, Bild und Ton/Klang hatten. Eine Arbeit von Haroldo de Campos nähert sich dem Serialismus an und ist gleichzeitig eine musikalische Partitur, nach der unterschiedliche Stimmen den Text vortragen. Indem die Stimmen den Text immer wieder »durchsprechen«, machen sie die möglichen Lesewege des Textes, horizontal, vertikal oder diagonal, hörbar69:

65. Gomringer 1988, 9-11; Bense und Döhl 1964, Augusto de Campos, Pignatari, Haroldo de Campos 1958, o. S. 66. Augusto de Campos, Pignatari, Haroldo de Campos 1958, o. S. 67. Auffallend ist, dass die Noigandres Gruppe damit der Theorie McLuhans nahe steht, der in den 60er Jahren unter dem Stichwort des »Medienwechsels« eine Abkehr von der analytischen Linearität der Schriftzeile im Buchdruck durch die raumzeitlich synchronen Bilder der Medien, wie z.B. dem Fernsehen, voraussah. Vgl. McLuhan 1999. 68. Augusto de Campos, Pignatari, Haroldo de Campos 1958, o. S. 69. Das Gedicht ist heute mit einer computerbearbeiteten Tonspur versehen und kann im Internet unter der Adresse: http://www.uol.com.br/augustodecampos/ 144

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branco vermelho estanco

branco vermelho espelho

branco

branco

vermelho estanco

branco

Konkrete Poesie ist dominiert von einer grundsätzlichen Spannung zwischen Wortobjekten und ihrer Anordnung auf dem Papier, d.h. einer Spannung zwischen Bild und Schrift. Im Kernstück des Manifests heißt es: »Concrete poem communicates its own structure: structure-content. Concrete poem is an object in and by itself not an interpreter of exterior objects and/ or more or less subjective feelings. Its material word (sound, visual form, semantical charge). Its problem: a problem of functions-relations of this material. Factors of proximity and similitude, gestalt psychology. Rhythm: relational force. Concrete poem, by using the phonetical system (digits) and analogical syntax, creates a specific linguistical area-›verbivocovisual‹ – which shares the advantages of nonverbal communication, without giving up word’s virtualities. With the concrete poem occurs the phenomenon of metacommunication: coincidence and simultaneity of verbal and nonverbal communication; […]« 70 In den 1950er und 1960er Jahren gab die experimentelle (konkrete) Poesie dem Wunsch Ausdruck, Neues auszuprobieren, »to become ›inventors‹ in the Poundian scheme, motivated by the sense that a new poetry for the new age required a ›rupture‹ with the prevailing poetic practice.«71 Die Konkreten fühlten sich als Pioniere, die ihre Arbeit mit dem Wort »invençao« (Erfindung)72 kennzeichneten. Getragen war diese von gegenseitiger Inspiration und Anregung – auch über die Landesgrenzen hinweg. Claus Clüver bemerkt hierzu: »Pioneering into uncharted territory as the new avant-garde, the young poets welcomed like-minded efforts by others as confirmation of the validity of their own. […] The movement originated in the early and mid fifties spontaneously and seperately in several locations, and its history […] was the beginning more a history of mutual discovery than

poemas.htm abgerufen werden. Vgl. hierzu auch die Analyse des Gedichts Lygia Fingers von Augusto de Campos in Kap. Computerpoesie/I, 4. (animierte Multimediapoesie). 70. Augusto de Campos, Pignatari, Haroldo de Campos 1958, o. S. 71. Clüver 1996, 267. 72. Vgl. hierzu de Campos anlässlich des Symposiums zum Thema Contemporary poetics and concretism: a world view from the 1990s. In: Jackson, Vos und Drucker 1996, 369: »[…] the practitioners of Concrete poetry situate themselves […] programmatically, in the category of the ›inventors‹, that is, those who are engaged in the pursuit of new forms.« 145

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that of a poetic project spreading by inspiration and example – although that, too, was soon to happen.«73 Hinzu kommt, dass eine Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen wie z.B. Poesie, Musik, Architektur und bildender Kunst wie schon für die Stuttgarter Gruppe kennzeichnend war. In Ulm unterrichtete zu dieser Zeit der Schweizer Künstler Max Bill an der Hochschule für Gestaltung (wo Max Bense zur gleichen Zeit Gastprofessor war) und war bestrebt, die Bauhaustradition im Nachkriegsdeutschland wieder zu etablieren. Sein damaliger Assistent, Eugen Gomringer, der durch die visuellen Arbeiten Bills zum Konkretismus gelangte, war der wohl radikalste Vertreter konkreter Poesie im deutschsprachigen Raum.74 Bills Formprinzip war dem visuellen Formalismus verpflichtet, eine Variante früherer konstruktivistischer und formalistischer Tendenzen (soviet-)russischer und dänischer Künstler wie z.B. Kasimir Malevich, Piet Mondrian oder Theo van Doesburg. Anstoß zur konkreten Poesie gab die Publikation van Doesburgs Art Concret (1930) die die Grundlage des Konkretismus definierte: »a search for a universal formal language which had no relation to nature, emotional life or sensory data, and the pursuit of works which were completely void of lyrical, symbolic or dramatic expression.«75 Die Nähe zu Benses »künstlichen« Texten ist unverkennbar. Das Ergebnis waren Bilder, die durch sorgsam ausgerechnete und mathematisch kalkulierte Ordnungssysteme entstanden sind. Dass es unter diesen Voraussetzungen nahe lag, Großrechenanlagen in den künstlerischen Prozess einzubeziehen, durch den das Ergebnis objektiviert werden konnte, ist offensichtlich. Augusto de Campos verfolgte laut Drucker »his own ›pop-concretism‹ which incorporated materials from media culture and non-literary sources into his poetry […]«76. Die Entwicklung seiner Arbeiten, die bis in die heutige Zeit reichen, spiegeln auch eine Auseinandersetzung mit dem Computer als Schreibmedium wider. Wiederum beeinflusst von der Noigandres-Gruppe und ihren radikal formulierten Grundsätzen zur konkreten Poesie entstand Anfang der 1960er Jahre in Portugal die Gruppe POESIA EXPERIMENTAL (PO.EX). Zu den damaligen Gründungsmitgliedern der ersten Generation portugiesischer experimenteller Autoren zählte auch der spätere Videodichter Ernesto de Melo e Castro. Die Arbeiten der PO.EXAutoren, neben Melo e Castro gehörten auch António Aragao, Salette

73. Clüver 1996, 267. 74. Vgl. auch Drucker 1996, 44. 75. Drucker 1996, 43. Vgl. auch Haftmann 1961, 338-343. 76. Drucker 1996, 45. Vgl. die Homepage von Augusto de Campos unter der Adresse: http://www.uol.com.br/augustodecampos/home.htm 146

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Tavares, Ana Hatherly und José Alberto Marques dazu, zeichneten sich durch eine besondere politische Motivation aus, die sie gerade darin auch von anderen internationalen Gruppen unterschied: »As its marginality became synonymous with clear-cut opposition to the establishment, both artistic and political, PO.EX exercised active rebellion.«77 Die Autorin Ana Hatherly berichtet, dass sich zum Zeitpunkt der Etablierung der konkreten Poesie Portugal unter der beinahe ein halbes Jahrhundert dauernden Diktatur Salazars befand. Zusätzlich führte das Land einen Kolonialkrieg mit Angola, was von der jüngeren portugiesischen Generation überwiegend verurteilt wurde. In diesem Klima sah sich die PO.EX-Gruppe besonders zu einer politischen Stellungnahme herausgefordert: »With the 1974 Revolution, things changed. With the abolition of censorship, the release of political prisoners, and the end of the colonial war, ideas and ideologies began to circulate freely. […] As a slogan of the time stated, ›poetry was really in the streets.‹ Political posters, graffiti, and murals spread all over the country.«78 Nachdem sich die Euphorie der Revolution gelegt hatte, sah man sich in Portugal mit einem neuen, noch ungeformten kulturellen Bild des Landes konfrontiert. So galt die Suche neben neuen poetischen Ausdrucksformen vor allem den Wurzeln der literarischen Vergangenheit Portugals, die mit der Renaissance- und Barockdichtung ihre Blüte erlebt hat: »Alongside avant-garde poets of the time, the first issue of POESIA EXPERIMENTAL, the magazine-manifesto of the group, presented works by the German baroque bard Quirinus Kuhlmann and by Luís de Camoes.«79 Die Tradition des Barocks mit seinem speziellen Interesse an einer Kombination von Text und Bild und der Dominanz von Spielelementen rückte immer mehr in den Vordergrund, worin de Melo e Castro auch den Unterschied zwischen der brasilianischen Dichtergruppe und der portugiesischen erkennt: »Although at the end of the fifties the contact with the Noigandres Poets of Sao Paulo was decisive, I soon realized that there was a different historical set of reasons for Concrete poetry in Portugal and in Brasil. Portugal, on the Iberian peninsula and belonging to Mediterranean culture, is one of the birth places of baroque literature. […] It was necessary to rediscover the Portuguese Baroque to come to the conclusion that the Por-

77. Hatherly 1996, 67. 78. Hatherly 1996, 69. 79. Hatherly 1996, 71. Quirinus Kuhlmann hat als Autor permutativer und kombintorischer Lyrik ebenso einen großen Einfluss auf die Dichter der OuLiPo-Gruppe gehabt. Noch heute sind seine Texte Inspirationsquellen für algorithmische Computerexperimente. Vgl. hierzu Cramer 2000. 147

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tuguese experimental and visual Poetry of the 1960th had its roots in seventeenthcentury baroque poetry much more than in the influence of the theories of Fenollosa and Ezra Pound on the Chinese ideogram.«80 Konkrete Poesie war für Melo e Castro nie ein Zielpunkt, den es zu erreichen galt, sondern ein Ausgangspunkt, den er selbst als »launching platform«81 bezeichnete. Seine Experimente beziehen heute die technischen Medien Video und Computer mit ein. Er hat literarische Techniken immer auch als Werkzeuge angesehen und die Aufgabe des Dichters darin erkannt, diese an einen neuen Gebrauch anzupassen: »To be too much attached to the traditional poetics may be sometimes to ignore the new masters and the world we live in.«82

OuLiPo Das erste Zusammentreffen der französischen OuLiPo-Autoren kam am 24. November 1960 zustande. Im Keller des Restaurants Au vrai Gascon versammelten sich die Gründungsmitglieder: Jean Queval, Raymond Queneau, Jean Lescure, François Le Lionnais, Jacques Duchâteau, Claude Berge und Jacques Bens83. Zunächst wurde das neue Projekt auf den Namen S.L.E. (Séminaire de littérature expérimentale) getauft, was jedoch einen Monat später, aufgrund mehrfacher Intervention einiger Mitglieder, in OuLiPo umbenannt wurde – aus folgendem Grund: Während »Li« für »littérature« akzeptiert war, lehnte man »séminaire« hingegen ab, da sich die Mitglieder hier mit ihrem speziellen (literarischen) Humor nicht als ein »ernsthaftes« wissenschaftliches Seminar verstanden wissen wollten.84 Auch der Begriff experimentell wurde abgelehnt, da er die Arbeit in einer anderen als der intendierten Richtung ansiedeln würde: »[…] Le mot ›expérimental‹, nous ayant pa-

80. Melo e Castro. In: Jackson, Vos und Drucker 1996, 377. 81. Melo e Castro. In: Jackson, Vos und Drucker 1996, 389. 82. Melo e Castro. In: Jackson, Vos und Drucker 1996, 397. 83. Die Gruppe OuLiPo setzte sich aus verschiedenen Mitgliedern zusammen, die in unterschiedlich enger Verbindung zueinander standen. Zu nennen wären neben den Gründungsmitgliedern noch: Noël Arnaud, Marcel Bénabou, André Balvier, Paul Braffort, François Caradec, Barnard Cerquiglini, Ross Chambers, Stanley Chapman, Marcel Duchamp, Luc Etienne, Paul Fournel, Michelle Grangaud, Jacques Jouet, Latis, Hervé Le Tellier, Harry Mathews, Michèle Métail, George Perec, Pierre Rosenstiehl, Jacques Roubaud und Albert-Marie Schmidt. Zudem gab es so genannte »correspondants étrangers«, die nicht in Frankreich lebten, jedoch gelegentlich mit den Methoden der Gruppe arbeiteten, darunter auch Italo Calvino und Oskar Pastior. 84. »Séminaire nous gênait par une sorte de rappel des haras et de l’insémination artificielle […]«. 148

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ru fonder toute l’opération sur des actes et des expériences encore mal discernables, nous jugeâmes prudent de nous asseoir sur notion objective, sur un fait réel de l’être littéraire: sa potentialité.«85 Die Autoren wollten ihre Arbeit nicht als Versuchsfeld verstanden wissen, dessen Basis schlecht erkennbare Handlungen und Erfahrungen gewesen wären. Das mag im Rahmen der hier diskutierten experimentellen Literatur verwirrend klingen, handelt es sich doch bei Texten der OuLiPoWerkstatt um permutative und kombinatorische Literatur, deren Wörter und Sätzen »das in der Sprache herrschende, konventionelle Verhältnis von Bedeutendem und Bedeutetem genommen«86 ist und damit eher im Bereich des Probierenden und Experimentierenden angesiedelt ist. Die OuLiPo-Mitglieder arbeiteten von Anfang an an einem klaren Programm und klaren Zielvorrichtungen, für deren Beschreibung sie jedoch eher nach einem objektiven Begriff suchten: »potentiell«. OuLiPo geht es in erster Linie nicht um experimentelle, sondern um »mögliche«, potentielle, Literatur, d.h. nicht um das vage Ausprobieren neuer Formen, sondern um die systematische Erarbeitung potentieller Literatur nach bestimmten Regeln. Jacques Jouet erklärt, dass »OuLiPo nie einer Werkästhetik das Wort geredet hat, sondern immer schon die potentielle Energie einer Losung (Formzwang, Prozeß, Prinzip, Algorithmus, Axiom, prescripta etc.) privilegiert hat.«87 Ihre wichtigste Technik ist die der »contraintes« (Formzwang), womit die selbst gewählten Einschränkungen innerhalb des zur Verfügung stehenden Materials gemeint sind. Einer der Gründer der Literaturwerkstatt präzisiert, dass jedes literarische Werk aus einer Idee und einem bestimmten Formzwang bestehe: »Contraintes du vocabulaire et da la grammaire, contraintes des règles du roman (division en chapitres, etc.) ou de la tragédie classique (règle des trois unités), contraintes de la versification générale, contraintes des formes fixes (comme dans le cas du rondeau ou du sonnet), etc.«88 Statt sich für ihre gegenwärtige Arbeit mit den bereits erprobten Literaturmodellen und -verfahren der Vergangenheit zu begnügen, hat sich OuLiPo zur Aufgabe gemacht, die Regelhaftigkeit der Literatur systematisch und wissenschaftlich zu erforschen, wobei die Autoren bereits den Computer als nützliches Instrument erkannt haben. Die Oulipiens sahen also ihre Aufgabe zweigeteilt: Zum einen waren sie interessiert, wissenschaftlich die Literaturgeschichte zu analysieren,

85. 86. 87. 88.

Lescure 1999, 26. Boehncke und Kuhne 1993, 9. Jouet 1995, 65. Le Lionnais 1999, 16 aus dem ersten Manifest La Lipo von 1973. 149

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um diejenigen Werke aufzuspüren, die als Vorläufer – als OuLiPoWerke »avant la lettre« – angesehen werden können. Diesen Teil nannten sie »analytisch«. »Les premières communications portèrent sur des œuvres anciennes, présentant toutes le caractère de pouvoir servir d’ancêtres, sinon toujours de modèles, aux travaux que nous souhaitions mettre en train.«89 Sie widmeten einen großen Teil ihrer Arbeit der Aufarbeitung der Geschichte der experimentellen Literatur (H.L.E. = Histoire des littératures expérimentales). Dass hier der Begriff experimentell weiterhin eine Rolle spielte, sollte gleichzeitig die eigene literarische Produktion gegenüber der historischen abgrenzen: »On voyait ici reparaître la notion d’expérimentations ou d’exercice, au moment même où nous prenions conscience de ce qui nous distinguait de ce passé: la potentialité.«90 Das Potentielle ist das, was noch nicht existiert. Diesen Teil ihrer Arbeit, der sich die Gruppe verschrieben hat, nennen sie »systematisch«. Raymond Queneau beginnt seinen Aufsatz Potentielle Literatur mit der Frage, was OuLiPo nicht ist. Erstens lehnt er es ab, in der Literaturwerkstatt eine Bewegung oder Schule zu sehen, da das Ziel der Gruppe nicht primär mit ästhetischen Wertmaßstäben gesteckt sei, was nicht bedeute, dass diese unwichtig seien. Zweitens nähmen die Mitglieder nicht das Etikett eines wissenschaftlichen Seminars in Anspruch, da sie keine »›seriöse‹ Arbeitsgruppe« bilden. Schließlich handele es sich drittens auch nicht um »experimentelle oder aleatorische Literatur (wie sie von der Gruppe um Max Bense in Stuttgart betrieben wird).«91 Vielmehr beschreibt er im Folgenden die Arbeit der OuLiPo-Werkstatt als »naiv«, im Sinne der vormathematischen Bedeutung und fügt ironisch hinzu: »Wir gehen ohne allzu große Raffinesse voran und versuchen, die Bewegung beim Gehen zu beweisen.«92 Zweitens als »handwerklich«, was bedeutet, dass OuLiPo Wert auf Text-Arbeit im wörtlichen Sinn legt, d.h. Arbeit am Sprachmaterial durch Kombinationen und Permutationen von Wörtern, Aufstellen von Regeln und Strukturen und die Erprobung ihres Funktionierens am und im Text. Schließlich führt Queneau noch ein drittes Stichwort an, das die Besonderheit der Gruppe auf den Punkt bringt, nämlich ihren speziellen Humor. Das Stichwort lautet »amüsant« und wird wie folgt erläutert: »Amüsant. Wenigstens für uns. Einige finden unsere Recherchen schrecklich langweilig, was Ihnen keinen Schrecken einjagen sollte, Sie sind ja schließlich nicht hier, um sich zu amüsieren«93. Queneau spielt

89. 90. 91. 92. 93.

Lescure 1999, 27. Lescure 1999, 27. Queneau 1993, 44. Queneau 1993, 44. Queneau 1993, 44. 150

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hier auf die Wurzeln der OuLiPo-Strategien an, die in der Spieltheorie zu finden sind und setzt sich durch seine an Anspielungen und Doppeldeutigkeiten nicht minder reiche Erklärung über eine in der Lyrik oftmals vorherrschende Überlast an semantischer Bedeutung hinweg. Boehncke und Kuhne präzisieren, dass »in der ästhetischen ›contrainte‹ [das] sprachliche Material systematisch daran gehindert [wird], ›von selbst‹ Bedeutung zu tragen. Das Nadelöhr des Formzwangs, das von den Wörtern, Versen, Texten zu passieren ist, zwingt die Bedeutung dazu, sich klein zu machen. Die neu entstehenden Verhältnisse aber von Bedeutung und Material zeigen die schönsten Überraschungen.«94 Einen wichtigen Teil der analytischen Arbeit nimmt die Suche nach analogen Formen und Verfahren in der Literaturgeschichte ein. Besonderes Interesse gilt der Recherche paraliterarischer Formen des Spiels wie z.B. dem Anagramm, dem Palindrom, magischen Wörterspielen oder Nonsensliteratur. Das Lipogramm stellt die Kunst dar, einen Text unter Ausschluss eines bestimmten Buchstabens zu verfassen.95 Das bedeutet, dass in diesem Text keine Wörter vorkommen dürfen, die z.B. den Buchstaben »i« beinhalten. »Nestor de Laranda«, so Queneaus Feststellung, »hat im 3. oder 4. Jahrhundert eine lipogrammatische Ilias geschrieben: Im ersten Gesang fehlt der Buchstabe ›a‹ und so weiter.«96 Um eine andere Textstrategie handelt es sich bei der »Methode S + n«, bei der jedes Substantiv eines Textes durch das in einem Lexikon an (n-ter) Stelle (nach dem ursprünglichen Wort) stehende Substantiv ersetzt wird.97 Die Zahl »n« ist dabei variabel. Eugene Helmlé, der kongeniale deutsche Übersetzer George Perecs, komponierte auf diese Weise den Anfang der Genesis nach der Methode S + 9, während er dabei das deutsch-spanische Diccionario liliputiense cadet verwendete: »Am Angelhaken schuf der Graf Hintergrund und Erfindung. Und die Erfindung war wüst und leer und es war finster auf dem Tintenfleck; und das Geld des Grafen schwebte auf dem Wasserrad. Und der Graf sprach: Es werde Liebhaber und es ward Liebhaber. Und der Graf sah, dass der Liebhaber gut war. Da schied der Graf den Liebhaber vom Fiskus und

94. Boehncke und Kuhne 1993, 9. 95. Vgl. hierzu die Erläuterungen der Geschichte und der Struktur des Lipogramms von Perec und Queneau in: OuLiPo 1999, 71-96. 96. Weitere Beispiele macht er bei Pindar und Lope de Vega aus. Queneau 1993, 46. 97. Vgl. hierzu die Erläuterungen von Lescure in: OuLiPo 1999, 139-144. 151

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nannte den Liebhaber Taille und den Fiskus Nachtwandler. Da ward aus Abführmittel und Moschee die erste Taille. [usw.]«98 Eine andere sehr beliebte Methode ist die Homophonie. Da sich die französische Sprache exzellent für phonetische Spiele eignet, liegt dieses Verfahren besonders nahe. In der Literaturgeschichte begegnet man Homophonien hauptsächlich in Gedichten, aber auch innerhalb einzelner Romane. Dabei handelt es sich um Wortreihen, die durch unterschiedliche Unterbrechungen andere, meist vollkommen verschiedene Bedeutungen offenbaren. George Perec galt unter den Oulipiens als Meister der Homophonien. In den folgenden Beispielen lassen sich jeweils zwei Namen erkennen. Im ersten Fall der Name »OuLiPo«, im zweiten der Nachname eines Mitglieds, Marcel »Bénabou«: »1. Tham Douli portant les authentiques tracteurs métalliques rencontre trois personnes déplacées. […] 3. Septime Sévère apprend que les négociations avec le Bey n’aboutiront que s’il lui donne sa sœur Septimia Octavilla.«99 Von Perec stammt auch einer der bekanntesten OuLiPo-Romane, der das Leben in einem Pariser Mietshaus beschreibt und den Titel La Vie Mode d’Emploi trägt. Der erste konzeptionelle Versuch, dem Romanprojekt eine Struktur zu verleihen, entstand 1967 und sah vor, auf den Text eine mathematische Struktur mit dem Namen »Paar orthogonaler lateinischer Quadrate der Ordnung 10« anzuwenden.100 Dabei wurde das Feld von 10 x 10 Quadraten auf den Plan eines aufgeschnittenen Mietshauses appliziert, wobei jedes der Zimmer ein Feld des Quadratpaars einnahm und zugleich ein Kapitel des Buchs bestimmte. »Die mit dieser Struktur gebildeten Permutationen bestimmten die konstitutiven Elemente eines jeden Kapitels: das Mobiliar, die Einrichtung, die Personen, die historischen und geographischen Anspielungen, die literarischen Bezüge, Zitate etc.« 101 Wie man sich die Struktur eines Paars orthogonaler lateinischer Quadrate der Ordnung 10 vorstellen kann, erläutert Perec am Beispiel einer kleineren Ordnung, nämlich der Ordnung 3. Dabei geht er von einer Geschichte aus, in der drei Personen mitspielen, Dupont, Durand und Schustenberger. Alle drei haben zwei Reihen von Attributen, nämlich jeweils eine Kopfbedeckung – Käppchen (K), Melone (M) und Barett (B) – und ein Ding in oder an der Hand wie z.B. einen Hund (H), einen Koffer (Ko) und einen Rosen-

98. 99. 100. 101.

Boehncke und Kuhne 1993, 96. Boehncke und Kuhne 1993, 108-109. Perec 1993, 61. Perec 1993, 62. 152

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strauß (R). Das Ziel ist nun, eine Geschichte zu konstruieren, in der die Personen die Attribute aufweisen, nie aber in derselben Paarung. Nach Perec entsteht folgendes Schema, was zugleich ein Paar orthogonaler lateinischer Quadrate der Ordnung 3 darstellt: Dupont 1 K Ko 2 BH 3 MR

Durand BR M Ko Ko H

Schustenberger MH Ko R B Ko

Die durch Kombinationen entstehende Handlung muss sich also diesen Transformationen anpassen, d.h. berücksichtigen, dass Dupont im ersten Kapitel ein Käppchen und einen Koffer trägt und im zweiten dafür ein Barett und einen Hund an der Leine führt. Was nun an den zwei Serien mit jeweils drei Elementen deutlich wird, muss in Das Leben Gebrauchsanweisung in »21 mal zwei Serien mit zehn Elementen«102 übertragen werden. Mit der Vorliebe zum Spiel, Zufall und zur Nonsensliteratur befindet sich die Literaturwerkstatt in der Tradition der literarischen Avantgarde, jedoch mit einem grundsätzlichen Unterschied, der vermutlich auch das lange Fortbestehen der Gruppe bis heute ermöglichte. Während nämlich den Avantgardeprojekten eigen war, eine Führerfigur auszuprägen, die über Richtung und Ziel der Gruppe bestimmte und nicht selten damit Zwang auf die Mitglieder ausübte, blieb (und bleibt bis heute) das Vorhaben der OuLiPo-Werkstatt eher ein Ensemble mehr oder weniger gleichberechtigter Mitglieder, die viel stärker an formalen Strukturen orientiert sind, anstatt sich einem thematischen Programm unterzuordnen.103 So stellt auch Queneau das strukturelle Interesse an der Literatur in den Vordergrund: »Quel est le but de nos travaux? Proposer aux écrivains de nouvelles ›structures‹, de nature mathématique ou bien encore inventer de nouveaux procédés artificiels ou mécaniques, contribuant à l’activité littéraire: Des solutions de l’inspiration, pour ainsi dire, ou bien encore, en quelque sorte, une aide à la créativité.« 104 Ein weiterer deutlicher Unterschied zur Avantgarde liegt in dem ausdrücklichen Interesse der Gruppe an der literaturhistorischen Vergangenheit. Während die Dadaisten und auch die Surrealisten mit der

102. Perec 1993, 65. 103. Kuon sieht im Fall des Surrealismus durch die strenge und unnachgiebige Aufsicht Bretons über die Mitglieder den Untergang der Gruppe vorgezeichnet. Kuon 1999, 15. 104. Queneau 1965, 321. 153

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Vergangenheit brachen, um eine neue, revolutionäre Schreibweise ohne Vorläufer zu etablieren, machen sich die Oulipiens gerade auf die Suche, diese Vorläufer (die »plagiateur par anticipation«105) zu suchen und ihre Werke zu sammeln und zu beschreiben. An dieser Stelle wird deutlich, dass OuLiPo die Absicht vertritt, sich in eine Tradition einschreiben zu wollen, statt mit dieser zu brechen. Interessant für die Entwicklung der elektronischen Poesie ist der Umgang der Oulipiens mit dem Computer. Innerhalb der Gruppe befinden sich seit ihrer Gründung neben Schriftstellern auch Mathematiker und Informatiker. Bereits dem Ersten Manifest von Le Lionnais ist zu entnehmen, dass die Autoren dem Computer als Schreibinstrument nicht abgeneigt waren, was nahe lag, da die Autoren vor allem mit den Strukturen der Permutation und Kombinatorik arbeiteten. Im Juni 1977 organisierte das A.R.T.A. ( = Atelier de Recherches Avancées du Centre d’Art et de Culture George Pompidou) die SchriftstellerComputer-Tage. Mit dieser Veranstaltung sollte die Grundlage für eine Zusammenarbeit zwischen elektronischer Datenverarbeitung und literarischem Schaffen bereitet werden. Paul Fournel berichtet: »Christian Cavadia a confié l’ensemble du projet à Paul Braffort (logicien, informaticien et écrivain) dont le premier but a été de sensibliser le grand public et les écrivains eux-mêmes à cette nouvelle démarche.«106 Zunächst wurde auch hier auf bereits existierende Texte zurückgegriffen, worin sich gleichzeitig zeigt, dass die kombinatorischen und permutativen Texte auf Regeln basieren, die den Strukturen des Computers entsprechen. Fournel äusserte sich hierzu wie fogt: »Il y a, en effet, quelques oeuvres combinatoires ou algorithmiques dont l’ordinateur peut grandement faciliter la lecture. La machine fait ici un simple travail de sélection et d’édition.«107 Ein Beispiel für kombinatorische Literatur war Queneaus Cent Mille Milliards de Poèmes. Es besteht aus 10 Sonetten, die so angelegt sind, dass jeder Vers mit jedem anderen kombinierbar ist. Das Ergebnis sind potentielle 1014 Sonette, die im Buchformat lediglich aufgrund der in Streifen geschnittenen Seiten zu kombinieren sind. Der Computer aber kann so programmiert werden, dass er die Eingabe von Daten nach bestimmten Parametern auswählt und auf diese Weise ein Gedicht generiert, das aus den vorher eingegebenen 10 Sonetten (à 14

105. Le Lionnais schreibt in seinem zweiten Manifest über die literarischen Vorläufer: »Il nous arrive parfois de découvrir qu’une structure que nous avions crue parfaitement inédite, avait déjà été découverte ou inventée dans le passé, parfois même dans un passé lointain. Nous nous faisons un devoir de reconnaître un tel état de choses en qualifiant les textes en cause de ›plagiats par anticipation‹.« Le Lionnais 1999c, 23. 106. Fournel 1999, 298. 107. Fournel 1999, 298. 154

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Zeilen) ausgewählt wird. 14 Sonettzeilen erscheinen auf dem Bildschirm, während die anderen Verse nicht vorhanden sind – außer potentiell im Speicher des Rechners. »L’ordinateur joue dans ce cas un rôle d’assistant à la mise au point définitive du texte.«108 Bemerkenswert ist an dieser Stelle auch, dass der Computer anschließend, bei der Edition des Sonetts, diesem sowohl die Signatur des Autors Queneau als auch die des Lesers gibt. Ein anderes Beispiel stammt aus dem Bereich der algorithmischen Literatur: Conte à votre façon von Dominique Bourget. In diesem Fall steht die Lektüre des Lesers im Vordergrund. Der Text ist so programmiert, dass der Rezipient permanent aufgefordert wird, durch die Beantwortung alternativer Fragen über den Verlauf der Geschichte zu entscheiden. Der Text kann als Vorläufer heutiger Hypertexte angesehen werden: »L’ordinateur, dans un premier temps, ›dialogue‹ avec le lecteur en lui proposant les divers choix, puis dans un second temps, édite ›au propre‹ et sans les questions, le texte choisi. Le plaisir de jouer et le plaisir de lire se trouvent donc combinés.«109 Auch Italo Calvino erarbeitet anlässlich der SchriftstellerComputer-Tage einen Text mit Hilfe der Rechenmaschine, da ihn das Ausgangsmaterial quantitativ überforderte und er es lediglich mit Hilfe einer Maschine bewältigen konnte. »Italo Calvino propose à la machine des listes de personnages, de contraintes et d’événements et lui demande de déterminer par affinages progressifs qui a pu effectivement faire quoi.«110 Mit Marcel Bénabous aphorismes artificiels ist bereits ein technisch komplizierteres Projekt unternommen worden. Dabei stellt der Autor ein Reservoir an leeren Formen und ein Reservoir an Wörtern bereit, die nach dem Wunsch des Lesers kombiniert werden sollen: »Le but de cette entreprise est de produire des nouvelles diversifiées en très grandes quantités selon les désirs précis et variés formulés par le lecteur (il pourra choisir la longueur, le thème, le décor, les personnages et le style).«111 Die beiden letztgenannten Computerprogramme erinnern in ihrer Struktur an das Kompositionsprinzip von Perecs Roman La Vie Mode d’Emploi. Handelt es sich auch nicht direkt um Paare orthogonaler lateinischer Quadrate unterschiedlicher Ordnungen, so ist dennoch zu

108. Fournel 1999, 299. Vgl. hierzu auch die Analyse in Kap. Computerpoesie/ III, 1. 109. Fournel 1999, 299. Auffallend ist, dass für diese Beispiele generativer Computerdichtung immer auch gleichzeitig am Ende der Ausdruck der edierten Texte obligatorisch ist. Multimediale Dichtung dagegen weist sich gerade dadurch aus, dass keine Papierversion mehr möglich ist. 110. Fournel 1999, 300. 111. Fournel 1999, 301. 155

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erkennen, dass auch die Computerprogramme nach bestimmten Regeln funktionieren und je nach Eingabe des Lesers bestimmte Handlungen und Personen nach diesen Regeln generieren. Dass durch dieses Verfahren eine potentielle, d.h. mögliche Literatur entsteht, eine, die jedes Mal bei Anwendung der Regeln anders ausfällt und jedes Mal, wenn sie realisiert ist, nicht mehr potentiell ist, kann man auch mit dem Begriff virtuell umschreiben. In andere Terminologie gebracht, ist das Vorgehen der Oulipiens auch mit dem Begriff des Programmierens zu erläutern. Sie entwickeln ein Programm (Regelwerk) nach einer bestimmten Zielsetzung (»contrainte«) auf der Grundlage mathematischer Strukturen, nach deren Zusammenspiel potentielle oder virtuelle, jedenfalls noch nicht realisierte Literatur generiert werden kann. Nicht die Texte selbst stehen in einer exponierten Stellung im Vordergrund, sondern ihre Strukturen, ihre Matrix. Für die Oulipiens war der Computer jedoch lediglich nur eines unter mehreren Schreibinstrumenten, dessen besondere Potentialität offensichtlich keinen zusätzlichen Anreiz bot.112 Der Computer war eine Schreibtechnik, mittels derer die mathematischen, kombinatorischen oder permutativen Strukturen schneller umgesetzt werden konnten oder sich kompliziertere mathematische Formeln berechnen ließen – im Zentrum ihres Interesses blieben die Strukturen selbst. Für einige unter ihnen, besonders den informatisch interessierten und ausgebildeten Mitgliedern, genügte dies nicht. »Très vite, des informaticiens proposèrent des versions sur ordinateur qui amélioraient l’efficacité du travail combinatoire du lecteur.«113 Da sich jedoch abzeichnete, dass sich die elektronischen Experimente in eine andere Richtung als die der OuLiPo-Regeln bewegten, war es unumgänglich, eine neue Gruppe zu gründen.

A.L.A.M.O. und L.A.I.R.E. Im Juli 1981 entstand aus der Initiative von Paul Braffort und Jacques Roubaud eine neue Werkstatt, die sich hauptsächlich mit der Verbindung von Literatur und Informatik auseinander setzte.114 Die Gruppe nannte sich A.L.A.M.O., was »Atelier de Littérature Assistée par la

112. Hinzu kommt, dass die Rechenanlagen der frühen 60er Jahre auch nicht die Möglichkeiten eines heutigen Personal Computers bereit hielten. Über das Verhältnis der Oulipiens zum Computer siehe auch das Interview mit Balpe im Anhang dieser Studie. 113. Braffort 1995, 173. 114. Zur offiziellen Gründung der Gruppe kam es 1982 anlässlich einer Tagung, die von den französischen Ministerien für Kultur, Forschung und Technologie im Centre George Pompidou organisiert wurde. 156

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Mathématique et les Ordinateurs« bedeutete. Unter den Mitgliedern befanden sich sowohl ehemalige Oulipiens als auch neu assoziierte Schriftsteller, Linguisten, Pädagogen und Spezialisten, die sich vornehmlich mit Formen der künstlichen Intelligenz beschäftigten: u.a. Simone Balazard, Jean-Pierre Balpe, Marcel Benabou, Mario Borillo, Michel Bottin, Paul Braffort, Paul Fournel, Pierre Lusson und Jacques Roubaud. Konzeptionell lehnte sich die Gruppe noch in weiten Teilen an die Arbeit der Oulipiens an, so z.B. in ihrer historischen Suche nach Vorläufern der permutativen und kombinatorischen Literatur: »Parmi les différentes sources de potentialité qu’il était naturel d’exploiter, c’est naturellement que nous nous sommes tournés vers Jean Meschinot (vers 1490) et Quirinius Kuhlmann (vers 1660), qui ont exploité très tôt les possibilités littéraires de la combinatoire.«115 Während jedoch die OuLiPo-Autoren ihre Texte »von Hand« verfertigten, setzen die Mitglieder von A.L.A.M.O. grundsätzlich den Computer zur Realisierung ihrer Texte ein, für den sie zuvor ein entsprechendes Programm schreiben. Denn das Computerprogramm als Regelwerk ist in der Lage, in Verbindung mit einem bestimmten, vorher definierten Vokabular, potentielle Texte generieren zu können. Im Vorwort der Sondernummer der Zeitschrift Action Poétique heißt es, der Computer solle von nun an im Dienste der Literatur stehen: »L’A.L.A.M.O. […] est un groupe constitué d’écrivains et d’informaticiens […], rassemblés autour du projet d’utiliser, de toutes les façons possibles, et sans aucun exclusive préalable, l’ordinateur au service de la littérature.«116 Einer der wichtigsten Vertreter A.L.A.M.O.s war Jean-Pierre Balpe, der sich mit der Entwicklung unterschiedlichster Poesiegeneratoren beschäftigte, wozu z.B. das RENGA- oder HAIKU-Programm oder der Liebesgedichtgenerator AMOUR (1980) zählen.117 Die Verwendung des Computers, so wie sie von der Gruppe A.L.A.M.O. verfolgt wird, lässt sich in drei Bereiche unterscheiden. Für den ersten Bereich erklärt Paul Braffort, dass »pour ce type d’application, l’outil informatique fonctionne essentiellement comme un éditeur.«118 Während ein Leser der Cent Mille Milliards de Poèmes von Queneau nur theoretisch fähig wäre, alle 1014 Gedichte zu kombinieren, kann ein Computer mit der entsprechenden Software alle diese möglichen Gedichte durchspielen. Die Rechenmaschine übernimmt die

115. Braffort 1995, 173. 116. Action Poétique 1984, 3. 117. Balpe ist derzeit Professor am Département Hypermédias an der Universität Paris VIII. Zu seinen speziellen Generatoren und Programmen siehe Balpe 1986. 118. Braffort 1995, 175. 157

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kombinatorische Arbeit – auch die von sehr komplexen Prozessen. Der zweite Anwendungsbereich setzt kompliziertere Mechanismen voraus und bedient sich zweier Methoden: 1. der Ersetzung und 2. der Filtrierung. Im ersten Fall ersetzt der Computer nach bestimmten Regeln ausgewählte Textstellen (ähnlich dem Prinzip der »Methode S + n«) mit vorher definierten Wörtern.119 Die Filtrierung wird nun zusätzlich eingesetzt, um den neu entstehenden Text »verständlich« zu machen. Jedem Wort wird aus dem Reservoir eine Anzahl von Attributen zugeteilt, die dafür sorgen, dass das neu hinzugekommene Wort in die entsprechende syntaktische, semantische und stilistische Ordnung eingebunden wird. Der dritte und aufwändigste Anwendungsbereich des Computers ist die Erzählung, der »plot« selbst, der mit Hilfe von Programmen erstellt wird. Da es das Ziel der A.L.A.M.O.-Autoren ist, die Möglichkeiten der computergestützten Kombinatorik und Permutation zu erproben, ist ihr Arbeitsfeld sowohl thematisch als auch formal relativ offen. Es handelt sich in jedem Fall um die Erstellung und Bearbeitung von Texten, jedoch nicht ausschließlich um literarische. Die automatische Generierung lyrischer Texte – wie sie zu Beginn der Computerpoesie in Stuttgart durch Théo Lutz vorgenommen wurde – ist dabei nur eine Variante der Möglichkeiten, Texte zu erstellen. Philippe Bootz bemerkt in seinem Rückblick über die Entwicklung der französischen Computerdichtung, dass es zwei Faktoren in Frankreich gab, die eine Annäherung an die Verwendung neuer Medien in literarischer Perspektive begünstigt haben.120 Zum einen existiert in Frankreich eine besondere experimentelle Poesietradition, die in diesem Zusammenhang vor allem von der Werkstatt OuLiPo geprägt wurde, ihre Anfänge jedoch bereits mit Mallarmé und dessen revolutionärem Umgang mit dem Papierraum nahm. Zum zweiten führt Bootz hier eine technische Besonderheit Frankreichs an, die eine für Europa einzigartige Erfindung darstellt, das Minitel. Dieses Gerät war in der Lage, ähnlich einem Faxgerät, Daten in Form von Texten und Bildern über die Telefonleitung zu senden. Durch diese technische Vorrichtung wurde die erste telematische Kunstzeitschrift mit dem Titel Art Access ermöglicht. Ins Leben gerufen wurde sie von der heute durch ihre videotechnischen Körperinszenierungen bekannte Künstlerin Orlan und dem Computerdichter Frédéric Develay. Die erste Ausgabe wurde anlässlich der Ausstellung Les Immatériaux am Centre George Pompidou (1985) präsentiert. Neben diversen anderen Kunstprojekten bot die Zeitschrift Schriftstellern die Möglichkeit, Arbeiten zu verfassen, die

119. Bénabou hat bereits im Rahmen der OuLiPo-Computerexperimente bei seiner Arbeit aphorismes artificiels diese Methode angewandt. Benabou ist einer derjenigen Autoren, die zu beiden Gruppen (OuLiPo und A.L.A.M.O.) gehören. 120. Bootz 1996, 118-137. 158

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speziell dem Minitel angepasst waren und von einem kritischen Text begleitet wurden. Schon bald bemerkten einige für Art Access schreibenden Dichter (u.a. Frédéric Develay, Tibor Papp, Philippe Bootz), dass ihre unabhängig verfassten Texte inhaltlich ähnliche Konzeptionen und Ziele aufgriffen. So kam es, dass sich anlässlich des lokalen Festivals für Dichtung Maison de la Poésie du Nord Pas de Calais, das in Beuvry-les-Béthune in Pas de Calais vom 21. bis 23. Oktober 1988 stattfand, sich eine neue Gruppe mit dem Namen L.A.I.R.E. (»Lecture«, »Art«, »Innovation«, »Recherche«, »Écriture«) konstituierte: Claude Maillard, Tibor Papp, Frédéric Develay, Jean-Marie Dutey und Philippe Bootz. Entscheidend ist, dass L.A.I.R.E. sich von Beginn an andere Ziele setzte, eine andere Herangehensweise und Konzeption ihrer Arbeiten verfolgte und vor allem auch ein anderes Verständnis für den literarischen Umgang mit dem Computer ausbildete als A.L.A.M.O.. Während A.L.A.M.O. Programme entwickelte, durch die sich beliebig oft potentielle Literatur generieren lässt, beschäftigen sich die Dichter der Gruppe L.A.I.R.E. vor allem mit animierter (Multimedia)Dichtung und computerbasierter Klangdichtung. Ihre Tradition ist das weite Feld der visuellen, auditiven und spatialen Poesie und weniger die Arbeit an algorithmischen Strukturen als primärem Kompositionselement. Ihr Interesse galt vor allem den Zeitstrukturen der Gedichte und dem Lesen. Die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Gruppen – so der Hinweis von Bootz – sind äußerlich durch die Akronyme A.L.A.M.O. und L.A.I.R.E. angezeigt. Denn an der Wortwahl der Namen lässt sich ablesen, in welcher Weise die Benutzung des Computers innerhalb der Literatur gesehen wird. A.L.A.M.O. gibt an, ein »atelier de littérature assistée« zu sein, während L.A.I.R.E. die Begriffe »lecture«, »art« und »écriture« im Namen trägt. Damit ist angedeutet, dass es L.A.I.R.E. auf eine Weiterentwicklung der Phänomene Lesen und Schrift durch die Verwendung der besonderen Eigenschaften des Computers ankommt, als darum, eine computergestützte (»assistée«) Literatur durch die Rechenmaschine generieren zu lassen. Die beiden unterschiedlichen Konzeptionen der französischen Literaturgruppen lassen sich auch an den gleichzeitig entstehenden elektronischen Literaturzeitschriften KAOS und Alire ablesen. Ende des Jahres 1988, kurz nach der Gründung von L.A.I.R.E., veröffentlichten Tibor Papp, Philippe Bootz, Frédéric Develay (der bereits schon mit Art-Access Erfahrungen gesammelt hatte), Claude Maillard und JeanMarie Dutey eine weitere literarische Zeitschrift, die nicht mehr auf Papier, sondern mittels Disketten verbreitet werden sollte. Im Januar 1989 erschien in Villeneuve d’Ascq die erste Ausgabe von Alire mit

159

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dem Untertitel »revue animée d’écrits de source électronique«121. Sie wurde in der Form einer kleinen, einen Zentimeter starken Plastikbox publiziert, die drei PC-Disketten, eine Atari-Diskette und ein Begleitbuch enthielt. Bislang existieren elf Nummern, wobei die zehnte Nummer eine Gemeinschaftsproduktion mit der Zeitschrift DOC(K)S122 ist und auf einer CD-ROM anstatt einer Disketten gespeichert wurde. Alire versammelt unterschiedliche Formen elektronischer Poesie: »klassische« kombinatorische Poesie, computergenerierte Poesie oder visuelle Texte, die auf Papier ediert sind, dynamische visuelle Poesie, Gedichte, die den interaktiven Eingriff des Lesers erfordern, computergenerierte Klangdichtung und schließlich reflektierende Essays über die neuen Formen dieser Literatur (Begleitheft). Ab der fünften Ausgabe (Alire5, 1991) wurden keine poetischen Texte mehr publiziert, die den Computer nur als teilweise effizientes Schreibwerkzeug verwendeten, ohne auf einer generierten Struktur zu basieren. Der Träger Papier wurde daraufhin zum exklusiven Medium der theoretischen Texte, wohingegen Bildschirmversionen von statischen, nichtgenerierten Texten, die auf dem Papier entstanden, von den Herausgebern vermieden wurden. Mit der Initiative von Jean-Pierre Balpe, der ebenso 1985 an der Ausstellung Les Immatériaux partizipierte, wurde im Januar 1991 in Puteaux ein weiteres elektronisches Magazin namens KAOS publiziert. Obwohl die allgemeine Konzeption von KAOS der Zeitschrift Alire sehr nahe stand, unterschieden sie sich jedoch grundsätzlich in der ästhetischen Konzeption. Die ersten drei Nummern von KAOS wurden alle in Form einer IBM-kompatiblen Diskette publiziert. Die erste Ausgabe enthielt drei Werke: Stances d’amour éternel von Jean-Pierre Balpe, Les Très riches heures de l’ordinateur nº5 von Tibor Papp und A Bribes abattues von Philippe Bootz. Nummer zwei enthielt Proverbes von JeanPierre Balpe, Comptines von Bernard Magné, Crimes von Christophe

121. Alire1 1989. Zur Konzeption von Alire siehe auch Papp 1994, 53-60 und Vuillemin 1995, 265-272. 122. Bei DOC(K)S handelt es sich um eine 1976 von Julien Blaine gegründete elektronische Zeitschrift (20, rue Bonaparte, 20000 Ajaccio), die sich mit zeitgenössischer experimenteller Dichtung auf internationaler Ebene beschäftigt. Seit 1990 wird sie von der Multimediagruppe AKENATON herausgegeben. Diese wurde 1984 von dem Dichter Philippe Castellin und dem bildenden Künstler Jean Torregrosa ins Leben gerufen und zeichnet sich hauptsächlich auf dem Gebiet der Installation und der Performance aus. Ihr Ziel ist, grenzüberschreitend durch den Einsatz von neuen Medien das Potential visueller Schrift außerhalb der Papierseite zu erkunden, wobei die Arbeiten sich hauptsächlich auf einer sozio-politischen Ebene artikulieren. Die Internetseite dient dabei nicht nur zur Information über vergangene und zukünftige Projekte, sondern auch als Plattform und Ausstellungsraum der digitalen Arbeiten (http://www.sitec.fr/users/akenatondocks/). 160

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Petchanatz und Croquis parisiens von Patrice Zana. Alle Anfangsnummern von KAOS haftete noch das Versuchsstadium an. Wie man aus der Liste der Autoren erkennen kann, waren einige der Autoren sowohl an der Konzeption von Alire als auch an der von KAOS beteiligt. Die Wege trennten sich erst später. Die letzte Ausgabe (KAOS 4, 1994) enthält keine Diskette mehr, sondern besteht aus einem von JeanBlaise Evequoz entworfenen Kartenstapel. Dieser Stapel enthält 52 Karten, die es erlauben, neben allen gewöhnlichen Kartenspielen auch mit den Wörtern oder den Wortgruppen oder nach dem Prinzip des »cadavre exquis« der Surrealisten zu spielen. Schließlich wurde nach dieser Ausgabe KAOS eingestellt. Alire jedoch existiert bis heute und besteht sowohl für die in ihr enthaltenen theoretischen als auch für die poetischen Texte nunmehr aus einer CD-ROM, die keinen Ausdruck (selbst der theoretischen Texte) auf Papier mehr erlaubt. Damit geht L.A.I.R.E. konsequent den Weg der Erprobung einer neuen Literaturwahrnehmung am Bildschirm in der Interaktion mit dem Leser weiter. In den Anfängen der Computerdichtung wurde der Computer als ein notwendiges Instrument für den Akt des Schreibens betrachtet. Der Text war also gleichsam das Objekt, das durch den Computer generiert und anschließend auf Papier gedruckt lesbar wurde. Guillaume Baudin sieht in der Nutzung des Computers »le processus d’écriture par l’intermédiaire de machines à générer du texte«123. Für die neugegründete Gruppe L.A.I.R.E. verschwindet diese Vorstellung vollständig. An der Computerversion von Queneaus Sonettmaschine, eine der ersten Arbeiten der Gruppe, lässt sich ablesen, dass L.A.I.R.E. einen anderen Textbegriff verfolgt als A.L.A.M.O.. Der Text von Queneau wurde programmiert, da er auf Papier nicht adäquat wiedergegeben werden konnte. Die unbestimmte Struktur konnte nicht erhalten werden, da man das Buch z.B. oft auf der gleichen Seite aufschlägt, was selbstverständlich die gleiche Wahrscheinlichkeit der Kombinationen nivelliert. Auf dem Bildschirm jedoch existiert nur die gerade realisierte Kombination. Es gibt keine Alternativen zu dieser Lesart, selbst wenn auch andere Lesarten dieses Generators möglich bleiben: »It is exactly there that the swinging over in the conception of the text occurs: apprehending the ›generator‹ in its specifity of generator and not the generated product as the text […]«124 Dieser wäre nur ein realisierter Text unter einer unendlichen Anzahl möglicher, aber im Augenblick unrealisierter, nämlich virtueller Texte. Da es sich bei dem Beispiel um ein interaktives Gedicht handelt, ist der Einsatz eines Generators erforderlich, der in der Lage ist, die Entscheidungen des Lesers in Echtzeit zu berechnen, d.h. zu reagieren und aus dem Reservoir der Verszeilen von

123. Baudin 1991, 152. 124. Bootz 1996, 126. 161

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1014 Möglichkeiten ein bestimmtes Sonett zu generieren. Im Gegensatz zur Gruppe A.L.A.M.O., die im Computer primär das Schreibwerkzeug zur Herstellung von Texten sieht, ist für die Konzeption der Gruppe L.A.I.R.E. die Rechenmaschine in erster Linie ein Werkzeug des Lesers, das ihm durch die Möglichkeit zur Interaktion zur Verfügung steht.125 Wenn Balpe bemerkt, dass »l’originalité ne réside plus dans le produit, mais dans les modalités de production […]«126, wird klar, dass das eigentliche literarische Objekt der Gruppe A.L.A.M.O. der Generator, das Programm, ist. L.A.I.R.E. dagegen ist auf der Suche nach neuen Wahrnehmungsformen durch animierte Schrift. Indem sie interaktive und animierte Texte konzipieren, versuchen sie, die poetischen Ausdrucksmöglichkeiten durch den Computer zu erweitern und fordern damit die Rezeption der bewegten Schrift im Besonderen heraus.

125. Bootz 1996, 126: Obwohl die Dichter der Gruppe L.A.I.R.E. einen anderen Weg gehen als A.L.A.M.O., bedeutet das nicht, dass sie keine generativen Prozesse verwenden. Entscheiden ist, dass diese, dann, wenn sie auftreten, nicht im Vordergrund stehen, sondern Bestandteil der ästhetischen Konzeption sind. Z.B. sind interaktive Texte nicht ohne Textgeneratoren zu denken. 126. Balpe 1991, 27. 162

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III. Zeiterfahrung poetischer Wahrnehmung Die Produktion, Visualisierung und Rezeption elektronischer Poesie unterscheidet sich grundsätzlich von der des Buches. Bereits die äußerliche Situation – ein Buch in der Hand zu halten oder vor einer Tastatur inklusive Maus vor einem Bildschirm zu sitzen – lässt Unterschiede in der Wahrnehmungshaltung erahnen. Literatur ist das, was man der Definition nach »liest«. Zumindest handelt es sich dabei um das, was man bis heute im Hinblick auf die Form eines gedruckten Textes der Gewohnheit nach »Lesen« genannt hat. »Et c’était également ce qui a commencé à être ›vu‹ et à être ›affiché‹ depuis le début des années 1980 sur les écrans des ordinateurs.«1 Bewegte Schrift, die darüber hinaus zusammen mit (oder sogar als) Bild und Ton erscheint, ist nicht länger nur zu lesen, im Sinne eines eng gefassten Begriffs des Auflesens von Schriftzeichen, sondern auch zu sehen. Der Computer lässt Buchstaben als Zeichen über den Bildschirm, den Videomonitor, im Hologramm oder im virtuellen Raum tanzen, verschwinden, sich auflösen oder sich neu zusammensetzen. Computerpoesie ist stärker als Buchtexte von Zeitstrukturen dominiert: der Eigenzeit der bewegten Schrift, der Zeit des Lesens/ Betrachtens, der Zeit des Textverstehens, der Prozessorzeit, der Echtzeit innerhalb interaktiver Handlungen etc. Die Bewegung der Schrift und die daraus resultierende Komplexität ihrer Wahrnehmung stellt das größte Potential des Computers als Medium für Poesie dar. Die ästhetische Auseinandersetzung mit Zeiterfahrung wird zu einem der grundlegenden Themen der Computerpoesie und ihrer Rezeption. Ein Thema, das die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts dominiert. Als Gestaltungsmittel steht dabei das elektronische Licht zur Verfügung, das Bewegungsvorgänge visualisieren kann.2 Es ist selbst zeitabhängig, da es nur durch den Transport bzw. Fluss elektronischer Ladungen (Strom) vorhanden ist. Indem die Schrift der Computerpoesie in allen hier genannten Dispositiven erst durch Licht sichtbar gemacht wird, ist sie auch schon auf basaler Ebene dem Fließen und Nichtfließen von

1. Vuillemin und Lenoble 1999, 9. 2. Vgl. hierzu auch Kap. Schriftwechsel/I, 2. 163

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Strom untergeordnet. Im konkreten Fall der Computertexte heißt das, dass der Text nach Ausschalten des Monitors, des Bildschirms, der Cyberbrille oder der Lichtquelle hinter dem Hologramm nicht mehr vorhanden ist. Mit dem Wechsel des Mediums wechselt der poetische Text auch seine materialen Eigenschaften. Sobald er digitalisiert ist, geht er in einen instabilen, zerbrechlichen, dynamischen, flüchtigen und ephemeren Zustand über. Elektronische Poesie wird – im Gegensatz zum Buch – über technische Dispositive gelesen, die sowohl getrennt vom Körper als auch getrennt vom Text selbst sind. Der Text ist nicht mehr mit seiner Präsentationsform direkt verbunden. Die Apparatur (Computer) kann sogar immer dieselbe bleiben, während beliebig viele Texte durch sie sichtbar gemacht werden. Hält man eine Diskette vor die Augen, auf der ein digitaler Text gespeichert ist, so scheint dieser gänzlich seinen Status als Objekt zu verlieren, denn ohne die Apparatur ist er nicht sichtbar.3 Da zudem der Text im Augenblick seiner Visualisierung über den Monitor nicht fest ist, sondern sich jeden Augenblick verändern kann, ist auch vom Leser eine flexible, an der Zeit orientierte Lesehaltung erforderlich.4 Denn im Gegensatz zu zweidimensionalen Papierdokumenten oder dreidimensionalen plastischen Textobjekten wird der digitale Textraum maßgeblich von der vierten Dimension, der Zeit dominiert. Insofern liegt ein deutlicher Akzent der Computerpoesie auf der zeitlichen Konzeption von Schrift und Lesen. Bewegte Texte führen ihre Zeitlichkeit vor Augen und zwingen den Rezipienten, ihren Rhythmus zu übernehmen oder darauf zu reagieren. Es lassen sich drei Momente der Zeitlichkeit abheben, deren Signifikanz für die Auseinandersetzung mit Computerpoesie anhand von ausgewählten Beispielen deutlich gemacht werden kann: die eigene Bewegung der Texte, die Möglichkeit des Lesers zur Interaktion, d.h. zur einem Dialog mit der Maschine in Echtzeit, und das Oszillieren zwischen semantischen Zeichen und visuellem Bild, das die Flüchtigkeit und Hybridität der elektronischen Zeichen in ihrem Status hervorhebt. Denn Computertexte auf ihren semantischen Ausdruck zu reduzieren, würde bedeuten, die anderen Parameter wie Bild, Animation und Musik zu ignorieren, die jedoch zu spezifischen Teilen das Gedicht konstituieren. Computerpoesie hat den Buchraum verlassen und »be-

3. Die Buchdesignerinnen Salen und O’Mara haben sich mit diesem Problem beschäftigt und die These aufgestellt, dass unsere Art und Weise, wie wir Geschriebenem begegnen, von dessen Identität und Form abhängt. Denn elektronische Dokumente bieten aufgrund ihrer Form andere Wahrnehmungsstrategien als Bücher an, während der Leser durch die unterschiedliche Identität der Dokumente andere Techniken der Navigation entwickelt und anwendet. Salen und O’Mara 1997, 260-285. 4. Vgl. auch Salen und O’Mara 1997, 278. 164

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wegt« sich (buchstäblich) auf dem schmalen Grat dessen, was wir gemeinhin »multimedial« nennen. Inwieweit Bild, Animation und Musik mehr als nur schmückendes, ornamentales Beiwerk oder neue Medieneffekte sind, sondern zusammen mit der Schrift die Bedeutung des Texts konstituieren, ist die spezielle Aufgabe einer Analyse elektronischer Texte.

1. Sichtbar/unsichtbar: die Eigenbewegung der Texte Die zeitliche Struktur der poetischen Computertexte zeigt sich am auffälligsten in ihrer eigenen Bewegung auf dem Bildschirm. Dabei kann es sich um eine komponierte Animation oder um die Bewegung durch den Leser mittels eines Interfaces handeln. Die Schrift hat keinen festen Ort, kann übereinandergelagert werden oder zeigt sich nur für Sekunden. Eines der ersten Computergedichte, das verdeutlicht, wie unterschiedlich sich Papiertexte und Computertexte ausnehmen, ist die Sonettmaschine Cent Mille Milliards de Poèmes von Queneau. Ihre Buchversion besitzt eine physikalische Identität, die sofort die Vielzahl der Möglichkeiten, Sonette zu bilden, verrät und den einzelnen Verszeilen bestimmte räumliche Orte zuweist: Das erste komplette Sonett befindet sich auch auf der ersten (zerschnittenen) Seite, das zweite auf der zweiten und so fort. Queneau merkt dabei kritisch an, dass das Buch immer wieder auf denselben Seiten aufgeschlagen wird, was der Materialität, der Bindung und der Tatsache, dass ein Buchkörper eine »Mitte« hat, geschuldet ist. Die elektronische Variante dagegen ist ein Spiel von Ab- und Anwesenheit. Auf der Bildschirmoberfläche ist lediglich ein schwarzer Raum zu sehen, der von der unteren Menüleiste begrenzt wird. Dort ist die Frage »Sonnet? (de a à j)« aufgeführt.5 Die Eingabe eines Buchstabens von »a« bis »j« bewirkt, dass nun am oberen Rand des Bildschirms die erste Zeile erscheinen wird. Der Buchstabe »a« signalisiert, dass die erste Zeile aus dem mit »a« gekennzeichneten Gedicht stammt. Anschließend fragt der Computer nach der gewünschten Zeile mit der Frage »Le vers … numéro (de 01 à 14)«. Entsprechend der Wahl des Lesers erscheint eine Verszeile auf dem Bildschirm, die dieser Zahl zugeordnet ist. Sie steht am oberen Bildrand in der Farbe grün, sofern sie aus dem ersten Gedicht stammt. Jedes der zehn Basissonette hat eine andere Farbe. Die Auswahl der einzelnen Zeilen erfolgt also ohne eine sinnliche (z.B. haptische und optische) Vorstellung der Anzahl der zur Verfügung stehenden Zeilen. Allein die Farbigkeit der Zeilen visualisiert die Kombinatorik der Gedich-

5. »A à j« bedeutet, dass den zehn verschiedenen Sonetten, die die Ausgangsbasis bilden, je ein Buchstabe von »a« bis »j« zugeordnet ist. 165

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te. Zusätzlich kann mit der Taste »z« durch den Computer ein Gedicht vollständig kombiniert werden. Entscheidend ist jedoch, dass man in dem einen oder anderen Fall als Endergebnis auf dem Bildschirm »ein« Gedicht vor Augen hat und die anderen Zeilen nicht nur abwesend, sondern virtuell sind und damit nur als Möglichkeit existieren. Die Zeilen in der Buchversion jedoch sind, einmal auf Papier gedruckt, existent. Wenn sie nicht ausgewählt sind, sind sie dennoch verhanden und nur durch andere verdeckt. Die Computerversion zeigt damit unmissverständlich, dass jedes augenblicklich realisierte Sonett im nächsten Moment bereits vom nachfolgenden Sonett ausgelöscht wird – ein Vorgang, der für Textgeneratoren kennzeichnend ist, wie sich am Beispiel von Balpes Stances d’amour éternel später noch zeigen wird. Umgekehrt ist es bei Rosenberg: Er präsentiert dem Leser seine Textfragmente alle auf einmal, übereinandergelagert. Aber auch hier haben wir keine Vorstellung des Textumfangs, weil er zunächst nicht lesbar ist. Auch ist seine Dicke und Länge physikalisch nicht abschätzbar. Der Text ist anwesend abwesend und kann nur zeitweise gelesen werden, nämlich dann wenn man die Schichten einzeln aufdeckt. Dies geschieht jedoch nur für kurze Zeit und auch nur so lange man den Cursor nicht bewegt. Der Text ist nie auf einmal lesbar anwesend, da die Aufdeckung der einen Schicht, die Verdeckung der anderen Schicht nicht nur zur Folge sondern zur Bedingung hat. In The Barrier frames sind im letzten Cluster in der ersten Einstellung lediglich die ersten fünf Zeilen lesbar: »springtime tortured bystander shim/yearns/cargo blankness/giveaway cling/carve/lightness halt«6. Der übrige Text ist durch die Überlagerung von 23 Schichten verdeckt und verschwindet im Bild eines schwarzen Textknäuels. Mit dem Cursor können diese Schichten vorsichtig aufgeblättert werden, allerdings sind die Kontaktfelder so klein, dass fast jede kleine Veränderung eine neue Konstellation verursacht. Die Lektüre findet also immer nur in den zeitlichen Zwischenräumen statt, wenn eine Schicht freigelegt ist. Ein Textverlauf ist schwer vorstellbar, da sich die Fragmente nicht in einer sukzessiven räumlichen Anordnung (wie etwa auf der Buchseite), sondern alle am selben Ort über- und untereinander befinden. Der nächste Abschnitt ist dabei nur unter der Bedingung der Verdeckung des Vorhergehenden möglich. Der Text bleibt mobil und ephemer, entwischt immer wieder und scheint sich der Lektüre zu entziehen oder doch zumindest nur ungern preiszugeben. Die Reihenfolge der Schichtlektüre bleibt dabei dem Leser überlassen. Er kann auch zwischen Lagen unter-

6. Es handelt sich hier um den Cluster, der in der Gesamtansicht rechts unten steht. Ob dieser tatsächlich der »letzte« innerhalb einer Reihenfolge ist, diese Entscheidung bleibt dem Leser überlassen. 166

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schiedlichen Grades springen.7 Die oben angefangene Lektüre könnte folgendermaßen fortgesetzt werden: »hum clown protection / opaqueness tailings / finality / feed rust timing / the play idol / grounding sailors / rain congeal exhaustion / claim dunce core / unsuspend / mirage hole traversing / allegory shelter pull / dissonance moon flattened« – der nun anschließende Text verschwindet erneut in der Unkenntlichkeit der Überlagerung und muss erst durch Berührung mit dem Cursor »aufgeblättert« werden. Eine Alternative wäre folgender Fortgang: »wanting drilled slipstream / silence pyre luminosity«.8 Welche Seite man auch entdeckt bzw. aufdeckt, es bleiben Wortcluster nicht nur im Sinne der Übereinanderlagerung, sondern auch im Sinne der Anhäufung der Wörter auf einem bestimmten Lexia. Ebenso wie sich der Text auf der Metaebene als Überlagerung stets wieder entzieht, entziehen sich auch die Wörter des verwendeten Vokabulars der konkreten Lektüre. Sie bleiben assoziativ, und es hat den Anschein, als seien sie eben auf den Bildschirm gestreut worden. Der Text wirkt sperrig, zersplittert und semantisch diffus, greift immer wieder Momente auf, die seinen eigenen Zustand (»opaqueness«, »exhaustion«, »dissonance«, »silence«,), seine Materialität (»shim«, »lightness«, »congeal«, »slipstream«, »luminousity«) und seine Zeitlichkeit (»finality«, »timing«, »traversing«) zu kommentieren scheinen. Die Form der Interaktivität steht in diesem Beispiel weniger im Vordergrund als die Tatsache des anwesend-abwesenden Texts. Als Motivation zur interaktiven Handlung scheint hier lediglich das Inganghalten des Hypertexts selbst zu stehen, wie Marie-Laure Ryan bemerkt: »When the reader’s choices are fully blind […] the purpose of clicking on one link rather than another is simply to get more text to the screen. […] In the electronic poetry of Jim Rosenberg or John Cayley, for instance, the reader animates certain words, or causes certain sentences to appear, by simply moving the cursor around the screen and randomly clicking.«9 Wenn dem Leser durch die Auswahl von Links Optionen gegeben wer-

7. Der Anfangszustand teilt sich in drei Fenster auf, die wiederum aus drei Schichten bestehen. Von diesen neuen neun Schichten beinhalten zwei einmal drei und einmal fünf Unterschichten, eine davon schließlich noch einmal zwei. 8. Obwohl für den Leser die Möglichkeit besteht, die übereinandergelagerten Seiten nach seiner bevorzugten Reihenfolge zu lesen, besteht jeder Cluster aus »allen« Elementen, worauf der Autor in der Einführung ausdrücklich hinweist. Rosenberg 1996b, o. S. 9. Ryan 2001, 211. Die Autorin untersucht in ihrer Studie die Motivationen zur Interaktivität eines elektronischen Textes zum einen aus der Sicht des Lesers und zum anderen aus der des Autors. 167

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den, bedeutet dies nicht unbedingt eine Mitbestimmung oder -gestaltung des Textverlaufs oder die Führung des Rezipienten durch den Text. Die Möglichkeit, Links zu aktivieren, kann auch bedeuten, dass der Autor den Leser in einem undurchdringlichen Feld »blinder« Optionen zurücklässt. Mit Sicherheit erhält der Leser von The Barrier Frames mit jedem Klick und jedem neuen Textrahmen eine andere Perspektive auf den Text. Gleichzeitig aber ist diese Technik auch ein Weg, den Fluss des Zusammenhangs zu unterbrechen, den Leser zu frustrieren, die Gewissheit über Sinnzusammenhänge jedes Mal neu zu unterlaufen. Rosenbergs zentrales Problem, das in die Konzeption der Hypertextpoesie eingegangen ist, ist die Unmöglichkeit, durch Überlagerung syntaktischer Ordnungen Sinn zu erhalten.10 Sieht man im Hypertext eine »ideale«, weil »offene« und »erweiterbare« Textform verwirklicht11, dann könnte man an Rosenbergs Konzept eine Kritik an der Allmacht des Hypertexts erkennen. Indem er nämlich potentiell unendlich viele Anknüpfungen von Informationstexten duldet, läuft er Gefahr, ein Zuviel zu präsentieren, das dann nicht zur Erweiterung des Wissens beitragen, sondern genau das Gegenteil bewirken würde: ein diffuses Informationsrauschen. Rosenbergs unleserliche Textcluster wären dann eine visuelle Entsprechung des nicht mehr wahrnehmbaren oder doch zumindest zersplitterten und zusammenhangslosen Inhalts. Auch in den Hologrammen von Kac ist die An- und Abwesenheit der Schrift im wörtlichen Sinne zu verstehen. Waren bei Rosenberg noch verhältnismäßig umfangreiche Fragmente mit der Hand zu ertasten und zumindest die Schichtung der Rahmen zu erkennen, so reduziert sich das Material bei Kac auf einzelne Buchstaben und Silben, die sich entweder durch eine bestimmte Beugung des Lichts (und des Körpers) zu Wörtern manifestieren oder inexistent sind. Saß man bei Rosenberg noch der Illusion auf, dass die elektronischen Zeichen zwar momentan verdeckt, aber auch unter der Schichtung vorhanden sind, so führt uns Kac vor Augen, dass Zeichen, die mit holographischem Licht gebildet werden, nur von kurzer Existenz sind und bei Verlassen der Leseposition nicht nur verdeckt, sondern verschwunden sind. Das Gedicht Adhuc enthält einen Wortschatz aus sechs Wörtern: »whenever / four years / or never / far eve / forever / evening«. Sofort ist zu erkennen, dass die Wörter nicht nur aus phonetisch ähnlichen Silben bestehen, sondern zudem auch vage Zeitangaben zum Inhalt haben. Indem Kac die (In-)Existenz der Schriftzeichen mit dem Körper des Lesers selbst koppelt, oszillieren die Wörter permanent zwischen beiden Zuständen. Haben sie sich einmal in der Lichtbeuge des geeig-

10. Vgl. hierzu auch Kap. Computerpoesie/I, 4. (Hypertextpoesie). 11. Vgl. Landow 1997; Idensen und Krohn 1994; Idensen 1996. 168

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neten Winkels manifestiert, kündigen sie auf semantischer Ebene schon wieder die Unsicherheit ihrer Existenz an, als ob sie dem Leser eine Frage stellten, die auch nur er (durch seine Bewegung) beantworten kann: »whenever, or never«. Das Gedicht Maybe Then, If Only As (1993) besteht aus drei separaten Informationsschichten. Die erste Schicht enthält drei Wörter, »WHERE / ARE / WE?«, wobei sich die Buchstaben in »WHERE« um sich selbst drehen und sich schließlich wie Schneegestöber auflösen. Die Wörter »ARE« und »WE?« befinden sich unter »WHERE«. Die zweite Schicht besteht aus »HERE, WE, ARE, THERE, INK, INSTANTS, AND, WHY?« Diese Wörter können nur von bestimmten Standorten aus gesehen werden und sind ebenfalls Animationsprozessen unterworfen. Das »A« in »ARE« bewegt sich vom Auge des Lesers weg in den holographischen Raum hinein und das Fragment »RE« schließt sich mit »WE« zu »WERE« zusammen. Die ersten vier Buchstaben von »INSTANTS« verschwinden langsam und lassen »ANTS« an der Grenze zur Lesbarkeit übrig. Das Wort »WHY?« erscheint wie ein Blitzlicht in unterschiedlichen Positionen immer wieder im Wahrnehmungsfeld, gleich einem graphischen Echo. Es ist immer nur für kurze Zeit zu erkennen, bevor es wieder unsichtbar oder von der Anwesenheit anderer animierter Wörter gestört wird. Auf die dritte Informationsschicht wurden trockene Äste, die aus dem Filmbild in Richtung Leser hinauszureichen scheinen, vor dem Hintergrund eines wolkenähnlichen Musters aufgenommen. Zwei verschiedene Räume bzw. Umgebungen werden dabei assoziiert: Zum einen scheinen die Wörter in der Luft zu hängen und auch in der Luft zu entstehen und dort wieder zu entschwinden, andererseits könnten die Schriftzüge auch ebenso auf der Wasseroberfläche »liegen«, da die eingesetzten Lichtreflexe die Äste wie ihr eigenes Spiegelbild auf der Wasseroberfläche erscheinen lassen. Beide assoziierten Räume aber kommen der Flüchtigkeit und Immaterialität der Holopoesie entgegen: Weder in der Luft noch auf dem Wasser als Spiegel sind die Wörter fixierbar. Maybe Then, If Only As fragt daher auch in einer selbstbezüglichen Weise: »WHERE ARE WE?«, um sogleich – bei der nächsten Bewegung – festzustellen: »HERE WE ARE«. Die dynamischen Buchstaben spielen mit dem sich bewegenden Leser Versteck, sind ungreifbar und flüchtig wie ihre Materialität. Sie fragen nach ihrem Ort und thematisieren zugleich auch den Ort des Lesers, seinen Standpunkt. Das Geschriebene wird unverlässlich, es ist nicht einfach da, wie ein gedrucktes Wort da ist und jederzeit befragt werden kann, sondern offenbart sich nur durch einen Decoder – das Licht – und die Bewegung im Raum. Proposition von Bootz (1991) zeigt die dem Text implementierte Eigenzeit in didaktischer Weise: Ein Text erscheint weiß auf schwar-

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zem Raster Zeile für Zeile von unten nach oben auf dem Bildschirm.12 Liest man ihn in der Reihenfolge, in der die Satzteile erscheinen, erhält man folgenden Satz: »à tous les caprices / l’amour / en grand / ouvre / la porte / même lorsque / la prison reste close / pour le dire / avant de se plier / le corps s’agenouille«. Anschließend verfärben sich die weißen Buchstaben nacheinander von oben nach unten rot, was automatisch eine wiederholte Lektüre verursacht – nun aber in die entgegengesetzte Richtung, von oben nach unten. Der zu Beginn noch positiv konnotierte Text erhält nun eine negative Aussage. Durch die einfache Inversion der Ordnung der Wörter wird die konventionelle Leserichtung von oben nach unten infrage gestellt und zugleich die Dynamik der Buchstaben visualisiert. Zu lesen bleibt nur das, was auf dem Bildschirm sichtbar ist, was dem Auge präsentiert wird. Geschieht dies (wie in unserem Beispiel) aus einer ungewöhnlichen Richtung von unten nach oben, lesen wir selbstverständlich auch in dieser Richtung. Der Ablauf des animierten Gedichts La fatigue du papier no. 22 von Develay ist nur durch die Pausentaste zu stoppen.13 Es scheint, als sei diese Interventionstechnik, die sich noch bei einigen anderen Computergedichten aus der Anfangszeit findet, zur Erleichterung der Lektüre, d.h. zur Gewöhnung des Lesers an bewegte Texte, eingerichtet worden. Der Inhalt des Gedichtes liest sich entsprechend dem Ablauf der Schrift folgendermaßen: (1) d’ici / l’ecran / qu’on appelle / tel / l’ecran / qu’on appelle / d’ici. (2) La chasse aux lettres [qu’on appelle] comme dimension de l’écart [d’ici] 14 (3) les fronts / l’effronté / le fronc et / le tronc / le ton / (sans pile ou face) / trace de mon / non / nommé de / sommé / ›il n’y a pas / de somnolé à / l’abonné que vous / avez appellez‹ / a banc don né / non / si seulement / oui mais (4) mettant toujours / en cause / notre capacité / d’integration – toute oeuvre exposée / s’enduit d’un silence / qui (nous) innocule / sa valeur Die semantische Ebene der Wörter spielt hier mit der neuen Leseerfahrung des Rezipienten im Augenblick der Wahrnehmung. Der Text unterteilt sich in vier Phasen, wobei zunächst der Bildschirm (»ecran«) als Präsentationsfläche und dessen Eigenschaften thematisiert werden. Der Schirm wird (durch den Benutzer) »gerufen« (»qu’on appelle«), ebenso die Buchstaben, deren Jagd (»chasse«) über den so beschaffenen (»tel«) Bildschirm uns durch ihre Bewegung dessen Ausmaße zei-

12. Alire5 1991. 13. Alire2 1989. 14. Die Fragmente »qu’on appelle« sowie »d’ici« sind »Reste« des vorherigen Satzes und daher in Rot statt in Schwarz geschrieben. Es bleibt offen, ob sie zum aktuellen Satz gehören oder nicht. Hier sind sie mit eckigen Klammern gekennzeichnet. 170

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gen. Der Bildschirm als »Seite« ist nicht einfach vorhanden, sondern muss durch entsprechende Befehle (»qu’on appelle«) zu einem Schriftträger gemacht werden. Er hat bestimmte Begrenzungen, jedoch sind die über ihn hinweghuschenden Buchstaben in der Lage, diesen Rahmen zu ignorieren. Allein für uns Leser zeigt er, dass wir nur noch das wahrnehmen können, was uns das Fenster innerhalb seines Rahmens bietet. Der Titel La fatigue du papier spielt darauf an, indem er signalisiert, dass die Grenzen der Papierseite überschritten sind. Der folgende dritte Abschnitt ist von phonetisch ähnlichen Silben geprägt und enthält bisweilen Wortspiele, die an Arbeiten der OuLiPo-Gruppe erinnern. So die Doppeldeutigkeit in dem Satzfragment »banc don né« (Bank/Gabe/geboren), was nicht zufällig an den französischen Ausdruck »banque (de) donnée« für (elektronische) Datenbank erinnert. Insgesamt bleibt diese Passage, wie auch das gesamte Gedicht, sehr assoziativ und in seiner Bedeutung vage, was auf semantischer Ebene mit dem Charakter animierter Texte spielt: Durch die Beweglichkeit der Wörter können sich diese schnell – z.B. durch das Verdrehen von Buchstaben oder Vertauschen von Endungen – zu neuen Wörtern verwandeln. Hervorzuheben ist allerdings die Zeile »le ton / (sans pile ou face) / trace de mon / non / nommé de / sommé / il n’y a pas / de somnolé […]«. Das Wortspiel »pile ou face« heißt übersetzt »Kopf und Zahl« und bezeichnet die Vorder- und Rückseite einer Münze. Bemerkenswerterweise benutzt das Französische jedoch nicht den Begriff Zahl sondern Schrift. »Pile« bedeutet also die Schriftseite einer Münze im Gegensatz zu ihrer Kopfseite. »Le ton« – der Stil, die Schreibart – ist also weder Kopf noch Schrift, sondern benannt (»nommé«) nach dem Vorgang des Summierens (»sommé«), d.h. weder Kopf noch Schrift, sondern Zahl. Die Bewegung der Schrift, von der hier nicht nur die Rede ist, sondern die auch visuell demonstriert wird, ist also das Resultat von Rechnungen, von Zahlencodes. Aus diesem Grund gibt es auch für den Leser/Betrachter kein passives Zurücklehnen im Lesesessel mehr (»il n’y a pas / de somnolé«), sobald er die Datenbank einmal aufgerufen hat (»à / l’abonné que vous / avez appellez«) und das Gedicht in Bewegung gesetzt hat. Durch seine Eigenbewegung insistiert der Text darauf, neue Wahrnehmungsstrategien zu entwickeln, indem er unsere Fähigkeit, uns mit dem Neuen auseinanderzusetzen, immer wieder infrage stellt (»mettant toujours / en cause / notre capacité / d’integration«). Das animierte (namenlose und deshalb hier mit dem Dateinamen essay10.flc bezeichnete) Gedicht der französischen Autoren Dutey und Sautiere zeigt die Instabilität elektronischer Texte nicht als Überlagerung, wie etwa Rosenberg, sondern als äußerst fragile Struktur, die

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permanent mit einem Prozess der Selbstauflösung konfrontiert ist.15 Ein Text mit folgendem Inhalt bewegt sich (ähnlich einem Kinofilmabspann) langsam, von unten nach oben, über den Bildschirm hinweg. Der Text ist insgesamt sehr porös und an den Rändern unten und oben sogar nur noch fragmentarisch zu erkennen, d.h. seine Struktur ist brüchig und von Auflösung begriffen. Lediglich innerhalb der wenigen Sekunden, die die Schrift sich im Mittelpunkt des Bildschirms befindet, ist sie les- oder besser entzifferbar: Nuit noire, odeur de tubéreuses. Toussent les grenuilles toutes ensemble et toutes ensemble se taisent, pour de plus fluettes et de plus mystérieuses voix. Une radio qui chante l’opéra chinois peut-être, ou peut-être pas. Une palme métallique au-dessus de la tête fait osciller la moustiquaire laiteuse. Mais ni tangage ni roulis dans la jonque, l’oreille dans l’oreiller trop mou, entend crisser les insectes. Sur le mur bat le cœur rapide de petit margouilla translucide et frais. Der zweifelsohne ironische und bisweilen auch klischeehaft-exotisch anmutende Text spielt einerseits auf seine eigene strukturelle Fragilität an (»pour de plus fluettes et de plus mystérieuses voix«) und thematisiert andererseits die Immaterialität elektronischer Medien. Denn, obwohl die alte Dschunke als Ort des Geschehens weder durch Stampfen (»ni tangage«) noch durch Schwanken (»ni roulis«) bewegt wird, gerät über dem Kopf das Moskitonetz in Schwingungen, ausgelöst durch die metallene Palme (»palme métallique«) als Bild eines (analogen) Antennenradios. Die Stimmen der chinesischen Oper scheinen dem Radio ähnlich zerbrechlich und geheimnisvoll zu entweichen, wie dies die

15. Alire10/DOC(K)S 1997. 172

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Computeranimation der vorüberziehenden Schrift realisiert. Die zeitlich begrenzte Lektüre, die sich auf die Mitte des Bildschirms konzentriert, weil in ihr der Text für kurze Zeit lesbar ist, visualisiert dabei, dass Musik ebenfalls nur zeitlich begrenzt wahrnehmbar ist. Sie verklingt genauso schnell und unerbittlich, wie sich der Text am oberen Bildrand auflöst. Der offensichtlich schlechte Empfang des Radios, der die Stimmen nur als geheimnisvolle, »mystérieuses voix« überträgt, äußert sich in einem geräuschhaften Knistern, das in einem visuellen Medium wie etwa dem Fernseher als »Schnee« auf dem Bildschirm zu sehen wäre. Indem die Autoren Dutey und Sautiere weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund gewählt haben, ähnelt der sich auflösende Text einem schlecht eingestellten Fernsehsender oder – hier – einem Radiosender. Die Unsicherheit – »peut-être, ou peut-être pas« –, mit der von der Radioübertragung der chinesischen Oper berichtet wird, durchzieht den gesamten Text, sowohl inhaltlich als auch dessen Animation. So wie alle Lebewesen der Szenerie – »grenouilles« (Frösche), »tête« (Mensch) und »margouillat« (afrikanische Echse) – sich ruhig und zugleich aufmerksam verhalten, um die Töne aus dem Radio zu entnehmen, so muss auch der Leser des vorüberziehenden Textes konzentriert sein, den Moment der Vollständigkeit der Schrift in der Mitte des Bildschirms zu erkennen. Angesichts des gespannten Lauschens aller Beteiligten nach der Radiomusik könnte man mit McLuhan meinen, das Medium sei die Botschaft, denn die Szene erinnert an eine kultische Verehrung elektronischer Medien als Zaubergeräte. Die Verkehrung der gewöhnlichen Ansicht von Papierseiten mit schwarzer Schrift auf weißem Grund ist signifikant für die Auseinandersetzung elektronischer Texte mit ihrer neuen Identität. Das Gefüge von begrenzter weißer Papierseite als Gegenpart zur schwarzen Schrift bricht auseinander, sobald es sich um einen unendlichen Bildschirmraum handelt. Er gibt keine Begrenzung mehr vor, ja man kann nicht einmal mehr behaupten, dass sich Schrift in ihn einschriebe, da der Raum keine Materialität und die Schrift keine Dauer mehr besitzt.

2. Interaktive Transformationen In der Debatte über die literarische Form und Ästhetik des Hypertexts ist der Interaktivität ein hoher Stellenwert beigemessen worden.16

16. Innerhalb der Medienkunst gibt es keinen einheitlichen Begriff der »Interaktion« bzw. »Interaktivität«. Dennoch versucht Dinkla in ihrer Studie Pioniere Interaktiver Kunst einen gemeinsamen Nenner herauszuarbeiten, der den Begriff der Interaktion zunächst aus der sozialwissenschaftlichen Handlungstheorie herleitet. Dort steht er für die Wechselbeziehung zwischen Handlungen, wobei ein »minimaler Konsens über 173

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Durch die Möglichkeit des Eingriffs in die literarische Arbeit geraten die traditionellen Rollen von Leser und Autor ins Wanken und scheinen fortan durch ein offenes, demokratisches Modell der literarischen Arbeit abgelöst zu werden.17 In vielen Fällen wurde dabei die neue Bedeutung, die dem Leser als potentiellem Co-Autor zuteil wurde, jedoch überschätzt. Das demokratische Modell der Mitautorschaft hat sich nicht selten als Illusion erwiesen, die sich in Form von Filtern, Editoren oder technischen Einschränkungen offenbart hat. Neben dem Begriff des Co-Autors etablierten sich ebenfalls Bezeichnungen wie »laucteur« (Amalgam der Begriffe »lecteur« und »auteur«, Bernard Magné), »wreader« (eine Mischung aus »writer« und »reader«, Christopher Keep) oder »écrilecture« (Pedro Barbosa)18, die alle für den doppelten Prozess eines (Weiter-)Schreibens des literarischen Textes durch oder während der Lektüre stehen. Die Frage ist jedoch nicht, ob der Leser am kreativen Prozess der Texte teilhat, denn das ist unbestritten. Der überwiegende Teil der elektronischen Poesie nutzt das Potential des Computers, um interaktive Handlungen zwischen Mensch und Maschine möglich zu machen. Es geht vielmehr darum, was unter dem schöpferischen Prozess bzw. der Lektüre zu verstehen ist. Anders gefragt: Ist das, was der interagierende Leser in einem bestimmten Augenblick tut, Lektüre oder Textproduktion? Gibt es »den« Text überhaupt, an dem der Leser weiterschreiben kann oder initiiert ihn der Leser erst, während der Autor nur die Strukturen bereitstellt, also den am Bildschirm sichtbaren Text gar nicht »geschrieben« hat? Der Begriff des Co-Autors setzt einen traditionellen, kohärenten Textbegriff voraus, der sich auf einen geschriebenen, d.h. fixierten (wenn auch in seiner Rezeption veränderbaren) Text bezieht. Ebenso steht es mit den Begriffen Autor und Leser, die vom Medium des Buchdrucks geprägt sind und in einem bestimm-

kommunikative Techniken und Symbole sowie über bestimmte Verhaltensmuster« vorausgesetzt wird. In den frühen sechziger Jahren entlehnte die Computerwissenschaft den Begriff, wo er fortan die »Fähigkeit des Computers, auf Eingaben des Benutzers ohne große Zeitverzögerung zu reagieren« bezeichnete. Dinkla 1997, 14. Auch Hünnekens kann in ihrer Studie Der bewegte Betrachter. Theorien der interaktiven Medienkunst dem Begriff »Interaktion« nur dadurch gerecht werden, indem sie vorwegschickt, dass sich »die hier verwendeten Termini […] eng an den Originaltexten« der Künstler orientieren, was eine je individuelle Begriffsverwendung im Rahmen der jeweiligen künstlerischen Konzeption ankündigt. Hünnekens 1997, 15. Im hier vorliegenden Aufsatz wird Interaktion als ein Dialog zwischen Mensch und digitalem Computersystem verstanden, wobei der Computer die Fähigkeit nutzt, in Echtzeit zu reagieren. 17. Vgl. Bolter 1991/1994/1999; Idensen und Krohn 1994; Idensen 1996; Landow 1994/1997, Nestvold 1996/1998. 18. Vgl. Gillot 1999, 174. 174

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ten traditionellen Verhältnis zum (gedruckten) Text stehen. Auf welchen »Text« aber beziehen sich die interaktiven Handlungen eines Co-Autors, wenn der elektronische Text nicht mehr »ein« Text ist, sondern sich aus mehreren Ebenen zusammensetzt? Manipuliert z.B. der Leser den Bildschirmtext oder den programmierten Code? Der Text Cut Up von Christoph Petchanatz rauscht über den Bildschirm, als würde er sich absichtlich der Lektüre entziehen wollen.19 Er besteht aus einem Generator und zwei unterschiedlichen Texten, die nach dem Zufallsprinzip des »cut-up« zusammengewürfelt werden, sobald der Leser den Prozesses auslöst. Auf der Bildschirmoberfläche entsteht »ein« kontinuierlicher, von unten nach oben durchlaufender Text. Startet man die Datei mit dem Namen Cut Up, so erhält man folgende Anleitung des Autors: »Bonjour, cette ›machine à écrire‹ opère une sorte de cut-up sur un texte publié par ailleurs, ici on là, sous forme d’extraits; il n’y a rien d’autre à faire que regarder, et lire. On pardonnera les éventuelles ›fautes‹ de grammaire; contrôler davantage aurait réduit le ›jeu‹ qui fait l’intérêt de la chose, c’est de moins ce que j’ai pensé. Presser [Pause] pour suspendre le mouvement.«20 Nach der Betätigung einer beliebigen Taste zeigt sich eine blaue Bildschirmseite, die in der rechten oberen Ecke die Aufforderung enthält, einen weiblichen Vornamen in das leere, mit dem Cursor markierte Feld zu schreiben. Nach dem »Enter«-Befehl startet der angekündigte Text. Der Leser sieht sich dabei mit einem unablässig durchlaufenden Textband konfrontiert, was zunächst nur als Visualisierung der Schrift und ihrer zeitlichen Bewegung »betrachtet«, jedoch aufgrund der Geschwindigkeit nicht »gelesen« werden kann. Beide Zustände werden thematisiert, das Betrachten und das konzentrierte Lesen, das allerdings nur möglich ist, wenn man den Text mittels der Pausentaste anhält21. Die Möglichkeit zu interagieren besteht für den Leser in der Eingabe des weiblichen Vornamens und der Unterbrechung des Texts durch die Pausentaste. Der Text ist nicht zusammenhängend, sondern vielmehr Zeile für Zeile auseinandergeschnitten und nach dem Zufall wieder zusammengesetzt. »Cut-up« ist als literarisches Verfahren der Beatnik-Bewegung der 1960er Jahre bekannt geworden. Laut Äußerung eines ihrer berühmtesten Vertreter, William S. Burroughs, verfasste der Maler und Dichter Brion Gysin, als erster »cut-up«-Texte. Er beschreibt seine literarische Technik folgendermaßen:

19. Alire6 1992. 20. Alire6 1992. 21. Zumindest kann man auf diese Weise versuchen, den Text »in Ruhe« zu entziffern, um dann festzustellen, dass er als »cut-up« nur eingeschränkt lesbar ist. 175

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»Cut right through the pages of any book or newsprint… lengthwise, for example, and shuffle the columns of text. Put them together at hazard and read the newly constituted message. Do it for yourself. Use any system which suggests itself to you. Take your own words or the words said to be ›the very own words‹ of anyone else living or dead. You’ll soon see that words don’t belong to anyone. Words have a vitaly of their own and you or anybody can make them gush into action.«22 Unter medientechnischen Gesichtspunkten erinnert die Auflösung der Zeilen von Cut Up an die gängige Methode zur Verschlüsselung von Daten wie z.B. die des Pay-TV-Senders Premiere, wo ebenfalls die Zeilen durcheinandergewürfelt werden. Der Leser hat lediglich die Möglichkeit, sich dem Spiel des durchlaufenden Textes hinzugeben, die Zeilen schlaglichtartig zusammenzulesen oder neu zu konstruieren – bis ins Unendliche: »[…] Elle rit avec le chien qui la fouillait. Cela brille, avec la lame noire et se rasséréna. Il faut que divertissements. Marie sourit, se roule dans une couverture la tordre, comme une gamine. A chaque instant, gémir – et posées Toute sa robe, découpe stricte des jarretelles; vous empoignez noir, c’est rester devant eux, peut-être. C’est un endroit tranquille. Elle se glisse sous les meubles – Je sais que tu m’entends, en marmonnant. C’est comme on l’a dit. Ta bouche va et vient, en rigolant, dans l’absence, cela volette autour de nous. On n’y arrivera jamais. Absence, têtes les lèvres, nettoyer, je t’offre ce qui m’est le plus cher. son plaisir et brûlée secrètement; il aimerait. Se rehabiller ils vous avaient battue. Mais sa langue dans un linge et découper […]« 23 Sobald Cut Up in Gang gesetzt wird, versucht der Leser Satzfragmente zu erhaschen: »Marie sourit … Toute sa robe, … stricte des jarretelles … noir … peut-être. C’est un endroit … Je sais que tu m’entends, en marmonnant … ta bouche … têtes les lèvres, … son plaisir et brûlée secrètement.« Die sexuell konnotierte Szene, die die Geschichte einer Frau zu erzählen scheint, kann man nur durch die Zeilen hindurch erahnen, sie bietet sich nicht vollkommen dar. Sie entzieht sich wie dem Blick eines Voyeurs und blitzt nur durch farbige Reizwörter (»yeux«, »bouche«, »lèvres«, »jambes«, »sexe«, »suce«, »oeil« etc.) auf. Der Leser ist abgetrennt (Cut Up), wie durch ein Gitternetz. Die Animation zwingt seiner Lektüre ihren Rhythmus auf. Trotz Möglichkeit zur Interaktion bleibt der Leser dennoch in seinem Rezeptionsverhalten sehr eingeschränkt, da er ständig von Information überflutet wird und sich immer nur einen Ausschnitt durch Anhalten des Generators zugänglich machen kann. Die Übermacht des Generators (d.h. auch dessen, der ihn

22. Gysin und Burroughs 1978, 34. 23. Auszug aus einer durch die Pausentaste angehaltenen Stelle aus Cut Up. Die farbigen Wörter wurden hier fett gedruckt. 176

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programmiert hat, des Autors) ist unverkennbar. Die Möglichkeit zur vielleicht scheinbaren, mit Sicherheit aber eingeschränkten Manipulation tritt hier hinter das von der Maschine Manipuliert-Werden zurück24. Der Textgenerator lässt durch seine Schnelligkeit und dem Produktionsprinzip selbst dem Leser gar keine andere Wahl: Statt der inhaltlichen Lektüre des Textes kann er nur das reibungslose Funktionieren des generativen Prozesses selbst beobachten.25 Der ablaufende Text visualisiert den Vorgang seiner Produktion, an der der Leser selbst durch die Eingabe des weiblichen Vornamens einen, wenn auch äußerst reduzierten, Anteil hat. Dass der Text als Titel den Namen seines Verfahrens (»cut-up«) trägt, weist darauf hin, dass nicht die Geschichte einer Frau im Vordergrund steht, die womöglich dem Verfahren des »cut-up« unterzogen wurde, sondern seine Lektüre selbst: »Rythmé dans le temps et fractionné dans l’espace, c’est notre propre rapport à l’oeuvre que le processus de cut-up vien ainsi désagréger et disperser. Par un interactivement – notre lecture à la mesure de la transformation incessante dont, en fin de compte, il n’a d’autre propos que d’assurer la représentation.«26 Die Textmaschine dreht somit das Spiel der Interaktivität um. Nicht wir sind es, die den Text im Prozess der Lektüre verändern, sondern der Generator »dekonstruiert« vor unseren Augen unsere eigene Lektüre als unablässigen Akt der Transformation. Die Inexistenz des generierten Textes wird bestätigt, indem er als augenblicklich wahrnehmbarer Text nur einen transitorischen Status erhält: Er wird zum steten Zeichenfluss über den Bildschirm hinweg. Mit Konzentration kann der Leser nur Wortteile erhaschen, jedoch keinen Text lesen. »Ce n’étaient plus des mots, c’était le résultat d’une suite d’instructions.«27 Die Folge von Anweisungen, von denen der Autor Petchanatz hier spricht, sind dem Leser nicht zugänglich, da sie Teil des Programmcodes sind, die wiederum die sichtbaren Alphabetwörter dazu bringen, in Aktion zu treten (»to gush into action«28). So wie der durchrauschende Bild-

24. Selbst wenn dem Leser die Möglichkeit einer freien Gestaltung des Textes gegeben wäre, ist er im Zusammenhang mit dem Computer immer auf Interfaces angewiesen. Interfaces können jedoch nie ein vollkommen freies Agieren des Benutzers erlauben, da sie selbst durch ihre technische Beschaffenheit Information vorstrukturieren und auswählen und insbesondere über die Effizienz des Auswählens immer mitentscheiden. Interaktion ist daher auch immer gleichzeitig ein Spiel von Einschränkung und Zulassung. 25. Vgl. Barras 1999, 166. 26. Barras 1999, 168. 27. Petchanatz 1994, o. S. 28. Vgl. hierzu das cut-up-Verfahren von Gysin und Burroughs 1978, 34. 177

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schirmtext von Cut Up immer nur zur Hälfte zu lesen ist, so entzieht sich der Text Cut Up insgesamt ebenso zur Hälfte dem Leser, nämlich als Programmcode. Programmschrift und projizierte Buchstabenschrift werden bei Auslösung des Generators gleichzeitig aktiv, da sie beide zu ihrem Teil den elektronischen Text Cut Up bilden.29 Auch die beiden zugrundegelegten (Buchstaben-)Texte erscheinen auf dem Bildschirm als »ein«, jedoch nicht zusammenhängender Text und verweisen daher auf ihre Quelle. Der Gedichtgenerator Stances d’amour éternel von Jean-Pierre Balpe spielt mit den beiden Textebenen und der Lektüre des Lesers auf eine andere Weise.30 Während Queneau noch im Titel ankündigt, dass es sich um 1014 (Cent Mille Milliards de Poèmes) Gedichte handelt, ist der Generator hier dazu in der Lage, unendlich viele Liebesgedichte zu generieren. Während die Texte der Oulipiens noch ohne Computer permutiert wurden, hat die kombinatorische Poesie durch den Computer nun ein Instrument zur Verfügung, das die Effizienz und Produktivität dieser Methode scheinbar ins Unendliche erweitern kann: »A défaut d’amour éternel, Jean-Pierre Balpe ouvre ici symboliquement les perspectives d’une éternité d’épithalames.«31 Mit der Auswahl verschiedener Kontrollparameter, die u.a. Stil, Rhythmus und Versmaß des Gedichts bestimmen, stellt anschließend der Generator einen Text zusammen, der in erster Linie den Kriterien (Parametern) des Programms genügt und dann erst den Wünschen des Rezipienten: Der Leser nämlich »comprendra aussitôt que l’écriture du texte est ainsi fonction d’un calcul de paramètres dont il échoue à interpréter la portée.«32 Paradoxerweise wird der Leser jedoch während der sekundenschnellen Generierung des Gedichtes durch Tafeln auf dem Bildschirm auf dem Laufenden gehalten, welche numerischen Transformationen sich gerade ereignen. War es bei Petchanatz das stetig durchlaufende Textband, das den Arbeitsprozess des Generators visualisiert hat, so ist es bei Stances eine große Menge abstrakter Informationen über den sich augenblicklich ereignenden »work in progress«. Ist das Gedicht vollständig generiert, erscheint es auf dem Bildschirm und man beginnt sofort zu Überlegen, welche Parameterzahl wohl diese oder jene Verszeile produziert haben mag. Als Leser scheint man mehr an den Prozessen interessiert zu sein, die das Gedicht bedingen, als an dem »fertigen« Textobjekt selbst.

29. Auch wenn auf dem Schirm keine Programmcodes sichtbar sind, visualisiert der dort durchlaufende Text seine »Verschlüsselung« durch das Verfahren des »cut-up«. 30. Kaos1 1990. 31. Barras 1999, 162. 32. Barras 1999, 163. 178

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Man kann nun darüber spekulieren, ob der Grund für dieses Verhalten ein tiefes, von unserer traditionellen literarischen Kultur geprägtes Misstrauen ist, mit dem wir maschinell erzeugten Gedichten begegnen, die nicht von einem Autorsubjekt, sondern dem Zufall geschaffen wurden. Oder absorbiert die Faszination gegenüber technischen Prozessen die Aufmerksamkeit vollkommen, weil sie für uns undurchschaubar und geheimnisvoll sind. Der Leser, hat er erst ein Gedicht generieren lassen, wird jedenfalls nicht zögern, dem Generator das nächste zu entlocken. Diese Undurchschaubarkeit der informatischen Prozesse ist zugleich Kritik und Motor der Interaktivität. Einerseits erhält auch hier der Leser weder einen Zugang zu dem der Arbeit Stances zugrundeliegenden (Text-)Code, der den Generator bildet, noch hat er ernstzunehmende kreative Gestaltungsmöglichkeiten, die über die Wahl bereits vorher etablierter Parameter hinausgingen. Die in dem Wort Interaktivität versprochene Kreativität erweist sich als Illusion. Dem Leser bleibt lediglich eine Neuformulierung dessen, was bereits vom Autor, auf der Ebene des eingesetzten Wortschatzes, der Semantik und der Konstruktionsprinzipen der Syntax vorgegeben ist. Das, was jedoch den genuinen Gestaltungsprozess ausmacht, liegt nicht auf der Ebene der Wortwahl, der Semantik oder der Syntax, sondern auf der all diesem vorangestellten Ebene, nämlich der des Codes. Hier legt der Autor (Balpe) fest, welche Prozesse sich wann und wie ereignen sollen, um schließlich die Anweisungen für den Text zu bilden, der auf dem Bildschirm angezeigt werden soll. Andererseits ist der Autor auf das interaktive Handeln des Lesers angewiesen, da es den Generator mit den ausgewählten Einschränkungen in Gang setzt: »L’›auteur‹ ne peut plus exister désormais sans un ›lecteur‹ puisque le ›texte‹ qui se trouve écrit n’a plus de raison d’être en dehors de cette intervention du lecteur. L’acte de création est devenu collectif et composite. Les apports de chacun se confondent dans ce qui apparaît sur les écrans.«33 Im Vorgang der unablässigen Textproduktion, wie sie ein Gedichtgenerator wie Stances vorsieht, hat jeder einzelne Text keinen Wert mehr. Die Ablösung des einen durch ein nächstes Gedicht kennzeichnet den übergeordneten Prozess, der jedes produzierte Gedicht schon im voraus zum Instantanobjekt degradiert. Der Leser ist in den Prozess selbst eingebunden, innerhalb der (Endlos-)Schleife zwischen Generator und Bildschirmtext. Mit der Aufgabe der Wiederingangsetzung des Generators verfügt er über die entscheidende Geste, mit der er zugleich der Produktion und dem Vergehen der Texte beiwohnt. Das Gedicht Voies de Faits von J. Dutey ist ähnlich wie Icône ein

33. Gillot 1999, 186. 179

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Text, der sich mit der interaktiven Rolle des Lesers visuell auseinandersetzt34. Genaugenommen führt er den Leser als einen auf die Richtungstasten seines Computers antwortenden Rezipienten vor. Auf dem Bildschirm ist ein roboterhafter Mensch in der Aufsicht gezeigt, der sich sofort in Bewegung setzt, wenn der Leser die Richtungstasten betätigt. Entsprechend den zugeordneten Richtungen bewegt sich der Roboter auch auf die zugehörige Seite des Bildschirms. Dabei scheint er über einen Text auf dem Boden zu laufen. Tatsächlich aber bleibt er immer in der Mitte des Bildschirms stehen, während sich der Text auf dem Boden bewegt. Der Boden ist gekachelt von schwer leserlichen, kantigen Buchstaben, die quadratisch in Blöcken (fünf Buchstaben auf fünf Zeilen) angeordnet sind. Zu Beginn des Gedichts (als Vorwort) lässt der Autor Dutey wissen: »vous vous deplacerez dans Voies de Faits en utilisant les flèches de direction.«35 Diese Aussage ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn der Leser sieht sich tatsächlich im Text verortet (»deplacer«), nämlich als auf den Textkacheln laufender Roboter, da er selbst diesem die Bewegung verleiht. Alles, was der Leser mit den Tasten bewirkt, ist durch den Roboter sofort auf dem Bildschirm visualisiert. Der Leser sieht sich quasi selbst reagieren – oder überspitzt formuliert: Der Leser sieht sich Lesen. In der Mitte befindet sich ein Quadrat aus leuchtend blauen Buchstaben, das das Prinzip der Interaktion auf den Punkt zu bringen scheint: VIVRE OBEIR A CET ORDRE ENFIN Will der Leser überleben (»vivre«), d.h., will er den Text nicht nur sinnvoll erfahren, sondern im Spiel der Interaktion mitspielen, so muss er den Regeln des Programms gehorchen (»obeir à cet ordre«). Der Titel Voies de Faits (Gewalttaten) signalisiert, dass der Leserroboter nicht nur im Programm eingeschlossen ist, sondern auch zu dessen Handlanger geworden ist.36 Nicht er manipuliert durch das Interface die Maschine, sondern das Interface manipuliert ihn auf dem Bildschirm. Entfliehen kann er im wahrsten Sinne des Wortes nur durch die »Escape«-Taste, die auch gleichzeitig das Programm beendet. Das Gedicht Passage (1997) von Bootz, das den zusätzlichen Titel Poème à lecture unique (Gedicht für eine einmalige Lektüre) trägt,

34. Alire2 1989. 35. Alire2 1989. 36. Vgl. auch Barras 1999, 168-170. 180

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lässt auf der technischen Ebene dem Leser zwar nicht mehr interaktiven Spielraum als Stances, ist jedoch auf der Ebene des Lektüreaktes komplexer angelegt37. Die mehrschichtigen Zeitebenen des Gedichtes basieren auf den unterschiedlichen Textebenen, die nach Bootz den gesamten Text konstituieren: a) »texte-écrit« (programmierter Code), b) »texte-à-voir« (am Bildschirm erscheinender Text) und c) »texte-lu« (vom Leser gelesener und verinnerlichter Text). Die drei Ebenen, in die sich der Text aufspaltet, zeigen, dass der vom Autor geschriebene Text nicht gleichzeitig der vom Leser gelesene ist.38 Der »text-écrit«, das numerisch codierte Programm, das den Generator anweist, gehört auf die Seite des Autors. Der »texte-à-voir« bezeichnet den auf dem Bildschirm angezeigten Text, der grundsätzlich innerhalb einer bestimmten Zeitspanne stattfindet. Der »texte-lu« schließlich bezeichnet den vom Leser gelesenen Text und gehört damit ganz auf die Seite des Lesers. Das Zusammenwirken der drei Schichten bewirkt das interaktive Spiel der Lektüre von Passage. Wie das Modell der Struktur zu Passage verdeutlicht (Abb. 23), handelt es sich bei dieser Form der Computertexte um eine Aufspaltung des gesamten Prozesses in drei Ebenen: Die Ebene des Autors (»domaine de l’auteur«) gehört dem Textproduzenten und umfasst im Wesentlichen dessen Umgang mit Softwareprogrammen, das Erstellen des Quellcodes und die computergestützten Strukturen, die er für den Text festlegt. Diese Ebene ist für den Leser unzugänglich. Auf der mittleren Ebene, der des Textes selbst (»domaine du texte«), finden die Prozesse statt, die durch die Interaktion mit dem Leser ausgelöst werden. Durch die Wirkung des Generators wird dem Leser ein Text präsentiert (»texte-à-voir«), der wiederum vom Leser verändert werden kann. Er wird also mit Daten der Interaktion konfrontiert (»donnée de lecture«), die mit den vom Generator generierten Daten zusammentreffen. Dieser Prozess findet während des Lesevorgangs statt. Die Ebene des Lesers (»domaine du lecteur«) ist die des Bildschirms, auf der der aktuelle Text zu sehen ist.

37. Zur Erinnerung sei hier angemerkt, dass die Gruppe A.L.A.M.O., zu deren Mitglieder Balpe zählt, in erster Linie an den Veränderungen des Produktionsprozesses elektronischer Dichtung interessiert ist. Dagegen legt die Gruppe L.A.I.R.E. (Bootz) Wert auf die Erprobung neuer Wahrnehmungserfahrungen durch bewegte Texte. Vgl. hierzu auch Bootz 1984a/1995/1999a/1999b. 38. Zwar gilt das prinzipiell auch für alle traditionell gedruckten Texte, die nach unterschiedlicher Lektüre unterschiedliche Inhalte haben können, jedoch ist die Differenz zwischen den einzelnen Textschichten von Passage auf einer anderen Ebene angesiedelt, als die Unterscheidung zwischen einer verinnerlichten individuellen Lektüre und dem Ausgangstext. 181

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machine auteur

domaine de l'auteur

texte-écrit

Ecriture

textes-auteur

données induites

Abbildung 23: Funktionenmodell des Gedichts »Passage«

Auteur

intention

contexte culturel et psychologique profondeur de dispositif

domaine du texte

machines

Génération

données de lecture

texte-à-voir process on, actions et attention

contexte de lecture power

texte-lu

domaine du lecteur

Lecture

intention

Lecteur

contexte culturel et psychologique profondeur de dispositif

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Nicht nur die Ebene des Autors und die des Lesers sind nach diesem Modell relativ autonom, sondern auch die Generierung, die lediglich von der Schnelligkeit des Programms, der Rechenleistung des Computers, des Betriebssystems etc. abhängt. Hinzu kommt, dass der aktuell auf dem Bildschirm erscheinende Text (»texte-à-voir«) während des generativen Prozesses nur innerhalb eines bestimmten Zeitraums erscheint, d.h. für den Leser auch nur dann sichtbar und lesbar ist. Eine Lektüre der Wörter auf der Oberfläche ist nicht bloß eine zweite Lektüre des Vorhandenen, sondern aktiviert wiederum die Textgenerierung. Die Wiederlektüre wird also zum Instrument der Textproduktion und ist elementarer Bestandteil des prozesshaften Gedichts: »procedural works are not meant to be read but reread.«39 Die literarische Arbeit, die zur Endfassung des Textes auf dem Bildschirm führt, findet auf der Ebene des Textes/Generators statt (»domaine du texte«). Ein Text mit dieser Struktur zerfällt in drei unterschiedliche Texte, die einerseits isoliert voneinander funktionieren, jedoch in ihrem Zusammenwirken den einen, aktuell lesbaren Text konstituieren. Auf der Oberfläche des Bildschirms hat der visualisierte poetische Text seinen Ort: Nach einem generierten Prolog, der bei jeder Lektüre derselbe ist, hat der Leser die Möglichkeit, mehrere individuelle Lesarten durchzuspielen. Er aktiviert dabei das Feld »lecture suivante«, worauf der Generator Textzeilen über den Bildschirm schickt. Im Gegensatz zum nichtinteraktiven Prolog hat der Leser nun die Aufgabe, durch die Bewegung und das Klicken der Maus dem zugrundeliegenden Generator Daten zu liefern, die dieser zum Verfassen der Schlussversion speichert.40 Allerdings ist für den Leser nicht ersichtlich, was die einzelnen Mausbewegungen bewirken. Mehrere »Lektüren« müssen auf diese Weise durchlaufen werden (ca. 20 Min.), bis der Generator schließlich alle, mit Hilfe des Lesers gewonnenen Daten in Information umwandelt und daraus den Schlusstext generiert. Die Schlussversion lässt keine Wahlmöglichkeiten mehr zu und ist auch nicht widerrufbar. Sie bleibt allen weiteren Lektüren erhalten. Die anfängliche Option, das Gedicht durch interaktive Handlungen zu beeinflussen, existiert in dieser Phase der Lektüre nicht mehr. Er präsentiert als nichtinteraktiver Teil einen Text, in den die vorangegangenen Lektüren quasi eingeschrieben wurden. Startet man das Programm neu, findet auch eine neue Lektüre statt, die als Ergebnis ein ebenso neues, noch nicht da gewesenes Gedicht zum Ergebnis hat. Man kann weder »alte« Versionen aufrufen, noch die aktuelle Schlussversion einer Lektüre ausdrucken. Jeder Text ist ein einmaliges Ereignis, so dass die

39. Bootz 1999a, 2. 40. Für die Funktionsweise des Generators und die in ihm enthaltene Wortmatrix vgl. auch Bootz 1994a, 75-87. 183

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Frage, »Habe ich diesen Text schon gelesen?« (»Ai-je lu ce texte?«41), nicht mehr in einem Satz beantwortet werden kann, sondern stattdessen für jede Textebene anders gestellt werden muss. In Voies de faits konnte der Leser direkt seine interaktiven Handlungen auf der Bildschirmoberfläche verfolgen. Der Roboter visualisierte die Bewegungen der Maus (Hand) und verortete den Rezipienten damit im Inneren des elektronischen Texts selbst. Das Interface repräsentiert den Leser im Gedichttext. Ähnlich verhält es sich in Passage, wie Bootz erklärt: »Avec ce texte sont posées les conditions essentielles de l’interactivité dans ce type de poème: il ne s’agit pas tant d’un mode de choix ou d’orientation du texte par le lecteur, d’une interface, telle qu’on la trouve dans les générateurs ou les hypertextes, que d’une présence symbolique du lecteur à l’intérieur même du poème. L’interactivité ne sert donc pas essentiellement au lecteur pour imposer un choix dans le texte, elle sert à introduire dans le ›texte-à-voir‹ un élément extra linguistique (le curseur graphique dans le cas de la souris) qui représente le lecteur.«42 Die Art und Weise unserer Interaktion ist das eigene Durchlaufen der Lektüre. Wenn wir in Voie den Roboter gehen sehen, sehen wir gleichzeitig auch unsere Art und Weise der interaktiven Lektüre: Wir sehen uns lesen. Bootz nennt das die »doppelte Lektüre« (»double lecture«43). Der Roboter visualisiert die Lektüre selbst, ebenso wie in Passage der dreifache Leseweg die Lektüre selbst repräsentiert. Der Leser ist selbst durch den Pfeil des Interfaces (Maus) im Text symbolisch repräsentiert. Die Maus wird zum »paratextuellen« (Bootz) Teil des »texte-à-voir«.44 Durch die Animation der Texte vermischen sich der aktualisierte (visualisierte) und der virtuelle (mögliche, aber augenblicklich nicht sichtbare) Text in ähnlich rivalisierendem Verhältnis, wie die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes und die Starrheit des geschriebenen Textes. »Les mécanismes de lecture d’un tel texte sont incompatibles avec ceux d’un texte sur papier, les lectures temporelles des mots qui s’affichent ne donnant pas, bien souvent,

41. Vgl. auch den gleichnamigen Aufsatz von Bootz 1999b, 245-274. 42. Bootz 1995, 243. 43. Vgl. Bootz 2001, 10-11. 44. Bootz vergleicht die doppelte Lektüre mit den zwei alternativen Rollen des Betrachters innerhalb einer Installation. Wenn der Betrachter mit der Installation interagiert, ist er im selben Moment Interakteur und Betrachter seiner eigenen Handlungen und deren Folgen. Gleichzeitig ist er jedoch auch ein Werkzeug des Systems und wird damit für die anderen Betrachter, die nicht interagieren, zum Teil der Installation selbst. Bootz 2001, 10-11. 184

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les mêmes résultats que la lecture spatial des éléments de texte présents à l’écran à un instant donné.«45 Die Struktur von Passage spielt mit dem traditionellen Leseverhalten von gedruckten Texten, das wir verinnerlicht haben. Der Leser ist weder gewohnt, immer nur einen Teil des Textes lesen zu können, statt seiner Gesamtheit, noch auf eine wiederholte Lektüre des Textes zu verzichten. Darüber hinaus wird er aufgefordert, den sich ohnehin schon bewegenden Text in einer höheren Ebene neu zu generieren, ohne dass er weiß, was seine Interaktion bewirkt hat. Da der Leser nicht versteht, was das Programm – der »texte-écrit« – wirklich tut, sind für ihn die sichtbaren Textfragmente (»texte-à-voir«) »der« Text, den es zu lesen gibt. Da jedoch die Wiederholung der Lektüre als ein Element der klassischen Lesestrategie nicht mehr möglich ist, ist der Leser in seinem Verhalten irritiert bzw. frustriert. Eine Reaktion, mit der wiederum der Autor in der Textkonzeption spielen kann.46 In den analysierten Beispielen spielte die Teilung der Ebenen in eine numerische Schrift (Code) und die alphabetische Schrift der Oberfläche eine wesentliche Rolle in der Konzeption und dem Umgang mit dem Leser. Auffallend ist an dem Beispiel von Bootz, dass dieser den binärcodierten Text (das Programm) mit »texte-écrit« bezeichnet und den angezeigten Text mit »texte-à-voir«. Sollte es sich also im Zusammenhang elektronisch erzeugter und projizierter Texte um eine Verschiebung des Textbegriffs handeln? Demnach wäre der »geschriebene« Text nicht mehr der alphanumerische, mit Tinte zu Papier gebrachte oder mit Druckerschwärze auf Papier gedruckte Text, sondern die abstrakte Struktur eines binärcodierten Computerprogramms. Der Text, der vormals der geschriebene und zum Lesen bestimmte Text war, verwandelt sich in einen Text »zum Sehen«, der auch gleichzeitig zu lesen ist, weil er Buchstaben sowohl als visuelle Objekte als auch als abstrakte alphabetische Zeichen repräsentiert.

3. Hybridität von Bild und Schrift Die Entdeckung des Papierraums und seines poetischen Potentials Anfang des 20. Jahrhunderts sowie die visuelle Kraft des Buchstabens als Bild und nicht in erster Linie als semantisches Schriftzeichen bildeten zwei zentrale Aspekte der experimentellen Poesie. Buchstaben waren nicht länger nur Träger eines semantischen Inhalts, sondern bedeute-

45. Bootz 1999b, 252. 46. Vgl. Bootz 2001, 9-12. Bootz nennt diesen Vorgang »Ästhetik der Frustration« (»esthétique de la frustration«) und meint damit eine Strategie des Autors. 185

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ten im selben Augenblick auch sich selbst als graphisches Objekt. Absicht war es, durch die Überschneidung von Schrift und Bild neue Wahrnehmungsqualitäten zu entdecken, die auf einem anderen rezeptorischen Vorgang beruhten als das Lesen von Schrift, im Sinne einer semantischen Lektüre. »[…] I wanted to show the writing not the written. I wanted to draw the attention to writing in order to appeal to a new form of reading. To achieve this I made texts practically or totally illegible so that they could no longer be read as pure linguistic objects. They were intended to be perceived as multilayered icons.« 47 Was Ana Hatherly hier beschreibt, ist das Sichtbarmachen des Schreibvorgangs selbst, der auf die Materialität der Schriftzeichen hinweist und diese hervorhebt. Schrift, die sich noch nicht zu »fertigen« Wort- oder Satzverbindungen vor unserem Auge darbietet, lenkt sehr viel stärker die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf ihre Materialität, die Form der Buchstaben und den Entstehungsprozess selbst. Mit Hilfe der technischen Eigenschaften des Computers, Schrift zu bewegen, hat Kac ein Gedicht mit dem Titel Wine (1997) verfasst, das auf dem Bildschirm den Schreibvorgang selbst visualisiert.48 Man kann dabei tatsächlich das Schreiben »lesen«, da in der Technik der Schreibschrift allmählich zusammenhängende Wörter von unsichtbarer Hand auf den Bildschirm geschrieben werden. Die Wörter erscheinen langsam an den Rändern und wandern in Richtung Mittelpunkt des Bildschirms. Dabei überlagern sie sich und werden unlesbar oder sie erscheinen bereits überlagert und trennen sich vor den Augen des Rezipienten. Sie lösen sich gelegentlich nach einer bestimmten Zeit ihrer Answesenheit auf dem Bildschirm auf oder manifestieren sich aus einer diffusen Ansammlung von schwarzen Punkten und werden zu Schriftzeichen – ähnlich einer Geheimschrift, die erst in Verbindung mit einer Flüssigkeit sichtbar wird. Der Text besteht aus folgenden Fragmenten: »at times / the wind / through the wind / the window / blows / look / i look / go / i go / at times (at times / at times / at times) / but ages ago«. Der Vorgang ist für den Leser doppelt befremdend: Statt einen fertigen Text vor sich zu haben, kann er immer nur mühsam den nächsten Buchstaben entziffern, weil er gezwungen ist, sich der Zeit der Visualisierung (Prozessor) unterzuordnen. Er kann nicht seinem eigenen Lesetempo folgen. Befremdend ist der Vorgang aber auch, weil durch die Wahl der Schreibtechnik (Schreibschrift) und durch die Entstehung des Textes aus dem »Nichts« das neue Dispositiv selbst beschrieben wird: Der Schreibende selbst ist von dem Apparat, durch den

47. Hatherly 1996, 65. 48. Alire10/DOC(K)S 1997. 186

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er schreibt, abgetrennt. Seine Hand ist nicht mehr – wie noch bei der (Hand-)Schrift auf Papier, mit der Schrift und ihrem Entstehen verbunden. Die Schreibschrift auf dem Computerbildschirm dagegen wirkt fremd, da man hinter ihr immer eine den Stift führende Hand vermutet, die es hier jedoch nicht gibt. Der Computer scheint selbst zu schreiben, besitzt also nicht nur die Macht, den Leseprozess zu steuern, indem er dem rezipierenden Auge seine Zeit aufzwingt, sondern auch die Macht, Texte eigenständig erstellen zu können. Da zu Beginn des Gedichtes nur einzelne Buchstaben zu sehen sind, die sich erst im Verlauf der Zeit zu Wörtern verbinden, ist der Text zunächst unlesbar und die Lektüre auf Form, Farbe und graphische Entstehung der Buchstaben selbst fixiert. Schrift präsentiert sich als Graphik, als Bild. Auf der inhaltlichen Seite spielen die Worte mit ihrem eigenen Zustand der Vergänglichkeit. Die Zeit (»at times«) verleiht ihnen dabei die Dynamik auf dem Bildschirm zu erscheinen, als ob sie als materiale Objekte vom Wind (»through the wind«) auf eine Scheibe (»the window«) – eine durchsichtige, die hier sowohl Projektionsfläche als auch Fenster in einen unbestimmbaren Raum sein kann – geweht würden (»blows«). Das Lesen selbst (»i look«) ist gleichzeitig Schauen und muss sich der Dynamik der Buchstaben angleichen, d.h. mit der Bewegung der Schriftzüge »mitgehen« (»i go«). Der Fluss der Zeichen bricht an einer Stelle ab, die eine neue Zeitebene zu eröffnen scheint – eine vergangene (»but ages ago«). Der Text bleibt offen und die temporale Transformation bis zum Ende erhalten. Auch die Hologrammtexte von Kac weisen Instabilitäten auf, die ein eindeutiges Zuordnen der Zeichen zu entweder Schrift oder Bild absichtlich verschleiern. »The difference between the holopoem and other kinds of experimental poetry are marked by a set of characteristics that work together to destabilize the text, to plunge it into its specificity as written [text] as opposed to graphic representation [of speech], to create a syntax based on fleeting transformations and discrete leaps.« 49 Durch das fluktuierende Verhalten der Buchstaben und Wörter in der Holographie, das durch Körperbewegungen hervorgerufen wird, da das holographische Bild mit der Perspektive der Augen unmittelbar steht und fällt, wird der Rezeptionsprozess selbst vorgeführt. Ebenso schnell, wie die Buchstaben auftauchen oder verschwinden, verändert sich auch die Wahrnehmung von visuellem Zeichen und semantischem Buchstaben. Wenn sich bspw. der Buchstabe »A« von »ARE« vom restlichen Wort abzulösen beginnt, bildet er in diesem Augenblick auch kein Wort mehr, sondern repräsentiert den Buchstaben »A« in seiner

49. Kac 2001, 300. 187

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graphischen Qualität. Schließt sich derselbe Buchstabe in einer nächsten Körperposition wieder mit andere Buchstaben zu einem sinnvollen Wort zusammen, ist es wahrscheinlich, dass der Rezipient das Wort zuerst als semantisches und nicht als graphisches Zeichen lesen wird. Kac etabliert hier einen Vorgang der Oszillation zwischen Schrift und Bild, der für bewegte Texte konstituierendes Merkmal geworden ist. Der holographische Raum, selbst höchst instabil, da er lediglich auf der Basis von gebrochenen Lichtstrahlen existiert, steht dabei der physikalischen Materialität der Papierseite grundsätzlich entgegen. »Fluid signs can also operate metamorphoses between a word and an abstract shape, or between a word and a scene or object. When this happens, both poles reciprocally alter each others’ meanings.«50 Dass Melo e Castros literarische Ursprünge in der konkreten Dichtung der 1960er Jahre liegen, lassen auch seine ca. 25 Jahre später entstandenen Videogedichte noch erkennen. In Ideovideo (1987, 7’50’’) wird der auf dem Fernsehbildschirm erscheinende Text vor allem in das Spannungsverhältnis von Schrift und Bild gesetzt, um nach dem Status seiner Materialität im Medium Video zu fragen. Die ersten Szenen erinnern deutlich an Wortspiele und Wortmuster, wie sie von den konkreten Dichtern angewandt wurden, um neben der inhaltlichen Bedeutung auch die visuell-graphische Qualität der Buchstaben hervorzuheben: 1.

2.

3.

I ID IDE IDEO 4.

VI VID VIDE VIDEO 5.

VO VEO VDEO VIDEO

6. OVI EOVID DEOVIDE IDEOVIDEO

7.

8. E DE IDE

O EO DEO IDEO

D DE DEO

OI EO ID DEO IDE IDEO IDEO 9.

D ID

E EO

I

O

Nach einer strengen Choreographie werden zunächst die Buchstaben »I«, »ID«, »DIE« und »DIE« von rechts nach links auf den Bildschirm

50. Kac 2001, 300. 188

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geschoben, sodann mit dem Buchstaben »V« komplettiert, ehe der Buchstabenturm zum oberen Bildrand abzieht (1. und 2.). Dasselbe geschieht nun mit den Lettern »O«, »EO«, »DEO« und »IDEO«, die ebenso mit »V« ergänzt werden und nach oben aus dem Bild hinauswandern (3. und 4.). Schließlich erscheint die gesamte Buchstabenpyramide (5.), die sukzessive, Buchstabe für Buchstabe, abgebaut wird, bis schließlich »I« und »O« übrigbleiben. Damit hat die Anfangssequenz des Gedichtes nicht nur die graphische Seite der Buchstaben als Formen und Muster inszeniert, sondern zugleich auch nach deren Materialität auf dem Fernsehbildschirm gefragt, deren Basis die elektronische Codierung 1 (»I«) und 0 (»O«) ist.51 Im Verlauf des Textes füllt sich allmählich der gesamte Bildschirm mit endlosen Wiederholungen des Wortes Ideovideo bis schließlich in der Mitte die Frage erscheint: »O que é este texto?« (Von was handelt/ist dieser Text?). Das Videogedicht arbeitet immer wieder mit elektronisch erzeugten Stimmen, die die sichtbaren Wörter in übereinandergelagerten Sequenzen vorlesen und nachsprechen. Die Passage mit den Wörtern »desejo« (Wunsch, Verlangen) »desenho« (Zeichnung) und »desenho desejo palavra« (Wort) nimmt darauf Bezug, dass die bewegten Buchstaben nur für eine gewissen Zeit existieren, ähnlich den durch die menschliche Stimme ausgesprochenen Wörtern, die nur im Augenblick der Verlautbarung gehört werden können. Gleichzeitig schwingt der »Wunsch« der Bilder/Zeichnungen mit, sich den gesprochenen Worten anzunähern, was hier durch eine zeitliche Dynamisierung der Buchstaben durch den Videoschnitt ermöglicht wird. Durch Permutationen und Vertauschungen der Wortsilben zeigt das Video abwechselnd isolierte Begriffe auf der Bildfläche, die dort verharren, durch Trickeffekte auseinandergezogen, gedehnt, geteilt und mit anderen Worthälften wieder zusammengefügt werden: »videográfico, videolábio, lineolábio, ideográfico, ideolabio, literográfico, literolábio«. Schließlich endet der Text plakativ mit dem Wort »transformaçáo« (Transformation), womit er selbstreferentiell die Hybridität zwischen Bild und Schrift thematisiert. Das Gedicht The dreamlife of letters (1999, 11 Min.) von Stefans wurde zunächst in der Form konkreter Poesie auf dem Papier verfasst und anschließend als filmähnliche Computersequenz realisiert. Die Überlagerung zweier unterschiedlicher Codierungen (Schrift und Bild) erhält in der Animation durch Rhythmus und Bewegung eine neue Qualität. Das Gedicht ist in 36 Abschnitte eingeteilt, die nacheinander den 26 Buchstaben des Alphabets gewidmet sind. Stefans verwendet Wort- und Lautspiele wie sie aus der experimentellen Poesie seit Be-

51. Zwar handelt es sich hier selbstverständlich um das Medium Video, dessen Projektionsfläche (Fernsehbildschirm) analog funktioniert. Die Graphiken des Videobandes allerdings sind digital erstellt. 189

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ginn des 20. Jahrhundert vorhanden waren und setzt unterschiedliche Sprachen ein. Wörter scheinen sich auf dem Papier zu »bewegen«, Endungen zu verlieren oder neue Anfangssilben zu bekommen, zu sprechen oder zu stammeln (gekennzeichnet durch die Anführungszeichen). Semantische Grenzbereiche werden ausgelotet, Konnotationen durch die Vermischung unterschiedlicher Silben provoziert und durch immer wieder eingesetzte Wortwiederholungen dem gesamten Text eine Dynamik und vor allem ein rhythmisches Gefüge gegeben. Die einzelnen Buchstaben scheinen sich zwischen inhaltsloser Lautmalerei einerseits und der Zusammenfügung zu semantischen Bedeutungseinheiten andererseits nicht entscheiden zu können, sind mal Teil eines Wortes, mal materiales Objekt bzw. visueller Gegenstand. Sie sind Repräsentanten eines Signifikats und gleichzeitig graphische Form – Bild. Die animierte Version von Dreamlife spielt genau mit jenen zwei Seiten der Schriftzeichen, indem der Einsatz von Zeit, Rhythmus und Bewegung diese Zustände hybrid werden lässt. Die 36 Abschnitte werden in der Animation zu 35 Bildern oder Szenen und einem Prolog komponiert. Der Text des ursprünglichen Gedichts bleibt erhalten52: The dreamlife of letters Prologue en gender gin half – hilfen »in« the (and (as (ewe »fixed-gendered, handsome!«

1. a a a a a – abilities

2. amend an and

3. behoove bellamy bellum

anywhere, are are are ben bend bi bi big bike argument: »arthur« as »aye!«

about abut aching ad again age

binaries/ bo/ borders, but butt

– sad said sass. – agit all all all all all (to (tri?) (try?)

buy caucasians

(alley) although (you® am am

52. In der nachfolgenden Darstellung wurde das als Druck vorliegende Gedicht den einzelnen Szenen der Animation zugeteilt. 190

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ZEITERFAHRUNG POETISCHER WAHRNEHMUNG 4. 5. character? dear dear dear chimneysweeper christ, deer delays, cinder cixous. delft delicious delight« com-round, combina- delite tory: dentist come come) dewy-eek comes dick’s »ding ding« – conventional cunt curse… (diplomatic dodie). cycle.

6. dread

7. duh duh e’en

dream dream dream dream dream, dream, dream. dream?

ease eddy, efficacious.

8. err est esteem,

9. farce fed fellows:

10. food for freud.

evenup everything experience extra

female:

fustian

femur fittest flaws flogs follows:

gender gender gender gender – gender gendered genders, – german

exude eye

drip

elf email emerge, endless endocrine! enter enterprised

11. had hair hairiest half has hat

gill gizmo gimmick good grownup guess 12. he hearing heft

13. hey hi.

height –

his hiss hole

touchè herd here: hershey hex

horses hose hulk

14. hypersaturated/ i i i i i’d i’d id id’d

15. ink, inner inscriptions

iden-tiff identified ideologies.

– intel is issue

ides’ if images in in in in in in in in in in in in in in in indeed!

191

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COMPUTERPOESIE 16. itty jeeze jewel djinn

17. land lass laws

journal juice.

leveling lice lift

18. me me me mean member, men mends/

julia just juxtapose

nuns o oat

like lisp live lives loaves« loll

kiss knives know

19. not. now

lords love love male mammary

might mite mixed moan modify mollify

know – the knowy

moo more moving mule

many many/ = kristeva – hyperiden- material. tifications maternal.

mut my ned nepal nigh,

oedipality, oedipality. oedipality? oedipalized

night« night »- to night. night. night? nil) ninja nipple nixed no no no no no no no – de non. 20. oeuf of oh. oi’d. older on once one’s ooze. open or organ our outside ovulate… ow

21. owed owl own oz.

22. pace page

23. pre-gender preoedipal prejudgment

pal pallas

pride pull purposes

part pecs penies pennies people, per perp personal/social perverse,

r, rare re: ream, ream. ream? rear, regressive relationships

phallic pip) place plenty ploy poesy pointing poison/special policy polly poly poly-gendered polymorphous possibilities

192

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ZEITERFAHRUNG POETISCHER WAHRNEHMUNG 24. relay riding, ring rizzo. rogue. roods rote

25. say say saygender scents.

26. semiphor send sensations….» sense sensual set sew sex-sexualto sexual.

scissors scream. script sect self.

27. she shuns simple sin single sister, sit sleeping

sleeping sleeting slits sexuality sexuality sex- snatch) snot. uality sexuality snow so some sexualized.

rough round. rules, sad

sez shape

something spear special,

said sans sane saturn

spice staged stations….« strafe such sum sum sun swannery system talking tea tea tea? tea? tear

28. tease, tease.

29. terrific-hipro that’s the

30. tim) time)

31. tips, tit

tinny tiny

titwillow’d,

the the the the the the the the the the the the the the the the

tktk

think, third) thirl this tic tide tifications

193

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COMPUTERPOESIE 32. to tock tool.

33. um un unconscious

34. utterby vaginies, van vatically versicle,

tripled, troubled tryst

under up. ur

vertically

tup. uglies.

us-every us.

vitamin ways.

35. we we we we-each wear wed weenie weigh. weiner were wet wetter where whisper who widow wills wiper with writing wrote ya yam yon you you you you you you’ve youall your z z z

Die Rhythmik des Textes auf dem Papier erhält durch die zusätzliche Zeitstruktur der Animation eine andere Qualität.53 Wo auf dem Papier fünfmal der Buchstabe »a« untereinandergeschrieben ist, ist in der Animation ein den Bildschirmausschnitt ausfüllender Regen aus weißen und schwarzen »A«s vor orangefarbenem Hintergrund zu sehen. Anschließend erscheint ein großes schwarzes »A«, in dessen Querbalken sich nach ein bis zwei Sekunden das Restwort »bilities« setzt. Die schriftliche Notierung »agit all all all all all / (alley) although« aus dem ersten Abschnitt erhält in der Animation beinahe narrativen Charakter. Zunächst erscheint in der Bildmitte das graue Wort »agit«, vor dem sich mehrere Wörter »all« in Weiß platzieren. Wie eine Handlungsanweisung beginnt sich in der nächsten Szene ein Band aus zwei Zeilen »all« in Weiß hinter- und untereinandergeschrieben zu bewegen. Sodann durchschneiden jedoch die Worte »(alley) although« dieses Band in der Mitte von links nach rechts, wobei die Worte »all« nach oben und unten wie in einem Windkanal weggedrängt werden und nach dem Passieren der eindringenden Worte wieder in ihre Ausgangslage zurückdriften. Durch das schnelle Vorbeiziehen der Worte »(alley) although«, das auf dem Bildschirm durch die Bewegung zudem verwischt, ist man versucht »althrough« zu lesen, weil es die außergewöhnliche Bewegung der Schriftzeichen in diesem Augenblick suggeriert. Durch das visuelle

53. Siehe als Beispiele die Einzelbilder aus der 1. Szene in Kap. Computerpoesie/I, 4. (animierte Multimediapoesie). 194

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Verschmelzen von Zeichen, Bild und Bewegung innerhalb einer bestimmten Zeit können neue Bedeutungskonstellationen hervorgerufen werden, die nur in diesem dynamischen Zustand möglich sind. Ein geeignetes Mittel hierfür ist die Nachahmung der Bedeutung ähnlich einer visuellen Lautmalerei. Das Wort »chimneysweeper christ« (Abschnitt 4) wird in weißer Schrift und losen Buchstaben animiert, so dass es in wellenartigen Schwüngen (Besenschwüngen) am unteren Bildrand vorübertanzt und sich in Nichts auflöst. In Abschnitt 7 lesen wird das Worte »emerge«, das in der Animation am linken unteren Bildrand erscheint und anschließend emporsteigt, dabei in seine einzelnen Buchstaben zerfällt und langsam verschwindet. Die nächsten Zeilen »endless / endocrine!« werden in einem »endlosen« Band von links unten nach rechts oben auf dem Bildschirm dargestellt. Dabei sind die einzelnen Wörter direkt aneinandergehängt und zugleich noch übereinandergelagert (eine Reihe »endless« und dahinter eine Reihe »endocrine« versetzt), sodass eigentlich keine Wortgrenzen mehr unterschieden werden können, zumal sich die beiden Wortbänder auch stetig hin- und herschieben. »Ink, inner / inscriptions« in Abschnitt 15 visualisiert seine Bedeutung, indem das erste Wort »ink« am oberen Bildrand erscheint, sich in fettgedrucktem Schwarz ein Stück nach unten wälzt und dabei Schlieren zieht. Es verwandelt sich anschließend in das Wort »inner« und setzt den Weg fort, bis es schließlich zu »inscriptions« mutiert. Das, was auf dem Bildschirm stehen bleibt, ist eine schwarze, immer breiter werdende Tintenspur, die noch die drei passierten Wörter erkennen lässt: »ink, inner / inscriptions!« Die Verwandlung der Bedeutungen durch Austauschen der Silben wird zeitlich inszeniert. Während in der Druckversion die Wörter »binaries / bo / borders« nebeneinander in einer Zeile stehen, erscheinen in der Animation am oberen Bildrand zunächst nur die weißen Buchstaben »b nar es«, die plötzlich durch zwei von unten aufsteigende schwarze »I«s zu dem Wort »binaries« komplettiert werden. Die beiden »I«s fallen jedoch sofort wieder nach unten, wo sie sich in die beiden Schrägstriche verwandeln und die zugleich erscheinende Silbe »bo« umschließen. Von rechts schiebt sich nun das in weißer Schrift mit großen Lettern geschriebene Wort »orders« in die Bildmitte. Sobald dieses die Silbe »bo« erreicht hat, werden die Schrägstriche explosionsartig größer, zerbersten und verschwinden. Die Animation scheint die Wortgrenzen aus ihrem Zusammenhang zu lösen und die einzelnen Buchstaben freizusetzen. Dies geschieht auch in Abschnitt 5 wenngleich in umgekehrter Richtung. Die darin enthaltenen Wörter beginnen überwiegend mit der Silbe »de«, weshalb das animierte Gedicht an dieser Stelle auch zunächst nur diese Silbe in großen schwarzen Lettern dem Leser präsentiert. Um diese zwei Buchstaben herum gruppieren sich nun die möglichen Endungen aus unterschiedlichen Richtungen: »delft delicious delight delite dentist dewee«. In Abschnitt 27 ist der 195

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COMPUTERPOESIE

dominante Anfangsbuchstabe das »S«, das in kreisenden Bewegungen über den Bildschirm wandert und dabei mögliche Endungen aufsammelt und wieder abstößt: »she shuns simple sin«. Obwohl die Schrift auf dem Bildschirm keine physikalisch greifbare Materialität mehr zu haben scheint, lässt sich der Materialcharakter der Buchstaben visuell darstellen. In groben, schwarzen und weißen Schreibmaschinentypen fallen die Buchstaben »m« »a« »n« »y« in Abschnitt 17 von oben nach unten, wobei sie am unteren Bildrand eine Art Schutthaufen aus hinuntergefallenen Lettern bilden. Am oberen Bildrand erscheinen anschließend nacheinander programmatisch die beiden Wörter »material.« und »maternal.« – jeweils versehen mit einem Punkt, was ihnen den Status eines verkürzten Aussagesatzes verleiht. Das Material wird hervorgehoben und zum (mütterlichen) Ursprung, zur Matrix. In Abschnitt 25 fliegt dreimal nacheinander in weißer Schrift das Wort »say« auf den Bildschirm, als würde es mit dem Mund eines unsichtbaren Sprechers rhythmisch ausgesprochen werden und auf der Bildschirmoberfläche hängen bleiben. »Gender scents« wird noch hinzugefügt, ehe alle Wörter nach unten auseinander bzw. in die Länge gezogen werden, sich in lückenhafte, schlecht leserliche Schreibmaschinentypen verwandeln (als wäre das Farbband nicht mehr frisch) und erstarren. Wie ein Kommentar erscheinen am unteren rechten Bildrand die Wörter »scissors scream« in Schwarz. Tatsächlich sieht die eingefrorene, lückenhafte Typenanhäufung aus, als wären einzelne Stellen mit der Schere herausgeschnitten worden. »Script sect self«, die letzten drei Wörter des Abschnitts, schrauben sich in einer Drehbewegung um ihre eigene Achse von oben in die Bildmitte, bleiben dort schließlich stehen, jedoch in spiegelverkehrter Schrift. Sie stehen für ihre materiale Objekthaftigkeit als Verbindung einzelner Buchstaben und sind spiegelverkehrt auch nur unter erschwerten Bedingungen sinnvoll lesbar. Die Animation der Buchstaben erinnert hier an die Zeitlichkeit gesprochener Sprache. Durch die Flexibilität der Lettern in ihrer Größe, Dicke und Platzierung auf dem Bildschirm entsteht eine dynamische Abstufung zwischen laut und leise, schnell und langsam, betont und unbetont. Dazu kommen räumliche Verzerrungen und Drehungen die eine physikalische Dreidimensionalität der Buchstaben als Objekte suggerieren: »Die Zuordnung von Bedeutung ist nicht mehr an Buchstaben gebunden, und Ikonizität ist nicht mehr ein Merkmal von Bildern, sondern kann auch zum Merkmal von Schrift werden. […] Zeichen sind nicht mehr nur Träger von Bedeutung, sondern erhalten für den, der sie wahrnimmt, als solche ästhetische Funktion.«54

54. Schneider 1998, 230. 196

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ZEITERFAHRUNG POETISCHER WAHRNEHMUNG

Was Schneider hier noch über das Aufeinandertreffen von Bild und Text innerhalb statischer Arbeiten (Schrift-Bilder und visuelle Texte) sagt und als Dekonstruktion der Zeichen beschreibt, kann an dieser Stelle auf bewegte Schrift erweitert werden. Denn hier sind nicht nur Bilder zu Typographien verschmolzen und Buchstaben in graphische Gegenstände verwandelt, zeigen also nicht das Resultat, sondern vielmehr die Transformationen dorthin. Die Objekte tanzen über den Bildschirm und signalisieren, dass die Choreographie der Bewegungen in die Ästhetik der poetischen Schrift einfließt.

197

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2003-07-16 12-38-42 --- Projekt: transcript.kumedi.reither / Dokument: FAX ID 01d026719026096|(S. 198

) vakat 198.p 26719026104

Modifikationen

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) T04_00 respekt.p 26719026136

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) vakat 200.p 26719026192

CODIERUNGEN

I. Codierungen Wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, stehen Computergedichte in der literarischen Tradition der visuellen Poesie, deren zentrales Thema die Materialität der Zeichen selbst ist. Typographien werden zu bildhaften Objekten und Bilder zu Schrift, wobei nicht immer sicher ist, ob der Text in erster Linie »zu lesen« oder »zu sehen« ist. »Wie lässt sich der Unterschied zwischen Lesen und Sehen fassen, wenn der Akt des Lesens auf ein Bild gerichtet ist, das aus Schrift besteht und das folglich als Bild zerstört wird, wenn man sagt, daß man es liest?«1 Schneider verweist hier auf die grundsätzliche Spannung visueller Texte, die aus mehreren Zeichensystemen bestehen und bewusst diese Mehrfachcodierung ästhetisch verarbeiten. Computerpoesie nimmt dieses Wechselspiel zwischen Bild und Schrift auf und entwickelt es weiter, wozu ihr neue Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die mit dem physikalischen Träger Papier nicht realisierbar waren. »Der Computer hat […] zu einer Wiederbelebung der Schrift und der Typographie beigetragen«, schreibt Bernd Scheffer im Vorwort zum Katalog der Ausstellung Schrift und Bild in Bewegung2. Wiederbelebung im doppelten Sinn: Die Verwendung neuer Technologien scheint den Prozess des Schreibens und seine darin angelegten Veränderungen herauszufordern und tut dies vor allem mit der Eigenschaft der Bewegung der Buchstaben. Grundlage dafür ist das Binärsystem des Computers, das nicht nur Bilder und Schrift im selben Zeichensystem notieren kann, sondern auch die Befehle für das Programm enthält, das wiederum Schrift und Bild bewegen kann. Computerpoesie erweitert damit die Mehrfachcodierung experimenteller Texte um eine weitere »Schrift«, nämlich den Programmcode, der im Computer Bedingung für die Oberflächencodes wie Bild, Schrift oder Ton ist. Die zentrale Diskussion innerhalb der experimentellen Poesie, die sich an der Problematik zwischen Bild und Schrift entzündet, erhält eine neue Wendung. Was ist Bild im Computer und was ist Text? Auf der Grundlage des Binärcodes ist beides numerisch codiert.

1. Schneider 1998, 233. 2. Scheffer 2000, 11. 201

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COMPUTERPOESIE

In der Informatik bedeutet »Code« eine »Zuordnungsregel, welche die eindeutige Zuordnung von Zeichen aus einem Zeichenvorrat zu den Zeichen aus einem anderen […] Zeichensatz ermöglicht.«3 Der Code hat die Aufgabe, verschlüsselte Informationen in eine andere Darstellungsform bei gleichbleibender Information umzusetzen. Im besonderen Sinne bezeichnet man mit »Code« den Programmcode. Dieser wird in zwei Typen unterschieden: In einen »ablauffähigen« Programmcode, der von der Maschine (Prozessor) direkt gelesen werden kann und in Nullen und Einsen codiert ist (Maschinensprache) und einen »nichtlauffähigen« Code, der in einer höheren Programmiersprache formuliert ist (Quellcode) und erst wieder mittels eines Compilers oder Interpreten übersetzt werden muss.4 Die Maschinensprache stellt damit die niedrigste Stufe der Programmiersprachen dar, während beispielweise »C« oder »Algol« komplexe Programmiersprachen sind, deren Quellcode in Form einer Textdatei vorliegt. Es handelt sich um künstliche Sprachen, die der Kommunikation mit dem Computer dienen, die jedoch im Grunde auf die Ebene der einfachen Maschinensprachen übersetzt werden müssen, da der Computer nur auf dieser elementaren Basis (0 und 1) Schaltungszustände erkennen und ausführen kann. Hagen fasst das Problem der Schrift im Computer zusammen: »Die linear-diskrete Folge der Buchstabenschrift, die mit dem phönizischen Konsonantenalphabet beginnend, über Gutenbergs Lettern und der Walze unter den Holzlettern der Mitterhoferschen Schreibmaschine bis hin zum IBM-Kugelkopf ihre Diskursspur fortzeichnet […], ist im Computer sistiert und aufgehoben. Der universelle Rechner, der Buchstaben wie jedes andere alphanumerische Zeichen behandelt, kennt keine Schrift: er simuliert sie um so besser.«5 Obwohl der Computer Schrift nur zu simulieren vermag, tut er dies auf der Grundlage von »Schrift« – zumindest von »schriftlichen« Zeichen. Streng genommen wird alles im und durch den Computer erzeugte zur »Schrift«, mit dem Unterschied, dass es sich um zwei »Schriften« handelt, der alphabetisch notierten Oberflächenschrift und dem Pro-

3. Computer-Lexikon 1998, 164r. Im Sinne der Kryptographie bedeutet Code nach der Definition von Singh ein »Verfahren zur Verschleierung des Inhalts einer Meinung, bei dem die Wörter oder Sätze des Klartexts durch andere Wörter oder Buchstabenfolgen ersetzt werden« Singh 2002, 455. Kittler greift diese Bedeutung auf, indem er auf den Charakter der Geheimsprache des Computercodes hinweist, der nur von Computeralphabeten verstanden wird und damit Machtverhältnisse hervorruft. Vgl. Kittler 1994a, 209-220. 4. Computer-Lexikon 1998, 510r.-511l. 5. Hagen 1989, 227. 202

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CODIERUNGEN

grammcode auf der Funktionsebene des Computers. Auf technischer Ebene gibt es stets nur Zahlenketten, ob der Computer ein Bild darstellt oder ein typographisches Zeichen. Daher ergibt sich für die Computerpoesie die Frage, was mit der Differenz zwischen Bildern und Schrift geschieht, wenn Bilder (wie auch Schrift) im Computer »schriftlich« notiert sind und Schrift (wie auch Bilder) in hunderten von kleinen Bildquadraten (Pixel) visualisiert werden. Wie verhalten sich beide Zeichenformen zum zugrundeliegenden Code? Seit Jakobson ist der Begriff des Codes fester Bestandteil der linguistischen Terminologie. Der Begriff des Sprachsystems wird durch den des Sprachcodes ersetzt. Sprache wird als Gesamtcode bezeichnet, der aus Subcodes besteht, die wiederum offen und inhomogen sind. Dennoch setzt jeder Code »als Zuordnungsvorschrift […] bei Sender und Empfänger die Kenntnis der durch Konvention vereinbarten Regeln voraus«6, mit einer Ausnahme, nämlich dann, wenn es um ästhetisch codierte Mitteilungen geht. Ästhetische Kommunikation widersetzt sich den auf konventioneller Vereinbarung beruhenden Bedeutungen der Sprachzeichen und erzeugt neue Codes, die sich wiederum erst im Laufe des Rezeptionsvorgangs erschließen. Da dem ästhetischen Code (nach der Definition von Lotman) Pluralität eigen ist, müssen die vom Rezipienten dekodierten Mitteilungen auch nicht mit denen des Autors übereinstimmen.7 In der Semiotik erfährt der Begriff des Codes eine Erweiterung, da er als Grundlage für das Verstehen und Interpretieren aller semiotischen Prozesse vorausgesetzt wird. Da es im Folgenden um die Kombination und Verschmelzung unterschiedlicher Zeichen geht – Typographie, (bewegtes) Bild, Ton – und die dadurch hervorgerufenen Folgen für den poetischen Text, ist der Begriff des Codes bzw. der Codierung auch in diesem erweiterten Sinne zu verstehen. Denn die Erweiterung umfasst hier auch die engere Bedeutung von Code, nämlich die eines Programmcodes.

1. Visuelle Poesie: WORTschrift oder SchriftBILD? Der französische Autor Michel Butor fordert Ende der 1970er Jahre, dass sich die Kultur den Beziehungen zum Bild annehme, »indem sie alle Kombinationen zwischen jenen ganz besonderen Bildern, nämlich den Buchstaben unseres Alphabets und den anderen, den unveränderlichen der Malerei oder der beweglichen anderen Künste«8, ausprobiere. Seit dem 20. Jahrhundert und der Entwicklung der (Bild-)Medien

6. Jakobson 1971b. Vgl. auch Metzler Literatur Lexikon 1990, 242l. 7. Vgl. Lotman 1993, 43-46. 8. Butor 1989, 10. 203

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COMPUTERPOESIE

schreiben sich unaufhaltsam Bilder in alphabetische Texte und Schrift in Bilder ein. Die Öffnung und Durchdringung der einzelnen Künste in Form und Thematik greift bis auf ihre innersten Bestandteile, das Material, über. Zeichensysteme vermischen sich, unterstützen oder widersprechen sich gegenseitig in ihrer Sinnhaftigkeit, wenn sie nicht ohnehin jegliche semantisch-sinnhafte Decodierung zurückweisen und lediglich für sich selbst stehen. Es entstehen Texte zum Ansehen und Bilder zum Lesen, visuelle Dichtung und Schrift-Bilder – und es ist unentschieden, welche Wahrnehmungsweise welchem Objekt angemessen ist.9 Wie Ulrich Ernst in einer umfangreichen Studie nachgewiesen hat, reicht der »Formenkanon der optischen Dichtung mit seinen Wurzeln bis in die antiken Hochkulturen«10 zurück. Im mittelalterlichen »Carmen figuratum« waren Bild und Text dabei oftmals gitterartig verschränkt, wobei vor allem das »rechte ›Dechiffrieren‹ der Texturen verbürgender Bestandteil der frühen optischen Poesie«11 wurde. Es handelte sich dabei vorwiegend um spatiale Objekte, die Buchstabentext in Form von Bildern anordneten bzw. aus Buchstaben Gegenstände formten. Als dominierende Typen entstanden Radgedichte (Gedichte in Radform), Gittergedichte, zahlensymbolische Kreuzgedichte, mystische Diagramme, Baumgedichte, Schemabilder und Varianten des Akrostichons. Optische Spielformen standen durch ihren besonderen Umgang mit der graphischen Seite der Buchstaben sowie ihrer Affinität zu zufallsproduzierten Ergebnissen in engem Zusammenhang mit kombinatorischen und permutativen Texten, die heute besonders in der generativen Computerpoesie wieder eine Rolle spielen. In der Renaissance erfuhr die optische Poesie einen neuen Aufschwung durch die Wiederentdeckung der antiken Vorgänger. Das Figurengedicht »avancierte […] zu einem in ganz Europa verbreiteten […] Genos, das dem herrschenden horazischen Ideal des ut pictura poesis optimal«12 entsprach. Der Bildcharakter der Textensembles wurde dabei stärker hervorgehoben und umfasste nun zahlreiche neue Motive wie z.B. Naturdinge, Gegenstände, religiöse Insignien oder Architekturdetails. Erst als Lessing Mitte des 18. Jahrhunderts eine strikte Teilung von Literatur und Malerei vollzog (Laokoon), geriet auch die Gattung der optischen Poesie in eine Krise. Zwar überlebte das Figurengedicht weiterhin als Spielart der Poesie, wenngleich sein Stellenwert gegenüber den übrigen poetischen Formen des 18. und 19. Jahrhunderts geringer war.

9. Siehe zum Verhältnis Bild und Text im Gedicht auch Block 1999, 180-230 und Weiss 1984. 10. Ernst 1992, 138. Vgl. auch 1991. 11. Ernst 1992, 141. 12. Ernst 1992, 142. 204

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CODIERUNGEN

»Zur Innovation der konventionell gewordenen Formensprache bedurfte es der Autorität und Durchschlagskraft eines Stéphane Mallarmé, der in seinem Gedicht Un Coup de Dés (1897) erstmals konsequent einen Bewegungs- und Gedankenprozeß des Textes durch moderne Methoden der Typographie transparent machte […].« 13 Die Bedeutung, die Mallarmé dem Raum in Bezug auf die Sinnhaftigkeit des gesamten Textes verlieh, markierte den Anfangspunkt einer Entwicklung, deren neue ästhetische Zielsetzung sich in einer Überschneidung und Durchmischung der Künste ausdrückte. Das Gedicht öffnete sich gegenüber einer konzeptionellen Einbeziehung anderer Kunstformen. Zum ersten Mal dominierte der Text nicht – wie im Figurengedicht – die Figur, die er visuell formte, sondern erhielt nun mit räumlichen, farbigen, ikonischen und bisweilen sogar akustischen Bedeutungsparametern Konkurrenz, indem alphabetische Schrift allmählich zu einem unter mehreren Zeichensystemen wurde. Kennzeichnend für die visuelle Dichtung wird von nun an die Arbeit an einem neuen Sprachbewusstsein: das Experimentieren mit typographischen Formen und dem Material der alphabetischen Buchstaben sowie die Kombination unterschiedlicher Zeichencodes in der literarischen Arbeit. In den 1910er Jahren, begannen die Kubisten Picasso und Braque, Schriftelemente in die Malerei zu integrieren, wobei sie ihr Vorgehen als ein »›Zitieren‹ von Realitätsfragmenten«14 verstanden. Durch eine zunehmende Vermischung der Ausdrucksformen in der Erscheinungsweise der Realität liegt es nahe, diese unterschiedlichen Zeichensysteme auch in die Kunst zu integrieren. Sprache wurde hier nicht mehr entzifferbar, wohl aber »sichtbar« gemacht. Sie war einerseits ins Bild gesetzt und doch nicht zugehörig: »Die in den kubistischen Bildern begegnende Schrift ist dabei bemerkenswerterweise gleichsam sprachlich außer Funktion gesetzt. Das heißt: sie sollte, in der Mehrzahl der Fälle, der Funktion optisch wahrnehmbar gemachter Sprache entzogen und als formaler Bestandteil des Bildganzen verstanden werden.«15 Kunst und Literatur begannen, mit dieser autonomen Qualität des Alphabets zu experimentieren. Die optische Organisation von Sprache und neue Darstellungsweisen der Literatur forderten gleichzeitig die Wahrnehmung der Rezipienten heraus, da traditionelle Lesegewohnheiten einem doppelcodierten Gedicht aus Schrift und Bild nicht länger gerecht wurden. »Daß Schrift nicht nur ein Medium ist, um Bedeutung

13. Ernst 1992, 146. 14. Döhl 1992, 160. 15. Döhl 1992, 160. Vgl. auch das nur noch visuell nachempfundene »Schriftbild« in den Zeichnungen von Henri Michaux. 205

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COMPUTERPOESIE

zu generieren, sondern ein Material, das sich künstlerisch gestalten läßt, gehört zu den wichtigen Merkmalen der Avantgardebewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts.«16 Die italienischen Futuristen lösten unter der programmatischen Führung von Marinetti das alphabetische Buchstabenmaterial aus der Linearität und entließen es auf die Fläche. Die räumliche Konstellation wurde entscheidend für Sinn und Zusammenhang der Wörter. Die Freisetzung der Buchstaben auf der Papierfläche und im akustischen Raum zielte auf eine Wiederentdeckung der gesprochenen Worte, der Sprache, aber auch der Geräusche und Klänge der Umwelt für die Dichtung. Die so entstandenen Buchstabenbilder erhielten zusätzlich eine Dynamik, die durch verschieden große Lettern, kombinierte Hand- und Druckschrift, angeschnittene Buchstaben, Überlagerungen oder Farbeffekte erzeugt wurde, die sich auch als »Partituren von imaginierten oder auch realisierbaren Lautgedichten lesen«17 ließen. Dem liegt die Auffassung der Dadaisten und Futuristen zugrunde, dass Laute nur optisch wirksam gemacht werden können, d.h. durch visuelle Gestaltung unterstützt werden müssen. Auf diese Weise entstanden neue Formen der Dichtung, die sich »optophonetische Poesie« oder »lettristisch-phonetische Poesie« nannten. Zwar war die Schrift schon immer auch ein Notationssystem für phonetische Sprachlaute, durch die visuelle und phonetische Dichtung jedoch wird nicht nur das gesprochene Wort wiedergegeben, sondern auch das akustische Phänomen seines Klangs visuell nachempfunden. Die Faszination über ein Oszillieren zwischen Bild und Text fand auch in den Arbeiten einiger Maler der 1920er Jahre in den so genannten »tableau-poèmes« ihren Niederschlag. Mon bemerkt hierzu: »Der handgeschriebene Text rankt und schiebt sich in und durch die bildlichen Konfigurationen. Mit malerischen oder graphischen Mitteln wird er, manchmal an der Grenze der Lesbarkeit […], dem ihm von Hause aus fremden Medium eingeschmolzen.«18 Der französische Dichter Apollinaire hat mit seinen Calligrammes eine Text-Bild-Kombination eingeführt, wobei er »mit verschiedenen Drucktypen operierte und das Figurengedicht aus dem Korsett des traditionellen horizontalen Vers- und Zeilenspiegels befreite«19. Auf jene Calligrammes bezogen sich später auch die Dichter konkreter Poesie, deren Interesse vor allem in der typographischen

16. Schneider 1998, 225. 17. Mon 1997, 10. In Hugo Balls Karawane sehen die Autoren Adler und Ernst in der Abwechslung zwischen Normal- und Kursivschrift eine Wellenbewegung, die das Geschriebene dynamisiert. Adler und Ernst 1988, 265. Vgl. auch Scholz 1997, 118. Vgl. hierzu auch Kap. Schriftwechsel/I, 2. 18. Mon 1997, 11. 19. Ernst 1992, 146. 206

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CODIERUNGEN

Materialität lag, insbesondere der »Unhintergehbarkeit des für sich erscheinenden Alphabetzeichens«20. »Konkret« bezeichnet in dieser Verwendung eine Form der Poesie, die – ähnlich wie die konkrete Kunst – ihr Material (Sprache/Schrift) reflektiert. Konkrete Poesie hat ihren Ausgangspunkt in der verbalen, vokalen und visuellen Materialität des Wortes. Den Autoren geht es nicht um die Abbildung einer außersprachlichen Wirklichkeit, sondern um die »Präsentation von Sprache und Sprachelementen, deren Repräsentationscharakter deshalb methodisch abgebaut werden muß in einem positiv verstandenen Verdinglichungs- und Materialisierungs-Prozeß«21. Entscheidend für die Entwicklung der konkreten Poesie war die Verbreitung und massenhafte Nutzung der Schreibmaschine, denn diese erlaubte es, Schrifttypen in drucktechnischem Erscheinen an genau definierte Orte auf das Papier zu setzen. Durch die Schreibmaschine, deren Buchstaben schon vor dem Schreiben eines Textes materialiter vorhanden waren, war der Autor nun in der Lage, das Prinzip der Druckpresse nachzuempfinden und diesen Vorgang ästhetisch zu reflektieren. Denn die Druckpresse mit beweglichen Lettern war die erste technische Erfindung, die aus Buchstaben »Dinge« machte, die bereits »vor« ihrer schriftlichen Niederlegung existierten, wie Ong anmerkt: »But the crucial development in the global history of printing was the invention of alphabetic letterpress print in fifteenth-century Europe. Alphabetic writing had broken the word up into spatial equivalents of phonemic units (in principle, though the letters never quite worked out as totally phonemic indicators). But the letter used in writing do not exist before the text in which they occur. With the alphabetic letterpress print it is otherwise. Words are made out of units (types) which pre-exist as units before the words which they will constitute. Print suggests that words are things far more than writing ever did.«22 Die Anordnung der zum Gegenstand (Material) gewordenen Typen auf dem Papier wird entscheidend und geht als ein Parameter in die Bedeutung des Textes ein. Da die konkreten Dichter auf narrative syntaktische Verknüpfungen verzichten, gilt ihr Augenmerk der Präsentation von Wort-Dingen, einzelnen Wörtern oder Buchstaben sowie einer Inszenierung der Textfläche. Der konkrete Text konstituiert sich aus dem Wechselspiel von Sprach- und Raumelementen, aus der graphischen Qualität der Buchstaben und ihrem Ort auf dem Papier.23 Wie Mon er-

20. Mon 1997, 13. 21. Kopfermann 1974, X. 22. Ong 1982, 118. 23. Dencker weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass für bestimmte Gedichtformen der konkreten Poesie die Bezeichnung »visuelles Gedicht« verwendet 207

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klärt, handelt es sich »um eine wörtlich verstandene Syntax, bei der die semantischen Valenzen der Orte auf der Fläche genutzt werden«24. Obwohl dem Autor mit der Schreibmaschine eine Apparatur zur Verfügung steht, die ein konventionelles Druckbild herstellen könnte, reizt die konkreten Dichter vor allem die Herstellung von Extremen, d.h. übergroße oder winzig kleine Buchstaben, Überlagerungen, unscharfe und kaum lesbare Typen oder Fettdruck als Blickfang.25 Damit werden die typographischen Möglichkeiten der Schreibmaschine zu grundlegenden Momenten des poetischen Texts. »In der Zwischenzone zwischen verbaler Sprache und den visuellen Idiomen bewegen sich Schriftsysteme.«26 Mon geht in seiner Analyse des besonderen »Schriftbildes« der visuellen Dichtung von zwei verschiedenen, jedoch ineinanderwirkenden sprachlichen Stämmen aus, dem verbalen und dem eidetischen. Dabei erkennt er der verbalen Sprache besondere Ausdrucksmöglichkeiten zu, mittels derer sie ihre Erfahrungs- und Sinnbereiche über die Konventionen hinweg ausdehnen kann. Dasselbe gilt auch für die eidetische Seite der Sprache. »Sie verfügt über eine Vielzahl von Idiomen, die nicht in gleichem Maße wie die der verbalen Sprache konventionalisierbar sind, sondern die ihre offenen Codes von Generation zu Generation weiterbewegen oder gar neu einzurichten haben – mit dem Vorteil, auf unerwartete Zumutungen plastischer, beweglicher antworten zu können.« 27 Unsere Alphabetschrift besteht nicht nur aus 26 Buchstaben, sondern ist streng genommen ein alphanumerisches System, das ebenso auch

worden war. Seiner Auffassung nach weist diese Bezeichnung jedoch lediglich auf die »visuelle Materialität/Erscheinungsform« der konkreten Poesie hin. Er möchte deshalb diese Form streng von der sich dazu parallel entwickelnden visuellen Poesie unterschieden wissen. Denn diese Gedichte sind »wesentlich komplexere Gebilde und daran zu erkennen, daß neben der grafischen Qualität des Buchstabenmaterials bildnerische Elemente (Farbe, Formen, Zeichnungen, Collagen, usw.) als Kontrast, Spiegelung oder Verzerrung der Semantik von verwendeten Wörtern dienen.« In den als visuelle Gedichte bezeichneten Varianten der konkreten Poesie dagegen erscheint das Endprodukt nicht als Bild, sondern als Konstellation. Dencker 1997, 175. Auf die Unterscheidung der beiden Typen visueller Poesie wird hier jedoch verzichtet. 24. Mon 1997, 14. 25. Flusser sieht darin genau jene Aneignungspraxis der Schreibmaschine, die diese Textform der konkreten bzw. visuellen Dichtung hervorgebracht hat, nämlich die Überwindung der Regeln des Apparats. Flusser 1991a, 42. Vgl. auch Kap. Modifikationen/I, 2. (Flusser). 26. Mon 1997, 15. 27. Mon 1997, 15. 208

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CODIERUNGEN

Zahlen und mathematisch-naturwissenschaftliche Symbole sowie einige standardisierte Ideogramme (z.B. Verkehrszeichen) enthält. Wie Mon nun feststellt, ist in der konkreten Poesie »ein Ideogrammtyp erschienen, der zwar eine deutliche Beziehung zwischen Zeichen und zugeordnetem Begriff oder – weiter gefasst – mentalem Inhalt als Voraussetzung der Schriftqualität aufweist, auf der nichtcodierbaren, konnotativen Seite jedoch einen Überschuß an nichtregulierbaren Deutungsfäden aufweist.«28 Dabei gilt es nun nicht, diese ohnehin nicht auf einer konventionellen Übereinkunft beruhenden Ideogramme rückzuübersetzen, sondern das »Potential des konnotativen Überschusses« individuell für sich zu »aktualisieren«29. Diese Form der Ideogramme visueller Poesie sind singuläre Erscheinungen, so dass sie für jeden Leser neu entschlüsselt werden müssen. Seit Entstehung der Computerdichtung tritt neben den Codierungen der visuellen und akustischen Poesie noch ein weiteres elementares Zeichensystem dazu, die formal-logische Programmiersprache. Eine der zentralen Fragen an die visuelle (Druck-)Poesie richtete sich direkt an ihre Beschaffenheit, nämlich ob es sich dabei um Schrift oder bildhafte Darstellung handelt. Die elektronische Computerpoesie steht dieser Frage anders gegenüber als noch ihre gedruckte Variante. Denn durch die Binärcodierung der Objekte im Computer erscheinen zwar immer noch Bild oder Text auf dem Bildschirm, jedoch haben beide denselben technischen Ursprung (Programmcode), der den Computer anweist, alphabetische Buchstaben oder Bilder zu »schreiben«. Beides erscheint jedoch als technisch wesensgleich (gepixelt). Um dieses Phänomen in seiner Bedeutung für die Computerpoesie beurteilen zu können, ist es notwendig, an dieser Stelle noch einmal auf theoretische Reflexionen der Medienwissenschaft einzugehen, die sich in besonderer Weise mit der Binärcodierung als Funktionsweise des Computers auseinandersetzen.

2. Maschinenschrift Flusser Die Schrift hat, so Flusser, als lineares Modell aus zweierlei Gründen ausgedient: Erstens wird mit der Überholung des »historischen Bewusstseins« ein Speichersystem, das Ereignisse linear aneinander

28. Mon 1997, 15. 29. Mon 1997, 15. 209

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reiht, nicht mehr benötigt und zweitens ist die Darstellung komplexer Vorgänge unzureichend, da sie abstrakt bleibt und uns nicht mehr als Technik der Vermittlung dienen kann. Mit den neuen technischen Apparaten entsteht jedoch das Problem, dass wir nicht mehr alphabetisch, sondern binär schreiben. Anders formuliert: Die 4.000 Jahre alte Alphabetkultur hat uns so grundsätzlich in unserem (historischen) Denken geprägt, dass wir umdenken müssen, um uns dem neuen Code anzupassen – um uns »um[zu]codieren«30. Flusser sieht uns wieder »illiterat« werden, da die neuen Schriftstücke »für die meisten von uns in jenes Geheimnis gebadet [sind], welches alphabetische Schriften vor der Erfindung des Buchdrucks umhüllte«31. Binär codierte Erkenntnismodelle, von einfachen statistischen Kurven bis zu komplexen Darstellungen ganzer Theorien, sind »eindrücklicher« und »ausdrücklicher« als alle wissenschaftlichen, alphanumerisch codierten Texte. Wenn Flusser im Schreiben die Geste des »historischen Bewusstseins« erblickt, so verbindet er mit der Geste des Programmierens ein »weit eher mit dem mathematischen als mit dem literarischen vergleichbaren Bewusstsein […]«32. Bislang war das mathematische Denken organisch in den alphanumerischen Code getaucht, aus dem es sich nun jedoch löst und zugleich von der gesprochenen Sprache abtrennt. Er sieht aus der Macht des Binärcodes den Zwang erwachsen, das Alphabet auszulöschen, um der neuen Denkart Platz zu schaffen: »Wir werden die neuen Codes im Gedächtnis nicht über dem Alphabet lagern können, weil diese Codes das Alphabet nicht dulden können.«33 Im Schreiben manifestiert sich eine Geste, die durch die technische Entwicklung abgelöst wird. Im Alphabet erkennt Flusser einen in seiner Struktur begrenzten Code und im Schreiben eine durch die Inflation der geschriebenen Texte entwertete Geste. Er fordert für die Probleme der Zukunft, in »multidimensionalen« Codes wie z.B. dem Video zu denken.34 An Gesten ist die »Art und Weise zu ›entziffern‹, wie wir in der Welt existieren«35, wobei neue Werkzeuge, die wiederum neue Gesten hervorrufen, deshalb eine große Faszination ausüben, da ihr Spielraum, ihre Möglichkeiten des Ausdrucks noch nicht ausgelotet sind36: »Wir erkennen noch nicht alle Virtualitäten, die den künstli-

30. Flusser 1987a, 146. 31. Flusser 1987a, 58. 32. Flusser 1987a, 64. 33. Flusser 1987a, 146. 34. Vgl. Flusser 1991a, 48-49. 35. Flusser 1991a, 245. 36. Flusser sagt über den Begriff des Werkzeugs: »Ein ›Werkzeug‹ ist ein Objekt, das hergestellt wird, um einer bestimmten Absicht zu dienen. Es ist ›zu etwas gut‹. [Das Werkzeug] wird durch [die Absicht] in Form gebracht.« Flusser 1991a, 245. 210

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chen Satelliten, den ›Laser‹-Strahlen und den Computern innewohnen.«37 Jedem Werkzeug ist jedoch die Absicht dessen mitgegeben, der es hergestellt hat. Aber nicht jede Handhabung des Werkzeugs ist auch die unsrige. Vielmehr liegt der souveräne Akt des Gebrauchs, d.h. die Befreiung des Handelnden von den Absichten des Herstellers darin, sie von ihrer Richtung abzubringen. Am Beispiel der Schreibmaschine erklärt Flusser, dass sie nicht, entgegen der herkömmlichen Meinung, die Freiheit des Schreibenden einschränkte, sondern, im Gegenteil, sie sogar fördere. Durch die Sichtbarmachung der Regeln erlaubt sie, jene zu überschreiten: »Die konkrete Poesie, dieses Bestreben, die Schrift zweidimensional zu machen, ist eigentlich nur mit der Maschine möglich. Die Freiheit liegt nicht in der […] Missachtung der Regeln, sondern in deren (mit einer Maschine möglichen) Veränderung.«38 »Technische Bilder«, die nun den Platz der alphabetischen Schrift einnehmen werden, sind anders geartet, als traditionelle Bilder. Während Letztere, die »vorgeschichtlichen« Bilder, zweidimensionale flächige Strukturen haben, sind Erstere aus Punktelementen zusammengesetzte Mosaiken, d.h. in Flussers Terminologie »nulldimensional« und »nachgeschichtlich«: »Die technischen Bilder sind Ausdruck des Versuchs, die Punktelemente um uns herum und in unserem Bewußtsein auf Oberflächen zu raffen […]«39. Da sie aber für bloße Hände nicht fassbar noch für unsere Augen sichtbar sind, müssen diesen Vorgang Apparate ausführen, die wiederum mit Tasten versehen sind, um von uns kontrolliert werden zu können. Diejenigen, die wissen, die Tasten zu kontrollieren, die Erzeuger der technischen Bilder, nennt Flusser »Einbildner«. Sie versuchen »automatische Apparate gegen die Automation umzudrehen […]. Sie können ohne automatische Apparate nicht einbilden, denn das einzubildende ›Material‹, die Punktelemente, sind ohne Apparat-Tasten weder sichtbar noch fassbar, noch begreifbar.«40 Um zu verstehen, was Flusser mit dem Ausdruck »gegen die Automation umdrehen« meint, ist es notwendig, seinen Begriff von Information, dessen Bedeutung aus der Physik entliehen ist, näher zu erläutern. Im Informieren erblickt Flusser eine gegen den Gegenstand gerichtete Geste. Das gegen die Objekte vorgehende Subjekt »gräbt Löcher des ›Geistes‹ in die zu sehr von sich selbst gefüllten Dinge, damit diese Dinge das Subjekt nicht bedingen mögen.«41 Information heißt »Form in etwas bringen«, d.h. die zum Chaos neigende Welt zu ordnen

37. 38. 39. 40. 41.

Flusser 1991a, 246. Flusser 1991a, 42. Flusser 1999a, 21. Flusser 1999a, 25. Flusser 1987a, 15. 211

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und ist damit das Pendant zur »Entropie«. Der physikalische Begriff der Entropie stammt aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Dort dient er als Maß für die Wahrscheinlichkeit einer Verteilung von Partikeln, die den thermodynamischen Zustand eines Gases repräsentiert. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der so genannte Energieerhaltungssatz, hält fest, dass eine einmal in mechanische Leistung umgewandelte Wärmemenge nicht wieder in demselben Umfang verfügbar ist. Die Energie geht zwar nicht verloren, ist jedoch nicht in derselben Menge an derselben Stelle wieder rückführbar, sondern zerstreut sich im Universum.42 Die Welt in der wir leben, wird als ein Prozess aufgefasst, der auf ein Maximum an Entropie tendiert, was einem Maximum an gleichmäßiger Verteilung entspricht. Diese gleichmäßige Verteilung beschreibt den Zustand der Welt als einen wahrscheinlichen, nämlich als Zustand der Unordnung, des Chaos. Indem Information jedoch »Form gibt«, tendiert sie zu einem unwahrscheinlichen, ordnenden Zustand. So erklärt Flusser: »›Wahrscheinlich‹ und ›unwahrscheinlich‹ sind informatische Begriffe, wobei ›Information‹ als eine unwahrscheinliche Situation definiert werden kann: je unwahrscheinlicher desto informativer.«43 Am Ende der zunehmenden Verstreuung ehemals verfügbarer Energie steht der Wärmetod, eine an Notwendigkeit grenzende wahrscheinliche Streuung, deren Eintreten vorhergesagt werden kann. Technische Apparate dienen dazu, unwahrscheinliche, informative Situationen zu erzeugen. Sie enthalten Programme, die dem Programm des Punktuniversums entgegengesetzt sind: »Denn die Apparate sind menschliche Produkte, und der Mensch ist ein Wesen, das gegen die sture Tendenz des Universums zur Desinformation engagiert ist. […] Seine Antwort auf den ›Wärmetod‹ und den Tod schlechthin ist: ›informieren‹.«44 Flusser macht dies an der Geste des Fotografen deutlich. Gegenüber einer vollautomatisierten Kamera (z.B. eines Satelliten) scheint ein Fotograf, der seine Kamera per Hand bedient, nur die Bilder zu machen, die er beabsichtigt. Jedoch kann der Fotograf nur die Handlungen ausführen, die der Apparat auch zulässt. Daraus schließt er: »Alle vom Fotografen erzeugten Bilder müssen daher im Programm des Apparats stehen und sind, entsprechend der vorangegangenen Überlegung, ›voraussehbare‹, uninformative Bilder.«45 Und trotzdem sieht er einen Spielraum für die in menschlicher Absicht gehandhabte Kamera, der ihn von der vollautomatisierten Satellitenka-

42. Vgl. auch die Erklärungen zum Begriff der Entropie im Zusammenhang mit Benses Informationsästhetik in Kap. Schriftwechsel/II, 2. 43. Flusser 1999a, 22. 44. Flusser 1999a, 23. 45. Flusser 1999a, 25. 212

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mera unterscheidet: Der Fotograf hat die Möglichkeit, gegen den Apparat zu handeln, »gegen die Automatizität des Apparats von innen her, aus der Apparatfunktion selbst [zu] kämpf[en]«46. Hier, wie auch im weiter oben beschriebenen Beispiel der Schreibmaschine, liegt die Befreiung von den Apparaten, indem der Anwender die den Apparaten inhärenten Absichten überwindet. Der alphanumerische Code besteht aus Buchstaben (Zeichen für Laute), aus Ziffern (Zeichen für Mengen) und aus Zeichen für die Regeln des Codes, wozu z.B. Punkte und Klammern gehören. Die Struktur der Schrift ist so organisiert, dass sie Zeichen linear hinter Zeichen setzt. Für Flusser ist dies ein Argument, warum die Zahl im alphabetischen Code das Nachsehen hat, da mathematische Gleichungen nicht in einer Zeile, sondern eher als »Zahleninsel« unter- und übereinander darzustellen sind. Unsere vom alphanumerischen Code getragene Denkart ist aber durch Buchstaben, die wiederum Zeichen für gesprochene Laute sind, geprägt: »Die Tatsache, daß sich bei alphabetischen Texten eine Sprache zwischen den Schreibenden und das Geschriebene schiebt, ist für das Verständnis alphabetischer Gesellschaften von großer Bedeutung.«47 Seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts jedoch scheint die Zahl dem Erfassen naturwissenschaftlicher Erkenntnis dienlicher zu sein als der Buchstabe. Das Wissen über die Natur wird zunehmend unbeschreiblich, dafür aber zählbar. Die Zahl beginnt sich vom alphanumerischen Code abzulösen. »Denn die Zahlenreihe ist ›klar‹, das heißt, jede Zahl ist eindeutig, und sie ist ›deutlich‹, da jede Zahl von ihrer Vorgängerin und ihrer Nachfolgerin durch ein Intervall unterschieden ist.«48 Allerdings wurde der Umgang mit dem Zahlencode immer komplexer, so dass er zum Expertencode avancierte und damit zum Geheimcode. Flusser zieht hier eine Parallele zum Geheimcode »Alphabet«, der ursprünglich nur von einigen Gelehrten und vor allem von Priestern beherrscht wurde, die mit Hilfe des alphabetischen Codes Gebote aufstellten, nach denen sich die »analphabetische Masse zu verhalten hatte.«49 Im 19. Jahrhundert und der Auswanderung der Zahl aus dem alphanumerischen Code entstand ein neuer Geheimcode mit nicht minder wirksamen Machtanteilen wie die der gelehrten Priester, verschlüsselte er doch die »Verhaltensmodelle, nach denen sich die Gesellschaft richten muß, also vor allem die Gebrauchsanweisungen von Maschinen und Apparaten […]«50. Der binäre Code schließlich wird zum Instrument der Allmacht, da man mit seiner Hilfe

46. 47. 48. 49. 50.

Flusser 1999a, 25. Flusser 1996, 9. Flusser 1996, 10. Flusser 1996, 11. Flusser 1996, 11. 213

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sowohl Kalkulieren (in Zahlen zerlegen) als auch Komputieren (die zerlegten Zahlen wieder zusammensetzen) kann. Das Alphabet ist für lebenswichtige Probleme nicht mehr kompetent, was gleichzeitig aber auch bedeutet, dass die »alphabetisierte Gesellschaft in einer Welt [lebt], die sie alphabetisch nicht mehr begreifen kann. Die unbegreiflich gewordene Welt ist deshalb auch unvorstellbar geworden«51. In einem Teilkapitel mit der Überschrift Vorschriften versucht Flusser, sich dem Problem der neuen Schrift zu nähern: »Liegen zeitgenössische Reaktionäre richtig, wenn sie behaupten, daß sich im Grunde nie etwas ändert, daß das ›Wesentliche‹ immer gleich bleibt? An wen aber schreiben diese Leute? Sie schreiben doch nicht über einen Schlusspunkt hinweg an einen anderen Menschen, sie schreiben vielmehr an und für Apparate. Haben die vorangegangenen Überlegungen nicht gezeigt, dass das Schreiben an andere Menschen das ›Wesentliche‹ des Schreibens ausmacht? Also hat sich bei diesen Leuten das ›Wesentliche‹ des Schreibens verändert: Es ist ein anderes Schreiben und müsste demzufolge einen neuen Namen bekommen: ›Programmieren‹.«52 Die »Schrift« des neuen Computercodes ist zwar strukturell einfach, jedoch funktionell komplex, weshalb diejenigen, die es nicht gelernt haben, damit umzugehen, wieder in einen Zustand der Illiteralität verfallen. Zwar räumt Flusser ein, dass man schon immer seit der Erfindung von Schrift und noch vor den Apparaten programmiert habe, indem man Menschen Verhaltensmodelle vor-geschrieben hat. »Programme sind also nicht nur eine völlig neue Schreibart, sie sind außerdem eine Vollendung einer Tendenz, die bereits in den ersten Schriften angelegt war.«53 Und dennoch besteht ein fundamentaler Unterschied in der Beziehung des Menschen zu seinen Schrifttechniken. Beim »Umcodieren« von alphanumerischer in digitale Codes würde noch etwas anderes Wesentliches verloren gehen, nämlich die »gesprochene Sprache als Vermittlerin zwischen Denken und Schreiben […]«54. So befürchtet Flusser, dass sich das Denken beim Programmieren vorher alphabetischer Texte von der Sprache ablösen würde. Das einst in der Schule gelernte Schreiben stand für unser historisches, weil linear vermitteltes Bewusstsein unserer Welt. Die Geste des Programmierens hingegen, basiert auf der Grundlage eines andersartigen, eher mathematischen Denkens, das Flusser stets nur in Annäherung beschreiben kann und

51. 52. 53. 54.

Flusser 1996, 13-14. Flusser 1987a, 57. Flusser 1987a, 59. Flusser 1987a, 63. 214

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zumindest als Differenz zum »traditionellen« Denken als »ahistorisch« beschreibt55: »Das mathematische Denken aber war bisher organisch in den alphanumerischen Code getaucht, es wurde vom Fluß des historischen Denkens mitgerissen. Jetzt taucht das Programmieren aus dem alphanumerischen Code empor, löst sich davon ab und trennt sich von der gesprochenen Sprache. Das berechtigt zu einigem Pessimismus.«56 Kann Flusser zwar noch mögliche Gründe nennen, warum die lineare alphabetische Schrift von simultanen technischen Bilder abgelöst wird, so kann er über die dem Wechsel der Medien zugrundeliegende Veränderung des Bewusstseins, der Denkart, keine Aussage treffen, denn das hieße, »es ins alte Denken hineinzwingen [zu] wollen«. Es würde bedeuten, zu zeigen, »wie das Kommende notwendigerweise (kausal) aus dem Alten hervorkommt«57. Im Bild des Einbildners entwirft er ein Modell, wie der Mensch auf die neuen technischen Veränderungen reagieren kann, anstatt sich von ihrer Macht versklaven zu lassen. In diesem Punkt unterscheidet er sich von McLuhans »metaphysische[m] Eidos des Mediums«58, dessen Funktion in der Aussage aufgeht, die Botschaft zu sein. Flussers Vision ist, die Apparate nicht den Programmen zu überlassen, sondern die menschliche Entscheidung über den Apparat zu bewahren.59 Dazu jedoch müssen wir lernen, »umzucodieren«60: »Wir werden lernen müssen, digital zu schreiben, falls ei-

55. Flusser bekräftigt hier seine These mit einem Verweis auf Wittgensteins Äußerung, »es sei sinnlos, ›Zwei und zwei ist vier um sechs Uhr nachmittags‹ zu sagen.«, 1987, 64. 56. Flusser 1987a, 64. 57. Flusser 1987a, 148. 58. Flusser 1998a, 272. 59. Ähnlich fällt auch Ecos Kritik an McLuhans These aus, wenn er für eine Aktivität des Rezipienten bzw. Medienbenutzers plädiert: »Das Medium ist nicht die Botschaft; zur Botschaft wird das, was der Empfänger zur Botschaft werden lässt, indem er es seinen eigenen Empfangscodes anpasst, die weder mit denen des Senders identisch sind noch mit denen des Kommunikationswissenschaftlers. […] Wenn das Medium die Botschaft ist, bleibt uns nichts mehr zu tun, und wir sind […] nur noch Sklaven der Instrumente, die wir geschaffen haben. Aber die Botschaft ist abhängig von der Deutung, die man ihr gibt […]. Es kommt darauf an, die Rezeptionsperspektiven zu dechiffrieren: nicht die Fernsehanstalten zu besetzen, sondern den ersten Platz vor jedem Fernsehapparat. Im Universum der Elektrizität ist noch Platz für eine Guerilla.« Eco 1996, 262. Vgl. auch Ecos Aufsatz Für eine semiologische Guerilla 1996, 146-156. 60. Flusser 1987a, 146. 215

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ne derartige Notiermethode überhaupt noch ein Schreiben zu nennen ist [….].«61

Kittler In seinem Aufsatz Computeranalphabetismus führt Kittler die Ansätze Flussers fort und stellt die Vorstellung des Schreibvorgangs auf dem Papier dem Programmieren gegenüber. Aus der Perspektive der Erfinder und Programmierer ist nach Kittler das Computerzeitalter »die Vollendung des europäischen Alphabetismus«62: Der Binärcode als Reduktion des Alphabets auf die kleinste und vielleicht auch effizienteste seiner Varianten. »Als Quellcode implodiert der Alphabetismus unserer Kultur zu einer Schrift, die alle Züge eines Geheimcodes trägt, weil nicht Leute, sondern Computer sie lesen können müssen.«63 Kittler sieht durch die Loslösung des Schreibvorgangs von seinem menschlichen Adressaten einen neuen Analphabetismus entstehen. Zwar bleiben die wichtigsten Steuersignale für den Computer das »Lesen« und das »Schreiben«. Der Unterschied allerdings zur »gesamten europäischen Schriftkultur«64 ist die Tatsache, dass dem Schreiben eines Textes im Computer ein anderer Text vorgeschaltet ist, die »Anweisung« nämlich an die Maschine, überhaupt zu wissen, einen Schreibvorgang errechen zu müssen: »Man schreibt nicht mehr, man bringt auch keinen Schülern mehr das Schreiben bei. Die Schrift bleibt vielmehr einem Automaten überantwortet, dem man unter Titeln wie Prozedur, Funktion oder Routine eine Beschreibung seines Schreibens geschrieben hat.«65 Und so heißt es deshalb im Lehrbuch für die Programmiersprache Turbo Pascal 5.066: »›Als nächstes‹ – nämlich nach einer Prozedur namens Lesen – ›schreiben wir die Prozedur Schreiben‹.«67 Bleiben alphabetische Buchtexte vielseitig interpretier- und lesbar, da Wörter aufgrund ihres nicht eindeutig zugeordneten semantischen Gehalts je nach Kontext und Vorwissen des Lesers mehrdeutig sind, so gilt für die für Maschinen bestimmten Texte, dass die Zuordnung von Buchstaben zu Zahlen absolut exakt ausgeführt sein muss, damit sie für den Apparat lesbar sind. Schon der kleinste Fehler, etwa ein vergessenes Interpunktionszeichen, kann zum Absturz des Systems führen. »Digitale Maschinen zahlen für ihre Unfehlbarkeit, was die

61. 62. 63. 64. 65. 66. 67.

Flusser 1987a, 149. Kittler 1996, 239. Kittler 1996, 239. Kittler 1996, 240. Kittler 1996, 240. Kittler bezieht sich hier auf das Handbuch von Rollke 1989. Kittler 1996, 240. 216

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vereinbarte Rechengenauigkeit angeht, also mit einer denkbar hohen Fehlerträchtigkeit beim Schreiben und Lesen von Programmen.«68 Als Standardcode für Programmiersprachen (Kittler nennt sie an anderer Stelle Programmierschriften69) hat sich die amerikanische Tastatur mit dem 128 Zeichen starken ASCII-Code durchgesetzt.70 Für Flusser verdrängte einst das Alphabet die Zahlen, da es ihnen Linien vorschrieb, in die sie sich nicht zwängen wollten.71 Die Auswanderung der Zahl aus dem alphanumerischen Code dagegen ist für ihn der Anfang vom Ende der Linearität hin zu einer mehrdimensionalen Komplexität (»technische Bilder«), in der auch mathematische Gleichungen ihre adäquate Darstellungsform erhalten können. Anders dagegen verläuft Kittlers Argumentation. Zwar behauptet auch er, dass das Ende des Alphabets gekommen und sein Ersatz durch den Quellcode offensichtlich ist, allerdings wird dieser wiederum im ASCII-Code verfasst, also einem Zeichensystem mit Zahlen und Buchstaben, die noch strenger als im Buchtext linear aneinandergereiht werden müssen. Die amerikanische Tastatur »reicht bis in die Schreibweise mathematischer Gleichungen, die ihre ganze Eleganz oder Übersichtlichkeit einbüßen, einfach weil es auf zeilenorientierten Benutzeroberflächen kaum Möglichkeiten gibt, Zeichen übereinander oder untereinander einzugeben.«72 Kittlers These zufolge unterwandert der Programmiercode den alphanumerischen Code zunehmend, was eine Krise nicht nur des modernen Schulsystems, sondern der Kulturtechnik Lesen und Schreiben insgesamt auslöst (Computeranalphabetismus). Computercodes trennen in Zukunft zwischen einer »alphanumerischen Elite und dem Rest der Welt«73. In der stehenden Redewendung, »unter« einem Betriebssystem zu arbeiten, sieht Kittler die Abhängigkeit des nicht lese- und schreibfähigen Computerbenutzers, der zum »Untertan einer Corporation« geworden ist. So ist es für Kittler selbstredend nur eine Täuschung der Computerindustrie, den Anwender durch die Präsentation graphischer Benutzeroberflächen im Stile »analoger Unterhaltungsmedien« den Zugang zu und damit das Arbeiten mit dem Computer zu ermöglichen, obgleich er nicht die »Sprache« seiner Maschine »spricht«. Die Folge ist, dass der Benutzer immer mehr von der eigentlichen Funktionsweise seiner Maschine getrennt wird und es

68. Kittler 1996, 241. 69. Kittler 1998a, 19. 70. Beim ASCII-Code handelt es sich um eine »genormte Zuordnungsregel, welche die Darstellung von Zeichen in Form von binären Zahlen ermöglicht.« ComputerLexikon 1998, 73. Jedem Zeichen ist dabei eine eindeutige Nummer zugeordnet. 71. Vgl. Flusser 1987a, 149. 72. Kittler 1996, 242. 73. Kittler 1996, 244. 217

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»[u]nter dem Schlachtruf Multimedia […] alsbald eine Neuauflage von Grammophon-Film-Schreibmaschine geben [wird], bei der die Schreib-Rechen-Maschine namens Computer ihre Benutzer nurmehr als analphabetische Augen und Ohren adressiert.«74 Neben der Geschwindigkeit war und ist die räumliche Trennung eine der grundlegendsten Neuerungen der Schreibmaschine: »Im Spiel zwischen Zeichen und Intervallen hört Schreiben auf, jener handschriftlichkontinuierliche Übergang von Natur zu Kultur zu sein, dem es schon als buchstäblichen Individualitätsnachweis untersagt war, Wörter durch Zwischenräume zu unterbrechen. Schreiben unter Bedingungen der Schreibmaschine und ihres ruckweisen Papiertransports wird Selektion aus einem Vorrat, der abzählbar und verräumlicht ist.« 75 Man könnte auch behaupten, die Schreibmaschine habe schon geschrieben, nämlich jene weißen Zwischenräume, die die Grundlage von Mallarmés Coup de dés bilden. Dem Schreibenden bleibt nur noch, durch permutative und kombinatorische Auswahl die vorgebildeten Typen auf das Papier zu streuen, so dass Mallarmé zu der Feststellung kommt: »Si! avec ses vingt-quatre lettres, cette Littérature exactement dénomée les lettres.« 76 So kennzeichnet Schreibmaschinenschrift nicht nur die räumliche Beziehung zwischen den Typen, sondern auch die Beziehung der Buchstaben zum weißen Grund. Hinzu kommt, dass Schreibmaschinen ausgerechnet jene Stelle verdeckten, die das Auge am genauesten beobachten musste, weil dort die (Hand-)Schrift entstand. Auch ist die schreibende Hand selbst von dieser Stelle abgetrennt und Kittler bemerkt: »An blinden Maschinen lernen Leute […] eine historisch neue Geschicklichkeit: die Écriture automatique.«77 Der Schreibakt wird zum blinden Fleck und das vom Papier mittels Mechanik getrennte schreibende Subjekt löst sich auf. Das autorlose Geschriebene verwandelt sich nur noch in Einschreibung: »Verstehen und Auslegen scheitern an einer unbewußten Schrift, deren Entzifferung die Beschrifteten nicht leisten, sondern sind. Denn die mnemotechnische Einschreibung bleibt […] im entscheidenden Moment unsichtbar.«78 Seit Entwicklung der Schreibmaschine wird Schreiben zum Anschlagen einer Taste. Dieser Prozess wird durch Aufkommen des Computers noch radikalisiert, da durch dessen Tasten nicht nur Buchstaben auf dem Bildschirm erscheinen, sondern, wie im Falle der »Enter«-

74. 75. 76. 77. 78.

Kittler 1996, 245. Kittler 1995, 244. Mallarmé 1945, 850. Kittler 1986, 298. Kittler 1995, 248. 218

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Taste, Befehle erteilt werden: »[…] mit der Enter-Taste des Computers, die alle vorigen Eingaben zum Befehl erklärt, entstand, was vor Zeiten nur Magie vermocht haben soll: Das Wort wird wahr.«79 Mit diesem Satz ist sich Kittler bewusst, eine alte Diskussion um Wahrheit und Schrift unter neuen technischen Bedingungen wieder angefacht zu haben. Bis vor zirka 130 Jahren schlug sich die Bewegung von Schrift in der Bewegung der sie zu Papier bringenden Hände nieder. Die Schreibmaschine lässt nur noch zu, dass die Hände Tasten anschlagen, die wiederum normierte Typen auf das Papier an einen Ort bringen, der von der Maschine dafür vorgesehen ist. »Die Turing-Maschine von 1936«, erklärt Kittler, »der Prototyp nicht bloss aller wirklichen, sondern aller möglichen Computer, hat diesen Automatismus des Schreibens nur noch um einen Automatismus des Lesens ergänzt, also vervollkommnet. Statt Wörter zu verstehen, erkennen die Elemente eines Scanners die Elemente eines Zeichensatzes.«80 Dank seiner binären Funktionsweise kann der Computer zugleich lesen und schreiben, also Informationen vermitteln und verarbeiten. Ihre Eingaben erhält die Maschine über die so genannte Kommandozeile, einer »radikal erweiterten Schreibmaschinentastatur«81, die die Buchstaben jedoch nicht analog auf das Papier stempelt, sondern durch die Übersetzung in einen anderen Code (Binärcode) dem Rechner eine Anweisung erteilt, den Buchstaben (z.B. ein A) zu errechnen. Als elementarer Unterschied zur Schreibmaschine treten die Befehle erst dann in Kraft, wenn man die »Enter«-Taste drückt. Die Taste rechts auf dem Tastaturfeld bewirkt zweierlei: Auf der Editorenebene hat sie zur Folge, dass der Cursor in die nächste Zeile springt (»return«) und auf der Kommandoebene, dass ein Befehl ausgelöst wird (»enter«). Der Computer erledigt nach Kittlers Überzeugung das, was vormals dem rezipierenden Leser oblag: Er liest und verarbeitet Information selbst. Das Fatale jedoch ist, dass beides als alphanumerischer Code auf dem Bildschirm zu sehen ist und sich voneinander nicht mehr unterscheidet. Die Befürchtung eines sich ausbreitenden Computeranalphabetismus liegt genau in dieser Verselbständigung der Maschine. Dagegen wird die Unselbständigkeit des Computeranwenders durch die Maus (Interface) gefördert. Bildschirmschnittstellen mit bunten Ikons täuschen den Nutzer darüber hinweg, dass »keiner ihrer [der Maschine] Zustände unwandelbar ist«82. Das Schreiben wird vielmehr wieder auf

79. 80. 81. 82.

Kittler 2000a, 51. Kittler 2000a, 51. Kittler 2000a, 52. Kittler 2000a, 52. 219

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die Setzung von Buchstaben und Ziffern reduziert, wobei die Möglichkeit unterbunden bleibt, einen Befehl auf elementarer Systemebene zu erteilen. Wenn der Zugang zu Betriebssystemen und Quellcodes versperrt ist, birgt ein so komplex operierendes System wie die TuringMaschine bei Fehlerhaftigkeit ungeahnte Gefahren: »Unsere Kultur ist die erste, die wortwörtlich auf Sand gebaut ist. […] Sandhaufen sind instabil, die computergestützten Infrastrukturen unserer Kultur noch viel mehr.«83

3. Multimediale Codierungen in der Computerpoesie Als Ergebnis der Theorien Flussers und Kittlers lässt sich die Ablösung des Alphabets durch den numerischen Programmcode festhalten. Mit der Texterstellung durch den Computer vollzieht sich ein Wechsel vom analogen Schreiben auf Papier ins notwendige Übersetzen visueller alphabetischer Zeichen in eine Kette von Nullen und Einsen und bewirkt eine Verdoppelung der »Schrift«: Unter jeder alphabetischen Schrift auf dem Bildschirm läuft im unsichtbaren Hintergrund eine zahlenbasierte binärcodierte »Schrift«, von der technozentrische Theorien behaupten, dass es sich dabei um die eigentliche Schrift handelt, die das Alphabet ersetzen wird. So Kittler: »Die ENTER-Taste hat eine Macht erlangt, die den Wortsinn von Poesie, nämlich machen, im Unterschied zu aller Poesie oder Literatur der Geschichte erstmals einlöst. So wörtlich gilt die Eingangsthese von Derridas Grammatologie, daß nämlich Schrift, wie wir sie gekannt haben, unter hochtechnischen Bedingungen zur Untermenge einer allgemeinen Programmierbarkeit herabgesunken ist.«84 Kittler kritisiert an dieser Stelle den Schriftbegriff als Einschreibung, da es sich im Computer um eine gedoppelte Schrift handelt. Wenn die Kommandozeile »« lautet und das Programm nach Auslösung des Befehls auch eben jene Löschung vornimmt, so geschieht dies nicht deshalb, weil dieser Befehl eine »inhärente Eigenschaft ihrer Buchstaben oder Tasten«85 wäre, sondern weil eine Kette von Nullen und Einsen im Schaltkreis diese Handlung auslöst. Durch die Ersetzung jeglicher unterschiedlicher Codesysteme durch die Ziffern 0 und 1 ist der langen Geschichte der Typographie ein Ende gesetzt worden. »Computertechnik […] beruht auf einer systematischen Zweideutigkeit, die jede Null und jede Eins zugleich als Binärzahl im Sinn

83. Kittler 2000a, 52. 84. Kittler 1998a, 20. 85. Kittler 1998a, 20. 220

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von Leibnitz und als Wahrheitswert im Sinn von George Boole führt. Deshalb können Bits ebenso gut darüber bestimmen, ob ein Ereignis eintritt oder aber vielmehr nicht, wie auch darüber, welches Ereignis eintritt oder aber ein anderes.«86 Für Kittler existiert das Alphabet (nur) noch auf der »menschenzugewandten Seite eines Betriebssystems«87. Zweifelsohne richtig ist die These, dass mit dem Code ein Zeichensystem geschaffen ist, das in der Lage ist, sämtliche andere Codes zu simulieren. Jenseits der Mensch-Maschine-Schnittstelle (Bildschirm) befindet sich allerdings der wahrnehmende Mensch, der auf das, was auf der Benutzeroberfläche visualisiert ist, angewiesen ist. Denn wenn Kittler erklärt, dass die Kommandozeile »« die Buchstaben »k«, »i«, »l« und »l« visualisiert und gleichzeitig das laufende Programm abschaltet, dann wird der Vorgang auf zwei Weisen »verstanden«: Es gibt eine Maschine, die den Binärcode »liest« und in die Tat umsetzt und einen Rezipienten, der die alphabetischen Zeichen als das Wort »kill« wahrnimmt. Es bleibt jedoch problematisch, wie Kittler zu behaupten, dass allein Bits darüber entscheiden, was eintritt und was nicht, geschweige denn, was wahr ist und was nicht. Dies würde bedeuten, die »Grundunterscheidung europäischer Philosophie, die von Existenz und Essenz, Daßsein und Wassein«88 auf einen Boolschen Prozess zu reduzieren und die zweiseitige Schnittstelle als einen unidirektionalen Weg zu verstehen. Wäre dies so, würde man die Schnittstelle ihrer hauptsächlichen Eigenschaft berauben, die sie als »Verbindungsstelle zw. zwei miteinander in Beziehung stehende[r] Systeme[…]«89 definiert. Zwei Systeme also, die durch die Schnittstelle (»interface«) in der Lage sind, zu kommunizieren. Unbestritten bleibt auch hier die Gefahr, dass durch Software mitunter erhebliche Einschränkungen auferlegt werden, so dass der Benutzer bei Unkenntnis von Programmiersprachen die Macht über sein Tun bewusst oder unbewusst abgibt.90 Die Macht über die Buchstaben hat er ohnehin nie gehabt, jedoch die Fähigkeit, Buchstaben in seinem, des Menschen Sinn zu entziffern. Und auf dieser Ebene, der Entzifferung der Buchstaben, ist es zunächst unerheblich, ob »kill« auf dem Papier steht oder auf dem Bildschirm.91 Denn

86. Kittler 1998a, 20. 87. Kittler 1998a, 20. 88. Kittler 1998a, 21. 89. Computer-Lexikon 1998, 721l.-722r. 90. Vgl. hierzu die berechtigte Kritik Kittlers am »protected mode« 1993b. 91. Der Schriftträger ist in der Tat in einem hohen Maß rezeptionsbestimmend, wie es nicht zuletzt vorliegende Arbeit untersucht. Jedoch ist zum Erkennen und Entziffern der Buchstaben »k«, »i«, »l« und »l« der Untergrund (z.B. Papier, Ton, Sand oder der Bildschirm) zunächst sekundär. 221

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der Leser liest dieselben alphanumerischen Zeichen und nicht die ohnehin unsichtbaren Codes auf der menschenabgewandten Seite. Sowenig aber, wie wir heute statt der Musik der CD-ROM deren Schaltpläne »hören«, so schreiben wir auch die Buchstaben unserer Texte nicht als algorithmische Kette von Nullen und Einsen, sondern als alphanumerischen Bildschirmtext mittels der Tastatur.92 Den Programmcode als den »eigentlichen« Text der elektronischen Literatur zu verstehen, wie es besonders die technozentrischen Theorien vertreten93, führt ebenso ins Leere wie auch die völlige Missachtung des Programmcodes. Denn dieser bewirkt, dass elektronische Buchstaben überhaupt auf dem Bildschirm zu sehen sind. Es ist richtig, dass der Computer auch ohne eine Visualisierung dessen, was er gerade tut, auskommt94, während der visualisierte alphabetische Text nur mittels des Zahlencodes auf der Bildfläche sichtbar wird. Andererseits kann jedoch der Computer als Medium der Kunst – und davon ist hier schließlich die Rede – nicht auf die Kompatibilität mit Benutzern verzichten. Denn der Rezipient ist der, der alphabetische Buchstaben liest. Insofern, um noch einmal an die eingangs erwähnte Definition von Code und Codierung anzuknüpfen, handelt es sich bei Computertexten um zwei getrennte Codierungen, die sich dennoch gegenseitig bedingen. Einerseits findet eine strenge, lineare Abfolge von Ursache und Wirkung statt, die die Rezeption auf technischer Ebene zu einem einfachen reflexartigen Vorgang macht: Die verschlüsselten Botschaften (Befehle) erreichen den Computer unverändert, werden von diesem »verstanden« und direkt in maschinelle Handlungen umgesetzt. Andererseits erscheinen auf der Bildschirmoberfläche Zeichen verschiedenster Art, die vom Rezipienten in keiner Weise so in Botschaften übertragen werden können, wie das auf Maschinenebene gelingt. Der Rezipient hat vielmehr einen komplexen Dekodierungsvorgang zu leisten, der weder vom sichtbaren Objekt noch von der ausführenden Maschine vorgegeben ist. Im Fall der Computerpoesie handelt es sich um eine Kombination unterschiedlicher Zeichen und eine Verschmel-

92. Insofern spricht auch aus dem Argument Cramers, Programmiersprachenlyrik benutze den Computer und das Internet, im Gegensatz zu Hyperfiction und Multimedia-Netzliteratur, »eben nicht simpel als Expansion anderer Medien«, eine bestimmte Exklusivität, die nur den Texten einen Anspruch (Gegenteil zu »simpel«) zugesteht, die lediglich den Binärcode als Zeichensystem verwenden und auch sichtbar machen. Cramer 2001, 122. Damit wird suggeriert, dass es eine »eigentliche« Sprache (bzw. Schrift) des Computers gebe. Ein Argument, das gleichzeitig die visualisierte Bildschirmschrift zur (ideologischen) Täuschung des Benutzers degradiert. 93. Vgl. hierzu Kittler 1996 und Cramer 2000 und 2001. 94. Die ersten Großrechenanlagen hatten keine Monitore, geschweige denn Benutzeroberflächen. 222

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zung ihrer Systeme, so dass wiederum neue mediale Zeichen entstehen, die nur individuell in einer aktiven Bedeutungszuschreibung verstanden werden können. Flussers Ausführungen über die Ablösung des Alphabets durch den Programmcode haben zwar den Anstoß zu Kittlers weiteren Überlegungen gegeben, bleiben an den entscheidenden Stellen aber vage und offen. Am Beispiel des Dichters, der in besonderer Weise Sprache und ihre Grenzen auslotet und die so gewonnenen Erlebniswelten mittels Schrift zu Papier bringt, erklärt er, dass die Lyrik der »kalkulierenden« Dichter anders sein müsse, da ihr ein anderer Code zugrunde liege und sich die neuen Sprachschöpfungen »der Sprache neben anderen, augenfälligeren Codes bedienen«95 werden: Während sich der alphabetische Dichter mit der Veränderung von Sprachregeln und den Möglichkeiten, Grenzen der Sprache zu überschreiten, auseinandersetzt, überlässt der »kalkulierende Dichter […] die Sprachregeln und das Sprachrepertoire dem Zufallsspiel der Permutationen, und seine Absicht ist, aus diesen zufällig emportauchenden Komputationen die geeignetesten zu wählen.«96 Auch hier ist zu lesen, dass der Computerlyrik ein »anderer Code« zugrunde liegt und von diesem dominiert wird, wenngleich dieser »neben« anderen Sprachen und Zeichensystemen existiert. Denn an anderer Stelle schreibt Flusser dem Alphabet einen hohen kulturellen Wert zu: »Wenn wir mit den Buchstaben umgehen, sind wir noch immer mit dem Ursprung unserer Kultur verbunden, selbst wenn diese Buchstaben auf Computerbildschirmen erscheinen. Der Verlust des Buchstabenlesens wäre ein Bruch in der Tradition, von dessen Radikalität wir uns keine Vorstellungen machen können. Unsere Kultur wäre dann buchstäblich (nämlich buchstabenlos) von Grund auf anders geworden.«97 Für ihn vollzieht sich Schreiben unter Computerbedingungen als ein Schreiben ins »elektromagnetische Feld«, wo Zeichen ›weich‹, plastisch, manipulierbar geworden«98 sind. »Der Text ist nicht mehr, wie auf dem Papier, das Resultat eines kreativen Prozesses, sondern er ist selbst dieser Prozeß, er ist selbst ein Prozessieren von Informationen zu neuen Informationen.«99 Das Wesentliche an computergenerierten Texten ist also nicht allein die Tatsache, dass Leser keine algorithmischen Codes wie etwa Buchstaben sinnvoll lesen können, sondern das, was Flusser mit Prozess(-haftigkeit) umschreibt. Durch die Codierung

95. 96. 97. 98. 99.

Flusser 1987a, 71. Flusser 1987a, 77. Flusser 1999b, 59. Flusser 1999b, 59. Flusser 1999b, 63. 223

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in Zahlenketten ist es möglich, Texte zu bewegen, in einer komplexen Weise interaktiv zu konzipieren und dem ästhetischen Umgang mit Sprache dadurch eine neue Qualität zu verleihen – und die wird erst auf der Oberfläche sichtbar, der Benutzeroberfläche. Wichtig für Computerpoesie ist nicht nur die Spaltung des Textes, sondern vor allem das, was der Code im Zusammenhang mit den Buchstaben auf dem Bildschirm bewirkt, nämlich die Veränderungen ihrer Zeitlichkeit: ihrer Bewegung, Flüchtigkeit, Geschwindigkeit und Transformationen. Da der Computer in der Lage ist, andere Medien in eine Kette binärer Folgen umzucodieren und für sich verfügbar zu machen, findet hier eine Verschmelzung unterschiedlicher und bislang getrennter Zeichensysteme statt. Hier von einer »Sprache« bzw. »Schrift« zu sprechen, die, indem sie das Alphabet ablöst, auf der gleichen Ebene gedacht wird, wie alphabetische Zeichen, ist jedoch wenig sinnvoll. Künstliche Sprachen im Computer stellen Sprachen dar, die weder eine Rede aufzeichnen noch sprechbar sind. Sybille Krämer bringt diese Tatsache auf das Begriffspaar der »ontologischen« und der »operativen« Sprache. Bei der alphabetischen Schrift, dem »ontologischen Symbolsystem«, werden vorgefundene Gegenstände wie z.B. die Phoneme der gesprochenen Sprache repräsentiert. Mathematische Kalküle oder digitale Daten dagegen gehören zum »operativen Symbolsystem«, da durch sie die »symbolisierten Gegenstände erst durch den Akt symbolischer Bezugnahme hervorgebracht werden«100. Demnach bilden Programmschriften das, was sie symbolisieren, nicht einfach ab, sondern sind es selbst. Diese »Schrift« referiert nicht mehr auf Sprachlaute, sondern auf »kognitive Gegenstände«. Wir können sie »nur noch anschauen, nicht aber mehr aussprechen« – sie werden zu »Medien«101. Auch Burkhardt Lindner lehnt eine Verwendung der Begriffe Maschinen-»Sprache« bzw. Programmier-»Schrift« ab oder hält sie zumindest für »metaphorisch«102. Seiner Ansicht nach lösen sich zwar die »Unterscheidungen zwischen Schrift-Zeichen, Zahl, Bild, Bewegungsbild sowie dem weiteren visuellen, akustischen und taktilen Sensorium«103 auf der Basis der Funktionsweise des Computers auf. Jedoch betont Lindner, dass »[d]ie Digitalisierung der Eingangsdaten und ihre Weiterverarbeitung in digitalisierten Algorithmenschritten […] in der ›Rückübersetzung‹ in das Apriori der Wahrnehmungsbedingungen«104 endet. Wir können nicht auf digitale Weise sinnlich wahrnehmen, sondern nur auf analoge Weise.

100. 101. 102. 103. 104.

Krämer 1997, 111. Krämer 1997, 115. Lindner 2003. 29 Lindner 2003. 29 Lindner 2003, 29 224

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Bereits Helmut Heißenbüttel sieht voraus, dass die Einbeziehung neuer Medien innerhalb der Kunst mit einer Verschmelzung der Gattungen und Multiplikation der zur Verfügung stehenden Zeichensysteme einhergeht: »Der Vorgang der Grenzüberschreitung zwischen den Gattungen und den Medien der Kunst wurde begleitet von der Entwicklung neuer Medien, […] die jedoch mehr noch als die überlieferten Medien auf umfassendere Wirkung gerichtet sind als etwa die Musik oder Malerei oder Literatur allein.«105 Computerpoesie hat die bereits in der Druckdichtung auftretende Vermischung und Verschmelzung von unterschiedlichen Zeichensystemen übernommen und potenziert. Typographischen Texten auf physikalischen Trägermedien wie Papier oder Leinwand konnte – wie der Künstler Jannis Kounellis zeigte – nur durch die Einführung zusätzlicher Zeichen (z.B. Pfeile) oder durch eine spezielle räumliche Verteilung der Buchstaben Dynamik verliehen werden:

Abbildung 24: »Ohne Titel« (1959), aus: Haenlein 1991, o.S.

Im Computer dagegen kann der Buchstabe direkt bewegt werden, über die Bildfläche wandern, sich vom graphischen Buchstaben zum Bild verwandeln und wieder zurück transformieren, sich auflösen oder

105. Heißenbüttel 1974, 24. 225

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nachträglich erst erscheinen, seine Geschwindigkeit verlangsamen oder zur Unleserlichkeit beschleunigen. »[D]ie laufenden Bilder [haben] endlich erfahren, was Alphabete den Schriften und Ziffernstellenwertsysteme den Zahlen schon seit Jahrtausenden antun. Sie sind allesamt aus einer abzählbaren Menge von Elementen aufgebaut. Weil aber Pixel keine Buchstaben, sondern Zahlen darstellen, die als zweidimensionale Matrix angeordnet sind, beweist jedes Computerbild den Satz, dass die moderne Beweglichkeit von Schriften und Bildern der Mathematik verdankt ist.«106 Im Computer sind Schrifttypen nicht mehr von Bildern zu unterscheiden und umgekehrt. Hagen bemerkt hierzu: »Textorientierte Computer-Programme geben Schrift indessen einen völlig neuen Schauplatz: formal gesehen inkrementieren sie, was schon Simulation soll gewesen sein, um eine weitere: die Rede des Gedachten, die sich in Schrift abbildet, hat ein drittes, viertes Abbild nun in den Pixeln der Buchstabenzeichen auf dem Schirm (oder in den Nadeln des Matrixdruckers), und dies wiederum wäre um ein Weiteres inkrementierbar, insofern jedes Schriftbild als pure Graphik darstellbar und mit allen elektronischen Tricks der Digitaltechnik verwischbar wäre. Die simulierte Schrift im Computer-Zeichen betreibt, wie alles vom Computer Dargestellte, einen infiniten Rekurs, insofern auch die Schrift für den schriftlosen Rechner, der das beschriebene Feld ebenso als variabel bepunktete Bildschirmseite verstehen kann, sofort Gegenstand neuer, n-facher Verarbeitung werden kann.«107 Zwar hat der Zusammenfall der materialen Ebene von Zeichen und Bild keine Auswirkungen darauf, dass Schrift auf der Oberfläche des Bildschirms als Schrift und Bilder als Bilder wahrgenommen werden. Dennoch ist es auffällig, dass gerade der durch den Binärcode hervorgerufene indifferente Status von Bild und Zeichen ein brisantes Thema in der Auseinandersetzung von Kunst mit elektronischer Schrift und elektronischen Bildern ist. Hinzu kommt, dass sich bewegende oder sich verändernde Schriftzeichen notwendigerweise im Programm als Grafik definiert werden müssen, da es sich um Transformationsprozes-

106. Kittler 2000a, 51. Ausnahmen sind dabei Montagetechniken innerhalb der Videodichtung, die nicht mit dem Computer, sondern mit einer bestimmten Schnitttechnik erzeugt werden oder Bewegungen der Schrift aufgrund des dynamischen Materials selbst, wie etwa bei der Holographie. Doch selbst in den Arbeiten von Eduardo Kac sind die Buchstaben nicht nur durch die vom Leser in unterschiedlicher Weise eingenommenen Blickwinkel erzeugt, sondern zuvor im Computer animiert und anschließend auf holographisches Material abgefilmt. 107. Hagen 1989, 227. 226

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se handelt.108 Icône, eines der ersten interaktiven Gedichte, verdeutlichte bereits, dass der Text auf der Bildschirmoberfläche zum Bild (Ikon) wird und gleichzeitig auf die Reaktion des Lesers angewiesen ist, um weiter existieren zu können.109 Denn die Bewegung kann erst fortgesetzt werden, wenn der Leser mit der Maus einen Befehl erteilt, der in einer Programmschrift dem Computer die Anweisung gibt, den Text weiterzubewegen. Als eines der wichtigsten Themen in der Medienkunst lässt sich daher der Verweis und die Auseinandersetzung mit ihrer Materialität und ihrer medialen Bedingtheit ausmachen. Im Figurengedicht des Barocks erschien das Wechselspiel von Bild, Schrift und Form noch in einem ontologischen Zusammenhang, der auf ein Abwesendes verwies und dieses durch Wiederholung in Zeichen und Bild in die Gegenwart holte. Die experimentelle Poesie des 20. Jahrhunderts jedoch kann in der Verknüpfung von Bild und Text lediglich versuchen, »Anwesenheit durch Semantisierungsprozesse« zu erreichen, da ihr dieser ontologische Zusammenhang zur Verweisung auf eine außersprachliche Wirklichkeit nicht mehr zur Verfügung steht: »Nicht mehr der Verweis der Zeichen, die symbolische Anwesenheit des Abwesenden im Zeichen ist der Impuls, Schrift und Bild zu verbinden, sondern die Abwesenheit einer stabilen Vorstellung von Wirklichkeit scheint das Bedürfnis hervorzurufen, eine Wirklichkeit aus Zeichen zu schaffen. Die Zeichen verweisen nicht mehr auf etwas, sondern sie beziehen sich auf sich selbst, und sie bestätigen sich im gegenseitigen Verweisungszusammenhang zueinander.«110 Augenfälliges Beispiel hierfür ist der Musikvideoclip The Child (1999) von Antoine Bardou Jacquet und Alex Gopher. Hier wird Wirklichkeit nicht aus Objekten, sondern aus Buchstaben geschaffen, die sich jedoch wie Objekte und zugleich wie semantischen Zeichen verhalten. Die Besonderheit von The Child ist die, dass alle Dinge und Gegenstände dieser Welt aus ihrem Namen bestehen. Sie werden aus den Buchstaben ihrer Namen geformt, die sie wiederum repräsentieren. Hier wird also nicht die Welt zum Zeichen, sondern die Zeichen werden zur

108. Grafikprogramme halten gewöhnlich die Option bereit, Schrift als Bild oder als Schrift zu definieren. Als Bild definiert handelt es sich zwar immer noch um den jeweiligen Buchstaben, der jedoch nicht einzeln ansteuerbar ist, so wie das im Schriftmodus der Fall wäre. Buchstaben in einem Textverarbeitungsprogramm sind als Schrift definiert und daher einzeln ansteuerbar, d.h. manipulierbar. Sie können gelöscht oder ihnen Buchstaben hinzugefügt werden. Animierte Texte sind als Bild definiert, da sie sonst gar nicht als Objekte bewegt werden könnten. 109. Vgl. auch Kap. Computerpoesie/I, 4. (animierte Multimediapoesie). 110. Schneider 1998, 238. 227

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Welt. Nicht die Gegenstände der Welt werden zum Zeichen, indem sie von Zeichen verdeckt oder überlagert werden. Das, was der Fall ist, »ist« Zeichen; nicht im Sinne der Repräsentation, sondern auf reale, d.h. materiale oder körperliche Weise. Im Clip wird von der Welt in einem besonderen filmtechnischen Stil (Narration, Schnitttechnik, Kameraperspektive, Filmzitate etc.) erzählt, was den Benutzer sofort glauben macht, dass es sich um eine wie auch immer geartete Realität handelt. Dennoch befinden sich in dieser »Realität« lediglich unterschiedlich große Buchstaben: Die Buchstabenkombination »car« stellt kein Auto dar, sondern das Auto sind die rhythmisch bewegten und sich fortbewegenden Buchstaben.

Abbildung 25: Videostill aus »The Child« (1999) Bewegte Buchstaben und Schriftzüge bringen auch den Leser in körperliche Bewegung, sei es vor einer holographischen Glasplatte, als interaktiver Partner vor dem Bildschirm bzw. der Leinwand oder als Auslöser der Textgenerierung. Er wird mit einbezogen in das Spiel der Verweisungen, indem von ihm, je nach Codierung, verschiedene Wahrnehmungstechniken wie z.B. Sehen, Lesen oder Hören gleichzeitig verlangt werden. Ob nun eine Tonspur einen anderen Text wiedergibt als der zu Lesende auf dem Bildschirm (Maillard/Papp, Rupture und Kac, Insect Desperto), Bilder im Widerspruch zum vorbeiziehenden Text stehen (Melo e Castro, Ideovideo), Texte durch (hypertextuelle) Ordnungssysteme von vornherein als »unlesbar« zerstreut werden (Rosenberg, The Barrier Frames), Typographie die Dinge selbst formt (Jacquet, The Child und Stefans, The dreamlife of letters), interaktive Poesie die doppelte Lektüre provoziert (Bootz, Passage), Holographie existentiell auf die blickenden Augen angewiesen ist (Kac, Maybe Then, If Only As), virtuelle Poesie Textwelten körperlich erfahrbar machen (Györi, 228

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vpoem13) oder Textgeneratoren vor unseren Augen die eigene Lektüre als unablässigen Prozess der Transformation dekonstruieren (Balpe, Stances d’amour éternel und Petchanatz, Cut Up): Wahrnehmung unter Computerbedingungen spielt als selbstbezügliche Auseinandersetzung mit der eigenen Bedingtheit und Beschaffenheit der Texte die Hauptrolle im Themenfeld der Computerpoesie. Für das nun anschließende letzte Kapitel ergeben sich daher zwei grundsätzliche Fragen, die der Einsatz des Computers als Medium der Poesie hervorbringt. Erstens: Wie unterscheidet sich das Lesen bewegter Texte von der Wahrnehmung auf Papier oder einem anderen physikalischen Träger gedruckter oder geschriebener Texte? Zweitens: Welche Modalitäten bedingen Computergedichte, wenn man ihre unterschiedliche multimediale Codiertheit berücksichtigt (insbesondere die Spaltung des Textes in eine Programmschrift und eine alphabetische Oberflächenschrift)?

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II. Lesarten und Modalitäten der Computerpoesie Das Geschriebene ist nicht länger das, was es noch auf dem Papier war, eine »Inschrift« oder ein »Abdruck«, auf einem Untergrund und damit fest mit diesem verbunden. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten einer neuen Zeitlichkeit der Texte konfrontiert in erster Linie ihre poetische Wahrnehmung. In A bribes abattues (Bootz) kann der Leser den Zeitfluss durch die Pausentaste anhalten, wiewohl er dann auf einen Teil des Textes verzichten würde. In Passage (Bootz) konfrontiert der Autor den Leser mit der Unwiederholbarkeit der Lektüre. Das, was in der ersten Lektüre überlesen wurde, ist nicht wiederholbar, da der Text bereits seinen Zustand verändert hat. Cut Up (Petchanatz) ermöglicht aufgrund der Schnelligkeit der Bewegung sogar überhaupt keine Lektüre mehr. Der Rezipient kann den Ablauf des bewegten Gedichts nur bedingt modifizieren und ist in den meisten Fällen dem technischen Ablauf und dem temporalen Verlauf des Textes ausgeliefert. Es scheint ein wesentlicher Teil der Textkonzeption zu sein, den Leser in seiner gewohnten Lesehaltung zu verunsichern und den Akt der Lektüre selbst zu konzeptualisieren. Der Körper und seine Einbeziehung in den Lesevorgang (z.B. in der Wahrnehmung der Hologedichte Kacs oder der virtuellen Poesie von Györi) nimmt zur Immaterialität der computergenerierten Texte einen physisch-materialen Gegenpart ein.

1. Lesarten der Computerpoesie Der lesende Körper »Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im ungewissen verschwimmen. […] Such dir die bequemste Stellung: sitzend, langgestreckt, zusammengekauert oder liegend. Auf dem Rücken, auf der Seite, auf dem Bauch. Im Sessel, auf dem Sofa, auf dem Schaukelstuhl, auf dem Liegestuhl, auf dem Puff. In der Hängematte, wenn du eine hast. Natürlich auch auf dem Bett oder im Bett. Du kannst auch Kopfstand machen, in Yogahaltung. Dann selbstverständlich mit umgedrehtem Buch. […] Stell dir das Licht so ein, daß deine Augen nicht müde 230

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LESARTEN UND MODALITÄTEN DER COMPUTERPOESIE

werden. Mach’s gleich, denn wenn du erst einmal in die Lektüre vertieft bist, kannst du dich nicht mehr regen.«1 Das Eintauchen in die Lektüre führt in der Beschreibung von Italo Calvivo zur Unbeweglichkeit des Körpers. Wenn einmal die ideale Leseposition gefunden ist, in der der Körper zufrieden und, ohne etwa störende Schmerzen ertragen zu müssen, ruhen kann, kann sich der Geist vollkommen auf den Rausch der Lektüre konzentrieren und sich von ihr fortreißen lassen. Lesen macht körperlich unbeweglich, mehr noch, es fordert die körperliche Unbeweglichkeit als seine Voraussetzung. Erich Schön, der den Lesewandel um 1800 analysierte, gelangt anhand historischen Materials zu der These, dass sich seit dem 18. Jahrhundert eine zunehmende Immobilisierung des Körpers beim Lesen einstellt. Der Kontakt mit dem Geschriebenen wird »nur noch mit den Augen hergestellt […]. Das Lesen bekommt in der Verlagerung des Buches vom haltenden Körper auf ein Möbel einen körperunabhängigen ›festen‹ Ort«2. Folglich verharrt auch der Körper in einer Haltung. Es ist allerdings nicht unproblematisch, aus der Fülle des historischen Materials auf Gewohnheiten in der Lektüre im Allgemeinen zu schließen. Die Lesehaltung ist abhängig von Berufsstand, sozialer Stellung, Art der Lektüre und auch vom Geschlecht des Lesers. So kann man beobachten, dass es schon zu einem früheren Zeitpunkt Darstellungen von Personen gab, die zur Lektüre an einem Tisch sitzen, weil sie z.B. mit einer Arbeitslektüre beschäftigt waren. Schwierig ist es, für die unterschiedlichen Kategorien (Berufsstand, soziale Stellung, Art der Lektüre, Geschlecht), die eine Lektüre welcher Textsorte auch immer determinieren, eine pauschale Antwort zu geben. »›Der‹ Leser ist ein Konstrukt«, gibt Schön zu bedenken, »ob man vom typischen Leser, vom Durchschnittsleser oder vom Idealtyp einer Entwicklung redet.«3 In einer bestimmten sozialen Schicht, z.B. der bürgerlicher Geschäftsmänner, bildete sich um 1800 die Vorliebe aus, sich zum Lesen nicht mehr an einen Tisch zu setzen4, sondern ein eigens hierfür konzipiertes Lesemöbel zu benutzen. Hier zeigt sich das Bewusstsein, eine »kategoriale Trennung von Arbeit und Freizeit« zu vollziehen. Man erwarb ein den »Bedürfnissen des Körpers angepasstere[s] Möbel« und demonstrierte damit, dass man dem Lesen eine »Kompensationsfunktion«5

1. Calvino 1991, 7-8. 2. Schön 1993, 72. 3. Schön 1993, 27. 4. Zu dieser Zeit wurde auch von einem zu langen Sitzen am Tisch aus gesundheitlichen Gründen abgeraten und ein Stehen am Pult oder doch zumindest Ausstrecken des Körpers auf einem Liegemöbel empfohlen. 5. Schön 1993, 77. 231

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zuordnete. Bequemlichkeit war das oberste Kriterium, nicht etwa eine optimale Haltung zur konzentrierten Aufnahme des Geschriebenen. Wer Letzteres im Sinn hatte, las weiterhin am Tisch sitzend. Es ist nicht unerheblich, welche Position der Körper beim Lesen eines Buchs einnimmt, geht es hier darum, »daß eine bestimmte Körpererfahrung Teil und Medium der Texterfahrung ist.«6 Und das erst recht, wenn man Leseerfahrungen in der Umgebung technischer Medien wie etwa dem Computer- oder Fernsehbildschirm betrachtet. Als »Disziplinierung des Körpers« bezeichnet Schön die historische Entwicklung des Lesens, die den Körper nur mehr als Instrument begreift, das für eine intellektuelle Rezeption des Buches notwendig ist.7 Am Ende steht die perfekte Immobilisierung des Körpers, die nur eine Minimalbewegung zulässt, nämlich das Verfolgen der Zeilen mit den Augen. Dahinter sieht Schön eine generelle Entwicklung des rezeptiven Verhaltens von Kunst in Form der Arretierung des Körpers, so z.B. auch im Theater. Im frühen 18. Jahrhundert ist zu erkennen, dass Lebensregeln, einstmals dem Adel vorbehalten, allmählich auf das an seine Stelle tretende Bürgertum übergingen. Diese »Habitusmodifikationen« (Schön) offenbarten sich vor allem in der Regel der »Affektdämpfung«. Die körperliche Beteiligung am symbolischen Kunstgeschehen war untersagt und stattdessen auf ein Miterleben »in nur mentaler Phantasie«8 reduziert. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch in der Rezeptionshaltung von Musikkonzerten machen. Konnte man bis in die Zeit der Wiener Klassik hinein noch während einer Opern- oder Konzertaufführung Sprechen, Essen, Umhergehen oder sogar Tanzen, so entwickelte sich die optimale Hörerhaltung mehr und mehr zu einem stummen und vor allem unbewegten Sitzen. Heute werden die geringsten Anzeichen zum körperlichen Miterleben des musikalischen Ereignisses als Störung sanktioniert. Wenn auch an dieser Stelle nicht weiter auf die mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Ursachen und Auswirkungen dieses Phänomens eingegangen werden kann, so ist festzuhalten, dass die Rezeptionshaltung nicht nur im Lesevorgang auf die Disziplinierung, Kontrolle und nach Möglichkeit

6. Schön 1993, 81. 7. Vgl. Schön 1993, 81-82. Noch vor 30 Jahren wurden in Lehrbüchern Anweisungen vermittelt, wie eine zeitlich effektive und ökonomische Lektüre erlangt werden kann. Hierzu rät das 25-Tage-Programm von Ernst Ott mit dem Titel: Optimales Lesen. Schneller lesen – mehr behalten, dass es nicht sinnvoll ist, die mit den Augen gelesenen Wörter zusätzlich mit den Lippen stumm zu artikulieren. Das Vokalisieren erzeuge nur eine Bremsung der Lesegeschwindigkeit, da unsere Sprechwerkzeuge (d.h. unsere Körperteile, mit Hilfe derer wir artikulieren: Lippen, Zunge, Stimmbänder) langsamer sind als das Erfassen mit Auge und Geist. 8. Schön 1993, 86. 232

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Ausschaltung des körperlichen Miterlebens abzielte: Lesen wird zum »Körperverlust«, zum »Leseschlaf«9 – zu einer Abwesenheit körperlicher Erfahrung. Es heißt, in die fiktive Welt »eintauchen«, wenn man während einer Lektüre die Welt um sich herum – und meist auch seinen Körper – vergisst. Man wird »fortgerissen« bis hin zur Regungslosigkeit (vgl. Calvino). Was geschieht jedoch, wenn unter den Augen der Text anfängt, sich zu bewegen? Welche Folgen hat die veränderte Wahrnehmung von Computerpoesie für den »Körper« des Lesers? Wie lässt sich die Situation beschreiben, in der sich der Körper befindet, wenn er statt eines Buches die animierten Videogedichte von Melo e Castro liest oder sogar die Räume der virtuellen Textuniversen von Györi betritt? An welchen Orten finden überhaupt derartige Begegnungen mit literarischen Computertexten statt? Elektronische Texte können über einen PC zu Hause gelesen werden, sofern man sich (ähnlich einem Buch) die auf Diskette oder CD-ROM gespeicherten und vertriebenen Arbeiten erwirbt. Dann ähnelt die Lesesituation einer am Tisch sitzend ausgeübten Lektüre, die sich äußerlich jedoch nicht mehr von einer Arbeitslektüre, ja noch nicht einmal mehr von einem Arbeitsvorgang am Computer welcher Art auch immer unterscheidet10. Bei der historischen Betrachtung des Lesens wurde deutlich, dass sich die Körperhaltung zur kontemplativen Lektüre immer unter dem Vorzeichen der Bequemlichkeit, der Entspannung und der Ruhe verändert hat. Absicht war es, »eine kategoriale Trennung von Arbeit und Freizeit«11 herzustellen. Was aber passiert, wenn man mit demselben Apparat, an dem man in der Arbeitswelt Rechnungen, Statistiken, Bilanzen oder Texte aller Art herstellen kann, zugleich auch Abenteuerromane, Sachbücher oder Gedichte liest? Die Lesesituation unterscheidet sich äußerlich nicht mehr von den Bereichen Arbeit und Freizeit, da der Ort des Lesens von der Ap-

9. Schön 1993, 96. 10. Selbst wenn man die Entwicklung und Benutzung des Laptops als ein technisches Äquivalent zum transportablen Taschenbuch ansehen kann, das es erlaubt, den elektronischen Text auch auf dem Sofa, im Bett oder unterwegs zu lesen, ändert dies nichts an der Tatsache, dass diese Praxis wenig Gebrauch findet. Vermutlich deshalb, da der Computer auch für andere Tätigkeiten verwendet werden kann, die meist einer entspannenden (Freizeit-)Beschäftigung wie dem Lesen entgegenstehen oder ohnehin an größeren Maschinen mit größeren Displays praktiziert werden (Spiel). Auch scheint es wenig praktikabel zu sein, sich für die unterschiedlichen Tätigkeiten, die ein Computer ausführen kann, unterschiedliche Apparate (womöglich noch an unterschiedlichen Orten) bereitzuhalten. 11. Schön 1993, 77. 233

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paratur bestimmt wird. Zudem erfordert es die Apparatur, die Hände ständig für Dateneingaben bereitzuhalten. Der Computer kann nicht zwischen den Daten eines Arbeitsvorgangs und den Daten eines literarischen Lesevorgangs unterscheiden. Wir bedienen mit den Händen die Tastatur und sehen auf dem Monitor angezeigt, was dadurch geschieht. Grundsätzlich jedoch ist – wie Kittler schon für den Schreibvorgang bemerkte hat12 – unser Körper durch die Maschine vom Objekt getrennt. Kein Umblättern ist mehr als analoger Vorgang von den Händen notwendig auszuführen. Stattdessen verlangt der Computer andere Handgriffe, das Eingeben von Befehlen, das Starten und Schließen des Programms oder individuelle Befehle zur Ausführung interaktiver Handlungen während der Lektüre. Ein körperliches Ruhen als vormals »ideale« Voraussetzung für die kontemplative Lektüre eines Romans wird unmöglich. Selbstverständlich ist auch in der Buchlektüre der lesende Körper nicht vom aktiven Erfahren der (emotionalen) Geschehnisse des Gelesenen ausgeklammert. Insbesondere die Konzeptkunst weist sich durch eine Konzeptualisierung des Lesers aus, der »zum einen ein Konzept der Poetik [ist], das semantische, immateriale und dynamische Aspekte ästhetischer Prozesse personalisiert.« Andererseits weist Block auch darauf hin, dass »die ihm zugeschriebene Aktivität eben selbst konzeptuell in dem Sinne [ist], daß sie auf mentale, ›innerpsychische‹ Ereignisse gestützt, und das heißt, daß sie unkörperlich gefaßt wird.«13 Die Erfahrung des Geschriebenen ist daher eine weitgehend vergeistigte. Ein Großteil der Computerdichtung hat ihren Ort nicht im Privaten, wird also nicht am eigenen PC gelesen (noch nicht, aufgrund mangelnder technischer Voraussetzungen oder aus Prinzip nicht), sondern im Rahmen einer musealen Präsentation, z.B. während einer Ausstellung. Und dort verändert sich die körperliche Rezeptionshaltung tief greifend. In einer Ausstellung geht man in den meisten Fällen (aufrecht stehend) an den zu lesenden Objekten vorbei und ist u.U. mit der Aufforderung zur interaktiven Mitbeteiligung konfrontiert. Lesen heißt hier Wahrnehmen im Vorbeigehen, Aufschnappen eines Ausschnitts, in dem Bewusstsein, dass man ohnehin nur einen Teil des Ganzen sehen kann. Während man ein Buch zu sich holt, um es zu lesen, geht man zum Ort des elektronischen Objektes hin, um es dort zu lesen. Der Leser ist von Anfang an mit einer zeitlichen Begrenzung konfrontiert, die es nicht erlaubt, das Geschriebene wegzulegen und zu einer ande-

12. »Denn dass die Bewegung von Schriften bis vor hundertdreissig Jahren eine Bewegung der Hände war, überlebt nur noch im Namen der Kursivschriften. […] Damit hat die Schreibmaschine […] gründlich aufgeräumt. Seitdem ist das Schreiben eines Buchstaben nur mehr das Anschlagen einer Taste.« Kittler 2000a, 51. 13. Block 1999b, 249. 234

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ren Zeit, vielleicht an einem anderen Ort, weiterzulesen. Auch das Lesen eines Buchs bedarf selbstredend der Zeit, die Limitierung wird jedoch nicht vom Buch selbst vorgeschrieben. In der Computerdichtung aber kann die zeitliche Begrenzung aus einer konzeptionellen Absicht des Dichters erfolgen.14 Das Lektüreereignis elektronischer Literatur innerhalb musealer Ausstellungen findet hier und jetzt statt, ist gebunden an einen Ort und an die Anwesenheit des lesenden Körpers. Die Lektüre ist im doppelten Sinne eine zunächst unbekannte, da man in den meisten Fällen nicht weiß, was innerhalb der Ausstellung auf den Leser wartet. Interaktive Arbeiten riskieren nicht selten, langweilig zu sein, weil sie auf einen geduldigen und mutigen Rezipient angewiesen sind, der auch zur wiederholten Lektüre bereit ist, ohne vorzeitig zu verzagen. Das gedruckte Buch dagegen suggeriert einen abgeschlossenen, einen »fertigen« Text. Eine beharrliche Geduld in dem Sinne, wie sie interaktive Kunst dem Rezipient abverlangt, ist nicht notwendig.15 Aus dem Bestreben nach einer möglichst großen Passivität und Stillstellung des Körpers ist ein Verlangen nach einer möglichst hohen Aktivität und Mitbeteiligung geworden.16 Der Ort der Computerpoesie verhindert sogar das Einstellen bzw. Herstellen einer kontemplativen Ruhe, wie sie für die Lektüre gedruckter Poesie in der »archaischen Stille des Buches«17 bis dahin kennzeichnend war. Je nach Dispositiv lässt sich eine unterschiedliche Einbeziehung des Körpers ausmachen, die wiederum eine unterschiedliche Wahrnehmung hervorruft. Ein Betrachter vor einem Videobildschirm, auf dem ein Videogedicht zu sehen ist, kann in einer bestimmten Distanz zu dem Objekt stehen bleiben und sich entscheiden, wie weit er auf den Bildschirm zugehen und sich damit dem Objekt nähern will. Der Benutzer einer interaktiven Textinstallation dagegen befindet sich im Inneren des Objekts selbst und wird zum Teil des elektronischen Tex-

14. Siehe zum temporalen Aspekt von Buch und elektronischen Medien auch Ryan 2001, 216-217. 15. Selbstredend verlangen auch Buchtexte ein Sich-Einlassen des Lesers auf etwas Unbekanntes und es gibt keine Garantie, dass der Leser nicht vorzeitig die Lektüre abbricht. Denn auch Buchtexte sind mitunter langweilig und erscheinen uns unfertig, weil sie z.B. Defizite in der narrativen Logik aufweisen. 16. Bei der interaktiven Medieninstallation The Legible City von Jeffrey Shaw ist der Körper sogar mit Muskelkraft gefordert. Denn nur durch das kräftige Treten in die Pedale des Interface-Fahrrads kann er sich in der simulierten Textlandschaft fortbewegen. Paradox ist hier die Kluft zwischen der einerseits notwendigen elementaren Kraftanstrengung für die Bewegung innerhalb einer andererseits virtuell erzeugten Stadtlandschaft. 17. Benjamin 1991, Bd. IV.1, 103. 235

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tes. Zudem findet die Lektüre elektronischer Literatur meist im Dunkeln statt. Es ist nicht erforderlich, das zu lesende Objekt so gut wie möglich auszuleuchten, wie dies noch Calvino zur Lektüre seines Romans empfohlen hat. Die Lektüreobjekte, ob Video, Bildschirm oder Holographie leuchten von selbst und sind erst im Dunkeln adäquat wahrzunehmen.18 Eduardo Kacs Hologedichte verlangen vom Rezipienten die Bewegung des Körpers, da sie ohne sie nicht existieren. Denn je nach Standpunkt und Blickrichtung, Körperdrehung und Abstand zum Objekt verändert sich auch das zu Sehende, indem es überhaupt erst sichtbar wird und anderes unsichtbar. Das Gedicht selbst weist den Körper an, sich zu beteiligen und in der Bewegung die Lektüre zu erfahren. Wie Friedrich Block anmerkt, bedeutet angesichts dieser bewegten Texte »[ä]sthetische Interaktivität […] programmatisch und strukturell also in erster Linie eine Konzeptualisierung des Rezipienten«19. Dabei wird der neue Leser nicht nur als ein »vergeistigte[r] Rezipient«20 entworfen, sondern in seiner ganzen Körperlichkeit erfasst. Der Leser der Hologramme muss seinen Körper einsetzen, den Raum der Präsentation abgehen, um Texte durch Bewegung physisch zu erfahren. Indem die Existenz der Buchstaben an den Standpunkt des Lesers und seine Wahrnehmung gekoppelt ist, wird sein Körper selbst Teil der Verweisungsstruktur der Wörter. Was der Leser liest, sind stets nur Fragmente, die sich in der Bewegung zu immer wieder anderen Assoziationen und dadurch auch zu anderen Bedeutungskonstellationen reihen lassen. Die Wörter haben »keinen« Ort und »einen« ganz bestimmten zugleich. Sie haben keinen definierten Ort wie Buchstaben auf der Papierseite und sind dennoch nur an einem ganz bestimmten Ort zu lesen, nämlich dem Standpunkt des Betrachters – am Ort des lesenden Körpers. Verlässt dieser ihn, verschwinden auch die Wörter. Die visionären Pläne des VR-Künstlers Györi setzen auf eine totale Einbeziehung des gesamten Körpers im Vorgang der Rezeption. Seine in Zusammenarbeit mit der Gruppe TEVAT entwickelten virtuellen Systeme generieren virtuelle Texte, die mit dem ganzen Körper (s. Abb. 26) sinnlich erfahrbar werden. Györi möchte seine Kunst, die im virtuellen Raum entsteht, auch dort erfahrbar machen, ohne Übertragung der »digitalen Phänomene« in die Realität:

18. Vgl. auch Fehr, Krümmel und Müller 1995. Für Holographie gilt dies insofern, da sie von hinten angestrahlt werden muss. Für den Betrachter scheinen die sichtbaren Zeichen »von selbst« zu leuchten. 19. Block 1999a, 204. Zur Verschiebung der Rolle des Rezipienten, die sich »historisch von einem vergeistigten zu einem verkörperten Konzept wandelt«, vgl. auch Block 1999c, 258-261. 20. Block 1999a, 204. 236

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Abbildung 26: Györi mit Interfaces in einer simulierten Textlandschaft, aus: Györi 1998, 3

237

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»All transpositions of real events into virtual space, or of digital entities into real space, imply a waste of the digital medium – if we are referring to poetic or aesthetic functions. The former enter the virtual space with the typical restrictions of physical reality or with well-known codifications; the latter lose the distinctive characteristics stamped on them as ›products‹ of the original medium as they leave it […].«21 Die durch die Techniken der neuen Medien realisierte Cyberkunst entwickelt sich zunehmend in Richtung einer Mensch-MaschineKommunikation. Dabei strebt Györi, im Vergleich zu seinen Dichterkollegen, das wohl derzeit ambitionierteste aber auch fragwürdigste Projekt an. Seiner Auffassung nach stagniere die heute genutzte Mensch-Maschine-Interaktion in einseitigen Prozessen, die vor allem mehr von ihren technischen Beschränkungen als von ihren technischen Möglichkeiten gekennzeichnet seien. Es handele sich dabei in beinahe allen Fällen um die Verbindung zweidimensionaler Interfaces (z.B. windowsbasierte graphische Benutzeroberflächen) und Datenstrukturen nach dem Modell des Hypertextes. Eine Interaktion finde dann meist mittels Maus (Cursor) statt, die es ermögliche, innerhalb von Datenbanken Informationen aller Art (Texte, Bilder und Klänge) zu erhalten und diese zu manipulieren. »Ce nouveau processus de communication sera consolidé par le fait que la structure des données mises en œuvre dans ces êtres artificiels sera fort semblable à la structure réticulée qui facilite les processus cérébraux humains. C’est-à-dire que le processus de communication qui se développera au niveau artistique à partir de la nouvelle relation homme-machine que nous esquissons ici sera capable de mettre en œuvre des événements qui sont également la conséquence de l’activité des êtres artificiels, à partir des phénomènes les plus divers: événements verbaux, sonores, thermiques, tactiles, visuels, olfactifs, etc., de manière imbriquée et cohérente.«22 Györi versucht, die bestehenden Hypermedienprozesse durch eine Koppelung der VR-Technik mit Systemen der künstlichen Intelligenz zu ersetzen. Die virtuellen Textwelten hätten so die Fähigkeit, höheres intelligentes Verhalten zu integrieren, wie das Erkennen semantischer Strukturen oder unterschiedlicher Sprachen. Ein bidirektionaler Austausch, eine Art von »ausgeglichenem« Verhalten zwischen einem menschlichen Sender-Empfänger einerseits und einem künstlichen Sender-Empfänger andererseits, wäre die Folge. Dieser Vorstellung liegt die Idee zugrunde, dass innerhalb einer durch visuelle VR-Simulationen erstellten 3-D-Welt der menschliche Körper in seiner physikalischen Gesamtheit repräsentiert werden und das KI-System mit ihm

21. Györi 1998, 3. 22. Györi 2001, 128. 238

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auf gleicher Ebene interagieren kann. Zweifelsohne betritt Györi mit diesem Projekt ein problematisches Gebiet, das sich in der Frage nach der (Un-)Möglichkeit der vollständigen Repräsentation des menschlichen Körpers durch den Computer bzw. einer Künstlichen Intelligenz umreißen lässt. Dazu kommt, dass Interfaces zwischen Menschen und Maschinen – und anders ist eine Kommunikation beider Seiten nicht denkbar – notwendigerweise auch immer das Problem der Selektion mit sich bringen, das wiederum die Möglichkeit zu unterschiedlichen Machtverhältnissen nicht ausschließt.23 Dennoch ist die Idee der Verbindung von VR- mit KI-Systemen auf technologischer Ebene denkbar und in eine besondere Entwicklung der Interfacetechnologie einzuordnen, die bereits jetzt schon den Benutzer in eine virtuelle Welt zu locken versteht, ohne dass er sich oftmals des Wechsels von der Realität zur Simulation bewusst wäre.24 Doch selbst wenn, wie in den meisten Beispielen der Computerpoesie, derartige virtuelle Welten keine große Rolle spielen, ist der Ort des Lesers nicht mehr eindeutig zu bestimmen. Rosenberg hat sich diesem Problem anhand der Struktur des Hypertexts genähert. Die in einem Hypertext »aufgeschlagene« Lexia bildet den momentanen Mittelpunkt und Bezugspunkt für den Leser, von wo aus er weitergehen kann. Wenn Rosenberg in seinen Hypertextgedichten jedoch mehrere Lexia gleichzeitig präsentiert, wo befindet sich dann der Leser? Kacs Hologramm Maybe Then, If Only As (1993) enthält nicht zufällig die Wörter »WHERE / ARE / WE?« und Rosenbergs Intergrams (1993) die Frage: »Where are you?«. In der »selbstreflexiven Frage nach dem Hier und Jetzt« der Benutzer, sieht Block ein grundsätzliches (Des-)Orientierungsproblem des interaktiven Lesers von Computerpoesie.25 Der Leser bleibt mit der grundsätzlichen Frage nach seinem physikalischen (körperlichen) Ort zurück, der zugleich auch der Ort seines Standpunkts (ich) gegenüber dem Text ist. Gerade die neuen Medien, insbesondere das Internet und der virtuelle Raum (VR-System), werden mit einer Auflösung des Körpers und Verlagerung sinnlicher Erfahrungen in einen virtuellen Raum ohne physische (z.B. schmerzliche) Widerstände und Risiken (z.B. Tod) in Verbindung gebracht. Die meisten Computerspiele offerieren dem Benutzer mehrere Leben, die bei einer Missachtung der Regeln auch nur symbolisch vergehen, da das Spiel jederzeit neu gestartet werden kann. Für einen Großteil der heutigen Computeranwendungen ist der

23. Siehe zur Problematik der Selektion auch Wirth und Schweiger 1999. 24. Insbesondere Computerspiele warten auf technischer Seite mit einer nahezu perfekten Immersion auf, die es oft ihren Benutzern einfach macht, den realen Ort zu vergessen. 25. Block 1999b, 263. 239

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Körper nach wie vor stillgestellt, indem der Benutzer unbeweglich vor dem Bildschirm sitzt. Block bemerkt hierzu: »Die Stillstellung des Körpers hört im Gebrauch der Hypermedien mitnichten auf […]: Immer raffinierter werden die Einrichtungen des Vergessens. Die Lesemöbel des 18. Jahrhunderts haben sich in die ›Bioadapter‹ der Cybergames gewandelt.«26 Medienkunst bzw. elektronische Poesie reagiert, wie die Beispiele hier verdeutlichen, auf diese Entwicklung selbstreflexiv und in entgegengesetzter Richtung, indem sie den Körper in die Konzeption der Arbeit mit einbezieht und auf genau diesen Schwellenwechsel von Realität und Virtualität hinweist. Möglich wird dieser Wechsel durch die Interaktion des Lesers mit dem elektronischen Gedicht durch die Maschine.

Prozessuales Lesen Die neue Möglichkeit zur Interaktion modifiziert die Rolle des Lesers in fundamentaler Weise.27 »Ergodische« Texte sind eine der komplexesten Varianten der interaktiven Literatur, da sie nicht nur auf den Input vonseiten des Benutzers reagieren, sondern ebenso noch über ein Design verfügen, das es ihnen ermöglicht, sich selbst (ohne Daten von außen) zu verändern. Der von der Physik entliehene Begriff ergodic wurde von Espen Aarseth näher definiert. Es handelt sich dabei um Computertexte, deren Struktur ein Textprotokoll inhärent ist, das ihnen eine eigenständige Transformation erlaubt. Dieses Protokoll besteht aus einer Feedbackschleife, die den Text in die Lage versetzt, sich selbst zu modifizieren. Die Folge sind unterschiedliche Zeichensequenzen in unterschiedlichen Lektüren. Das »ergodic design« verwandelt den Text in eine Matrix, die eine Vielzahl von Texten generieren kann, wobei jeder neue Text von seinem Vorgänger bestimmt wird.28 Der Leser ist einem Text ausgesetzt, der sich permanent verändert. Indem das Werk seine Prozesshaftigkeit visualisiert, führt sie zugleich dem Leser dessen ebenso prozessuale Lektüre vor Augen. Hier ist der Rezipient weniger als Co-Autor zu verstehen denn als Beobachter seiner eigenen Lektüre. Um den Text kollaborativ weiterschreiben zu können, würden ihm die

26. Block 1999b, 275. 27. Ryan hat sich innerhalb ihrer Studie Narrative as Virtual Reality vor allem mit einer Klassifizierung unterschiedlicher Interaktionsformen im elektronischen Text auseinandergesetzt und ihre Funktionen und Effekte untersucht. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass es eine Vielzahl von Interaktionsformen gibt, die unterschiedliche Eigenschaften aufweisen und daher Texte ebenso unterschiedlich modifizieren. Ryan 2001, besonders 204-224. 28. Vgl. Aarseth 1997, 1-9. Zur Erläuterung des ergodischen Textdesigns siehe auch Ryan 2001, 206-207 240

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nötigen Kenntnisse über die jeweilige Programmstruktur fehlen, würde ihm der Zugriff auf den Programmcode ohnehin verwehrt bleiben. Bei der Analyse von Computerpoesie tritt eher eine Konzentration auf das Spiel der Textwahrnehmung in den Vordergrund als eine Weiterführung der Produktion durch den Leser als zweiten Autor. Der Traum vom multiauktorialen literarischen Text bleibt auch schon deshalb eine Illusion, da das Computerprogramm den Leser meist nur auf einige wenige Entscheidungsmöglichkeiten festlegt. Der interaktive Text unterläuft die traditionellen Grenzen von »Drinnen« und »Draußen« wie die Beispiele der französischen Dichter Bootz (Passage), Balpe (Stances) und Dutey (Voies de Faits) gezeigt haben. Der Leser ist außerhalb des Textes, den er liest und zugleich innerhalb, da er sich lesen sieht.29 So wie die Schriftzeichen zwischen einem anwesenden Zustand und einem abwesenden changieren, so wechselt auch der Benutzer im Akt der Lektüre von der Position außerhalb zu der innerhalb des Textes. Einmal liest er den Text und einmal liest er sich lesen. Die Bewegung der Zeichen wird so zum Motor ihrer eigenen De- und Konstruktion.30 In der interaktiven Textinstallation ist der Ort des Lesers sogar in der Mitte des Dispositivs selbst. Durch die Verdoppelung der realen Welt hin zu einer virtuellen befindet sich der Rezipient permanent in der Spannung zwischen »innen« und »außen« – er ist Teil der Realität als Museumsbesucher, aber auch Teil der Installation mit ihren eigenen, interaktiven Regeln. Er nimmt teil, sieht sich teilnehmen und wird zugleich von anderen Besuchern als Teilnehmer wahrgenommen. Es besteht die Möglichkeit, selbst als interaktiver Kommunikationspartner die Textinstallation zu erforschen oder einen anderen Benutzer bei dessen Erfahrungen mit dem Objekt zu beobachten. Die Lektüre literarischer Texte ist hier nicht mehr ausschließlich eine Privatangelegenheit, sondern findet im öffentlichen Raum statt. Der Benutzer einer Installation wird bei seinen Erfahrungen von anderen Ausstellungsbesuchern beobachtet, was ihn dazu auffordern kann, alles das zu beschreiben und zu kommentieren, was er sieht. Die um ihn stehenden Besucher dagegen sehen zu, stehen außerhalb und lassen beobachten. Der Betrachter nimmt unweigerlich die Haltung des Beobachters ein, der jedes Mal von neuem auf eine unbekannte Welt stößt, in der er erst lernen muss, sich zurechtzufinden. Die Lesesituation ist stets überraschend, da der Benutzer die Regeln der Installation in den seltensten Fällen (und dann auch nur nach mehrmaliger Wie-

29. Vgl. auch Bootzs Konzeption der »double lecture«, wonach der Leser den elektronischen Text liest und zugleich sich selbst in der Interaktion mit dem Computer lesen sieht, 2001, 7. Siehe hierzu auch Kap. Computerpoesie/III, 2. 30. Siehe hierzu auch Gillot 1999, 179. 241

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derholung) kennen kann und folglich die meisten Reaktionsmöglichkeiten quasi »blind« wählt. Die ihn umgebende und seinen lesenden Körper mit einschließende Welt ist unbekannt, kann jedoch von ihm teilweise konstituiert werden, und zwar von einem internen statt externen Standpunkt: »L’art ancien était fait pour être vu de l’extérieur. Le nouvel art est fait pour être construit de l’intérieur. Ou bien vous êtes à l’intérieur du réseau, ou bien vous n’êtes nulle part. Et si vous êtes à l’intérieur du réseau, vous êtes partout.«31 »Etre partout« bedeutet hier, sich in der anderen, virtuellen Welt zu verlieren, indem die Technik eine immersive Wahrnehmung mit dem gesamten Körper ermöglicht. Interaktive Medienkunst versucht, hinter der Bildschirmoberfläche eine virtuelle Welt zu erzeugen, gegenüber der der Benutzer sowohl »innen« als auch »außen« sein kann. Die Paradoxie ist dabei nur »zeitlich aufzulösen […], indem die Grenze zwischen ›virtuell‹ und ›real‹ gekreuzt wird.«32 Dies ist jedoch nur möglich durch die besondere Beschaffenheit des elektronischen Textes, nämlich durch seine immateriale Materialität.

2. Modalitäten der Computerpoesie Immateriale Materialität Die Frage nach der Materialität der Computerpoesie erweist sich als schwierig und ist für die unterschiedlichen Ebenen des elektronischen Texts auch jeweils unterschiedlich zu beantworten. Denn das Verhältnis zwischen Materialität und Immaterialität ist ein paradoxes, das von der Doppeldeutigkeit des Materialbegriffs geprägt ist. Die Materialität der Schrift ist, in Differenz zu ihrer semantischen Seite, die graphisch-visuelle Gestalt der Zeichen. Mit dem Computer tritt jedoch noch eine weitere Unterscheidungsebene hinzu, nämlich die der realen Materialität, die man im wörtlichen Sinne begreifen kann, die man als »wirklich« wahrnimmt und die sich von der im Computer existierenden, simulierten Wirklichkeit unterscheidet.33 Die simulierte Wirklichkeit ist im materialen Sinne immaterial, da sie streng genommen nur auf der Basis von Schaltungszuständen existiert. Wie aus Trotz zeigen sich simulierte Wörter auf dem Bildschirm als dreidimensionale, gegenständliche Objekte. Sie schweben im Raum als plastische Buch-

31. Ascott zitiert nach Balpe 2000, 238. 32. Block 1999b, 271-272. 33. Zur Problematik des paradoxen Materialbegriffs siehe auch Block 1999b, 268. 242

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staben und können dennoch nicht als Gegenstände mit den Händen gefasst werden. Die Ausstellung Les Immatériaux machte 1985 diese Paradoxie zum zentralen Gegenstand.34 Ihre maßgeblich von Lyotard entworfene Konzeption, die besonders für die Computerdichtung weitreichende Folgen hatte, machte die, wie Weibel zusammenfasst, »Exposition des Wissens in den höchstentwickelten Gesellschaften«35 zu ihrem Gegenstand. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass durch die modernen (Natur-)Wissenschaften gerade das als »real« bezeichnet wird, was sich nur noch durch technische Apparaturen sichtbar machen lässt. Anders formuliert: Das Reale ist nicht mehr unbedingt das, was wir sehen, was wir durch unsere Sinnesorgane wahrnehmen können.36 Tilman Baumgärtel weist darauf hin, dass die Geschichte der »Immaterialien« weit vor der heutigen Netzkunst begann. Gemeint ist damit eine Kunstform, die mit den Mitteln der Telekommunikation arbeitet und sich eher in der Auslösung prozesshafter Aktionen als der Herstellung von (materialen) Objekten ausdrückt. Seine medienhistorischen Untersuchungen belegen, dass Telekunst-Aktionen bereits seit einigen Jahrzehnten existieren, jedoch »keinen Eingang in den Kanon der Kunstgeschichte gefunden haben«, da sie »meistens keine Spuren hinterlassen«37 haben: »Telefonkonzerte, Faxperformances und Satellitenkonferenzen eignen sich kaum zur Aufzeichnung und ließen sich nicht zu auratischen Unikaten verarbeiten.«38 Die Anfänge erkennt Baumgärtel dabei im russischen Konstruktivismus bzw. Suprematismus und den italienischen Futuristen, deren Teleperformances von der Fluxus-Bewegung abgelöst und von Mail-Art, Konzeptkunst, Closed Circuit Television, Satellitenskulpturen und schließlich Computernetzwerkkunst fortgesetzt wurden. Die Einbeziehung technischer Medien in die Produktion von Kunst ist daher nicht erst im Zeitalter des Computers entstanden, hat jedoch dort ihren vorläufigen Höhepunkt in der Möglichkeit zu einer paradoxen »Virtuellen Realität« (immaterialen Materialität) erreicht. Die Ausstellung Les Immatériaux versuchte in der gesamten Konzeption den »Widerstand des Körpers (und der damit verbundenen Begriffe wie Ich, Hier und Jetzt) gegen seine De-Materialisierung im medialisierten Leben bzw. dessen Auflösung darzustellen«39. Die Aus-

34. Zur Ausstellung siehe Weibel 1985, 24-29 und auch Vuillemin 1990, 252258. 35. 36. 37. 38. 39.

Weibel 1985, 24. Vgl. hierzu auch Kap. Computerpoesie/II, 1. Vgl. Weibel 1985, 25. Baumgärtel 1997, 136. Baumgärtel 1997, 136. Weibel 1985, 25. 243

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stellung bestand aus mehreren, in Zellen eingeteilte Zonen, die nicht in einem festgelegten Ausstellungsweg verbunden, sondern von Passagen, Schleifen und Kreuzungen geprägt waren. Dabei oblag es dem Besucher, welchen Weg er einschlagen wollte.40 Zeit spielte eine ganz wesentliche Rolle, da sie für eine immateriale Techno-Kunst, die auf die Physikalität des materialen Raums weitgehend verzichtet, elementar ist. Der Besucher bekam am Eingang der Ausstellung einen Kopfhörer, durch den verschiedene Radiosender je nach Zone Mitteilungen unterschiedlichster Art verbreiteten. Der um Orientierung bemühte Besucher musste sich, neben seinen Augen, auch vor allem auf sein Gehör verlassen, um mehr über die ausgestellten Objekte zu erfahren. Zeit wurde nicht nur durch den fehlenden linearen Ausstellungsweg thematisiert, sondern auch durch die Einbeziehung des Hörens als Wegweiser durch die Ausstellung. Die Hörtexte entstammten Äußerungen unterschiedlicher Autoren, u.a. Baudrillard, Kleist, Borges oder Barthes: »Das Geschriebene wird also gesprochen. Sogar die Materialität von Papier und Typographie etc. wird aufgegeben. Wenn man schon etwas liest, dann sind es projizierte Buchstaben, denn die metallischen Vorhänge dienen auch als Semi-Leinwände, auf die Textschleifen projiziert werden können.«41 Die Dramaturgie verfolgte nicht von ungefähr den Weg vom Körper zur Sprache, d.h. hier vom Material zum Immaterial, zur Immaterialität. Der Besucher, so Weibel, lernte dabei die »Ungewissheit zu akzeptieren, welche die Entwicklung der Techno-Wissenschaft in unsere Beziehung zur materiellen Welt gebracht hat.«42 Denn die Welt der Mikrochips entziehe sich zwar unserer Wahrnehmung, unserer (Be-) Greifbarkeit, »wird aber andererseits zur Nachricht, zur Leinwand voll Ziffern, die uns Zugang zu neuen Realitäten öffnet, die uns anders ungreifbar und unerreichbar blieben.«43 Hierzu gehören auch die Texträume der Computerpoesie, die greifbar oder manipulierbar sind. Ihre Buchstaben tanzen vor unseren Augen, weil die Dynamisierung ihrer »Materialität« zugleich auf ihrer Immaterialität beruht. Hans Dieter Huber beobachtet jedoch, dass das, »was man als immateriell oder virtuell bezeichnet, […] auf einer spezifischen Struktur von materiellen Bedingungen« beruht, die jedoch

40. Weibel weist darauf hin, dass die Exponate nicht auf dem Boden standen, sondern in der Luft schwebten, was den Eindruck der Immaterialität zusammen mit dem inszenierten Halbdunkel und der Farbe Grau noch verstärkte. Weibel 1985, 27. 41. Weibel 1985, 28. 42. Weibel 1985, 29. 43. Weibel 1985, 29. 244

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»ausgeblendet bleiben«44. Am Beispiel der Netzkunst zeichnet er die Materialschichten nach, die zur Realisierung von Netzprojekten passiert werden müssen: das Betriebssystem, die Oberflächensprache HTML, der Browser, die Browser-Software, der Client-Rechner, der Provider-Server, der geographische Ort des Computers inklusive Tisch, Platte, Lampe und Kabel bis hin zu den sozioökonomischen Bedingungen wie etwa die Anschaffungskosten eines Computers oder die Telefongebühren des Internets. Dennoch wird das Wesen der Medienkunst, insbesondere der Kunst im Internet als immaterial bezeichnet, was Huber aus der ästhetischen Tradition der Kunst ableitet: »Es existiert eine alte Tradition von der notwendigen Auslöschung und Vertilgung der Materialität durch den Geist, die bis in das Mittelalter zu Augustinus zurückreicht. […] Materialitäten müssen ausgeblendet werden, damit Bedeutung entstehen kann. Referenz auf etwas, was nicht vorhanden ist, kann nur entstehen durch Absehung von ihren materiellen Bedingungen.«45 Balpe stellt fest, dass Medienkunst jedoch bemüht ist, mit hohem technischem Aufwand aufzutreten, um sich in den Dispositiven zu »materialisieren«: »[L]’art numérique éprouve souvent le besoin de donner de la chair à son immatériel. Ses propositions s’incarnent dans des installations plus ou moins complexes.«46 Sie ist bestrebt, ihre materiale Seite in den Vordergrund zu rücken, als würde sie von der Immaterialität ihrer eigenen Produkte, den visuellen und ungreifbaren virtuellen Welten ständig bedroht werden. Sie macht ihre eigene Immaterialität zum Thema, indem sie auf ihre materiale Bedingtheit verweist. »In der Kunsterfahrung wird die mediale Störung, die sonst ausgeblendet gehört, um Bedeutung zu prozessieren, wieder in die Bedeutungskonstitution des Werkes als reentry, als Wiedereintritt des bereits Unterschiedenen in die Unterscheidung selbst, thematisiert.«47 Huber trennt daher zwei unterschiedliche Referenzebenen, die Fremdreferenz und die Selbstreferenz. Medienkunst könne zum einen auf Dinge verweisen, die nicht auf dem Bildschirm, der Projektionsleinwand oder dem Computermonitor dargestellt werden können. Sie referiere auf etwas, »was gar nicht anwesend ist, was nur symbolisch,

44. Huber 1998, 39. 45. Huber 1998, 50. 46. Balpe 2000, 227. 47. Huber 1998, 50. Huber bezieht sich hier immer auf das Beispiel Netzkunst, wenngleich seine Ergebnisse ebenso für die Medienkunst im Allgemeinen gelten. 245

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durch Zeichen, dargestellt werden kann«48. In ihrer Fremdreferenz weise sie über den »screen« hinaus in die Welt. Andererseits könne Medienkunst nur mit ihren eigenen Mitteln Fremdreferenz erzeugen und verweise deshalb, im Gegenzug, auch auf sich selbst. Sie mache ihre eigene materiale Bedingtheit selbstreferentiell zum Thema. Bezogen auf das Beispiel der Netzkunst fasst Huber zusammen: »Wendet der User seine Aufmerksamkeit auf das Dargestellte, blickt er durch den screen wie durch ein Fenster, einen transparenten Stellvertreter oder Platzhalter, auf die Welt. Wendet er seine Aufmerksamkeit dagegen auf die Oberfläche des Netzkunstwerkes selbst, auf die Frage, wie diese Effekte gemacht sind […] so blickt er auf die Materialität des Mediums, auf seine Präsenz und Anwesenheit in der Gegenwart, an einem ganz bestimmten Ort, nämlich hier und jetzt. Die Selbstreferentialität der Netzkunst ist also immer mit einer Thematisierung ihrer eigenen Materialitäten verbunden.« 49 Aus diesem Grund handelt es sich bei dem besonderen Verhältnis von Materialität und Immaterialität in der Medienkunst um ein paradoxes Verhältnis. Das eine steht dem anderen konträr entgegen und beide sind dennoch – wie zwei Seiten derselben Münze – nicht unabhängig voneinander erfahrbar. Die Verweisung auf die eine Welt ist notwendigerweise mit Immaterialität verbunden, betrifft sie doch alles Abwesende, Ausgelöschte oder Ausgeblendete. Die Selbstreferentialität der Medienkunst ist dagegen an ihre unmittelbar anwesende Materialität gebunden und verweist deutlich auf den Prozess der Wahrnehmung. Medienkunstwerke bestehen aus »Oberflächen aus tatsächlich vorhandenen, hier und jetzt anwesenden Materialitäten«. Andererseits bleiben sie gleichzeitig »leere, transparente Platzhalter«50, da sie auf etwas Abwesendes verweisen. Eine der zentralen Thesen Flussers lautet, dass unsere Gesten auch die Weise beeinflussen, in der wir die Welt wahrnehmen. Elektronische Texte entstehen durch technische Apparate und können ohne deren Zwischenschaltung nicht sein, weil sie aus Punktelementen bestehen, die »ohne Apparat-Tasten weder sichtbar noch fassbar, noch begreifbar«51 sind. Folglich sind Computertexte von dieser Ungreifbarkeit. Sie sind immaterial, da ein elektronischer Text »nicht buchstabenweise material und damit untilgbar verzeitlicht wird«, wie Wolfgang

48. Huber 1998, 50. Die Definition von Zeichen und Form steht hier in der Tradition der Luhmann’schen Systemtheorie. 49. Huber 1998, 51. 50. Huber 1998, 51. Das Spiel zwischen An- und Abwesenheit im Text wird z.B. auf der Ebene der sichtbaren und unsichtbaren Wörter bzw. Buchstaben wiederholt. Vgl. auch Kap. Computerpoesie/III, 1. 51. Flusser 1999a, 25. 246

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Hagen bemerkt. Es gibt kein Verschreiben, kein Überschreiben, keine Spuren einer Textgenese, »[n]ichts vergilbt oder vergeht an diesem Immaterial«52. Und das ist bei allen hier besprochenen Dispositiven zur Sichtbarmachung elektronischer Poesie nachvollziehbar. Kacs Hologramme liegen nicht einmal auf einer Diskette bereit, die noch die scheinbar materiale Speicherung einer immaterialen Materialität von Bits und Bytes glauben macht. Die Buchstaben eines Hologramms befinden sich im immaterialen Raum, der sich visuell zwischen dem Aufnahmemedium (holographischer Film) und dem Betrachter verortet – quasi in der Luft (als »image aérienne« der Oulipiens). Videopoesie und animierte Multimediapoesie ist zeitlich komponiert und spult sich wie ein Film vor dem Auge ab. Als Rest bleibt nur ein Magnetband oder jene Diskette, auf deren verlässliche Speicherkapazität wir nur hoffen können. In der virtuellen Cyberpoesie von Györi begehen wir einen Textraum, der sowohl als Text als auch als Raum gänzlich von Maschinen produziert ist. Zu seiner Erfahrung sind wir ebenfalls ganz und gar auf technische Hilfe angewiesen. Inwiefern es sich hier um einen realen, materialen Text bzw. Raum handelt, ist schon allein deshalb schwierig zu beurteilen, da unsere Sinneserfahrungen selbst medial manipuliert und in ihrem Realitätsgehalt in fundamentaler Weise infrage gestellt werden. Am deutlichsten ist die Modifikation des traditionellen Textbegriffs an Poesiemaschinen zu beobachten. Nach Balpe erlaubt die (generative) Computerpoesie keine traditionelle Einschreibung in die Zeit mehr, da ihre Texte nicht wiederholt lesbar sind: »– ses textes n’ont pas de mémoire ou, plus exactement, s’ils en ont une, c’est une mémoire qui ne ressemble pas à celle à laquelle nous sommes accoutumés – ses textes ne peuvent pas être ›étudiés‹: ni version-princeps, ni variantes, ni source, ni manuscrits – ses textes n’ont aucune raison d’être conservé.«53 Nicht einmal der Autor kennt den Text, der vom Computer errechnet wird. Das, was der Autor erfassen und beeinflussen kann, ist die Virtualität des Textes in dem Sinne, dass es sich hier um eine programmierte Metasprache handelt, die nach bestimmten Regeln aktualisierte Texte hervorbringt.

52. Hagen 1989, 229 und 228. 53. Balpe 1997b, 82. 247

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Text-Spaltungen »Etymologisch bedeutet das Wort ›Text‹ ein Gewebe und das Wort ›Linie‹ einen Leinenfaden. Texte aber sind unfertige Gewebe: Sie bestehen aus Linien (der ›Kette‹) und werden nicht, wie fertige Gewebe, von vertikalen Fäden (dem ›Schuß‹) zusammengehalten. Die Literatur (das Universum der Texte) ist ein Halbfabrikat. Es verlangt nach Vollendung. […] Der Schreibende webt Fäden, die vom Empfänger aufgelesen sein wollen, um durchwoben zu werden. Erst dadurch gewinnt der Text Bedeutung.« 54 Aus Flussers Definition wird deutlich, dass einen Text mehr kennzeichnet als nur das materiale Vorhandensein von Buchstaben auf einer Oberfläche. Vielmehr handelt es sich um kein vollendetes, sondern ein »Halbfabrikat«, das erst im Akt der Rezeption, der Interaktion mit dem Leser, seine Vollendung erfährt.55 Die durchlässige Struktur von Signifikant und Signifikat, deren Relationen nie vollständig übersetzt werden können, bedeutet gleichzeitig, dass ein Text sich nie in der Ansammlung seiner alphabetischen Zeichen auf dem Papier erschöpft. Seine Beschaffenheit verlangt immer nach einem Leser, der unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten angehören kann, die in die Wahrnehmung eines Texts mit eingehen. Der Text ist ein Ideal, da er nie abgelöst von einer Rezeption betrachtet werden kann. Die Wahrnehmung eines jeden (nicht nur elektronischen) Textes ist immer nur teilweise möglich, da er unterschiedlich viele Lesarten hervorbringen kann. Insofern sprechen wir von »dem« Text, um ihn als Objekt zu fassen, obwohl es diesen einen Text nicht gibt, sondern nur in unterschiedlichen Lesarten angeeignete Texte.56 Der Unterschied ist der, dass man bislang von einer, in ihrer materialen Erscheinung als Ansammlung von Zeichen unbeweglichen, drucktechnisch fixierten Textvorlage ausgehen konnte, wenn man von »dem« Text sprach. Bei dynamischen Texten ändert sich dessen Konstitution auf mehr als einer Ebene. »Zweifellos hingegen ist, daß das Schreiben durch Computer die Einstellung des Schreibenden und des Empfängers zum Text radikal verändert. […] [D]er Text hat eine neue Art von Eigenleben gewon-

54. Flusser 1987a, 40. 55. Wenz erkennt hier eine Kooperation zwischen Autor und Leser, die den Texte erst zu einem fertigen Produkt macht, 1998, 160. 56. Arseth versteht den Text sogar wörtlich als Maschine, als »mechanical device for the production and consumption of verbal signs. Just as a film is useless without a projector and a screen, so a text must consist of a material medium as well as a collection of words. The machine, of course, is not complete without a third party, the (human) operator, and it is within this triad that the text takes place.« Arseth 1997, 21. 248

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nen.«57 Nach Flussers Auffassung digitalisiert der Computer als Universalmedium nicht nur die »alten« Medien, sondern konfrontiert sowohl den Autor als auch den Leser digitaler Kunst mit neuen Wahrnehmungssituationen. Das »Eigenleben« der Texte zeichnet sich vor allem durch die Eigenschaften aus, die die vorangegangenen Medien nicht oder nur eingeschränkt aufweisen konnten: Bewegung der Schrift, Interaktion und Hybridisierung unterschiedlicher Zustände.58 Durch die auffällige Betonung dieses Potentials der Computerpoesie innerhalb der einzelnen Arbeiten wird deutlich, was schon McLuhan und Kittler für jedes neue Medium behauptet haben, nämlich seine bewusste Abgrenzung von den alten Medien, ohne diese auszulöschen. Animierte Texte, das Spiel mit hybriden Zuständen der Objekte und die interaktive Mensch-Maschine-Kommunikation sind aufgrund der Binärcodierung des Computers möglich.59 Folglich ist »der« Text bereits auf unterster Ebene, der materialen, ein gespaltener und besteht einerseits aus dem Programm, das die Befehle ausführt, und andererseits aus der Visualisierung, der Anzeige auf der Bildschirmoberfläche.60 Da sich der Text nur auf diese Weise überhaupt zeigt, nämlich auf der Oberfläche des Monitors, entsteht der Eindruck, er wäre auch dort material vorhanden wie ein Drucktext auf dem Papier. Mit Bezug auf Benjamin weist Ryan darauf hin, dass »[i]n this respect electronic texts behave like movies: the hiding of the camera produces the illusion of a reality free of technology […], and the hiding of the computer code produces the illusion of a text directly inscribed on the screen.«61 Die Bewegungen der Buchstaben jedoch rufen uns in Erinnerung, dass der Text das Produkt einer Maschine ist. Sie wird durch einen anderen Text (Programm) angewiesen, alphabetische Buchstaben auf der Oberfläche zu generieren und zu animieren. Mit dem Begriff des Virtuellen lässt sich diese Spaltung näher beschreiben, weil Virtualität voraussetzt, dass es eine Metasprache gibt (Programmcode), die etwas anderes aktualisieren kann (Bildschirmanzeige). Der Begriff des Virtuellen ist uns aus zwei Kontexten bekannt. Zum einen bezeichnet er in der Optik ein im Spiegel reflektiertes (virtuelles) Bild, das dem Betrachter die »reale Realität aus einem anderen

57. Flusser, 1999b, 66. 58. Hierbei kann es sich um eine Hybridisierung von Literatur und Technik handeln, aber auch von Realem und Virtuellem. Gemeint ist hier die Eigenschaft des Computers, zwischen unterschiedlichen Zuständen hin- und herzuwechseln. 59. Zum Hybriden als Phänomen der neuen Medien siehe auch Schneider 1997. 60. Zur Frage nach dem Status des elektronischen Textes siehe auch Lusignan 1985, 209-212 und Vuillemin, 1990, 69-81 und 209-258. 61. Ryan 2001, 215. 249

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Blickwinkel«62 präsentiert. Hologramme bspw. erzeugen virtuelle Bilder. Die von einem Punkt des Gegenstandes ausgehenden Strahlen verlaufen dabei nach dem Durchgang durch einen Spiegel so, dass sich ihre gedachten rückwärtigen Verlängerungen in einem Punkt, dem »virtuellen Bildpunkt«, schneiden.63 Da es nicht der eigene, reale Blickpunkt des Betrachters ist, sondern ein Spiegelbild, handelt es sich um eine Täuschung, eine Illusion. Zum anderen geht der Begriff virtuell auf das vulgärlateinische Wort »virtualis« bzw. »virtus« zurück, das Kraft und Möglichkeit bedeutet. In der Schulphilosophie bezeichnet »virtuell« das, was der Möglichkeit nach existiert, aber noch nicht in die Tat umgesetzt ist. »Le virtuel tend à s’actualiser, sans être passé cependant à la concrétisation effective ou formelle.«64 Die Bedeutung von »virtuell« ist damit in die sinngemäße Nähe zu den Begriffen Produktivität, Offenheit und Variabilität gestellt. Virtualität wird hier im Sinne eines Potentials verstanden, dessen Gegensatz nicht das Reale, sondern das Aktuelle ist.65 Beim Übergang vom Virtuellen in ein Aktuelles handelt es sich um einen formgebenden Prozess, der die innovative Herstellung einer Idee oder Form impliziert. Das »Mögliche« dagegen, dessen Pendant das »Reale« ist, ist im Unterschied zum »Virtuellen« bereits in seiner Konstitution angelegt, jedoch noch im Werden begriffen. Im Akt der Realisierung ändert sich daher nichts an seiner Bestimmung oder Natur, wie Lévy erklärt: »Le possible est exactement comme le réel: il ne lui manque que l’existence.«66 Das Virtuelle aber ist eine unerschöpfliche Ressource, die unendlich viele Aktualisierungen hervorbringen kann. Die Transformation eines virtuellen in einen

62. Esposito 1998, 287. 63. Vgl. hierzu auch die Beschreibung der technischen Realisierung der Holopoesie von Kac in Kap. Computerpoesie/I, 1. 64. Lévy 1998, 13. Das klassische Beispiel für Virtualität stammt von Aristoteles und seiner Unterscheidung zwischen möglicher (»in potentia«) und aktueller (»in actu«) Existenz im Bild der Eiche und ihres Samenkorns, der Eichel. Vgl. hierzu auch die ausführliche Analyse der Bedeutungen von »virtuell« von Ryan 2001, 25-47 und Lévy 1998. 65. Der Begriff »virtuell« wird von Lévy in seiner Studie Qu’est-ce que le virtuel? ausführlich analysiert. Während Baudrillard das Virtuelle als Täuschung, als Illusion und kulturelle Katastrophe versteht und Virilio durch es beharrlich eine totale Implosion von Raum und Zeit auf die Menschheit zukommen sieht, entgegnet Lévy: »[L]e virtuel, rigoureusement défini, n’a que peu d’affinité avec le faux, l’illusoire ou l’imaginaire. Le virtuel n’est pas du tout l’opposé du réel. C’est au contraire un mode d’être fécond et puissant, qui creuse des puits de sens sous la platitude de la présence physique immédiate.« Lévy 1998, 10. Zum Begriff des »Virtuellen« vgl. auch Skrandies 2003 und Esposito 1998. 66. Lévy 1998, 14. 250

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aktuellen Zustand ist irreversibel. Während das Virtuelle zeit- und rauminvariant ist, ist das aktuell initiierte Ereignis dagegen in einen Kontext gesetzt und damit im Hier und Jetzt verankert. Das Virtuelle ist also gleichbedeutend mit einer abstrakten Struktur, einer Matrix, die durch eine Transformation ein konkretes Ereignis hervorbringen kann. Die Funktionsstruktur eines Textgenerators lässt sich mit dem abstrakten Modell von langue und parole vergleichen. Dort liegt eine ähnliche Struktur einer virtuellen Matrix (langue) vor, die im jeweiligen Sprechakt (parole) ihre Aktualisierung findet. Für Balpe entspricht der Programmcode, der einem Poesiegenerator zugrunde liegt, einer Metasprache. Die durch diese aktualisierten Einzeltexte auf dem Bildschirm wären dann den Variationen einer mündlichen Erzählung vergleichbar, deren Inhalt den Zuhören bekannt ist, deren konkrete Ausführungen sich jedoch je nach Zeit, Ort, Kontext der Situation und Verfassung des Erzählers unterscheiden können. »Derrière le texte affiché se lisent toujours tous les textes possibles, c’est-à-dire tous les autres textes. Ces textes ne sont que la concrétisation particulière d’une infinité de possibles. Derrière la littérature informatique, s’impose la présence de la littérarité.« 67 Das virtuelle Computerprogramm elektronischer Texte besteht aus Algorithmen (Anweisungen), die eine Vielzahl unterschiedlicher Texte aktualisieren können. Dieser Text ist unsichtbar, er ist virtuell und kann lediglich vom Computer entziffert werden. Ihm gegenüber steht der Text der Bildschirmanzeige, der in den meisten Fällen keinen Programmcode enthält, sondern alphabetische Zeichen oder Bilder.68 Ein elektronischer Text kann nicht eher auf dem Bildschirm erscheinen, bis der Leser den im virtuellen Text enthaltenen Generierungsprozess initiiert. Da also die im Code virtuell enthaltenen Texte für uns nicht sinnlich greifbar oder sichtbar sind, bedürfen sie eines Interpreten, einer zwischengeschalteten Maschine, die sie uns in ihrer Aktualisierung sichtbar macht.69 Da der virtuelle (immateriale) Text eine unendliche Vielzahl an aktualisierbaren Texten generieren kann, ist es eine absurde Idee, diese konkreten Materialisierungen auf Papier festzuhalten. Im Gegenteil, die Poesiemaschinen von Balpe spielen gerade auf konzeptioneller Ebene mit der Augenblicklichkeit und der Zufälligkeit der

67. Balpe 1997b, 85. Vgl. hierzu auch das Interview mit Balpe im Anhang an diese Studie. 68. Ausgenommen sei hier die Programmiersprachenlyrik, wie sie von Cramer beschrieben wird, da sie genau mit dieser Spaltung des Textes spielt und durch das Sichtbarmachen des Codes auf der Oberfläche auf den ansonsten unsichtbaren virtuellen und jedem Computertext zugrundeliegenden Codetext verweist. Cramer 2001. 69. Vgl. hierzu auch Kap. Modifikationen/I, 2. (Flusser). 251

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Textmaterialisierungen auf dem Bildschirm. Der Autor kann bei diesem Prozess lediglich Herr über die Struktur sein, indem er den Code programmiert. Die Aktualisierung der einzelnen Texte obliegt dem Zufall, der Zeit und der Interaktion mit dem Leser. Die Aktualisierung des konkreten Textes ist irreversibel. Das, was jetzt geschieht, wird nicht in derselben Weise noch einmal geschehen. Es kann irgendwann anders geschehen oder nie. Auch in diesem Sinne ähnelt elektronische, insbesondere generierte Literatur der Struktur der Sprache oder auch der Musik. Auch Letztere findet nur innerhalb eines bestimmten Zeitraumes statt, ist in dieser Weise nicht wiederholbar und auch nicht korrigierbar.70 Die Unwiederholbarkeit wird damit zum Gegenstand der sprachlichen Konzeption generativer Computerpoesie. Insofern handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Formen der Wiederholung. Einerseits ist besonders der interaktive Text auf die geduldige Wiederholung der Lektüre angewiesen71, da z.B. das Gedicht Passage (Bootz) erst nach mehreren Lektüren genügend Daten vom Leser erhalten hat, um eine Schlussversion zu generieren. Andererseits ist jede einzelne Lektüre selbst nicht wiederholbar, da der Text immer ein anderer ist. Wenn im Gedicht Stance der Leser dazu aufgefordert ist, den Generierungsprozess immer wieder zu initialisieren, dann erhält jedes einzelne der auf dem Bildschirm nacheinander erscheinenden Gedichte einen ephemeren, transitorischen Status. Da der Prozess also immer wieder von neuem beginnt, die Zeit zirkulär statt linear verläuft, wiederholt sich auch immer wieder die Gegenwart, die bei jeder neuen Produktion quasi erneuert wird. Eine Verlangsamung der Zeit bzw. eine Ausdehnung der Gegenwart ist die Folge.72 Die Wiederholung ist eigentlich eine paradoxe, weil auch sie irreversibel ist und im Grunde ein Original. Sie ist eine Wiederholung im annähernd Identischen. Die Herausbildung eines Gedächtnisses ist hier für die Wahrnehmung elementar, denn das, was geschieht, muss in Verbindung gesetzt werden, zu dem, was noch geschehen wird und zu dem, was schon geschehen ist. Der Leser ist der Einzige, der eine Einheit seiner unterschiedlichen Leseerfahrungen bilden und in ihnen einen Ausschnitt eines totalen Texts konstituieren kann. Die Augenblicklichkeit der aktualisierten Texte ist dauerhaft im virtuellen Projekt (Matrix/Struktur) eingeschrieben, aber flüchtig in der wahrnehmbaren Realisierung desselben Projekts (Aktualisierung). Computerpoesie gelingt auf diese Weise die unmögliche Verbindung zweier fundamentaler Widersprü-

70. Vgl. auch Balpe 2000, 231. 71. Vgl. auch Kap. Modifikationen/II, 1. (Der lesende Körper). 72. Vgl. auch Balpe 2000, 231. 252

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che: die dauerhafte Fixierung des Unbeweglichen und die beständige Beweglichkeit des Ephemeren.73 »Der Text ist nicht mehr, wie auf dem Papier, das Resultat eines kreativen Prozesses, sondern er ist selbst dieser Prozeß, er ist selbst ein Prozessieren von Informationen zu neuen Informationen.«74 Das Prozessieren von Informationen, das Flusser hier nennt, lässt sich auch mit dem Ereignis der Transformation des Virtuellen in ein Aktuelles beschreiben. Damit entspricht die Konstitution des poetischen Computertextes der seiner Wahrnehmung. Denn weiter oben haben wir gesehen, dass die Lektüre eines dynamischen Textes prozessual ist, da sich der Text in jedem Augenblick mit oder ohne das Eingreifen des Lesers verändern kann. Insofern kann bei Computertexten nicht mehr von dem einen Text gesprochen werden, sondern von vielen Texten, ob es sich, wie bei Balpe, um ein Computerprogramm handelt, das einen Generator anweist, Texte zu produzieren, oder um dynamische Texte als Kurzfilme, die aufgrund ihrer visuellen Transformationen neue Wörter, Bedeutungen und daher viele Texte bilden. Der »kalkulierende Dichter«, so Flusser, überlässt »die Sprachregeln und das Sprachrepertoire dem Zufallsspiel der Permutationen«75 Der Zufall wird, mehr noch als in der permutativen und kombinatorischen Poesie, zu einem der dominanten poetischen Prinzipien in der Computerpoesie. Und zwar aus dem Grund, dass im Prinzip der technischen Generierung die Aleatorik bereits auf elementarer Ebene eingeschrieben ist. Im Zufallsgedicht der Oulipiens wurde der poetische Text durch eine Metastruktur komponiert (unter Anwendung strikter Regeln) und schließlich auf Papier festgehalten. Der Roman La Vie Mode d’Emploi von George Perec wäre hierfür ein Beispiel. Der generierte Computertext jedoch weist als Eigenschaft Zufälligkeit auf, weil er als Produkt des Zufalls entsteht und wieder verlöscht, weil seine Existenz selbst vom Zufall bedingt ist. Nicht der einzelne, durch Zufall produzierte Text steht hier im Vordergrund, sondern der Zufall als Modus der maschinellen Erzeugung. Die aleatorische Textproduktion wird Ausdruck einer Ästhetik der Unendlichkeit und irreversiblen Augenblicklichkeit: »Ce qui m’intéresse, c’est l’infini! Non la durée, l’éternité; mais l’inépuisable: l’infini.«76

73. Balpe sieht in dieser Eigenschaft der Medienkunst ein »dépassement dialectique« zweier widersprüchlicher Zustände. Balpe 2000, 235. 74. Flusser 1999b, 63. 75. Flusser 1987a, 77. Vgl. auch Kap. Modifikationen/I, 3. 76. Balpe 1997b, 81. Vgl. auch Kap. Computerpoesie/I, 4. (generierte Poesie – Poesiemaschinen). 253

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»Poiesis« Die vorangehenden Überlegungen und Analysen haben gezeigt, dass der Einsatz des Computers zur Produktion von poetischen Texten zwei wesentliche Veränderungen bewirkt hat. Zum einen ist die Wahrnehmung bewegter Gedichte komplexer geworden, da sie durch die Technik der Interaktion den Leser selbst in einer körperlichen und temporalen Weise konzeptualisieren und er den Text durch sein Eingreifen verändern kann. Zum anderen basiert das elektronische Gedicht auf einem Programmcode, der die Bedingung der Möglichkeit für die besonderen Eigenschaften der Computerpoesie wie z.B. ihre Bewegung und ihre multimediale Codierung ist. Der Text ist damit nicht mehr der »eine«, auf Papier fixierte Text, sondern in seiner Konstitution in zwei Schichten, eine virtuelle und eine aktuelle, gespalten. Beide Modifikationen haben Auswirkungen auf die poetische Konzeption, da Computerpoesie genau diese Veränderungen selbstreflexiv zum Thema macht. Abschließend sollen die durch den Medienwechsel der Poesie aufgetretenen Modifikationen der Textkonstitution und seiner Wahrnehmung noch einmal in Beziehung zum Begriff der Poesie selbst gestellt werden. Der südamerikanische Computerdichter André Vallias zeigt in seinem Gedicht IO (1995) eine Kugel auf dem Bildschirm, die vom Leser mittels der Maus bewegt werden kann. Währenddessen kann sich ihr Zustand von einem opaken in einen transparenten Zustand verwandeln.77 Der in der Kugel sich befindende Trichter bewirkt, dass man in bestimmten Phasen der Drehungen das Objekt auch als ineinander verschränkte Buchstaben »I« und »O« lesen kann. Das Gedicht ist zudem mit akustischen Signalen versehen, die die Laute »i« und »o« klanglich nachbilden. Am Bildrand finden sich Kommentare, darunter z.B. die Erläuterung der Zeichen »I« und »O« als Ziffern 0 und 1, als Input und Output oder als italienisches Wort für »Ich« (»Io«) und Zitate aus Hölderlins Antigone-Übersetzung, in der »Io« als Klageruf erscheint. Wie schon im Videogedicht Ideovideo von Melo e Castro wird hier auf die Wesenhaftigkeit elektronischer Texte selbst verwiesen: Schaltungszustände, notiert in 0 und 1. Die universalen Eigenschaften des Computers bestehen darin, nicht nur Texte, Bilder und Töne, sondern auch unterschiedliche Formen der Interaktion, Dynamik oder Plastizität in hybrider Weise zu integrieren. Damit öffnet sich das Gedicht hin zu einem multimedialen Phänomen, das sich in unterschiedlichen Graden den verschiedenen Medien zuschreibt. Sind die Hologramme Kacs Bilder, Lichtinstallatio-

77. Zu der Analyse des Gedichtes IO von Vallias siehe auch Block 1999a, 201202 und 1999b, 267-268. 254

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nen oder Gedichte? Sind die Videogedichte von Kostelanetz graphische Kurzfilme oder Poesie, die animierten Gedichte von Develay poetische Texte oder gar Werbespots, die Arbeiten von Papp/Maillard bewegte Comics oder Lyrik oder die virtuellen Textwelten von Györi poetische Textkörper oder Abenteuerwelten eines aufwendigen Computerspiels? Die Grenzen sind fließend und eine Gattungsbestimmung nur noch schwer möglich.78 Das Medium Computer ist ein Universalmedium und in der Lage, alle andere Medien zwar nicht in ihrer Gesamtheit79, so jedoch zu einem Großteil zu simulieren. Durch den Einsatz der neuen Medien haben sich auch eine Reihe von fundamentalen Änderungen in Bezug auf die Abgrenzungen der Gattungen untereinander ausgebildet. Denn die Antwort auf die Frage nach der Kunst wird dann zum dringlichen Problem, wenn das Objekt selbst nicht mehr sichtbar ist und in einen immaterialen Zustand übergegangen ist.80 Die Ausstellung digitale dichtkunst in Annaberg-Buchholz (1992) war eine der ersten, die Computerpoesie präsentierte. Im Vorwort des Begleitkatalogs heißt es von Vallias: »Digit. Gespeichert auf einem dem Menschen unzugänglichen undifferenzierten Zifferngewebe. Original- und manuskriptlos. Immer abrufbar, veränderbar und übertragbar. Daten lösen die Grenze zwi-

78. Von der Zigarettenfirma Phillip Morris existierte eine Kinowerbung für das Produkt »Marlboro«, die nur aus animierter Schrift bestand. Die auf der Leinwand durch die Dynamisierung der Buchstaben entstandenen Sprachspiele könnten auch unter ästhetischen Kriterien analysieren werden, was sie in die Nähe zur Poesie rückte. Schneider sieht die Öffnung der Kunst hin zu anderen Disziplinen als Angebot: »Die Zeichen stehen nicht mehr für Bedeutungen, sondern sind wie ein Angebot an den Zuschauer, Bedeutungen an sie heranzutragen. Wer nicht weiß, daß die Zeichen als Gedicht komponiert waren, wird hier kein Gedicht entdecken, sondern das Ensemble als bewegte visuelle Buchstaben auffassen.« Schneider 1998, 241. 79. Z.B. ist ein Computer – zumindest vom heutigen Stand der Technik aus – nicht in der Lage, ein vier mal fünf Meter großes Gemälde in seiner sinnlichen Präsenz (relative Größe zum Körper, Plastizität, Lichtreflexion und Geruch) vollständig zu simulieren. 80. Dencker hat dieses Problem bereits ausgehend vom Beispiel der visueller Poesie erkannt, die durch ihre Einbeziehung unterschiedlicher Medien (Bilder, Zeitungen, Malerei, etc.) nicht mehr eindeutig zur Gattung Lyrik zugeordnet werden kann: »In diesem historischen Entwicklungsprozeß gibt es eine ganze Reihe tiefgreifender Veränderungen, die die so genannte Reinheit der Gattungen (so von Literatur und bildender Kunst) betreffen, ihre Medien (wie das Buch und die Leinwand), die Mischung und Aufhebung betreiben, bis zur generellen Frage, was Kunst überhaupt noch sein kann, wenn die elektronischen Medien die Printmedien und die technischen Medien zu verdrängen scheinen. […] Die Visuelle Poesie kann sich zwar als Kunstform verstehen, muß es aber nicht!« Dencker 1997, 170. 255

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schen Körper, Flächen, Texten, Klängen, Wörtern, Punkten, Tönen, Buchstaben und Nummern auf.«81 Wie kann die Literaturwissenschaft ihre Techniken und Methoden der Analyse, der Interpretation oder der ästhetischen Beschreibung anwenden, wenn die Objekte »original- und manuskriptlos« sind? Die besondere Zeitlichkeit der Poesie konzentrierte sich bislang auf den Augenblick.82 Indem das klassisch-moderne Gedicht den erlebten Augenblick voraussetzt – den es dennoch erst selbst erzeugt –, entsteht die Geschlossenheit eines singulären Gebildes. Diese Geschlossenheit jedoch löst sich spätestens mit der Computerpoesie auf. Der Augenblick verlagert sich vor das Gedicht, nämlich in den Entstehungsvorgang. Er setzt da ein, wo das Gedicht überhaupt erst zustande kommt oder misslingt. Nicht ein besonderes Erlebnis geht in das Gedicht ein, sondern aus dem Entstehungsprozess geht ein besonderer Text erst hervor. Die Lektüre elektronischer Gedichte wird zum Teil der Textherstellung. Die Interpretation von Computerpoesie kann nicht auf den »Blitz«, den Augenblick des traditionellen Gedichts folgen, da sie keinen Gegenstand vorfindet. Die Texte sind Phänomene der Zeit und nach Ablauf dieser verschwunden, was sie in die Nähe des musikalischen Ereignis rückt. Auch wenn zehn Aktivierungen der Arbeit La fatigue du papier (Develay) zehnmal denselben Ablauf zeigen, gibt es zu diesem Gedicht kein Original. Im Fall der generativen Poesie ist noch nicht einmal eine Partitur oder die Tonaufnahme zu einem intensiveren Studium des Gehörten bzw. Gesehenen vorhanden. Zehn Initiierungen des Generators bedeuten zehn unterschiedliche Texte auf dem Bildschirm, deren Gestalt und Form – geschweige denn Inhalt – auch der Autor selbst nicht vorhersagen kann: »L’auteur caché, à l’évidence, ne conçoit pas ses textes. […] ce, qu’au mieux, il conçoit, ce sont des virtualités de textes, quelque chose comme un schéma de littérature encore inexistante, des mises en scène plausibles de textes virtuels.«83 Für den elektronischen Text gilt, dass er kein Original mehr besitzt, das durch den Computer reproduziert werden könnte. Auch wenn Karin Wenz behauptet, der Leser sähe auf dem Monitor immer nur ein »virtuelles Bild« des Textes, und »nie den Originaltext«84, da dieser ihm verwehrt bleibe, verhält es sich gerade umgekehrt. Denn was der Leser sieht, ist nicht das »virtuelle Bild« eines Textes, sondern jeweils

81. Vallias 1992, 10. 82. Vgl. hierzu auch Kap. Schriftwechsel/II, 1. Das »punktuelle Zünden der Welt im Subjekt« (Vischer) zeugt von einem besonderen Moment in dem das lyrische Subjekt die Dinge auf eine besondere Weise erfährt. 83. Balpe 1997b, 82. 84. Wenz 1998, 171. 256

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eine »Aktualisierung« eines immaterialen, virtuellen Texts. Insofern ist der Begriff der elektronischen Reproduktion, den Wenz für diesen Vorgang wählt, widersprüchlich, da es weder Original noch Kopie im elektronischen Medium gibt. Durch die dazwischengeschaltete Maschine ist jeder aufgerufene Text ein Original – die zehn Wiederholungen von La fatigue sind zehn Originale – da der Computer sie auf der Basis einer binärcodierten Matrix jedes Mal neu erstellt. Diesem Zahlencode sind alle Informationen eingeschrieben, um einen Text hervorzubringen. Der Begriff »Reproduktion« dagegen ist nur sinnvoll, wenn er im Verhältnis von Original und Kopie gedacht werden kann, wie etwa bei der Technik des Buchdrucks. »Angesichts des Virtuellen – also des nur im elektronischen Raum Stattfindenden – wird die klassische Unterscheidung von Original und Kopie obsolet«, fasst Wolfgang Ernst zusammen. Für ihn werden elektronische Artefakte zu »Originale[n] auf Zeit«85, da sie immer nur für den Augenblick ihrer Realisierung existieren. Der Künstler Masaki Fujihata hat dies zum Thema seiner Installation Beyond Pages gemacht.86 In dieser Arbeit befindet sich in der Mitte eines Arbeitstisches ein Buch, das jedoch nicht physikalisch als Buch auf dem Tisch liegt, sondern lediglich als projiziertes Bild. Der Besucher kann nun mittels eines Stifts (Interface) die Blätter des imaginären Buches umblättern, die sodann, unerwarteterweise, ein materiales Geräusch verursachen, nämlich ein leises Knistern des Papierstoffs. Auf den Seiten des Buchs befinden sich japanische Wörter, ihre englischen Übersetzungen und Illustrationen. Das Wort »apple« wird von einem Apfelbild begleitet. Berührt der Leser es, fängt ein unsichtbarer Hungriger an, den Apfel zu verschlingen. Auf diese Weise entdeckt das Buch dem Leser unerwartete Ereignisse. Unerwartet deshalb, weil die Textbilder aufgrund ihrer Beschaffenheit als Computeranimationen einen gedruckten Buchtext überschreiten. Indem das Buch projiziert ist, wird genau diese Spannung thematisiert. Denn zur Verwirrung des Lesers trägt die digitale Beschaffenheit des Objekts bei. Seine Erwartungshaltung ist noch vom gedruckten Buch konditioniert und wird jedes Mal auf neue Weise entlarvt bzw. irritiert, wenn das projizierte Buch Eigenschaften aufweist, die ein gedrucktes Buch nicht hat.87 Dieses scheinbare Objekt auf dem Arbeitstisch ist kein Buch mehr, sondern nur noch die Idee eines Buchs, das elektronisch generiert wird, statt drucktechnisch reproduziert worden zu sein.88 Was aber bedeutet das, wenn der poetische Text »generiert« und nicht mehr im

85. 86. 87. 88.

Ernst 2001, 70 und 73. Die Installation ist im ZKM in Karlsruhe zu sehen. Vgl. zu diesem Beispiel auch die Ausführungen von Balpe 2000, 221. Vgl. Balpe 2000, 221. 257

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Druckverfahren »reproduziert« wird? Wer oder was bringt diese Texte hervor? Blumenberg hat gezeigt, wie sich das Postulat der Kunst, die aristotelische »Nachahmung der Natur«, zu einer »Schöpfung unendlich vieler Welten« entwickelte89. Sowohl bei Plato als auch Aristoteles war »Natur […] der Inbegriff des überhaupt Möglichen«90 . Folglich kann ein Werk immer nur Wiederholung der Natur sein. Die Schöpfung der Natur hingegen das Werk Gottes. Die Frage jedoch, was der göttlichen Schöpfung vorausgeht, erscheint erstmals im Zusammenhang mit der Frage nach der Endlichkeit bzw. Unendlichkeit der Seinsmöglichkeiten (Lukrez): »der als endlich gedachte Kosmos schöpft das unendliche Universum der Seinsmöglichkeiten […] nicht aus und kann es nicht ausschöpfen. Es ist notwendig nur ein faktischer Ausschnitt dieses Universums, und es bleibt ein Spielraum unverwirklichten Seins.«91 Die Metaphysizierung des Möglichkeitsbegriff schließlich, wonach Gott nicht nur das Mögliche, sondern auch die Möglichkeit selbst geschaffen hat, ebnet den Weg für das Selbstverständnis der Kunst, ihre Aufgabe darin zu sehen, »mögliche« Welten zu schaffen. Der Künstler, insbesondere der Dichter, wird um die Mitte des 18. Jahrhunderts zum schöpferischen Genie aufgewertet. Johann Jakob Breitinger sieht im »Hauptwerk der Poesie« gar eine »Nachahmung der Natur in dem Möglichen«92. Der Dichter ist fähig, die Natur nicht allein in ihrem Wirklichen, sondern auch in ihrem Möglichen nachzuahmen, was bedeutet, dass er Dinge hervorzubringen vermag, die noch nicht sind. Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet »generator« Erzeuger, Erschaffer und ist das Substantiv zu »generare« – erzeugen, erschaffen, hervorbringen. Wenn also Computerpoesie auf der Basis von Generatoren erschaffen wird, bedeutet dass, das diese Poesie von der Maschine selbst hervorgebracht wird. Weder eine göttliche Eingebung, weder ein genialischer Autor, noch ein Schreiben im Benjamin’schen Sinne

89. Blumenberg 1981, 55-103. 90. Blumenberg 1981, 71. 91. Blumenberg 1981, 82. 92. »Alle diese möglichen Welten, ob sie gleich nicht würcklich und nicht sichtbar sind, haben dennoch eine eigentliche Wahrheit, die in ihrer Möglichkeit, so von allem Widerspruch frey ist, und in der allesvermögenden Kraft des Schöpfers der Natur gegründet ist. Nun stehen auch dieselben dem poetischen Mahler zum Gebrauche bereit und offen, und leihen ihm die Muster und die Materie zu seiner Nachahmung.« Johann Jacob Breitinger 1966, 56-57. Blumenberg weist hier darauf hin, wie mächtig die Urformel der »Nachahmung der Natur« in der metaphysischen Tradition verwurzelt ist, wenn sie selbst für die Bezeichnung des genauen Gegenteils herangezogen wird. Blumenberg 1981, 90. 258

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des »ad plures ire«93 bringt diese Poesie hervor, sondern eine die Maschine anweisende Matrix. Der Computer generiert Poesie aus sich selbst heraus. Flusser sieht hierin die Geste des Herstellens selbst: »Poesie (poiesis) meint Herstellung von etwas Neuem. […] In diesem Sinne sind die gegenwärtigen Komputationen außerordentlich poetisch: Die komputierten alternativen Welten können geradezu als Beispiele einer vorher nie dagewesenen poiesis angesehen werden.«94 Der Computer hat die Fähigkeit, »mögliche Welten« zu erzeugen, die noch nicht sind. Jeder Text ist ein Original, weil ihn die Maschine hervorbringt, auch wenn der Autor von La fatigue du papier den Ablauf der Wörter auf dem Bildschirm komponiert hat. Fundamental ist, dass der Text erst durch den Computer, d.h. den Start des Programms, auf der Bildschirmoberfläche erscheint. Erst dann ist er existent, weil er sich nur dann immaterial materialisiert und von einem Leser wahrgenommen werden kann. Die neue Qualität der »poiesis« liegt genau in dieser Relation zwischen virtueller Matrix und Aktualisierung. Dass die hier ausgewählten Autoren in graduellen Unterschieden an diesem Prozess teilhaben, bleibt dabei unbenommen. Das Wesen der elektronischen Poesie besteht aus einer doppelten Textstruktur, wovon die eine in der Lage ist, Texte hervorzubringen. Eine Favorisierung des einen Texts (Code) als des »eigentlichen« Texts auf Kosten des anderen (Bildschirmtext), führt an der Sache vorbei, da erst beide zusammen elektronische Poesie bedingen. Und zwar deshalb, weil es sich hier um den Einsatz des Computers als Medium der Poesie handelt, die nur wahrgenommen werden kann, wenn der Text auch sichtbar ist. Umgekehrt weisen Computergedichte jene hier ausführlich analysierten Eigenschaften nur deshalb auf, weil sie auf eine universale Metasprache zurückzuführen sind. Die poetischen Texte werden als (alphanumerische) Oberflächentexte wahrgenommen. Die Differenz von Computerpoesie zu gedruckter Poesie liegt gerade in dieser Doppelstruktur. Indem die poetischen Texte den Code thematisieren, führen sie vor Augen, dass sie anders beschaffen sind, als auf Papier gedruckte Poesie. Indem sie den Leser im Akt der Lektüre inszenieren, zeigen sie, dass

93. Gemeint ist hier die Produktion von Texten, deren Möglichkeitsbedingung das Zitieren, Weiterschreiben oder Verarbeiten bereits existierender Texte ist: »Das Ergriffenwerden vom Schönen ist ein ad plures ire, wie die Römer das Sterben nannten. Der Schein im Schönen besteht für diese Bestimmung darin, daß der identische Gegenstand, um den die Bewunderung wirbt, in dem Werke nicht zu finden ist. Sie erntet ein, was frühere Geschlechter in ihm bewundert haben.« Benjamin 1991, Bd. I.2, 639. 94. Flusser 1999b, 56. Seinem griechischen Ursprung nach, bedeutet das Wort poiesis: »›Hervorbringung‹. Dichten und andere Arten der ›Techne‹ umfassender Oberbegriff. Vgl. Arnold und Sinemus 1990, Bd. 1, 484. 259

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sie trotz ihres Ursprungs in der Maschine auf einen Rezipienten angewiesen sind. Als müsse sie sich stets selbst über ihren Status bewusst werden, konzeptualisiert Computerpoesie vor allem ihren Herstellungsprozess und gleichzeitig die Möglichkeiten und Begrenzungen ihrer Wahrnehmung durch einen potentiellen Leser.

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Anhang

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INTERVIEWS

Interviews Jean-Pierre Balpe

Jean Pierre Balpe ist Professor für Hypermedien an der Universität VIII Paris/Saint-Denis. Er ist Gründungsmitglied der Gruppe A.L.A.M.O., die sich vor allem mit der Realisierung generativer Computerpoesie auseinandersetzt. Verglichen mit den Konzeptionen der Oulipiens, aus deren Gruppe sich A.L.A.M.O. 1981 entwickelte, beruht die Funktionsweise der Computerpoesie auf anderen Regeln. Balpe fasziniert dabei vor allem die Fähigkeit des Computers, Dynamik zu erzeugen. Dem Buch dagegen steht er skeptisch gegenüber, weil es als Wesensmerkmal die Fixierung des Textes fordert. Als Folge wird das Buch selbst für die Literatur gehalten, deren Ursprung Balpe jedoch eher in der oralen Narration sieht. Damit existiert für ihn Literatur nicht nur in »einer«, fixierten Variante, sondern in vielen unterschiedlichen. Literatur funktioniert auf der Basis von Variationen, die an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlichen Erzählern vorgetragenen werden. Der Computer ermöglicht es, wieder zurückzugehen, zu einer dynamischen Literatur, die sich in der Zeit bewegt. Der Leser ist daher nicht gezwungen, nur eine Version zu lesen. Insofern geht es Balpe bei den Poesiemaschinen nicht um die Ausstellung der Technik, d.h. um die Exposition eines generativen Prozesses, der in der Lage ist, unendlich viele Gedichte zu generieren, sondern um eine Reflexion über die Literatur selbst. Die These Baudrillards, dass Medien die Gesellschaft »entmenschlichen« (»la déshumanisation«), lehnt er ab. Sprache existiert nicht außerhalb des Menschlichen. Zwar gibt es unterschiedliche Codes und Zeichen, die jedoch alle, auf rezeptiver Ebene, je nach Kontext, Situation und Wissen, verschiedene Bedeutungen annehmen können. Es gibt jemanden, der Entscheidungen fällt, sowohl bei der Produktion als auch der Rezeption der Texte. Den Programmcode hält er dabei nicht für den »eigentlichen« Text der elektronischen Literatur. Im Gegenteil, er stellt lediglich eine Metasprache dar, darf aber keinesfalls mit Sprache im Sinne einer »natürlichen« Sprache verwechselt werden. Die Materialität der Texte liegt weder im Code noch in der Maschine. Balpe will sie vielmehr in der Erinnerung der Leser verortet wissen. Sobald der Text das Buch verlässt, ist er mit neuen Parametern konfrontiert wie z.B. Zeit, Raum, Farben, Licht etc. Er wird multimedial, erobert den Raum und wird zum Schauspiel. S.R.: Monsieur Balpe, commençons avec les origines de la poésie d’ordinateur. A part le groupe de Stuttgart et le groupe Noigandres au Brésil, OuLiPo est surtout l’un des précurseurs de la poésie informatique, notam263

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ment en France. L’une de leurs techniques principales était l’établissement d’une structure sous certaines contraintes, c’est-à-dire l’établissement d’une manière de procéder, pour fabriquer des textes. Si on programme un logiciel pour l’ordinateur on établit aussi des règles sous contraintes selon lesquelles l’ordinateur produit des textes sur n’importe quel sujet. Donc, l’ordinateur semblait être un outil convenable pour les Oulipiens. Pourquoi cependant les Oulipiens ne s’intéressent-ils pas tellement à l’ordinateur? Et pourquoi y avait-il nécessité pour certains d’entre eux de former un autre groupe, A.L.A.M.O.? J.P. Balpe: D’abord, il ne se sont pas séparés, puisque les gens qui étaient à OuLiPo sont restés à OuLiPo. C’était plutôt, en fait, à l’origine une branche différente. Mais je crois qu’il y avait des raisons plus profondes. C’est que, contrairement aux apparences, les jeux oulipiens, les façons d’utiliser les règles oulipiennes ne sont pas du tout pré-informatiques. Par exemple, prenons un jeu aussi simple que le S+7. Ça a l’air très simple, mais en fait, ça ne l’est pas. Parce qu’il faut remplacer ce septième mot à condition qu’il soit de même nature syntaxique. Bon. Eh bien, pour un ordinateur, ce n’est déjà pas simple. Il faut des dictionnaires spéciaux, il faut savoir, quand, par exemple le mot »ferme«, est un adverbe, un substantif, un adjectif, le lecteur humain le fait spontanément, il voit bien dans »je suis ferme« que c’est un adjectif, donc il va chercher un adjectif. Un ordinateur ne le sait pas du tout. Donc, il va mettre au hasard n’importe quoi, mais ça ne marche pas. Et beaucoup de jeux de l’OuLiPo reposent sur des implicites comme ça. Ça a l’air d’être des règles très formelles, mais si ça marche, c’est parce que le lecteur ou l’auteur connaissent beaucoup plus des chose que ce qu’ils en disent. Quand A.L.A.M.O. est passé à l’ordinateur, ce genre de choses est apparu très évident, mais passer à l’ordinateur c’est une autre conception finalement de la littérature. Et donc, après, des gens de l’OuLiPo, qui sont restés à l’A.L.A.M.O. ont voulu faire de l’OuLiPo à l’A.L.A.M.O., et ils n’ont pas fait grand chose, ça ne marche pas beaucoup, et puis, moi, j’ai quitté l’A.L.A.M.O. justement parce que je n’étais pas d’accord sur ce plan là, c’est-à-dire, que l’informatique littéraire n’a pas besoin des jeux oulipiens. Elle a d’autres bases. S.R.: Et aujourd’hui, le groupe A.L.A.M.O. existe-il encore? J.P. Balpe: Oui, oui. Il existe encore. Mais on n’en parle plus beaucoup parce qu’il ne font rien de – justement je crois pour les raisons que je viens de vous expliquer – ils ne font rien de très intéressant dans le domaine littéraire. C’est un peu un groupe qui s’est arrêté. Et d’ailleurs il n’y a presque plus de vrai littéraires dans l’A.L.A.M.O. Donc, c’est pratiquement devenu des chercheurs qui s’intéressent à l’A.L.A.M.O., pratiquement plus de producteurs et de production de texte. 264

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INTERVIEWS

S.R.: Pourquoi faîtes-vous de la littérature informatique? J.P. Balpe: C’est pour plusieurs raisons. D’abord, j’étais fasciné par cette machine que je trouve extraordinaire parce qu’elle fonctionne, elle vit enfin, je n’aime pas trop les métaphores, mais elle est dynamique. Et en même temps, j’ai toujours été agacé par le côté, comment dire, figé du livre. Le livre s’est imposé depuis 400 siècles mais pas plus. On fait croire que la littérature, c’est le livre. Mais le livre et la littérature sont des choses tout à fait différentes. Pourtant dans notre culture occidentale, nous croyons ça. Et il se trouve que moi, j’ai beaucoup travaillé avec des littératures d’Asie centrale ou des choses comme ça, et que je sais que la littérature ce n’est pas le livre. Quand vous prenez, par exemple, les chants qu’utilise Wagner, les Nibelungen etc., c’est pas du livre, c’est de l’oral. Or, le livre a figé ça et a créé tout un système qui fige. Donc ce qui m’a intéressé, c’est que cette machine permettait à la fois de revenir en arrière, c’est-à-dire vers une littérature qui a existé pendant des siècles, qui a existé dans des quantités de pays et qui est une littérature dynamique, qui bouge tout le temps. Par exemple, la littérature orale. La conception du livre a fait qu’on l’a figée. Par exemple les légendes Finlandaises, vous connaissez la fameuse légende du Kalevala qui est figée depuis le 19ème siècle. Mais auparavant elle n’était pas figée. Celui qui a figé le Kalevala a fait un choix parmi une multitude de variantes! Donc il a sa version du Kalevala, mais c’est pas ça, le Kalevala. Le Kalevala, c’était les gens qui le racontaient qui le modifiaient, etc. Ainsi ce que m’intéressait, c’est de voir, que l’ordinateur permettait enfin d’avoir une littérature qui bouge. Et qu’au fond le lecteur n’était pas obligé de lire le même texte. A partir de là, c’est une première approche et pour moi une approche très importante. S.R.: Mais ça veut dire, que »le« texte n’est plus le texte traditionnel. Un texte qui bouge et qui n’est pas de l’oral a besoin d’une nouvelle théorie du texte. J.P. Balpe: C’est la littérature qui naît qui montre que les théories antérieures ne sont pas adéquates ou au contraire il y a une nouvelle approche de la littérature qui va donc faire naître des théories. C’est vraiment un refus de cette fixité du texte qui ne m’intéresse pas du tout. A partir de là, il y a eu des directions très différentes. Par exemple les gens qui produisaient de la littérature spatialiste ou visuelle se sont rendu compte que l’ordinateur donnait une dimension de plus, qui était le mouvement, qui était la dynamique des caractères, le jeu sur la mémoire, etc. Ailleurs, par exemple, des gens qui faisaient de la littérature sonore se sont aperçus que l’ordinateur permettait de la jouer sur différents niveaux de son. Et donc, tout ça a construit une sorte de convergence, mais toute cette convergence, est contre le livre. Il y avait bien 265

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avant de la littérature spatialiste sur papier. Mais ça ne satisfaisait pas les écrivains de la littérature spatialiste. Il y avait bien la littérature sonore, mais sur papier, c’était ridicule. Et tous ces mouvement se sont retrouvés tout à coup avec un outil qui, d’une part est multimédia, donc qui permet maintenant de ne plus se poser la question de la littérature sonore, littérature pas sonore, littérature visuelle ou pas visuelle, tout est à la fois, et qui en plus, permettait de donner des dimensions nouvelles, c’est-à-dire la dynamique, la délocalisation, etc. Et donc, vous avez une autre littérature qui est apparue, et maintenant, ce qui est intéressant, pour répondre à votre question, c’est que ça remet les théories littéraires en cause. Moi, je crois vraiment qu’il faudrait faire une autre théorie du littéraire, qui permettrait d’intégrer ce que les théories existantes ont toujours très mal intégré, par exemple la littérature orale, de concevoir la littérature comme un échange dans un contexte permanent et dynamique. Et ça, ça pose des problèmes. S.R.: Qu’en pensez-vous: Pourquoi a-t-on généré d’abord des poèmes et pas des romans par exemple? J.P. Balpe: Pour trois raisons. D’abord une raison purement technique. C’est que générer un roman, c’est un gros travail, et que les machines de l’époque étaient trop lentes. Deuxième raison pas négligeable, c’est que les lecteurs son habitués à accepter des choses beaucoup plus ouvertes de la poésie. Et troisième raison, les gens qui ont fait de la littérature informatique ont découvert petit à petit des possibilités. Et donc, sur un poème c’est assez facile de faire des expériences, sur un roman qui fait 300 pages l’expérimentation est beaucoup plus difficile. S.R.: Vous avez dit que l’usage littéraire de l’ordinateur »n’avait pas pour vocation de produire une sous-littérature technologisée, aussitôt morte que née, une littérature d’atelier qui expose ses procédures.« Mais prenons votre poème »Stances d’amour éternel«. Ce que montre le générateur au lecteur c’est qu’il ne peut que réinitialiser le processus avec certaines données. Ce qu’il voit, le lecteur, c’est d’abord le processus du générateur produisant des poèmes à l’infini. N’est-ce pas une exposition des procédures? J.P. Balpe: Non. Ce sont des réflexions profondes sur la littérature. C’est ce que j’ai dit à partir de l’oral. Je ne sais pas si vous avez déjà vu des conteurs africains qui racontent dans un village. Le public connaît par cœur le récit. Tout le monde le connaît, ça fait des siècles qu’on raconte ces récits. Ce qui l’intéresse le public, c’est ce que j’appelle »le même et le différent«, c’est-à-dire l’approche des variations. Quand vous voyez le public applaudir (ou ne pas applaudir, parce qu’ils n’applaudissent pas en Afrique, mais manifestent des contentements avec des 266

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»mmmm«), eh bien, c’est parce que le conteur vient de faire un changement. Les auditeurs connaissent le cadre, ce qu’ils apprécient, c’est la variation. Pour moi, ça c’est profondément littéraire. Contrairement aux habitudes qu’on a pris avec le livre. Dans le livre, d’une certaine façon, la variation est négative. La littérature orale ne dit pas qu’elle est la meilleure version, elle dit, il y a autant de variantes que de conteurs et autant de variantes que de moments, que de fois où le conteur conte. Donc, ce qui m’intéresse, ce n’est pas de montrer le processus, c’est de montrer aux lecteurs que justement ce qui fait le littéraire, c’est la variation. C’est donc une réflexion sur la littérature, non sur la technique, parce qu’on peut très bien trouver des moyens techniques, par exemple des gens comme Philippe Bootz ou les quelques revues dont nous avons parlé, qui ne jouent pas sur la variation, qui font une œuvre finie, dynamique qui bouge, mais si vous la reprenez dix fois, c’est dix fois la même. Ce qui intéresse, c’est: ce qui se passe dans le dynamisme. S.R.: Jean Baudrillard a présenté la thèse, que les médias mènent vers une »déshumanisation« de la société. Par rapport à la littérature, il y a déjà des robot, si on veut, qui produisent de la poésie. Qu’en pensez-vous? J.P. Balpe: Je refuse le terme »déshumanisation«,. Je viens encore de lire une thèse aujourd’hui qui dit exactement ça, qui reprend ça. Je crois que c’est complètement faux en ce sens que, dès qu’il y a langage, dès qu’il y a texte, il n’y a pas de déshumanisation possible. Le langage n’existe pas en dehors d’humain. Dès que vous employez une phrase aussi banale que »Comment allez-vous?«, il y a de l’humain là-dedans. Et ça ne fonctionne que parce que justement ce qui est mis à l’évidence, c’est la relation entre deux entités humaines. Je vais plus loin: La littérature informatique ne peut pas marcher en dehors de lecteur humain. D’ailleurs, ça n’a aucun sens, c’est absurde. Imaginez des robots qui s’échangent des textes, c’est une idée totalement absurde. Mais même en supposant qu’il y ait une entité de langue humaine capable de comprendre, ça ne marcherait pas, parce qu’il faut être humain pour avoir ce mécanisme du langage. Vous avez un ensemble de codes, de signes, et ce qui fait la force du langage, c’est que cet ensemble de signes peut avoir des tas de sens différents. Suivant le coin où vous l’employez, suivant le temps que vous y mettez, suivant le regard que vous avez visà-vis l’autre. Le sens change constamment. Et il n’y a que des humains, c’est-à-dire des gens câblés de la même façon par rapport la culture, etc., qui peuvent le faire fonctionner. Donc, cette notion de »déshumanisation«, je la refuse. Ce que signale Baudrillard, repose en gros sur une idée naïve: c’est que, à partir du moment où c’est un ordinateur qui produit du texte, l’humain s’en va. Mais en fait, ce n’est pas l’humain qui s’en va, parce qu’il y a quelqu’un qui a programmé, il y a toujours quelqu’un qui a pris les décisions nécessaires. 267

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S. R.: Si l’esthétique est située plutôt dans le processus, le programme du générateur de même que dans le résultat, le texte de »Stances«, par exemple, n’est-il pas plutôt le code numérique? Ou y-a-t-il deux textes différents? J.P. Balpe: C’est une question à la fois naïve et très compliquée. L’approche naïve, c’est-à-dire, est-ce que le roman de Proust est dans la langue qu’on utilise ou dans le produit qu’on a sur le papier? Ou, est-ce que le texte de Proust est dans la machine d’imprimerie, parce qu’il est modifié par la machine d’imprimerie. Par exemple, regardez Mallarmé et Le coup de dès n’abolira jamais le hasard, il a jamais pu obtenir le texte qu’il voulait, parce que l’imprimerie n’acceptait pas ce type de texte. S.R.: Oui, je comprends, mais je crois que la différence entre les deux textes dont je viens de parler, c’est-à-dire numérique et affiché sur l’écran, ce n’est pas comparable à ces exemples. J.P. Balpe: Mais c’est pour ça que je vais vous répondre de la deuxième façon. Ça, c’est la façon naïve, mais elle est présente chez beaucoup de gens. La deuxième façon, et c’est sûrement pourquoi vous posez la question, c’est que l’informatique utilise un langage. Mais c’est un langage formel. Donc, évidemment, ce qui m’intéresse, c’est quand vous programmez un texte informatique, c’est de faire ce que j’appelle un métatexte. Au fond, ce que je conçois, ce n’est pas le texte, c’est le métatexte. Et ce métatexte n’est pas directement lisible au lecteur. Quand vous programmez un texte, c’est le modèle supérieur. Au fond, la question que je me pose est: »Qu’est-ce que c’est qu’un poème dans ce cas?« Mais le langage informatique en tant que tel n’est qu’un outil technique. Et c’est une fausse idée de croire que c’est un langage, parce que nous l’appelons langage. On devrait l’appeler codage. Le langage informatique, est un codage. Il est comme les mathématiques. Se situe davantage au niveau de la conception d’un texte qu’au niveau du langage lui-même. S.R.: Il me semble que les Oulipiens, eux, étaient plutôt intéressés par les processus ou bien par les règles que par les résultats. Par conséquent ils ont nommé leur oeuvre la littérature potentielle, c’est-à-dire une littérature qui pourrait se produire mais n’a pas encore eu lieu. Aujourd’hui on appelle souvent des textes d’ordinateur des textes virtuels. Quelque chose qui »existe« dans l’ordinateur mais n’est pas encore réalisé. Y a-t-il pour vous une certaine relation entre ces deux notions? J.P. Balpe: Mais vous avez tout à fait compris. Ce sont deux façons de voir la même chose. C’est-à-dire, la littérature potentielle insiste sur le 268

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processus, et le virtuel insiste sur le métatexte, c’est-à-dire quelque chose qui pourrait faire un texte mais qu’il faut activer. Ce sont deux façons de dire la même chose. Le virtuel n’est pas le vide, c’est quelque chose qui est en capacité de se réaliser. Mais qui peut ne pas être activé du tout, alors que le potentiel montre déjà cette notion d’activation. S.R.: Peut-être encore une question naïve, mais je la pose quand-même… J.P. Balpe: … vous en avez le droit! S.R.: … donc, quel est la matérialité de ce texte qui n’est que réalisé instantanément et disparaîtra ensuite? J.P. Balpe: Oui, je vous ai répondu un peu en parlant de l’oral. Qu’est-ce que le texte? Moi, je dirais très fortement que le texte, c’est le souvenir que les gens ont du texte et non pas la matérialité elle-même. C’est ça qui compte davantage. A mon avis, il n’y a pas de la littérature en dehors d’un échange culturel. Ça ne sert à rien de lire un livre si vous êtes le seul à le lire. La littérature, c’est que vous pouvez en parler avec d’autres. De même avec la peinture. Si vous êtes seul à regarder un tableau, il pourrait être considéré comme génial si vous n’en parlez pas, bah, ce n’est pas vraiment un tableau génial. Un tableau génial, c’est quelque chose dont tout le monde parle. S.R.: Donc, la matérialité de la littérature dont vous parlez est loin du papier, de l’encre ou des pages. J.P. Balpe: Mais oui. Moi j’ai fait de la littérature avec des danseurs, j’ai fait da la littérature avec des installations virtuelles. Par exemple, avec une troupe allemande, on a fait un petit spectacle, cette troupe s’appelle Palindrome, où le générateur produit des textes, et les danseurs les bougent dans l’espace. Le public n’en voit pas, il les entend. Mais c’est le danseur qui déclenche les textes et qui déclenche la façon dont ils sont lus. S.R.: Mais comment peuvent-ils bouger un texte invisible, donc immatériel? J.P. Balpe: Parce qu’il y a des capteurs dans l’espace invisible et les danseurs bougent les textes parlés par des voix, c’est-à-dire des textes oraux. Ils les manipulent d’une façon acoustique. Ce qui est un fait qui va être de plus en plus fort, c’est que l’informatique est un multimédia. Dès que vous sortez du texte de livre vous êtes affronté au temps, à l’espace, à la couleur, à la lumière, etc. Donc, le texte devient un spectacle. C’est du texte. La littérature sort du livre. Et sortant du livre, si 269

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elle envahit l’espace, c’est de la mise en scène. C’est vraiment une nouveauté. S.R.: Monsieur Balpe, je vous remercie beaucoup pour l’entretien. (Oktober 2001)

Philippe Bootz

Philippe Bootz (Universität Versailles St.-Quentin en Yvelines) ist Autor animierter Multimediapoesie, Herausgeber der elektronischen Zeitschrift Alire und Gründungsmitglied der Gruppe L.A.I.R.E. Er verwendet den Computer vor allem als Maschine, die Prozesse in Echtzeit ausführen kann. In seiner poetischen Arbeit steht vor allem die veränderte Rolle des Lesers im Vordergrund. Der elektronische Text wird auf der Basis zweier Arten von Algorithmen erzeugt. Die Synthese-Algorithmen (»algorithmes de synthèse«) bestimmen auf der Basis eines Programmcodes die Regeln, nach denen das Text-Material errechnet wird. Die Realisations-Algorithmen (»algorithmes de réalisation«) dagegen bestimmen, wie der Text auf dem Bildschirm visualisiert wird. Letztere sind von den Herstellern der Hardware beeinflusst, denen sich auch der Autor der Computertexte unterwerfen muss. Insofern verändert Bildschirmliteratur nicht nur den Begriff des (poetischen) Textes sondern auch die Rolle der an der Herstellung beteiligten »Autoren« (Autor, Programmierer, Leser, Techniker, Hardware-Hersteller etc.). Was den Bildschirm kennzeichnet ist nicht der Raum (die Ober-Fläche) sondern die Zeit. Die Parameter des Programms eines Computergedichts beziehen sich daher vor allem auf die Zeitstruktur im Text. Aufgrund der Möglichkeit zur Bewegung der Schrift sind hier Techniken der oralen Literatur mit Elementen der Schriftliteratur konfrontiert. Folglich sind die syntaktischen Konstruktionen nicht mehr dieselben, da für sie die Bezeichnung »Satz« nicht mehr zutrifft. Im selben Moment ist der Leser in seiner passiven Haltung herausgefordert, weil der interaktive Text nicht mehr als fixierter Text existiert, sondern einem transitorischen Status eines permanenten Prozesses unterliegt. Durch das Zeichen der Maus (Pfeil) auf dem Bildschirm ist der Akt des Lesens symbolisch im Text-Inneren repräsentiert, was Bootz die »doppelte Lektüre« nennt: Der Leser sieht sich lesen, er sieht sich lesen in dem er liest. Insofern thematisiert die Lektüre eines Computergedichts von Bootz auch immer gleichzeitig das Scheitern einer Lektüre (Ästhetik der Frustration). Sein Hauptinteresse liegt darin, Strukturen zu manipulieren, die der Leser nicht wahrnimmt. Computerpoesie ist nicht wiederholbar. Virtuelle Kunst unterliegt zwar fixierten Strukturen (Programmcode), die es jedoch – in der speziellen Verwendung von Bootz – nicht erlauben, den einmal generierten Text noch einmal abzurufen. Dem Leser ist diese Ebene der prozeduralen Transformation weder sichtbar noch zugänglich. Da sie dennoch Teil der Arbeit ist, sieht Bootz hierin eine fundamentale Modifikation des Texts: Computerpoesie erzeugt Elemente, die nicht für den Rezipienten bestimmt sind, was bedeutet, das der Leser nicht der Adressat des (gesamten) Werks ist. Das Werk ohne Adressat ist für Bootz die Antwort auf die Tautologie der Kommunikation in der Informationsgesellschaft. 270

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S.R.: Monsieur Bootz, vous êtes l’un des fondateurs, en 1988, de L.A.I.R.E. Celle-ci s’oriente vers la littérature animée et multimédia et ses conceptions divergent de celles de l’OuLiPo. Quelle est la différence entre la conception littéraire de l’OuLiPo et celle de L.A.I.R.E.? Ph. Bootz: En fait, ce qui intéressait l’OuLiPo, c’était un problème abstrait, la question de la contrainte elle-même et pas du tout sa réalisation pratique et pragmatique. Quelqu’un comme Roubaud, par exemple, n’a jamais fait d’efforts véritables pour programmer et se mettre à l’ordinateur. Il l’a même refusé. Les oulipiens qui s’étaient intéressés à l’ordinateur dans les années 70 ont d’ailleurs créé un mouvement autonome, l’A.L.A.M.O., en 1982. Certaines œuvres de l’OuLiPo abordent, en liaison avec la question de la contrainte, le rapport au lecteur. Ce dernier y tient une place particulière: il est l’effecteur de la contrainte. Cette situation ne se rencontre pas dans toutes les productions de l’OuLiPo, mais, notamment, dans celles qui ont ensuite été portées sur ordinateur, parfois par les oulipiens eux-mêmes. Je pense ici aux cent mille milliards de poèmes de Queneau qui a joué un grand rôle dans notre réflexion. J’en connais trois versions programmées différentes, mais pas la première réalisée par Braffort en 1975. A partir du moment où on passe sur ordinateur, l’effecteur de la contrainte est le programmeur de la machine ou le programme. Le lecteur a une place tout à fait différente. Pour reprendre l’exemple des Cent Mille Milliards de Poèmes le lecteur n’est pas du tout dans la même situation que face au livre. Tous les programmes reproduisent la contrainte liée au caractère syntaxique des languettes de l’ouvrage, mais aucun ne pense à reproduire les possibilités de manipulations autres liées à la nature de livre-objet de l’objet et notamment au recouvrement partiel des languettes qui dévoilent des portions de vers. Or, sous cet angle, on peut considérer que l’ouvrage de Queneau ne renferme qu’un seul texte ou, au contraire, une quasi-infinité beaucoup plus grande que le nombre de sonnets qu’il contient. Il va en fait bien au-delà du projet de Queneau. Or, le lecteur des versions informatiques est prisonnier du modèle à contrainte pensé par Queneau. Il est dans une situation beaucoup moins interactive et beaucoup moins intéressante, à la limite, devant ses versions informatiques que devant l’ouvrage lui-même. L’ordinateur réduit la contrainte à son caractère mécanique algorithmique sans possibilité aucune de détournement. Bien sûr, il permet des »interprétations« de la contrainte à travers le comportement visuel. Mais c’est le programmeur, alors, qui détourne la contrainte initiale, pas le lecteur. En fait, je crois, que l’ordinateur n’est pas un outil oulipien du tout. S.R.: Pourquoi y-avait-il la nécessité pour certains auteurs de s’éloigner des conceptions de l’OuLiPo et de former un groupe différent?

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Ph. Bootz: Notre conception est tout à fait différente. L’ordinateur permet de réaliser en temps réel des processus. Cette conception n’a plus rien à voir avec la conception algorithmique de l’OuLiPo, ni même de l’A.L.A.M.O.. Les textes qu’on a produits au début sont tous des textes programmés dans lesquels il n’y a pas d’algorithme au sens où l’entend l’OuLiPo. Bien sûr, un programme comporte forcément des algorithmes, mais la littérature électronique programmée a utilisé deux types d’algorithmes complètement différents. Les premiers sont ce que j’appelle des algorithmes de synthèse. Ils fabriquent des matériaux textuels. Ce sont ces types d’algorithmes qui intéressent l’OuLiPo. Nous en avons utilisé d’autres, que j’appelle des algorithmes de réalisation. Ils gèrent la présentation à l’écran, les processus sensibles observés par le lecteur. Ces algorithmes-là posent beaucoup de problèmes, parce que c’est à travers eux que l’auteur manipule les paramètres techniques de la machine comme la vitesse d’affichage, les durées d’exécution des instructions, les durées de lecture…, autant de paramètres qui influent fortement sur le comportement physique que le lecteur observe. Or, tous ces paramètres sont en fait imposés par d’autres personnes, des techniciens, et pas du tout par le programmeur. L’auteur devient simplement co-auteur de ce qui est produit à l’écran. L’autre co-auteur n’est tant pas le lecteur mais les fabricants de la machine elle-même. On se retrouve ainsi dans une situation tout à fait nouvelle par rapport à l’art performatif, puisque interviennent des acteurs techniques qui n’ont aucune intelligence avec l’œuvre et qui, pourtant, vont jouer un rôle parfois déterminant dans ce qui apparaît au lecteur. On pensait, au début de L.A.I.R.E., créer une littérature de l’écran. On s’est rendu compte qu’on était devant quelque chose de tout à fait différent. Le basculement décisif a eu lien en 1993 et m’a conduit à reprogrammer tout ce qui avait été publié dans alire, et pas seulement mes oeuvres. En fait, je crois que dans cette période nous avons modifié la notion de texte. S.R.: Dans quelle manière s’agit-il d’une notion différente? Ph. Bootz: Je pense que nous avons modifié la notion de texte à travers, d’une part, le traitement du visuel que nous avons fait dans les animations syntaxiques, et, d’autre part, à travers la fonction que nous avons assignée à la programmation. Le premier point a été travaillé par tous les membres de L.A.I.R.E., le second m’est plus personnel. Ce qui caractérise l’écran, ce n’est pas tant la surface que le temps, alors que ce qui caractérise le livre, c’est l’espace. On a mis en place des contraintes liées à l’introduction du temps dans l’écrit. L’introduction de la temporalité à l’intérieur de l’écrit a produit un résultat inattendu, quelque chose comme une oralité silencieuse au sein de l’écrit. Dans notre culture, la relation que l’on connaît entre le temps et l’œuvre passe par 272

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l’oralité. Je ne parle pas d’un temps de la lecture ni d’un temps du récit, mais d’un temps propre de l’œuvre, un temps interne qui peut être perçu mais non manipulé par le lecteur. Donc, en introduisant une temporalité au sein de l’écrit, une temporalité réelle, qui joue un rôle syntaxique, pas la simple temporalité d’un déplacement, on active lors de la perception des mécanismes de lecture qui viennent de l’oralité. Ceux-ci sont confrontés à des mécanismes de lecture qui viennent de l’écrits parce que, finalement, cette littérature de l’écran reste un écrit. Or, les constructions syntaxiques qui résultent de ces deux modes de lecture ne sont pas du tout les mêmes. On a ainsi profondément bouleversé le fonctionnement de la syntaxe. Dans ces animations syntaxiques, la notion de phrase n’existe plus. Elles sont profondément ambiguës et polyphoniques, plusieurs textes coexistent dans peu de mots. Ces ambiguïtés syntaxiques constituent une combinatoire absolument non algorithmique. L’autre point intéressant dans ces constructions, un point qui jouera un rôle important dans la suite de ma démarche, réside dans le fait que la perception des lecteurs est complètement différente. En réalité, c’est vraiment le lecteur, mais à son insu, qui effectue la combinatoire, parce que celle-ci se fait par basculement des modes de lecture. On est bien loin d’une combinatoire algorithmique. C’est une littérature dans laquelle le lecteur est beaucoup plus impliqué que la littérature à contrainte de type oulipienne. Pour réaliser ce type de littérature, il faut concevoir l’ordinateur, et, en fait, tout le système de communication entre l’auteur et le lecteur, comme un générateur de processus observables dans lesquels le texte n’existe pas en tant que tel, n’est plus un objet, mais l’état transitoire observable d’un processus d’exécution permanent. L’algorithme est relativisé, il n’est plus considéré comme une entité gouvernante capable de réaliser par procuration la volonté de l’auteur au moment de l’exécution. Cela amène à programmer différemment, non en termes techniques informatiques, mais en terme d’écriture. Car la programmation est une écriture. C’est même finalement, dans ces œuvres programmées, la véritable écriture. Je suis encore aujourd’hui en train de construire une écriture programmée adaptée à ce nouveau mode littéraire. S.R.: Vous avez expliqué que la littérature informatique nécessite l’intervention d’autres personnes, par exemple des techniciens. Pensez-vous qu’on doit considérer une relation triangulaire entre l’auteur, le lecteur et le programmeur? Ph. Bootz: Oui, oui, c’est indéniable. En fait, les concepteurs de logiciel fournissent une boîte à outils, mais c’est une boîte limitée, puisque euxmême se réservent la programmation de la façon dont ces outils vont réellement fonctionner et qu’en plus ce sont les fabricants de machines qui paramètrent certaines caractéristiques fondamentales pour les pro273

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cessus observés. Par exemple, aucun logiciel ne permet de jouer sur la vitesse d’exécution de ses instructions. Or, c’est quelque chose évidemment de fondamental pour gérer le rythme à l’écran. Donc les concepteurs de logiciels et les fabricants interviennent en tant de co-auteurs de ce qui sera montré au lecteur. Il y a bien une relation triangulaire, effectivement, entre l’auteur, le lecteur et ce que je considère être un acteur distribué sur l’ensemble de la chaîne technique. Je ne limite pas cet intervenant technique au programmeur qui écrit le code du programme de l’auteur. Au contraire, celui-là, je l’assimile à l’auteur et n’en tient pas compte. D’ailleurs, la plupart du temps, l’auteur programme effectivement lui-même son œuvre. S.R.: Dans votre œuvre électronique, le lecteur joue un rôle important. Il y a trois nouvelles caractéristiques qui provoquent la lecture: le mouvement du texte, son existence dans un certain temps et la possibilité d’interagir dans un sens particulier. Pensez-vous que l’interactivité entre l’homme et la machine soit possible? Ph. Bootz: l’interactivité ne se joue pas entre un lecteur et un programme, mais entre un lecteur et un auteur, ou entre un lecteur et luimême. En fait, l’important n’est pas l’interactivité lecteur/programme ou homme/machine, mais la relation qui se noue entre l’auteur et le lecteur à travers elle. L’interactivité entre lecteur et auteur par programme interposé va permettre de gérer la relation entre le programme et le lecteur. Donc la relation entre le programme et le lecteur est une des composantes de l’œuvre. N’oublions pas que nous sommes en art. Tout y est affaire de représentation et uniquement de représentation. Dans l’œuvre interactive telle que je la conçois et tente de la produire, la lecture est elle-même un des éléments de cette représentation. Pour que cela soit possible, il faut que cette lecture agisse comme un signe, c’est-à-dire qu’elle soit portée par un élément concret, sensible, observable qui pourrait jouer la fonction de signifiant pour un observateur extérieur. Or, justement, l’interactivité vécue par le lecteur est un des processus observables de l’œuvre. L’interaction homme/machine rend possible cette observation. Ma conception de l’interactivité est plus large, plus sémiotique, que la conception de la relation homme-machine qu’on a habituellement et qui, elle, se fonde sur l’ergonomie. Que ce soit du point de vue de l’auteur ou de celui du lecteur, l’interactivité, à mon sens, se caractérise par quatre points. Le premier est que toute interaction homme/programme s’accompagne d’une navigation dans un espace d’information. L’hypertexte utilise cette propriété de façon massive, au point, le plus souvent, de confondre interactivité et navigation. C’est laisser tomber les autres caractéristiques de l’interactivité. La seconde, est que l’interactivité est une commande de processus observable par le lecteur. C’est-à-dire que chaque fois que le lecteur agit, 274

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il modifie ce qui se passe à l’écran, démarre, modifie ou paramètre un processus de réalisation. Cette seconde caractéristique est très utilisée en arts numériques visuels et en littérature animée interactive. Le troisième aspect, qui n’est massivement utilisé que depuis le milieu des années 90, est que l’interaction repose toujours sur un échange de données. C’est même la caractéristique fondamentale: l’homme entre des données binaires, le système technique, en littérature, répond par une émission de signes sémiotiques. Mais cette réponse sémiotique n’est pas la seule. L’ordinateur peut aussi répondre au lecteur en fabriquant des fichiers qui ne sont pas destinés à la lecture mais qui interviendront comme données dans une phase ultérieure du processus de génération. Le poème à-lecture-unique fonctionne sur ce principe. Le lecteur ne se rend pas toujours compte, alors, qu’il entre des données, ce qui peut perturber sa lecture car l’ordinateur semble ne pas répondre à ses actions. On touche du doigt ici une caractéristique fondamentale de la relation homme/programme: ils ne parlent pas le même langage. Tout est binaire pour l’un, tout est sémiotique pour l’autre. C’est pourquoi, à ces trois caractères qui possèdent chacun une expression technique et une expression sémiotique, il faut en ajouter un quatrième, que j’appelle interactivité de représentation. Toute interactivité porte, de façon réflexive pour le lecteur, sa propre représentation dans l’espace des signes qu’elle manipule. Cette représentation va apparaître de deux façons différentes. Tout d’abord par le curseur de la souris. Pour moi, il s’agit de la représentation symbolique, non pas de la présence du lecteur à l’intérieur du texte, mais de la présence de l’acte de lecture à l’intérieur du texte. Ce mode de représentation a été mis en place par Jean-Marie Dutey dans Voie de faits. Et la présence symbolique de la lecture à l’intérieure de l’œuvre va devenir intéressante à partir du moment où elle dialogue avec, voire se retourne contre, le lecteur lui-même. Il y a un jeu réflexif entre les deux, une boucle récursive. Je l’appelle la double lecture. Le lecteur doit se lire en train de lire, il doit se »lire lisant«, lire son activité de lecture dans tout ce qu’elle comporte: à la fois construction du sens, pose d’attentes sur le texte à venir, action physique. On peut considérer que la littérature informatique s’appuie, ou s’est appuyée, sur l’échec de lecture. Toute nouvelle proposition littéraire, jusqu’à l’explosion du Web, s’est mise en place à travers des œuvres qui mettaient en œuvre un échec de lecture. Cet échec était, dans ces années de construction, un échec des modalités de lecture antérieures, qui se résolvait dans une nouvelle modalité de lecture. Dans la littérature électronique, tous les auteurs des années 80 et 90 se sont dit que, finalement, les paradigmes de la lecture classique ne fonctionnent pas. Dans les œuvres actuelles dans lesquelles subsiste une possibilité d’échec de lecture assumée ou revendiquée par l’auteur, il ne peut être évacué. Il subsiste comme limitation de l’acte de lecture totalement assumée lors de la création. Cette 275

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limitation est toujours porteuse de sens pour les auteurs qui l’emploient. C’est peut-être la première fois qu’une littérature postule qu’un échec de lecture est un acte de lecture. Et ça n’est possible que parce le lecteur peut prendre de la distance par rapport à ça, qu’il peut lire la relation qu’il a eue avec la machine ou le programme pour aboutir à cet échec de lecture. S.R.: Et est-ce là ce que vous avez appelé l’esthétique de la frustration? Ph. Bootz: Oui, l’esthétique de la frustration, c’est ça. C’est une stratégie d’écriture. Il faut bien comprendre qu’il ne s’agit pas d’une pratique d’auteur sadique. Ce qui est visé n’est pas une frustration physique. Il s’agit encore d’un acte de représentation. Par l’interactivité, le lecteur joue un rôle dans l’œuvre. Celui qui est frustré n’est pas lui, en tant qu’individu, mais le rôle qu’il tient. Il n’y a pas de frustration pour les lecteurs qui lisent ces œuvres de la façon dont elles prévoient la lecture. Mais, il est vrai, la conception de la lecture préconisée par certaines œuvres est souvent inhabituelle et le lecteur physique se retrouve alors, malgré lui, prisonnier du rôle qu’il tient. C’est une grande différence entre le lecteur et un acteur. Le lecteur n’est pas acteur de sa lecture, il ne la joue pas, il la vit et c’est bien cette vie qui est utilisée, dans l’esthétique de la frustration, en tant que processus interne à l’œuvre. S.R.: Qu-est-ce qui vous intéresse le plus dans l’utilisation de l’ordinateur pour réaliser des poèmes? Ph. Bootz: Je trouve qu’il est beaucoup plus intéressant de travailler sur des formes qui manipulent des caractéristiques complètement invisibles au lecteur. Le générateur adaptatif en est une. Il est impossible au lecteur de se rendre compte qu’il existe ni, a fortiori, de se rendre compte de son effet. Il peut sembler paradoxal de travailler sur des formes non-observables, mais il est tout aussi paradoxal de demander à lire un échec de lecture. Les questions, en fait, traitées dans ces formes inobservables, sont celles de l’irréversibilité et de l’évolution. Or l’irréversibilité ne se dévoile que dans la relecture et, parfois, au bout d’un temps long. La technique, au niveau de l’art, a eu jusqu’ici pour principale fonction de figer quelque chose qui était vivant. Je crois qu’il y a un changement de mentalité complet aujourd’hui. On annule ce mouvement de fixation de la vie dans la trace et on construit un art virtuel dans lequel les traces permanentes qui peuvent être transmises, par exemple des programmes, ne permettent plus la reproductibilité des éléments observables à la lecture. Cette autonomie de l’œuvre préserve ainsi quelque de la vie qui lui a donné naissance et de la vie qui la lit. Ça, c’est quelque chose de nouveau. Si on le regarde en terme de 276

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INTERVIEWS

communication, cela veut dire que se superpose à la transmission des données un autre processus inconnu dans la lecture, que moi j’appelle la transformation procédurale. L’opération de transmission elle-même sert de canal à cette autre action technique qui transforme le processus qui a eu lieu sur la machine de l’auteur en un autre processus qui a lieu sur la machine du lecteur. Le lecteur observe des écrans dont les visuels, à mon sens, ne sont pas des images. Ils sont fabriqués en temps réel par des processus en parallèle qui travaillent sur des données élémentaires. Ceux-ci sont transformés par la transformation procédurale et se comportent sur des machines diverses de façon différente, quoique souvent voisine sur le court terme. De sorte qu’on ne peut trouver dans le visuel une identité qui se reproduirait d’un écran à l’autre. Dans la littérature électronique, cette autonomie fait partie de l’œuvre, mais n’est pas toujours montrée au lecteur. C’est peut-être l’une des nouveautés de ce dispositif: rendre à la vie ce qui appartient à la vie et, pour cela, fabriquer ou utiliser des éléments de l’œuvre qui ne sont pas destinés à la lecture. Cela veut dire que le lecteur n’est pas le destinataire de l’œuvre. On a donc une œuvre sans destinataire. Et ça c’est une réponse, pour moi, à la tautologie de la société de l’information de communication. S.R.: Monsieur Bootz, je vous remercie beaucoup pour l’entretien. (Oktober 2001)

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COMPUTERPOESIE

Register der ausgewählten Computergedichte Balpe, Jean-Pierre – Stances d’amour éternel (Kaos1 1991, 5¼-Zoll-Diskette): 110, 160, 166, 178-179, 181, 229, 241, 266, 268. – Hommage à Jean Tardieu (A:\ Littérature ↵, hg. v. Philippe Bootz. Colloque Nord Poésie et Ordinateur. Villeneuve D’Ascq 1994, 3½Zoll-Diskette): 110-111. Bootz, Philippe – Icône (Alire4 1991, CD-ROM): 95-96, 179, 227. – Proposition (Alire5 1991, CD-ROM): 169-170. – A bribes abattues (Alire9 1995, CD-ROM): 96-97, 160, 230. – Passage (Alire10/DOC(K)S 1997, CD-ROM): 97-98, 180-185, 228, 230, 241, 252. Campos, Augusto de – Poetamenos (1953, http://www.uol.com.br/augustodecampos/poe mas.htm): 101-102, 143. Develay, Frédéric – La fatigue du papier no. 22 (Alire2 1989, CD-ROM): 97, 98, 170-171, 256-257, 259. Dutey, J. – Voies de Faits (Alire2 1989, CD-ROM): 179-180, 184, 241. Dutey und Sautier – (essay10.flc) (Alire10/DOC(K)S 1997, CD-ROM): 171-173. Györi, Ladislao Pablo – vpoem13 (1995, VR-Installation im Besitz des Autors): 90-91, 229. Kac, Eduardo – HOLO/OLHO (25 X 30 cm, reflection holograms mounted on wood and plexiglass 1983, Collection UECLAA, University of Essex, UK): 87-88. 278

2003-07-16 14-26-17 --- Projekt: transcript.kumedi.reither / Dokument: FAX ID 01d526725506992|(S. 278-279) T05_03 kumedi.reither.anhang2.p 26725507064

REGISTER DER AUSGEWÄHLTEN COMPUTERGEDICHTE

– Adhuc (30 X 40 cm, multicolor computer holographic stereogram [WL transmission] 1991, Edition of 3. Private collections in London, Madrid, and Essen/Germany): 168-169. – Maybe Then, If Only As (30 X 40 cm Multicolor computer holographic stereogram [WL transmission) 1993, Private collection in Kassel, Germany): 89, 169, 228, 239. – Insect Desperto (Alire10/DOC(K)S 1997, CD-ROM): 102-103, 228. – Wine (Alire10/DOC(K)S 1997, CD-ROM): 186-187. Kostelanetz, Richard – Strings (1979, Video im Besitz des Autors): 92. – Partitions (1981, Video im Besitz des Autors): 93. Maillard, Claude und Tibor Papp – Rupture (Alire11 1999, CD-ROM): 103-108, 228. Melo e Castro, Ernesto M. de – Ideovideo (1987, Video im Besitz des Autors): 94, 188-189, 228, 254. Petchanatz, Christoph – Cut Up (Alire6 1992, CD-ROM): 109, 175-178, 229, 230. Queneau, Raimond und Tibor Papp – Cent Milles Milliards de Poèmes (Alire1 1989, CD-ROM): 83, 108-109, 123, 154, 157, 165-166, 178, 271. Rosenberg, Jim – Intergrams (1993, http://www.well.com/user/jer/inter_works.html): 112, 239. – The Barrier Frames (The Eastgate Quarterly Review of Hypertext, vol. 2, no. 3, 1996, 3½-Zoll-Diskette): 111, 112, 115-117, 166-168, 228. – Diffractions through (The Eastgate Quarterly Review of Hypertext, vol. 2, no. 3, 1996, 3½-Zoll-Diskette): 111-115. Stefans, Brian Kim – The dreamlife of letters (1999, http://www.arras.net/RNG/flash/dream life/dreamlife_index.html): 99-100, 189-197, 228.

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2003-07-16 14-26-17 --- Projekt: transcript.kumedi.reither / Dokument: FAX ID 01d526725506992|(S. 278-279) T05_03 kumedi.reither.anhang2.p 26725507064

COMPUTERPOESIE

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LITERATUR

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