Reader Neue Medien: Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation [1. Aufl.] 9783839403396

Der »Reader Neue Medien« stellt erstmals im deutschsprachigen Raum Grundlagentexte zum Themenkomplex der »neuen« digital

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German Pages 542 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form?
Einleitung
Der Stift der Natur (1844)
Computermaschinerie und Intelligenz (1950)
Kunst und Intelligenz (1965)
Kybernetische Kunst (1966)
Der Mensch ohne Fähigkeiten. Die Neuen Technologien und die Ökonomie des Vergessens (2002)
Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt (2002)
Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments
Einleitung
Wie wir denken werden (1945)
Das interpersonale, interaktive, interdimensionale Interface (1991)
Cyberspace und der amerikanische Traum. Auf dem Weg zur elektronischen Nachbarschaft: Eine Magna Charta für das Zeitalter des Wissens (1994)
Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace (1996)
Virtuelle Realitäten (1996)
Virtuelle Realität(en): SimCity und die Produktion von urbanem Cyberspace (2002)
Hypertext – Hypermedia – Interfictions
Einleitung
Hinter den Spiegeln (1988)
Sehen und Schreiben (1991)
Cybertext. Perspektiven zur ergodischen Literatur: Das Buch und das Labyrinth (1997)
Text, Kontext, Hypertext. Drei Sprachzustände, drei Bewusstseinszustände (2002)
Interfictions. Vom Schreiben im Netz (2002)
Gender-Technologien – Cyberfeminismus
Einleitung
Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften (1985)
Cyberfeministisches Manifest (1991)
Auf Messers Schneide: Kosmetische Chirurgie und die technologische Produktion des geschlechtlich bestimmten Körpers (1992)
Medienkörper/Körper-Medien: Erinnerungsspuren im Zeitalter der »digitalen Evolution« (1999)
Refugia. Manifest zur Schaffung Autonomer Zonen (2002)
Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking
Einleitung
Die Hacker-Ethik (1984)
Elektronischer ziviler Ungehorsam (1994). Critical Art Ensemble
Der Datendandy (1995). Agentur Bilwet
Bewegungsle(e/h)re? Anmerkungen zur Entwicklung alternativer und linker Gegenöffentlichkeit. Update 2.0. (1997) autonome a.f.r.i.k.a-gruppe
Smart Mobs. Die Macht der mobilen Vielen (2002)
Web Grrrls, Guerilla Taktiken: Junge Feminismen im Web (2004)
Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture
Einleitung
Die Mystery-Games der Antike (1996)393
Adventures Erzählen Graphen (1999)
Dogma 2001 (2001)
First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002)
Der Mythos des ergodischen Videospiels. Einige Gedanken über das Verhältnis von Spieler und Spielfigur in Videospielen (2002)
Cyborgs – Avatars – Fake-Identities
Einleitung
Der Cyborg und der Weltraum (1960)
Die Fantasie außer Kontrolle (1990)
Der heilige Cyborg (1996)
Avatars im World Wide Web: Die Vermarktung der »Herabkunft« (1997)
Ich bin Wir? (2001)
Quellennachweise
Autorinnen und Autoren
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Reader Neue Medien: Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation [1. Aufl.]
 9783839403396

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Karin Bruns, Ramón Reichert (Hg.) Reader Neue Medien

CULTURAL STUDIES • HERAUSGEGEBEN VON RAINER WINTER • BAND 18

2007-03-26 15-01-27 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S.

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Karin Bruns, Ramón Reichert (Hg.)

Reader Neue Medien Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation

CULTURAL STUDIES

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Christine Jüchter, Paderborn & Birgit Klöpfer, Paderborn Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-339-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Vorwort | 9

Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form? Einleitung | 23 Der Stift der Natur (1844) William Henry Fox Talbot | 33 Computermaschinerie und Intelligenz (1950) Alan M. Turing | 37 Kunst und Intelligenz (1965) Max Bense | 65 Kybernetische Kunst (1966) Nam June Paik | 74 Der Mensch ohne Fähigkeiten. Die Neuen Technologien und die Ökonomie des Vergessens (2002) Michel Serres | 76 Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt (2002) Friedrich Kittler | 88

Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments Einleitung | 99 Wie wir denken werden (1945) Vannevar Bush | 106 Das interpersonale, interaktive, interdimensionale Interface (1991) Timothy Leary | 126 Cyberspace und der amerikanische Traum. Auf dem Weg zur elektronischen Nachbarschaft: Eine Magna Charta für das Zeitalter des Wissens (1994) Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth, Alvin Toffler | 132 Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace (1996) John Perry Barlow | 138

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Virtuelle Realitäten (1996) Siegfried J. Schmidt | 141 Virtuelle Realität(en): SimCity und die Produktion von urbanem Cyberspace (2002) Shawn Miklaucic | 152

Hypertext – Hypermedia – Interfictions Einleitung | 165 Hinter den Spiegeln (1988) John Walker | 172 Sehen und Schreiben (1991) Jay David Bolter | 182 Cybertext. Perspektiven zur ergodischen Literatur: Das Buch und das Labyrinth (1997) Espen J. Aarseth | 203 Text, Kontext, Hypertext. Drei Sprachzustände, drei Bewusstseinszustände (2002) Derrick de Kerckhove | 212 Interfictions. Vom Schreiben im Netz (2002) Roberto Simanowski | 219

Gender-Technologien – Cyberfeminismus Einleitung | 229 Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften (1985) Donna Haraway | 238 Cyberfeministisches Manifest (1991) VNS Matrix | 278 Auf Messers Schneide: Kosmetische Chirurgie und die technologische Produktion des geschlechtlich bestimmten Körpers (1992) Anne Balsamo | 279

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Medienkörper/Körper-Medien: Erinnerungsspuren im Zeitalter der »digitalen Evolution« (1999) Marie-Luise Angerer | 293 Refugia. Manifest zur Schaffung Autonomer Zonen (2002) subRosa | 309

Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking Einleitung | 313 Die Hacker-Ethik (1984) Steven Levy | 325 Elektronischer ziviler Ungehorsam (1994) Critical Art Ensemble | 335 Der Datendandy (1995) Agentur Bilwet | 345 Bewegungsle(e/h)re? Anmerkungen zur Entwicklung alternativer und linker Gegenöffentlichkeit. Update 2.0. (1997) autonome a.f.r.i.k.a-gruppe | 350 Smart Mobs. Die Macht der mobilen Vielen (2002) Howard Rheingold | 359 Web Grrrls, Guerilla Taktiken: Junge Feminismen im Web (2004) Jayne Armstrong | 371

Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture Einleitung | 387 Die Mystery-Games der Antike (1996) Charles Cameron | 393 Adventures Erzählen Graphen (1999) Claus Pias | 398 Dogma 2001 (2001) Ernest W. Adams | 420 First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) Sue Morris | 422

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Der Mythos des ergodischen Videospiels. Einige Gedanken über das Verhältnis von Spieler und Spielfigur in Videospielen (2002) James Newman | 442

Cyborgs – Avatars – Fake-Identities Einleitung | 461 Der Cyborg und der Weltraum (1960) Manfred E. Clynes, Nathan S. Kline | 467 Die Fantasie außer Kontrolle (1990) Lynn Hershman | 476 Der heilige Cyborg (1996) Richard Barbrook | 483 Avatars im World Wide Web: Die Vermarktung der »Herabkunft« (1997) Victoria Vesna | 492 Ich bin Wir? (2001) Sherry Turkle | 505

Quellennachweise | 524 Autorinnen und Autoren | 529

2007-03-26 15-01-30 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S.

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Vorwort | 9

Vorwort

Google, die derzeit in Europa populärste Suchmaschine, verzeichnet unter dem Stichwort digitale Kultur ca. 1.730.000 Einträge. Es kann daher heute kein Reader Neue Medien herausgegeben werden, in dem nicht an erster Stelle seine Unvollständigkeit bekundet wird oder Lücken benannt werden. Geradezu programmatisch haben Medientheorie- oder Medienkultur-Reader schon seit Jahren die Heterogenität ihres Gegenstandsbereichs sowie der Theoriebildung konstatiert. Auch für die digitalen Medien, ihre Produktions- und Nutzungskulturen, sind vergleichbare Problematisierungen zu vermerken, denn wie die digitalen Technologien und Medien selbst, stehen auch die in ihrem Umfeld emergenten theoretischen und methodischen Modelle im Zeichen einer enormen diskursiven Produktivität. Zu den Gegenstandsbereichen, die in dem hier vorgelegten Reader zweifellos fehlen, zählen, dies sei also gleich vorweg gesagt, elektronische und digitale Musik(kulturen), digitales Design, Online Community-Bildung, digitales Fernsehen, Netz-TV bzw. TV-Wikis, fast der gesamte sich ständig ausweitende Bereich der Open Source-Kultur usw.1 Die meisten dieser benannten Wissensfelder scheinen zwar im Korpus des Readers auf, sind jedoch nicht mit einem eigenen Kapitel bedacht. Eine Fortsetzung der Texterschließung und -kommentierung zum Sujet der Neuen Medien ist also unerlässlich. Ob Internet, Game-Konsole, Handy- und Online-Kommunikation das »alte« Leitmedium Fernsehen ablösen werden, dies gerade tun oder bereits getan haben, ja, ob es sich bei den genannten Medien überhaupt um solche handelt, ist umstritten. Auf unmerkliche Weise aber und ganz anders als in den Wunsch- oder Angstszenarien über die neuen Maschinen und den »Cyberspace« in den 70er und 80er Jahren prognostiziert, durchziehen Apparate, Technologien und Artefakte des Digitalen unsere Alltagskultur,

1 | Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Open-Source-Kultur, zuletzt gelesen am 2. März 2006.

2007-03-26 15-01-30 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S.

9- 19) T00_06 vorwort.p 142895396184

10 | Reader Neue Medien unsere sozialen, politischen und ästhetischen Praktiken oder unseren Zeichen- und Symbolgebrauch. Begriffe wie Interface, Reload, Relaunching etc. wandern aus den Spezialdisziplinen der Kybernetik oder des Software Engineering in den Mediendiskurs und in das Vokabularium von Politik, Management oder Marketing. Doch so vertraut uns diese Begriffe und Anwendungen auch vorkommen mögen, die Opazität bzw. Phantomisierung des Digitalen, die u.a. Donna Haraway schon in den 80er Jahren hervorhebt, bleibt ein Kennzeichen der digitalen Kultur, die jedoch nur dann thematisch wird, wenn deren Funktionalität oder Effizienz in Frage steht. Die kultur- und medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Prozessen digitaler Kulturalisierung – oder Kolonialisierung – ist daher unabdingbar, um die neuen Technologien und die ihnen assoziierten sozialen und kommunikativen Prozesse2 in den jeweils differenten kulturellen Kontexten verorten und reinterpretieren zu können, denn Kultur, so die weitreichende These Lev Manovichs, wird in den medialisierten Gesellschaften erst durch das Interface, gleich ob Leinwand, TV-Bildschirm oder Handy-Display, wahrnehmbar und die Technologien des Digitalen restrukturieren basale wissenschaftliche Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Sexualität oder ethnische Zugehörigkeit. Umso erstaunlicher ist es, dass im deutschsprachigen Raum bislang kein Reader zum Gegenstandsbereich der Neuen Medien publiziert worden ist. Vor allem im angloamerikanischen Sprachraum sind seit Ende der 80er Jahre zahlreiche Aufsatzsammlungen zur Mediengeschichte und -theorie der Neuen Medien erschienen.3 Eine Sondierung der unterschiedlichen Publikationen zeigt indes, dass sich der Karrierebegriff der Neuen Medien nur bedingt in den heterogenen Textsammlungen spiegelt und sich inzwischen ein ausdifferenziertes Feld von Studien herausgebildet hat. Damit einhergehend erodieren zentrale »Leitbegriff«-Systeme und Vorstellungen von einem konformen und synchron geltenden »Paradigmenwechsel«. Dabei handelt es sich um ein Repertoire zerstreuter Projekte, mit denen versucht wird, die im Umfeld der digitalen Technologien entstehenden sozialen Praktiken in begriffliche und kategoriale Bestimmungen zu übersetzen. So kristallisieren sich entlang von »Digital Culture«, »Hypermedia«, »Interfictions«, »Cyberculture«, »Game Culture«, »Cyberfeminism«, »Collective Media« oder »Interface Culture« neue Sprachspiele heraus, die mit neuen theoretischen Bezügen experimentieren. Die bisher umfangreichste Sammlung relevanter Quellentexte legten

2 | Hierzu wäre in jüngster Zeit und in globalisierungstheoretischer Perspektive insbesondere der Mobilfunkbereich zu nennen. 3 | Vgl. die ersten Textsammlungen, die zur Kanonisierung des Diskursfeldes beigetragen haben, z.B. Brenda Laurel (Hg.): The Art of Human-Computer Interface-Design, Boston 1990; Mandred Waffender (Hg.): Cyberspace: Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten, Reinbek bei Hamburg 1991.

2007-03-26 15-01-30 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S.

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Vorwort | 11 im Jahr 2003 Noah Wardrip-Fruin und Nick Montfort unter dem Titel »New Media Reader«4 vor. Auf 800 Seiten wird hier der Versuch unternommen, einen Kanon von Referenztexten festzulegen. Doch was bedeutet es heute für die Praxis wissenschaftlicher Forschung und Lehre, einen Kanon zu generieren und Texte als historisch »überliefert«, »folgenreich«, »maßgeblich«, »richtungsweisend« oder »grundlegend« auszuweisen und von daher eine legitime Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung festzuschreiben, und welche Exklusionsprozeduren werden dadurch hervorgebracht? Für sämtliche der hier im Folgenden besprochenen TheorieReader ist beispielsweise die Absenz von Redepositionen nicht westlicher Provenienz zu konstatieren, die ganze Philologien in diesem Bereich ignoriert (wie z.B. die umfangreiche japanische oder brasilianische Forschung zum Gegenstand der digitalen und interaktiven Medien und Formate). Dieses Dilemma der Konstituierung eines fixen Textkorpus ist insofern folgenreich, als die Dominanz angelsächsischer Theorieproduktion, in den letzten Jahren retheoretisiert und diskutiert als »Whiteness des Cyberspace«, eine systematische Erweiterung der eurozentrischen Perspektive erschwert, da eine Textrecherche und -erschließung nicht den Umweg über englischsprachige Vorlagen oder Textverweise gehen kann.5 Im historischen Kontext zeigt sich, dass das Procedere der Kanonisierung, oder anders formuliert, die wissenschaftliche Inszenierung und Stilisierung eines verpflichtenden Kanons stets mit der Frage der legitimen Autorität, den Kanon zu verleihen, verknüpft war.6 Dieses Machtverhältnis prägt das semantische Bedeutungsfeld des griechischen Begriffs Kanon (»Rohrstab«, »Lineal«, »Maßstab«) und wurde zuerst von christlichen Schriftstellern im 4. Jahrhundert verwendet, um den anerkannten Bestand biblischer Schriften in der Kirchengeschichte zu verankern. In der mittelalterlichen Gesellschaft waren es drei Einrichtungen, die mit Autorität aus-

4 | Noah Wardrip-Fruin/Nick Montfort (Hg.): The New Media Reader, Cambridge/MA 2003. Der »New Media Reader« enthält generelle Einführungen von Janet Murray und Lev Manovich sowie kurze Einleitungen zu jedem einzelnen Text, welche seine ideengeschichtliche Relevanz im historischen Kontext erörtern. Teil des Buches ist auch eine CD-ROM mit Programmbeispielen – etwa dem TherapieSimulationsprogramm »Eliza« von Joseph Weizenbaum, Beispielen für frühe Computerspiele oder der Videoaufzeichnung der legendären Konferenz von 1968 in San Francisco, bei der Douglas Engelbart und William English zum ersten Mal die interaktiven Möglichkeiten einer Mensch-Maschine Schnittstelle demonstrierten. 5 | Dieses editorische Projekt zu unternehmen, war uns selbst leider unmöglich. Eine Fortsetzung der Texterschließung, die nicht eurozentrisch bzw. auf die Zonen des »global North« beschränkt ist, bleibt also dringendes Forschungsdesiderat. 6 | Vgl. Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.): Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation, München 1987.

2007-03-26 15-01-31 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S.

9- 19) T00_06 vorwort.p 142895396184

12 | Reader Neue Medien gestattet waren, sogenannte Kanones durchzusetzen: Kirche, Staat und Schule. Entscheidend ist im historischen Kontext, dass den beiden Sphären sacerdotium und imperium einerseits der religiöse und andererseits der juristische Kanon entsprachen: heilige Schriften und verbindliches Recht. Während diese beiden Sphären des Glaubens und des Rechts stets auch die explizite Überlieferung eines negativen Kanons konfigurierten, bildete sich jener moderne Bereich der Wissensgesellschaft heraus, der sich entlang des Begriffs des studium kristallisierte: der pädagogische Kanon, der Autoren bestimmte, die es zu lesen und zu studieren galt. Unter einem Kanon verstand man also einen Korpus von Texten, auf dessen Überlieferung eine spezifizierbare Wissenschaftskultur Wert legte. Diese Berufung auf eine homogene und vereinheitlichende Ordnung kanonischen Wissens impliziert aus heutiger Sicht jedoch tendenziell eine Nivellierung wissensbasierter Prozesse. Demgegenüber unternimmt der vorliegende Reader den Versuch, die Diversität theoretischer Positionierungen als agonales Prinzip um Deutungshoheit herauszustellen. Damit einhergehend kann ein geschärfter Blick für die Problematik von Kanonisierungen im Kontext der medientheoretischen Ausdifferenzierung erprobt werden. Eine gouvernmentale Perspektivierung der Mediendiskurse anzustrengen, kann etwa aufzeigen, dass Begriffe wie die der »digitalen Kultur« nicht erst in den jüngsten Debatten als »herrschaftsfrei« oder »neutral« rezipiert wurden (siehe etwa Steven Levys Ausführungen zur »Hacker-Ethik« aus dem Jahr 1984 im Kapitel Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking). Die Differenzierung »analog/digital« repräsentiert eine medienhistorische und -theoretische Leitdifferenz, welche die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägt7 und gehört damit zu den Grundbegriffen einer jeden gegenwartsbezogenen Medienwissenschaft8 – die allgegenwärtige Opposition von »altem« und »neuem« Medium begleitet oft jene von »analogem« und »digitalem« Medium. Insbesondere den titelgebenden Begriff der Neuen Medien selbst gilt es somit zu hinterfragen und zu problematisieren. Schon mit seiner mediendiskursiven Popularisierung in den 80er Jahren setzte auch eine kritische Debatte über die Bezeichnungspraxis ein. Welchen Mehrwert in Gegenstandsbestimmung und -präzisierung konnte bzw. könnte das Präfix »neu« leisten? Handelt(e) es sich nicht eher um eine Bestimmung ex negativo, einen Sammelterminus, unter dem all jene Technologien, Medien und Formate subsumiert sind, die man nicht mehr mit dem allgemeinen Medienbegriff und dem methodischen Instrumentarium der Kunst-, Film- und

7 | Vgl. Jens Schröter/Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004; Lorenz Engell/Britta Neitzel (Hg.): Das Gesicht der Welt. Medien in der digitalen Kultur, München 2004. 8 | Vgl. Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn 2005.

2007-03-26 15-01-31 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S.

9- 19) T00_06 vorwort.p 142895396184

Vorwort | 13 Fernsehwissenschaften identifizieren und beschreiben zu können glaubt? Und, so eine der zentralen Fragepositionen bis heute, was signifiziert »neu« in diesem Kontext überhaupt noch? So war in den 90er Jahren die auf den ersten Blick paradox erscheinende Konstellation zu beobachten, dass, während digitale Kunst- und Medien-Festivals boomten, in der theoretischen Literatur eine massive Kritik des Begriffs der Neuen Medien dominierte. Während heute die Rede von Neuen Medien einerseits habitualisiert ist, andererseits den Beigeschmack des Konventionellen und Beliebigen hat und man sich gern mit additiven Bezeichnungspraktiken behilft (Neue Medien und Technologien), vermögen sich etwaige alternative Labels wie »Cyber Medien«, »Hypermedien« oder »Fluide Medien« nicht zu etablieren, sodass das Begriffsdilemma sich perpetuiert. Tatsächlich besitzt das indexikalische »neu« wenig Präzisierungsgehalt geschweige denn definitorische Potenz – nicht einmal in einer etwaigen Genealogie der Medien. Die Historiografie der Neuen Medien kann folglich nicht als lineare, teleologische Erzählung oder Aussagestruktur formuliert bzw. gelesen werden. Noch weniger lässt sie sich aus technologischen oder technik-historischen Differenzen heraus (wie analog/digital, mechanisch/elektronisch) generieren. Als »neu« wurden selbstverständlich schon die analogen Medien Fotografie und Film im Zeitpunkt ihres Erscheinens bezeichnet und viele der Theoretisierungs-, Beschreibungs- und Regulierungsprobleme der Netzkultur und Medienkunst lesen sich wie eine Wiederaufnahme der Debatten um Foto, Film und Fernsehen. Der Aspekt der Abbildhaftigkeit (das Medium als »The Pencil of Nature«, wie Fox Talbot formulierte), der sich im Diskurs der Fotografie schon im späten 19. Jahrhundert nachweisen lässt,9 die juristische Neu-Kodifizierung und Gentrifizierung im Kontext des Internet10 oder die – von extensiven wissenschaftlichen Theorien und Forschungsstudien begleitete – Problematisierung sogenannter Gewaltpotentiale der Neuen Medien, wie sie bislang für ausnahmslos alle Medien und jüngst insbesondere für das Computer Game geführt wurden, sind die bekanntesten Beispiele für die Historizität von Begriff und Konzept Neuer Medien. Und: selbst der »Code«, den man alltagssprachlich gern als Basiskategorie der Computer Sciences begreift, ist kein exklusives Merkmal des Digitalen, sondern Eigenheit jeglicher nachrichtentechnischen Vorgänge, ja aller Semiotisierungsverfahren, da er als Prozess der Umschreibung aufgefasst werden kann, welcher sich bis zu dem von Augustus installierten militärischen Eilpostsystem 27 v. Chr.-14 n. Chr. zurückverfolgen lässt, wie Friedrich Kittler schreibt.11 Solche epistemologischen und metatheoretischen Perspektiven aufgreifend, untersucht der 2006 veröffentlichte

9 | Vgl. Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photografie in der Zeit des Realismus, München 1990. 10 | Vgl. Lawrence Lessing: Freie Kultur, München 2006. 11 | Vgl. seinen Beitrag im Kapitel »Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form?«.

2007-03-26 15-01-31 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S.

9- 19) T00_06 vorwort.p 142895396184

14 | Reader Neue Medien Reader von Wendy Hui Kyong Chun und Thomas Keenan »New Media, Old Media: A History and Theory Reader« die medientheoretische Konstruktion der medialen Zäsur »alt« und »neu« respektive »analog« und »digital« selbst.12 Dabei wird zugleich deutlich, dass mit dem Attribut des »Digitalen« nicht nur ein neues technisches Verfahren und seine Optionen für die Usability markiert, sondern gleichermaßen ein medienkulturelles Normativ festgelegt wird, mit welchem ein bestimmtes Werturteil und damit eine hierarchische Signifizierung ausgesprochen wird. Der im Jahr 2003 von Lisa Gitelman und Geoffrey B. Pingree herausgegebene Reader »New Media, 1740-1915«13 bricht mit der üblichen Periodisierung der Neuen Medien, die für gewöhnlich mit dem Aufstieg der Kybernetik als Leitwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg angesetzt wird.14 Pointiert macht diese Textsammlung auf den schon erwähnten Umstand aufmerksam, dass alle Medien einmal »neu« waren und thematisiert entlang historisch ausgewählter Schnittstellen von »Medien« und ihren diskursiven Konstruktionen von »Innovation« die Insuffizienz ontologisch motivierter Kategorienbildung. Dabei untersuchen Gitelman und Pingree historisch spezifische Situationen, in denen die Benennungen von Medien schwankend und unsicher sind. So entstehen in der intensiver werdenden technologischen Dynamik von Industrialisierung und später Computerisierung permanent neue Medien. Diese konfigurieren dann wiederum neue Medien – und die vormals neuen Medien werden immer schneller zu alten Medien. Im historischen Querschnitt wird deutlich, dass stets, wenn es neue Medien gibt, ähnliche Begründungsmuster auftauchen, die alte und neue Medien danach bewerten, ob sie gut oder schlecht für ihre Benutzer seien. Eines dieser typischen Muster ist beispielsweise der stets wiederholte Hinweis darauf, dass ein bestimmtes »neues« Medium eine »alte« und »überkommene« Kommunikationsform zerstören würde. Mittlerweile scheint es Common Sense geworden zu sein, den Begriff der Neuen Medien als diffus auszuweisen, da er als einziges Charakteristikum die Novität impliziert, ihn zugleich aber als konventionellen Oberbegriff in den unterschiedlichsten Mediendiskursen zu benutzen.15 Der hier vorliegende Reader Neue Medien berücksichtigt also im Titel – in kritischer Distanzierung – eine nicht mehr wegzudenkende Sprachregelung und -konvention, die sowohl Alltags- wie auch Wissenschaftskulturen prägt. Neben der primär chronologisch begründeten Zäsur des »Neuen«

12 | Wendy Hui Kyong Chun/Thomas Keenan (Hg.): New Media, Old Media: A History and Theory Reader, New York 2006. 13 | Lisa Gitelman/Geoffrey B. Pingree: New Media, 1740-1915, Boston 2003. 14 | Vgl. Dan Harries: The New Media Book, London 2002; siehe auch: Wardrip-Fruin/Montfort (Hg.): The New Media Reader, a.a.O. 15 | Vgl. Hugh Mackay (Hg.): The Media Reader: Continuity and Transformation, London u.a. 1999.

2007-03-26 15-01-31 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S.

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Vorwort | 15 existiert eine topologisch argumentierende Theorie der Erweiterung, welche »alt« und »neu« weniger als evolutionäre Substitution begreift, sondern als multimediale Intensivierung spezifizierbarer Medienprobleme.16 So wurde der Begriff der Neuen Medien, unter den alle zu einer Zeit neuen Technologien zusammen gefasst wurden (z.B. Heim-Video, Videotext und Bildschirmtext, Kabelfernsehen, Satellitenfernsehen, Teletext und Telefax, Breitbandkommunikation, Bildtelefon, ISDN), gleichgesetzt mit der Ausweitung von bestehenden Medien und Mediensystemen. In dieser Sichtweise erscheint die Rhetorik der Zerstörung des »Alten« obsolet. Medien sind mithin keine neutralen »Behälter« für Informationen, sondern ein instabiles Ensemble heterogener Texte, Bilder, Gespräche, Narrative, Stile und Selbstinszenierungen im Medium und über das Medium. Medien sind demzufolge nicht zu trennen von normativen Mediendiskursen und politischen Signifikationsapparaten, die um die Deutungshoheit streiten. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass Mediendiskurse immer auch eine imaginäre Kartografie entwerfen. Mit deren Hilfe werden »alt« und »neu«, »überholt« und »zeitgemäß«, »low« und »high« oder »analog« und »digital« repräsentabel. Oft werden in Anknüpfung an die Diskurstradition kolonialer Vorstellungen »Grenzen«, »Kontinente« oder »Territorien« gezogen – in der Hoffnung, sich damit medialer Phänomene bemächtigen zu können. In zahlreichen Erzählungen wurde etwa der Cyberspace als ein leerer Kontinent entworfen, der für die Freiheit eines Individualismus im Naturzustand steht, der vor den Reglements eines nachrückenden Staates und dessen Interventionen verteidigt werden muss – so etwa in den Gründungsnarrativen der Electronic Frontier Foundation oder John Berry Barlows »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace«.17 Gegenüber vorrangig methoden- und wissenschaftshistorisch motivierter Arbeit am Kanon der digitalen Medien18 und ihrer theoretischen Verortung versuchen »alternative« Reader, die epistemologische Deutungshoheit per se zu problematisieren und die damit verknüpften strategischen Einund Ausschlüsse kritisch zu hinterfragen.19 Entscheidend ist in diesem

16 | Vgl. das als Netzstruktur organisierte Glossarium bei Jason Whittaker (Hg.): The Cyberspace Handbook, London 2004. 17 | Dieser Text ist im Kapitel »Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments« abgedruckt. 18 | Vgl. exemplarisch die Legitimierungsstrategie des Kanons u.a. bei der Hervorhebung des »Maßgeblichen« bei Lorenz Engell/Claus Pias/Josef Vogl (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999. 19 | Vgl. exemplarisch nettime (Hg.): Netzkritik. Materialien zur Internet-Debatte, Berlin 1997; Chris Toulouse (Hg.): The Politics of Cyberspace: A New Political Science Reader, New York 1998; John Downing: Radical Media. Rebellious Communication and Social Movements, London 2001; Neil Spiller (Hg.): Cyber Reader:

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16 | Reader Neue Medien Zusammenhang, dass mit diesen Buchprojekten auch gleichermaßen eine notwendige Wissenschaftskritik, oder anders: eine Kritik der herrschenden Medientheorie und -geschichte formuliert wird.20 Der Verdienst von alternativen Relektüren ist es, aufzuzeigen, wie und mit welchen Verfahrensweisen medientheoretische Diskurse ihre Methoden und Gegenstände in wissenschaftliche Erzählungen und Metaphern einbetten, mit denen unterschiedliche Strategien verfolgt werden – etwa wenn zu (Un-)Gunsten der Neutralisierung der neuen Medien die gender- und sozialpolitische Usability ausgeblendet wird.21 Dieser kritisch-reflektierende Mediendiskurs grenzt sich dabei vom apologetischen Mediendiskurs ab. Kritisiert wird hier, dass die Affirmation des neuen Mediengebrauchs vor allem dazu dient, die Gesellschaft auf die Einführung der Medien einzustellen. Problematisch am kritisch-reflektierenden Ansatz bleibt freilich die Nachträglichkeit des reflektierenden Reagierens, insofern erst dann »eigene« Ansätze entwickelt werden, wenn mediale Narrative und Narrative des Medialen bereits die Veränderungen des gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Lebens beeinflusst haben. So unterschiedlich die Perspektiven im Rahmen der Textauswahl auch ausgefallen sind – sämtliche Readerprojekte versammeln Texte der unterschiedlichsten Fachrichtungen. Damit legen die einzelnen Anthologien, Reader und Kursbücher einen nachhaltigen Standard mediendiskursiver Reflexion und Konstruktion von Medium und Medialität fest, der verdeutlicht, dass digitale Medien nicht nur speichernde, vermittelnde und repräsentierende Medien sind, sondern sämtliche alltagskulturellen Bereiche erfassen und somit das gesellschaftliche Imaginäre selbst affizieren und strukturieren. Insofern teilen zahlreiche Theorieansätze gegenwärtig die Einschätzung, dass die epistemologische Ära der Einzelmedientheorien systematisch wie historisch überwunden ist.22 Von dieser konstitutiven Hybridisierung sind gleichermaßen die Theorien und ihre Gegenstände betroffen. So ist etwa der Computer mehr als eine Rechen- oder Schreibmaschine, da er immer mehr Funktionen integriert: Als ein Mehrzweckmedium ist er Telefon, Fax, persönlicher Assistent, Basis-Einheit für Videokonferenzen, Fernsehgerät, Radio, Klang-Prozessor und Game-Konsole;

Critical Writings for the Digital Era, London 2002; David Kline/Dan Burstein: Blog!: How the Newest Media Revolution is Changing Politics, Business, and Culture, New York 2005. 20 | Irmela Schneider: »Neue Medien in Mediendiskursen: Einige Überlegungen zur Analyse von Netzkommunikation«, in: Barbara Becker/Michael Paetau (Hg.), Virtualisierung des Sozialen: Die Informationsgesellschaft zwischen Fragmentierung und Globalisierung, Frankfurt a. M., New York 1997, S. 29-52. 21 | Jenny Wolmark (Hg.): Cybersexualities: A Reader on Feminist Theory, Cyborgs and Cyberspace, Edinburgh 1999. 22 | Vgl. Werner Faulstich: Medientheorien. Einführung und Überblick, Göttingen 1991, S. 91.

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Vorwort | 17 angeschlossen an das Internet dient der digitale Rechner als Distributionsund Publikationskanal, als Nachschlagewerk sowie als Apparat für Telekommunikation. Vor diesem Hintergrund positioniert sich der vorliegende Reader Neue Medien. Entlang der in ihm versammelten Texte wird sichtbar, wie sehr kulturelle und technische Entwicklungen ineinandergreifen, sich wechselseitig bedingen und voraussetzen. Eine damit avisierte transdisziplinäre Archäologie digitaler Mediendiskurse setzt weder bei einer Geschichte der technischen Innovationen an noch versucht sie, die Geschichte der Anwendungen und Nutzungen stringent zu verfolgen. Nehmen wir an, dass die Konstituierung von Subjekten stets an mediale Repräsentationspraktiken sowie an Mediendiskurse angeschlossen ist, so gewinnt die vielschichtige Diskussion zur Bedeutung des Subjekts in poststrukturalistischen, gender- und hegemonietheoretischen Diskursen durch aktuelle informations- und kommunikationstechnologische Entwicklungen und medientheoretische Reformulierungen der Konzeptionen von »Identität« und »Differenz«, »Realität« und »Virtualität« innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse einen neuen Stellenwert. Dementsprechend muss die Frage nach dem Bezugssystem zwischen Konstituierungsprozessen des Subjekts, technologischer Entwicklung und Gesellschaft immer wieder neu verhandelt werden. Oft ist der Vorwurf des heuristischen und methodologischen Eklektizismus der Medientheorie und -praxis an die Forderung nach einer essentialistischen und identitätsstiftenden Grundlegung der »eigenen Gegenstände«, des »eigenen Forschungsgebiets« und der »eigenen Begrifflichkeit« geknüpft. Bezieht man sich demgegenüber weder auf einen essentialistischen Medienbegriff noch auf ein distinktes Paradigma des Digitalen noch auf einen – wie auch immer motivierten – Prozess der Kanonisierung von Texten, müssen Selektion, Konstellierung und Kommentierung der Texte anders motiviert und begründet sein. Texte, die einen fast kanonischen Anspruch (im Sinne einer beständigen Reproduktion in anderen Medientheorietexten) erheben können, werden konterkariert durch Texte, die bislang noch wenig Beachtung gefunden haben, sich aber beispielsweise zu solchen »Klassikern« (hierzu wären z.B. die Texte von Haraway oder Turing zu rechnen) positionieren, indem sie sie »weiter schreiben«, kritisieren, umschreiben oder eine Gegenposition formulieren. Im Reader sind ausdrücklich sich theoretisch widersprechende Positionen präsent, welche die Heterogenität und Umkämpftheit des jeweiligen Forschungsfeldes eindrücklich dokumentieren. Aufgenommen wurden zudem neben Texten, die in einem engeren Sinne die Thematik der einzelnen Kapitel umreißen, auch solche, die den Gegenstandsbereich in einer heute überraschend erscheinenden Perspektive bearbeiten. »Hinter den Spiegeln« von John Walker in dem Kapitel »Hypertext – Hypermedia – Interfictions« versucht Anfang der 90er Jahre eine Historiografie der Benutzeroberflächen und Interfaces zu schreiben, wäre also gleichermaßen im ersten Kapitel »Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form?« oder im Kapitel »Mögli-

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18 | Reader Neue Medien che Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments« zu platzieren gewesen. Zum Korpus der akademischen Theorieproduktion treten Texte aus der »Online-Bewegung«, die für den Prozess der Institutionalisierung, Regulierung und Gentrifizierung der digitalen Kultur wichtig waren und sind oder diese programmatisch reflektieren, kritisieren und persiflieren (z.B. Manifeste, polemische Statements und andere Programmtexte). Unter editorischer Perspektive wurde bei Auszügen aus Monografien solchen Texten der Vorzug gegeben, die von den Autor/-innen selbst als Einzelpublikationen ausgewählt wurden (z.B. durch Vorabveröffentlichung) und insofern schon den Status eines Einzeltextes beanspruchen können. Es wurden keine Kürzungen in den Artikeln selbst vorgenommen. Bei Texten in deutscher Originalsprache wurde die historische Orthografie berücksichtigt und dementsprechend weitestgehend erhalten. Auch bei den Übersetzungen aus dem Englischen wurden Diktion des Originaltextes und historischer Kontext berücksichtigt. Innerhalb der Textauswahl wurden Textsorten thematisch gebündelt und in einen – über die thematische Kapiteleinteilung hinausgehenden – Zusammenhang gestellt: Neben dem akademischen Theorietext stehen politische Texte von Künstler/-innen und Aktivist/-innen, Manifeste und Erklärungen, Polemiken und Essays. Es empfiehlt sich also für den Gebrauch des Readers neben der Möglichkeit der linearen bzw. kapitelweisen Lektüre durchaus die Taktik des »Surfens«, des Querlesens, denn neben den in den Einzelkapiteln abgedruckten Texten, die einen ersten Einblick in die Problematik medientheoretischer Ansätze im Bereich der digitalen und interaktiven Medien geben, finden sich zahlreiche thematische Querverweise auch in Texten und einleitenden Kommentaren der anderen Kapitel, auf die dann in einer Fußnote gesondert hingewiesen wird. So bezieht sich Alan M. Turing (im einleitenden Kapitel »Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form?«) in seinem Exkurs über »natürliche« und Künstliche Intelligenz bezeichnender Weise auf das Beispiel des Spiels und ist somit auch einschlägig für die Game Studies (s. das Kapitel »Inter-Acting: Games, Spieltheorie, GameCulture«). Sherry Turkle, die mit ihrem Buch »Life on the Screen«23 einen viel diskutierten theoretisch-methodischen Beitrag zur Konzeptualisierung der Computerspiel-Theorien erstellte, ist im Reader Neue Medien mit einem neueren Text zum Themenfeld virtueller Identitätsbildung im Kapitel »Cyborgs – Avatars – Fake-Identities« vertreten. Und Shawn Miklaucics Analyse zum Verhältnis von digitaler Raumkonstruktion, Hypermedialität und Spieldramaturgie, »Virtuelle Realität(en): SimCity und die Produktion von urbanem Cyberspace«, ist im Kapitel »Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments« situiert, kommentiert aber gleichwohl narrative und optisch-visuelle Strategien von digitalen Spielen. Der enge Konnex, der zwischen dem Format Game und dem Gesamtkomplex Statis-

23 | Sherry Turkle: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet (Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet), München 1997.

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Vorwort | 19 tik, Prognostik, Simulation mit seiner immensen Bedeutung für die westlich-industriellen Kulturen heute besteht, gerät dadurch in den Fokus des Readers. Während Trendforschung, Simulationsszenarien und Prognosen über Medien und ihre Expansion unaufhörlich Nutzungsmuster analysieren und Konsuminteressen entwerfen, die dann später oft als peripher eingestuft werden müssen,24 lässt sich ohne großes Risiko voraussagen, dass Netzwerktechnologien und interaktive Anwendungen weiterhin in steigendem Maße die sozialen, politischen und ästhetischen Praktiken in jenen Kulturen und Regionen der Welt bestimmen werden, die über Stromversorgung und damit potentiell über »Access« zu den Neuen Medien verfügen. Doch sollten die gegenwärtigen Vorausdeutungen der Strukturentwicklung und des Medienwandels zutreffen, so wird der Cyberspace künftig durch die Staaten und die Sprachen Asiens – und insbesondere Chinas – dominiert. Da diese Prognosen unsere unmittelbare Zukunft betreffen, ist es nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass nicht wir, Medienwissenschaftler/-innen mit deutschem, englischem und französischem Sprachhintergrund, sondern Expert/-innen der Sinologie den nächsten Reader Neue Medien erarbeiten und herausgeben werden. Und ist es auch Pflicht oder zumindest Usus der Textsorte Vorwort, weiterführende Perspektiven zu benennen, so hat schon Gerard Genette in seiner Untersuchung des Phänomens »Paratextualität« darauf aufmerksam gemacht, dass man die Epitexte in »respektvoller« und zugleich »vorsichtiger« Distanz zum Text selbst platzieren solle, da sie lediglich den Status eines »Hilfsdiskurses« beanspruchen können und sollten.25 Unser Dank gilt daher vor allem den Autor/-innen, die uns für dieses Projekt ihre Texte zur Verfügung gestellt haben. Karin Bruns Ramón Reichert

24 | Das Umgekehrte geschah beispielsweise hinsichtlich der SMS-Technologien in der Mobilkommunikation. 25 | Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (Seuils), Frankfurt a. M. 2003.

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) vakat 020.p 142895396240

Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form?

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) T01-00 resp I.p 142895396288

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) vakat 022.p 142895396360

Einleitung | 23

Einleitung

»There is no rewind button on the betamax of life«, hatte der jüngst gestorbene Medienkünstler Nam June Paik 1967 im Kontext der beginnenden Videokunst geschrieben, damit vielleicht auch auf die Unumkehrbarkeit technologischer und medialer Evolutionen anspielend.1 Die daraus ableitbare Grundsatzerwägung, wie weit sich Begriffszuschreibungen wie Medium oder Medialität sinnvoll und wissenschaftlich begründbar zurückverfolgen lassen, muss auch für die Neuen Medien erprobt und neu verhandelt werden. Muss Interaktivität bereits für die poetischen Sprachspiele und Labyrinthe der Antike reklamiert werden oder versteht man darunter ausdrücklich und exklusiv nur jene Medienprodukte und -kunstwerke, die ein Eingreifen des Publikums im konzeptionellen Ansatz verankern und technisch realisieren?2 Überlegungen wie diese zielen somit insbesondere auf die Frage nach der Bedeutung des Technikparadigmas für die (Theorien der) digitalen und interaktiven Medien. Doch nicht nur der Begriff New Media, der im englischsprachigen Raum sehr viel gebräuchlicher ist als sein deutschsprachiges Äquivalent hier, ist, wie auch eine mögliche Eingrenzung des damit Gemeinten, heute mehr denn je erklärungsbedürftig, da der terminus technicus »Medium« an sich eine erneute Reflexion und Revision erfordert. Kann einerseits die schnelle und beinah globale Expansion des Medienbegriffs und die rasante Ausweitung des Gegenstandsbereichs vermerkt werden, muss andererseits seine »Unschärfe«, ein Verlust an Präzision bis hin zur Trivialisierung, ja

1 | Paiks Ausspruch dürfte zu den meist zitierten Formeln zur medialen Durchdringung der Kultur zählen; Tendenzen wie die Medienarchäologie bestimmen sich heute hingegen aus einem starken Impuls gegen evolutionäre und teleologische Vorstellungen heraus. 2 | Interaktivität etwa firmiert als eines der zentralen Kriterien für digitale Medien; vgl. wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Interaktivität, zuletzt gelesen am 5. Januar 2006; vgl. dazu auch das Kapitel »Hypertext – Hypermedia – Interfictions«.

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24 | Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form? Bedeutungslosigkeit, eingestanden werden.3 Dies macht es zunehmend schwierig, von Medientheorie und Medienwissenschaft im Singular zu sprechen, von einer Theorie der Neuen Medien ganz zu schweigen. Die Medientheorien haben insgesamt ihre Methoden, ihr Begriffsinventarium, ihre systematischen Zugangsweisen zum Gegenstandsbereich wie auch eine Gegenstandsbestimmung aus vielen verschiedenen Wissensdisziplinen extrahiert. Zugleich müssen sie den Clash von Technowissenschaften und Kultur- respektive Geisteswissenschaften austragen,4 und so speis(t)en sich auch jene theoretischen Ansätze, die sich mit Computer, Internet, Game oder Medienkunst beschäftigen, aus anderen Theorien, genauer gesagt: aus Theoremen der Interaktivität und Zeichentheorie, aus kybernetischen Modellen der Informationsverarbeitung, aus Spieltheorien, der Narratologie, diversen Ansätzen der Bildrezeption u.v.m., die in einem inzwischen mehrere Jahrzehnte andauernden Prozess auf die emergenten Formate, Genres und Apparate der Alltagskultur angewendet, kombiniert und modifiziert werden. Zahlreiche Neologismen begleiten und/oder initiieren die Herausbildung neuer Theoriekonzepte: Computer, Code, Hypertext, Interaktivität oder Interface um auch hier nur einige wenige zu nennen. Der Computer, als eine alle Formen der Digitalisierung erst ermöglichende Maschine – auch dies eine keineswegs unbestrittene Annahme –, besitzt nach Janet H. Murrays Definition vier basale Eigenschaften: prozessual, partizipativ, enzyklopädisch und räumlich (»spatial«).5 Vergleichbar etwa dem Film, den frühe Theorien in Analogie zu Skulptur, Malerei und Literatur analysierten, um daraus theoretische Parameter zu gewinnen, lassen sich Theorien computerbasierter Kommunikation, Interaktivität oder des digitalen Spiels aus theoretischen Modellen der Schriftkultur, der Literatur, aus Philosophemen und/oder Handlungstheoremen gewinnen. Als Prototyp des Computers gilt gemeinhin die Turingmaschine, die als Standard für Wissensprozessierung und Denken gesehen werden kann.6 Alan M. Turings hier wieder abgedruckter Text belegt, wie sehr Theorie-Modellbildung in der Kybernetik vom Wechselspiel zwischen medizinisch-humanwissenschaftlichem und technischem Wissen geprägt

3 | Im Sektor der Kulturwissenschaften ist dies wohl nur noch vergleichbar mit der Verwendung des Labels »Kultur« selbst. 4 | Bekanntlich bewegt sich die Methodik in den Medienwissenschaften von semiotisch-systemischen und diskurstheoretischen Ansätzen über psychologischpsychoanalytische Theoreme bis hin zur empirisch orientierten Wirkungs- respektive Usability-Forschung. 5 | Vgl. Janet H. Murray: »Inventing the Medium«, in: Noah Wardrip-Fruin/ Nick Montfort (Hg.), The New Media Reader, Cambridge/MA 2003, S. 6. 6 | Vgl. Wolfgang Coy: »Die Turing Galaxie – Computer als Medien«, in: Klaus Peter Denker (Hg.), Weltbilder/Bildwelten, Hamburg 1995, Proceedings der Tagung »Interface II«, Hamburg 5.-8. Februar 1993.

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Einleitung | 25 ist. Mit seinem Entwurf, seiner Prognose von einer universellen Maschine, zählte Turing zu den ersten Ingenieurwissenschaftlern, die den Versuch unternahmen, eine intelligente Maschine als umfassendes semiotisches Repräsentationssystem zu planen und zu denken. Betrachtet man die Einführung des Computers, der technischen Medien und den Prozess der Digitalisierung, dessen alltagskulturelle Verbreitung in Westeuropa in die 80er Jahre fällt, als historischen Einschnitt, als »Revolution«7 oder »tiefgreifende Mediatisierung der Gesellschaft«8, so kann man daraus die Frage ableiten, welchen Beitrag die Neuen Medien zu der neu entstehenden »Informatik der Herrschaft« (Donna Haraway)9 leisten. Bringen PC, Handy, Konsole, Internet oder HDTV einen neuen Gesellschaftstypus – oder auch mehrere – hervor? »Die Übersetzung der gesamten Welt in ein Problem der Kodierung lässt sich anhand der Kommunikationswissenschaften veranschaulichen, wenn man sich die Anwendung kybernetischer (rückkopplungsgesteuerter) Systemtheorien auf Telefonnetze, den Entwurf von Computern, die Entwicklung von Waffen und die Konstruktion und Pflege von Datenbanken vergegenwärtigt. In jedem dieser Fälle besteht die Lösung der Schlüsselprobleme in einer Theorie von Sprache und Kontrolle. Der entscheidende Schachzug besteht in der Bestimmung der Raten, Richtungen und Wahrscheinlichkeiten des Flusses einer Größe, die als Information bezeichnet wird. Die Welt ist durch Grenzen unterteilt, die eine verschiedene Durchlässigkeit für Information besitzen, Information ist genau dasjenige quantifizierbare Element (Einheit, Grundlage von Einheit), auf dessen Basis universelle Übersetzung und damit unbehinderte instrumentelle Macht (auch bekannt als »effektive Kommunikation«) möglich wird. Die größte Bedrohung dieser Macht besteht in der Störung der Kommunikation.«10

Haben wir in der theoretischen Perspektive Haraways das Zeitalter des Posthumanen längst betreten, so erfolgt in der Historiografie der (Neuen)

7 | »Die digitale Revolution ist etwas grundlegend anderes als die Einführung eines weiteren Mediums und als eine weitere Variante der McLuhan’schen Liste der Medien. Sie kann nicht durch Schlagworte definiert werden. Die Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien stellt eine grundlegende Veränderung unserer Beziehungen zu allen Medien, zu all unseren Sinnen und Ausdrucksformen dar. […] Die neuen Medien verwandeln unsere Definitionen von Kultur und Wissen selbst.«; Kim H. Veltman: »Kultur und Wissen im digitalen Zeitalter«, in: Britta Neitzel/Rolf F. Nohr (Hg.), Das Gesicht der Welt. Medien in der digitalen Kultur, München 2004, S. 13-29, hier: S. 28. 8 | »Einleitung«, in: Günter Helmes/Werner Köster (Hg.), Texte zur Medientheorie, Stuttgart 2002, S. 15-20, hier: S. 15. 9 | Vgl. Haraways Text »Ein Manifest für Cyborgs« im Kapitel »GenderTechnologien – Cyberfeminismus«. 10 | Ebd.

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26 | Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form? Medien – je nach medienwissenschaftlichem Fokus – eine andere typologische Zuordnung zwischen Zeitabschnitt/Kulturtypus und Medium. Die Gutenberg-Galaxis, medientechnisch dominiert durch Buch(druck) und Schrift, Verfahren der Linearisierung, Sequenzialisierung und Hierarchisierung, werde – so z.B. Marshall McLuhan, Wolfgang Coy, Manuel Castells und andere – durch das Informationszeitalter und sodann durch die McLuhan-Galaxis, die Turing- und die Internet-Galaxis abgelöst, jeweils strukturiert und organisiert durch das Fernsehen respektive Computer oder Internet als Leitmedium.11 Janet Murray behauptet gar ein »digitales emergentes Medium«, das sich als Tiefenstruktur hinter den multiplen Formaten und Anwendungsformen zu erkennen gibt: »a single new medium of representation, the digital medium«.12 »The digital medium which […] may seem plural to us now, because it is so myriad in its forms – virtual reality CAVEs, the Internet, ›enhanced‹ television, videogames. Indeed, like the medium of film 100 years earlier, the computer medium is drawing on many antecedents and spawning a variety of formats. But the term ›new media‹ is a sign of our current confusion about where these efforts are leading and our breathlessness at the pace of change, particularly in the last two decades of the 20th century.« 13

Ein einziges hyperpotentes und multifunktionales Medium also, das sich aus zahlreichen technisch differenten Apparaten der Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe von Daten zusammensetzt? – Die mikroelektronische Durchdringung der westlichen Kultur setzt sich bekanntlich aus mehreren Komponenten zusammen: dem Chip, dem Computer, umfangreichen Softwaredistributionen usw., deren Konfiguration wiederum auf Kabelund Satellitentechnik, der Erfindung integrierter Schaltkreise, dem mathematischen Algorithmen- und Binärsystem und vielem mehr basiert. Viele der Endgeräte, die im Alltag Verwendung finden, verfügen selbst wiederum über multiple Komponenten und Funktionen (Multi Tasking), sodass optische und akustische Medien, häufig noch haptische und kinästhetische Komponenten, verkoppelt sind. Der Computer ist als Schreib-, Lese- und Rechenapparatur, mit Boxen und Screen als Radio, TV-Gerät und Heimkino, mit Internetanschluss als Infothek, Mediathek oder umfangreiches Verwaltungstool (E-Mail, Banking, Shopping) einsetzbar. Die an seine Peripherie anschließbaren Ausgabegeräte und Interfaces,14 Bildschirm, Beamer, Maus, Webcam, Tastatur, Joypad, LECD-Brille u.v.m., verwandeln

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Vgl. W. Coy: »Die Turing Galaxie – Computer als Medien«, a.a.O. J.H. Murray: Inventing the Medium, a.a.O., S. 3. Ebd., Hervorhebung im Original. Auch die alltagskulturelle Einschätzung, welche Elemente noch zu einem Computer und welche zur Peripherie gehören, hat sich seit den 80er Jahren maßgeblich verändert.

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Einleitung | 27 die Nutzungs- und Wirkungsparameter radikal. Und mit Handy und Mobilfunknetz haben weitere Extensionen und Hybridisierungsprozesse begonnen.15 Dass Effekte und Nutzungspraktiken je nach ökonomischkulturellem Kontext stark differieren, haben Studien etwa zur Handynutzung in den verschiedenen Ländern und Kulturen deutlich gemacht. Angesichts dessen könnte man den Verdacht schöpfen, dass mit Medium in diesen verschiedenen Praxis-, Rede- und Argumentationskontexten jeweils etwas ganz Unterschiedliches gemeint wird und Analogiebildung statt Theoriebildung am Werk ist. Eine ähnliche Basiskategorie wie der Medienbegriff oder der um 1960 entstandene Neologismus Computer, im Sanskrit »Korrektzähler«,16 ist zweifellos das »Zauberwort« Code, dem sich Friedrich Kittler in seinem 2003 anlässlich der »Ars Electronica« veröffentlichten Beitrag »Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt«17 zuwendet. Nicht nur Ethymologie und Filiationen von Code und Codierung sind vielgestaltig und verzweigt, also selbst »multikursal«.18 Bezeichnend für den Siegeszug des Code ist demnach das Kurzschließen von Herrschaftsform und/als Herrschaftsmittel (imperium), was Kittler historisch wie auch als militär- und machtstrategische Formel »Command, Control, Communication und Computer« in der Jetztzeit weiterverfolgt. Dass die technischen Begriffe und allen voran der Code sich vor die herkömmliche Wortbedeutung und ihre machttechnologischen Implikationen gestellt haben, ist – mit Kittler gesprochen – ein Effekt der Vermischung der zuvor getrennten Register Zahl und Letter in der Praxis der Chiffrierung. Zu diesem Phänomen, der Amalgamierung der verschiedenen Zeichentypen Bild, Schrift, Note, Karte etc., haben die einzelnen Fachdisziplinen umfangreiche theoretisch-konzeptionelle Ansätze, Untersuchungen und Studien vorgelegt. Um dieses – die Diskussionen um das Mediendispositiv bestimmende – Modell der Mediengenealogie aufzugreifen eröffnet Fox Talbots »klassischer«, im Deutschen jedoch nur schlecht verfügbarer Text »Der Zeichenstift der Natur« diesen Reader. Fox Talbot gilt vielen als einer der ersten Vertreter eines ingenieurwissenschaftlichen Umgangs mit Neuen Medien,19 da er Camera Obscura und Camera Lucida als rein mechanische Abbil-

15 | Dem steht im Bereich der Game-Konsolen zurzeit eine Art Engführung bzw. Entmischung der Medien auf eine Funktion gegenüber. 16 | In den späten 60er Jahren konvertiert dieses schon im Mittelalter für mühsame und langwierige Rechentätigkeiten gebräuchliche Verb in eine Bezeichnung für die Maschine, die diese ausführt. 17 | Vgl. den Text in diesem Kapitel. 18 | Zu Begriff und Konzept der Multikursalität vgl. den Text von Espen J. Aarseth im Kapitel »Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture«. 19 | Vgl. Gerfried Stocker: The Pencil of Nature II: http://www.aec.at/de/ar chives/festival_archive/festival_catalogs/festival_artikel.asp?iProjectID=8261, zuletzt gelesen am 12. Januar 2006.

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28 | Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form? dungs- und Aufzeichnungsmedien betrachtet, als Instrumente oder Tools, mit deren Hilfe ein Print von der Welt bzw. ihrer Einzelelemente erstellt werden kann. Mit »The Pencil of Nature« publizierte Fox Talbot das erste Buch mit eingeklebten Fotografien. Die von Talbot für diese Ausgabe verfassten Begleittexte gelten als früheste Äußerungen über das fotografische Verfahren und liefern zahlreiche Ansätze zu einer fotografischen Ästhetik und Theorie.20 Mit der Formulierung »Stift der Natur«21 kreierte Henry Fox Talbot eine Bildmetapher, mit der er zum Ausdruck brachte, dass die Bilder, die durch die optische Belichtung der chemischen Emulsion entstehen, nicht mehr vom Künstler, sondern von der Natur selbst geschaffen würden. Mit der damit gesetzten Naturalisierung der fotografischen Methode wurde der Apparatus, der in seinem optisch-chemischen Prozess das Bild entstehen lässt und diesem auch seine technologiespezifischen Parameter in der Gestaltung aufprägt, aus der Fotografiegeschichte ausgeblendet. Neben der literarischen Qualität der die Fotografien beschreibenden Texte geht es Talbot vor allem darum, die fotografische Methode selbst zu rechtfertigen. Mit dem vielzitierten Schlagwort des »Pencil of Nature« wurde in der Folge die Fotografie als Abbild der Natur und dadurch als das privilegierte Speichermedium der naturwissenschaftlichen Beweisführung legitimiert. Das über die engere Fotografiegeschichte tradierte Schlagwort vom »Pencil of Nature« verweist also in erster Linie auf eine Erfolgsgeschichte der epistemologischen Selbstinszenierung. Entlang diverser Evidenzstrategien wurde es dahingehend instrumentalisiert, eine mögliche Krise der Referentialität zu bewältigen, indem durchgehend eine indexikalische Beziehung zwischen der chemo-physikalischen Fotografie und ihrem Gegenstand behauptet wurde. In engem Konnex zu dem Apriori und den Schlussfolgerungen hinsichtlich einer Bestimmung und Eingrenzung digitaler Medien oder gar eines diskreten digitalen Einzelmediums steht der Aspekt der Epochenbestimmung: Bewegen wir uns nach Poststrukturalismus, Postfordismus, Postmoderne und dem Zeitalter des Posthumanen nun auf die postdigitale (und z.B. nanotechnische) Ära zu oder stecken wir, wie andere Theoretiker/-innen, Medienkünstler/-innen und Kurator/-innen behaupten, noch in den Anfängen elektronischer Medienkunst und digitaler Kultur? In verschiedenen seiner Forschungsarbeiten zum Dispositiv formuliert Michel Foucault eine Theorie epistemischer Brüche und Paradigmenwechsel,

20 | Vgl. Mike Weaver/Henry Fox Talbot: Selected Texts and Bibliography, Oxford 1992; Larry J. Schaaf: Selected Correspondence of William Henry Fox Talbot, 1823-1874, London 1994; Ders.: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot, Princeton 2000; Museo Nacional (Hg.): El Arte y los Experimentos de William Henry Fox Talbot, Madrid 2001. 21 | Wolfgang Kemp: »Einleitung« [zur deutschen Übersetzung von William Henry Fox Talbots ›The Pencil of Nature‹ (1844)], in: Ders. (Hg.), Theorie der Fotografie I: 1839-1912, München 1999, S. 60.

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Einleitung | 29 die in vielen Texten zur Theorie der Neuen Medien die Ausgangsbasis weiterer Analysen und Kommentare bildet. So wird das mittelalterliche System der Strafe und Abschreckung abgelöst durch Überwachungs- und Kontrollsysteme mit ihrer Privilegierung des Blicks im Panoptismus;22 die eingeführten Institutionen und Praktiken der Disziplinierung, Erziehung und Normierung werden sukzessive ersetzt und ergänzt durch Normalisierungs- und Konkurrenzdispositive und an Stelle der alten Verfahren der Körperdressur treten mediatisierte, fragmentierte, von Wissen gesättigte und sich selbst regulierende23 Körper respektive Subjektivitäten. »Our era has turned visualization into the ultimate form of control; in the hands of the clarity fetishists who have turned CNN into a verb: ›I’ve been CNN-ed today, haven’t you?‹ This marks next only the final stage in the commodification of the scopic, but also the triumph of vision over all the other senses.«24

In welcher Weise die neuen Kommunikations-, Informations- und Visualisierungsmedien in ihren machttechnologischen Funktionen auf Körper und Subjektivität des/der Einzelnen zugreifen, hat als wichtiger Aspekt die Theorien der Neuen Medien begleitet. Sherry Turkle zählt zu jenen Theoretiker/-innen, die mit ihren Arbeiten zum elektronischen Alter Ego als »Second Self« die medizinische und technologische Re-/Konstruktion des Körpers im Ineinandergreifen der verschiedenen Wissensfelder, Spezialdiskurse und Medien25 beschrieben und in einen operationalisierbaren wissenschaftlichen Ansatz überführt haben.26 Zu den viel diskutierten Texten, die grundlegend die Kategorie der Subjektivität reflektieren, gehört auch der Aufsatz »Der Mensch ohne Fähigkeiten«, in welchem der französische Philosoph Michel Serres den massiven Einfluss der elektronischen Kommunikations- und Speichermedien auf die allgemeinen Formen des Denkens und Lernens untersucht. Serres geht dabei von der anthropologischen Grundthese aus, dass der Mensch mit dem Aufstieg des Computers und der Durchdringung seines Alltags mit einem nachhaltigen Gedächtnisverlust konfrontiert sei: »In dem Maße, wie wir leistungsfähige Gedächtnisse bauen, verlieren wir unser eigenes, jenes nämlich, das die Phi-

22 | Dies verweist unmittelbar auf die Funktion und Funktionalisierung von Medien und Seh-Apparaten in den modernen nordwestlichen Staaten. 23 | Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus, Opladen 2006. 24 | Rosi Braidotti: »Cyberfeminism with a Difference«, in: Amelia Jones (Hg.), The Feminism and Visual Culture Reader, London, New York 2003, S. 532; Braidotti spricht hier von der »Omnipotenz visueller Medien«. 25 | Vgl. etwa die Entwicklung im Bereich Wearable Computing. 26 | Vgl. ihren Beitrag »Ich bin Wir?« im Kapitel »Avatars – Cyborgs – FakeIdentities«.

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30 | Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form? losophen einst eine facultas, eine Fähigkeit oder ein Vermögen, nannten.«27 Die Intensivierung digitaler Speichertechniken konstituiert demzufolge eine Subjektivität, die das humanistische Bildungsideal der Mnemotechnik oder Gedächtniskunst, das die Kultur der Moderne prägte, aufgibt – zugunsten einer neuen Ökonomie des Vergessens. Dieses Vergessen begreift Serres jedoch nicht als einen defizitären Mangel, sondern als einen produktiven Funktionsverlust des individuellen Gedächtnisses. VergessenKönnen versteht er gleichsam als die letzte verbleibende »Fähigkeit« humanen Handelns,28 die mit dem »Einbruch neuer Technologien« eine bestimmte Ära in der »Geschichte der Menschwerdung« markiert.29 So ermöglicht der spezifische Gedächtnisverlust wiederum eine durch ihn bedingte Freiheit.30 Angesichts der ins Technische ausgelagerten Kapazitäten wird eine neue Subjektivität formiert – es entsteht, so Michel Serres, ein neuer Mensch – ein »Mensch ohne Fähigkeiten«. Diese neue Kreativität manifestiert sich jedoch auf andere Weise als die frühere Gedächtniskultur, die Serres als quantitativ messbares Erinnerungsvermögen eines Speichermediums begreift. Demzufolge kann Serres Standardisierungen als einen entscheidenden Faktor für die umfassende Entwicklung mediengeschichtlicher Umbrüche behaupten. Der menschlichen Kultur unterstellt er damit ein mediales a priori und beschreibt historische Kulturen anhand der Kapazität ihrer Medien als Speicherung, Verarbeitung und Übertragung von Nachrichten. Die Setzung eines in seiner Kapazität beschränkten Speichers im Dienste der Erinnerung offeriert jedoch keinen anthropologischen Perspektivenwechsel, sondern folgt den traditionellen Topoi der Gedächtnistheorie, wie sie seit Aristoteles, der rhetorischen Tradition der Ars memorativa und Augustinus vertreten werden, und zählt heute zum Gemeinplatz des Denkens der Mensch-Maschine-Interaktion. Im Verlauf seiner Argumentation distanziert sich Serres von dieser Sichtweise, indem er am Ende seines Textes den Begriff des »Verlierens« einführt. Es handelt sich im strengen Sinne um kein »Verlieren«, sondern um eine Potenz im Gegensatz zum Akt. Im ausgelagerten Kollektivgedächtnis des Internet situiert sich das flexible Subjekt als Effekt struktureller Amnesie und ent-

27 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel; in erster Auflage erschienen in: Transit 22 (2001/2002), S. 200. 28 | Womit dann freilich das klassische Subjekt des Handelns, das sich etwa durch »Wille«, »Absicht« oder »Zielorientiertheit« auszuzeichnen pflegte, obsolet wird. 29 | Vgl. Michel Serres: »Der Mensch ohne Fähigkeiten. Die Neuen Technologien und die Ökonomie des Vergessens«, a.a.O., S. 205. 30 | Vgl. Kurt Röttgers: »Michel Serres. Strukturen mit Götterboten«, in: Joseph Jurt (Hg.), Von Michel Serres bis Julia Kristeva, Freiburg i. Br. 1999 (Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae, Bd. 69), S. 87-112.

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Einleitung | 31 wirft sich stets von Neuem auf unvorhergesehene Ereignisse hin.31 Allerdings bleibt die gewonnene Potentialität doppelbödig, denn der Mensch gewinnt zwar an Möglichkeiten, verliert aber gleichzeitig an Fähigkeiten. Was sich ankündigt, ist eine informelle Wende: Anstelle der Gedächtniskultur der sorgfältig geordneten Welt treten unter den Vorzeichen sich diversifizierender Netzkulturen andere symbolische Formen, die vielmehr Grenzfiguren der Repräsentation im Spannungsverhältnis zwischen Darstellung und Undarstellbarkeit markieren.32 Mit dem Entstehen des Computers ist auch das Entstehen von Computerkunst, elektronischer Kunst, Medienkunst oder einer Cybernated Art, wie Nam June Paik es bezeichnet,33 zu beobachten, zu deren Vorläufern man vor allem kinetische Kunst und Videokunst rechnet. Der vom Philosophen, Physiker und Mathematiker Max Bense im Jahr 1965 verfasste Text »Kunst und Intelligenz« ist eine konzise Zusammenfassung seiner Technikphilosophie und seiner in den 50er Jahren konzipierten »Informationsästhetik«.34 Die sogenannte Informationsästhetik gilt als die erste wissenschaftliche Beweisführung, die Phänomene des Datenumsatzes als Basis ästhetischer Fragestellungen einsetzt. Auf der Suche nach einer exakten Lehre vom Schönen propagierte Bense eine rational-empirische, objektiv-materiale Ästhetikkonzeption, die in letzter Konsequenz dazu geeignet sein sollte, künstlerische Prozesse und Produktionen durch Computerprogramme lenken zu können. Die entscheidende Grundlage seiner Rationalisierung von Artefakten bildete die Konzeption der durchgehenden binären Codierung35 von Ordnung und ihrem Gegenteil, dem Chaos. »Kunst und Intelligenz« stellt in Aussicht, die in Kunstwerken auftretenden Ordnungsbeziehungen zu messen und aufgrund dieser Ergebnisse ästhetische Kriterien von Kunstwerken verbindlich und einheitlich festzusetzen. Im Umkehrschluss hat Bense gleichermaßen eine Ästhetik der Programmiersprache und informationsbasierten Kommunikation formuliert und ausgearbeitet. In seinem »Manifest einer neuen Prosa«36 diskutierte Bense die Automatisierung des Schreibens. Nach dem Vorbild experimenteller Literatur erstellte Bense gemeinsam mit Autoren

31 | Vgl. Jörg Türschmann: »Das poetische Netz: Möglichkeiten der Beschreibung von Internetkultur anhand der Wissenschaftsphilosophie von Michel Serres«, in: Philologie im Netz (PhiN) 2 (2004), S. 10-22. 32 | Vgl. zum Begriff der »Schwarmintelligenz« den im Kapitel »Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking« abgedruckten Beitrag von Howard Rheingold »Smart Mobs – Die Macht der mobilen Vielen«. 33 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel. 34 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel. 35 | Das meint die mathematisch definierte Information nach der formalen Logik von Claude Shannon. 36 | Vgl. Max Bense: »Manifest einer neuen Prosa«, in: augenblick 4/4 (1960), S. 20-22.

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32 | Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form? der Stuttgarter Gruppe stochastische Texte am Großcomputer Zuse. Künstlerisches Ziel der aleatorischen Textgenerierung war es, die kreative Praxis soweit zu schematisieren, dass diese auch von computerunterstützten Technologien automatisch und beliebig oft reproduziert werden konnte: »Markoffketten, nicht Bedeutungen erzeugen Schönheit oder Hässlichkeit«,37 schreibt Bense 1960 in sein Manifest. Benses ästhetische Würdigung des automatischen Schreibens auf der Basis computerbasierter Algorithmen wurde jedoch bisher in den Debatten um den künstlerischen Stellenwert von Hypertext und Multi-Linearität wenig rezipiert.38 Die wissenschaftsgeschichtliche Relevanz seiner Schriften zur Programmierung des Schönen haben allerdings in der akademischen Literatur in den letzten Jahren eine starke Beachtung und Aufwertung erfahren.39

37 | Ebd., S. 21. 38 | Eine Ausnahme markieren die genealogischen Untersuchungen zur Kunst im Internet u.a. von Roberto Simanowksi: Vom Schreiben im Netz, Frankfurt a. M. 2001, vgl. seinen Text im Kapitel »Hypertext – Hypermedia – Interfictions«. 39 | Vgl. Barbara Büscher/Hans-Christian von Herrmann/Christoph Hoffmann (Hg.): Ästhetik als Programm. Max Bense/Daten und Streuungen (Kaleidoskopien. Medien – Wissen – Performance, Band 5), Berlin 2004.

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Der Stift der Natur (1844) | 33

Der Stift der Natur (1844) William Henry Fox Talbot

Ansicht der Boulevards von Paris Diese Ansicht wurde von einem der obersten Fenster des Hotels de Douvres aufgenommen, das an der Ecke der Rue de la Paix liegt. Der Betrachter blickt in Richtung Nordost. Die Zeit ist Nachmittag. Die Sonne scheint gerade nicht mehr auf die Reihe der Gebäude, die mit Säulen geschmückt sind, ihre Fassade liegt schon im Schatten, aber ein einzelner, offenstehender Fensterflügel reicht gerade noch so weit, dass ihn ein Sonnenstrahl erreicht. Das Wetter ist heiß und staubig – man hat gerade die Straße mit Wasser besprengt, was die zwei breiten dunklen Streifen anzeigen, die Vordergrund zusammenlaufen. Die Straße wird nämlich gerade repariert – was man an den zwei Schubkarren und an anderen Details erkennen kann –, und so musste der eine Sprengwagen auf die andere Spur ausweichen. Am Straßenrand erblickt man eine Reihe von wartenden Droschken und Cabriolets, und ganz in der Ferne sieht man rechts eine Kutsche. Ein ganzer Wald von Schornsteinen erhebt sich vor dem Horizont: Denn das Instrument registriert, was auch immer es sieht, und sicher würde es einen Kamin oder einen Kaminfeger mit der gleichen Unparteilichkeit wie den Apoll von Belvedere aufzeichnen. Die Ansicht ist von beträchtlicher Höhe aus aufgenommen, was man leicht erkennen kann, wenn man das Haus zur Rechten betrachtet. Das Auge muss notwendigerweise auf einem Niveau mit der Zone des Gebäudes sein, an der die horizontalen Linien oder Mauerfugen als Parallelen zur unteren Bildkante erscheinen.

Gegenstände aus Porzellan Dieses Beispiel macht deutlich, dass es nur wenig länger dauert, die ganze Vitrine eines Porzellansammlers auf Papier zu bannen, als sie in der üblichen Weise schriftlich zu inventarisieren. Je seltener und phantastischer

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34 | William Henry Fox Talbot die Formen seiner Teegeschirre ausfallen, desto größer ist der Vorzug des Bildes gegenüber der Beschreibung. Und sollte einmal ein Dieb diese Schätze entwenden, dann würde sicher eine neue Art der Beweisführung entstehen, wenn man das stumme Zeugnis des Bildes gegen ihn bei Gericht vorlegt. Ich überlasse es der Spekulation der Rechtskundigen, wie der Richter und die Jury darauf reagieren werden. Die Gegenstände auf dieser Tafel sind zahlreich, aber wie zahlreich die Dinge auch sind, wie kompliziert ihre Zusammenstellung auch ausfällt, die Kamera bildet sie alle auf einmal ab. Man kann auch sagen: Sie bildet alles ab, was sie sieht. Das gläserne Objektiv ist das Auge des Instrumentes – das lichtempfindliche Papier lässt sich mit der Retina vergleichen. Und das Auge sollte keine zu große Pupille haben, das heißt, der Lichteinfall der Linse sollte durch eine Blende verringert werden können, in der ein kleines rundes Loch ist. Wenn das Auge des Instrumentes die Gegenstände durch diese verengte Öffnung registriert, fällt das Bild schärfer und genauer aus. Aber es dauert länger, bis es sich auf dem Papier abgezeichnet hat, denn je kleiner die Blendenöffnung ist, desto weniger Strahlen fallen von den gegenüberliegenden Objekten in das Instrument und auf das Papier.

Büste des Patroklus Statuen, Büsten und andere Werke der Skulptur lassen sich durch die fotografische Kunst gut abbilden und, je nach Helligkeit des Objektes, auch sehr schnell. Diese Abbildungen sind beinahe unendlich variierbar. Denn eine Statue kann man von allen Seiten beleuchten, entweder frontal oder von der Seite – der direkte oder schräge Einfall des Sonnenlichts wird natürlich die Wirkung sehr verschieden ausfallen lassen. Und wenn der Lichteinfall einmal festgelegt ist, dann kann die Statue auf ihrem Sockel gedreht werden, was eine zweite Serie von nicht weniger wirkungsvollen Variationen erzeugt. Und wenn man hierzu noch den Wechsel der Abbildungsgröße nimmt, der durch die nähere oder weitere Entfernung der Camera obscura entsteht, dann wird es klar, welch große Zahl verschiedener Ansichten man einer einzigen Skulptur abgewinnen kann. Bei vielen Statuen fährt man besser, wenn man sie bei bedecktem Himmel aufnimmt. Denn das Sonnenlicht erzeugt so schwarze Schatten, die bisweilen den Gesamteindruck verwischen. Um dies zu verhindern, ist es ein gutes Mittel, ein weißes Tuch in geringer Entfernung von der Statue aufzuhängen, das die Sonnenstrahlen reflektiert und so eine leichte Aufhellung der Teile bewirkt, die ansonsten im Schatten versinken würden.

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Die offene Tür Der Hauptzweck des vorliegenden Werkes ist es, eine neue Kunst in ihren Anfangsversuchen festzuhalten, bevor sie durch die Hilfe des englischen Talents zu dem von uns erwarteten Stadium ihrer Vervollkommnung gebracht wird. Dies ist eine der bescheidenen Bemühungen aus ihren Kindheitstagen, die von einigen parteiischen Freunden lobend hervorgehoben wurde. Wir kennen viele Beispiele der niederländischen Kunst, die alltägliche und vertraute Gegenstände darstellen. Das Auge eines Malers wird oft von Sujets gefesselt, an denen der Normalmensch nichts Bemerkenswertes feststellen kann. Ein zufälliger Lichtschimmer, ein Schatten, der über dem Weg liegt, eine verwitterte Eiche oder ein moosbedeckter Stein können einen Strom von Gedanken und Gefühlen und pittoresken Vorstellungen in Gang setzen.

Der Heuhaufen Ein Vorteil, den die Erfindung der Fotografie gebracht hat, ist der Umstand, dass sie es uns ermöglicht, in unsere Bilder eine Vielzahl kleinster Details aufzunehmen, die die Wahrheit und Realitätsnähe der Darstellung steigern helfen und die kein Künstler so getreu in der Natur abkopieren würde. Sich mit der Gesamtwirkung begnügend, würde er es wahrscheinlich als unter seiner Würde erachten, jeden Licht- und Schatteneffekt zu registrieren. Und er könnte es auch nicht, ohne unverhältnismäßig viel Zeit und Mühe aufzuwenden, die er an anderer Stelle besser investierte. Dennoch ist es ein Vorteil, jetzt die Mittel zur Verfügung zu haben, die uns diese Details ohne zusätzlichen Aufwand erschließen, denn sie verleihen mancher Szenerie, von der man es nicht erwartet hatte, einen Anstrich von Reichtum und Vielfalt.

Kopie einer Lithografie Hier haben wir die Kopie einer Pariser Lithografie, die vermutlich viele meiner Leser kennen. Alle Arten von Grafik können mit fotografischen Mitteln kopiert werden, und diese Anwendungsweise der Kunst ist sehr wichtig, nicht nur weil sie Kopien von beinahe Faksimile-Qualität hervorbringt, sondern weil sie es in unser Belieben stellt, den Abbildungsmaßstab zu ändern und die Kopien um so vieles größer oder kleiner als die Originale zu machen, wie wir es wollen. Die alte Methode, die Größe einer Zeichnung mit dem Pantografen oder einem anderen Behelf abzuändern, war sehr lästig und verlangte ein

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36 | William Henry Fox Talbot exakt konstruiertes und wohl eingerichtetes Instrument, während die fotografischen Kopien größer oder kleiner werden, indem man nur die Originale näher oder weiter vor die Kamera hält. Diese Tafel ist ein Beispiel für diese nützliche Anwendung der Kunst; sie ist eine Kopie, die trotz starker Verkleinerung alle Proportionen des Originals getreu bewahrt.

Queens College, Oxford, Eingang Auf der ersten Tafel dieses Buches habe ich eine andere Ecke dieses Gebäudes gezeigt. Hier haben wir eine Ansicht des Portalvorbaus und der mittleren Partie des Colleges. Sie wurde von einem Fenster der gegenüberliegenden Seite der High Street aus aufgenommen. Wenn man gut durchgearbeitete Fotografien studieren will, empfiehlt sich der Gebrauch einer großen Lupe, so wie sie ältere Menschen häufig beim Lesen verwenden. Diese vergrößert die dargestellten Objekte um das Zwei- bis Dreifache und enthüllt eine Fülle winziger Details, die man vorher nicht realisiert hat. Es geschieht überdies häufig, dass der Fotograf selbst bei einer solchen späteren Überprüfung entdeckt, dass er viele Dinge aufgezeichnet hat, die ihm zur Zeit der Aufnahme entgangen waren – und das macht zu Teilen den Charme der Fotografie aus. Manchmal findet man Inschriften und Daten auf Gebäuden oder ganz unbedeutende Anschläge; manchmal erkennt man das entfernte Zifferblatt einer Uhr und auf ihr – unbewusst festgehalten – die Uhrzeit, zu der die Aufnahme gemacht wurde.

Büste des Patroklus Eine andere Ansicht der Büste, die auf der fünften Tafel dieses Buches erscheint. Man hat oft gesagt – und es ist bereits sprichwörtlich geworden –, dass es keinen Königsweg des Lernens gibt. Aber das Sprichwort trügt, denn es gibt ganz sicher einen Königsweg zum Zeichnen-Lernen. Und eines Tages, wenn er besser erkannt und erkundet ist, werden ihn wohl viele beschreiten. Schon jetzt haben einige Amateure den Stift niedergelegt und sich mit Chemikalien und Kameras ausgerüstet. Besonders diejenigen Amateure – und das sind nicht wenige –, welche die Regeln der Perspektive zu schwierig finden und welche unglücklicherweise ein wenig faul sind, ziehen eine Methode vor, die sie von allen diesen Mühen befreit. Und selbst ausgebildete Künstler bedienen sich nunmehr einer Erfindung, die in wenigen Augenblicken die unzähligen Details gotischer Architektur festhält, wofür ein ganzer Tag zum korrekten Abzeichnen in der althergebrachten Weise kaum reichen würde. Übersetzung aus dem Englischen: Wolfgang Kemp

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) Alan M. Turing

I. Das Imitationsspiel Ich beabsichtige, die Frage »Können Maschinen denken?« zu untersuchen. Diese Überlegung sollte damit beginnen, die Bedeutung der Begriffe »Maschine« und »Denken« zu definieren. Die Definitionen könnten so gefasst sein, dass man die übliche Verwendung dieser Wörter berücksichtigt, doch diese Haltung ist gefährlich. Wenn die Bedeutung der Begriffe »Maschine« und »Denken« durch eine Untersuchung ihres üblichen Gebrauchs herausgefunden werden soll, ist es schwierig, der Schlussfolgerung zu entkommen, dass ihre Bedeutung sowie die Antwort auf die Frage »Können Maschinen denken?« durch eine statistische Untersuchung wie eine Gallup-Umfrage zu ermitteln ist. Statt es mit einer solchen Definition zu versuchen, werde ich die Frage durch eine andere ersetzen, die eng mit dieser verwandt ist und in relativ eindeutigen Begriffen ausgedrückt wird. Die neue Form der Problemstellung kann als Form eines Spiels, das wir das »Imitationsspiel« nennen wollen, beschrieben werden. Es wird mit drei Personen gespielt, einem Mann (A), einer Frau (B) und einer fragenden Person (C), die weiblich oder männlich sein kann. Der Frager befindet sich in einem von den beiden anderen getrennten Raum. Ziel des Spiels ist für den Frager, zu bestimmen, wer von den beiden anderen der Mann und wer die Frau ist. Für ihn bzw. sie werden sie zunächst als X und Y bezeichnet und am Ende des Spiels sagt er entweder »X ist A und Y ist B« oder »X ist B und Y ist A«. Der Frager darf A und B folgende Fragen stellen: C: »Würde X mir bitte die Länge seines oder ihres Haares sagen?« Nun nehmen wir an, X ist tatsächlich A, dann müsste A antworten. Bei diesem Spiel ist es das Ziel, C zu einer falschen Identifikation zu verleiten. Seine Antwort könnte daher sein: »Mein Haar ist sehr kurz geschnitten und die längsten Stränge sind ungefähr 9 Inches lang.« Damit der Klang der Stimmen dem Frager nichts verrät, sollten die Antworten aufgeschrieben oder, noch besser, maschinengeschrieben werden. Die ideale Anordnung sieht einen Fernschreiber vor, der zwischen

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38 | Alan M. Turing den beiden Räumen kommuniziert. Alternativ können Frage und Antworten von einer Mittelsperson wiederholt werden. Ziel des Spiels für die dritte Person (B) ist es, dem Frager zu helfen. Die beste Strategie für sie ist wahrscheinlich, ehrliche Antworten zu geben. Sie kann ihre Antworten durch Bemerkungen wie »Ich bin die Frau, hören Sie nicht auf ihn!« ergänzen, doch es wird nichts nützen, da der Mann ähnliche Kommentare machen kann. Wir fragen uns nun: »Was passiert, wenn eine Maschine die Rolle von A in diesem Spiel einnimmt?« Wird der Frager ebenso oft die falsche Entscheidung treffen, wenn das Spiel so gespielt wird, wie er es tut, wenn das Spiel zwischen einem Mann und einer Frau gespielt wird? Diese Fragen ersetzen die ursprüngliche Frage »Können Maschinen denken?«.

II. Abhandlung der neuen Problemstellung Neben der Frage, »Was ist die Antwort auf diese Problemstellung?«, kann man auch fragen, »Ist diese neue Frage interessant genug für eine Untersuchung?«. Letzteres untersuchen wir ohne Umschweife und verhindern damit einen sich ständig wiederholenden Rückschluss. Die neue Problemstellung hat den Vorteil, eine relativ scharfe Trennlinie zwischen den physischen und den intellektuellen Fähigkeiten des Menschen zu ziehen. Kein Ingenieur oder Chemiker behauptet in der Lage zu sein, ein Material herzustellen, das von der menschlichen Haut nicht unterschieden werden kann. Möglicherweise wird dies irgendwann geschehen, doch sogar wenn wir annähmen, es gäbe diese Erfindung, würde es kaum Sinn machen, eine »Denkmaschine« menschlicher zu machen, indem wir sie in solch künstliches Fleisch hüllen. Die Form der Fragestellung berücksichtigt diese Tatsache durch den Umstand, dass der Frager die Mitspieler weder sehen noch berühren noch deren Stimmen hören kann. Weitere Vorteile des vorgeschlagenen Unterscheidungsmerkmals können durch exemplarische Fragen und Antworten aufgezeigt werden wie z.B. folgende: F(rager): Schreiben Sie bitte ein Sonett über den Forth Bridge. A: Da bin ich draußen. Ich konnte noch nie Gedichte schreiben. F: Addieren sie 34.957 und 70.764. A: (gibt nach ca. 30 Sekunden die Antwort): 10.5621. F: Spielen Sie Schach? A: Ja. F: Ich habe den König auf e 8 und keine weiteren Figuren mehr. Sie haben nur noch den König auf e 6 und einen Turm auf h 1. Sie sind am Zug. Was machen Sie? A: (nach etwa 15 Sekunden): Turm auf h 8. Schach Matt.

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 39 Diese Methode von Frage und Antwort scheint passend zu sein, um fast jedes Gebiet menschlichen Strebens anzuschneiden, das wir einbeziehen möchten. Wir wollen weder die Maschine für ihr Unvermögen bestrafen, bei Schönheitswettbewerben zu glänzen, noch einen Menschen dafür, dass er in einem Wettrennen gegen ein Flugzeug verliert. Unsere Spielbedingungen machen diese Unfähigkeiten irrelevant. Falls sie dies als ratsam betrachten, können die »Zeugen« mit ihrem Charme, ihrer Kraft oder ihrer Heldenhaftigkeit prahlen, aber der Frager darf keine praktische Demonstration davon verlangen. Das Spiel wird möglicherweise kritisiert werden, weil sich die Vorgaben zu sehr an der Maschine orientieren. Wenn der Mensch versuchen würde, die Maschine nachzuahmen, würde er zweifellos kein gutes Bild abgeben. Er würde sich aufgrund seiner Langsamkeit und seiner rechnerischen Ungenauigkeit verraten. Ist es nicht so, dass Maschinen etwas tun, das als Denken bezeichnet werden kann, das sich aber stark von dem unterscheidet, was der Mensch tut? Dieser Einwand ist schwerwiegend, doch können wir zumindest sagen, dass, auch wenn eine Maschine so gebaut werden kann, dass sie das Imitationsspiel zufriedenstellend spielt, wir dadurch nicht beunruhigt sein müssen. Es könnte ins Feld geführt werden, dass die beste Strategie der Maschine beim Spielen des »Imitationsspiels« möglicherweise die wäre, etwas anderes als menschliches Verhalten zu imitieren. Dies mag sein, doch ich denke es ist unwahrscheinlich, dass dies eine große Auswirkung hätte. Jedenfalls besteht hier nicht die Absicht, die Theorie des Spiels zu untersuchen, und es wird angenommen, dass die beste Strategie die ist, Antworten zu geben, die ein Mensch normalerweise geben würde.

III. Die am Spiel teilnehmenden Maschinen Die unter Punkt 1 gestellte Frage wird erst ganz eindeutig sein, wenn wir bestimmt haben, was wir mit dem Begriff »Maschine« meinen. Natürlich möchten wir zulassen, dass jede erdenkliche Technik für unsere Maschinen genutzt werden kann. Wir möchten auch die Möglichkeit einräumen, dass ein Ingenieur oder ein Team von Ingenieuren eine funktionierende Maschine konstruiert, deren Bedienungsweise jedoch von ihren Konstrukteuren nicht zufriedenstellend beschrieben werden kann, da sie dazu eine weitgehend experimentelle Methode angewendet haben. Schließlich möchten wir Menschen, die auf natürliche Weise geboren wurden, von den Maschinen ausnehmen. Es ist schwierig, die Definitionen so einzugrenzen, dass sie allen drei Bedingungen gerecht werden. Man könnte beispielsweise darauf bestehen, dass das Team von Ingenieuren alle demselben Geschlecht angehören, doch das wäre nicht wirklich zufriedenstellend, da es wahrscheinlich möglich ist, ein vollständiges Individuum aus einer einzelnen Zelle der Haut (sagen wir mal) eines Mannes zu züchten. Dies zu tun wäre ein Meisterstück biologischer Technik, das höchstes Lob verdient,

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40 | Alan M. Turing doch wären wir nicht geneigt, dies als einen Fall »der Konstruktion einer denkenden Maschine« zu betrachten. Das veranlasst uns, die Forderung, dass jede Art von Technik erlaubt sein sollte, aufzugeben. Wir sind angesichts der Tatsache, dass das gegenwärtige Interesse für »denkende Maschinen« durch eine bestimmte Form von Maschine geweckt wurde, die üblicherweise »elektronischer Computer« oder »digitaler Computer« genannt wird, umso mehr dazu bereit. Dieser Annahme folgend erlauben wir nur digitalen Computern, an unserem Spiel teilzunehmen. Auf den ersten Blick scheint diese Einschränkung drastisch zu sein. Ich werde versuchen zu beweisen, dass dies in Wirklichkeit nicht so ist. Dies erfordert eine kurze Darstellung der Beschaffenheit dieser Computer. Es sollte auch angemerkt werden, dass die Gleichsetzung von Maschinen mit digitalen Computern, wie auch unser Kriterium für »Denken«, nur unzureichend sein wird, wenn es sich (im Gegensatz zu meiner Annahme) herausstellt, dass digitale Computer nicht in der Lage sind, im Spiel gut abzuschneiden. Es sind bereits eine Reihe digitaler Computer in Betrieb und man könnte fragen: »Warum nicht das Experiment gleich machen?« Es wäre ein Leichtes, die Spielbedingungen zu erfüllen. Man könnte eine Reihe von Fragern rekrutieren und Statistiken sammeln, um zu zeigen, wie oft eine richtige Identifikation erfolgte. Kurz gesagt, fragen wir weder danach, ob alle digitalen Computer im Spiel gut abschneiden, noch fragen wir, ob die zurzeit verfügbaren Computer gut abschneiden würden, sondern: ob Computer vorstellbar sind, die gute Ergebnisse erzielen. Aber das ist nur die kurze Erklärung. Wir werden diese Frage später in einem anderen Licht sehen.

IV. Digitale Computer Die Idee hinter digitalen Computern ist, dass diese Maschinen alle möglichen Tätigkeiten ausführen können, die ein menschlicher Rechner machen könnte. Der menschliche Rechner folgt, wie man annimmt, fixen Regeln; und er hat keinerlei Befugnis, von ihnen in irgendeiner Weise abzuweichen. Wir können davon ausgehen, dass diese Regeln in einem Buch aufgeschrieben sind und – sobald es eine neue Aufgabe gibt – überarbeitet werden. Er hat außerdem einen unbegrenzten Papiervorrat, auf dem er seine Rechnungen ausführt. Er kann seine Multiplikationen und Additionen auch mit einem »Tischrechner« machen, doch das ist nicht wichtig. Wenn wir die oben genannte Erklärung als Definition verwenden, laufen wir Gefahr, uns argumentativ im Kreis zu bewegen. Das vermeiden wir, indem wir die Mittel, mit denen die gewünschte Wirkung erzielt wird, umreißen. Ein digitaler Computer besteht für gewöhnlich aus drei Bestandteilen:

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 41 (I) (II) (III)

Speicher Arbeitseinheit Kontrolle

Der Speicher ist ein Informationsspeicher und entspricht dem Papier des menschlichen Rechners, ganz gleich ob dies das Papier ist, auf dem er seine Berechnungen macht, oder das, auf dem sein Regelbuch gedruckt ist. Darin, dass der Verstand Berechnungen im Kopf macht, entspricht ein Teil des Speichers dem menschlichen Gedächtnis. Die Arbeitseinheit ist der Teil, der die verschiedenen einzelnen Denkprozesse, die eine Berechnung umfasst, durchführt. Welche dieser einzelnen Prozesse dominant sind, variiert von Maschine zu Maschine. Normalerweise können recht langwierige Prozesse durchgeführt werden wie »Multipliziere 3.540.675.445 mit 707.634.567«, doch können manche Maschinen nur sehr einfache Prozesse wie »Notiere 0« ausführen. Wir haben erwähnt, dass das »Regelbuch«, mit dem der Rechner ausgestattet ist, in der Maschine durch einen Teil des Speichers ersetzt wird. Dies heißt dann »Befehlsliste«. Die Kontrolle muss darauf achten, dass die Befehle korrekt und in der richtigen Reihenfolge durchgeführt werden. Die Kontrolle ist so konstruiert, dass dies garantiert ist. Die Informationen im Speicher sind für gewöhnlich in relativ kleine Pakete aufgeteilt. In einer Maschine umfasst ein Paket beispielsweise zehn Dezimalzahlen. Die einzelnen Teile des Speichers, in denen die unterschiedlichen Informationspakete gespeichert sind, sind mit Zahlen in einer bestimmten systematischen Ordnung versehen. Eine typische Befehlsfolge könnte heißen: »Addiere die Nummer, die auf Position 6809 gespeichert ist, mit jener auf 4302 und speichere das Ergebnis wieder auf der letzten Speicherposition.« Es versteht sich von selbst, dass diese Instruktion in der Maschine nicht in Englisch erscheint. Vielmehr wäre sie in einer Formel wie 6.809.430. 217 kodiert. Hier bestimmt »17«, welche von den verschiedenen möglichen Prozessen zwischen den beiden Zahlen auszuführen ist. In diesem Fall ist es der oben beschriebene Prozess »Addiere die Zahl …«. Anzumerken ist, dass die Instruktion zehn Ziffern umfasst und so ganz praktisch ein Informationspaket darstellt. Normalerweise wird die Kontrolle die Instruktionen, die zu befolgen sind, in der Reihenfolge, in der sie gespeichert sind, drannehmen, doch gelegentlich kann man auch eine Befehlsfolge finden wie »Nun befolge die Instruktion, die auf Position 5606 gespeichert ist und setze von da weiter fort« oder »Wenn Position 4505 eine 0 enthält, befolge als nächstes die Instruktion auf 6707, sonst fahre mit der nächsten Position fort«. Befehlsfolgen wie diese sind von großer Bedeutung, da sie es ermöglichen, eine Abfolge von Arbeitsvorgängen solange zu wiederholen bis eine bestimmte Bedingung erfüllt ist, ohne dass bei jeder Wiederholung neue Instruktionen erfolgen müssen. Schauen wir uns eine Analogie aus dem Haushalt an: Nehmen wir an, Mutter will, dass Tommy jeden Morgen auf

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42 | Alan M. Turing seinem Weg zur Schule beim Schuster vorbeischaut und fragt, ob ihre Schuhe fertig sind; sie kann ihn jeden Morgen erneut darum bitten. Andererseits kann sie einmal eine Notiz in den Flur hängen, die er immer sieht, wenn er das Haus verlässt, und auf der steht, dass er beim Schuster nach den Schuhen fragen soll und dass er die Notiz erst dann entfernen soll, wenn er die Schuhe geholt hat. Der Leser muss es daher als Tatsache akzeptieren, dass Computer konstruiert werden können und auch konstruiert wurden, die nach den oben beschriebenen Prinzipien funktionieren und die tatsächlich die Aktionen des menschlichen Rechners präzise imitieren können. Das Regelbuch, von dem wir sagten, dass es der menschliche Verstand verwendet, ist natürlich eine zweckdienliche Fiktion. Wirkliche menschliche Rechner merken sich, was sie tun müssen. Wenn man will, dass eine Maschine das Verhalten des menschlichen Verstandes in einem komplexen Arbeitsprozess nachahmt, muss man fragen, wie der Verstand es macht und dann die Antwort in die Form einer Instruktionstabelle übersetzen. Das Erstellen von Instruktionstabellen nennt man üblicherweise »Programmieren«. »Eine Maschine zu programmieren, dass sie den Vorgang A ausführt« bedeutet, die Maschine mit der entsprechenden Instruktionstabelle zu füttern. Eine interessante Variante der Idee des Digitalcomputers ist »ein digitaler Rechner mit einem Zufallselement«. Dieser hat Instruktionen, die den Wurf eines Würfels oder einen vergleichbaren elektronischen Prozess umfassen. Eine solche Befehlsfolge könnte zum Beispiel sein: »Wirf den Würfel und gib die resultierende Zahl auf Speicherplatz 1000.« Manchmal wird einer solchen Maschine ein freier Wille zugeschrieben (wenngleich ich diese Bezeichnung selbst nicht verwenden würde). Für gewöhnlich kann man durch das Beobachten einer Maschine nicht bestimmen, ob sie ein Zufallselement besitzt oder nicht, denn ein ähnlicher Effekt kann durch eine solche Verfahrensweise produziert werden, die die Entscheidungen von den Ziffern der vierten Dezimalstelle abhängig macht. Die meisten Digitalcomputer besitzen nur einen begrenzten Speicher. Es ist theoretisch keineswegs schwierig, sich einen Computer mit unbegrenztem Speicherplatz vorzustellen. Natürlich kann jeweils nur ein begrenzter Teil verwendet werden. Entsprechend kann auch nur eine begrenzte Menge an Speicher konstruiert werden, doch können wir uns vorstellen, dass bei Bedarf immer mehr hinzukommt. Solche Computer haben erhöhte theoretische Bedeutung und werden als Rechenmaschinen unbegrenzter Kapazität bezeichnet. Die Idee des Digitalcomputers ist alt. Charles Babbage, von 1828 bis 1839 Professor für Mathematik in Cambridge, plante eine solche Maschine, Analytische Maschine genannt, doch wurde diese niemals fertiggestellt. Obwohl Babbage all die grundlegenden Ideen hatte, bot seine Maschine zur damaligen Zeit keine besonders attraktive Zukunftsperspektive. Die zur Verfügung stehende Geschwindigkeit wäre bestimmt schneller als das menschliche Hirn, doch immer noch rund hundertmal langsamer als die

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 43 Manchester-Maschine, die selbst wiederum eine der langsameren unter den modernen Maschinen ist. Der Speicher sollte ein rein mechanischer mit Rädern und Karten sein. Die Tatsache, dass Babbages Analytische Maschine zur Gänze mechanisch sein sollte, hilft uns, mit einem Aberglauben aufzuräumen. Oft wird der Tatsache, dass moderne Digitalcomputer, genau wie das Nervensystem, elektrisch sind, viel Bedeutung zugemessen. Da Babbages Maschine nicht elektrisch war und da alle Digitalcomputer in gewissem Sinne vergleichbar sind, sehen wir, dass diese Verwendung von Elektrizität nicht von theoretischer Bedeutung sein kann. Natürlich kommt Elektrizität da ins Spiel, wo es um schnelle Signalübertragung geht, folglich überrascht es nicht, dass wir sie in diesen beiden Verbindungen finden. Im Nervensystem sind chemische Prozesse mindestens genauso wichtig wie elektrische. In manchen Computern ist das Speichersystem größtenteils akustisch. Das Nutzen von Elektrizität kann also nur als oberflächliche Ähnlichkeit betrachtet werden. Wenn wir solche Ähnlichkeiten finden wollen, sollten wir vielmehr nach mathematischen Funktionsanalogien suchen.

V. Universalität des Digitalcomputers Die digitalen Computer, die im letzten Abschnitt betrachtet wurden, können als »diskrete Maschinen« (»discrete state machines«) klassifiziert werden, die sich durch plötzliche Sprünge oder Klicks von einem spezifizierten Zustand zu einem anderen bewegen. Diese Zustände sind hinreichend unterschiedlich, um die Möglichkeit von Verwechslungen untereinander vernachlässigen zu können. Streng genommen gibt es solche Maschinen nicht. In Wirklichkeit verläuft alles stetig. Es gibt jedoch viele Arten von Maschinen, die man sinnvoller Weise als diskrete Maschinen auffassen kann. Wenn man beispielsweise die Schalter eines Beleuchtungssystems betrachtet, ist es eine praktische Vorstellung, dass jeder Schalter eindeutig ein- oder ausgeschaltet ist. Es muss zwar Zwischenpositionen geben, doch können wir diese für die meisten Zwecke außer Acht lassen. Als Beispiel einer solchen diskreten Maschine können wir uns ein Rad denken, das in einer Sekunde 120 Umdrehungen macht, das aber durch einen von außen bedienbaren Hebel gestoppt werden kann; zusätzlich leuchtet eine Lampe bei einer der jeweiligen Positionen des Rades auf. Diese Maschine könnte abstrakt wie folgt beschrieben werden: Der innere Zustand der Maschine (die durch die Position des Rades beschrieben wird) kann q1, q2 oder q3 sein. Es gibt ein Input-Signal i0 oder i1 (Position des Hebels). Der interne Status ist zu jedem gegebenen Zeitpunkt durch den vorherigen Status sowie durch das Input-Signal gemäß folgender Tabelle bestimmt:

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44 | Alan M. Turing Letzter Status

q1

q2

q3

i0

q2

q3

q1

i1

q1

q2

q3

Die Output-Signale, die einzigen außen sichtbaren Zeichen des internen Status (das Licht), werden durch folgende Tabelle beschrieben: Status

q1

q2

q3

Output

o0

o0

o1

Dieses Beispiel ist typisch für diskrete Maschinen. Sie können, sofern sie nur eine begrenzte Anzahl möglicher Zustände haben, mit Hilfe solcher Tabellen beschrieben werden. Sind Ausgangsstatus einer Maschine und Input-Signale bekannt, so scheint es, als wäre es immer möglich, alle zukünftigen Zustände vorauszusehen. Dies erinnert an Laplaces Ansicht, dass es möglich sein sollte, vom Gesamtzustand des Universums zu einem bestimmten Zeitpunkt, der durch die Position und Geschwindigkeit sämtlicher Partikel beschrieben wird, alle zukünftigen Zustände vorherzusagen. Die Vorhersage, von der hier die Rede ist, ist allerdings viel praktikabler als jene von Laplace. Das System des »Universums als Ganzem« bedingt, dass verhältnismäßig kleine Fehler bei den Ausgangsbedingungen eine überwältigende Auswirkung zu einem späteren Zeitpunkt haben können. Die Verschiebung eines einzigen Elektrons um ein Milliardstel Zentimeter zu einem gegebenen Moment mag darüber entscheiden, ob ein Mann ein Jahr später durch eine Lawine getötet wird oder ihr entkommt. Es ist eine wesentliche Eigenschaft jener mechanischen Systeme, die wir als diskrete Maschinen bezeichnet haben, dass dieses Phänomen nicht auftaucht. Selbst wenn wir tatsächliche physikalische Maschinen betrachten anstatt gedachte, liefert ein halbwegs exaktes Wissen über den Status zu einem gegebenen Zeitpunkt auch halbwegs exaktes Wissen über jeden späteren Schritt. Wie erwähnt, fallen Digitalcomputer in die Kategorie der diskreten Maschinen. Doch die Anzahl der Zustände, die ein solcher Computer einnehmen kann, ist für gewöhnlich riesig. Die Zahl der Rechner, die derzeit in Manchester arbeiten, beträgt ca. 2165.000, das sind rund 1050.000. Vergleichen Sie dies mit dem Beispiel des oben erwähnten sich abrupt bewegenden Rades, das drei Zustände aufweist. Es ist nicht schwierig zu erkennen, warum die Zahl der Zustände so groß sein muss. Der Computer hat einen Speicher, der mit dem Papier des menschlichen Rechners zu vergleichen ist. Es muss möglich sein, jede Zeichenkombination, die auf Papier geschrieben werden kann, in diesem Speicher zu sichern. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass dabei nur die Ziffern von 0 bis 9 als Symbole verwendet werden. Variationen der Handschrift werden vernach-

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 45 lässigt. Nehmen wir an, dem Computer werden 100 Blatt Papier zugestanden, jedes mit 50 Zeilen, in denen jeweils Platz für 30 Ziffern ist. Dann ist die Anzahl möglicher Schritte 10100x50x30, das sind 10150.000. Das ist ungefähr die Zahl von Zuständen von drei Manchester-Rechnern zusammen. Der Logarithmus, auf dem diese Anzahl basiert, wird für gewöhnlich als »Speicherkapazität« einer Maschine bezeichnet. Folglich hat der Manchester-Rechner eine Speicherkapazität von rund 165.000 und das als unser Beispiel fungierende Zahnrad eine von rund 1,6. Wenn zwei Maschinen zusammengeschlossen werden, muss ihre Kapazität addiert werden, um die Kapazität der resultierenden Maschine zu errechnen. Dies führt zu möglichen Aussagen wie »Der Manchester-Rechner hat 64 magnetische Spuren, jede mit einer Kapazität von 2560, acht elektronische Röhren mit einer Kapazität von 1280. Die rund 300 verschiedenen Speicher ergeben eine Kapazität von insgesamt 174.380.« Mit der zur diskreten Maschine gehörigen Tabelle ist es möglich, vorherzusagen, was diese tun wird. Es gibt keinen Grund, warum diese Berechnung nicht von einem Digitalcomputer durchgeführt werden sollte. Vorausgesetzt, dieser könnte schnell genug berechnet werden, könnte der Digitalcomputer das Verhalten jeder diskreten Maschine imitieren. Das Imitationsspiel könnte dann mit der fraglichen Maschine (als B) und dem imitierenden digitalen Computer (als A) gespielt werden und der Fragesteller könnte sie nicht voneinander unterscheiden. Selbstverständlich müsste der digitale Computer über eine entsprechende Speicherkapazität verfügen und schnell genug arbeiten. Darüber hinaus muss er für jede neue Maschine, die er imitieren will, neu programmiert werden. Diese spezielle Eigenschaft digitaler Computer – dass sie jede andere diskrete Maschine imitieren können – wird mit der Bezeichnung universelle Maschine treffend beschrieben. Die Existenz von Maschinen mit dieser Eigenschaft hat wesentlich zur Folge, dass es – von Fragen der Geschwindigkeit abgesehen – nicht notwendig ist, für unterschiedliche Rechnerprozesse jeweils neue Maschinen zu entwerfen. Denn all diese können mit einem digitalen Computer gemacht werden, der für jede Anwendung passend programmiert wird. Es wird sich zeigen, dass als Konsequenz daraus alle Digitalrechner in gewisser Weise gleichwertig sind. Wir können nun die Frage, die am Ende von Punkt 3 gestellt wurde, wieder aufnehmen. Versuchsweise wurde vorgeschlagen, die Frage »Können Maschinen denken?« mit der Frage »Gibt es denkbare digitale Rechner, die im Imitationsspiel gut abschneiden würden?« zu ersetzen. Wenn wir wollen, können wir die Frage oberflächlich etwas allgemeiner stellen: »Gibt es diskrete Maschinen, die gut abschneiden könnten?« Doch in Anbetracht der Eigenschaft der Universalität erkennen wir, dass beiden Fragen Folgendes entspricht: »Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten digitalen Rechner C. Stimmt es, dass, wenn der Computer so modifiziert wird, dass er eine entsprechen-

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46 | Alan M. Turing de Speicherkapazität hat, seine Arbeitsgeschwindigkeit angemessen erhöht und mit einem passenden Programm ausgestattet wird, C die Rolle von A in dem Imitationsspiel zufriedenstellend spielen kann, während die Rolle von B von einem Menschen gespielt wird?«

VI. Gegensätzliche Ansichten zur zentralen Frage Wir können nun davon ausgehen, dass die Grundlagen geklärt sind, und können zur Diskussion unserer Frage »Können Maschinen denken?« zu jener Variante übergehen, die zum Schluss des letzten Abschnitts genannt wurde. Dabei können wir die ursprüngliche Form der Problemstellung nicht vollkommen aufgeben, da die Ansichten, ob diese Substitutionen angemessen seien, auseinander gehen werden, und wir sollten zumindest einmal hören, was in diesem Zusammenhang zu sagen ist. Es wird die Dinge für den Leser vereinfachen, wenn ich zuerst meine eigenen Ansichten in dieser Sache erläutere. Betrachten wir zuerst die etwas präzisere Form der Frage. Ich glaube, dass es in 50 Jahren möglich sein wird, Computer mit einer Speicherkapazität von rund 109 zu programmieren, die das Imitationsspiel so gut beherrschen, dass die Chance eines durchschnittlichen Fragestellers nicht höher als 70% ist, nach einer fünfminütigen Befragung eine richtige Identifizierung vorzunehmen. Ich glaube, dass die ursprüngliche Frage »Können Maschinen denken?« zu bedeutungslos ist, um sie einer weiteren Diskussion zu unterziehen. Dennoch glaube ich, dass am Ende des Jahrhunderts der Gebrauch von Begriffen und die allgemeine Meinung sich so weit geändert haben werden, dass man von »denkenden Maschinen« sprechen kann, ohne Widerspruch zu ernten. Ich glaube außerdem, dass es keinem nützlichen Zweck dient, diese Überzeugungen zu verbergen. Die verbreitete Ansicht, dass Wissenschaftler unerbittlich von einer gut begründeten Tatsache zur nächsten schreiten, ohne je von irgendeiner unbewiesenen Vermutung oder Idee beeinflusst zu werden, ist vollkommen falsch. Vorausgesetzt, es wird klar gestellt, welche Fakten bewiesen sind und bei welchen es sich um Annahmen handelt, kann daraus kein Schaden entstehen. Vermutungen sind sogar von großer Bedeutung, da sie nützliche Wege für die Forschung vorschlagen. Ich gehe nun dazu über, Meinungen, die meiner eigenen entgegengestellt sind, zu betrachten.

1. Der theologische Einwand Das Denken ist eine Funktion der unsterblichen Seele des Menschen. Gott hat jedem Mann und jeder Frau eine unsterbliche Seele gegeben, doch keinem anderen Tier oder keiner anderen Maschine. Folglich kann weder ein Tier noch eine Maschine denken.

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 47 Obwohl ich davon kein Wort akzeptieren kann, werde ich dennoch versuchen, in theologischen Termini zu antworten. Ich würde das Argument überzeugender finden, wenn Tiere wie Menschen klassifiziert wären, denn es besteht meiner Meinung nach ein größerer Unterschied zwischen dem Lebendigen und dem Leblosen als zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen. Der willkürliche Charakter dieser orthodoxen Ansicht wird deutlicher, wenn wir darüber nachdenken, wie diese einem Mitglied einer anderen religiösen Gemeinschaft erscheinen mag. Wie denken Christen über die Ansicht von Muslimen, dass Frauen keine Seele besitzen? Doch wollen wir diesen Punkt beiseite lassen und uns wieder dem Hauptargument widmen. Mir scheint, dass das oben zitierte Argument eine ernsthafte Einschränkung der Allmacht des Allmächtigen impliziert. Zugegebenermaßen gibt es bestimmte Dinge, die Er nicht tun kann, wie etwa eins mit zwei gleichzusetzen, doch sollten wir nicht glauben, dass Er die Freiheit besitzt, einem Elefanten eine Seele zu verleihen, wenn Er dies für passend hält? Wir erwarten vielleicht, dass Er diese Macht nur in Verbindung mit einer Mutation ausüben würde, die den Elefanten mit einem entsprechend verbesserten Gehirn ausstattet, um Bedürfnissen dieser Art dienlich zu sein. Ein ganz ähnliches Argument kann auch in Bezug auf die Maschinen geäußert werden. Dies mag uns anders erscheinen, weil es schwieriger zu »schlucken« ist. Doch bedeutet dies eigentlich nur, dass wir es für unwahrscheinlicher halten, dass Er diese Bedingungen für das Verleihen einer Seele als geeignet betrachte. Diese besagten Bedingungen werden im Folgenden diskutiert. Durch den Versuch, solche Maschinen zu konstruieren, maßen wir uns ebenso wenig respektlos Seine Macht an, Seelen zu schaffen, wie bei der Zeugung von Kindern: Vielmehr sind wir in beiden Fällen Instrumente Seines Willens, die die Behausungen für die Seelen, die er erschafft, zur Verfügung stellen. Dies ist allerdings reine Spekulation. Ich bin von theologischen Argumenten nicht besonders beeindruckt, ganz gleich wozu sie dienen. Solche Argumente haben sich in der Vergangenheit oft als unbefriedigend herausgestellt. Zur Zeit Galileo Galileis wurde argumentiert, dass die biblischen Texte »Und die Sonne stand still … und beeilte sich nicht, ungefähr einen Tag lang unterzugehen« (Joshua 10,13) und »Er legte die Fundamente der Erde, dass sie sich zu keiner Zeit bewege« (Psalm 104, 5) eine Widerlegung der Theorie von Kopernikus seien. Mit unserem gegenwärtigen Wissen erscheint ein solches Argument sinnlos. Als dieses Wissen noch nicht verfügbar war, vermittelte es jedoch einen ziemlich anderen Eindruck.

2. Der »Vogel-Strauß«-Einwand »Die Konsequenzen aus der Existenz denkender Maschinen wären zu grauenhaft. Lasst uns hoffen und glauben, dass sie es nicht tun.« Dieses Argument wird selten so offen wie oben formuliert. Doch beein-

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48 | Alan M. Turing flusst es die meisten von uns, die darüber nachdenken. Wir glauben gern, dass der Mensch auf gewisse subtile Weise allen anderen Lebewesen überlegen ist. Am besten ist es, wenn er als notwendigerweise überlegen dargestellt wird, denn dann besteht keine Gefahr, die führende Position zu verlieren. Die Popularität des theologischen Arguments steht eindeutig in Verbindung zu diesem Gefühl. Es ist wahrscheinlich bei Intellektuellen stark ausgeprägt, da sie die Macht des Denkens höher bewerten als andere und eher dazu tendieren, ihren Glauben an die Überlegenheit des Menschen auf diese Kraft zu stützen. Ich glaube nicht, dass dieses Argument wesentlich genug ist, um eine Widerlegung zu erfordern. Trost wäre angebrachter und sollte vielleicht in der Seelenwanderung gesucht werden.

3. Der mathematische Einwand Es gibt eine Anzahl von Ergebnissen mathematischer Logik, die dafür herangezogen werden können, um zu zeigen, dass das Vermögen von diskreten Maschinen begrenzt ist. Das bekannteste davon ist als Gödels Theorem (1931) bekannt und besagt, dass in jedem genügend mächtigen logischen System Aussagen formuliert werden können, die innerhalb desselben weder bewiesen noch widerlegt werden können, es sei denn, das System selbst ist widersprüchlich. Es gibt andere, in gewisser Hinsicht ähnliche Ergebnisse von Church (1936), Kleene (1935), Rosser und Turing (1937).1 Letzteres ist am geeignetsten für die Betrachtung, da es sich direkt auf Maschinen bezieht, während die anderen nur in einem vergleichsweise indirekten Argument verwendet werden können: Wenn wir beispielsweise Gödels Theorem verwenden, brauchen wir zusätzliche Hilfsmittel, um logische Systeme im Sinne von Maschinen und Maschinen im Sinne logischer Systeme beschreiben zu können. Das in Frage kommende Ergebnis verweist auf eine Maschine, die im Wesentlichen ein digitaler Rechner mit unbegrenzter Kapazität ist. Es besagt, dass es bestimmte Dinge gibt, die eine solche Maschine nicht tun kann. Wenn sie ausgestattet ist, um Antworten auf Fragen wie im Imitationsspiel zu geben, wird es einige Fragen geben, auf die sie entweder eine falsche Antwort geben wird oder gar keine geben kann, egal wieviel Zeit für die Antwort eingeräumt wird. Natürlich mag es viele derartige Fragen geben sowie auch solche, die die eine Maschine nicht, eine andere aber zufriedenstellend beantworten kann. Natürlich nehmen wir zurzeit an, dass es sich um Fragen handelt, die mit »Ja« oder »Nein« beantwortet werden können und

1 | Vgl. zu den Genannten und ihren Veröffentlichungen: http://de.wiki pedia.org/wiki/Kurt_Gödel; http://www.philosophenlexikon.de/church.htm; http:// de. wikipedia. org / wiki / Gentzenscher _ Hauptsatz; http : / / de . wikipedia . org / wiki / Turingmaschine, zuletzt gelesen am 2. März 2006.

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 49 nicht etwa um solche wie »Was halten Sie von Picasso?«. Eine Frage, bei der die Maschine scheitern muss, ist beispielsweise so formuliert: »Betrachten wir die Maschine, die folgendermaßen spezifiziert ist … Wird diese Maschine jemals mit ›Ja‹ auf irgendeine Frage antworten?« Die Auslassungspunkte sind mit der Beschreibung einer Maschine in einer standardisierten Form, etwa jene unter Punkt 5, zu füllen. Wenn die beschriebene Maschine einen bestimmten vergleichsweise simplen Bezug zur Maschine, die befragt wird, aufweist, so lässt sich zeigen, dass die Antwort entweder falsch ist oder die Maschine gar keine Antwort gibt. Dies ist das mathematische Ergebnis: Es wird argumentiert, dass es die Unfähigkeit von Maschinen beweist, die dem menschlichen Intellekt nicht unterlegen sind. Die kurze Antwort darauf ist, dass es – obwohl allgemein anerkannt ist, dass die Fähigkeiten einer jeden Maschine begrenzt sind – nur eine Behauptung, aber kein Beweis ist, dass es keinerlei Grenzen für den menschlichen Verstand gibt. Ich glaube allerdings nicht, dass man diese Ansicht so leicht übergehen kann. Wann immer einer dieser Maschinen die geeignete kritische Frage gestellt wird und sie eine definitive Antwort gibt, wissen wir, dass die Antwort falsch sein muss und dies gibt uns ein gewisses Gefühl von Überlegenheit. Ist dieses Gefühl illusorisch? Es ist zweifelsohne authentisch, doch man sollte ihm nach meiner Ansicht nicht zu viel Bedeutung beimessen. Wir geben selbst zu oft falsche Antworten auf Fragen, als dass die Freude über die offensichtliche Fehlbarkeit von Maschinen gerechtfertigt wäre. Darüber hinaus können wir unsere Überlegenheit nur im Vergleich zu der einen Maschine, bei der wir diesen kleinen Triumph verzeichnen konnten, empfinden. Es steht außer Frage, dass es einen Triumph über alle Maschinen nicht gibt. Kurz gesagt, es mag also Menschen geben, die klüger als jede Maschine sind, doch andererseits gibt es vielleicht Maschinen, die noch klüger sind, und so weiter. Diejenigen, die das mathematische Argument vertreten, wären – so denke ich – am ehesten bereit, das Imitationsspiel als Grundlage einer Diskussion zu akzeptieren. Diejenigen, die an die beiden erstgenannten Einwände glauben, wären wahrscheinlich an keinem der ins Feld geführten Kriterien interessiert.

4. Das auf Bewusstsein beruhende Argument Dieses Argument kommt in der Rede Professor Jeffersons Lister Oration im Jahr 1949 sehr gut zum Ausdruck, aus der ich hier zitiere. »Erst wenn eine Maschine aufgrund empfundener Gedanken und Emotionen – und nicht durch zufällig generierte Symbole – ein Sonett schreibt oder ein Konzert komponiert, können wir zustimmen, dass eine Maschine unserem Gehirn gleichgesetzt ist; das heißt also, nicht nur zu schreiben, sondern auch zu wissen, dass sie etwas geschrieben hat. Kein Mechanismus kann Freude bei Erfolgen empfinden, Leid, wenn seine Röhren durchbrennen, Wärme bei Schmeicheleien, Kummer über

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50 | Alan M. Turing seine Fehler, von Sex bezaubert oder zornig oder deprimiert sein, wenn er nicht bekommt, was er will (und nicht bloß künstlich signalisieren, ein einfacher Kunstgriff).«2

Dieses Argument scheint eine Absage an die Gültigkeit unseres Tests zu sein. Der extremsten Version dieser Ansicht zufolge wäre die einzige Möglichkeit, um sicher zu gehen, dass eine Maschine denkt, die Maschine selbst zu sein und sich denken zu spüren. Dann könnte man diese Gefühle der Welt beschreiben, doch natürlich müsste dem niemand Aufmerksamkeit schenken. Ebenso ist – nach dieser Ansicht – die einzige Möglichkeit zu wissen, dass ein Mensch denkt, dieser Mensch zu sein. Dies ist in der Tat eine solipsistische Ansicht der Dinge. Sie ist vielleicht die logischste Ansicht, die man vertreten kann, doch macht sie eine Kommunikation darüber schwierig. A ist geneigt zu glauben »A denkt, aber B denkt nicht«, während B glaubt »B denkt, doch A denkt nicht«. Statt über diesen Punkt unaufhörlich zu streiten, kommt man für gewöhnlich zur höflichen Übereinkunft, dass jeder denkt. Ich bin überzeugt, dass Professor Jefferson keine so extreme und solipsistische Meinung vertreten will. Wahrscheinlich wäre er durchaus gewillt, das Imitationsspiel als Test zu akzeptieren. Das Spiel (ohne den Spieler B) wird in der Praxis oft unter der Bezeichnung viva voce eingesetzt, um herauszufinden, ob jemand tatsächlich etwas versteht oder es einfach wie ein Papagei auswendig gelernt hat und wiedergibt. Hören wir einen Auszug aus solch einer viva voce: Frager: In der ersten Zeile Ihres Sonettes steht »Soll ich Sie mit einem Sommertag vergleichen«. Wäre »ein Frühlingstag« nicht ebenso gut oder besser? Zeuge: Es würde sich nicht skandieren lassen. Frager: Wie wäre es mit »ein Wintertag«? Das würde sich schon skandieren lassen. Zeuge: Ja, aber niemand will sich mit einem Wintertag vergleichen lassen. Frager: Würden Sie sagen, dass Mr. Pickwick Sie an Weihnachten erinnert? Zeuge: In gewisser Weise. Frager: Weihnachten ist aber ein Wintertag und ich denke nicht, dass Mr. Pickwick der Vergleich stören würde. Zeuge: Sie meinen das doch nicht ernst. Mit einem Wintertag meint man einen typischen Tag im Winter und keinen speziellen Tag wie Weihnachten.

Und so weiter. Was würde Professor Jefferson sagen, wenn eine Sonette schreibende Maschine in der viva voce so antworten würde? Ich weiß nicht, ob er annehmen würde, dass diese Maschine die Antworten »lediglich künstlich signalisiert«; aber wenn die Antworten so zufriedenstellend und

2 | Vgl. zu G. Jefferson und der Lister Oration: http://evans-experientialism. freewebspace.com/turing.htm, zuletzt gelesen am 2. März 2006.

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 51 untermauert wären wie im obigen Beispiel, glaube ich auch nicht, dass er dies als »einen simplen Kunstgriff« bezeichnen würde. Ich glaube, diese Formulierung soll solche Kunstgriffe oder Vorrichtungen beschreiben wie eine in die Maschine integrierte Schallplatte, auf der jemand Sonette vorträgt, mit einem entsprechenden Schalter, der die Platte von Zeit zu Zeit abschaltet. Kurz gesagt: Ich glaube, dass die meisten, die dieses mit Bewusstsein operierende Argument vertreten, leichter zur Aufgabe dieser Meinung überredet werden könnten, als sich in eine solipsistische Position drängen zu lassen. Sie wären dann vermutlich bereit, unseren Test zu akzeptieren. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als dächte ich, es gäbe kein Rätsel um das Bewusstsein. Beim Versuch, das Bewusstsein zu lokalisieren, tritt beispielsweise ein Paradoxon auf. Aber ich glaube nicht, dass diese Rätsel notwendigerweise gelöst sein müssen, bevor wir die Frage, mit der wir uns hier beschäftigen, beantworten können.

5. Argumente, die verschiedene Unfähigkeiten betreffen Diese Argumente lauten »Ich garantiere Ihnen, dass Sie Maschinen dazu bringen können, all die Dinge zu tun, die Sie erwähnt haben, aber Sie werden es nie schaffen, dass eine Maschine X macht«. In diesem Zusammenhang werden stets zahlreiche Merkmale für X vorgeschlagen. Ich biete hier eine Auswahl: liebenswürdig, einfallsreich, schön, freundlich, initiativ sein, einen Sinn für Humor haben, das Richtige vom Falschen, Recht von Unrecht unterscheiden, Fehler machen, sich verlieben, Erdbeeren mit Schlagsahne genießen, bewirken, dass sich jemand in sie verliebt, aus Erfahrung lernen, Wörter richtig verwenden, Subjekt seiner eigenen Gedanken sein, ebenso vielfältige Verhaltensweisen haben wie ein Mensch, etwas wirklich Neues tun. Üblicherweise werden solche Statements nicht argumentativ unterstützt. Ich glaube, sie gründen sich meist auf das Prinzip wissenschaftlicher Induktion. Ein Mensch hat in seinem Leben tausende Maschinen gesehen. Aus dem, was er gesehen hat, zieht er eine Reihe allgemeiner Rückschlüsse. Sie sind hässlich, jede auf einen ganz bestimmten Zweck zugeschnitten, sobald sie für einen minimal anderen Zweck gebraucht werden, sind sie nutzlos, die Anwendungsvarianten jeder einzelnen sind sehr gering etc. Selbstverständlich folgert er daraus, dass dies auch notwendige Eigenschaften von Maschinen im Allgemeinen sind. Viele dieser Einschränkungen werden mit der sehr kleinen Speicherkapazität, die die meisten Maschinen haben, assoziiert. (Ich nehme an, dass die Idee der Speicherkapazität in gewisser Weise auch auf andere als diskrete Maschinen übertragen wird. Die exakte Definition ist unwesentlich, da in der hier geführten Diskussion mathematische Genauigkeit nicht erforderlich ist.) Vor ein paar Jahren, als man noch nicht sehr viel über digitale Rechner wusste, konnte man große Ungläubigkeit hervorrufen, wenn man über ihre Eigenschaften sprach, ohne ihre Bauweise zu beschreiben. Vermutlich

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52 | Alan M. Turing geht dies auf eine ähnliche Verwendung des Prinzips der wissenschaftlichen Induktion zurück. Diese Verwendung des Prinzips erfolgt natürlich meistens unbewusst. Wenn ein Kind, das sich einmal verbrannt hat, Feuer fürchtet und diese Furcht zeigt, indem es Feuer vermeidet, könnte man sagen, es würde hier wissenschaftliche Induktion anwenden. (Ich könnte sein Verhalten natürlich auch auf viele andere Arten beschreiben.) Die Arbeitsweisen und Gewohnheiten des Menschen scheinen für die Anwendung des Prinzips der wissenschaftlichen Induktion nicht sehr geeignet zu sein. Ein sehr großer Teil des Zeit-Raum-Gefüges muss erst erforscht werden, um darüber verlässliche Resultate zu erzielen. Sonst könnten wir (wie es die meisten englischsprachigen Kinder tun) beschließen, dass jeder Englisch spricht und dass es daher albern sei, Französisch zu lernen. Allerdings sind zu vielen der genannten Unfähigkeiten besondere Anmerkungen zu machen. Die Unfähigkeit, Erdbeeren mit Schlagsahne zu genießen, mag dem Leser frivol erscheinen. Möglicherweise schafft man es, einer Maschine diese Köstlichkeit schmackhaft zu machen, doch jeder Versuch in diese Richtung wäre idiotisch. Was an diesem Unvermögen wichtig ist, ist dass sie zu anderen Unvermögen führt, z.B. zur Schwierigkeit, dieselbe Art von Freundlichkeit zwischen Mensch und Maschine herzustellen wie zwischen einem weißen Menschen und einem anderen weißen Menschen oder zwischen Schwarzen und Schwarzen. Die Behauptung, dass »Maschinen keine Fehler machen können«, scheint sonderbar. Man ist versucht zu fragen: »Sind sie deshalb schlechter?« Doch nehmen wir eine wohlwollendere Haltung ein und versuchen herauszufinden, was damit wirklich gemeint ist. Ich glaube, diese Kritik kann am Beispiel des Imitationsspiels erklärt werden. Es wird behauptet, dass der Frager nur durch das Stellen einiger mathematischer Probleme Maschine von Mensch unterscheiden kann. Die Maschine würde sich durch ihre tödliche Exaktheit entlarven. Die Antwort darauf ist simpel. Die Maschine (die für dieses Spiel programmiert ist) würde gar nicht erst versuchen, die richtigen Lösungen auf die mathematischen Probleme zu geben. Sie würde absichtlich Fehler einführen, die so berechnet wären, dass sie den Frager verwirren. Ein mechanischer Fehler würde sich wahrscheinlich durch eine ungeschickte Entscheidung, welcher Rechenfehler eingeführt wird, bemerkbar machen. Selbst diese Form der Kritik ist nicht wohlwollend genug. Doch ist hier nicht genug Platz, um näher darauf einzugehen. Mir scheint, dass diese Kritik auf der Verwechslung von zwei unterschiedlichen Fehlerarten beruht, die wir »Funktionsfehler« und »Schlussfolgerungsfehler« nennen können. Funktionsfehler gehen auf einen mechanischen oder elektrischen Fehler zurück, die jeweils zur Folge haben, dass die Maschine anders arbeitet als sie sollte. In philosophischen Diskussionen wird die Möglichkeit solcher Fehler gerne übersehen; daher sind »abstrakte Maschinen« Thema der Diskussion. Diese abstrakten Maschinen sind vielmehr mathematische Fiktion als physisches Objekt. Per definitionem sind sie nicht in der Lage,

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 53 Funktionsfehler aufzuweisen. In diesem Sinn können wir tatsächlich sagen, dass »Maschinen nie Fehler machen können«. Fehlschlüsse können nur dann auftreten, wenn mit dem Output der Maschine eine Bedeutung verbunden ist. Die Maschine könnte beispielsweise mathematische Gleichsetzungen oder Sätze in Englisch schreiben. Wenn ein falscher Vorschlag erscheint, sagen wir, dass die Maschine einen Fehler in der Schlussfolgerung gemacht hat. Es gibt eindeutig keinen Grund zu behaupten, eine Maschine könne so einen Fehler nicht machen. Sie tut vielleicht nichts anderes als wiederholt »O = I« zu schreiben. Oder um ein weniger gemeines Beispiel zu nehmen: Die Maschine hat vielleicht eine Methode, um Schlüsse mittels wissenschaftlicher Induktion zu ziehen. Wir müssen davon ausgehen, dass eine solche Methode gelegentlich zu Fehlresultaten führt. Der Einwand, eine Maschine könne nicht Gegenstand ihres eigenen Denkens sein, kann selbstverständlich nur beantwortet werden, wenn gezeigt wird, dass die Maschine überhaupt Gedanken über irgendeinen Gegenstand hat. Dennoch scheint »der Gegenstand der Operationen einer Maschine« etwas zu bedeuten, jedenfalls für die Menschen, die sie bedienen. Wenn zum Beispiel die Maschine eine Lösung für die Gleichung x2 – 40x – 11 = 0 suchen würde, wäre man versucht, diese Gleichung als Teil des Untersuchungsgegenstands der Maschine zu diesem Zeitpunkt zu beschreiben. In diesem Sinn kann eine Maschine zweifellos zum Gegenstand ihrer eigenen Arbeit werden. Sie mag dabei helfen, eigene Programme zu entwerfen oder die Wirkung, die Veränderungen auf ihre Struktur haben, zu prognostizieren. Indem sie die Ergebnisse ihres eigenen Verhaltens beobachtet, kann sie ihre Programme so modifizieren, dass sie einen bestimmten Zweck effizienter erfüllt. Dies ist schon in naher Zukunft möglich und keineswegs ein utopischer Traum. Die Kritik, dass eine Maschine keine Variationsbreite in ihrem Verhalten aufweisen kann, ist nur eine andere Form, um auszudrücken, dass sie nicht viel Speicherkapazität besitzt. Bis vor relativ kurzer Zeit war eine Speicherkapazität von nur 1000 Stellen noch sehr selten. Die Kritikpunkte, die wir hier betrachten, sind oft lediglich versteckte Formen des Bewusstseinsarguments. Wenn man behauptet, dass eine Maschine einige dieser Dinge tun kann und die Methode beschreibt, die die Maschine anwenden könnte, wird man normalerweise nicht viel Eindruck machen. Die Methode (wie immer sie auch aussieht, sie muss jedenfalls mechanisch sein) wird man als ziemlich primitiv betrachten. Vergleichen Sie die Klammerbemerkung in Jeffersons Aussage, die in diesem Artikel zitiert wird.

6. Lady Lovelaces Einwand Unsere ausführlichste Information über Babbages Analytische Maschine stammt aus den Memoiren von Lady Lovelace. Darin schreibt sie: »Die

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54 | Alan M. Turing Analytische Maschine maßt sich nicht an, irgendetwas hervorzubringen. Sie kann alles ausführen, wenn wir die entsprechenden Anweisungen geben.«3 Diese Aussage wird von Douglas R. Hartree (1949) zitiert, der hinzufügt: »Das bedeutet nicht, dass sie nicht in der Lage wäre, elektronische Werkzeuge zu konstruieren, die »selbst denken« oder wo man nicht, biologisch gesprochen, eine Konditionierung herstellen könnte, die als Grundlage eines Lernprozesses dient. Ob dies prinzipiell möglich ist oder nicht, ist eine anregende und aufregende Frage, die einige neuere Entwicklungen aufwerfen. Es scheint aber nicht so, dass die Maschinen, die zu jener Zeit gebaut oder entworfen wurden, diese Eigenschaft besaßen.«

Darin stimme ich mit Hartree völlig überein. Es ist anzumerken, dass er nicht behauptet, die fraglichen Maschinen besäßen diese Eigenschaft nicht, sondern, dass die Lady Lovelace zur Verfügung stehenden Beweise eine solche Annahme nicht unterstützten. Es ist durchaus möglich, dass die fraglichen Maschinen in gewisser Weise diese Eigenschaft besaßen. Denn angenommen: eine diskrete Maschine besitzt diese Eigenschaft. Die Analytische Maschine war ein universeller Digitalrechner und könnte daher, mit entsprechender Speicher- und Arbeitskapazität ausgestattet, durch die richtige Programmierung die fragliche Maschine imitieren. Vermutlich ist dieses Argument weder Lady Lovelace noch Babbage in den Sinn gekommen. Jedenfalls sahen sie keine Verpflichtung, alles zu behaupten, was behauptet werden konnte. Diese gesamte Frage wird unter dem Titel »Lernende Maschinen« erneut betrachtet. Eine Variante von Lady Lovelaces Einwand besagt, dass eine Maschine »niemals etwas wirklich Neues tun« kann. Dies kann vorübergehend mit der Spruchweisheit »Nichts Neues unter der Sonne« abgewehrt werden. Wer kann schon sicher sein, dass eine »schöpferische Arbeit«, die er geleistet hat, nicht nur das Ergebnis eines Lernprozesses oder das Resultat eines Nachvollziehens allgemein bekannter Prinzipien ist? Eine bessere Variante dieses Einwands besagt, dass eine Maschine uns niemals »überraschen« kann. Diese Aussage ist eine direktere Herausforderung und ihr kann direkt entgegnet werden. Maschinen überraschen mich sehr häufig. Dies geschieht hauptsächlich dadurch, dass ich zu wenig berechne, um entscheiden zu können, was ich zu erwarten habe, oder vielmehr, dass ich nicht ausreichend kalkuliere, also nachlässig rechne und dabei Risiken eingehe. Ich sage mir vielleicht: »Ich nehme an, die Spannung sollte hier wie da gleich sein; egal, nehmen wir es einfach an.« Logischerweise liege ich oft falsch und das Ergebnis ist für mich überraschend, denn bis das Experiment beendet ist, sind diese Vermutungen schon wieder vergessen.

3 | Ada Lady Lovelace: »Translator’s notes to an article on Babbages Analytical Engine«, in: R. Taylor (Hg.), Scientific Memoirs 1842, Bd. 3, S. 691-731.

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 55 Diese Zugeständnisse lassen mich zum Gegenstand von Belehrungen über mein nachlässiges Verhalten werden, doch lassen sie keinen Zweifel über meine Glaubwürdigkeit aufkommen, wenn ich die Überraschungen, die ich dabei erlebe, bezeuge. Ich erwarte nicht, dass diese Antwort meine Kritiker zum Schweigen bringt. Sie werden wahrscheinlich sagen, dass die Überraschungen Folge irgendeines kreativen geistigen Akts meinerseits seien und die Maschine daran keinen Verdienst hätte. Dies führt uns wieder zum Vernunftargument zurück und weit weg von dem Moment der Überraschung. Diese Argumentationslinie muss man als geschlossen betrachten, aber es ist noch erwähnenswert, dass etwas als überraschend zu bezeichnen, einen »kreativen geistigen Akt« voraussetzt, gleich ob das Überraschende von einem Menschen, einem Buch, einer Maschine oder sonst etwas verursacht wird. Die Ansicht, dass Maschinen keine Überraschungen auslösen könnten, geht meines Erachtens auf einen Trugschluss zurück, dem besonders Philosophen und Mathematiker unterlegen sind, nämlich der Annahme, dass uns, sobald dem Gehirn ein Fakt präsentiert wird, gleichzeitig alle Konsequenzen dieser Tatsache in den Sinn kommen. Bei vielen Gelegenheiten ist dies eine sehr nützliche Annahme, doch vergisst man zu leicht, dass sie falsch ist. Eine natürliche Folge davon ist, dass man dann annimmt, es hätte keinen Wert, Folgerungen aus Daten und allgemeinen Prinzipien herzuleiten.

7. Das auf der Kontinuität im Nervensystem beruhende Argument Das Nervensystem ist gewiss keine diskrete Maschine. Ein kleiner Fehler in der Information, etwa in der Größenordnung eines Nervenimpulses, der auf ein Neuron trifft, kann einen großen Unterschied in der Größe des austretenden Impulses verursachen. Davon ausgehend kann argumentiert werden, man könne nicht erwarten, dass es möglich ist, mit einer diskreten Maschine das Verhalten des Nervensystems zu imitieren. Es ist richtig, dass eine diskrete Maschine sich von einer stetigen Maschine unterscheiden muss. Doch aufgrund der Bedingungen des Imitationsspiels wird der Frager keinen Nutzen aus diesem Unterschied ziehen können. Die Situation wird verständlicher, wenn wir eine andere, einfachere stetige Maschine betrachten. Ein Differentialanalysator eignet sich dafür sehr gut. (Ein Differentialanalysator ist eine bestimmte Art von Maschine, die für spezifische Berechnungen verwendet wird; sie ist aber keine diskrete Maschine.) Einige von ihnen bieten ihre Antworten in geschriebener Form dar und sind daher für das Spiel geeignet. Ein digitaler Rechner wäre nicht in der Lage, genau vorherzusagen, welche Antworten der Differentialanalysator für ein Problem anbietet, doch wäre er durchaus fähig, die richtige Art von Antwort zu geben. Wenn beispielsweise die Maschine gefragt würde, den Wert von π (ungefähr 3.1416) anzugeben, wäre es vernünftig, per Zufall aus den Werten 3.12, 3.13, 3.14, 3.15, 3.16 mit einer

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56 | Alan M. Turing Wahrscheinlichkeit von (sagen wir) 0.05, 0.15, 0.55, 0.19, 0.06 zu wählen. Unter diesen Umständen wäre es für den Frager sehr schwierig, zwischen dem Differentialanalysator und dem digitalen Rechner zu unterscheiden.

8. Das auf informelles Verhalten abzielende Argument Es ist unmöglich, eine Reihe von Regeln zu etablieren, die beschreiben, was ein Mensch unter allen erdenklichen Bedingungen machen sollte. Es gibt zwar z.B. eine Regel, die besagt, dass man stehen bleiben soll, wenn man eine rote Ampel sieht, und gehen bei einer grünen Ampel, doch was ist, wenn aufgrund irgendeines Fehlers beide auf einmal aufleuchten? Man entscheidet sich womöglich dafür, dass es am sichersten sei, stehenzubleiben. Doch kann diese Entscheidung später zu Schwierigkeiten führen. Der Versuch, Verhaltensregeln für jede Eventualität aufzustellen, sogar für den genannten Fall mit den Ampeln, scheint unmöglich. Mit all diesem stimme ich überein. Davon ausgehend meine ich, dass wir keine Maschinen sein können. Ich werde versuchen, dieses Argument wiederzugeben, fürchte aber, dass ich ihm kaum gerecht werden kann. Es scheint folgendermaßen zu gehen: »Wenn jeder Mensch eine definierte Anordnung von Verhaltensregeln hätte, nach denen er sein Leben führte, wäre er um nichts besser als eine Maschine. Doch es gibt solche Regeln nicht, also können Menschen keine Maschinen sein.« Offenkundig handelt es sich um einen falschen Mittelbegriff. Ich glaube nicht, dass das Argument je ganz so wie hier formuliert wird, doch ich glaube, dass es dennoch so verwendet wird. Es gibt allerdings eine Begriffsverwechslung zwischen »Verhaltensregeln« (rules of conduct) und »Gesetzen des Verhaltens« (laws of behaviour), was die Angelegenheit verkompliziert. Mit »Verhaltensregeln« meine ich Vorschriften wie »Bleiben Sie stehen, wenn die Ampel rot ist«, nach denen man handeln kann und derer man sich bewusst ist. Mit »Gesetze des Verhaltens« meine ich Naturgesetze, zum Beispiel in Hinblick auf den menschlichen Körper, wie etwa »Wenn Sie ihn zwicken, wird er aufschreien«. Wenn wir »Gesetze des Verhaltens, die sein Leben regeln« mit »Verhaltensregeln, nach denen er sein Leben ordnet« im zitierten Argument ersetzen, ist der Einwand des falsch verwendeten Mittelbegriffs nicht mehr unüberwindlich. Denn wir glauben nicht nur, dass die Steuerung durch Gesetze des Verhaltens (oder Naturgesetze) bedeutet, das Wesen einer Maschine zu haben (wenn auch nicht notwendigerweise das einer diskreten Maschine), sondern umgekehrt, dass eine Maschine zu sein bedeutet, durch solche Gesetze gesteuert zu werden. Dennoch lassen wir uns nicht so leicht vom Fehlen der Naturgesetze überzeugen wie vom Fehlen kompletter Verhaltensregeln. Die einzige Art, die wir kennen, um solche Regeln herauszufinden, ist die wissenschaftliche Beobachtung und wir kennen sicher keinen Fall, in dem wir sagen würden: »Wir haben genug gesucht. Es gibt keine solchen Regeln oder Gesetze.« Wir können eindrucksvoller demonstrieren, dass jede solche Aussage

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 57 ungerechtfertigt wäre. Nehmen wir an, wir könnten sicher sein, diese Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, sofern sie existieren. Dann sollte es jedenfalls möglich sein, durch Beobachtung einer gegebenen diskreten Maschine genügend über ihr Verhalten zu erfahren, um ihr zukünftiges Verhalten innerhalb eines vernünftigen Zeitraums, sagen wir mal 1000 Jahre, vorherzusagen. Doch scheint dies nicht der Fall zu sein. Ich habe ein kleines Programm am Manchester-Rechner installiert, das nur 1000 Speichereinheiten braucht, wodurch die Maschine, die mit einer 16-stelligen Zahl ausgestattet ist, auf eine andere innerhalb von zwei Sekunden antwortet. Ich würde niemandem zutrauen, aus diesen Antworten genügend über das Programm zu lernen, um irgendeine Antwort auf unerprobte Zahlenwerte vorhersagen zu können.

9. Das auf übersinnlicher Wahrnehmung aufbauende Argument Ich gehe davon aus, dass der Leser mit der Idee der übersinnlichen Wahrnehmung ebenso vertraut ist wie mit der Bedeutung der vier Begriffe Telepathie, Hellseherei, Wahrsagerei und Psychokinese. Diese beunruhigenden Phänomene widersprechen scheinbar all unseren gängigen wissenschaftlichen Begriffen. Wie gerne würden wir sie in Misskredit bringen! Unglücklicherweise ist die statistische Beweislage, zumindest was die Telepathie betrifft, überwältigend. Es ist sehr schwer so umzudenken, dass auch diese Tatsachen einen Platz finden. Sobald man sie einmal akzeptiert hat, scheint es nicht mehr weit bis dahin zu sein, dass man auch an Geister und Kobolde glaubt. Die Idee, dass unsere Körper sich schlicht nach den bekannten Gesetzen der Physik bewegen – gemeinsam mit einigen anderen, noch nicht entdeckten, doch relativ ähnlichen Gesetzen –, wäre eine der ersten, die man aufgeben müsste. Dieses Argument ist meiner Meinung nach recht stark. Man kann darauf entgegnen, dass viele wissenschaftliche Theorien in der Praxis noch brauchbar scheinen, obwohl sie mit den Theorien der übersinnlichen Wahrnehmung (ESP) kollidieren; dass man eigentlich ganz gut damit zurecht kommt, wenn man sie unberücksichtigt lässt. Dies ist aber nicht besonders beruhigend, und man muss fürchten, dass Denken ein Phänomen ist, für das übersinnliche Wahrnehmung besonders relevant sein könnte. Ein spezifischeres Argument, das auf übersinnlicher Wahrnehmung beruht, könnte folgendermaßen lauten: »Spielen wir das Imitationsspiel mit einem Menschen, der sich gut als telepathischer Empfänger eignet, und einem Digitalcomputer. Der Frager kann fragen wie ›Zu welcher Farbe gehört die Karte in meiner rechten Hand?‹. Der Mensch gibt mit Hilfe von Telepathie oder Hellseherei 130 von 400 Mal die richtige Antwort. Die Maschine kann nur zufällig raten und trifft vielleicht 104 korrekte Antworten, sodass der Frager die richtige Identifizierung vornimmt.«

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58 | Alan M. Turing Hier tut sich eine interessante Möglichkeit auf. Angenommen der digitale Rechner hat einen Zufallsgenerator für Zahlen. Dann wird er selbstverständlich diesen benutzen, um eine Entscheidung hinsichtlich der Antwort zu treffen. Doch wird dann der Zufallsgenerator Gegenstand der psychokinetischen Fähigkeiten des Fragers sein. Möglicherweise ist diese Psychokinese die Ursache dafür, dass die Maschine öfter die richtige Antwort errät als dies aufgrund einer Wahrscheinlichkeitsrechnung angenommen würde, sodass der Frager noch immer keine richtige Zuordnung treffen kann. Auf der anderen Seite mag er vielleicht richtig raten ganz ohne Befragung, nur aufgrund von Hellseherei. Mit ESP kann alles geschehen. Falls man Telepathie also zulässt, ist es notwendig, unseren Test enger zu gestalten. Diese Situation kann als Analogie gesehen werden zu dem, was passiert, wenn der Frager Selbstgespräche führen und einer der Mitstreiter mit seinem Ohr an der Wand mithören würde. Die Bewerber in einen »telepathiesicheren Raum« unterzubringen würde allen Anforderungen gerecht werden.

VII. Lernende Maschinen Der Leser ahnt schon, dass ich keine wirklich überzeugenden positiven Argumente habe, um meine Ansichten zu stützen. Besäße ich diese, hätte ich mir nicht so viel Mühe gemacht, um die Trugschlüsse der anderen Ansichten hervorzuheben. Die Beweise, die ich habe, will ich nun anführen. Kehren wir einen Moment zu Lady Lovelaces Einwand zurück, der besagt, dass eine Maschine nur das tun kann, was wir ihr zu tun befehlen. Man könnte sagen, dass ein Mensch einer Maschine eine Idee »einpflanzen« kann und dass diese bis zu einem gewissen Ausmaß auf diese reagieren und dann in Schweigen verfallen wird, wie eine Klaviersaite, die durch das Hämmerchen angeschlagen wird. Ein anderer Vergleich wäre ein Atomreaktor unter der kritischen Größe: Die injizierte Idee soll einem Neutron, das von außen in den Reaktor eindringt, korrespondieren. Jedes Neutron verursacht eine gewisse Störung, die mit der Zeit vorübergeht. Wenn allerdings die Größe des Atomreaktors ausreichend groß ist, wird sich die Störung, die durch ein eindringendes Neutron ausgelöst wird, sukzessive vergrößern bis der Reaktor zerstört ist. Gibt es ein ähnliches Phänomen für die Gehirnfunktion und für Maschinen? Für den menschlichen Verstand scheint es eines zu geben. Der Verstand des Menschen scheint in der Regel »subkritisch« zu sein, d.h. er korrespondiert in unserer Analogie dem Atomreaktor von subkritischer Größe. Eine Idee, die solch einem Gehirn präsentiert wird, ruft im Durchschnitt weniger als eine Idee hervor. Ein kleiner Anteil ist superkritisch. Eine diesem Verstand präsentierte Idee ruft vielleicht eine ganze »Theorie«, bestehend aus sekundären, tertiären und noch fernliegenderen Ideen, hervor. Der Verstand von Tieren kann sicher als subkritisch eingestuft werden. Im Zusammen-

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 59 hang mit diesem Vergleich fragen wir: »Kann eine Maschine dazu gebracht werden, superkritisch zu sein?« Ein Vergleich mit einer Zwiebel ist ebenfalls hilfreich. Wenn wir die Funktionen des Verstandes bzw. des Gehirns betrachten, finden wir bestimmte Vorgänge, die man mit rein mechanischen Begriffen erklären kann. Dies, so sagen wir, entspricht nicht dem wirklichen Verstand: Es gibt eine Art Schale oder Haut, die wir entfernen müssen, wenn wir den wirklichen Verstand entdecken wollen. Doch was wir dann vorfinden, hat eine weitere Schale, die wieder entfernt werden muss usw. Wenn wir so vorgehen, erreichen wir jemals den »echten« Verstand oder erreichen wir schließlich eine Schale, die nichts mehr enthält? In letzterem Fall ist der ganze Verstand mechanisch. (Dies wäre allerdings keine diskrete Maschine; dies haben wir bereits besprochen.) Die beiden letzten Absätze behaupten nicht, überzeugende Argumentationen zu sein. Sie sollten eher als »Argumentationen, die Glauben wecken sollen«, beschrieben werden. Das einzige wirklich zufriedenstellende Argument, das für die Ansicht geliefert werden kann, die zu Beginn von Punkt 6 erläutert wurde, ist das Ende des Jahrhunderts abzuwarten und dann das beschriebene Experiment durchzuführen. Doch was können wir einstweilen sagen? Welche Schritte sollten jetzt unternommen werden, wenn das Experiment erfolgreich sein soll? Wie ich bereits erklärt habe, ist das Problem hauptsächlich eines der Programmierung. Technische Fortschritte müssen ebenso gemacht werden, doch scheint es unwahrscheinlich, dass diese den Anforderungen nicht genügen. Schätzungen über die Speicherkapazität des Gehirns variieren von 1010 bis 1015 Binärstellen. Ich neige zu den niedrigeren Werten und glaube, dass ein verschwindend kleiner Teil für höhere Denkvorgänge verwendet wird. Ein Großteil wird wahrscheinlich für das Speichern visueller Eindrücke verwendet und ich wäre überrascht, wenn mehr als 109 für eine zufriedenstellende Teilnahme am Imitationsspiel erforderlich wären, zumindest gegen einen blinden Menschen. (Anmerkung: Die Encyclopaedia Britannica, 11. Ausgabe, braucht 2 x 109 Speicherkapazität.) Eine Speicherkapazität von 107 wäre sehr gut möglich, sogar beim gegenwärtigen technologischen Stand. Es ist wahrscheinlich gar nicht notwendig, die Arbeitsgeschwindigkeit der Maschinen zu erhöhen. Teile moderner Rechner, die als Analogien zu Nervenzellen betrachtet werden können, arbeiten fast 1000 Mal schneller als Letztere. Dies sollte ein »Mindestmaß an Sicherheit« bieten, um Geschwindigkeitsverluste, die in vielfältiger Weise auftauchen, zu kompensieren. Unser Problem ist nun, herauszufinden wie man diese Rechner für das Spiel programmiert. Bei meinem gegenwärtigen Arbeitspensum produziere ich ein etwa 1000-stelliges Programm pro Tag, d.h. ungefähr 60 Arbeiter, die 50 Jahre lang beständig arbeiten, könnten diese Aufgabe erfüllen, falls sie nichts falsch machen würden. Eine etwas schnellere Methode scheint wünschenswert.

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60 | Alan M. Turing Während wir versuchen das menschliche Gehirn nachzuahmen, denken wir gewiss viel über seine Entwicklung nach. Wir halten dabei drei Komponenten fest: a. den ursprünglichen Zustand unseres Verstandes, sagen wir bei der Geburt, b. die Bildung, die wir durchlaufen, c. andere Erfahrungen, die wir gemacht haben, jenseits von Bildung. Warum versuchen wir nicht lieber, statt versuchsweise ein Programm zu entwickeln, das den Verstand eines Erwachsenen simuliert, eines zu produzieren, das den Verstand eines Kindes simuliert? Wenn dieses dann einem entsprechenden Bildungsprozess unterzogen würde, könnte man den Verstand eines Erwachsenen erreichen. Vermutlich ist das Gehirn eines Kindes vergleichbar mit einem Notizheft, das man im Schreibwarenladen kauft: nur wenig Mechanismus und viele leere Seiten. (Unserer Ansicht nach sind Mechanismus und Geschriebenes beinahe synonym.) Unsere Hoffnung ist, dass im kindlichen Gehirn so wenig Mechanismus ist, dass es leicht programmiert werden kann. Wir können nach einer ersten Schätzung annehmen, dass etwa gleich viel Arbeit für den Bildungsprozess notwendig ist wie bei einem Kind. Wir haben also unser Problem in zwei Teile geteilt: das Kind-Programm und den Bildungsprozess. Diese beiden bleiben weiterhin eng miteinander verknüpft. Wir können nicht davon ausgehen, auf Anhieb einen guten Kind-Rechner zu finden. Man muss im Experiment versuchen, einer Maschine etwas beizubringen, um dann zu sehen, wie gut sie lernt. Danach kann man eine andere ausprobieren und schauen, ob diese besser oder schlechter lernt. Es gibt einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen diesem Vorgang und der Evolution, wenn man die folgenden Begriffe gleichsetzt: Struktur des Kind-Rechners = Erbmaterial Veränderungen des Kind-Rechners = Mutationen Natürliche Selektion = Urteil des Experimentierenden Man kann allerdings hoffen, dass dieser Prozess etwas schneller vollzogen wird als die Evolution. Das Überleben des Stärkeren (Survival of the fittest) ist eine langsame Methode, um Vorzüge zu messen. Der Experimentierende sollte unter Einsatz von Intelligenz in der Lage sein, den Prozess zu beschleunigen. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass dieser nicht auf zufällige Mutationen beschränkt ist. Wenn er die Ursache einer Schwäche herausfinden kann, kann er sich wahrscheinlich die Art von Mutation vorstellen, die zu einer Verbesserung führt. Es wird nicht möglich sein, die exakt gleiche Lehrmethode für die Maschine anzuwenden wie für ein Kind. Sie wird z.B. keine Beine haben und wir können sie daher nicht bitten, hinauszugehen und den Kohleei-

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 61 mer zu füllen. Möglicherweise wird sie auch keine Augen haben. Aber, wie gut auch immer diese Mängel durch Technik kompensiert werden können, man kann diese Kreatur nicht zur Schule schicken, ohne dass die Kinder sich über sie lustig machen würden. Sie müsste Privatunterricht erhalten. Über die Beine, Augen etc. müssen wir uns nicht allzu viele Gedanken machen. Das Beispiel Helen Kellers4 zeigt, dass Bildung stattfinden kann, vorausgesetzt, die wechselseitige Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler kann durch welche Mittel auch immer stattfinden. Für gewöhnlich assoziieren wir Strafe und Belohnung mit dem Lernprozess. Einfache Kind-Maschinen können nach diesem Prinzip konstruiert oder programmiert werden. Die Maschine muss lediglich so konstruiert sein, dass es unwahrscheinlich ist, dass Ereignisse, die kurz vor einem Strafsignal passieren, wiederholt werden, ein Signal für Belohnung jedoch die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung erhöht. Diese Definitionen setzen keinerlei Gefühle auf Seiten der Maschine voraus. Ich habe solche Experimente mit einer Art Kind-Maschine durchgeführt und konnte ihr erfolgreich etwas beibringen, jedoch war die Lehrmethode zu unorthodox, um das Experiment tatsächlich als erfolgreich betrachten zu können. Der Einsatz von Strafe und Belohnung kann höchstens ein Teil des Lernprozesses sein. Wenn der Lehrer keine anderen Mittel der Kommunikation mit dem Schüler hat, wird, grob gesagt, die Informationsmenge, die dieser annimmt, dem Einsatz von Strafe und Belohnung entsprechen. Bis ein Kind gelernt hat, »Casablanca« nachzusprechen, würde ihm wahrscheinlich alles weh tun, wenn der Text nur durch eine »Zwanzig-Fragen«-Technik eingepaukt werden könnte, bei der jedes »Nein« einen Schlag nach sich zöge. Es ist daher notwendig, andere, »nicht emotionale« Kommunikationskanäle zu entwickeln. Wenn diese verfügbar sind, ist es möglich, einer Maschine mittels Strafe und Belohnung beizubringen, Befehle, die durch Sprache ausgedrückt sind, z.B. durch Symbole zu befolgen. Diese Befehle müssen über »nicht emotionale« Kanäle vermittelt werden. Die Verwendung dieser Sprache wird die Methode von Strafe und Belohnung weitgehend reduzieren. Die Meinungen über die einer Kind-Maschine angemessenen Komplexität mögen variieren. Man könnte versuchen, sie im Einklang mit den allgemeinen Prinzipien so einfach wie möglich zu machen. Andererseits könnte man ihr ein komplettes System logischer Schlussfolgerungen »einbauen«. In letzterem Fall wäre der Speicher größtenteils mit Definitionen und Behauptungen belegt. Die Behauptungen wären von unterschiedlichem Status, z.B. gut begründete Fakten, Lehrsätze, mathematisch bewiesene Theoreme, Aussagen von Autoritäten, Ausdrücke, die die logische Form eines Lehrsatzes, doch keine Glaubwürdigkeit haben. Bestimmte Lehrsätze können als »Imperative« bezeichnet werden. Die Maschine sollte

4 | Anm. d. Hg.: Helen Keller erlangte im 19. und frühen 20. Jahrhundert als blinde und taube Studentin Berühmtheit.

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62 | Alan M. Turing so konstruiert sein, dass, sobald ein Befehl als »begründet« klassifiziert wird, die entsprechende Aktion automatisch stattfindet. Um dies zu illustrieren, nehmen wir an, der Lehrer befiehlt der Maschine: »Mache jetzt deine Hausaufgabe«. Dies kann auslösen, dass »Lehrer sagt, ›Mache jetzt deine Hausaufgabe‹« unter die begründeten Fakten eingereiht wird. Ein anderer solcher Fakt könnte sein »Alles, was dein Lehrer sagt, ist wahr.« Eine Kombination von diesen beiden könnte schließlich dazu führen, dass der Befehl: »Mache jetzt deine Hausaufgabe« zu den begründeten Tatsachen gezählt wird und folglich mit der Hausaufgabe tatsächlich begonnen wird – dieser Effekt ist in der Tat sehr zufriedenstellend. Die Schlussfolgerungen der Maschine müssen nicht unbedingt die strengsten Logiker zufriedenstellen. Es muss keine Hierarchie der Typen geben. Doch muss dies nicht bedeuten, dass Typenfehler (type fallacies) auftreten müssen, ebensowenig wie wir zwangsläufig von einer ungesicherten Klippe stürzen müssen. Geeignete Befehle wie »Verwenden Sie keine Klasse außer einer Subklasse von der, die der Lehrer erwähnt hat« können einen ähnlichen Effekt haben wie »Gehe nicht zu nahe an den Rand der Klippe«. Die Befehle, die eine Maschine ohne Gliedmaßen befolgen kann, müssen intellektueller Natur sein wie im oben genannten Beispiel (Hausaufgaben machen). Unter solchen Befehlen sind jene wichtig, die die Reihenfolge festlegen, in der die Regeln des jeweiligen logischen Systems anzuwenden sind. Denn auf jeder Stufe eines logischen Systems gibt es zahlreiche alternative Schritte, die alle unter Beachtung der Systemregeln angewendet werden können. Diese Wahlmöglichkeiten machen den Unterschied zwischen einem brillanten und einem einfältigen Denker aus, aber nicht zwischen einem vernünftigen und einem fehlerhaften. Richtlinien, die zu Befehlen dieser Art führen, könnten heißen: »Wenn Sokrates erwähnt wird, verwende den Syllogismus Barbara«, oder: »Wenn eine Methode sich als schneller erweist als die andere, verwende nicht die langsamere Methode«. Manche davon könnten »per Autorität« gesetzt sein, andere von der Maschine selbst, beispielsweise durch wissenschaftliche Induktion, hervorgebracht werden. Die Vorstellung einer lernenden Maschine mag manchen Leser/-innen paradox erscheinen. Wie können sich die Arbeitsweisen der Maschine ändern? Sie sollten exakt beschreiben, wie sich die Maschine verhalten wird, egal welche Geschichte sie hat oder welchen Veränderungen sie unterzogen wurde. Die Regeln sind folglich zeitunabhängig. Dies ist weitgehend richtig. Die Erklärung dieses Paradoxons ist, dass die Regeln, die im Zuge eines Lernprozesses verändert werden, lediglich eine vorübergehende Gültigkeit beanspruchen. Der Leser mag sie mit der Verfassung der Vereinigten Staaten vergleichen. Eine wichtige Eigenschaft einer lernenden Maschine ist, dass deren Lehrer oft sehr ignorant dem gegenüber ist, was in ihrem Inneren abläuft, obwohl er bis zu einem gewissen Grad immer noch das Verhalten seines Schülers voraussagen kann. Dies betrifft vor allem das spätere Lernen einer Maschine, die aus einer Kind-Maschine mit erprobter Bauweise (oder

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Computermaschinerie und Intelligenz (1950) | 63 bewährtem Programm) hervorgeht. Dies steht in klarem Gegensatz zum üblichen Gebrauch eines Rechners, bei dem man über jeden Arbeitsschritt genau im Bilde sein will. Dies kann man nur schwer erreichen. Die Ansicht, dass »die Maschine nur das tun kann, was wir befehlen können«, erscheint angesichts dessen eigenartig. Die meisten Programme, die wir installieren können, führen dazu, dass die Maschine etwas tut, das wir nicht erklären können (oder was wir, wenn überhaupt, als völlig zufälliges Verhalten betrachten). Intelligentes Verhalten besteht vermutlich in einem Abweichen von dem vollkommen disziplinierten Verhalten von Rechenprozessen, aber einem geringfügigen, das nicht beliebiges Verhalten oder sinnlose, repetitive Prozesse hervorruft. Ein weiteres wichtiges Ergebnis bei der Vorbereitung des Rechners für seine Rolle im Imitationsspiel durch den Lern- und Bildungsprozess ist, dass »menschliche Fehlbarkeit« wahrscheinlich auf recht natürliche Weise, d.h. ohne besonderes »Coaching«, verschwindet. Prozesse, die erlernt werden, erzeugen keine 100-prozentige Sicherheit; wären sie dazu fähig, könnten sie nicht verlernt werden. Es ist wahrscheinlich klug, ein Zufallselement in eine lernende Maschine einzubauen. Ein Zufallselement ist recht nützlich, wenn wir die Lösung eines Problems suchen. Angenommen wir wollten eine Zahl zwischen 50 und 200 finden, die dem Quadrat der Summe seiner Ziffern gleicht, beginnen wir vielleicht mit 51 und versuchen es dann mit 52 und so weiter, bis wir die korrekte Zahl finden. Wir könnten aber auch Zahlen per Zufall auswählen, bis wir eine passende finden. Diese Methode hat den Vorteil, dass wir die Werte, die schon ausprobiert wurden, nicht speichern müssen, aber den Nachteil, dass eine Zahl auch zweimal vorkommen kann, was jedoch keine große Rolle spielt, wenn es mehrere Lösungen gibt. Die systematische Methode hat den Nachteil, dass es, in dem Bereich, der zuerst untersucht werden muss, womöglich einen riesigen Block ohne Lösungen gibt. Nun kann der Lernprozess als die Suche nach einer Verhaltensform betrachtet werden, die den Lehrer (oder ein anderes Kriterium) zufriedenstellt. Da es wahrscheinlich eine sehr große Anzahl befriedigender Lösungen gibt, scheint die Zufallsmethode besser zu sein als die systematische. Es sollte angemerkt werden, dass diese bei dem vergleichbaren Prozess der Evolution angewendet wird. Doch dort ist die systematische Methode gar nicht möglich. Wie sollte man auch die unterschiedlichen genetischen Kombinationen, die ausprobiert wurden, verfolgen, um zu vermeiden, dass sie noch einmal probiert werden? Wir können hoffen, dass sich Maschinen irgendwann in allen rein intellektuellen Bereichen mit dem Menschen messen können. Aber mit welchen beginnt man am besten? Sogar das ist eine schwierige Entscheidung. Manche Menschen denken, dass abstrakte Handlungen wie beispielsweise das Schachspielen sich am besten eignen würden. Man kann auch vertreten, dass es am besten sei, die Maschine mit den besten Sinnesorganen auszustatten, die man käuflich erwerben kann, und ihr dann beizubringen, wie man Englisch spricht und versteht. Dieser Vorgang könnte dem normalen Lernprozess eines Kindes folgen. Dinge würden gezeigt

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64 | Alan M. Turing und benannt werden etc. Wieder kenne ich nicht die richtige Antwort, doch ich finde, beide Ansätze sollten erprobt werden. Wir können nur ein wenig vorausschauen, doch wir können erkennen, was alles noch zu tun ist. Übersetzung aus dem Englischen: Jeannette Pacher

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Kunst und Intelligenz (1965) Max Bense

Auch Kunst, ich darf es voraussetzen, beruht auf dem Eingriff intelligenter Wesen in den Prozess der Natur und unserer Zivilisation. Auch Kunst, ich füge das noch hinzu, ist eine Konfrontation von Bewusstsein und Realität, die anerkannt und suspendiert werden kann, und auch Kunst, ich schließe damit meine Voraussetzungen ab, kann im Rahmen einer Zivilisation nur vom Standpunkt der Intelligenz und nur zu einer gewissen Zeit wesentlich werden; der Rest ist Reaktion, bürgerliches Vorurteil, fable convenue der Historiker, und die traditionelle starre Trennung künstlerischer und wissenschaftlicher Denkweisen, Verfahren und Produkte bleibt reiner Akademismus und wird dort, wo sie Devise ist, nur die Nachlassung des Geistes bestätigen, von der Hegel schon sprach. Wir haben eine moderne Kunst, und man versteht sich hinlänglich, wenn man von ihr spricht, aber wir haben auch eine moderne Ästhetik, und man sollte nicht übersehen, dass neben der Mathematik, der Nachrichtentechnik und der Philosophie auch eben die Mittel, Methoden und Schöpfungen der modernen Kunst selbst zu ihren Quellen gehören. Es ist ein entscheidendes Anliegen dieser modernen Ästhetik zu zeigen, dass jedes Kunstwerk nur so weit einen Akt der Schöpfung, der Innovation, der Originalität darstellt, als seine Theorie die Form einer Intelligenz repräsentiert. Das aber ist genau der Punkt, um den es uns hier geht: um die gegenwärtige und zukünftige, theoretische und praktische Ableitbarkeit der Kunst aus den Voraussetzungen der modernen Zivilisation, also aus bewussten, intelligiblen Prozessen und Techniken. Denn die Annäherungsbewegungen zwischen Kunst und Technik, deren großer Ausdruck heute das Design und die industrielle Fertigung sind, bilden einen Teil des zivilisatorischen Prozesses, der, globaler Natur, von Ausgleichstendenzen zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Produktionsprinzipien begleitet wird. Auf der Suche nach den Gelenkstellen zwischen Kunstwerk und Theorie stößt man sehr schnell auf die Kategorien der Verallgemeinerung und der Vereinfachung, innerhalb derer sich die Kontakte vollziehen. Die Verallgemeinerung ihrer Aufgabe, also die Methode ihrer Schöp-

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66 | Max Bense fung, nämlich die Liberalisierung in den Verfahren und die Emanzipierung der Mittel, die Loslösung vom bestimmten Gegenstand wie von seiner vorschriftsmäßigen Erzeugung, die Vernachlässigung der Seinsthematik und die Begünstigung der Zeichenthematik gehören genauso zum großen Zug moderner Kunst wie die Vereinfachung dieser Aufgabe, die Beschränkung der künstlerischen Aussage auf ihre Mittel, die Reduktion der Vorstellung auf Wahrnehmbares – die Elemente interessieren mehr als die Objekte, in denen sie vorhanden sind, die Fälle weniger als ihre Prozesse oder Schemata. Das alles sind wohlbekannte cartesianische Züge, ob man will oder nicht, und man kennt sie aus der Theorie. Und wo immer in der Malerei oder in der Plastik es sich heute um diese cartesianischen Experimente oder Tendenzen handelt, wird zugleich eine feinere Sensibilität in einer komplexeren Rationalität sichtbar, deren Gedanke an Schöpfung nicht abgetrennt werden kann vom Gedanken an Zerstörung, also Grundlagenkunst wie Grundlagenforschung, mit allen gefährlichen Momenten: In jeder zu großen Allgemeinheit entsteht der Tropismus, die formulierte Leere, der Allgemeinplatz, und zu nahe an ihre Entstehung herangerückt, entwickelt jede Kunst ihre spezifischen Prinzipien der Barbarei, in der noch immer ein fragwürdiger Wille weiter reichte als die »Anstrengung des Begriffs«. Verallgemeinerung und Vereinfachung haben nun jene beiden elementaren Formen ästhetischer Botschaft hervorgerufen, die heute, weithin sichtbar, auch die beiden herausgehobenen Techniken und Stile bestimmen: Systeme der Mischung und Systeme der Anordnung, wenn man sie, technologisch, Tachismus und Geometrismus nennt und wenn man sie, vage genug, artistisch als informelle und formelle Kunst beschreibt. Doch genügt weder die technologische noch die artistische Bestimmung; beide, die dargestellten Systeme der Mischung wie die dargestellten Systeme der Anordnung, sind ästhetische Botschaften, die entweder statistisch oder geometrisch fassbar sind; dem geometrischen Stil der konkreten Malerei entspricht der statistische des informellen Tachismus; was die Konfiguration dort, ist hier die Häufigkeit, die Schärfe der Kontur ist abgelöst durch die Unschärfe der Übergänge, das Bei-sich-selbst-Sein des Strichs durch die Neigung zu seiner Störung und Verletzung, aber alle sind Elemente der technologischen und mathematischen Sprache, die hier als Vehikel ästhetischer Realisation auftritt. Dass diese ästhetische Realisation den Charakter einer Nachricht, einer Botschaft, einer Information, nicht den Charakter einer neuen Wesenheit oder Substanz besitzt und dem Schema der Kommunikation, der Vermittlung unterliegt, ist ein Satz der modernen Ästhetik. Ästhetik als Nachrichtentheorie, als Theorie einer besonderen Klasse von Nachrichten, die allein durch Kunstwerke realisiert und vermittelt werden, scheint heute die metaphysische in eine technologische Disziplin zu verwandeln. Jeder künstlerische Prozess arbeitet mit Zeichen als den Elementen der Wahrnehmung oder den Elementen des Machens. Jede ästhetische Reali-

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Kunst und Intelligenz (1965) | 67 sierung erweist sich primär als Zeichenprozess. Zeichen und Zeichenensembles bilden die Voraussetzung für die Entstehung wie auch für den Transport einer Nachricht. Die Nachricht kann eine semantische sein: z.B. die astronomische Mitteilung »Der Mond ist aufgegangen«; die Nachricht kann aber auch eine ästhetische sein: z.B. die Verszeile »Der Mond ist aufgegangen […]« im Gedicht von Claudius. Die Informationsästhetik trennt deutlich semantische und ästhetische Information, aber der Begriff der Information selbst ist in beiden Fällen verknüpft mit dem Begriff der Überraschung, des Unvorhersehbaren, des Neuen, der Innovation, der Originalität, die durch eine bestimmte Verwendung statistischer Vorstellungen und Verfahren der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht nur begrifflich, sondern auch numerisch zugänglich werden. Nachdrücklicher denn je erscheint in dieser Theorie die ästhetische Information auf ihre Innovation, das Kunstwerk auf seine Originalität zurückgeführt, und dass die begriffliche und numerische Theorie gerade diese klassischen Bestimmungsstücke des Kunstwerks rational entscheidend werden lässt, erhöht zweifellos ihren Rang als kritische Instanz. Dass der Betrag der produzierten oder perzipierten Information durch den Betrag an Alternativen, Entscheidungen, die zur Realisierung aufgewendet wurden, rechnerisch zugänglich wird, erweist auch in diesem Zusammenhang den ästhetischen Zeichen- und Informationsprozess als selektiven, als abhängig von Wahlfreiheiten, die dabei sukzessive verbraucht werden, fast eine Demonstration des Hegel-Satzes, dass Kunst die höchsten Interessen des Geistes zum Bewusstsein zu bringen habe und dass zu diesen höchsten Interessen die Freiheit gehöre. Die Informationsästhetik besitzt also einen begrifflichen und einen rechnerischen Teil. Der begriffliche Teil sieht die Zusammenhänge neu, er nennt ästhetisch einen Prozess, der das Unwahrscheinliche, das Ungewohnte, das Überraschende differenziert, indem er ihn vom logischen unterscheidet, der das Wahrscheinliche, das Gewohnte, das Nichtüberraschende differenziert. Und der rechnerische Teil bestimmt die ästhetischen Werte neu, indem er das Unwahrscheinliche, das Ungewohnte, das Überraschende mit den Mitteln der Statistik beschreibt, die mit Wahrscheinlichkeiten oder Häufigkeiten rechnet. Ein Gebilde, das wie eine Theorie aus einem logischen Prozess hervorgeht, ist wesentlich wahr oder falsch, sonst ist es keine Theorie; die Kenntnis, die sie vermittelt, ist im strengen Sinne keine Innovation, sie ist ja vorhersehbar; das gehört zum Wesen jeder Theorie, also auch keine wirkliche Information. Aber ein Gebilde, das wie ein Kunstwerk aus einem ästhetischen Prozess hervorgeht, ist weder wahr noch falsch, es suspendiert diese Wahrheitswerte; denn es vermittelt keine Kenntnis, sondern erschließt gerade wesentlich den Bereich einer Unkenntnis, einer Überraschung, einer Unwahrscheinlichkeit, einer Innovation und lässt sie durchaus als solche bestehen, aber es wird nach anderen, neuen und höchst empfindlichen und zerstörbaren Werten differenziert

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68 | Max Bense werden müssen, wenn überhaupt Kommunikation eintreten soll, denn Kommunikation beruht ja wesentlich auf Selektion, wenn überhaupt eine ästhetische Information in ihr übertragen wird. Es ist klar, dass Unkenntnis und Unvorhersehbarkeit einer aus Zeichenelementen gebauten semantischen oder ästhetischen Information einen Höchstwert annehmen würden, wenn alle Elemente gleich unwahrscheinlich werden. Die Information wäre aber in diesem Falle zwar von maximaler Innovation, also Originalität, aber vollständig unverständlich, d.h. die ästhetische Information wäre als solche in diesem Falle nicht mehr wahrnehmbar. Damit eine ästhetische Information, die ein Kunstwerk gibt, trotz der Forderung nach Neuheit und Ursprünglichkeit aufnehmbar, apperzipierbar bleibt, muss man ein Prinzip einführen, das den Höchstwert vermindert, man muss ihn beschweren, man muss die Unwahrscheinlichkeit dieser Information dadurch herunterdrücken, dass man sie mit wahrscheinlichen Elementen belastet, man muss der Information Redundanz hinzufügen, die das eigentliche Moment des Schönen als »Ordnungen« zur Wahrnehmbarkeit bringt. Die Realisierung von Kunst durch das Kunstwerk ist also nicht nur eine Frage der Information, sondern vor allem auch eine Frage der Redundanz dieser Information. Redundanz bedeutet dem Wort nach etwas, was eigentlich überflüssig ist, der Idee nach also etwas, was am Kunstwerk weggelassen werden könnte, wenn wir den Höchstwert an Innovation, an Originalität überhaupt wahrnehmen könnten. Jede schöpferische Leistung in der Kunst entsteht als ästhetische Botschaft gegen die Forderung der Verständlichkeit dieser Botschaft. Die Ausprägung eines Stils ist stets eine Konzession an die Redundanz, nicht eine Konzession an die Originalität der ästhetischen Botschaft. Die Entwicklung der modernen Kunst in den bekannten Phasen der Überwindung des Figürlichen und Gegenständlichen im klassischen Sinne, der geometrischen, informellen und tachistischen Verfahren, ist auch eine Auseinandersetzung über Innovation und Redundanz ästhetischer Botschaften, bewegt von der Frage, was noch weggelassen werden könne, um die eigentliche ästhetische Information in höchster Reinheit hervortreten zu lassen. Vom Standpunkt der numerischen Informationsästhetik erweist sich, wie man sich leicht klarmachen kann, der Geometrismus der konkreten Kunst, bedacht auf Anordnung, als eine Kunst hoher Redundanz; Unvorhersehbarkeit und Unwahrscheinlichkeit sind herabgesetzt, und die Klarheit und Identifizierbarkeit der Wahrnehmung steigt an, hingegen erscheint die informelle Malerei zwar als eine Kunst relativ hoher ästhetischer Information, die Unvorhersehbarkeit ist angestiegen, die Anfälligkeit für Störungen dessen, was der Maler will, ist groß, oder die Störung wird geradezu ausgenützt, aber die Wahrnehmbarkeit, die Apperzeption der ästhetischen Botschaft ist erschwert, sie rückt in die Mikrobereiche ein, es ist eine mikroästhetische Botschaft, in der es wenig Zustände der Anordnung, aber umso mehr Zustände der Mischung gibt. Was im Verhältnis zur Kunst hoher Redundanz auf der einen und zur Kunst hoher, aber mikroästhetischer Information auf der anderen Seite der

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Kunst und Intelligenz (1965) | 69 gegenständlichen Kunst ihre Klassizität verleiht, ist angesichts solcher Überlegungen die Tatsache, dass der Gegenstand im Verhältnis zur ästhetischen Botschaft eine Redundanz ist, die zugleich ihre Redundanz verschleiert, indem sie sie als semantische Information der ästhetischen hinzuzufügen weiß. Es scheint mir zu den methodischen Errungenschaften moderner Kunst, besonders des abstrakten, konkreten und informellen Kunstwerks zu gehören, dass sie es sich leisten können, die ästhetische Information eines Bereichs definitiver Unkenntnis in einem Kunstwerk von der semantischen Information eines Bereichs definitiver Kenntnis abgelöst zu halten, doch ist es auch klar, dass die Bewertung, die Differenzierung dieser bedeutungsfreien ästhetischen Information nicht mehr nach einem zweiwertigen Schema schön oder nichtschön erfolgen kann, so wie man eine Theorie, ein Theorem entweder als wahr oder als falsch bezeichnen muss. Jetzt ist eine reiche, subtile und sensible Skala von Werten notwendig, um den ästhetischen Zustand eines Bildes, einer Plastik wohlunterschieden von dem eines anderen Bildes, einer anderen Plastik noch wiedergeben zu können. Das Wort, das ein Gefühl suggeriert, genügt nicht; Gefühle waren schon immer weniger subtil als Begriffe und Bilder ärmer als Gedanken. Es gibt nur eine Skala, die reich und fein genug wäre, die realisierten Farbund Linienzüge, die auf diesen Bildern nur sich selbst präsentieren, zu unterscheiden: die numerische Skala, in der jedes Schema der Unbestimmtheit, der Überraschung rechnerisch zugänglich wird. Wir haben heute zweifellos eine Malerei, eine Kunst reduzierter ästhetischer Zustände vor uns; was gesagt werden soll, wird in ästhetischen Informationen minimalster Codierung, also durch pure Realisation gesagt, und es gehört offenbar zu den Glücksfällen der Geistesgeschichte, dass sich heute die Ästhetik eines neuen mathematischen Rüstzeugs bedienen kann, das solche reduzierten ästhetischen Zustände der Mischung und der Anordnung numerisch zugänglich macht. Man wende nicht ein, das sei zu wenig. Wer es einwendet, sei an eine Bemerkung Racines im Vorwort zu »Bérénice« erinnert: »Manche meinen, Einfachheit sei ein Zeichen mangelnder Erfindungsgabe. Sie bemerken nicht, dass im Gegenteil alle Erfindungskunst darin besteht, aus Nichts etwas zu machen.«1 Mischung und Anordnung sind also elementare und bedeutungsfreie, also schematische Zustände, und es ist ganz gleichgültig, ob sie die Verteilung von Gaspartikeln im Raum, farbiger Substanz auf der Leinwand oder der Worte in einem Text betreffen. Das Vordringen der Kunst in die generalisierten Bereiche des Seins verallgemeinert und reduziert auch die Information, die sie gibt, und es fällt nicht mehr schwer, die statistischen Prinzipien, die in der physikalischen Disziplin der Thermodynamik entwickelt wurden, so zu generalisieren, dass sie nicht nur auf Verteilungen von

1 | Vgl. Jean-Baptiste Racine: »Vorwort«, in: Berenize. Tragödie in fünf Aufzügen, übersetzt von Rudolf Alexander Schröder, Stuttgart 1964.

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70 | Max Bense materiellen Partikeln in einem endlichen Raum zutreffen, sondern auch auf die Verteilung der wahrnehmbaren Elemente auf der endlichen Fläche einer Leinwand oder in der endlichen Linearität eines Textes. Jedes Schema der Unbestimmtheit, das die Momente des Unwahrscheinlichen und des Unvorhersehbaren einschließt, kann also zur Quelle einer ästhetischen Information werden, die das realisierte Kunstwerk als einen Überträger benötigt, der die Ursprünglichkeit, die Originalität der Information nicht verletzen darf. Keine ästhetische Information ist von ihrem Träger ablösbar. Ästhetische Information unterscheidet sich von jeder anderen dadurch, dass sie nie codiert, immer nur realisiert auftritt. Dies scheint mir eine der wichtigsten Voraussetzungen der gesamten Informationsästhetik zu sein. Doch das Schema der Unbestimmtheit, das zwischen Mischung und Anordnung schwankt, kann selber bestimmt oder unbestimmt sein. Es verfällt der Iteration, es spiegelt sich. Mischung und Anordnung gewinnen dann neue ästhetische Ausmaße, und wir sprechen von ihnen wie vom Preziösen und der Präzision. Das Preziöse und die Präzision als ästhetischer Ausdruck der Mischung und der Anordnung in der Sprache der Realisation, also in der Sprache, die das beschreibt, was tatsächlich gemacht wird, scheinen die Grenzen der Variationen zu bestimmen, innerhalb derer heute gegenstandslose Kunst zu einem Oberbegriff werden kann, der einerseits den Geometrismus und andererseits den Tachismus, einerseits abstrakte und andererseits informelle ästhetische Information umfasst. Das Schema der Unbestimmtheit ist im Preziösen unbestimmter als in der Präzision, und das Preziöse erscheint im gleichen Maße als eine Kategorie des Vergnügens unter dem Aspekt des Spiels, wie die Präzision eine Kategorie der Sicherheit ist unter dem Aspekt des Leidens. Ein Zeitalter, das, wie Nathalie Sarraute es formulierte, ein »Zeitalter des Argwohns«2 und des Verdachtes ist, hinterlässt mit diesen Kategorien des Preziösen und der Präzision noch auf jedem Bild die berechenbaren Spuren des Spiels und des Leidens. Tendenz und Experiment sind seit Langem als Kategorien der Produktivität bekannt, und sie können eine Quelle der Kunst, also der ästhetischen Information sein, weil gerade sie auf dem Wesen der Entscheidung, des Verbrauchs an Freiheiten beruhen, die das Schema der Unbestimmtheit definieren. Doch hat es für uns hier keinen Sinn, diese existentiellen Anzeichen moderner Kunst weiterzuverfolgen, es sind keine Merkmale, die einzelne, sondern alle Kunstwerke charakterisieren. Es handelt sich um die artistischen Vorentscheidungen des Experimentes und der Tendenz, die damit sichtbar werden, als einzige Vorentscheidungen, die angesichts der prekären Lage unserer Zivilisation noch einen Sinn haben, die die Produktionen festlegen und den Zeitpunkt ihrer Schöpfung bestimmen. Jedes

2 | Nathalie Sarraute: Zeitalter des Argwohns, Darmstadt 1965 (im Original: L’ère du soupçon, 1956).

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Kunst und Intelligenz (1965) | 71 Schema der Unbestimmtheit ist rätselhaft, hatte ich gesagt, und das bedeutet gerade, dass es produktiv ist. Es deutet sich auf diese Weise wieder an, in welchem Sinne sich das ästhetische Weltverhältnis der Kunst vom erkenntnistheoretischen der Wissenschaft und vom ethischen der Gesellschaft unterscheidet. Im erkenntnistheoretischen Weltverhältnis wird das Subjekt suspendiert, und das Objekt ist bestimmt; im ethischen Weltverhältnis ist das Subjekt unbestimmt, und das Objekt ist suspendiert; im ästhetischen Weltverhältnis ist das Subjekt nicht suspendiert, doch bestimmt, und unbestimmt ist nur das Objekt. In dem Maße, wie nun also einerseits jeder Satz über sein Selbst zum Ausgangspunkt einer Moral werden kann, vermag jede Vorstellung von der Unbestimmtheit der Welt der Anfang eines produktiven ästhetischen Prozesses zu sein, und niemand wird leugnen, dass jedes Kunstwerk, sofern es überhaupt subjektive und objektive Züge und passive und aktive Anlässe verrät, im Umfang seiner Tendenz Prinzipien einer Moral und im Umfang seines Experiments Prinzipien einer Ästhetik sichtbar werden lässt. Jedes Experiment arbeitet an der ästhetischen Realisierung des Kunstwerks, jede Tendenz an seiner ethischen Realisierung, und die ästhetische Realisierung macht die Information, die ethische Realisierung aber die Aktualität dieser Information offenbar; denn ethische Realisierung ist nur als Aktualisierung denkbar. Im Allgemeinen wird kein ästhetischer Prozess in einem einzigen Kunstwerk abgeschlossen. Auch eine ästhetische Information ist nur in den seltensten und glücklichsten Fällen eine vollständige, und endgültige, die auf Wiederholung und Veränderung verzichten könnte. So scheint mir die relative Unselbstständigkeit des einzelnen Kunstwerks eine Folge seiner Nachrichtennatur zu sein, und die Idee des Stils wurzelt darin. Ein Kunstwerk kann nur so lange aktuell sein, als die ästhetische Information, die es gibt, nicht abgeschlossen ist. Die abgeschlossene ästhetische Information beendet ein Kunstwerk endgültig. Das abgeschlossene Kunstwerk gehört keinem ästhetischen Prozess mehr an, zurückgezogen aus der Aktualität seiner Botschaft gehört es ausschließlich der Geschichte, es ist ästhetisch ein für allemal verbraucht. Und dass auch Kunst dem Verbrauch anheimfällt, zerstört ein für alle Mal die theologische Vorstellung ihrer möglichen Ewigkeit. Aufgefasst als ästhetische Botschaft, wie das hier geschehen ist, gehört das Kunstwerk dem Schema der Kommunikation an, das zur Struktur der Gesellschaft und ihrer Zivilisation gehört. Sieht man es im Schema der Kommunikation, dann gehört die Phase der Kritik nach der Phase ihrer Herstellung abschließend dem ästhetischen Prozess der Information an. Die Kritik urteilt, das Urteil anerkennt oder verwirft die ästhetische Information, bestätigt sie also auf diese Weise. Aber die Kritik kann wesentlich nur in ästhetischen Aussagen bestehen, wenn sie die Kunst, nicht die Kommunikation betreffen will, nicht in historischen, soziologischen oder psychologischen Sätzen, die sich heute so gerne als Kunstkritik ausgeben. Und zum Aufstellen ästhetischer Aussagen

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72 | Max Bense bedarf es eben einer ästhetischen Theorie, die kontrolliert und gelernt werden kann. Es mag den Maler nichts angehen, was vom Standpunkt einer begrifflichen oder numerischen Ästhetik über seine Bilder gesagt wird, seine Realisation greift auf ein anderes Repertoire zurück als auf die Codierung, die der Ästhetiker, indem er das Kunstwerk als Kunstwerk feststellt, bestätigt. Doch geht es aus den gleichen Gründen den Ästhetiker nichts an, was der Maler sagt, nicht er wird festgestellt, sondern das, was er gemacht hat, und nicht jedes hektische Traktätchen gehört zu den Traktaten der Maler. Dass Kunstwerke überhaupt durch Theorie wenigstens im Prinzip feststellbar sind, ist eine Folge der Tatsache, dass sowohl das Kunstwerk als auch die Theorie eine feststellende, statuierende, seinssetzende Funktion haben. Perzeption ist immer weniger als Apperzeption. Die Wahrnehmung bleibt als geistige Arbeit stets hinter dem Bewusstsein, das sie verwandelt, zurück. Die Selbstständigkeit von Farbe und Form als eine ästhetische Möglichkeit von Kunst ist als Wiedergabe einer bloßen Perzeption geistig ärmer als die Wiedergabe einer Apperzeption. Aber im gleichen Sinne ist auch das Maß der Saturierung durch Kunst nie ein Kriterium für die in jeder vollständigen Apperzeption von Kunst sich vollziehende geistige Aktion und Apperzeption ist in jedem Falle verschieden von Unterhaltung. Daher arbeitet jeder Irrationalismus in der Malerei auf den Verlust des Geistes hin, der auch durch keine noch so tönende Anrufung der »himmlischen Heerscharen« wettgemacht werden kann. Es ist nicht möglich, die spirituelle Bedeutungslosigkeit einer Kunstausübung durch emotionale und konfessionelle Interpretationen zu ersetzen oder die Anstrengung des Begriffs auch in der Malerei durch Arroganz vorzutäuschen. Wenn also, was ich sagen will, moderne Kunst überhaupt nur auf dem Hintergrund ihrer Theorien, der Gedankenbewegungen, nicht der Gemütsbewegungen, faszinierend, wahrnehmbar und schön wird, und zwar weil erst auf diesem Hintergrund ihre Subtilität und ihre Komplexität ansteigt, dann ist es notwendig, diese Theorien, diese Gedankenbewegungen selber festzustellen und genau wie die Maler in ihrer Freiheit der Realisation alle freien und subtilen Mittel der Intelligenz dabei auszunützen, die numerischen wie die begrifflichen, die technologischen wie die metaphysischen, und nicht durch die Nennung eines Gefühls, einer Weltanschauung oder einer Konfession sich selbst zu überlassen, was in einer wissenschaftlichen Sprache der vollständigeren Vermittlung nicht widerstehen würde. Die Rigorosität, die zur Realisierung eines Kunstwerks aufgewendet wird, darf nicht dadurch abgeschwächt werden, dass man seine Interpretation verweichlicht und die Untersuchung versüßt; und weder das, was als Experiment, noch das, was als Tendenz eine deutliche Vorentscheidung war, kann in jenen konventionellen und historisierenden Begriffsbildungen vermittelt werden, in denen die Irrationalitäten der Erlebnisse und des saturierten Geschmacks vorherrschen und die bei uns das Kennzeichen der ungelernten Tageskritik sind.

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Kunst und Intelligenz (1965) | 73 Das würde aber auch bedeuten, dass der Rang der Kunst aufhört, vital bestimmt zu sein und sich in ihrer ideellen Bewertung nach dem Grad der Saturation oder der Sekurität zu richten, die mit ihrer Hilfe in einem Selbstgefühl zu erreichen ist. Es handelt sich jetzt gewissermaßen darum, den Horizont des Machens, den die Technik umschreibt, durch eine neue Art ästhetischer Realisation in der gleichen Weise zu transzendieren, wie jede klassische Kunstform die Natur überstieg. Was sich andeutet ist, wenn ich das so sagen darf, der Übergang von einer natürlichen Kunst zu einer künstlichen Kunst. In der natürlichen Kunst wird die Ordnung verfügbarer Materialien zur ästhetischen Botschaft durch reale menschliche Erlebnisse und durch außerhalb jener Materialien vorgegebene Sachverhalte und Ereignisse bestimmt. In der künstlichen Kunst bleibt alles in der Eigenwelt des ästhetisch disponierbaren Materials, und an die Stelle konkreter menschlicher Erfahrungen treten jetzt rational beherrschbare und technologisch aktivierte Prozesse der ausnützbaren Elemente selbst. Ich finde in der modernen Kunst und Literatur, in ihren abstrakten und konkreten Zügen, in ihrem Peinture-Begriff und ihrem Text-Begriff sowie in ihren statistischen und topologischen Strukturen eine zukünftige kybernetische Kunst bereits angedeutet. Weil die Phase der Kritik, wie gesagt, für den ästhetischen Gesamtprozess eines Kunstwerks unter Umständen abschließender Natur sein kann, bedarf es der beständigen Reflexion der Kritik auf eine Theorie, die weder ein System definierter Begriffe noch ein System numerischer Methoden scheut. Der wissenschaftliche Zustand der Kunstkritik wird unvermeidlich, wenn Kunst überhaupt als ein Eingriff intelligenter Wesen in den Prozess unserer Zivilisation verständlich werden soll und die berühmte Remission des Geistes in der Kunst als widerlegbar gelten kann. Er ist das einzige Mittel, Emotionalismus und Konfessionalismus aus dem Urteil über Kunst zu vertreiben und die Selbstauffassung ihrer Hervorbringer über das Niveau der Predigt und der Litanei zu heben. Gewiss, Kunst ist öffentlich wie Wissenschaft, aber Öffentlichkeit ist kein Kriterium für Wissenschaft, und sie kann es auch nicht für Kunst sein, so sehr die Tageskritik der ungelernten Intelligenz auch daran interessiert ist, um ihre Trivialitäten loszuwerden. Denn wie die Wissenschaft reflektiert auch die Kunst darauf, ihren Prozess als notwendigen, nicht als zufälligen im Medium der Zivilisation zu begründen – und das bedeutet, dass sie ebenso wie die Wissenschaft an der produktiven Tieferlegung ihrer Fundamente interessiert ist.

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Kybernetische Kunst (1966) Nam June Paik

• Computerkunst ist sehr wichtig, doch ist Kunst für ein computerisiertes Leben noch wichtiger und Letzteres muss nicht computergesteuert sein. (Vielleicht ist George Brechts Vereinfachung am adäquatesten.) • Doch wenn Pasteur und Robespierre Recht haben, dass wir Gift nur durch ein bestimmtes Gegengift abwehren können, dann erfordern einige spezifische Frustrationen, die durch ein computergesteuertes Leben verursacht werden, dementsprechend einen computerisierten Schock und Katharsis. Meine alltägliche Arbeit mit Videobändern und Kathodenstrahlröhren überzeugt mich davon. • Cybernetics, die Wissenschaft reiner Beziehungen, oder die Beziehung selbst hat ihren Ursprung im Karma. Marshall McLuhans berühmter Satz »Das Medium ist die Botschaft« wurde von Norbert Wiener 1948 mit »Das Signal, das die Botschaft schickt, spielt eine ebenso bedeutende Rolle, wie das Signal, dass keine Botschaft geschickt wird« formuliert. • Wie das Happening die Fusion verschiedener Künste ist, ist Cybernetics die Ausnutzung der Grenzbereiche zwischen unterschiedlichen bestehenden Wissenschaften und über diese hinaus. • Newtons Physik bedeutet den Mechanismus der Macht und das unversöhnliche Zwei-Parteien-System, wo die Starken über die Schwachen siegen. Doch in den 20er Jahren setzte ein deutsches Genie in einer Vakuumröhre eine winzige dritte Partei (Raster) zwischen diese zwei mächtigen Pole (Kathode und Anode), was den Schwachen erstmals in der Geschichte der Menschheit ermöglichte, die Starken zu besiegen. Es mag vielleicht ein buddhistischer »dritter Weg« sein, doch nichtsdestotrotz führte diese deutsche Erfindung zu Cybernetics, die im letzten Krieg Einzug hielt, um deutsche Flugzeuge über dem englischen Himmel abzuschießen.

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Kybernetische Kunst (1966) | 75 Die Buddhisten sagen auch Karma sei Samsara Beziehung sei Metempsychose (Reinkarnation) Wir befinden uns in offenen Kreisläufen Übersetzung aus dem Englischen: Jeannette Pacher

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Der Mensch ohne Fähigkeiten. Die Neuen Technologien und die Ökonomie des Vergessens (2002) Michel Serres

Unser Körper hört, ruft und erinnert sich. Bakterien, Algen, Pilze, Pflanzen und Tiere geben gleichfalls ihre Anwesenheit zu erkennen und nehmen die Umwelt wahr, jedes auf seine Weise; kein Organismus kann ohne Austausch von Energie überleben, aber auch nicht ohne Austausch von Information. Schon vor dem Menschen kennzeichnet Kommunikation das Lebendige als offenes System: Die Zellen kommunizieren im Körper ebenso miteinander wie die Körper der Lebewesen in ihrer ökologischen Nische. Auch in der toten Materie wird über alle Größenordnungen hinweg Energie und Information ausgetauscht, von den chemischen Verbindungen über die Stürme in der Atmosphäre bis hin zu den Galaxien. Wir Menschen haben diesen rein physiologischen oder physikalischen Prozessen eine Vielzahl künstlicher Hilfsmittel hinzugefügt, die unseren Körper in seinen Kommunikationsaktivitäten unterstützen; dieses Arsenal aus unterschiedlichsten Kommunikationsmitteln veränderte sich im Laufe der Geschichte. Erst in jüngster Zeit revolutionierten die elektronischen Technologien den gesamten Komplex der Aufnahme und des Empfangs, der Aufzeichnung und Speicherung, des Sendens und Übertragens von Information. Diese Veränderungen betreffen die Zeit, den Raum und die zwischenmenschlichen Beziehungen.

1. Zeit und Geschichte Ähnliche Umwälzungen haben wir schon mindestens zweimal in der Geschichte der Menschheit erlebt: die Erfindung der Schrift und die Erfindung des Buchdrucks. In Stein, Bronze oder Wachstafeln geprägt, später dann auf Papyrus oder Papier geschrieben, leistete die Schrift einen erheb-

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Der Mensch ohne Fähigkeiten (2002) | 77 lichen Beitrag zur Entstehung der ersten Städte im Nahen und Mittleren Osten und großer, von geschriebenen Gesetzen beherrschter Staatswesen; man denke nur an den Codex Hammurabi oder die mosaischen Gesetze. Die Schrift erleichterte und beschleunigte den Handel durch die Einführung des Münzgeldes, sorgte für den Aufschwung der Wissenschaft und der Pädagogik im alten Griechenland und für den Aufstieg der monotheistischen Religionen, die man geradezu als Schriftreligionen definieren kann. Heute unterteilen wir die ganze menschliche Geschichte in zwei Teile, in Vorgeschichte und Geschichte, wobei die Geschichte mit den ersten gravierten Texten beginnt. Die großen stabilen Ordnungen im Bereich der Politik, der Religion, der Wirtschaft, der Wissenschaft, die auf uns gekommen sind, beruhen sämtlich auf den Werkzeugen zur Bearbeitung von Information, die sich eigentlich weniger, wie oben behauptet, in der Geschichte verändert haben, sondern in erster Linie selbst die Geschichte prägten, denn erst die Schrift hat die Geschichte hervorgebracht. Als in der Renaissance der Buchdruck aufkommt, revolutionieren die italienischen Banken den gesamten Handel im Mittelmeerraum; sie ersetzen das Münzgeld durch Briefgeld und schaffen mit einem Schlage den ersten Kapitalismus; die Verbreitung der Bücher begünstigt die von der Reformation geförderte Unabhängigkeit des Einzelnen und damit auch die politische Demokratie sowie das bürgerliche Recht; ihre Sammlung in Bibliotheken entwertet die Doxografien; sie ermöglicht allen den Zugang zu den eigentlichen Quellen und fördert so die Entstehung der experimentellen Mechanik und Physik; insgesamt kann man daher sagen, der Buchdruck hat die neuzeitliche Wissenschaft hervorgebracht; und Montaigne, Erasmus, Rabelais und andere entwickeln auf dieser Grundlage neue pädagogische Konzepte. Beide Transformationen zeigen ein ähnliches Muster.

Der große Unterschied zwischen Technik und Technologien Die Veränderung der Datenträger – »sanfte« Technologien auf negentropischer Ebene – scheint das individuelle Verhalten und die soziale Organisation dank ihrer Flexibilität, ihrer Geschwindigkeit und ihrer Ausbreitungsfähigkeit stärker zu beeinflussen als die »harten«, auf entropischer Ebene arbeitenden Techniken etwa der Industriellen Revolution. Während Mechanik und Thermodynamik uns seit langem ein hochentwickeltes, präzises Wissen über die Techniken und ihre Gesetze bieten, zum Beispiel über die Erhaltung der Energie und den Wirkungsgrad von Motoren, wissen wir noch sehr wenig über die Gesetze der Technologien, die sich in der Größenordnung und in den Anwendungen so deutlich von den Techniken unterscheiden. Daher behalte ich den Ausdruck »Technologie« jenen Artefakten vor, die mit Zeichen, also mit dem Logos umgehen, und stelle ihnen die »Techniken« entgegen, deren energetischer Wirkungsbereich um den Faktor 1016 höher liegt. Ein weiteres Beispiel: In den letzten Jahrzehnten haben feinsinnige Philosophen uns in ihren Büchern von der überragenden Bedeutung der

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78 | Michel Serres jenseits des Buches liegenden, etwa in Bergwerken, Fabriken und Werkstätten beheimateten Techniken überzeugt; in ihrer transparenten, idealistischen Qualität verstanden die so geschriebenen Seiten sich selbst nicht als Technologien. Die vielfältigen Formen der Akkumulation und des Austauschs von Information, die ohne Zweifel auf den für das Leben notwendigen Prozessen und einem noch ferner liegenden Austausch innerhalb der toten Materie basieren, führen nun aber zu Veränderungen, die zwar weniger auffällig, aber auf lange Sicht von größerer Tragweite sind als die Veränderungen im Bereich der hohen Energien. Meine Generation hat die Katastrophe erlebt: Stahl, Kohle und Hochöfen, auf denen unsere Väter Europa zu errichten gedachten, teilen längst das Schicksal der Windmühle und des Spinnrads von ehedem, während der Computer die Zahl der Drucker in die Höhe schießen ließ und dem gravierten Zeichen der Antike überall und jederzeit zum Triumph verhalf. Statt seine Vorläufer zu verdrängen, sorgt die Erfindung eines neuen Datenträgers nur zu deren Neubelebung und Ausbreitung. Man hätte die Europäische Gemeinschaft nicht auf der Montanunion, sondern besser auf einer Bildungsunion aufbauen sollen. Wenn diese Korrektur unseres Geschichtsbildes zutrifft und wenn die neuen Technologien eine beträchtliche Innovation gegenüber ihren Vorläufern darstellen – was sich allerdings nur schwer überprüfen lässt –, dann müssen wir uns auf mindestens ebenso große Umwälzungen und sogar Brüche gefasst machen wie bei den beiden großen Umwälzungen der Vergangenheit. Tatsächlich verändert die Ökonomie sich unter unseren Augen, während sie sich über das Netz ausbreitet und dem Geld Flüchtigkeit verleiht, ohne dass es dazu einer gemeinsamen Rechnungseinheit bedürfte; die Naturwissenschaften haben ihr Paradigma bereits unter dem Einfluss des Computers gewechselt; die Verteilung zwischen städtischen und ländlichen Räumen ändert sich sehr schnell, und alle Religionen geraten gegenüber allen anderen in eine Krise; einige von uns streben ein neues Recht an, weil das Netz und die Naturwissenschaft heute zahlreiche rechtsfreie Räume aufweisen; und alle beklagen, dass die Politik keinen Mut mehr zur Gestaltung habe, sondern die Entscheidung anderen überlasse. Die fortgeschrittenen wie auch die in Entwicklung befindlichen Gesellschaften denken an ein Fernunterrichtssystem für eine Jugend, die wieder einmal kein Verständnis für die Abneigung der Älteren gegenüber der neuen Kultur hat. Man meint Sokrates zu hören, der es ablehnt, zu schreiben, und das Loblied der mündlichen Überlieferung singt; oder die ins Latein vernarrten Professoren der mittelalterlichen Sorbonne angesichts des Rabelaisschen Gelächters.

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2. Raum und Adresse Fassen wir die alte Welt nochmals in einem Wort zusammen: Wir haben in einem Raum gelebt, der von der Konzentration beherrscht war. Eine Stadt versammelt Familien und Straßen; ein Stadtviertel Haushalte, ein Platz Werkstätten; ein Unternehmen kombiniert Produktions- und Kommunikationsmittel; ein Bauernhof häuft Saatgut an und paart Tiere; eine Bank, eine Bibliothek, ein Museum horten Vermögenswerte, Bücher, Kunstwerke; ein Campus vereint Labors, Wohnheime, Unterrichtsräume; ein Hörsaal pfercht Studenten zusammen; ein Buch reiht Tausende von Wörtern aneinander; und die Idee des Kreises vereint unzählige Kreise in sich. Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass der Verstand, der Intellekt, die Kognition, kurz: das Denken sich wie der Einzelfall zu dieser umfassenden Geste einer unauflöslich materiellen, energetischen und informationsförmigen, pflanzlichen und tierischen, demografischen, kollektiven und sozialen, praktischen und finanziellen, politischen und wissenschaftlichen, mnemotechnischen und kognitiven Kapitalisierung verhält. Im Ich finden sich einige Ideen, in der Idee zahlreiche Fälle, im Buch Millionen von Zeichen, in der Bibliothek Tausende von Büchern, in der Stadt Bibliotheken, im Raum schließlich Städte, Bauernhöfe und Wege. Das Speichern geht den Austauschprozessen voraus und ist deren Voraussetzung. Begann es mit den Kornspeichern Mesopotamiens oder den jagdfreien Schutzgebieten, die von den Ureinwohnern Australiens seit Zehntausenden von Jahren beachtet werden? Und gilt diese Voraussetzung allein für die energetischen Techniken? Seit wir Menschen sind, leben wir in einem Raum voller Orte, an denen sich Dinge konzentrieren: in Häusern, in Dörfern, in Ansammlungen aller Art und insbesondere an dem Ort, an dem ich wohne und den ich meine Adresse nenne. Wir leben in diesem Raum, denn durch Bauen formen wir ihn, durch Wohnen festigen wir ihn, durch Denken rekonstruieren wir ihn. Die Spezies speichert, der einzelne denkt, der Vorgang ist derselbe. Wir konnten gar nicht überleben ohne solche Konzentrationen, sie bildeten die Voraussetzung des Lebens, des einzelnen, des Kollektivs, der Praxis und der Theorie; unablässig erfanden wir neue in allen erdenklichen Hinsichten. Und nun vollendet der Computer diesen Abschnitt der Menschwerdung. Denn wenn diese Maschine es verdient, als universell bezeichnet zu werden, dann im Hinblick auf die Konzentration. Wozu sollen wir noch Bücher, Zeichen, Güter, Studenten, Häuser oder berufliche Qualifikationen zusammentragen? Der Computer hat es längst getan. Das allgemeine Problem des Speicherns, an dessen Lösung wir unermüdlich arbeiten, seit es uns gibt, hat nicht nur seine reale, sondern auch seine virtuelle Lösung gefunden: Auf jede Frage dieser Art gibt es nun zahlreiche mögliche Antworten, je nach Voraussetzungen und einschränkenden Bedingungen. Netze machen die aktuelle Konzentration überflüssig, und damit meine ich eine beliebige Ansammlung hier und jetzt. Die Geschwindigkeit der Kommunikation konzentriert virtuell überall und nach Belieben alle ver-

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80 | Michel Serres fügbaren Elemente oder eine Auswahl daraus. Im Unterschied zu den alten Technologien ersetzen die neuen Maschinen die Funktion der Aufbewahrung durch schnelle Übertragung. Die Gesamtheit der Wege reicht für die Synthese aus. Wir speichern nicht mehr Dinge, sondern Relationen. Der Austausch relativiert das Speichern. Müssen wir den Kapitalismus überdenken? Ich habe immer wieder lachen müssen, als ich am Ufer der Seine die Grande Bibliothèque emporwachsen sah, und das ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, da die darin realisierte Kapitalisierung unnütz und absurd wurde. Die Politiker, die ohne Rücksicht auf die Armut im Volk so viel Geld in ihre vier Türme gesteckt haben wie einst die Pharaonen, erinnern an die Maharadschas, die im 17. Jahrhundert in Delhi riesige Sonnenuhren bauen ließen, um den Himmel mit der größtmöglichen Präzision beobachten zu können, während Galilei sein Fernrohr auf den Jupiter richtete und dessen Monde entdeckte. Die Verspätung dieser Hindufürsten mag entschuldbar sein, trennten doch mehrere tausend Kilometer sie vom Florenz der Renaissance. Der Elysée aber, an dessen Taubheit kein Zweifel bestehen kann, war dem endlosen Rauschen der weltweiten Kommunikation so nahe wie jeder andere. Und so beglückte denn ein schlecht beratener Präsident Paris mit vier Sonnenuhren, obwohl jedermann an jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Stunde Zugang zu einem Ort hat, an dem es nur ein einziges große Buch gibt. Warum sollte man sie noch anhäufen? Diese noch ganz dem Denken der Vorväter verhaftete Tat macht die vorangegangenen Jahrzehnte zu einer zweiten Vorgeschichte, in der das Gedächtnis noch einen Ort, Schätze ein Depot und Menschen eine Adresse benötigten. Wenn die Zahl der Straßen sich erhöht, werden die Städte kleiner. Je mehr Neuronen, desto weniger Engramme. Die Relationen vermehren sich auf Kosten der »Substanz«, wie man im Mittelalter einst sagte. Netze ersetzen Konzentration durch Distribution. Wenn wir über einen tragbaren Computer oder ein Mobiltelefon Zugang zu allen erdenklichen Gütern und Personen haben, sind wir nicht mehr so stark auf festgefügte Konstellationen angewiesen. Wozu noch Hörsäle und Unterrichtsräume, Versammlungen und Gespräche an einem bestimmten Ort, ja wozu selbst ein fester Wohnsitz, wenn Vorlesungen und Gespräche über beliebige Entfernung stattfinden können? Die genannten Beispiele kulminieren in der Adresse. In der ganzen Geschichte war sie an einen Ort gebunden, den Ort, an dem wir wohnten oder arbeiteten; heute dagegen bezeichnet die Nummer des Mobiltelefons keinen bestimmten Ort mehr; ein einfacher Code oder eine Zahl genügen. Wenn alle Punkte der Welt gewissermaßen gleichwertig sind, gerät das hier und jetzt in eine Krise. Wenn Heidegger, der gegenwärtig in der Welt meistgelesene Philosoph, die Existenz des Menschen als Dasein bezeichnet, verweist er damit auf eine Lebens- oder Denkweise, die im Verschwinden begriffen ist. Der theologische Begriff der ubiquitas, der göttlichen Allgegenwart, beschreibt unsere Möglichkeiten besser als das an Gräber gemahnende »hier ruht«.

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Abschweifung über das Thema der Adresse Als die geniale Frau eines unserer jagenden, in Felle gekleideten Vorfahren erstmals Gerste anbaute, errichtete dieses bäuerliche Paar in der Nähe ihrer überfließenden Nahrungsquelle ein festes Haus und ließ sich dort nieder. Auch Tiere bleiben in der Nähe ihrer Nische, ihres Nestes, ihres Reviers, ihrer Höhle, ihres Baus. Was ist eine Adresse? Eine Sache und ein Wort mit jeweils zwei genau zu beschreibenden Wurzeln. Als exakte Bezeichnung des Wohnorts gab die Adresse die korrekte Richtung an, in die man sich wenden musste, um dorthin zu gelangen oder um eine Nachricht gemäß ihrer Aufschrift an den richtigen Bestimmungsort zu bringen. Keine Adresse ohne Ort, so war es immer schon, von der Steinzeit bis vor Kurzem. Das Wort, letztlich aus dem Lateinischen regere (richten, lenken, regieren) und der die Richtung bezeichnenden Vorsilbe ad zusammengesetzt, stammt von roi, lateinisch rex, dem König, der hier regiert und dadurch die lokalen Grenzen seiner Macht bestimmt; von roi und von jenem droit; dem Recht, das sich, wie man sagt, nur ändert, wenn man die Pässe der Gebirge überschreitet. Adroit, geschickt, konnte der Postbote und jeder Bote, aber auch der Gendarm und der Richter Sie im Namen des Königs und des Rechts vorladen, sofern nur Ihre Adresse in der Stadt oder auf dem Lande bekannt war. Selbst Descartes’ Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft setzen einen gerichteten, also mit Bezugspunkten versehenen Raum voraus. Ob Wohnort, Macht oder Jurisdiktion, Korrektheit der Methode oder des Denkens, die Adresse verwies auf den Reichtum des Ortes, indem sie seine Eigenschaften benannte. Selbst die Nomaden, die hinter ihren Herden herziehen, finden ihr Zelt, ihr Tipi, ihr bewegliches Haus wieder. Und noch die EMail-Adresse bezieht sich auf einen Apparat, der so schwer ist, dass man ihn nicht leicht transportieren kann. Zum ersten Mal in der Geschichte haben nun jedoch das Mobiltelefon und der tragbare Computer die Adresse vom Ort befreit. Ich rufe Sie nicht mehr zu Hause oder in Ihrem Büro an, sondern dort, wo Sie gerade sind, auf dem Meer, auf dem Gipfel des Matterhorns, im Zug oder im Flugzeug, vier Schritte von hier oder auf der anderen Seite der Erdkugel. Sie antworten mir, ohne zu wissen, von wo aus ich meine Fragen stelle, und ich höre Ihnen zu, ohne zu wissen, woher die Antwort kommt, nur eine Zahl gibt Aufschluss über den Ursprung der Sendung. Wir unterhalten uns von Code zu Code: Die lokale Geometrie oder Topografie weicht einer Arithmetik oder Kryptografie der Zahlen. Wir haben uns von den einzelnen Orten gelöst und befinden uns nur noch im globalen Raum. Als Spaziergänger oder als ratlos Umherirrende? Denn wenn die Adresse Träger jenes semantischen Netzes des Korrekten, des Rechten und der Richtung ist, dann verliert mit ihrem Verschwinden jegliche Regel ihre Prägnanz. Manche möchten das Netz reglementieren: Da die Adresse auf König und Recht verweist, fürchten sie mit dem Ort und seiner Bestimmung auch jegliches Gesetz zu verlieren. Besser

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82 | Michel Serres erscheint es mir da, den Raum neu zu denken, den Wohnort, das Hier und Jetzt, die angesammelten Objekte, die kollektiven Subjekte ..., also die ganze Philosophie und insbesondere die Erkenntnis.

3. Der kognitive und kollektive Mensch Das Gedächtnis als Beispiel Die geschichtliche Zeit und den Wohnort zu wechseln lässt den Menschen nicht unverändert. Speichern könnte man auch so interpretieren: Wenn man Information auf einem Stück Pergament, einer bedruckten Seite Papier oder einem elektronischen Trägermedium ablegt, dann erzeugt man ein Gedächtnis. Unsere Vorfahren konnten Tausende von Versen auswendig aufsagen wie Schauspieler ihren Text. Solche Leistungen übersteigen heute unsere Fähigkeiten. In dem Maße, wie wir leistungsfähige Gedächtnisse bauen, verlieren wir unser eigenes, jenes nämlich, das die Philosophen einst eine facultas, eine Fähigkeit oder ein Vermögen, nannten. Aber kann man hier wirklich von »verlieren« sprechen? Nicht ganz, denn der Körper überträgt diese alte Fähigkeit Schritt für Schritt auf die wechselnden neuen Trägermedien; das im Hirn lokalisierte, subjektive Vermögen wird objektiv und kollektiv. Eine Steinstele, eine Papyrusrolle, ein Blatt Papier sind materielle Gedächtnisse, die unser körperliches Gedächtnis entlasten können. Das galt schon für die Bibliotheken und wird erst recht für das Internet gelten: ein globales, enzyklopädisches, kollektives Gedächtnis der Menschheit. Vor einigen Jahrhunderten vermochten fahrende Sänger und Geschichtenerzähler, die Apostel oder die Teilnehmer eines platonischen Dialogs und selbst ein Student der mittelalterlichen Sorbonne noch nach Jahren die einst in der Jugend gehörten Aussagen eines Lehrers oder Sängers zu wiederholen, ohne eine einzige Silbe auszulassen. Vor den Irrtümern allzu intelligenter Kopisten gefeit, bot die mündliche Überlieferung größere Sicherheit als die schriftliche. Unsere Vorfahren kultivierten ihr Gedächtnis und verfügten über ausgeklügelte mnemotechnische Strategien. Als wir begannen, uns Notizen zu machen und Gedrucktes zu lesen, verloren wir diese Fähigkeit nicht wirklich, sondern übertrugen sie auf das Buch. Wie das Rad vom Körper und der Drehbewegung des Knöchels oder der Kniescheibe beim Laufen ausging, so ging die Informationsspeicherung auf Datenträgern von den alten kognitiven Funktionen aus. Anders als die Tiere, die in einen Organismus ohne solche »Absonderungsmöglichkeiten« eingeschlossen sind, übertragen wir von jeher körperliche Funktionen auf entsprechende Werkzeuge. Wir verlieren das Gedächtnis, weil wir zahlreiche Gedächtnisse konstruieren.

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Verlieren, gewinnen? Hier stoßen wir auf die alten und neuen Klageweiber, die in Rede und Text den Verlust der Mündlichkeit, des Gedächtnisses, des begrifflichen Denkens und anderer Dinge beklagen, welche unseren Vorfahren einst teuer waren. Wenn wir uns dem Schnee von gestern zuwenden, sollten wir uns den Menschwerdungsprozess vor Augen führen, wie ihn etwa der Prähistoriker Leroi-Gourhan beschrieben hat. Als unsere fernen Vorfahren sich von ihren vier Füßen erhoben und den aufrechten Gang entwickelten, eine Evolution, die ohne Zweifel viele Tausend Jahre in Anspruch nahm, da verloren ihre vorderen Gliedmaßen die Fähigkeit der Fortbewegung. Aber dafür gewann die Hand neue Funktionen hinzu. Das Greifen setzt eine Entdifferenzierung voraus, die es diesem Organ erst ermöglicht, zur Hand der Seefahrt oder des Zimmerns, der Chirurgie oder des Cembalos, des Lineals und des Zirkels, der Wahrsagerei und vieler anderer Dinge zu werden. Aber als die beiden Hände sich dieser feinen Aufgabe des Greifens widmeten, die auch Voraussetzung für das Begreifen ist, verlor das Maul, das bis dahin vorstand, weil die Zähne so besser zupacken konnten, seinerseits diese Funktion und zog sich zurück, sodass der Gesichtswinkel steiler wurde; der Schädel änderte seine Form und schuf im vorderen Bereich einen Raum, in dem das Gehirn die Stirnlappen entwickeln konnte – und der Mund begann zu sprechen. Die Bilanz dieser Veränderungen stellt zwei geringfügige Verluste – die Fortbewegungsfunktion der beiden vorderen Gliedmaßen, das Greifen mit Lippen und Gebiss – einem Gewinn gegenüber, der in keinem Verhältnis dazu steht: die vielfältige Nutzbarkeit der Hand, zahlreiche fein ausgearbeitete Sprachen, Dialoge und Objekte. Daher sollte man besser sagen: Der Arm befreite sich von der niederdrückenden Pflicht, den Körper zu tragen; der Mund entledigte sich der ermüdenden Aufgabe des Greifens, die Hand wurde ein geschicktes Organ und das Gehirn begann zu denken. Wenn eine Verarmung zu einer verbesserten Ausstattung führt, bedeutet der Wegfall einer Funktion, dass man sich davon befreit und etwas Neues erfindet. Als man Homers Gesänge nicht mehr auswendig aufsagte, befreite der dadurch bedingte Verlust an Gedächtnisvermögen die kognitiven Funktionen von der unerbittlichen Last vieler Millionen Verse, und es entstand, in abstrakter Schlichtheit, die Geometrie, die Tochter der Schrift. In der Renaissance nahm dann ein weitaus größerer Verlust den Gelehrten die Last der Dokumentation, damals Doxografie genannt, und übertrug ihnen wieder die Aufgabe der direkten Beobachtung, aus der die Experimentalwissenschaften hervorgingen, die Töchter des Buchdrucks. Insgesamt überwogen die Vorteile bei Weitem die Nachteile, denn hier entstanden zwei andere Welten, die ihre Vorläufer in sich aufnahmen. Wissen heißt nun nicht mehr sich zu erinnern, sondern das Gedächtnis zu objektivieren,

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84 | Michel Serres es in Objekte hineinzuverlegen, es vom Körper auf Artefakte zu übertragen, sodass der Kopf frei wird für tausend neue Entdeckungen. Ich habe lange gebraucht, bis ich verstand, was Rabelais mit seinem bekannten Ausspruch meinte, über den ich als Schüler einen Aufsatz schreiben musste und der besagt, dass ein gebildeter Kopf besser sei als ein voller. Bevor man Bücher in seine Bibliothek stellen konnte, mussten Montaignes gelehrte Vorfahren die »Ilias« und Plutarch, die »Aeneis« und Tacitus auswendig lernen, wenn sie darüber nachdenken wollten. Wenn der Autor der »Essais« sie zitieren will, braucht er sich nur noch daran zu erinnern, auf welchem Regal sie stehen, und schon kann er darin nachsehen. Welch eine Ökonomie! Die von dieser Renaissance angestrebte Pädagogik leert den bislang vollen Kopf und formt ihn ohne Rücksicht auf den Inhalt, der nun überflüssig geworden ist, weil man in den Büchern stets darauf zurückgreifen kann. Vom Gedächtnis befreit, wendet sich ein wohlgeformter, gebildeter Verstand der Welt und der Gesellschaft zu, um sie zu beobachten. In Wirklichkeit singt Rabelais in dieser Sentenz ein Loblied auf die Erfindung des Buchdrucks und zieht Lehren für die Pädagogik daraus. Heute müssen wir »Pantagruel« oder die »Essais« umschreiben. Wie senile Greise wissen die Kinder von heute schon am nächsten Tag nicht mehr, was sie gestern im Fernsehen gesehen haben. Welche unermessliche Wissenschaft wird dieser Gedächtnisverlust hervorbringen? Dieses neue Wissen können Sie jetzt schon im Internet lernen oder zumindest anschauen, denn das Internet ist bereits nach diesem neuen Vergessen gestaltet. Ja, die Enzyklopädie, deren weltweites Netz aus einer Unzahl einzelner Informationen besteht, hat unter dem Einfluss der neuen Befreiung ihr Paradigma gewechselt. Unser kognitiver Apparat befreit sich von möglichen Erinnerungen, um Raum für Erfindung zu schaffen. Schutzlos sind wir einem furchtbaren Schicksal ausgeliefert: Frei von jedem Zitat, befreit von der erdrückenden Verpflichtung zur Fußnote, bleibt uns nichts anderes übrig, als intelligent zu werden.

Der Mensch ohne Fähigkeiten Dieser Gedanke lässt sich auch auf die übrigen kognitiven Funktionen übertragen. Taschenrechner, das Mosaik der Bildpunkte auf dem Bildschirm und Tausende von Computerprogrammen befreien ad hoc ebenso viele operative Funktionen und in Teilen sogar die Phantasie. Die alten kognitiven Fähigkeiten, die wir für persönlich und subjektiv hielten, werden durch die neuen Technologien kollektiv und objektiv. Wir verlieren die einen und gewinnen die anderen. Reden wir nicht mehr so, als hätte die alte Psychologie der geistigen Fähigkeiten noch Geltung. Über welchen magischen Spiegel, welche Helmlampe der Bergsteiger und Bergleute verfügten die Philosophen, die sie erfanden, nachdem sie angeblich die dunklen Gänge und Gipfel des menschlichen Verstandes erforscht hatten? Robert Musil sprach einst vom »Mann ohne Eigenschaften«; ich möchte

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Der Mensch ohne Fähigkeiten (2002) | 85 diesen Menschen, der da geboren wird, den Menschen ohne Fähigkeiten nennen. Wie zur Zeit der Renaissance entsteht eine neue Wissenschaft, eine neue Kultur, deren große Erzählungen eine andere Kognition hervorbringen, die sie ihrerseits reproduziert und bereichert. Zu solch einem grundlegenden Wandel des Denkens kam es mehrmals in der Geschichte, etwa als die abstrakten Modelle der Geometrie oder die Experimentalphysik entstanden, und zwar jeweils zur selben Zeit, als auch die Technologien sich änderten. Die Geschichte der Philosophie wie auch die Geschichte schlechthin, beide abhängig von der Geschichte der Erkenntnis, folgen der Geschichte der Trägermedien.

Das Martyrium des heiligen Denis Als die entfesselten Soldaten ihm den Kopf abschlugen und der zu Boden fiel, bückte er sich kopflos, hob ihn auf und hielt ihn einen Augenblick in den erhobenen Händen. Diese furchterregende Geste, heißt es, ließ selbst seine Verfolger zurückschrecken. So stellt die Heiligenlegende nach Gregor von Tours das Martyrium dar, das um 250 ein Bischof von Paris namens Denis durchlitt. Im Panthéon können Sie sich diese Szene auf einem Gemälde anschauen, das der akademische Maler Léon Bonnat 1888 geschaffen hat. Manchmal pflücken wir eine Blume oder nehmen einen Stein, ein Stück Erde in die Hand, um sie zu untersuchen, und ich nehme an, dass wir sie zuerst wahrnahmen, denn unser Körper bückt sich, damit die Arme sie in die Nähe der Augen bringen können; der Kopf als Sitz des Gesichtssinns und des Gehörs, des Geruchs und des Geschmacks, der sprechenden Zunge und des Gehirns, das, wie man sagt, wägt und entscheidet, dient also insgesamt wohl als der oberste Bezugspunkt, denn er befiehlt offenbar, dass der Körper sich bückt, die Dinge ergreift, die seine Aufmerksamkeit geweckt haben, und sie in seine Nähe bringt. Diese Instanz des Richters und Oberhaupts nennt die Philosophie das Subjekt. Was da auf dem Boden liegt und von den Fingern ergriffen wird, nennt sie ein Objekt, das von der Hand aufgenommen und vom Subjekt erfasst wird, sofern sie es können. Diese ganz gewöhnliche Figur der Wahrnehmung und Erkenntnis wird nun in unserer Märtyrergeschichte auf wundersame Weise verwandelt, denn das Objekt, das da aufgenommen und dem Richter vorgeführt werden soll, ist nichts anderes als der Richter, als das Oberhaupt selbst, und die Finger, die es ergreifen, präsentieren es einer abwesenden, enthaupteten Instanz. Welche Heiligkeit erlaubte es dem enthaupteten Denis, seinen Kopf vom Boden aufzunehmen? Das Objekt, von der erschrockenen Versammlung als solches nur schlecht erkannt, erhebt sich plötzlich über die gebannten Blicke der Mörder. Ja, der Kopf des Opfers, den der Enthauptete selbst in Händen hält und über den kopflosen Rumpf hebt, bleibt immer noch Subjekt. Aber welcher andere, abwesende Kopf sieht ihn ohne Augen, riecht ihn ohne

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86 | Michel Serres Geruchssinn, hört ohne Gehör sein Zähneklappern und sein schmerzvolles Stöhnen, beurteilt ihn ohne Hirn, spricht ihn an ohne Mund? Blind betrachtet der Phantomkopf den nach der Enthauptung nun abgetrennten realen Kopf. Sehen Sie endlich das nackte, leere, von jeder Fähigkeit entblößte Subjekt, das Bonnat in einem hellen, transparenten Heiligenschein malte: angesichts des objektiviert Kognitiven? Womit wollen Sie nun Ihren Computer und seinen riesigen Speicher, seinen von Bildern überfluteten Bildschirm, seine gewaltige Rechengeschwindigkeit, sein blitzschnelles Ordnen der Daten vergleichen? Mit welchem vollen und gebildeten, unendlich dichten und genial konstruierten Kopf? Mit welchem transparenten Licht wollen Sie Ihren eigenen leeren Kopf angesichts seiner in Glas und Plastik, Silizium und Glasfasern materialisierten Fähigkeiten vergleichen? Wir alle sind zu einem heiligen Denis geworden; jeden Tag greifen wir nach diesem vollen und gebildeten Kopf vor uns, um uns seiner zu bedienen, während wir selbst einen leeren, erfinderischen Kopf auf den Schultern tragen.

Die andere Bedeutung des Verbs »verlieren« Eine seltsame Fähigkeit des menschlichen Körpers ist es, sich Stück für Stück in Objekte zu verwandeln. Wir füllen die Welt mit Werkzeugen in Gestalt der Faust: Hammer oder Fäustel, des Ellbogens: Hebel oder Rolle, des Auges: Lupe oder Fernrohr, und mit zahllosen Kombinationen diverser Funktionen, die dann draußen in der Welt als solche gar nicht mehr erkennbar sind. Wir messen sie sogar in Spannen und Ellen, ohne uns zu fragen, wie diese Maschinen unserem Organismus entsprungen sind. Meines Wissens gibt es noch keine Erklärung für diesen Verlust, der nun in einem anderen Sinne zu verstehen wäre; zum Glück gleichen Mythen und Heiligenlegenden diesen Mangel der rationalen Theorie aus. Denn der Körper verliert wie eine alte, löchrige Tonne. Wie der Körper des Bischofs seinen Kopf verliert, bevor er ihn aufnimmt, so entlässt unser Körper Bruchstücke und zerstreute Glieder, die sich sogleich in technische Objekte und Substitute verwandeln. Lange bevor man die Körperfunktionen und den Organismus mit einer Maschine verglich, glichen sich die Apparate selbst dem Körper an. Dieser endlose Kreis nährt sich selbst. Als einziges Tier, dessen Körper verliert, bringt der Mensch Techniken hervor, deren Geschichte die Menschwerdung vorantreibt: Der Einbruch neuer Technologien markiert daher ein Zeitalter in dieser Geschichte der Menschwerdung. Die übrigen Lebewesen werden von der Evolution geformt; nur unser Organismus bleibt davon verschont, denn die menschliche Zeit bemisst sich weniger nach den Veränderungen unseres Körpers als nach denen unserer Hervorbringungen, also jener Verluste, die in die Geschichte eingehen und sie hervorbringen, indem sie sich auf eigentümliche, gleichsam »exodarwinistische« Weise entwickeln. Durch diese Verluste, die eine Welt bilden, welche sich außerhalb unseres Körpers entwickelt, verändern sich unsere physischen Leistungen, soweit es sich um gewöhnliche Energie

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Der Mensch ohne Fähigkeiten (2002) | 87 handelt, und unsere kognitiven Leistungen, soweit sie Information betreffen. Damit verändern sich auch die Individuen zugleich mit den lebensnotwendigen Austauschprozessen, aber auch mit dem Austausch zwischen den Kollektiven.

Das Bildungswesen und die Entwicklungsländer Einer der für die Geschichte wichtigsten Informationsströme reicht die Überlieferung von einer Generation an die nächste weiter, die dieser natürlich nicht folgt, sodass ein glückliches Element von Kontingenz in der Geschichte wirksam wird. Die Pädagogik veränderte sich also stets mit den Informationsträgern; so entstanden zu ihrer Zeit die griechische Paideia und die Bildungsidee der Renaissance. Die Investitionen, die für den Bau einer neuen Universität mit all ihren Gebäuden, Bibliotheken, Hörsälen, Labors, Mensen und Wohnheimen erforderlich wären, übersteigen um gut das Hundertfache die Kosten, die man für die Verbreitung derselben Lerninhalte mithilfe der neuen Technologien aufbringen müsste. Da das Internet allenfalls sprachliche Grenzen kennt, eröffnen diese niedrigen Kosten bei hohem Multiplikatoreffekt auch Individuen und Gemeinschaften Chancen, die bisher noch keinen Zugang zu diesen Wissensquellen hatten. Und was wäre eine Universität, die nicht ans Universelle reicht? Deshalb bemühe ich mich seit mehr als zehn Jahren um die Weiterentwicklung des Fernunterrichts als pädagogische Konsequenz aus den neuen kognitiven Gegebenheiten, in der Hoffnung, solch ein Unterricht werde für mehr Gleichheit in einer noch nicht existierenden weltweiten Demokratie sorgen, denn hinter dem Namen »Demokratie« verbirgt sich heute die unerbittlichste Form von Imperialismus auf der Ebene der Energie wie auch der Information. Übersetzung aus dem Französischen: Michael Bischoff

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88 | Friedrich Kittler

Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt (2002) Friedrich Kittler

Codes sind nach Wort und Sache, was uns heutzutage bestimmt und was wir daher sagen müssen, schon um nicht unter ihnen zu verschwinden. Sie sind die Sprache unserer Zeit, gerade weil Wort und Sache ›Code‹ viel älter sind, wie ich in einem kurzen Rückgang in die Geschichte zeigen möchte. Seien Sie nur unbesorgt: Ich komme bei der Gegenwart schon wieder an.

Imperium Romanum Codes entstehen in Prozessen der Codierung, als welche nach einer eleganten Definition Wolfgang Coys »mathematisch gesehen eine Abbildung einer endlichen Menge von Zeichen eines Alphabets in eine geeignete Signalfolge ist«.1 Diese Bestimmung macht bereits zwei Sachverhalte klar: Zum einen sind Codes, der umlaufenden Meinung zum Trotz, keine Eigenheit von Computertechnik oder gar Gentechnologie; als Folgen von Signalen in der Zeit gehören sie mithin zu jeder Nachrichtentechnik, jedem Übertragungsmedium. Zum anderen spricht vieles dafür, dass Codes erst denkbar und machbar geworden sind, seitdem es zur Codierung natürlicher Sprachen nicht nur Ideogramme oder Logogramme gibt, sondern wahrhafte Alphabete. Das sind, wie gesagt, Systeme von abzählbar vielen, identisch wiederkehrenden Zeichen, die mehr oder minder eineindeutig und tunlichst auch vollständig Sprachlaute auf Buchstaben abbilden. Ein Vokalalphabet vom Typ jener einmaligen griechischen Erfindung,2

1 | Wolfgang Coy: Aufbau und Arbeitsweise von Rechenanlagen. Eine Einführung in Rechnerarchitektur und Rechnerorganisation für das Grundstudium der Informatik, 2. verbesserte und erweiterte Aufl., Braunschweig, Wiesbaden 1992, S. 5. 2 | Vgl. zum Stand der Forschung Barry B. Powell: Homer and the Origin of the Greek Alphabet, Cambridge 1991.

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Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt (2002) | 89 der nicht ohne Grund die »erste Totalanalyse einer Sprache« nachgerühmt worden ist,3 scheint daher in der Tat eine notwendige Bedingung für das Aufkommen von Codes – und doch noch keine hinreichende. Denn was den Griechen abging – von sporadischen Anspielungen abgesehen, die sich bei Aischylos, Aeneas Tacticus und Plutarch auf den Einsatz von Geheimschriften findet4 –, war jene zweite Bedingung aller Codierung: eine entfaltete Nachrichtentechnik. Es scheint mir daher nichts weniger als Zufall, dass unsere Nachrichten von geheimen Nachrichtensystemen mit dem Aufkommen des römischen Kaisertums schlichtweg zusammenfallen. In seinen »Leben der Caesaren« berichtet Suetonius, der selber von Amts wegen einem großen Kaiser als Geheimschreiber diente, er habe beim göttlichen Caesar wie beim göttlichen Augustus unter ihren hinterlassenen Handakten verschlüsselte Briefe entdeckt. Caesar beschied sich damit, alle Buchstaben des lateinischen Alphabets um vier Stellen zu versetzen, also D statt A zu schreiben, E statt B und so weiter; sein Adoptivsohn Augustus dagegen soll nur einen Buchstaben übersprungen haben, wobei mangelnde mathematische Klarsicht das X als letzten Buchstaben allerdings durch ein doppeltes A ersetzte.5 Der Zweck lag auf der Hand: Bei lautem Lesen Unberufener (und Römer waren nicht grad literat) ergab sich nur noch Konsonantensalat. Als sei es aber mit solchen Innovationen der Verschlüsselung noch nicht genug, schreibt Suetonius Caesar unmittelbar davor die Erfindung zu, seine Kriegsberichte, wie sie aus dem Gallienfeldzug zum Senat nach Rom flossen, in mehreren Kolumnen, wo nicht gar Buchseiten, abgefasst zu haben; Augustus fällt der noch höhere Ruhm zu, er habe über Reiter und Relaisstationen das erste strikt militärische Eilpostsystem Europas eingerichtet.6 Mit anderen Worten: Es war das Imperium als solches, im Gegensatz mithin zur römischen Republik oder bloßen Kurzschriftstellern wie Cicero, auf dem der Zusammenfall von Befehl, Code, Nachrichtentechnik letzten Endes fußt. Imperium heißen zugleich der Befehl und sein Effekt: das Weltreich. »Command, Control, Communications, Intelligence« war daher im Pentagon noch unlängst imperiale Devise; erst seit Neuestem, dem Zusammenfall nämlich von Nachrichtentechniken und Turingmaschinen,

3 | Johannes Lohmann. 4 | Vgl. Wolfgang Riepl: Das Nachrichtenwesen des Altertums. Mit besonderer Rücksicht auf die Römer [1913], Nachdruck Darmstadt 1972. 5 | Vgl. Caius Suetonius Tranquillus: De vita Caesarum, [ca. 120 n. Chr.], I 56,6 und II 86. 6 | Vgl. ebd., I 56,6 und II 49,3. Zum Cursus publicus, dem Augustus selbst auf die exakte Tages- oder Nachtstunde datierte Pässe, Befehle und Briefe übergab (Suetonius, II 50), vgl. Bernhard Siegert: »Der Untergang des römischen Reiches«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 495-514.

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90 | Friedrich Kittler lautet der Schlachtruf C4: Command, Control, Communication, Computers – vom Orontes bis vor Schottland, von Bagdad bis Kabul. Nun hießen imperia die Befehle der Kaiser, aber auch codicilla, kleine geschälte Blöcke aus Holz, in deren Wachsbeschichtung sich schreiben ließ. Das Stammwort codex wiederum, Altlateinisch caudex , mit unserem »hauen« urverwandt, nahm in imperialer Frühzeit die Bedeutung von »Buch« an, dessen Seiten sich, anders als bei Papyrusrollen, erstmals durchblättern ließen. So kam schließlich jenes Wort in Umlauf, das auf seinem Irrweg zum Französischen und Englischen uns hier in Linz bewegt: Code hieß, von Kaiser Theodosius bis zum Empereur Napoleon, schlicht das gebundene Gesetzbuch, Kodifikation also der juridisch-bürokratische Akt, ganze Ströme kaiserlicher Briefe oder Befehle, wie sie über Jahrhunderte die Eilpoststraßen des Reiches nur durchflogen hatten, zum Stillstand einer einzigen Gesetzsammlung zu verhalten. Aus Nachrichtenübertragung wurde Datenspeicherung,7 aus puren Ereignissen serielle Ordnung. Insofern tragen Codex Theodosius und Codex Iustinianus noch heute, wo nicht gerade (wortwörtlich gemeint) das anglo-amerikanische Common Law tobt, einen Code alteuropäischer Rechte und Pflichten. Denn im Corpus iuris sind (um das Mindeste zu sagen) Copyrights und Trademarks, ob an einem Codex oder Code, schlicht Undinge.

Nationalstaaten Bleibt nur die Frage, warum der technische Wortsinn von Code den juristischen derart verdunkeln hat können. Bekanntlich scheitern Rechtssysteme von heute regelmäßig daran, Codes überhaupt zu begreifen und folglich zu schützen: gleichgültig ob vor ihren Räubern und Aufkäufern oder ob umgekehrt vor ihren Entdeckern und Schreibern. Die Antwort scheint schlicht: Was immer wir seit den Geheimschriften römischer Kaiser bis zu den Arcana imperii der Neuzeit als Code verbuchen, hieß ab dem Spätmittelalter »Chiffre«. Unter Code verstand man lange Zeit sehr andere Kryptografieverfahren, wo die Aussprechbarkeit erhalten blieb, aber dunkle oder harmlose Wörter die geheimen schlicht ersetzten. Chiffre dagegen war ein anderer Name der Null, die damals aus Indien über Bagdad in Europa einzog und sifr (Arabisch: »das Leere«) zu mathematisch-technischer Macht verhalf. Seitdem gibt es (sehr anders als im Griechenland) für Sprachlaute und Zahlen völlig unterschiedene Zeichensätze: hier das Alphabet der Leute, da die Ziffer von Geheimnisträgern, die schon im Namen das arabische sifr ein zweites Mal nachbuchstabierte. Getrennte Zeichensätze sind aber fruchtbar: Miteinander hecken sie uns Wundertiere

7 | Über Zeit- und Raummedien und die Umstellung vom Imperium auf das mönchische Frühmittelalter vgl. Harold A. Innis: Empire and Communications, 2. Aufl., Toronto 1972, S. 104-120.

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Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt (2002) | 91 aus, die Griechen oder Römern gar nicht beigefallen wären. Ohne neuzeitliche Algebra keine Codierung, ohne Gutenbergs Buchdruck keine neuzeitliche Kryptologie. Battista Leone Alberti, dem Erfinder der Linearperspektive, gingen 1462 oder 1463 zwei schlichte Sachverhalte auf: Erstens sind in jeder Sprache die Laute oder Lettern unterschiedlich häufig, was laut Alberti sich am Setzerkasten Gutenbergs beweist. Die Kryptoanalyse kann also schon aus den Frequenzen der versetzten Lettern, wie sie von Caesar und Augustus stammten, den Klartext von Geheimbotschaften erraten. Daher reicht es zweitens auch nicht mehr, beim Chiffrieren alle Buchstaben um einen selben Abstand zu versetzen – und noch bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs galt fortan Albertis Vorschlag, bei jedem weiteren Buchstaben im Klartext einen Schritt auch im geheimen Alphabet zu tun.8 Ein Jahrhundert nach Alberti verschränkte François Viète, Begründer der modernen Algebra, aber auch Entzifferer im Dienst von Henri IV., Zahl und Letter noch viel enger. Erst seit Viète gibt es Gleichungen mit Unbekannten und allgemeinen Koeffizienten, bei denen bei der Anschrift Zahlen als Buchstaben codiert werden.9 So hält es heutzutage noch jeder, der in einer höheren Programmiersprache schreibt, die zudem ja ebenfalls (mathematisch mehr oder weniger korrekt) Variablen einander zuweist wie in Gleichungen. Auf dieser unscheinbaren Basis, Albertis polyalphabetischem Code, Viètes Algebra und Leibniz’ Differenzialrechnung, konnten neuzeitliche Nationalstaaten sich technisch der Moderne zu bewegen.

Weltverkehr Die Moderne aber begann mit Napoleon. An Stelle reitender Boten trat ab 1794 ein optischer Telegraf, der Frankreichs Heere mit geheimen Codes fernsteuerte. An Stelle von Gesetzen und Vorrechten, die aus alten Zeiten weiter galten, trat 1806 der Code Napoléon aus einem Guss. 1838 soll Samuel Morse eine Druckerei New Yorks besichtigt haben, um – frei nach Alberti – dem Setzerkasten abzulernen, welche Buchstaben am häufigsten auftreten, sich also auch am kürzesten in Morsezeichen senden lassen müssen.10 Zum ersten Mal war eine Schrift nach technischen Kriterien, also ohne Rücksicht auf Semantik, optimiert, hieß aber dennoch noch

8 | Über Alberti vgl. David Kahn: The Codebreakers. The Story of Secret Writing, 9. Aufl., New York 1979. Zur Enigma der deutschen Wehrmacht vgl. Andrew Hodges: Alan Turing: The Enigma, New York 1983, S. 161-170. 9 | Viète selber wählte für Unbekannte die Vokale, für Koeffizienten Konsonanten. Seit Descartes’ »Géométrie« (1637) rühren die Koeffizienten vom Anfang des Alphabets, die Unbekannten vom Ende (a, b, c,..., x, y, z). x^n + y^n = z^n gibt seitdem das Beispiel einer mathematischen Gleichung ohne jede Ziffer, also undenkbar für Griechen, Inder, Araber. 10 | Vgl. W. Coy: Aufbau und Arbeitsweise von Rechenanlagen, a.a.O., S. 6.

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92 | Friedrich Kittler nicht Morsecode. Das taten erst gewisse Bücher, sogenannte Universal Code Condensers, die für den verkabelten Weltverkehr vereinbarte Wörtersammlungen zur Abkürzung und d.h. Verbilligung von Telegrammen anboten, den vom Sender eingegebenen Klartext also noch ein zweites Mal verschlüsselten. Seitdem heißt es decodieren und codieren, wo einstmals dechiffrieren und chiffrieren stand. Aller Code, den Computer heutzutage verarbeiten, untersteht daher dem Kolmogorow-Maß: Schlecht ist Input, der selber länger als sein Output ist; bei weißem Rauschen sind die beiden gleich lang; elegant heißt schließlich der Code, dessen Output sehr viel länger als er selbst ist. Aus einer hoch kapitalistischen Geldeinsparung namens »Code Condenser« hat das 20. Jahrhundert also höchste mathematische Stringenz gemacht.

Gegenwart – Turing Damit wäre ich schon fast beim Stand von heute. Es bleibt nur noch zu fragen, wie er heraufgekommen ist, wie – mit anderen Worten – Mathematik und Verschlüsselung jene untrennbare Ehe eingegangen sind, die über uns bestimmt. Dass die Antwort Alan Turing heißt, dürfte sich herumgesprochen haben. Denn die Turingmaschine von 1936 als Prinzipschaltung aller Computer, die überhaupt möglich sind, löste ein Grundproblem der Neuzeit: wie die reellen, also gemeinhin unendlich langen Zahlen, auf denen Technik und Ingenieurswesen seit Viètes Zeit beruhen, gleichwohl mit endlich langen, letztlich also ganzen Zahlen angeschrieben werden können. Turings Maschine bewies, dass das zwar nicht für alle reellen Zahlen möglich ist, aber doch für eine entscheidende Untermenge, die er berechenbare Zahlen taufte, Computable Numbers.11 Endlich viele Zeichen eines abgezählten Alphabets, das bekanntlich bis auf Null und Eins vereinfacht werden kann, bannen seitdem die Unendlichkeit der Zahlen. Kaum war Turing das gelungen, kam aber schon der Ernstfall: die kryptoanalytische Anwendung. In Britanniens »Code and Cipher School« knackten Turings Protocomputer ab Frühling 1941 erfolgreich und fast kriegsentscheidend die (zu ihrem Unheil) Alberti treu gebliebenen Geheimcodes der Wehrmacht. Wir vergessen heute, wo Computer auch das Wetter oder die Genome beinahe knacken – also physikalische und mehr und mehr auch biologische Geheimnisse –, viel zu oft, dass das nicht ihre erste Sache ist. Turing selber warf die Frage auf, wofür Computer eigentlich geschaffen seien, und gab als höchstes Ziel zunächst die Decodierung unserer schlichten Menschensprache vor. »Das Lernen von Sprachen wäre unter den [...] genannten möglichen

11 | Vgl. Alan M. Turing: Intelligence Service. Schriften, hg. v. Bernhard Dotzler/Friedrich Kittler, Berlin 1987, S. 19-60.

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Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt (2002) | 93 Anwendungen die beeindruckendste, weil es die menschlichste dieser Tätigkeiten ist. Allerdings scheint dieser Bereich zu sehr von Sinnesorganen und Fortbewegungsfähigkeit abzuhängen. Die Kryptografie wäre vielleicht der lohnendste Anwendungsbereich. Es gibt eine bemerkenswert enge Parallele zwischen den Problemen eines Physikers und eines Kryptografen. Das System, nach dem eine Botschaft entziffert wird, entspricht den Gesetzen des Universums, die abgefangenen Nachrichten der erreichbaren Evidenz, der für einen Tag oder eine Botschaft gültige Schlüssel wichtigen (Natur-)Konstanten, die bestimmt werden müssen. Die Übereinstimmung ist sehr streng, während aber die Kryptografie sich sehr leicht auf diskreten Maschinen durchführen lässt, ist das mit der Physik nicht so einfach.«12

Folgerungen Das heißt doch wohl, in Telegrammstil übersetzt: Ob alles auf der Welt codierbar ist, steht in den Sternen. Von vornherein verbürgt scheint nur, dass Computer, da sie selbst auf Codes operieren, fremde Codes entziffern können. Alphabete sind seit dreieinhalb Jahrtausenden der Prototyp alles Diskreten. Ob aber die Physik trotz ihrer Quantentheorie allein als Teilchenmenge, nicht als Wellenüberlagerung zu rechnen sei, ist keineswegs erwiesen. Und ob schließlich all die Sprachen, die Menschen erst zu Menschen machen und aus denen einst im Land der Griechen unser Alphabet hervorging, bis hin zu Syntax und Semantik als Codes zu modellieren sind, muss weiter offen bleiben. Der Begriff des Codes, heißt das aber, ist so inflationär wie fraglich. Wenn jede Geschichtsepoche unter einer ersten Philosophie steht, dann unsere unter der des Codes, der mithin – in seltsamer Wiederkehr des ersten Wortsinns, nämlich »Codex« – allem das Gesetz erteilte, genau das also täte, was in der ersten Philosophie der Griechen einzig Aphrodite konnte.13 Womöglich aber heißt Code, wie Codex ja einst auch, nur das Gesetz genau des Imperiums, das uns unterworfen hält und sogar diesen Satz zu sagen untersagt. Mit triumphaler Gewissheit jedenfalls verkünden die Großforschungseinrichtungen, die am meisten davon profitieren, nichts sei im Weltall, was nicht Code sei, vom Virus bis zum Big Bang. Man sollte daher – wie Lily Kay im Fall der Biotechnik – vor Metaphern auf der Hut sein, die den legitimen Codebegriff verwässern, wenn sich zum Beispiel bei der DNS keine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen materiellen Elementen und Informationseinheiten finden lässt. Weil das Wort ja schon in seiner langen Vorgeschichte »Verschiebung«, »Übertragung«

12 | Ebd., S. 98. 13 | »[d]aímohn hê pánta kubernâi«, »Gott, die [!] alles steuert«, hieß Aphrodite den Parmenides (DK 8, B 12, 3).

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94 | Friedrich Kittler meinte – von Buchstabe zu Buchstaben, von Ziffern zu Lettern oder umgekehrt –, ist es am anfälligsten von allen, zu falscher Übertragung einzuladen. Im Glanz des Wortes Code erglänzen heute Wissenschaften, die noch nicht einmal ihr Einmaleins und Alphabet beherrschen, geschweige denn bewirken, dass aus etwas etwas anderes wird, nicht nur wie bei Metaphern etwas anders heißt. Codes sollten daher einzig Alphabete im Wortsinn der modernen Mathematik heißen, eineindeutige und abzählbare, ja, möglichst kurze Folgen von Symbolen also, die dank einer Grammatik mit der unerhörten Fähigkeit begabt sind, sich gleichwohl selbst unendlich zu vermehren: Semi-Thue-Gruppen, Markowketten,14 Backus-Naur-Formen usw. Das und nur das unterscheidet solche modernen Alphabete vom vertrauten, das unsere Sprachen ja zwar auseinanderlegte und Homers Gesänge schenkte,15 aber keine Technikwelt zum Laufen bringt wie heutzutage Computercodes. Denn während Turings Maschine aus ganzen Zahlen bloß reelle Zahlen beliebig gut erzeugen konnte, haben ihre Nachfolger – nach Turings großem Wort – die Herrschaft angetreten,16 Technik heute setzt den Code in Wirklichkeiten um, codiert also die Welt. Ob damit schon die Sprache als das Haus des Seins verlassen ist, kann ich nicht sagen. Turing selber, als er nach der technischen Möglichkeit eines maschinellen Sprechenlernens fragte, ging davon aus, dass nicht Computer, sondern nur Roboter – mit Sensoren, Effektoren, also einem Umweltwissen ausgestattet – diese höchste Kunst, das Sprechen, lernen würden. Genau das neue wandelbare Umweltwissen im Roboter aber bliebe für die Programmierer, die ihn mit erstem Code gestartet hätten, wieder dunkel und verborgen. Die sogenannten »Hidden Layers« neuronaler Netzwerke geben heute schon ein gutes, aber noch triviales Beispiel, wie sehr die Rechenvorgänge den Konstrukteuren selbst entgleiten können, auch wenn im Ergebnis alles gut geht. Entweder wir schreiben also Code, der wie Naturkonstanten Bestimmungen der Sache selbst entbirgt, zahlen dafür aber Millionen von Codezeilen und Milliarden von Dollars für digitale Hardware, oder aber wir überlassen das Maschinen, die ihrer Umwelt selber einen Code entnehmen, nur dass wir diesen Code nicht lesen, also sagen können. Das Dilemma zwischen Code und Sprache scheint am Ende unlöslich. Wer auch nur einmal Codes geschrieben hat, in Computerhochsprachen oder gar Assembler, weiß aus eigener Erfahrung zwei sehr schlichte Dinge. Zum einen führen alle Worte, aus denen das Programm ja mit Notwendigkeit entstanden und entwickelt worden ist, nur zu lauter Fehlern, Wanzen oder Bugs; zum anderen läuft das Programm mit einem

14 | Über Markowketten vgl. Claude E. Shannon: Ein/Aus. Ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie, hg. v. Friedrich Kittler et al., Berlin 2000, S. 21-25. 15 | Über Homer und das Vokalalphabet vgl. Barry B. Powell: Homer and the Origin of the Greek Alphabet, a.a.O. 16 | Vgl. A.M. Turing: Intelligence Service, a.a.O., S. 15.

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Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt (2002) | 95 Mal, sobald der eigene Kopf von Worten ganz entleert ist. Und das besagt dann im Verkehr mit anderen: Man kann den selbst geschriebenen Code kaum weitersagen. Möge mir und Ihnen das bei diesem Vortrag nicht geschehen sein.

Literatur Caius Suetonius Tranquillus: De vita caesarum [ca. 120 n. Chr.], I 56,6 und II 86. Coy, Wolfgang: Aufbau und Arbeitsweise von Rechenanlagen. Eine Einführung in Rechnerarchitektur und Rechnerorganisation für das Grundstudium der Informatik. 2., verbesserte und erweiterte Aufl., Braunschweig, Wiesbaden 1992. Hodges, Andrew: Alan Turing: The Enigma, New York 1983. Innis, Harold A.: Empire and Communications. 2. Aufl., Toronto 1972. Kahn, David: The Codebreakers. The Story of Secret Writing. 9. Aufl., New York 1979. Powell, Barry B.: Homer and the Origin of the Greek Alphabet, Cambridge 1991. Riepl, Wolfgang: Das Nachrichtenwesen des Altertums. Mit besonderer Rücksicht auf die Römer [1913], Nachdruck Darmstadt 1972. Shannon, Claude E.: Ein/Aus. Ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie, hg. v. Friedrich Kittler et al., Berlin 2000, S. 21-25. Siegert, Bernhard: »Der Untergang des römischen Reiches«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 495–514. Turing, Alan M.: Intelligence Service. Schriften, hg. v. Bernhard Dotzler/ Friedrich Kittler, Berlin 1987.

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) vakat 096.p 142895396936

Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments

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) T02-00 resp II.p 142895396984

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) vakat 098.p 142895397024

Einleitung | 99

Einleitung

»Wir sind wie Götter und könnten darin ganz gut werden«,1 lautete der Leitspruch der Mitglieder des CommuniTree-Netzes im Jahr 1978, eines nordkalifornischen Vorläufers des Internet, in ihrer ersten Konferenzankündigung. Manifeste, Deklarationen, Kundgebungen und öffentliche Erklärungen zählen seither zur idée fixe des Räsonierens über digitale und interaktive Medien- und Kommunikationstechnologien. Diese Vielzahl unterschiedlicher Statements zeichnet sich durch eine allgemeine Tendenz aus, die darin besteht, mediale Innovationen mit religiösen Schöpfungserzählungen, sozialen Ordnungsvorstellungen und heilsgeschichtlichen Prophezeiungen anzureichern.2 Dabei werden Leitbegriffe von Cyberspace und Internet wie etwa »Virtualität«, »Simulation« und »Augmented Reality« stets auf historisch bedingte Vorstellungen einer Welt, die möglich ist, bezogen – und damit wird gleichermaßen ein kultureller Topos aufgerufen. »Virtualität« ist das, was nach Anlage oder Vermögen als Möglichkeit vorhanden ist (mlat. virtualis, als Möglichkeit vorhanden); virtual reality bezeichnet eine Wirklichkeit, die das Vermögen der Verwirklichung in sich birgt und als mögliche wirklich werden kann. Der Terminus »mögliche Welt« wurde von Gottfried W. Leibniz in seiner 1710 veröffentlichten »Theodicée über die Güte Gottes« geprägt.3 Für seinen kosmologischen

1 | Im Original: »We are as gods and might as well get good at it«, – eine Paraphrase der Verkündigung der Schlange in Gen 3,5, vgl. Allucquère Rosanne Stone: »Will the Real Body Please Stand Up?«, in: Michael Benedikt (Hg.), Cyberspace: First Steps, Cambridge/MA 1991, S. 81-118. 2 | Vgl. exemplarisch die ersten medienkritischen Monografien und Genealogien zur Thematik des Cyberspace: Michael Benedikt (Hg.): Cyberspace: First Steps, Cambridge/MA 1991; Michael Heim: The Metaphysics of Virtual Reality, New York 1993. 3 | Gottfried Wilhelm Leibniz: »›Versuche‹ in der Theodicée über die Güte

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100 | Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments Gottesbeweis entwickelte Leibniz die Idee der »möglichen Welt«, welche die Gesamtheit des jeweils miteinander Möglichen repräsentiert.4 Eine »mögliche Welt« kann also nur von einem allwissenden Gott vorhergesehen werden, der vor der Verwirklichung die Gesamtheit alles Möglichen kennt. Damit wird diese Welt-Idee eng an die Rechtfertigungslehre der göttlichen Vorsehung geknüpft. Die Rhetorik einer zeiträumlich bevorstehenden Weltschöpfung kann also – wie sie uns in den unterschiedlichen Mythologien des Internet und des Cyberspace begegnet – als eine demiurgische und prognostische Perspektive auf eine Unifikation der Vielheit und eine Reduktion von Komplexität angesehen werden. Im Jahr 1945 veröffentlichte der US-amerikanische Ingenieur und Pionier des Analog-Rechners Vannevar Bush seinen 1939 geschriebenen Aufsatz »Wie wir denken werden«, in dem er eine fiktive Maschine, Memex (Memory Extender) genannt, vorstellte.5 Dieser richtungsweisende Aufsatz gilt als die erste Beschreibung einer informationsverarbeitenden Maschine als persönlichem Werkzeug und thematisiert erstmalig das Konzept der »Mensch-Computer-Interaktion«.6 Die mögliche Welterfindung, die Vannevar Bush skizziert, kann als Anknüpfung historischer Kontexte der anthropologischen Organerweiterungstheorie gesehen werden, die in den 40er und 50er Jahren sehr populär war.7 In seiner Potentialisierung technologisch basierter Welterfahrung geht Bush vom Menschen als Mängelwesen aus, der seine körperlichen Defizite mithilfe der Technik kompensiert und seine Fähigkeiten mit der Maschine als Instrument erweitert. Neben dem Schöpfungsmythos eines Denkapparates, der die andere Welt, die möglich ist, selbst erschafft, gibt es ein zweites zentrales Narrativ

Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels«, in: Ders., Philosophische Werke in vier Bänden, Hamburg 1996, Bd. IV, § 7f. 4 | Vgl. die mythengeschichtliche Untersuchung digitaler Environments von Charles Cameron im Kapitel »Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture«. 5 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel. 1939 wurde Bush Vorsitzender des National Defense Research Committee und 1941 schließlich Direktor des Office of Scientific Research and Development (O.S.R.D.). Das O.S.R.D. koordinierte im Zweiten Weltkrieg alle militärischen Forschungsprogramme, darunter auch das Manhattan Project zur Entwicklung der Atombombe. Bush war ferner verantwortlich für die Verbesserung des Radars und die Entwicklung des Sonars und er war an der Gründung des amerikanischen Rüstungsunternehmens Raytheons beteiligt. Vgl. Pascal G. Zachary: Endless Frontier: Vannevar Bush, Engineer of the American Century, New York 1997. 6 | Vgl. zur »Mensch-Computer-Interaktion« Alan M. Turing im Kapitel »Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form?« und Steven Levy im Kapitel »Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking«. 7 | Vgl. zum Thema der künstlichen Organerweiterung den Beitrag »Der Cyborg und der Weltraum« von Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline im Kapitel »Avatars – Cyborgs – Fake-Identities«.

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Einleitung | 101 – allerdings wird mit ihm ein pluralistisches Weltbild beschrieben. »Mögliche Welten« verweisen hier auf die vielen Möglichkeiten der sozialen Praxis, durch welche die historische Wirklichkeit gestaltet wird. Demzufolge gibt es in dieser Sichtweise keine Generalperspektive auf die Wirklichkeit mehr, stattdessen nur noch »Weisen der Welterzeugung«. In diesem Zusammenhang wird Möglichkeit als anfänglich noch »ausständige« begriffen. Ihr gegenübergestellt wird der Begriff der verwirklichten »Realität«. In diesem Begriffspaar spannt sich die Selbstpräsenz des Users auf, das heißt der metaphysische Hintergrund für das gesamte emanzipatorische Projekt des Selbstverhältnisses, das sich in Begriffen wie »Selbstverwirklichung« oder »Selbstgestaltung« im Kontext der vielsprechenden Anwendungen der »neuen Medienwelten« verdeutlicht. Was bedeutet es also, wenn von Technology-based Environments ausgegangen wird, die dem Subjekt neue Möglichkeitsräume eröffnen und die Fähigkeiten des Subjekts »erweitern«? Die ontologische Gleichsetzung gesteigerter Selbstpräsenz mit der technologischen Neukonstituierung des Subjekts muss schließlich entlang der Perspektive politischer Fragestellung diskutiert werden. Medien-Ontologien der »anderen Welten, die möglich sind«, wie sie etwa von Timothy Leary formuliert werden, gehen nicht mehr von einer privilegierten Einsicht menschlicher Erkenntnisfähigkeit in die letzten Zusammenhänge aus, sondern dekonstruieren die Anthropologie eines autonomen und autarken Selbst. Bereits 1984 beschrieb William Gibson in seinem Roman »Neuromancer« seine Wortschöpfung »Cyberspace« als technische Möglichkeit sozialer Subversion und technisch induzierter Bewusstseinserweiterung.8 In seiner Deklaration »Das interpersonale, interaktive, interdimensionale Interface« (1991) nahm Timothy Leary an, ein kommendes globales »Weltgehirn« werde die Menschheit erwecken. Learys neo-gnostischer Eskapismus über die Entstehung einer quasi-übermenschlichen Intelligenz im Netz als Hypermensch, als neuer Schöpfungsakt, als Gottersatz positionierten das Internet als Substitut für kultische Handlungen der Grenzüberschreitungen durch halluzinogene Drogen.9 Der Diskurs der digitalen Medientechnologien bietet nicht nur eine Ontologie des Posthumanismus, sondern ergeht sich auch in Prophezeiungen darüber, was wir in der schönen, neuen Möglichkeitswelt des Cyberspace herstellen und kontrollieren können. Das apokalyptische Narrativ profitiert also von der phantasmatischen Bedrohung der totalen Kontrolle.10

8 | Vgl. William Gibson: Neuromancer, New York 1984. 9 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel. 10 | Einer der fruchtbarsten Versuche zur Anwendung des Foucault’schen Konzepts des Panoptismus auf das Internet – begriffen als eine soziale Technologie – findet sich in der Arbeit von William J. Mitchell: City of Bits: Space, Place, and the

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102 | Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments Diese ist die Kehrseite jener Deklaration der Unabhängigkeit des Cyberspace (1996), die mit großem Pathos von John Perry Barlow propagiert wurde.11 Die globale Kommunikation unter virtuellen Subjekten (»virtual selves«) steht bei Barlow der Welt des raum-zeitlichen leibhaftigen Lebens gegenüber. Diese ist die Welt der Politik, der Ökonomie und des Rechts mit ihren jeweiligen lokalen Interessen. Letztlich ist es die Natur selbst, die aus einer metaphysisch konzipierten digitalen Welt kommunizierender Geister ausgeschlossen wird. Damit argumentiert Barlow für einen immaterialistischen Fehlschluss, der einerseits die Materialästhetik digitaler Medien ausblendet und andererseits die leibliche Interaktion des Users – auch bei symbolischen Interaktionen mit dem Interface – ignoriert. Insgesamt zeichnen sich die im Gestus des Manifestes verfassten sozialen Utopien der »Neuen Medien« durch eine allgemeine Tendenz zur Homogenisierung, zur Kohärenz stiftenden Erzählweise sowie zur Teleologisierung aus. Mit ihnen wird die Wahrnehmung der Neuen Medien narrativ organisiert, dabei firmieren die Narrative nicht als »Verunreinigungen«, sondern können als Voraussetzung des Umgangs mit den Neuen Medien angesehen werden. Als Narrative informieren sie nicht einfach über den technischen Fortschritt als eines deutungsfrei Gegebenen, sondern partizipieren am Repertoire intermedial formatierter Wissensordnungen samt ihrer historischen, gesellschaftlichen und geschlechtlichen Kodierungen.12 Dabei werden die sogenannten »Neuen Medien« in einen kulturell wirksamen Apparatus transformiert. In ihrer hier abgedruckten Deklaration »Cyberspace und der amerikanische Traum. Auf dem Weg zur elektronischen Nachbarschaft: Eine Magna Charta für das Zeitalter des Wissens« (22. August 1994) haben die Autor/-innen Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth und Alvin Toffler den Cyberspace als die bestmögliche Welt des freien Marktes beschrieben. Im weltumspannenden Medium des Internet verwirkliche sich der liberale American Dream in der Form »dynamischer Konkurrenz« von Konsumenten und Produzenten auf einem lückenlos transparenten Markt. In Deklarationen wie der »Magna Charta«13 wird Politisches als vollkommen fungibel angesehen – die Technologien des Internet und des Cyberspace erzeugen demzufolge auch neue soziale Ordnungen, Macht- und Marktverhältnisse – vom technologischen Übermenschen (Leary) bis zum Cyber-Kommunismus der Augmented Social Networks. So versuchen etwa Ken Jordan, Jan Hauser und Steven Foster in Anknüpfung an die »Magna Charta für das Zeitalter des Wis-

Infobahn, Cambridge/MA 1995; vgl. auch David Lyon: The Electronic Eye: The Rise of Surveillance Society, Minneapolis 1994. 11 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel. 12 | Vgl. die systematische Untersuchung von Patricia Warrick: The Cybernatic Imagination in Science Fiction, Cambridge/MA 1980. 13 | Vgl. ihren Beitrag in diesem Kapitel.

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Einleitung | 103 sens« in ihrem programmatischen Aufsatz »Augmented Social Network. Building identity and trust into the next-generation Internet« (2003) den Raum des Cyberspace politisch aufzuwerten. Ihre zentrale Fragestellung lautet: Kann eine neue Generation der Online-User die Gesellschaft stärken, kann eine technologisch systematisch vernetzte Gesellschaft Herausforderungen wie Selbstorganisation besser bewältigen? Technophile Prophetien zelebrieren die immaterielle Welt des »reinen Geistes«, in der Menschen die »bisherigen Schranken« biologischer Lebewesen hinter sich lassen, demgegenüber sind in den apokalyptischen Szenarien der Gegenrede die Menschen ihrer körperlichen Erfahrung beraubt, wenn ihre »ursprüngliche« oder »natürliche« Wirklichkeit durch ein digitales Double ersetzt wird. So formulierte bereits Jean Baudrillard in »Der symbolische Tausch und der Tod« eine Gesellschaftsdiagnose der Ära der elektronischen Medien, die eine große Wirkung auf die Medienanalyse hatte.14 An die Stelle der »ursprünglichen Wirklichkeit« ist nach Baudrillard eine künstlich geschaffene Welt getreten, die als Realität ausgegeben werde: »Der alte Slogan ›Die Realität geht über die Fiktion hinaus‹, die dem surrealistischen Stadium dieser Ästhetisierung des Lebens noch entsprach, ist überholt. Es gibt keine Fiktion mehr, der sich das Leben, noch dazu siegreich, entgegenstellen könnte – die gesamte Realität ist zum Spiel der Realität übergegangen.«15 Baudrillard bezeichnet dieses Prinzip der simulierten Realität als »Hyperrealismus« und dessen medial erzeugte Formen als »Simulacra«. Hyperrealismus kennzeichnet die nicht mehr als Simulation wahrgenommene Projektion der imaginatio in den Realraum. Das Narrativ der medialen Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten und das Narrativ der medialen Verdrängung einer anthropologischen Grunderfahrung teilen jedoch eine entscheidende Gemeinsamkeit, insofern sie ihren Theoremen und Kategorien essentialistische Grundannahmen und eine manichäische Weltsicht zugrunde legen. Andererseits zeichnete sich in den letzten Jahren nicht bloß im Bereich der Theorieanwendung, sondern auch in grundlagenorientierter Hinsicht eine kulturalistische Perspektivierung der »Neuen Medien« ab.16 Dass die Geschichte der Medien nicht von ihrer kulturellen und sozialen Dynamik zu trennen ist, wird im Aufsatz von Siegfried J. Schmidt mit dem Titel »Virtuelle Realitäten« (1996) erkennbar, wenn sich mediale Innovationen zu kulturellen Topoi verdichten.17 So geht Schmidt in der die vorliegende

14 | Vgl. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1991.

15 | Ebd., S. 116f. 16 | Vgl. Sybille Krämer: »Zentralperspektive, Kalkül, Virtuelle Realität. Sieben Thesen über die Weltbildimplikationen symbolischer Formen«, in: Gianni Vattimo/Wolfgang Welsch (Hg.), Medien-Welten. Wirklichkeiten, München 1998, S. 27-37, hier: 27f. 17 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel.

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104 | Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments Textsammlung bereichernden Untersuchung davon aus, dass die traditionelle Differenzierung zwischen medial vermittelten und medial unvermittelten Erfahrungen längst hinfällig geworden ist. Die vermittels der Internet-Kultur inkorporierte Omnipräsenz von Medienangeboten verändert nach Schmidt sowohl die individuellen wie auch die sozialen Wirklichkeitskonstruktionen. Demzufolge werden gleichermaßen deren kategoriale Ordnung und Relevanzbewertung verändert. Referenz und Authentizität repräsentieren folglich Medienprobleme. Insofern erlangt im Zeitalter der Virtuellen Realität die Konstruktivität von Kognition und Kommunikation zentrale Relevanz. Damit wird die Frage nach dem unvermittelten Abbild einer deutungsfreien äußeren Wirklichkeit und ihrer Objekte zugunsten medienkulturell ermöglichter Welten und ihrer Techniken der Simulation in den Hintergrund treten. Wirklichkeit wird also nicht beliebig »erfunden«, sondern ihre Konstruktion erfolgt nach ganz bestimmten Regeln – kognitiv wie sozial. Diese sowohl auf der Seite der Produzenten als auch der Konsumenten praktizierten Regeln werden vom konstruktivistischen Medientheoretiker Siegfried Schmidt untersucht. In diesem Kontext erscheint der Konstruktivismus als eine ontologische Theorie, die davon ausgeht, dass die Konstruiertheit immer schon da sei, ob man es nun wolle oder nicht. Damit ist auch die Medienwissenschaft in einen – sowohl was ihre Gegenstände als auch was ihre Theorien und Methoden betrifft – erweiterten Kontext eingetreten, in dem sie sich in einem Spannungsfeld zwischen Kultur- und Sozialwissenschaften wiederfindet. Analog zum technischen Rauschen bei der Vermittlung von Informationen kann folglich auch von einem diskursiven Rauschen als Desiderat medialer Schwellenphänomene ausgegangen werden. Dieses diskursive Rauschen lässt sich nicht bloß als eine Begleiterscheinung eines bestimmten Mediums herausfiltern, sondern präformiert kulturalistische Vorstellungen medialer Erfahrungen. In dem hier abgedruckten Aufsatz mit dem Titel »Virtuelle Realität(en): SimCity und die Produktion von urbanem Cyberspace« (2002) beschäftigt sich der US-amerikanische Soziologe Shawn Miklaucic mit der Analyse des Computerspiels SimCity, das dem Genre der strategischen Computersimulation zuzurechnen ist. Dabei begreift er SimCity vor allem als eine experimentelle Modellsituation, mit der das Dispositiv der sozialen Regulation und des »guten Regierens« in Form spezifischer Techniken des Wissens (Cognitive Mapping u.a.) popularisiert wird.18 Die Analyse von Miklaucic stellt klar, dass sich mit der Konstruktion (Interaction Design) und Nutzung (Game Sociology) von medial erzeugten Räumen keine Ersterfahrung im Umgang mit digitalen Medien manifestiert. Denn sowohl der alltägliche Gebrauch wie die reflexive Kontextualisierung der »Neuen Medien« sind immer auch durch andere mediale Erfahrungen, Kulturtechniken und

18 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel, sowie: William J. Mitchell: City of Bits. Space, Place, and the Infobahn, a.a.O.

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Einleitung | 105 kultische Praktiken beeinflusst. Wenn in diesem Zusammenhang davon ausgegangen werden kann, dass Erfahrung per se medial konstruiert ist, dann steht »Virtual Reality« nicht als ontologische Gegensphäre des Scheins dem faktischen Sein des Menschen gegenüber, sondern generiert und formatiert sowohl das Erfahrungswissen des Einzelnen als auch soziales Wissen, das sich etwa in den Kulturen des Öffentlichen und Alltäglichen ausdifferenziert und tradiert. Demgemäß zeigt das Schlagwort der »Virtual Reality« konstitutiv eine bestimmte Art und Weise des Verfahrens medialer Konstruktionen an, mit denen »möglichen Welten« Prädikate und Werturteile des Wirklichen – und umgekehrt, »wirklichen Welten« Prädikate und Werturteile des »Virtuellen« verliehen werden. Von entscheidender Bedeutung bleibt in diesem Konnex die Einführung der Unterscheidung von »Virtualität« als einer spezifischen Art und Weise von Erfahrung und »Simulation« als einer Nutzungspraxis medialer Erzeugung von Erfahrung, die eine mögliche Täuschung einschließt. Mit dieser Begriffsbestimmung und Phänomenbeschreibung muss Virtualität nicht als eine kategorial neue Form definiert werden, sondern kann als bestimmte Modalität von wirkungsgeschichtlicher und -mächtiger Erfahrung untersucht werden. Als Modalität, als eine bestimmte Art und Weise der medialen Konstruktion ziehen die »möglichen Welten« des Cyberspace Attribute des neuzeitlichen Subjektes auf sich. Die visuelle Gestaltung der virtuellen Welten und die Ästhetik des Digitalen spiegelt mittlerweile eine Entwicklung wider, in deren Zentrum sich die Anthropomorphisierung der Technik als Topos einer neuen visuellen Kultur des Internet und des Cyberspace verfestigt hat. Festgehalten werden kann, dass die anthropomorphen Repräsentationen des Virtuellen als ästhetischer Raum einen wesentlichen Beitrag zu seiner Mythologisierung leisten.

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106 | Vannevar Bush

Wie wir denken werden (1945) Vannevar Bush

I. Dieser Krieg1 war nicht ein Krieg der Wissenschaftler; es war ein Krieg, an dem alle Anteil hatten. Die Wissenschaftler haben ihre alten Rivalitäten zugunsten der gemeinsamen Sache begraben, haben zusammengearbeitet und viel gelernt. Diese Zusammenarbeit war wirkungsvoll und aufregend. Jetzt scheint diese Zeit für viele zu Ende zu gehen. Was sollen die Wissenschaftler als nächstes tun? Für Biologen und insbesondere für Medizinwissenschaftler entstehen kaum Zweifel, denn ihr Krieg hat nicht dazu geführt, die alten Pfade verlassen zu müssen. In der Tat konnten viele von ihnen die Kriegsforschung in denselben Labors durchführen, in denen sie bereits zu Friedenszeiten gearbeitet hatten. Auch ihre Ziele blieben fast dieselben. Am gewaltigsten wurden die Physiker aus der Bahn geworfen, sie haben akademische Ziele außer Acht gelassen, um merkwürdige, zerstörerische Apparate zu entwickeln, und sie mussten neue Methoden für ihre unerwarteten Aufgaben erarbeiten. Sie haben einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung dieser Apparate geleistet und es so möglich gemacht, dass der Feind bezwungen werden konnte. Sie haben mit den Physikern unserer Alliierten zusammengearbeitet. Sie waren selbst vom Sieg aufgewühlt. Sie waren Teil eines großartigen Teams. Jetzt, da der Frieden naht, fragt man sich, wo sie Ziele finden werden, die ihrer würdig sind. Welchen dauerhaften Nutzen hat der Mensch von der Wissenschaft und den neuen Instrumenten, die durch seine Forschung entstanden sind? Zunächst hat er durch sie seine Kontrolle über die eigene materielle Umwelt vergrößert. Sie haben zu Verbesserungen seines Essens, seiner Kleidung, seiner Behausung geführt; sie haben seine Sicherheit erhöht und ihn teilweise von der Fessel der bloßen Existenz befreit. Sie haben ihm mehr Wissen über seine biologischen Prozesse gegeben, sodass er zunehmend

1 | Gemeint ist der Zweite Weltkrieg (Anm. d. Hg.).

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Wie wir denken werden (1945) | 107 frei von Krankheiten geworden ist und sich seine Lebensdauer erhöht hat. Die neuen Instrumente beleuchten die Interaktion seiner physiologischen und psychologischen Funktionen und versprechen so eine verbesserte mentale Gesundheit. Die Wissenschaft hat zur schnellen Kommunikation zwischen Individuen geführt; sie hält ein ganzes Archiv aufgezeichneter Ideen bereit und befähigt den Menschen, diese Aufzeichnungen so zu handhaben und zu nutzen, dass sich Wissen über die Gesamtheit des Lebens einer Rasse entwickelt hat und über die Lebensdauer eines Einzelnen hinaus Bestand hat. Es gibt einen wachsenden Berg von Forschung. Aber es gibt auch zunehmende Anzeichen dafür, dass wir heutzutage in einem Prozess der Spezialisierung stecken bleiben. Der Forscher wird von den Erkenntnissen und Schlussfolgerungen tausender Anderer überwältigt – er findet keine Zeit, diese überhaupt zu begreifen, geschweige denn, sie alle im Gedächtnis zu behalten. Dennoch wird Spezialisierung für den Fortschritt immer notwendiger und Versuche, Brücken zwischen den Disziplinen zu schlagen, gestalten sich entsprechend oberflächlich. Unsere Methoden der Vermittlung und der Überprüfung von Forschungsergebnissen sind Generationen alt und erfüllen ihren Zweck inzwischen nicht mehr. Wenn wir messen könnten, wie viel Zeit wir insgesamt mit dem Schreiben von wissenschaftlichen Arbeiten verbringen und wie viel Zeit wir im Verhältnis dazu benötigen, um diese Arbeiten zu lesen, wären wir vom Ergebnis sicherlich überrascht. Diejenigen, die versuchen, durch genaues und gewissenhaftes Lesen immer auf dem neuesten Stand der Forschung zu bleiben – und sei es auch nur in einem eingeschränkten Fachgebiet –, würden vielleicht vor dem Versuch zurückschrecken, zu errechnen, wie viel von dem Gelesenen eines Monats im darauf folgenden Monat abrufbar wäre. Mendels Konzept der Vererbungslehre war mehr als eine Generation lang für die Menschheit verloren, weil seine Veröffentlichung für diejenigen nicht mehr verfügbar war, die sie hätten verstehen oder erweitern können. Ohne Zweifel vollzieht sich diese Art Katastrophe immer wieder und es gehen so wirklich wichtige Errungenschaften in der Masse des Unbedeutenden unter. Nicht, dass wir unangemessen viel publizieren würden angesichts der Reichweite und Vielfältigkeit heutiger Interessen, aber die Menge der Veröffentlichungen übersteigt das, was wir derzeit im Stande sind, wirklich zu verwerten. Die Summe menschlicher Erfahrungen erweitert sich mit ungeheurer Geschwindigkeit, doch die Art und Weise, wie wir das entstehende Labyrinth durchwandern, um zu den eigentlich wichtigen Dingen zu gelangen, ist noch die gleiche wie zu Zeiten des Rahseglers.2

2 | Ein Rahsegler ist ein mehrmastiges Segelschiff, das Rahen führt. Ein Mast, der komplett mit Rahsegeln ausgerüstet ist, wird ›vollgetakelt‹ genannt. (Anm. d. Hg.)

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108 | Vannevar Bush Aber jetzt, da neue und starke Apparaturen eingesetzt werden, stehen die Zeichen auf Veränderung. Fotozellen, die uns erlauben, Dinge im physischen Sinn zu sehen; hoch entwickelte fotografische Methoden, mit denen nicht nur das aufgezeichnet wird, was man sieht, sondern sogar das, was man nicht sieht; Elektronenröhren, mit denen gewaltige Kräfte mit weniger Energie gelenkt werden können als ein Moskito verbraucht, um seine Flügel zu bewegen; Kathodenstrahlröhren, die Vorkommnisse von so kurzer Dauer sichtbar machen, dass uns im Vergleich dazu eine Mikrosekunde wie eine halbe Ewigkeit vorkommt; Relaiskombinationen, die Bewegungsabläufe zuverlässiger als jeder Mensch durchführen können, aber mit der tausendfachen Geschwindigkeit – es gibt eine Menge mechanischer Hilfsapparaturen, die eine Veränderung bei der Aufzeichnung wissenschaftlicher Ergebnisse herbeiführen könnten. Vor zwei Jahrhunderten hat Leibnitz eine Rechenmaschine erfunden, welche die meisten der grundlegenden Merkmale heutiger Tastaturgeräte besaß, aber sie konnte damals nicht genutzt werden. Die wirtschaftliche Situation ließ dies nicht zu: Es gab zu dieser Zeit noch keine Massenproduktion. Die Mühe, die die Herstellung einer solchen Maschine gekostet hätte, war zu groß im Verhältnis zur Arbeitserleichterung, die man durch sie gehabt hätte, da man alles, was die Maschine hätte tun können, auch mit Stift und Papier tun konnte. Darüber hinaus wäre sie vermutlich häufig zusammengebrochen, sie wäre nicht verlässlich gewesen, denn nicht nur damals, sondern noch lange Zeit danach, galten Komplexität und Unzuverlässigkeit als Synonyme. Obwohl er für damalige Verhältnisse bemerkenswert große Unterstützung erhielt, konnte auch Babbage seine großartige Rechenmaschine nicht produzieren. Seine Idee war vernünftig, aber Konstruktions- und Wartungskosten waren zu hoch. Wenn man einem Pharao genügend detaillierte und eindeutige Pläne für den Bau eines Automobils zur Hand gegeben und er diese vollständig begriffen hätte, es hätte die Ressourcen seines Königreiches geschmälert, die tausend Teilchen für ein einziges Auto herzustellen und das Auto wäre auf der ersten Fahrt nach Giza zusammengebrochen. Die Herstellung von Maschinen mit austauschbaren Teilchen ist heutzutage mit sparsamem Kräfteaufwand möglich. Und sie funktionieren trotz ihrer Komplexität zuverlässig. Man nehme zum Beispiel die einfache Schreibmaschine oder die Filmkamera oder das Auto. Wenn man ihren Mechanismus begreift, funktionieren elektrische Kontakte automatisch. Zum Beispiel bei der automatischen Telefonvermittlung, die Tausende solcher Kontakte beinhaltet und dennoch zuverlässig funktioniert. Ein Spinnennetz aus Metall, eingeschlossen in einem dünnen Glasbehälter, ein bis zum Glühen erhitzter Draht, kurz: die Glühelektronenröhre eines Radios, wird millionenfach hergestellt, verpackt, herum geschippert, in die Steckdose gesteckt – und funktioniert! Ihre hauchdünnen Bestandteile und deren im Zuge ihrer Konstruktion genau bestimmte Lage und Anordnung hätten einen Meister seiner Zunft monatelang beschäftigt; heutzutage

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Wie wir denken werden (1945) | 109 werden Radios für 30 Cent hergestellt. Die Welt befindet sich in einer Zeit billiger, komplexer Vorrichtungen von großer Zuverlässigkeit; irgendetwas wird sich daraus entwickeln.

II. Aufzeichnungen müssen, wenn sie für die Wissenschaft nützlich sein sollen, jederzeit erweiterbar sein, sie müssen aufbewahrt werden, vor allem aber müssen sie zugänglich sein. Heutzutage machen wir Aufzeichnungen auf konventionelle Art, durch Schrift und Fotografie, gefolgt vom Druck; aber wir dokumentieren auch auf Film, auf Schallplatten und auf Magnetband. Selbst wenn keine wirklich neuen Dokumentationsformen entwickelt würden, werden die derzeit existierenden Formen laufend verändert und weiterentwickelt. In jedem Fall ist der Fortschritt in der Fotografie unaufhaltsam. Die Weiterentwicklung der Idee der Minikamera steht bevor: durch schnellere Materialien und Linsen, Kameras mit mehr automatischen Funktionen, feinkörnigere, empfindlichere chemische Verbindungen. Lassen Sie uns die Entwicklung diese Trends weiterdenken, bis zum logischen, möglicherweise sogar zwangsläufigen Ergebnis. Der Fotograf der Zukunft wird auf seiner Stirn einen kleinen Apparat, etwa von der Größe einer Walnuss, tragen. Dieser Apparat wird Bilder von drei Quadratmillimetern Größe machen, die später projiziert oder vergrößert werden, was im Vergleich zur gegenwärtigen Praxis durchschnittlich nur eine Veränderung um den Faktor 10 bedeutet. Die Linse wird eine universelle Schärfeneinstellung haben, bis zur kleinsten Distanz, auf die sich das bloße Auge einstellen kann, einfach nur weil sie eine geringe Brennweite haben wird. Der walnussgroße Apparat wir eine eingebaute Fotozelle haben, wie wir sie schon jetzt von mindestens einer Kamera kennen, die die Belichtungszeit für unterschiedlichste Lichtverhältnisse automatisch einstellen wird. In der ›Walnuss‹ wird Film für 100 Belichtungen Platz finden und die Feder, die das Schließen und Öffnen der Blende und den Transport des Films veranlasst, wird nur ein einziges Mal beim Einsetzen des Films aufgezogen. Es wird ein Bild in voller Farbe produziert. Vielleicht wird es sogar stereoskopisch sein und mithilfe von zwei Glasaugen aufzeichnen können, denn bemerkenswerte Verbesserungen der stereoskopischen Technik stehen kurz bevor. Das Kabel, mittels dessen die Kamera ausgelöst wird, führt vielleicht durch den Ärmel des Fotografen in unmittelbare Reichweite seiner Finger. Ein kurzer Druck mit dem Finger – und das Bild ist gemacht. Auf einer einfachen Brille befindet sich ein Viereck aus feinen Linien, nahe dem oberen Ende der einen Linse, außerhalb des normalen Sichtfelds. Sobald ein Objekt in diesem Viereck erscheint, wird es zum Fotografieren bereit gestellt. Ob im Labor oder bei der Feldforschung, jedesmal, wenn der Wissenschaftler etwas sieht, das er gerne dokumentieren möchte, betätigt

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110 | Vannevar Bush er den Auslöser und fertig – nicht einmal ein Klicken ist zu hören. Ist das nicht alles fantastisch? Das einzig Fantastische daran ist die Vorstellung, so viele Bilder zu machen, wie das Gerät erlaubt. Wird es Trockenfotografie geben? Sie existiert bereits in zwei Formen. Als Brady3 seine Bilder vom Bürgerkrieg machte, musste die Fotoplatte zum Zeitpunkt der Belichtung nass sein. Nun muss sie stattdessen während der Entwicklung nass sein und in Zukunft muss sie vielleicht gar nicht mehr nass gemacht werden. Es gibt schon lange mit Diazo4-Farben imprägnierte Filme, bei denen ein Bild ohne Entwicklung, direkt nach Betätigung der Kamera, entsteht. Dabei wird die Farbbeschichtung, sobald man sie Ammoniakdampf aussetzt, zerstört und das Bild kann dann ans Licht geholt und angeschaut werden. Bisher ist dieser Prozess noch langwierig, aber vielleicht wird ihn irgendjemand eines Tages beschleunigen – er hat zudem den Vorteil, dass keine Schwierigkeiten mit Körnung auftauchen, wie sie die fotografische Forschung derzeit noch beschäftigen. Es wäre oft von Vorteil, einfach abzudrücken und das Foto unmittelbar anschauen zu können. Es existiert bereits ein weiteres Verfahren, das auch noch langwierig und mehr oder weniger umständlich ist: Seit 50 Jahren wird imprägniertes Papier benutzt, das sich an den Stellen, wo es von einem elektrischen Kontakt berührt wird, dunkel färbt und zwar durch die chemische Umwandlung einer Jodverbindung, die im Papier enthalten ist. Diese Art Papier wird für Aufzeichnungen benutzt, da eine sich darauf bewegende Spitze Spuren hinterlassen kann. Wenn das elektrische Potential bei der Bewegung der Spitze variiert, wird der Strich entsprechend heller oder dunkler. Das Verfahren wird heutzutage bei der Faxübertragung benutzt. Die Spitze zeichnet eine Reihe sehr eng beieinander liegender Linien nacheinander auf ein Papier. Während er sich bewegt, wird sein Potential durch variierende Spannung, die über Drähte von einer entfernten Stelle aus übertragen wird, verändert. An eben dieser Stelle wird die variierende Spannung von einer Fotozelle hergestellt, die wiederum gleichzeitig ein Bild scannt. Zu jedem Zeitpunkt stimmt die Farbintensität der gezeichneten Linie mit der Farbintensität auf der Fotografie überein, die von der Fotozelle abgetastet wird. Sobald das gesamte Bild abgetastet worden ist, erscheint auf der Empfängerseite eine Kopie. Auf dieselbe Art und Weise kann statt der Fotografie einer Szene auch die Szene selbst von einer Fotozelle Linie für Linie abgetastet werden. Der gesamte Apparat ist eigentlich eine Kamera mit einer zusätzlichen Funktion, auf die bei Bedarf auch verzichtet werden kann: Das Bild wird aus der

3 | Matthew B. Brady (1823-1896), amerikanischer Fotograf, der im amerikanischen Bürgerkrieg seit 1861 fotografierte (Anm. d. Hg.). 4 | Diazo-Papier ist Lichtpauspapier auf Diazo-Basis. Es wird für Halbfeuchtund Trockenentwicklung eingesetzt (Anm. d. Hg.).

2007-03-26 15-01-37 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 106-125) T02-01 bush.p 142895397136

Wie wir denken werden (1945) | 111 Entfernung gemacht. Das Verfahren ist insgesamt langsam und das Bild detailarm. Aber es handelt sich dabei um ein weiteres Verfahren der Trockenfotografie, bei der das Bild, sobald es aufgenommen wird, fertig ist. Es wäre sehr gewagt zu behaupten, dass dieser Prozess immer umständlich, langsam und im Detail fehlerhaft bleiben wird. Heutzutage überträgt das Fernsehen in der Sekunde 16 Bilder von relativ guter Qualität und es gibt dabei nur zwei wesentliche Unterschiede zu dem oben beschriebenen Verfahren. Zum einen wird die Aufzeichnung von einem sich bewegenden Elektronenstrahl gemacht, nicht von einer Spitze, da sich ein Elektronenstrahl in der Tat sehr schnell über ein Bild hinweg bewegen kann. Der andere Unterschied besteht darin, dass es sich beim Fernsehen nicht um chemisch behandeltes Papier oder um Film handelt, der dauerhaft verändert wird, sondern um einen Bildschirm, der nur dann leuchtet, wenn Elektronen darauf treffen. Diese Geschwindigkeit ist für das Fernsehen notwendig, weil es um bewegte Bilder, nicht um Stills, geht. Wenn man nun statt dem leuchtenden Bildschirm chemisch behandeltes Papier verwendet, dem Apparat erlaubt, statt einer Abfolge von Bildern nur ein Bild zu übertragen, erhält man als Resultat eine schnelle Kamera für Trockenfotografie. Die chemische Reaktionszeit des behandelten Films müsste sehr viel geringer sein als bisher, was aber durchaus möglich scheint. Sicherlich muss der ernst zunehmende Einwand berücksichtigt werden, dass sich bei solch einem Verfahren der Film in einer Vakuumkammer befinden müsste, da sich Elektronenstrahlen nur in einem bestimmten Umfeld normal verhalten. Diese Schwierigkeit ließe sich überwinden, wenn man dafür sorgt, dass sich der Elektronenstrahl nur auf der einen Seite einer Trennwand bewegt und der Film gegen die andere Seite gedrückt wird. Dabei müsste die Trennwand so beschaffen sein, dass die Elektronen sie nur senkrecht zur Oberfläche durchdringen und sich nicht seitwärts streuen können. Die einfache Konstruktion solcher Trennwände stellt sicherlich kein Hindernis für die grundsätzliche Entwicklung dar. Ähnlich wie die Trockenfotografie muss sich auch die Mikrofotografie noch weiterentwickeln. Die Grundidee, das Gesamtvolumen der Aufzeichnungen zu verkleinern und diese dann nicht direkt, sondern projiziert zu betrachten, eröffnet Möglichkeiten, die kaum zu ignorieren sind. Die Kombination von optischer Projektion und fotografischer Verkleinerung hat bereits zu Ergebnissen beim Mikrofilm für die Anwendung im wissenschaftlichen Bereich geführt und alles deutet darauf hin, dass hier weitere Möglichkeiten bestehen. Heutzutage können bei Mikrofilmen Verkleinerungen vom linearen Faktor 20 eingesetzt werden – und das Bild bleibt auch bei der Wiedervergrößerung noch scharf. Limitierende Faktoren sind hier die Körnung des Films, die Beschaffenheit des optischen Systems und die Effizienz der verwendeten Lichtquelle. All dies wird zunehmend verbessert. Nehmen wir nun ein lineares Verhältnis von 100 für die Zukunft an. Ziehen wir Film von der Stärke eines Papiers in Betracht, obgleich auch

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112 | Vannevar Bush dünnerer Film anwendbar sein wird. Selbst unter solchen Bedingungen gäbe es einen 10.000-fachen Unterschied zwischen der Masse der einfachen Aufzeichnung in Büchern und ihrer Reproduktion auf Mikrofilm. Die Encyclopedia Britannica könnte auf den Umfang einer Streichholzschachtel reduziert werden. Eine Bibliothek mit einer Million Bücher würde in die Schublade eines Schreibtisches passen. Wenn die Menschheit seit der Erfindung der beweglichen Druckpresse Aufzeichnungen in Form von Zeitschriften, Zeitungen, Büchern, Traktaten, Werbungen, Korrespondenzen im Umfang von etwa einer Milliarde Büchern hervorgebracht hat, könnte man diese in zusammengestellter und komprimierter Form in einem Möbelwagen abtransportieren. Aber die bloße Komprimierung zum Erstellen und Archivieren der Aufzeichnung reicht natürlich nicht aus; es muss auch möglich sein, auf diese Weise Aufzeichnungen konsultieren zu können – ein Aspekt, auf den ich später zurück kommen werde. Selbst die modernen Weltbibliotheken werden nicht von der Allgemeinheit konsultiert, sondern nur von einigen wenigen in kleinen Häppchen. Komprimierung ist aber in Bezug auf Kosten von Bedeutung. Das Material für eine Mikrofilmversion der Encyclopedia Britannica würde etwa fünf Cent kosten – und für einen Cent könnte man sie überall hin versenden. Wie hoch wären die Druckkosten für eine Millionen Kopien? Eine Zeitungsseite in großer Auflage zu drucken kostet einen Bruchteil eines Cents. Das gesamte Material der Britannica auf Mikrofilm reduziert, würde auf eine Seite von etwa 22 mal 28 cm Größe passen. Sobald das Material verfügbar wäre, könnte man mithilfe von zukünftigen fotografischen Reproduktionstechniken große Mengen von Duplikaten zu einem Preis von einem Cent pro Stück, zusätzlich zu den Materialkosten, abgeben. Die Verfügbarkeit des Originals? Das führt zum nächsten Aspekt des Themas.

III. Um eine Aufzeichnung zu machen, benutzen wir derzeit einen Bleistift oder eine Schreibmaschine. Dann kommt die Überarbeitungs- und Korrekturphase, gefolgt von einem komplexen Prozess des Typensetzens, Druckens und des Vertriebs. Betrachten wir zunächst einmal den ersten Schritt dieses Prozesses: Wird der Autor der Zukunft aufhören mit der Hand oder der Schreibmaschine zu schreiben und stattdessen direkt mit dem Archiv der Aufzeichnungen Kontakt aufnehmen? Er tut dies indirekt, indem er zu einem Stenografen oder auf eine Schallplatte spricht; aber es sind bereits alle Elemente vorhanden, damit aus seiner Rede unmittelbar eine gedruckte Aufzeichnung entstehen könnte. Er braucht nur die vorhandenen Mechanismen zu nutzen und seine Sprache zu verändern. Auf einer Weltausstellung wurde kürzlich eine Maschine präsentiert, die sich ›Voder‹ nennt. Ein junge Frau tippt auf die Tastatur des Geräts, das dann erkennbare Sprache ausgibt. Zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens sind menschliche Stimmbänder beteiligt; durch die Tastaturan-

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Wie wir denken werden (1945) | 113 schläge wurden lediglich einige elektrisch produzierte Vibrationen zusammengefügt und diese über einen Lautsprecher weitergegeben. In den Labors von Bell findet sich die Umkehrung dieser Maschine, genannt ›Vocoder‹. Der Lautsprecher wird durch ein Mikrophon ersetzt, das Geräusche aufnimmt – und wenn man spricht, werden die entsprechenden Tasten gedrückt. Dies könnte ein Element des postulierten Systems sein. Ein weiteres Element ist der Stenograf, dieses etwas beunruhigende Gerät, das normalerweise bei öffentlichen Veranstaltungen zu finden ist. Eine junge Frau tippt lässig auf die Tastatur, ihr Blick schweift dabei durch den Raum, verweilt manchmal beim Sprechenden. Daraus entsteht ein voll getippter Papierstreifen, der in phonetisch vereinfachter Sprache das aufzeichnet, was der Sprechende wohl gesagt hat. Später wird dieser Streifen wieder in normale Sprache umgeschrieben, denn sonst ist er nur für Eingeweihte lesbar. Wenn man beide Elemente zusammenfügt und dem ›Vocoder‹ das Stenografieren überlässt, erhält man eine Maschine, die druckt, wenn man mit ihr spricht. Es stimmt, dass unsere Sprachen gegenwärtig nicht auf diese Art der Mechanisierung ausgerichtet sind. Es ist merkwürdig, dass die Erfinder universeller Sprachen nicht auf die Idee gekommen sind, eine Sprache zu entwickeln, die sich der Technik der Übertragung und Aufzeichnung von Gesprochenem besser anpassen ließe. Unter Umständen wird die Mechanisierung die Sache vorantreiben, besonders im wissenschaftlichen Bereich; wissenschaftlicher Jargon würde dann für Laien noch schwieriger verständlich werden. Stellen wir uns einen zukünftigen Wissenschaftler in seinem Labor vor. Er hat die Hände frei und kann sich frei bewegen. Während er sich bewegt und beobachtet, fotografiert und kommentiert er. Dabei wird automatisch die Zeit festgehalten, damit zu einem späteren Zeitpunkt die beiden Aufzeichnungen zusammengebracht werden können. Wenn er Feldforschung betreibt, ist er vielleicht per Radio mit entsprechenden Aufnahmegeräten verbunden. Während er abends seine Notizen überdenkt, spricht er wiederum auf Band. Sowohl seine geschriebenen Aufzeichnungen als auch seine Fotografien wären vielleicht so verkleinert, dass er sie zur Überprüfung projizieren muss. Es muss allerdings noch viel geschehen im Zeitraum zwischen der Datenerhebung, dem Hinzuziehen von vergleichbarem Material aus existierenden Aufzeichnungen und dem endgültigen Einfügen von neuem Material in die gemeinsamen Aufzeichnungen. Für schöpferisches Denken gibt es keinen mechanischen Ersatz. Dennoch sind kreatives Denken und repetitives Denken zwei grundverschiedene Dinge. Für Letzteres gibt es bereits überzeugende mechanische Hilfsapparaturen – und in Zukunft wird es vielleicht noch mehr geben. Bei der Addition einer Zahlenkolonne handelt es sich um einen repetitiven gedanklichen Prozess, der schon seit längerem Maschinen überlassen wird. Sicher, in manchen Fällen wird die Maschine durch eine Tastatur gesteuert und beim Lesen der Zahlen sowie beim Betätigen der entspre-

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114 | Vannevar Bush chenden Tasten spielt irgendein Gedanke mit hinein, aber sogar dies ist vermeidbar. Es sind schon Maschinen entwickelt worden, die gedruckte Zahlen mithilfe von Fotozellen lesen können – und dann werden die entsprechenden Tasten gedrückt; es handelt sich dabei um Fotozellen zur Erkennung von Schrifttypen, um elektrische Schaltkreisen zur Sortierung der entsprechenden Variationen und um Relaisschaltkreise zur Übertragung der Resultate auf Magnetschalter, durch die dann die Tasten gedrückt werden. Dies ist alles so kompliziert, weil wir gelernt haben, Zahlen auf ungeschickte Art aufzuschreiben. Wenn wir sie stellenbezogen aufzeichnen würden, einfach durch Anordnung einer Reihe von Punkten auf einer Karte, würden die automatischen Leseprozesse vergleichsweise einfach werden. In der Tat stünde uns, wenn es sich bei den Punkten um Löcher handelte, die Lochkartenmaschine zur Verfügung, die von Hollerith5 schon vor langem zum Zwecke der Volkszählung entwickelt wurde und die heutzutage überall in der Geschäftswelt Anwendung findet. Addition ist nur ein Rechenvorgang. Um arithmetische Berechnungen durchzuführen, brauchen wir auch Subtraktion, Multiplikation und Division. Darüber hinaus bedarf es einer Methode, mit der wir Ergebnisse zeitweise speichern können, sie zur weiteren Bearbeitung wieder hervorholen und die endgültigen Ergebnisse drucken und so aufzeichnen können. Derzeit gibt es zwei Arten von Maschinen, die für diese Zwecke verwendet werden könnten: Tastaturgeräte für Buchhaltung und Ähnliches, die beim Eingeben von Daten manuell bedient werden, bei denen aber normalerweise die Abfolge von Rechenvorgängen automatisch erfolgt; und Lochkartengeräte, bei denen üblicherweise einzelne Rechenvorgänge an verschiedene Geräte delegiert und die Karten von einem Gerät zum nächsten transportiert werden. Beide Arten von Maschinen sind sehr brauchbar; aber was komplexe Berechnungen betrifft, befinden sich beide noch im Entwicklungsstadium. Schnelles elektronisches Rechnen entstand kurz nachdem es Physiker für wünschenswert erachteten, kosmische Strahlen zu zählen. Für ihre eigenen Zwecke konstruierten sie deshalb Zubehör zur Glühelektronenröhre, mit der elektrische Impulse mit einer Rate von 100.000 pro Sekunde gemessen werden konnten. Hochentwickelte Rechenmaschinen der Zukunft werden elektronisch sein und hundertmal so schnell oder sogar schneller arbeiten. Außerdem werden sie vielseitiger sein als derzeit verfügbare kommerzielle Rechenmaschinen, sodass sie für eine Vielzahl von Rechenvorgängen einsetzbar sein werden. Sie werden durch Kontrollkarten oder -filme gesteuert sein, ihre eigenen Daten, je nach eingegebener Anweisung, aus-

5 | Herman Hollerith (1860-1929) war ein US-amerikanischer Unternehmer und Ingenieur. Er ist Erfinder des nach ihm benannten Hollerith-Lochkartenverfahrens in der Datenverarbeitung (Anm. d. Hg.).

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Wie wir denken werden (1945) | 115 wählen und bearbeiten und komplexe arithmetische Berechnungen in sehr schnellem Tempo durchführen. Und sie werden Ergebnisse so aufzeichnen, dass sie für Weitergabe und spätere Bearbeitung direkt verfügbar sind. Solche Maschinen werden enormen Hunger haben. Eine dieser Maschinen wird von einem ganzen Raum voller junger Frauen, die vor einfachen Tastaturen sitzen, mit Anweisungen und Daten gefüttert werden und alle paar Minuten wird diese Maschine Blätter mit den errechneten Ergebnissen herausgeben. Es wird, angesichts der Details im Leben von Millionen von Menschen, die komplizierten Tätigkeiten nachgehen, immer eine Menge Dinge geben, die zu berechnen sind. Die repetitiven Denkprozesse sind aber nicht auf den Bereich der Arithmetik oder Statistik begrenzt. Tatsächlich ist aber jedes Mal, wenn Fakten in Übereinstimmung mit logischen Prozessen kombiniert und dokumentiert werden, der kreative Teil der Gedankenwelt nur mit der Auswahl der Daten und dem angewendeten Verfahren beschäftigt. Die darauf folgende Bearbeitung ist repetitiver Natur und es bietet sich deshalb an, sie an eine Maschine zu delegieren. Bislang hat sich in diesem Bereich, über die Grenzen der Arithmetik hinaus, noch nicht viel entwickelt, vor allem aufgrund der wirtschaftlichen Aspekte der Situation. Es waren offenkundig die Notwendigkeiten der Geschäftswelt und des ausgedehnten Marktes, die zur Massenproduktion der Rechenmaschine geführt haben, als es die Produktionsmethoden endlich erlaubten. Im Bereich der höheren Analysis ist nie eine vergleichbare Situation entstanden, da es dafür weder einen entsprechenden Markt gegeben hat noch geben wird: Der Anteil der Bevölkerung, der fortgeschrittene Methoden der Datenbearbeitung braucht, ist sehr klein. Es gibt jedoch Maschinen, die Differenzialgleichungen lösen können – und auch Funktionalund Integralgleichungen. Es gibt viele Spezialgeräte wie zum Beispiel den harmonischen Synthesizer, der Ebbe und Flut voraussagt. Es wird – sicher zunächst in den Händen von Wissenschaftlern und in geringer Menge – noch viele weitere dieser Geräte geben. Wenn wissenschaftliches Denken auf die logischen Prozesse der Arithmetik begrenzt wäre, würden wir in unserem Verständnis der physischen Welt nicht sehr weit kommen. Das wäre so, als ob man das Pokerspiel einzig und allein auf der Grundlage der Wahrscheinlichkeitsgesetze zu begreifen versuchte. Durch den Abakus, mit seinen auf parallelen Drähten aufgezogenen Perlen, sind die Araber schon Jahrhunderte vor dem Rest der Welt auf stellenbezogene Aufzählung und auf das Konzept der Null gestoßen; der Abakus war ein brauchbares Gerät – so brauchbar, dass es immer noch existiert. Es ist natürlich ein weiter Weg vom Abakus zu modernen Rechengeräten. Und es wird ein ebenso großer Schritt zur Rechenmaschine der Zukunft sein. Aber selbst diese neue Maschine wird die Wissenschaftler nicht dorthin bringen, wo sie hin möchten. Wenn die Benutzer die Freiheit haben sollen, ihren Geist für mehr als für repetitive, ins Detail gehende Übertragungen, in Übereinstimmung mit bestehenden Regeln zu benut-

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116 | Vannevar Bush zen, müssen sie unterstützt werden durch detaillierte Bearbeitung im Bereich der höheren Mathematik. Ein Mathematiker ist nicht einfach ein Mensch, der gerne mit Zahlen umgeht, sehr häufig kann er es nicht. Es fällt ihm nicht einmal unbedingt leicht, Gleichungen durch Differenzialrechnung umzuwandeln. Er ist in erster Linie jemand, der geschult ist, symbolische Logik auf hohem Niveau einzusetzen und insbesondere ist er ein Mensch, der intuitiv entscheidet, welche Anwendungsverfahren er einsetzen wird. Vor allen Dingen sollte er in der Lage sein, sich seinen Mechanismen mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu überlassen, mit der er den Antrieb seines Autos den komplexen Mechanismen unter der Motorhaube überlässt. Nur so wird es der Mathematik gelingen, das anwachsende Wissen über die Atomphysik zur Lösung der komplexen Probleme der Chemie, Metallurgie und Biologie einzusetzen. Aus diesem Grunde wird es noch weitere Maschinen geben, die Wissenschaftler im Bereich der höheren Mathematik werden anwenden können. Einige dieser Maschinen werden ausreichend bizarr sein, dass auch die genausten Kenner der gegenwärtigen Schöpfungen der Zivilisation daran Geschmack finden werden.

IV. Wissenschaftler sind natürlich nicht die einzigen, die Daten bearbeiten und die Welt um sich herum mit Hilfe logischer Denkprozesse untersuchen, auch wenn dieser Eindruck gerade dadurch aufrechterhalten wird, dass jeder, der sich mit Logik beschäftigt, mit entsprechend offenen Armen empfangen wird, ähnlich einem britischen Gewerkschaftler, der zum Ritter geschlagen wird. Wann immer logische Denkprozesse eingesetzt werden – das heißt, wann immer das Denken für eine Weile in anerkannten Bahnen verläuft –, gibt es Gelegenheit, eine Maschine einzusetzen. Formale Logik war früher ein gutes Instrument für Lehrer, ihre Schüler auf die Probe zu stellen. Es ist gut möglich, dass man eine Maschine konstruieren kann, die Prämissen in Übereinstimmung mit formaler Logik bearbeiten würde, einfach nur durch geschickten Einsatz von Schaltkreisen. Man füttere solch ein Gerät einfach mit einem Satz von Prämissen, drehe an der Kurbel und schon erhält man Schlussfolgerung nach Schlussfolgerung in Übereinstimmung mit Gesetzen der Logik – und das mit ebenso wenig Patzern wie man sie von einer Rechenmaschine erwartet. Logik kann enorm schwierig werden und es wäre zweifelsohne gut, für mehr Kontrolle in ihrer Anwendung zu sorgen. Maschinen für höhere Analysis dienen normalerweise der Lösung von Gleichungen. Es entwickeln sich gegenwärtig Ideen für Gleichungsumwandler, die zu einer Neuordnung der Beziehung, die in einer Gleichung in Übereinstimmung mit strikter und ziemlich fortgeschrittener Logik zum Ausdruck gebracht wird, führen. Der Fortschritt wird hier nur dadurch eingeschränkt, dass Mathe-

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Wie wir denken werden (1945) | 117 matiker diese Beziehung in übermäßig primitiver Weise zum Ausdruck bringen. Sie bedienen sich eines wuchernden und wenig konsistenten Symbolismus, was recht merkwürdig scheint in dieser logischsten aller Disziplinen. Der Reduzierung mathematischer Umwandlungen auf maschinelle Vorgänge muss offensichtlich ein neuer, möglicherweise positioneller Symbolismus vorangehen. Erst dann wird über die strikte Logik der Mathematiker hinaus die Anwendung der Logik im Alltag folgen. Eines Tages werden wir vielleicht mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der wir heutzutage Preise in die Kasse eingeben, Argumente mit einer Maschine verarbeiten. Aber die Maschine der Logik wird nicht wie eine Registrierkasse aussehen, nicht mal in deren rationalisierten Form. Soviel zur Bearbeitung von Ideen und deren Aufzeichnung. Bis jetzt scheinen wir schlechter als zuvor dazustehen – denn wir sind zwar in der Lage, das Archiv unendlich zu erweitern, aber schon im vorhandenen Umfang können wir es nicht wirklich benutzen. Dabei handelt es sich um ein Problem, das über das Erlangen von Informationen zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung hinaus geht; es handelt sich um den gesamten Prozess, durch den die Menschheit vom Erbe der erworbenen Erkenntnis profitieren kann. Das Hauptelement in der Anwendung ist die Auswahl – und hier treten wir auf der Stelle. Es mögen Millionen feiner Gedanken und Erklärungen über die Erfahrungen, auf denen sie basieren, existieren, verwahrt hinter den Mauern angemessener architektonischer Formen; aber wenn ein Gelehrter durch sorgfältige Recherche nur an einen dieser Gedanken pro Woche gelangen kann, werden seine Synthesen kaum mit dem gegenwärtigen Stand der Forschung mithalten können. Auswahl, in diesem weiten Sinne, ist eine Steindrechsel in den Händen eines Möbeltischlers. Es gibt jedoch im engeren Sinne und in anderen Bereichen bereits Fortschritte bei der mechanischen Selektion. Ein Angestellter der Personalabteilung einer Fabrik legt einen Stapel von einigen tausend Mitarbeiterkarten in eine Sortiermaschine, gibt einen Code ein, der einer vorbestimmten Konvention entspricht und erstellt so innerhalb kürzester Zeit eine Liste aller Angestellten, die in Trenton leben und Spanisch sprechen. Aber auch diese Geräte sind immer noch viel zu langsam, wenn es um solche Dinge geht wie das Abgleichen eines Fingerabdrucks mit Millionen von archivierten Abdrücken. Sortierungsgeräte dieser Art, die gegenwärtig etwa einige hundert Daten in der Minute überprüfen können, werden bald sehr viel schneller arbeiten. Mit Hilfe von Fotozellen und Mikrofilm werden sie tausend Daten pro Sekunde bearbeiten und ein Duplikat mit der Auswahl ausdrucken können. Es handelt sich dabei lediglich um einen einfachen Selektionsprozess: Es werden nacheinander große Datensätze durchforstet und diejenigen ausgewählt, die bestimmte Merkmale enthalten. Es gibt eine weitere Auswahlform, die am besten anhand der automatischen Telefonauswahl veranschaulicht werden kann: Man wählt eine Nummer und die Maschine geht nicht alle möglichen Nummern durch, sondern trifft eine Auswahl

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118 | Vannevar Bush und verbindet sie mit nur einem von Millionen möglicher Apparate. Zunächst wird nur nach einer Gruppe von Nummern gesucht, die eine bestimmte Anfangsziffer haben, daraus wird wiederum eine Untergruppe aufgrund der zweiten Ziffer ausgewählt und so weiter. Auf diese Art trifft sie, fast immer fehlerfrei, die Auswahl für einen bestimmten Apparat. Das gesamte Selektionsverfahren dauert nur ein paar Sekunden, obgleich das Tempo, wenn es dafür eine wirtschaftliche Notwendigkeit gäbe, sicher noch beschleunigt werden könnte. Falls notwendig, könnte dieser Prozess extrem beschleunigt werden, indem mechanische Schaltungen ersetzt würden durch Schaltungen mit thermionischen Röhren6, sodass das gesamte Selektionsverfahren innerhalb einer hundertstel Sekunde vonstatten ginge. Keiner würde die Kosten, die eine entsprechende Veränderung des Telefonsystems verursachen würde, tragen wollen, aber die Grundidee lässt sich auch anderswo einsetzen. Nehmen wir das eher prosaische Problem großer Kaufhäuser. Bei jedem Einkauf mit einer Kundenkarte sind eine Reihe von Schritten erforderlich. Das Inventar muss überarbeitet werden, der Verkauf muss dem entsprechenden Verkäufer zugeordnet werden, es muss einen Eintrag in die allgemeine Buchhaltung geben – und vor allem muss der Verkauf dem Käufer berechnet werden. Es ist ein Registrierungsapparat entwickelt worden, mit dem ein Großteil dieser Arbeit bequem getätigt werden kann. Der Verkäufer legt die Kundenkarte, seine eigene Karte und das Schild des Verkaufsartikels – alles Lochkarten – übereinander in ein Gerät. Durch Betätigung eines Hebels werden durch die Löcher Kontakte hergestellt, ein zentrales Gerät führt die notwendigen Berechnungen und Eingaben durch und die entsprechende Quittung wird gedruckt und dem Kunden durch den Verkäufer ausgehändigt. Aber es gibt vielleicht Zehntausende von Kunden, die in diesem Kaufhaus mit Karte bezahlen – und bevor der gesamte Rechenvorgang abgeschlossen werden kann, muss jemand die richtige Karte auswählen und sie in der Zentrale eingeben. Mit einem schnellen Selektionsverfahren kann nun die entsprechende Karte innerhalb eines Moments an die richtige Stelle gerückt und danach wieder zurück gelegt werden. Es gibt aber noch eine weitere Schwierigkeit. Irgendjemand muss die Gesamtsumme auf der Karte lesen, sodass die Maschine ihr errechnetes Ergebnis hinzufügen kann. Es ist durchaus denkbar, dass es sich bei den Karten um Trockenfotografien von der Art, wie ich sie beschrieben habe, handeln wird. Vorhandene Gesamtsummen könnten dann mithilfe einer Fotozelle gelesen und die neue Gesamtsumme durch einen Elektronenstrahl eingegeben werden. Diese Karten könnten so winzig sein, dass sie wenig Platz einnehmen würden. Sie müssten schnell bewegt werden. Sie bräuchten nicht weit transportiert, sondern lediglich in eine Position gebracht werden, in der die

6 | ENIAC, der erste Computer, arbeitete mit thermionischen Röhren, das sind Bilderfassungsbausteine (Anm. d. Hg.).

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Wie wir denken werden (1945) | 119 Fotozelle und das Aufnahmegerät mit ihnen arbeiten könnten. Durch dafür vorgesehene Markierungen könnten die Daten eingefügt werden. Am Ende des Monats könnte eine Maschine die Daten lesen und eine normale Rechnung drucken. Bei Auswahl mittels Röhrentechnik, bei der die Schalter keine mechanischen Teile beinhalten, würde es nur wenig Zeit in Anspruch nehmen, um die richtigen Karten in Gebrauch zu nehmen – eine Sekunde sollte dabei für den gesamten Vorgang genügen. Wenn dies erwünscht wäre, könnte die gesamte Aufzeichnung statt durch optische Abtastung der Punkte durch magnetische Punkte auf einer Stahlplatte hergestellt werden, ganz dem Verfahren folgend, mit dem Poulsen7 vor langer Zeit Sprache auf einen Magnetdraht übertragen hat. Der Vorteil der Methode liegt darin, dass sie einfach ist und Aufzeichnungen leicht wieder gelöscht werden können. Indem man das gleiche Verfahren wie beim Fernsehen anwendet, kann man mithilfe der Fotografie jedoch eine Projektion der Aufzeichnungen in vergrößerter Form und auf größere Distanz erreichen. Schnelle Selektionsverfahren dieser Art sowie Projektion über Distanz können auch zu anderen Zwecken eingesetzt werden. Die Möglichkeit, eine von einer Millionen Seiten in Sekundenschnelle einem Benutzer zugänglich zu machen, noch dazu mit der Möglichkeit, bestimmte Notizen hinzuzufügen, ist verlockend. Es könnte vielleicht sogar zu einer Anwendung in Bibliotheken kommen, aber das ist eine andere Geschichte. Auf jeden Fall gibt es derzeit interessante Kombinationsmöglichkeiten. So könnte man zum Beispiel in ein Mikrophon hinein sprechen, das mit einer sprachkontrollierten Schreibmaschine, wie ich sie zuvor beschrieben habe, verbunden ist, und so eine Auswahl treffen. Es würde sicher den herkömmlichen Registraturangestellten übertreffen.

V. Das eigentliche Problem bei der Datenselektion ist aber nicht allein die Verzögerung, mit der diese Hilfsmittel in den Bibliotheken zur Anwendung kommen, oder die schleppende Entwicklung von entsprechenden Benutzervorrichtungen. Der Zugang zu den Aufzeichnungen wird vor allem durch die ›Künstlichkeit‹ der Indizierungssysteme erschwert. Wenn Daten in ein Archiv aufgenommen werden, werden sie alphabetisch oder numerisch registriert und man findet (wenn überhaupt) die Information nur wieder, indem man Unterabteilung für Unterabteilung durchgeht. Die gesuchte Information kann sich nur an einer einzigen Stelle befinden, außer es werden Duplikate benutzt; es bedarf einiger umständlicher Re-

7 | Valdemar Poulsen (1869-1942) war ein dänischer Physiker und Ingenieur, dem 1904 zum ersten Mal eine Sprechverbindung über Funk gelang. Dies bildete die Grundlage für die heutige Radio- und Funktechnik (Anm. d. Hg.).

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120 | Vannevar Bush geln, um zu wissen, welcher Pfad zur gewünschten Information führt. Zudem muss man, wenn man eine Information gefunden hat, das System verlassen und für die nächste Suche wieder neu beginnen. Das menschliche Gehirn funktioniert anders. Es arbeitet mit Assoziation. Sobald es eine Information erfasst hat, greift es schon nach der nächsten, die sich durch gedankliche Assoziation anbietet – gemäß eines komplizierten Netzes von Pfaden, das über die Gehirnzellen verläuft. Das menschliche Gehirn hat natürlich auch noch andere Eigenschaften: Selten genutzte Pfade neigen dazu zu verblassen, einzelne Informationen bleiben nicht unbedingt vollständig, die Erinnerung ist flüchtig. Aber die Geschwindigkeit der Prozesse, die Komplexität der Pfade und die Detailliertheit der gedanklichen Bilder sind beeindruckender als alles andere in der Natur. Die Menschheit kann nicht vollständig darauf hoffen, diesen geistigen Prozess künstlich zu reproduzieren, aber gewiss ließe sich daraus lernen. In Kleinigkeiten könnten sich die Menschen sogar verbessern, denn die Aufzeichnungen sind relativ beständig. Die erste Idee, die sich aus dieser Analogie ergibt, betrifft die Auswahl. Auswahl, nicht durch Katalogisierung, sondern durch Assoziation könnte mechanisiert werden. Wir können nicht darauf hoffen, so die Geschwindigkeit und Flexibilität, mit der der menschliche Geist assoziativen Pfaden folgt, zu erreichen, aber im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit und Klarheit der aus dem Archiv hervorgeholten Informationen sollte es möglich sein, den Verstand deutlich einzuholen. Stellen Sie sich ein künftiges Hilfsmittel zum persönlichen Gebrauch vor, eine Art mechanisiertes privates Archiv oder Bibliothek. Es braucht einen Namen – und ich denke, fürs erste wird ›Memex‹ genügen. Ein Memex ist ein Gerät, in dem ein Einzelner all seine Bücher, Akten und seine gesamte Korrespondenz speichert. Es ist so konstruiert, dass es mit außerordentlicher Geschwindigkeit und Flexibilität benutzt werden kann. Es handelt sich um eine Art vergrößerte, gründliche Ergänzung zum Gedächtnis. Es besteht aus einer Art Schreibtisch, an den sich der Benutzer zum Arbeiten setzt, obgleich er es vermutlich auch aus einer gewissen Entfernung bedienen kann. Oben befinden sich schräge durchscheinende Bildschirme, auf die das Material bequem lesbar projiziert werden kann. Es gibt eine Tastatur und eine Reihe von Knöpfen und Hebeln. Ansonsten sieht es wie ein gewöhnlicher Schreibtisch aus. Auf der einen Seite befindet sich das gespeicherte Material. Das Problem des Datenumfangs wird durch verbesserte Mikrofilme gelöst. Nur ein kleiner Teil im Inneren des Memex dient der Speicherung, der Rest bleibt für den Mechanismus selbst. Auch wenn ein Benutzer pro Tag 5000 Seiten Material ablegen würde, würde es Hunderte von Jahren dauern, das Magazin zu füllen; also kann er verschwenderisch und großzügig Neues hinzufügen. Der Großteil der Datenmenge des Memex kann bereits gebrauchsfertig auf Mikrofilm erworben werden. Alle Arten von Büchern, Bildern, aktuel-

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Wie wir denken werden (1945) | 121 len Periodika, Zeitungen – alles kann in eine einheitliche Form gebracht und gespeichert werden. Die geschäftliche Korrespondenz funktioniert genauso. Auch für die Möglichkeit direkter Eingabe ist gesorgt. Auf der Oberfläche des Memex befindet sich eine transparente Walze, auf die alles mögliche aufgelegt wird – handschriftliche Aufzeichnungen, Fotografien, Mitteilungen oder Notizen. Nach dem Auflegen betätigt man einen Hebel und es wird eine Fotografie angefertigt, die auf dem nächsten leeren Segment des Memex-Films erscheint, wobei das Verfahren der Trockenfotografie zum Einsatz kommt. Selbstverständlich besteht auch die Möglichkeit, anhand üblicher Indizierungssysteme auf das Archiv zuzugreifen. Wenn der Benutzer ein bestimmtes Buch zu Rate ziehen will, gibt er den dazugehörigen Code über die Tastatur ein und sofort erscheint die Titelseite des Buchs vor ihm, projiziert auf eine der Ansichtsflächen. Häufig benutzte Codes wird der Benutzer sich merken, sodass er selten im Codebuch nachschlagen wird; wenn er es doch einmal tut, wird es durch Drücken einer einzigen Taste für ihn projiziert. Dem Benutzer stehen noch weitere Hebel zur Verfügung. Wenn man einen dieser Hebel nach rechts schiebt, kann er in dem Buch, das gerade vor ihm liegt, blättern, dabei erscheinen die Seiten in einem Tempo, das ihm gerade noch erlaubt, einen kurzen, orientierenden Blick darauf zu werfen. Wird der Hebel weiter nach rechts bewegt, steigert sich das Tempo, sodass zehn oder auch 100 Seiten auf einmal geblättert werden. Wenn man den Hebel nach links schiebt, kehrt sich der Vorgang um. Ein besonderer Knopf bringt den Benutzer sofort zur ersten Seite des Inhaltsverzeichnisses. Jedes Buch einer Bibliothek kann so erheblich leichter aufgerufen und betrachtet werden, als wenn man es aus dem Regal nehmen müsste. Da dem Benutzer mehrere Projektionsflächen zur Verfügung stehen, kann er einen Gegenstand projiziert lassen, während er einen weiteren aufruft. Durch eine mögliche Art der Trockenfotografie kann er Randnotizen und Kommentare hinzufügen und es könnte sogar eingerichtet werden, dass er dabei ein ähnlich mechanisiertes Schreibinstrument nutzt, wie es derzeit bei Teleautografen in Bahnhofswartesälen eingesetzt wird, ganz so, als hätte er die Buchseite tatsächlich vor sich.

VI. All dies ist konventionelle Technik, wenn man von der Projektion heute bereits existierender Geräte und Vorrichtungen in die Zukunft absieht. Es braucht aber noch einen weiteren Schritt zur assoziativen Indizierung, nämlich eine Vorrichtung, die einem ermöglicht, von jeder beliebigen Information automatisch und unmittelbar eine andere auszuwählen. Das ist eine wesentliche Eigenschaft des Memex. Das Verbinden von Informationen ist das Wichtigste. Wenn der Benutzer einen Pfad anlegt, benennt er ihn, trägt den Namen

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122 | Vannevar Bush ins Codebuch ein und gibt ihn über die Tastatur ein. Vor ihm befinden sich auf zwei nebeneinander liegenden Flächen die Informationen, die er verbinden will. Am unteren Rand befindet sich eine Zahl leerer Codestellen und für jede Information ist der Zeiger auf eine dieser Stellen gerichtet. Der Benutzer drückt eine einzige Taste und die Informationen werden dauerhaft verbunden. An der jeweiligen Codestelle erscheint die entsprechende Kennzeichnung. Die Codestelle enthält ebenfalls eine Reihe von Punkten, die nicht sichtbar sind, aber von Fotozellen gelesen werden können; und bei jeder Information verweisen diese Punkte durch ihre Position auf die Indexnummer der anderen Information. Später kann jederzeit, sobald eine Information sichtbar gemacht ist, die andere direkt abgerufen werden – einfach durch Knopfdruck unterhalb der entsprechenden Codestelle. Darüber hinaus können mehrere Informationen, die auf diese Weise zu einem Pfad verbunden worden sind, nacheinander schnell oder langsam angeschaut werden, ähnlich wie beim Durchblättern von Büchern. Es ist genau so, als wären die jeweiligen Artikel, Notizen, Bücher, Fotografien etc. leibhaftig aus weit entfernten Quellen zusammengetragen und zu einem neuen Buch verbunden worden. Es geht sogar darüber hinaus, denn jede Information kann so zu einem Teil unzähliger Pfade werden. Nehmen wir einmal an, der Besitzer des Memex interessiere sich für Ursprung und Eigenschaften von Pfeil und Bogen. Insbesondere beschäftigt er sich damit, wieso der kurze türkische Bogen bei den Gefechten der Kreuzzüge dem englischen langen Bogen offensichtlich überlegen war. Er hat Dutzende von Büchern und Artikeln in seinem Memex gespeichert, die für dieses Thema relevant sein könnten. Zunächst blättert er in einer Enzyklopädie, findet einen interessanten, aber skizzenhaften Eintrag und lässt ihn projiziert stehen. Als nächstes findet er in einem historischen Werk einen weiteren wichtigen Eintrag und verbindet die beiden miteinander. Auf diese Weise baut er einen Pfad mit diversen Einträgen auf. Hin und wieder fügt er einen eigenen Kommentar hinzu, verbindet ihn entweder mit dem Hauptpfad oder verknüpft ihn über einen Seitenpfad mit einem bestimmten anderen Eintrag. Wenn deutlich wird, dass die Elastizität der verfügbaren Materialien einen großen Einfluss auf den Bogen hat, erstellt er einen Seitenpfad, der ihn durch Fachliteratur über Elastizität und Tabellen konstanter Größen führt. Er fügt eine Seite mit seiner eigenen, handschriftlichen Analyse hinzu. So erstellt er einen Pfad, der seinem Interesse entsprechend durch das Labyrinth des zur Verfügung stehenden Materials führt. Und diese Pfade verblassen nicht. Jahre später beschäftigt er sich in einem Gespräch mit einem Freund mit der seltsamen Neigung der Menschen, sich Erneuerungen zu verweigern, selbst wenn sie entscheidend sind. Er verfügt über ein Beispiel, nämlich die Tatsache, dass die unterlegenen Europäer sich weigerten, den türkischen Bogen zu übernehmen. Und er verfügt über den entsprechenden Pfad. Das Codebuch erscheint auf Knopfdruck. Ein paar Tasten werden gedrückt und schon erscheint der

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Wie wir denken werden (1945) | 123 Anfang des Pfads auf der Projektionsfläche. Durch Betätigung der Hebel durchwandert man den Pfad, hält bei interessanten Einzelheiten inne, unternimmt Exkurse über Seitenpfade. Es ist ein interessanter und für die Diskussion relevanter Pfad. Also schaltet der Benutzer die Reproduktionsvorrichtung ein, fotografiert den gesamten Pfad ab und überreicht ihn seinem Freund, der ihn in seinen eigenen Memex integrieren kann, um ihn dort mit einem allgemeineren Pfad zu verbinden.

VII. Es werden ganz neue Arten von Enzyklopädien entstehen, bereits versehen mit einem Netz assoziativer Pfade, bereit dafür, in den Memex aufgenommen und dort erweitert zu werden. Anwälte erhalten auf Tastendruck die gesammelten Gutachten und Entscheidungen ihres gesamten Berufslebens und die ihrer Freunde und anderer Autoritäten. Patentanwälte können auf Hunderttausende von vergebenen Patenten zurückgreifen, mit vertrauten Pfaden zu jedem Punkt, der für ihre Klienten von Interesse sein könnte. Ärzte, verwundert über die Reaktionen ihrer Patienten, verfolgen einen Pfad, den sie bei der Untersuchung eines vorangegangenen, ähnlich gelagerten Falls, angelegt haben und können rasch andere Fallgeschichten durchgehen, mit Verweisen auf relevante Klassiker der Anatomie und Histologie. Chemiker, die sich mit der Synthese einer organischen Verbindung abmühen, haben die gesamte Fachliteratur in ihrem Labor vor sich, mit Pfaden, die Analogien zwischen Verbindungen darstellen und mit Seitenpfaden über deren physikalische und chemische Eigenschaften. Historiker nehmen die ausführlichen Chronologien eines Volkes und verbinden diese mit Pfaden, die nur die wichtigsten Punkte auswählen und die einen über andere existierende Pfade durch die gesamte Zivilisation einer bestimmten Epoche führen. Es entsteht ein neuer Berufszweig von ›Wegbereitern‹, denen es Freude bereitet, nützliche Pfade für die ungeheuere Menge an Aufzeichnungen und Dokumenten anzulegen. Das Erbe eines Meisters besteht nicht nur in den eigenen Ergänzungen zu den vorhandenen Aufzeichnungen, sondern darin, dass er seinen Schülern das gesamte Gerüst hinterlässt, mit dessen Hilfe sie entstanden sind. Auf diese Weise könnte die Wissenschaft Werkzeuge bereitstellen, mit denen sie Aufzeichnungen herstellen, speichern und nutzen kann. Es könnte vielleicht eindrucksvoller sein, die Möglichkeiten der Zukunft spektakulärer darzustellen, statt sich, wie hier geschehen, an bereits bekannte und sich schnell weiterentwickelnde Methoden und Elemente zu halten. In der Tat habe ich alle möglichen Arten von technischen Schwierigkeiten ignoriert, aber ebenso habe ich Mittel nicht in Betracht gezogen, die derzeit noch unbekannt sind und jeden Tag auftauchen könnten und dann den technischen Fortschritt so beschleunigen würden wie seinerzeit die Elektronenröhre. Damit das an vorhandenen Mustern orientierte Bild nicht zu selbstverständlich wird, sollte ich vielleicht eine zusätzliche Möglichkeit

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124 | Vannevar Bush erwähnen, nicht um der Prophezeiung willen, sondern nur als Vorschlag, denn Prophezeiungen haben nur Substanz, wenn sie auf dem Weiterdenken des Bekannten beruhen – solange sie sich aber auf Unbekanntes gründen, bleiben sie umständliche Vermutungen. Alle Schritte, die wir bei der Aufzeichnung und Verwertung von Material machen, haben mit einem der Sinne zu tun – dem Tastsinn beim Berühren der Tasten, dem Hörsinn beim Sprechen oder Zuhören, dem Sehsinn beim Lesen. Wäre es nicht möglich, dass dies eines Tages auf sehr viel direkterem Wege geschieht? Wir wissen, dass wenn das Auge etwas sieht, jede darauf folgende Information durch elektrische Vibration im Kanal des Sehnervs an das Gehirn übertragen wird. Dies ist eine genaue Analogie zu den elektrischen Vibrationen, die im Kabel eines Fernsehers vorkommen: Sie übermitteln das Bild von der Fotozelle, die es wiederum vom Sender aufnimmt. Wir wissen außerdem, dass wir das Kabel, wenn wir es mit entsprechenden Instrumenten berühren können, nicht anzufassen brauchen; wir können diese Vibrationen durch elektrische Induktion aufnehmen und so die Szene entdecken und reproduzieren, die gerade übertragen wird, so wie auch ein Telefonkabel angezapft werden kann. Die in den Armnerven einer Schreibkraft verlaufenden Impulse übermitteln dem Finger die Information, die ihre Augen oder Ohren erreicht, sodass die Finger die richtigen Tasten drücken. Könnten diese Strömungen nicht abgefangen werden, entweder in ihrem ursprünglichen Zustand, mit dem Informationen ans Gehirn übermittelt werden, oder in einer fabelhaft veränderten Form, mit der sie dann in die Hand weitergeleitet werden? Es ist bereits möglich, über die Knochen Geräusche in die Nervenkanäle von Gehörlosen zu leiten, damit diese hören können. Wäre es nicht denkbar, dass wir lernen, dies auf weniger umständliche Art zu tun? Indem wir erst elektrische Vibrationen in mechanische umwandeln, die der menschliche Organismus dann prompt wieder in die elektrische Form zurückverwandelt? Mit ein paar am Schädel befestigten Elektroden kann heutzutage ein Enzephalograf Tintenspuren produzieren, die in einer gewissen Beziehung zu den elektrischen Phänomenen stehen, die im Hirn selbst vor sich gehen. Es stimmt: Diese Aufzeichnungen sind, abgesehen von der Feststellung grober Fehlfunktionen im Gehirn, nicht lesbar, aber wer vermag zu sagen, wo die Grenzen solcher Entwicklungen liegen mögen? In der äußeren Welt sind bereits alle Formen von Informationen, ob akustisch oder visuell, auf variierende Spannungen im Stromkreis reduziert worden, damit sie übermittelt werden können. Im Inneren des menschlichen Körpers finden ganz ähnliche Prozesse statt. Werden wir immer auf die Übersetzung mechanischer Bewegungen angewiesen sein, um eine Verbindung von einem elektrischen Phänomen zum anderen herzustellen? Dies ist ein anregender Gedanke, aber es lassen sich kaum Vorhersagen treffen, ohne den Boden der Realität unter den Füßen zu verlieren. Man sollte annehmen, dass es die Stimmung des Menschen heben wird, besser imstande zu sein, seine dunkle Vergangenheit zu über-

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Wie wir denken werden (1945) | 125 blicken und seine augenblicklichen Probleme vollständiger und objektiver zu analysieren. Die Menschheit hat eine so komplizierte Zivilisation errichtet, dass sie ihre Aufzeichnungen besser mechanisieren muss, wenn sie dieses Experiment zu einem logischen Schluss führen und nicht auf halbem Wege stecken bleiben will, weil ihre beschränkte Erinnerungsfähigkeit überlastet ist. Die Entwicklungen des Menschen könnten angenehmer verlaufen, wenn er das Privileg erlangen könnte, all die Dinge zu vergessen, die er nicht unmittelbar benötigt, ohne dabei befürchten zu müssen, dass sich diese Dinge nicht wiederfinden lassen, wenn sie sich als wichtig erweisen. Die Anwendung der Wissenschaft hat der Menschheit ein gut ausgestattetes Haus gebaut und sie gelehrt, gesund darin zu leben. Sie hat Massen von Menschen in die Lage versetzt, einander mit grausamen Waffen zu bekriegen. Es steht noch aus, dass die Wissenschaft den Menschen hilft, sich die großartigen Aufzeichnungen wirklich zu Nutze zu machen und an der Weisheit ihrer Erfahrung zu wachsen. Vielleicht wird die Menschheit im Konflikt untergehen, bevor es ihr gelingt, diese Aufzeichnungen zu ihrem Nutzen einzusetzen. Es scheint jedoch, als sei dies ein ausgesprochen unglücklicher Zeitpunkt, um die Nutzbarmachung der Wissenschaft im Dienste des Menschen zu beenden oder die Hoffnung auf ein positives Ergebnis aufzugeben. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Susanna Noack

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126 | Timothy Leary

Das interpersonale, interaktive, interdimensionale Interface (1991) Timothy Leary

Ihr Interface-Hexer aus dem Silicon Valley, ihr wisst eine Menge über die Bahnen, auf denen sich Elektronen durch integrierte Schaltkreise schlängeln, und ihr visiert langsam Möglichkeiten an, wie man mittels Software Kathedralen aus Abstraktionen baut, und immer mehr von euch machen sich die Mühe, etwas über menschliche Wahrnehmungs- und Erkenntnissysteme zu lernen. Ich würde euch gern zu bedenken geben, dass es klug wäre, sich im Voraus zu überlegen, was passiert, wenn ihr für Millionen von Menschen eine ganz neue Bewusstseinsdimension eröffnet – ein Geschäft, das ich seit gut 35 Jahren betreibe. Heute lerne ich genau wie ihr, wie man mittels Computersoftware das Bewusstsein erweitert und die Intelligenz erhöht. Gemeinsam mit einem Team von Programmierern, Künstlern und Denkern entwickelte ich neue maschinelle Hilfen, Denkhilfen und Lernhilfen für Menschen, die mit PC arbeiten. Vor kurzem ist mir klargeworden, dass der Entwicklungsstand der Schnittstelle Mensch/Computer von 1989 den Entwicklungsstand der Psychologie von 1959 widerspiegelt, als meine Kollegen und ich anfingen, Neurotransmitter zur Aktivierung und Umprogrammierung des menschlichen Gehirns einzusetzen. Genau wie Professor Richard Alpert1 und ich die bewusstseinsverändernden Eigenschaften von LSD untersuchten, nachdem wir Theologiestudenten, Künstler, Gefängnisinsassen und uns selbst damit »aufgeladen« hatten, sind die heutigen Schnittstellendesigner im Begriff, nicht minder

1 | 1960 lernt Timothy Leary an der Harvard University den Psychologen Richard Alpert kennen, zu dem er eine lang andauernde Freundschaft aufbaut. Alpert ist Co-Autor vieler späterer Werke von Leary zum Thema Bewusstseinserweiterung durch Drogen, wird 1967 auf einer Pilgerfahrt nach Indien zu einem Anhänger des Hindu-Guru Neem Karoli Baba. Alpert selbst nimmt später den Namen Ram Dass an, unter dem er auch einige New-Age-Bücher schrieb (Anm. d. Hg.).

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Das interpersonale Interface (1991) | 127 ungeahnte Veränderungen im Bewusstsein der Menschen auf der ganzen Welt zu entfesseln, indem sie ihnen ein Werkzeug zur Erweiterung der Kraft ihrer Intellekte geben. Die Veränderungen, die die Computerschnittstellen von morgen in den Intellekten von Millionen von Menschen auslösen werden, sind gut und notwendig, wenn man bedenkt, dass wir zur Zeit in unserem Wettrennen gegen die Vernichtung in die Zielgerade einbiegen. PC, die sich in weniger als einem Menschenleben von Geräten zu Gefährten auswachsen, sind Teil einer allumfassenden Beschleunigung der biosphärischen Systeme auf ihrem Weg dahin, das nötige Bewusstsein zur Übernahme der Steuerungsfunktion auszubilden. Der Zeitschaltkreis resoniert mit dem Nervenschaltkreis, dem Kommunikationsschaltkreis, dem Rechenschaltkreis, und der ganze Planet erwacht im allerletzten Moment zu sich selbst. Ich kann euch aus Erfahrung sagen, dass die kulturelle Beschleunigung, die mit der Entfesselung von so viel Bewusstsein einhergeht, ungeheuer ist. Die zwei großen Niederknüppler der menschlichen Natur – Leugnung und Abwehr – kommen jedes Mal ins Spiel, wenn die Menschen dazu aufgerufen sind, die Fundamente ihrer Wirklichkeit zu verändern. Viel Energie wird sehr schnell freigesetzt, wenn eine psychedelische oder eine kybernetische Schnittstelle zum Hyperraum den Anstoß zu so einem grundlegenden Wandel gibt. Es hilft, wenn man darauf vorbereitet ist. Ich sage voraus, dass, wenn Schnittstellen im Hinblick auf interpersonale Kommunikation entwickelt werden, die Informationstechniken der nächsten zehn Jahre verstärkte individuelle Intellekte zu einem globalen Gruppenintellekt verbinden werden. Interaktivität ist interpersonal. Wenn die Computerhardware, die multimediale Speicherung, die Darstellungstechnik und die Kommunikationsnetze der nahen Zukunft die kritische Masse erreichen, werden wir alle unsere Computer, uns selbst und andere in einer völlig neuen Weise begreifen müssen. Der Personal Computer ist dabei, zum Interpersonal Computer zu werden. In ähnlicher Weise mussten Psychologen ihr Gebiet ganz neu ins Auge fassen, als meine Forschungen die Entwicklung der Psychotherapie in eine unerwartete neue Dimension katapultierten. Für die meisten Menschen sind die Ereignisse, die Anfang der sechziger Jahre im psychologischen Fachbereich der Harvard University begannen, Teil eines aufregenderen kulturgeschichtlichen Anstoßes zum Erwachen unserer Spezies. Designer von Computerschnittstellen wissen vielleicht nicht, dass diese Ereignisse damals auch einen Wendepunkt in der psychotherapeutischen Theorie markierten. Die Entstehung des Gedankens der Interaktivität, wie Designer von Computerschnittstellen ihn gebrauchen, stellt eine Parallele zur Entstehung des Gedankens der Interpersonalität auf dem Gebiet der Psychologie dar. Beide Begriffe hängen mit sehr breiten und tiefen unwiderruflichen Veränderungen in der Stellung der Menschen zur Welt zusammen. Als ich in den fünfziger Jahren anfing, neue Tendenzen in der Psychologie zu erforschen, deutete sich eine neue Evolutionsrichtung des wissenschaftlichen Denkens gerade erst an. Insbesondere die Geschichte des

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128 | Timothy Leary psychotherapeutischen Prozesses hatte seit der Zeit Freuds revolutionäre Veränderungen gesehen, gerade im Hinblick auf die Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Der klassische freudianische Psychoanalytiker sitzt hinter dem Analysanden, und dieser liegt auf einer besonderen Couch, wie Psychoanalytiker sie gern benutzen, und monologisiert vor sich hin. Meine ersten vagen Überlegungen gingen dahin, dass die Zukunft in einem neuen Verständnis des Systems liegt, das den untersuchten Patienten, den beobachtenden Therapeuten, ihre Umgebung und sogar ihre Weltanschauungen umfasst. Ich wusste, dass die Gestalt-Bewegung in der Psychologie menschliche Wahrnehmungen und Beziehungen in Form eines Feldes darstellte. Und ich war mir über die Implikationen der Heisenberg’schen Unschärferelation im Klaren: Als Wissenschaftler können wir nicht mehr davon ausgehen, dass unsere Beobachtungen sich gegenüber den von uns beobachteten Systemen strikt neutral verhalten. Ein Physiker schießt Atome durch einen Linearbeschleuniger und zerbricht sie in andere Atome. Ein Anthropologe kommt in ein Dorf. Ein Psychotherapeut setzt sich hin und hört einem Patienten zu. Aber das Atom, die Kultur oder die Persönlichkeit unter Beobachtung ist nicht identisch mit dem Atom, der Kultur oder der Persönlichkeit, wenn diese nicht unter Beobachtung stehen. Die Teile des Systems, die das System beobachten, verändern durch ihren Akt der Beobachtung auch das System. Auf dem Gebiet der Psychotherapie ergibt sich daraus, dass der Therapeut und der Patient, der Analytiker und der Analysand Teile eines Gesamtfeldes sind. Der schockierende Gedanke, dass der Patient den Therapeuten verändern kann, wird für das Verständnis der Transaktionen, die in der Psychotherapie stattfinden, nicht nur zulässig, sondern unabdingbar. In den vierziger Jahren bemerkte Harry Stack Sullivan von der Washington School of Psychiatry, dass Ärzte ungeachtet der Vorstellung, sie untersuchten oder behandelten den Patienten, sich innerhalb eines Feldes bewegen, dessen Natur in sehr hohem Maße von dem Denken und Verhalten des Patienten bestimmt wird. Meine Doktorarbeit in Berkeley aus dem Jahre 1950, die später auch als Buch erschien, hatte den Titel »Interpersonal Diagnosis of Personality«2 und enthielt eine Erweiterung des Sullivan’schen Modells. Nach Harvard berufen wurde ich zum Teil wegen eines Manuskripts namens »The Existential Transaction«, das ich geschrieben hatte. Professor David McClelland, der damalige Leiter des Zentrums für Persönlichkeitsforschung in Harvard, wollte wissen, was der Titel zu bedeuten habe. Ich erklärte, mit »existentiell« meinte ich, dass Psychologen mit den Leuten in Situationen des wirklichen Lebens arbeiten sollten, so wie ein Naturforscher in der freien Natur. Wir sollten die Leute so behandeln, wie sie tatsächlich sind, und ihnen nicht das ärztliche Modell oder sonst ein Modell

2 | Timothy Leary: Interpersonal Diagnosis of Personality, New York 1957 (Anm. d. Hg.).

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Das interpersonale Interface (1991) | 129 aufnötigen. Ich erklärte, mit dem Wort »Transaktion« wollte ich sagen, dass die Psychologen sich nicht wie bisher von ihren Patienten abkapseln sollten. Sie sollten sich auf die Ereignisse, die sie untersuchen, einlassen, daran teilnehmen. Sie sollten in jedes Experiment mit der Bereitschaft hineingehen, sich genauso viel zu verändern wie die untersuchten Personen – oder noch mehr. Daraufhin stellte er mich ein. Meine Suche führte mich über die Mauern von Harvard und die Grenzen der akademischen Psychologie hinaus. Doch einige meiner Ausgangshypothesen bestechen mich immer noch. Und ich glaube, die interpersonale Art der Beschäftigung mit menschlichen Intellekten und menschlichen Beziehungen wird sich in der Zukunft als ein Schnittstellenwerkzeug von großer Wichtigkeit herausstellen. Nach dem Schreiben meiner Doktorarbeit dauerte es 35 Jahre, bis ich die richtige Technik gefunden hatte, um diese interpersonalen, interaktiven Felder, die ich erstmals in Berkeley postuliert hatte, tatsächlich zu sehen. Die heute für die Computer von morgen entworfenen Schnittstellen werden die Frage wieder ganz oben auf die Tagesordnung setzen. Als die Druckerpresse es den Leuten außerhalb der Eliten ermöglichte, lesen und schreiben zu lernen, wurde das Alphabet eine befreiende Kraft. Aber zunächst einmal scheint jede Sprache, von Alphabeten bis zu Computersprachen, als Werkzeug einer Elite gebraucht zu werden, die verhindern will, dass die große Masse der Bevölkerung eine solche Freiheit genießt. Das phönizische Alphabet wurde erfunden, um Informationen vor griechischen Kaufleuten und anderen Rivalen zu verhehlen. Jedes Mal, wenn ich dieses Alphabet auf einer Tastatur sehe, starrt mir eine Phalanx phönizischer Soldaten entgegen. Man sieht den Ausdruck des Triumphs auf dem Gesicht eines DOS-Hexers, wenn seine Finger hurtig eine lange Schlange alphabetischer Befehle eintippen. Diese DOS-Hexer lächeln oft im Stillen, weil sie ihre verborgene Macht, die geheimen Befehle zu geben, demonstrieren. Die Maus ist eine Guerillawaffe, ein Ausweichmanöver, um den phönizischen Hütern des Codes zu entkommen. Nichtprogrammierer können sich dem Allerheiligsten nähern, das ursprünglich für den ausschließlichen Gebrauch der programmierenden Priesterschaft bestimmt war. Und der Bildschirm selbst ist das entscheidende Schlachtfeld in der revolutionären Befreiung menschlicher Intellekte geworden, die mit der Revolution in der Schnittstellenentwicklung einhergeht. Der Bildschirm ist der Ort, wo das interpersonale, interaktive Bewusstsein des Weltintellekts zum Vorschein kommt. Der Bildschirm ist der Ort, wo die lebendige Wahrnehmung den Informationsausstoß der Cyberware spontan und intuitiv erfasst. Der Bildschirm ist der Ort, wo die Intellekte von morgen sich spiegeln, sich begegnen, das Universum des Wissens betreten werden. Der Bildschirm ist das Fenster in die Infowelten, die sich bereits zu dem 1974 von Ted Nelson3 konzipierten Hypernetz entwickeln,

3 | 1965 wird der Begriff »Hypertext« durch Ted Nelson geprägt, mit dem er

2007-03-26 15-01-38 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 126-131) T02-02 leary.p 142895397208

130 | Timothy Leary zu der 1984 vom Cyberpunk-Barden William Gibson4 prophezeiten Matrix. Wir wissen, dass es bald umwälzende technische Veränderungen darin geben wird, was wir auf Bildschirmen sehen und wie wir mit ihnen interagieren: Glasfaserkabel, die Milliarden Bytes Information in der Sekunde übertragen, extrem scharfe Fernsehbildschirme, globale Computerkonferenzen mit interaktiven Multimedien, Speichermedien, mit denen man die ganze Kongressbibliothek in der Hosentasche herumtragen kann, Supercomputer in der Armbanduhr, aufsetzbare Displays und virtuelle Wirklichkeiten kommen mit Höchstgeschwindigkeit auf uns zugedonnert. Eines Tages werden die Bildschirme, mit denen die meisten Leute den ganzen Tag zu tun haben, groß, schnell und hochauflösend genug sein, um unsere Aufmerksamkeit stärker zu fesseln, als es heute die Glotze tut. Wichtiger noch: Wenn wir zu diesen neuen Bildschirmen etwas sagen, werden sie uns antworten. Die heute vorhandenen Systeme zur Verarbeitung von Daten und Kommunikationen sind ein bisschen interaktiver als früher, aber nicht so interaktiv, wie sie einmal sein werden – und dieser Unterschied wird nicht graduell sein, sondern in der Lage, Paradigmen zu sprengen. Ein Platzreservierer einer Luftfahrtgesellschaft kann ohne weiteres eine Verbindung mit dem Großrechner herstellen, Daten lesen und Daten eingeben, um eine Reise vorzubuchen. Aber er ist nicht imstande, eine Verbindung mit seinem eigenen Intellekt herzustellen oder mit einer virtuellen Gemeinschaft anderer Intellekte. In diversen Ecken der Szene jedoch bauen Leute Denkwerkzeuge und Cyberspace-Gemeinschaften, und sie sind Vorboten einer Interaktivität, wie sie die ganze Bevölkerung im Laufe der nächsten 20 Jahre erleben wird. Der Computerbildschirm ist ein Gerät, mit dem wir herausfinden können, wie wir die Kraft unserer Intellekte am besten einsetzen. Er ist auch ein Mittel, um mit anderen Intellekten Kontakt aufzunehmen. Er ist sowohl interaktiv als auch interpersonal. Er ist ein Werkzeug zur Verstärkung des Bewusstseins Einzelner und zur Erleichterung interpersonaler Beziehungen zwischen anderen Menschen. Bis jetzt sind unsere Kommunikationstechniken »dumm« gewesen, weil sie nur spezifizierte Informationen hin- und hersenden konnten. Bald werden Softwarehändler und intelligente Netzwerke uns herausfinden helfen, mit wem wir kommunizieren wollen, und die Terabytes von Daten

ein nicht-sequentielles Schreiben und Lesen definierte. 1968 entwickeln Nelson und Andries van Dam das Hypertext Editing System (HES) an der Brown University (Anm. d. Hg.). 4 | William Ford Gibson ist ein US-amerikanischer Science-Fiction-Autor. Bekannt wurde er mit seinem 1984 publizierten Roman »Neuromancer«, in dem er den Begriff »Cyberspace« prägte, der noch immer häufig für elektronische Netze wie das World Wide Web verwendet wird. Auch der Begriff der »Matrix«, welche durch ein globales Informationsnetzwerk gebildet wird, etablierte Gibson in »Neuromancer« (Anm. d. Hg.).

2007-03-26 15-01-38 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 126-131) T02-02 leary.p 142895397208

Das interpersonale Interface (1991) | 131 nach denjenigen durchsieben und durchstöbern, die jeden von uns ganz persönlich interessieren. Die Macintosh-Schnittstelle war die erste, die den Nichtprogrammierer in das Intellektverstärkerspiel einbezog. Jetzt müssen wir uns in einem größeren System zusammenfinden, das die ganzen verstärkten Intellekte in der richtigen Weise verbindet. Die Software der Zukunft und die Schnittstellen zwischen Einzelnen und der Matrix werden so konstruiert sein, dass die Menschen mit ihrem eigenen Intellekt und miteinander interagieren können. Und diese Systeme müssen so gebaut sein, dass sie sich in dem Maße verändern und weiterentwickeln, in dem die Systeme und die Intellekte voneinander lernen. Immer mehr Leute werden in den nächsten Jahren über Bildschirme miteinander interagieren. Die Techniken warten seit langem schon hinter den Kulissen. Doug Engelbarts5 Labor benutzte in den sechziger Jahren gemeinsame Bildschirme (und Bildschirme, die Video mit Computeranzeigen verbanden). COLAB von Xerox PARC war ein Schritt dahin, einen Bildschirm gemeinsam zu steuern, um einen Ort zu schaffen, wo Intellekte interagieren können. Computerkonferenzen, elektronische Post und »schwarze Bretter« bilden bereits eine Kommunikationssubkultur – Hunderttausende benutzen schon Computerbildschirme als Eingang in andere Intellekte. Es ist gut, dass Schnittstellendesigner Kognitionspsychologen in ihr Projekt einbeziehen, aber ich glaube, es wäre noch viel besser, wenn sie auch die Ressourcen der Sozialpsychologie anzapfen würden. Das Personal Computer Interface geht davon aus, wie Einzelne mit Gedanken und Informationen umgehen; das Interpersonal Computer Interface wird davon ausgehen, wie die Menschen miteinander kommunizieren. Um das ganze Potential des mitmenschlichen Modells auszuschöpfen, wird es einer starken neuen interpersonalen Perspektive bedürfen. Gemeinsame Bildschirme könnten ein Weg sein, die Beziehungen zu repersonalisieren, die durch dumme Technologien wie die Glotze depersonalisiert worden sind. Hier bietet sich eine Riesenchance, eine kulturelle Hebelwirkung auszuüben. Das richtige Schnittstellendesign kann sich das wachsende Kommunikationsnetz der Welt zunutze machen und unsere Bildschirme in Fenster verwandeln, die uns Einblick in andere Intellekte geben. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Hans-Ulrich Möhring

5 | Douglas Engelbarts Forschung befasste sich mit zahlreichen Aspekten der Mensch-Maschine-Interaktion, u.a. auch mit der Erweiterung des menschlichen Intellekts (Augmenting Human Intellect). 1962 hat er dazu eine bahnbrechende Studie mit dem Titel »Augmenting Human Intellect: A Conceptual Framework« veröffentlicht. Engelbarts berühmteste Erfindung ist die sogenannte Computermaus, die er am Stanford Research Institute Ende der 60er Jahre entwickelte (Anm. d. Hg.).

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132 | Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth, Alvin Toffler

Cyberspace und der amerikanische Traum. Auf dem Weg zur elektronischen Nachbarschaft: Eine Magna Charta für das Zeitalter des Wissens (1994) Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth, Alvin Toffler

Das zentrale Ereignis des 20. Jahrhunderts ist der Sturz der Materie. In Technik, Wirtschaft und Politik hat der Wohlstand in Form materieller Ressourcen an Bedeutung verloren. Überall gewinnen die Kräfte des Geistes die Oberhand über die rohe Macht der Dinge. In einer Ökonomie der »ersten Welle« sind der Boden und die Handarbeit die wichtigsten »Produktionsfaktoren«. In einer Ökonomie der »zweiten Welle« bleibt der Boden wertvoll, während sich die Arbeitskraft um Maschinen und Großindustrie massiert. In der Ökonomie der »dritten Welle« ist die zentrale Ressource – um es mit einem einzigen Wort zu benennen, das Daten, Informationen, Bilder und Symbole ebenso wie Kultur, Ideologie und Wertvorstellungen umfasst – das abrufbare Wissen. Das Industriezeitalter ist noch nicht zu Ende. Klassische Sektoren der »zweiten Welle« (Öl, Stahl, Autoproduktion) haben von den technologischen Errungenschaften der »dritten Welle« zu profitieren gelernt – sowie die landwirtschaftliche Produktivität der »ersten Welle« von der Technisierung der Landwirtschaft in der »zweiten Welle« exponentiell profitiert hat. Aber die »dritte Welle« und das Zeitalter des Wissens, das mit ihr angebrochen ist, werden ihre Potentiale nicht freisetzen, wenn ihre wachsende technologische und ökonomische Stärke sich nicht auch in gesellschaftlicher und politischer Dominanz niederschlägt. Das bedeutet: Ablösung von gesetzlichen Bestimmungen und sozialen Einstellungen, die der Phase der »zweiten Welle« angehören. In diesem Zusammenhang wächst den Politikern der fortgeschrittenen Demokratien eine besondere Verantwortung zu: den Übergang zu beschleunigen und zu erläutern. Wenn die Menschheit diese neue elektronische Grenze, die eine Wissensgrenze ist, erkundet, muss sie sich abermals der Frage stellen, wie sie sich im Hinblick auf das Gemeinwohl selbst organisieren soll. Begriffe wie

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Cyberspace und der amerikanische Traum | 133 Freiheit, Selbstverwaltung, Eigentum, Konkurrenz, Kooperation, Gemeinsinn und Fortschritt müssen für das Zeitalter des Wissens neu definiert werden, so wie sie vor 250 Jahren für das anbrechende Industriezeitalter neu definiert wurden. Die Vorstellungen, die man im 20. Jahrhundert mit dem »amerikanischen Traum« verbindet, entstammen den Turbulenzen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Jetzt liegt es an uns: Die Wissensrevolution und die »dritte Welle« des historischen Wandels, die von ihr mit Energie gespeist wird, fordern uns auf, diesen Traum und seine Verheißungen zu erneuern. Das Internet – jenes riesige (2,2 Millionen Computer umfassende), globale (135 Länder umspannende), schnell (um monatlich 10 bis 15 Prozent) anwachsende Netzwerk, das die Phantasie Amerikas so sehr beschäftigt – ist nur ein winziger Teil des Cyberspace. Was aber ist der Cyberspace? Das Wissen bewohnt den Cyberspace. Eher einem Ökosystem als einer Maschine gleichend, ist der Cyberspace eine bioelektronische Umwelt, die buchstäblich universal ist: Es gibt sie überall, wo Telefonleitungen, Koaxialkabel, Glasfaserleitungen oder elektromagnetische Wellen vorhanden sind. Diese Umwelt wird von Wissen »bewohnt«, das in elektronischer Form existiert. Mit der physischen Umwelt ist dieses Wissen durch Tore verbunden, die es den Menschen erlauben nachzusehen, was sich im Inneren befindet, Tore, durch die sie Wissen einspeisen, Wissen verändern und Wissen entnehmen können. Manche Tore sind nur in einer Richtung passierbar (etwa Fernsehgeräte und Fernsehsender); andere sind in zwei Richtungen durchlässig (etwa Telefone oder Computer-Modems). Der größte Teil des Wissens im Cyberspace ist nur sehr kurzfristig existent: In einem Telefondraht oder auf einer elektromagnetischen Welle wandert die Stimme mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum zum Ohr des Zuhörers und ist dann für immer verschwunden. Doch in zunehmendem Maße bauen die Menschen Cyberspace-Lagerhäuser für Daten und Wissen – Information und Falschinformation – in digitaler Form, zerlegt in die Einsen und Nullen des binären Computercodes. Diese Lagerhäuser haben eine bestimmte äußere Form (Disketten, Bänder, CD-ROMs), aber ihr Inhalt ist nur denen zugänglich, die das richtige Tor benutzen und den richtigen Schlüssel besitzen. Der Schlüssel ist die Software, eine spezielle Art von elektronischem Wissen, das es möglich macht, durch die Cyberspace-Umwelt zu navigieren, und das deren Inhalte den menschlichen Sinnen in Form von Schrift, Bild und Klang verständlich macht. Die Menschen bauen am Cyberspace – erschaffen ihn, umgrenzen ihn, erweitern ihn in einem Tempo, das rasch zunimmt. Schnellere Computer, billigere elektronische Speichermedien, verbesserte Software und leistungsfähigere Kommunikationskanäle (Satelliten, Glasfaserleitungen) – alle diese Elemente bauen jedes für sich am Cyberspace mit. Aber die eigentliche Ex-

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134 | Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth, Alvin Toffler plosion ergibt sich daraus, dass diese Elemente in einer Weise zusammenwirken, die wir noch gar nicht verstehen. Das Bild von der bioelektronischen »Grenze« ist eine treffende Metapher für das, was im Cyberspace vor sich geht. Es erinnert an den Erfinderund Entdeckergeist, der die alten Seefahrer bei der Erforschung der Erde vorwärts trieb, der Generationen von Pionieren dazu trieb, den amerikanischen Kontinent urbar zu machen und der in neuerer Zeit den Anstoß zur Erforschung des Weltraums gab. Die Erforschung des Cyberspace birgt größere Chancen, aber auch größere Herausforderungen als alle Abenteuer, auf die sich die Menschheit bisher eingelassen hat. Die »dritte Welle« hat weitreichende Auswirkungen auf das Wesen und die Bedeutung von Eigentum, Markt, Gemeinschaft und individueller Freiheit. Sie bildet neue Verhaltensformen aus, die jeden Organismus und jede Institution – Familie, Nachbarschaft, Kirchengemeinde, Firma, Regierung, Nation – unerbittlich über jede Standardisierung und über die materialistische Fixierung auf Energie, Geld und Kontrolle hinausdrängen. Die neuen Informationstechnologien stellen die Ökonomie der Massenproduktion völlig auf den Kopf: Sie treiben die Kosten der Vielfalt – der Produktvielfalt und der persönlichen Vielfalt – auf diese Weise gegen Null und »entmassen« unsere Institutionen und unsere Kultur. Die beschleunigte »Entmassung« birgt ein Potential für eine beträchtliche Erweiterung der menschlichen Freiheit. Für das zentrale institutionelle Paradigma des modernen Lebens, für die bürokratische Organisation, bedeutet sie den Tod. (Staat, Regierung und Verwaltung sind, auch in Amerika, die letzten großen Bollwerke bürokratischer Macht auf diesem Planeten, und für sie wird der bevorstehende Wandel tiefgreifende, wahrscheinlich traumatische Veränderungen mit sich bringen.) Das Bild, das in diesem Zusammenhang am wenigsten hilfreich ist, ist leider zugleich jenes, das in diesem Kontext zum geläufigsten geworden ist: die Informations- oder Datenautobahn. Kaum eine Formel könnte das Wesen des Cyberspace deutlicher verfehlen als diese. Betrachten wir die folgenden Gegensatzpaare: Datenautobahn

Cyberspace

begrenzte Materie

grenzenloses Wissen

zentralisiert

dezentralisiert

Bewegung im Raster

Bewegung im Raum

Staatsbesitz

vielfältig gestaffelte Besitzverhältnisse

Bürokratie

Befähigung

Gewerkschaften und Unternehmer

Assoziationen und Freiwillige

Befreiung von der »ersten Welle«

Befreiung von der »zweiten Welle«

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Cyberspace und der amerikanische Traum | 135 »Der Vergleich mit der Autobahn ist grundfalsch«, schrieb Peter Huber in »Forbes«, »und zwar aus elementar ökonomischen Gründen. Feste Dinge unterliegen unwandelbaren Erhaltungsgesetzen – was auf der Autobahn nach Süden fährt, muß nach Norden zurückkehren, sonst haben wir am Ende eine Autohalde in Miami. Ebenso müssen Produktion und Konsum ausgeglichen sein. Joe kann nur so viel Weizen verbrauchen, wie Jane anbauen kann. Bei der Information verhält es sich ganz anders. Sie kann fast ohne Kosten repliziert werden – sodass (theoretisch) jedes Individuum den gesamten Output einer Gesellschaft konsumieren kann. Ob reich oder arm – wir alle stehen vor Informationsdefiziten. Wir alle nehmen mehr auf, als wir abgeben.« Klare und einklagbare Eigentumsrechte sind für das Funktionieren von Märkten entscheidend. Sie zu definieren ist eine zentrale Funktion des Staates. Die meisten von uns wissen das seit langem. Aber den neuen Cyberspace schaffen bedeutet auch neues Eigentum schaffen. Das Eigentum, aus dem der Cyberspace besteht, erscheint in unterschiedlichen Formen: Drahtleitungen, Koaxialkabel, Computer und andere »Hardware«; das Spektrum der elektromagnetischen Wellen und »geistiges Eigentum« – das Wissen, das im Cyberspace vorhanden ist und ihn definiert. Für jeden dieser Bereiche müssen zwei Fragen beantwortet werden. Erstens: Was bedeutet »Besitz«? Worin besteht das Eigentum selbst, und was bedeutet es, dieses Eigentum zu besitzen? Zweitens, sobald wir verstanden haben, was »Besitz« bedeutet: Wer ist der Besitzer? Auf einer prinzipiellen Ebene: Sollte der Besitz öffentlich (bei Regierung und Staat) oder privat (beim Einzelnen) sein? Die Antworten auf diese beiden Fragen sind der Ausgangspunkt, von dem aus Amerika und die Welt die »dritte Welle« angehen werden. Doch bisher werden diese Fragen noch nicht einmal ernsthaft gestellt. Stattdessen versuchen die Regierungen, Eigentums- und Besitzbegriffe, die aus der »zweiten Welle« stammen, auf die »dritte Welle« anzuwenden. Oder sie ignorieren das Problem als solches. Ein differenzierter Ansatz muss berücksichtigen, wie die »dritte Welle« auf einer fundamentalen Ebene das Wissen als Gut seinem Wesen nach verändert hat und dass der maßgebliche Effekt nicht die Technologie selbst betrifft (den Übergang vom gedruckten Buch zu elektronischen Speicherund Abrufsystemen), sondern den Übergang von einer Zivilisation der Massenproduktion, der Massenmedien, der Massenkultur zu einer »entmassten« Zivilisation. Mit anderen Worten: Der große Wandel betrifft die Entmassung von abrufbarem Wissen. Die vorherrschende Form des neuen Wissens in der »dritten Welle« ist das vergängliche, transitorische, »benutzerorientierte« Wissen: die richtige Information in Verbindung mit der richtigen Software und der richtigen Präsentation zur richtigen Zeit. Im Unterschied zum Massenwissen der »zweiten Welle« – das als »öffentliches Gut« für jeden nützlich war, weil die Informationsbedürfnisse der meisten Menschen standardisiert waren –

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136 | Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth, Alvin Toffler ist das benutzerorientierte Wissen der »dritten Welle« seinem Wesen nach ein privates Gut. Das Aufkommen neuer Technologien und neuer Produkte schafft ein Potential für »dynamische Konkurrenz« – eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Technologien und Industrien, von denen jede nach Mitteln und Wegen sucht, den Bedürfnissen des Verbrauchers am besten zu genügen. Eine solche dynamische Konkurrenz – im Grunde das, was der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter als schöpferische Zerstörung bezeichnet hat – erzeugt Gewinner und Verlierer im großen Maßstab. Neue Technologien können in kürzester Zeit Infrastrukturen, die über Jahrzehnte hinweg mit Milliarden von Dollar befestigt wurden, obsolet machen. Die Veränderungen in der amerikanischen Computerindustrie seit 1980 bieten hierfür ein anschauliches Beispiel. 1980 wusste jeder, wer in der Computerindustrie führend war. Vom Boom der Minicomputer abgesehen, bildeten die Großrechenanlagen den wichtigsten Markt, und die marktbeherrschende Stellung Amerikas beruhte im Wesentlichen auf der Vorrangstellung eines Anbieters: IBM hatte einen Weltmarktanteil von mehr als 50 Prozent. Dann explodierte die Personal-Computer-Industrie und überließ dem auf Großunternehmen fixierten Computerhersteller einen stagnierenden Anteil an einem ansonsten florierenden Markt. Als IBM an Boden verlor, glaubten viele, Amerika habe seine Wettbewerbsfähigkeit verloren. Mitte der achtziger Jahre war diese Art von Schwarzseherei von Washington sogar bis nach Silicon Valley vorgedrungen. In Wirklichkeit jedoch vollzog sich eine Renaissance der amerikanischen Wirtschaft, in deren Verlauf die Vereinigten Staaten die technologische Führungsrolle zurückgewannen. Beim Übergang von den Großrechnern zum PC wurde ein riesiger neuer Markt geschaffen. Dieser Markt ist gekennzeichnet durch eine dynamische Konkurrenz, die dadurch begünstigt wird, dass die Zugangsschwellen niedrig sind. Dutzende von Branchenneulingen traten gegen die größeren etablierten Firmen an – und gewannen. Das überraschende Ergebnis nach einem Jahrzehnt der Angst lautet: Amerika ist nicht nur international wettbewerbsfähig, es dominiert auch die Wachstumssektoren der Weltwirtschaft – Telekommunikation, Mikroelektronik, Computer-Netzwerke sowie Software-Systeme und Anwendungen. Jenseits der Grenze wartet die Freiheit. Der Grund für Amerikas Sieg im Computer-Krieg der achtziger Jahre besteht darin, dass man dynamische Konkurrenz auf einem Gebiet zuließ, das so halsbrecherisch und unübersichtlich ist, dass der Staat kaum wirksam hätte eingreifen können. Die Herausforderung für die Politik der neunziger Jahre besteht nun darin, dynamische Konkurrenz für jeden Aspekt des Cyberspace-Marktes nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern. Freunde Amerikas weisen darauf hin, dass die amerikanische Verfassung einzigartig ist. Sie stellt ausdrücklich fest: Die Macht geht vom Volk aus, und das Volk überträgt diese Macht auf die Regierung – nicht umge-

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Cyberspace und der amerikanische Traum | 137 kehrt. Während Amerika neue Grenzen erkundete, hat es dieses fundamentale Rechtsprinzip immer wieder bekräftigt. Der Cyberspace ist die jüngste amerikanische Grenze. Während die amerikanische und auch andere Gesellschaften immer tiefere Vorstöße in das Gebiet jenseits dieser Grenze unternehmen, ist der Grundsatz, dass das Eigentum an diesem Gebiet beim Volk liegt, entscheidend dafür, dass dessen wahre Potentiale ausgeschöpft werden können. Manchem wird diese Feststellung zu pathetisch klingen. Aber Amerika ist nach wie vor das Land der individuellen Freiheit, und diese Freiheit erstreckt sich auch auf den Cyberspace. Wie anders könnte man das typisch amerikanische Phänomen des Hackers erklären, der sich gesellschaftlichem Druck widersetzte und alle möglichen Vorschriften missachtete, um im Umgang mit billiger Computertechnologie seine Fähigkeiten zu schulen und zu erweitern? Diese Fertigkeiten machten den Hacker zum gefragten Spezialisten bei der Entwicklung von Anwendungs-Software und beim Aufbau von Netzwerken. Der Hacker wurde zum Techniker, zum Erfinder und immer wieder auch zum Schöpfer von neuem Wohlstand in Form neuer Unternehmen, die Amerika zu einer Führungsrolle bei der Erschließung des Cyberspace verholfen haben. Die Gesellschaft der »dritten Welle« ist viel zu komplex, als dass eine zentral geplante Bürokratie sie lenken könnte. »Entmassung«, Einrichtung auf die Bedürfnisse des Einzelnen, Individualität, Freiheit – das sind die Schlüssel zum Erfolg. Darüber hinaus weiß niemand, wie die Gemeinschaften der »dritten Welle« aussehen werden oder wohin die »Entmassung« letztlich führen wird. Klar ist jedoch, dass der Cyberspace eine wichtige Rolle für das Zusammenwachsen der vielfältigen Gemeinschaften von morgen spielen wird, dass er die Entstehung »elektronischer Nachbarschaften« erleichtert. Diese werden nicht mehr von der Geografie, sondern von gemeinsamen Interessen zusammengehalten werden. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Reinhard Kaiser

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138 | John Perry Barlow

Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace (1996) John Perry Barlow

Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr. Wir besitzen keine gewählte Regierung, und wir werden wohl auch nie eine bekommen – und so wende ich mich mit keiner größeren Autorität an Euch als der, mit der die Freiheit selber spricht. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die Ihr über uns auszuüben anstrebt. Ihr habt hier kein moralisches Recht zu regieren noch besitzt Ihr Methoden, es zu erzwingen, die wir zu befürchten hätten. Regierungen leiten ihre gerechte Macht von der Zustimmung der Regierten ab. Unsere habt Ihr nicht erbeten, geschweige denn erhalten. Wir haben Euch nicht eingeladen. Ihr kennt weder uns noch unsere Welt. Der Cyberspace liegt nicht innerhalb Eurer Hoheitsgebiete. Glaubt nicht, Ihr könntet ihn gestalten, als wäre er ein öffentliches Projekt. Ihr könnt es nicht. Der Cyberspace ist ein natürliches Gebilde und wächst durch unsere kollektiven Handlungen. Ihr habt Euch nicht an unseren großartigen und verbindenden Auseinandersetzungen beteiligt, und Ihr habt auch nicht den Reichtum unserer Marktplätze hervorgebracht. Ihr kennt weder unsere Kultur noch unsere Ethik oder die ungeschriebenen Regeln, die unsere Gesellschaft besser ordnen als dies irgendeine Eurer Bestimmungen vermöchte. Ihr sprecht von Problemen, die wir haben, aber nur Ihr lösen könnt. Das dient Eurer Invasion in unser Reich als Legitimation. Viele dieser Probleme existieren gar nicht. Ob es sich aber um echte oder um nur scheinbare Konflikte handelt – wir werden sie lokalisieren und mit unseren Mitteln angehen. Wir schreiben unseren eigenen Gesellschaftsvertrag. Unsere Regierungsweise wird sich in Übereinstimmung mit den Bedingungen unserer Welt entwickeln, nicht Eurer. Unsere Welt ist anders. Der Cyberspace besteht aus Beziehungen, Transaktionen und dem

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Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace (1996) | 139 Denken selbst, positioniert wie eine stehende Welle im Netz der Kommunikation. Unsere Welt ist überall und nirgends, und sie ist nicht dort, wo Körper leben. Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft. Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen. Eure Rechtsvorstellungen von Eigentum, Redefreiheit, Persönlichkeit, Freizügigkeit und Kontext treffen auf uns nicht zu. Sie alle basieren auf der Gegenständlichkeit der materiellen Welt. Es gibt im Cyberspace keine Materie. Unsere persönlichen Identitäten haben keine Körper, sodass wir im Gegensatz zu Euch nicht durch physische Gewalt reglementiert werden können. Wir glauben daran, dass unsere Regierungsweise sich aus der Ethik, dem aufgeklärten Selbstinteresse und dem Gemeinschaftswohl eigenständig entwickeln wird. Unsere Identitäten werden möglicherweise über die Zuständigkeitsbereiche vieler Eurer Jurisdiktionen verteilt sein. Das einzige Gesetz, welches alle unsere entstehenden Kulturen grundsätzlich anerkennen werden, ist die Goldene Regel. Wir hoffen, auf dieser Basis in der Lage zu sein, für jeden einzelnen Fall eine angemessene Lösung zu finden. Auf keinen Fall werden wir Lösungen akzeptieren, die Ihr uns aufzudrängen versucht. In den Vereinigten Staaten habt Ihr mit dem »Telecommunications Reform Act« gerade ein Gesetz geschaffen, welches Eure eigene Verfassung herabwürdigt und die Träume von Jefferson, Washington, Mill, Madison, de Tocqueville und Brandeis beleidigt. Diese Träume müssen nun in uns wiedergeboren werden. Ihr erschreckt Euch vor Euren eigenen Kindern, weil sie Eingeborene einer Welt sind, in der Ihr stets Einwanderer bleiben werdet. Weil Ihr sie fürchtet, übertragt Ihr auf Eure Bürokratien die elterliche Verantwortung, die Ihr zu feige seid, selber auszuüben. In unserer Welt sind alle Gefühle und Ausdrucksformen der Humanität Teil einer umfassenden und weltumspannenden Konversation der Bits. Wir können die Luft, die uns erstickt, von der nicht trennen, die unsere Flügel emporhebt. In China, Deutschland, Frankreich, Russland, Singapur, Italien und den USA versucht Ihr, den Virus der Freiheit abzuwehren, indem Ihr Wachposten an den Grenzen des Cyberspace postiert. Sie werden die Seuche für eine Weile eindämmen können, aber sie werden ohnmächtig sein in einer Welt, die schon bald von digitalen Medien umspannt sein wird. Eure in steigendem Maße obsolet werdenden Informationsindustrien möchten sich selbst am Leben erhalten, indem sie – in Amerika und anderswo – Gesetze vorschlagen, die noch die Rede selbst weltweit als Besitz definieren. Diese Gesetze würden Ideen als nur ein weiteres industrielles

2007-03-26 15-01-38 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 138-140) T02-04 barlow.p 142895397336

140 | John Perry Barlow Produkt erklären, nicht ehrenhafter als Rohmetall. In unserer Welt darf alles, was der menschliche Geist erschafft, kostenfrei unendlich reproduziert und distribuiert werden. Die globale Übermittlung von Gedanken ist nicht länger auf Eure Fabriken angewiesen. Die zunehmenden feindlichen und kolonialen Maßnahmen versetzen uns in die Lage früherer Verteidiger von Freiheit und Selbstbestimmung, die die Autoritäten ferner und unwissender Mächte zurückweisen mussten. Wir müssen unser virtuelles Selbst Eurer Souveränität gegenüber als immun erklären, selbst, wenn unsere Körper weiterhin Euren Regeln unterliegen. Wir werden uns über den gesamten Planeten ausbreiten, auf dass keiner unsere Gedanken mehr einsperren kann. Wir werden im Cyberspace eine Zivilisation des Geistes erschaffen. Möge sie humaner und gerechter sein als die Welt, die Eure Regierungen bislang errichteten. John Perry Barlow Davos, Schweiz 8. Februar 1996 Übersetzung aus dem Amerikanischen: Stefan Münker

2007-03-26 15-01-38 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 138-140) T02-04 barlow.p 142895397336

Virtuelle Realitäten (1996) | 141

Virtuelle Realitäten (1996) Siegfried J. Schmidt

Die philosophischen Probleme, die das »Projekt Virtualität« stellt, sind faszinierend. Auf einige will ich kurz verweisen. Um menschliche Erfahrungswirklichkeiten bis hin zur Unterscheidbarkeit simulieren zu können, muss man sehr genau herausfinden, wie im sensori-neuronalen Zusammenwirken die menschlichen Repräsentationen von Wirklichkeit konstruiert werden. Insofern setzt die technische Konstruktion von VR eine »naturalisierte Erkenntnistheorie«1 (Kognitionstheorie) voraus, die eine technische Operationalisierung ihrer Erkenntnisse erlaubt; und andererseits wird jeder funktionierende virtuelle Raum zum bis dato besten Modell der beobachterrelativen Erfahrungswirklichkeit. Wenn man virtuelle Welten von innen wie von außen beobachten kann, dann eröffnet sich eine interessante Konstellation. Die künstlich hergestellte (simulierte) VR wird aus Wissen über die Erfahrungswirklichkeiten gemacht. Während bislang Wissen nur in der Erfahrungswirklichkeit erwartet werden konnte, eröffnen Cyberspaces nun ebenfalls Wissensgewinn, der in beiden Welten verwendet werden kann – wenn man die kategorial unterschiedlichen Modi von Raum und Zeit in beiden Umwelten austarieren kann. Dabei spielt das Problem entry/reentry sicherlich eine bedeutsame Rolle, also die Frage, inwieweit man seinen »wirklichen« Körper in virtuelle Welten mitnehmen kann oder nicht. Unter diesem Aspekt ist es kein Zufall, dass die Themen Körper und Sinnlichkeit im VR-Diskurs neue Konjunktur gewonnen haben, bis hin zur Techno-Ästhetik. Denn das Virtuelle verknüpft, wie Philippe Quéau betont, in neuer Weise Bild und Körper, Bewegung und Gedächtnis, Gestisches und Visuelles und hebt damit die Standpunkt- und Perspektivgebundenheit unserer Wahrnehmung auf: »Der Bildschirm des Virtuellen jedoch kennt nur einen künstlichen, beweglichen, zersprungenen, paradoxalen Horizont.«2 Während Wahrnehmung in unserer Erfah-

1 | Jutta Fedrowitz et al. (Hg.): Neuroworlds. Gehirn – Geist – Kultur, Frankfurt a. M. 1994. 2 | Philippe Quéau: »Die virtuelle Simulation: Illusion oder Allusion? Für

2007-03-26 15-01-39 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 141-151) T02-05 schmidt.p 142895397392

142 | Siegfried J. Schmidt rungswirklichkeit nach dem Prinzip arbeitet, Erfahrungen von Augenblick zu Augenblick miteinander zu koordinieren, schafft virtuelle Wahrnehmung diese Koordination ab. Objekte können in jedem Augenblick von einem anderen Standpunkt und in einem anderen Horizont beobachtet werden, wobei diese Beobachtungen beliebig miteinander verbunden werden können. »Die virtuelle Szene ist eine Verflechtung, ein Beziehungsknoten.«3 Die Frage der Betretbarkeit und der Authentizität virtueller Räume ist ihrerseits verquickt mit der Frage, wann/warum/wie lange wir die elektronisch erzeugte Welt der Bilder, Töne und Bewegungen für »wirklich« halten und damit interagieren. Diese Frage stellt sich nicht erst im Zusammenhang mit Cyberspaces, sie ist sozusagen AV-Medien-notorisch. Elektronisch erzeugte Bilder sind bekanntermaßen keine Abbilder, auch wenn sie mit fotografischen Abbildern identisch zu sein scheinen. Da jedes Pixel einzeln berechenbar und manipulierbar ist, können Bilder beliebig manipuliert werden. Damit werden auch Funkbilder und Fotos technisch so veränderbar, dass man, wie Norbert Bolz betont, von einer »spurlosen Fälschung«4 sprechen kann. Das Problem der Authentizität und Referenz von Bildern, die aus elektronischer Bildverarbeitung hervorgehen, muss entsprechend umformuliert werden und dafür bietet sich wieder eine altehrwürdige Kategorie an: »Vertrauen«. Reliabilität und Authentizität von elektronisch erzeugten und übermittelten Bildern müssen zunehmend über Indizien bewertet werden (Quelle, Kontext, Programmplatz, Inszenierungsdetails, Gattungskonventionen, Kompatibilität mit Informationen in anderen Medien usw.), da ihr referentieller Status technisch prekär geworden ist.5 Entsprechend verändern sich die Rezeptionsgewohnheiten der AV-Mediensozialisierten. An die Stelle der traditionellen wahr/falsch-Dichotomie treten neue Kategoriensets – schließlich kann man auf die Wirklichkeit der raum- und zeitrelativen Bilder nun auch mit rein ästhetischen Einstellungen antworten, also Referenzindifferenz praktizieren. Europas dämonische Kategorie »Wirklichkeit« wird damit zwar nicht einfach außer Kraft gesetzt – andernfalls könnten die Beobachter erster Ordnung nicht mehr in ihrer Lebenswelt operieren; aber das Unterscheidungsset, mit dem wir kulturell operieren, wird damit erheblich angereichert. Neben die traditionellen Unterscheidungen Wahrheit/Lüge, Sein/

eine Phänomenologie des Virtuellen«, in: Stefan Iglhaut/Florian Rötzer/Elisabeth Schweeger (Hg.), Illusion und Simulation, Ostfildern 1995, S. 61-70. 3 | Vgl. ebd., S. 62. 4 | Norbert Bolz: »Wer hat Angst vorm Cyberspace? Eine kleine Apologie für gebildete Verächter«, in: Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hg.), Medien, Neu? Über Macht, Ästhetik und Fernsehen. Sonderheft Merkur 47 (9/1993), S. 900. 5 | Dies ist meines Erachtens die gravierende Alternative zur referenzsemantischen Dominanz aller Semiose im Print-Zeitalter.

2007-03-26 15-01-39 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 141-151) T02-05 schmidt.p 142895397392

Virtuelle Realitäten (1996) | 143 Schein, Realität/Fiktion, Wirklichkeit/Utopie und Realität/Simulation tritt nun die Unterscheidung Realität/Virtualität/Hyperrealität, womit alle anderen Unterscheidungen neu kontextualisiert werden und entsprechend semantisch uminterpretiert werden müssen. Unsere Kultur, verstanden als Programm der gesellschaftlichen Thematisierung relevanter Unterscheidungen (in Form handlungsanleitender Semantiken), ist nachweislich komplexer geworden. Die Pluralisierung bzw. Parallelisierung von »Welten«, oder, wie man wohl vorsichtiger sagen sollte: von Szenarien, in denen und mit denen Erfahrungen gemacht und Resultate von Forschungen dargestellt werden können, kann nicht nur zu einem Pluralismus der Formen des Erkenntnisgewinnens und -überprüfens führen. Vielmehr wird sie uns auch dazu veranlassen, die verschiedenen Verfahren und Resultate des »world making« miteinander zu vergleichen, zu bewerten und zu modifizieren; unsere temporären Selektionen von Erfahrungsszenarien für bestimmte Zwecke zu begründen; die Interfaces zu allen »Welten« möglicher Erfahrungen zu optimieren usw. Ein selbstverständlich gewordener Zugang zu Parallelwelten dürfte langfristig wohl auch die Diskussion über deren jeweiligen Status ent-ontologisieren, was die Differenz zwischen Wirklichkeit und Cyberspaces nicht etwa aufhebt, sondern unaufgeregt zu beobachten erlaubt. Es geht dann, wie Peter Schröder formuliert hat, nicht um eine Verdopplung der Realität, sondern darum, »[…] wie viel Komplexität wir mit der vorgegebenen Technologie erreichen und interaktiv aufrechterhalten können«.6 Ob wir, wie Vilem Flusser emphatisch gefordert hat, einmal in einer Pluralität von Welten leben werden, »[…] von denen es von keiner einen Sinn haben wird zu sagen, sie sei wirklich oder sie sei fiktiv, von keiner wird man sagen können, sie sei eine natürliche Gegebenheit [oder] sie sei ein mediales Kunstwerk«7, sei dahingestellt. Cyberspace, der den »Eintritt des Beobachters in den Bildraum«8

6 | Peter Schröder: »Virtuelle Realität – Ein weiter Weg«, in: Florian Rötzer/ Peter Weibel (Hg.), Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, München 1993, S. 206. 7 | Vilém Flusser: »Vom Virtuellen«, in: F. Rötzer/P. Weibel (Hg.), Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, München 1993, S. 70. 8 | N. Bolz: Wer hat Angst vorm Cyberspace?, a.a.O., S. 898. Peter M. Spangenberg hat in einem Kommentar zur Erstfassung dieses Kapitels angemerkt: »Die Erfahrung eines entgrenzten Raumes, in dem man sich frei bewegen kann, erscheint mir als wichtigste Eigenschaft für das Erlebnis einer simulierten »wirklichen Wirklichkeit«. In Rollen und Computerspielen wird demgegenüber »Fiktionalität« – so meine ich – durch einen klar umgrenzten Spielraum (sic!) angezeigt. Adventure-Spiele finden in einer geschichtslosen Zeit auf imaginären Inseln, in Höhlen oder Schlössern statt. Hiermit unterscheiden sich diese Spielfiktionen (auch jene, die Zeitreisen simulieren, die immer an bestimmte Orte führen, deren historische

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144 | Siegfried J. Schmidt ermöglicht, gestattet gleichsam einen sinnlichen Nachvollzug der Einsichten, die sich der Beobachter zweiter Ordnung kognitiv-reflexiv erarbeiten muss: die Einsicht in die gesellschaftliche Konstruiertheit von Erlebniswirklichkeiten und der Kategorien zur Bewertung dort gültiger Realitätskriterien und Mediennutzungsstrategien. Die sinnliche Erfahrung, »in anderen, möglichen Welten wirklich zu sein«9, im Verein mit dem Bewusstsein des Crossings von der Erfahrungswirklichkeit zum Cyberspace wird zum konkreten Erlebnis der Kontingenz (nicht etwa der Willkürlichkeit) alles Wirklichen. Dieses Kontingenzerlebnis verweist »kultürlich« zurück auf die Konstruktionsbedingungen jeder Wirklichkeit. Und diese Konstruktionsbedingungen sind immer empirisch-gesellschaftlicher Art, aufruhend sozusagen auf dem Stand unseres biologischen Equipments als Gattungswesen. Insofern sind Cyberspaces immer auch Resultat wie Dokument unseres Wissens, unserer Wertsysteme, unserer Bedürfnisse und Ziele. Bekanntermaßen steht neben technischen Problemen, die die Cyber-Entwicklung aufwirft, die zentrale Frage, was wir mit dieser Technologie anfangen und zu welchem Nutzen wir uns ihrer bedienen können. Die Frage nach neuen Interaktionsverhältnissen zwischen Mensch und Maschine ist, im Blick auf die künftige Entwicklung und auf unsere Verantwortung für diese Entwicklung, die einer der Väter des Radikalen Konstruktivismus, Heinz von Foerster, immer wieder eingeklagt hat,10 eine so wichtige Frage, dass sie nicht mit essayistischen Parolen postmoderner Techno-Essayistik vernebelt werden darf. Dazu einige Anmerkungen und Beispiele: Als zentrale These des postmodernen Diskurses, der um Simulation, Digitalität, Verschwinden und Beschleunigung als zentrale Begriffsikonen kreist, hat Werner Köster die Behauptung ausgemacht, »[…] dass die Technik, und hier vor allem die Medientechnik, der eigentlich ausschlaggebende Faktor für die Form einer Kultur, ja sogar für den Zustand einer ganzen Weltgesellschaft sei«.11 Und Norbert Bolz bestimmt gleich reihenweise die Merkmale dieser neuen Gesellschaft: »Die technischen Medien der Informationsgesellschaft sind das unhintergehbare

Komplexität schwach bestimmt bleibt) von literarischen Fiktionen, in denen Zeit (selbst in trivialen Texten wie den Fantasy-Romanen von Tolkien, die eine mehrdimensionale Zeitorganisation aufweisen) – vielleicht aufgrund der Linearität des Mediums – eine größere Rolle spielt.« 9 | Ebd. 10 | Vgl. Heinz von Foerster: Wissen und Gewissen, Frankfurt a. M. 1993. 11 | Werner Köster: »Ein Nomade zwischen Kunst und Wissenschaft. Über Peter Weibel als Vertreter des Techno-Diskurses«, in: Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hg.), Medien, Neu? Über Macht, Ästhetik und Fernsehen. Sonderheft Merkur 47 (9/1993), S. 705.

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Virtuelle Realitäten (1996) | 145 historische Apriori unseres Weltverhaltens; Programme ersetzen die sogenannten Naturbedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Die Welt der Neuen Medien hat von Subjekt auf System umgestellt. Und der Regelkreis Mensch-Welt entzaubert die philosophischen Subjekt-Objekt-Beziehungen. Vor der elektronischen Schwelle unterstellte eine analoge Schau noch ein Subjekt der Vorstellung – heute arbeiten digitale Schreib-/Leseköpfe Projekte der Darstellung ab. Was einmal Geist hieß, schreibt sich heute im Klartext von Programmen an.«12

Und nach diesem verbalen Paukenschlag wird dann die Brave New World – bedauerlicherweise noch im Printmedium der versinkenden Gutenberg-Galaxie – Punkt für Punkt als »key-board society« entworfen. In dieser Society scheiden sich die Geister streng in Programmierer und Programmierte, Designer und User, die »längst formal-numerisch und algorithmengeleitet« operieren. »Datenprocessing macht Genie überflüssig«, nur alteuropäische Idealisten reklamieren noch Fetische wie Autorschaft und das Schöpferische. Längst walten neue Formen des Sozialkontaktes, »das Face-to-face weicht dem Interface«, und »[…] die alten semantischen Fragen nach Bedeutung, Repräsentation und Intentionalität gleiten an einem elektronischen Datenfluss ab, der Effekte inszeniert – sonst nichts.« Traditionen und Ideologien sind für Bolz in der Rumpelkammer verschwunden – schön wärs? Das Geheimnis des menschlichen Geistes findet bei ihm eine »sehr profane Antwort«: »Speichern und Manipulieren von Datenketten« (jeder AI-Romantiker würde vor so viel Naivität erblassen). »Medienverbund« heißt das »[…] Betriebsgeheimnis einer Kultur, die sich heute anschickt, ihre humanistische Identität wie eine Schlangenhaut abzustreifen.« Unser soziales System, so Norbert Bolz, formiert sich als key-board society – »man trifft nur noch auf Benutzeroberflächen.« Und auch eine geschichtsphilosophische Vision bietet Bolz in seinem medientheoretischen High-Tech-Angebot: »Gadgeteering, die Synergie von Mensch und Maschine, bringt die Befreiung von der philosophischen Zumutung der Freiheit.« Der Mensch wird in Bolz’ Neuer-Medien-Welt zum »Schaltmoment im Medienverbund«, das Leben verwandelt sich in einen »telekommunikativen Datenprozess«, in dem die menschlichen Schaltmomente sich an, als oder mit Biochips und Brainscanning ergötzen. In ihrer Welt geht »aller Trost« von »den Strahlen des Bildschirms« aus. Mark Terkessidis hat in einer kritischen Analyse solcher medientheoretischen Essayistik im Umkreis von Bolz, Kittler, Kamper, Flusser, Virilio und Baudrillard mit ihrer »frei-flottierenden Semantik« »zwischen Essayistik, Wissenschaft, Kunst und Pop« nachdrücklich eine Begriffsbestimmung von »Medium« eingefordert13 – eine Begriffsbestimmung von »Kultur«

12 | Norbert Bolz: »Mensch-Maschine-Synergetik unter neuen Medienbedingungen«, in: Symptome 11 (1993), S. 34. 13 | Vgl. Mark Terkessidis: »Medienphilosophie«, in: Symptome 11 (1993), S. 38-45. Peter M. Spangenberg merkt zu dieser Passage an, ob es sich hier nicht

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146 | Siegfried J. Schmidt wäre wohl gleichermaßen vonnöten, will man, in zugegebenermaßen alteuropäischer Mentalität, noch wissen, wovon eigentlich die Rede ist. Treten wir einmal einen kritischen Schritt zurück von der »[…] heute modischen Rede von der Herrschaft der bloßen Effekte und Simulationen, die das Realitätsprinzip außer Kraft setzen und im Raum der elektronischen Bilder das Faktische mit dem Virtuellen fusionieren«14, dann kommen die durchaus praktischen Nutzeranwendungen des Cyberspace in den Blick. Cyberspaces werden zunehmend als Ausbildungsräume für gefährliche Operationen in der Praxis verwendet. Piloten und Astronauten, aber auch Herz- und Gehirnchirurgen werden in möglichst perfekten Simulationsenvironments für gefährliche Praxen ausgeschult, flott bolzisch formuliert: »Der Cyberspace wird zum Fitness-Studio der modernen Professionen.«15 Aber auch andere Formen hypermedialer Spiel- und Lernsituationen (Edutainment) können mit Hilfe des Cyberspace entwickelt und genutzt werden, wenn er – wie früher das kindliche Spiel – als Welterkundungsprogramm eingesetzt wird (etwa im Stil heute vorhandener Hypertexts), so etwa virtuelle Museen, begehbare Architekturmodelle oder die Repräsentation von Daten als dreidimensionale Gebilde. Faith Popcorn, die Trendforscherin, sieht das künftige Zimmer für »virtuelle Realität« schon vor sich: »Dort wird man sich mit Hilfe von Computer- und Hologrammtechnik in künstliche, dreidimensionale Welten versetzen lassen können. Wir können dann zum Beispiel virtuell auf eine Safari nach Afrika reisen, ohne uns mühsam in ein Flugzeug begeben zu müssen. Wir können uns auch Stars wie Paul Newman zum Tee einladen oder eine Reise in die eigene Kindheit unternehmen.«16 Virtuelle Welten verkörpern dabei ein aufschlussreiches Paradox: Zum einen wird eine möglichst vollständige Abbildung erstrebt, zum anderen eine vollständige Liquidation des Realen. Die puren audiovisuellen Oberflächen haben nur zufällige Anfänge und Enden, sind abgelöst von Gegenstandsbedeutung und Geschichte17, denen – wie oben schon erwähnt – als Wahrnehmungsmodus Gleichgültigkeit oder ästhetische Faszination, nicht aber Referenzbearbeitung entsprechen. Diese Tendenz wird sich noch erweitern, wenn die – wiederum in der Militärtechnologie entwickelten –

auch um Wissenschaft von einer anderen Erfahrungsgrundlage her handeln könnte, eben um »[…] ›Wissenschaft‹ unter den Bedingungen der Attraktivitätsforderungen eines AV-Medienzeitalters, in dem Überzeichnungen und Diskursüberschreitungen zwischen Kunst, Wissenschaft und SF dazu dienen, postmoderne Individualität zu erzeugen.« 14 | N. Bolz: Wer hat Angst vorm Cyberspace?, a.a.O., S. 900. 15 | Ebd. 16 | Faith Popcorn, in: FAZ-Magazin 635 vom 30. April 1992, S. 63. 17 | Vgl. Franz W. Kluge: »Schwindelgefühle. ›Imagina ’91‹ – Zehnte Schau der Computer-Bilder«, in: medium 2 (1991), S. 11-15.

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Virtuelle Realitäten (1996) | 147 Laser-Mikroscanner zivil nutzbar werden, die ohne den Bildschirm als Zwischenträger virtuelle Bilder direkt in das Auge projizieren. Eine weitere, schon heute zum Teil genutzte Möglichkeit ist die wissenschaftliche Nutzung von Cyberspaces. So prognostiziert etwa Stefan Jensen, dass wir den Aufstieg einer »Cyberspace-Ethnomethodologie«18 erleben, die Psychologen und Soziologen ein völlig neues Forschungsfeld eröffnen wird: »Die Untersuchung (realen!) menschlichen Verhaltens in virtuellen Räumen. Dies wird zu interessanten Fragen führen – wie beispielsweise der, ob jemand für sein Handeln in der virtuellen Realität zur Verantwortung gezogen (bestraft) werden kann, falls er anderen Aktoren – wenn auch nur: illusionäre – Nachteile (etwa: die Beschädigung eines imaginären Autos) zufügt.«19 Cyberspace-Ethnomethodologie findet schon heute ein reiches Beobachtungsmaterial in sogenannten Mehrbenutzersystemen (MUDs). Die gemeinsame spielerische Nutzung technischer Medien führt offenbar zu neuen Formen von Telesozialität, die Modi parasozialer (anonymer und abstrakter) Beziehungen entstehen lassen. International vernetzte Mailboxen (wie etwa Green-Net oder Fido-Net) oder interaktive Systeme wie Habitat eröffnen neue Formen der Kommunikation und Identität. Spezialkulturen mit Diskursuniversen, in denen eigene Normen und Präferenzen gelten, erweitern die selbst wählbaren Selbstdarstellungsmuster und erhöhen den »Spezialisierungsgrad der außerberuflichen, persönlichen und privaten Identitäten. […] Computer und Datennetze zerstören somit nicht die Kommunikation, sondern provozieren sie: in einer neuen überlokalen und spezialisierten Form.«20 Eine Beobachtung solcher Entwicklungen kann sich meines Erachtens nicht mit der Feststellung zufrieden geben, hier würden Probleme sozialer Isolation auf dem Umweg über technisch vermittelte Interaktionen oder Pseudointeraktionen zu lösen versucht. Daneben muss zumindest zur Kenntnis genommen werden, dass die weitere Perfektionierung neuer Formen von Telesozialität echte Hybridformen der Konstitution und Bearbeitung psychischer wie sozialer Probleme entstehen lassen kann. Schon das bloße Vorhandensein und die Zugänglichkeit elaborierter interaktiver Systeme ermöglicht zumindest potentiell andere Formen der Wirklichkeitserfahrung bis hin zur Sexualität. So vermutet Jaron Lanier in seinen Spekulationen über »postsymbolische Kommunikation«: »Wenn Menschen in einer virtuellen Welt miteinander in Verbindung treten können, und wenn sie die Fähigkeiten entwi-

18 | Stefan Jensen: »Im Kerngehäuse«, in: Gebhard Rusch/Siegfried J. Schmidt (Hg.), Konstruktivismus und Sozialtheorie. DELFIN 1993. Frankfurt a. M. 1994, S. 71. 19 | Ebd. 20 | Roland Eckert: »Computer und Kultur«, in: Gerd Kaiser et al. (Hg.), Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1993, S. 46.

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148 | Siegfried J. Schmidt ckeln können, diese Welt auf improvisierte Weise zu programmieren, sich selbst zu verändern oder die Welt zu etwas anderem zu machen, dann haben wir es mit einer äußerst kreativen und philosophisch völlig neuartigen Situation zu tun.«21 Die Präsenz, die Verfügbarkeit und die Beobachtbarkeit von Verfahren technischer Simulation und Interaktion parallel zu den bekannten und bewährten (bzw. gescheiterten) Interaktions- und Kommunikationsformen wird unsere Konzepte von Gesellschaft, Person und Individualität kognitiv und kommunikativ verändern. Das zeigt etwa die Möglichkeit einer Manipulierbarkeit des Erscheinungsbildes im Cyberspace. Mimik, Gestik und Stimme der virtuellen Person sind frei wählbar und manipulierbar, was die Frage nach der Identität äußerst schwer beantwortbar macht. Wer ist das Gegenüber im Cyberspace? Wie kommuniziert man mit Partnern mit wechselnden Identitäten? Werden wir uns, wie Karlheinz Steinmüller vermutet, künftig in einer »permanenten TuringTestsituation«22 befinden? Mit der Beobachtung solcher Veränderungen, die das Zusammenspiel von Cyber und Oikos mit Sicherheit auslösen wird, sollten CyberspaceEthnomethodologen, -Soziologen und -Politologen möglichst bald und möglichst ernsthaft mit ihren Forschungen beginnen: Es handelt sich um ernste Spiele; denn sie spielen (auch) mit dem Re-Entry-Schock beim Crossing der Grenze(n) zwischen den Welten – wie viele wir auch immer konstruieren mögen. Wie jede andere bedeutsame technische Entwicklung stellt uns auch das Phänomen Cyber vor ethische Probleme. Brainscanning, mind-machines, hypermedia, synergetische Verhältnisse zwischen Mensch und Maschine, so sehr sie heute noch technische Utopien sein mögen, werden uns vor ethische Entscheidungen stellen. Was darf man können?23 Auch diese Perspektive formuliert Norbert Bolz in gewohnt eindrucksvoller Rhetorik: »In der neuen Medienwirklichkeit ist der Mensch nicht mehr der Herr seiner Daten. Menschen werden mittlerweile selbst in Rückkopplungsschleifen eingebaut, beispielsweise ein Astronaut, der als kybernetischer Organismus seiner Kapsel funktioniert – Cyborg (Cybernetic Organism) nennt man solche halbsynthetischen Wesen. Vor diesem Hintergrund behaupte ich, dass alle Identitätsprobleme und auch alle ethischen Fragen unserer humanistischen Kultur aus den Anforderungen einer

21 | Zit. n. Erika Beckmann: »Virtual Reality. Auswirkungen auf Interaktivität und Film«, in: Gerhard J. Lischka (Hg.), Der entfesselte Blick, Bern 1993, S. 336. 22 | Karlheinz Steinmüller: »Versuch über den Cyberspace. Spekulative Bemerkungen zu einer neuen Technik«, in: Ders. (Hg.), Wirklichkeitsmaschinen. Cyberspace und die Folgen, Weinheim, Basel 1993, S. 137. 23 | Wie ersichtlich laviere ich angesichts der ethischen Probleme zwischen Technikenthusiasten und Kulturpessimisten.

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Virtuelle Realitäten (1996) | 149 neuen Mensch-Maschine-Synergie entstehen. Das wird von Begriffen wie Interface und Benutzeroberfläche deutlich angezeigt.«24

Diese Rhetorik ist – ohne hier bierernst zu werden – den genannten Problemen meines Erachtens nicht angemessen. Die Herkunft der CyberTechnologien aus dem militärischen Kontext sollte sensibler machen: Kriegsstrategien waren noch nie am Leben von Menschen interessiert. Hinzu kommt, dass mit dieser Technologie durchaus weitreichende Hoffnungen verbunden sind. Aber hier beginnen die skeptischen Fragen. Die Unterscheidung zwischen »guten« und »bösartigen« globalen Computernetzen (Flugbuchungssysteme vs. Spionagesysteme zum Beispiel) wirft natürlich auch die Frage auf, ob es wirklich zu einer demokratischen Mitbestimmung in elektronischen Kommunikationsnetzen kommen kann. Werden in virtuellen Welten alle die volle Kontrolle über die eigenen Interaktionen haben? Und führt mehr Kommunikation wirklich zu einer friedlicheren Welt, weil vernetzte Systeme nicht über sich herfallen, sondern sich friedlich ausbalancieren? Steht uns nicht eine neue »Klassengesellschaft« bevor, in der sich Datennetzkompetente und -inkompetente, »maker« und »user« gegenüberstehen werden? Oder wird Howard Rheingold mit seiner Vision einer »Tele-Demokratie«25 recht behalten? Für ein Fazit ist die Situation heute viel zu komplex. Das einzige, was man nach dem Verlauf der bisherigen Mediengeschichte(n) wohl begründet vermuten kann, lässt sich auf das nur trivial klingende Fazit bringen: Wie immer virtuelle Realitäten als neue Domänen menschlichen Erfahrungmachens auch aussehen werden – entscheidend ist, was in ihnen passiert. Ihre Nutzung wird langfristig ihren Nutzen definieren. Daher schließe ich mich am Ende der Überlegungen zur virtuellen Realität der Einschätzung von Erik Eichhorn an: »Virtuelle Realität – Medientechnologie der Zukunft? Sicherlich ist es noch verfrüht, derartige Behauptungen aufzustellen, steckt VR doch erst in den Kinderschuhen. Gleichwohl ist die Technologie der Virtuellen Realität, anders als die des Computers, auf der sie basiert, von Anfang an dahingehend entwickelt worden, Medium zu sein: nicht nur Daten-, sondern auch Bildwelt, welche die sensuellen und mentalen Fähigkeiten des Menschen erweitert. So mag für den Cyberspace gelten, was für die anderen Medien auch gilt: kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-auch: ›Einige werden den Cyberspace als eine Mischung aus Unterhaltung, Flucht und Sucht benutzen, andere werden mit seiner Hilfe durch die gefährlichen und komplexen Probleme des 21. Jahrhunderts navigieren. Vielleicht wird er die Pforte zu Gibsons Matrix sein. Hoffen wir, dass der Cyberspace ein neues Labor für unser Denken sein

24 | N. Bolz: Wer hat Angst vorm Cyberspace?, a.a.O., S. 901. 25 | Vgl. Howard Rheingold: Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers, Bonn, Paris u.a. 1994.

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150 | Siegfried J. Schmidt wird – und überlegen wir, was wir tun können, um die Entwicklung in diese Richtung zu lenken.‹«26

Unbestritten dürfte sein, dass die Technologien die Virtual Reality-Trends der Moderne verstärken: den Trend zur Technisierung, zur Ersetzung natürlicher Umwelten durch Kulturumwelten; den Trend zur Simulation, zur Einbindung des Menschen in Mensch-Maschine-Combines; den Trend zur Vereinzelung der Individuen und zur Medialisierung sozialer Kontakte; den Trend der Freizeitgesellschaft zum Hedonismus sowie den Trend zum »Welten-Zapping«, den Vernetzung und Breitbandkommunikation erlauben.

Literatur Beckmann, Erika: »Virtual Reality. Auswirkungen auf Interaktivität und Film«, in: Gerhard J. Lischka (Hg.), Der entfesselte Blick, Bern 1993, S. 317-336. Bolz, Norbert: »Wer hat Angst vorm Cyberspace? Eine kleine Apologie für gebildete Verächter«, in: Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hg.), Medien, Neu? Über Macht, Ästhetik und Fernsehen, Sonderheft Merkur 47 (9/ 1993), S. 897-904. Bolz, Norbert: »Mensch-Maschine-Synergetik unter neuen Medienbedingungen«, in: Symptome 11 (1993) S. 34-37. Eckert, Roland: »Computer und Kultur«, in: Gerd Kaiser et al. (Hg.), Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1993, S. 38-47. Eichhorn, Erik: »Virtuelle Realität – Medientechnologie der Zukunft?«, in: Stefan Bollmann (Hg.), Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Mannheim 1995, S. 203-220. Fedrowitz, Jutta et al. (Hg.): Neuroworlds. Gehirn – Geist – Kultur, Frankfurt a. M. 1994. Flusser, Vilém: »Vom Virtuellen«, in: Florian Rötzer/Peter Weibel (Hg.), Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, München 1993, S. 65-71. Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen, Frankfurt a. M. 1993. Jensen, Stefan: »Im Kerngehäuse«, in: Gebhard Rusch/Siegfried J. Schmidt (Hg.), Konstruktivismus und Sozialtheorie. DELFIN 1993, Frankfurt a. M. 1994, S. 47-108. Kluge, Franz W.: »Schwindelgefühle. ›Imagina ’91‹ – Zehnte Schau der Computer-Bilder«, in: medium 2 (1991), S. 11-15. Köster, Werner: »Ein Nomade zwischen Kunst und Wissenschaft. Über Peter Weibel als Vertreter des Techno-Diskurses«, in: Karl Heinz Boh-

26 | Erik Eichhorn: »Virtuelle Realität – Medientechnologie der Zukunft?«, in: Stefan Bollmann (Hg.), Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Mannheim 1995, S. 219.

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Virtuelle Realitäten (1996) | 151 rer/Kurt Scheel (Hg.), Medien, Neu? Über Macht, Ästhetik und Fernsehen, Sonderheft Merkur 47 (9/1993), S. 795-806. Popcorn, Faith: »Virtuelle Realität«, in: FAZ-Magazin 635 vom 30. April 1992, S. 63. Quéau, Philippe: »Die virtuelle Simulation: Illusion oder Allusion? Für eine Phänomenologie des Virtuellen«, in: Stefan Iglhaut/Florian Rötzer/ Elisabeth Schweeger (Hg.), Illusion und Simulation, Ostfildern 1995, S. 61-70. Rheingold, Howard: Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers, Bonn, Paris u.a. 1994. Schröder, Peter: »Virtuelle Realität – Ein weiter Weg«, in: Florian Rötzer/ Peter Weibel (Hg.), Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, München 1993, S. 203-213. Steinmüller, Karlheinz: »Versuch über den Cyberspace. Spekulative Bemerkungen zu einer neuen Technik«, in: Karlheinz Steinmüller (Hg.), Wirklichkeitsmaschinen. Cyberspace und die Folgen, Weinheim, Basel 1993, S. 129-147. Terkessidis, Mark: »Medienphilosophie«, in: Symptome 11 (1993), S. 38-45.

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152 | Shawn Miklaucic

Virtuelle Realität(en): SimCity und die Produktion von urbanem Cyberspace (2002) Shawn Miklaucic

Bis vor einigen Jahren haben Computer- und Videospiele, abgesehen von Forschungen zur Gewalt, nur wenig wissenschaftlich-analytisches Interesse auf sich gezogen, ungeachtet ihrer enormen Auswirkungen auf die Populärkultur. 1999 und 2000 übertrafen die Umsätze von Hard- und Software für Computerspiele nach Schätzungen sechs Milliarden Dollar. Man rechnet damit, dass sie bald die Einnahmen der Filmindustrie übertreffen werden. Während Sozialwissenschaftler und Medien sich auf Gewaltspiele und ihre Beziehung zur Gewalttätigkeit bei Jugendlichen konzentrieren, haben Computerspiele und die Kultur um sie herum einen viel breiteren Horizont, Themenbereich und Einfluss als Medien- und Wirkungsforschung glauben machen. Unter den zwanzig bestverkauften Computerspielen des Jahres 1999 war nur eines ein »Ego-Shooter«-Spiel von der Sorte, die durch das Massaker an der Columbine High School unrühmliche Berühmtheit erlangte. Die populärsten Spiele waren stattdessen klassische Brettspiele und Adaptionen von Spielhallen-Spielen (Monopoly), Ableger anderer Medien (Wer wird Millionär?) und strategische Simulationsspiele wie Civilization. Dieser Aufsatz befasst sich mit dem Genre der strategischen Computersimulationen, die, oft als »Gottspiele« bezeichnet, in den letzten Jahren zunehmend beliebt wurden. Beispiele dafür sind Gettysburg, The Sims, Age of Empires und SimCity 3000.1

1 | Meine Definition von »strategischer Simulation« unterscheidet sich von den diversen in der Forschung und Industrie geläufigen Bezeichnungen. Ich beziehe alles mit ein, was als »Strategiespiel« gelten kann, ob nun klassische Gottspiele wie Civilization und Populous, Planungssimulationen wie SimCity, Wirtschaftssimulationen wie Capitalism oder eher historisch-militärische Simulationen wie Gettysburg oder Age of Empires. Im Wesentlichen kann jedes Spiel mit einer »Gottperspektive«, bei dem es um Makro- oder Mikromanagement von Systemen in Echtzeit oder

2007-03-26 15-01-39 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 152-162) T02-06 miklaucic.p 142895397488

Virtuelle Realität(en) (2002) | 153 Eines der populärsten Simulationsspiele trägt den Titel SimCity, wobei die jüngste Ausgabe SimCity 3000 heißt; es war das meistverkaufte Computerspiel des Jahres 1999. SimCity 3000 ist genau wie seine Vorläufer eher eine interaktive Simulation als ein Spiel. Es geht hier nicht um Gewinnen oder Verlieren an sich, noch spielt man gegen einen Gegner. Stattdessen weist das Spiel dem Spieler die Rolle des Bürgermeisters (»Sim Mayor«) in einer aufstrebenden Stadt zu. Ziel der Simulation ist es, eine städtische Umwelt zu managen und zum Florieren zu bringen. Ein Artikel im Time-Magazine geht auf die Anziehungskraft und den Einfluss des Spiels ein: »Diese Woche treten in Washington Siebt- und Achtklässler aus dem ganzen Land im Finale des alljährlichen Wettbewerbs ›Städte der Zukunft‹ gegeneinander an; das Schiedsgericht bildet eine Jury von Ingenieuren. Die Software der Wahl für den Wettbewerb? SimCity natürlich. ›Man sollte dieses Spiel in jedes Klassenzimmer bringen‹, meint Hayes Lord, ein New Yorker Stadtplaner. Lords Chef, Rudy Giuliani, würde dem zweifellos beipflichten. Er war in seiner ersten Amtszeit, als er eines Tages seinen Sohn Andrew, damals sieben, beim SimCity-Spielen antraf. Andrew hatte an jeder Straßenecke eine Polizeiwache platziert. Die Kriminalitätsrate war null. Giuliani senior sah fasziniert zu und begann Vorschläge zur Besteuerung, Flächenwidmung und so weiter zu machen. Schließlich drehte Andrew sich um: ›Dad‹, sagte er zum New Yorker Bürgermeister, ›das hier ist meine Stadt.‹«2

Einführung zu SimCity 3000 Das Spiel beginnt bei SimCity 3000 üblicherweise mit einem leeren gerasterten Stück Land, auf dem man seine Stadt begründet. Freilich ist eine große Internetgemeinde entstanden, die Städte zum Herunterladen und zur Erkundung für andere ins Netz stellt. Oft sind diese Städte gewissenhaft gestaltete Nachbauten echter Orte, wie man hier an »Manhattim« mitsamt eigener Freiheitsstatue sieht. Im Allgemeinen jedoch beginnt man mit einer leeren Landschaft und begründet eine Ansiedlung, indem man Straßen baut, Bezirksgrenzen zieht und die gewidmeten Rasterflächen mit Strom und Wasser versorgt. Wenn eine elementare Infrastruktur angelegt ist, wird die Simulation eingeschaltet, und die Stadt beginnt zu wachsen: Die Sims bauen sich Häu-

komplexe Spielzüge geht, für meine Zwecke als strategische Simulation gelten. Diese werden im Allgemeinen von »reflexbasierten« Schießspielen oder anderen Ego-Spielen unterschieden, genauso wie Rollen- oder Abenteuerspiele mit dem Schwerpunkt auf Informationsmanagement und Ressourcenzuteilung als Kernaspekt des Spielverlaufs. 2 | Time Magazine vom 12. Oktober 1998.

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154 | Shawn Miklaucic ser, fahren zur Arbeit, gehen einkaufen und, was am wichtigsten ist, zahlen Steuern. Alles Übrige an dem Spiel ist ein Prozess des Jonglierens mit verschiedenen Größen. Wenn es nicht genug Häuser gibt, müssen neue Wohnbezirke errichtet werden. Wenn es nicht genug Arbeit gibt, müssen mehr Industrie- und Gewerbegebiete her. Und die Lebensqualität der Sims erfordert noch jede Menge anderer vertrauter Dienstleistungen: Polizei und Justiz, Parks und Freizeiteinrichtungen, Feuerwehr, Krankenhäuser, öffentlicher Verkehr usw. Wer mit Urbana3 vertraut ist, erkennt Nachbildungen der Bücherei, des Bezirksgerichts, der Feuerwache. Die große unverbaute gewerbliche Fläche im Stadtzentrum repräsentiert konvenabel das Einkaufszentrum auf dem Lincoln Square. Entscheidend für den Erfolg der virtuellen Stadt ist es, alle notwendigen Informationen im Auge zu behalten, damit alles weiter seinen geordneten Gang geht. Eine gewaltige Anordnung von Diagrammen, Kurven und Interfaces erlaubt die ständige Überwachung von Cashflow, Verteilung öffentlicher Dienste, Umweltverschmutzung und Kriminalität usw. Der Erfolg liegt wiederum darin, dafür zu sorgen, dass die Sims glücklich und zufrieden sind und bleiben, und das Spiel erlaubt etwas, was vielen Bürgermeistern in der realen Welt sehr gefallen würde – eine Landkarte, die die »Aura« der Stadt zeigt, die sich in einen Art Glücksmesser übersetzen lässt.

Kartografie der Aura von SimCity Wie man sieht, erzeugen Industriegebiete Umweltverschmutzung, was die Sims unglücklich macht. Durch einen Blick auf diese Landkarten erkenne ich, dass mein virtuelles Urbana Umweltschutzmaßnahmen braucht. In meinem Projekt geht es um die Untersuchung dieses virtuellen Stadtraums und um den geeignetsten theoretischen Zugang. Wie interpretieren wir den urbanen Cyberspace, den SimCity entstehen lässt? Das Wort »Simulation« impliziert eine bestimmte Entsprechung in der Darstellung – eine gute Simulation ist im Allgemeinen eine, die gut im Modell abbildet, was wir an dessen Vorbild in der Realität wahrnehmen. Paul Virilio allerdings hat vorgeschlagen, wir sollten bei der Betrachtung des Virtuellen mehr an Substitution als an Simulation denken. Man kann sagen, dass SimCitys die reale Welt imitieren; in einem anderen Sinne aber lassen sie einen davon ontologisch völlig verschiedenen Ort entstehen. Im Folgenden möchte ich drei aufeinander bezogene Zugänge zu solchen Orten vorschlagen: Als Erstes möchte ich die Frage stellen, ob Computerspiele wie SimCity als Hilfen zu einer, wie Fredric Jameson es nennt, »kognitiven Kartografie« gelten können. Bei der Erörterung dieser Frage greife ich zwei Denkschulen über den virtuellen Raum und seine Repräsentation auf: Henri Lefebvres Arbeiten über das Erzeugen von Raum (und ihre Weiter-

3 | Urbana, Illinois, ca. 36.400 Einwohner (Anm. d. Übersetzers).

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Virtuelle Realität(en) (2002) | 155 führung durch Edward Soja) sowie David Bolter4 und Richard Grusin mit ihrem Konzept der Remediatisierung.

Jameson und die kognitive Kartografie »Nicht ob ein Straßenkämpfer oder Stadtguerillero gegen die Waffen und die Technologie des modernen Staates gewinnen kann, sondern vielmehr, wo im Superstaat die Straße ist und ob in Wahrheit die altmodische Straße als solche in diesem nahtlosen Geflecht von Marketing und automatisierter Produktion, die den neuen Staat ausmachen, überhaupt noch existiert: das sind die theoretischen Probleme des heutigen Marxismus […].« Fredric Jameson, »Marxism and Form«

Bestimmend für meine Auffassung möglicher Verständnisweisen neuer Medien und interaktiver Software ist Jamesons Begriff der kognitiven Kartografie5. Jameson ortet einen Bedarf an einer »Ästhetik der kognitiven Kartografie«; der Begriff »kognitive Kartografie« ist Kevin Lynchs »The Image of the City«6 entlehnt. Er bezieht sich auf die konzeptuellen Landkarten, die Menschen entwickeln, um sich in den zunehmend komplexen Stadtlandschaften zurechtzufinden, die sie bewohnen. Lynch verwendete den Begriff zur Bezeichnung der geistigen Stadtpläne, die amerikanische Stadtbewohner benutzen, um sich in ihrer Lebensumgebung zurechtzufinden. Jameson verwendet den Begriff in einem weiter gefassten Sinn in Bezug auf die Schwierigkeiten der postmodernen Individuen, die Totalität der Systeme zu erfassen, die sie umfangen. Kognitive Landkarten »ermöglichen seitens des Individuums eine situative Abbildung der weit größeren und eigentlich unabbildbaren Totalität, die das Gesamtbild gesellschaftlicher Strukturen im Ganzen bildet«7. Sean Homer führt dazu weiter aus: »Das Hauptproblem mit dem postmodernen Cyberspace ist für Jameson unsere Unfähigkeit (oder eigentlich die Unmöglichkeit), sich eine Vorstellung von unserer Situation als Individuen innerhalb des neuen globalen Netzwerks des multinationalen Kapitals zu machen. Dieser Raum ist unabbildbar geworden, und was uns bleibt, ist nur die Fähigkeit zur Erfassung unserer unmittelbaren Umgebung. Was nötig

4 | Vgl. den im Kapitel »Hypertext – Hypermedia – Interfictions« abgedruckten Text von Jay David Bolter »Sehen und Schreiben« (1991). 5 | Vgl. Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Post-Contemporary Interventions, Durham/NC 1991; Fredric Jameson: The Geopolitical Aesthetic: Cinema and Space in the World System, Bloomington 1992. 6 | Kevin Lynch: The Image of the City, Cambridge 1960. 7 | F. Jameson: Postmodernism, a.a.O., S. 51.

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156 | Shawn Miklaucic wäre, ist eine neue Form von politischer Ästhetik, in deren Mittelpunkt räumliche Fragen stehen. Jameson schlägt für diese theoretisch noch ungefasste Ästhetik den Begriff ›kognitive Kartografie‹ vor.«8

Mein erweitertes Vorhaben schließt auch eine Analyse ein, wie neue Medien wie Computerspiele zu solch einer Ästhetik kognitiver Kartografie beitragen können oder ob sie nicht vielmehr zu unserer räumlichen Verwirrung beitragen. Jameson bezieht sich spezifisch auf die neuen Medientechnologien und ihre ungewisse Rolle in diesem Projekt: »Da das Weltsystem des Spätkapitalismus (oder der Postmoderne) mit einer computerisierten Medientechnologie, die ihre früheren Räume verdeckt und eine noch nicht dagewesene Gleichzeitigkeit durch ihre Verzweigungen versendet, […] unvorstellbar bleibt, wird die Informationstechnologie praktisch die Repräsentanzlösung und zugleich das Repräsentanzproblem der kognitiven Kartografie dieses Weltsystems werden.«9

Bietet SimCity uns einen nuancierteren und komplexeren Weg zum Verständnis von urbanem Raum, einen, der es uns gestattet, unseren Platz in anderen »realen« Städten besser zu verstehen? Oder setzt SimCity lediglich seine sauberen rechten Winkel und vereinfachten Managementprozesse an die Stelle hoffnungslos komplexerer realer Lebensumgebungen und befördert bloß die Mediatisierung und Mystifikation urbaner Sozialbeziehungen? Den Aufruf, politische Akteure mögen »auf die Straße gehen«, begegnet Jameson mit dem Hinweis, dass das bloße Finden der Straßen bisher noch nicht entwickelte Modi einer Abbildungskartografie und ästhetische Praktiken voraussetzt. Anders gesagt: Wenn die WTO anfängt, Konferenzen in virtuellen Räumen abzuhalten, wird es dann das virtuelle »Starbucks« davor sein, auf das virtuelle Protestdemonstranten virtuelle Steine werfen? Das sind die politischen Fragen, die Gottspiele und virtuelle Städte aufwerfen.

Lefebvre, Soja und die Produktion von Raum In »La production de l’espace«10 legt Lefebvre eine, wie er es nennt, »Trialektik« als Weg zur Analyse des Raums und seiner sozialen Wirkungen dar. Auf die Gefahr hin, übermäßig zu vereinfachen, lässt sich dies als Dialektik in drei umfassenden Raumtypen beschreiben, nämlich als ein wahrgenommener, begrifflicher und gelebter Raum. Edward Soja benennt

8 | Sean Homer: Fredric Jameson: Marxism, Hermeneutics, Postmodernism, London, New York 1998, S. 138. 9 | F. Jameson: The Geopolitical Aesthetic, a.a.O., S. 10. 10 | Henri Lefebvre: La production de l’espace, Paris 1986.

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Virtuelle Realität(en) (2002) | 157 diese in primärer, sekundärer und tertiärer Raum um11, und die folgende Tabelle gibt einen Begriff davon, was jeder davon bedeutet: Wahrgenommen

Begrifflich

Gelebt

Räumliche Praxis

Raumrepräsentanzen

Repräsentanzräume

Primärer Raum

Sekundärer Raum

Tertiärer Raum

Physischer Raum

Mentaler Raum

Sozialer Raum

Oberflächen

Transparenz

Aktives Erleben

Materialismus

Idealismus

Imaginativ

Visuell

Geometrisch

Phallisch

Nach Lefebvre, »La production de l’espace« und Soja, »Thirdspace«

Der wahrgenommene Raum ist der Raum der Oberflächen, er ist materiell, sozial erzeugt und empirisch verifiziert. Es ist auch der Raum der Produktion und Reproduktion – da für Lefebvre Raum nicht vorgegeben ist, sondern produziert wird, beruht sein Weiterbestand stets auf sozialen und physischen Prozessen. Der begriffliche Raum besteht aus den mentalen Raumrepräsentanzen, die wir uns erzeugen. Euklidische Geometrie, Diagramme und Karten aller Art konstituieren diesen zweiten Raum. Es ist der ideale, abstrakte Raum, den wir uns vorstellen und auf die Welt umlegen. Was Soja »Tertiärraum« nennt, ist schwerer zu definieren, und er hat diesen Überlegungen ein ganzes Buch gewidmet. Für unsere gegenwärtigen Zwecke sind die Schlüsselelemente des gelebten Raums, dass er sowohl den wahrgenommenen als auch den begrifflichen Raum in sich schließt und doch in Opposition zu beiden steht und besteht. Er existiert als drittes Element des binären Gegensatzpaares von wahrgenommenem und begrifflichem, physischem und mentalem Raum. Soja nennt den dritten Raum eine »politische Wahl«, einen »gelebten Raum als strategischen Ort, von dem aus alle Räume sich gleichzeitig umfassen, verstehen und potentiell transformieren lassen«12. Stets konkret, widersteht der dritte Raum den reduktionistischen Abstraktionen sowohl des materiellen und physischen als auch des idealen und mentalen Raums. Es ist der Ort, an dem sich unsere wahrgenommenen und begrifflichen Raumauffassungen begegnen und gelebt, verändert, gegeneinander gesetzt und kombiniert werden. Mit Lefebvres Begrifflichkeit im Hinterkopf wende ich mich nun einer kurzen Diskussion der Hypermediatisierung zu, ehe ich zur Anwendung dieser beiden Begriffssysteme auf SimCity zurückkehre.

11 | Vgl. Edward Soja: Thirdspace, Oxford 1996. 12 | Ebd., S. 68.

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158 | Shawn Miklaucic

Die Logik der Hypermediatisierung Gottspiele lassen sich von anderen Genres wie dem Ego-Shooter durch das unterschieden, was Jay David Bolter und Richard Grusin in ihrem Buch »Remediation: Understanding New Media«13 mit dem Begriff »Hypermediatisierung« umschreiben und was sich auf die formalen Eigenschaften der Computerschnittstelle bezieht. Bolter und Grusin behaupten darin, dass neue, interaktive Medienformen sich einer Abbildungslogik verschreiben, die sie »Remediation« nennen, und dass diese Logik von zwei Elementen erzeugt wird: Immediatisierung und Hypermediatisierung. Immediatisierung bezieht sich auf die Behauptungen direkter Referentialität und Simulation, die einen Großteil des Diskurses über virtuelle Realität durchziehen. Computersimulationen werden zunehmend nach den Kriterien der Immediatisierung bewertet – Ego-Shooter-Spiele oder Virtual-Reality-Anwendungen werden nach ihrer Wirklichkeitstreue und Übereinstimmung mit unseren Sinneserfahrungen beurteilt. Ego-Shooter verschreiben sich also der Logik der Immediatisierung. Die Spieler sehen, meist über den Lauf einer Waffe hinweg, die Räume, die sich ihnen eröffnen, und bewegen sich hindurch. Was diese Spiele bieten ist nicht nur eine realistische visuelle Bildhaftigkeit, sondern auch ein kinästhetisches Gefühl von Bewegung durch die dargestellten virtuellen Räume. Immediatisierung tendiert zu subjektiven Blickwinkeln, obwohl durchaus einige Computerspiele Subjekt- und Objektperspektiven miteinander verschmelzen, um ein breiteres filmisch-visuelles Vokabular zuzulassen (Action wie aus einem »Star Wars«-Storyboard, durchsetzt mit opulent gestalteten Bildern). Hypermediatisierung bezieht sich auf jene Schnittstellenlogik, die Macintosh- und Windows-Anwendungen dominiert, seit sie die textbefehlgesteuerten Benutzeroberflächen hinter sich gelassen haben.14 Fenster, Bildlaufleisten, Menüs und Tabellen sind typisch für den Darstellungsmodus der Hypermediatisierung. Metaphorische Modelle (der Pinsel, der Papierkorb, der Schaltknopf) werden eingesetzt, um bei der Manipulation von Information Vertrautheit und Einfachheit in der Benutzung zu schaffen. Was hier zu sehen ist, ist die Hypermediatisierung auf meinem Computer-Desktop, die nicht der Logik eines Bildrealismus, sondern eher der von Ikonografie und Metapher folgt. Das Schlüsselelement der Hypermediatisierung ist, für die hier abgehandelten Zwecke, ihre Reflexivität. Hypermediatisierung dient also nicht dazu, die Schnittstelle transparent zu machen, sondern einfacher und »intuitiver«. Sie zielt demnach auf

13 | Jay D. Bolter/Richard Grusin: Remediation: Understanding New Media, Cambridge 1999. 14 | Ebd., S. 32.

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Virtuelle Realität(en) (2002) | 159 erhöhte Effizienz und Leichtigkeit bei der Verwaltung und Manipulation von Prozessen und Information ab. Damit können wir Gottspiele als Produkt der hypermediatisierten Schnittstelle lesen. Gottspiele sind ihrem Wesen nach Abkömmlinge von Brettspielen und Kriegssimulationen, die darauf aufbauen, dass die Spieler große Mengen an Informationen im Auge behalten. Der Computer gestattet solchen Spielen und Simulationen ein Format anzunehmen, in dem die Überfülle an Berechnungen, auf denen sie beruhen, an den Prozessor delegiert werden, während der Spieler ihren Fluss beaufsichtigt und lenkt.

SimCity lesen Zu SimCity 3000 zurückkehrend, möchte ich kurz verschiedene Arten erörtern, wie die von mir skizzierten Begriffe uns dabei helfen, diesen virtuellen Raum zu verstehen. Als ich anfing, über strategische Gottspiele zu forschen, hatte ich anfangs die Hoffnung, sie als gangbare Werkzeuge für eine kognitive Kartografie deuten zu können. Auf den ersten Blick bietet ein Spiel wie SimCity Spielraum für eine breitere Perspektive, die denen, die es spielen, ein nuancierteres und Zusammenhänge herstellendes Verständnis tatsächlicher Stadträume ermöglichen würde. Wenn man stundenlang SimCity gespielt und von der Warte Gottes über die Stadt geblickt hätte, würde man Stadtlandschaften durchwandern können und mehr Empfinden für das Zusammenwirken von Systemen, Arbeit und Planung haben, die gemeinsam die Stadt entstehen ließen. Man könnte auf einer Parkbank sitzen und den Ausblick und die Düfte genießen, aber mit einem zugrunde liegenden Empfinden für ihre Funktion und Stellung innerhalb des städtischen Raumes rundherum. In den Begriffen Sojas gesagt, hatte ich das Gefühl, dass solche Spiele das Verständnis des Tertiärraums erleichtern, unser Erleben der materiellen Stadt konstruktiv erweitern und mit einem Verständnis der weniger unmittelbaren, aber fundamentalen Systeme kombinieren würden, auf denen sie aufgebaut ist. Meine Erfahrung mit und Analyse von SimCity hat diese Sicht allerdings verändert, die mir nun ein wenig zu hoffnungsfroh erscheint. Das Kernargument, das ich stattdessen vorbringen möchte, ist, dass die Logik der hypermediatisierten Benutzeroberfläche bei SimCity zu einer Übergewichtung des mentalen, sekundärräumlichen Verständnisses der simulierten urbanen Räume führt und dass dieses Übergewicht zu Lasten der Art von integriertem systemischen Denken geht, die zu fördern ich mir von solchen Spielen erhofft hatte. Ich möchte behaupten, dass SimCity weniger das Denken in Zusammenhängen fördert, nämlich das primär-, sekundärund tertiärräumliche Verständnis, SimCity produziert vielmehr idealisierte ikonische Darstellungen des urbanen Raums. Diese idealisierten Darstellungen dominieren dabei die beiden anderen Elemente der Trialektik auf mehrerlei Weise.

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160 | Shawn Miklaucic Die Aneignung des Primärraums durch den Sekundärraum hat zweierlei Eigenschaften. Zunächst und offensichtlich setzt sie virtuelle, nicht-materielle Räume an die Stelle physischer Orte. Anstelle von konkreten und einzigartigen physischen Kontexten finden wir abstrakte idealisierte Darstellungen vor. Der erste Park, den man baut, ist wie alle anderen. Interessanter aber ist, dass, während jeder Park aussieht wie der andere, auch seine Funktion quantifizierbar immer dieselbe ist. Dies ist der zweite Aspekt der mentalen Kooptierung des Physischen, weil der Primärraum nicht nur durch Oberflächen charakterisiert ist, sondern ebenso durch den Prozess der Produktion und Reproduktion. Damit eine Sim-Stadt funktioniert, braucht es produktive Sims. Damit Sims produktiv sind, müssen sie glücklich sein. Um glücklich zu sein, brauchen sie Dinge wie Parks. Damit kann jeder Park nicht nur als idealisierte Abbildung eines realen Parks gesehen werden, der wiederum eine idealisierte Abbildung einer der Inanspruchnahme durch die Öffentlichkeit zugänglichen Natur ist, sondern auch als säuberlich quantifizierte Funktion des genauen Maßes an Glück, das er erzeugt. Jede Struktur, Verfügung oder öffentliche Dienstleistung in SimCity hat diese zweifache Qualität – sie ist als ikonische Repräsentanz direkt sichtbar, die ihr zugrunde liegende Funktion aber ist die Kosten-Nutzen-Rechnung, für die sie steht – Errichtung und Erhaltung eines Parks kosten so und so viel, und dagegen aufgerechnet wird der dadurch geschaffene quantifizierbare Zuwachs an Aura und Produktivität. Der Sekundärraum beginnt somit durch Abstraktion und Quantifizierung die primärräumlichen Produktivprozesse zu dominieren und zu subsumieren. Anstatt es uns zu erlauben, den Park als komplexe Kombination von Systemen zu betrachten, reduziert er diese Räume zu abstrakten instrumentalisierten Schauplätzen eines Güteraustausches. Zudem ist auch die Produktivität der Sims virtuell. Wenn Produkte verdinglichte Sozialbeziehungen sind, so sind Sim-Produkte die virtuelle Abstraktion dieser materiellen Produkte. Die Zahlen in den Diagrammen beziehen sich nicht mehr auf Kapital- und Güterströme, sondern sind Selbstzweck. In diesem Sinne verleiht SimCity dem Begriff »Informationsökonomie« eine neue und intensivere Bedeutung. Der Sekundärraum dominiert in SimCity auch den gelebten tertiären Raum innerhalb der virtuellen Stadt. Die Verwendung einer hypermediatisierten Benutzeroberfläche erlaubt die Erzeugung urbaner Räume, die ihrem Wesen nach ausgeprägt mental sind. Sim-Städte sind Sekundärräume. Sie verweigern auf fundamentaler Ebene jede real gelebte Erfahrung einer Lebenswelt. Sim-Städte funktionieren dergestalt, dass sie durch Abstraktions- und Homogenisierungsprozesse Anschauungsbeispiele von Sekundärraum liefern. Lefebvre behauptet, dass die im Verbund mit dem Kapitalismus entstandenen abstrakten Räume immer nach Homogenisierung streben. Sie reduzieren räumliche Anschauung zugunsten leichterer

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Virtuelle Realität(en) (2002) | 161 Konsumierbarkeit auf austauschbare Versatzstücke. Wie festgestellt, ist jede gegebene Struktur in SimCity in Aussehen und Funktion jeweils mit all ihren Gegenstücken identisch. Die zugrunde liegende Population aus Sims besteht nicht aus individuellen Bürgern oder auch nur Sequenzen von Programmsprache, sondern aus abstrakten, demografischen Maßzahlen von Bevölkerung als Ganzem. Man kann die Voreinstellungen des Spiels sogar so abändern, dass gar keine Sims mehr auftauchen. In mehr als nur dem offensichtlichsten Sinne geht es bei SimCity um die Auslöschung spezifischer, konkreter Körper und ihre Ersetzung durch demografische und Produktivitätsdiagramme. Um schließlich wieder zur kognitiven Kartografie zurückzukehren, so denke ich, dass meine Anwendung der Arbeiten von Lefebvre und Soja auf die Trialektik des Raumes Anlass zur Hoffnung wie zur Sorge gibt. Kognitive Kartografie muss, wenn sie nützlich sein soll, meiner Überzeugung nach den umkämpften, konkreten, gelebten Aspekten des Tertiärraums den Vorrang geben. Doch nach einem Blick auf SimCity wird klar, dass hier die Möglichkeiten einer solch gelebten Erfahrung versperrt bleiben, und zwar zugunsten dominanter mentaler Raumrepräsentanzen. Eine wahre Ästhetik kognitiver Kartografie würde sowohl die reproduktiven Prozesse des Primär- als auch die abstrakten Relationen des Sekundärraums konkretisieren. Beim Spielen habe ich die Hagia Sophia in eine Kleinstadt im Herzen Amerikas verpflanzt, direkt zwischen Wohnwagenpark und städtischer Bücherei. Kognitive Kartografie oder postmodernes Pasticcio? Der Abstraktionsprozess in SimCity wirkt, wie ich glaube, solchen Verbindungen entgegen. Ein Beispiel dafür folgt aus dem interaktiven Erlebnis solcher Simulationen und der Art, wie sie Wissen über das erzeugen, was sie im Modell nachbilden. Beim SimCity-Spielen kann aus einer bloß ideologischen Behauptung eine experimentell verifizierbare Wahrheit werden; zum Beispiel, dass eine Polizeiwache an jeder Ecke eine Antwort auf Kriminalität ist. SimCity unkritisch zu spielen heißt nicht bloß, gesagt zu bekommen, dass das so ist, sondern es experimentell zu lernen. Man kann leicht dahin kommen zu glauben, dass Gefängnisse und Polizeiwachen die Antwort auf Verbrechen sind, denn – sieh mal! – wenn ich mehr Gefängnisse baue, sinkt die Verbrechensrate. Außerdem haben die SimKriminellen, die in diesen Gefängnissen stecken, keine Hautfarbe, kein Geschlecht, keine soziale Herkunft, die das Modell von Verbrechen und Bestrafung komplizieren würden. Wie Lefebvre anmerkt, ist Abstraktion eine Form von Gewalt, und selbst in der idyllischen Welt von SimCity ist, so will es scheinen, die Rassenproblematik schon durch ihr Fehlen mehr denn je ein unvermeidliches Problem in der Stadt. Die Zukunft solchermaßen disponierter Themenstellungen wird einen nüchterneren Versuch hervorbringen, der Frage nachzugehen, ob derlei gewalttätige Abstraktion unvermeidlich und ein inhärenter Teil des Simulationsprozesses ist oder, vielleicht ein wenig hoffnungsvoller, ob es uns gelingt, herauszufinden, in

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162 | Shawn Miklaucic welchen Bezügen sich Spiele wie SimCity besser für Jamesons politische Ästhetik eignen könnten. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Michael Strand

Literatur Bolter, Jay D./Grusin, Richard: Remediation: Understanding New Media, Cambridge 1999. Homer, Sean: Fredric Jameson: Marxism, Hermeneutics, Postmodernism, London, New York 1998. Jameson, Fredric: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Post-Contemporary Interventions, Durham/NC 1991. Jameson, Fredric: The Geopolitical Aesthetic: Cinema and Space in the World System, Bloomington 1992. Lefebvre, Henri: La production de l’espace, Paris 1986. Lynch, Kevin: The Image of the City, Cambridge 1960. Soja, Edward: Thirdspace, Oxford 1996.

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Hypertext – Hypermedia – Interfictions

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) T03-00 resp III.p 142895397576

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) vakat 164.p 142895397624

Einleitung | 165

Einleitung

Der Begriff Hypertext lässt uns zunächst an den Zeitraum Mitte der 60er Jahre denken: 1965 konzipiert Ted Nelson neue Verknüpfungsstrukturen von Plots und Informationseinheiten und prägt dafür die Bezeichnung Hypertext.1 Joseph Weizenbaum entwickelt 1966 das psychotherapeutische Dialogprogramm »Eliza«; und J.C.R. Licklider formuliert 1968 Rahmenbedingungen für Online-Kommunikation und Mensch-Maschine-Interaktion. Technikhistorisch sind für diesen Abschnitt zudem die Etablierung des Computers als Schreibinstrument sowie die Implementierung der Datennetzwerkkommunikation mit einer standardisierten Sprache, html, zu nennen. Das World Wide Web, das Vannevar Bush 1945 mit Memex (Memory Extension) vorbereitet, Douglas Engelbart 1960 mit oNLine System auf ein technisches Fundament stellt und Tim Berners Lee 1980 mit Enquire2 schließlich am CERN ins Leben ruft, verleiht den damit eingeleiteten Datenprozessierungen und Informationsströmen eine neue, bald global operierende Plattform. »Die ursprüngliche Idee war«, laut Ted Nelson, »ein Datensystem für Autoren und Wissenschaftler zu entwerfen, vergleichbar etwa den personenbezogenen Anwendungsaspekten von Bushs Memex, das die Dinge, die diese Personengruppen benötigten, in genau der gewünschten Bandbreite leistete. Aber es gibt so viele mögliche Spezialfunktionen, die einem im Kopf herumwirbeln. Die Nutzungsstrukturen und -überlegungen sind so komplex, dass die

1 | Theodor Holm Nelson: »A File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate«, in: Association for Computing Machinery (Hg.), Proceedings of the 20th National Conference, New York 1965, S. 84-100, wieder abgedruckt in: Noah Wardrip-Fruin/Nick Montfort (Hg.), The New Media Reader, London, Cambridge 2003, S. 134-145. 2 | Siehe Vannevar Bushs Beitrag im Kapitel »Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments«.

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166 | Hypertext – Hypermedia – Interfictions einzig mögliche Antwort darauf eine Art Block-Struktur ist, die beides gleichzeitig ist: individuell nutzerorientiert und vollständig allgemein einsetzbar. Die daraus hervorgehende Datenstruktur […] besitzt grundlegende Ähnlichkeit mit Prozess-Systemen für Listen, ist aber langsamer und umfangreicher. Sie verwendet mit einander verschränkte Listen plus Möglichkeiten der Modifikation und Variation. Technisch wird dies durch Index Manipulation und Text Patching realisiert, aber für den Benutzer sieht es so aus wie ein facettenreiches, polymorphes, multidimensionales gigantisches Schwarzes Brett.«3

Die tradierte, etwa im Übergang vom Text zum Bild gegebene, Intermedialität – »written or pictorial material interconnected in such a complex way that it could not conveniently be presented or represented on paper«4 – erweitert sich damit sehr schnell und systematisch um das Bewegtbild, den Sound,5 das Link- und Hyperlinksystem sowie um Übergänge zwischen fotorealistischen ikonischen und grafischen Bildzeichen (Icons, Buttons, Piktogrammen etc.). Mit der Expansion von Webspace eröffnen sich neben Mail-Kommunikation, Chat und Online-Foren auch neue Publikationsmöglichkeiten für potentiell alle User/-innen. Die hier genannten Etappen der digitalen Kommunikation als Teil der Mensch-Maschine-Mensch-Interaktion markieren zwar in der Historiografie des Internet den Beginn des »Hypertextes« als »Hypermedium« im engeren Sinn, doch sind die Vorläufer der Hypertextualität vielfältig. Texte von Guillaume Apollinaire, Raoul Hausman, Julio Cortázar, Unica Zürn und vielen anderen6 zeigen bereits kombinatorische, aleatorische, pikturale, ornamentale und labyrinthische Textstrukturen und -modelle auf nicht digitaler Basis. Narrative Non-Linearität, Wahlmöglichkeiten oder die freie Verknüpfbarkeit von Textelementen stehen schon im 19. Jahrhundert – und z.T. bereits erheblich früher – für neue Verfahren der Textproduktion, -präsentation und -rezeption: Solche Prinzipen der Textgestaltung reichen vom I Ging oder der ars combinatoria über Lipogramme und visuelle dadaistische »Un-Sinns«-Texte bis zum »Cut Up and Fold«- oder »Cross Reading«-Verfahren, wie es u.a. William S. Burroughs in die Popkultur eingeführt hat. Diese Hypertexte avant la lettre setzen auch neue Materialien,

3 | Zit. und übersetzt nach T.H. Nelson: A File Structure for the Complex, a.a.O., S. 134. 4 | Ebd., S. 144. Ted Nelson definiert den Hypertext also primär über seine (Hyper-)Komplexität. 5 | Hier ist insbesondere an die zahlreichen Earcons, Warntöne, Ringtones der digitalen Kommunikationsmedien zu denken. 6 | Zu nennen sind hier u.a. die Anagramme von Unica Zürn, Guillaume Apollinaires Kalligramme, Raoul Hausmanns u.a. an Musik angelehnte visuelle Poesie, sowie Julio Cortázars Roman »Rayuela« (Buenos Aires 1963); auch an rhizomatische Text- und Denkfiguren, wie sie u.a. von Gilles Deleuze und Félix Guattari favorisiert wurden, wäre zu denken.

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Einleitung | 167 Medien und Formate ein oder entlehnen Techniken bzw. technologisch-logistische Systeme aus anderen gesellschaftlichen Diskursbereichen. Orientierungsprinzipien des Wissens und administrative »Tools«, wie sie in Enzyklopädie, Bibliothek oder geografischen Kartografierungssystemen angewendet werden, finden ihr mediales ›Echo‹ in Karteikarten- und Kartenroman, in literarisierten Architekturmodellen und performativen Ensembles wie Text-Labyrinth, Bilder-, Gesprächs- oder Rätselspiel, welche wiederum und erneut Schreibverfahren, Textgestaltung und -Anordnung beeinflussen.7 Naturwissenschaftlich-mathematische Denkfiguren inspirieren tabellarische, von Zufall oder Wahrscheinlichkeit generierte oder kombinatorische Techniken des Schreibens, Darstellens und Erzählens, die sich durch Internet, World Wide Web und Mailboxsystem erweitern, produktionstechnisch vereinfachen, automatisieren und zu kybernetisch-computerisierten Produktions-, Kommunikations-, Aktions- und Vernetzungspraktiken amalgamieren lassen. Vor dem Hintergrund dieser zwischen den Medien, Diskursen und Genres oszillierenden Aufschreibesysteme stellt sich die Frage nach Autonomie, Begriff und Struktur des Hypertextes, die Espen J. Aarseth in seinen Überlegungen zur »Ergodischen Literatur« aufwirft.8 Der Hyperoder Cybertext sei, so Aarseth, kein eigenes Genre, er sei vielmehr als kombinatorisches Spiel aufzufassen, das sich im Prozess der Rezeption maßgeblich auf Zufall, Permutation und eine – nicht auf digitale Datenprozessierung beschränkte – multikursale Organisation von Text-, Bildoder/und Tonelementen gründet.9 Non-Linearität und Ergodizität bestimmen demnach die neuen Kommunikationsregeln und Kulturtechniken des Digitalen insgesamt, also z.B. das Surfen oder das, häufig mit mehreren Partner/-innen parallel geführte, Chatten, das Modifizieren und Konvertieren digitaler Objekte bis zur Total Conversion, welche den Übergang vom New oder Online Story Telling zu partizipativen Strategien deutlich hervortreten lässt. Kollaboratives Schreiben, Modification Literature oder das Prinzip der Konkreativität, die nicht zuletzt den Themenkomplex der Autorschaft und des geistigen Eigentums ansprechen, Weblogs oder die Praxis des Bloggens, die Bewegung der Creative Commons und die zahlreichen lexikalischen, enzyklopädischen und kartografischen Netzprojekte sind Anzeichen

7 | Daraus gehen u.a. die sogenannten Pen-and-Paper-Rollenspiele, Vorläufer der Adventure-Computerspiele, hervor, aber auch die begehbaren Bücher der Adventure Games, Fantasy-Literatur und des Films (wie Myst, Harry Potter usw.) sind deutlich von solchen nicht digitalen Vorläufern inspiriert. 8 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel. 9 | Aarseth bezieht sich kritisch u.a. auf Theorieansätze von Charles S. Peirce, Gérard Genette und Jay David Bolter. In diesem Kontext benennt Aarseths Text auch die Problematik der Operationalisierbarkeit verschiedener theoretischer Ansätze für den Cybertext (Strukturalismus, Semiotik, Diskurstheorie etc.).

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168 | Hypertext – Hypermedia – Interfictions einer neuen, über das Digitale und seine Distributionskanäle hinausreichenden beschleunigten Schreib-Praxis und Text-Zirkulation. In diesem Kontext werden Normen und Konventionen kollektiven und redaktionellen Produzierens von Text (Bild und Ton) reformuliert, aber auch Eingriffsmöglichkeiten des Publikums systematisch über die Distributions- und Zugriffsrechte im Hypertextdokument verankert und quasi festgeschrieben.10 Durch seine transmediale Struktur konfrontiert das Phänomen Hypertext uns einmal mehr mit der Forschungsfrage, ob digitale Medienformate und Systeme eine genuine Diskursstruktur besitzen, ein eigenes Paradigma bilden. Gibt es ein distinktes kybernetisches Zeichensystem, wie es etwa Peter B. Andersen behauptet hat?11 Oder anders ausgedrückt: Was unterscheidet poetische Sprachspiele und ihre Gadgets, Drehscheiben, Schreib- und Lesemaschinen, Sprachgeneratoren usw., vom Texten und Lesen im Netz; d.h. welchen Stellenwert hat die Technizität dynamischer Texte? Eine Antwort darauf gab Anfang der 90er Jahre Jay D. Bolter, der digitale Texte als Verräumlichung von Schrift respektive Text klassifizierte. Übergang und Differenz zum Raum – Bolter spricht vom Electronic Writing Space12 – ist dabei technisch und metaphorisch zugleich zu verstehen, also z.B. im Sinne sich verzweigender Wege, Pfade und anderer räumlicher oder architektonischer Analogiekonstruktionen.13 Wie im Bereich des digitalen Spiels, mit dem der Hypertext eine Fülle produktions- und rezeptionstechnischer Strukturen teilt, dominieren Konzept und Modell des virtuellen Raums den theoretischen Rahmen in Bolters einflussreichem Buch. Begehbare Romane wie Café Nirvana von Olivia Adler (1997), TextBild-Konvertierungsprojekte wie Verbarium von Christa Sommerer und Laurent Mignonneau (1999) oder kollektive, in den geografischen Raum übergreifende Schreibprojekte wie mime (Migrating Memories, 2000) illustrieren seine Basisthese einer Verräumlichung von Text.14 Mit StorySpace trägt Bolter in den 90er Jahren zudem selbst zur Entwicklung elektroni-

10 | Bekanntestes Beispiel eines solchen digitalen Formats sind die Wiki-Projekte Wikipedia, Metawiki, Wikimedia, Wikiquote usw., vgl. http://de.wikipedia. org/wiki/Hauptseite, zuletzt gelesen am 25. Januar 2006. 11 | Vgl. Peter B. Andersen: Computer Semiotics: Semiotic Approaches to Construction and Assessment of Computer Systems, Cambridge 1990. Andersen formuliert darin Regeln zur Definition verschiedenartiger digitaler Objekte (z.B. Textelemente oder grafischer Elemente von Computerspielen), die er in ein Klassifikationssystem bringt. 12 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel. 13 | Vgl. dazu auch das Kapitel »Inter-Acting: Games, Spieltheorie, GameCulture«. 14 | Vgl. http://www.cafe-nirvana.com/roman; http://www.medienkunstnetz. de/werke/verbarium; http://trace.ntu.ac.uk/mime, zuletzt gelesen am 25. Januar 2006.

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Einleitung | 169 scher Schreibwerkzeuge bei. Sowohl als transgressives Medium, das nicht an die Grenzen des physikalischen Raums, der separierten Aufzeichnungskanäle und der juridischen Regulierung gebunden ist, wird der Hypertext somit auch zum Gegenstand utopischer Entwürfe und Fantasien, wenn beispielsweise das von der EU finanzierte Mitschreibeprojekt mime Migrant/-innen in Finnland, Schweden und Großbritannien auffordert, Erfahrungs- und Gedächtnistexte zwischen »neuer« und »alter Heimat« als politische Intervention im Netz zu »verankern«. Analogiebildungen zum Räumlichen, die in den populären Diskursen als Schlagworte vom Global Village, Text-Raum, begehbaren Roman, Chat Room oder virtuellen Salon allgegenwärtig sind, stiften jedoch nicht nur die Basistheoreme, sondern dienen als Desktopmetaphern auch dazu, das Phänomen Hypertext aus seiner sperrigen Technizität (der Codierung, Datenprozessierung etc.) in einen imaginären Realraum, wie ihn schon Ted Nelson mit seinem Bild vom Schwarzen Brett skizzierte, zurück zu überführen. Soll der Hypertext als qualitativ neuartige digitale Entität und als Einschnitt in die literarische und kommunikative Praxis exponiert werden, so stehen auf der Seite der Rezeption Techniken wie Lesen und Surfen in der Zuordnung zu Registern der »Passivität« bzw. »Aktivität« auf dem Prüfstand. Hatten bereits Stuart Hall, John Fiske und andere in den Modellen des Encoding/Decoding dem Prozess des Lesens Aktivitätsgrade zugesprochen, bei dem die Adressierten selbst verschiedene dominante, aber auch oppositionelle und subversive Lesarten entwerfen und eine Art aktivierter Lektüre (Activated Reading) betreiben konnten,15 so diskutieren die theoretischen Ansätze der Neuen Medien Hypertextualität grundsätzlich als Konstruktionen von Text-, Ton- und Bildzeichen, welche systematisch Aktivitäten wie Auswählen/Anklicken, Schreiben/Verschieben, Speichern/ Verwerfen, Hinzufügen/Löschen und andere Manipulationen der Bildschirmoberfläche als Optionen des Lesens, Interpretierens und Reflektierens anlegen. Während viele Theoriekonzepte zum Gegenstandsbereich Hypertext nach wie vor primär vom Schriftparadigma ausgehen, stellt Derrick de Kerckhove die Sprache und damit auch vorschriftliche Kulturtechniken wie orale Überlieferungs- und Übermittlungstraditionen oder Gedächtniskulturen in den Vordergrund seiner medienphilosophisch akzentuierten Analysen.16 Als fluides und ephemeres Medienderivat, das die Rezipient/ -innen nicht mehr zwingend mit der Ordnung des Alphabets, der linearen Erzählung oder dem statischen, auf Papier fixierten Text konfrontiert, kann der Hypertext unter diesem Blickwinkel betrachtet die Nachfolge der »alten

15 | Vgl. Stuart Hall: »Encoding/Decoding«, in: Ders., et al. (Hg.): Culture, Media, Language, London 1980, S. 128-139; John Fiske: Lesarten des Populären (im Original: Reading the Popular, 1989), Wien 2000. 16 | Siehe den Beitrag von de Kerckhove in diesem Kapitel.

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170 | Hypertext – Hypermedia – Interfictions überkommenen« und noch nicht auf Sinnentrennung ausgerichteten Kommunikationskanäle antreten. Zu differenzieren vom Begriff des Hyper- oder Cybertextes ist das Konzept der Hypermedialität, das seit einigen Jahren zur Beschreibung der die verschiedenen Medien, Formate und Aufschreibesysteme integrierenden Interfacestruktur des Computers und des Internet eingesetzt wird, heute jedoch weitaus mehr meint als eine multisensorielle Ausgabeoberfläche. J.D. Bolter, Richard Grusin, Shawn Miklaucic und andere17 retheoretisieren und diskutieren Hypermedialität (Hypermediacy) und Hypermediatisierung (Hypermediation) als logozentrisches System, als Logik der Repräsentation, hinter der sich die Aufhebung der etablierten Gegensätze von Referenzialisierbarkeit und Simulation, Repräsentation und Virtueller Realität verbirgt. Der Effekt hypermedialer Desktop- oder Game-Gestaltung schließt somit nicht nur die Möglichkeit ein, viele und diversifizierte Medien und Tools an den Computer anschließbar zu machen und sie alle über Bild, Tastatur, Maus usw. zu homogenisieren, er zielt vor allem darauf ab, die Steuerung des Geräts und der Software intuitiv, quasi »natürlich« erscheinen zu lassen.18 Wie der Kino-Apparatus so macht auch das Interface des PC sich fast zur Gänze unsichtbar. Welche Folgen dies für die Benutzer/-innen und ihre (unsere!) Subjektposition besitzt, thematisierte John Walker schon 1988 in seinem Aufsatz »Hinter den Spiegeln«.19 Walker, der sich in seiner Funktion als Software-Entwickler mit der »Faszination« der Benutzeroberfläche beschäftigt und eine – heute historisch anmutende – Entwicklungslinie der Mensch-Maschine-Schnittstelle und ihres User-Designs vorschlägt, bezieht in seine Überlegungen zum Cyberspace, dem magischen Raum »hinter den Spiegeln«, arbeitswissenschaftliche, philosophische, juristische und medienhistorische Aspekte mit ein und vollzieht in seiner Argumentation dadurch den Übergang zu den medialen Konstrukten der im Computer entstehenden Virtual Reality. Roberto Simanowskis Text beschließt dieses Kapitel, da er nicht nur die aktuellen Forschungsstandpunkte zum »Schreiben im Netz« resümiert, sondern in seiner Analyse der »Interfictions« ausdrücklich auch auf die diversifizierten Veränderungen der Produktions- und Distributionsverfahren wie »Copy & Paste« oder »Print on Demand« hinweist. Dazu hebt er die Divergenz dreier unverzichtbarer theoretischer Paradigmen hervor: der Hypertextualität, verstanden als textuelle Nonsequenzialität, der Interaktivität, verstanden als Teilhabe des Rezipienten am Text, und schließlich der Intermedialität, verstanden als Hypermedialität (in engerer Wortbedeu-

17 | Vgl. dazu den Beitrag von Shawn Miklaucic im Kapitel »Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments«. 18 | Derzeit drückt sich dies in der Verbreitung des Schlagworts vom Intuitiven Interface oder intuitiver Mediennutzung aus. 19 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel.

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Einleitung | 171 tung). Ob sich aus seinem Ansatz, die »Wesensmerkmale digitaler Literatur« zu bestimmen, eine Genealogie oder Typologie der Schreibinstrumentarien und Textmedien extrahieren lässt, wie einige Autor/-innen dies in jüngster Zeit versucht haben, bleibt aber zweifelhaft,20 zu sehr ist das Feld hypertextueller Aktivitäten und Produktionen Veränderungen unterworfen. Bei aller Differenz in theoretischer Positionierung und in Einschätzung der Innovationsmomente, Kontinuitäten und Brüche der hyptertextuellen Praktiken, die die Theorien des Hypertextes, Cybertextes, der Ergodizität, Interfiktionalität und Hypermedialität auszeichnen, lässt sich feststellen, dass das Zusammenführen sprach- und literaturwissenschaftlicher, philosophischer, kulturwissenschaftlicher und kybernetischer Zugangsweisen neben einem prosperierenden Forschungsfeld und einer wissenschaftlichen »Ongoing Debate« auch eine Fülle sich rapide weiterentwickelnder Online-Foren, Communities und Festivals hervorgebracht hat.21 Dass der Hypertext selbst die Funktionen eines Intuitiven Interfaces besitzt, annehmen kann oder annehmen sollte, darauf wies schon 1996 Marc Nanard hin, indem er forderte, der Hypertext solle das Interface des Computers insgesamt und vollständig verbergen. Da der Leser lediglich mit »responsiven Dokumenten« interagiere, könne man aus diesem Funktionszusammenhang vor allem eine Schlussfolgerung ziehen: »Falls der Computer in einer Anwendung immer noch wahrnehmbar bleibt, handelt es sich nicht um eine echte Hypertextapplikation. Also – wir haben noch einen langen Weg vor uns«.22

20 | Vgl. etwa Beat Suter: »Das Neue Schreiben«, in: Lorenz Engell/Britta Neizel (Hg.), Das Gesicht der Welt. Medien in der digitalen Kultur, München 2004, S. 51-66, insbesondere die Tabelle zur Entwicklung des elektronischen Schreibens, S. 58. 21 | Im deutschsprachigen Raum mit am bekanntesten: http://www.dich tung-digital.com, zuletzt gelesen am 25. Januar 2006. 22 | Im Original: »A hypertext is an interface which should completely hide the computer. The reader ›interacts‹ only with ›responsive documents‹. I would conclude with a single thought: if the computer is still obvious in an application, it is probably not yet a true hypertext application! So, we still have a long way to go«; Marc Nanard: »Is there a life for Hypertext after the Web?«, in: ACM SIGLINK Newsletter 3, Bd. 5 (Oktober 1996), S. 3, 4, 16, hier: S. 16.

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172 | John Walker

Hinter den Spiegeln (1988) John Walker

Die Faszination, die »Benutzeroberflächen« heute ausüben, ist eine Folge der Art und Weise, wie wir derzeit Computer bedienen: mit Bildschirmen, Tastaturen und Zeigevorrichtungen. Technologische Entwicklungen in naher Zukunft versprechen die Ersetzung der gegenwärtigen Benutzeroberflächen durch irgendetwas ganz anderes.

Generationen der Benutzerinteraktion Vom Standpunkt der Benutzer aus ist die Frage, wie sie mit dem Computer interagieren, ungleich viel wichtiger als die, woraus der Computer besteht. Versuchen wir einmal, die Computergenerationen nach der Art der Bedienung neu zu definieren. Generation

Bedienungsweise

erste

Schalttafeln, zweckgerichtete Installationen

zweite

Lochkartenstapel, Aufgabenferneingabe

dritte

Fernschreiber-Timesharing

vierte

Menüsysteme

fünfte

Bildbearbeitung, Fenster

Erste Generation: Knöpfe und Wählscheiben Nach dieser Einteilung waren ENIAC (Electronic Numerical Integrator and Computer, der erste Universalrechner) und die ihm vorausgehenden Tabelliermaschinen Systeme der ersten Generation – installiert zur Lösung ganz bestimmter Probleme durch Spezialisten mit detaillierten und genauen Kenntnissen der Hardware-Funktionsweise. Viele der populären Bilder von Computern aus den 50er Jahren – vom Fußboden bis zur Decke reichende

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Hinter den Spiegeln (1988) | 173 Apparate voller Knöpfe, Wählscheiben und Oszillografen, bedient von verrückten Wissenschaftlern – geben die Arbeitswirklichkeit der ersten Generation wieder. In der ersten Generation hatte der Benutzer den Computer im Computerraum als direktes Gegenüber und bediente ihn auf der Ebene von Schaltern und Knöpfen. Da der Benutzer der Bediener der Maschine war und sie mit wenig oder gar keiner Abstraktion steuerte, gab es im Wesentlichen keine Vermittlungsinstanz zwischen dem Computer und dem Experten, der damit arbeitete.

Zweite Generation: Stapel Nach ENIAC wurden praktisch alle Mehrzweck-Digitalcomputer ohne Umgestaltung der Hardware programmierbar. Obwohl noch bis weit in die 50er Jahre das Programmieren zumeist in Maschinensprache erfolgte und detaillierte Kenntnisse der Hardware erforderte, konnte die Maschine so rasch von einer Aufgabe an die nächste gesetzt werden, wie sich neue Programme in den Speicher laden ließen. Aus Vakuumröhren oder diskreten Transistoren gebaute Computer waren so teuer, dass beträchtliche Anstrengungen darauf verwendet wurden, die Produktivität eines Computers zu maximieren. Gegen Ende der 50er Jahre wurde das ursprüngliche Modell der Computerbenutzung – ein individueller Benutzer reserviert sich eine bestimmte zweckgerichtete Zeit an der Maschine – durch den Servicebetrieb ersetzt, in dem ein Computerspezialist die verschiedenartigsten Aufgaben erledigte. Die Vorstellung des Benutzers vom Computer kreiste in der zweiten Generation häufig um einen Tresen. Über den Tresen händigten die Benutzer den Kartenstapel mit ihren Programmen und Daten aus, und über denselben Tresen bekamen sie einige Zeit später ihre Karten zurück samt einem Ausdruck, von dem sie hofften, dass er das gewünschte Resultat enthielt (das aber öfter aus einer kryptischen Fehlermeldung oder dem gefürchteten Kernspeicherauszug bestand). In der zweiten Generation wurden in der Bedienung viele wichtige Vermittlungs- und Abstraktionsebenen zwischen dem Benutzer und der Computerhardware eingeführt. Die erste und wahrscheinlich wichtigste war die zeitliche Verschiebung durch ein Stapelsystem und die Autonomie, die sie dem Computer (oder seinem Betreiber) auf Kosten der direkten Kontrolle durch den Benutzer verschaffte. Da der Computer den Auftrag des Benutzers ausführte, ohne dass dieser Gelegenheit hatte einzugreifen, fielen Fristen, Betriebsmittelplanung, Korrektur unvorhergesehener Fehler und dergleichen in die gemeinsame Verantwortung des Benutzers und des autonomen Computerbetriebssystems. Dies führte zur Entwicklung von Auftragssteuerungssprachen, die ein wirkungsvolles (wenn auch oft undurchschaubares) Mittel boten, um das Schicksal einer Aufgabe zu steuern, die der Computer ohne Benutzerbeteiligung ausführte. Der Lochkartenstapel, der Ausdruck, der Tresen und die

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174 | John Walker Auftragssteuerungssprache bilden im Wesentlichen den Begegnungsraum der Benutzer mit einem System der zweiten Generation.

Dritte Generation: Timesharing Die ganze zweite Generation über steuerte die Betriebssystemtechnik das Ziel an, den Computern immer mehr Leistung abzupressen. Da viele Programme nicht die volle Kapazität des Computers ausschöpften, sondern vielmehr einen Großteil ihrer Zeit mit den Ein- und Ausgaben viel langsamerer peripherer Geräte verbrachten, wurden die Betriebssysteme schließlich verallgemeinert, sodass viele Aufgaben nebeneinander erledigt werden konnten – anfangs in der Hoffnung, die Auslastung der spärlichen Zentraleinheits- und Speicherressourcen zu maximieren, und später mit sekundären Zielen, etwa einen besseren Annahmeservice für kleine Aufgaben zu bieten, während größere Arbeiten im Gange waren. Wenn die Zeit eines Computers auf eine kleine Zahl von Stapelarbeiten verteilt werden konnte, warum konnte sie dann nicht in viel kleinere Scheibchen zerschnitten und in einer viel größeren Gemeinschaft interaktiver Benutzer vergeben werden? Diese Überlegung sowie der seit langem bestehende Glaube, die Produktivität von Computerbenutzern (im Gegensatz zur Produktivität des Computers selbst) ließe sich durch den Dialog mit dem Computer optimieren, führte in den 60er Jahren zur Entwicklung der Timesharing-Systeme. Timesharing versprach allen alles. Dem Computerbesitzer versprach es rationellste Ausnutzung der Rechenleistung, indem es ihm ein statistisches Rechenbedarfsuniversum zugänglich machte, das auch noch den letzten »ZE-Zyklus« und die letzte Kernsekunde ausschlachtete. Es versprach Stapelbenutzern den gleichen Service wie vorher plus die Fähigkeit, ihre Aufgaben interaktiv zu regeln und den Fortgang online zu überwachen. Und es bot einer neuen Benutzerklasse einen interaktiven Dialog mit dem Computer. Das interaktive Zeichenausgabegerät, sei es ein langsames Druckerterminal wie ein Fernschreiber oder ein ASCII-»Glastelex« mit Geschwindigkeiten bis zu 960 Zeichen in der Sekunde, führten zur Entwicklung des Dialogrechnens. Der Benutzer tastet eine Zeile mit Eingaben an den Computer, der sie sofort verarbeitet und eine Antwort gibt (vielleicht so simpel wie die prompte Anzeige, dass er für die nächste Zeile bereit ist). Die dialoghafte Interaktion war der verwirklichte Touringtest – die Benutzer »unterhielten sich« mit dem Computer genau wie mit einem anderen Menschen über eine Fernschreibverbindung.

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Hinter den Spiegeln (1988) | 175

Vierte Generation: Menüs Obwohl Dialogsysteme die Zugänglichkeit von Computern verbreiterten, blieben sie immer noch weit hinter dem Ziel zurück, Computer einem großen Teil der Bevölkerung zugänglich zu machen. Die Entwicklung schneller alphanumerischer Terminals (1000 Zeichen in der Sekunde und mehr) machte es möglich, dem Benutzer fast augenblicklich große Informationsmengen vorzulegen. Dadurch konnte der Computer dem Benutzer ein »Menü« von Wahlmöglichkeiten anbieten, aus dem dieser etwas aussuchen konnte, indem er einfach ein oder zwei Tasten drückte. Die Auswahl unter verschiedenen Menübefehlen, verbunden mit einer Dateneingabe nach dem Vorbild der Formularausfüllung, wurden rasch zur Norm für Anwendungssysteme, die nicht für Computerspezialisten als Bediener gedacht waren. Hunderttausende verbringen ihren ganzen Arbeitstag im Umgang mit so konzipierten Systemen, obwohl Untersuchungen darüber, wie diese Systeme tatsächlich erlernt und benutzt werden (in Anwendungen, die vom maschinellen Kreditkartenlesen bis zur Zieleinstellung taktischer Atomwaffen reichen), oft ergeben, dass die Benutzer sie ganz anders sehen, als die Designer das im Sinn hatten. Häufig gehen sie mechanisch von einem Menü zum anderen, lernen durch einfaches Weitertasten und lassen die durchdacht aufgebauten Menüs ungelesen.

Fünfte Generation: Grafik Als integrierte Schaltkreise die Kosten des Computerspeichers senkten, entwickelte sich die bildschirmfüllende Rastergrafik aus einer Laborkuriosität oder einer spezialisierten Komponente von hochanspruchsvollen Systemen zu etwas, das als integraler Bestandteil jedes Computers vorstellbar wurde. Alan Kay und andere aus der Lernforschungsgruppe am Xerox Palo Alto Research Center erkannten, dass diese Entwicklung, die mit schnellen, preiswerten Prozessoren, Datennetzen und objektorientierten Programmiertechniken einherging, zur Entstehung völlig neuer Formen der Interaktion mit Computern führen konnte. Mitte der 70er Jahre erforschten sie das Potential dieser Techniken auf dem Alto-Computer mit der Programmiersprache »Smalltalk«. Dass man den Dialog mit einem Computer auf einem zweidimensionalen Grafikbildschirm führen kann, lässt viele Metaphern zu, denen man sich mit den älteren Techniken nur notdürftig annähern konnte. Der Bildschirm kann in einen Schreibtisch samt durchwühlbaren Papieren (Fenster), Zubehör (Utensilien) und Hilfsmitteln (Anwendungen) verwandelt werden. Durch die Beigabe einer Zeigevorrichtung wie der Maus können Objekte direkt auf dem Bildschirm bezeichnet werden, ohne dass man Namen eintippen oder aus Menüs auswählen müsste wie in früheren Systemen. Diese Eigenschaft hat solchen Systemen die Bezeichnung Direktbedienungssysteme eingetragen. Beispielsweise können Dateiverzeich-

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176 | John Walker nisse als Aktenordner auf dem Bildschirm dargestellt werden, wobei jeder Ordner eine Anzahl Dokumente enthält. Wenn der Benutzer ein Dokument von einer Datei in eine andere übertragen will, braucht er es nur mit der Zeigevorrichtung zu fassen und vom einen Ordner zum anderen zu ziehen. Zusätzlich bietet einem ein Grafikbildschirm viel anschaulichere Mittel der Programmsteuerung und eine bessere visuelle Übereinstimmung mit der Anwendung des Computers. Wenn Dokumente druckreif gemacht werden, können Schriftänderungen tatsächlich auf dem Bildschirm erscheinen. Steuerungen, die andernfalls als Befehlsnamen oder -zahlen ausgedrückt werden müssten, können als Bildlaufleisten, Mess-Skalen, Balken- oder Liniendiagramme oder in sonst einer Form, die der dargestellten Information entspricht, gezeigt werden. Es ist eine Ironie, dass fünf Generationen Benutzerinteraktion mit Computern uns wieder an den Ausgangspunkt zurückgebracht haben. Die Benutzer der ersten Generation hatten einen zweckgerichteten Zugang zum Computer und direkte Kontrolle über sein Arbeiten. Die Entwicklung der PC hat den Computer als eine zweckgerichtete Maschine wieder in die Hände des Benutzers gegeben, und durch fallbezogene Interaktion, die das Arbeiten des Computers unmittelbar dem Kommando des Benutzers unterstellt, kehrt die direkte Kontrolle über den Computer zurück, die verschwand, als der Benutzer in der zweiten Generation aus dem Computerraum verbannt wurde. Der Gebrauch von Grafiken zur Darstellung von Bedienungsparametern gibt den Computeranwendungen sogar das Aussehen der Bedienungsfelder der ersten Computergeneration zurück – voller Mess-Skalen und Diagramme mit bewegten Schnörkellinien und Leuchtknöpfen. Das soll nicht heißen, wir hätten es nicht weit gebracht – die Messgeräte auf dem Bedienungsfeld des Univac I zeigten etwa die Temperatur der »Mercury Delay Line Memories« an, und mit den Schaltern konnte der Benutzer Bits im Akkumulator voreinstellen. Die heutigen Anzeigen und Steuerungen betreffen im Allgemeinen höhere Parameter in den Anwendungen und gestatten es dem Benutzer zum Beispiel, den Grad der Glättung eines Oberflächenstücks zu verändern, indem er einen Balken bewegt und dabei zusieht, wie sich ein dreidimensionales abgetöntes Bild auf dem Bildschirm verändert.

Was kommt als nächstes? In den letzten 40 Jahren haben wir den Computerbenutzer, der anfänglich die direkte Kontrolle über einen zweckgerichteten Computer hatte, ihn mit Schaltern bediente und auf Heerscharen blinkender Lichter schaute, immer weiter vom Computer und der direkten Interaktion mit ihm entfernt und ihn dann wieder zurückgeführt vor ein virtuelles Bedienungsfeld auf einem leuchtenden Bildschirm voller Bildlaufleisten, Radioknöpfe, MessSkalen, die alle eine direkte und anschauliche Steuerung der Vorgänge im

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Hinter den Spiegeln (1988) | 177 Computer ermöglichen. Es sieht so aus, als hätten wir schließlich das Ziel erreicht: Für einen Preis, der nicht höher ist als der eines Autos, können Einzelne über eine zweckgerichtete Rechenleistung verfügen, die den Welthöchststand von 1960 weit übertrifft, mit Anwendungen, die maßgeschneidert sind für die intuitive Regelung der von ihnen verrichteten gewaltigen Aufgaben, und mit der wachsenden Fähigkeit, sich nach Gutdünken zwischen den Anwendungen hin und her zu bewegen und sie nach Bedarf für alle Arbeiten zu kombinieren, die der Benutzer verrichten muss. Es ist interessant, das Ausmaß zu beobachten, in dem der Begriff Benutzeroberfläche im Anschluss an die Einführung und zunehmende Akzeptanz der Benutzerinteraktion fünfter Generation zu einem geschäftlichen und neuerdings auch rechtlichen Schlachtfeld geworden ist. Viele würden wahrscheinlich alles, was vor dem Menüsystem der vierten Generation kam, gar nicht als eine »Benutzeroberfläche« identifizieren können. Ich glaube, dass der Dialog das falsche Modell für den Umgang mit einem Computer ist – ein Modell, das unerfahrene Benutzer irreführt und sogar erfahrene Softwaredesigner dazu verführt, schwer handhabbare Systeme zu bauen. Wenn man mit einem Computer interagiert, unterhält man sich nicht mit einem anderen Menschen. Man erforscht eine andere Welt. Das Problem ist dies: Sobald ein Programmierer eine Welt für den Gebrauch durch andere geschaffen hat, muss irgendein armer Benutzer, bewaffnet nur mit dem Schwert seines gesunden Menschenverstandes, dem Schild des Handbuches und dem bisschen Erfahrung, das er sich in ähnlichen Welten mühevoll zusammengekratzt hat, in sie eintreten und versuchen, die Regeln zu durchschauen. Die zeitlose Beliebtheit der Abenteuerspiele scheint ein Indiz dafür zu sein, dass zumindest einige an solchen Herausforderungen Spaß haben, aber es ist viel einfacher, sich über die Entdeckung zu freuen, dass die Glitzersteine die Trolle vertreiben, wenn wir die Höhle der Irrungen erforschen, als mit dem Boss im Nacken, der auf die neue Prognosetabelle wartet, endlich zu lernen, dass wir ein Preview machen müssen, wenn der Seitenumbruch für den Drucker richtig umgerechnet werden soll. Wenn das, was im Innern des Computers steckt, eine Welt ist und nicht ein anderer Mensch, dann sollten wir darauf aus sein, die Barrieren niedriger zu machen, die den Benutzer von der zu erforschenden Welt trennen, und nicht darauf, ihm die Dialogführung zu erleichtern. Schauen wir uns die Barrieren an, die für die Benutzerinteraktion jeder Generation typisch sind: Generation

Barriere

erste

Bedienungsfront

zweite

Tresen

dritte

Terminal

vierte

Menühierarchie

fünfte

Bildschirm

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178 | John Walker Wir stehen jetzt an der Schwelle der nächsten Revolution in der Interaktion Benutzer/Computer: einer Technik, die den Benutzer hinter den Bildschirm in die Welt »im« Computer führen wird – in eine Welt, wo der Benutzer mit dreidimensionalen Objekten interagieren kann, deren Wirklichkeitstreue in dem Maße wachsen wird, wie die Rechenleistung zunimmt und die Darstellungstechnik fortschreitet. Diese virtuelle Welt kann genauso sein, wie der Designer sie haben will. Im Experimentieren mit völlig neuen Erfahrungen und Interaktionsweisen werden Designer und Benutzer gemeinsam die nächste Generation der Benutzerinteraktion mit Computern definieren.

Hinter dem Bildschirm in den Cyberspace Um über die gegenwärtige Generation der Grafikbildschirme und Mäuse hinauszugehen, um den Benutzer hinter den Bildschirm in den Computer hineinzuversetzen, brauchen wir Hardware und Software, die dem Benutzer ein dreidimensionales Simulacrum einer Welt bieten und die Interaktionen wie mit Objekten der wirklichen Welt nachahmen. Cyberspace bedeutet einen dreidimensionalen Bereich, in dem kybernetische Rückkopplung und Steuerung stattfinden. Ein Cyberspace-System zeichnet sich nach meiner Definition dadurch aus, dass es Benutzern eine dreidimensionale Interaktionserfahrung bietet – einschließlich der Illusion, sie befänden sich in einer Welt, anstatt bloß ein Bild zu betrachten. Im Mindestfall bietet ein Cyberspace-System die stereoskopische Darstellung dreidimensionaler Objekte, indem es die Kopfhaltung des Benutzers erkennt und die wahrgenommene Szene blitzschnell dementsprechend umgestaltet. Zusätzlich schafft ein CyberspaceSystem die Möglichkeit, mit simulierten Objekten zu interagieren. Die Detailfülle und die Wirklichkeitstreue eines Cyberspace-Systems lassen sich vergrößern, indem man die dreidimensionale Darstellung verbessert, die Pupillenrichtung des Benutzers abtastet, Bewegungsauslöser und Kraftrückkopplung einbaut, Ton aus simulierten Quellen erzeugt und sich der Wirklichkeit weiter fast grenzenlos annähert. Der Gedanke, Benutzer irgendwie in einen Computer zu versetzen und sie direkt mit einer virtuellen Welt interagieren zu lassen, ist in der Science-Fiction in aller Ausführlichkeit durchgespielt worden. Die späteren Heechee-Bücher von Frederick Pohl, Autoren des »Cyberpunk«-Genres wie William Gibson und Rudy Rucker sowie Filme wie Tron haben ausgekundschaftet, was wir finden und was wir werden, wenn wir in diese selbstgeschaffenen Welten hineingehen. Es ist kein Wunder, dass die Vorstellung, in eine Computerwelt hineinzugehen, so faszinierend ist – es ist die endgültige Verwirklichung dessen, was die erzählerische Fantasie seit den Jagdgeschichten an den Lagerfeuern des Paläolithikums angestrebt hat. Die Bilder, die Prosa und Poesie in der Vorstellung wecken, die das Theater in Szene setzt, die Film und Fernsehen (unterstützt von

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Hinter den Spiegeln (1988) | 179 Spezialeffekten) Millionen vorführen, können durch das Paradigma der Cyberspace-Schnittstelle nicht nur dreidimensionale Substanz erhalten, sondern auch interaktiv gemacht werden, sodass aktive Teilnahme an die Stelle passiven Betrachtens tritt. Ivan Sutherland, der so viel von dem erfand, was wir heute in der Computergrafikindustrie für selbstverständlich halten, erkannte in den 60er Jahren, dass der Weg zu einem dreidimensionalen Realismus in der Erzeugung stereoskopischer Bilder mit Hilfe zweier kleiner Monitore vor den Augen und der Errechnung des Blickpunktes durch Ertasten der Kopfhaltung bestand. Im Jahre 1968 baute Sutherland einen Helm mit zwei Monitoren, der an einer Reihe von Verbindungen und beweglichen Kodierstangen zur Bestimmung der Kopfhaltung von der Decke hing. Diese Apparatur, das wegen der ganzen Hardware, die über der Schädeldecke des Benutzers baumelte, »Damoklesschwert« genannt wurde, hatte nur einen schwerwiegenden Fehler – sie war, was die Rechnerleistung betraf, die die Sache praktikabel gemacht hätte, ihrer Zeit um 20 Jahre voraus. Heute, wo schnelle Zentraleinheiten und spezielle Grafikhardware breiten Kreisen die Echtzeiterzeugung realistischer 3D-Bilder zu einem erschwinglichen Preis zugänglich gemacht haben und wo zu erwarten steht, dass durch den anhaltenden Trend zu immer mehr Leistung für immer weniger Geld bald auch PC diese Möglichkeiten haben, sind die technischen Voraussetzungen geschaffen, um Sutherlands Prototyp in den Hauptstrom der Computergrafik einfließen zu lassen. Wie es Scott Fisher einmal beschrieben hat, ist das von der Forschergruppe im NASA Ames Research Center geschaffene Virtual Environment Display System das erste moderne Cyberspace-System.

Der entstehende Cyberspace Zur Erforschung des Cyberspace bedarf es spezialisierter Hardware und Software. Um einem die Illusion zu geben, im Cyberspace zu sein, sollte das System ein stereoskopisches Bild erzeugen, das sich mit der Kopfhaltung verändert. Ein solches System kann mit zwei kleinen Bildmonitoren an einem Helm, den der Benutzer trägt, geschaffen werden. An dem Helm ist auch eine Vorrichtung zur Verfolgung der Kopfbewegungen befestigt – so etwa beim Polhemus Navigator, der ohne Kabel eine Positionsgenauigkeit bis zu einem Achtelzoll (0,3 cm) und eine Winkelgenauigkeit von bis zu einem Viertelgrad erreicht. Für die Bildschirmherstellung kann man Teile aus LCD-Taschenfernsehern wiederverwerten, oder man kann Camcorder-Sucher so nehmen, wie sie sind. (Das derzeitige NASA-Design verwendet spezialgefertigte Bildschirme, um ein breites Gesichtsfeld zu bekommen, aber ihr erster Prototyp hatte handelsübliche LCD.) Jeder Monitor ist an eine eigene Grafiksteuerung angeschlossen, die die Ansicht des dreidimensionalen Modells der Welt von dem Blickpunkt des betreffenden Auges aus wieder-

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180 | John Walker gibt und die Darstellung je nachdem verändert, wie der Kopf verschoben und gedreht wird. Man könnte ein anfängliches experimentelles Cyberspace-System beispielsweise mit zwei PC als Wiedergabegeräten ausstatten und ein dreidimensionales Modell einspeisen, erzeugt mit AutoCAD oder AutoSolid von einem Steuerungscomputer, der die Kopfhaltung überwacht und den Wiedergabegeräten jeden Blickpunktwechsel mitteilt. Zur Benutzerinteraktion mit der Cyberspace-Umwelt könnte man den VPL-Datenhandschuh nehmen, der mit entsprechender Software die Erkennung von Handbewegungen als Befehlen und mit einem angeschlossenen Polhemus-Navigator das Bedeuten und Anfassen von Objekten im Cyberspace gestattet. Andere Eingabeformen wie Steuerknüppel und Pedale könnte man ebenfalls ausprobieren. Die gesamte ergänzende Hardware, die man für dieses anfängliche Cyberspace-Erkundungs- und Demonstrationssystem bräuchte, würde noch keine 15.000 Dollar kosten (den Steuerungscomputer nicht mitgerechnet, der nicht unbedingt auf das System zugeschnitten sein müsste) und könnte ohne weiteres überallhin transportiert und dort aufgebaut werden. Dieses System ist so einfach und transportabel, dass ich es »Cyberspace in der Aktentasche« nenne. Um den Realismus von Cyberspace-Systemen zu verbessern, wird man die Kapazität der nächsten Grafikhardware-Generationen gebrauchen können (es empfiehlt sich bereits mit den derzeit zahlbaren Produkten). Für erste Cyberspace-Erkundungen sollte die Software aus einem Bausatz bestehen, der eine rasche Prototypenentwicklung von CyberspaceUmwelten gestattet. Da der Cyberspace so neu ist und das Wie der Interaktion mit ihm erst noch von Grund auf herausgefunden werden muss, sollten wir versuchen, im Bausatz selbst die Interaktion so wenig wie möglich vorzuschreiben, sondern denen, die damit ihre eigenen Umwelten definieren wollen, die Sache nach Kräften zu erleichtern. Die anfänglichen Cyberspace-Umwelten werden buchstäblich dreidimensionale Modelle darstellen. Da der Cyberspace die nächstliegende Art und Weise ist, in drei Dimensionen zu arbeiten, rechnen wir damit, dass dreidimensionales Design das erste größere Anwendungsgebiet für Cyberspace-Systeme sein wird. Aber wie William Gibson sagt: »Die Straße findet selbst heraus, wie sie was benutzt.« Genau wie AutoCAD für viele Aufgaben, die deutlich außerhalb der traditionellen Grenzen des »CAD-Marktes« liegen, herangezogen worden ist, so kann man auch beim Cyberspace davon ausgehen, dass er sich rasch in ganz unvorhergesehene Richtungen auswächst. Wenn Videospiele Filme sind, die den Spieler einbeziehen, dann ist der Cyberspace ein Vergnügungspark, wo man alles erleben kann, was vorstellbar und programmierbar ist. Die Fülle der Erfahrungen, die sich im Cyberspace bieten wird, kann man sich heute noch kaum vorstellen. In dem Maße, wie sich Konventionen zur Definition von CyberspaceUmwelten herausbilden, wird der Cyberspace immer abstraktere Anwendungen finden. Ein Cyberspace-System kann sich als der beste Weg he-

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Hinter den Spiegeln (1988) | 181 rausstellen, um ein Hypertext-Recherchiersystem zu implementieren oder um wissenschaftliche Daten im mehrdimensionalen Raum zu visualisieren (man könnte sich eine »transdimensionale Cyberspace-Harley« vorstellen, mit der man auf jedem Vektor im Zustandsraum fahren kann). In der Entwicklung interaktiver Systeme müssen wir unterscheiden zwischen Abstraktionen, die durch die Grenzen des Mediums veranlasst sind (zum Beispiel Abkürzungen als Ausgleich für einen langsamen Fernschreiber), und Abstraktionen, die der Schnittstelle mehr Leistung oder Kombinationsgabe verschaffen (etwa die Fähigkeit, Makrobefehle zur Ausführung immer wiederkehrender Aufgaben zu erzeugen). Durch die Schaffung einer sehr reichhaltigen Umwelt ermöglicht es uns der Cyberspace, auf die Kompromissabstraktionen zu verzichten und die Abstraktionen auszukundschaften, die dem Benutzer neue Fähigkeiten an die Hand geben. Cyberspace ist eine Mehrzwecktechnik zur Interaktion mit Computern – nichts daran ist spezifisch für 3D-Bilddesign, genauso wenig wie Schnittstellen der fünften Generation auf der Grundlage von Rastergrafikbildschirmen nur für zweidimensionale Zeichnungen brauchbar sind. Es besteht jedoch die Tendenz, neue Techniken anfangs nur in der nächstliegenden und sinnfälligsten Weise anzuwenden. Die ersten Grafikbildschirme wurden für naheliegende Grafikanwendungen wie Zeichnen und Bildverarbeitung benutzt. Erst später, als die Grafiktechnik preisgünstiger wurde und Grafikbildschirme allgemein erhältlich waren, kam man zu der Einsicht, dass der sachgemäße Gebrauch zweidimensionaler Grafiken auch zur Klärung rein text- oder zahlenbezogener Aufgaben beitragen kann. So wird es auch mit dem Cyberspace kommen. Der Cyberspace ist die erste dreidimensionale Computerschnittstelle, die diesen Namen verdient. Benutzer, die sich damit abmühen, dreidimensionale Entwürfe nach mehrseitigen Ansichten, perspektivisch ausgeleuchteten Bildern oder Animationen zu begreifen, werden keine Verständnisschwierigkeiten oder Annahmeprobleme mit einer Technik haben, bei der sie einen Teil aufheben und umdrehen können, um seine Form zu verstehen, wie Superman durch eine komplexe Konstruktion fliegen oder mit Bauelementen Teile bilden und die Ergebnisse sofort sehen können. Wer sich perspektivisch getönte Bilder anschauen musste, um den Wert einer Wiedergabesoftware einzusehen, und den ersten Flug erleben musste, um die Animation für mehr als bloß eine Spielerei zu halten, wird den Cyberspace sicher erst dann zu würdigen wissen, wenn er zum ersten Mal hineingestiegen ist. Die Möglichkeit, Benutzer in computererzeugte dreidimensionale Umwelten zu versetzen und sie mit simulierten Objekten interagieren zu lassen, wird ein erster Schritt dahin sein, die Barriere zwischen dem Benutzer und der Welt im Innern des Computers einzureißen. Sie wird völlig neue Formen hervorbringen, mit Computern zu interagieren, neue Anwendungen für Computer und letztlich neue Arten, Computer selbst zu begreifen. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Hans-Ulrich Möhring

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182 | Jay David Bolter

Sehen und Schreiben (1991) Jay David Bolter

Vor einer Generation noch konnte der klassische Philologe Eric Havelock behaupten, dass »[die] visuelle Entwicklung von Schriftzeichen nichts mit dem Zweck von Sprache zu tun hat, nämlich der augenblicklichen Kommunikation zwischen Angehörigen einer Gruppe von Menschen«.1 Diese Ansicht passte zum Druckzeitalter, denn der Druck reduzierte jedes Schriftzeichen eines Textes auf das visuelle Minimum. Anders als in der Kalligrafie bestand die Kunst des Typografen darin, das Schriftzeichen unauffällig zu gestalten, die verschiedenen Buchstabenformen zu vermitteln, ohne den Leser abzulenken. Und die Typografen waren dabei so effektiv, dass wir als Leser die subtilen Unterschiede zwischen den einzelnen Schrifttypen, die heute in Büchern Verwendung finden, kaum bemerken. Als Kindern bringt man uns bei, still zu lesen und eine Seite mehr durchals anzusehen. Nun, da wir uns über die Drucktechnik hinausbewegen, scheint es nicht mehr angemessen, die visuelle Geschichte des Schreibens außer Acht zu lassen – die Veränderungen sowohl der Schriftzeichen selbst als auch ihrer Verwendung auf der Seite oder dem Bildschirm. Kein Schriftsystem ist statisch. Selbst die Buchstaben unseres Alphabets haben sich seit den Zeiten der Römer kontinuierlich weiterentwickelt. Im Mittelalter gab es in ganz Europa eine kunstvoll ausgeführte und stetig sich verändernde Menge von Handschriften. Zwar war das Zeitalter des Drucks seinem Wesen nach ungewöhnlich konservativ, doch keineswegs immun gegen Veränderungen. Und nun verheißt der Computer erneut eine beschleunigte Entwicklung, da er den Schreibern die Möglichkeit bietet, sich ihre eigenen Schrifttypen zu schaffen und Bildelemente auf neue Arten einzusetzen. Das Textlayout (die Oberfläche der Schriftrolle, die Buchseite) hat sich stets zusammen mit den einzelnen Elementen weiterentwickelt. Als im Übergang von der Bilderschrift zur phonetischen Schrift der Schriftraum

1 | Eric A. Havelock: The Literate Revolution in Greece and Its Cultural Consequences, Princeton 1982, S. 53.

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Sehen und Schreiben (1991) | 183 konzeptuell schmaler wurde, wurde auch das Layout schmaler und gedrängter. Frühe griechische Schriften waren linear in Konzept und Erscheinungsbild, während die gesamte nachfolgende Entwicklung bei Papyrus- und Pergamentschriften sowie gedruckten Büchern dazu diente, die zweite Dimension in der visuellen Gestalt des Textes wiederherzustellen. In der späteren Antike gewannen die Autoren wieder vermehrt Interesse an neben den Text gestellten oder in den Textraum integrierten Diagrammen oder Illustrationen. Seit dieser Zeit ist unser Schriftraum eine Mischung von Wort- und Bildelementen. Selbst die konservative Drucktechnik ließ das Aufkommen von Bildern und, in jüngerer Zeit, von mathematischen Diagrammen und Tabellen zu. Der Computer fügt dem nun die Fähigkeit zu Animation hinzu und verbindet so bildhafte, alphabetische und mathematische Schreibweisen zu einem dynamischen Ganzen.

Mechanische Lettern Frühe gedruckte Bücher trachteten danach, in Buchstabengestalt und Layout Handschriften nachzuahmen. Als Gutenberg seine Schrift schnitt, kopierte er die gotischen handschriftlichen Schreibweisen seiner Zeit, alles in allem ungefähr 300 Elemente einschließlich sämtlicher Ligaturen und Abkürzungen.2 Es dauerte mehrere Jahrzehnte, ehe die Drucker merkten, dass es keinen Zweck hatte, Abkürzungen und Ligaturen zu verwenden, die den Text zwar leichter (von Hand) zu schreiben, aber schwerer zu lesen machten. Nun gewährleistete die Herstellung (Bleiguss in Kupfer-Matrizen), dass jeder Buchstabe jeder Schrifttype immer die gleiche Form hatte. Die Präzision der Maschine ersetzte die Schönheit der handgeschriebenen Seite. Freilich eliminierte die Mechanisierung nicht menschliche Handwerkskunst aus dem Prozess des Schreibens. Stattdessen vergrößerte sie den Abstand zwischen dem Handwerker und dem Endprodukt aus Druckerschwärze auf Papier. Die Lettern wurden immer noch von Hand gefertigt: ein Handwerker formte einen Satz stählerner Punzen, die die Gestalt einer Schrifttype verkörperten. Diese Punzen wurden in Matrizen gepresst, die wiederum als Gussformen für die eigentlichen Bleilettern dienten. Manche der frühen Stempelschneider schnitten tatsächlich mehr als eine Form desselben Buchstabens, um die Varianten der Handschrift nachzuahmen; allerdings war diese Praxis bei einer Technik, deren Zweck identische Reproduktion war, offenkundig fehl am Platz. Im Druckzeitalter entwickelten die Buchstabenformen sich langsamer weiter als im vorangegangenen Zeitalter der Handschriften. Der Trend ging schrittweise dahin, die visuellen Buchstabenformen zu verknappen – praktisch hieß das, den

2 | Vgl. Sigfrid Heinrich C. Steinberg: Five Hundred Years of Printing, New York 1959, S. 31.

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184 | Jay David Bolter Schriftraum mit zunehmend weniger Schwärze und mehr Weißraum zu definieren. Die Serifen wurden gerader und dünner, und der Kontrast zwischen dünnen und dicken Strichen wurde stärker. Die Schrifttype ließ insgesamt immer weniger die Hand des Typenschneiders erkennen. Einen Höhepunkt erreichte dieser Trend im späten 18. Jahrhundert mit den Entwürfen von Didot und Bodoni. Im 19. Jahrhundert verstärkte die Mechanisierung sich noch mit der Entwicklung dampfgetriebener Druckerpressen und der Zeilengießmaschine. Für die Gestalt und Verwendung von Schrifttypen und das Aussehen der bedruckten Seite bedeutete das aber nicht mehr Standardisierung, sondern mehr Vielfalt. Die pantografische Graviermaschine machte es möglich, durch simples Nachziehen eines vergrößerten Musters eine neue Letter zu schneiden.3 Im 16. und 17. Jahrhundert waren die meisten Drucker mit irgendeiner Art Garamond zufrieden; im späten 19. und im 20. Jahrhundert konnten sie unter hunderten oder tausenden Schnitten wählen. Sie experimentierten mit Formen, die frühere Drucker für barbarisch oder unleserlich befunden (mittelalterliche Illuminatoren wohl aber zu schätzen gewusst) hätten. Andere Typografen reagierten auf diesen Wildwuchs, indem sie Schriften wie die Helvetica oder die Futura kreierten, die frei von allen unnötigen Strichen waren. Nichtsdestotrotz ist die Druckseite ein konservativer Schriftraum geblieben. In der Werbung tauchten Tausende exotischer, sogenannter Display-Schriften auf, aber nur selten in Büchern. In der Buchproduktion kann der Typograf nun unter Dutzenden Buchschriften (mit Namen, die zugleich Tradition und Innovation bezeichnen wie Times Roman, Modern, Baskerville und Garamond Nr. 3) wählen, die sein oder ihr geschultes Auge nach Lesbarkeit, »Grauwert« oder »Ton« zu unterscheiden vermag. Doch diese Unterscheidungen sind so subtil, dass der Durchschnittsleser keine der geläufigen Buchschriften erkennen kann. Wenn andererseits eine der Tausenden Display-Schriften für den Buchdruck verwendet würde, könnte der Leser sofort feststellen, dass hier etwas nicht stimmt. Der Druck ist in mehr als einer Hinsicht ein erstarrtes Medium: Seine Buchstabenformen nahmen zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gleichförmige Gestalt an und haben sich seitdem nur wenig verändert. Und der Computer kann, je nachdem, ob er als Hilfsmittel für den Druck oder als alternativer Schriftraum genutzt wird, diese Gleichförmigkeit verstärken oder die ganze Tradition der Typografie hinwegfegen.

3 | Vgl. Jay Benjamin Lieberman: Type and Typefaces, New Rochelle 1978, S. 54f.

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Sehen und Schreiben (1991) | 185

Elektronische Lettern »Die Kunst der Schriftgestaltung wird erst dann gänzlich verstanden sein, wenn sie einem Computer vermittelt werden kann …«4

Während die Entwicklung im Druckzeitalter dazu tendierte, das visuelle Symbol einfach, schmucklos und mathematisch präzise zu machen, entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine Gegenreaktion, an deren Spitze William Morris stand, der fast jedweder Form von Mechanisierung misstraute. In England wie überall sonst gingen die Drucker des 19. Jahrhundert mehr auf Quantität denn Qualität. Die Nachfrage nach billigen Zeitungen und Büchern explodierte, und Erfinder versuchten, die Produktionsengpässe zu beseitigen, indem sie mechanische Druckerpressen, neue billige Papierarten und den mechanischen Schriftsatz entwickelten. Doch als Morris 1891 die Kelmscott Press gründete, ging es ihm nicht um Massenproduktion. Anstatt nach industrialisierter Einfachheit trachtete er nach Ornament und organischer Form, eine Rückkehr ins erste Jahrhundert des Druckzeitalters oder in die Zeit der Handschriften. Er gestaltete seine »Golden Type« nach dem Vorbild der Arbeit eines Druckers aus dem 15. Jahrhundert, Nicolas Jenson. Für seine Chaucer-Ausgabe ging er noch weiter und entwarf eine neogotische Drucktype. Er benutzte eine Handpresse und handgeschöpftes Papier. Die dabei entstehenden Bücher waren schön, aber exzessiv; ihre Seiten waren mit Schwärze und Verzierungen überfüllt – und in ihrer Anmutung gänzlich verschieden von den frühen Druckwerken, die Morris nachzuahmen versuchte.5 Die Ironie dabei ist, dass diese nostalgischen Bücher nur im Industriezeitalter hätten produziert werden können: Die Präzision seiner Chaucer übertraf alles, was in einem Druck aus der Renaissance oder in einer mittelalterlichen Handschrift möglich gewesen wäre. Was es Morris erlaubte, auf diese typisch viktorianische Weise in die Vergangenheit zurückzugehen, war der technische Fortschritt: Er verwendete fotografische Vergrößerungen von Druckseiten zum Studium alter Schriften.6 Morris’ Werk als Drucker war eine Art technischer Nostalgie, die in der modernen Technik schwelgte, die sie scheinbar ablehnte. Eine ähnliche Nostalgie zeigte sich im ersten Jahrzehnt der Textverarbeitung. Textverarbeitung ist ein Versuch, den Computer in den Dienst der älteren Drucktechnik zu stellen, und die Textdarstellung des Textverarbeitungsprogramms ist nostalgisch, weil sie auf die ästhetischen Kriterien der Druckerpresse zurückblickt. In Wahrheit erlaubt das elektronische Medi-

4 | Donald E. Knuth: »The Concept of a ›Meta-Font‹«, in: Visible Language 16 (1982), S. 3-27, hier: S. 5f. 5 | Vgl. S.C. Steinberg: Five Hundred Years of Printing, a.a.O., S. 29f. 6 | Vgl. William Morris: The Ideal Book. Essays and Lectures on the Arts of the Book by William Morris, hg. v. William S. Peterson, Berkeley 1982, S. XXXIV.

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186 | Jay David Bolter um völlige grafische Freiheit: Der Schreiber kann bei der Darstellung von Buchstaben, Diagrammen oder Bildern letztendlich jedes Pixel auf dem Bildschirm kontrollieren. Wenn die Schreiber, auf einem Personal Computer wie dem Macintosh, diese Freiheit erstmals erhalten, schwelgen sie in noch größerem Überschwang als Morris und dekorieren ihre Texte mit einer Vielfalt von Schriftgrößen, -stilen und -schnitten. Sie mischen Elemente aus der gesamten Geschichte der Typografie, oft ohne jedes Gefühl für Angemessenheit oder Proportion. Professionelle Grafiker können ein ähnliches Lamento anstimmen: Rastergrafikfähige Computer gestatten es ungeübten Benutzern, sich wahren Grafikorgien hinzugeben. Oft ist es eine grafische Gestaltung, die eher zu einem gedruckten Prospekt oder einem Plakat passt als auf den Computerbildschirm. Im neuen elektronischen Schriftraum herrscht bei der Qualität von Typografie und Grafik ein unausweichlicher Niedergang, weil der Computer seine Benutzer zu dem demokratischen Gefühl ermutigt, sie könnten ihre eigenen Gestalter sein. Jeder kann mit Schriftgrößen oder -stilen experimentieren, wenn der Computer die Schriften zur Verfügung stellt und auf Befehl an die richtige Stelle setzt. Mit Hilfe automatischer Zeichenprogramme kann sich jeder seine eigenen Illustrationen schaffen oder einfügen. Die neue Technologie vermischt damit die Rollen des Autors und des Schriftsetzers, die seit Anbeginn des Druckzeitalters getrennt gewesen waren. Im Druckzeitalter hatten die Typografen Zugang zu speziellen Werkzeugen und die Fähigkeiten, sie zu nutzen, und sie trafen Entscheidungen zur Seitengestaltung. Drucker haben ihre Rolle immer als eine handwerkliche verstanden, und ihre Zünfte, die dem Schutz ihrer Ästhetik ebenso dienten wie dem ihrer wirtschaftlichen Vorrechte, blieben bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts stark. Jetzt kann der elektronische Autor/Gestalter professionelle Werkzeuge besitzen und benutzen, ohne sich groß darum zu kümmern, auch professionelle Fertigkeiten zu entwickeln. Die elektronischen Autoren dilettieren freilich in der falschen Kunst, wenn sie sich zu viele Sorgen um die Typografie ihrer Texte machen. Die Pixel des elektronischen Mediums definieren einen Raum, der inhärent verschieden von dem aus Druckerschwärze auf Papier ist. Zurzeit ist der elektronische Raum grobschlächtiger: Es ist nicht möglich, subtil geschwungene oder verklammerte Serifen in Buchstabenformen oder fein organische Linien in Zeichnungen herzustellen. Zwar wird der Computerbildschirm sich in dieser Hinsicht noch verbessern; die Pixel werden kleiner werden und einen dichteren Raum erzeugen. Der diskrete Charakter von Computergrafik aber wird sich in absehbarer Zukunft nicht verändern und weiterhin in einem Spannungsverhältnis zum fortlaufenden Charakter von Tinte auf Papier, Pergament oder Papyrus stehen. Auch die Flüchtigkeit des elektronischen Bildes ermutigt nicht dazu, auf feine visuelle Details zu achten. Elektronische Autoren spüren, dass ihr Schreiben und damit auch ihre Typografie immer widerruflich und veränderbar sind. Der traditionelle Typograf hat den genau gegenteiligen Eindruck – jeder Buch-

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Sehen und Schreiben (1991) | 187 stabe muss an seinem Platz sein, weil es keine Möglichkeit gibt, 1500 gedruckte Exemplare zurückzurufen, wenn ein Fehler entdeckt wird. In diesem Sinne operiert selbst die bescheidene Textverarbeitung in einem visuellen Raum, der von dem der Druckerpresse und Schreibmaschine verschieden ist. Typografen und Grafiker, die über den Kuddelmuddel klagen, den naive Benutzer auf ihren Bildschirmen anrichten, sind selbst Kinder einer anderen Technik und geneigt, die Schreib- und Zeichenfläche des Computers nach falschen Begriffen zu beurteilen. Auch professionelle Typografen benutzen den Computer. So wie die Textverarbeitung die Schreibmaschine ersetzt hat, so dominieren nun Computerredaktion und Fotosatz die professionelle Buchproduktion. Die meisten Bücher werden heute durch elektronischen Fotosatz hergestellt; metallene Lettern sind fast verschwunden, selbst in der Kunstbuchproduktion. Der Computer führt einen neuen Grad an mathematischer Exaktheit in die Gestaltung der Lettern selbst ein. Eine Methode, elektronische Schriften herzustellen, ist die, vergrößerte Fotografien der Lettern abzupausen und zu digitalisieren. Die andere, interessantere Methode des Entwurfs am Computer besteht nicht darin, alte Buchstabenformen Punkt für Punkt zu kopieren, sondern neue Lettern mathematisch zu generieren. Der Computerwissenschaftler Donald Knuth benutzt parametrisierte Gleichungen zu Definition der Kurvenlinien der Buchstaben. Der Computer generiert die Punkte durch Auflösung der Gleichungen. Was Knuth hier getan hat, ist, das Alphabet in den Raum der analytischen Geometrie umzusiedeln. Die Idee geometrisch definierter Lettern ist alt: Sie reicht zurück bis zu den Typografen, Kalligrafen und Künstlern der Renaissance wie Pacioli, Albrecht Dürer und Tory.7 Anstatt mit Zirkel und Lineal kreiert der Computerspezialist Buchstabenformen durch numerische Analyse, genau die Aufgabe, für die der Computer ursprünglich entwickelt wurde. Computertypografie reduziert den Schriftraum auf eine kartesische Fläche, auf der jeder Buchstabe durch eine Reihe nummerierter Linien oder Punkte bestimmt ist. Es ist dies der Triumph des Mathematikers des Schreibens, der in der Ära des mechanischen Drucks sich nie wirklich durchzusetzen vermochte. Andererseits ist die Verwendung des Computers zur Mathematisierung des Druckens ein Beispiel von technischer Nostalgie. Er richtet unsere Aufmerksamkeit rückwärts auf das Medium Druck und wendet mathematische Präzision auf, um das Aussehen des Textes auf der Seite zu perfektionieren. Perfektion definiert sich dabei nach wie vor in Begriffen, wie sie von Druckern im 15. und 16. Jahrhundert aufgestellt wurden – als das saubere, scharfe, statische Bild, das den monumentalen Schriftraum von Druckerschwärze auf Papier besetzt. Die Arbeit an der Computertypografie lenkt unsere Energien davon ab, den elektronischen Raum an und für sich zu würdigen – einen Raum, in dem die Feinheiten von Schriftgröße und

7 | Vgl. J.B. Liebermann: Type and Typefaces, a.a.O., S. 41.

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188 | Jay David Bolter -stil für die Sicht des Autors oder Lesers auf den Text vielleicht nicht mehr wichtig sind.

Die elektronische Seite Drucktypografie beginnt mit dem Buchstaben und geht nie sehr viel weiter. Ein kurzer Blick in das Handbuch des Typografen zeigt, welche Wichtigkeit der Wahl der Schrifttype selbst beigemessen wird. Tatsächlich bleiben, wenn einmal Schrifttype und -stile (und vielleicht die Druckfarbe) für ein Buch gewählt sind, nur mehr wenige Entscheidungen zu treffen. Jede Seite wird ein Rechteck aus Text mit etwas Weißraum rundherum. Illustrationen besetzen für sie reservierte Blöcke innerhalb des Rechtecks oder gleich auf eigenen Seiten, und in jedem Fall sind Illustrationen in ›ernsthaften‹ diskursiven Büchern relativ selten. Werbung und Zeitschriften bieten mehr Möglichkeiten für kreative Gestaltung, aber das Layout eines Buches ist so konservativ wie die Wahl der einem Buch angemessenen Schrifttype. Und viele Typografen würden beipflichten, dass alle Layoutentscheidungen sich aus der Letter ergeben. Der Druckprozess ist in Wirklichkeit also eine Buchstabenverarbeitung. In gewisser Weise bot die frühere handgeschriebene Seite mehr gestalterische Freiheit als die gedruckte. Schon zur Zeit der Karolinger verwendeten die Schreiber eine andere Schrift (die Unziale) zur Bezeichnung von Titeln und Abgrenzung von Abschnitten. Das Wort »Rubrik« kommt von Rubrikation, der mittelalterlichen Technik, einen großen roten Versal an den Textanfang zu stellen. Bis ins 13. Jahrhundert hatten die Schreiber eine Reihe von visuellen Hinweiszeichen entwickelt, um dem Leser dabei zu helfen, Text einzuordnen und sich darin zurechtzufinden. Unterschiedliche Buchstabengrößen und -stile, verschiedenfarbige Tinte, Abschnittsnummern – alle diese Hilfsmittel wurden im Mittelalter erstmals angewandt und hernach im Druckzeitalter standardisiert. Das vielleicht wichtigste visuelle Strukturelement des mittelalterlichen Kodex war die Marginalie. Mittelalterliche Texte waren häufig in zwei oder mehr Schichten auf der Seite arrangiert. In der Mitte der Seiten stand der ältere und altehrwürdige Text, während die Seitenränder Erläuterungen und Kommentare eines oder mehrerer Gelehrter boten. Diese Struktur gab dem Leser Orientierung. Es war relativ einfach, zwischen Text und Notizen vorwärts und rückwärts zu gehen, viel einfacher jedenfalls, als es für den antiken Leser gewesen war, mit mehreren Rollen Papyrus herumzujonglieren. Marginalien sagten dem Leser, wonach er Ausschau halten sollte und gaben dabei fortlaufende Unterstützung. In der Renaissance und später fanden viele Leser diese Anmerkungen hinderlich, der Ballast von Jahrhunderten Fehldeutung des Textes musste weg. Die Drucker begannen, die Seiten von diesem deutenden Material zu säubern und ließen den Text den gesamten Schriftraum einnehmen und damit für sich selbst sprechen. Anmerkungen rückten an den Fuß der Seite und schließlich ans Ende des Buches. Doch

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Sehen und Schreiben (1991) | 189 mit dieser Verbannung der Anmerkungen opferten die Drucker die Unmittelbarkeit der Querverweise und das Gefühl von visuellem und intellektuellem Kontext, das die Marginalien ihren mittelalterlichen Lesern vermittelt hatten. (Erst im elektronischen Text können wir sowohl Unmittelbarkeit als auch Kontext wiedererlangen.) Im modernen gedruckten Buch ist der Raum einfach und sauber. Unterschiedliche Texte wetteifern nicht nebeneinander um die Aufmerksamkeit des Lesers, wie es immer noch in Zeitschriften oder Zeitungen der Fall ist. In einer Zeitschrift ist der Text auf Blöcke in unterschiedlichen Formen und Größen verteilt, und die Leser sehen sich zwischen den Blöcken hin und her gezogen. Das Seitenlayout spiegelt die Aktualität des Materials wider – eine Mischung von Inseraten, Notizen, langen und kurzen Artikeln. Eine Illustrierte oder Zeitung steht in dieser Hinsicht dem topografischen Schriftraum des Computers näher, in dem die »Typografie« ebenfalls die Aktualität des Textes selbst widerspiegelt. Größere Texteinheiten lassen sich samt Bildern auf dem Computerbildschirm isolieren. Der Bildschirm wird so zur Illustriertenseite, auf der die Einheiten sich selbst umordnen, um diversen Lesenbedürfnissen entgegenzukommen. In der derzeitigen Generation von Maschinen beispielsweise ist das bestimmende Merkmal der Computertypografie das sogenannte »Fenster«. Ein Computerfenster ist ein Mittel zur Umrahmung: Es hebt einen Raum für eine bestimmte Einheit von sprachlichem Text, Grafik oder beidem hervor und grenzt die Sicht des Schreibers/Lesers auf diesen Raum, der eine unbestimmte zweidimensionale Ebene ist, ein. Das Fenster mag jeweils nur einen Ausschnitt dieser Fläche zeigen; meist aber lässt die Fensteransicht sich anpassen, oder man kann darin scrollen, um andere Teile zu zeigen. Bei manchen Computersystemen lassen sich die Fenster »nebeneinander« anordnen – Seite an Seite, so dass der Schreiber/Leser zwei oder mehr Flächen auf einmal betrachten kann. In anderen Systemen können die Fenster »überlappend« angeordnet werden, so dass Text- und Grafikebenen sich übereinander stapeln, wiederum ohne sich wirklich zu berühren. Der gesamte elektronische Schriftraum wird zu einem Stapel zweidimensionaler Schreibflächen. Natürlich ist auch ein gedrucktes Buch ein Stapel zweidimensionaler Flächen oder Seiten; der große Unterschied aber ist, dass die Druckseiten ihre Reihenfolge beibehalten und dass, abgesehen von Spiel- und Lernbüchern für Kinder, jede Seite alle darunter liegenden Seiten vollständig verdeckt. Bei der Arbeit am Computer kann der Schreiber/Leser ein Fenster beiseite schieben, um sich Teile der Fenster dahinter anzusehen oder er kann den Stapel umordnen, indem er ein Fenster von unten herauspflückt und ganz nach vorn stellt. Wenn die Fenster unterschiedliche Texte beinhalten, sagen wir, zwei Kapitel eines Buches, kann der Leser hin und her springen und jedem etwas hinzufügen oder etwas daraus ausschneiden. Dieser neue typografische Raum wird manchmal als zweieinhalbdimensional bezeichnet, weil der Schreiber von oben auf die gestapelten Ebenen hinunterblickt. Er kann sich nicht in einer vollen drit-

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190 | Jay David Bolter ten Dimension hinter die Ebenen oder um sie herum bewegen, obwohl das in der nächsten Generation von Computersoftware durchaus möglich sein könnte.8 Keine bisherige Schrifttechnologie hat je etwas wie die auf Fenster verteilte Typografie heutiger Mikrocomputer geboten. Zwischen den Fenstern hin und her zu wechseln ist in gewisser Weise wie in den Seiten eines Notizblocks herumzublättern, aber nichts an früherer Technologie entspricht dem Vergrößern des Fensterausschnitts (der Text stellt sich automatisch um, um den verfügbaren freien Raum auszufüllen) oder dem Scrollen durch einen Text. Diese Verfahren zeigen, dass der Text im Fenster nicht fixiert ist wie auf der Druckseite. Genau genommen können Text und Fenster sich jederzeit verändern. Das Fenster kann wie ein Hubschrauber über die Textebene hinweg fliegen, oder aber der Text verteilte sich neu auf Zeilen, um sich der Fenstergröße anzupassen. Sichtbare Fenster oder Fensterausschnitte wetteifern um die Aufmerksamkeit des Lesers und verändern aktiv Gestalt und Status, wenn es ihnen gelingt, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen (siehe Abb. 47.1)9. Wenn wir Hypertext betrachten, nehmen die Fenster strukturelle Bedeutung an. In einem Hypertext gibt es operationale Links zwischen den Einheiten: Text in einem Fenster lässt sich mit Text in einem anderen verknüpfen. Einem Link zu folgen lässt Fenster erscheinen, verschwinden oder sich neu anordnen, sodass der angesteuerte Text in den Bildschirmvordergrund rückt und die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich zieht. Diese Animation wird zu einem Grundelement elektronischer Typografie. Es ist, als würden sich in einem Buch die Seiten selbsttätig umordnen, um dem Leser den nächsten interessanten Absatz vor Augen zu führen. Selbst in einem einzelnen Fenster lassen sich die Objekte (Text und Bilder) stapeln: Text kann sich unter eine Grafik schieben, oder die Grafik selbst lässt sich verschieben, um eine andere Grafik freizulegen. Die Bildschirmaufteilung kann sich immer ändern, und der Leser kann an diesen Veränderungen mitwirken. Wie der Text selbst ist auch die Typografie nicht vor dem Lesevorgang festgelegt, sondern ist vielmehr eine Manifestation des Leseaktes; sie ist ein Aspekt des interaktiven Textes. Der Bildschirm nimmt eine Reihe von Konfigurationen an, und diese sich entwickelnde Reihe ist der visuelle Ausdruck der Reise eines bestimmten Lesers durch eine textuelle Struktur. Keine dieser Konfigurationen wird wahrscheinlich so attraktiv sein wie eine Seite, die ein professioneller Typograf

8 | Vgl. David M. Levy/Daniel C. Brotsky/Kenneth R. Olson: Formalizing the Figural. Aspects of a Foundation for Document Manipulation, Palo Alto 1988, bes. S. 3ff. 9 | Abb. 47.1 zeigt: a) Nebeneinander angeordnete Fenster teilen den Bildschirm in zwei, vier oder mehr Rechtecke auf, die sich alle auf derselben Ebene befinden. b) Überlappende Fenster besetzen unterschiedliche Ebenen oder Schichten, näher oder weiter entfernt vom Leser.

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Sehen und Schreiben (1991) | 191 für den Druck produziert. Doch keine dieser Konfigurationen währt sehr lange, und es ist die Bewegung von einer Konfiguration zu nächsten, die viel von der Bedeutung eines elektronischen Textes trägt. In einem konventionellen gedruckten Text oder Manuskript bewegt sich der Blick des Lesers den Buchstaben entlang und springt vielleicht zwischen Bildern vor und zurück, während die Buchstaben und Bilder selbst statisch sind. In einem elektronischen Text sind sowohl das Auge des Lesers als auch die Schriftfläche in Bewegung. Computeranimation kann eine Vielzahl von Formen annehmen. Es handelt sich nicht nur um programmierten Film, Standbilder, die nacheinander gezeigt werden, um die Illusion einer fortlaufenden Szene hervorzurufen. Computertext und -grafik können auch in dem Sinne animiert sein, dass sie ihrem eigenen organischen Impuls folgen, sich scheinbar ihrer eignen Logik und Zeitgabe folgend bewegen oder verändern. Selbst alphabetische Texte können an verschiedenen Stellen auf dem Bildschirm erscheinen oder in Abständen verschwinden.10 Eine derartige Animation erfordert eine besondere Lesetechnik, bei der sich eher der Text den Blick entlang bewegt als umgekehrt. Allerdings ist diese Art des Lesens bereits von elektrischen, heute elektronischen Anzeigetafeln her bekannt, die Nachrichten und Werbung zeigen. Seit Jahrzehnten liest das Publikum unstete Texte in Form von Filmuntertiteln. Der Unterschied freilich ist, dass der Computer es jedem Leser erlaubt, mit der Textbewegung zu spielen und dem Schreiber Freiraum für solche Experimente bietet. Das Lesen der komplexen elektronischen Seite erfordert es, auf Text, Bild und deren Wechselbeziehung zu achten. Die Leser müssen zwischen der linearen Präsentation verbaler Texte und dem zweidimensionalen Feld elektronischer Bilderschrift hin und her wechseln. Sie können alphabetischen Text auf konventionelle Weise lesen, müssen aber genauso Diagramme, Illustrationen, Fenster und Icons aufnehmen. Elektronische Leser pendeln daher zwischen zwei Lesemodi, oder vielmehr, sie lernen auf eine Weise zu lesen, die Sprach- und Bildlesen verbindet. Zu ihrem Lesevorgang gehört das Aktivieren von Zeichen durch Tippen und Bewegen des Cursors und das Erfassen der Symbolbedeutung der Bewegungen, die ihre Eingriffe auslösen.

Bilder im Text Bilder in den Schriftraum des Computers einzurücken ist bemerkenswert leicht. Allerdings verlangt der elektronische Raum eine Übersetzung: Das Bild muss digitalisiert, alle durchgehenden Linien und Schattierungen müssen in Binärcode umgewandelt werden. Es ist möglich, ein von einer

10 | Vgl. Youichi Nishimura/Sato Keiichi: »Dynamic Information Display«, in: Visible Language 19/2 (1985), S. 251-271.

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192 | Jay David Bolter Videokamera aufgenommenes Bild in den Computer einzuspeisen – einen Ausschnitt des kontinuierlichen Spektrums sichtbaren Lichts einzufangen, diesen Ausschnitt in Bits umzuwandeln und diese Bits als Bild in der Maschine abzuspeichern. Ein Grafikprogramm kann dann einen Teil des Bildes isolieren, vergrößern oder verkleinern, ein Spiegelbild oder Negativ erzeugen. Das Programm kann alle diese weitergehenden Umwandlungen aber nur leisten, weil das Bild kodiert ist. Und, allgemein gesagt: Der Computer kann Text und Bild nur deshalb so einfach kombinieren, weil beides in demselben Binärcode dargestellt ist. Die Digitalisierung entkleidet Bilder unvermeidlich ihres Kontextes und erlaubt es der Maschine, oder vielmehr dem Programmierer, neue Kontexte zu definieren. Ein Schritt weiter ist die Umwandlung einiger Bitmuster in operationale Symbole oder Icons. Ein Icon ist, wie wir uns erinnern, ein Bild, das für ein Dokument oder ein Programm steht, auf genau dieselbe Weise, wie ein bestimmtes Pixelmuster für den Buchstaben »A«, ein anderes für »B« usw. steht. Beim elektronischen Schreiben gehören also Bilder und verbaler Text demselben Raum an, und Bilder können überwechseln und zu Textsymbolen werden. Der einheitliche Charakter des elektronischen Raums ist ungewöhnlich, aber nicht ohne Vorbild in der Geschichte des Schreibens. Die Entwicklung der phonetischen Schrift eliminierte die Bilder nicht völlig aus dem Schriftraum, sondern schuf eine Zweiteilung in Bild und phonetisches Zeichen. Die phonetische Schrift zieht den Schreiber und den Leser in den rein linearen Raum der gesprochenen Sprache, während Bilder, Diagramme und Grafiken ihn in die entgegengesetzte Richtung des Bildraumes ziehen, der zumindest zweidimensional und dessen Bedeutung nicht strikt kodifiziert ist. Unterschiedliche Schrifttechniken haben auf diese Spannung unterschiedlich reagiert. In der ägyptischen Schrift beispielsweise bestand ein inniges Verhältnis von Bild und Text, sowohl in Wandmalereien als auch auf Papyrus. Die Hieroglyphen waren selbst kleine Bilder, und so konnte die ägyptische Schrift sich visuell wie konzeptuell mit der Illustration vermischen.11 Der griechische und der römische Schriftraum waren weniger bilderfreundlich. Die Antike betrachtete das Schreiben als ein Mittel, das gesprochene Wort in fixierter Form festzuhalten, bis es durch die Stimme des Lesers wiederbelebt wurde. Buchschmuck war daher in der Antike eine unbedeutende Kunst.12 Vom reinen alphabetischen Raum früher griechischer Inschriften dauerte es mehrere hundert Jahre, ehe die Griechen Bilder und Diagramme im Schriftraum zuließen.13 Die wachsende Bedeutung von Bildern in spätantiken Büchern war ein Verbindungsglied zum Mittelalter. Mittelal-

11 | Vgl. Kurt Weitzmann: Illustrations in Roll and Codex. A Study of the Origin and Method of Text Illustration, Princeton 1970, S. 57-69. 12 | Vgl. Carl Nordefalk: »The Beginning of Book Decoration«, in: Essays in Honor of Georg Swarzenski, hg. v. Oswald Goetz, Chicago 1951, S. 9-20. 13 | Vgl. K. Weitzmann: Illustrations in Roll and Codex, a.a.O., S. 97ff.

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Sehen und Schreiben (1991) | 193 terliche Manuskripte stellten einen komplexen Raum aus Worten, Bildern, Illustration und Schmuck dar – den komplexesten vor dem elektronischen Medium. In mittelalterlichen Büchern waren die Bilder häufig vom Text getrennt und wurden als ganzseitige Miniaturen herausgestellt. Es gab aber auch einen neuen Impuls zur Ausschmückung des Schriftraums – zur Schaffung der illuminierten Buchstaben, die in der mittelalterlichen Schriftkunst so einzigartig waren. Illuminierte mittelalterliche Buchstaben fungierten, wie Computericons, zugleich als Text und Bild. Genau genommen drohte die mittelalterliche Illumination Buchstaben in Bilder oder abstrakte Zeichnungen zurückzuverwandeln und machte es mitunter unmöglich, die Buchstaben zu entziffern.14 Das vielleicht bekannteste Beispiel dafür findet sich im Book of Kells, wo die griechischen Buchstaben Chi-Rho-Iota (sie stehen für »Christus« bei Matthäus 1,18) eine ganze Seite füllen. Die Zeichnung ist derart in sich verschlungen, dass die Buchstabengestalt fast völlig überdeckt wird. Dennoch bleiben diese illuminierten Buchstaben Teil des Textes: Sie müssen einbezogen werden, um den Vers zu lesen. Sie stellen die perfekte wechselseitige Durchdringung von Bild- und Wortraum dar. Das Book of Kells enthält abstrakte Illumination, aber die mittelalterlichen Illuminatoren konnten ebenso Einzelbuchstaben in Bildminiaturen mit erkennbaren menschlichen oder tierischen Motiven verwandeln. Manchmal wurde der Buchstabe verzerrt, damit er das Motiv in sich aufnehmen konnte, manchmal wurden die Menschen- oder Tiergestalten in die Länge gezogen oder verzerrt, um in oder um den Buchstaben herum zu passen. Die Initiale war oft – gemessen am übrigen Text – überproportioniert und konnte in ihrem wuchernden Wachstum so gut wie alles und jedes enthalten – phantastische Kreaturen genauso wie Elemente der natürlichen Welt. Es ist, als hätten die Illuminatoren sich bemüht, die ganze sichtbare Welt in den Buchstaben aufzunehmen, der sich wiederum enorm vergrößerte, um die Welt in sich aufzunehmen. Die mittelalterliche Illumination verkörperte eine Dialektik zwischen Schrift und Welt: Sie war ein Mittel, wodurch das Schreiben die Welt be- oder umschreiben konnte – nicht symbolisch durch Sprache, sondern visuell durch die Buchstabengestalt selbst. Die Drucktechnik bevorzugte eine striktere Trennung von Schrift- und Bildraum. Zwar waren Diagramme und Illustrationen so beliebt wie eh und je, aber aus technischen Gründen waren diese Bilder nicht so gut in die Worte eingebettet wie in den besten mittelalterlichen Traditionen.15 Holzschnitt-Illustrationen wurden als eigene Hervorbringung vom gedruckten Text separiert – das Holz verriet viel stärker die Hand des Künstlers. Viele gedruckte Bücher enthalten keine Illustrationen, genauso wie

14 | Vgl. Jonathan James Graham Alexander: The Decorated Letter, New York 1978, S. 8. 15 | Vgl. Edward R. Tufte: The Visual Display of Quantitative Information, Cheshire 1983, S. 181f.

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194 | Jay David Bolter viele mittelalterliche Manuskripte. Das Ideal eines gedruckten Buches war und ist eine Abfolge von Seiten, die geordneten alphabetischen Text enthalten. Als der Holzschnitt durch den Kupferstich verdrängt wurde, gingen kunstvoller und feiner gezeichnete Bilder in das gedruckte Buch ein. Drucker und Autoren wurden erfinderischer im Zusammenstellen von Wörtern und Bildern. Das 17. und 18. Jahrhundert war das Zeitalter der allegorischen Frontispize und Illustrationen. (Das vielleicht berühmteste Beispiel ist das überfüllte Frontispiz in Vicos Neuer Wissenschaft, das, wie Vico in der Einführung geduldig erklärt, Punkt für Punkt die wesentlichen Elemente seiner Geschichtsdeutung verkörpert.16) Heute ist es technisch möglich, Bilder und Illustrationen in und um den Text zu stellen, ja sogar den Text überlagern zu lassen. Die Photolithografie gestattet es, jederlei Bild auf die Seite aufzunehmen. Manche Bücher (besonders solche für kleine Kinder oder für den Couchtisch) bestehen hauptsächlich aus Bildern. Und doch sind Bild und Texträume noch immer nicht so subtil miteinander kombiniert wie in mittelalterlichen illuminierten Handschriften. In vielen Büchern für erwachsene Leser sind die Textblöcke nach wie vor von den Bildblöcken gesondert, und oft werden Bilder und Bildtafeln in der Buchmitte versammelt, um Druckkosten zu sparen. Andererseits tendieren Illustrierte, Zeitungen, Anzeigenblätter und Plakate dazu, die Vorherrschaft von linearem sprachlichem Text in unserer Kultur zu untergraben. Sie arbeiten gegen das durch das gedruckte Buch vorgegebene Ideal. Vom Nullpunkt früher griechischer Schriften an, in denen kein Platz für Bilder war, erlaubten also die Papyrusrolle, der Kodex und das gedruckte Buch eine Vielzahl von Beziehungen zwischen Bild und Text: Bilder waren Schmuck, Erläuterung, Allegorie. Sie kommentierten den Text und wurden durch den Text kommentiert. Doch nur im mittelalterlichen Kodex waren Wort und Bild so eng verbunden wie auf dem Computerbildschirm. Auf dem Schirm wie auf dem mittelalterlichen Pergament durchdringen sprachlicher Text und Bild einander bis zu einem Grad, dass der Schreiber und Leser nicht mehr sagen kann, wo der Bildraum endet und der Sprachraum beginnt.

Diagrammatischer Raum Das Diagramm ist eine Art Bilderschrift, die nur nach der Erfindung der phonetischen Schrift bestehen kann. Es handelt sich um ein kodifiziertes Bild, in dem jedes Element einen genau definierten Bezug hat – es ist sprachliches Schreiben mit bildlichen Elementen. Allegorische Bilder sind Diagramme, deren Elemente Bilder sind, die die Welt wachrufen. Heute

16 | Vgl. Giambattista Vico: The New Science of Giambattista Vico, übers. v. T.G. Bergin/M.H. Fisch, Ithaca 1948, S. 2-23.

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Sehen und Schreiben (1991) | 195 wirken sie seltsam altertümlich, eben weil wir erwarten, dass Diagramme eher aus abstrakten als ikonografischen Elementen bestehen. In Wahrheit gibt es eine überraschend lange Tradition von abstrakten Diagrammen als Darlegungshilfen. Plato benutzte ein Liniendiagramm, um seine Erkenntnistheorie im Staat zu erläutern. Das für Computerstrukturen so wichtige Baumdiagramm ist uralt: Es haben sich frühe mittelalterliche Handschriften erhalten, die hierarchisch geordnete Informationen in Baumform darstellen (es gibt zum Beispiel Bäume in den Handschriften von Cassiodorus17). Infolge der Tradition der Illumination, bei der Schrift und Bild im selben Schriftraum nebeneinander stehen, war die mittelalterliche Schreibkunst empfänglich für allegorische wie abstrakte Diagramme. Zu den berühmtesten und kunstvollsten Diagrammen zählten jene des Theologen aus dem 13. Jahrhundert, Ramon Llull.18 Diagrammatische Darstellungen von Denkmodellen setzten sich im Druck fort, und nach dem Wechsel vom Holz- zum Kupferschnitt hatten Diagramme, wie Illustrationen ganz allgemein, eine Hochblüte. Unter dem Einfluss von Llull produzierten Giordano Bruno und die anderen Magier der Renaissance Bücher von größtem visuellem Interesse, voll von abstrakten und allegorischen Darstellungen ihres Denkens.19 Auch nüchternere Autoren benutzten Diagramme. Besonders beliebt waren Baumdiagramme zur Darstellung verzweigter Themen. Alle Diagramme in Hand- oder Druckschriften sind natürlich statische Darstellungen, die vom Schreiber und Leser geistig aktiviert werden müssen – genauso wie verbaler Text. Die elektronische Technologie bietet nun ihren Autoren und Lesern zum ersten Mal in der Geschichte der Schrift wirklichen Fließtext und wahrhaft animierte Diagramme. Die Animation ist kein bloßer Gag; sie enthüllt wiederum den Hypertext-Charakter elektronischen Schreibens, worin weit auseinander liegende Elemente sich verknüpfen lassen. Diese Verknüpfungen selbst werden konzeptuell aktiv. Ein Beispiel für ein aktives Diagramm und für einen Hypertext ist die beliebte Tabellenkalkulation. Das Arbeitsblatt ermöglicht es dem Benutzer, die Bezüge zwischen Zahleneinträgen, üblicherweise Kalkulationen oder Konten irgendwelcher Art, zu zeigen und zu modifizieren. Der Benutzer sieht ein Raster von Zellen vor sich auf dem Bildschirm und füllt die Zeilen und Spalten mit den entsprechenden Zahlen aus, wie es auch ein Buchhalter mit Papier und Bleistift tun würde. Wenn das Arbeitsblatt zum Beispiel die Einahmen eines kleinen Unternehmens darstellt, könnten die Spalten

17 | Vgl. R.A.B. Mynors (Hg.): Cassiodori Senatoris Institutiones, Oxford 1937; Y. Nishimura/Sato Keiichi: »Dynamic Information Display«, in: Visible Language 19/2 (1985), S. 251-271, S. XXII-XXIV. 18 | Vgl. z.B. Ramon Llull: Selected Works of Ramon Llull (1232-1316), hg. v. Anthony Bonner, Bd. 1-2, Princeton 1985, S. 105-109; Anm. d. Hg.: Ramon Llull (katalanisch) im Lateinischen: Raimundus Lullus. 19 | Zur Diskussion von Giordano Brunos Werk und Einfluss vgl. Frances A. Yates: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964.

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196 | Jay David Bolter die Monate des Jahres sein und die Zeilen die Umsätze, Umsatzsteuern usw.20 Das elektronische Tabellenblatt ist weit flexibler als eines aus Papier und macht es leicht, die Werte zu kopieren, zu verändern und anders anzuordnen. Ein elektronisches Tabellenblatt ist auch Text, nicht nur, weil es vielleicht verbale Beschriftungen für Zeilen und Spalten enthält, sondern weil seine Zellen die Werte miteinander verknüpfter Variablen enthalten. Die räumlichen Bezüge zwischen den Zellen definieren Bezüge zwischen den Variablen. Das Diagramm ist wie verbaler Text eine symbolische Struktur und offen für symbolische Manipulation. So lässt sich eine Zahlenspalte oder -zeile automatisch hinzufügen; eine ganze Spalte kann um den Faktor drei verkleinert, zwei Spalten können ausgetauscht werden. Wenn der Wert der Zelle C sich als Summe der Werte von A und B definiert, dann verändert sich C mit jeder Änderung von A oder B durch den Benutzer. Ein Buchhalter kann Dutzende Zellen mit komplizierten Berechnungen miteinander verknüpfen; wenn er oder sie Zahlen verändert, pflanzt die Änderung sich automatisch den gesamten Raster hindurch fort. Die Tabellenkalkulation wird zu einem dynamischen Werkzeug, mit dem sich absehen lässt, wie sich eine Änderung in einer Kalkulation auf andere Posten auswirkt. Ihre Mächtigkeit verdankt sich dem Umstand, dass sie Hypertext ist: Jede Zelle darin ist eine Einheit, und die Zellen sind in einem Netz von Abhängigkeiten miteinander verbunden. Vor dem Computerzeitalter existierten verknüpfte Diagramme, die in diesem Sinne aktiv wirkten, nur in den Vorstellungen der Llullisten und der Hermetiker der Renaissance.

Die Nummerierung des Raums Genau genommen steht die Tabellenkalkulation halbwegs in der Mitte zwischen einem verbalen Text und einem echten mathematischen Diagramm oder Graphen. Denn in einem Graphen ist der Schriftraum selbst nummeriert. Der Graph ist seit langem schon eine wichtige Form der Bilderschrift und hat seit dem 18. Jahrhundert, als er auf Daten aus der experimentellen Wissenschaft Anwendung fand, stetig an Status gewon-

20 | Auf diesem Tabellenblatt sind in den ersten drei Spalten jeweils die Monatsergebnisse eingetragen. In der vierten Spalte (Quartal) wird automatisch die Summe der ersten drei gezogen. Die erste Zeile stellt die Umsätze dar, die zweite (Steuern) errechnet automatisch 5 Prozent des Wertes in der ersten Zeile, und die dritte Zeile (Gesamt) enthält die automatisch berechnete Summe von Umsätzen und Steuern. Wenn nun der Benutzer die Umsatzzahl für Mai von 1000 auf 1200 Dollar ändert, führt diese Änderung automatisch zu einer Neuberechnung der anderen unterstrichenen Zellen. Aus dem Tabellenblatt a wird das Tabellenblatt b. Die Zellen in diesem Blatt sind also miteinander verknüpft und bilden einen numerischen Hypertext.

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Sehen und Schreiben (1991) | 197 nen.21 Der Computer ist – wenig überraschend – der ideale Raum zum Zeichnen und zur Analyse von Graphen. Sogar in der antiken Geometrie waren Diagramme von Bedeutung: Euklids Elemente enthielten Beweis auf Beweis dafür, wie man geometrische Objekte mittel Zirkel und Lineal konstruiert. Der Schriftraum der Euklidischen Geometrie aber war ein synthetischer Raum, in dem die Zahlen selbst in geometrischen Begriffen gedacht waren. Die Situation änderte sich mit dem Aufkommen der kartesischen Geometrie im 17. und 18. Jahrhundert. Der kartesische Schriftraum ist nummeriert. Die Punkte auf einer Linie lassen sich in Beziehung zu realen Zahlen setzen, und zwei gerade, einander rechtwinkelig schneidende Linien können einen Raster festlegen, sodass jeder Punkt, der auf einer Ebene mit ihnen liegt, eine eindeutige numerische Identität erhält. Diese Linien oder Achsen geben die Maßeinheit an, nach dem die Schrift selbst (die Datenpunkte) sich bemisst. Der moderne Graph gehört demnach einem Raum an, der sich vom verbalen Raum des gedruckten oder handgeschriebenen Buches unterscheidet. Im verbalen Raum geben Buchstabenreihen einen horizontalen Maßstab vor, allerdings nur einen sehr groben. Wenn ein Buchstabe ein wenig höher oder tiefer steht als die anderen in derselben Zeile, wirkt sich das nur auf die Attraktivität der Zeile aus; die Bedeutung des Satzes ändert sich nicht. In einem kartesischen Graphen kann ein höher oder tiefer stehender Datenpunkt die Bedeutung des gesamten mathematischen Texts verändern. Hier sind die räumlichen Bezüge präzise und immer von Bedeutung, weil sie numerische Bezüge zwischen den Daten repräsentieren. Genau genommen haben in einem kartesischen Graphen nur die räumlichen Bezüge zwischen den einzelnen Elementen Bedeutung. Die Elemente sind Punkte, die keine anderen Charakteristiken aufweisen als ihre Position auf einer Ebene. Ein wissenschaftliches Diagramm ist eine vollständig systematische Form von Bilderschrift. Der Wissenschaftler kann unter Umständen im Diagramm ein Ordnungsprinzip erkennen, das in den Zahlenkolonnen, aus denen das Diagramm erzeugt wurde, nicht ersichtlich war. Es mag offensichtlich erscheinen, dass eine grafische Darstellung sich leichter lesen lässt als eine Zahlenkolonne, aber die Experimentalwissenschaftler des 17. und 18. Jahrhunderts brauchten für diese Einsicht länger, als Descartes selbst sich wohl erhofft hätte. Man erfand eine Reihe von mechanischen Geräten – Wetteruhren, automatische Barometer, Gezeitenmesser –, die beim Messen Liniendiagramme erzeugten. Die Wissenschaftler aber nahmen diese Diagramme und konvertierten sie für die Analyse wieder in Zahlentabellen.22 Das späte 18. und 19. Jahrhundert erlebte erstmals die

21 | Vgl. James R. Beniger/Dorothy L. Robyn: »Quantitative Graphics in Statistics: A Brief History«, in: American Statistician 32 (1978), S. 1-11. 22 | Vgl. ebd., S. 2.

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198 | Jay David Bolter systematische Verwendung von Diagrammen zur Darstellung und Analyse von Daten über die Welt. Heute ist der grafische Schriftraum vollständig etabliert: Es gibt für einen Wissenschaftler oft keinen schnelleren oder verlässlicheren Weg, die gewaltige Zahl von Messungen, die seine oder ihre computergesteuerten Geräte aufzuzeichnen in der Lage sind, intelligent zu untersuchen (d.h. zu lesen). Das Zeichnen solcher Diagramme ist wiederum automatisiert: Computer sammeln die Daten und stellen sie nach den Erfordernissen des Betrachters grafisch dar. Bei der Untersuchung dieser Diagramme suchen die wissenschaftlichen Leser sowohl nach Mustern als auch nach Ausnahmen – und der Trick dabei ist, beides visuell ersichtlich zu machen. Daher können Computer dafür programmiert werden, »Rauschen« automatisch zu reduzieren oder Karten in übertriebenen Farben darzustellen, um Kontraste herauszuarbeiten. Solche automatisierten Diagramme und Karten aus dem Computer haben Leser, aber keinen einzelnen identifizierbaren Autor. Die Plotting-Programme sind von Menschen geschrieben, doch die Daten werden von Instrumenten geliefert, deren Funktion darin besteht, Naturereignisse wie elektromagnetische Strahlung, Ton- oder Druckwellen und Temperaturen aufzuzeichnen. Oft sind die Instrumente direkt an Computer angeschlossen, die die Messwerte aufzeichnen und speichern. Zweifellos glauben viele Wissenschaftler, dass ihre Diagramme natürliche Schrift oder die Schrift der Natur sind – dass Menschen lesen, was die Natur selbst hingeschrieben hat. Menschliche Wissenschaftler können die Schrift der Natur lesen, weil sie die mathematische Sprache der Natur zu beherrschen gelernt haben. Ohne den nummerierten Schriftraum könnte diese natürliche Schrift nicht aufgezeichnet oder verstanden werden. Doch genau diese Voraussetzung ist es, die den menschlichen Wissenschaftler zu mehr macht als einem passiven Leser. Der Wissenschaftler liest die grafischen Ergebnisse nicht nur, er oder sie bestimmt auch die aufzuzeichnenden Variablen und die Art und Weise, wie diese Variablen im Schriftraum parametrisiert werden. Selbst im einfachsten Graphen legt der Wissenschaftler fest, was die x- und y-Achsen bedeuten und welche Einheiten sie haben. Die wissenschaftliche Bilderschrift ist selbst ein Entdeckungsprozess. Der Autor bestimmt die räumlichen Parameter und überlässt das Schreiben den Instrumenten. Und noch beim ausgefeiltesten Programm muss ein menschlicher Autor, Programmierer oder Wissenschaftler entscheiden, wie der Schriftraum nummeriert werden soll. Kann sein, dass er oder sie den Raum viele Male umnummeriert, um die Daten unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Wissenschaftler wissen im Allgemeinen nicht, welche Muster ihre Daten erzeugen werden – und sie verändern die Perspektive, um etwas zu sehen, was sie nicht erwartet haben oder in einer anderen Ansicht nicht klar erkennen konnten. Hier ist der Computer hocheffektiv, weil er eben die schnelle Umformung des Raums ermöglicht. Bei wissenschaftlichen Diagrammen sind Autor und Leser oft ein und derselbe Wissenschaftler oder ein Forschungsteam, und die Ironie dabei

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Sehen und Schreiben (1991) | 199 ist, dass diese Autoren oft nicht im Vorhinein wissen, was sie sich selbst zu lesen geben werden. Hier ähnelt der Autor der wissenschaftlichen Bilderschrift dem Autor eines verbalen Textes, der genauso überrascht von dem Text sein mag, den er produziert. Das Schreiben wissenschaftlicher Diagramme, insbesondere mit Hilfe des Computers, entfernt die Autoren so weit vom Geschriebenen (den Daten), dass dieses ihnen überhaupt nicht mehr zuzugehören scheint. Wir könnten diese Situation mit dem automatischen oder Tranceschreiben, wie es zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte praktiziert wurde, vergleichen. Doch in diesen Fällen war das Ziel Kontrollverlust, die Auslöschung der Zensur des Bewusstseins und das Zulassen hervorbrechender unbewusster Bilder und Ideen. Im automatischen Schreiben der Wissenschaft wird zwischen der Welt und dem Schriftraum eine Ebene computerisierter Kontrolle eingezogen. Der Raum selbst wird durch das ihm auferlegte Zahlenschema diszipliniert.

Grafische Rhetorik Obwohl das zahlenbasierte Diagramm eine Alternative zum verbalen Schreiben war und ist, war die Grenze zwischen Diagramm und textlichem Schreiben niemals absolut. Selbst in einem rein kartesischen Koordinatensystem sind die Achsen durch Buchstaben des Alphabets bezeichnet. Die Geschichte von Grafik und Typografie zeigt, dass in den besten Diagrammen der Zahlenraum und der verbale Raum nicht nur nebeneinander bestehen, sondern einander interpretieren. Die statistischen Diagramme des 18. und 19. Jahrhunderts enthielten einen nicht geringen Schriftanteil, der dazu diente, das Diagramm im verbalen Schriftraum zu verankern. Edward Tufte, ein zeitgenössischer Autor zum Thema Grafik, rät nach wie vor, Diagramme sollten Kombinationen von Wörtern, Bildern und Zahlen sein, und fügt hinzu, dass »Datengrafiken Datenabsätze sind und als solche behandelt werden sollten«.23 Damit meint er, Diagramme sollten derart in den Text integriert sein, dass der Blick des Lesers leicht vom Wortabsatz zum Diagramm und wieder zurück zu weiteren Worten gleitet. Die für den elektronischen Schriftraum charakteristische freie Kombination von Worten, Zahlen und Bildern begann nicht mit dem Computer; sie ist ein Merkmal der besten Grafik der vergangenen zwei Jahrhunderte. Wissenschaftliche Diagramme verbinden die älteste und die neueste Sprache miteinander – Bilderschrift und moderne Mathematik –, und das Ergebnis ist eine Rhetorik, die unsere Kultur höchst überzeugend findet. Um die moderne Wissenschaft einem allgemeinen Publikum schmackhaft zu machen, muss, wie es scheint, das Meiste an Mathematik in Worte oder Bilder übersetzt werden. Ein hübsches Ergebnis davon ist das mathematisch definierte Pseudobild, in dem eher Gleichungen als konkrete Objekte

23 | E.R. Tufte: The Visual Display of Quantitative Information, a.a.O., S. 181.

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200 | Jay David Bolter die Umrisslinien und Schattierungen erzeugen. So können mathematische Objekte, die sogenannten Mandelbrot-Mengen, zu surrealen Landschaften gemacht werden – zu einem Bergsee oder steilen Klippen an einer friedlichen See. Der Kniff dabei ist, den Betrachter dazu zu bringen, das Bild in eine falsche Kategorie einzuordnen und es als ein nach der Natur gemaltes Objekt in Bildraum zu sehen – und nicht als Diagramm. Programmierer lieben dieses Spiel, vielleicht aus einem verborgenen Wunsch zu demonstrieren, dass der Welt Mathematik zu Grunde liegt. Der pythagoreische Impuls, die Welt aus Zahlen zu konstruieren, ist für jeden, der Computer baut oder programmiert, eine natürliche Regung. Computergrafikexperten haben gelernt, alle Arten von wieder erkennbaren Formen mathematisch zu generieren und ihren Formen eine dreidimensionale Präsenz zu verleihen. Ihr Ziel ist es, die Maschine dazu zu befähigen, Bilder zu erzeugen, die aussehen, als kämen sie aus der Welt des Lichts. Die Bilder24 beispielsweise wurden aus einer Datenstruktur erzeugt, die wiederum auf einer Fotoserie basiert. Sobald der Computer diese Fotos in eine mathematische Struktur von Punkten und Schattierungen umgewandelt hat, kann er diese Strukturen manipulieren und eine Vielzahl verschiedener Bilder mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzeugen. Die Maschine kann eine Animation erzeugen, bei der sich der Blickpunkt des Betrachters beim Gang durch dieses Gebäude ändert. Solche Computergrafiken sind lebhafte Beispiele der Fähigkeit des Computers, den Raum zu mathematisieren, um den Zahlen- und den Bildraum miteinander zu vereinen. Selbst ohne Computer scheint sich die zeitgenössische Grafik der Aufgabe verschrieben zu haben, das Bild mit dem wissenschaftlichen Diagramm zu verbinden. Ein unglückliches Resultat davon ist das Pseudodiagramm, wie es heutzutage häufig in Zeitungen, Zeitschriften oder im Fernsehen auftaucht. Hier ist die Nummerierung des Raums so weit reduziert, dass sie zu einer Dekoration im Dienste des rhetorischen Effekts wird und das Diagramm sich in naturalistische Formen auflöst wie eine Kunst- oder Architekturtradition im Niedergang. Ein Diagramm, das die Zuwächse an Passagieren im Flugverkehr über die letzten zehn Jahre darstellt, zeigt dann ein Passagierflugzeug im Steigflug nach rechts über einem kartesischen Koordinatensystem, wobei sein Kondensstreifen den jährlichen Zuwachs markiert. Ein Balkendiagramm zur Umweltverschmutzung durch die Industrie zeigt kolorierte Schlote zur Angabe der Werte je Verursacher. Ein Tortendiagramm über Naschgewohnheiten in Amerika nimmt die Form einer wirklichen Torte an. Dies sind Diagramme, die zu ihren Wurzeln als

24 | Zwei computergenerierte Bilder aus dem virtuellen Rundgangsprojekt der University of North Carolina. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Frederick P. Brooks Jr., Forschungsleiter, und John Airey, Teamleiter. Versammlungssaal der Organe United Methodist Church, Entwurf von Wesley McClure, FATA, und Craig Leonard von Böhm NBBJ.

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Sehen und Schreiben (1991) | 201 rein ikonische Bilderschrift zurückkehren wollen, in denen Bilder frei im kontinuierlichen und unnummerierten Raum schweben. Möglicherweise spiegelt der Abstieg von der großen visuellen Rhetorik des 19. Jahrhunderts zu den Pseudodiagrammen heutiger Zeitungen ja den Niedergang der verbalen Rhetorik im selbem Zeitraum wider. Jedenfalls vermischen in dieser letzten Ära der Drucktechnik die Gestalter von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen hemmungslos Worte, Bilder und Diagramme. Das Ergebnis ist manchmal ein Erfolg, manchmal eine Parodie. Graphen nehmen groteske Formen an, um ihre Inhalte wiederzugeben. Diagramme dringen mitunter in den verbalen Text ein wie – allerdings mit größerer Kunstfertigkeit – die Illustrationen des Mittelalters. Konventioneller Zeilentext wird über Diagramme gelegt, sodass sie wie Gefangene des Textes wirken, auf den sie sich beziehen. Der rein verbale Schriftraum, das implizite Ideal der Drucktechnik, durchdringt heute den ikonischen Raum des Bildes und den numerischen Raum des Diagramms oder wird von ihnen durchdrungen. Im schlimmsten Fall wirkt die Druckseite oft verbraucht – als wollte sie sich durch die ausgelassene Zurschaustellung von Formen und Farben ihrer eigenen Vitalität vergewissern. Im besten Fall allerdings nimmt der Druck die neue visuelle Rhetorik elektronischen Schreibens vorweg, worin Worte, Bilder und Zahlenelemente mit Leichtigkeit gemeinsam einen einzigen Raum besetzen. Auf einem gerasterten Computerbildschirm ist jedes Pixel ein Element in einem zweidimensionalen kartesischen Koordinatensystem: Die Buchstaben des Alphabets sind selbst grafische Linien und Kurven. Der gesamte visuelle Raum des Bildschirms ist entlang seiner x- und y-Koordinaten durchnummeriert, und der Computer kann an jeder Koordinatenposition Text zeichnen. Ebenso kann er einer Grafik jede Position zuweisen. Es ist daher nur natürlich, numerische Graphen neben dem Text in die Bildschirmdarstellung einzuschließen, genauso natürlich wie die Einbeziehung digitalisierter Bilder und Icons. Ruhig gesetzte Zeilen linearen Textes werden eher zur Ausnahme als zur Regel. Stattdessen lässt sich alphabetischer Text überall auf dem Bildschirm platzieren – neben, über oder unter Bildelementen. Der nummerierte Raum dient auch als Raster zur Kontrolle der Bewegungen von Graphen und Diagrammen. Der Computer kann Datenzeilen vor den Augen des Lesers grafisch ausbreiten. Er kann beispielsweise politische Landkarten mit den Veränderungen darstellen, die das Verstreichen von Jahren oder Jahrhunderten widerspiegeln – eine Technik, die bis vor kurzem auf den Film oder das Video mit von Hand gezeichneten Animationen beschränkt war. Der Computer ermöglicht eine Art von historischem Atlas, in dem Invasionen und Schlachten, Kolonisierung und das Wachstum von Bevölkerung und Städten in Zeit und Raum gezeigt werden. Die Autoren eines solchen Atlasses werden lernen müssen, in einer neuen Dimension zu arbeiten. Wenn sie für die Druckseite gestalten, müssen sie sich überlegen, wie sie historische Veränderungen in ein lesbares, statisches Bild umwandeln – wie man auf einer Landkarte Zeitachsen, Aufmarschlinien und Daten auf lesbare Weise platziert. Eine elektronische

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202 | Jay David Bolter Landkarte wird lesbar bleiben müssen, während sie sich ändert; die Autoren müssen sich ihre Karte als zeitliche Erfahrung für ihre Leser vorstellen. Dasselbe gilt für Autoren, die verbalen oder grafischen Text im Computer animieren wollen. Sie müssen sich vorstellen, was der Leser in jedem einzelnen Moment sehen wird und wie diese Ansicht sich zwischen die davor und die danach einfügt. Auch die Autoren gedruckter Texte oder von Manuskripten müssen sich einen Begriff davon machen, wie ihr Text sich in der Zeit entfaltet; allerdings haben sie wenig Einfluss auf das Tempo ihrer Leser. Der elektronische Autor, der sich für Animation entscheidet, muss mehr Verantwortung für das Zeitempfinden seiner Leser übernehmen, weil er oder sie den Text- und Bildfluss auf dem Bildschirm regulieren kann. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Michael Strand

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Cybertext. Perspektiven zur ergodischen Literatur (1997) | 203

Cybertext. Perspektiven zur ergodischen Literatur: Das Buch und das Labyrinth (1997) Espen J. Aarseth

Ein paar Worte über die beiden neuartigen Begriffe Cybertext und ergodisch sind angebracht. Cybertext ist ein Neologismus, der von Norbert Wieners Buch (und dem Wissensgebiet) Kybernetik (Cybernetics) mit dem Untertitel Control and Communication in the Animal and the Machine (1948) abgeleitet ist. Wiener legte damit einen wichtigen Grundstein für die Entwicklung digitaler Computer, doch ist sein Blickwinkel nicht auf das Universum der Mechanik von Transistoren und Mikrochips beschränkt. Wie der Untertitel erkennen lässt, umfasst Wieners Perspektive sowohl organische als auch anorganische Systeme, d.h. jedes System, das eine Informationsfeedbackschleife umfasst. Zudem ist das Konzept »Cybertext« nicht darauf beschränkt, computergesteuerte (oder »elektronische«) Textualität zu untersuchen; dies wäre eine willkürliche und unhistorische Begrenzung, fast vergleichbar mit einem Literatur-Studium, das nur auf Papier gedruckte Texte akzeptieren würde. Es mag vielleicht soziologische Gründe für solch ein Studium geben, doch könnten wir nicht behaupten, dadurch die Variationsbreite der unterschiedlichen literarischen Formen zu verstehen. Das Konzept Cybertext ist zunächst auf die mechanische Organisation des Textes ausgerichtet, wenn man behauptet, dass die Komplexität des Mediums ein integraler Bestandteil des literarischen Austausches sei. Es stellt zudem den Konsumenten oder User des Textes in den Mittelpunkt – und zwar in einem sehr viel stärkeren Ausmaß als selbst Vertreter/-innen der Leser-Response-Theorien dies tun würden. Die Leistung ihres Lesers findet gänzlich in seinem Kopf statt, während der User eines Cybertextes auch in einem extranoematischen Sinn etwas tut. Im cybertextuellen Prozess löst der User selbst eine semiotische Folge aus, und diese Bewegung der Selektion ist eine Art physische Konstruktionstätigkeit, d.h. etwas, das die verschiedenen Konzepte des »Lesens« nicht erklären können. Ich nenne dieses Phänomen ergodisch, ein Terminus, der der Physik entnommen ist

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204 | Espen J. Aarseth und von den griechischen Wörtern ergon und hodos für »Arbeit« und »Weg« abgeleitet ist. Ergodische Literatur erfordert eine nicht unerhebliche Anstrengung, die es dem Leser erst erlaubt, den Text zu durchqueren. Wenn ergodische Literatur als Konzept Sinn machen soll, muss es auch non-ergodische Literatur geben, bei der die Anstrengung, den Text zu lesen, gering ist und dem Leser keinerlei extranoemische1 Kompetenz auferlegt wird außer (zum Beispiel) die der Augenbewegung und des regelmäßigen oder willkürlichen Blätterns der Seiten. Wann immer ich Gelegenheit hatte, die theoretische Perspektive ergodischer Literatur und des Cybertextes einem neuen Publikum von Literaturkritiker/-innen und -theoretiker/-innen zu präsentieren, wurde ich fast ausnahmslos mit denselben Fragen konfrontiert: dass diese Texte (Hypertexte, Adventure Games etc.) sich nicht wesentlich von anderen literarischen Texten unterscheiden, da (1) jede Form von Literatur bis zu einem gewissen Grad nicht deterministisch, non-linear und bei jeder Lektüre anders sei, (2) der Leser Entscheidungen treffen müsse, um dem Text Sinn zu verleihen und schließlich (3) ein Text nicht wirklich non-linear sein könne, da der Leser ihn ohnehin beim Lesen als Abfolge rezipieren müsse.2 Diese Einwände kamen typischerweise von Personen, die, obwohl sie in der Literaturtheorie versiert sind, keine unmittelbare Erfahrung mit den Hypertexten, Adventure Games oder Multi User Dungeons hatten, von denen ich sprach. Ich dachte daher zuerst, es handle sich ganz einfach um ein didaktisches Problem: Wenn ich meine Materialbeispiele nur präziser darstellen könnte, wäre alles klar. Denn: Kann man von einer Person, die noch nie einen Film gesehen hat, erwarten, den einzigartigen Charakter dieses Mediums zu verstehen? Ein Text wie das I Ging ist nicht dazu gedacht, von Anfang bis Ende in einem Zug gelesen zu werden, sondern zieht ein ganz anderes und hoch spezialisiertes Lektüreverfahren nach sich – und der Text eines Multi User Dungeons ist gleichfalls ohne Anfang und Ende ein endloses labyrinthisches Plateau textuellen Vergnügens für die Community, die ihn hervorbringt. Doch gleichgültig wie sehr ich versuche, Ihnen, dem Leser, diese Texte zu beschreiben – die wesentliche Differenz wird Ihnen so lange ein Rätsel bleiben, bis Sie selbst sie aus erster Hand erfahren haben. Bei meiner Kampagne für die Erforschung der Cybertextualität wurde mir schnell klar, dass die von mir benutzte Terminologie eine potentielle Quelle der Verwirrung war. Besonders problematisch war der Begriff nonlinear. Für manche bezeichnet er ein etabliertes literarisches Konzept, das

1 | Im Originaltext: extranoemic, nach: noetic/noemic im Sinne von Geist, Verstand, Intellekt. 2 | Der englische Terminus Reading konnotiert auch Lektüre im Sinne der Bildung verschiedener Lesarten. Der Begriff Abfolge (im Original »Sequence«) weist auf die Linearität bzw. Chronologie von zeitbasierten Medien und – in diesem Falle – des Prozesses des Lesens hin.

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Cybertext. Perspektiven zur ergodischen Literatur (1997) | 205 Erzählweisen beschreibt, die einen geradlinigen Erzählstrang vermissen lassen oder diesen unterlaufen; paradoxerweise konnte dieser Begriff meinen Gegenstand aber nicht beschreiben, da der Akt des Lesens sich als Abfolge, Wort für Wort, vollzieht. Diese Aporie hat mich immer erstaunt. Es gab offensichtlich einen epistemologischen Konflikt. Ein Teil des Problems ist jedoch schnell gelöst: Hypertexte, Adventure Games usw. sind keine Texte wie etwa ein gewöhnliches literarisches Werk. In welchem Sinne sind sie dann aber Texte? Sie erzeugen verbale Strukturen mit ästhetischen Effekten. Das macht sie vergleichbar mit anderen literarischen Phänomenen. Doch sie sind zugleich auch etwas mehr, und es ist diese zusätzliche paraverbale Dimension, die so schwer zu identifizieren ist. Ein Cybertext ist eine Maschine zur Produktion von Ausdrucksvielfalt. Da Literaturtheoretiker/-innen dazu ausgebildet sind, literarische Ambivalenz in linear erzählten Texten offen zu legen, verwechselten sie Texte mit variablen Ausdrucksformen mit Texten mit ambiger Bedeutung. Wenn sie etwa mit einem sich verzweigenden Text konfrontiert waren, z.B. einem Hypertext, behaupteten sie, dass alle Texte beim Lesen als lineare Abfolge reproduziert würden – also: wo lag mein Problem? Das Problem lag darin, dass, während sie sich darauf konzentrierten, was gelesen wurde, ich mich darauf konzentrierte, woraus gelesen wurde. Diese Unterscheidung ist für einen linear erzählten Text unbedeutend, denn wenn man aus Krieg und Frieden liest, glaubt man eben, Krieg und Frieden zu lesen. Beim Drama ist das Verhältnis zwischen einem Stück und dessen (variierenden) Aufführungen hierarchisch und klar; es macht durchaus Sinn, zwischen den beiden Aufführungen zu unterscheiden. Bei einem Cybertext hingegen ist diese Differenz zwar auch entscheidend, aber zugleich auch ziemlich anders; wenn man aus einem Cybertext liest, wird man stets an unzugängliche Marschrouten, Wege, die man nicht genommen, und Stimmen, die man nicht gehört hat, erinnert. Jede Entscheidung macht einige Teile des Textes mehr und andere weniger zugänglich, und man wird vielleicht niemals genau um die Folgen der eigenen Entscheidungen wissen – denn das ist genau das, was man ausgelassen hat. Das ist etwas völlig anderes als die Mehrdeutigkeit eines linearen Textes. Und Unzugänglichkeit, das muss hier betont werden, bedeutet keinesfalls Mehrdeutigkeit, sondern vielmehr ein (Ver-)Fehlen von Möglichkeiten – eine Aporie. Warum aber ist das so schwer zu erkennen? Warum ist die variable Entfaltung eines non-linearen Textes so leicht mit der semantischen Mehrdeutigkeit eines linearen Textes zu verwechseln? Die Antwort, oder zumindest eine Antwort darauf, findet sich in einem ganz bestimmten Rhetorikmodell, das in der Literaturtheorie verwendet wird. Ich meine damit die Idee vom narrativen Text als Labyrinth, als Spiel oder imaginäre Welt, die der Leser nach Belieben erforschen, in der er sich verlieren, geheime Wege entdecken, herumspielen, die Regeln befolgen kann und so weiter. Das Problem mit diesen starken Metaphern – wenn sie die theoretische Per-

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206 | Espen J. Aarseth spektive und das Urteil des Kritikers beeinträchtigen – ist, dass sie eine systematische Verkennung der Beziehung zwischen narrativem Text und dem Leser erlauben, einen räumlich-dynamischen Kurzschluss, bei dem die Erzählung nicht als Darstellung einer Welt, sondern vielmehr als die Welt selbst begriffen wird. Anders ausgedrückt: Es kommt zu einem Kurzschluss zwischen Signifikant und Signifikat, einer Suspension von différence, die eine Objektivität jenseits des Textes erzeugt, eine primäre metaphysische Struktur, die sowohl das Textzeichen als auch unsere Zeichendeutung generiert, anstatt das umgekehrte tun. Ganz gleich wie stark ein Leser in die Entfaltung einer Erzählung involviert ist, er ist machtlos. Wie der Betrachter eines Fußballspiels mag er spekulieren, mutmaßen, extrapolieren oder lauthals schimpfen, aber er ist kein Spieler. Wie der Fahrgast in einem Zug kann er die an ihm vorbeiziehende Landschaft studieren und deuten, er kann seine Augen ruhen lassen, worauf immer er möchte, er kann sogar die Notbremse ziehen und aussteigen, doch hat er nicht die Freiheit, die Schienen in eine andere Richtung zu lenken. Er teilt nicht die Freude des Spielers am Einflussnehmen: »Mal sehen, was passiert, wenn ich das mache.« Die Freude des Lesers ist die Freude des Voyeurs – sicher, aber machtlos. Andererseits ist der Leser eines Cybertextes nicht sicher, und man könnte daher argumentieren, sie (!) sei gar kein Leser.3 Der Cybertext setzt seinen potentiellen Leser einem Risiko aus: dem Risiko der Zurückweisung. Die Mühe und Energie, die der Cybertext seinem Leser abverlangt, erfordert einen größeren Einsatz an Interpretation als an Intervention. Wenn man versucht, sich einen Cybertext vertraut zu machen, muss man eigenes Improvisationsvermögen investieren, was zu Vertrautheit oder zum Fehlschlag führen kann. Die Spannungen, die im Cybertext wirksam sind, sind zwar dem narrativen Begehren nicht ganz unähnlich, aber sie sind doch auch etwas mehr: nicht nur ein Ringen um Verstehen im Sinne von Interpretation, sondern um narrative Kontrolle: »Ich möchte, dass dieser Text meine Geschichte erzählt; jene Geschichte, die es ohne mich nicht gäbe.« In einigen Fällen ist dies buchstäblich wahr. In anderen Fällen, vielleicht in den meisten, ist das Gefühl eines individuellen Erzählausgangs illusionär, der Aspekt des Zwangs und der Manipulation aber real. Die Erforschung von Cybertexten enthüllt das Missverständnis, das die räumlich-dynamischen Metaphern in der Erzähltheorie produzieren, denn ergodische Literatur repräsentiert diese Modelle auf eine Art und Weise, wie es lineare Erzählungen nicht tun. Dies mag für den traditionellen Literaturkritiker, der den Unterschied zwischen metaphorischer Struktur und logischer Struktur nicht erkennt, schwer zu verstehen sein, aber er ist wesentlich. Der Leser eines Cybertextes ist ein Spieler; der Cybertext ist eine

3 | Anm. d. Hg.: Aarseth verwendet hier auch im Original das weibliche »she«.

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Cybertext. Perspektiven zur ergodischen Literatur (1997) | 207 Spielwelt bzw. ein Weltspiel; es ist möglich, diese zu erforschen, sich zu verirren und geheime Wege in diesen Texten zu entdecken – nicht in einem metaphorischen Sinn, sondern durch die topologische Struktur der textuellen Organisation. Dies ist kein Unterschied zwischen Spielen und Literatur, sondern vielmehr zwischen Spielen und Narrativen. Zu behaupten, dass es keinen Unterschied zwischen Spiel und Narrativ gäbe, bedeutet grundlegende Qualitäten beider Kategorien zu ignorieren. Und doch ist, wie diese Studie zu zeigen versucht, der Unterschied nicht trennscharf und es gibt signifikante Überschneidungen zwischen den beiden. Es ist darüber hinaus wichtig zu erkennen, dass der Begriff Cybertext hier zur Beschreibung einer weit gefassten Kategorie textbasierter Medien verwendet wird. Er ist für sich genommen kein literarisches Genre. Cybertexte haben ein Prinzip der kalkulierten Produktion gemeinsam, aber darüber hinaus gibt es keine offensichtliche Einheit von Ästhetik, Thematik, Literaturgeschichte oder gar materieller Technologie. Cybertext ist eine theoretische Perspektive, die ich einnehme, um die kommunikativen Strategien dynamischer Texte zu beschreiben und zu erforschen. Wenn wir nach Traditionen, literarischen Genres und einer gemeinsamen Ästhetik suchen, müssen wir auf einer viel begrenzteren Ebene operieren. Selbst wenn Cybertexte keine narrativen Texte sind, sondern Literaturformen, die von einem anderen Regelsystem beherrscht werden, besitzen sie dennoch Aspekte des Narrativen. Die meisten zeigen narrative Gesten, wie sie auch in anderen nicht narrativen literarischen Genres zu finden sind. Die Idee reiner literarischer Formen oder unterscheidbarer Genres verfolge ich hier nicht. Stattdessen favorisiere ich ein Modell komplementärer Basismerkmale, um die verschiedenartigen Typen als synthetische und zusammengesetzte Genres zu beschreiben. Möglicherweise erhalten wir durch die Erforschung von Cybertexten und den Versuch, diese Alterität der Literatur aufzudecken, auch kleine Hinweise darauf, was das Narrative insgesamt ist. Mir scheint, dass Cybertexte in die Terminologie der Spielewelt-Labyrinthe auf eine Art passen, die deren defizitäre Struktur hervortreten lässt, wenn sie auf narrative Texte angewandt wird. Doch wo liegt der Ursprung dieser räumlich-dynamischen Fehlinterpretation des Narrativen? War sie von Anfang an da? Ein bedeutender Hinweis auf diese Frage findet sich in der historischen Auffassung vom Labyrinth. Unsere heutige Idee des Labyrinths entspricht der Borge’schen Struktur »sich verzweigender Wege«, eines verwirrenden Chaos von Gängen, die in viele Richtungen führen, doch niemals direkt zu unserem erwünschten Ziel. Aber es gibt auch ein anderes Beispiel für bzw. eine andere Art von Labyrinth. In ihrer hervorragenden Abhandlung über gebaute und metaphorische Labyrinthe der klassischen Antike und des Mittelalters (1990) unterscheidet Penelope Reed Doob zwischen zwei Arten labyrinthischer Struktur: Labyrinthe, in denen es nur einen, sich windenden, verschlungenen Weg gibt, der meist in ein Zentrum führt (unikursal); und solche, bei denen der im Labyrinth Wandelnde einer Reihe entscheidender Wahlmöglichkeiten oder bivia gegen-

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208 | Espen J. Aarseth über steht (multikursal; Irrgärten). Umberto Eco behauptet, es gäbe drei Typen von Labyrinthen:4 das lineare, den Irrgarten und das Netz (oder Rhizom).5 Die beiden ersten korrespondieren mit Doobs Begriffen von »unikursal« bzw. »multikursal«. Das Netz mit einzubeziehen scheint unangebracht, da diese Struktur gänzlich andere Eigenschaften im Vergleich mit den beiden anderen aufweist. Insbesondere, da »jeder Punkt des Netzes mit jedem anderen Punkt verbunden werden kann«;6 dies ist das genaue Gegenteil von der grundlegenden Unzugänglichkeit der anderen Modelle. Erstaunlicherweise behauptet Eco auch, dass das Labyrinth von Kreta linear gewesen sei und dass Theseus »keine Entscheidungen zu treffen hatte: er konnte lediglich das Zentrum erreichen und von dort wieder den Weg zurück finden. In dieser Art von Labyrinth ist der Faden der Ariadne nutzlos, da man sich nicht verirren kann.«7 Es ist kaum zu glauben, dass Eco vom Labyrinth spricht, aus dem Theseus bekanntermaßen als Erster den Weg hinaus fand – und dies nur dank Ariadnes Faden. Es war dasselbe komplexe Labyrinth, in dem sich sogar dessen Schöpfer, Daedalus, verirrte. Doob zeigt andererseits, indem sie auch Plinius, Virgil, Ovid und andere zitiert, dass in der Literatur das Domus daedali als multikursales Labyrinth (Irrgarten) beschrieben wird.8 Wie Doob demonstriert, war das Labyrinth als Zeichen für komplexe künstlerische Arbeit, Verwicklungen und schwierige Prozesse eine zentrale Metapher und ein wichtiges Motiv in der klassischen und mittelalterlichen Literatur, Philosophie, Rhetorik und visuellen Gestaltung. Paradoxerweise wird das Labyrinth in der bildenden Kunst schon in prähistorischer Zeit als unikursal dargestellt, während der Irrgarten in der Literatur (mit dem Mythos von Kreta als Musterbeispiel) meist als multikursal (mit mehreren Möglichkeiten) beschrieben wird. Das Motiv der mehrfachen möglichen Wege taucht in der Kunst erst in der Renaissance auf, doch wie Doob zeigt, koexistierten beide Beispiele für dasselbe Konzept friedvoll nebeneinander, zumindest seit Virgil (70-19 v.Chr.). Doobs Ansicht nach wurde das, was uns heute als gegensätzliche Modelle erscheint, in einer Kategorie zusammengefasst und kennzeichnete (je nach Standpunkt) komplexe Gestaltung, künstlerische Anordnung und Chaos, höchste Verwicklung oder Unergründlichkeit und den schwierigen Schritt vom Chaos zur Erkenntnis. Beide Modelle besitzen anteilig diese wesentlichen Qualitäten

4 | Vgl. Umberto Eco: Semiotics and the Philosophy of Language, London 1984, S. 80. 5 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus, Bd. 2: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992. 6 | U. Eco: Semiotics and the Philosophy of Language, a.a.O., S. 81. 7 | Ebd., S. 50. 8 | Vgl. Penelope Reed Doob: The Idea of the Labyrinth from Classical Antiquity through the Middle Ages, Ithaca 1990, S. 17-38.

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Cybertext. Perspektiven zur ergodischen Literatur (1997) | 209 des Labyrinths und offenbar gab es kein großes Bedürfnis, zwischen den beiden zu unterscheiden. In der Renaissance war die Idee des Labyrinths sowohl in der Literatur als auch in der bildenden Kunst auf das Beispiel mit mehreren Wegen, das wir heutzutage akzeptieren, reduziert. Folglich war die alte Metapher des Textes als Labyrinth, das in der mittelalterlichen Dichtkunst sowohl einen schwierigen, sich windenden, doch potentiell lohnenden linearen Prozess als auch ein räumliches, hoch artifizielles und unübersichtliches Artefakt bezeichnen konnte, auf den letzteren Begriff beschränkt. Ich halte es daher für angemessen anzunehmen, dass das Bild vom Text als Labyrinth eine ideologische Transformation durchgemacht hat: von einer harmonischen Dualität, bei der die figurative Ähnlichkeit des unikursalen narrativen Textes zusammen mit einer Anordnung multikursaler Elemente (wie Wiederholung, verschachtelte narrative Stränge, Prolepsis usw.) koexistierte. Als dann das unikursale Beispiel verschwand, begann der multikursale Typus das Modell zu dominieren. Es transferierte die reiche Mehrdeutigkeit des klassischen und mittelalterlichen Labyrinths auf das weniger ambige Modell reiner Multikursalität der Renaissance. Da wir heutzutage labyrinthisch und linear als unvereinbare Begriffe betrachten und das Labyrinth nicht mehr linearen Fortschritt und Teleologie, sondern ausschließlich deren Gegenteil denotiert, ist seine Rolle als Modell eines narrativen Textes für die meisten Erzählformen ungeeignet geworden. Um ein typisches Beispiel dieser irreführenden Bezeichnungspraxis zu geben, bedenken Sie folgende Aussage aus einer Abhandlung über postmodernes Schreiben: »Wir werden nie in der Lage sein, die Handlungen von John Fowles The Magus (1966), Alain Robbe-Grillets Le Voyeur (1955) oder Thomas Pynchons The Crying of Lot 49 (1966) zu enträtseln, da sie Labyrinthe ohne Ausgänge sind.«9 Hier wird die Metapher des Labyrinths gravierend verändert. Ein Labyrinth ohne Ausgang ist ein Labyrinth ohne Eingang, anders gesagt, es ist überhaupt kein Labyrinth. Sogar in hoch subversiven Erzählungen, wie es die Romane Samuel Becketts oder Italo Calvinos If on a Winter’s Night a Traveler (1993) sind, ist der Leser topologisch mit einem unikursalen Irrgarten konfrontiert. Doch gibt es einige Romane, für die das Modell der Post-Renaissance vollkommene Gültigkeit besitzt, zum Beispiel Julio Cortázars Rayuela (1966), das eine multikursale Topologie aufweist. Wieder andere, wie zum Beispiel Vladimir Nabokovs Pale Fire (1962), können sowohl als uni- wie auch als multikursal beschrieben werden. Die Fußnote ist ein typisches Beispiel für eine solche Struktur, die als uni- aber auch als multikursal betrachtet werden kann. Sie schafft ein bivium oder eine Wahl in der Entwicklung der Handlung, doch sollten wir

9 | David Lodge: The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy, and the Typology of Modern Literature, London 1977, S. 266, Hervorhebung dort.

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210 | Espen J. Aarseth uns dafür entscheiden, diesen Weg zu nehmen (die Fußnote zu lesen), führt uns die Fußnote sofort wieder zum Hauptstrang zurück. Möglicherweise kann ein Text mit Fußnoten auf der Mikroebene als multikursal und auf der Makroebene als unikursal bezeichnet werden. Allerdings überlässt Nabokovs Pale Fire die Art der Kursalität dem Leser; denn der Text besteht aus einem Vorwort, einem 999 Zeilen langen Gedicht, einem langen Kommentar, der wiederum aus Notizen zu einzelnen Zeilen zusammengesetzt ist und die Geschichte des Kommentators erzählt, und einem Index. Daher kann der Text entweder unikursal, linear, geradlinig gelesen werden oder aber multikursal, wenn man zwischen den Kommentaren und dem Gedicht hin- und herspringt. Brian McHale betrachtet ihn als Text an der Grenze von Moderne und Postmoderne; er ist jedoch ebenso ein Text an der Grenze von Uni- und Multikursalität.10 Dass manche Texte topologisch schwer zu definieren sind, sollte uns nicht überraschen, da es genau dieser Aspekt ihrer eigenen Ontologie ist, den sie destabilisieren wollen.11 Dies sollte uns auch nicht entmutigen, da das Bestehen von Grenzfällen und ambigen Strukturen keineswegs den Nutzen von Kategorien wie Erzählung, Spiel oder Unikursalität und Multikursalität außer Kraft setzt. Schließlich ist es nicht das Problem, dass Literaturkritiker Begriffe wie Labyrinth, Spiel und Welt als Metaphern in ihren Analysen von unikursalen Arbeiten verwenden, sondern dass diese Rhetorik sie gegenüber der Existenz von multikursalen literarischen Strukturen blind gemacht zu haben scheint, ebenso gegenüber der Möglichkeit, dass das Konzept des Labyrinths (in seiner Post-Renaissance-Variante) in Verbindung mit Texten, die buchstäblich als Spielwelten oder Labyrinthe fungieren, eine höhere analytische Präzision besitzen könnte. Dies ist hier aber nicht der Ort, um ontologische Probleme, die aus einem möglichen Fehler in der Terminologie der Literaturtheorie hervorgehen, im Detail zu kritisieren. Diese Frage verdient selbst eine eigene Studie, die sich nicht auf die Texte konzentriert, die unser primäres Anliegen sind. Stattdessen möchte ich an dieser Stelle vorschlagen, die alten, dualen Bedeutungen des Labyrinths wieder zu beleben, damit sowohl unikursale als auch multikursale Texte innerhalb desselben theoretischen Rahmens untersucht werden könnten. Mithilfe einer solchen Theorie könnten wir vielleicht erkennen, dass, um es mit Jorge Luis Borges zu sagen, »das Buch und das Labyrinth ein- und dasselbe sind«12 und wie verschiedenartig die vielen Typen literarischer Labyrinthe voneinander sind. Es mag einige Leser überraschen, dass ich immer noch den Begriff Buch verwende, doch sind eine Vielzahl der Cybertexte, mit denen ich mich beschäftige, in der Tat Bücher – gedruckt, gebunden und verkauft auf ganz traditionelle Weise. Das Format des Kodex ist eine der

10 | Vgl. Brian McHale: Postmodernist Fiction, New York 1987, S. 18-19. 11 | Zit. nach ebd., Kapitel 12. 12 | Jorge Luis Borges: Fictions, London 1974 [1. Aufl. 1962]), S. 88.

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Cybertext. Perspektiven zur ergodischen Literatur (1997) | 211 flexibelsten und mächtigsten Informationswerkzeuge, die bislang erfunden wurden, mit einem Potential zur Veränderung, das wohl bis heute nicht ausgeschöpft ist und, wie ich annehme, auch in naher Zukunft nicht seine Aktualität einbüßen wird. Übersetzung aus dem Englischen: Jeannette Pacher

Literatur Borges, Jorge Luis: Fictions, London 1974 [1. Aufl. 1962]. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Bd. 2: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992. Doob, Penelope Reed: The Idea of the Labyrinth from Classical Antiquity through the Middle Ages, Ithaca 1990. Eco, Umberto: Semiotics and the Philosophy of Language, London 1984. Lodge, David: The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy, and the Typology of Modern Literature, London 1977. McHale, Brian: Postmodernist Fiction, New York 1987.

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212 | Derrick de Kerckhove

Text, Kontext, Hypertext. Drei Sprachzustände, drei Bewusstseinszustände (2002) Derrick de Kerckhove

These: Die sprachunterstützenden und sprachsteuernden Technologien wirken sich zwangsläufig auch auf das Bewusstsein aus, weil Sprache ein Artikulationssystem für das Bewusstsein darstellt, eine Art übergreifendes Betriebssystem. Die Sprache unterhält somit eine enge und intime Beziehung zu unserem innersten Empfinden, aber auch zu Inhalt und Struktur unseres Bewusstseins, wie wir in diesem Artikel zeigen werden. Orale Gesellschaften, die wenig Unterstützung für ihr Gedächtnis haben, waren zum Beispiel mehr oder weniger gezwungen, in einer Welt zu leben, in der der Körper die Erinnerungsarbeit leisten und die Vergangenheit immer wieder reinszenieren musste. Zwei Technologien haben unsere frühere Beziehung zur Sprache wesentlich verändert: die Schrift und die Elektrizität. Die Schrift löste den Text vom Kontext, aber auch den Leser und das befreite, individuelle Bewusstsein vom Kollektivbewusstsein des Stammes. Die Elektrizität überführt alle Sinneserfahrungen wieder in Sprache, externalisiert aber zugleich das Leserbewusstsein auf dem Bildschirm und macht so dessen private Inhalte und Traumen wieder öffentlich. Mit Hilfe von Jean-Pierre Changeux’ Theorie mentaler Objekte wollen wir durch einige Vergleiche zwischen mentalen und digitalen Objekten ein paar Kennzeichen des Hypertextbewusstseins herauszuarbeiten versuchen. Der nächste technologisch logische Schritt in der IT-Entwicklung nach der Drahtlosigkeit ist die »direkte Mensch-Maschine-Verbindung«, bei der das menschliche Bewusstsein das Echtzeitinterface ist. Aufgrund der so entstehenden stärkeren Konvergenz zwischen Mündlichkeit (Echtzeit), Schriftlichkeit (Datenbanken und Archive) und Elektrizität (alles Digitale) ist eine gewaltige Erweiterung des Bewusstseins zu erwarten. Es gibt in der Tat drei Hauptstadien der Sprache, wie wir sie gemeinhin kennen: ein mündliches, ein schriftliches und ein elektronisches. In der oralen Gesellschaft ist das vorrangige Interface zwischen Selbst und Welt der Körper. Der ganze Körper spricht, der ganze Körper erinnert sich, der ganze Körper aller nimmt am Gemeinwesen teil. Die orale Gesellschaft ist

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Text, Kontext, Hypertext (2002) | 213 ganz offensichtlich eine Gesellschaft des Kontextes. Ihre Mitglieder befinden sich immer in einem Kontext, sie leben in einer Art ausgedehnter Gegenwart, aber sie beziehen sich auf Ereignisse der Vergangenheit. Sie verehren ihre Ahnen, die ihnen die Umgangsregeln mit ihrem Hauptbezug – Gott (Göttern), dem Urkontext – beibrachten. Diese Gesellschaften sind fast zwangsläufig »religiös«, nicht weil sie es wollen. Ihr Überleben hängt von der gemeinsamen Erfahrung ab. Das ist der Kontext. Um den Kontext lebendig zu halten, ritualisieren und reinszenieren sie ihn. Auf diese Art erinnert sich das Kollektiv. Sie studieren die Vergangenheit nicht, sie machen sie nur gegenwärtig. Es ist eine perzeptuell dominierte Gesellschaft, in dem Sinn, als sich ihre Mitglieder auf ihre Sinne (ihr Sensorium) und nicht auf den Sinn (die Bedeutung) berufen, um die Wirklichkeit zu verstehen. Selbst die Erinnerung ist in sensorischen Modalitäten, in Statuen, Denkmälern, Liedern, Geschichten, dem Schauspiel verankert. Gesellschaften mit einer Schrift verfügen über ein Werkzeug zur Sprachspeicherung. Mit Hilfe dieses Werkzeugs verwandeln sie den Kontext in Text, lösen den Text – und damit auch sich selbst – vom Kontext. Je genauer und einfacher das Werkzeug, desto leichter lässt sich der Text vom Kontext lösen und in andere Kontexte einfügen (das ist natürlich der Ursprung der Fiktion, aber auch der der meisten Technologien). Der gedruckte Text ist das dominante Interface der Schriftgesellschaft. Nicht alle sprachlichen Äußerungen, sondern nur sorgfältig komponierte Teilelemente sind es wert, niedergeschrieben, gedruckt und gelesen zu werden; infolgedessen tritt das Gedruckte – gleichgültig auf welchem Niveau, in welchem Genre, in welcher Kategorie – in einer gewissen Rangordnung auf. Bücher und Schriften vermitteln die Inhalte der »Realität« einem allgemeinen Publikum, durch die Modalität des Textes gefiltert. In einer alphabetischen Kultur erscheint die Sprache dem Leser zuerst als eine abstrakte Aneinanderreihung leicht erkennbarer Zeichen und dann als ein geistiges Konstrukt, eine Art »Gedächtnisstütze«. Ganz im Gegensatz zu oralen Gesellschaften haben Schriftgesellschaften keine Angst, die Vergangenheit zu verlieren, sie archivieren sie einfach. Sie sind daher der Zukunft zugewandt. Diese verspricht mit all ihren wundervollen, endlos sprudelnden Technologien immer besser zu sein als die Vergangenheit. Die Mitglieder dieser Gesellschaften sind nicht besonders religiös und sie benötigen einander nicht unbedingt. Sie sind mehr oder weniger »Self-made People«. Die Elektrizität hat der Sprache seit der Erfindung des Telegrafen Beine gemacht, sie allgegenwärtig, unmittelbar, digital werden lassen. Indem sie jegliche Erfahrung, auch die sinnliche, in dieselbe überaus einfache Substanz übersetzt, verschafft ihr die Digitalisierung wieder Einlass in die Technologien des sprachlichen Austauschs. Genau das versteht man unter Multimedia oder Hypermedien (Sehen, Hören), Virtueller Realität (Kinästhesie) und interaktiven Systemen (Taktilität). Was Walter Ong als »sekundäre Oralität« bezeichnet hat, ist in Wirklichkeit das Ergebnis elektrifizierter Sprache. Ob wir nun fernsehen oder durch das Netz surfen, wir erleben stets multisensorische Übersetzungen von Sprache, mit einer starken

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214 | Derrick de Kerckhove Betonung der Ikonizität. Das Hypertextbewusstsein wird von Icons, Logos und Links dominiert. Sein wichtigstes Interface ist der Bildschirm. Hypertext meint nicht nur »einen mit anderen Texten verbundenen Text«, sondern umfasst die gesamte Welt der elektronischen Kommunikation in ihrer unablässigen Informationsverarbeitung und Speichertätigkeit. Die entscheidende Frage ist nun, welche Form das Hypertextbewusstsein hat. Es gleicht dem des Kontextes, ist aber nicht absolut kollektiv, da es in Echtzeit (gelegentlich auch asynchron) mit spezifischen Adressierungen arbeitet. Es gleicht auch dem Textbewusstsein, invertiert dieses jedoch, insofern es nach außen, auf den Bildschirm gerichtet ist und nicht nach innen, auf die private Psyche. Das Hypertextbewusstsein hat am Bewusstsein des Textes und an dem des Kontextes teil. Es hat von beiden etwas und noch mehr: Es ist konnektiv. Während das kollektive Gedächtnis online und über Datenbanken mehr oder weniger verfügbar ist, bleibt doch der Zugang jedes Einzelnen von uns ein privilegierter, unsere Navigation einzigartig und die Erfahrung nur so weit eine mit anderen geteilte, wie wir das zulassen. Man könnte sogar sagen, dass auch das orale Bewusstsein ein mit anderen geteiltes ist. Allerdings ist es das einzig verfügbare, da das private Bewusstsein unter das gemeinsame Sprechen und Denken subsumiert wird. Das Kollektive, das Private und das Konnektive bevorzugen jeweils andere Denkprozesse – ohne deswegen die anderen komplett zu löschen. Die dominante Denkform in oralen Gesellschaften ist das Sprechen. Das Wort »denken« ist hier missverständlich; ersetzen wir es durch »erwägen«. Es ist die Erwägung des Gerichts, des Palavers, des Theaters, des rhetorischen Wettstreits, der öffentlichen Debatte, der politischen Tirade, der Predigt, des Orakels, der Zauberformel. Wir hielten das Denken immer für eine stumme, innerliche, private, isolierte Geistestätigkeit, aber vielleicht stimmt das gar nicht. Orale Gesellschaften denken laut und gemeinsam. Francisco Varelas Prinzipien treffen auf die Denkprozesse oraler Kulturen sehr gut zu: • • • •

Sprechen ist eine Verkörperung von Sprache und Denken. Das Gemeinverständnis (das Bewusstsein) entspringt dem Sprechen. Orale Situationen setzen Intersubjektivität voraus, d.h. die gleichzeitige Gegenwart sprechender Subjekte. Mündlichkeit ist durch permanente Zirkulation charakterisiert. Die Worte kommen nie zur Ruhe, werden ständig in Umlauf gehalten (und erfordern daher Wiederholung und formelhafte Ausdrucksweisen).

Schreib- und Lesekundige sprechen still in ihrem Kopf und bezeichnen das als Denken, wogegen eklektische Gesellschaften paradoxerweise »mündlich schreiben«. Dabei handelt es sich um einen Umgang mit der Sprache, bei dem diese im Kontext erscheint und gleichzeitig archiviert wird. Im Bewusstsein des Schreibkundigen ist der Zugang zum Gedächtnis privat und diskret, aber es ist nur ein Zugang zum Gedächtnis des Subjekts allein. Der Text mag zwar allgemein zugänglich sein, aber die Verwandlung

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Text, Kontext, Hypertext (2002) | 215 des Texts in Gedanken und Bilder ist etwas gänzlich Privates (aus diesem Grund sind auch Zeitungen im Gegensatz zur landläufigen Meinung keine »Massen«-Medien). Beim Denken und Erwägen in hypertextuellen Zusammenhängen hat man Zugang zum Gedächtnis aller, hat man in Echtzeit am Wissenskapital der Menschheit direkt teil. Selbstverständlich muss eine solche Aussage insofern eingeschränkt werden, als dieser Idealzustand durch politische und ökonomische Bedingungen verändert wird. Die hypertextuelle Kognition ist allerdings nicht auf den Einzelnen beschränkt, der konnektiv auf das kollektive Gedächtnis zugreift. Es ist auch ein gemeinsames Erkennen. Die Inhalte auf unseren Bildschirmen sind für viele Menschen gleichzeitig zugänglich – synchron, in Echtzeit, oder auch diachron, über die Zeit verteilt. Die Inhalte der Bildschirme und Datenbanken sind vielleicht nicht so flexibel, nuanciert und komplex wie die unseres privaten Bewusstseins, dafür sind sie meist verlässlicher, nicht nur weil sie das ursprünglich Repräsentierte getreu wiedergeben, sondern auch weil sie sich selbst mit neuen Links, Ergänzungen und neuen Denkpartnern anreichern. Was wir auf dem Bildschirm miteinander teilen, sind technologische Äquivalente dessen, was der französische Neurobiologe Jean-Pierre Changeux mentale Objekte (MO) genannt hat. MOs sind synaptische Konfigurationen neuronaler Aktivität, die Bilder, Ideen, Klänge und Empfindungen repräsentieren oder evozieren, die das sie erlebende Subjekt – entweder isoliert oder in Verbindung mit anderen Bildern, Ideen und Empfindungen – als signifikant erkennt. Das wesentliche Kriterium für Changeux ist das Ausmaß, in dem ein mentales Objekt Sinnesrezeptoren anspricht oder strukturell bedingte Reaktionen in Hirnregionen auslöst, die den Daten einen Sinn geben. Nach dem Grad des sinnlichen Inhalts, den verschiedene Denksituationen auslösen, unterscheidet Changeux drei grundlegende Arten »neuronaler Graphen«, d.h. Konfigurationen von Synapsenverbindungen: Perzepte: Das sind Bilder, die stärker von einem direkten Echtzeitkontakt des Subjekts mit der es umgebenden Realität abhängen; sie haben einen hohen Anteil an sinnlichen Inhalten und sprechen daher Hirnregionen an, die genau solche Daten verarbeiten und nicht … Konzepte: Das sind Konfigurationen von Synapsenverbindungen, die vorwiegend auf Muster, Modelle und andere abstrakte Figuren verweisen, die sich leicht mischen, vergleichen und untereinander verbinden lassen. Sie werden in anderen Hirnregionen und Kombinationen von Hirnregionen verarbeitet als zum Beispiel … Ikonen (oder »Gedächtnisbilder«): Diese setzen sich aus einer Mischung von perzeptuellen und konzeptuellen synaptischen Beziehungen zusammen und liefern uns Erinnerungen. Weil der sinnliche Inhalt hier normalerweise evoziert und nicht erlebt und durch anhaltende äußere Stimulation aufrechterhalten wird, ist er meist schwächer (außer bei Menschen mit einer lebhaften Vorstellungskraft oder geschulten Gedicht- und Romanlesern).

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216 | Derrick de Kerckhove Wendet man das auf Medienstudien und die Erforschung des Einflusses, den Technologien auf unser Bewusstsein haben, an, so stellt man interessanterweise fest, dass die Oralität perzeptuelle Beziehungen bevorzugt, während in der Schriftkultur konzeptuelle dominieren. Das Bewusstsein der Lesergesellschaft wird von Begriffen beherrscht. Verglichen mit der oralen Gesellschaft erscheint die Schriftkultur überaus trocken, unsinnlich und abstrakt. Künstler haben in ihr die Funktion, die Sinnlichkeit lebendig und wachzuhalten (populäre und anspruchsvolle Musik, Medien, Literatur usw.). Die Elektrizität dagegen begünstigt ikonische Beziehungen. Was wir auf dem Bildschirm sehen, ist eine Art »mentales Objekt«, ein Icon, ein Gedächtnisbild, nur eben externalisiert. Wenn Bildschirme die Darstellung digital konstruierter Objekte unterstützen, dann fallen einem unweigerlich die großen Ähnlichkeiten zwischen mentalen und digitalen Objekten (DO) auf. Gemeinsamkeiten zwischen DOs und MOs sind unter anderem: • • • • • • •

• •

Sie beruhen auf Verknüpfungen. Sie entstehen quasi »on demand«, wenn sie gebraucht werden. Sie sind einigermaßen verlässlich (DOs vielleicht mehr als MOs). Sie sind anfällig für Systemangriffe und Zerstörung (Nervenzusammenbrüche, Viren). Sie sind Teil eines größeren – einigermaßen homogenen – Ganzen. Sie benötigen sehr schwache elektrische (organische, elektronische) Energien. Sie setzen sich aus variablen Anteilen perzeptueller, ikonischer und konzeptueller Inhalte zusammen (Drahtmodelle und Polygone sind typische Entsprechungen von Bildkonzepten, während das Rendering die Aufgabe des sinnlichen Gedächtnisses erfüllt). Sie sind skalierbar und lassen Abkürzungen und Verallgemeinerungen zu. Sie sind für die Vernetzung gedacht.

Wir könnten diese Liste noch lange fortsetzen und vielleicht sollten wir das bei Gelegenheit auch. Doch der Wert dieser Liste von Vergleichen liegt nicht in ihrer Vollständigkeit, sondern darin, dass sie einen Eindruck davon vermittelt, wie viele Komplexitäten des Bewusstseins von der IT emuliert werden. Wozu bei DOs noch das gewaltige Potenzial kommt, dass sie auch von anderen als dem Benutzerbewusstsein stammen und in Echtzeit von mehreren Teilnehmern gemeinsam produziert werden können. Tatsächlich tendiert die Technik unaufhaltsam zu immer schnelleren und breiteren, aber auch sachdienlicheren, pertinenteren (oder, wie ich gerne sage, hypertinenten) Verknüpfungen. An der rapiden Verbesserung der Suchmaschinen von den Anfängen mit Yahoo! zum heutigen Stand von Gurunet und Google lassen sich sprunghafte kognitive Fortschritte ablesen. Schon in absehbarer Zeit können wir mit MMDC (Mind-Machine-DirectConnect) – wie ich das nenne –, einer direkten Mensch-Maschine-Ver-

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Text, Kontext, Hypertext (2002) | 217 bindung, rechnen, mit der man bereits, wenn man vor dem Bildschirm daran denkt, etwas aus den Tiefen der weltweiten Datenbanken abrufen und sogar durch bloßes Denken modifizieren und mit anderen teilen können wird. Ab einem gewissen Punkt wird man – abgesehen von der elektronischen bzw. organischen Quelle – nicht mehr viele operative Unterschiede zwischen DOs und MOs feststellen können. Von da an wird unser Denken sehr diszipliniert sein müssen, damit es uns nicht in eine Welt führt, die wir gar nicht wollen, denn die Materie wird dem durch Elektrizität verstärkten, erweiterten, simulierten und ausgeübten Denken immer weniger Widerstand entgegensetzen. Die Gesellschaft, auf die wir zugehen, wird sich von der des Textes und des Kontextes ziemlich sicher unterscheiden. Ich denke, wir können eine generelle Verbesserung kooperativer Strategien erwarten. Man wird bald herausfinden, dass man bessere, schnellere und sachdienlichere Ergebnisse erzielt, wenn man das Bewusstsein seriell und nicht parallel anordnet. Dazu kommt, dass die Software und die Interfaces, die für die entstehenden konnektiven Gemeinschaften gebaut werden müssen, etwas Schönes sind. Sie werden ein Anreiz für spekulatives Programmieren als Kunstform sein. Die Hypertext-Communities werden eine quasi biologische Softwaretechnologie entwickeln, die über das, was wir heute als Biotechnologie bezeichnen, weit hinausgeht, eine Software, die so eng mit unserem täglichen Leben und unseren Wahrnehmungsweisen verwoben sein wird, dass wir gleichsam »die Umwelt als Haut tragen« werden, wie McLuhan wahrscheinlich gesagt hätte. Eine politische Folge der Konnektivität wird die allmähliche Verschiebung der Macht von der Gewaltausübung zur Intelligenzausübung sein – und zur Handlungsfähigkeit. In einer richtig verknüpften Gemeinschaft, die in Echtzeit mit MMDC operiert, mit einem hypertinenten und quasi automatischen Zugang zu den relevantesten Datenbanken, kann man die Dinge tatsächlich wirklich werden lassen. Was wir nun wissen wollen: Was werden die Prioritäten – und die Verantwortlichkeiten – eines Denkens und Fühlens sein, das praktisch auf der Stelle verwirklicht werden kann? Eine der ältesten und noch immer florierenden Kulturen lebt seit mehr als 50.000 Jahren ohne Technologie unter so harten und entbehrungsreichen Bedingungen wie kaum eine andere. Die australischen Aborigines »träumen die Realität«, sie erleiden oder gestalten sie nicht nur. Die Realität zu träumen ist eine vollkommen hypertextuelle Aktivität. Auf ähnliche Weise fordert das altchinesische Buch der Weisheit, das Yijing (I Ging), seine Benutzer auf, Münzen oder Würfel zu werfen, um ihre Fragen zu Orakelsprüchen in Beziehung zu setzen, die ein wenig dem täglichen Horoskop gleichen, wenngleich sie in ihrer quasi mathematischen Kohärenz vielleicht etwas rationaler sind. Jeder, der sich mit dem täglichen Horoskop abgibt, denkt, ohne es zu wissen, hypertextuell. Denn wenn man versucht, eine Beziehung zu den vereinfachten Vorhersagen herzustellen, die auf einen selbst oder jeden andern am selben Tag und im selben Monat Geborenen gemünzt sind, tut man nichts anderes als den Text, den man vor

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218 | Derrick de Kerckhove Augen hat, mit der riesigen persönlichen Datenbank zu verknüpfen, die man im Gedächtnis bewahrt. Genauso wie wir scheinbar schon seit Ewigkeiten kontextuelle und textuelle Kognitionsstrategien verwenden, waren wir auch immer schon in der Lage, sowohl private als auch soziale hypertextuelle Links herzustellen. Der interessante neue Faktor, der durch das massiv erweiterte, elektrisch multiplizierte Sprachvermögen eingeführt wurde, ist also der, dass die dringendste Aufgabe, die sich Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern in einer ständig am Abgrund der sozialen und ökologischen Katastrophe stehenden Welt stellt, gleichzeitig die allerälteste ist: sich die Welt zu erträumen, in der wir leben wollen. Aus dem Englischen von Wilfried Prantner1

1 | Eine Online-Version des Textes findet sich unter: http://www.aec.at/de/ archiv_files/20021/2002_271.pdf, zuletzt gelesen am 23. Januar 2006.

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Interfictions. Vom Schreiben im Netz (2002) | 219

Interfictions. Vom Schreiben im Netz (2002) Roberto Simanowski

Ein Gespenst geht um in den Verlagen und Bücherstuben der abendländischen Welt, es ist das Gespenst der digitalen Literatur. Alle Kräfte des traditionellen Literatursystems haben sich zu einem heiligen Kampf gegen die Feinde der Buchkultur verschworen oder sind dabei, sich mit ihnen zu verbünden ... Die Anspielung auf das »Manifest der Kommunistischen Partei« mag völlig unangemessen wirken. Denn man darf einen Technologie- und Medienwandel nicht mit einer Ideologie verwechseln; jener wird gerade wegen seiner Ideologieferne viel erfolgreicher sein, als diese schließlich war. Die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse findet unter der Oberfläche des Computerbildschirms täglich statt, und der entstandene dot-Kommunismus hat nicht nur im Hinblick auf die Musiktauschbörse Napster längst die alte Frage aufkommen lassen, inwiefern sich (intellektuelle) Anstrengung auszahlt, wenn medienweit die Formel »jedem nach seinen Bedürfnissen« statt »jedem nach seinen Leistungen« gilt. Die Entwicklung der digitalen Medien und die Etablierung des Internet als neues Leitmedium haben die herrschenden Kulturformen bereits grundlegend verändert und werden damit auch in Zukunft fortfahren.1

1 | Wenn in diesem Text von den Neuen bzw. digitalen Medien die Rede ist, sind die auf dem Prinzip des digitalen Codes basierenden Speicher- und Übertragungstechnologien Computer, Diskette, CD-ROM, DVD und Internet gemeint. Es liegt also zunächst ein technischer Medienbegriff zugrunde (ähnlich wie bei Buch und Telefon), der vom philosophischen (Sprache, Bild, Musik) zu unterscheiden ist. Natürlich beeinflusst die mediale Konstellation (das Gespräch, das Telefonat, der Brief, die E-Mail, der Chat) auch die Verwendung des jeweiligen Symbolsystems (in diesem Fall die Sprache) bis hin zur Hervorbringung neuer Ausdrucksformen (das Hörspiel als Resultat des Radios). Welche Gestalt das im Falle der Neuen Medien annimmt und welche neuen Ausdrucksformen die spezifische Existenzform der Digitalität erzeugt, wird an vielen Beispielen zu erörtern sein, wobei dann gegebe-

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220 | Roberto Simanowski Ein Beispiel dafür ist die Briefkultur, die in der E-Mail einen Nachfolger gefunden hat, der sie zugleich bis zur Unkenntlichkeit verwandelt: spontane, kurze Reaktionen, durchsetzt mit Zitaten aus der Eingangspost und Emoticons, die Ironie grafisch anzeigen, statt sie zwischen den Zeilen wirken zu lassen. Selten findet man die überlegte Antwort, die aus der schließlich gefundenen Mußestunde des Briefes resultiert und nicht das Hier und Jetzt des Moments eingehender Post wie einen Stempel trägt. Ein anderes Beispiel ist der Chat, jene Online-Plaudergruppe, deren geschriebene Echtzeitkommunikation eine Mischung aus Briefschreiben und Telefonieren darstellt und selbst noch Elemente des Theaters aufweist, da die Vervielfältigung von Absender und Empfänger und das übliche Rollenspiel dem Ganzen den Charakter einer Performance geben. Aber schon der nicht vernetzte, noch ganz auf das Wort reduzierte Computer hat unsere Schriftkultur verändert. Das Copy-und-Paste-Verfahren ermöglicht eine andere Textproduktion, als sie das weiße Blatt Papier auf der Tischplatte oder in der Schreibmaschine verlangt. Die problemlose Korrektur, Umstellung und Vervielfältigung von Textsegmenten verführt zum spontanen Schreiben ohne Konzeption, was den auf diese Weise entstandenen Texten schließlich an Duktus und Gesamtentwurf abzulesen sein mag und ihnen schon die Bezeichnung Fast Food Prose einhandelte.2 Dass selbst der Bildschirmrahmen – als Begrenzung der Übersicht des Ganzen – Länge und orthografische Richtigkeit der Texte beeinflusst, haben Untersuchungen bereits Ende der 80er Jahre gezeigt.3 Die elektronische Sprache verändert den Umgang mit Text, sie macht ihn beweglich, aber auch flüchtig, entfernt ihn vom Konzept der Kontemplation und Verlässlichkeit, den er in der Buchkultur entwickelt hatte.4 Auch in sozialer, psychologischer und ökonomischer Hinsicht bringt das Internet grundlegende Veränderungen mit sich.5 Die Stichpunkte

nenfalls auch wieder innerhalb der digitalen Medien zwischen der unidirektionalen CD-ROM und dem bidirektionalen Internet zu unterscheiden sein wird. 2 | Vgl. Erika Sandberg-Diment: They All Laughed When I Sat Down at the Computer, New York 1987, S. 124. 3 | Vgl. W.J. Hansen/C. Haas: »Reading and Writing with Computers: A Framework for Explaining Differences in Performance«, in: Communications of the ACM 31, 9 (September), S. 1080-1089. 4 | Vgl. Michael Heim: Electric Language: A Philosophical Study of Word Processing, New Haven 1987. 5 | Zur ersten Orientierung seien hier nur einige Sammelbände empfohlen: David Bell/Barbara M. Kennedy (Hg.): The Cybercultures Reader, London, New York 2000; Stefan Bollmann/Christiane Heilbach (Hg.): Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Mannheim 1996, vgl. auch die annotierte Bibliografie zu Cyberculture (Virtual Communities, Community Network, Virtual Identities) des Online-Journals Resource Center for Cyberculture Studies. Zur Grundlegung einer pragmatischen Medienphilosophie im Zeitalter des

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Interfictions. Vom Schreiben im Netz (2002) | 221 lauten demokratische Zugangsbedingungen, Identitätstourimus, Delokalisierung. Die Voraussetzung gleicher Zugangsbedingungen ist freilich nicht nachvollziehbar, wenn man in Betracht zieht, dass nur die erste Welt und selbst hier nicht jeder sich den Zugang zum Netz leisten kann6 oder dass Englischkompetenz sowie Tippschnelligkeit wesentliche Parameter dieser Zugangsbedingungen sind. Dies ändert jedoch nichts daran, dass man in den technologisch entwickelteren Ländern prinzipiell für relativ wenig Geld – an Universitäten und in öffentlichen Bibliotheken auch kostenlos – die Möglichkeit hat, dieses Medium als Ort der eigenen Präsentation und als öffentliches Forum zu nutzen, ohne erst all jene Beschränkungen überwinden zu müssen, die in dieser Hinsicht traditionelle Publikationsmedien wie Buch, Zeitung, Radio und Fernsehen setzen. Einer der größten Skandale in der amerikanischen Präsidentengeschichte beruht auf dieser Freiheit, denn die Information über Clintons Affäre mit Monica Lewinsky wurde ursprünglich von Matt Drudge in dessen Online-Klatsch-Magazin veröffentlicht.7 Dieses Ereignis steht zugleich für die Disintermediation, den Verlust der Mittelsmänner, der sich mit dem Internet vollzieht. Im Hinblick auf die Informationsvermittlung bedeutet dies unter anderem, dass Nachrichten vor ihrer Veröffentlichung nicht mehr entsprechend geprüft und verifiziert, sondern gegebenenfalls später widerrufen werden. Das Prinzip des »publish now, edit later«8 ist dabei wiederum der Eigenschaft des Mediums geschuldet, schnell reagieren und dabei entstandene Fehler leicht auch im nachhinein beseitigen zu können. Es führt zu dem sonderbaren Umstand einer umgekehrten Halbwertszeit, wonach der Informationswert eines Online-Beitrages mit dem zeitlichen Abstand von seiner Erstveröffentlichung wächst.9 Disintermediation liegt auch vor im Hinblick auf das literarische Feld.10 Das Internet stellt die Literatur in einen veränderten prozessualen und kommunikativen Rahmen: Jeder kann praktisch über eine Website oder ein entsprechendes Literatur-Portal – wie gedichte.de – seine Texte direkt an

Internet vgl. Mike Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet, Weilerswist 2001. 6 | Vgl. dazu die Berichte der National Telecommunications and Information Administration (NTIA): Falling Through the Net: Defining the Digitial Divide – http://www.ntia.doc.gov/ntiahome/digitaldivide. 7 | Vgl. Andrew L. Shapiro: The Control Revolution. How the Internet is Putting Individuals in Charge and Changing the World We Know, New York 1999, S. 133-141. 8 | Ebd., S. 138 9 | Zum Disintermediationseffekt in der Wirtschaft vgl. Uwe Jean Heuser: Tausend Welten. Die Auflösung der Gesellschaft im digitalen Zeitalter, Berlin 1996. 10 | Vgl. Pierre Bourdieu: »Das literarische Feld«, in: Louis Pinto/Franz Schultheis (Hg.), Streifzüge durch das literarische Feld, Konstanz 1997, S. 33-148.

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222 | Roberto Simanowski die Leser bringen. Sosehr man dies als Befreiung von Verlags- und Marktzusammenhängen und -zwängen begreifen mag, die Ausschaltung des Lektors hat auch Konsequenzen für das Qualitätsniveau der umlaufenden Texte. Die Leser stehen einem Überangebot an mittelmäßigen bis schlechten Texten gegenüber und wünschen sich – wenn der Anbieter nicht gerade Stephen King heißt11 – oft Evaluationsformen auch im Internet. Diese nehmen dann durchaus medienspezifische Formen an wie die Bewertung per Klick, Leserkommentare auf Websites von Buch-Anbietern (vgl. amazon.com), kritische Bemerkungen in Online-Journalen oder etwa das Projekt Literaturaktienindex, das Texte wie Aktien behandelt, deren Wert sich abhängig vom Kommentar der Leser und Juroren entwickelt.12 Weitere mit dem Medienwandel verbundene Veränderungen des traditionellen Literaturbetriebs sind Print on Demand und die Publikation von Texten als E-Book. Während Print on Demand das Internet als Durchgangsstation für das schließlich zu erstellende Buch benutzt, zielt das E-Book auf das Lesen am Bildschirm. Dies ist freilich so widersinnig wie »Hörspiele aus dem Handy« – so der Pauschalvorwurf Christian Bennes gegen das Lesen im Internet,13 wenn der Text keinerlei ästhetischen Gebrauch vom digitalen Medium macht und nur aus platzökonomischen oder vertriebspolitischen Gründen die Buchseite gegen den Bildschirm tauscht. »Es gibt viele Möglichkeiten, eine neue Technologie in alter Weise zu nutzen«, hält Myron C. Tuman schon 1992 fest;14 das Lesen von Romanen am Bildschirm gehört gewiss dazu, und zwar auch, wenn der digitalisierte Text dann mit einer Suchfunktion und elektronischen Lesezeichen versehen wird. Die Nutzung des digitalen Mediums aus der Logik des Printmediums hat allerdings durchaus eine finanzstarke Lobby gefunden. Die Frankfurter Buchmesse 2000 gab Zeugnis davon mit ihrer E-Book-Award-Gala in der Alten Oper und den 100.000 Dollar, die Microsoft für das beste E-Book zur Verfügung stellte. Die Paradoxie des Unternehmens zeigt sich, wenn Preisträger E.M. Schorb, dessen Paradise Square vom Verleger als Wettbewerbs-

11 | Stephen King verkaufte 2000 seine Erzählung »Riding the Bullet« online (500.000 Downloads binnen weniger Tagen) und bot das Weiterschreiben seines Roman »The Plant« gegen die Überweisung eines Dollars/User an (New York Times, 18. August 2000; vgl.: http://www.nytimes.com/2000/08/r9/technology/ I9netlibrary-ipo.html sowie Kings Website: http://www.stephenking.com). 12 | Vgl. dazu den Beitrag unter: http://www.dichtung-digital.com/2001/08/ 20-Simanowski. Zum Einfluss des Internet auf die traditionellen Verfahren der Textherstellung und -verbreitung vgl. Christine Böhler: Literatur im Netz. Projekte, Hintergründe, Strukturen und Verlage im Internet, Wien 2001. 13 | Vgl. Christian Benne: »Lesen, nicht klicken«, in: Die Zeit 37 (1998). 14 | Vgl. Myron C. Tuman: Word Perfect. Literacy in the Computer Age, Pittsburgh 1992, S. 57; die Übersetzungen der Zitate aus englischen Quellen stammen vom Autor.

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Interfictions. Vom Schreiben im Netz (2002) | 223 beitrag eingereicht wurde, nicht einmal weiß, wie ein E-Book funktioniert und als erfolgreicher Autor im Printbereich auch gar keine Ambitionen auf ästhetische Experimente im Reich des Digitalen hat.15 Das rief den Spott vieler Berichterstatter hervor und gab Anlass zur Gründung eines Independent E-Book-Award. Wie sich ein halbes Jahr später zeigte, richtet sich dieser Preis allerdings nur gegen die »New York publishing barons«16 und zielt ansonsten ebenso wenig wie sein kritisierter Vorgänger auf Werke, die das digitale Medium als Lebensgrundlage brauchen, weil sie sich seiner spezifischen Gestaltungsmöglichkeit in der einen oder anderen Form bedienen. Wenn hier von Netzliteratur oder digitaler Literatur gesprochen wird, ist nicht vom Einscannen gedruckter Texte die Rede, sondern vom Herstellen nicht druckbarer. Schreiben im Netz bezeichnet nicht die Verlagerung des üblichen Produktionsprozesses in ein neues Präsentationsmedium, es bezeichnet einen Vorgang, der auf den spezifischen ästhetischen Möglichkeiten der digitalen Medien aufsetzt. Dabei ist nicht nur das Internet gemeint, sondern ebenso das Netz an Segmenten, das der Hypertext darstellt, sowie das Netz, das Wort, Bild, Ton und Film untereinander weben. Solche mitunter als Internet-Literatur firmierenden Projekte wie Matthias Polityckis im Netz präsentiertes »Work in Progress« am Roman Marietta oder Rainald Goetz’ öffentlich geschriebenes Online-Tagebuch Abfall für alle sind hier nicht Gegenstand, ebenso wenig die Web-Anthologien NULL, Forum der Dreizehn und Am Pool – im Netz angesiedelte »Sammelstellen traditioneller Literatur«, in denen vertreten zu sein derzeit als chic gilt.17 Der Präsentationsort Internet beeinflusst das literarische Produkt zwar genauso wie der Computer als Produktionsort – die genannten Projekte sind unter literatursoziologischem Aspekt auch durchaus interessant, neue ästhetische Ausdrucksformen werden hier jedoch kaum erprobt. Aus diesem Grund können diese Projekte schließlich ohne Verlust ins Buch überführt werden und haben dies zumeist ja auch von Anfang an im Sinn.18 Diese Literatur besteht aus Texten, die man nicht von links nach rechts

15 | Der E-Book Award 2001 stellt in dieser Hinsicht keinerlei Weiterentwicklung dar; auch hier wurden lediglich Printerzeugnisse ins digitale Medium übertragen. 16 | Richard Loeffler: »P-publishers hijack E-book Awards«, http://www.i5ive. com/article.cfm/524250011. 17 | Hermann Rotermund: Netzliteratur im literarischen Netz – Interview, in: http://www.dichtung-digital.de/Interviews/Rotermund-26-Sep-00. 18 | NULL erschien 2000 im DuMont Buchverlag, Abfall für alle erschien im gleichen Jahr bei Suhrkamp, aus Am Pool entstand 2001 the Buch – Leben am pool bei Kiepenheuer & Witsch. Eine Besprechung zu Abfall für alle befindet sich unter: http://www.dichtung-digital.de/2001/Simanowski-12-Feb; zu NULL vgl. Roberto Simanowski: »Poeten-Pinnwand digital. NULL – ein Netz-Projekt als Buch von Thomas Hettche und Jana Hensel«, in: Neue Deutsche Literatur 1 (2001), S. 162-168.

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224 | Roberto Simanowski und von vorn nach hinten lesen kann, die der Leser sich erst zusammenstellen, mitunter auch erst schreiben muss. Sie benutzt das digitale Medium nicht in erster Linie als Ort der Distribution oder Diskussion, sie braucht es als Produktions- und Rezeptionsort, weil sie sich in der einen oder anderen Form seiner spezifischen Eigenschaften in ästhetischer Absicht bedient. Diese Literatur besteht aus Wörtern, die sich bewegen, ihre Farben und Bestandteile ändern und, wie »Schauspieler aus Buchstaben«, ihren zeitlich programmierten Auftritt haben. Diese Literatur ist mitunter unabgeschlossen und gleicht eher einer Performance, einem andauernden Ereignis als einem fertigen Werk. Diese Literatur ist hypertextuell, interaktiv und multimedial. Sie besteht aus Texten, die sich mit Ton, Bild und Film verbinden und so schließlich die Frage aufwerfen, inwiefern es sich hier überhaupt noch um Literatur handelt und nicht eher um Text-Bilder oder Schrift-Filme oder einfach um das Gesamtkunstwerk digitaler Provenienz.

Literatur Bell, David/Kennedy, Barbara M. (Hg.): The Cybercultures Reader, London, New York 2000. Benne, Christian: »Lesen, nicht klicken«, in: Die Zeit 37/1998. Böhler, Christine: Literatur im Netz. Projekte, Hintergründe, Strukturen und Verlage im Internet, Wien 2001. Bollmann, Stefan/Heilbach, Christiane (Hg.): Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Mannheim 1996. Bourdieu, Pierre: »Das literarische Feld«, in: Louis Pinto/Franz Schultheis (Hg.), Streifzüge durch das literarische Feld, Konstanz 1997, S. 33-148. Hansen, W.J./ Haas, C.: »Reading and Writing with Computers: A Framework for Explaining Differences in Performance«, in: Communications of the ACM 31, 9 (September), S. 1080-1089. Heim, Michael: Electric Language: A Philosophical Study of Word Processing, New Haven 1987. Heuser, Uwe Jean: Tausend Welten. Die Auflösung der Gesellschaft im digitalen Zeitalter, Berlin 1996. Loeffler, Richard: »P-publishers hijack E-book Awards«, unter: i5ive.com/ article.cfm/524250011. Rotermund, Hermann: Netzliteratur im literarischen Netz – Interview, in: dichtung-digital.de/Interviews/Rotermund-26-Sep-00. Sandberg-Diment, Erika: They All Laughed When I Sat Down at the Computer, New York 1987. Sandbothe, Mike: Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet, Weilerswist 2001.

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Interfictions. Vom Schreiben im Netz (2002) | 225 Shapiro, Andrew L.: The Control Revolution. How the Internet is Putting Individuals in Charge and Changing the World We Know, New York 1999. Simanowski, Roberto: »Poeten- Pinnwand digital. NULL – ein Netz-Projekt als Buch von Thomas Hettche und Jana Hensel«, in: Neue Deutsche Literatur 1 (2001), S. 162-168.

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Gender-Technologien – Cyberfeminismus

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) T04-00 resp IV.p 142895398088

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) vakat 228.p 142895398128

Einleitung | 229

Einleitung

»Cybernetics is feminisation. When intelligent space emerges alongside this history of women’s liberation, no one is responsible. That’s the point, the fold in the map, where architects get lost in the pattern. Self guiding systems were not in the plan.«1

In den 80er Jahren wendeten sich die aus den Filmwissenschaften heraus formulierten feministischen Ansätze und Theorien2 nicht nur dem Medium Fernsehen (und u.a. Formaten wie der Soap-Opera) zu, sondern sukzessive auch den digitalen und interaktiven Medien sowie jenen Technologien, auf denen diese basieren. Einführende Anthologien, Textkompendien und Lexika postulierten für die zu den Medienwissenschaften zusammengefassten Fächergruppen und Fachgebiete grundlegende Konvergenzen zwischen Gendertheorien, Medienwissenschaften und Cultural Studies, welche darüber hinausgehend auch für die Forschungsansätze der Neuen Medien Gültigkeit beanspruchen können. »Keine andere Disziplin hat soviel Gemeinsamkeiten mit den Gender Studies wie die Medienwissenschaften. Das hängt u.a. damit zusammen, dass beide nicht die Charakteristika einer ›Fachdisziplin‹ mit festem Wissenskanon und eigener Methodik aufweisen, sondern eher die einer transdisziplinär angelegten Wissenschaftskri-

1 | Sadie Plant: »Feminisations. Reflections on women and virtual reality«, in: Amelia Jones (Hg.), The Feminism and Visual Culture Reader, London, New York 2003, S. 528f., hier: S. 529. 2 | Hier sind insbesondere Laura Mulvey (s. das Kapitel »Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture: Einleitung«), Teresa de Lauretis und Mary Ann Doane zu nennen; vgl. Teresa de Lauretis: Technology of Gender: Essays on Theory, Film, and Fiction, Indianapolis 1987; Mary Ann Doane: »The Clinical Eye: Medical Discourse in the ›Woman’s Film‹ of the 1940s«, in: Susan Suleiman (Hg.), The Female Body in Western Culture: Contemporary Perspectives, Cambridge 1986, S. 152-174.

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230 | Gender-Technologien – Cyberfeminismus tik, die sowohl mit verschiedenen theoretischen Ansätzen als auch unter historischer Perspektive vorgeht.«3

Die theoretische und wissenschaftskritische Debatte um Feminismus, Geschlechterperspektive und Neue Medien bezog sich thematisch zunächst auf den zwischen Geschlecht und Digitalisierung festzustellenden Zusammenhang der Marginalisierung, den zwischen den Geschlechtern bestehenden Digital Gap und den Ausschluss von Frauen aus den globalisierten Wissens- und Arbeitsgebieten der Biotechnologie, Kybernetik, Nanotechnologie und der neuen Kommunikationstechnologien. Auch heute ist dieser Digital Divide selbst in den Ländern Nordamerikas, Asiens und Europas keineswegs durchgängig aufgehoben.4 Insofern hat die Digitalisierung hinsichtlich der Geschlechterdifferenz einen weiteren Einschnitt produziert, auf den der Cyberfeminismus reagiert hat und reagiert. Trotz kritischer Distanz zu Kanonbildung und historischer Periodisierung, die für die Geschichte der feministischen Theorien und Bewegungen kennzeichnend ist, lässt sich nicht leugnen, dass es auch in den Geschlechtertheorien Initiationstexte gegeben hat, die noch Jahre nach dem Ersterscheinen in Sammelbänden, einführenden Kompendien oder wissenschaftshistorischen Büchern reproduziert, diskutiert, zitiert, kritisiert und weiterentwickelt wurden und werden.5 Zu den insbesondere in den feministischen Aktions- und Forschungskontexten einflussreich gewordenen Texten zählt zweifellos Donna Haraways 1985 publiziertes Manifest für Cyborgs. Es inspirierte u.a. ästhetische Praktiken, Medienkunst und Literatur (namentlich den sogenannten Cyberpunk), medientheoretische Konzepte, politische Interventionen und die Gründung digitaler Gruppen und Netzwerke. Donna Haraway setzt die Figur der Cyborg, der sie als »Geschöpf in einer Post-Gender-Welt« auch utopische Aspekte zuweist, in Bezug zu Frauen anderer Ethnien und Kulturen. Dem kalkuliert eingesetzten Gestus des politischen Manifestes entsprechend, bildet dabei die politi-

3 | Christina von Braun: »Medienwissenschaft«, in: Dies./Inge Stephan (Hg.), Gender-Studien. Eine Einführung, Hamburg 2000, S. 300-312, hier S. 300; vgl. Katrin Peters: »Media Studies«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 325-344. 4 | Während Frauen inzwischen im selben Ausmaß das Internet nutzen wie Männer, ist ihr Anteil an qualifizierten Berufen der IT-Branche nach wie vor gering; vgl. http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,392642,00.html, zuletzt gelesen am 5. Januar 2006; http://www.digitale-chancen.de/content/downloads/ index.cfm/aus.11/key.781/secid.10/secid2.31, zuletzt gelesen am 16. Januar 2006; http://www.heise.de/newsticker/meldung/15374, zuletzt gelesen am 16. Januar 2006. 5 | Dazu zählen u.a. die Texte Laura Mulveys, Judith Butlers, Donna Haraways, Julia Kristevas und Luce Irigarays.

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Einleitung | 231 sche Analyse von Wissens- und Machtkonstellationen die argumentative Basis für programmatische Statements, welche sich in die Tradition eines sozialistischen Feminismus stellen. »Es gibt kein ›Weiblich‹-Sein, das Frauen auf natürliche Weise miteinander verbindet. Es gibt nicht einmal den Zustand des Weiblich-›Seins‹. Dieser ist selbst eine hoch komplexe Kategorie, die in umkämpften sexualwissenschaftlichen Diskursen und anderen sozialen Praktiken konstruiert wurde.«6

Die in der Frauenbewegung Anfang der 80er Jahre virulenten Theorien, aber auch die von ihnen initiierte kritische Re- und Dekonstruktion kategorialer kultureller Dualismen (wie Körper/Geist, Weiblich/Männlich, Selbst/ das Andere etc.), wendet Haraway auf den Sektor expandierender digitaler Technologien und ihrer Arbeits- und Machtfelder an (so z.B. auf BildschirmHeimarbeit, das biopolitische Dispositiv oder die High-Tech-Medizin). Die Neufokussierung und -formulierung der politisch-sozialen Kategorien von Sexualität (sexuality), Ethnie (»race«) und Klasse (class) benennt Haraway als wichtige Forschungs- und Auseinandersetzungsthemen feministischer Theorien im Angesicht der wissenschaftlichen und mikroelektronischen »Revolution« – ein Ausgangspunkt, auf den sich Gruppen und Einzeltheoretikerinnen oder/und -aktivistinnen wie VNS Matrix, OBN (Old Boys Network), studio xx oder GCA (Gender Changer Academy) in der Folgezeit gleichermaßen bezogen.7 Retrospektiv lässt sich das Cyborg-Manifest als Starting Point, wenn nicht gar als »Ursprung«, cyberfeministischer Bewegungen lesen, wenngleich korrigierend zu konstatieren ist, dass zeitgleich eine Vielzahl künstlerischer/wissenschaftlicher/politischer Interventionen und Statements zum Gegenstandsbereich der neuen Technologien und ihrer geschlechterpolitischen Implikationen veröffentlicht wurden. Künstlerinnen wie Lynn Hershman, Francesca da Rimini, Ursula Biemann, Nancy Paterson u.v.a. reflektierten seit Ende der 70er Jahre die cyberfeministische Kritik an den Technowissenschaften in ihren künstlerischen Arbeiten.8 Dabei wird von Anfang an in der Bewegung ein anti-autoritärer Impetus deutlich, der z.B. durch die 100 Anti-Thesen illustriert wird, den die Erste Cyberfeministische Internationale 1997 auf der documenta X in Kassel veröffentlichte, denn dieses »politische Programm« zeichnet sich durch Exklusion und bewusst paradoxe Formulierungen aus – »Cyber-

6 | Vgl. Haraways Text »Ein Manifest für Cyborgs«, ungekürzt, in diesem Kapitel.

7 | Vgl. http://www.obn.org, zuletzt gelesen am 15. Januar 2006, sowie die dort aufgeführten Links mit weiteren Texten zum Cyberfeminismus. 8 | Lynn Hershman entwarf Ende der 70er Jahre Telerobotic Dolls, fiktive und virtuelle Persönlichkeiten, die Cyborg-Fantasie thematisierende Fotografien und Cyberpunk-Filme; vgl. ihren Text im Kapitel »Avatars – Cyborgs – Fake-Identities«.

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232 | Gender-Technologien – Cyberfeminismus feminismus ist keine Ideologie, Cyberfeminismus ist keine Praxis, Cyberfeminismus ist kein ismus« usw.9 Auch der erste cyberfeministische Reader hebt auf die Vielgesichtigkeit des Cyberfeminismus und die Proliferation seiner Ideen und Entwürfe ab: »The »feminism« in Cyberfeminism is obvious, it cannot be overlooked«, schreibt Cornelia Sollfrank im Vorwort, und: »Identifying oneself as a woman is no longer enough to serve as a productive connecting link. We have to find new strategies for political action.«10 Dass ein Ausgangspunkt der feministischen Kritik an den digitalen Medien auch die Dekonstruktion der Kategorie »Technologie« selbst ist, formulieren Anfang der 90er Jahre zahlreiche Netzkritikerinnen, Softwareentwicklerinnen, Medienkünstlerinnen und -theoretikerinnen. Ähnliche Überlegung hatten in Haraways Manifest unter dem Schlagwort »technologischer Determinismus« firmiert. Zu diesem Zeitpunkt konstituieren sich in Parallelität zur Labelbildung »Cyberfeminismus«11 erste explizit im Netz agierende feministische Frauengruppen und -foren. VNS Matrix, von 1991 bis 1997 ein Zusammenschluss der australischen Künstlerinnen Josephine Starrs, Francesca da Rimini, Julianne Pierce und Virginia Barratt, die im Bereich Video, Netzintervention, Tonkunst, Fotografie, Aktion und Kunst im öffentlichen Raum bekannt wurden, versuchte, »die herrschenden Erzählungen von Macht und Kontrolle« im Kontext der High-Tech-Kultur zu untersuchen und »die Konstruktion des sozialen Raums, der Identität und der Sexualität im Cyberspace zu analysieren«.12

9 | Als Download unter: http://www.obn.org/reading_room/manifestos/html /anti.html, zuletzt gelesen am 15. Januar 2006. 10 | Cornelia Sollfrank: »Introduction«, in: Dies., First Cyberfeminist International Reader, Hamburg 1998, S. 1. 11 | Neben VNS Matrix und Sadie Plant waren auch andere Gruppen und Einzelkünstlerinnen an dieser Begriffs(er)findung beteiligt: »Als wir den Begriff des Cyberfeminismus zu verwenden begannen, tauchte er gleichzeitig auch in anderen Teilen der Welt auf – wie ein spontanes Mem, das sich als Reaktion auf damals populäre Ideen wie zum Beispiel den »Cyberpunk« überall etwa um dieselbe Zeit herausbildete. Seit damals hat sich das Mem rasch verbreitet, und heute haben diesen Gedanken sicher schon viele Frauen aufgegriffen, die sich theoretisch oder praktisch mit Technologie beschäftigen«, »Nothing is Certain. Flesh, the Postbody and Cyberfeminism. VNS Matrix im Gespräch mit Nova Delahunty«, in: Gerfried Stocker/Christine Schöpf (Hg.), Memesis. The Future of Evolution, Ars Electronica ’96, Wien, New York 1996, S. 180-189, hier: S. 180. 12 | Zit. nach: http://www.mediaartnet.org/kuenstler/ vns-matrix/biografie, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006; vgl. zu VNS Matrix auch: Verena Kuni: »Die Flaneurin im Datennetz. Wege und Fragen zum Cyberfeminismus«, in: Sigrid Schade-Tholen/Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst

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Einleitung | 233 Das politische, theoretische und künstlerische Projekt eines Remapping der Cyberkultur, das VNS Matrix im Modus von Low End-Technik oder/ und hybriden technologischen Systemen realisierte, weist über oppositionelle und subversive visuelle Entwürfe von Weiblichkeit in Internet und Medienkunst hinaus und zielt grundsätzlich auf die experimentelle und dekonstruktive Erforschung von Identitäts- und Geschlechterentwürfen im Cyberspace. Eine ihrer ersten Interventionen im Netz war das Cyberfeministische Manifest für das 21. Jahrhundert,13 das VNS Matrix in verschiedensten Medien platzierte, im Radio und in Zeitschriften, im Fernsehen, im Internet und im städtischen Raum. Unter Verweis auf die ersten cyberfeministischen Referenztexte von Donna Haraway, Sadie Plant, Sherry Turkle u.a. will die Gruppe über die »Schaffung begrifflicher und analytischer Rahmenstrukturen, anhand derer man die neu entstehenden Technologien diskutieren und verstehen kann«, hinausgehen.14 Sie erhebt darüber hinaus Einspruch gegen die Differenzierung und Hierarchisierung, die die neuen Technologien mit sich transportieren. »Ist das nicht genau die Art reduktionistischer binärer Paradigmen, gegen die wir mit unserer Arbeit angehen wollten? Sicher, wir verwenden und verteidigen die Technologien der unteren Preisklasse – teils aufgrund unser eigenen Entscheidung und teils aus Notwendigkeit. Doch wer von uns möchte wirklich seinen Power-PC gegen die Geister der früheren Computer eintauschen?«15

Hatte im Feminismus der späten 70er und frühen 80er Jahre bereits die Verschränkung von Theorie und Praxis den Kern politischer Strategie ausgemacht, so wird dieser Impuls im sogenannten Third-Wave-Feminismus nun auch zum tragenden Konzept der cyberfeministischen Bewegungen. Cyberfeminismus wird von zahlreichen Gruppen und einzelnen Aktivistinnen bis heute als aktuellste Repräsentation des Feminismus bzw. als »Update des Feminismus« verstanden. »What is Cyberfeminism? A feminism, of course – focussing on the digital medium. The First Cyberfeminist International agreed on not to define the term. The strategy of keeping the term as open as possible was consensual. […]

und Medien, München 1999, S. 467-485, hier: S. 478f.; vgl. den Beitrag von VNS Matrix in diesem Kapitel. 13 | Im Original: http//www.next.com.au/spyfood/geekgirl/001stick/vns/vns. html, zuletzt gelesen am 3. Januar 2006. 14 | »Nothing is Certain«, a.a.O., hier: S. 183; zu den Referenztexten des Cyberfeminismus vgl. den Text von Sherry Turkle im Kapitel »Cyborgs – Avatars – Fake-Identities«. 15 | Ebd., S. 188.

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234 | Gender-Technologien – Cyberfeminismus Cyberfeminism is a vehicle for discussing certain methods in theory, art or politics. Cyberfeminism is an update of Feminism. Cyberfeminism ist the updated version of Feminism dedicated to new political issues raised by global culture and media society. Cyberfeminism is much more than every other Feminism linked to aesthetic and ironic strategies in the new world order of lowing pancapitalism«.16

Die Mittel, derer sich die cyberfeministischen Gruppen bedienen, sind die des Hacking und Hijacking bzw. Gender Hacking, verstanden als »genderspezifische Dekonstruktionen von Macht«.17 Die Protagonistinnen dieser Aktionen sind Hackerinnen wie Susan Thunder, in den 90er Jahren Mitglied der Roscoes,18 oder Evil Grrrl, Mitglied der Ghetto Hackers, Hard- und Software-Entwicklerinnen wie Fernanda Weiden, Alice Wu, Yuwei Lin,19 die Zirkel und Zines der Web Grrrls 20 und Video- und Medienkünstlerinnen wie Margarete Jahrmann oder Cornelia Sollfrank. Letztere entwarf 1997 für Female Extension 289 computergenerierte Netzkunstwerke, mit deren Einreichung der Prozentsatz weiblicher Beteiligter beim »Extension«-Wettbewerb der Hamburger Kunsthalle künstlich in die Höhe geschraubt wurde. In den letzten Jahren ist dabei auch die Partizipation an der Open Source-Kultur und Creative Commons-Bewegung zum politischen

16 | Zit. nach: Versuch einer Genealogie des Cyberfeminismus: http://user page.fu-berlin.de/~brat/baba/text/cyfem.html, Kapitel 2.4.1, zuletzt gelesen am 25. Januar 2006. 17 | »The starting point for dealing with the subject of women hackers was the importance of the work hackers do, their function in society and the persistence of the practice as described above, linked to the fact that almost no women hackers exist. I find it significant that the deconstruction of the all-pervading power of technology, from a cyberfeminist point of view, has first to be combined with a genderspecific deconstruction of power, since technology is still, primarily, associated with maleness«; Cornelia Sollfrank: »Women Hackers – a report from the mission to locate subversive women on the net«, Erstveröffentlichung: »Next Cyberfeminist International«, 1999, http://hacker.textfiles.com/papers/sollfrankhackers.html, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006. 18 | Vgl. Katie Hafner/John Markoff: Cyberpunk – Outlaws and Hackers on the Computer Frontier, New York 1991. 19 | Vgl. Yuwei Lin: A feminist perspective on FlOSS, http://www.digitalop portunity.org/article/view/118170, zuletzt gelesen am 28. Januar 2006; die Autorin führt aus, wie Free and Open Source Software den Geschlechterunterschied im Bereich der neuen Kommunikationstechnologien nivellieren könne. Die zahlenmäßige Differenz im Bereich der Softwareentwicklung betrug 2005 in Nordamerika 85 % (Männer) zu 15 % (Frauen); vgl. zu der Debatte: http://www.top40award-canada. org/award, zuletzt gelesen am 15. Januar 2006. 20 | Vgl. dazu den Beitrag von Jayne Armstrong im Kapitel »Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking«.

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Einleitung | 235 Habitus geworden. Hackerinnen, Medienkünstlerinnen und Web Grrls werden ihm beispielsweise gerecht in der »all-female-authored«-Distribution des Betriebssystems Linux mit dem Namen Cervix,21 in Frauen-Mailinglisten wie techtalk der LinuxChix oder der Debian Women Mailingliste, in entsprechenden Sektionen von Open Source- bzw. Linux-Tagen22 oder in internationalen Versammlungen wie dem Women and Free Software-Meeting im Januar 2006 in Brüssel. Doch nicht nur Informations- und Kommunikationstechnologien, ihre utopischen Potentiale und ihre Risiken (Stichwort: Infowar) erscheinen als aktuelle Herausforderungen für feministische Theorie und Praxis, sondern auch die invasiven und visualisierenden Techniken der Medizin und der Humanwissenschaften. Somit steht der Gesamtkomplex technologisch-digitaler Dispositive im Fokus cyberfeministischer Thesen und Theorien, verstanden als eine »Politik radikaler Interventionen, die auf verschiedenen Erfahrungen basiert«.23 Neben der Analyse und Kritik an medialer Repräsentationspolitik hatten schon die feministischen Filmwissenschaften die – sich meist auf Jacques Lacan berufende – Trennung von Blick und Körper theoretisch seziert, eine diskursive Figur, die auch Marie-Luise Angerer in ihrem Text zu »Medienkörper/Körper-Medien« als Plattform benutzt für weitergehende Überlegungen zu Stellenwert und Funktionalität von Körper und Geschlecht im elektronischen Raum.24 Dieser Text verweist auf die große Bedeutung, die der Körper – nun in der Lesart von Performanz und Performativität (Judith Butler) – in den gendertheoretisch ausgerichteten Medienwissenschaften insgesamt wie auch in den Cybertheorien besitzt. Als einer der Vorläufertexte dazu kann Anne Balsamos Artikel »Auf Messers Schneide« gelten. Balsamo analysiert und kommentiert in ihren Texten immer wieder den Körper als athletisch oder chirurgisch bearbeiteten Körper, den Cyberspace als neuen Raum der Disziplinierung und die Funktion des Cyborgs für das kulturelle Gedächtnis des Westens: »The cyborg is the postmodern icon. From children’s plastic action figures to RoboCop’s titanium exosceleton, cyborg-ian artifacts will endure as relics of

21 | Vgl. »Female Hackers, Not your Girlfriend. Women Hackers are doing it for themselves«, (2001), http://sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?file=/gate/archive/ 2001/10/11/womhackers.DTL, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006. 22 | Vgl. die Sektion »Free Software with a Female Touch« bei den Linuxtagen 2005 in Karlsruhe; http://www.linuxtag.org/typo3site/freecongress-details.html ?&L=0&talkid=253, zuletzt gelesen am 5. Januar 2006. 23 | Im Original: »a policy of radical intervention based on different experiences – thus abandoning trends of the art and theory markets«; Claudia Reiche: »Editorial«, in: Dies./Verena Kuni (Hg.), Cyberfeminism. Next protocols, New York 2004, S. 7-11, hier: S. 8; vgl. Maria Fernandez/Faith Wilding: »Situating Cyberfeminism«, in: Domain Errors! Cyberfeminist Practices, New York 2003, S. 17-25. 24 | Vgl. ihren Beitrag in diesem Kapitel.

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236 | Gender-Technologien – Cyberfeminismus an age obsessed with replication.«25 Für ihre Theorie der technologischen Reproduktion des Geschlechtskörpers operiert Balsamo mit dem Begriff der Body Technology, den sie auch im Sinne von Visualisierungstechniken und Medien definiert. Der Prothesenkörper, die neueste technologische Kolonialisation des (weiblichen) Körpers, ist in Balsamos Lesart fragmentiert, medikalisiert, restrukturiert, sichtbar gemacht und re-naturalisiert. Er kehrt in dieser Form als weiblicher Körperimago zurück und wird so Bestandteil der westlichen Geständniskultur, wobei bei aller Grenzvermischung zwischen Technik und Physis, so Balsamo, die Differenz zwischen weiblich und männlich erhalten bleibe, ja zementiert werde. Aufgrund seiner Integration feministischer Filmtheorien (vor allem der verschiedenen Modi des Sehens und der Blickregime), diskurstheoretischer Paradigmen (des Überwachens und Strafens) und politischer Positionierungen des Feminismus konnte Balsamos Text zu einem zentralen Theorietext des Cyberfeminismus werden. Die für die Theorien der Neuen Medien insgesamt festzustellende Divergenz und Heterogenität der Theoreme, Konzepte und Analysen lässt sich auch für die cyberfeministischen Theorien feststellen. Der 2003 herausgebrachte Feminism and Visual Culture Reader beispielsweise bündelt die Theorieansätze und Materialzugänge einzelner Theoretikerinnen, Künstlerinnen und -gruppen der Jahre 1972-2001, die als »Schlüsseltexte« oder »Schlüsselmomente« (»key moments«) verstanden werden, konsequenterweise nach größeren Themen- und Sachgebieten wie »Representation«, »Difference«, »Discipline/Strategies«, »Body«.26 Viele der cyberfeministischen Programmtexte sind daher auch als Antwort auf die fortschreitende Diversifizierung der Wissenschaften und insbesondere der Technowissenschaften zu verstehen. Die Komplexitätssteigerung des medizinischen, bio-, nano- und gentechnischen Diskurses mit seinen kaum mehr einschätzbaren Folgeerscheinungen zählen auch zu den bevorzugten Relfexions- und Interventionsarealen der Gruppe subRosa (Fay Wilding, Maria Fernandez, Laleh Mehran, Hyla Willis u.a.). Sie wählte ihren Namen in Anlehnung an Rosa Luxemburg, Rosie the Riveter, Rosa Parks und Rosa Bonheur und verknüpft Kunst, Aktion und Politik programmatisch mit den Redestrategien der Ironie, Parodie und Satire.

25 | Anne Balsamo: »Reading Cyborgs Writing Feminism«, in: Gill Kirkup/ Linda Janes et al. (Hg.), The Gendered Cyborg. A Reader, London, New York 2000, S. 148-158, hier: S. 149; vgl. ihren Beitrag in diesem Kapitel. 26 | Vgl. Amelia Jones (Hg.): The Feminism and Visual Culture Reader, a.a.O.; vgl. zum Konzept des Schlüsseltextes die Einleitung von Amelia Jones, S. 1-7. Das Kapitel »Technology«, das sich schwerpunktmäßig mit sogenannten neuen Technologien beschäftigt, enthält neben Donna Haraways »A Manifesto for Cyborgs«, das diesen Teil eröffnet, Texte von N. Katherine Hayles, Elizabeth Groz, Christine Ross, Maria Fernandez, Sadie Plant, VNS Matrix, Rosi Braidotti, Jennifer Gonzalez und Sharon Lehner.

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Einleitung | 237 »Das Arbeiten mit elektronischen Medien und digitalen Technologien erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kenntnisse. Die Herausforderung besteht immer mehr darin, unsere aktivistisch-kritischen Arbeiten in einem erweiterten gesellschaftlichen Feld und an anderen Schauplätzen – in Kliniken, Schulen, Messen, öffentlichen Räumen, etc. – zu produzieren und sie darüber zu vertreiben. Für subRosa heißt das, mit vielen verschiedenen Einzelpersonen, Gruppen und Netzwerken – GesundheitsarbeiterInnen, WissenschafterInnen, ÖkologInnen, TheoretikerInnen, DiplomlandwirtInnen, usw. – zusammenzuarbeiten.«27

In ihrem Positionsartikel »Situating Cyberfeminism« unterscheiden subRosa bzw. Fay Wilding und Maria Fernandez zwischen »altem« und »neuem« Cyberfeminismus. Sie sehen die utopischen und spielerischen Aspekte des ersten Cyberfeminismus durch neue Tendenzen und Strukturen abgelöst, wie sie sich erstmals in dem starken Bezug auf postkoloniale und postfeministische Diskurse auf der Zweiten Cyberfeministischen Internationale 1999 in Rotterdam manifestiert hätten. SubRosas Manifesto for Becoming Autonomous Zones (BAZ) verdeutlicht,28 in welche Richtung sich cyberfeministische »Zellen« nach Manifesten, Gegen-Manifesten, Thesen und Anti-Thesen bewegen: Die neuen Formen der Identitätspolitik im Netz (aber auch in anderen Medien) gründen partiell auf performativen Interventionen, auf Polemiken wie auch auf politischen Programmtexten, in denen die utopischen Fantasien der 90er Jahre immer noch präsent sind. »Die Faszination der neuen Technologien scheint darin zu bestehen, dass Räume wie das Internet Möglichkeiten zu Gender-Hacking oder zum Spiel mit der Identität bieten. Ich glaube, dass das Internet deshalb so wichtig ist – die Menschen können sich neu definieren und sich allen möglichen interessanten und seltsamen Fantasien über sich selbst hingeben. Dem eigenen Geschlecht zu entkommen, andere Möglichkeiten, die eigene Identität, das eigene Selbst zu gestalten, scheint ein jahrhundertwendetypisches Bestreben zu sein«.29

27 | Wilding zit. nach: http://www.art.cfa.cmu.edu/wilding, zuletzt gelesen am 4. Januar 2006; vgl. auch http://www.andrew.cmu.edu/user/fwild/ 28 | Vgl. die Übersetzung des subRosa-Manifestes in diesem Kapitel. 29 | »Nothing is Certain«, a.a.O., S. 184.

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238 | Donna Haraway

Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften (1985) Donna Haraway

Der ironische Traum einer gemeinsamen Sprache für Frauen im integrierten Schaltkreis Dieses Essay versucht, einen ironischen, politischen Mythos zu entwickeln, der Feminismus, Sozialismus und Materialismus die Treue hält. Eine Treue, die vielleicht eher der Blasphemie gleichkommt als dem ehrfürchtigen Glauben an die reine Lehre oder der Identifikation. Blasphemie war immer schon darauf angewiesen, die Dinge sehr ernst zu nehmen. Innerhalb der säkularisierten, aber darum nicht weniger religiösen, protestantischen Tradition der US-amerikanischen Politik, die Politik des sozialistischen Feminismus eingeschlossen, kenne ich keinen besseren Ausgangspunkt. Blasphemie schützt uns vor der moralischen Mehrheit in den eigenen Reihen, ohne die Notwendigkeit von Solidarität preiszugeben. Blasphemie ist nicht Apostasis. Ironie handelt von Widersprüchen, die sich nicht – nicht einmal dialektisch – in ein größeres Ganzes auflösen lassen, und von der Spannung, unvereinbare Dinge beieinander zu halten, weil beide oder alle notwendig und wahr sind. Ironie handelt von Humor und ernsthaftem Spiel. Sie ist auch eine rhetorische Strategie und eine politische Methode, von der ich wünschte, dass sie von sozialistischen Feministinnen mehr beachtet würde. Im Zentrum meiner ironischen Treue, meiner Blasphemie, steht das Bild der Cyborgs1.

1 | Cyborg ist die Abkürzung von »cybernetic organism«. Haraway verwendet das Wort Cyborg in diesem Essay in doppelter Weise. Cyborg bezeichnet einerseits technologisch-organische »Objekte«, die im Rahmen der herrschenden gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse hervorgebracht werden. Andererseits bezeichnet Cyborg die in einer »postmodernen« Welt lebenden Men-

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 239 Cyborgs sind kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion. Gesellschaftliche Wirklichkeit, d.h. gelebte soziale Beziehungen, ist unser wichtigstes politisches Konstrukt, eine weltverändernde Fiktion. Die internationalen Frauenbewegungen haben »die Erfahrung der Frauen«, dieses zentrale kollektive Objekt nicht nur konstruiert, sie haben sie auch entdeckt und entschleiert. Diese Erfahrung ist eine Fiktion und eine Tatsache von entscheidender politischer Bedeutung. Befreiung basiert auf der Konstruktion eines Bewusstseins, das als phantasievolles Erkennen der Unterdrückung neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Die Cyborg als imaginäre Figur und als gelebte Erfahrung verändert, was am Ende des 20. Jahrhunderts als Erfahrung der Frauen zu betrachten ist. Dies ist ein Kampf auf Leben und Tod, aber die Grenze, die gesellschaftliche Realität von Science Fiction trennt, ist eine optische Täuschung. Die zeitgenössische Science Fiction wimmelt von Cyborgs, Geschöpfen – Tier und Maschine in einem –, die Welten bevölkern, die vieldeutig zwischen natürlich und hergestellt changieren. Auch die moderne Medizin ist voller Cyborgs, Verkopplungen aus Organismus und Maschine, in denen beide als programmierbare Geräte erscheinen, die mit einer Intimität und einer Macht miteinander verbunden sind, wie sie die Geschichte der Sexualität nicht hervorzubringen vermochte. Cyborg-»Sex« erweckt einige der wunderbar barocken Formen der Replikation von Wirbellosen und Farnen zu neuem Leben (organische Hausmittel, die dem Heterosexismus vorbeugen). Die Replikation der Cyborgs ist von den Prozessen der organischen Reproduktion entkoppelt. Die moderne Produktion ähnelt dem Traum von einer Kolonisierung der Arbeitswelt durch Cyborgs. Ein Traum, der den Alptraum des Taylorismus idyllisch erscheinen lässt. Der moderne Krieg ist eine Cyborgorgie, programmiert in der Sprache von CI, Command, Control, Communication, Intelligence, ein Posten, der sich 1984 im US-Verteidigungshaushalt auf 34 Milliarden Dollar belief. Ich plädiere dafür, die Cyborg als eine Fiktion anzusehen, an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität ablesen lässt. Sie sollte aber auch als eine imaginäre Ressource betrachtet werden, die uns einträgliche Verbindungen eröffnen kann. Die Biopolitik Foucaults ist nur eine schwache Vorahnung des viel weiteren Feldes der Cyborg-Politik. Im späten 20. Jahrhundert, in unserer Zeit, einer mythischen Zeit, haben wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschine und Organismus verwandelt, kurz, wir sind Cyborgs. Cyborgs sind unsere Ontologie. Sie definieren unsere Politik. Die Cyborg ist ein verdichtetes Bild unserer imaginären und materiellen Realität, den beiden miteinander verbundenen Zentren, die jede Möglichkeit historischer

schen und fungiert als oppositionelle feministische Erzählfigur. In den Fällen, in denen Cyborg eindeutig die feministische Erzählfigur bezeichnet, wird dies in der Übersetzung durch die Cyborg wiedergegeben. (Anm. v. C. Hammer und I. Stiess)

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240 | Donna Haraway Transformation bestimmen. In der Tradition »westlicher« Wissenschaft und Politik, der Tradition des rassistischen und patriarchalen Kapitalismus, des Fortschritts und der Aneignung der Natur als Mittel für die Hervorbringung von Kultur, in der Tradition der Reproduktion des Selbst durch die Reflexion im Anderen, hat sich die Beziehung von Organismus und Maschine immer als Grenzkrieg dargestellt. Die umkämpften Territorien in diesem Grenzkrieg sind Produktion, Reproduktion und Imagination. Dieses Essay ist ein Plädoyer dafür, die Verwischung dieser Grenzen zu genießen und Verantwortung bei ihrer Konstruktion zu übernehmen. Es ist zugleich ein Versuch, zu einer sozialistisch-feministischen Kultur und Theorie in postmoderner, nichtnaturalistischer Weise beizutragen. Es steht in der utopischen Tradition, die sich eine Welt ohne Gender vorstellt, die vielleicht eine Welt ohne Schöpfung, aber möglicherweise auch eine Welt ohne Ende ist. Die Inkarnation der Cyborgs vollzieht sich außerhalb der Heilsgeschichte. Cyborgs sind Geschöpfe in einer Post-Gender-Welt. Nichts verbindet sie mehr mit Bisexualität, präödipaler Symbiose, nichtentfremdeter Arbeit oder anderen Versuchungen, organische Ganzheit durch die endgültige Unterwerfung der Macht aller Teile unter ein höheres Ganzes zu erreichen. In diesem Sinn besitzt die Cyborg keine Ursprungsgeschichte im westlichen Verständnis – eine »finale« Ironie, denn der Cyborg stellt auch das furchtbare apokalyptische Telos der eskalierenden, »westlichen« Herrschaftsform der abstrakten Individuation eines zu guter Letzt von jeder Abhängigkeit entbundenen, endgültigen Selbst dar: der Mann in den Weiten des Weltraums. Eine Ursprungsgeschichte im »westlichen«, humanistischen Sinn beruht auf dem Mythos ursprünglicher Einheit, Vollkommenheit, Glückseligkeit und des Terrors, der durch die phallische Mutter repräsentiert wird, von der sich alle Menschen lösen müssen, der Aufgabe der individuellen Entwicklung wie der Geschichte, den beiden mächtigen Mythen, die für uns so nachhaltig in Marxismus und Psychoanalyse eingeschrieben sind. Hilary Klein argumentiert, dass sowohl Marxismus als auch Psychoanalyse in ihren Konzeptionen der Arbeit, der Individuation und Hervorbringung von Gender auf einem Erzählmuster beruhen, in dein Differenz aus einem Zustand ursprünglicher Einheit hervorgebracht werden muss, um im Drama eskalierender Herrschaft über Frau/Natur eine Rolle einzunehmen. Die Cyborg überspringt die Stufe ursprünglicher Einheit, den Naturzustand im westlichen Sinn. Hierin besteht ihre illegitime Verheißung, die dazu führen könnte, seine Teleologie des Kriegs der Sterne zu untergraben. Die Cyborg ist eine überzeugte Anhänger/-in von Partialität, Ironie, Intimität und Perversität. Sie ist oppositionell, utopisch und ohne jede Unschuld. Cyborgs sind nicht mehr durch die Polarität von öffentlich und privat strukturiert, Cyborgs definieren eine technologische Polis, die zum großen Teil auf einer Revolution der sozialen Beziehungen im oikos, dem Haushalt, beruht. Natur und Kultur werden neu definiert. Die eine stellt

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 241 nicht mehr die Ressource für die Aneignung und Einverleibung durch die andere dar. Die Verhältnisse, auf denen die Integration von Teilen in ein Ganzes beruht, einschließlich solcher der Polarität und hierarchischen Herrschaft, sind im Cyborguniversum in Frage gestellt. Im Unterschied zu Frankensteins Monster erhofft sich die Cyborg von ihrem Vater keine Rettung durch die Wiederherstellung eines paradiesischen Zustands, d.h. durch die Produktion eines heterosexuellen Partners, durch ihre Vervollkommnung in einem abgeschlossenen Ganzen, einer Stadt oder einem Kosmos. Die Cyborg träumt nicht von einem sozialen Lebenszusammenhang nach dem Modell einer organischen Familie, egal ob mit oder ohne ödipalem Projekt. Sie würde den Garten Eden nicht erkennen, sie ist nicht aus Lehm geformt und kann nicht davon träumen, wieder zu Staub zu werden. Deshalb interessiert mich, ob Cyborgs die Apokalypse unserer Rückkehr zu nuklearer Asche im manischen Zwang, den Feind zu benennen, zu untergraben vermögen. Cyborgs sind respektlos. Sie können sich nicht an den Kosmos erinnern. Sie scheuen sich vor dem Holismus, sind aber süchtig nach Kontakt – sie scheinen ein natürliches Gefühl für eine Politik der Einheitsfront zu haben, selbstverständlich ohne Avantgarde-Partei. Das große Problem mit Cyborgs besteht allerdings darin, dass sie Abkömmlinge des Militarismus und patriarchalen Kapitalismus sind, vom Staatssozialismus ganz zu schweigen. Aber illegitime Abkömmlinge sind ihrer Herkunft gegenüber häufig nicht allzu loyal. Ihre Väter sind letzten Endes unwesentlich. Am Ende dieses Essay werde ich mich noch einmal mit den Cyborgs der Scicnce-Fiction beschäftigen. Zunächst möchte ich aber den Zusammenbruch dreier entscheidender Grenzziehungen nachzeichnen, der die folgenden politisch-fiktionalen (politisch-wissenschaftlichen) Analysen ermöglicht. In der wissenschaftlichen Kultur der USA am Ende des 20. Jahrhunderts ist die Grenze zwischen Tier und Mensch gründlich durchbrochen. Die letzten Brückenköpfe unserer Einzigartigkeit sind korrumpiert worden, sofern sie sich nicht in Vergnügungsparks verwandelt haben: Sprache, Werkzeuggebrauch, Sozialverhalten, Geist, nichts ist mehr übrig, das die Trennungslinie zwischen Mensch und Tier überzeugend festzulegen vermag – und viele sind auch nicht mehr von der Notwendigkeit einer solchen Trennungslinie überzeugt. Viele Strömungen feministischer Kultur betonen das Vergnügen an der Verbundenheit von Menschen mit anderen lebenden Kreaturen. Die Frauenrechtsbewegung basiert nicht auf der irrationalen Verleugnung der Einzigartigkeit des Menschen, sondern auf der klarsichtigen Erkenntnis einer sehr realen Verbundenheit, die quer zu dein diskreditierten Bruch zwischen Natur und Kultur verläuft. Biologie und Evolutionstheorie haben während der letzten zwei Jahrhunderte nicht nur moderne Organismen als Wissensobjekte produziert, sie haben auch die Linie, die Menschen und Tiere scheidet, in eine blasse Spur verwandelt, die nur in ideologischen Auseinandersetzungen und akademischen Diskussionen zwischen den Bio- und Sozialwissenschaften noch von Zeit zu

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242 | Donna Haraway Zeit nachgezogen wird. Innerhalb dieses Horizonts müsste die Lehre des christlichen Kreationismus als eine Form von Kindesmissbrauch bekämpft werden. Die Ideologie des biologischen Determinismus ist nur eine der Positionen, die sich aus der wissenschaftlichen Kultur ergeben, die für Bedeutungen der Animalität des Menschen argumentiert. Auch für radikale politische Menschen gibt es einen breiten Spielraum, um über die Bedeutungen dieser brüchigen Grenzen zu streiten. Im Mythos erscheinen Cyborgs genau da, wo die Grenze zwischen Mensch und Tier überschritten wird. Aber weit entfernt davon, die Mauer zwischen Menschen und anderen Lebewesen zu symbolisieren, verweisen Cyborgs auf irritierende, aber auch auf lustvoll enge Verkopplungen. In diesem Zyklus des Liebesmarkts hat Bestialität einen neuen Status. Die zweite Unterscheidung, die durchlässig geworden ist, ist die zwischen Tier-Mensch (Organismus) und Maschine. Vorkybernetische Maschinen konnten noch von Geistern heimgesucht werden. Stets gab es die Vorahnung des Geistes in der Maschine. Dieser Dualismus strukturierte den Dialog von Materialismus und Idealismus, bis dieser von seinen dialektischen Abkömmlingen, je nach Geschmack Geist oder Geschichte genannt, beigelegt wurde. Doch grundsätzlich waren Maschinen nicht selbstbewegend, nicht selbstentworfen, nicht autonom. Sie konnten den Traum des Menschen nicht erfüllen, nur nachäffen. Eine Maschine war kein Mensch, keine Urheberin ihrer selbst, nur eine Karikatur dieses reproduktiven Traums abstrakter Männlichkeit. Schon der Gedanke, dass es anders sein könnte, wäre paranoid gewesen. Heute sind wir nicht mehr so sicher. Die Maschinen des späten 20. Jahrhunderts haben die Differenz von natürlich und künstlich, Körper und Geist, selbstgelenkter und außengesteuerter Entwicklung sowie viele andere Unterscheidungen, die Organismen und Maschinen zu trennen vermochten, höchst zweideutig werden lassen. Unsere Maschinen erscheinen auf verwirrende Weise quicklebendig – wir selbst dagegen aber beängstigend träge. Technologischer Determinismus ist nur einer der ideologischen Räume, der durch die Rekonzeptualisierung von Maschinen und Organismen als codierte Texte eröffnet wird, mittels derer wir uns am Spiel, die Welt zu schreiben und zu lesen, beteiligen. Die »Textualisierung« von allem und jedem durch die poststrukturalistischen, postmodernen Theorien ist von Marxist/-innen und sozialistischen Feministinnen wegen ihrer utopistischen Vernachlässigung der gelebten Herrschaftsverhältnisse, die die Basis des »Spiels« beliebiger Lesweisen bilden,2 verurteilt worden. Es ist sicher

2 | Ein provokatives und umfassendes Argument zu den Politiken und Theorien des »Postmodernismus« entwickelt Frederic Jameson: »Postmoderne zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986, S. 45-102. Er zeigt, dass Postmodernismus nicht etwa eine Option oder ein Stil unter anderen,

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 243 richtig, dass postmoderne Strategien, wie mein Cyborg-Mythos, Myriaden organischer Ganzheiten untergraben (z.B. das Gedicht, die primitive Kultur, den biologischen Organismus). Um es kurz zu machen: Sie unterhöhlen die Gewissheit der Bestimmung dessen, was als Natur – als Quelle von Erkenntnis, als Verheißung von Unschuld – betrachtet werden kann, und dies wahrscheinlich auf endgültige Weise. Die transzendente Autorität der Interpretation geht verloren und mit ihr die Ontologie, die die Epistemologie des »Westens« begründet hat. Die Alternative besteht jedoch weder in Zynismus noch Untreue, d.h. in Versionen einer abstrakten Existenz, die dann in Beschreibungen eines technologischen Determinismus als Zerstörung des »Menschen« durch die »Maschine« oder des »sinnvollen politischen Handelns« durch den »Text« enden. Es ist eine grundlegende Frage, wer oder was Cyborgs tatsächlich sein werden. Die Antworten darauf sind eine Frage des Überlebens. Sowohl Schimpansen als auch Artefakte machen Politik, warum sollten gerade wir darauf verzichten?

sondern eine kulturelle Dominante ist, die eine radikale Neuerfindung linker Politik von innen heraus erfordert. Es gibt kein Außen mehr, das der bequemen Fiktion kritischer Distanz Bedeutung verleihen könnte. Jameson macht darüber hinaus klar, warum man nicht einfach für oder gegen Postmodernismus sein kann, denn beides stellt eine moralische Position dar. M.E. benötigen Feministinnen (und andere) eine kontinuierliche, kulturelle Neuerfindung, eine postmodernistische Kritik und historischen Materialismus: Nur Cyborgs hätten eine Chance. Die alten Herrschaftsverhältnisse des weißen kapitalistischen Patriarchats wirken heute auf nostalgische Weise unschuldig: Sie normierten Heterogenität, etwa in Mann und Frau, weiß und schwarz. Der »fortgeschrittene Kapitalismus« und der Postmodernismus entlassen die Heterogenität ohne Norm, wir selbst sind verflacht, ohne Subjektivität, die Tiefe erfordert, selbst wenn es sich um unfreundliche und verschlingende Tiefen handelt. Es ist Zeit, »Den Tod der Klinik« zu schreiben. Die Methode der Klinik verlangt nach Körpern und Arbeit, wir jedoch verfügen über Texte und Oberflächen. Unsere Herrschaftsverhältnisse vermitteln sich nicht mehr durch Medikalisierung und Normierung. Sie vermitteln sich über Vernetzung, den Neuentwurf von Kommunikationszusammenhängen und Stressmanagement. Normierung verwandelt sich in Automation. Michel Foucaults Geburt der Klinik, Sexualität und Wahrheit sowie Überwachen und Strafen benennen eine Form der Macht im Augenblick ihrer Implosion. Die Diskurse der Biopolitik verwandeln sich in Techno-Geplapper, in die Sprache der gespaltenen Substantive. Kein Substantiv wird von den multinationalen Konzernen verschont. Hier sind ihre Namen, alle einer Ausgabe der Zeitschrift Science: Tech-Knowledge entnommen: Genentech, Allergen, Hybritech, Compupro, Genen-cor, Syntex, Allelix, Agrigenetics Corp., Syntro, Codon, Repligen, Micro-Angelo von Scio Corp., Percom Data, Inter Systems, Cyborg Corp., Statcom Corp., Intertec. Wenn wir Gefangene der Sprache sind, dann benötigen wir für die Flucht aus diesem Gefängnis Sprachpoet/-innen, eine Art kulturelles Restriktionsenzym, das den Code zerschneidet. Die Vielzüngigkeit der Cyborgs ist eine Form radikaler Kulturpolitik.

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244 | Donna Haraway Die dritte Unterscheidung ist eine Teilmenge der zweiten: Die Grenze zwischen Physikalischem und Nichtphysikalischem ist nur noch sehr unscharf für uns. Populärwissenschaftliche Physikbücher über die Konsequenzen der Quantentheorie und der Unbestimmtheitsrelation sind das Äquivalent zu den Harlekinromanzen, die auf einen radikalen Wandel der amerikanischen weißen Heterosexualität hinweisen: Auch wenn sie danebenliegen, sprechen sie etwas Richtiges an. Moderne Maschinen sind quintessentiell mikroelektronische Geräte, allgegenwärtig und unsichtbar. Die moderne Maschinerie ist ein respektloser, göttlicher Emporkömmling, der die Allgegenwart und Spiritualität des göttlichen Vaters nachäfft. Der Siliziumchip ist eine beschreibbare Fläche, ein eingeätztes Muster im molekularen Maßstab, das nur von atomarem Rauschen gestört wird, der ultimativen Interferenz des Nuklearschlags. Schrift, Macht und Technologie bilden in den Ursprungserzählungen der westlichen Zivilisation von jeher ein eingespieltes Team. Die Miniaturisierung hat allerdings unsere Erfahrungen im Umgang mit Automaten von Grund auf verändert. Miniaturisierung hat sich als Macht herausgestellt. Hier gilt nicht small is beautiful, denn klein zu sein bedeutet hier eine außerordentliche Gefahr, wie die Cruise Missiles zeigen. Man stelle einmal die Fernsehgeräte der fünfziger und die Nachrichtenkameras der 70er Jahre neben TV-Geräte im Armbanduhrformat und handtellergroße Camcorder, die heute angeboten werden. Unsere besten Maschinen sind aus Sonnenschein gemacht. Sie sind so vollkommen licht und rein, weil sie aus nichts als Signalen, elektromagnetischen Schwingungen, dem Ausschnitt eines Spektrums bestehen. Sie sind eminent beweglich, überall einsetzbar – sie verursachen immenses, menschliches Leid in Detroit und Singapur. Menschen sind nirgendwo auch nur annähernd so ungewiss (fluid), sondern materiell und opak. Cyborgs sind Äther – Quintessenz. Die Allgegenwart und Unsichtbarkeit dieser Cyborgs, dieser Sunshine Belt Maschinen, sind der Grund ihres tödlichen Potentials. Sie sind politisch ebenso schwer zu erkennen wie materiell. Sie sind eine Frage des Bewusstseins – oder dessen Simulation. Sie sind umhertreibende Zeichen, die auf Sattelschleppern Europa durchqueren. Sie lassen sich durch das Hexengespinst der verrückten, sich so widernatürlich gebärdenden Frauen von Greenham, die die Macht des Cyborgnetzes ausgezeichnet zu lesen vermögen, leichter blockieren als durch die militante Arbeit einer althergebrachten, männlichen Politik, deren Klientel auf die Arbeitsplätze im Verteidigungssektor angewiesen ist. Die »härteste« aller Wissenschaften behandelt letztlich den Bereich größter Grenzverwirrung, den Bereich der reinen Zahl, des reinen Geists, C3I, der Geheimschrift und der Bewahrung mächtiger Geheimnisse. Die neuen Maschinen sind ja so rein und licht. Sie werden von Sonnenanbeter/-innen entworfen, den Vermittler/-innen einer neuen, an den dunklen Traum der nachindustriellen Gesellschaft gebundenen, wissenschaftlichen Revolution. Die Krankheiten, die von diesen reinen Maschinen ausgelöst werden, sind »nicht mehr« als winzige Codeänderungen eines Antigens im Immunsystem, »nicht mehr« als die

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 245 Erfahrung von Stress. In dieser Welt gewinnen die flinken, kleinen Finger »orientalischer« Frauen, die nachhaltige Faszination kleiner angelsächsisch-viktorianischer Mädchen für Puppenhäuser und die erzwungene Aufmerksamkeit von Frauen für das Kleine neue Dimensionen. Einer Cyborg-Alice würden diese neuen Dimensionen nicht entgehen. Ironischerweise könnten es gerade die widernatürlichen Cyborgfrauen, die in Asien Chips herstellen und in Santa Rita rituelle Tänze aufführen, sein, deren konstruierte Einheiten wirksame oppositionelle Strategien anführen. Mein Cyborgmythos handelt also von überschrittenen Grenzen, machtvollen Verschmelzungen und gefährlichen Möglichkeiten, die fortschrittliche Menschen als einen Teil notwendiger politischer Arbeit erkunden sollten. Dabei gehe ich davon aus, dass die meisten amerikanischen Sozialistinnen und Feministinnen der Ansicht sind, dass sich die Dualismen von Körper und Geist, Tier und Maschine, Idealismus und Materialismus in den sozialen Praktiken, symbolischen Formulierungen und physischen Artefakten im Zusammenhang der »Hochtechnologie« und der wissenschaftlichen Kultur vertiefen. Vom »Eindimensionalen Menschen« bis zum »Tod der Natur«3 haben die von Linken entwickelten analytischen Mittel den Herrschaftscharakter der Technik betont und versucht, unseren Widerstand zu vereinnahmen, indem sie uns als imaginierten organischen Körper anriefen. Ich setze außerdem voraus, dass die Notwendigkeit von Solidarität im Kampf gegen die weltweite Intensivierung von Herrschaft nie dringender gewesen ist. Ein etwas perverser Wechsel der Perspektive könnte uns weitere Möglichkeiten eröffnen, für Bedeutungen, aber auch für andere Formen von Macht und Lust in technologisch vermittelten Gesellschaften zu kämpfen. Aus einer Perspektive könnte das Cyborguniversum dem Planeten ein endgültiges Koordinatensystem der Kontrolle aufzwingen, die endgültige Abstraktion, verkörpert in der Apokalypse des im Namen der Verteidigung geführten Kriegs der Sterne, die restlose Aneignung der Körper der Frauen in einer männlichen Orgie des Kriegs.4 Aus einer anderen Perspektive könnte die Cyborgwelt gelebte soziale und körperliche Wirklichkeiten bedeuten, in der niemand mehr seine Verbundenheit und Nähe zu Tieren und Maschinen zu fürchten braucht und niemand mehr vor dauerhaft partiellen Identitäten und widersprüchlichen Positionen zurückschrecken muss. Der politische Kampf besteht darin, beide Blickwinkel zugleich einzunehmen, denn beide machen sowohl Herrschaftsverhältnisse als auch Möglichkeiten sichtbar, die aus der jeweils anderen Perspektive un-

3 | Vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967; Carolyn Merchant: Der Tod der Natur, München 1987. 4 | Starke Entwicklungen einer Koalitionspolitik gehen von Sprecher/-innen der »Dritten Welt« aus, die aus dem Nirgendwo, dem verrückten Zentrum des Universums, ihre Stimme erheben: »We live on the third planet from the sun« – Sun Poem des Jamaikaners Edward Kamau Braithwaite.

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246 | Donna Haraway vorstellbar sind. Einäugigkeit führt zu schlimmeren Täuschungen als Doppelsichtigkeit oder medusenhäuptige Monstren. Zusammenschlüsse von Cyborgs sind monströs und illegitim. Unter unseren gegenwärtigen politischen Verhältnissen gibt es kaum ein verheißungsvolleres Bild von Widerstand und Vereinigung. Ich betrachte zum Beispiel die LAG, die Livermore Action Group, als eine Art Cyborggesellschaft, die sich der realistischen Konversion der Labors verschrieben hat, die die Werkzeuge der technologischen Apokalypse mit größter Gewalt verkörpern und ausgespieen haben. Diese Gesellschaft arbeitet am Aufbau einer politischen Form, die in der Lage ist, Hexen, Ingenieur/-innen, Eltern, Perverse, Christ/-innen, Mütter und Leninist/-innen lange genug zusammenzuhalten, um den Staat zu entwaffnen. Fission Impossible, Spaltung Unmöglich, ist der Name der Bezugsgruppe (Affinity Group) in meiner Stadt. (Affinität: eine Beziehung auf der Grundlage von Wahl, nicht von Verwandtschaft, die Anziehungskraft einer chemischen Gruppe für eine andere, Begierde.)

Brüchige Identitäten Es ist schwierig geworden, den eigenen Feminismus mit nur einem Adjektiv zu bezeichnen – noch schwieriger, sich umstandslos auf das Substantiv allein zu beziehen. Der Ausschlussmechanismus durch Benennungen ist scharf ins Bewusstsein getreten. Identitäten erweisen sich als widersprüchlich, partiell und strategisch. Mit der schwer errungenen Erkenntnis ihrer sozialen und historischen Konstitution stellen Gender, Rasse und Klasse keine Grundlage mehr für einen Glauben an eine »essentialistische« Einheit dar. Es gibt kein »Weiblich«-Sein, das Frauen auf natürliche Weise miteinander verbindet. Es gibt nicht einmal den Zustand des Weiblich»Seins«. Dieser ist selbst eine hochkomplexe Kategorie, die in umkämpften sexualwissenschaftlichen Diskursen und anderen sozialen Praktiken konstruiert wurde. Gender-, Rassen- oder Klassenbewusstsein sind Errungenschaften, die uns aufgrund der schrecklichen historischen Erfahrung der widersprüchlichen, gesellschaftlichen Wirklichkeiten von Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus aufgezwungen wurden. Wer aber ist gemeint, wenn ich von »uns« spreche? Welche Identitäten stehen zur Verfügung, um einen so mächtigen politischen Mythos, genannt »uns«, zu begründen und was könnte die Motivation sein, sich diesem Kollektiv anzuschließen? Die schmerzlichen Fragmentierungen zwischen Feministinnen (nicht zu vergessen zwischen Frauen) an jedem denkbaren, umstrittenen Punkt machen das Konzept Frau undefinierbar, eine Entschuldigung für die Matrix der Herrschaft von Frauen über Frauen. Für mich und viele andere, die eine vergleichbare historische Verortung in einem weißen, weiblichen, radikalen, nordamerikanischen Körper der berufstätigen Mittelschicht mittleren Alters teilen, gibt es unzählige Ursachen für eine Krise der politischen Identität. Der größte Teil der US-Linken und des US-Feminismus hat auf diese Krise in letzter Zeit mit endlosen Spaltungen und

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 247 Versuchen, eine neue essentielle Einheit zu finden, reagiert. Daneben entwickelte sich aber auch ein zunehmendes Verständnis für eine andere mögliche Strategie der Koalitionsbildung: Affinität statt Identität. Chela Sandoval hat sich mit bestimmten historischen Momenten im Zusammenhang der Formierung einer neuen politischen Stimme mit dem Namen »Women of Color« beschäftigt, und dabei ein vielversprechendes Modell politischer Identität entwickelt, das sie als »oppositionelles Bewusstsein« bezeichnet. Oppositionelles Bewusstsein entsteht aus der Fähigkeit derer, die das Gewebe der Macht zu lesen verstehen und denen eine stabile Zugehörigkeit in den sozialen Kategorien Rasse, Sex oder Klasse verweigert wird.5 Der Name »Women of Color«, der von denen, die er umfassen sollte, bereits in seinen Ursprüngen in Frage gestellt wurde, konstruiert ebenso wie das historische Bewusstsein, das den systematischen Zusammenbruch aller Bezeichnungen des Menschen in der »westlichen« Tradition markiert, eine von Andersheit und Differenz ausgehende Form postmoderner Identität. Diese postmoderne Identität ist hochpolitisch, was man von anderen Postmodernismen nicht unbedingt behaupten kann. Sandoval betont das Fehlen jeglicher essentieller Kriterien für die Zuordnung, welche Frau eine farbige Frau ist. Sie bemerkt, dass die Gruppe über eine bewusste Aneignung der Negation definiert wurde. Eine Chicana oder schwarze Amerikanerin war beispielsweise nicht in der Lage, als Frau, als Schwarzer oder als Chicano zu sprechen. Sie fand sich stattdessen auf dem Grund eines Strudels negativer Identitäten wieder und war sogar aus den Kategorien »Frauen und Schwarze« ausgeschlossen, die diejenigen umfassen soll, die besonders große Unterdrückung zu erleiden haben und den Anspruch erheben, die wichtigen Revolutionen zu machen. Die Kategorie »Frau« schloss alle nicht-weißen Frauen aus, »schwarz« negierte alle Nicht-Schwarzen ebenso wie alle schwarzen Frauen. Außerdem stand ihr kein »sie« zur Verfügung, keine Singularität, lediglich ein Meer von Differenzen zwischen US-Frauen, die ihre historische Identität als farbige USFrauen für sich akzeptiert hatten. Diese Identität steckt einen selbstbewusst konstruierten Raum ab, der nicht mit Handlungen auf der Grundlage natürlicher Identifikation gefüllt werden kann, sondern nur aufgrund bewusster Koalition, Affinität und politischer Verwandtschaft. Im Unterschied zur Kategorie »Frau« einiger Strömungen der weißen Frauenbewegung in den USA wird damit eine Naturalisierung der Matrix vermieden oder zumindest, so Sandovals Argumentation, kann dies einzig und allein durch die Macht des oppositionellen Bewusstseins gewährleistet werden. Sandovals Argumentation muss als eine für Feministinnen wirkmächtige Formulierung innerhalb eines sich weltweit entwickelnden antikolonialen Diskurses angesehen werden, das heißt eines Diskurses, der den »Westen« und sein bedeutendstes Produkt – der Eine, der nicht Tier, Bar-

5 | Chela Sandoval: Methodology of the Oppressed, Minneapolis 1984.

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248 | Donna Haraway bar oder Frau ist, d.h. der Mann als Autor eines Geschichte genannten Kosmos – auflöst. Mit der politischen und semiotischen Dekonstruktion des Orientalismus destabilisieren sich die Identitäten des Okzidents einschließlich derjenigen der Feministinnen. Sandoval geht davon aus, dass »Women of Color« die Möglichkeit haben, eine wirkungsvolle Einheit aufzubauen, ohne die imperialisierenden, totalisierenden, revolutionären Subjekte vorausgegangener Marxismen und Feminismen, die nicht mit den Konsequenzen der aufrührerischen Polyphonie infolge der Dekolonialisierung konfrontiert waren, zu reproduzieren. Katie King betont die Grenzen der Identifikation und die politischen/ poetischen Mechanismen einer Identifikation, die in das Lesen »des Gedichts«, diesem generativen Kern des radikalen (cultural) Feminismus, eingefügt sind. King kritisiert die anhaltende Tendenz zeitgenössischer Feministinnen aus verschiedenen Richtungen (»Momente« oder »Konversationen«) feministischer Praxis, Taxonomien der Frauenbewegung zu erstellen, die die jeweils eigene Politik als Telos des Ganzen erscheinen lassen. Diese Taxonomien tendieren dazu, die feministische Geschichte selbst nochmals als ideologische Auseinandersetzung zwischen kohärenten, immerwährenden Traditionslinien erscheinen zu lassen, besonders zwischen so typischen Einheiten wie radikalem, liberalem oder sozialistischem Feminismus. Alle anderen Feminismen werden buchstäblich entweder vereinnahmt oder marginalisiert, was üblicherweise durch den Aufbau einer expliziten Ontologie oder Epistemologie geschieht.6 Taxonomien des Feminismus produzieren Epistemologien, um die Abweichung von der offiziellen Erfahrung von Frauen zu reglementieren. Und selbstverständlich wird diese »Frauenkultur« wie »Women of Color« durch affinitätserzeugende Mechanismen bewusst geschaffen. Lyrik, Musik und gewisse Formen akademischer Praxis haben sich dabei als Rituale besonders hervorgetan. Multikultur- und Frauenkulturpolitik sind in den USFrauenbewegungen eng miteinander verknüpft. King und Sandoval haben gezeigt, wie eine poetisch/politische Einheit unabhängig von einer Logik der Aneignung, Vereinnahmung oder taxonomischer Identifikation hergestellt werden kann. Der theoretische und praktische Kampf gegen Einheit-durch-Herrschaft oder Einheit-durch-Vereinnahmung untergräbt ironischerweise nicht nur die Legitimationsgrundlagen von Patriarchat, Kolonialismus, Humanismus, Positivismus, Essentialismus, Szientismus und anderen Ismen, denen wir keine Träne nachweinen, sondern alle Ansprüche auf einen

6 | Katie King entwickelt einen theoretisch sensitiven Zugang zur Funktionsweise feministischer Taxonomien als Genealogien der Macht in feministischer Ideologie und Polemik, vgl.: »The Situation of Lesbianism as Feminism’s Magical Sign: Contests for Meaning and the U.S. Women’s Movement, 1968-1972«, in: Feminist Critiques of Popular Culture, Sonderausgabe von Communication 9 (1985), S. 65-91.

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 249 organischen oder natürlichen Standpunkt. Ich denke, dass radikale und sozialistische/marxistische Feminismen ihre/unsere epistemologischen Strategien unterminiert haben und dass dies ein entscheidender und wertvoller Schritt ist, sich mögliche Bündnisse vorzustellen. Es bleibt abzuwarten, ob alle »Epistemologien«, die den im Westen politisch aktiven Menschen bekannt sind, beim Aufbau wirkungsvoller Affinitäten versagen. Es ist wichtig festzuhalten, dass der Versuch von Menschen, revolutionäre Standpunkte und Epistemologien in weltverändernder Absicht zu konstruieren, Teil des Prozesses gewesen ist, der die Grenzen der Identifikation aufzeigt. Die ätzenden Werkzeuge postmoderner Theorie und die konstruktiven Werkzeuge des ontologischen Diskurses über revolutionäre Subjekte könnten als ironische Verbündete gesehen werden, die dazu beitragen, das westliche Selbst im Interesse des Überlebens aufzulösen. Wir sind uns auf qualvolle Weise bewusst, was es heißt, einen historisch konstituierten Körper zu haben. Aber mit dem Verlust der Unschuld unseres Ursprungs gibt es auch keine Vertreibung mehr aus dem Paradies. Denn unsere Politik büßt mit der Vergebung der Schuld auch die Naivität der Unschuld ein. Wie aber könnte dann ein anderer politischer Mythos für den sozialistischen Feminismus aussehen? Welche Art von Politik könnte partielle, widersprüchliche, dauerhaft unabgeschlossene, persönliche und kollektive Selbst-Konstruktionen einschließen und dennoch verbindlich, wirksam – und ironischerweise sozialistisch-feministisch sein? Ich kenne keine Periode in der Geschichte, in der es notwendiger gewesen wäre, der Herrschaft von »Rasse«, »Gender«, »Sexualität« und »Klasse« eine wirksame politische Einheit entgegenzusetzen. Mir ist auch kein anderer Zeitraum bekannt, in der die Art von Einheit, die wir aufzubauen versuchen, möglich gewesen wäre. Keine von »uns« ist mehr in der Lage – weder symbolisch noch materiell – »ihnen« die Gestalt der Realität zu diktieren. »Wir« können zumindest nicht behaupten, frei von Schuld an der Ausübung dieser Art von Herrschaft zu sein. Weiße Frauen, auch die sozialistischen Feministinnen, entdeckten (d.h. sie sind handgreiflich und lautstark darauf aufmerksam gemacht worden), dass die Kategorie »Frau« keineswegs unschuldig ist. Dieses Bewusstsein veränderte die Geografie aller vorhergegangenen Kategorien, es denaturiert sie wie Hitze ein instabiles Protein. Cyborgfeministinnen müssen geltend machen, dass »wir« keine naturale Matrix der Einheit mehr wollen und dass keine Konstruktion ein Ganzes umfasst. Unschuld und das damit einhergehende Beharren auf dem Opferstatus als der einzigen Grundlage von Erkenntnis haben genug Schaden angerichtet. Das konstruierte revolutionäre Subjekt sollte den Menschen des späten 20. Jahrhunderts aber auch zu denken geben. Im Verschleiß der Identitäten und in den reflexiven Strategien ihrer Konstruktion eröffnet sich die Möglichkeit, etwas anderes zu weben als das Leichentuch für den Tag nach der Apokalypse, die uns das Ende der Heilsgeschichte verheißt. Marxistische/sozialistische sowie radikale Feminismen haben die Kate-

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250 | Donna Haraway gorie »Frau« und das Bewusstsein gesellschaftlicher Realitäten von »Frauen« in einem simultanen Prozess sowohl naturalisiert als auch denaturiert. Vielleicht kann eine schematische Karikatur beide Bewegungen hervorheben. Der Marxsche Sozialismus beruht auf einer Analyse der Lohnarbeit, die die Klassenstruktur aufdeckt. Die Konsequenz der Lohnabhängigkeit ist systematische Entfremdung, da der Arbeiter (sie) von seinem Produkt getrennt wird. Abstraktion und Illusion bestimmen das Wissen, Herrschaft bestimmt die Praxis. Arbeit ist die vor allen anderen privilegierte Kategorie, die den Marxisten befähigt, den Schein zu überwinden und den Standpunkt zu finden, der zur Veränderung der Welt notwendig ist. Arbeit ist die humanisierende Aktivität, die den Menschen hervorbringt. Arbeit ist eine ontologische Kategorie, die das Wissen des Subjekts ermöglicht und somit auch das Wissen von Unterwerfung und Entfremdung. In getreuer Töchterlichkeit schritt der sozialistische Feminismus voran und übernahm die grundlegenden analytischen Strategien des Marxismus. Die wichtigste Errungenschaft sowohl marxistischer als auch sozialistischer Feministinnen war die Ausdehnung des Arbeitsbegriffs auf die Tätigkeiten (einiger) Frauen, auch wenn die Lohnarbeit einer erweiterten Sicht auf Arbeit im kapitalistischen Patriarchat untergeordnet wurde. Die Hausarbeit von Frauen im besonderen und allgemeiner die Tätigkeiten von Frauen als Mütter, d.h. Reproduktion im sozialistisch-feministischen Sinn, erlangte durch die Analogie zum Marxschen Arbeitsbegriff ausreichend Autorität, um Einzug in die Theorie zu halten. Die Einheit der Frauen beruht hier auf einer Epistemologie, deren Basis die ontologische Struktur der »Arbeit« ist. Marxistischer/sozialistischer Feminismus »naturalisiert« zwar Einheit nicht – sie ist eine mögliche Errungenschaft, die auf einem möglichen, durch soziale Beziehungen begründeten Standpunkt basiert. Der essentialisierende Zug liegt jedoch in der ontologischen Struktur der Arbeit oder ihrer Analogie, der Tätigkeit von Frauen.7 Was mir Schwierigkeiten bereitet, ist das Vermächtnis des marxistischen Humanismus und dessen herausragendes westliches Selbst. Der Beitrag dieser Formulierungen bestand darin, die tägliche Verantwortung realer Frauen hervorzuheben, sie zum Ausgangspunkt des Aufbaus von Einheiten zu machen und nicht zu naturalisieren. Catherine MacKinnons Version des radikalen Feminismus ist selbst

7 | Die zentrale Rolle, die Versionen der psychoanalytischen Objektbeziehung und ähnliche stark universalisierende Wendungen in der Diskussion von Reproduktion, Pflegearbeit und mothering in vielen epistemologischen Ansätzen spielen, unterstreichen den Widerstand der Autor/-innen gegen etwas, dass ich Postmodernismus nenne. Für mich erschweren sowohl die universalisierenden Wendungen wie die Versionen der Psychoanalyse eine Analyse der »Orte von Frauen im integrierten Schaltkreis« und führen zu systematischen Schwierigkeiten bei der Beschreibung und sogar der Wahrnehmung der wichtigsten Aspekte der Konstruktion von Gender sowie der geschlechtsspezifischen sozialen Realität.

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 251 eine Karikatur der aneignenden, vereinnahmenden, totalisierenden Tendenzen westlicher Theorien der Identität, die Handlungen begründet.8 Es ist faktisch und politisch falsch, alle unterschiedlichen Aspekte der gegenwärtigen, als radikaler Feminismus bezeichneten Frauenpolitik mit MacKinnons Version gleichzusetzen. Doch anhand der teleologischen Logik ihrer Theorie lässt sich zeigen, wie eine Epistemologie und Ontologie – einschließlich ihrer Negationen – Differenz auslöscht oder reglementiert. Das Umschreiben der Geschichte des polymorphen Feldes des radikalen Feminismus ist nur ein Effekt von MacKinnons Theorie. Der wichtigste Effekt ist die Produktion einer Theorie der Erfahrung, der Identität von Frauen, die eine Art Apokalypse aller revolutionären Standpunkte darstellt. Das bedeutet, dass die Totalisierung, die die Erzählung des radikalen Feminismus beinhaltet, ihr Ziel – die Einheit der Frauen – durch Bekräftigung der Erfahrung und durch die radikale Bezeugung des Nicht-Seins erreicht. Wie für marxistische/sozialistische Feministinnen ist Bewusstsein eine Errungenschaft, kein natürliches Faktum. MacKinnons Theorie eliminiert zwar einige Schwierigkeiten, die dem humanistischen, revolutionären Subjekt eigen sind, allerdings um den Preis eines radikalen Reduktionismus. MacKinnon argumentiert, dass es für den radikalen Feminismus unumgänglich war, eine vom Marxismus verschiedene analytische Strategie aufzunehmen, da er primär nicht auf die Klassenstruktur sah, sondern auf die Struktur und das generative Verhältnis zwischen Sex und Gender sowie auf die sexuelle Konstitution und Aneignung von Frauen durch Männer. Ironischerweise konstruiert MacKinnons »Ontologie« ein Nicht-Subjekt, ein Nicht-Wesen. Das Begehren des Anderen, nicht die Arbeit des Selbst ist der Ursprung der »Frau«. Daher entwickelt sie eine Theorie des Bewusstseins, die festlegt, was als Erfahrung von Frauen gelten kann – nämlich alles, was sexuelle Gewalt benennt, sogar Sexualität selbst, soweit »Frauen« davon überhaupt betroffen sind. Feministische Praxis ist die Konstruktion dieser Form von Bewusstsein, d.h. die Selbsterkenntnis eines Selbst-dasnicht-ist. Perverserweise hat die sexuelle Aneignung in dieser Version des radikalen Feminismus noch immer den epistemologischen Status von Arbeit. Das bedeutet, dass sie den Ausgangspunkt bildet, von dem Analysen, die zur Veränderung der Welt beitragen, ausgehen müssen. Die Konsequenz aus der Sex/Gender-Struktur ist dann aber nicht Entfremdung, sondern sexuelle Verdinglichung, und im Bereich des Wissens stellen Illusion und

8 | Catharine A. MacKinnon: Feminism, Marxism, Method, and the State: An Agenda for Theory, Brighton 1982. Eine Kritik, die zwar MacKinnon verpflichtet ist, Reduktionismus aber vermeidet und zudem eine elegante feministische Position zu Foucault’s paradoxem Konservatismus hinsichtlich sexueller Gewalt (Vergewaltigung) entwickelt, findet sich in Teresa de Lauretis: »The Violence of Rhetoric: Considerations on Representation and Gender«, in: Semiotica 54 (1985), S. 11-31.

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252 | Donna Haraway Abstraktion das Ergebnis sexueller Verdinglichung dar. Eine Frau ist nicht einfach von ihrem Produkt entfremdet, sondern existiert im eigentlichen Sinn gar nicht als Subjekt, nicht einmal als potentielles Subjekt, da ihre Existenz als Frau der sexuellen Aneignung geschuldet ist. Durch das Begehren des Anderen konstituiert zu werden, ist nicht dasselbe wie die Entfremdung durch die gewaltsame Trennung des Arbeiters von seinem Produkt. MacKinnons radikale Theorie der Erfahrung ist totalisierend bis zum Äußersten. Sie marginalisiert die Autorität der politischen Rede und der Handlungen anderer Frauen nicht nur, sie löscht sie aus. Diese Totalisierung produziert, was selbst das Patriarchat der westlichen Länder nicht geschafft hat: ein feministisches Bewusstsein von der Nicht-Existenz von Frauen, es sei denn als Produkte männlichen Begehrens. MacKinnon stellt zu Recht fest, dass keine marxistische Version von Identität geeignet ist, eine Einheit von Frauen sicher zu begründen. Aber in ihrem Versuch, die Widersprüchlichkeit jeglichen westlichen revolutionären Subjekts in feministischer Absicht zu lösen, entwickelt sie eine noch autoritärere Theorie der Erfahrung. Da ich bereits gegen sozialistische/marxistische Standpunkte eingewendet habe, dass sie die in antikolonialen Diskursen und Praktiken sichtbar gewordene, vielstimmige, unassimilierbare, radikale Differenz ungewollt tilgen, ist MacKinnons absichtliche Tilgung jeglicher Differenz mit dem Mittel der »essentiellen Nicht-Existenz« von Frauen nicht gerade sehr beruhigend. In meiner Taxonomie, die wie jede Taxonomie eine Re-Inskription von Geschichte ist, kann der radikale Feminismus alle Tätigkeiten von Frauen, die von sozialistischen Feministinnen als Formen von Arbeit genannt wurden, nur fassen, wenn diese irgendwie sexualisiert werden können. Reproduktion hat für die beiden Strömungen unterschiedliche Konnotationen, eine wurzelt in Arbeit, die andere in Sexualität, beide bezeichnen die Konsequenz von Herrschaft und die Unkenntnis der gesellschaftlichen wie individuellen Realität als »falsches Bewusstsein«. Jenseits der problematischen oder der positiven Beiträge dieser beiden Argumentationsweisen haben weder marxistische noch radikalfeministische Standpunkte den Status partieller Erklärungsansätze einzubeziehen versucht, beide wurden regelrecht als Totalität konstituiert. Gerade dies erfordert die westliche Erklärungsweise, wie sonst könnten sich »westliche« Autor/-innen ihr anderes einverleiben? Beide versuchten, durch Erweiterung der grundlegenden Kategorien andere Herrschaftsformen mittels Analogie, einfacher Aufzählung oder Hinzufügung in den Griff zu bekommen. Das peinliche Schweigen über Rasse bei weißen, radikalen und sozialistischen Feministinnen war eine entscheidende, verheerende politische Konsequenz davon. Geschichte und Vielstimmigkeit verschwinden in politischen Taxonomien, die Genealogien zu begründen versuchen. In Theorien, die den Anspruch erhoben, die Konstruktion der Kategorie Frau und der sozialen Gruppe Frauen als vereintes oder totalisierendes Ganzes aufzudecken, war für Rasse (und einiges mehr) kein struktureller

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 253 Raum vorgesehen. Die Struktur meiner Karikatur sieht folgendermaßen aus: Sozialistischer Feminismus: Klassenstruktur – Lohnarbeit – Entfremdung Arbeit, analog dazu Reproduktion, erweitert um Sex, hinzugefügt Rasse Radikaler Feminismus: Struktur von Gender – sexuelle Aneignung – Verdinglichung Sex, analog dazu Arbeit, erweitert um Reproduktion, hinzugefügt Rasse In einem anderen Zusammenhang behauptet die französische Theoretikerin Julia Kristeva, dass Frauen ähnlich wie Jugendliche nach dem Zweiten Weltkrieg als historische Gruppe in Erscheinung getreten sind. Ihre Daten sind zweifelhaft, wir sind jedoch mittlerweile damit vertraut, dass als Wissensobjekte und als historische Akteure »Rasse« nicht immer existierte, »Klasse« eine historische Entstehungsgeschichte hat und »Homosexuelle« neueren Datums sind. Es ist kein Zufall, dass das symbolische System der menschlichen Familie – und somit das Wesen der Frau – im selben Moment zusammenbricht, in dem die Verbindungsnetzwerke der Menschen dieses Planeten so zahlreich, bedeutungsschwanger und komplex sind wie nie zuvor. Mit dem Begriff »entwickelter Kapitalismus« ist die Struktur dieses historischen Moments nur unzureichend erfasst. Nach »westlichem« Verständnis steht die Existenz der Menschheit auf dem Spiel. Es ist kein Zufall, dass Frau sich heutzutage in Frauen auflöst. Vielleicht trifft sozialistische Feministinnen keine wesentliche Schuld an der Produktion essentialistischer Theorie, die die besonderen und widersprüchlichen Interessen von Frauen unterdrückte. Ich denke jedoch, dass wir durch die unreflektierte Partizipation an den Logiken, Sprachen und Praktiken des weißen Humanismus und durch die Suche nach einem einzigen Grund von Herrschaft, um uns unserer revolutionären Stimme zu versichern, zumindest mitschuldig sind. Heute gibt es für uns allerdings kaum noch Entschuldigungen. Aber im Bewusstsein unserer Fehler riskieren wir, in schrankenlose Differenz abzugleiten und unsere verwirrende Aufgabe, partielle und wirkliche Verbindungen herzustellen, aufzugeben. Einige Differenzen sind spielerisch, andere bilden eher die Pole eines weltweiten historischen Herrschaftssystems. »Epistemologie« heißt, die Differenz zu erkennen.

Die Informatik der Herrschaft Mit diesem Entwurf einer epistemologischen und politischen Position möchte ich versuchen, ein Bild möglicher Einheit zu zeichnen, das sich sozialistischen und feministischen Entwurfsprinzipien verdankt. Der Rahmen für meine Skizze wird durch das Ausmaß und die Bedeutung der Umwälzungen der mit Wissenschaft und Technologie verbundenen weltweiten gesellschaftlichen Verhältnisse abgesteckt. Ich möchte zeigen, dass

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254 | Donna Haraway wir, in dem gerade im Entstehen begriffenen System einer Weltordnung – die hinsichtlich ihrer Neuheit und Reichweite dem Aufkommen des industriellen Kapitalismus analog ist – darauf angewiesen sind, unsere Politik an den fundamentalen »Veränderungen von Klasse, Rasse und Gender« zu orientieren. Wir leben im Übergang von einer organischen Industriegesellschaft in ein polymorphes Informationssystem – war bisher alles Arbeit, wird nun alles Spiel, ein tödliches Spiel. Die folgende Tabelle verdeutlicht die materiellen wie ideologischen Dichotomien im Übergang von den bequemen, alten, hierarchischen Formen der Unterdrückung zu den unheimlichen, neuen Netzwerken, die ich als Informatik der Herrschaft bezeichnet habe: Repräsentation Simulation Bürgerlicher Roman, Realismus Science Fiction, Postmoderne Organismus Biotische Komponente Tiefe, Integrität Oberfläche, Grenze, Wärme, Rauschen Biologie als klinische Praxis Biologie als Einschreibung Physiologie Kommunikationstechnologie Kleingruppe Subsystem Perfektionierung Optimierung Eugenik Geburtenkontrolle Dekadenz, Der Zauberberg Obsoleszenz, Der Zukunftsschock Hygiene Stressmanagement Mikrobiologie, Tuberkulose Immunologie, AIDS Kopf- und Handarbeit Ergonomie/Kybernetik der Arbeit Funktionale Spezialisierung Modulare Konstruktion Reproduktion Replikation Spezialisierung org. Geschlechterrollen Optimale genetische Strategien Biologischer Determinismus Evolutionäre Trägheit/Constraints Ökologie von Lebensgemeinschaften Ökosystem Beziehung zwischen den Rassen Neoimperialismus, UN-Humanismus Taylorismus im Haushalt, in der Fabrik Globale Fabrik/elektronisches Dorf Familie/Markt/Fabrik Frauen im integrierten Schaltkreis Familieneinkommen Gleicher Lohn für gleiche Arbeit Öffentlich/Privat Cyborg-Citoyenne bzw. -Citoyen Natur/Kultur Differenzfelder Kooperation Kommunikationssteigerung Freud Lacan Sexualität/Fortpflanzung Gentechnologie/Lohnarbeit/Robotik Geist Künstliche Intelligenz Zweiter Weltkrieg Krieg der Sterne Weißes kapitalistisches Patriarchat Informatik der Herrschaft

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 255 Diese Gegenüberstellung legt mehrere, interessante Überlegungen nahe. Die Gegenstände der rechten Spalte entziehen sich einer Codierung als »natürliche Objekte«. Diese Einsicht untergräbt zugleich eine naturalistische Codierung der linken Spalte. Weder ideologisch noch materiell gibt es ein Zurück. Nicht nur Gott ist tot, auch die »Göttin«. Im Zusammenhang mit Objekten wie biotischen Komponenten sollte man weniger an essentielle Eigenschaften als an Designstrategien, Constraints, Durchsatzraten, Systemlogiken oder Kostenverminderung denken. Sexuelle Fortpflanzung ist nur eine Reproduktionsstrategie unter vielen, deren Kosten und Nutzen eine Funktion der Systemumwelt sind. Ideologien der sexuellen Reproduktion können sich heute nicht mehr sinnvoll auf die Begriffe Sex und Geschlechterrolle als organische Aspekte natürlicher Objekte wie Organismen oder Familien berufen. Solches Denken entlarvt sich selbst als irrational, und ironischerweise bilden gerade Playboyleser aus dem mittleren Management und radikalfeministische Pornografiegegnerinnen das eigenartige Gespann, das diesen Irrationalismus entlarven wird. Ähnliches trifft auf dasKonzept der Rasse zu. Ideologien menschlicher Verschiedenheit lassen sich nur in Begriffen der Häufigkeit von Parametern wie Blutgruppen oder Intelligenzfaktoren formulieren. Mit Konzepten wie primitiv oder zivilisiert zu operieren, kann nur noch als »irrational« betrachtet werden. Für die Liberalen wie für die Linke eröffnet die Suche nach integrierten Gesellschaftssystemen die neue Praxis der »experimentellen Ethnografie«, in der sich ein organisches Objekt angesichts der Aufmerksamkeit, die dem Spiel des Schreibens gewidmet wird, verflüchtigt. Auf der Ebene der Ideologie können wir beobachten, wie Rassismus und Kolonialismus in Sprachen der Entwicklung und Unterentwicklung, Modernisierungsraten und -beschränkungen übersetzt werden. Jedes beliebige Objekt und jede Person kann auf angemessene Weise unter der Perspektive von Zerlegung und Rekombination betrachtet werden, keine »natürlichen« Architekturen beschränken die mögliche Gestaltung des Systems. Die Finanzzentren in allen Metropolen der Welt, die Sonderwirtschafts- und Freihandelszonen bezeugen diese elementare Tatsache des »Spätkapitalismus«. Das gesamte Universum möglicher Objekte muss als kommunikationstechnisches (aus der Perspektive der Manager/-innen) oder als texttheoretisches Problem (aus der Perspektive des Widerstands) reformuliert werden. Beides sind Cyborg-Semiologien. Man sollte erwarten, dass sich Kontrollstrategien auf Randbedingungen, Schnittstellen und auf Durchsatzraten der Systemgrenzen konzentrieren und nicht auf die Integrität natürlicher Objekte. Die »Integrität« oder »Wahrhaftigkeit« des westlichen Selbst weicht Entscheidungsprozeduren und Expertensystemen. Beispielsweise werden die Kontrollstrategien, die auf die Reproduktionskapazität von Frauen angewendet werden, in Begriffen der Geburtenkontrolle und der Maximierung von Erfolgsaussichten der individuellen Entscheidungsträgerinnen entwickelt werden. Man wird die Kontrollstrategien in Begriffen wie Wachstumsrate, Kosten und Freiheitsgrade formulieren. Wie jede andere Komponente und jedes andere Subsys-

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256 | Donna Haraway tem auch müssen menschliche Lebewesen in einer Systemarchitektur verortet werden, deren grundlegende Operationsweisen probabilistisch und statistisch sind. Kein Objekt, Raum oder Körper ist mehr heilig und unberührbar. jede beliebige Komponente kann mit jeder anderen verschaltet werden, wenn eine passende Norm oder ein passender Code konstruiert werden kann, um Signale in einer gemeinsamen Sprache auszutauschen. Der Austausch in dieser Welt transzendiert die durch die kapitalistischen Märkte bedingte universelle Übersetzung, die Marx so klar analysiert hat. Die vorherrschende Pathologie, die alle Komponenten dieses Universums befällt, ist Stress, der Zusammenbruch der Kommunikation. Cyborgs sind nicht der Biopolitik Foucaults unterworfen, sie simulieren Politik, ein wesentlich mächtigeres Operationsfeld. Eine solche Analyse der nach dem Zweiten Weltkrieg aufgetauchten wissenschaftlichen und kulturellen Wissensobjekte kann uns einige bedeutende Schwächen der feministischen Analysen vor Augen führen, die so verfahren sind, als seien die organischen, hierarchischen Dualismen, die den »westlichen« Diskurs seit Aristoteles regulieren, noch immer gültig. Dabei sind diese längst gegessen, oder wie Zoe Sofia (Sofoulis) sagen würde »technologisch verdaut«. Die Dichotomien von Geist und Körper, Tier und Mensch, Organismus und Maschine, öffentlich und privat, Natur und Kultur, Männer und Frauen, primitiv und zivilisiert sind seit langem ideologisch ausgehöhlt. Die konkrete Situation von Frauen ist ihre Integration/Ausbeutung in ein weltweites System der Produktion/Reproduktion und Kommunikation, das als Informatik der Herrschaft bezeichnet wird. Haushalt, Arbeitsplatz, Markt, öffentliche Sphäre, sogar der Körper – alles kann in nahezu unbegrenzter, vielgestaltiger Weise aufgelöst und verschaltet werden. Dies hat allerdings nicht nur für Frauen weitreichende Konsequenzen – Konsequenzen, die sich auf verschiedene Menschen verschieden auswirken und die eine mächtige, oppositionelle, internationale Bewegung fast unvorstellbar, aber auch überlebensnotwendig machen. Ein wichtiger Schritt für die Rekonstruktion sozialistisch-feministischer Politik führt durch eine Theorie und Praxis, die sich mit den gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnissen und dem zentralen System der Mythen und Bedeutungen, die unsere Vorstellungen strukturieren, auseinandersetzen muss. Die Cyborg ist eine Art zerlegtes und neu zusammengesetztes, postmodernes kollektives und individuelles Selbst. Es ist das Selbst, das Feministinnen codieren müssen. Die entscheidenden Werkzeuge, die unsere Körper auf neue Weise herstellen, sind die Kommunikations- und Biotechnologien. Diese Werkzeuge verkörpern und erzwingen rund um den Globus neue gesellschaftliche Verhältnisse für Frauen. Technologien und wissenschaftliche Diskurse können einerseits als Formalisierungen verstanden werden, d.h. als geronnene Momente unablässiger, sozialer Interaktionen, die diese konstituieren. Sie sollten andererseits aber auch als mächtige Instrumente zur Durchsetzung von Bedeutungen betrachtet werden. Die Grenzlinie, die

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 257 zwischen Werkzeug und Mythos, Instrument und Konzept, historischen Systemen gesellschaftlicher Verhältnisse und historischen Anatomien möglicher Körper, die Wissensobjekte eingeschlossen, verläuft, ist durchlässig. Mythos und Werkzeug konstituieren sich wechselseitig. Darüber hinaus verdanken sich sowohl die Kommunikationswissenschaften als auch die moderne Biologie einer allgemeinen Umformung, der Übersetzung der Welt in ein Codierungsproblem, der Suche nach einer allgemeinen Sprache, in der jeder mögliche Widerstand gegen instrumentelle Kontrolle verschwindet und in der jede Heterogenität der Zerlegung und der Neukombination, der Investition und dem Tausch unterworfen werden kann. Die Übersetzung der gesamten Welt in ein Problem der Codierung lässt sich anhand der Kommunikationswissenschaften veranschaulichen, wenn man sich die Anwendung kybernetischer (rückkopplungsgesteuerter) Systemtheorien auf Telefonnetze, den Entwurf von Computern, die Entwicklung von Waffen und die Konstruktion und Pflege von Datenbanken vergegenwärtigt. In jedem dieser Fälle besteht die Lösung der Schlüsselprobleme in einer Theorie von Sprache und Kontrolle. Der entscheidende Schachzug besteht in der Bestimmung der Raten, Richtungen und Wahrscheinlichkeiten des Flusses einer Größe, die als Information bezeichnet wird. Die Welt ist durch Grenzen unterteilt, die eine verschiedene Durchlässigkeit für Information besitzen. Information ist genau dasjenige quantifizierbare Element (Einheit, Grundlage von Einheit), auf dessen Basis universelle Übersetzung und damit unbehinderte, instrumentelle Macht (auch bekannt als »effektive Kommunikation«) möglich wird. Die größte Bedrohung dieser Macht besteht in der Störung der Kommunikation. Jeder Zusammenbruch eines Systems ist eine Funktion von Stress. Die Grundlagen dieser Technologie lassen sich in einer Metapher zusammenfassen: CI, Command, Control, Communication, Intelligence, das Kürzel des Militärs für Planungstheorie. In der modernen Biologie lässt sich an Disziplinen wie der Molekulargenetik, der Ökologie, der soziobiologischen Evolutionstheorie oder der Immunbiologie die Übersetzung der gesamten Welt in ein Problem der Codierung ablesen. Was früher als Organismus betrachtet wurde, ist heute ein Problem genetischer Codierung und des Zugriffs auf Information. Die Biotechnologie ist Schreibtechnologie schlechthin, die aus der Forschungspraxis nicht mehr wegzudenken ist. Organismen als Wissensobjekte haben sich gewissermaßen verflüchtigt. Zurückgeblieben sind biotische Komponenten, d.h. eine Sonderklasse von Informationsverarbeitungssystemen. In der Ökologie würde eine nähere Betrachtung von Geschichte und Gebrauch des Ökosystemkonzepts ähnliche Veränderungen zutage fördern. Besonders reichhaltige Beispiele für die Privilegierung von Codierungsund Erkennungssystemen als Wissensobjekte und als Konstruktionen unserer körperlichen Wirklichkeit finden sich in der Immunbiologie und den mit ihr verknüpften medizinischen Praktiken. Die Biologie stellt hier eine Art Kryptografie, eine Geheimschrift dar. Forschung nimmt die Form

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258 | Donna Haraway einer geheimdienstlichen Tätigkeit an. Ironien überall. Das gestresste System läuft aus dem Ruder. Seine Kommunikationsprozesse brechen zusammen. Es kann den Unterschied zwischen Selbst und Anderem nicht mehr erkennen. Säuglinge mit Pavianherzen sorgen allerorten für ethische Verwirrungen, das trifft auf Tierschützer/-innen ebenso zu wie auf Bewahrer/-innen menschlicher Reinheit. Schwule, haitianische Einwanderer-innen und Konsument/-innen intravenöser Drogen sind die »privilegierten« Opfer einer furchtbaren Immunerkrankung, die die Verwirrung der Grenzen und die moralische Verunreinigung markiert, (sie in die Körper einschreibt). All diese Ausflüge in die Kommunikationswissenschaften und die Biologie wären vielleicht Orchideensammlerei, wenn nicht eine banale und vornehmlich ökonomische Realität meine These untermauern würde, dass diese Wissenschaften und Technologien eine grundlegende Transformation der Struktur der Welt für uns anzeigen. Elektronik bildet die Grundlage aller Kommunikationstechnologie. Moderne Staaten, multinationale Konzerne, militärische Macht, Institutionen des Wohlfahrtsstaats, Satellitennetze, politische Prozesse, die Herstellung unserer Vorstellungen, Arbeitsüberwachung, die medizinische Konstruktion unserer Körper sowie die kommerzielle Pornografie hängen ebenso sehr von Elektronik ab, wie die internationale Arbeitsteilung und die religiöse Bekehrung. Die Mikroelektronik ist die technische Basis der Simulakren, d.h. von Kopien ohne Original. Die Mikroelektronik vermittelt die Übersetzung von Arbeit in Robotik und Textverarbeitung, von Sexualität/Fortpflanzung in Gen- und Reproduktionstechnologien und von Geist in Künstliche Intelligenz und Entscheidungsprozesse. Die neuen Biotechnologien betreffen nicht nur die menschliche Reproduktion. Die revolutionären Implikationen der modernen Biologie als einer mächtigen Ingenieurwissenschaft zur Umformung von Materialien und Prozessen für die Industrie, treten heute vielleicht am eindrucksvollsten in der Fermentation, der Landwirtschaft und der Energieversorgung zutage. Die Kommunikationswissenschaften und die Biologie sind Konstruktionen natürlich-technischer Wissensobjekte, in denen die Differenz zwischen Maschine und Organismus von Grund auf unscharf geworden ist: Geist, Körper und Werkzeug sind eng miteinander verbunden. Davon sind die »multinationale« materielle Organisation der Produktion und Reproduktion des täglichen Lebens, die symbolische Organisation der Produktion und Reproduktion von Kultur und unsere Vorstellungen in gleicher Weise betroffen. Die klare Grenzen markierende Vorstellung von Basis und Überbau, öffentlich und privat oder materiell und ideell schien nie zuvor derart geschwächt zu sein. Ich habe Rachel Grossmans Bild der Frauen im integrierten Schaltkreis übernommen, um die Situation von Frauen in einer Welt zu beschreiben, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse durch Wissenschaft und Technologie von Grund auf umstrukturiert wurden. Ich verwende die etwas sonderbare Umschreibung »gesellschaftliche Wissenschafts- und Technologie-

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 259 verhältnisse«, um zu betonen, dass es hier nicht um technologischen Determinismus, sondern um ein historisches System geht, das auf strukturierten Beziehungen zwischen Menschen beruht. Diese Formulierung soll aber auch darauf aufmerksam machen, dass Wissenschaft und Technologie neue Quellen der Macht darstellen, und dass auch wir auf neue Quellen der Analyse und des politischen Handelns angewiesen sind.Einige der Umordnungen von Rasse, Sex und Klasse infolge der durch die Hochtechnologie ermöglichten gesellschaftlichen Verhältnisse können der Relevanz des sozialistischen Feminismus für eine wirkungsvolle progressive Politik ein stärkeres Gewicht verleihen.

Hausarbeitsökonomie Die »neue industrielle Revolution« bringt in weltweitem Maßstab eine neue Arbeiter/-innenklasse hervor. Die extreme Mobilität des Kapitals und die sich herausbildende internationale Arbeitsteilung sind mit dem Auftreten neuer Kollektive und der Schwächung vertrauter Gruppen verknüpft. Diese Entwicklungen sind weder gender- noch rassenneutral. Dem wachsenden Risiko von Dauerarbeitslosigkeit sind besonders weiße Männer in den entwickelten Industrienationen ausgesetzt. Frauen dagegen sind nicht im gleichen Ausmaß wie Männer von Entlassungen betroffen. Es geht aber nicht allein darum, dass die Frauen in den Ländern der Dritten Welt in den auf Wissenschaft basierenden multinationalen, exportorientierten Industrien, besonders im Bereich der Elektronik, die bevorzugten Arbeitskräfte sind. Die Zusammenhänge sind systematischer und umfassen Reproduktion, Sexualität, Kultur, Konsumtion und Produktion. Im prototypischen Silicon Valley ist das Leben vieler Frauen um Arbeitsverhältnisse im Bereich der Elektronik organisiert. Ihre persönliche Situation zeichnet sich durch befristete heterosexuelle Zweierbeziehungen, immer wieder neu auszuhandelnde Formen der Kinderbetreuung, räumliche Distanz zu einem größeren Familienzusammenhang oder anderen traditionellen Formen des Zusammenlebens, hohe Wahrscheinlichkeit von Einsamkeit und ökonomisch äußerst prekäre Lebensumstände im Alter aus. Die ethnische und rassische Vielfalt der Frauen im Silicon Valley strukturieren einen Mikrokosmos widersprüchlicher Differenzen in Kultur, Familie, Religion, Erziehung und Sprache. Richard Gordon hat diese neue Situation als Hausarbeitsökonomie bezeichnet.9 Obwohl Gordon auch auf das Auftreten von Heimarbeit im Zusammenhang mit der Fertigung von Elektronik aufmerksam machen will, bezeichnet der Begriff eine weitreichende Umstrukturierung der

9 | Vgl. zur Hausarbeitsökonomie und verwandten Diskussionen: Richard Gordon/Linda M. Kimball: High Technology, Employment & the Challenges to Education, Santa Cruz 1985.

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260 | Donna Haraway Arbeitsverhältnisse, in der diese in einem umfassenden Sinn die Charakteristika der vormals tatsächlich nur von Frauen ausgeübten Tätigkeiten annehmen. Im wahrsten Sinne des Wortes wird Arbeit als weiblich oder feminisiert neu definiert, egal ob sie von Männern oder von Frauen verrichtet wird. Feminisiert zu werden bedeutet hier, eine extrem prekäre Position einzunehmen, zerlegt und neu zusammengesetzt werden zu können; als Reservearmee ausgebeutet werden zu können; eher als Bedienstete denn als Arbeiter/-innen betrachtet zu werden; während und nach der Erwerbsarbeit einem Zeittakt unterworfen zu sein, der einer geregelten Arbeitszeit Hohn spricht und ständig eine an der Grenze zum Obszönen, eine auf Sex reduzierbare Existenz zu führen, immer bedroht von Arbeitslosigkeit und Deplazierung. Dequalifizierung ist eine altbekannte Strategie, die sich nun auf vormals privilegierte Erwerbstätige richtet. Die Feminisierung der Arbeit bezieht sich jedoch nicht nur auf Dequalifizierung im großen Maßstab, mit ihr entstehen auch unleugbar neue Arbeitsbereiche mit hoher Qualifikation, sogar für jene Frauen und Männer, die bislang keinen Zugang zu qualifizierten Arbeitsplätzen hatten. Vielmehr verdeutlicht das Konzept, dass Fabrik, Haushalt und Markt auf einer neuen Stufe verbunden werden, wobei die Orte der Frauen entscheidend sind. Eine Analyse muss daher besonders die Differenzen zwischen Frauen und die Bedeutung der Beziehungen zwischen Männern und Frauen in den verschiedenen Situationen beachten. Die Hausarbeitsökonomie als internationale Organisationsstruktur des Kapitalismus wurde durch die neuen Technologien ermöglicht (nicht etwa verursacht). Dass der Angriff auf die relativ privilegierten und gewerkschaftlich organisierten Arbeitsplätze weißer Männer erfolgreich war, wurde erst möglich durch die Macht der neuen Kommunikationstechnologien, auch weit verstreute und dezentralisierte Arbeitsprozesse zu verbinden und zu kontrollieren. Die Folgen der neuen Technologien bekommen Frauen sowohl im Verlust des (männlichen) Familieneinkommens (falls sie jemals Zugang zu diesem weißen Privileg besaßen) als auch an ihren eigenen Arbeitsplätzen, deren Kapitalintensität ständig steigt, wie z.B. Büroarbeit oder Krankenpflege, zu spüren. Mit diesen neuen ökonomischen und technologischen Umformungen geht aber auch der Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaats einher und die damit verbundene Intensivierung der Anforderungen an Frauen, ihr tägliches Leben, das der Männer, der Kinder und der Alten aufrechtzuerhalten. Die Feminisierung der Armut – hervorgebracht durch die Aushöhlung des Wohlfahrtsstaats und die Hausarbeitsökonomie, in der sichere Arbeitsplätze die Ausnahme sind, aufrechterhalten durch die Gewissheit, dass die Frauenlöhne auf längere Zeit unterhalb des Familieneinkommens bleiben werden – ist zu einem vordringlichen Problem geworden. Zwar hängt die Entstehung von Haushalten, in denen Frauen das Familienoberhaupt sind, von der Rassen- und Klassenzugehörigkeit und der sexuellen Orientierung ab, aber die zunehmende Verbreitung dieser Lebenslage bildet in vielerlei Hinsicht die Grundlage für ein Bündnis der Frauen. Es ist nicht gerade

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 261 neu, dass Frauen, vor allem aufgrund des ihnen aufgezwungenen Status als Mutter, für gewöhnlich das tägliche Leben aufrecht erhalten. Neu ist die Art und Weise ihrer Integration in die sich ausbreitende kapitalistische und zunehmend militarisierte Ökonomie. Der starke Druck auf schwarze Frauen in den USA, denen es gelungen ist, aus (schlecht) bezahlten Stellungen als Hausbedienstete auszubrechen, und die nun in großer Zahl in der Verwaltung arbeiten, hat weitreichende Konsequenzen für die zunehmende, erzwungene Armut unter Schwarzen trotz Erwerbsarbeit. Junge Frauen in den Industrialisierungsgebieten der Dritten Welt sind immer häufiger die alleinige und wichtigste Quelle eines Lohneinkommens ihrer Familien, während der Zugang zu Grund und Boden immer schwieriger wird. Solche Entwicklungen werden entscheidende Konsequenzen für die Psychodynamik und Politik von Gender und Rasse haben. Im Rahmen der drei Entwicklungsphasen des Kapitalismus (Handels-/ Früh-, Monopol- und internationaler Kapitalismus) – verbunden mit Nationalismus, Imperialismus und Multinationalismus und den von Jameson als ästhetisch vorherrschend analysierten Perioden Realismus, Modernismus und Postmodernismus – möchte ich die These vertreten, dass spezifische Familienformen in einer dialektischen Beziehung zu der jeweils vorherrschenden Produktionsweise und ihren politischen und kulturellen Begleiterscheinungen steht. Auch wenn sie sich im konkreten Leben viel problematischer und unterschiedlicher darstellen, lassen sich drei Idealtypen der Familie schematisch unterscheiden: 1. die patriarchale Kleinfamilie, strukturiert durch die Dichotomie von öffentlich und privat, begleitet von einer weißen, bürgerlichen Ideologie getrennter Sphären und dem angloamerikanischen bürgerlichen Feminismus des 19. Jahrhunderts, 2. die moderne Familie, vermittelt (oder erzwungen) durch den Wohlfahrtsstaat und durch Institutionen wie das Familieneinkommen, begleitet vom Aufblühen afeministischer, heterosexueller Ideologien, einschließlich ihrer radikalen Versionen wie sie vom Greenwich Village des Ersten Weltkriegs repräsentiert werden, und 3. die »Familie« im Rahmen der Hausarbeitsökonomie mit ihrer selbstwidersprüchlichen Struktur als Familie mit einer Frau als Haushaltsvorstand, der Explosion von Feminismen und der paradoxerweise gleichzeitigen Verschärfung und Aushöhlung der Umdeutung von Gender selbst. In diesem Zusammenhang wird sichtbar, in welcher Weise die weltweite, strukturelle Unterbeschäftigung infolge der neuen Technologien einen Ausschnitt aus dem Gebilde der Hausarbeitsökonomie darstellt. In dem Ausmaß, in dem die Automatisierungs- und verwandten Technologien die Arbeitsplätze der Männer in den »entwickelten« Ländern vernichten und das Vorhaben der »Entwicklungshilfe«, Arbeitsplätze für Männer in der Dritten Welt zu schaffen, zum Scheitern verurteilen, während das vollautomatisierte Büro sogar in Ländern mit Unterbeschäftigung zur Regel wird, intensiviert sich die Feminisierung der Arbeit. Schwarze Frauen in den USA wissen seit langem, wie es ist, mit struktureller Unterbeschäftigung (»Feminisierung«) der schwarzen Männer konfrontiert und dabei selbst

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262 | Donna Haraway einer extrem prekären Position im System der Lohnarbeit ausgesetzt zu sein. Es ist inzwischen kein Geheimnis mehr, dass Sexualität, Reproduktion, Familie und das soziale Leben vielfach mit dieser ökonomischen Struktur verwoben sind, die zudem die Situation von weißen und schwarzen Frauen sehr unterschiedlich gestaltete. Da sich zukünftig noch weitaus mehr Frauen und Männer mit ähnlichen Situationen auseinandersetzen müssen, sind gender- und rassenübergreifende Allianzen hinsichtlich der elementaren Lebenserhaltung (ob arbeitslos oder nicht) notwendig und nicht nur wünschenswert. Die neuen Technologien haben darüber hinaus große Auswirkungen auf den Hunger und die weltweite Subsistenzproduktion. Nach einer Schätzung von Rac Lessor Blumberg produzieren Frauen etwa 50 % des Grundbedarfs an Nahrungsmitteln.10 Frauen bleiben die Vorteile der voranschreitenden hochtechnologischen Durchkapitalisierung der Nahrungs- und Energiegewinnung aus Kulturpflanzen generell verwehrt. Ihr Alltag ist zunehmend beschwerlicher geworden, da sich ihre Zuständigkeit für die Nahrungsversorgung nicht vermindert hat, ihre Situation hinsichtlich der Reproduktion aber immer komplexer geworden ist. Durch das Zusammenwirken der Technologien der grünen Revolution mit anderen Formen hochtechnologischer, industrieller Produktion verändern sich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die geschlechtsspezifischen Migrationsmuster in der Dritten Welt. Die neuen Technologien scheinen auch für die Formen der »Privatisierung«, die Rosalind Petchesky analysiert hat, eine große Rolle zu spielen, wobei sich Militarisierung, konservative Familienideologie und -politik sowie die zunehmende Privatisierung ehemals als Gemeineigentum angesehener Bereiche gegenseitig verstärken.11 Die neuen Kommunikationstechnologien zerstören von Grund auf den allgemeinen Zugang zum »öffentlichen Leben«. Dies ermöglicht die ungezügelte Ausbreitung des militärisch-industriellen Establishments auf Kosten der kulturellen und ökonomischen Situation der großen Mehrzahl der Bevölkerung, ganz besonders aber auf Kosten der Frauen. Technologien wie Computerspiele und miniaturisiertes Fernsehen scheinen auf die Entstehung moderner Formen des »Privatlebens« entscheidenden Einfluss zu haben. Die Videokultur ist hauptsächlich an individueller Konkurrenz und extraterrestri-

10 | Der Zusammenhang zwischen Grüner Revolution und Biotechnologien wie die gentechnologische Veränderung von Pflanzen erhöht den Druck auf das Land der »Dritten Welt« außerordentlich. Laut New York Times vom 4. Oktober 1984 produzieren nach Schätzung der AID (Agency for International Development) zum Welternährungstag 1984 Frauen in Afrika etwa 90 % der ländlichen Nahrungsmittelversorgung, in Asien etwa 60-80 %, im Nahen Osten und Lateinamerika leisten Frauen etwa 40 % der Arbeit in der Landwirtschaft. 11 | Vgl. Rosalind Petchesky: Abortion and Woman’s Choice: The State, Sexuality and Reproductive Freedom, Northeastern 1990.

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 263 scher Kriegsführung orientiert. Sie produziert hochtechnologische, vergeschlechtlichte Vorstellungen, die es ermöglichen, sich die Zerstörung des gesamten Planeten und eine der Science-Fiction angemessene Flucht vor deren Konsequenzen auszudenken. Hier wird mehr militarisiert als nur unsere Vorstellungen, aus der Wirklichkeit der elektronischen und nuklearen Kriegsführung gibt es aber kein Entkommen. Die neuen Technologien wirken sich sowohl auf das gesellschaftliche Verhältnis der Sexualität wie auf das der generativen Reproduktion aus, jedoch nicht immer auf die gleiche Weise. Die enge Verbindung von Sexualität und Instrumentalität sowie die Sicht auf den Körper als eine Art privater Befriedigungs- und Nutzenmaximierungsmaschine werden in den soziobiologischen Ursprungserzählungen, die das genetische Kalkül betonen und die unumgehbare Herrschaftsdialektik männlicher und weiblicher Geschlechterrollen erklären wollen, schön beschrieben. Derartige soziobiologische Erzählungen wären undenkbar ohne eine hochtechnologische Sicht auf den Körper als biotischer Komponente und als kybernetisches Kommunikationssystem. Eine von vielen Transformationen des Reproduktionsverhältnisses ist die Transformation der Medizin, in der die Körper von Frauen mit Grenzen ausgestattet wurden, die auf neuartige Weise für »Visualisierung« und »Intervention« durchlässig geworden sind. Selbstverständlich ist es ein wichtiges Thema feministischer Auseinandersetzung, wer die Interpretation der Körpergrenzen in der medizinischen Hermeneutik kontrolliert. In den 70er Jahren diente das Spekulum noch als Symbol des Anspruchs auf körperliche Selbstbestimmung. Dieses Hand-Werkzeug ist ungeeignet, die Körperpolitik zu symbolisieren, die für die Aushandlung der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Praktiken der Cyborgreproduktion notwendig ist. Selbsthilfe allein ist nicht genug. Die Visualisierungstechnologien erinnern an die bedeutsame, kulturelle Praxis des Jagens mit der Kamera und an die zutiefst räuberische Natur des fotografischen Bewusstseins.12 Sex, Sexualität und Reproduktion sind zentrale Akteure in den Mythensystemen der Hochtechnologie, die unsere Vorstellungen der individuellen und gesellschaftlichen Möglichkeiten bestimmen. Ein weiterer entscheidender Aspekt der gesellschaftlichen Verhältnisse der neuen Technologien ist die Reformulierung von Erwartungen und Einstellungen sowie der Arbeit und der Reproduktion der großen Gruppe der wissenschaftlichen und technischen Arbeitskräfte. Eine große politische Gefahr besteht in der Herausbildung einer doppelten Sozialstruktur, in der die überwiegende Mehrzahl der Frauen und Männer aller ethnischen Gruppen – vor allem aber farbige Menschen – an eine Hausarbeits-

12 | Der Moment des Übergangs vom Jagen mit Schusswaffen zum Jagen mit Kameras in der Konstruktion populärer Bedeutungen von Natur für eine amerikanische, städtische Einwander/-innenöffentlichkeit wird analysiert in Donna Haraway: Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science, London, New York 1989.

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264 | Donna Haraway ökonomie gefesselt sind, verbunden mit unterschiedlichen Formen des Analphabetismus, allgemeiner Arbeitslosigkeit und Machtlosigkeit, zudem überwacht von hochtechnologischen Repressionsapparaten mit einer Spannbreite, die von der Unterhaltungsindustrie über Überwachungsdienste bis zu offenem Terror und Verschleppung reichen kann. Eine angemessene sozialistisch-feministische Politik kann schon deshalb nicht darauf verzichten, Frauen mit privilegierten Arbeitsplätzen, besonders in der Produktion von Wissenschaft und Technologie, wo die wissenschaftlich-technischen Diskurse, Prozesse und Objekte konstruiert werden, einzubeziehen. Dieses Thema bildet nur einen Aspekt der Frage nach der Möglichkeit einer feministischen Wissenschaft – allerdings einen wichtigen. Welche konstitutive Rolle können neue soziale Gruppen, die Wissenschaft betreiben, in der Produktion von Wissen, Vorstellungen und Praktiken einnehmen? Wie können Allianzen progressiver, sozialer und politischer Bewegungen mit solchen Gruppen aussehen? Welche Formen politischer Verantwortlichkeit können entwickelt werden, um Frauen über die Gräben wissenschaftlich-technischer Hierarchien hinweg zusammenzuhalten? Wäre es möglich, gemeinsam mit Aktionsgruppen, die für die Transformation militärischer Großforschungseinrichtungen kämpfen, eine feministische Wissenschafts- und Technologiepolitik zu entwickeln? Viele Akademiker/-innen und Ingenieur/-innen im Silicon Valley, einschließlich der High-Tech-Cowboys wollen nicht in militärischen Projekten arbeiten. Können diese persönlichen Präferenzen und kulturellen Tendenzen in eine progressive Politik innerhalb dieser arbeitenden Mittelklasse umgemünzt werden, in der Frauen, besonders Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, einen stattlichen Anteil bilden?

Frauen im integrierten Schaltkreis Ich möchte das Bild der historischen Verortungen von Frauen in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften zusammenfassen, insofern diese durch die gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse umstrukturiert worden sind. Falls es je möglich war, die Lebensweisen von Frauen anhand der Unterscheidung von privaten und öffentlichen Bereichen ideologisch zu charakterisieren – eine Unterscheidung, die durch die Vorstellung einer Trennung des proletarischen Lebens in Fabrik und Haushalt, des bürgerlichen Lebens in Markt und Haushalt und von Gender in persönliche und politische Bereiche nahegelegt worden ist – so handelt es sich heute um eine völlig irreführende Ideologie, gerade wenn es darum geht zu untersuchen, wie sich die beiden Begriffe dieser Dichotomien in Theorie und Praxis wechselseitig konstituieren. Ich bevorzuge das ideologische Bild des Netzwerks, weil es in der Lage ist, die Verschmelzung verschiedener Räume und Identitäten sowie die Durchlässigkeit der Grenzen des individuellen Körpers wie der Körperpolitik auszudrücken. »Vernet-

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 265 zung« ist nicht nur eine multinationale Unternehmensstrategie, sondern auch eine »feministische Politikform« – das Weben von Netzen ist die Praxis oppositioneller Cyborgs. Die Informatik der Herrschaft lässt sich für diejenigen, die am verwundbarsten sind, nur als massive Intensivierung der Unsicherheit und der kulturellen Verarmung angesichts des völligen Scheiterns von Subsistenz-Netzwerken charakterisieren. Da dieses Bild eng mit den gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnissen verwoben ist, liegt die Dringlichkeit einer sozialistisch-feministischen Politik im Bereich Wissenschaft und Technologie auf der Hand. Vieles ist bereits getan worden, und es gibt viele Anknüpfungspunkte für die politische Arbeit. Die Ansätze zu einer Entwicklung gemeinsamer Kampfformen für erwerbstätige Frauen, wie beispielsweise SEIUs District 925, sollte für uns alle eine hohe Priorität haben. Diese Anstrengungen sind zwar eng an die technische Umstrukturierung von Arbeitsprozessen und an die Neuformierung arbeitender Klassen gebunden, sie vermitteln aber auch ein umfassenderes Verständnis der Arbeitsorganisation sowie der sozialen Lebenszusammenhänge, der Sexualität und Familie. Diese Themen rangierten bislang nicht gerade auf den vorderen Plätzen der Prioritätenliste der zumeist von weißen Männern dominierten Gewerkschaften. Die mit den gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnissen verbundenen strukturellen Umformungen werden sehr ambivalent wahrgenommen. Es besteht jedoch kein Anlass, angesichts der Implikationen, die das Verhältnis von Frauen zur Arbeit, zur Kultur, zur Produktion von Wissen, zu Sexualität und Reproduktion im ausgehenden 20. Jahrhundert hat, in tiefe Depressionen zu verfallen. Es gibt sehr gute Gründe dafür, dass die meisten marxistischen Strömungen Herrschaft am klarsten erkennen und Schwierigkeiten mit dem haben, was nur wie falsches Bewusstsein und Komplizenschaft der Unterdrückten mit der sie unterdrückenden spätkapitalistischen Herrschaft aussehen kann. Es ist wichtig, sich zu erinnern, dass so manches, was gerade aus der Perspektive von Frauen als Verlust erscheint, oftmals nichts anderes als virulente Formen von Unterdrückung sind, die angesichts gegenwärtiger Verletzungen nostalgisch naturalisiert werden. Eine ambivalente Haltung gegenüber den von der Kultur der Hochtechnologie durchbrochenen Einheiten erfordert allerdings nicht, Bewusstsein entsprechend der kategorialen Unterscheidung zwischen einer »durch klarsichtige Kritik begründeten, soliden, politischen Epistemologie« und einem »manipulierten falschen Bewusstsein« zu ordnen. Sie erfordert vielmehr ein subtiles Verständnis für neu entstehende Lüste, Erfahrungen und Machtpotentiale, die eine ernsthafte Chance bieten, die Spielregeln zu verändern. Das Entstehen neuer Grundlagen für neue Formen solidarischer Einheit über die Grenzen von Rasse, Gender und Klasse hinweg bietet einigen Anlass zur Hoffnung, insofern diese elementaren Kategorien der sozialistisch-feministischen Analyse ihrerseits vielfältige Transformationen erfahren. Die weltweite Intensivierung des Leidens im Zusammenhang der

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266 | Donna Haraway gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse ist beträchtlich. Doch welche Erfahrungen die Menschen in diesem Prozess machen, ist alles andere als offensichtlich. Uns fehlen hinreichend subtile Beziehungen untereinander, um gemeinsam wirksame Theorien der Erfahrung entwickeln zu können. Die gegenwärtigen Anstrengungen zur Erklärung »unserer« Erfahrungen, seien sie nun marxistisch, psychoanalytisch, feministisch oder anthropologisch, reichen bei weitem nicht aus. Ich bin mir der merkwürdigen Perspektive, die sich aus meiner historischen Situation ergibt, bewusst. Die Promotion in Biologie eines irischkatholischen Mädchens wurde durch die Auswirkungen des Sputnikschocks auf das US-amerikanische Bildungssystem ermöglicht. Mein Körper und Geist sind gleichermaßen ein Produkt des Wettrüstens nach dem Zweiten Weltkrieg, des Kalten Kriegs und der Frauenbewegung. Ich halte es allerdings für aussichtsreicher, die widersprüchlichen Effekte einer Politik zu bedenken, die zwar dazu bestimmt war, loyale, amerikanische Technokrat/-innen hervorzubringen, dabei aber gleichzeitig eine große Zahl von Dissident/-innen in die Welt gesetzt hat, als sich in der Betrachtung gegenwärtiger Niederlagen zu verlieren. Die dauerhafte Partialität feministischer Sichtweisen hat Konsequenzen für unsere Erwartungen hinsichtlich der Formen politischer Organisation und Partizipation. Wir brauchen keine Totalität, um gute politische Arbeit zu leisten. Der feministische Traum einer gemeinsamen Sprache ist, wie alle Träume von einer perfekten, wahren Sprache, des perfekten getreuen Benennens der Erfahrung, ein totalisierender und imperialistischer Traum. In diesem Verständnis ist auch die Dialektik eine Traumsprache mit dem Wunsch, Widersprüche aufzulösen. Vielleicht können wir auf ironische Weise aus unseren Verschmelzungen mit Tieren und Maschinen lernen, etwas Anderes als der Mensch, die Verkörperung des westlichen Logos, zu sein. Aus der Sicht der Lust an machtvollen und tabuisierten Fusionen, die uns durch die gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse vorgegeben sind, könnte es vielleicht tatsächlich eine feministische Wissenschaft geben.

Cyborgs – Ein Mythos politischer Identität Ich möchte dieses Essay mit einem Mythos über Identität und Grenzen beschließen, der die politischen Vorstellungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts anleiten könnte. Anregungen dafür verdanke ich Joanna Russ, Samuel Delaney, John Varley, James Tiptree Jr., Octavia Butler, Monique Wittig und Vonda McIntyre.13 Sie sind unsere Geschichtenerzähler/-in-

13 | Eine gekürzte Liste feministischer Science Fiction, die die Themen dieses Essays unterstreichen, sind: Octavia Butler: Wild Seed (dt. Wilde Saat), Mind of my Mind (dt. Der Seelenplan), Kindred (dt. Vom gleichen Blut), Survivor (dt. Alanna);

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 267 nen. Sie erkunden, was es bedeutet, in den Welten der Hochtechnologie verkörpert zu sein. Sie sind die Theoretiker/-innen für Cyborgs. Mit ihren Untersuchungen der Konzeptionen körperlicher Begrenzungen und sozialer Ordnung hat uns die Anthropologin Mary Douglas zu einem Bewusstsein davon verholfen, wie grundlegend die Metaphorik des Körpers für ein Weltbild und damit auch für politische Sprache ist.14 Französische Feministinnen wie Luce Irigaray und Monique Wittig wissen – ungeachtet ihrer sonstigen Differenzen –, wie der Körper geschrieben werden kann, und wie ausgehend von der Metaphorik der Verkörperung – und im Fall Monique Wittigs ausgehend von der Metaphorik der Fragmentierung und Rekonstitution – Erotik, Kosmologie und Politik verknüpft werden können.15 Amerikanische Radikalfeministinnen wie Susan Griffin, Audre Lorde und Adrienne Rich haben unsere politischen Vorstellungen nachhaltig beeinflusst – vielleicht aber auch zu sehr begrenzt, was wir als freundlichen (friendly) Körper und als politische Sprache zulassen.16 Sie beharren auf dem Organischen und setzen es in Opposition zum Technischen. Allerdings können ihre symbolischen Systeme sowie die verwandten Positionen des Ökofeminismus und des feministischen Heidentums, die gesättigt sind mit Organizismen, nur als dem späten 20. Jahrhundert angepasste, oppositionelle Ideologien verstanden werden, um einen Begriff von Sandoval zu benutzen. Diese Positionen würden schlicht alle die befremden, die nicht mit den Maschinen und dem Bewusstsein des Spätkapitalismus beschäftigt sind. In diesem Sinn sind sie Teil des Cyborguniversums. Feministinnen können allerdings großen Gewinn daraus ziehen, wenn sie die Möglichkeiten explizit aufgreifen, die sich aus dem Zusammenbruch der klaren Unterscheidung von Organismus und Maschine und ähnlicher Unterscheidungen ergeben, die das westliche Selbst strukturiert haben. Die Gleichzeitigkeit dieser Zusammenbrüche bricht die Matrizes der Herrschaft auf und eröffnet neue mögliche Geometrien. Was lässt sich aus der je persönlichen wie politischen »technologischen« Verunreinigung lernen? Ich will kurz zwei sich überschneidende Gruppen von Texten daraufhin betrachten, was sie zur Herstellung eines potentiell hilfreichen

Suzy McKee Charnaz: Motherliness (dt. Aldera und die Amazonen); Samuel Delany: Tales of Nerveryon (dt. Das Land Nimmerya); Anne McCaffrey: The Ship Who Sang, Dinosaur Planet; Vonda McIntyre: Superluminal, Dreamsnake; Joanna Russ: Adventures of Alyx (dt. Die Abenteuer von Alyx), The Female Man (dt. Planet der Frauen); James Tiptree, jr.: Star Songs of an Old Primate (dt. Sternenlieder eines alten Primaten), Up the Walls of the World; John Varley Titan, Wizard, Demon. 14 | Vgl. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a. M. 1988. 15 | Vgl. Monique Wittig: Lesbische Völker. Ein Wörterbuch, Berlin 1983. 16 | Alle diese Poetinnen sind sehr komplex, nicht zuletzt in der Behandlung der Themen des Lügens, der Erotik und der dezentrierten kollektiven und individuellen Identitäten.

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268 | Donna Haraway Cyborg-Mythos beitragen können: die Konstruktionen der Women of Color und die monströsen Selbstkonstruktionen der feministischen Science Fiction. Ich habe bereits nahegelegt, dass »Women of Color« als Cyborg-Identität, als machtvolle aus der Verschmelzung marginalisierter Identitäten hervorgegangene Subjektivität aufgefasst werden können. Es gibt materielle und kulturelle Koordinatensysteme, die dieses Machtpotential topografisch umreißen. Audre Lorde trifft den Ton im Titel ihres Buches Sister Outsider. In meinem politischen Mythos ist Sister Outsider die Frau in Übersee, die US-amerikanische Arbeiter/-innen, die Frauen ebenso wie die feminisierten Männer, als Feind/-in zu betrachten haben, die ihre Solidarität unterhöhlt und ihre Sicherheit bedroht. Im Inland, innerhalb der Grenzen der USA, stellt Sister Outsider eine Möglichkeit inmitten der rassischen und ethnischen Identitäten der Frauen dar, die in denselben Industrien mit dem Zweck der Spaltung, Konkurrenz und Ausbeutung manipuliert werden. »Women of Color« sind bevorzugte Arbeitskräfte der auf Wissenschaft basierenden Industrien. Sie sind die Frauen, deren Alltag vom internationalen Markt der Sexualität, dem internationalen Arbeitsmarkt und den Reproduktionspolitiken bestimmt wird. Junge Frauen, die in Korea in der Sex-Industrie und in der Elektronikbranche arbeiten, werden bereits in der Schule für den integrierten Schaltkreis erzogen, ausgebildet und abgeworben. Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, vor allem in Englisch, zeichnet die »billigen« Arbeiterinnen aus, auf die es die multinationalen Konzerne abgesehen haben. Die Fähigkeit des Lesens und Schreibens ist im Gegensatz zur orientalistischen Stereotype einer »schriftlosen Kultur«, ein besonderes Kennzeichen farbiger Frauen, das sich die farbigen Frauen und Männer in den USA im Verlauf einer Geschichte angeeignet haben, in der Lesen und Schreiben zu lernen oder zu lehren mit Lebensgefahr verbunden war. Schreiben hat einen besonderen Stellenwert für alle kolonisierten Gruppen. Schreiben spielt in der westlich-mythischen Unterscheidung von schriftlosen und Schrift-Kulturen, primitiven und zivilisierten Kulturen eine entscheidende Rolle, aber auch in der jüngeren Vergangenheit für die Zersetzung dieses Mythos durch den Angriff »postmoderner« Theorien auf den Phallogozentrismus des Westens mit seiner Anbetung des monotheistischen, phallischen, autoritären und singulären Wortes, des einzigen und perfekten Namens.17 Auseinandersetzungen um die Bedeutung des Schreibens stellen gegenwärtig eine wichtige Form des politischen Kampfes dar. Dem Spiel des Schreibens freien Lauf zu lassen, ist eine todernste Angelegenheit. Die Lyrik und die Erzählungen farbiger Frauen in den USA behandeln vielfach das Schreiben selbst, den Zugang zur Macht des Bezeichnens. Doch dieses Mal darf diese Macht weder phallisch noch unschuldig sein. Cyborgs dürfen sich nicht dem Sündenfall, der Imagination einer ursprünglichen Ganzheit, die der Sprache, der Schrift

17 | Vgl. Cherrie Moraga: Loving in the War Years, Cambridge 1983.

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 269 und dem Menschen vorausgeht, verschreiben. Das Schreiben der Cyborgs handelt vom Willen zum Überleben, nicht auf der Grundlage ursprünglicher Unschuld, sondern durch das Ergreifen eben jener Werkzeuge, die die Welt markieren, die sie als Andere markiert hat. Diese Werkzeuge sind häufig wieder- und neu erzählte Geschichten, Versionen, die die hierarchischen Dualismen naturalisierter Identitäten verkehren und verrücken. Im Wiedererzählen der Ursprungserzählungen untergraben die Cyborg-Autor/-innen die zentralen Mythen vom Ursprung der westlichen Kultur. Wir alle sind durch diese Ursprungserzählungen und deren Sehnsucht nach Erfüllung in der Apokalypse kolonisiert worden. Die für feministische Cyborgs wichtigsten, phallogozentrischen Ursprungserzählungen sind in Schreibtechnologien wie Biotechnologie und Mikroelektronik eingelassen, die die Welt schreiben und die unsere Körper gerade erst als Codierungsprobleme auf der Grundlage des Koordinatensystems des C3I textualisiert haben. Die Geschichten feministischer Cyborgs haben die Aufgabe, Kommunikation und Intelligenz neu zu codieren, um Kommando und Kontrolle zu untergraben. Die Sprachpolitik durchdringt sowohl im übertragenen wie wörtlichen Sinn die Kämpfe farbiger Frauen. Erzählungen über die Sprache spielen in der umfangreichen gegenwärtigen Literatur farbiger US-amerikanischer Frauen eine große Rolle. Beispielsweise haben Neufassungen der Geschichte der amerikanischen Ureinwohnerin Malinche, der Mutter der mestizischen »Bastard«-Rasse der neuen Welt, Meisterin vieler Sprachen und Mätresse von Cortes für die Konstruktionen der Chicana-Identität eine große Bedeutung. In Loving in the War Years geht Cherrie Moraga der Frage nach, was Identität bedeuten kann, wenn es keine ursprüngliche Sprache, keine authentische Geschichte und keine Harmonie legitimer Heterosexualität im Paradies der Kultur gibt. Unter diesen Bedingungen kann Identität weder auf einem Mythos der Unschuld, noch auf dem Sündenfall oder auf dem Anrecht auf einen eigenen Namen, sei es nun der Name der Mutter oder der des Vaters, beruhen.18 Moragas Schreibweise, ihre ausgezeichnete Fähigkeit mit Sprache umzugehen, präsentiert sich in ihrer Dichtung als dieselbe Art von Verletzung und Übertretung, mit der Malinche auch die Sprache der Eroberer meistert – eine illegitime Produktion, die das Überleben ermöglicht. Moragas Sprache ist nicht »ganz«, sondern eine bewusst gespaltene Chimäre aus Englisch und Spanisch, die beide Sprachen von Eroberern sind. Aber diese monströse Chimäre, die keinen Anspruch auf eine ursprüngliche Sprache vor allen Verletzungen begründen kann, bringt die erotischen, kompetenten und machtvollen

18 | Einen Zugang zum überaus scharfsinnigen Verständnis, das farbige Frauen vom Schreiben als Thema und als Politik besitzen, vermittelt das Programm des internationalen, literarischen Kongresses an der Michigan State University im Oktober 1985: The Black Woman and the Diaspora: Hidden Connections and Extended Acknowledgements.

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270 | Donna Haraway Identitäten farbiger Frauen hervor. Sister Outsider deutet die Möglichkeit irdischen Überlebens an, nicht aufgrund ihrer Unschuld, sondern aufgrund ihrer Fähigkeit, an den Grenzen zu leben. Ihr Schreiben beruht nicht auf dem Gründungsmythos einer ursprünglichen Ganzheit und der damit unausweichlich verbundenen Apokalypse der endgültigen Rückkehr zur Einheit im Tod, den der Mensch/Mann als unberührte, allmächtige Mutter imaginiert, die am Ende von einer weiteren Spirale der Aneignung durch ihren Sohn befreit ist. Schreiben markiert Moragas Körper, bestätigt ihn als den Körper einer farbigen Frau und bewahrt sie davor, in die unmarkierte Kategorie des angloamerikanischen Vaters abzugleiten oder in den orientalischen Mythos eines »ursprünglichen Analphabetismus« einer Mutter, die es nie gegeben hat. Malinche war eine leibhaftige Mutter und keine Eva vor dem Verzehr der Frucht. Das Schreiben bestätigt Sister Outsider, nicht die Frau-vor-dem-Sündenfall-des-Schreibens, auf die die phallogozentrische Familie des Menschen/Mannes angewiesen ist. Schreiben ist die bedeutendste Technologie der Cyborgs, der geätzten Oberflächen im ausgehenden 20. Jahrhundert. Cyborg-Politik bedeutet, zugleich für eine Sprache und gegen die perfekte Kommunikation zu kämpfen, gegen das zentrale Dogma des Phallogozentrismus, den einen Code, der jede Bedeutung perfekt überträgt. Daher besteht die Cyborg-Politik auf dem Rauschen und auf der Verschmutzung und bejubelt die illegitime Verschmelzung von Tier und Maschine. Solche Verbindungen machen den Mann und die Frau problematisch, sie untergraben die Struktur des Begehrens, die imaginierte Macht, die Sprache und Gender hervorgebracht hat und unterlaufen damit die Strukturen und die Reproduktionsweisen westlicher Identität, Natur und Kultur, Spiegel und Auge, Knecht und Herr, Körper und Geist. »Wir« hatten zwar ursprünglich nicht gewählt, Cyborgs zu sein, aber die Wahl begründet eine liberale Politik und Epistemologie, die sich die Reproduktion von Individuen als der erweiterten Replikation von »Texten« vorgängig vorstellt. Aus der Perspektive der Cyborgs und befreit von der Notwendigkeit, Politik in »unserer« privilegierten Position der Unterdrückung zu begründen, die sich alle weiteren Herrschaftsformen einverleibt – die Unschuld der lediglich Verwundeten, die Grundlage jener, die der Natur näher stehen – eröffnen sich uns machtvolle Möglichkeiten. Feminismen und Marxismen sind den Imperativen westlicher Epistemologien aufgesessen in ihrem Bemühen, aus der Perspektive einer Hierarchie von Unterdrückungen ein revolutionäres Subjekt und/oder eine darunter verborgene Position moralischer Überlegenheit, der Unschuld und der größeren Nähe zur Natur zu konstruieren. Mit dem Verzicht auf einen ursprünglichen Traum einer gemeinsamen Sprache oder auf eine ursprüngliche Symbiose, die Schutz vor der feindlichen, »männlichen« Separierung verspricht, sind wir in das Spiel eines Texts ohne endgültige, privilegierte Lesweise und ohne Heilsgeschichte eingeschrieben und erkennen »uns selbst« als etwas vollkommen innerweltliches an, womit wir von der Notwendigkeit befreit sind, Politik in Identifikation, Avantgarde-Parteien, Reinheit oder Mütter-

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 271 lichkeit zu begründen. Der Identität beraubt, belehrt uns die Bastard-Rasse der Cyborgs über die Macht der Grenzen und die große Bedeutung einer Mutter wie Malinche. Farbige Frauen haben die von Männern gefürchtete böse Mutter in eine Mutter verwandelt, die von Anbeginn an schreibt und das Überleben lehrt. Dabei handelt es sich aber gerade nicht um literarische Dekonstruktion, vielmehr um eine kaum wahrnehmbare Transformation. jede Erzählung, die von einer ursprünglichen Unschuld ausgeht und die letztendliche Rückkehr zur Ganzheit zum Ziel erklärt, imaginiert das Drama des Lebens als Individuation, Separation, Geburt des Selbst, Tragödie der Autonomie, Sündenfall des Schreibens und Entfremdung, d.h. als einen Krieg, besänftigt nur durch die imaginierte Ruhe im Schoß der Anderen. Diese Erzählungen folgen den Regeln einer reproduktiven Politik: unbefleckte Wiedergeburt, Perfektion, Abstraktion. In diesem Erzählmuster werden Frauen entweder als besser oder als schlechter betrachtet, aber alle sind sich darüber einig, dass sich Frauen durch eine geringere Ichstärke (selfhood) und eine instabilere Individuierung auszeichnen, dass sie eher dem Oralen, der Mutter verbunden sind und weniger an der Autonomie von Männern teilhaben. Es gibt aber noch einen anderen Weg, die Autonomie der Männer zu umgehen. Dieser Weg führt nicht durch die Frau, das Primitive, den Nullpunkt, das Spiegelstadium und dessen Imaginäres. Er führt durch Frauen und andere gegenwärtige, illegitime Cyborgs, die nicht von der Frau geboren wurden und die die ideologischen Ressourcen der Opferung zurückweisen, um überhaupt ein reales Leben führen zu können. Diese Cyborgs sind Menschen, die nicht einfach von der Bildfläche verschwinden, egal wie oft ein Kommentator des »Westens« das bedauerliche Hinscheiden einer weiteren primitiven Art, einer weiteren organischen Gruppe, die von der »westlichen« Technologie, dem Schreiben, zur Strecke gebracht worden ist, noch beklagen möge. Diese konkreten Cyborgs, beispielsweise die aus südostasiatischen Dörfern kommenden Arbeiterinnen in japanischen und amerikanischen Elektronikkonzernen, die Aiwa Ong beschrieben hat, sind gerade dabei, die Texte ihrer Körper und Gesellschaften aktiv umzuschreiben.19 Der Einsatz, um den es in diesem Spiel der Lesarten geht, ist das Überleben. Ich möchte meine Thesen zusammenfassen. Bestimmte Dualismen haben sich in der westlichen Tradition hartnäckig durchgehalten, sie waren systematischer Bestandteil der Logiken und Praktiken der Herrschaft über Frauen, farbige Menschen, Natur, Arbeiter/-innen, Tiere – kurz, der Herrschaft über all jene, die als Andere konstituiert werden und deren Funktion es ist, Spiegel des Selbst zu sein. Die wichtigsten dieser problematischen Dualismen sind Selbst/Andere, Geist/Körper, Kultur/Natur, männlich/weiblich, zivilisiert/primitiv, Realität/Erscheinung, Ganzes/Teil,

19 | Vgl. Aiwa Ong: »The Production of Possession: Spirits and the Multinational Corporation in Malaysia«, in: American Ethnologist 15 (1988), S. 28-42.

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272 | Donna Haraway Handlungsträger/-in/Ressource, Schöpfer/-in/Geschöpf, aktiv/passiv, richtig/falsch, Wahrheit/Illusion, total/partiell, Gott/Mensch. Das Selbst ist der Eine, der nicht beherrscht wird, und dies durch die Knechtschaft der Anderen weiß. Die/der Andere ist die/derjenige, der/dem die Zukunft gehört und dies durch die Erfahrung der Herrschaft erkennt, die die Autonomie des Selbst als Lüge entlarvt. Der Eine zu sein, heißt autonom, mächtig, Gott, aber auch eine Illusion zu sein, und damit in eine Dialektik der Apokalypse mit den Anderen gezogen zu werden. Noch bedeutet die/der Andere zu sein, vielfältig und ohne klare Grenze, aufgerieben und unwesentlich zu sein. Eins ist zu wenig, aber Zwei sind zu viel. Die Kultur der Hochtechnologien stellt eine faszinierend intrigante Herausforderung dieser Dualismen dar. Im Verhältnis von Mensch und Maschine ist nicht klar, wer oder was herstellt und wer oder was hergestellt ist. Es ist unklar, was der Geist und was der Körper von Maschinen ist, die sich in Codierungspraktiken auflösen. Insofern wir uns sowohl im formalen Diskurs (d.h. Biologie) als auch in Alltagspraktiken (d.h. Hausarbeitsökonomie im integrierten Schaltkreis) wissen, sind wir Cyborgs, Hybride, Mosaike, Chimären. Biologische Organismen sind zu biotischen Systemen geworden, zu Kommunikationsgeräten wie andere auch. Innerhalb unseres formalisierten Wissens über Maschinen und Organismen, über Technisches und Organisches gibt es keine grundlegende, ontologische Unterscheidung mehr. Eine Konsequenz aus diesem Wissen ist, dass wir ein besseres Verständnis vom Zusammenhang zwischen uns und unseren Werkzeugen entwickelt haben. Der Trancezustand, der von vielen Computernutzer/-innen erfahren wird, ist inzwischen zum Aufhänger für Science-Fiction-Filme und kulturkritische Witze geworden. Gelähmte und andere schwer behinderte Menschen können vielleicht über die intensivsten Erfahrungen einer komplexen Hybridisierung mit anderen Kommunikationsgeräten verfügen (und manchmal ist es auch so). Anne McCaffreys The Ship who sang thematisiert das Bewusstsein einer Cyborg, einem aus dem Gehirn eines Mädchens und einer komplexen Maschinerie bestehenden Hybrid, der nach der Geburt des schwer behinderten Kindes hergestellt wurde. Gender, Sexualität, Verkörperung, Geschicklichkeit, all das wird in dieser Geschichte rekonstituiert. Warum sollten unsere Körper an unserer Haut enden oder bestenfalls andere von Haut umschlossene Entitäten umfassen? Vom 17. Jahrhundert bis heute konnten Maschinen belebt werden – sie wurden mit geisterhaften Seelen ausgestattet, um sie zum Sprechen zu bringen, sie in Bewegung zu versetzen oder um ihre geregelte Entwicklung und mentalen Fähigkeiten zu erklären. Es konnten aber auch Organismen mechanisiert werden, reduziert auf den Körper und verstanden als Ressource des Geistes. Diese Formen des Verhältnisses zwischen Maschine und Organismus sind überholt und unnötig. Für uns, sowohl in der Vorstellung als auch in anderen Praktiken können Maschinen Prothesen, vertraute Bestandteile oder ein freundliches (friendly) Selbst sein. Wir brauchen keinen organischen Holismus, der uns mit einer undurchlässi-

2007-03-26 15-01-45 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 238-277) T04-01 haraway.p 142895398224

Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 273 gen Ganzheit, der totalen Frau und ihren feministischen Varianten (Mutantinnen?) ausstattet. Diesen letzten Punkt möchte ich mit einer sehr partiellen Lektüre der Logik der Cyborgmonster aus der zweiten Textgruppe, der feministischen Science Fiction, beschließen. Die feministische Science Fiction ist bevölkert von Cyborgs, die den Status von Mann oder Frau, Mensch, Artefakt, Rassenzugehörigkeit, individueller Identität oder Körper sehr fragwürdig erscheinen lassen. Katie King hat gezeigt, dass die Lust am Lesen dieser Geschichten nur zum geringsten Teil auf Identifikation beruht. Erstmals mit Joanna Russ konfrontierte Student/-innen, die gelernt haben, moderne Autor/-innen wie James Joyce oder Virginia Woolf zu lesen, ohne mit der Wimper zu zucken, wissen nicht, was sie mit Die Abenteuer von Alyx oder Planet der Frauen anfangen sollen. Es sind Romane, deren Figuren die Suche der Leser/-in nach unschuldiger Ganzheit abweisen und stattdessen den Wunsch nach Heroismus, ausschweifender Erotik und ernsthafter Politik bereitwillig bedienen. Planet der Frauen erzählt die Geschichte von vier Versionen eines Genotyps, die zwar alle zusammentreffen, aber auch zusammengenommen kein Ganzes ergeben. Die Dilemmata moralisch legitimer Gewalt lösen sich weder auf, noch findet der Skandal des Gender ein Ende. Samuel Delaney parodiert in seinen feministischen Science Fiction, besonders in Das Land Nimmerya, Ursprungsgeschichten, indem er die neolithische Revolution wiedererstehen lässt, die grundlegenden Schritte der westlichen Zivilisation nachspielt und so deren Plausibilität untergräbt. Das Werk von James Tiptrec jr. galt als besonders männlich, bis das wahre Gender der Autorin bekannt wurde. Sie erzählt Geschichten über die Reproduktionsweisen von Nicht-Säugern, die auf Technologien wie Generationswechsel, Bruttaschen der Männchen und Brutpflege durch die Männchen beruhen. John Varley konstruiert in seiner hyperfeministischen Auslegung des Gala-Mythos eine überragende Cyborg. Gala ist verrückte Göttin, Planet, Trickster, alte Frau und Großtechnologie zugleich, auf deren Oberfläche sich eine außergewöhnliche Ansammlung von Post-Cyborg-Symbiosen ausbreitet. Octavia Butler erzählt von einer afrikanischen Hexe, die ihre Verwandlungskünste gegen die genetischen Manipulationen ihrer Rivalin ins Feld führt (Wilde Saat), von Zeitsprüngen, die eine schwarze Frau aus den USA der Gegenwart in die Sklaverei zurückversetzen, wo ihr Verhalten gegenüber ihrem weißen Sklavenhalter-Vorfahr die Möglichkeit ihrer eigenen Geburt bestimmt (Vom gleichen Blut), und vom illegitimem Einblick in die Identität und Beziehung zu einem adoptierten Kind – halb Mensch, halb Fremdes, das geboren wird, um den Feind als Selbst zu betrachten (Alanna). Da Vonda McIntyres Superluminal besonders reich an Grenzüberschreitungen ist, werde ich diesen kurzen Katalog vielversprechender Monster, die uns bei der Neudefinition des Begehrens, der Politiken der Verkörperung sowie des feministischen Schreibens hilfreich sein können, mit diesem Text beenden. In einer Geschichte, in der keine Figur »einfach« menschlich ist, wird der Status, ein Mensch zu sein, äußerst problema-

2007-03-26 15-01-45 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 238-277) T04-01 haraway.p 142895398224

274 | Donna Haraway tisch. Orca, eine genetisch veränderte Taucherin, kann mit Killerwalen sprechen und unter Tiefseebedingungen überleben. Allerdings sehnt sie sich danach, als Pilotin den Weltraum zu erkunden, wofür sie jedoch bionische Implantate benötigt, die ihre Nähe zu Taucher/-innen und Cetaceen gefährden. Die Transformationen erfolgen durch virale Vektoren, die einen neuen genetischen Entwicklungscode tragen, durch Transplantationschirurgie, Implantation mikroelekronischer Geräte, Analogdoubles und andere Mittel. Laenea wird Pilotin durch eine Herztransplantation und eine Unzahl anderer Veränderungen, die es ihr erlauben, den Übergang zu Geschwindigkeiten jenseits der Lichtgeschwindigkeit zu überleben. Radu Dracul übersteht eine von Viren hervorgerufene Seuche auf seinem außerirdischen Heimatplaneten, und findet sich danach mit einem Zeitsinn ausgestattet, der die Grenzen der räumlichen Wahrnehmung für die gesamte Spezies verändert. Alle diese Figuren gehen den Grenzen der Sprache nach, dem Traum, Erfahrungen mitzuteilen und der Notwendigkeit von Begrenzung, Partialität und Intimität – sogar in dieser Welt vielgestaltiger Verwandlung und Verbindung. Monster haben von jeher die Grenzen eines gemeinsamen sozialen Lebens in den Vorstellungen des Westens bestimmt. Die Zentauren und Amazonen des klassischen Griechenlands errichteten die Grenzen der auf ein Zentrum ausgerichteten Polis des griechischen Mannes, indem sie mit der Institution Ehe brachen und die Reinheit des Kriegers durch das Tier und die Frau befleckten. Siamesische Zwillinge und Hermaphroditen bildeten im frühmodernen Frankreich das verwirrende Menschenmaterial, das den Diskurs von Natürlichem und Übernatürlichem, Medizin und Gesetz, Wunder und Krankheit, die alle von entscheidender Bedeutung für die Etablierung moderner Identität sind, begründete. Die Evolutions- und Verhaltensforschung an Affen und Menschenaffen haben die vielfältigen Grenzen der industrialisierten Identitäten des späten 20. Jahrhunderts markiert. Die Cyborg-Monster der feministischen Science Fiction definieren politische Möglichkeiten und Grenzen, die sich stark von den profanen Identifikationen »Mann« und »Frau« unterscheiden. Wenn wir wirklich anerkennen, dass die Metaphorik der Cyborgs nichts Feindliches an sich hat, so zieht das verschiedene Konsequenzen nach sich. Unser Körper – unser Leben, Körper sind Topografien der Macht und Identität. Cyborgs bilden hier keine Ausnahme. Ein Cyborg-Körper ist nicht unschuldig, Cyborgs sind in keinem Eden geboren, sie suchen sich keine eindeutige Identität und erzeugen somit keine antagonistischen Dualismen ohne Ende (oder bis ans Ende aller Tage); Ironie ist für sie selbstverständlich. Eins ist zu wenig und Zwei sind nur eine Möglichkeit. Intensive Lust auf Geschicklichkeit, auf automatenhafte, technologisch vermittelte Geschicklichkeit hört auf, eine Sünde zu sein und verwandelt sich in einen Aspekt der Verkörperung. Die Maschine ist kein es, das belebt, beseelt oder beherrscht werden müsste. Die Maschine sind wir, unsere Prozesse, ein Aspekt unserer Verkörperung. Wir können für Maschinen verantwortlich sein; sie beherrschen oder bedrohen uns nicht. Wir sind für

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 275 die Grenzen verantwortlich, wir sind sie. Bis zum heutigen Tag (es war einmal) schien die Verkörperung von Frauen etwas Gegebenes, Organisches und Notwendiges zu sein, sie schien das Bemuttern (Mothering) und dessen metaphorische Übertragung zu bedeuten. Nur um den Preis der Deplaziertheit konnten wir den Umgang mit Maschinen intensiv genießen, und auch dann nur mit der Entschuldigung, dass es sich schließlich um eine den Frauen angemessene organische Aktivität handele. Cyborgs könnten die partiellen, ungewissen, beiläufigen Aspekte der Geschlechtlichkeit (Sex) und geschlechtlicher Verkörperung ernster nehmen. Gender wäre nicht mehr die umfassende Identität schlechthin. Auch die ideologisch aufgeladene Frage, was als Alltagsleben und als Erfahrung angesehen werden kann, erscheint durch das Bild der Cyborgs in einem anderen Licht. Feministinnen haben behauptet, Frauen seien der Alltäglichkeit überantwortet und hielten irgendwie eher als Männer den Alltag aufrecht; daher besäßen sie eine potentiell privilegierte epistemologische Position. Diese Behauptung enthält einen überzeugenden Aspekt, nämlich den, dass sie die entwerteten Tätigkeiten von Frauen sichtbar macht und als Grundlage des Lebens benennt. Aber ist es die Grundlage des Lebens? Was ist mit dem, was Frauen nicht wissen, nicht wissen wollen, den Ausschlüssen und den Misserfolgen im Bereich des Wissens und der Fähigkeiten? Was ist mit dem Zugang von Männern zu Kompetenzen des Alltagslebens, dem Wissen, wie man Dinge baut, sie auseinander nimmt und spielt? Was ist mit anderen Verkörperungen? Das Gender der Cyborgs ist eine lokale Möglichkeit, die global Vergeltung üben wird. Rasse, Gender und Kapital bedürfen einer Cyborg-Theorie von Ganzheiten und Teilen. Cyborgs verspüren keinen Drang, eine umfassende Theorie zu produzieren, stattdessen verfügen sie über eine ausgeprägte Erfahrung der Begrenzung, ihrer Konstruktion und Dekonstruktion. Es gibt ein Mythensystem, das darauf wartet, eine politische Sprache zu werden, die eine andere Sichtweise auf Wissenschaft und Technologie begründet und die Informatik der Herrschaft zum Kampf herausfordert. Ein letztes Bild: Organismen und jede organismische, holistische Politik sind abhängig von Metaphern der Wiedergeburt und beziehen sich unabänderlich auf die Ressourcen reproduktiver Sexualität. Ich würde vermuten, dass Cyborgs stärker mit Regeneration verbunden sind und der reproduktiven Matrix und dem Gebären als solchem eher skeptisch gegenüberstehen. Für Molche beinhaltet die Regeneration nach einer Verletzung, etwa dem Verlust eines Gliedmaßes, das Nachwachsen der Struktur und die Wiederherstellung der Funktion mit der anhaltenden Möglichkeit einer Verdopplung oder einer anderen topografischen Missbildung an der verletzten Stelle. Nachgewachsene Gliedmaßen können monströs, verdoppelt oder mächtig sein. Wir alle sind zutiefst verletzt worden. Wir brauchen Regeneration, nicht Wiedergeburt, und die Möglichkeiten unserer Rekonstitution schließen den utopischen Traum, die Hoffnung auf eine monströse Welt ohne Gender, ein. Mit Hilfe der Cyborg-Metaphorik können zwei zentrale Thesen dieses

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276 | Donna Haraway Essay formuliert werden: 1. Die Produktion einer universalen, totalisierenden Theorie ist ein bedeutender Fehler, der die meisten Bereiche der Realität verfehlt – vielleicht nicht immer, ganz sicher aber jetzt. 2. Verantwortung für die sozialen Beziehungen, die durch die gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse strukturiert werden, zu übernehmen heißt, eine antiwissenschaftliche Metaphysik, die Dämonisierung der Technologie zurückzuweisen und sich der viele Kenntnisse erfordernden Aufgabe anzunehmen, die Begrenzungen unseres täglichen Lebens in immer partiellere Verbindungen mit anderen und in Kommunikation mit allen unseren Teilen zu rekonstruieren. Es geht gerade nicht darum, Wissenschaft und Technologie entweder nur als mögliche Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse oder aber nur als Matrix komplexer Herrschaftsverhältnisse zu begreifen. Die Metaphorik der Cyborgs kann uns einen Weg aus dem Labyrinth der Dualismen weisen, in dem wir uns unsere Körper und Werkzeuge erklärt haben. Dies ist kein Traum einer gemeinsamen Sprache, sondern einer mächtigen, ungläubigen Vielzüngigkeit. Es ist eine mögliche Imagination einer Feministin, die in Zungen redet und dabei scharfzüngig genug ist, den Schaltkreisen der Super-Retter der Neuen Rechten Angst einzuflößen. Das bedeutet zugleich den Aufbau wie die Zerstörung von Maschinen, Identitäten, Kategorien, Verhältnissen, Räumen und Geschichten. Wenn auch beide in einem rituellen Tanz verbunden sind, wäre ich lieber eine Cyborg als eine Göttin. Übersetzung aus dem Englischen: Fred Wolf

Literatur Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a.M., 1988. Gordon, Richard /Linda M. Kimball: High technology, employment & the challenges to education, Santa Cruz 1985. Haraway, Donna: Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science, London/New York 1989. Jameson, Frederic: »Postmoderne zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbeck 1986, S. 45-102. King, Katie: »The Situation of Lesbianism as Feminism’s Magical Sign: Contests for Meaning and the U.S. Women’s Movement, 1968-1972«, in: Feminist Critiques of Popular Culture, Sonderausgabe von Communication 9 (1985), S. 65-91. MacKinnon, Catharine A.: Feminism, Marxism, Method, and the State: An Agenda for Theorey, Brighton 1982. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967. Merchant, Carolyn: Der Tod der Natur, München 1987. Moraga, Cherrie: Loving in the War Years, Cambridge 1983.

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Ein Manifest für Cyborgs (1985) | 277 Lauretis, Teresa de: »The Violence of Rhetoric: Considerations on Representation and Gender«, in: Semiotica 54 (1985), S. 11-31. Ong, Aiwa: »The Production of Possession: Spirits and the Multinational Corporation in Malaysia«, in: American Ethnologist 15 (1988), S. 28-42. Petchesky, Rosalind: Abortion and Woman’s Choice: The State, Sexuality and Reproductive Freedom, Northeastern 1990. Sandoval, Chela: Methodology of the Oppressed, Minneapolis 1984. Wittig, Monique: Lesbische Völker. Ein Wörterbuch, Berlin 1983.

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278 | VNS Matrix

Cyberfeministisches Manifest (1991) VNS Matrix

Wir sind die moderne Möse positive Anti-Ratio ungebunden, unbegrenzt und unversöhnlich1 wir sehen Kunst mit/durch unserer Möse, wir machen Kunst mit unserer Möse wir glauben an Jouissance, Verrücktheit, Heiligkeit und Poesie wir sind der Virus der neuen Weltunordnung der die symbolische Ordnung von innen heraus bricht Saboteurinnen von Big Daddys großem Konzept die Klitoris ist eine direkte Linie zur Matrix der VNS Matrix Terminatorinnen des Moralcodex Händlerinnen des Schleims Knie nieder vor dem Altar des Ekels indem wir den Viszeraltempel herausfordern, sprechen wir in Zungen wir infiltrieren, (ver-)stören, verbreiten korrumpieren den Diskurs wir sind die Möse der Zukunft. Übersetzung aus dem Englischen: Karin Bruns

1 | Im Original: unforgiving.

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) T04-02 vns-matrix.p 142895398256

Auf Messers Schneide (1992) | 279

Auf Messers Schneide: Kosmetische Chirurgie und die technologische Produktion des geschlechtlich bestimmten Körpers (1992) Anne Balsamo

Die biotechnologische Reproduktion von Geschlecht Zu den faszinierendsten neuen Körpertechnologien, die in den 80er Jahren entwickelt wurden, zählen Visualisierungstechniken, die das Spektrum menschlicher Wahrnehmung neu definieren. Neue medizinische Bildtechnologien wie die Laparoskopie und die Computertomografie (CT) machen den Körper auf eine Weise sichtbar, dass sein innerster Zustand wahrnehmbar wird, noch ehe dieser entkleidet oder chirurgisch geöffnet ist. Wie die Techniken, die es Wissenschaftler/-innen ermöglichen, genetische Strukturen zu enkodieren und zu lesen, transformieren diese neuen Visualisierungstechniken den materiellen Körper in ein visuelles Medium. In diesem Prozess wird der Körper aufgeteilt und fragmentiert, sodass isolierte Teile visuell untersucht werden können: nach Funktion – wie bei den Organen oder den Neuronenrezeptoren – oder nach Medium – wie bei Flüssigkeiten, Genen oder Wärme. Gleichzeitig beginnt der materielle Körper die Charakteristika der technischen Bilder anzunehmen. Wenn der menschliche Körper in Organe, Flüssigkeiten und genetische Codes zerlegt wird, was passiert mit der Geschlechtsidentität? Wo ist das Geschlecht in einem technologisch dekonstruierten Körper lokalisiert? Wie der Körper ist auch das Geschlecht ein Grenzbegriff; es ist zugleich auf die physiologischen sexuellen Merkmale des menschlichen Körpers (die natürliche Ordnung des Körpers) und auf den kulturellen Kontext, in dem dieser Körper »Sinn macht«, bezogen. Das weit verbreitete technische Ummodellieren des »natürlichen« menschlichen Körpers legt nahe, dass auch das Geschlecht reif für eine Rekonstruktion wäre.1 Fortschritte in den Repro-

1 | Im Original: Rewriting, also wörtlich: Umschreibung.

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280 | Anne Balsamo duktionstechnologien entkoppeln bereits jetzt den Akt der Fortpflanzung vom Akt des Beischlafs. Die Laparoskopie hat eine entscheidende Rolle für die Prüfung der fötalen Entwicklung gespielt mit der Folge, dass der Körper des Fötus metaphorisch (und manchmal buchstäblich) von seiner natürlichen Verbindung mit dem weiblichen Körper gelöst wurde und nun als der neue und wichtigste Patient der Geburtshilfe ausgerufen wird. Welche Auswirkungen haben diese biotechnologischen Entwicklungen auf kulturelle Definitionen des weiblichen Körpers? Wie es oft der Fall ist, wenn scheinbar stabile Grenzen (menschlich/künstlich, Leben/Tod, Natur/Kultur) durch technologische Innovationen verschoben werden, werden andere Grenzen umso wachsamer beschützt. In der Tat ist die Grenze zwischen männlich und weiblich eine Grenze, die trotz neuer technischer Möglichkeiten, den physischen Körper umzuschreiben, schwer bewacht bleibt. So scheint es, dass, während der Körper in den Diskursen der Biotechnologie und der Medizin neu codiert wird und eher einer kulturellen Ordnung denn einer natürlichen zugehörig ist, das Geschlecht weiterhin als naturalisierter Bezugspunkt der menschlichen Identität gilt. Wie uns Judy Wajcman in Erinnerung ruft: »Technologie ist mehr als ein Set physikalischer Objekte oder Artefakte. Sie umfasst auch grundsätzlich eine Kultur oder eine Reihe von sozialen Beziehungen, die aus bestimmten Formen von Wissen, Überzeugungen, Wünschen und Praktiken geformt werden.«2 Es ist mir hier ein Anliegen, zu beschreiben, wie bestimmte Biotechnologien ideologisch »durch Operationen geschlechtsspezifischer Interessen geformt« werden und – als Konsequenz daraus – wie diese dazu dienen, traditionelle, geschlechtlich bestimmte Muster von Macht und Autorität zu verstärken. Wenn Judith Butler den geschlechtlich bestimmten Körper (gendered body) als »eine Reihe sich wiederholender Handlungen innerhalb eines höchst rigiden regulativen Rahmens, die mit der Zeit erstarren, nur um den Anschein von Substanz zu erzeugen« beschreibt, identifiziert sie den Mechanismus, mit dem scheinbar natürliche Geschlechtsidentitäten gesellschaftlich und kulturell reproduziert werden.3 Carole Spitzack weist darauf hin, dass kosmetische Chirurgie tatsächlich drei sich überlappende Mechanismen kultureller Kontrolle entwickelt: Einschreibung, Überwachung und Geständnis4. Laut Spitzack funktioniert das klinische Auge des Arztes wie Foucaults medizinischer Blick: Es ist ein in den Apparaten von Macht und Wissen situierter, disziplinierender Blick, der die weibliche Figur als pathologisch, exzessiv, widerspenstig

2 | Judy Wajcman: Feminism Confronts Technology, Cambridge 1991, S. 149.

3 | Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991 (im Original: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, London 1990). 4 | Vgl. Carole Spitzack: »The Confession Mirror: Plastic Images for Surgery«, in: Canadian Journal of Political and Social Theory 12 (1998), 1-2, S. 38-50.

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Auf Messers Schneide (1992) | 281 und potentiell bedrohlich konstruiert. Der Blick diszipliniert den widerspenstigen weiblichen Körper, indem er ihn zuerst in isolierte Teile zerlegt – Gesicht, Haare, Beine, Brüste – und diese dann als von Haus aus fehlerhaft und pathologisch neu definiert. Wenn Frauen das Bild eines fragmentierten Körpers verinnerlichen und dessen Fehlerhaftigkeit akzeptieren, wird jeder Teil des Körpers zu einem Schauplatz des »Korrigierens« von physischer Anormalität. Spitzack charakterisiert dieses Akzeptieren als eine Form des Geständnisses. »Im Szenario der Praxis für plastische Chirurgie wird die Transformation von Krankheit in Gesundheit dem Körper des/der Patient/in eingeschrieben. […] Der Patientin wird Schönheit und Re-Formierung im Austausch für das Eingeständnis versprochen, krank zu sein bzw. auszusehen, was wiederum auf einen kranken (machtlosen) Charakter hindeutet. In diesem klinischen Setting zieht die Verweigerung dieses Geständnisses somit die Verweigerung von Gesundheit nach sich: und d.h. eine Privilegierung von Krankheit.«5

Doch der Blick des Schönheitschirurgen erfasst den weiblichen Körper nicht nur in einem medizinischen Sinne als fehlerhaft, er redefiniert ihn als Objekt technologischer Rekonstruktion. In ihrer Analyse von Frauenfilmen aus den 40er Jahren wendet Mary Ann Doane den Begriff des »klinischen Blicks« an, um zu beschreiben, wie die Technologien des Sehens weibliche Filmdarstellerinnen als Objekte des medizinischen Diskurses repräsentieren und fixieren. In Doanes Analyse beruht die Medikalisierung des weiblichen Körpers auf einem Modell des Körpers von Oberfläche/Tiefe, wobei der Arzt das Recht und die Verantwortung beansprucht, die Wahrheit des weiblichen Körpers und seine unsichtbaren Tiefen sichtbar zu machen. Der klinische Blick des Arztes enthüllt die Wahrheit über den weiblichen Körper, indem er durch ihn hindurch blickt, um das »Wesen« ihrer Krankheit zu erkennen. Nach Doane markiert der klinische Blick die Verschiebung der Signifizierung des weiblichen Körpers von einer reinen Oberflächenstruktur hin zu einem semantischen Tiefenmodell. Sie verfolgt diese Verschiebung in ihrer Interpretation des Unterschieds zwischen dem klassischen Mainstream-Kino und den Frauenfilmen der 40er Jahre.6 Bei der Untersuchung der Visualisierungstechniken, die in der Praxis der kosmetischen Chirurgie Anwendung finden, können wir den Prozess mitverfolgen, wie in den neuen Biotechnologien mit traditionellen und ideologischen Überzeugungen in Hinblick auf das Geschlecht operiert wird – eine Artikulation, die den weiblichen Körper in der Position des privilegierten Objekts eines normativen Blicks belässt, der nun kein rein

5 | Ebd., S. 39. 6 | Vgl. Mary Ann Doane: »The Clinical Eye: Medical Discourses in the ›Woman’s Film‹ of the 1940s«, in: Susan Suleiman (Hg.), The Female Body in Western Culture: Contemporary Perspectives, Cambridge/MA 1986, S. 152-174.

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282 | Anne Balsamo klinischer Blick ist, sondern zugleich eine technologisierte Sicht. Bei der Anwendung von neuen Visualisierungstechniken hat sich das Verhältnis zwischen dem weiblichen Körper und dem kulturellen Anschauungsapparat neuerlich verschoben; in diesem Prozess macht der klinische Blick einem technologisierten Blick Platz. Diese Verwendung des Blicks beruht nicht auf einem Oberfläche-Tiefe-Modell des physischen Körpers, bei dem der Körper eine Form von struktureller Integrität als begrenztes physisches Objekt besitzt. Bei der Begegnung von Frauen und Schönheitschirurgen wird nicht so sehr die innere oder essenzielle Frau betrachtet; ihre persönliche Geschichte besitzt keine eigene Wahrheit. Sowohl ihre Oberfläche als auch ihr Inneres werden verflacht und aufgelöst. Schönheitschirurgen nutzen technische Visualisierungsgeräte, um den weiblichen Körper als einen Bedeutungsträger von idealer weiblicher Schönheit zu rekonstruieren. In diesem Sinne setzen chirurgische Techniken die Logik von Fließbandschönheit wörtlich um: »Unterschiede« werden in Gleichheit umgewandelt. Der technologische Blick gestaltet den physischen Körper um, um ihn gemäß kulturell definierter Ideale von weiblicher Schönheit zu rekonstruieren.

Kosmetische Chirurgie und die Einschreibung kultureller Schönheitsstandards Kosmetische Chirurgie stellt eine Form von kultureller Bedeutungsgebung dar, an der wir die buchstäbliche und materielle Reproduktion von Schönheitsidealen untersuchen können. Wo Visualisierungstechniken isolierte Körperteile ins Visier nehmen, schneiden chirurgische Verfahren ins Fleisch ein, um Teile zu isolieren, die manipuliert und neu geformt werden. Auf diese Weise verwandelt die kosmetische Chirurgie buchstäblich den physischen Körper in ein kulturelles Zeichen. Der Diskurs der Schönheitschirurgie bietet provokanten Stoff für eine Diskussion über die kulturelle Konstruktion des geschlechtlich definierten Körpers, da auf der einen Seite Frauen häufig die bevorzugten Zielobjekte dieses Diskurses sind, auf der anderen Seite oft männliche Körper diese Eingriffe vornehmen. So ist die Schönheitschirurgie nicht nur ein Ort des Diskurses, der »Konstruktion von Bildern von Frauen«, sondern in Wirklichkeit ein Ort des Körpers, an dem der weibliche Körper nach kulturellen und ideologischen Standards für das physische Erscheinungsbild chirurgisch seziert, gestreckt, geformt und rekonstruiert wird. Es gibt zwei Hauptfelder in der plastischen Chirurgie. Während die rekonstruktive Chirurgie an angeborenen Missbildungen arbeitet sowie an den Folgen von Unfällen oder Krebs, handelt es sich bei der kosmetischen oder ästhetischen Chirurgie oft um einen vollkommen frei gewählten Eingriff. Und während die rekonstruktive Chirurgie mit der Instandsetzung von Gesundheit, Normalität und körperlichem Funktionieren assoziiert wird, wird der kosmetischen Chirurgie nachgesagt, das Selbstvertrauen,

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Auf Messers Schneide (1992) | 283 den sozialen Status und manchmal sogar den beruflichen Stand zu verbessern. Jeder kosmetische Eingriff hat implizit ästhetische Beurteilungen der Proportionen des Gesichts, von Harmonie und Symmetrie, zur Grundlage. Tatsächlich ermuntert ein medizinisches Werk Schönheitschirurgen, eine gewisse Vertrautheit mit klassischer Kunsttheorie zu erwerben, damit sie besser darauf vorbereitet seien, »die dreidimensionale menschliche Form zu beurteilen, alle Aspekte der Missbildung einzuschätzen, das fertige Produkt zu visualisieren und die Herangehensweise, die zu einem optimalen Ergebnis führen wird, zu planen«.7 Die Aspekte eines solchen »ästhetischen Sinns« zu codifizieren, scheint nicht plausibel zu sein, doch tatsächlich gibt es umfangreiche Literatur, die in dem wissenschaftlichen Streben nach »ästhetischer Perfektion« die wissenschaftlichen Abmessungen der Gesichtsproportionen festhält. Einem Schönheitschirurgen zufolge sind die meisten kosmetischen Chirurgen mit den anthropologischen Feldern der Anthropometrie und der menschlichen Osteologie vertraut. Anthropometrie, die in einer Quelle als »Technik zur Abmessung des Menschen, ob lebend oder tot« definiert wird, ist tatsächlich eine äußerst bedeutende Wissenschaft, die von einer Vielzahl von Ingenieuren und Designern angewandt wird. Ein praktisches Beispiel für die Anwendung der Anthropometrie ist das Sammeln von Messdaten der Körper von Säuglingen und Kindern, die beim Entwerfen von Kinderautositzen Anwendung finden. Selbstverständlich macht es Sinn, dass Messstandards und Skalen der menschlichen Proportionen als Ressource für den Entwurf von Produkten zugrunde gelegt werden, die auf den menschlichen Gebrauch ausgerichtet sind; um eine »Passform« für das Spektrum der menschlichen Körper zu finden, die schließlich eine Reihe von Produkten – von Bürostühlen bis hin zu Bürogebäuden – gebrauchen und bewohnen werden, müssen Designer Zugriff auf eine verlässliche und standardisierte Reihe von Körperabmessungen haben. Doch wenn das Projekt der Vermessung das zu messende »Objekt« als den »amerikanischen Neger« oder als »ideales weibliches Gesicht« identifiziert, ist der praktische Nutzen dieser Vermessungen weniger deutlich. Wenn die Anthropometrie »eine Technik zur Vermessung des Menschen« ist, dann ist die kosmetische Chirurgie fasziniert von der Vermessung des Ideals. Ein viel zitierter Band einer Reihe, die von der American Academy of Facial Plastic and Reconstructive Surgery (Amerikanischen Akademie für Gesichts- und Rekonstruktive Chirurgie) herausgegeben wird, mit dem Titel »Proportions of the Aesthetic Face« (»Proportionen des

7 | Stewart D. Fordham: »Art for Head and Neck Surgeons«, in: Paul H. Ward/Walter E. Berman (Hg.), Plastic and Reconstructive Surgery of the Head and Neck, Proceedings of the Fourth International Symposium of the American Academy of Facial Plastic and Reconstructive Surgery, Bd. 1: Aesthetic Surgery, St. Louis 1984, S. 3-10, hier: S. 5.

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284 | Anne Balsamo schönen Gesichts« von Nelson Powell und Brian Humphreys) behauptet, ein »vollständiger Quellenband für Informationen über Gesichtsproportionen und -analysen« zu sein.8 Im Vorwort schreiben die Autoren: »Das Gesicht ist von Natur aus häufig einer Überprüfung unterworfen. Jedes Mal, wenn wir eine Bekanntschaft machen, beurteilen wir unbewusst den Gesamteindruck. […] Dieser [Eindruck] bezieht sich im allgemeinen auf irgendeine Skala von Schönheit oder Ausgewogenheit. […] Harmonie und Symmetrie werden mit einem geistigen, beinahe zauberhaften idealen Subjekt verglichen, das unsere grundlegende Idee von Schönheit ist. Wir nennen eine solche Idee oder einen solchen Komplex das ›ideale Gesicht‹«.9

Den Autoren zufolge verfolgt dieser Text einen recht einfachen Zweck: die Richtlinien der Gesichtssymmetrie und -proportionen objektiv zu dokumentieren. Nicht überraschend ist das »ideale Gesicht«, das in diesem Buch abgebildet ist – sowohl in der Form der Strichzeichnungen als auch in Fotografien – das einer weißen Frau, deren Gesicht sowohl von vorne als auch im Profil absolut symmetrisch ist. Die Autoren behaupten, dass, obwohl »die männliche Knochenstruktur strenger, klarer und markanter ist … sich die Ideale der Gesichtsproportion und des vereinheitlichenden Zusammenspiels auf beide Geschlechter beziehen.« Und, scheinbar um diesen Punkt zu beweisen, bieten sie eine Illustration des idealen männlichen Gesichts im Glossar. Wie ich später diskutieren werde, ist dieser Fokus auf den weiblichen Körper in allen Bereichen der kosmetischen Chirurgie vorherrschend – von der Bestimmung der idealen Proportionen bis hin zum Marketing spezifischer kosmetischer Verfahren. Quelle oder Geschichte dieser idealisierten Zeichnungen werden nie zur Diskussion gestellt. Doch sind die Gesichtsproportionen dieser Bilder erst codifiziert und vermessen, werden sie von Chirurgen reproduziert, wenn sie Änderungen an den Gesichtern ihrer Patientinnen vornehmen. Obwohl sie mit Gesichtern arbeiten, die individuell verschieden sind, verwenden die Chirurgen in ihrem Bemühen, das einzelne Gesicht mit künstlerischen Idealen von Symmetrie und Proportion in Einklang zu bringen, die codifizierten Abmessungen als Richtlinien zur Bestimmung von Behandlungszielen. In diesem Buch über »ideale Proportionen des schönen Gesichts« enthüllt die Art und Weise, in der Rasse behandelt wird, eine Präferenz für weiße, symmetrische Gesichter, die (scheinbar) ohne Narben heilen. Auf der einen Seite gestehen die Autoren ein, dass »die Knochenstruktur bei allen Rassen unterschiedlich ist« und dass »Chirurgen anerkennen müssen, dass rassische Merkmale in verschiedenen Kulturen unterschiedlich

8 | Vgl. Nelson Powell/Brian Humphreys: Proportions of the Aesthetic Face, New York 1984. 9 | Ebd., S. 51.

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Auf Messers Schneide (1992) | 285 geschätzt werden«, doch schlussendlich argumentieren sie, dass »die Gesichtsform ungeachtet der Rasse Harmonie verleihen und ästhetisch ansprechend sein [sollte].«10 Es scheint, dass das ästhetische Werturteil »ungeachtet der Rasse« keine allgemein verbreitete Annahme unter den kosmetischen Chirurgen ist. Napoleon N. Vaughn berichtet, dass viele Schönheitschirurgen »unter Berufung auf die Bildung von Wulstnarben und Pigmentstörungen an den Narben, schwarze Patient/-innen routinemäßig ablehnen«.11 Doch das Thema der Narbenbildung wird in der Diskussion der »Proportionen des ästhetischen Gesichts« vollkommen vernachlässigt. Powell und Humphreys argumentieren vorbehaltlos, dass die Gesichter von Schwarzen anhand der idealen Proportionen, die durch die Vermessung von kaukasischen Gesichtern bestimmt werden, beurteilt werden können, aber das Problem von postoperativen Risiken, die farbige Patientinnen von kaukasischen unterscheiden, vergessen sie anzusprechen. Obwohl es stimmt, dass Patient/-innen mit schwarzer oder dunkelroter Hautfarbe eine größere Neigung aufweisen, keloide oder hypertrophe Narben zu bilden als kaukasische, argumentieren viele Ärzte, dass Patientinnen mit schwarzer Hautfarbe, die nachgewiesenermaßen anfällig für die Bildung von keloiden Narben am Unterkörper sind, im Gesichtsbereich und am Oberkörper nicht notwendigerweise anfällig für solche Narbenbildungen sind; daher sollte eine rassische Neigung für die Bildung von Wulstnarben kein Grund sein, den Antrag eines/einer Patient/-in mit schwarzer Hautfarbe auf kosmetische Gesichtschirurgie abzulehnen. Und laut Arthur Sumrall verhält es sich so, dass obwohl »postoperative Farbveränderungen« der Haut und chirurgische Schnittlinien bei vielen Patient/-innen mit schwarzer Hautfarbe und bei farbigen Rassen stärker sichtbar als bei ihrem kaukasischen Pendant sind, sich diese Veränderungen und Schnittlinien mit der Zeit und dank korrigierender Kosmetika erheblich verbessern.12 Das »schöne Gesicht« wurde als Abstraktion entworfen, um Chirurgen bei der Planung ihrer chirurgischen Behandlungsziele zu unterstützen; doch als kulturelles Artefakt symbolisiert das »schöne Gesicht« einen Wunsch nach standardisierten Idealen kaukasischer Schönheit. Es ist klar, dass sich jede Schönheitsoperation auf Standards von körperlichem Aussehen und Definitionen des »normalen« oder »gesunden« Körpers bezieht. Bei genauerer Untersuchung können wir sehen, wie diese

10 | Ebd., S. 4. 11 | Napoleon N. Vaughn: »Psychological Assessment for Patient Selection«, in: Harold E. Pierce (Hg.), Cosmetic Plastic Surgery in Nonwhite Patients, New York 1982, S. 245-251. 12 | Vgl. Arthur Sumrall: »An Overview of Dermatologic Rehabilitation: The Use of Corrective Cosmetics«, in: H.E. Pierce (Hg.), Cosmetic Plastic Surgery, S. 141154.

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286 | Anne Balsamo Standards und Definitionen kulturell determiniert sind. In den 40er und 50er Jahren wollten, Berichten zufolge, Frauen »kecke, nach oben weisende Nasen«, doch laut einer jüngeren Umfrage ist diese Form aus der Mode gekommen. »Die klassische, natürlichere Form ist die ultimative Form, nach der heute gefragt wird.«13 Die nahe liegende Frage ist, welche Beschaffenheit das Adjektiv »normal« beschreibt? In diesem Fall sehen wir, wie das Verlangen nach kosmetischen Änderungen den Schwankungen von Modewünschen unterliegt; in diesem Sinn wäre »modische Chirurgie« ein passenderer Begriff für jene Operationen, die ohne funktionelle Gründe durchgeführt werden. Doch sogar dort, wo sich die Haute Couture mit Models, die nicht dem traditionellen Schönheitsbegriff entsprechen, in Richtung eines Multikulturalismus bewegt, ist es erstaunlich zu erfahren, wie groß der Wunsch nach kosmetischen Korrekturen ist, die auf westlichen Kennzeichen von idealer Schönheit beruhen. In einem Feature des »New York Times Magazine« berichtet Ann Louise Bardach, dass asiatische Frauen häufig Operationen wünschen, um eine eher »westliche« Augenform zu erhalten.14 In mehreren medizinischen Fachberichten wird auf diese Operation tatsächlich unter dem Begriff »Oberlid-Verwestlichung« Bezug genommen und berichtet, dass diese »das am häufigsten durchgeführte kosmetische Verfahren im Orient« ist.15 Die Chirurgen erklären dies so: »Eine Falte am Oberlid wird von vielen Orientalen quer durch alle sozialen Schichten als Zeichen von Eleganz und Verfeinerung angesehen. Es ist nicht ganz zutreffend zu behaupten, dass alle Orientalinnen, die sich einer solchen Operation unterziehen, den Wunsch hegen, ein westliches oder amerikanisches Aussehen zu haben; vielmehr wünschen sie ein verfeinertes orientalisches Auge. […] Eine verwestlichende Augenlidoperation der Oberlider wird häufig jungen koreanischen Frauen zur Verlobung geschenkt.«

Obwohl andere Chirurgen warnen, dass es »sinnvoller ist, die orientalische und okzidentale Augenanatomie in Begriffen von Differenz statt von Defekten zu diskutieren«16, trägt mindestens ein weiterer medizinischer

13 | Jackie White: »Classic Schnozz is 80s Nose«, in: Chicago Tribune vom 8. Juli 1988, Sektion 2, S. 1, 3. 14 | Vgl. Ann Louise Bardach: »The Dark Side of Cosmetic Surgery: Long Term Risks are Becoming Increasingly Apparent«, in: The New York Times Magazine vom 17. April 1988, S. 24-25, 51, 54-58. 15 | Vgl. Bradley Hall/Richard C. Webster/John M. Dobrowski: »Blepharoplasty in the Oriental«, in: P. Ward/W. Berman (Hg.), Plastic and Reconstructive Surgery of the Head and Neck, S. 210-225, hier: S. 210. 16 | Richard T. Farrior/Robert C. Jarchow: »Surgical Principles in Face-Lift«, in: P. Ward/W. Berman (Hg.), Plastic and Reconstructive Surgery of the Head and Neck, S. 297-311.

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Auf Messers Schneide (1992) | 287 Fachartikel zu dieser Operationsmethode den Titel »Die Korrektur des orientalischen Augenlids«17. Hinsichtlich der Form und Gestalt des Augenlids kommentieren die Autoren nicht, wie es dazu kam, dass das »natürliche« orientalische Auge als »mit einem schwach ausgeprägten orbitalen und periorbitalen Aussehen« beschrieben wird; wenn folglich ihre orientalischen Patientinnen »größere, weitere, weniger flache, ausgeprägtere, mehr wachsam erscheinende Augen und Augenumgebung« wünschen, bieten diese Chirurgen einen Eingriff für ein Operationsziel, das gemeinhin als eine mehr westliche Erscheinung verstanden wird.18 In der Diskussion der Gründe für den gestiegenen Bedarf an solchen Augenlidoperationen »unter den Orientalen« bemerkt Marwali Harahap, dass diese Technik nach dem Zweiten Weltkrieg populär wurde; dies verleitet manche Chirurgen dazu zu spekulieren, dass ein solcher Wunsch nach verwestlichten Augen »von dem Einfluss von Kinobildern und einer Zunahme an Mischehen zwischen asiatischen Frauen und kaukasischen Männern herrührt«.19

Kosmetische Chirurgie als Technologie des geschlechtlich definierten Körpers In den letzten Jahren wählen immer mehr Männer eine kosmetische Operation, doch oft heimlich. Wie ein Artikel berichtet: »Vormals widerwillige skeptische Männer zählen nun zu der boomenden Zahl jener Männer, die heimlich das tun, was Frauen schon seit Jahren machen: sie lassen sich ihre Augenlider liften, ihre Wangen versetzen, ihre Ohren kürzen, die Nasen verkleinern und das Kinn straffen.« Ein Schönheitschirurg führt die Gründe an, warum Männer beginnen, freiwillig kosmetische Operationen durchführen zu lassen: »Ein männlicher Patient mittleren Alters – nennen wir ihn Herrn Aussteiger – glaubt, dass er ein Problem hat. Er glaubt nicht, dass er zu alt ist für die schönen Jungfrauen, die er trifft, doch er will die Lage verbessern. […] Wenn ein Mann wegen des Alterns einen kosmetischen Chirurgen konsultiert, geht es nicht zwangsläufig darum, jünger auszusehen, doch sucht er Abhilfe für einen oder mehrere spezifische Mängel, die Begleiterscheinungen des Alterns sind: Haarausfall, Stirnfalten,

17 | J.S. Zubiri: »Correction of the Oriental Eyelid«, in: Clinical Plastic Surgery 8 (1981), S. 725. 18 | Vgl. B. Hall/R.C. Webster/J.M. Dobrowski: Blepharoplasty in the Oriental, a.a.O., S. 210. 19 | Marwali Harahap: »Oriental Cosmetic Blepharoplasty«, in: H.E. Pierce (Hg.), Cosmetic Plastic Surgery, S. 77-97, hier: S. 78.

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288 | Anne Balsamo Doppelkinn. Es gibt viele Dinge, die man tun kann, um den alternden Mann jünger oder potenter aussehen zu lassen.«20

Einem anderen Schönheitschirurgen zufolge steht der Grund für das neu erwachte Interesse einiger Männer an ihrem Aussehen »in Zusammenhang mit der wachsenden Konkurrenz in Spitzenpositionen durch Frauen und die geburtenstarken Jahrgänge, der sie am Höhepunkt ihrer Karriere gegenüberstehen.«21 Hier wird der Anstieg im Bereich männlicher Schönheitsoperationen als kluge Geschäftstaktik erklärt: »gut auszusehen« suggeriert höhere Intelligenz, Kompetenz und eine größere Gefragtheit des Kollegen. Vorwürfe von Narzissmus, Eitelkeit und Maßlosigkeit werden beiseite geschoben; die Entscheidung eines Mannes, sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen, wird mit dem stereotypen Argument einer Verbesserung der Karriere erklärt: Ein besser aussehender Körper wird schneller befördert. In diesem Fall wird die kosmetische Chirurgie als eine Technik des Körpermanagements neu definiert, die konzipiert ist, um den Stress, eine sich verändernde Arbeitswelt zu bewältigen, zu reduzieren; in einem Arbeitsumfeld, das durch die Präsenz von Frauen und Jüngeren bedroht ist. Während all diese Erklärungen wahr sein mögen in dem Sinne, dass Männer so ihre Entscheidung für eine kosmetische Operation rechtfertigen, wird zugleich deutlich, dass andere Erklärungen nicht einmal in Erwägung gezogen werden: Wie ist es beispielsweise mit der Möglichkeit, dass sich Männer und Frauen in Hinblick auf »den schönen Körper« immer ähnlicher werden, dass sich Männer häufiger mit weiblichen Körperaktivitäten beschäftigen, oder ganz einfach, dass das Interesse am eigenen Aussehen nicht ausschließlich ein Charakteristikum von Frauen ist? Wie verhält es sich mit der Möglichkeit, dass die Grenze zwischen den Geschlechtern erodiert, verschwindet? Wie kommt es, dass Männer den abwertenden Zuschreibungen, die den weiblichen Klientinnen der kosmetischen Chirurgie anhängen, entgehen? In ihrer ethnomethodologischen Studie über kosmetische Chirurgie untersuchen Diana Dull und Candace West, wie Chirurgen und Patient/ -innen ihre Entscheidungen für die Wahl einer kosmetischen Operation »erklären«.22 Sie argumentieren, dass das Verfahren, den Körper des/der Patient/-in in Bestandteile und Stücke zu zerteilen, »den Chirurgen und Patient/-innen erlaubt, zusammen den problematischen Status des jeweiligen Teils und den ›objektiven‹ Bedarf der Korrektur festzusetzen«.23

20 | Michael M. Gurdin: »Cosmetic Problems of the Male«, in: Shirley Motter Linde (Hg.), Cosmetic Surgery: What it Can Do for You, New York 1971, S. 24-32. 21 | Suzanne Dolezal: »More men are seeking their future in plastic – the surgical kind«, in: Chicago Tribune, vom 4. Dezember 1988, Sektion 5, S. 13. 22 | Vgl. Diana Dull/Candace West: »Accounting for Cosmetic Surgery: The Accomplishment of Gender«, in: Social Problems 38 (1) (Februar 1991), S. 54-70. 23 | Ebd., S. 67.

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Auf Messers Schneide (1992) | 289 Doch Dull und West setzen ihre Argumentation damit fort, dass dieser Prozess der Fragmentierung »zusammen mit der Ausführung von Geschlechtszuschreibungen (accomplishment of gender)« auftritt, die, da sie auf einen essentialistischen Blick auf den weiblichen Körper als »reparaturbedürftigem« beruhen und die Entscheidung von Frauen für eine kosmetische Operation als »natürlich« und »normal« sowie als Folge ihrer (natürlichen) Beschäftigung mit der eigenen äußeren Erscheinung begreift. Da ihre »natürliche Wesensart« ganz anders definiert ist, müssen Männer, auf der anderen Seite ausgefeilte Rechtfertigungen für ihre Entscheidung, kosmetische Änderungen vornehmen zu lassen, konstruieren. Diese Analyse beleuchtet einen der möglichen Gründe, warum Männer und Frauen unterschiedliche Erklärungen für ihre Wahl einer kosmetischen Operation formulieren: die kulturelle Bedeutung ihrer geschlechtlich definierten Körper bestimmt bereits die diskursive Begründung, die sie abrufen können, um Körperpraktiken zu erklären. Während beispielsweise die Körper und Gesichter von männlichen Bauern und Bauarbeitern, da sie als Teil ihrer Arbeitsbedingungen permanent der Sonne ausgesetzt sind, daher übermäßig »gebräunt« sind, wird ihre rötliche, lederne Haut nicht als Anfälligkeit oder Deformierung ihres männlichen Körpers betrachtet. Im Gegensatz dazu werden Frauen, die aufgrund übermäßigen Bräunens eine faltige Haut aufweisen, manchmal mit dem »Miami Beach Syndrom« diagnostiziert – wie ein Chirurg behauptet: »Wir finden diesen Typ von übermäßig gebräunter, faltiger Haut bei Frauen, die nicht nur jedes Jahr für drei oder vier Monate nach Miami fahren, sondern am Strand auf einem Sonnenreflektor liegen, der zusätzliche Strahlen auf ihre Gesichter lenkt.«24 Es ist also keine Überraschung, dass, obwohl jeder Körper die »Mängel«, die eine kosmetische Operation vermeintlich rechtfertigen, zur Schau stellen kann, die Diskussion zu und das Marketing von solchen Verfahren den weiblichen Körper als typische Patientin entwirft. Eine so differenzierte Behandlung von geschlechtlich definierten Körpern illustriert eine mittlerweile aus feministischen Studien bekannte Behauptung über Körper und Aussehen: Die Bedeutung der Präsenz oder des Fehlens jeder physischen Eigenheit variiert je nach dem Geschlecht des Körpers, auf dem diese zum Tragen kommt. Ein geschlechtlicher Apparatus organisiert unsere scheinbar grundlegende, natürliche Interpretation menschlicher Körper, selbst wenn dieser Körper technisch umgestaltet ist. Es scheint also, dass Techniken, die z.B. in der kosmetischen Chirurgie Anwendung finden, die »natürliche« Identität des materiellen Körpers rekonstruieren können, zugleich aber wenig dazu beitragen, die Naturalisierung der als wesenhaft gedachten geschlechtlichen Identität zu zerrütten. Wendy Chapkis unterstreicht diesen Punkt, wenn sie schreibt:

24 | Das Zitat stammt von Blair O. Rogers, Autorin des Textes »Management after Surgery in Facial and Eyelid Patients«, in: S.M. Linde (Hg.), Cosmetic Surgery, S. 53-61.

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290 | Anne Balsamo »Wie sehr auch immer sich die Einzelheiten des Schönheitskatalogs von Dekade zu Dekade ändern mögen – ob Kurven in oder out sind, die Haut zart/hell oder gebräunt, die Figur zerbrechlich oder kräftig ist – die grundlegenden Prinzipien bleiben dieselben. Der schöne Körper liegt in der Verantwortung und Autorität der Frau. Sie wird auf der Grundlage dessen, wie nahe sie einer Verkörperung des Ideals kommt, bewertet und belohnt.«25

In den Massenmedien werden Werbeeinschaltungen für Schönheitsoperationen selten, wenn überhaupt, spezifisch an Männer adressiert. In einer Werbekampagne des Liposuction Institutes in Chicago von 1988 stellt jede Werbung eine Illustration von (»satteltaschenartigen«) Oberschenkeln einer Frau als das »vorher«-Bild von Fettabsaugungsmethoden dar. Und selbstverständlich werden viele kosmetische Veränderungen speziell für Frauen entworfen: ein tätowierter Lidstrich wird als »ultimative Kosmetik« vermarktet, ebenso die elektrolytische Entfernung von unerwünschtem Haar; und Gesichtscremes. Eine Werbebeauftragte von DuraSoft erklärt, dass das Unternehmen begonnen hat, farbige Kontaktlinsen speziell für farbige Frauen zu vermarkten, angeblich, weil DuraSoft glaubt, dass »schwarze Frauen weniger kosmetische Alternativen« haben, aber ein wahrscheinlicherer Grund ist, dass das Unternehmen neue Märkte für seine kosmetischen Linsen schaffen will. Während also »ein echter Mann einen Penis und Eier« und ein Interesse an Potenz und Produktivität haben muss, muss eine echte Frau kosmetische Produkte und Dienstleistungen konsumieren.26 Dennoch werden Frauen, die sich zu vielen kosmetischen Veränderungen unterziehen, abwertend als »Skalpellsklavinnen« bezeichnet, um sie mit ihrer Obsession für chirurgische Fehlerbehebungen zu identifizieren. Frauen Ende dreißig und in den Vierzigern sind die wahrscheinlichsten Kandidatinnen für wiederholte Schönheitsoperationen. Laut »Psychology Today« ist der typische »Schönheitsoperationsjunkie« eine Frau, die kosmetische Chirurgie als eine Möglichkeit nutzt, um »unbewussten Wünschen nachzugeben«.27 »Newsweek« diagnostiziert die Imageprobleme, die »Skalpellsklavinnen« haben: »Frauen in den Vierzigern scheinen besonders anfällig für die gesichtskonservierende Wirkung von Schönheitsoperationen zu sein. Viele Skalpellsklavinnen sind ältere Frauen, die kürzlich geschieden wurden oder verwitwet sind und nun gezwungen sind, Arbeit oder einen Freund zu finden. Andere leiden an einer Art

25 | Wendy Chapkis: Beauty Secrets: Women and the Politics of Appearance, Boston/MA, 1986, S. 14. 26 | Vgl. Carol Lynn Mithers: »The High Cost of Being a Woman«, in: Village Voice vom 24. März 1987, S. 31. 27 | Annette C. Hamburger: »Beauty Quest«, in: Psychology Today (Mai 1988), S. 28-32.

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Auf Messers Schneide (1992) | 291 Nestfluchtsyndrom. ›Sie sind Wiedereintritts-Frauen‹, sagt Dr. Susan Chobanian, eine Schönheitschirurgin in Beverly Hills. ›Sie werden hinsichtlich ihres Aussehens unsicher und kommen alle sechs Monate, um sich liften zu lassen‹. […] Den Ärzten zufolge ›ähneln Schönheitsoperationsjunkies in vielerlei Hinsicht Magersüchtigen oder Bulimisten.‹ ›Es handelt sich um eine Störung des Körperbilds‹, sagt ein Arzt, ›Junkies wissen nicht, wie sie wirklich aussehen.‹ Einige Operationsjunkies litten als Jugendliche unter Magersucht und nun, in ihren späten Dreißigern und Vierzigern, versuchen sie erneut, ihr Körperbild zu verändern«.28

Die naturalisierte Identität des weiblichen Körpers wird somit in medialen Diskussionen und Repräsentationen von Dienstleistungen der kosmetischen Chirurgie kulturell als pathologisch reproduziert. Darüber hinaus lautet die obsessiv narrativierte Schilderung, dass der weibliche Körper in seiner Andersartigkeit fehlerhaft sei, aber perfekt, wenn Unterschiedlichkeit in Gleichheit verwandelt werde. Doch im Fall der Schönheitschirurgie täuscht das Wesen von »Gleichheit«, da das Versprechen keine vollständige Rekonstruktion der Identität beinhaltet – in dem Sinn, dass die Patientin wählen könnte, wie der Medienstar ihrer Wahl auszusehen hat –, es ist vielmehr ein trügerisches Versprechen einer »Verbesserung der Schönheit«. Wenn Schönheitschirurgen argumentieren, dass die technische Beseitigung von »Gesichtsdeformationen« die »natürliche« Schönheit einer Frau verbessere, so begegnet man einem der hartnäckigsten Widersprüche innerhalb des Diskurses der kosmetischen Chirurgie: nämlich, den Einsatz von Technologien zum Zweck, die »Natur« zu verstärken.

Schlussfolgerung Durch den Einsatz von Techniken der Einschreibung, der Überwachung und des Geständnisses fungiert die kosmetische Chirurgie als ideologischer Ort für die Untersuchung der technischen Reproduktion des geschlechtlich definierten Körpers. Ein Primäreffekt dieser Techniken ist die Erschaffung einer geschlechtlich definierten Identität dieses Körpers, d.h. es sind Techniken, die für den männlichen Körper anders funktionieren als für den weiblichen. Bei der Begegnung mit dem Schönheitschirurgen und im Diskurs der Schönheitschirurgie wird der weibliche Körper zu einem Objekt erhöhter persönlicher Überwachung; diese Selbstprüfung führt zum verinnerlichten Bild eines geteilten, fragmentierten Körpers. Der Körper wird zum Mittel des Geständnisses; er ist der Ort, an dem Frauen bewusst oder unbewusst die Bedeutungen akzeptieren, die in der Populärkultur über ideale Schönheit kursieren und die zugleich – in Opposition dazu – den dinglichen Körper abwerten. Mit anderen Worten: der weibli-

28 | »Skalpel Slaves Just Can’t Quit«, in: Newsweek vom 11. Januar 1988, S. 58-59.

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292 | Anne Balsamo che Körper wird zum Ort der Einschreibung, zur Projektions- und Werbefläche für die dominanten kulturellen Bedeutungen, die der weibliche Körper in der Postmoderne besitzt. Für einige Frauen und feministische Wissenschaftlerinnen verdeutlicht die kosmetische Chirurgie die technologische Kolonialisierung des weiblichen Körpers; andere sehen sie als Technologie, die Frauen zum eigenen Zweck nutzen können. Wie ich hier gezeigt habe: dem Versprechen, das die Schönheitschirurgie Frauen für die technische Rekonstruktion ihres Körpers bietet, zum Trotz, erzeugen diese Techniken in ihrer tatsächlichen Anwendung Körper, die traditionell geschlechtsspezifisch definiert sind. Dennoch zögere ich, als simple und offensichtliche Schlussfolgerung anzunehmen, dass die Schönheitschirurgie nur ein weiterer Ort ist, an dem Frauen passive Opfer sind. Ob in der Form der Unterdrückung oder als Quelle der Ermächtigung, für mich ist klar, dass die Schönheitschirurgie eine Praxis ist, in der Frauen bewusst agieren, damit ihre Körper ihnen und anderen etwas bedeuten. Eine andere Art, diese Technologie zu betrachten, wäre, die Idee, die ich schon einmal vorgeschlagen habe, aufzugreifen: Schönheitschirurgie als »Modechirurgie« aufzufassen. Wie Frauen, die sich Nasenpiercings, Tätowierungen und Haarskulpturen machen lassen, könnten Frauen, die sich für eine Schönheitsoperation entscheiden, als Frauen gesehen werden, die ihren Körper als Mittel einsetzen, um kulturelle Identität herzustellen. Obwohl ich argumentiert habe, dass Schönheitschirurgen einen unerschütterlichen Glauben an einen verwestlichten Begriff von »natürlicher« Schönheit demonstrieren und der Diskurs der kosmetischen Chirurgie in die Reproduktion solcher Idealisierungen und Manipulationen des »Natürlichen« verwickelt ist, können andere Felder der zeitgenössischen Mode nicht so einfach idealisiert werden. Die Anti-Ästhetik des Cyberpunk und der langen, fließenden und nicht-körperbetonten Kleidung beispielsweise legt nahe, dass vielleicht auch Feministinnen die romantischen Begriffe des »natürlichen« Körpers aufgeben – dies sind Beobachtungen, die uns zu der Behauptung verleiten, dass ein chirurgisch verändertes Gesicht zwangsläufig Zeichen eines unterdrückten Subjekts sein müsse. Wo Körperpiercing und andere Prothesen alltäglich werden – ich denke hier an die implantierten verspiegelten Sonnenbrillen von Molly Million oder an Jaels Kunstnägel – müssen wir möglicher Weise den Fokus auf die körperliche Effizienz jener geschlechtlichen Identitäten richten, die nicht mehr verbissen am neoromantischen Ideal des natürlichen, intakten Körpers festhalten. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Jeannette Pacher

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Medienkörper/Körper-Medien (1999) | 293

Medienkörper/Körper-Medien: Erinnerungsspuren im Zeitalter der »digitalen Evolution« 1 (1999) Marie-Luise Angerer

War es zunächst vor allem Euphorie oder Verlustangst, die den Diskurs über die neuen Medientechnologien beherrschten, so haben sich diese in unterschiedliche Nuancen aufgeteilt. Während die eine Gruppe, jene der Verlustängste, immer noch einer vermeintlich authentischen Wirklichkeit nachsinnt, ist die Gruppe der Euphorischen etwas kritischer geworden, auf Distanz zu den großen Utopien des Netzes gegangen. Und schließlich lässt sich eine dritte Gruppe ausmachen, die sich der Frage annimmt, wie denn das Subjekt im Raster von Realität und Virtualität koordiniert sein könnte. Um diese Letzte wird es im Folgenden in der Hauptsache gehen. Slavoj Zizek hat die Bewegung innerhalb dieser Koordinaten beispielsweise von einem »In-sich« zu einem »Für-sich« bestimmt, was heißt, dass ^ ^

1 | In Anspielung auf das Ars Electronica-Festival zum Thema der »Memesis«, September 1996. Dabei steht die »Technik« von Natur bzw. die »Natur« der Technik im Mittelpunkt. In einer Art Eröffnungsstatement bestimmt Gerfried Stocker, Leiter der Ars Electronica, die Thematik folgendermaßen näher: »Auf fundamentale Weise ist menschliche Evolution unentwirrbar mit technologischer Entwicklung verbunden, […]. Die Menschheit co-evolutioniert mit ihren Artefakten; Gene, die dieser neuen Realität nicht gewachsen sind, werden das nächste Jahrtausend nicht überleben. Meme beschreiben als Analogie zu den biologischen Grundelementen, den Genen, kulturelle Informationseinheiten, kognitive Verhaltensmuster, die sich durch Kommunikation verbreiten und replizieren. Vom »Bioadapter« der Sprache als Proto-meme zur »infosphere« der globalen Netzwerke als ultimatives Habitat für den menschlichen Verstand.« http://www.aec.at/meme/fest/symp 96.

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294 | Marie-Luise Angerer »die Virtualisierung, die bisher ›in sich‹ war, ein Mechanismus, der implizit ablief als die verborgene Grundlage unseres Lebens, nun explizit und als solche postuliert (wird), was entscheidende Folgen für die ›Realität‹ selbst hat.«2 Zizek spricht hier vor dem Hintergrund einer Lacan’schen Subjektfassung, der zufolge das Subjekt durch eine unhintergehbare Splittung gekennzeichnet ist. Das Spiegelstadium als V/Erkennung des Ich handelt von einer projektiven Identifikation als ursprünglicher Verfehlung im Prozess der Subjektkonstituierung. Das »Menschenjunge« zwischen dem 6. und 18. Monat, also noch im Zustand völliger motorischer Abhängigkeit, nimmt – so der Diktion Lacans folgend – im Spiegel die Ganzheit s/eines Körpers wahr und anerkennt dieses vollkommene Bild als sein Ideal-Ich. In diesem Vorgang wird die Instanz des Ich auf einer fiktiven Linie situiert, »die das Individuum allein nie mehr auslöschen kann, oder vielmehr: die nur asymptotisch das Werden des Subjekts erreichen wird, wie erfolgreich immer die dialektischen Synthesen verlaufen mögen, durch die es, als Ich, seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden muß«.3 Im Identifikationsprozess, wodurch sich das selbstreflexive Subjekt konstituiert, ist allerdings als zusätzlicher Dritter der Blick involviert (Gaze), der das Subjekt in seine/ihre kulturelle Umgebung einbindet. Damit hat Lacan die Spaltung des Subjekts nochmals weiter vorangetrieben, indem er Sehen und Blick trennte. Denn vielmehr sei – in den Worten Lacans – eine Präexistenz des Blicks anzunehmen, die besagt, dass »ich nur von einem Punkt aus [sehe], [ich] bin aber in meiner Existenz von überall her erblickt«.4 Für Lacan markiert diese Spaltung von Auge und Blick nun jenen Ort, an dem »sich der Trieb auf der Ebene des Sehfeldes manifestiert«.5 Lacan insistiert damit auf der von Freud bereits vollzogenen Unterscheidung von Trieb und Instinkt, wodurch »sexuality in the human animal is ›intrinsically bound to representation‹«.6 Repräsentation ist also nicht bloß ein System von Zeichen und Darstellungen, die die Welt beschreiben, sondern ein Medium, durch das sich Individuen als Subjekte entwerfen und durch das sie historisch-konkret und materiell agieren bzw. interagieren. In die Koordinaten Sexualität und Repräsentation eingespannt sind nun ^ ^

^ ^

2 | Slavoj Zizek: »Über virtuellen Sex und den Verlust des Begehrens«, in: Karl Gerbel/Peter Weibel (Hg.), Mythos Information. Welcome to the Wired World. Ars Electronica 1995, Wien, New York 1995, S. 122-129, hier: S. 128. 3 | Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion«, in: Schriften I, Frankfurt a. M. 1975, S. 64. 4 | Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 2. Aufl., Weinheim 1987, S. 78. 5 | Ebd., S. 79. 6 | Charles Shepherdson: »The Role of Gender and the ›Imperative‹ of Sex«, in: Joan Copjec (Hg.), Supposing the Subject, London, New York 1994, S. 159f.

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Medienkörper/Körper-Medien (1999) | 295 auch Fantasie und Geschlecht. Ich kann dies hier nicht ausführlich darlegen, nur soviel sei als Rahmen angemerkt: Teresa de Lauretis hat Geschlecht als Repräsentation, als Konstruktion sowie als Dekonstruktion bestimmt, um auf die Unhintergehbarkeit geschlechtlich markierter Positionen hinzuweisen.7 Und nach Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis ist der Status von Fantasien nicht einer zwischen Realität und Illusion, sondern der Terminus der »psychischen Realität« – wie ihn Freud eingeführt hat – ist strukturell zu verstehen. Der Ursprung von Fantasien ist dabei im Auto-Erotismus zu verorten, der wiederum keine evolutionäre Stufe darstellt, sondern »als ein Moment wiederholter Trennung von sexuellem Begehren und nicht-sexueller Funktionen« gesehen werden muss: »Sexualität ist von jedem natürlichen Objekt abgelöst und wird der Fantasie überantwortet und wird durch diesen Vorgang erst als Sexualität existent.«8 Fantasie kann demnach als Setting des Begehrens verstanden werden, sie trägt zur Konstruktion von Realität im Feld der Repräsentationen bei. Dies bedeutet, dass unbewusste Fantasien in Repräsentationen wie beispielsweise in der von Frauen durch Männer, in der von Schwarzen durch Weiße oder in der von Homosexuellen durch Heterosexuelle immer angenommen werden müssen.9 All die hier kurz beschriebenen Prozesse von Identifikation und damit Subjektkonstituierung werden nun oder sollen in der computergenerierten Welt des »Cyberspace« vervielfacht oder sogar in gewisser Weise ungültig werden. Denn in der neuen Phase einer »terminal Identity«10 soll die identifikatorische Garantie subvertiert werden, indem der gesamte Prozess der Identifikation sich anders bewerkstelligt: »Moving into cyberspace binds subject and object positions together in a reflexive dynamic that makes their identification problematic.« Wenn dem Imaginären Lacans – so Kathryn N. Hayles – eine neue dreidimensionale Physikalität entspricht, bedeutet dies notgedrungenermaßen – in diesem Sinne durch die Autorin weitergedacht – eine Herausforderung an die Grenzen des Körpers: »[O]pening them to transformative configurations that always bear the trace of the Other. The resulting disorientation can function as a wedge to destabilize presuppositions about self and Other.«11

7 | Vgl. Teresa de Lauretis: Technology of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington, Indianapolis 1987, S. 3. 8 | Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: »Fantasy and the origins of Sexuality«, in: Victor Burgin/James Donald/Cora Kaplan (Hg.), Formations of Fantasy, London, New York 1986, S. 27ff. 9 | Vgl. Victor Burgin: »Diderot, Barthes, Vertigo«, in: Victor Burgin/James Donald/Cora Kaplan (Hg.), Formations of Fantasy, London, New York 1986, S. 106. 10 | Scott Bukatman: Terminal Identity, Durham, London 1993. 11 | Kathryn N. Hayles: »The Seductions of Cyberspace«, in: Verena Andermatt Conley (Hg.), Rethinking Technologies, Minneapolis, London 1993, S. 187.

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296 | Marie-Luise Angerer An dieser Stelle ist nun allerdings eine genauere Bestimmung von Cyberspace notwendig, die oftmals stillschweigend übergangen wird, weshalb das Reden über die Körper in den virtuellen Welten sehr oft äußerst diffus gerät. Zunächst ist festzuhalten, dass derzeit nach wie vor der geschriebene Text die weitverbreitetste Form elektronischer Interaktion darstellt, das heißt, die Teilnehmer/-innen kommunizieren entweder über E-Mail oder gehören einer der zahlreichen Newsgroups oder MUDs an, wo sich mehrere Leute gleichzeitig in ein Programm eingeklinkt haben, um dort Informationen auszutauschen oder zu spielen (selbsterfundene oder vorgegebene Geschichten).12 Auf dieser Textbasis entwerfen die Teilnehmer/-innen bzw. User/-innen ihre Identitäten, indem sie sich realitätstreu oder fiktiv beschreiben, doch fehlen meist Stimme und Bild, das heißt, die Produktion von Identität geschieht deskriptiv. Sodann gibt es Programme, die Bildmaterial zur Verfügung stellen, das heißt, die User/-innen wählen sich ihre bildliche Darstellung aus – angeboten werden sogenannte Avatars, comicartige Figuren, die stellvertretend für die User/-innen am Monitor agieren. Weitaus seltener, dennoch realisierbar, sind die Begegnungen im virtuellen dreidimensionalen Raum, der mithilfe von elektronischer Brille und Datenhandschuh generiert wird und betretbar ist. Diese letzte Stufe ist es, die in vielen theoretischen Abhandlungen quasi programmanleitend steht, wenngleich sich ihre Implikationen in Abschwächung bzw. Spezifizierung auf die anderen Modalitäten sicherlich ebenfalls anwenden lassen. »Ich« und »Du« werden dabei zu relationalen Positionen, die an keinen substantiellen »Körper« gebunden sind – weshalb Kommunikation im elektronischen Raum neue Qualifikationen erfordert bzw. anders hergestellt werden muss denn beispielsweise in einer Face-to-Face-Kommunikation oder in einem Telefongespräch. In die virtuelle Kommunikation ist eine unüberwindbare Distanz eingeschrieben, die allerdings zu größtmöglicher Intimität und Nähe geradezu stimuliert. Je virtueller, umso libidinöser – so hat es den Anschein – werden Räume besetzbar, umso überdimensionierter entfaltet sich das Imaginäre mit seinen phantasmatischen Figurationen. Dies wird dadurch ermöglicht – so argumentiert die Anhängerschaft McLuhans –, dass die Neuen Medientechnologien eine neue oder besser zusätzliche Taktilitätsdimension aufweisen, eine Dimension, die ein Zusammenspiel aller Sinne (an Interplay of Senses, Marshall McLuhan) bewirkt. Hören, Sehen, Fühlen – durch die traditionellen Medien wie Zeitung, Kino, Radio und Fernsehen spezialisiert und fragmentiert – verschmelzen in den Neuen Medientechnologien zu einer »spezialisiert-ganzheitliche(n) Aufmerksamkeit« – eine, wie McLuhan es genannt hat, »ikonische Aufmerksamkeit«, die der »my-

12 | Vgl. Sherry Turkle: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet, New York, London, Toronto 1995.

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Medienkörper/Körper-Medien (1999) | 297 thischen Welt der Neuen Medien angemessen« ist.13 Paul Virilio hat diese zusätzliche taktile Dimension als Teletaktilität bezeichnet, eine Taktilität, die sich zwar erst, wie er meint, auf die Hand beschränke, die sich »aber schon morgen […] auf den gesamten Körper erstrecken [wird]«. Die Versammlung auf Distanz – wie Tele- oder Viedeokonferenzen – waren ein erster Schritt, die erotische Dimension, also »den Körper eines anderen über tausende von Kilometern hinweg spüren zu können« wird logischerweise folgen.14 Für Virilio ist dieses »Handeln-auf-Distanz« (tele action) ein Phänomen absoluter Desorientierung. Wir sehen auf Distanz, wir hören auf Distanz, wir fühlen auf Distanz – wir sind in den Worten Virilios völlig delokalisiert: »›To be‹ used to mean to be somewhere, to be situated, in the here and now, but the ›situation‹ of the essence of being is undermined by the instantaneity, the immediacy, and the ubiquity which are characteristic of our epoch.«15 Nach Virilio ist unsere durch die Medien konfigurierte Realität zu einer »Stereo-Realität« geworden, die es fortan notwendig macht, zwei Uhren zu beobachten: eine für die Zeit, die andere, um den Raum zu bestimmen, in dem man sich gerade befindet: »From now on, humankind will have to act in two worlds at once. This opens up extraordinary possibilities, but at the same time we face the test of a tearing-up of the being, with awkward consequences. We can rejoice in these new opportunities if and only if we also are conscious of their dangers.«16

Diese doppelte Uhr – für Raum und Zeit – ist allerdings nicht so neu, wie durch Virilio vielleicht der Eindruck erweckt wird. Bei jeder kontinentalen Überquerung per Flugzeug ist die Angabe von Raum und Zeit zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Via Bildschirm lässt sich die Position des

13 | Zit. nach Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1990, S. 121. Jean Baudrillard hat angesichts der alles aufsaugenden Maschine Fernsehen – wie er dieses Medium definiert – die McLuhan’sche Prothesen-These umgedreht und gemeint, die Medien wären nicht länger Verlängerungen des Menschen, sondern dieser, umgekehrt, wäre an den TV- (oder andere Medien-)Apparat(e) angeschlossen, was Subjekt- und Objektpositionen in sich zusammenfallen ließe (vgl. Jean Baudrillard: »The Ecstasy of Communication«, in: Hal Foster [Hg.], Postmodern Culture, 4. Aufl., London, Concord/MA 1990, S. 126-130). 14 | Vgl. Paul Virilio im Gespräch mit Bion Steinborn, in: Filmfaust 89-90 (1994), S. 33. 15 | Paul Virilio: »Global Algorithm 1.7. The Silence of the Lambs: Paul Virilio in Conversation«, in: CTheory, hg. v. Arthur and Marilouise Kroker, 06. Dezember 1996. 16 | Ebd.

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298 | Marie-Luise Angerer Flugzeugs genau verfolgen und bestimmen – zu jeder Sekunde mit exakten geografischen und klimatischen Angaben. Nun würde Virilio hier einwenden, dass wir im Flugzeug ja sitzen und uns tatsächlich fortbewegen, während wir in der digital erzeugten Welt uns nicht mehr fortbewegen, sondern am gleichen Ort verbleiben, um doch zeitgleich an anderen Orten sein zu können. Was sich an diesem Beispiel festmacht, ist der aktuelle Diskurs über »echte Wirklichkeit« und »virtuelle Realität«. Während für die eine Seite die Nicht-Authentizität von Wahrnehmung kontinuierlich voranschreitet – und in Cybersex ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat –, ist dies für die andere Seite ein Beleg mehr für die unhintergehbare semiotische Verankerung des Körpers sowie für eine originäre Spaltung des Subjekts. Im Sinne Kaja Silvermans möchte ich der zweiten Gruppe folgen und eine »Identity-at-a-Distance«17 der Virilio’schen Apokalypse des »tele« voranstellen.

Gender Performanz Die Spaltung zwischen Authentizität/Wirklichkeit und ihrem Gegenteil hat auch die Diskussion um Judith Butlers »Gender Trouble«18 angeleitet. Gender Trouble postuliert eine linguistische/semiotische Verfasstheit des materiellen Körpers, wobei dem Begriff der Performanz eine zentrale Rolle zukommt. Nach Butler ist die Herstellung geschlechtlicher Identitäten als performativer Akt im Sinne einer ständigen Wiederholung vorherrschender Normen, Kopien ohne Original, zu begreifen – eine »diskursive Performativität«, die das, was sie benennt, produziert, um auf diese Weise, um in diesem Prozess den eigenen Referenten, die geschlechtliche Identität, zu inszenieren.19 Dies bedeutet nun eine Absage an traditionelle Identitätskonzeptionen, die Sex und Gender (als das biologische und sozio-kulturelle Geschlecht) zwar trennen, die beiden Seiten allerdings durch ein (heterosexuelles) Begehren wieder zusammenführen. Nach Butler wird der Körper dadurch zu einem passiven Moment, »dem die kulturellen Bedeutungen eingeschrieben sind, oder [er würde] als Instru-

17 | Kaja Silverman: The Treshold of the Visible World, New York, London 1996, S. 18. 18 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991 (im Orginal: Gender Trouble – Feminism and the Subversion of Identity, New York, London 1990). 19 | Vgl. Judith Butler: »Phantasmatische Identifizierung und die Annahme des Geschlechts«, in: Institut für Sozialforschung (Hg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt a. M. 1994, S. 120.

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Medienkörper/Körper-Medien (1999) | 299 ment [betrachtet], mittels dessen ein aneignender und interpretierender Wille für sich selbst eine kulturelle Bedeutung festlegt. In beiden Fällen wird der Körper als bloßes ›Instrument‹ oder ›Medium‹ dargestellt, das nur äußerlich mit einem Komplex kultureller Bedeutungen verbunden ist. Doch der ›Leib‹ ist selbst eine Konstruktion. […] So stellt sich die Frage, inwiefern der Körper erst in und durch die Markierung[en] der Geschlechtsidentität ›ins Leben gerufen‹ wird.«20

Geschlechtliche Identitäten als sich ständig verschiebende und kontextuelle Phänomene zu begreifen, unterstreicht den Prozess, ein Geschlecht zu werden (to become a gender), indem »Geschlechtlich-Sein« in performativen Akten inszeniert und wiederholt (doing gender) wird. Diese Herstellungsarbeit fällt allerdings notwendigerweise einem ideologischen Prozess der »Naturalisierung« und damit Ausblendung anheim, wodurch die prohibitiven Momente, die Eindeutigkeiten bzw. einander ausschließende Oppositionierungen erzwingen, unsichtbar werden (müssen) – dadurch jedoch werden geschlechtliche Identitäten, männlich und weiblich, »wirklich«. In der digital erzeugten Welt des Cyberspace – so ließe sich nun vorsichtig argumentieren – treten beide Momente – das produktive sowie das performative Moment – anschaulich auf den Plan. Geschlechtliche Identitäten werden ständig hergestellt, und in performativen Akten muss eine permanente gegenseitige Anerkennungsarbeit geleistet werden. Doch ein Unbehagen bleibt bei dieser Gleichsetzung – nämlich die Ahnung, dass geschlechtliche Identitäten und ihre Körper im Netz nur zu agieren vermögen, weil sie in ihrem Leben »draußen« bereits etwas »über sich gelernt« haben. Wenn ein Körper, um Judith Butler nochmals anzuführen, erst »lesbar« wird, wenn er durch ein Geschlecht markiert ist, dann ist klar, dass die Fiktionen in den virtuellen Welten die Fantasien ihrer User/-innen sind. Sie erforschen dabei, wie weit ihre »Identitätstoleranz« geht, wieweit man/frau »anders« sein kann und möchte. Doch während in der Populärkultur (Science-Fiction-Literatur, Musikvideos usw.) die Grenzverwischungen zwischen männlich und weiblich enthusiastisch zelebriert, transsexuell als en vogue und bisexuell als unbedingte Notwendigkeit inszeniert werden, verbleiben die »gender boundaries«, wie Claudia Springer anmerkt, starr und unflexibel: »Cyberbodies, in fact, tend to appear masculine or feminine to an exaggerate degree.«21 Das Versprechen – now you can have the body you’ve ever wanted! – wird dabei von einer international operierenden Unterhaltungs- und Modeindustrie ausgegeben, die mit einer unbewussten Sehnsucht und Angst spielt, nämlich dem »prison house of gender« entkommen zu können, in

20 | J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, a.a.O., S. 26. 21 | Claudia Springer: »The Pleasure of the Interface«, in: Screen 32/3 (1991), S. 303-323, hier: S. 309.

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300 | Marie-Luise Angerer die Haut des Anderen zu schlüpfen, ein Anderer zu sein.22 Doch solange diese Überstiege in bestimmten abgegrenzten – auch theoretisch eingegrenzten – Zirkeln stattfinden, ist die Grenze zum »Normalen und Natürlichen« als normierender Halt gegeben. Beunruhigend wird es bereits im alltäglichen Umgang, wo geschlechtliche Identitäten als eindeutige Fakten vorausgesetzt werden, und ohne jede spielerische Eleganz und Leichtigkeit passieren diese Aus- und Einbrüche auf den Stationen psychiatrischer Krankenhäuser.23 Dass der Geschlechtsidentitätenwechsel kein vergnüglicher Maskenball (Carol Hageman-White) ist, dass wir Geschlechtsidentitäten nicht morgens und abends wie unsere Kleidung wechseln (Judith Butler) ist unbestritten, und trotzdem bleibt dieser Riss, der erahnen lässt, dass geschlechtliche Identitäten nie abgeschlossen sind, sondern ständige (Re-)Produktionsarbeit erfordern, dass ihre Totalität ständig aufgeschoben und zu keinem gegebenen Zeitpunkt das ist, was sie ist.24 Entscheidende Differenz zwischen einer Butler’schen Gender-Performanz und derjenigen im Netz scheint nun vor allem ihr bewusster Einsatz im zweiten Fall zu sein.25 Doch die Tatsache, dass die Unterscheidung in männlich und weiblich auch im elektronischen Raum zutiefst fundamental ist, verweist auf deren »tiefere Schichtung«. Der Ort geschlechtlicher Identitäten muss vielmehr als unbewusste Erinnerungsspur gefasst werden im Sinne eines materialen Gedächtnisses, wodurch eine permanente Wirkungsweise garantiert ist. Ich komme auf den Freud’schen »Wunderblock« als Metapher für dieses Erinnerungsarchiv zurück. Um die spezifische »mediale Speicherkapazität« des Körpers zu benennen, möchte ich den Terminus des »Körperbildes« hier nun einführen. Ein Term, der eine Art Schwellenbegriff darstellt und damit auch als »Ort« geschlechtlicher Identitäten fungieren kann.

22 | Vgl. beispielsweise Mark Kingwell: Dreams of Millenium. Report from a Culture on the Brink, Toronto 1996. 23 | Marjorie Garber, Autorin von »Vested Interests« (Verhüllte Interessen, 1993), eine Geschichte des Cross-Dressing, hat in einem Interview in World Art (1/1995) zu diesem Phänomen gemeint, dass es sich dabei mehr um eine metrosexuality handle, also um einen urbanen Lebensstil, der sich die Erotik der Performanz auf den Körper geschrieben hätte. Damit sei allerdings die Notwendigkeit, einen Körper zu haben, mit seinem/ihrem Körper zu spielen, ihn zu dekorieren – tatooing und piercing als neue Modeerscheinungen – auch auf jene Bevölkerungsgruppe übergegangen, die sich bislang davon entfernt halten konnte – nämlich auf die Gruppe der weißen, heterosexuellen Männer. Schwarze und Frauen hätten immer schon ihre größte Aufmerksamkeit ihrem Körper gegenüber aufbringen müssen, weil sie auf je spezifische Weise diese Körper immer schon waren. 24 | Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, a.a.O., S. 36. 25 | Butler spricht in diesem Zusammenhang von einem »Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht.« (J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, a.a.O., S. 49.)

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Medienkörper/Körper-Medien (1999) | 301 Der psychoanalytische Begriff des Körperbildes bezieht sich sowohl auf »Natur« als auch auf »Kultur«. Ausgehend von Freuds expliziter Unterscheidung von Trieb und Instinkt, hat Jacques Lacan, wie bereits angemerkt, darauf insistiert, menschliche Sexualität als immer schon in Repräsentation ver/gefangen zu begreifen. Obgleich also als Organismus geboren, muss das »menschliche Tier« sich ständig einen Körper erobern, muss es ständig wiedergeboren werden – in und durch das Bild und in und durch den Signifikanten.26 Das heißt, der Ort des Körpers ist zunächst leer, eine ursprüngliche Leere, die in nachträglichen Verfahren – durch Worte und Bilder – markiert wird. In zahlreichen Science-Fiction-Filmen wie Blade Runner (von Ridley Scott), Total Recall (von Paul Verhoeven) oder Strange Days von Kathryn Bigelow wird das Thema der Erinnerung der eigenen Geschichte, die ausschließlicher Garant »wirklichen Menschseins« ist, inszeniert. So versuchen in Blade Runner etwa Replikanten, also künstlich hergestellte Menschen, ihre Lebensdauer dadurch zu verlängern, dass sie mithilfe von Fotos zu beweisen suchen, dass sie sich an die Zeit, als sie kleine Kinder waren, erinnern können. Dieses Gedächtnis, diese Erinnerungen, fällt allerdings, wie Freud schon betonte, nicht mit dem Bewusstsein zusammen, sondern ist, wie Gilles Deleuze es definiert, der »wahre Name des Bezugs zu sich oder des Sich-durch-sich-Affizierens. Kant zufolge ist die Zeit die Form, in der das Gemüt sich selbst affiziert, ganz wie der Raum die Form ist, in der das Gemüt von etwas anderem affiziert wird: die Zeit ist folglich »Selbstaffektion« und bildet die wesentliche Struktur der Subjektivität. Aber die Zeit als Subjekt oder eher als Subjektivierung nennt sich Gedächtnis.«27

Allerdings sind diese Erinnerungen, wie bereits erwähnt, keine originären, sondern »Prothesen«, künstlich, ausgeborgt, nachträglich hinzugekommen, zum Eigenen gemacht worden – die fremde Erzählung verhilft zur Erzählung der »eigenen« Geschichte. Wenn also (geschlechtliche) Identitäten als Erinnerungsspuren gefasst werden können, ist die Nähe zum Freud’schen »Wunderblock« nicht zu übersehen. Die reizaufnehmende Schicht – das »System Wahrnehmungsbewusstsein« unseres psychischen Apparates – bildet dabei – wie Freud schreibt – »keine Dauerspuren, die Grundlagen der Erinnerung kommen in anderen, anstoßenden Systemen zustande«.28 Freud entwickelte, wie Jacques Derrida hierzu ausgeführt hat, eine »Problematik der Bahnung, die

26 | Vgl. Charles Shepherdson: The Role of Gender and the »Imperative« of Sex, a.a.O., S. 166ff. 27 | Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt a. M. 1987, S. 150-151. 28 | Sigmund Freud: »Notiz über den ›Wunderblock‹« [1925], in: Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt a. M. 1982, S. 368.

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302 | Marie-Luise Angerer sich zunehmend nach einer Metaphorik der Spur zu richten beginnt«.29 Und diese Spuren werden angesichts von Cyborgs äußerst wichtig werden! Die Konstituierung des Subjekts über die Koordinaten von Wahrnehmung und Erinnerung – wie dies durch Freud erstmals strukturell definiert worden ist – lässt den Körper als eingehüllt in Bilder und Worte begreifen, die ihn affizieren. Henri Bergson hat in »Materie und Gedächtnis« geschrieben, dass die Wahrnehmung außen, die Empfindung in unserem Körper ist: »Und deswegen behaupten wir, daß die Gesamtheit der wahrgenommenen Bilder fortbesteht, auch wenn unser Körper verschwindet, daß wir aber unseren Körper nicht wegdenken können, ohne damit auch unsere Empfindungen aufzuheben.«30

Das heißt, der Körper als Körperbild vermittelt zwischen Affekt und Bildern. Es ist hier nicht der Platz, um auf die Reihe jener psychoanalytischen Körperbild-Fassungen genauer einzugehen, sondern ich möchte nur stellvertretend einige Beispiele benennen.31 Wenn wir als »Ort« geschlechtlicher Identitäten das »Körperbild« besetzen – wie dies die australische Philosophin Moira Gatens einmal vorgeschlagen hat –, wenn dieses »unbewusste Körperbild« jene Erinnerungsspuren in sich bewahrt trägt, die für männlich und weiblich »zuständig« sind, dann sind Gender- und Body-Switching auch im Cyberspace als Manifestationen, angetrieben von diesem nicht fassbaren Ort aus, zu verstehen: »Körperbilder, das meint mehr als bloße Bilder vom Körper. Als psychologischer Begriff und als Metapher meint das nicht zuerst wirkliche Bilder, sondern etwas, das erfahren wird, ohne daß der Blick beteiligt ist […]. Körperbilder werden von anderen Sinnen als dem Sehen entziffert und verweisen auf Kräfte, die mich anders durchdringen, als es die Anatomie vorschreibt.[…] Was mit uns passiert, müssen wir (allerdings) an Symbolen entziffern: an Texten, Filmen, Bildern.«32

»I am never what I have« – das ist eine Zeile aus einem Zitat der französischen Performance-Künstlerin Orlan, die in radikaler Weise die Problematik zwischen Innen und Außen, zwischen einem visuellen Bild und dem

29 | Jacques Derrida: »Freud und der Schauplatz der Schrift«, in: Ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972 [1967], S. 306. 30 | Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991 [1896], S. 45. 31 | Für eine Zusammenfassung der psychoanalytischen sowie philosophischen Körperbild-Fassungen, siehe Elizabeth Grosz: Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism, Bloomington, Indianapolis 1994. 32 | Helmut Hartwig: Die Grausamkeit der Bilder. Horror und Faszination in alten und neuen Medien, Weinheim, Berlin 1986, S. 47.

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Medienkörper/Körper-Medien (1999) | 303 Körperbild, zwischen äußerer und innerer Erscheinung inszeniert.33 Orlan greift in ihren Arbeiten Lacans Theorie und seine Trennung von Blick und Auge wörtlich auf, um die Exteriorität sowie kulturelle Codifizierung unserer subjektiven Sehweise sichtbar werden zu lassen. Wir können nicht bestimmen, wie wir gesehen werden wollen, sondern nur der kulturelle Blick besitzt diese Autorität: »[W]hat is determinative for each of us is not how we see or would like to see ourselves, but how we are perceived by the cultural gaze.«34 Mit der Orlan’schen Kunstpraxis wird die Körpergrenze tatsächlich unterwandert und der Körper als Bild manifest. Was sich jedoch wirklich zeigt, ist die Leere des Bildes, dass nichts sich dahinter/darunter verbirgt: »In this sense Orlan’s work undoes the triumph of representation. During her operation Orlan’s face begins to detach itself from her head. We are shocked at the destruction of our normal narcissistic fantasy that the face represents something. Gradually the face becomes pure exteriority. It no longer projects the illusion of depth. It becomes a mask without any relation of representation. In turn this disturbs a fundamental illusion concerning the inside and the outside, that the outside provides a window onto what is represented. In this sense Orlan uses her head quite literally to demonstrate an axiom of at least one strand of feminist thought: there is nothing behind the mask.«35

Wenn Orlan von einem »woman-to-woman-transsexualism« spricht, dann im Sinne von einem Bildsein in einem weiblichen Körper: »She is changing, not from one thing into another – metamorphosis – but from one register to another. […] She claims to be flesh become image.«36 Sind diese Körperbild-Bestimmungen alle mehr oder weniger direkt an Lacans Theorie des Bildes und des Blicks orientiert, sind die folgenden Ansätze keine psychoanalytischen, sondern philosophische Definitionen, die dem »Mangel« der Psychoanalyse zu entgehen trachten. Elspeth Probyn beispielsweise begreift den Körper als »Bilder in Bewegung«, als etwas, was keinen einheitlichen Ort bezeichnet, sondern vielmehr in seinen Wendungen, Vor- und Rückwärtsbewegungen, in seinen Unebenheiten begriffen werden muss.37 In ihrem Bemühen, das sich darin entfaltende »Selbst« zu formulieren, definiert Probyn Identitäten als

33 | Vgl. David Moss: Memories of Being. Orlan’s Theatre of the Self, in: Art + Text 54 (1996), S. 67-72. 34 | K. Silverman: The Treshold of the Visible World, a.a.O., S. 19. 35 | Parveen Adams: The Emptiness of the Image. Psychoanalysis and Sexual Difference, London, New York 1996, S. 145. 36 | Ebd., S. 144. 37 | Vgl. Elspeth Probyn: »This Body Which is Not One: Technologizing an Embodied Self«, in: Hypathia, Special Issue: Feminism and the Body, Fall 1991, S. 114.

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304 | Marie-Luise Angerer Bilder (imagines). Diese Bilder sind – in den Worten Michèle Le Doeuffs – nicht, was ich denke, nicht worin ich denke, sondern etwas, womit ich denke. Probyn bestimmt ihr »Körper-Bild« damit als eine »Bewegung«, die sich nur mit diesem Bilder-Verständnis fassen lässt. Der Körper – ursprünglich in der feministischen Theorie zum einzigen Ort (im Sinne von »location«) hochstilisiert – wird auf diese Weise zur »loca-motion«, zu einem Ort der Passage, des Durchgangs von Bildern.38 Für Elizabeth Grosz hingegen besteht der Vorteil einer an Deleuze und Guattari orientierten Bestimmung von Körper und Geschlecht darin, dass Psychisches und Soziales einander nicht entgegengesetzt sind, dass es keine Verdopplung des Realen durch Repräsentation, also keine Mediation von Realität durch ein symbolisches System gibt. Die »entweder-oder-Opposition« werde durch eine »beide-und-Verbindung« überwindbar. Subjekt-Objekt-Relationen lösen sich in Intensitäten und Mikroprozesse auf. Darüber hinaus verweigert sich der Deleuz’sche Ansatz einem explanatorischen Paradigma, entlang dessen Kausalitätsbeziehungen erklärbar gemacht werden. Und als letzten Punkt schließlich nennt Grosz die Unfähigkeit der Freud’schen und Lacan’schen Psychoanalyse, mit weiblicher Sexualität und Körperlichkeit positiv umzugehen, weshalb es unbedingt notwendig sei, Alternativen zu suchen, die den »Mangel«, der Weiblichkeit zugeschrieben wird, aufheben. Grosz unternimmt nun den Versuch, eine unhintergehbare Verquickung von spezifisch sexuierten Körpern mit entsprechenden Subjektivitäten anzuvisieren. Zentrale Begrifflichkeiten hierbei sind: Flüssigkeiten, Ströme, Dehnbarkeit, Unabgeschlossenheit. Diese je anders strukturierten Körper sind nun – so Grosz – notwendigerweise zutiefst mit einer spezifisch weiblichen oder männlichen Subjektivität verknüpft. Doch diese stehen nun nicht etwa im Gegensatz zueinander, sondern werden als »effect of the pure difference that constitutes all modes of materiality« begriffen, das heißt, neue Termini sind unabdingbar, um diese Andersheit innerhalb und außerhalb des Subjekts denken zu können. Sexuelle Differenz kann somit als Basis sexueller Identität verstanden werden. Sie ist »the horizon that cannot appear in its own terms but is implied in the very possibility of an entity, an identity, a subject, an other and their relations«.39 Genau diese Bestimmungsmomente sind es nun, die den sexuell markierten Körper mit dem Cyber-Körper kompatibel machen, allerdings »angereichert« mit einer psychoanalytischen Fassung der Erinnerungsspuren, der Körper-Bahnungen sowie eines unbewussten Körperbildes, dessen Matrix jene abgeben.

38 | Vgl. Elspeth Probyn: »Queer Belongings. Eine Politik des Aufbruchs«, in: Marie-Luise Angerer (Hg.), The Body of Gender. Körper. Geschlechter. Identitäten, Wien 1995, S. 34. 39 | E. Grosz: Volatile Bodies, a.a.O., S. 209.

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Medienkörper/Körper-Medien (1999) | 305 Denn während bei Deleuze/Guattari Subjekt und Objekt keine einander entgegengesetzten Entitäten bilden, so sehr sind für Donna Haraway »kein Objekt, Raum oder Körper […] mehr heilig und unberührbar; jede beliebige Komponente kann mit jeder anderen verschaltet werden, wenn eine passende Norm oder ein passender Code konstruiert werden kann, um Signale in einer gemeinsamen Sprache auszutauschen«.40

Doch wenn »die Cyborg« bei Haraway ein Mädchen ist, »who doesn’t want to become Woman«, steht die Metapher im Rahmen der Haraway’schen Position für eine »postgendered world«, eine Welt, in der geschlechtliche Identitäten problematisch und unsicher herstellbar geworden sind. Hierzu ein kleiner Auszug aus Marge Piercys Roman »Er, Sie und Es«41 – ein Dialog zwischen Jod, einem Cyborg, und Shira, seiner Programmiererin, die sich ineinander verliebt haben: Shira: »Ich habe mich immer gefragt, ob das, was Männer fühlen, annähernd dem ähnelt, was Frauen fühlen. Jod: Da ich kein Mann bin, weiß ich es nicht. Aufgrund von Beobachtung vermute ich, daß deine Lust intensiver ist als meine. Meine ist mental. Ich bin programmiert, gewisse neurale Erlebnisse anderen vorzuziehen und höher zu bewerten. Das nenne ich Lust.«42

Das heißt, die Metapher des/der Cyborg führt die Künstlichkeit geschlechtlicher Identitäten vor Augen, benennt Geschlecht als Artefakt. In diesem Sinne sind wir – wie Haraway geschrieben hat – alle immer schon Cyborgs. Doch für Haraway ist dies eine Entwicklungsstufe innerhalb kapitalistischer Gesellschaftssysteme, aus der es kein Entrinnen gibt, außer ihre kritische Annahme und damit möglicherweise ihre Subversion. Doch sitzt der/die Cyborg vielleicht tiefer in uns, als wir bisher geneigt waren anzuerkennen. Hierfür möchte ich nochmals jene psychoanalytische Definition von Identität aufgreifen und ihr Verhältnis zu Repräsentation in Erinnerung rufen: eine Identität auf Distanz (Silverman), der in ihrer Repräsentation notwendigerweise immer etwas entgeht. Gemeint ist damit jener Umstand, dass Repräsentation – als Dar- und Vorstellung – nicht lückenlos greift, dass sozusagen immer etwas »außerhalb« oder »jenseits« verbleibt, was sich entzieht. Nicht dem Gehirn des/der Cyborg, aber dem des Menschen. Und zwar dem weiblichen wie dem männlichen – becoming gender und doing gender – sind jene Strategien, die nicht gänzlich

40 | Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Aus dem Engl. v. Dagmar Fink et al., Frankfurt a. M., New York 1995, S. 50. 41 | Marge Piercy: Er, Sie und Es, Hamburg 1993. 42 | Ebd., S. 220.

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306 | Marie-Luise Angerer einholbar sind, die in gewisser Weise als vorgesetzt in ihrer Nachträglichkeit angenommen werden müssen. Medienkörper und Körpermedien verweisen in ihrer unhintergehbaren Verschränkung auf eine immer schon gedoppelte Struktur von Körper und Geschlecht, auf zwei unterschiedliche gleichzeitige »Räume«. Und wenn Paul Virilio von einer »Stereo-Realität« im Kontext der neuen Medientechnologien spricht und damit eine gleichzeitige Anwesenheit in zwei unterschiedlichen Räumen meint, möchte ich diese Stereo-Realität in einem psychoanalytischen Sinn interpretieren, als Spiegel- oder Repräsentationsraum und als realer Raum. Dazu hat Margaret Morse in einer Arbeit über Frauen und Aerobics geschrieben, dass die Konsequenz ein »imaginärer ganzer Körper in Bewegung« vor dem repräsentierten Ideal wäre: »What we see is the construction of an imaginary with which we do more than identify: we attempt to incorporate it. We construct the imaginary of wholeness, of bodily perfection, by matching two different kinds of space: mirror or represented space and real space.«43 Dies verdeutlicht, dass wir nie das haben, was wir sind, dass wir nie sind, was wir haben, oder in leichter Abwandlung von Deleuze, dass man nicht das sieht, wovon man spricht, und man nicht über das spricht, was man sieht.44

Literatur Adams, Parveen: The Emptiness of the Image. Psychoanalysis and Sexual Difference, London, New York 1996. Baudrillard, Jean: »The Ecstasy of Communication«, in: Hal Foster (Hg.), Postmodern Culture, 4. Aufl., London, Concord/MA 1990, S. 126-130. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991 [1896]. Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1990. Bukatman, Scott: Terminal Identity, Durham, London 1993. Burgin, Victor: »Diderot, Barthes, Vertigo«, in: Victor Burgin/James Donald/Cora Kaplan (Hg.), Formations of Fantasy, London, New York 1986, S. 85-108. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991 (im Original: Gender Trouble – Feminism and the Subversion of Identity, New York, London 1990).

43 | Margaret Morse: »Artemis Aging: Exercise and the Female Body on Video«, in: Discourse, Journal for Theoretical Studies in Media and Culture 1, 19871988, 10. Jg., S. 32-33. 44 | Vgl. G. Deleuze: Foucault, a.a.O., S. 168f.

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Medienkörper/Körper-Medien (1999) | 307 Butler, Judith: »Phantasmatische Identifizierung und die Annahme des Geschlechts«, in: Institut für Sozialforschung (Hg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt a. M. 1994, S. 101-138. De Lauretis, Teresa: Technolgy of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington, Indianapolis 1987. Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a. M. 1987. Derrida, Jacques: »Freud und der Schauplatz der Schrift«, in: Ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972 [1967], S. 302-350. Freud, Sigmund: »Notiz über den »Wunderblock« (1925)«, in: Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt a. M. 1982, S. 363-370. Grosz, Elizabeth: Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism, Bloomington, Indianapolis 1994. Hartwig, Helmut: Die Grausamkeit der Bilder. Horror und Faszination in alten und neuen Medien, Weinheim, Berlin 1986. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Aus dem Engl. v. Dagmar Fink u.a., Frankfurt a. M., New York 1995. Hayles, Kathryn N.: »The Seductions of Cyberspace«, in: Verena Andermatt Conley (Hg.), Rethinking Technologies, Minneapolis, London 1993, 173-190. Kaltenecker, Siegfried: »Nach dem Ende der Gewißheiten. Chantal Mouffe, Ernesto Laclau und das postmarxistische Denken«, in: Volksstimme 15 (April 1995). Kingwell, Mark: Dreams of Millenium. Report from a Culture on the Brink, Toronto 1996. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion«, in: Schriften I., Frankfurt a. M. 1974, S. 61-70. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 2. Aufl., Weinheim 1987. Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: »Fantasy and the Origins of Sexuality«, in: Victor Burgin/James Donald/Cora Kaplan (Hg.), Formations of Fantasy, London, New York 1986, S. 5-34. Morse, Margret: »Artemis Aging: Exercise and the Female Body on Video«, in: Discourse, Journal for Theoretical Studies in Media and Culture 1 (1987-1988), 10. Jg., S. 20-54. Moss, David: »Memories of Being. Orlan’s Theatre of the Self«, in: Art + Text 54 (1996), S. 67-72. Piercy, Marge: Er, Sie und Es. Aus dem Engl. v. Heidi Zerning, Hamburg 1993. Probyn, Elspeth: »This Body Which is Not One: Technologizing an Embodied Self«, in: Hypathia, Special Issue: Feminism and the Body (Fall 1991), S. 111-124. Probyn, Elspeth: »Queer Belongings. Eine Politik des Aufbruchs«, in: Marie-Luise Angerer (Hg.), The Body of Gender. Körper. Geschlechter. Identitäten, Wien 1995, 53-68.

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308 | Marie-Luise Angerer Shepherdson, Charles: »The Role of Gender and the »Imperative« of Sex«, in: Joan Copjec (Hg.), Supposing the Subject, London, New York 1994, S. 166-170. Silverman, Kaja: The Treshold of the Visible World, New York, London 1996. Springer, Claudia: »The Pleasure of the Interface«, in: Screen 32/3 (1991), S. 303-323. Stocker, Gerfried: »›Memesis‹ – die Zukunft der Evolution«, http://www. aec.at/. Turkle, Sherry: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet, New York, London, Toronto 1995. Virilio, Paul: Paul Virilio im Gespräch mit Bion Steinborn, in: Filmfaust (1994), Heft 89-90, S. 24-49. Virilio, Paul: »Global Algorithm 1.7. The Silence of the Lambs: Paul Virilio in Conversation«, in: CTheory, hg. v. Arthur and Marilouise Kroker, 06. Dezember 1996. Zizek, Slavoj: »Über virtuellen Sex und den Verlust des Begehrens«, in: Karl Gerbel/Peter Weibel (Hg.), Mythos Information. Welcome to the Wired World, Ars Electronica 1995, Wien, New York 1995, S. 122-129. ^ ^

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Refugia. Manifest zur Schaffung Autonomer Zonen (2002) | 309

Refugia. Manifest zur Schaffung Autonomer Zonen (2002) subRosa

Refugia: Ein Ort relativ unveränderten Klimas, der von Pflanzen und Tieren in einer Phase kontinentalen Klimawandels (einer Eiszeit) bewohnt wird und eine Enklave der Arterhaltung bleibt, von der die Wiederausbreitung der Spezies’ nach einem Klimaausgleich ausgehen kann (Webster’s New Collegiate Dictionary, 1976). Refugia: Ackerparzellen, auf denen nicht transgenisches Saatgut im Wechsel mit transgenischem Saatgut angebaut wird. Dies soll die Resistenz vor Mutationen bei anfälligen Insekten und Getreidesorten durch Gen-Transfer von genmanipulierter GM-Monokultursaat verlangsamen. Refugia: Eine entstehende autonome Zone gewünschter Vermischungen und Rekombinationen, Splitting von weiblicher sexueller Befreiung und Autonomie mit cyberfeministischen Skills, Theorie, VerKörperung und politischem Aktivismus. Refugia: Ein kritischer Raum für befreites soziales Werden und intellektuelles Leben; ein Raum, frei von kapitalistischer und taylorisierter Produktion; ein Raum nicht regulierter, nicht vom Zeitmanagement erfasster Lebenszeit für kreativen Austausch und Spiel; experimentelle Aktion und Lernen; Wunschproduktion, Kochen, Essen und Skill Sharing. Refugia: Ein reproduzierbares Konzept, das für verschiedene klimatische Bedingungen angepasst werden kann, an verschiedene Ökonomien und geografische Zonen der Welt. Jeder nutzlose Raum kann als Refugium beansprucht werden: Vorstadt-Rasenflächen, leere städtische Grundstücke, Dächer, die Randzonen von Ackerland, kahlgeschlagene Zonen in Wäldern, besetzte Sektionen monokulturalisierten Ackerlandes, unbebautes Land, Getreidespeicher, Grenzgebiete, Schlachtfelder, Bürogebäude, Kasernen usw. Außerdem bereits existierende Refugien wie multikulturali-

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310 | subRosa sierte Reisfelder, genossenschaftlich bewirtschaftete Felder, Bio-Farmen, Gemüsegärten usw. Refugia: Eine postmoderne Gemeinschaft; ein resistenter, die Biotech besiegender Garten; ein Raum des gemeinsamen Überlebens und Bastelns; ein Königreich,1 in dem allgemeines Recht herrscht; kein Rückzugsgebiet, sondern ein Ort der Resistenz gegen Monokultur in all ihren sozialen, umwelt- und kontextspezifischen libidinösen politischen und genetischen Formen. Refugia: Habitat für die Entstehung von AMOs (Autonome sich selbst modifizierende Organismen) und Agit Crops, z.B. ProActiva, ein Kraut, das durch die Veredlung von Hexenwurzel, Alraune und Allheil hergestellt wird. Refugia: Zufluchtsstätte für die Erholung, Regenerierung und Rekonstituierung naturbelassenen Saatguts, das vom kapitalistischen Virus oder agrarwirtschaftlicher Gier befallen worden ist. Refugia: Ein Raum für fantasievolle Trägheit, die die Maschinerie der Agrar-Biotech-Firmen verlangsamt und stattdessen Zeit schafft, um die damit verbundenen Risiken und Vorteile durch langfristige Testreihen abwägbar zu machen. Refugia: Weder Utopie noch Dystopie, sondern ein gefährdeter Ort reverser Technologien, der von Rekombination, Differenz, polyvalenter Hybridisierung, Mischlingen, Anomalien, Mutationen, nutzloser Schönheit, Koalitionen, Agit Crops und ungehörigen Sprösslingen heimgesucht wird. Die biotechnologische und transgenische Arbeit in Refugia basiert auf Begehren, dem Prinzip gemeinsamer und konsensueller Risikoabwägung, den Experimenten gut informierter Amateure, wettbewerbsorientierter Politik, Nähr- und Geschmacksurteilen, nicht-proprietärem Expertentum, gemeinschaftlichem Vergnügen und Heilen. Refugia: subRosas permanentes cyberfeministisches Gewächshaus für Strategieentwicklung und taktische Aktion. Übersetzung aus dem Englischen: Karin Bruns

1 | Im Original: »Commonwealth«; das Wortspiel von »common wealth« und »common law« ist in dieser Form nicht ins Deutsche übertragbar.

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Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking

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) T05-00 resp V.p 142895398624

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) vakat 312.p 142895398648

Einleitung | 313

Einleitung

Für die Theorie und Praxis kollektiver Strategien im Bereich der Neuen Medien – Hactivism, Open Source Movement, Free Software Movement, E-Democracy, Electronic Civil Disobedience, Internet Activism u.a.m. – ist das 1984 veröffentlichte Buch von Steven Levy »Hackers: Heroes of the Computer Revolution«1 mittlerweile ein klassischer Referenztext. Levy beschreibt die Genese der am MIT (Massachusetts Institute of Technology) Anfang der 60er Jahre konzipierten »Hacker-Ethik«.2 1959 traf der erste moderne Computer mit der Bezeichnung »TX-0« am MIT ein. Der »TX-0« war mit einer Tastatur und einem Bildschirm ausgestattet und ermöglichte erstmals eine interaktive Benutzung. Nach der Eingabe der Programme reagierte der Computer mit Fehlermeldungen und der Benutzer musste darauf reagieren, um künftige Fehlermeldungen zu vermeiden. Um Feedback-Schleifen zu umgehen und die Programmierung effizienter zu gestalten, entwickelten die MIT-Wissenschafter Jack Dennis und Thomas Stockham Schreibprogramme (MACRO) und Programme zur Fehlersuche (FLIRT). Diese Vorgehensweise, Programmiertechniken kontinuierlich zu modifizieren und dabei Rechner, Schreibmaschinen und Spiele zu integrieren, nennt Steven Levy »hacken«.3 Mit dem Umzug der MIT-Hacker in das Labor für Artifical Intelligence, dem AI-Lab, endete zugleich der »ungeregelte« Zugriff auf die Steuerungssysteme des legendären »TX-0«. Die Hacker empfanden sich in ihrer

1 | Steven Levy: Hackers: Heroes of the Computer Revolution, New York 1984; vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel. 2 | Siehe den ersten Beitrag von Levy in diesem Kapitel. Vgl. nachfolgende Hacker-Ethiken von Paul A. Taylor: Hackers. Crime in the Digital Sublime, London 1999; Pekka Himanen: Die Hacker-Ethik und der Geist des Informations-Zeitalters, München 2001. 3 | Vgl. Jörg Pflüger: »Konversation, Manipulation, Delegation: Zur Ideengeschichte der Interaktivität«, in: Hans Dieter Hellige (Hg.), Geschichten der Informatik. Visionen, Paradigmen, Leitmotive, Berlin 2004, S. 367-408.

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314 | Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking Aktivität eingeschränkt und entwickelten als Reaktion den sogenannten »Hackerstil« und die »Hacker-Ethik«. Diese wurden nicht explizit formuliert, sondern erst nachträglich von Steven Levy sowohl narrativ als auch programmatisch verdichtet. In diesem Konnex steht die »Hacker-Ethik« für die selbsternannte »Mission«, die Kodierungen der Programme und die Normierungen ihrer sozialen Anwendungen zu entschlüsseln. Damit setzt Levy mit dem »Hacker« gleichermaßen eine rhetorische Figur in Szene, mit der er einen modernen Helden der computergestützten ars combinatoria4 stilisiert, der den unbeschränkten und umfassenden Zugang zu Computern als ein demokratisches Menschenrecht moniert. Levy geht dabei von einem subversiven Potential der Computertechnologien im Guerillakampf des Bürgers gegen die Bürokratie aus.5 Damit nimmt die Computertechnologie den Status eines Subjekts der Geschichte ein – eine Rolle, die früher dem charismatischen Leadership sozialer Revolten zugeschrieben wurde. In Abgrenzung gegenüber den Protestkulturen im urban-öffentlichen Raum geht es im Hactivism und in der Hacker Culture6 bis heute darum, politische Aktionen in der Kunst der Dematerialisierung, der Entstofflichung und der Depersonalisierung zu ermöglichen.7 Mit dem viel diskutierten Comeback des Hackers seit Mitte der 90er Jahre – einerseits im Rahmen des Polizei- und Kontrolldiskurses im Schatten des »Information Warfare«8 und andererseits als aktivistischer Hobbyist auf

4 | Unter dem Begriff ars combinatoria wird die Kunst des Zusammensetzens verstanden, die ein von dem spanischen Scholastiker Raimundus Lullus (12321316) begründetes Verfahren bezeichnet. Durch verschiedenartige Kombinationen von Begriffen sollten neue Erkenntnisse gewonnen werden. Dem deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) schwebte ebenfalls eine Kunst des Kombinierens als Mittel der Wahrheitsfindung vor, die er characteristica universalis nannte. Diese Methode verweist auf einen nominalistisch begründeten Standpunkt, der davon ausgeht, dass unser Denken eine Art Rechnen mit Wortzeichen sei. Leibniz beabsichtigte, den gesamten Begriffsapparat in eine einheitliche Zeichenoder Zahlensprache zu überführen, um damit einen universell gültigen logischen Kalkül aufzustellen. Vgl. den theoretischen Ansatz von Charles Cameron in seinem Text »Die Mystery-Games der Antike« im Kapitel »Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture«. 5 | Mark Dery: Culture Jamming. Hacking, Slashing and Sniping in the Empire of Signs, Westfield 1996, S. 33. 6 | Vgl. Eric Raymond (Hg.): The New Hacker’s Dictionary, Cambridge, bisher in 3 Aufl.: 1991, 1993, 1996; Thomas Douglas: Hacker Culture, Minneapolis 2002. 7 | Vgl. David J. Gunkel: Hacking Cyberspace, Boulder 2001, S. 16ff. 8 | Mit »Information Warfare« wird eine globale Konkurrenzsituation bezeichnet, in der Wissen als eine ökonomische Güterart firmiert.

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Einleitung | 315 dem Feld der Neuen Medien9 – transformierte sich auch die politische Kultur widerspenstiger Praktiken und mit ihr die Methode und Ästhetik der politischen Intervention. Der Hacker wurde als Akteur einer unsichtbaren und anonymen Subversion gesellschaftlicher Macht stilisiert, der sich – im idealen Fall – den Festschreibungen souveräner und autonomer Subjektivität entziehen könne und überdauerte damit die revolutionären Narrative der gegenkulturellen Konzepte der 68er. Als (»erfolgreicher«) Hacker galt fortan derjenige, der seine Aktivitäten darauf beschränkt, die Lücken des Programms als ein taktischer Spieler aufzuzeigen – ohne Spuren zu hinterlassen. Werden Hacker allerdings auf die Individualgeschichte eines cleveren Users reduziert, der sich Informationen für seine eigenen subversiven Zwecke aneignet, dann bleibt die Dimension des Politischen und das explizit politische Engagement von Hackern fragwürdig.10 Entlang dieser Problemlage versucht die vom »Critical Art Ensemble« im Jahr 1996 veröffentlichte Schrift »Electronic Disobedience and Other Unpopular Ideas«11 Antworten zu formulieren. Das vom Künstlerkollektiv gemeinsam verfasste Buch beschäftigt sich mit der theoretischen Erforschung von Möglichkeiten des politischen Widerstands im Cyberspace. Die Grundthese des Buchkapitels »Elektronischer ziviler Ungehorsam« lautet, dass sich die Prozeduren und Repräsentationen der Macht aus den gewohnten Geltungsbereichen in die elektronischen Netze verlagern. Aus dieser Gesellschaftsdiagnose wird im Text die These der allgemeinen Option auf »Ungehorsam« abgeleitet: Jeglicher effektive Widerstand gegen die Ausprägungen globaler Macht unter den Bedingungen der Neuen Medien müsse nun ebenfalls in das Netz verlagert werden. Ausgehend von dieser Feststellung des sozialen Transformationsprozesses entwickeln die Autor/ -innen des »Critical Art Ensemble« ein theoretisches Modell, das die Idee des zivilen Ungehorsams aus dem »wirklichen Leben« in die »virtuelle Welt« verschiebt und nennen es »elektronischen zivilen Ungehorsam«. In dem programmatischen Text des »Critical Art Ensemble« werden ferner die Potentiale des zivilen Ungehorsams in Form von Straßenprotest, Unruhen und Störungen städtischer Infrastruktur erörtert. Es wird danach

9 | Debora Halbert: »Discourses of Danger and the Computer Hacker«, in: The Information Society 13 (1997), S. 361-374. 10 | So positionieren sich nur wenige »Einzelhacktivisten« explizit als politisch, wie z.B. Renaud Courvoisier, der sich mit automatischen Spam-Programmen beschäftigt: Im Jahr 2000 legte seine MAIL-O-MATIC-Kampagne die Webseite eines multinationalen Investment-Unternehmens für fünf Tage lahm. 11 | Critical Art Ensemble: Electronic Disobedience and Other Unpopular Ideas, New York 1996. Sämtliche Werke des »Critical Art Ensemble«, einschließlich »Electronic Civil Disobedience and Other Unpopular Ideas«, sind bei Autonomedia (New York) erschienen; vgl. ihren Beitrag in diesem Kapitel. Die Bücher und einzelnen Texte können unter http://mailer.fsu.edu/~sbarnes kostenlos heruntergeladen werden.

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316 | Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking gefragt, wie solche Praktiken in eine künftige Cyber Culture, die den einzelnen User in seiner Widerständigkeit ermächtigt, übertragen werden können. Dabei geht es hauptsächlich um das Blockieren von Information – erst zweitrangig um das Blockieren von Warentransporten oder Menschen. Diese »virtuellen Blockaden« schließen jedoch Wechselwirkungen und kausale Verknüpfungen mit den Formen des klassischen Protestes vor Ort nicht aus und können daher ebenfalls am Feld militärischer, kommerzieller oder Regierungseinrichtungen erfolgen. Aktionsformen des »virtuellen zivilen Ungehorsams«, wie sie auch von Ricardo Dominguez vom »Elektronik Disturbance Theatre« propagiert wurden, sind etwa »Netz-Sit-ins« und »Blockaden«.12 1999 inszenierten z.B. die britischen »Elektrohippies« während der globalisierungskritischen Protestaktionen gegen die WTO-Konferenz in Seattle ein »virtual Sit-in« auf der Webseite der Welthandelsorganisation, an welchem mehr als 400.000 Netzaktivist/-innen teilnahmen.13 Die Grundidee dieser Aktion bestand darin, die Webseiten einer Institution oder eines Konzerns mittels einer »Denial-of-Service«-Aktion zu blockieren, indem möglichst viele Menschen zu einer vereinbarten Zeit auf diese Seiten zugreifen und die Homepage dadurch kurzfristig sabotieren. Im Zentrum der Netzkritik des »Critical Art Ensemble« steht daher die Entwendung von strategischen Vorgaben durch alltägliche Taktiken. Mit dieser subversiven Praxis des zivilen Ungehorsams sind zwei grundlegende Bedingungen verknüpft: Erstens wird entgegen utopischer Konzepte stets innerhalb der Räume repräsentativer Ordnung agiert; zweitens werden Medien nicht neu erfunden, sondern bereits vorhandene Medientechnologien auf eine geschickte Weise enteignet und für einen anderen Gebrauch benutzt.14 Vor diesem Hintergrund eröffnen die Bedingungen netzbasierter Kommunikation Spielräume für Verfremdungen aller Art, die ein zentrales Prinzip der sogenannten »Kommunikationsguerilla« (auch Informationsguerilla, Medienguerilla) darstellen15 – damit wird eine Form des politi-

12 | Um diesen Ansatz hat sich insbesondere das Elektronik Disturbance Theatre verdient gemacht. Deren Software »Floodnet« wird seit 1998 für Aktionen von der Unterstützung der Zapatisten bis hin zur Verteidigung einer Kunst-Internetdomäne gegen einen Konzern mit ähnlichem Namen im Toywar genutzt. Siehe die Interviews mit Ricardo Dominguez in »Telepolis«, 18. Februar 2000, http:// www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/5809/1.html, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006. 13 | Siehe das Online-Archiv der Elektrohippies, http://www.fraw.org.uk/ehip pies, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006. 14 | Vgl. zur Politik des taktischen Verhaltens den Beitrag von Jayne Armstrong in diesem Kapitel. 15 | Siehe das kanonische Referenzbuch zum Thema autonome a.f.r.i.k.a.gruppe: Luther Blisset/Sonja Brünzel (Hg.): Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin 1997.

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Einleitung | 317 schen Aktivismus bezeichnet, der die klassische Guerilla-Taktik auf den Bereich von Information und Kommunikation überträgt. In lokalen und temporären Operationen werden gezielt Information bzw. Desinformation eingesetzt, um taktische Ziele – die Subversion von Kommunikationsstrukturen – umzusetzen. Nach der Definition der »autonomen a.f.r.i.k.a.-gruppe« unterscheidet sich »die Kommunikationsguerilla von traditionellen politischen Aktionsformen dadurch, dass sie bewusst die Bedeutungsdichte von Bildern und Narrationen ausschöpft«.16 Die Methoden der Kommunikationsguerilla versuchen die kulturellen Kodes hegemonialer Diskurse zu dekonstruieren, um ihr fragloses und selbstverständliches Funktionieren sicht- und sagbar zu machen. Dabei bedienen sich ihre Akteure multipler Namen, imaginärer Personen oder kollektiver Mythen.17 Die Theoretiker der Kommunikationsguerilla berufen sich unter anderem auf Umberto Eco18, Michel de Certeau19 und Noam Chomsky20 sowie implizit auf die Thesen

16 | autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe: »Kommunikationsguerilla – Transversalität im Alltag?«, in: http://ww.republicart.net/disc/artsabotage/afrikagruppe01_de.htm, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006; vgl. ihren Beitrag in diesem Kapitel. »Kommunikationsguerilla« ist der Oberbegriff für unterschiedliche Aktionsformen wie »Culture Jamming«, (mit »Culture Jamming« ist die Umkehrung der Zeichen gemeint, die Umcodierung der Signifikanten, mit denen Werbebotschaften soziale Identifikationsangebote suggerieren; vgl. Kalle Lasn: Culture Jamming. Die Rückeroberung der Zeichen, aus dem Amerikanischen übersetzt von Tin Man, Freiburg i. Br. 2005), »Adbusting« (»Adbusting« bezeichnet eine Form des kreativen Widerstandes, bei dem Werbeplakate, Slogans und Logos zum Zwecke der kritischen Antiwerbung umgestaltet werden; der Begriff »Adbusting« kommt aus dem Englischen und setzt sich zusammen aus »ad« [Werbung] und »to bust« [zerschlagen]; vgl. den Bestseller von Naomi Klein: No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht, München 2001), »Trolls« (im Internet werden User als »Troll« bezeichnet, die Beiträge verschicken, mit denen sie erkennbar nur provozieren wollen, ohne einen wirklichen Beitrag zur Diskussion zu leisten; die Beiträge selbst werden meist als »Troll«, »Troll-Post« oder »Troll-Posting« benannt) oder »Hoaxes« (als »Hoax« bezeichnet man eine »Falschmeldung«, mit welcher der sogenannte »Wahrheitsgehalt« von Informationen in Nachrichtenmedien in Frage gestellt wird) u.v.a.m. 17 | So arbeitet etwa der Neoismus mit kollektiven Pseudonymen und Identitäten, Plagiaten und Fälschungen. Neoismus ist der Name eines subkulturellen Netzwerks künstlerischer Performance- und Medienexperimentatoren. Der Neoismus entstand im Jahr 1979 aus dem Netzwerk der Mail Art heraus. 18 | Umberto Eco: »Für eine semiologische Guerilla«, in: Ders., Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München 1985, S. 146-156. 19 | Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988. 20 | Noam Chomsky: Media Control. Wie Medien uns manipulieren, Hamburg 2003.

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318 | Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking der Cultural Studies zur kreativen und eigensinnigen Medienrezeption.21 Bereits 1985 bezeichnete Umberto Eco in seinem programmatischen Text »Für eine semiologische Guerilla« Versuche, die herrschenden Diskurse anders als durch Argumentation und Agitation zu kritisieren, mit der Metapher »Guerilla«.22 Wie bei seiner »semiologischen Guerilla« geht es in Bezug auf die künstlerische Gestaltung um einen abweichenden Gebrauch von Zeichen auf der Ebene der »Bedeutungssubversion«. Nach dem politischen Selbstverständnis der Kommunikationsguerilla wird Hegemonie und Macht nicht durch Aufklärung und Gegenöffentlichkeit kritisiert. Die »Wahrheit« soll nicht mit den »richtigen« Fakten und »wirklichen« Informationen aufgezeigt werden, vielmehr wird darauf abgezielt, die kulturelle Grammatik der Inszenierungen von Macht und Herrschaft zu unterlaufen und zu delegitimieren.23 Damit ist nicht eine Simulation medialer Repräsentation gemeint, wie etwa Webpage-Defacement oder Piratensender, sondern vielmehr der künstlerisch-kreative »Missbrauch« etablierter Kommunikationsstrukturen. Dabei ist der in internet-basierten Medien (Newsgroups, Mailinglisten, Open-Source-Projekten) vorkommende »Spaßfaktor« der bloßen Fiktionalisierung von Identitäten (Troll) zu unterscheiden von den Ambitionen der Kommunikationsguerilla, die auf eine ethische Dimension abzielt, um z.B. eine Intoleranz von vorgeblich Toleranten zu entlarven. Zentral sind dabei u.a. die vordigitalen Kulturtechniken der Camouflage, der Collage, der Übertreibung und des Fake, die auf die Subversion herrschender Sprachkonventionen und Symbolsysteme abzielen.24

21 | Vgl. die medienwissenschaftliche Analyse der Kommunikationsguerilla von Marcus S. Kleiner, mit der eine konzise historische Kontextualisierung erarbeitet wurde: »Semiotischer Widerstand. Zur Gesellschafts- und Medienkritik der Kommunikationsguerilla«, in: Gerd Hallenberger/Jörg-Uwe Nieland (Hg.), Medienkritik heute: Werkanalyse, Nutzerservice, Sales Promotion oder Kulturkritik, Köln 2005, S. 316-368, zum oben erwähnten Zusammenhang siehe S. 358. 22 | Vgl. U. Eco: Für eine semiologische Guerilla, a.a.O., S. 146-156. 23 | Vgl. die exemplarische »Fallgeschichte« des Kollektivs »Yes Men«: The Yes Men: The True Story of the End of the WTO, New York 2004. 24 | Die »Camouflage« dient dazu, Ziele und Praktiken der Kommunikationsguerilla mit einer Verkleidung zu verschleiern, welche die herrschenden Ausdrucksund Sprachmittel imitiert, um subversive Inhalte zu transportieren. Mit der Methode der »Collage« wird der Versuch unternommen, selbstverständliche Wahrnehmungsmuster sozialer Konventionen durcheinanderzubringen und damit Verunsicherung zu schaffen. Dabei werden vertraute Begriffe und Bilder dekontextualisiert und in einem neuen, meist den bisherigen Begriff kritisierenden Kontext umgedeutet (Verfahren der Parodie und der Travestie). Mit der Inszenierung subversiver Affirmation, der »Übertreibung«, soll eine Distanz zu hegemonialen Aussagesystemen geschaffen werden, indem diese durch die vordergründige, übertriebene Bestä-

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Einleitung | 319 Die erwähnten Verfahrensweisen ästhetischer Subversion verweisen sowohl auf die gegenwärtigen technischen Kommunikationsbedingungen von politischem Aktivismus und sozialem Protest als auch auf den Bedeutungszuwachs symbolischer Praktiken innerhalb des politischen Diskurses. Wenn folglich davon ausgegangen wird, dass der soziokulturelle Transformationsprozess eng an die Kontinuitäten und Zäsuren der Medienkulturen geknüpft ist, dann stellt die populäre Annahme einer Substitution des »Real Life« durch das »Virtual Life« eine unzureichende Vereinfachung dar – diese kann der Thematisierung der sozialen Dynamik von Medienkulturen nicht gerecht werden. Im Kontext dieser praktischen »Umnutzung« bestehender Medienordnungen sind es in erster Linie temporäre Widerstände und die »ununterbrochene Bewegung von Bedeutung«, die als emanzipatorische Verfahrensweisen der Netzkritik debattiert werden.25 In seinem Buch »Orte und Nicht-Orte« beschreibt der französische Anthropologe Marc Augé Orte radikaler Anonymität. »Nicht-Orte« wie etwa die Autobahn, der Flughafen, der Supermarkt oder der Themenpark haben keinen örtlichen Charakter mehr; sie haben die Eigenschaft des strukturierten Handlungsraumes verloren. Es sind identitätslose Orte, die keine realen Beziehungen zu anderen Orten aufweisen und keine »Geschichte« besitzen.26 In einer angewandten Begriffsverwendung kann mit dem »Nicht-Ort« auch die medienspezifische Bedingung des Internet bezeichnet werden. Entscheidend ist für die Neukonzeption politischer Praxis und Ästhetik, dass der »Nicht-Ort« nun eine affirmative Wende vollzieht, indem mit ihm eine bestimmte Weise politischer Aktivität veranschlagt wird – etwa sich den Registrierungs- und Identifizierungstechniken machtausübender Praktiken zu entziehen. In diesen flüchtigen Beziehungen und mehrdeutigen Interaktionen kann man sich strategisch und taktisch, aber nicht systematisch verhalten. Taktisches Handeln hat folglich keinen eigenen Ort und somit auch keine Grenze. Ohne auf einen eigenen Ort angewiesen zu sein, bewegt sich taktisches Handeln innerhalb kodierter Machtbeziehungen, die es selbst nicht hervorgebracht hat. Auf diese Thematik des »Nicht-Ortes« bezieht sich die »autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe«27 in ihrem 1996 veröffentlichten Text »Bewegungs-

tigung in ihr Gegenteil verwandelt wird. Mit der Methode des »Fake« werden »Facts and Figures« sogenannter authentischer Ereignisse geschaffen, um die Mechanismen, die den Medien und der Politik zur Herstellung von sozial wirksamer Faktizität dienen, offenzulegen. 25 | Vgl. Geert Lovink/Pit Schulz, »Aufruf zur Netzkritik«, in: Nettime (Hg.), Netzkritik. Materialien zur Internetdebatte, Berlin 1997, S. 5-14. 26 | Vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 92f. und 110ff. 27 | autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe: Bewegungsle(e/h)re? Anmerkungen zur Ent-

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320 | Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking le(e/h)re? Anmerkungen zur Entwicklung alternativer und linker Gegenöffentlichkeit« und setzt sich dabei kritisch mit dem alternativen Begriff der »Gegenöffentlichkeit« unter den Vorzeichen des »Internet-Hypes« auseinander. Dabei untersucht das Kollektiv in einer ersten Sondierung die »linke Version des Mythos von der ›Informationsgesellschaft‹«. In einer darauf folgenden Klärung des Stellenwerts der Medien in den Konzepten der linken Gegenöffentlichkeit während der sogenannten »Blütezeit der sozialen Bewegungen« wird eine wichtige Unterscheidung vorgenommen. So wird hinsichtlich ihrer Funktion idealtypisch zwischen »alternativen« und »eigenen« Medien unterschieden. Schließlich wird der Versuch unternommen, Konsequenzen für die Rekonstruktion eines politischen Projekts einer radikalen Linken aufzuzeigen, die sich vor dem Hintergrund aktueller Tendenzen im Bereich »Gegenöffentlichkeit« ergeben können. Die »autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe« spricht sich für ein Konzept der »Gegenöffentlichkeit« aus, in dem nicht mehr unterstellt wird, dass den – noch nicht aufgeklärten – Subjekten nur die Fakten präsentiert werden müssten, damit sie entsprechend »vernünftig« oder »rational« handeln. Die »neuen« und »vielversprechenden« Möglichkeiten der Netzkommunikation erscheinen der »autonomen a.f.r.i.k.a.-gruppe« vor allem als ein Regulierungsproblem: »In den 90er Jahren war die Wahrnehmung des Internets im gesellschaftlichen Diskurs durch Metaphern geprägt, die das Netz in Analogie zur Geografie des öffentlichen Raums als virtuellen Parallelraum dachten. Diese Metaphern prägen nach wie vor die kommerzielle und administrative Aneignung des Internets: Die Internetnutzerin bewegt sich auf »Datenautobahnen«, soll ein »Web-Portal« durchschreiten, über virtuelle Einkaufszeilen flanieren und dort ihren virtuellen Einkaufskorb füllen, und erledigt ihre Behördengänge im »virtuellen Rathaus«. Diese geografische Metaphorik entspringt einer Machtlogik, die versucht, sich den komplexen, offenen und vieldimensionalen Raum der digitalen Kommunikation zu unterwerfen.«28

wicklung alternativer und linker Gegenöffentlichkeit, 1996, http://www.contrast. org/KG, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006. Die Gruppe betreibt seit 2004 auch eine »Blogchronik der Kommunikationsguerilla«: http://kommunikationsguerilla. twoday.net/. In diesem Weblog finden sich zahlreiche Hinweise zur Praxis und Theorie der Kommunikationsguerilla als auch auf Texte der a.f.r.i.k.a.-gruppe im Netz. Ein Weblog ist eine sogenannte Social Software, bei der eine unbestimmte Anzahl von Personen gemeinsam eine Webseite inhaltlich gestalten kann. Weblogs zählen zu den Internetwerkzeugen für Koordinierung und Kooperation sozialer respektive politischer Praxis. 28 | autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe: »Stolpersteine auf der Datenautobahn? Politischer Aktivismus im Internet«, in: ak – analyse + kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis 490 (2004), http://www.akweb.de/ak_s/ak490/06.htm, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006.

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Einleitung | 321 Die administrative und polizeiliche Regulierung des Cyberspace überträgt also das Raummodell des umgrenzten Territoriums und der segmentierten, kodierten und überwachten Stadt auf den »virtuellen« Parallelraum.29 Die Transformation des Cyberspace in einen »lückenlos« kodierten Kontrollraum wird hier als politische Stratifizierung verstanden. Als Strategie bezeichnet der bereits erwähnte französische Geschichtsphilosoph Michel de Certeau »die Berechnung (oder Manipulation) von Kräfteverhältnissen, die in dem Moment möglich wird, wenn ein mit Willen und Macht versehenes Subjekt ausmachbar ist. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes beschrieben werden kann und somit als Basis für die Organisierung von Beziehungen zu einer Exterritorität dienen kann, seien das Stoßrichtungen oder Bedrohungen […]. Im Gegensatz zu den Strategien […] bezeichne ich als Taktik ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist. […] Sie macht einen Schritt nach dem anderen. Sie profitiert von ›Gelegenheiten‹ und ist von ihnen abhängig; sie hat keine Basis, wo sie ihre Gewinne lagern, etwas Eigenes vermehren und Ergebnisse vorhersehen könnte. Was sie gewinnt, kann nicht gehortet werden.«30

Diese konkreten Techniken des taktischen Gebrauchs des Internet sondiert der Aufsatz »Der Datendandy« (1994) der »Agentur Bilwet«.31 Die Wortschöpfung »Bilwet« steht für »Bevordering van de illegalen wetenschap« – die Förderung der illegalen Wissenschaft – und ist der Name für ein Amsterdamer Autorenkollektiv, das seit 1983 die Möglichkeiten des Einsatzes subversiver Medien theoretisch und praktisch erforscht.32 In Büchern, Lesungen, Radiosendungen und auf Medienmessen beschäftigen sie sich mit der Entwicklung der Medien, ihrer Wirkung auf die Gesellschaft und ihrer Relevanz für linke Bewegungen. Mit ihrer programmatischen Schrift »Der Datendandy. Über Medien, New Age, Technokultur« (1994) entwerfen die Autoren der »Agentur Bilwet« das Modell einer Lebensstilfigur, die sich der operationalen Schließung medial hergestellter Gemeinschaft zu entziehen versteht. Der »Datendandy« entsteht in der Ära der Gesellschaftsparanoia vor der totalen Medialisierung und Digitalisierung des Lebens. So wie der »Flaneur« bei Charles Baudelaire und Walter Benjamin die Straßen ziellos durchkreuzte, surft er durchs Internet, um aus der

29 | Vgl. zu dieser Thematik den Beitrag von Shawn Miklaucic im Kapitel »Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments«. 30 | M. de Certeau: Kunst des Handelns, a.a.O., S. 87 u. 89. 31 | Agentur Bilwet: Der Datendandy. Über Medien, New Age, Technokultur, übersetzt von Petra Ilyes, Mannheim 1994; vgl. den Beitrag in diesem Kapitel. 32 | Siehe die weiteren kollektiv verfassten Bücher der Agentur Bilwet vor dem »Datendandy« in der ersten Hälfte der 90er Jahre: Bewegungslehre. Botschaften aus einer autonomen Wirklichkeit, Berlin 1991; Medien-Archiv, Bensheim, Düsseldorf 1993.

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322 | Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking Unendlichkeit von Daten seine eigene Auswahl nutzloser Informationen zu sammeln. Die Willkürlichkeit und Nutzlosigkeit der angesammelten Daten, entspricht dem nonchalanten Versuch, die Unübersichtlichkeit der im Internet aufgebotenen Informationen mittels eines ästhetischen Collage-Verfahrens zu persiflieren.33 Der »Datendandy« steht folglich für die listige Anwendung transitiver oder transversaler Operationen. Er ist ein Protagonist, der sich an den Schnittstellen unterschiedlicher medialer Systeme anlagert, ohne in ihnen als ein mit sich selbst identisches Individuum aufzugehen. Der »Datendandy« operiert über die Systemgrenzen hinweg, um immer die zwischenmenschlichen Beziehungen fokussieren zu können. Dazu muss er sich entlang der Schnittstellen und Codes innerhalb verschiedener Systeme bewegen können und interessiert sich ausschließlich für offene Systeme und die Durchlässigkeit in geschlossenen Systemen. Wie mit der Durchlässigkeit technischer Systeme mithilfe technischer Mittel experimentiert werden kann, erforscht der Textbeitrag »Smart Mobs« von Howard Rheingold.34 Mit der Wortschöpfung »Smart Mobs« werden spezielle Ausprägungsformen der Online-Community bezeichnet, die neue Medien wie Mobiltelefone und Internet benützen, um kollektive Aktionen zu organisieren. Der Begriff geht auf den gleichnamigen Bestseller des amerikanischen Psychologen aus dem Jahr 2002 zurück. »Smart Mobs« standen für einen neuen politischen Aktivismus, der die technischen Environments der Neuen Medien für die Entwicklung neuer oder erweiterter Protestformen nutzt. »Smart Mobs« (lat.: mobilis, beweglich resp. engl.: intelligente Menschenaufläufe, und engl. mob, Pöbel) oder »Flash Mobs« (engl. flash, Blitz) sind kurze, scheinbar spontane Menschenaufläufe an öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen. Sie werden über Weblogs, Newsgroups und E-Mail-Kettenbriefe organisiert. Dabei konzipieren die »Mobs« das Internet zugleich als einen politischen Handlungsraum mit einem spezifischen Politikverständnis; sie haben sowohl konstruktives als auch destruktives Potential, das sich in komplexen, nichtlinearen Systemen entfaltet und daher die Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Einzelindividuen multipliziert. Eine Voraussetzung für die soziale Relevanz, welche die Aktionen der »Smart Mobs« in den vergangenen Jahren erhalten haben, ist auch, dass es »Symbolanalytiker« wie Howard Rheingold gibt, die über entsprechendes kulturelles Kapital verfügen und die »Smart Mobs« innerhalb einer trend-

33 | Vgl. Enjott Schneider: »Von der ›niederen‹ Populärkultur zur Mutter aller Künste. Film, Multimedia, Collage als Ausdruck der postmodernen Ästhetik«, in: Walter Grasskamp/Michaela Krützen/Stephan Schmitt (Hg.), Was ist Pop? Zehn Versuche, Frankfurt a. M. 2004, S. 141-164. 34 | Howard Rheingold: »Smart Mobs: The Power of the Mobile Many«, in: Ders., Smart Mobs: The Next Social Revolution, Cambridge 2002, S. 191-202; vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel.

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Einleitung | 323 setzenden Protestkultur legitimieren. Obwohl in den Anfängen die soziale Praxis der Mobs explizit unpolitisch war, gibt es mittlerweile zahlreiche »SmartMobs« respektive »Flash Mobs« mit politischem Hintergrund.35 Schließlich soll hier mit den sogenannten »Web Mobs« eine weitere Ausdifferenzierung genannt werden, deren Tätigkeitsfeld sich ausschließlich auf das Internet beschränkt. Dabei werden eigene Programme entwickelt und benutzt, um unabhängig kommunizieren zu können. »Web Mobs« sehen sich als die nächste Generation der Social Software in der Fortsetzung der Tradition von »Smart Mobs« und »Flash Mobs«. Unter den Social-Software-Programmen, welche die sogenannte Virtual-Presence der »Web Mobs« ermöglichen, ist »LLuna 2.0« (Open Source), das im Januar 2006 als »Tool of the Day« bei GIGA (Fernsehen der Generation @) präsentiert wurde – die »Web Mobs« auf den Webseiten von »LLuna 2.0« sind als Avatare sichtbar und unterhalten sich in Sprechblasen. Auf den wechselseitigen Verweisungszusammenhang von HackingStrategien, Feminismus, Konsum und Kunst verweist Jayne Armstrong in ihrem Aufsatz »Web Grrrls, Guerilla Tactics: Young Feminisms on the Web«.36 Sie untersucht dabei die Strategien der Counter-Creativity im Webdesign junger Künstlerinnen. Mit der Simulation von Konsummustern und Lifestyle-Fakes irritieren sie die von der Werbung und der Mode geprägten körperlichen Normierungen. Anstelle der Kritik an der kanonischen Repräsentation von Frauenkörpern in Modeaufnahmen eignen sich die »Web Grrrls« die komplexen Zusammenhänge von Produktkonzepten, Kampagnen und Markenführung an, um die Verfahrenstechniken des Imagedesign zu übertreiben, indem sie die Parameter radikal ändern respektive erweitern. Dabei werden stereotype Versatzstücke von Sex und Gender in unterschiedlichen Verfahrensweisen des »Cultural Hacking«37 stilisierbar. So sind Ideal- und Normvorstellungen nicht mehr einem bestimmten Frauenkörper zuschreibbar, sondern können als künstliches Konstrukt reflexiv distanziert werden. In dem Maße wie der Körper als Kunstfigur jenseits von Natur herstellbar wird, eröffnen die von den »Web

35 | Vgl. Flash Mobs gegen die spanische Regierung, vgl.: http://www.telepo lis.de/deutsch/inhalt/te/16961/1.html, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006. 36 | Jayne Armstrong: »Web Grrrls, Guerilla Tactics: Young Feminisms on the Web«, in: David Gauntlett/Ross Horsley (Hg.), Web Studies, 2. Aufl., London, Oxford 2004, S. 92-102; vgl. ihren Beitrag in diesem Kapitel. 37 | Vgl. zur Ausdifferenzierung in unterschiedlichsten Anwendungskontexten zwischen Kunst, Wissenschaft, Design, Management und Aktivismus und zu den diversen strategischen Ansätzen wie »Placebo-Produkte«, Uniformierende Markenkommunikation, Coolness-Kompetenz, Dekonzeptuelles Coding, Hysteriebasierte Marktsegmentierungen und Brand Hacking: Thomas Düllo/Franz Liebl (Hg.): Cultural Hacking. Kunst des strategischen Handelns, Wien 2005; vgl. auch die kritische Position der cyberfeministischen Theoretikerinnen und Künstlerinnen im Kapitel »Gender – Technologien – Cyberfeminismus«.

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324 | Hacker Culture – Kollektive Strategien – Networking Grrrls« provozierten Szenarien der Medienkunst auch dem theoretischen Diskurs Einsatzpunkte, mit denen auf die veränderten Rezeptionsbedingungen für medial basierte Körper verwiesen werden kann. Mit den rhetorischen Figuren des »Hackers«, des »Datendandy«, des »Nomaden«, des »Mob« oder des »Web Grrrl« können Umwandlungsprozesse des Internet und des Cyberspace beschrieben werden – etwa von militärisch-strategischen »Ordnungshierarchien« zu politischen, ökonomischen und sozialen »Netzwerken«. Die Bedingungen medialer Transformationen können an den Diskursen und Verhaltensweisen38 selber beobachtet werden – mit ihnen wird eine Genealogie der geschichtlichen und sozialen Konstruktion des Internet und des Cyberspace hinsichtlich ihrer Konzepte, Methoden und ihrem Stellenwert im Disziplinen-Kanon erkennbar.

38 | Vgl. die Untersuchung von Sherry Turkle im Kapitel »Avatars – Cyborgs – Fake-Identities«.

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Die Hacker-Ethik (1984) | 325

Die Hacker-Ethik (1984) Steven Levy

Etwas Neues fügte sich im Dunstkreis des TX-01 zusammen: eine neue Lebensweise, eine Philosophie, eine Ethik, ein Traum. Es lässt sich kein bestimmter Moment benennen, in dem es den TX-0-Hackern bewusst wurde, dass sie mit dem Einsatz ihrer technischen Fähigkeiten im Bereich des Computing, und zwar mit einer Hingabe, die sonst nur in Klöstern zu finden ist, zur Avantgarde einer wagemutigen Symbiose zwischen Mensch und Maschine wurden. Mit dem Eifer junger Raser, die sich ganz dem Frisieren ihrer Motoren hingeben, schienen die Hacker ihre fast einzigartige Umgebung als selbstverständlich zu begreifen. Auch als sich eine Kultur zu formen begann, als Legenden entstanden, als ihre Programmierkünste alle vorangegangenen Leistungen in den Schatten zu stellen begannen, widerstrebte es dem Dutzend Hacker anzuerkennen, dass ihre kleine Gemeinschaft von TX-0-Meistern langsam und stillschweigend einen Komplex von Vorstellungen und Ideen entwickelt und einen Verhaltenskodex zusammengefügt hatte. Die Prinzipien dieser revolutionären HackerEthik wurden nicht so sehr debattiert und diskutiert als vielmehr stillschweigend angenommen. Es wurden keine Manifeste veröffentlicht. Es gab keine Missionare, die Andere zu dieser Ethik bekehren wollten. Der Computer selbst bekehrte sie. Und es waren Leute wie Simson, Saunders und Kotok, deren Leben vor dem MIT scheinbar nur ein Vorspiel zum Moment ihrer Erfüllung hinter der Konsole des TX-0 gewesen war, die dieser Ethik besonders zu folgen schienen. Auch wenn nach ihnen Hacker kamen, wie der legendäre Greenblatt oder Gosper, die die implizite Ethik noch ernster nahmen als es die TX-0-Hacker getan hatten, und auch da-

1 | Der erste moderne Computer am MIT mit der Bezeichnung »TX-0« steht für die Genese einer neuen Gruppe von Benutzern mit atypischem Technikgebrauch, den sogenannten »Hackern«. Im Falle eines Programmfehlers konnte man direkt im Speicher nach dem Fehler suchen und ihn dort auch beheben, ohne erst mühsam die Programmlistings zu debuggen und neue Lochstreifen zu stanzen (Anm. d. Hg.).

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326 | Steven Levy nach noch einige Jahre vergingen bis die Glaubenssätze des Hackertums explizit dargestellt wurden, entstanden die Grundpfeiler derselben bereits zu Zeiten des TX-0. Die Hacker-Ethik lautet: Zugang zu Computern – und allem, was einem zeigen kann, wie die Welt funktioniert – sollte unbegrenzt und vollständig sein: Handle immer nach dem interaktiven Hands-on-Prinzip!

Hacker glauben, dass man Wesentliches über Systeme – über die Welt – erlernen kann, indem man Dinge auseinandernimmt, sieht, wie sie funktionieren, und dieses Wissen verwendet, um neue oder sogar noch interessantere Dinge zu entwickeln. Sie ärgern sich über jede Person, jede physische Grenze, jedes Gesetz, welche(s) sie daran hindern will. Dies gilt besonders dann, wenn ein Hacker versucht, etwas wieder herzurichten, was (seiner Meinung nach) kaputt ist oder verbessert werden sollte. Unvollkommene Systeme bringen Hacker zur Weißglut, ihr primärer Instinkt ist zu debuggen.2 Auch aus diesem Grund hassen Hacker generell das Autofahren – angesichts eines Systems von willkürlich programmierten roten Ampeln und merkwürdig angeordneten Einbahnstraßen, das so verdammt unnötige Verzögerungen verursacht, ist ihr erster Impuls, Schilder umzuarrangieren, Ampelschaltungskästen zu öffnen … das ganze System umzugestalten. In einer perfekten Hacker-Welt sind alle, die sauer genug sind, um den Schaltungskasten einer Ampel zu öffnen und auseinanderzunehmen, herzlich eingeladen, dies auch zu versuchen. Regeln, die einen daran hindern, derartige Dinge selbst in die Hand zu nehmen, sind zu lächerlich, um sich daran zu halten. Diese Einstellung half dem Tech Model Railroad Club (TMCR), das sogenannte Midnight Requisitioning Committee ins Leben zu rufen. Wenn TMRC irgendwelche Dioden oder zusätzliche Relais benötigte, um irgendein neues Funktionsmerkmal ins System zu integrieren, warteten einige S&P Leute, bis es dunkel wurde, und drangen in die Aufbewahrungsorte solcher Dinge ein. Keiner dieser Hacker, die in anderen Dingen aus Prinzip erbarmungslos ehrlich waren, schien dies mit »Stehlen« gleichzusetzen: eine bewusste Blindheit. Alle Informationen müssen frei sein. Wenn man keinen Zugang zu Informationen hat, die zur Verbesserung von Dingen nötig waren, wie konnte man sie dann verbessern? Ein freier Austausch von Informationen, insbesondere von Informationen in Form eines Computerprogramms, führt allgemein zu größerer Kreativität. Bei der Arbeit an einem Apparat wie dem TX-0, der so gut wie ohne Software geliefert wurde, schrieben alle wie wild an Systemprogrammen, um die Programmierung zu vereinfachen – Tools um Tools wurden entwickelt, aufbewahrt in einer Schublade neben

2 | »Debug« bedeutet Programmierfehler zu beseitigen. Der Begriff ist in der deutschen Computerfachsprache ebenso gebräuchlich (Anm. d. Übersetzerin).

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Die Hacker-Ethik (1984) | 327 der Computerkonsole, verfügbar für jeden, der den Computer benutzte. Dies sollte das ungeliebte, zeitraubende Ritual, das Rad jedes Mal neu zu erfinden, verhindern: Statt dass jeder seine eigene Version ein und desselben Programms schrieb, wurde die beste Version allen verfügbar gemacht und jedem stand es frei, den Code zu verändern und zu verbessern – eine Welt voller Feature-Full-Programme, aufs Minimum abgespeckt3, bis zur Perfektion debugged. Der Glaube an die Freiheit von Information, der manchmal uneingeschränkt angenommen wurde, war ein direkter Tribut an die Art und Weise, wie ein großartiger Computer oder ein Computerprogramm funktioniert – die binären Bits bewegen sich auf dem direktesten, logischsten Pfad, um ihre komplexe Arbeit zu verrichten. Was ist ein Computer? Etwas anderes, das vom freien Fluss der Information profitierte? Wenn es zum Beispiel dem Zentralrechner nicht möglich wäre, Information von input/output-Vorrichtungen wie dem Lochbandleser oder den dip-Schaltern zu erhalten, würde das gesamte System kollabieren. Aus Sicht des Hackers könnte jedes System vom einem derart einfachen Informationsfluss profitieren. Misstraue Autoritäten – fördere Dezentralisierung. Der beste Weg, den freien Informationsfluss zu fördern, besteht in einem offenen System, in dem es keine Grenzen gibt zwischen dem Hacker und einer Information oder einem Gerät, das er auf seiner Suche nach Wissen, nach Information und nach Online-Zeit benötigt. Das Letzte, was man braucht, ist Bürokratie. Bürokratien, egal ob in Form von Unternehmen, Regierungen oder Universitäten, sind fehlerhafte Systeme, die gefährlich sind, weil sie keinen Platz bieten für den forschenden Impuls echter Hacker. Bürokraten verstecken sich hinter willkürlichen Regeln (im Gegensatz zu den logischen Algorithmen, mit denen Maschinen und Computerprogramme arbeiten): Sie beschwören diese Regeln herauf, um ihre Macht zu festigen und begreifen den konstruktiven Impuls von Hackern als Bedrohung. Zu dieser Zeit war der Inbegriff der bürokratischen Welt eine sehr große Firma namens International Business Machines (IBM). Dass ihre Computer stapelorientierte Riesen waren, basierte nur zum Teil auf der Röhrentechnik. Der wirkliche Grund war, dass die Firma IBM selbst ein schwerfälliger Riese war, der den Hacker-Impuls nicht begriff. Wenn IBM seinen Willen bekam (so glaubten die TMRC4-Hacker), würde die Welt stapelorientiert errech-

3 | Der hier zugrunde liegende englische Begriff ist »to bum a program«, was soviel bedeutet wie »ein Programm auf ein Minimum an Befehlszeilen zu reduzieren« (Anm. d. Übersetzerin). 4 | Am MIT gab es den Tech Model Railroad Club (TMRC). Dieser Club betrieb eine gigantische Eisenbahnanlage. Innerhalb des Clubs gab es ein Signaling and Power Department, das sich vor allem mit dem Bau komplexer Steuersysteme für die riesige Eisenbahnanlage befasste. Hier entstand der Begriff Hack für einen technischen Kniff und eine ganze Reihe anderer Begriffe, die die Basis des Hackerslangs wurden (Anm. d. Hg.).

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 325-334) T05-01 levy.p 142895398744

328 | Steven Levy net, aufgelistet auf diesen ärgerlichen kleinen Lochkarten, und nur den privilegiertesten Priestern wäre eine wirkliche Interaktion mit dem Computer erlaubt. Man brauchte sich nur diese Leute aus der IBM-Welt anschauen, mit ihren zugeknöpften weißen Hemden, den akkurat sitzenden schwarzen Krawatten, dem sorgfältig frisierten Haar und dem Tablett voller Lochkarten. Wenn man das Rechenzentrum betrat, wo der 704, der 709 und später der 7090 standen – das Beste, was IBM zu bieten hatte –, konnte man die einschränkende Ordnung sehen, bis hin zu den abgesperrten Bereichen, in die nur autorisiertes Personal vordringen durfte. Verglichen damit umgab den TX-0 eine sehr informelle Atmosphäre, eher abgerissene Kleidung war dort die Regel und fast jeder hatte dort Zugang. Sicher, IBM hatte bereits viel getan, um Fortschritte im Bereich der Computertechnik zu erreichen, und tat dies auch weiterhin. Allein durch seine Größe und seinen Einfluss hatte es Computer zu einem dauerhaften Bestandteil des Lebens in Amerika gemacht. Für viele Menschen waren die Worte IBM und Computer praktisch Synonyme. Die Maschinen von IBM galten als zuverlässige Arbeitstiere, die das Vertrauen, das ihnen Geschäftsleute und Wissenschaftler entgegenbrachten, verdienten. Zum Teil war dies dem konservativem Ansatz von IBM geschuldet: Es ging nicht um die Herstellung der technologisch am weitesten entwickelten Maschinen, sondern man verließ sich auf bewährte Konzepte und aggressives Marketing. Als sich die Dominanz von IBM im Computerbereich entwickelte, wurde aus der Firma selbst ein Imperium, geheimnisvoll und selbstgefällig. Was die Hacker wirklich rasend machte, war die Haltung der IBMPriester und ihrer Untergebenen, die zu glauben schienen, dass nur IBM »echte« Computer besaß und der Rest Schrott war. Man konnte mit diesen Leuten nicht reden – sie waren nicht zu überzeugen. Es handelte sich um stapelorientierte Menschen, was sich nicht nur an ihrer Vorliebe für Maschinen zeigte, sondern auch in ihrer Vorstellung davon, wie ein Rechenzentrum und eine Welt organisiert werden sollte. Diese Leute haben nie die offensichtliche Überlegenheit eines dezentralisierten Systems, in dem keiner Befehle erteilt, begreifen können: ein System, das den Menschen erlaubt, ihren eigenen Interessen zu folgen und, wenn sie während ihrer Arbeit einen Fehler im System entdecken, anspruchsvolle Operationen in Angriff nehmen, um den Fehler schließlich zu beheben – ohne Antragsformular, nur aus der Notwendigkeit heraus, etwas erledigen zu müssen. Dieser antibürokratischen Haltung entsprach genau die Persönlichkeit vieler Hacker, die schon als Kinder daran gewöhnt waren, sich mit wissenschaftlichen Projekten zu beschäftigen, während ihre Klassenkameraden die Köpfe zusammensteckten und soziale Kompetenzen bloß vom Sportfeld her kannten. Diese jungen Erwachsenen, die in ihrer Jugend als Außenseiter galten, empfanden den Computer als fantastischen Ausgleich, sie hatten das Gefühl, dass man, so Peter Samson, »eine Tür öffnete und in ein großes neues Universum eintrat …«. Sobald sie durch diese Tür eingetreten waren und hinter der Konsole eines Computers saßen, der Millionen

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 325-334) T05-01 levy.p 142895398744

Die Hacker-Ethik (1984) | 329 von Dollar gekostet hatte, besaßen sie Macht. Da war es nur allzu selbstverständlich, dass sie allem misstrauten, was diese Macht einzuschränken drohte. Beurteile einen Hacker nach dem, was er tut, nicht nach üblichen, sinnlosen Kriterien wie akademischer Grad, Alter, ethnischer Zugehörigkeit oder gesellschaftlicher Stellung. Die rasche Aufnahme des zwölfjährigen Peter Deutsch in die TX-0 Gemeinschaft (allerdings nicht von Seiten der Collegestudenten, die keine Hacker waren) ist ein gutes Beispiel. Ebenso wurden Leute, die mit scheinbar beeindruckenden Referenzen ankamen, erst ernstgenommen, wenn sie sich an der Computerkonsole bewiesen hatten. Diese Art von Leistungsorientiertheit entstammte nicht unbedingt einer dem Hacker-Herzen innewohnenden Güte – sondern vielmehr der Tatsache, dass Hacker sich nicht so sehr für Äußerlichkeiten interessierten, sondern für das, was ein Mensch zum Fortschritt des Hacking allgemein, zum Entwickeln neuer Programme und dem Entwerfen neuer Funktionsmerkmale des Systems beitragen könnte. Man kann mit einem Computer Kunst und Schönheit erschaffen. Samsons Musikprogramm ist ein Beispiel. Das Kunstvolle an diesem Programm bestand aber für Hacker nicht in den wunderbaren Tönen, die aus dem Lautsprecher kamen. Der Programmcode selbst enthielt Schönheit. Samson war allerdings, in seiner Weigerung, seinen Quell-Codes Kommentare hinzuzufügen und zu erklären, was er gerade tat, besonders schwer zugänglich. Ein verbreitetes Programm, das Samson geschrieben hatte, bestand aus hunderten von Kommandos in Assembler-Sprache mit nur einem einzigen Kommentar, der die Nummer 1750 enthielt. Der Kommentar lautete RIPJSB, und die Leute zerbrachen sich den Kopf über seine Bedeutung – bis endlich irgendjemand begriff, dass 1750 das Todesjahr Bachs war und dass Samson eine Abkürzung für »Rest In Peace Johann Sebastian Bach« (Ruhe in Frieden Johann Sebastian Bach) geschrieben hatte. Es hatte sich eine gewisse Ästhetik des Programmierens entwickelt. Da der TX-0 nur über eingeschränkte Speicherkapazitäten verfügte (ein Nachteil aller Computer dieser Zeit), schätzten Hacker insbesondere innovative Techniken, die es einem Programm ermöglichten, komplizierte Vorgänge mit Hilfe von wenigen Befehlen durchzuführen. Je kürzer ein Programm war, desto mehr Speicherplatz blieb für andere Programme und desto schneller lief ein Programm. Manchmal, wenn Schnelligkeit oder Speicherplatz kein Thema waren oder es gerade nicht um Kunst und Schönheit ging, wurde ein hässliches Programm zusammengehackt und Probleme wurden mit »nackter Gewalt« angegangen. »Naja, das können wir machen, indem wir einfach 20 Zahlen hinzufügen«, würde Samson vielleicht zu sich selbst sagen, »und es geht dafür schneller, Befehle zu schreiben, als sich eine Schleife für Anfang und Ende auszudenken, mit der das Gleiche in sieben oder acht Befehlen geschieht.« Einige Programme wurden auf so kunstvolle Weise auf ein Minimum an Zeilen reduziert, dass die anderen Programmierer bei ihrem Anblick von Ehrfurcht ergriffen

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 325-334) T05-01 levy.p 142895398744

330 | Steven Levy wurden. Manchmal führte das erbarmungslose Abspecken von Programmen auch zu Konkurrenz, zu einem Wettbewerb unter Machos. Da konnte man allein durch das Entdecken eleganter Abkürzungen, mit denen sich ein oder zwei Befehle einsparen ließen – oder noch besser: durch Erfinden eines neuen Algorithmus, mit dem sich ein ganzer Satz Befehle einsparen ließ –, beweisen wie gut man das System beherrschte. (Ein Algorithmus ist eine spezifische Prozedur, die angewendet wird, um ein komplexes Computerproblem zu lösen; eine Art mathematischer Dietrich.) Am überzeugendsten gelang einem dies, wenn man das Problem aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel betrachtete, an den zuvor niemand gedacht hatte, der aber im Nachhinein absolut Sinn machte. Auf jeden Fall waren diejenigen, die derartig »außerirdische, magische Methoden benutzten konnten, von einem künstlerischen Impuls geleitet, besaßen visionäre Fähigkeiten, die ihnen erlaubten, die abgeschmackte Sichtweise der besten Köpfe der Welt abzustreifen und einen völlig unerwarteten, neuen Algorithmus zu erdenken. So geschah es etwa mit dem Programm der decimal print routine. Es handelte sich dabei um ein Subprogramm, gelegentlich integriert in andere Programme, mit dem vom Computer ausgegebene Binärzahlen in gewöhnliche Dezimalzahlen übertragen wurden. Um mit Saunders zu sprechen, wurde dieses Problem zum »pawn’s ass« des Programmierens – wenn man eine gewöhnliche, funktionierende decimal print routine schreiben konnte, dann kannte man sich gut genug mit Computern aus, um als Programmierer zu gelten.« Wenn man eine großartige decimal print routine schreiben konnte, galt man als Hacker. Letztendlich war das ultimative Abspecken der Programme nicht nur ein Wettbewerb, sondern wurde zu einer Art »Heiligem Gral« der Hacker. Monatelang gab es verschiedene Versionen der decimal print routine. Wenn man sich besonders dumm anstellte, oder wirklich ein Idiot war – ein richtiger Versager –, würde man vielleicht hundert Befehle benötigen, um den Computer dazu zu bringen, die Maschinensprache in Dezimale umzuwandeln. Aber jeder Hacker, der etwas taugte, konnte dies mit weniger Befehlen tun. Schlussendlich wurde die decimal print routine durch Zusammenfügen der besten Programme, das Wegnehmen von ein oder zwei weiteren Befehlen, auf etwa 50 Befehle reduziert. Danach erst wurde es ernst. Die Leute arbeiteten stundenlang, um einen Weg zu finden, das Gleiche mit weniger Programmzeilen zu tun. Es war mehr als nur Wettbewerb – es wurde zur Mission. Trotz aller Versuche schien es niemandem möglich, die 50-Zeilen-Grenze zu durchbrechen. Es stellte sich die Frage, ob dies überhaupt möglich sei. Gab es eine Grenze, wo sich ein Programm nicht weiter reduzieren ließ? Einer der Leute, die sich mit diesem Rätsel beschäftigten, war ein Typ namens Jenson, ein langer, ruhiger Hacker aus Maine, der still im Kluge Room saß und auf Computerausdrucken herumkritzelte, mit der ruhigen Miene eines schnitzenden Waldbewohners. Jenson suchte immer nach Möglichkeiten, seine Programme so zu komprimieren, dass sie schneller wurden und weniger Speicherplatz verbrauchten – sein Code bestand aus einer völlig bizarren Sequenz von ineinander verwobenen

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 325-334) T05-01 levy.p 142895398744

Die Hacker-Ethik (1984) | 331 arithmetischen Funktionen und Bool’scher Algebra5, bei denen oft verschiedene Rechensequenzen in unterschiedlichen Teilen desselben 18-Bit umfassenden »Wortes« stattfanden – unglaubliche Dinge, magische Tricks. Vor Jenson war man sich einig, dass der einzig logische Algorithmus für eine decimal print routine so aussehen müsse, dass die Maschine wiederholt subtrahieren würde und mit Hilfe der Tabelle der Zehnerpotenzen die Zahlen in den richtigen Ziffernspalten gehalten würden. Jenson kam irgendwie dahinter, dass die Tabelle der Zehnerpotenzen nicht notwendig war; er entwickelte einen Algorithmus, der die Ziffern in umgekehrter Reihenfolge umwandelte, sie aber durch irgendeinen digitalen Taschenspielertrick in der richtigen Reihenfolge ausdruckte. Es handelte sich dabei um eine komplexe mathematische Erklärung, die den anderen Hackern erst bewusst wurde, als Jenson sein Programm am schwarzen Brett aushängte – seine Art mitzuteilen, dass er die Grenze des Möglichen erreicht hatte. 46 Befehle. Die Leute starrten auf den Code und ihnen fiel der Unterkiefer runter. Saunders erinnert sich, dass die Hacker in den nächsten Tagen ungewöhnlich still waren. »Wir wussten, das die Sache beendet war«, sagte Bob Saunders später, »das war Nirwana«. Computer können Dein Leben zum Besseren verändern. Dieser Glaube war indirekt vorhanden. Sehr selten versuchte ein Hacker, einem Außenstehenden seine Sicht der unzähligen Vorzüge des Computerwissens aufzudrängen. Dennoch bestimmte diese Prämisse das Alltagsverhalten der TX-0-Hacker, ebenso wie viele nachfolgende Generationen von Hackern. Auf jeden Fall hatte der Computer ihr Leben verändert, es bereichert und zielgerichteter und abenteuerlicher gemacht. Der Computer hatte sie zu Herren eines bestimmten Teils des Schicksals gemacht. Peter Samson sagte später: »Zu 25 bis 30 Prozent haben wir es einfach um der Sache willen gemacht, weil es etwas war, das wir konnten und zwar gut konnten, und zu 60 Prozent taten wir es, um etwas zu haben, das in einem metaphorischen Sinne lebendig war, etwa so wie Nachkommen, die selbständig Dinge fortsetzen, die man begonnen hat. Das ist das Großartige am Programmieren, der Reiz des Magischen … Wenn du ein Verhaltensproblem [ein Computer oder Programm] gelöst hast, ist es für immer gelöst und ist genau ein Abbild dessen, was du gemeint hast.« Wie Aladins Wunderlampe erfüllte es einem Wünsche. Ohne Zweifel würde jeder von dieser Erfahrung profitieren. Und jeder würde von einer

5 | Die Zweiwertigkeit von Schaltzuständen (L,H) führt zur praktischen Anwendung der »Bool’schen Algebra«, zur Schaltalgebra. Die Schaltalgebra ist eine Bool’sche Algebra über der Menge B=0,1. Die Schaltalgebra als Modell der Bool’schen Algebra bildet die theoretische Grundlage für den Entwurf von Schaltnetzen. In digitalen Datenverarbeitungssystemen werden auf der physikalischen Ebene binäre Schaltvariablen mit elektronischen Schaltern nach den Gesetzen der Schaltalgebra verknüpft (Anm. d. Hg.).

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 325-334) T05-01 levy.p 142895398744

332 | Steven Levy Welt profitieren, die sich auf der Hacker-Ethik begründete. Das war der implizite Glaube der Hacker, und mit ihrer fast respektlosen Haltung haben sie konventionelle Sichtweisen dessen, was Computer leisten können und sollten, erweitert – und damit die Welt zu einer neuen Betrachtungsweise über und Interaktion mit Computern geführt. Das war keine einfache Sache. Sogar in solch fortschrittlichen Institutionen wie dem MIT gab es Professoren, die eine manische Affinität zu Computern für frivol hielten, manchmal sogar für gestört. TMRC-Hacker Bob Wagner musste einmal einem Professor für Maschinenbau erklären, was ein Computer ist. Diese gegensätzliche Haltung, für oder gegen Computer, wurde Wagner besonders in einem Kurs über Numerische Analysis bewusst, bei dem der Professor von den Studierenden verlangte, ihre Hausaufgaben nur mit Hilfe eines klobigen elektromechanischen Taschenrechners durchzuführen. Auch Kotok besuchte den Kurs, und beide waren entsetzt ob der Aussicht, mit so einem Low-Tech-Gerät arbeiten zu müssen. »Warum sollten wir«, fragten sie, »wo wir doch diesen Computer haben?« Also begann Wagner, an einem Computerprogramm zu arbeiten, dass das Verfahren eines Taschenrechners emulierte. Eine unerhörte Idee. Für manche bedeutete es eine unzulässige Verschwendung kostbarer Computerzeit. Üblicherweise betrachtete man Computerzeit als zu wertvoll, um nicht seine Möglichkeiten ganz für Dinge zu nutzen, bei denen sonst haufenweise Mathematiker tagelang mit stumpfsinnigen Rechnungen beschäftigt wären. Hacker sahen das anders: Alles, was interessant oder spaßig erschien, war Futter für Computing. Der Gebrauch von interaktiven Computern, wo einem keiner über die Schulter sah und eine Zugangsberechtigung für das jeweilige Projekt sehen wollte, erlaubte es, sich dieser Sicht entsprechend zu verhalten. Nach zwei oder drei Monaten der Beschäftigung mit den Feinheiten der Fließkomma-Arithmetik (die notwendig war, damit ein Programm wusste, wo es den Dezimalpunkt setzten sollte) an einer Maschine, die keine einfache Methode lieferte, um elementare Multiplikation durchzuführen, hatte Wagner 3000 Zeilen Code geschrieben, mit denen es funktionierte. Er hatte einen unglaublich teuren Computer so programmiert, dass er die Funktion eines Taschenrechners erfüllen konnte, der um das Tausendfache billiger war. Um dieser Ironie gerecht zu werden, nannte er das Programm Expensive Desk Calculator und fertigte stolz seine Hausaufgaben für den Kurs damit an. Seine Bewertung: »Durchgefallen«. »Du hast einen Computer benutzt!«, sagte ihm der Professor. »Das kann nicht richtig sein.« Wagner machte sich nicht die Mühe, es zu erklären. Wie hätte er seinem Lehrer vermitteln können, dass der Computer Möglichkeiten, die vorher unvorstellbar waren, in Realitäten verwandelte? Oder dass ein anderer Hacker sogar ein Programm namens Expensive Typewriter geschrieben hatte, das den TX-0 in ein Gerät umwandelte, mit dem man Texte verfassen konnte, bei dem das Geschriebene als Serie von Buchstaben eingegeben wurde und auf dem Flexowriter ausgedruckt wurde – unvorstellbar, dass ein Professor Hausaufgaben akzeptiert hätte, die auf dem Computer geschrieben wurden! Wie konnte der Professor – oder überhaupt

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 325-334) T05-01 levy.p 142895398744

Die Hacker-Ethik (1984) | 333 irgendjemand, der nicht ganz in dieses unentdeckte Universum »Mensch-Maschine« eingetaucht war, verstehen, dass Wagner und seine Hackerkollegen den Computer routinemäßig benutzten, um etwas zu simulieren, dass Wagner »merkwürdige Situationen, die sonst kaum vorstellbar waren«, nannte? Mit der Zeit lernte der Professor, so wie alle, dass die Welt, die sich durch Computer eröffnete, grenzenlos war. Falls jemand noch weitere Beweise dafür bräuchte, könnte man auf das Projekt verweisen, an dem Kotok im Computation Center arbeitete, das Schachprogramm, das der bärtige Al Professor »Uncle« John McCarthy, wie ihn seine Hacker-Studenten nannten, auf dem IBM 704 begonnen hatte. Obwohl Kotok und einige andere Hacker, die ihm bei der Arbeit am Programm halfen, der stapelorientierten IBM-Mentalität, die die Maschine und die Menschen umgab, nur Geringschätzung entgegenbrachten, war es ihnen gelungen, spät nachts Zeit am Computer zu ergattern, um ihn interaktiv zu benutzten. Damit hatte ein inoffizieller Wettstreit mit den Systemprogrammierern auf dem 704 begonnen, bei dem es darum ging, welche Gruppe als die größten Verbraucher von Computerzeit hervorgehen würde. Mal führten die einen, mal die anderen, und die 704-Leute in ihren weißen Hemden und Krawatten waren immerhin so beeindruckt, dass sie Kotok und seiner Gruppe erlaubten, die Knöpfe und Schalter des 704 zu berühren – ein seltener Augenblick des Kontakts mit der vielgepriesenen IBM-Bestie. Kotoks Rolle bei der Erfindung des Schachprogramms deutete darauf hin, welche Rolle Hacker überhaupt im Bereich der künstlichen Intelligenz spielen würden: Größen wie McCarthy oder sein Kollege Marvin Minsky fingen ein Projekt an oder dachten laut über diese oder jene Möglichkeiten nach und die Hacker packten es, wenn es sie interessierte, einfach an. Das Schachprogramm wurde mit FORTRAN, einer frühen Computersprache, begonnen. Computersprachen sehen eher wie Englisch als wie Assembler aus, sind einfacher zu schreiben und kommen mit weniger Befehlen aus; der Computer muss aber jedes Mal, wenn ein Befehl in einer Computersprache wie FORTRAN gegeben wird, diesen Befehl zuerst in seine eigene binäre Sprache umwandeln. Durchgeführt wird dieser Vorgang von einem Programm, das sich »Compiler« nennt, was natürlich Zeit und Speicherplatz braucht. Mit dem Gebrauch einer Computersprache entfernt man sich also einen Schritt weiter vom direkten Kontakt mit dem Computer und Hacker zogen im Allgemeinen Assembler – oder, wie sie es nannten: »Maschinensprache« – den weniger eleganten Higher Level-Sprachen wie FORTRAN vor. Kotok begriff jedoch, dass aufgrund der großen Zahlenmenge, die bei einem Schachprogramm verarbeitet wurde, ein Teil des Programms in FORTRAN und ein anderer in Assembler ausgeführt werden müsste. Sie hackten es Stück für Stück, mit Schiebegeneratoren, elementaren Datenstrukturen und allen möglichen innovativen Algorithmen für Spielstrategien. Nachdem sie die Regeln für die Bewegung der Spielfiguren eingegeben hatten, programmierten sie einige Parameter, mit denen die Position von Figuren bestimmt, verschiedene Spielzüge in Erwägung gezogen und dann der Spielzug, der die Figur in die Position mit den größ-

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 325-334) T05-01 levy.p 142895398744

334 | Steven Levy ten Vorteilen bringen würde, gemacht werden konnte. Kotok hat jahrelang daran gearbeitet, das Programm wuchs analog zum Upgrading der IBMComputer am MIT, und es bleibt unvergesslich, wie sich eines Abends einige Hacker versammelten, um dabei zu sein, wenn das Programm die ersten Spielzüge in einem richtigen Spiel ausführt. Die Eröffnung war ziemlich spektakulär, aber nach etwa 16 Zügen gab es Schwierigkeiten, der Computer stand kurz vor dem Schachmatt. Alle waren gespannt, wie der Computer reagieren würde. Es dauerte eine Weile (alle gingen davon aus, dass während dieser Pausen der Computer »nachdachte«; jedenfalls war man der Ansicht, dass das mechanische Abwägen verschiedener Spielzüge, deren Bewertung und Verwerfung sowie die Anwendung vorher definierter Parameter für die endgültige Entscheidung so etwas wie ein »Nachdenken« sein müsse). Wie auch immer – schließlich setzte der Computer einen Bauern zwei Felder vor und sprang unerlaubt über eine andere Figur. Ein Programmfehler! Aber ein schlauer – der Computer entzog sich dem Schachmatt. Vielleicht versuchte das Programm, irgendeinen neuen Algorithmus zu finden, mit dem es beim Schach gewinnen konnte. An anderen Universitäten erklärten Professoren öffentlich, dass es niemals möglich sein würde, dass Computer Menschen beim Schach besiegen würden. Die Hacker wussten es besser. Sie waren es, die Computern zu einer Größe verhelfen sollten, die niemand für möglich hielt. Und die Hacker waren auch, aufgrund ihrer fruchtbaren, bedeutsamen Verbindung zu Computern, die ersten Nutznießer. Aber sie blieben nicht die Einzigen. Alle konnten vom Gebrauch »denkender« Computer in einer intellektuell automatisierten Welt profitieren. Und würden nicht alle noch mehr von einer Haltung zur Welt profitieren, die geprägt war von forschender Intensität, von Skepsis gegenüber der Bürokratie, von kreativer Offenheit und dem selbstlosen Teilen von Erfolgen mit anderen sowie von einem Drang zu verbessern und aufzubauen – einer Haltung, wie sie die Hacker-Ethik repräsentierte? Indem man andere auf die gleiche vorurteilsfreie Art anerkannte, wie Computer jeden anerkannten, der Code in einen Flexowriter eingab? Wäre es nicht zu unserem Nutzen, wenn wir von Computern die Fähigkeit erlernten, ein perfektes System zu erschaffen? Wenn alle den Computern mit dem gleichen unschuldigen, produktiven und kreativen Impuls begegnen könnten, wie es die Hacker taten, würde sich die Hacker-Ethik in der Gesellschaft wie ein sanftes Wogen ausbreiten und Computer würden die Welt wirklich verbessern. In den monetär geprägten Gefilden des Massachusetts Institute of Technology hatten Menschen die Freiheit, diesen Traum zu leben – den Hacker-Traum. Keiner traute sich, eine Verbreitung dieses Traums anzudeuten. Stattdessen machten es sich die Menschen dort am MIT zur Aufgabe, ein Hacker-Xanadu zu erschaffen, das sich vielleicht niemals wiederholen würde. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Susanna Noack

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 325-334) T05-01 levy.p 142895398744

Elektronischer ziviler Ungehorsam (1994) | 335

Elektronischer ziviler Ungehorsam (1994) Critical Art Ensemble

In der Art und Weise, wie Macht repräsentiert wird, unterscheidet sich der Spätkapitalismus wesentlich von anderen politischen und ökonomischen Formationen. An die Stelle eines einstmals soliden Sediments der Macht treten nomadisierende Formen, ein elektronischer Datenfluss, die computerisierte Verwaltung des Wissens und der Information, in der die institutionellen Zentren des Kommandos und der Kontrolle kaum mehr auszumachen sind. Das auffallende Äußere der Herrschaftsarchitektur versprach einst die Stabilität des Regimes: Schlösser, Paläste, Regierungssitze und Konzernzentralen fanden sich bedeutsam in der Mitte der Städte, als Herausforderung an die Unterdrückten und Unzufriedenen, gegen ihre Mauern anzurennen. Undurchdringlich und dauerhaft standen diese Bauwerke und ihre Festigkeit konnte widerständige Bewegungen demoralisieren und im Keim ersticken. Doch erwies sich diese Zurschaustellung der Macht als zweischneidiges Schwert. War die Verzweiflung oder Entschlossenheit ihrer Gegner einmal groß genug, traf sie sich mit der materiellen Auszehrung oder dem symbolischen Zusammenbruch der Legitimität, so war es den Revoltierenden kein Problem, die Machthaber ausfindig zu machen und anzugreifen. Und war die Festung erst einmal geschliffen, so bedeutete dies zumeist das Ende des Regimes. In diesem weiter gefassten historischen Zusammenhang entwickelte sich ziviler Ungehorsam als strategisches Muster. Zunächst war die Strategie ungewöhnlich, sich dafür zu entscheiden, bei der Bekämpfung der Machthaber auf Gewalt zu verzichten und stattdessen mit vielfältigen taktischen Maßnahmen das reibungslose Funktionieren der Institutionen in solchem Maß zu unterbrechen, dass einer Entmachtung der Regimes nichts im Wege stand. Auch wenn diese Strategie mit dem Siegerlächeln moralischer Überlegenheit antrat, verdankte sie ihre Wirkung eher der Unterbrechung ökonomischer Prozesse und symbolischen Störungen. Ziviler Ungehorsam zielt heute häufig nur noch auf Reformen im institutionellen Rahmen des Systems statt auf dessen Zusammenbruch.

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 335-344) T05-02 cae.p 142895398776

336 | Critical Art Ensemble Regierungen in den kapitalistischen Zentren reagieren meist tolerant auf solche Aktionen, da sie als oppositionelle Strategie den Raum für Verhandlungen eröffnen und weder Staat noch herrschende Klasse in ihrer Existenz wirklich gefährden. Zwar bleibt ziviler Ungehorsam eine Straftat, trifft aber im Allgemeinen weder auf eine massive staatliche Repression, noch gelten die Aktivisten als revolutionär oder werden im Falle einer Inhaftierung den Sonderbedingungen für politische Gefangene unterworfen. Selbstverständlich gibt es bemerkenswerte Ausnahmen von dieser politischen Linie metropolitaner Regimes, etwa die Verfolgung der Bürgerrechtler im Süden der USA. Obwohl ziviler Ungehorsam, gerade auf lokaler Ebene, auch heute noch erstaunlich wirkungsvoll sein kann, schwindet seine Durchsetzungskraft zunehmend. In erster Linie ist dies den wachsenden Möglichkeiten des Machtapparates geschuldet, den Provokationen auszuweichen. Zwar stehen die Monumente der Macht noch unübersehbar und massiv, doch die Ausübung der Macht ist weniger sichtbar und ortbar denn je. Die Monumente sind nicht länger Residuen der Macht, Kommando und Kontrolle situieren sich entsprechend den Notwendigkeiten der Herrschaft, und einer oppositionellen Bewegung an einem Ort entgehen sie durch Übersiedlung zum nächsten. Aktionen zivilen Ungehorsams wird so verwehrt, in die institutionellen Abläufe entscheidend zu intervenieren – oder sie gar unterbrechen zu können. Werden etwa die Eingänge eines Verwaltungsgebäudes blockiert, so unterbrechen die Aktivisten vielleicht die Bewegung der Angestellten (insofern diese nicht ihre Arbeitsplätze einnehmen können), doch hat das geringe Konsequenzen, solange die Bewegung des Kapitals und der Information anhält. Die überholten Methoden des Widerstandes müssen also verfeinert und neue Modelle der Störung und Unterbrechung gefunden werden durch einen Angriff auf die (Nicht-)Knoten der Macht auf elektronischer Ebene. Strategie und Taktiken zivilen Ungehorsams können auch jenseits der lokalen Aktionen nützlich sein, doch nur, wenn dadurch die Bewegung von Information statt die von Arbeitskräften blockiert wird. Leider stehen sich Linke oft selbst im Weg, wenn es darum geht, das Modell des zivilen Ungehorsams den veränderten Umständen anzupassen. Trotz eines mit Stolz vorgetragenen historischen Bewusstseins und einer kritischen Gesellschaftsanalyse weigern sich viele, die epochale Verschiebung in den Bedingungen, unter denen politisches Handeln möglich ist, anzuerkennen und tun stattdessen so, als lebten sie im Frühkapitalismus. Diese besondere Form von Cultural Lag hindert viele Aktivisten, neue politische Strategien zu akzeptieren. Der Grund hierfür ist nicht nur die weiterwirkende Diskrepanz von Theorie und Praxis, sondern auch das Auftreten bestimmter Überbleibsel aus der »Neuen Linken« der 1960er Jahre in den heute aktiven Gruppen. Davon überzeugt, dass die politischen Formen, die damals zum Erfolg führten (und damit ist in den USA vor allem der Beitrag der Neuen Linken zum erzwungenen Rückzug der USArmee aus Vietnam gemeint), auch heute richtig sind, sehen diese Vetera-

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 335-344) T05-02 cae.p 142895398776

Elektronischer ziviler Ungehorsam (1994) | 337 nen keinen Grund, neue Ansätze auszuprobieren. Nostalgie führt bei der endlosen Wiederholung der Vergangenheit als Gegenwart Regie und beherrscht leider sogar viele der jüngeren Generation, die keine selbsterlebte Erinnerung an die 1960er bindet. Diese Sentimentalität hält den Glauben am Leben, dass die Strategie, die Entscheidung »auf der Straße« zu suchen, die damals funktionierte, dies bis in alle Ewigkeit tun wird. Heute, da Einkommen und Bildung fortwährend zugunsten der Besitzenden umverteilt werden, da der Sicherheitsstaat immer weiter ins Leben der Bürger eindringt, da die AIDS-Krise weiterhin nur auf die Tatenlosigkeit der Verwaltung trifft, da immer mehr Menschen ihre Wohnung verlieren, sehen wir – als Critical Art Ensemble – die Notwendigkeit, diese Bewusstseinstrübung linker Politik, ihre Wirkungslosigkeit jenseits der lokalen Ebene, anzuprangern. Wir gehen davon aus, dass die »Straße«, soweit es um Macht geht, totes Kapital ist, in dieser Beziehung wertlos für Staat und herrschende Klasse. Soll dagegen ziviler Ungehorsam irgendeine Wirkung entfalten, müssen sich seine Aktivisten irgendetwas aneignen, das für ihre Gegner Wert und Bedeutung hat. Nur so kommen sie in die Lage, über Veränderungen verhandeln (oder sie gar fordern) zu können. Historisch hatte die Kontrolle der Straßen durchaus Bedeutung. Im Paris des 19. Jahrhunderts etwa war die Beherrschung der Straßen – als Kontrolle über Mobilität – Bedingung der Macht, sowohl was ihre ökonomische als auch die politisch-militärische Natur betraf. Straßenblockaden, die Besetzung einiger neuralgischer Punkte, lähmten den Staat – und bisweilen kollabierte er unter seinem eigenen Gewicht. Diese Strategie im politischen Kampf war bis in die 1960er Jahre hinein erfolgreich, doch sie wandelte zusehends ihren Charakter: War sie Ende des 19. Jahrhunderts noch radikal, wurde sie nun zu einer liberalen Politik. Ihre Bedeutung ist an die Bedingung geknüpft, dass das Kapital in den Städten zentralisiert ist; die zunehmende Dezentralisierung, das Überschreiten staatlicher wie städtischer Grenzen entzog der Straßenaktion den Boden. Was wir Macht nennen, kann als solche nicht gesehen werden, sondern erscheint in ihrer Repräsentation. Was hinter dieser Repräsentation liegt, ist verschwunden. Um sie greifbar zu machen, wurden für komplexe Machtbeziehungen, die Makro-Macht, eine Reihe von Abstraktionen entworfen, wie der »heterosexuelle, weiße Mann« oder die »herrschende Klasse« oder einfach »die an der Macht«. Makro-Macht begegnet man in ihren Auswirkungen, niemals als Ursache. Daraus folgt, dass bestimmte Indikatoren gefunden werden müssen, um die Macht – und den Wert – an ihrem »Nicht-Ort« zu lokalisieren. Einen Fingerzeig scheint uns das Maß zu geben, in dem Orte oder Waren gesichert und verteidigt werden, ebenso der Aufwand, um unerwünschte Eindringlinge abzuhalten oder zu bestrafen. Doch sind diese Indikatoren erfahrungs- und nicht theoriegeleitet. Wenn Macht ihren traditionellen Ort verließ, wohin ging sie? Nehmen wir an, dass die Kapitalbewegung weiterhin ein Angelpunkt gesellschaftlicher Verhältnisse ist, so können wir die Spur aufnehmen. Auch wenn uns

2007-03-26 15-01-49 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 335-344) T05-02 cae.p 142895398776

338 | Critical Art Ensemble der »gesunde Menschenverstand« einredet, dass, wer das Geld hat, auch die Macht besitzt, so hat das Geld eben bekanntermaßen keinen örtlichen Ursprung, sondern ist Teil einer ständigen Zirkulation bzw. Spiralbewegung. Bestenfalls können wir also auf diese Bewegung stoßen. Das Kapital selbst nimmt selten eine feste Form an; wie die Macht existiert es zunächst als Abstraktion. Dieser abstrakten Form entspricht heute der »abstrakte« Ort, den der Cyberspace abgibt. Cyberspace kann vielleicht am besten als ein virtueller Raum beschrieben werden, der Informationen birgt und über das Telefonnetz zugänglich ist. Die Möglichkeit des Zugriffs auf die im Cyberspace lokalisierten Informationen hat wiederum Auswirkungen auf die Stellung von Institutionen im realen Raum. Die Arbeitsteilung im gegenwärtigen Kapitalismus hat sich in einem solchen Maße differenziert, dass die für Synchronisation und Organisation des Produktionsprozesses notwendige Geschwindigkeit nur noch durch den Rückgriff auf vernetzte elektronische Kommunikation erreicht werden kann. Umgekehrt wird die Kontrolle über die Verbreitung von Information und der Zugriff auf sie zum wesentlichen Moment beim Zusammenfügen der Puzzlesteine des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Wird der Zugriff auf Informationen blockiert, verliert die betroffene Institution ihre organisierenden Fähigkeiten; hält die Blockade über einen längeren Zeitraum an, droht ein Kollaps. Die Unterbrechung der Kommunikation verhindert die Verständigung darüber, ob verschiedene institutionelle Segmente gegeneinander oder in die gleiche Richtung funktionieren. Die Unterbrechung des Zugriffs auf Informationen ist mithin eines der wirkungsvollsten Mittel, um Institutionen, seien sie Teil militärischer oder ziviler, privater oder staatlicher Unternehmen, zu lähmen. Das Problem zivilen Ungehorsams, wie er bis heute verstanden wird, aber ist, dass er niemals auf den skizzierten organisierenden Zusammenhang, sondern auf zwar greifbare, doch periphere Strukturen zielt. Im Maßstab transnational operierender Institutionen sind solche Aktionen nichts weiter als Mückenstiche. War die Beherrschung strategischer Punkte im »realen« Raum einmal eine der Hauptquellen der Macht, so hängt heute Herrschaft an der Fähigkeit, Orte ohne Opposition zu finden und zugleich zeitweise, entsprechend taktischer Notwendigkeiten, »reale« Räume zu besetzen. Doch die Eroberung dieser Räume durch oppositionelle Kräfte wäre angesichts der dezentralen Organisation der Institutionen nutzlos. Vergleichen wir die Sicherheitsvorkehrungen und Strafandrohungen, hinter denen Macht und Wert zu vermuten sind, rangiert der Cyberspace ganz oben. Dem US-amerikanischen Secret Service, dessen Aufgabe es bisher war, den Präsidenten und sein Umfeld zu schützen sowie Verschwörungen aufzudecken, kommt dabei immer mehr die Rolle einer Cyber-Polizei zu. Gleichzeitig haben private Firmen damit begonnen, ihren eigenen elektronischen Werkschutz aufzustellen, der zum einen Überwachungs- und Verteidigungssysteme installiert, zum anderen als Bande von Kopfgeldjägern jeden zur Strecke bringt, der versucht, das Sicherheitssys-

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Elektronischer ziviler Ungehorsam (1994) | 339 tem zu durchbrechen. Dieser Werkschutz unterscheidet so wenig wie das Rechtssystem nach den Motiven der »Täter«: Ob jemand sich aus Neugier Zugang zu einem Computer verschafft oder um die darin gespeicherten Informationen zu entwenden oder zu zerstören – alles wird als »feindlicher Akt« registriert und mit der Höchststrafe bedroht. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen ist der Cyberspace aber weit davon entfernt, unangreifbar zu sein. Er expandiert und verändert sich mit hoher Geschwindigkeit, während die Sicherheitssysteme oft begrenzt und an einem bereits überholten Entwicklungsschritt orientiert sind. Heute ist die Tür für den Widerstand noch offen, aber sie beginnt sich zu schließen. Die Aktivisten dieses Widerstands sind heute – zumindest in den USA – meist Kinder. Jugendliche Hacker arbeiten in den elterlichen Haushalten und in den Wohnheimen der Colleges daran, eine Bresche in die elektronischen Sicherungsmaßnahmen der Konzerne und des Staats zu schlagen. Ihre Motive dabei sind unklar. Einige scheinen zu ahnen, dass ihre Aktionen politischer Natur sind – wie Dr. Crash sagte: »Ob du es weißt oder nicht, als Hacker bist du ein Revolutionär.« Aber die Frage bleibt: Revolutionär wofür? Vertieft man sich in die Ausgaben des Hacker-Magazins Phrack oder surft im Internet, so findet sich kein Motiv, das über die grundlegende Forderung hinausgehen würde: Freier Zugang zu allen Informationen. Wie diese Informationen verwendet werden könnten, wird niemals diskutiert. Wenn diese Jugendlichen auch als Avantgarde einer politischen Bewegung agieren, so stehen sie doch vor dem Problem, dass sich aus ihren ersten politischen Erfahrungen noch kein kritisches Bewusstsein ergibt. Dabei besitzen sie sogar das notwendige Wissen, um zu erkennen, wo die politische Aktion beginnen müsste, um wirksam zu werden. Doch stößt man hier sofort auf das nächste Problem: die jugendlichen Allmachtsphantasien oder, wie Bruce Sterling es nannte, die Furchtlosigkeit, die direkt in den Knast führt. Tatsächlich verbüßten nicht wenige der jungen Aktivisten, man nehme nur das Beispiel der Atlanta Three, teils umfangreiche Haftstrafen unter Bedingungen wie politische Gefangene. Ein Freiheitsentzug aufgrund einer Anklage wegen unbefugten Eindringens mag ein wenig übertrieben erscheinen, doch zeigt sich an der Praxis, höchste Strafen für kleinste Vergehen zu verhängen, welcher Wert der Verteidigung der herrschenden Ordnung und des Privateigentums im Cyberspace beigemessen wird. Bei der Verhängung solch hoher Strafen für Bagatellen entstehen gewisse Legitimationsprobleme. Folglich lässt man eine solche Justizpraxis entweder erst gar nicht an die Öffentlichkeit gelangen oder aber stellt die Vergehen als einen terroristischen Angriff auf den gesellschaftlichen Frieden dar. Beispielsweise sorgten Verhaftungen von Hackern in den USA selten für Schlagzeilen. Die vom Secret Service in Zusammenarbeit mit privaten Sicherheitsdiensten 1990 durchgeführte Großrazzia Operation Sundevil wurde von den Medien kaum beachtet. Die betroffenen Gruppen debattierten den Schlag zwar eingehend, doch fand das Thema kaum Erwähnung in den Hauptnachrichtensendungen, geschweige denn, dass

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340 | Critical Art Ensemble sich Fernsehmagazine darauf gestürzt hätten. Ob das Fehlen öffentlicher Beachtung den Medien anzulasten ist oder gar vom Geheimdienst gesteuert wurde, lässt sich schwer sagen. Doch liegt es auf der Hand, dass weder die privaten Sheriffs noch der Secret Service ein Interesse daran haben, ihre Schlapphut-Methoden öffentlich werden zu lassen. Auch wollen sie Hacker nicht ermutigen, indem sie die Macht enthüllen, die »kriminelles« Eindringen im Cyberspace eröffnet. Aus staatlicher Sicht ist es sinnvoller, technokratisch und mit dem Strafgesetz zu agieren, zumindest solange die elektronischen Dissidenten der Öffentlichkeit nicht als die Wiederkehr des Bösen präsentiert werden können, deren Werk die Zerstörung der Zivilisation ist. Nun ist es aber recht schwierig, den jungen Computer-Freaks die Rolle des Schurken der Woche zuzuschreiben. Um die Öffentlichkeit von der drohenden Gefahr zu überzeugen, bedarf es mehr als einer Anklage wegen verbotenen Zugangs zu Daten. In einigen Hollywood-Produktionen finden sich entsprechende Szenarios, etwa in Sneakers – Die Lautlosen oder Stirb langsam 2. So bringen im letzteren Film terroristische Hacker einen Flughafenrechner unter ihre Kontrolle, nehmen auf diese Weise ganze Flüge als Geiseln und lassen gar eine Maschine verunglücken. Auch wenn dies alles gegenwärtig noch als Science-Fiction wahrgenommen wird, werden Bilder genau dieser Art verwandt werden, um gegebenenfalls individuelle Rechte außer Kraft zu setzen und nicht nur gegen Computerkriminelle vorzugehen, sondern zugleich politische Gegner kaltzustellen. Wir sollten daher den Unterschied zwischen Computerkriminalität und elektronischen Formen zivilen Ungehorsams unterstreichen. Während im ersten Fall aus dem Schaden, der anderen Leuten zugefügt wird, Profit gezogen werden soll, greift der elektronische Widerstand nur Institutionen an. Elektronischer Widerstand bedeutet, das herrschende Wertesystem umzudrehen, also den Einzelnen über die Information zu stellen und überhaupt Informationen zum Wohl der Leute statt zum Funktionieren der Bürokratie zu nutzen. Strategie der Herrschenden ist es hingegen, diese Unterscheidung nicht zuzulassen und elektronischen Widerstand nonchalant der Computerkriminalität zuzuschlagen. Sie zielt darauf, den Cyberspace gegen politische Aktionen abzuschirmen und einen »Angriff« im virtuellen Raum strafrechtlich wie einen körperlichen Angriff im realen Raum verfolgen zu können. Einige wenige reformistische linke Gruppen, wie etwa die Electronic Frontier Foundation, weisen bereits darauf hin, dass Grundrechte – wie Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit – im Cyberspace vorenthalten werden. Sie heben deshalb in ihrer Arbeit die Unterscheidung zwischen politischem und kriminellem Handeln hervor und fordern die gleichen rechtlichen Normen für elektronische wie physische Formen zivilen Ungehorsams. Jedoch muss man davon ausgehen, dass eine reformistische Strategie, die auf eine Legalisierung elektronischer Formen des zivilen Ungehorsams zielt, auf größte Widerstände stößt. Behörden und Bürokratien, die sich im Cyberspace nicht einmal an

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Elektronischer ziviler Ungehorsam (1994) | 341 Grundrechtsgarantien gebunden fühlen, werden wohl kaum halblegale Formen oppositioneller Politik dulden. Elektronischer ziviler Ungehorsam unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von den traditionellen Formen dieser politischen Strategie: Im Kern ist es die gewaltfreie Aktion, die niemals die physische Konfrontation mit dem Gegner sucht. Grundlegende taktische Manöver sind auch hier das Eindringen und die Blockade, das Besetzen von Ein- und Ausgängen, die Kontrolle strategischer Punkte. Der zivile Ungehorsam wird so in elektronischer Form erneuert. Die Aktivisten müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein und die Orte für elektronische Störungen sehr sorgfältig auswählen. Wenn eine gewaltfreie Aktion nie den Eingang zur Notaufnahme eines Krankenhauses blockieren würde, so werden auch elektronisch keine Funktionen unterbrochen, die entsprechenden humanitären Zwecken dienen. Deshalb zielen beispielsweise Aktionen gegen Pharmaproduzenten häufig auf die Forschungs- und Entwicklungseinheiten oder die Marketingabteilung der Konzerne, weil deren Blockade für die betroffenen Firmen teuer wird, ohne bestimmte, für auf Medikamente angewiesene Patienten lebenswichtige, Informationen unzugänglich zu machen. Elektronischer ziviler Ungehorsam schließt auch einen verantwortungsvollen Umgang mit Daten, das heißt den Verzicht auf ihre Beschädigung oder Zerstörung, ein, wenn die Aktivisten ihre Ziele nicht erreichen. Schließlich besagt die Ethik der gewaltfreien Aktion, dass in keinem Fall, sei die Versuchung auch groß, der elektronische Angriff auf Personen, weder auf die Bankkonten der Manager noch auf die Privatkredite der Arbeiter in den anvisierten Firmen, ausgedehnt werden darf. Elektronischer ziviler Ungehorsam richtet sich gegen Institutionen. Das gerade entworfene Modell scheint einfach, bleibt aber gegenwärtig Science-Fiction. Es gibt kein Bündnis zwischen Hackern und politischen Gruppen. Obwohl ein Austausch oder eine Zusammenarbeit beiden Seiten gut tun würde, erfüllen die Auswirkungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung die Funktion, beide sozial zu trennen, erfolgreicher, als die Polizei es könnte. Hacken bedeutet ständige technische Weiterbildung, um die Kenntnisse up to date zu halten. Eine wesentliche Konsequenz dieser unumgänglichen Auseinandersetzung mit der Technik ist, dass sie kaum Zeit lässt für die politische Beschäftigung mit den Verhältnissen, für die Bildung eines kritischen Bewusstseins oder den Ausbau eines oppositionellen Standorts. Doch wird Hackerpolitik ohne dies weiter außerordentlich unbestimmt bleiben. Die zweite Konsequenz der Orientierung an der technischen Entwicklung ist die Isolation der Hacker im geschlossenen Klassenzimmer der Technokraten, in dem es kaum Verbindung zu Leuten außerhalb der eigenen Zirkel gibt. Aber auch den traditionellen politischen Aktivisten geht es keinen Deut besser. Den Kopf in den Wolken politischer Geschichte glauben sie zu wissen, was zu tun und womit zu beginnen ist, doch fehlen ihnen praktikable und effektive Mittel. So sicher die politi-

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342 | Critical Art Ensemble schen Aktivisten sich ihrer Sache auch sein mögen, bleiben sie doch fortwährend in Plenumsdiskussionen ohne Ende stecken, die sich nicht einigen können, welches Monument toten Kapitals unter dem nächsten Streich fallen soll. Wir haben hier also zwei Strömungen anti-autoritär motivierter Politik, die keinen Austausch kennen, die – online und auf der Straße – nebeneinander existieren und deren Niederlagen nicht zuletzt aus einer Kommunikationslosigkeit herrühren, für die keine der beiden Seiten verantwortlich wäre. Die Distanz zwischen Hackern und politischen Aktivisten ist nicht der einzige Grund, warum die Strategie elektronischen zivilen Ungehorsams derzeit wie Science-Fiction klingt. Die Frage, welche Inhalte ein mögliches Bündnis organisieren, ist ebenso von Bedeutung. Linke Politik stützte sich traditionell auf das demokratische Prinzip oder besser die Notwendigkeit eines Einschlusses ins Kollektiv. Die als ›Population‹ geführten Massen drücken demnach ihren gemeinsamen Willen durch die bloße Zahl aus. Die Schwächen dieser Auffassung sind offensichtlich. Der erste Schwachpunkt ist die Vorstellung eines populären Kollektivwillens selbst. Es ist absurd, »das Volk« oder »die Massen« als Träger eines Konsens zu sehen und die vielfältigen gesellschaftlichen Spaltungen – deren Linien Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Klasse, Bildung, Beruf, Sprache etc. sind – auszublenden. Unterschiedliche und teilweise gegeneinanderstehende Bedürfnisse bringen zentralisierte politische Organisationen in eine merkwürdige Situation, wenn sie durch Zahlenspiele ihre Stärke demonstrieren wollen. Entweder ist dabei die Organisation relativ groß und daher ideologisch nicht geschlossen oder sie vertritt als zahlenmäßig verschwindend kleine Gruppe sektiererisch eine Minderheitenposition. Hinzu kommt das Problem der Bürokratisierung als Vorbedingung der Organisation, das Problem der Führerschaft, das Problem der Hierarchie. Auch wenn diese Probleme häufig durch Rotationsmodelle und ähnliches in den Griff bekommen werden sollen, zerstören bürokratische Strukturen gegen die besten Absichten die Möglichkeiten der Gemeinschaft (im eigentlichen Sinn). Noch düsterer wird das Bild, betrachten wir die Möglichkeiten zentralistischer Politikmodelle im globalen Maßstab. Bis heute gibt es keine in diesem Sinn demokratische Organisation, der es auch nur annähernd gelänge, Formen multinationalen Widerstands aufzubauen. Die Macht hingegen tritt global in Erscheinung, und das bedeutet, dem Angriff durch bloße Bewegung auszuweichen, sich dorthin zu begeben, wo es keinen Widerstand gibt. Die zentral organisierte kollektive Aktion mag deshalb auf lokaler Ebene noch ein wenig erfolgversprechend sein, doch ist sie schier nutzlos im größeren Maßstab; nicht nur die gesellschaftliche Arbeitsteilung steht gegen einen Konsens, und es gibt keinen Apparat, der ihn organisiert. Die Hacker-Phantasien von der neuen Avantgarde, deren Techno-Resistance im Dienste »des Volks« agiert, klingen gleichermaßen suspekt, auch wenn sie nicht ganz so weit hergeholt sind wie die Vorstellung einer weltweiten Demokratie. Eine technokratische Avantgarde ist zumindest theore-

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Elektronischer ziviler Ungehorsam (1994) | 343 tisch möglich, zumal die Maschinen vorhanden sind. Doch da sich diese Technokader im Wesentlichen aus jungen, weißen Männern aus der Ersten Welt rekrutieren, stellt sich die Frage, was wohl deren Ziele sein werden? Die bohrende Frage, wer für wen spricht, liegt, wenn die Idee der Avantgarde auftaucht, auf der Hand. Widerstand wirft also drei zentrale Probleme auf: Erstens, wie kann die Vorstellung der Avantgarde mit pluralen Konzepten vereinbart werden? Zweitens, welche Strategie wäre einer dezentralisierten Macht angemessen, die permanent in Bewegung ist? Drittens, wie sollten sich Gruppen im Widerstand organisieren? Obwohl kaum befriedigende Antworten auf diese Fragen gegeben werden können, möchten wir im Folgenden ein paar Überlegungen entwickeln. Eine Strategie der Gegenmacht durch zahlenmäßige Stärke, wie sie von Gewerkschaften bis zur außerparlamentarischen Opposition verfolgt wurde, ist passé, da sie sowohl einen breiten oppositionellen Konsens voraussetzt als auch die Existenz eines zentral organisierten Gegners. Bleibt als Gemeinsamkeit der meisten Gruppierungen im Wesentlichen das Ziel, einer autoritären Macht Widerstand entgegenzusetzen. Doch eine solche anti-autoritäre Orientierung erlangt politisch erst Bedeutung, wenn die monolithische Vorstellung des »demokratischen Willens« aufgegeben wird. Die Bekämpfung einer dezentralen Macht verlangt zudem den Einsatz dezentraler Mittel. Dies schließt eine Neuorientierung linker Politik ein, eine Organisierung in anarchistischen Zellen, die dem Widerstand erlaubt, viele und unterschiedliche Ausgangspunkte zu nehmen, statt nur den einen (und vielleicht falschen) Hauptgegner im Auge zu haben. In einer solchen Struktur entsteht ein inhaltlicher Konsens auf der Basis des gegenseitigen Vertrauens der Einzelnen, das, was wir wahre Gemeinschaft nennen; jede Zelle baut ihre eigene Identität auf, ohne dass dies die individuelle Identität auslöschen würde; und jede Person wird vielschichtiges Individuum bleiben, das nicht auf partikulare Praxis reduziert werden kann. Doch wie kann eine kleine Gruppe von vier bis zehn Menschen politisch wirksam sein? Die Antwort auf diese Frage verweist auf die Struktur der Zelle. Die Zelle ist ein zusammengesetztes Ganzes, das in seinem Zusammenspiel mehr ist als die Summe seiner Teile. Um Wirksamkeit zu entfalten, muss die Kluft zwischen politischem und technischem Wissen innerhalb der Zelle überbrückt werden. Eine gemeinsame politische Perspektive verbindet dabei die Individuen besser als arbeitsteilige gegenseitige Abhängigkeit. Dennoch sind unterschiedliche Fähigkeiten und unterschiedliches Wissen nützlich, etwa wenn sich Aktivisten, Theoretiker/-innen, Künstler/-innen, Hacker/-innen oder sogar Rechtsanwälte/-innen zusammentun. Mit dem Aufbau von Zellen wären die Grundlagen für elektronischen zivilen Ungehorsam geschaffen, und somit könnten politische Kampagnen wenigstens damit rechnen, wahrgenommen zu werden. Elektronische Formen zivilen Ungehorsams sind für radikalere Zellen nur ein erster Schritt – Formen elektronischer Gewalt, wie die »Entführung« von Daten oder die Zerstörung von Computersystemen, sind gleich-

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344 | Critical Art Ensemble falls politische Optionen. Aber sind solche strategischen Überlegungen nicht Formen eines fehlgeleiteten Nihilismus? Nach unserer Auffassung nicht. Insofern eine Revolution die Verhältnisse nicht verändern wird, scheint die Negation der Negation der einzig realistische Kurs. Die historische Erfahrung der Revolutionen und Beinahe-Revolutionen der vergangenen zwei Jahrhunderte lehrt, dass Herrschaft nicht zerschmettert werden wird, wohl aber Widerstand dagegen möglich ist. Wann immer man, kaum war man den leuchtenden Pfad der glorreichen Revolution gegangen, die Augen öffnete, musste man feststellen, dass die Bürokratie immer schon da war, dass vielleicht Coca-Cola verschwunden war, doch irgendwas an seiner Stelle anders aussah und genauso schmeckte. Auch das ist übrigens ein Grund, warum nicht zu befürchten steht, eines Tages in einer von irren Anarchisten zerstörten Zivilisation aufzuwachen. Diese mythische Bedrohung gehört zu den Erzählungen, mit denen der Sicherheitsstaat in der Öffentlichkeit die Angst vor politischer Veränderung schürt. Doch welche Rolle werden zentralisierte Politikformen in diesem neuen Widerstand spielen? Zentralistische Organisationen haben drei Hauptfunktionen: Erstens die Verbreitung von Informationen; Aufklärung und Agitprop bedarf zentralisierter Gegenbürokratien, die über finanzielle Ressourcen, das notwendige Personal und die Infrastruktur verfügen, um oppositionelle Gegeninformation zusammenzutragen, zu gliedern und zu verbreiten. Zweitens die Rekrutierung und Ausbildung neuer Aktivisten; es muss klar werden, wie notwendig die technologische Alphabetisierung der Kader ist. Allein auf die Motivation der Aktivisten, sich auch technisch auszubilden, zu vertrauen, wird nicht genügen, um in den Zellen versierte Leute zu haben. Drittens können zentralistische Organisationen als Vermittler auftreten, wenn das Regime sich gegen alle Wahrscheinlichkeit zu Reformen entschließt. Solche Reformen gehen in der Regel weniger auf einen ideologischen Sinneswandel der Herrschenden zurück als auf einfache Kosten-Nutzen-Abwägungen. Gerade der Fetisch der Effizienz sollte als Bundesgenosse nicht unterschätzt werden. Zentralistische Organisationen können also von Nutzen sein – wenn sie sich aus der direkten Aktion heraushalten. Die Unterwanderung von politischen Zellen ist wesentlich aufwendiger als die Infiltration zentralistischer Organisationen, und vor allem der zur Überwachung notwendige Aufwand potenziert sich mit einer zunehmenden Zahl der Zellen. Eine Reihe aktiver Zellen kann dem Regime die Stirn bieten, indem die fundamentale Strategie des Widerstands verfolgt wird: die Mittel der Herrschenden gegen sie wenden. Um dieser Strategie heute Sinn zu verleihen, ist es notwendig, dass sich der Widerstand – wie zuvor die Macht – von der Straße zurückzieht. Cyberspace ist der Ort und das Mittel des Widerstands – das zu begreifen bedeutet, ein neues strategisches Modell politischer Praxis ins Spiel zu bringen. Übersetzung aus dem Englischen: Thomas Atzert

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Der Datendandy (1995) | 345

Der Datendandy (1995) Agentur Bilwet

Der Datendandy sammelt Informationen nur, um damit zu prahlen, und nicht, um sie zu übertragen. Er ist sehr gut, vielleicht ein bisschen zu gut oder sogar übertrieben gut informiert. Auf zweckgerichtete Fragen treffen ungewünschte Antworten ein. Er kommt ständig mit etwas anderem an. Dem Phänotypus des Datendandys begegnet man mit dem gleichen Schrecken wie seinem historischen Vorgänger, dem Straße und Salon als Spielraum dienten. Die elegante Extravaganz, mit der das detaillierteste Konversationswissen zur Schau gestellt wird, schockiert die zielbewussten Medienbenutzer. Der Datendandy spottet über die maßvolle Konsumption und die dosierte Einnahme geläufiger Nachrichten und Unterhaltung, und lässt sich nicht von Übermaß oder Overload spezialisierten Wissens aus der Ruhe bringen. Seinem sorgfältig zusammengestellten InformationsPortefeuille ist keine konstruktive Motivation zu entnehmen. Er setzt so hoch wie möglich an, um so arbiträr wie möglich rüberzukommen. Die Frage ist: »Warum will der Datenfatzke das alles wissen?« Er zappt nicht aus Langeweile, sondern aus einem Widerwillen, auf der Höhe der laufenden Ereignisse und der neuesten Beschäftigungen Dritter zu bleiben. Im Zeitalter der multimedialen Masseninformation kann man keinen Unterschied mehr zwischen Ein- und Vielförmigkeit erkennen. Weder der große Überblick noch das erklärende Detail können die Geistesverwirrung mindern. Vor diesem Hintergrund beweist der Datendandy, was jeder schon weiß, nämlich, dass Information zwar allgegenwärtig, aber nicht ohne weiteres verfügbar ist. Bestimmte Fakten sind besonders schmückend und dafür muss man eine feine Nase entwickeln. Anders als dem Datensammler geht es besagtem Dandy nicht um die Obsession für einen kompletten Bestand, sondern um die Anhäufung von soviel immateriellem Kleinkram wie möglich. Der Datendandy sucht genau die am meisten extravertierten Newsgroups auf, um seine unproduktiven Beiträge zu lancieren. Was der Datendandy abstaubt, um es anderswo zu präsentieren, ist latent wichtig, wäre nicht die Präsentation so indiskret. Seine launenhafte Spitzfindigkeit lenkt die Aufmerksamkeit von den täglichen Items ab. Die bon mots haben eine Genialitätsdauer von 30 Sekunden, danach verschwin-

2007-03-26 15-01-50 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 345-349) T05-03 bilwet.p 142895398808

346 | Agentur Bilwet den sie genauso plötzlich wieder vom Bildschirm. Unser Datendandy ist ein Makler in Gigaware, in dem Sinne, dass der Abfall der anderen sein Make-up ist, und seine Substanz ihr Fluidum. Der Bildschirm ist der Spiegel, vor dem er seine Toilette macht. Das button/unbutton des textilen Dandyismus hat sein Äquivalent im Kanalsurfen der on/off-Dekadenz gefunden. Umhüllt von feinsten Fakten und unsinnigsten Gadgets bringt er die Zeitökonomie der Informationsmanager durcheinander. Den größten Teil seiner Computerzeit verbringt er mit der schwungvollen Einrichtung seiner Festplatte und dem Anbringen raffinierter Schaltungen zwischen tausendfältigem heterogenen Software-Nippes. Das Powerbook als Schmuckstück ist der Stolz manch eines Salondigitalisten. Dieser verhöhnt mit Aktualität, Hype und Mode: Kurz erscheint ein Ich, welches sich als sein eigener Anchorman anbietet. Der Datendandy betrachtet sein Atavar im Cyberspace als das Zentrum des digitalen Weltalls. Er weiß, dass er diese Position nur der Gunst der offenen Einrichtung des Computernetzes verdankt. Seine lästigen Interventionen haben als Daseinberechtigung den Public Access, den sie nicht als Mittel auffassen, die non-virtuelle Welt zu verändern. Er durchschaut das Netz als einen Raum, in dem man sich zur Schau stellen kann, und nicht als Raum zur Kommunikation. Die Simulation ist das Fundament seiner »General Principles of Digital Elegance«, die von den Essentialisten, die noch an den Unterschied echt/unecht glauben, als »Lust am Untergang« oder »reiner Hedonismus« abgelehnt werden. Der Datendandy ist ein Geheimdemokrat, der einen relaxten Kampf für die grenzenlose Ausdehnung der digitalen Menschenrechte führt. Denn wenn der Stecker aus dem Netz gezogen wird, verflüchtigt sich seine Persönlichkeit. Der Datendandy zeigt eine beunruhigende Verwandtschaft mit dem Politiker, der sich uns ebenfalls mit nichtssagenden Aussagen aufdrängt und einfach nicht weichen will. Nun, da die politischen Klassen in ihrem Todeskampf die Medien entdeckt haben, sind sie nicht mehr daraus wegzubekommen und entwickeln dandyistische Züge. Der Datendandy taucht in der Leere der Politik auf, die zurückgeblieben ist, seit die Gegenkultur sich in einer dialektischen Synthese mit dem System aufgelöst hat. Dort entpuppt er sich als ein ebenso liebenswerter wie falscher Gegner, zur großen Wut von Politikern, die ihren jung-pragmatischen Dandyismus als ein publizistisches Mittel betrachten und nicht per se als persönliches Ziel. Sie kühlen ihre Wut an Journalisten, Sachverständigen und Persönlichkeiten, welche die zufällige Diskussionsrunde auf der Studiofläche bilden, wo die Weisungsbefugnis über die Regie der einzige Gesprächsgegenstand ist. Doch sie haben die größte Mühe mit dem Datendandy, der kein fairer Gegenspieler sein will und es versäumt, hübsch kritische Fragen zu stellen. Unser bon viveur erfreut sich an aller zur Schau getragenen Banalität und nimmt absolut keinen Anstoß am undefinierbaren Bestreben. Es wäre so nützlich gewesen, grimmig zu sein, aber der gescheiterte Subversive zeigt sich ausgerechnet von seiner einnehmenden Seite. Sein Charme ist tödlich. Während der Underground untalentiert auf der Suche

2007-03-26 15-01-50 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 345-349) T05-03 bilwet.p 142895398808

Der Datendandy (1995) | 347 nach Instrumenten ist, um das Establishment zu ärgern, lässt der Datendandy die Sache anmutig den Bach runtergehen. Es gibt keine soziale Bewegung, Opposition oder Unterströmung mehr, und die können auch nicht aus dem Nichts auftauchen, höchstens weiter ins Private wegsacken. Einmal leer, bleiben die Medien immer leer, dagegen kommt kein Statement an. Hacker und Cyberpunks manifestieren sich nicht, einfach weil sie nicht existieren (genau wie der Datendandy). Diese potentiellen Gestalten werden nur als Geister beschworen. Das Anrufen fiktiver gesellschaftlicher Kräfte ist eine Verzweiflungstat, um überhaupt noch eine Referenz des Feindes zu haben. Der Datendandy wird für proto-, neo-, retro-faschistisch gehalten, wenn er während der Verarbeitungsdebatte über den »aufkommenden Rechtsextremismus« kurz in der Gestalt des Theorie-Dazlak als illusionärer Teilnehmer auftaucht. Die absolute Untätigkeit des Datendandys ähnelt der erhabenen Faulheit von Couplands Generation X. Slackers, MacJobbers, Bilwet und Butheadfans oder Vaguers erweisen sich als schicksalhaft verwachsen mit den Medien und verwehren sich gegen die historische Aufgabe, Subjekte der technologischen Umwälzungen zu sein. Sie amüsieren sich über die Vorstellung, die Maus, der Joystick und die Fernbedienung seien revolutionäre Werkzeuge für eine neue, schöpferische Produktivität. Das kreative Potential der neuen Medien liegt vor allem in ihrer Möglichkeit zum viel versprechenden Betrug, mit dem nur wenige Geld machen. Die coolen Produkte werden von den Xers ironisch und frei von Illusionen konsumiert. Ihre Lust am selbstreferentiellen Charakter der Medien trägt keine Früchte. Hier wird nicht an der Mannigfaltigkeit der techné gebastelt. Die Garagenromantik der 1980er Jahren ist längst ausgeträumt. Die Digitalisierung verläuft in den 1990ern unter subproletarischen Arbeitsbedingungen, jenseits des abgebauten Öko-Sozialstaates. Geräteherstellung und Datenverarbeitung geschehen heutzutage global und werden, telematisch gesteuert, in die Karibik, nach China, Indien oder Osteuropa ausgelagert. Das Netz als das Nirwana der verschwundenen Arbeitsplätze, dient vor allem dazu, sich über die armselige und holprige Kommunikationsextase Anderer lustig zu machen. Anders als die Generation X bemüht sich der Datendandy, seinen Zynismus über den Schwindel des Netzes zu verbergen. Die Pflege der Negativität soll, reich an paradoxem Witz, in stilvoller Vornehmheit ausgetragen werden. Das große Nichts, das im digitalen Abgrund klafft, soll verdeckt bleiben. Das ist der eigentliche Grund seines Willens zur Verschleierung und Täuschung. Die »tiefe Melancholie der Computer« und die unendliche Leere der Cyberräume ruft bei den Benutzern existenzüberschreitende Phantasmen hervor, die der Datendandy in seiner humanoiden Künstlichkeit zu beschwören versucht. Er verachtet den konsumierbaren Armutskult des Grunge, die fluor-grellen Frisch-und-Fröhlichfarben von Swatch und Bennetton und die gut gemeinten und gesunden Halluzinationen der Cyberkultur. Gegen das computergesteuerte Spektakel des Gehirns mit seinem endlosen Navigieren durch die Datenmassen setzt der Datendandy

2007-03-26 15-01-50 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 345-349) T05-03 bilwet.p 142895398808

348 | Agentur Bilwet den graziösen Kunstgriff des Geistesblitzes. Er verhöhnt Suchsysteme, Knowbots und Hypercard-Strukturen. Sein verführerisches Potential basiert auf dem rätselhaften Hervorzaubern von einmaligem Wissen. Die heroische Datenerzeugung verblüfft die Lebenshilfe- und Karriereklasse, die sich genervt fragen, wo sie denn bloß die Anleitung für den Datendandyismus herbekommen können. Sie werden frustriert verschwinden, wenn sie erst einmal erfahren, dass die Medien und ihre Theoretiker tatsächlich nur Leere vermitteln und der chamäleonartige Datendandy ohne Scham über seinen eigenen angeblichen Tod lachen kann. Was die metropolitane Straße für den historischen, ist das Netz für den elektronischen Dandy. Das Flanieren längs der Datenboulevards kann nicht verboten werden und verstopft schließlich die gesamte Bandbreite. Das allzu kultivierte Gespräch während eines Rendezvous rührt einige unangebrachte und irritierende Daten auf, mündet aber nie in Dissidenz. Das mutwillig verkehrte Navigieren und elegante Joy Riding innerhalb anderer Leute Elektro-Umgebung will Bewunderung, Neid und Verwirrung hervorrufen und steuert selbstbewusst auf einen gestylten Unbegriff zu. Der Dandy misst die Schönheit seiner virtuellen Erscheinung an der moralischen Empörung und Lachlust der Plugged-in Civilians. Es ist eine natürliche Eigenschaft des Stutzers, den Schock des Künstlichen zu genießen. Darum fühlt er sich so zuhause im Cyberspace mit all seinen Attributen. Das Riechwasser und die rosa Strümpfe sind hier lediglich ersetzt durch kostbare Intels, zarte Datagloves und mit Rubinen besetzte Datenbrillen, und an seinen Augenbrauen und Nasenflügeln sitzen Sensoren. Weg mit der bäurischen NASA-Ästhetik der Cybernauten! Wir haben das Stadium der Pioniere weit hinter uns gelassen – nun geht es um die Grazie der medialen Geste. Die anonyme Masse in den Straßen bildete das Spielfeld und das Publikum des Passagendandys, die eingeloggten Benutzer des Netzes sind die Mitspieler, von denen sich der große digitale Ästhet abhebt. Dieser sieht sich gezwungen, die anderen User als die anonyme Masse zu benutzen, als die amorphe Normalität, von der er die scharf umrissene Abweichung bildet. Der Infodandy weiß, dass er nie mehr ist, als einer unter vielen Irren im Karneval der Veränderlichkeiten des Informationszirkus. Er wird sich daher nie als die soundsovielte Retro-Identität präsentieren – Überbleibsel einer der Moden des 20. Jahrhunderts wie Hippie, Faschist, Punk, Modernist, Feminist –, weil er nur als Non-Identität selbst die Regeln des Netzes beeinflussen kann. Was ist Exklusivität im Zeitalter der Differenzen? Der Dandy ist nicht an stets geheimeren Passwörtern interessiert, um in noch geschlossenere Datensalons einzudringen – er braucht virtuelle Plätze für seine tragische Erscheinung. Datendandyismus entsteht aus Abneigung gegen die Verbannung in eine eigene Subkultur. Die großen Feinde des Dandys sind der Camp und der Kult, welche als Kämpfer gegen Lifestyle und Design die populäre Kultur als Quelle der Geschmacklosigkeit brauchen. Der Datendandy als falscher Souffleur der Sentimentalität von heute trauert Mattheit, Konformismus, dem Fehlen von Engagement,

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Der Datendandy (1995) | 349 undeutlich werdenden Normen, Materialismus, Individualismus, Entpolitisierung und dem Wiederaufkommen der alten Linken nicht nach. Der Dandy lanciert im Gegenteil immer wieder einen inhaltslosen »Vorläufigen Allgemeinen Nenner« (VAN), in dem sich alle Subkulturen zu erkennen glauben, und weiß so eine bemerkenswert große graue Masse anzuziehen, um damit eigene Spektakel zu veranstalten. Er kreiert eine lose Öffentlichkeit und testet die Konventionen. Willkürliche Vorbilder starker VANs mit hohem Vagheitskoeffizienten sind die »Love Parade«, Kerzen- und Fackeldemos gegen den Golfkrieg und Rostock, die Kerze im Fenster für Polen, Europride, eine Menschenkette für die Umwelt über den Bosporus und andere Mobilisierungen öffentlicher Kümmernisse. Der Datendandy surft auf den Wellen seiner VANs mit und genießt, dass so viele einen Inhalt in den Zeichen des Nichtssagenden zu entdecken meinen. Deshalb ist er auch so engagiert und sitzt nicht zuhause und schimpft, dass nichts passiert. Er lebt bei jeder Vorführung der Massen auf und schwelgt in all der zur Schau gestellten Rührung. Die Sehnsucht nach einer verbindenden Leidenschaft ist Grund genug, auf die Straße zu gehen. Der Nullprotest ist eine Manifestation kollektiver Anwesenheit, die in medialer Präsenz kulminiert. Der politische Widerstand als Reklame für den soundsovielten Lifestyle rührt Tausende zu Tränen. Das Einzige im Netz, was die Eigenschaften einer Masse zeigt, sind jedoch nicht die Benutzer, sondern die Information selbst. Sobald ein neues Wissensgebietchen gefunden ist, spaltet und verzweigt es sich, sodass endlos viel Information ein- und ausströmt. Was heute ein neues Thema ist, sind morgen 23 Newsgroups. Will der Datendandy als reelle Gestalt ankommen, dann geht das nur in der Form von Dandydaten. Diese sind queer: Wo die heteroinformativen Daten der Normalos auf Qualifikation, Assoziation und Reproduktion aus sind, sodass sie verwehen und die Desintegration weiter anfachen, sind die homoinformativen Daten der Dandys zwar exzentrisch, aber nicht speziell. Homodaten verbinden sich nicht mit anderen und sind in sich selbst versunken. Sie ziehen, ebenso wie die VANs, etwa gleich getönte Infos an und erreichen eine unbekümmerte Konzentration innerhalb des Informationsfeldes, wo die Show beginnen kann. Zwar ist die Rede von einem Schein der Begegnung oder einer Konfrontation mit dem System, aber der Kontakt hat keinen produktiven Moment, keine Ursache oder Folge. Dandydaten sind rein situationell, parasitär par excellence. Was sie hinterlassen ist die starke Geschichte, Brennstoff aller Medien und die Hoffnung der Theorie. Übersetzung aus dem Niederländischen: Petra Ilyes

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350 | autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe

Bewegungsle(e/h)re? Anmerkungen zur Entwicklung alternativer und linker Gegenöffentlichkeit. Update 2.0. (1997) autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe

Obwohl die (radikale) Linke sich permanent selbst darüber vergewissert, welch toter Hund sie im Grunde genommen sei, will sie doch immer noch nicht ganz daran glauben. Derzeit unternehmen nicht wenige disputierende Zirkel einen Wiederbelebungsversuch unter dem Label »Gegenöffentlichkeit«. Doch für uns besteht der Verdacht, dass die Rosskur des medialen (Dis-)Kurses von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, nachdem die Utopien abhanden gekommen sind. Die aktuellen Diskussionen zum Thema »Gegenöffentlichkeit« erscheinen uns mit zwei Tendenzen eng verknüpft: dem generellen Lamento über die heutige Krise der linken Medien einerseits und den dazu kontrastierenden, mitunter fast euphorischen Hoffnungen auf die mit den neuen telematischen Kommunikationstechnologien (Internet) verbundenen Möglichkeiten. Im Folgenden gehen wir zunächst der linken Version des Mythos von der »Informationsgesellschaft« nach. Daran schließen sich zum zweiten einige Anmerkungen zur Rolle der alternativen und eigenen Medien in der »Blütezeit« der sozialen Bewegungen an. Drittens versuchen wir, Konsequenzen für die Rekonstruktion eines politischen Projekts einer radikalen Linken zu umreißen, die sich vor dem Hintergrund der analysierten aktuellen Tendenzen im Bereich »Gegenöffentlichkeit« ergeben.

Medientheorie und Informationsfetisch Für die Frage nach der aktuellen Funktion der traditionellen Formen von Gegenöffentlichkeit erscheint zunächst ein Blick zurück und die Beschrei-

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Bewegungsle(e/h)re? (1997) | 351 bung der bisherigen Praxis hilfreich. In Anlehnung an Geert Lovink1 halten wir es für sinnvoll, die Medien der linken Gegenöffentlichkeit hinsichtlich ihrer Funktion idealtypisch in »alternative« und »eigene« Medien zu unterscheiden. »Alternative« Medien spiegeln sich vornehmlich an den bürgerlichen Medien, indem sie beständig eine inhaltlich korrigierende und das bestehende Informationsspektrum ergänzende Aufgabe wahrnehmen. Dabei kam den »alternativen« Medien vor allem bei der Bereitstellung abweichender Lesarten sozialer und politischer Widersprüche in den 1970er/1980er Jahren eine wichtige Funktion bei der Bildung einer linksliberalen Öffentlichkeit zu. Davon zu unterscheiden ist die Schaffung »eigener« Medien, die nicht mehr so sehr auf die Bewusstwerdung der anderen, sprich auf eine direkte Beeinflussung bis Bereicherung der allgemeinen »öffentlichen Meinung« setzen. Der eigentliche Unterschied zu den »alternativen« Medien besteht dabei in der Art und Weise der Selbstpositionierung auf politischem Terrain, die sich nicht nur inhaltlich in explizit linken Stellungnahmen und Diskussionen äußert, sondern auch durch das Aufgreifen subkultureller Themen und Codes. Auf Szenen und subkulturelle Orte bezogen stellen »eigene« Medien gewissermaßen Orientierungspunkte der dortigen sozialen Praxis bereit. Dabei kommt ihnen primär eine Identitäten und Binnendiskurse stabilisierende Funktion zu. Zwar bewegen sich die »eigenen« Medien in einem durch Slang und Gangart ihrer subkulturellen Basis eng begrenzten Raum, doch funktioniert hier andererseits der Austausch zwischen Publikum und Macher/-innen noch am besten. Bei dieser Betrachtung wird deutlich, dass die sozialen Beziehungsrahmen und die außermedialen politischen und kulturellen Praxen, in die sich linke Medien einordnen, einen zentralen Stellenwert für die Einschätzung ihrer Funktionsweise haben. Die Bedeutung dieses Bezugs wurde aber in den Diskussionen um linke Gegenöffentlichkeit weitgehend außer Acht gelassen, solange überzogene Vorstellungen von den Möglichkeiten einer medialen linken Intervention in die bürgerliche Öffentlichkeit dominierten. Es wurde, zugespitzt formuliert, davon ausgegangen, dass nur genug Aktivisten und Aktivistinnen an möglichst vielen Stellen Gegenöffentlichkeit herstellen müssten, wodurch dann irgendwann eine gesellschaftsverändernde Kettenreaktion ausgelöst würde. Eine Vielzahl linker Medienprojekte stellte sich aus dieser Logik heraus die Aufgabe, die in den bürgerlichen Medien unterbliebenen Nachrichten zu verbreiten. Diese Konzeption von »Gegenöffentlichkeit« bezeichnet Lovink als »Megaphonmodell«, denn sie unterstellt unausgesprochen einen kausalen Zusammenhang zwischen Information, Bewusstsein und Handeln. Dahinter steht die Vorstellung einer manipulativen Medienwirkung, der zufolge es

1 | Vgl. Geert Lovink: Hör zu – oder stirb! Fragmente einer Theorie der souveränen Medien, Berlin 1992.

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352 | autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe ausreicht, im Kommunikationskanal die »falschen« Ideen durch die »richtigen« zu ersetzen: Wenn die Menschen nur lange genug »die Wahrheit« hören, werden sie irgendwann ihre Meinung ändern und sich gegen die (sie be-)herrschenden Verhältnisse wenden. Diese klassische Konzeption zur Schaffung von Gegenöffentlichkeit kann sich auf Theoretiker wie Hans Magnus Enzensberger und eine lang erprobte Praxis berufen. Sie nährt im Glauben an die Wirkung von richtigen Informationen die Überzeugung, dass es genüge, wenn die Linke die Sendezentralen der Massenmedien übernähme bzw. über ausreichend starke eigene Medien verfüge, um ihren Ideen Plausibilität und Durchschlagskraft zu verleihen. Ein derartiges politisches Konzept, das darauf abzielt, Handeln durch die Massivität von Information zu bewirken, versteht die Medien letzten Endes als Manipulationsinstrument. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass ein solches, auf die Übermittlung der »richtigen« Informationen fixiertes Verständnis von Medien und Medienrezeption zu kurz greift. Denn heute sind, nicht zuletzt durch die Existenz von Gegenöffentlichkeit, auch gesellschaftskritische Informationen vielerorts verfügbar – sie bleiben aber folgenlos. Das deutet darauf hin, dass die Medienkonsument/-innen gezielt Informationen auswählen und andere ignorieren. Diese Auswahl ist strukturiert durch das Interesse, gesellschaftliche Wirklichkeit in einer Weise wahrzunehmen, die die eigenen Selbst- und Gesellschaftskonzepte legitimiert. Es geht daher zunächst einmal darum, zur Kenntnis zu nehmen, dass es ein gesellschaftliches Verhältnis gibt, das Erkenntnis vorstrukturiert. So wird umgekehrt ein Schuh daraus: Heute mangelt es in der bürgerlichen Gesellschaft nicht an Informationen, sprich an Gegenöffentlichkeit, sondern das Hauptproblem ist deren absolute Folgenlosigkeit. Das heißt keinesfalls, dass es dieser Informationen nicht mehr bedarf, sondern nur, dass ein Politikkonzept, dass hauptsächlich oder ausschließlich auf deren Wirkung vertraut, uns problematisch erscheint. In »Öffentlichkeit und Erfahrung«2 haben Negt und Kluge darauf verwiesen, dass die Subjekte sich »die bloße Abbildung der Realität« nur dann aneignen, wenn sie zugleich wissen, wie sie aktiv die sie bedrückenden Verhältnisse verändern können: »Erst aus dieser Handlungsmöglichkeit könnte sich ihr Interesse am Realismus rekrutieren.« Gegenöffentlichkeit darf nicht auf den medialen Aspekt der Vermittlung reduziert werden. Mediale Interventionen müssen in einem umfassenderen Kontext von sozialem, politischem und kulturellem Handeln gedacht werden. Wichtig erscheint mitunter nicht, ob etwas in der Zeitung steht, sondern dass und wie Leute über Sachverhalte reden. (Gegen-)Öffentlichkeit ist dann mehr als Bildschirm, Radio oder Zeitung. Mediale Strategien, die allein auf den

2 | Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 1972.

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Bewegungsle(e/h)re? (1997) | 353 Informationsaspekt setzen und den gesamten Lebenszusammenhang bei der Konzipierung politischer Strategien außen vor lassen, laufen Gefahr, den medialen Bereich zu überschätzen. (Mit dieser Überschätzung von Medienwirkungen befinden sie sich übrigens in gutbürgerlicher Gesellschaft, vgl. die Diskussionen um Mediengewalt.) Hier erscheint uns ein weiterer Aspekt wichtig, der zwar genau wie Negts und Kluges Erkenntnis hinreichend bekannt ist, aber genauso wenig Folgen für die Diskussion des Konzepts Gegenöffentlichkeit hatte: Die linken medientheoretischen Vorstellungen setzen voraus, dass die herkömmlichen Massenmedien sich – einmal im Besitz der richtigen Leute – als ein Instrument zur demokratischen Willensbildung einsetzen lassen. Aber das ist eine Mystifikation, denn Massenmedien im bisherigen Sinne sind nicht demokratisch. Ihre Kommunikationsform macht einen wirklich gleichberechtigten Austausch unmöglich, denn Massenmedien beruhen auf dem Prinzip der Vervielfältigung von Informationen in nur eine Richtung, von den Produzierenden hin zu den Konsument/-innen. Außerdem reproduzieren sie durch die Einbahnstraße ihres Kommunikationskanals Machtpositionen. Eine Strategie von Gegenöffentlichkeit, die sich auf Massenmedien stützt, vergisst, dass Massenmedien keine Reziprozität im Sinne von Gegenseitigkeit ermöglichen, sondern einen eng gesteckten Rahmen dafür setzen, was von wem in welcher Weise mitgeteilt werden kann und wer zum Schweigen verurteilt ist. Reversibilität (also Umkehrbarkeit des Informationsflusses, z.B. Hörer/-innenanrufe oder Leser/-innenbriefe) ist nicht mit Reziprozität gleichzusetzen. Aufgrund dieser Nicht-Reziprozität können Massenmedien für die Empfänger/-innen allenfalls in sehr reduzierter Weise Ausgangspunkt oder Element von über den reinen Medienkonsum hinausgehenden sozialen Praxen werden. Für die Macher/-innen mag das anders aussehen.

Gegenöffentlichkeit und soziale Praxis Diese Kritik an einem verbreiteten linken Medienverständnis rückt aus unserer Sicht die viel beschworene Krise alternativer Medien in ein anderes Licht. Denn möglicherweise war es gar nicht so, dass linke Gegenöffentlichkeit »früher« besser »funktionierte«. Vielleicht war es auch nicht so, dass die damalige Medienpraxis gut war, sondern vielmehr, dass die Stärke der sozialen Praxis die Unzulänglichkeiten der medialen, »inhaltlichen« Vermittlung unsichtbar machte. Wo geglaubt wurde, durch Aufklärung weitergekommen zu sein, mag es vielleicht in Wirklichkeit gar nicht der schlagenden Brillanz der Argumente aus der Gegenöffentlichkeit geschuldet gewesen sein, die bei vielen Leuten ein Interesse für bestimmte Themen und Sichtweisen und ein Bedürfnis nach entsprechenden Informationen hervorrief. Vielmehr drückte dieses Interesse die Veränderungen der eigenen Lebenszusammenhänge vor dem Hintergrund jener gesellschaftli-

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354 | autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe chen Entwicklung aus, in deren Zuge auch die »neuen sozialen Bewegungen« ihre Bedeutung gewannen. Etwas zugespitzt ließe sich daraus folgern, dass es nicht die linken Medien waren, die zur Ausbreitung der politischen Bewegungen beitrugen, sondern dass umgekehrt die Stärke der Bewegungen vor dem Hintergrund einer spezifischen gesellschaftlichen Situation den linken Zeitungen, Zeitschriften und Radios zu ihrer Verbreitung verhalf. Und in dieser Lesart ist offensichtlich, worin der Unterschied zwischen den Funktionsweisen linker Öffentlichkeit damals und heute besteht. Die Friedens-, die Anti-AKW- oder die feministischen Bewegungen boten konkrete Handlungsangebote und -zusammenhänge. Darin besteht ein weiterer Unterschied zwischen den Funktionsweisen linker Öffentlichkeit damals und heute. Gegenöffentliche Medieninformationen konnten sich vor diesem Hintergrund in bestimmten Kreisen eines besonderen Interesses sicher sein. Die Tatsache, dass Medieninformation ohne im Rahmen einer sozialen Praxis gegebene Handlungsmöglichkeiten zumeist wirkungslos bleiben, fiel damals gar nicht weiter auf, und so lag der Trugschluss nahe, dass Medieninformation per se zu politischem Handeln führt. Heute aber wird vor dem Hintergrund des Fehlens starker politischer und sozialer Bewegungen deutlich, dass zwischen Anspruch und realer Funktion von Medien der »Gegenöffentlichkeit« eine Lücke klafft (die vielleicht schon immer bestand). Auch solche Medien, deren Anliegen es war, in die bürgerliche Öffentlichkeit zu wirken, dienten faktisch wohl doch in erster Linie der Vernetzung und Selbstvergewisserung innerhalb der Linken, so dass es sich bei ihnen wiederum eher um »eigene« denn um »alternative« Medien handelte. Solange soziale und politische Bewegungen der 1970er Jahre »intakt« waren, fiel dieser Widerspruch zwischen Anliegen und tatsächlicher Funktion ebensowenig auf wie die Tatsache, dass Information und Ideologiekritik für sich genommen keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Nun aber unterstreicht die Entwicklung die Richtigkeit von Negts und Kluges Analyse, dass Information per se nichts bewirkt, wenn nicht eine soziale Praxis damit verbunden ist. Wenn aber Stellenwert und Wirkungsweise von Information nicht allein durch ihren Wahrheitsgehalt bestimmt sind, sondern durch den Kontext, innerhalb dessen Informationen rezipiert werden, dann ist das Konzept einer Aufklärung durch Information problematisch.

Don’t believe the Hype – Gegenöffentlichkeit im Internet? Wenn wir uns der Frage zuwenden, welche Chancen sich für eine linke »Gegenöffentlichkeit« aus neuen technischen Entwicklungen ergeben, ist das für uns zentrale Problem nicht, welche neuen Kanäle der Informationsübermittlung sich durch freie Radios, Mailboxen und Internet allgemein bieten. Vielmehr geht es darum zu klären, wo solche Medien im

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Bewegungsle(e/h)re? (1997) | 355 sozialen Raum positioniert sind und welche neuen (Handlungs-)Perspektiven sie eröffnen. Auch die Diskussionen um das Internet als neuem Ort linker Medienpraxis kreisen in erster Linie um den Fetisch »Information, Information, nochmal Information und zwar für alle«. Dabei werden Diskussionen über die technischen Möglichkeiten von Gegenöffentlichkeit wiederholt, wie sie ähnlich im Zusammenhang mit freien Radios bereits geführt wurden. Berauscht von der Vorstellung eines riesigen, internationalen und deswegen kaum zensierbaren Informationsflusses bleibt die Debatte aber häufig an diesem Punkt stehen. Dabei ist auch hier zu fragen, welcher Stellenwert einer solchen Information zukommt. Es wird hier von Medien in einer Weise gesprochen, als seien sie die Öffentlichkeit selbst: »Die Rede von der Mailbox als universelles Medium erweist sich vollends als Mythos, wenn der Austausch von Daten und politischen Informationen zum puren Selbstzweck wird, falls diese sich am Ende nicht in politischer Praxis materialisieren. Das heißt, die Anwendung dieser neuen Technologie (für sich genommen) erreicht nichts!«3 Es ist einmal mehr das Manko, dass in der Diskussion um das Internet gerade in Bezug auf Gegenöffentlichkeit wieder nur von Informationen und Kanälen die Rede ist, aber nicht von den Bedingungen der Rezeption. Einmal mehr haben wir es mit einer Technifizierung der Diskussion um die Bedingungen von politischem und sozialem Handeln zu tun. Auch Linke knüpfen vielfältige Hoffnungen an die technologischen Möglichkeiten des Netzes. Demokratisierung und bessere Partizipationschancen können schon als Gemeinplätze des Internet-Hypes angesehen werden. Solche Vorstellungen können wir uns getrost abschminken, denn die technische Möglichkeit des Zugangs zum Netz sagt noch nichts über die anderen notwendigen Voraussetzungen für den Gebrauch des Netzes, wie die Verfügung von kulturellem oder sozialem Kapital, aus. Aus unserer Sicht wäre die spannendere Frage, was von Vorstellungen zu halten ist, die das Internet auch und gerade als potentiellen Ort neuer sozialer Praxen verstehen. Es darf zumindest nicht übersehen werden, dass sich das Internet von traditionellen Medien insofern wesentlich unterscheidet, als es die Möglichkeit einer reziproken und interaktiven Kommunikation bietet. Besteht die Aussicht, sich in diesem Rahmen selbstbestimmte Orte zu schaffen, »temporäre autonome Zonen«, in denen bestehende gesellschaftliche Regeln zumindest zeitweise außer Kraft gesetzt (bzw. noch gar nicht verbindlich formuliert) sind? Und wenn ja, welche Auswirkungen hat das auf die sozialen Beziehungen außerhalb der Netze? Die Kritik an solchen Vorstellungen wird häufig wiederum von einer Position aus formuliert, die offen oder implizit die »authentischen« Formen von Kommunikation, Interaktion und sozialer Praxis in der »wirklichen« Welt der Scheinwelt des Cyberspace gegenüberstellt. Uns erscheint

3 | Thomas Kunz: »Medien, Mythen, Mailboxen«, in: links 3 (1994), S. 18-20.

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356 | autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe eine solche unterschwellig naturalisierende Gegenüberstellung und Bewertung von Formen menschlicher Praxis fragwürdig. Vielleicht bietet gerade die reduzierte und »unauthentische« Form der Kommunikation im Netz die Chance, dort bestehende soziale Identitäten zumindest teilweise außer Kraft zu setzen. Bei der Beurteilung, welche tatsächlichen Möglichkeiten sich hier bieten, ist unkritische Begeisterung ebenso unangebracht wie vorschnelle Ablehnung. Viele Fragen, die sich uns aufdrängen, sind aus anderen Zusammenhängen wohlbekannt: Wer sind die Akteure im Internet (vor allem männliche weiße Metropolenmittelschichtsbürger, genau wie in der Linken …)? Wie lange wird es dauern, bis die bestehenden Spielräume im Netz juristisch und polizeilich domestiziert sind? Inwieweit besteht die Gefahr, einmal mehr die Funktion der Avantgarde im kapitalistischen Modernisierungsprozess zu übernehmen, deren Praxen dann in kommerzialisierter und entschärfter Form in den gesellschaftlichen Mainstream eingehen? Wesentlich erscheint es uns auf jeden Fall, sich bei der Diskussion nicht selbst in den Cyberspace zu katapultieren, sondern das Verhältnis von Cyber-Netzkommunikation und Kommunikation im »Real Life« im Auge zu behalten. Sonst laufen wir stets Gefahr, allzu technologiezentriert zu diskutieren oder gar dem Mythos der »Informationsgesellschaft« aufzusitzen. Gerade vor dem Hintergrund der Euphorie um das Internet haben jene Techno-Philosophien (Kittler, Flusser oder Bolz) wieder Boden gewinnen können, die einer »Mediatisierung« (»Der Wunsch nach unverstellter Kommunikation hat keine realistische Basis mehr«4) von Kommunikation und von Öffentlichkeit das Wort reden und die Medien selbst als soziale Praxis ansehen. In dieser Sichtweise werden Medien als eigenständige Wesen mit Willen zum Fortschritt imaginiert; daher mache es auch wenig Sinn, sich gegen die technologischen Entwicklungen aufzulehnen.5 Diese Techno-Philosophien liefern den ideologischen Unterbau für eine Entwicklung, in der das technische Leitbild Computer und neuerdings das Internet zur wichtigsten Metapher für die sozialen Aufstiegsphantasien und -hoffnungen diverser Mittelschichten geworden ist. Der Mythos von der »Informationsgesellschaft« findet hier seinen symbolischen Ausdruck.

4 | Rudolf Maresch: »Mediatisierte Öffentlichkeiten«, in: Leviathan 23/3 (1995), S. 405. 5 | Vgl. die Kritik von Sabeth Buchmann: »Nur soviel: Das Medium ist nicht die Botschaft. Kritik der Medientheorie«, in: Marius Babias (Hg.), Im Zentrum der Peripherie. Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Dresden, Basel 1995, S. 79-102. In diesem Text zeigt die Autorin die naturalisierende reaktionäre Dimension dieser technikdeterministischen Vorstellungen auf.

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Bewegungsle(e/h)re? (1997) | 357

»Vorwärts und viel vergessen!« Es bleibt die Frage, was aus unseren Überlegungen für die linke Medienpraxis folgt. Das Hauptziel derzeitiger linker Politik müsste unseres Erachtens sein, Alternativen über die »Natur« der gesellschaftlichen Beziehungen gegenüber dem bestehenden hegemonialen Konsens wieder denkbar zu machen, wobei es notwendig ist, die Modalitäten der Herstellung dieses Konsens in Rechnung zu stellen. Ungeachtet der Verschärfung von Klassengegensätzen vollzieht sich gleichzeitig eine Ausdifferenzierung von Lebensstilen und deren Repräsentation in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Das hat zur Folge, dass, was sich früher als klar umrissener hegemonialer Diskurs ausmachen ließ, heutzutage immer schwerer zuordenbar ist. Das liegt unter anderem auch daran, dass sich dieser Diskurs in erster Linie nicht mehr um bestimmte Inhalte dreht, sondern zugleich in der Form ihrer Repräsentation aufgeht. Damit geht ein Eindringen in das Themenfeld alternativer Medien einher, deren Form absorbiert und deren Inhalte neutralisiert werden. (So, wenn die in den alternativen Medien entwickelten innovativen kulturellen Servicefunktionen mittlerweile die ökonomische Grundlage von Stadtmagazinen à la Prinz geworden sind.) Aufgrund des mit dieser Entwicklung einhergehenden Funktionsverlustes sehen sich die Medien der »Gegenöffentlichkeit« auf die Rolle von Fanzines zurückgeworfen, die sich nur noch an eine relativ kleine soziale Gruppe wenden. Als solche sind sie allerdings keinesfalls funktionslos. Linke Medien können nach wie vor einen Ausgangspunkt bilden, um bestimmte Informationen in eine (auch bürgerliche) Öffentlichkeit zu tragen und dort Momente einer Delegitimierung der herrschenden Ordnung zu bewirken; derartige Informationen sind nicht deshalb unnötig, weil sie nicht zwangsläufig zu gesellschaftsveränderndem Handeln führen. Informationen werden nicht per se unwichtig. Gerade zur Bildung von Teilöffentlichkeiten und Subkulturen sind funktionierende Kommunikationsstrukturen überaus wichtig. Eigene Medien machen den Raum auf, in dem Abweichendes und Alternatives vorgetragen und gedacht werden kann. Darum haben wir auf sie ein besonderes Augenmerk zu richten. Es gilt aber, die damit verbundene Beschränktheit einer solchen Funktion von Medien zu reflektieren und um Möglichkeiten und Spielräume sozialen Handelns außerhalb der virtuellen Welt der Medien zu ringen (Catchen? Boxen? Aikido?). Eine gesellschaftsverändernde soziale Praxis bedarf der konkreten Utopie von einer anderen Gesellschaft. Doch ein solches Projekt darf nicht als hauptsächlich medial erreichbares gedacht werden. Gesellschaftliche Veränderung beginnt auch und in erster Linie im sozialen Alltag der Subjekte. Die Utopie einer anderen Gesellschaft lässt sich nicht in Buchstaben, sondern allenfalls in kulturellen Formen artikulieren, nicht als fertiger Text, sondern stets fragmentiert und unvollständig. Und in einem solchen Kontext haben die linken Medien einen wichtigen Platz, auch wenn derselbe den Machern (welche bekanntlich gerne große und weitreichende strategische Gedanken formulieren) nicht behagen

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358 | autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe mag. Als Selbstverständigungsmittel sind linke Medien unverzichtbar. Gemessen an alten Illusionen mag das wenig sein. Mehr als nichts ist es allemal. Auch als Fanzines einer Subkultur sind linke Medien unverzichtbar. Gemessen an alten Illusionen mag das wenig sein. Mehr als nichts ist es allemal.

Literatur Buchmann, Sabeth: »Nur soviel: Das Medium ist nicht die Botschaft. Kritik der Medientheorie«, in: Marius Babias (Hg.), Im Zentrum der Peripherie. Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Dresden, Basel 1995, S. 79-102. Enzensberger, Hans-Magnus: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Kursbuch 20 (1970), S. 159-186. Kunz, Thomas: »Medien, Mythen, Mailboxen«, in: links 3 (1994), S. 18-20. Lovink, Geert: Hör zu – oder stirb! Fragmente einer Theorie der souveränen Medien, Berlin 1992. Maresch, Rudolf: »Mediatisierte Öffentlichkeiten«, in: Leviathan 23/3 (1995), S. 394-416. Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 1972.

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Smart Mobs. Die Macht der mobilen Vielen (2002) | 359

Smart Mobs. Die Macht der mobilen Vielen (2002) Howard Rheingold

Smart Mobs bestehen aus Menschen, die in der Lage sind, konzertiert zu handeln, ohne einander zu kennen. Menschen, die sich zu Smart Mobs zusammenfinden, kooperieren dabei auf Weisen, die vordem unmöglich waren, weil sie Geräte bei sich haben, die sowohl kommunikationstauglich sind als auch Computerfähigkeiten besitzen. Eine unvorhergesehene Konvergenz der Technologien legt neue Antworten auf die Grundfrage der Zivilisation nahe: Wie können konkurrierende Einzelne lernen zusammenzuarbeiten? Ortungsfähige drahtlose Organizer, Drahtlos-Netzwerke und zu Computerverbünden zusammengeschlossene Kollektive haben alle eines gemeinsam: Sie befähigen Menschen, auf neue Arten und in Situationen, in denen kollektive Aktionen bisher nicht möglich waren, gemeinsam zu agieren. Die »Killerapplikationen« der Mobilkommunikations- und Informationsindustrie von morgen werden nicht Hardwaregeräte oder Softwareprogramme sein, sondern soziale Praktiken. Die weitreichendsten Veränderungen werden, wie es oft kommt, aus der Art von Beziehungen, Unternehmen, Gemeinschaften und Märkten entstehen, welche die Infrastruktur ermöglicht.

»Netwar« – Licht und Dunkel Der philippinische Präsident Joseph Estrada wurde am 20. Januar 2001 zum ersten Staatsoberhaupt in der Geschichte, das seine Macht durch einen Smart Mob verlor. Nach der abrupten Beendigung seines Amtsenthebungsverfahrens durch sympathisierende Senatoren begannen sich die Einwohner von Manila zu tausenden in der Epifanio de los Santas Avenue (bekannt als »Edsa«) zu versammeln, dem Schauplatz der friedlichen »People Power«-Demonstrationen von 1986, die zum Sturz des MarcosRegimes geführt hatten. Innerhalb von 75 Minuten strömten 20.000 Menschen auf der Edsa zusammen, mobilisiert und koordiniert durch von Oppositionsführern ausgelöste Wellen von Textbotschaften: »Go 2EDSA,

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360 | Howard Rheingold Wear black« [»Kommt zur Edsa. Tragt Schwarz.«]. Im Laufe von vier Tagen kamen mehr als eine Million Menschen, die meisten in Schwarz. Das Militär entzog dem Regime die Unterstützung und die Regierung Estrada stürzte, wie das Marcos-Regime ein Jahrzehnt zuvor gestürzt war – großteils als Folge gewaltloser Massendemonstrationen. Die schnelle Zusammenkunft der Menge der Estrada-Gegner war ein Fanal früher SmartMob-Technologie, und die Millionen Textbotschaften, die von den Demonstranten 2001 ausgetauscht wurden, waren nach allgemeiner Ansicht ein Schlüssel für den Gemeinschaftsgeist der Menge. Die Legende der »Generation Txt« war geboren. Eine Regierung zu stürzen, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern, war ein bedeutsamer früher, freilich jedoch nicht der einzige Ausbruch von Smart-Mob-Verhalten: •







Am 30. November 1999 benutzten autonome, aber über das Internet gesteuerte Trupps von Protestdemonstranten bei der Konferenz der World Trade Organisation (WTO) »Swarming«-Taktiken, Mobiltelefone, Websites, Laptops und PDAs, um die »Schlacht von Seattle« zu schlagen. Im September 2000 benutzten tausende über eine plötzliche Erhöhung der Benzinpreise erboste Bürger Mobiltelefone, SMS, E-Mails von Laptops und Taxifunk zur Koordinierung verstreuter Gruppen, die in einem »wilden« politischen Protest Treibstofflieferungen an ausgewählte Tankstellen blockierten. Im Frühjahr 2000 wurden die Ausschreitungen einer Demonstration in Toronto von einer Gruppe von mitgehenden Journalisten-Forschern festgehalten, die digitale Videos von allem, was ihnen begegnete, im Internet veröffentlichten. Seit 1992 versammeln sich allmonatlich Tausende Fahrradaktivisten zu »Critical Mass«-Demonstrationszügen, die in Massen die Straßen von San Francisco durchziehen. »Critical Mass« operiert mittels lose verbundener Netzwerke, die über Mobiltelefon- und E-Mail-Stafetten mobilisiert werden und sich, wenn erforderlich, in kleinere, durch Telekommunikation koordinierte Gruppen zerstreuen.1

Die »Schlacht von Seattle« sah einen planvollen und taktisch ausgerichteten Einsatz von drahtloser Kommunikation und mobilen gesellschaftlichen Netzwerken in einem großstädtischen politischen Konflikt vor – mehr als ein Jahr vor den per SMS zusammengetrommelten Demonstrantenscharen von Manila. Eine breite Koalition von Demonstranten, die unterschiedliche

1 | Vincente L. Rafael: »The Cell Phone and the Crowd: Messianic Politics in Recent Philippine History«, in: Public Culture 3 (2003). Siehe auch http://communic ation.ucsd.edu/people/f_rafael_cellphonerev_files.htm, zuletzt gelesen am 23. Mai 2002.

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Smart Mobs. Die Macht der mobilen Vielen (2002) | 361 Interessen vertraten, aber geeint in ihrer Gegnerschaft gegen die Ansichten der Welthandelsorganisation waren, planten die WTO-Konferenz von 1999 in Seattle zu sprengen. Die Demonstranten umfassten ein breites Spektrum verschiedener »Affinity-Groups«, die ihre Aktionen locker um das gemeinsame Ziel herum koordinierten. Das »Direct Action Network« ließ autonomen Gruppen die Wahl, auf welcher Ebene sie sich an Aktionen beteiligen wollten: Von gewaltloser Unterstützung über zivilen Ungehorsam bis zur Teilnahme bei Massenverhaftungen – eine Art dynamische Ad-hoc-Allianz, die ohne ein mobiles Echtzeit-Kommunikationsnetzwerk von vielen zu vielen unmöglich gewesen wäre.2 In einem Bericht mit dem dramatischen Titel »Schwarze Flagge über Seattle« von Paul de Armond hieß es: »Der Zusammenhalt des Direct Action Network verdankte sich zum Teil dem improvisierten Kommunikationsnetzwerk aus Mobiltelefonen, Funkgeräten, Polizeifunkscannern und tragbaren Computern. Protestierer mit drahtlosen Palm Pilots auf der Straße waren in der Lage, Verbindung mit fortlaufend aktualisierten Webseiten aufzunehmen, die Berichte über die Lage auf den Straßen gaben. Polizeifunkscanner überwachten Funksprüche und lieferten Warnungen, wenn die Polizei ihre Taktik änderte. Es wurden vielfach Mobiltelefone benutzt.«3

Von Seattle bis Manila – die ersten »Netwars« sind bereits ausgebrochen. Der Begriff »Netwar« wurde von John Arquilla und David Ronfeldt geprägt, zwei Analytikern der RAND Corporation, die feststellten, dass die immer gleiche Kombination von sozialen Netzwerken, ausgeklügelten Kommunikationstechniken und dezentraler Organisationsstruktur sich als wirksame Kraft in sehr unterschiedlichen politischen Konflikten bemerkbar machte: »›Netwar‹ ist ein sich abzeichnender Konfliktmodus, bei dem die Protagonisten – sie reichen von terroristischen und kriminellen Organisationen auf der dunklen bis zu militanten Gesellschaftsaktivisten auf der hellen Seite – netzwerkartige Organisationsformen, Doktrinen, Strategien und Technologien des Informationszeitalters benutzen… Diese Netzwerke erweisen sich als äußerst schwierig im Umgang; manche sind dabei zu gewinnen. Allen gemeinsam ist, dass sie in kleinen, verstreuten Einheiten operieren, die sich flink in Stellung bringen können – überall, jederzeit.«4

2 | Vgl. Richard Lloyd Parry: »The TXT MSG Revolution«, in: Independent, 23. Januar 2001. Siehe auch http://www.independent.co.uk/story.jsp?story=51748, zuletzt gelesen am 1. März 2002. 3 | Paul de Armond: »Black Flag Over Seattle«, in: Albion Monitor 72 (Februar 2000). Siehe auch http://www.monitor.net/monitor/seattlewto/index.html, zuletzt gelesen am 1. März 2002. 4 | John Arquilla/David Ronfeldt: »Networks, Netwars, and the Fight for the

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362 | Howard Rheingold Die von Arquilla and Ronfeldt konstatierten »Swarming«-Strategien beruhen auf vielen kleinen Einheiten wie den Affinity-Groups der »Schlacht von Seattle«. Die einzelnen Gruppenmitglieder blieben verstreut, bis sie mittels Mobilkommunikation aus allen Richtungen und in Abstimmung mit anderen Gruppen an einem bestimmten Punkt zusammengezogen wurden. Manila, Seattle, San Francisco, Senegal und Großbritannien waren bereits Schauplätze von gewaltlosem politischen »Swarming«. Als Beispiel für gewaltlose »Netwar«-Aktionen nennen Arquilla und Ronfeldt die mit der Zapatisten-Bewegung in Verbindung stehenden NGOs in Mexiko, die zur Unterstützung der Indio-Bauern weltweit die öffentliche Meinung mobilisierten, und die mit dem Nobelpreis gewürdigten Bemühungen zur Durchsetzung eines Abkommens über ein Verbot von Landminen. Eine andere Sache sind bewaffnete und gewaltbereite »Schwärme«. Die tschetschenischen Rebellen in Russland, Fußball-Hooligans in Großbritannien und die Guerrilleros der FARC [Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia A.d.Ü.] in Kolumbien nutzten ebenfalls »Netwar«-Strategien und »Swarming«-Taktiken.5 An vorderster Front bei der Entwicklung von Smart-Mob-Kampftechniken steht das US-Militär. Smart Mobs, die sich auf gewaltlose oder gewalttätige »Netwars« einlassen, sind aber nur einige wenige der vielen Varianten des Smart Mob. Zwar haben »Netwars« mit anderen Smart Mobs eine ähnliche technische Infrastruktur gemeinsam, wichtiger aber ist, dass beide von einer neuen Form sozialer Organisation beseelt sind, dem Netzwerk. Zu Netzwerken gehören Knoten und Verbindungen; sie nutzen vielerlei Pfade zur Verbreitung von Information von einem Verbindungspunkt zum anderen, und sie regulieren sich mit flachen Steuerungshierarchien und Machtaufteilung selbst. Arquilla und Ronfeldt zählen zu jenen, die glauben, dass Netzwerke, nach Stämmen, Hierarchien und Märkten, die neueste bedeutende soziale Organisationsform bilden. Obwohl netzwerkartig strukturierte Kommunikationssysteme tatsächlich das Potential haben, demokratische Entscheidungsprozesse und positive Beispiele kollektiven Handelns zu ermöglichen, bedeutet das nicht, dass der Übergang zu vernetzten sozialen Organisationsformen eine erfreuliche Sache mit durchgehend positiven Ergebnissen sein wird. Arquilla und Ronfeldt vermerken das Kooperationspotential in Beispielen wie jenen der NGOs, die »Netwar«-Taktiken zum Nutzen der Öffentlichkeit einsetzen, sprechen aber auch eindringliche Warnungen aus, die bei allen Erwägungen über die Zukunft von Smart Mobs durchaus bedenkenswert sind: »Die meisten Menschen hoffen auf das Aufkommen einer neuen Organisationsform, angeführt von den ›Guten‹, die ›das Richtige‹ tun und darum stärker werden.

Future«, in: First Monday 6, 10 (Oktober 2001). Siehe auch http://firstmonday.org/ issues/issue6_10/ronfeldt/index.html, zuletzt gelesen am 1. März 2002. 5 | Vgl. ebd.

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Smart Mobs. Die Macht der mobilen Vielen (2002) | 363 Die Geschichte aber stützt diese Behauptung nicht. An vorderster Front beim beginnenden Aufstieg einer neuen Form können genauso gut Unzufriedene stehen, Tunichtgute und schlaue Opportunisten, die nur darauf warten, neue Wege der Manipulation, Ausbeutung und Beherrschung für sich zu nutzen.«6

»Lovegety und Peer-to-Peer-Journalismus Im Lichte des militärischen und terroristischen Potentials von »Netwar«Taktiken wäre es dumm anzunehmen, dass von Smart Mobs nur Gutes zu erwarten sei. Jeder Beobachter aber, der ausschließlich das Gewaltpotential im Blick hat, übersieht das vielleicht noch weiterreichende Brisanzpotential von Smart-Mob-Technologien und -Techniken für gute wie schlechte Zwecke. Könnte es zum Ausbruch von Kooperationsepidemien kommen, wenn Smart-Mob-Medien über die Krieger hinaus Verbreitung finden – bei Bürgern, Journalisten, Wissenschaftlern, Unterhaltungssuchenden, Freunden, Partnern, Kunden oder Handelspartnern? Man denke nur an ein paar Experimente in Randbereichen der mobilen Kommunikation, die auf eine breite Vielfalt von gewaltlosem Smart-MobAktivismus in der Zukunft hindeuten könnten: •









Seit einigen Jahren sind »Interpersonal Awareness Devices« (IPADs) im Aufkommen. Seit 1998 benutzen hunderttausende Japaner Lovegety-Schlüsselanhänger, die Signal geben, wenn sich fünf Meter im Umkreis ein weiterer Lovegety-Besitzer vom anderen Geschlecht und mit passendem Profil befindet. ImaHima (»Hast du gerade Zeit?«) versetzt hunderttausende von i-Mode-Nutzern in Tokio in die Lage, Kumpel zu mobilisieren, die gerade in ihrer Nähe sind. Upoc (»Universal Point of Contact«) in Manhattan fördert mobile Interessengemeinschaften: Jedes Mitglied der »Manhattan Celebrity Watch«, des »NYC Terrorism Alert«, der »Prayer of the Day«-Gemeinde oder von »The Resistance« kann beispielsweise Textbotschaften an alle anderen Mitglieder senden oder von ihnen erhalten. Handys, die das Versenden digitaler Videos direkt ins Internet einfach machen, ermöglichen die Entstehung von vernetztem Peer-to-PeerJournalismus; die Studenten von Steve Mann in Toronto berichteten laufend über die Ereignisse, indem sie alles über das Internet übertrugen, was ihre am Körper getragenen Kameras und Mikrofone einfingen. Forscher in Oregon haben eine soziale Middleware konstruiert, die Benutzer von »wearable« Computern befähigt, Ad-hoc-Communitys zu

6 | John Arquilla/David Ronfeldt (Hg.): Networks and Netwars: The Future of Terror, Crime, and Militancy, Santa Monica 2001.

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364 | Howard Rheingold bilden und verteilte Reputationssysteme sowie Privacy-and-Knowledge-Sharing-Agents und Drahtlos-Netzwerke zu nutzen. Im Jahr 2000 startete der Körpercomputer-Forscher, Neuerer und Evangelist Steve Mann »ENGwear, ein Experiment zu tragbaren Nachrichtensammelsystemen, durchgeführt von Studenten und Forschern am Humanistic Intelligence Lab der Universität Toronto«.7 Im Frühjahr 2000 tauchten Mann und eine Gruppe seiner Studenten, alle ausgerüstet mit Eyetap-Körpercomputern, welche alles, was sie sahen und hörten, ins Internet übertrugen, bei einer Demonstration in Toronto auf, zu der die Ontario Coalition Against Poverty (OCAP) aufgerufen hatte. Es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen. Mann berichtete: »Wir rannten in Deckung, zusammen mit den Journalisten und verschiedenen Fernsehteams. Anders als die Reporter aber übertrugen meine Studenten und ich weiter und hielten fast zufällig das gesamte Geschehen fest. Was immer wir vor uns sahen, wurde festgehalten und sofort in Echtzeit ins World Wide Web übertragen, ohne jede bewusste Überlegung oder Bemühung unsererseits.«8

Schwarmintelligenz und sozialer Verstand Der Zusammenbruch des Kommunismus wurde durch massive Ausbrüche kooperativen Handelns beschleunigt. In einer Stadt nach der anderen versammelten sich riesige Menschenmengen zu gewaltlosen Demonstrationen, ungeachtet der Jahrzehnte wohlbegründeter Angst vor politischen Versammlungen. Obwohl der gesunde Menschenverstand zur Folgerung verleitet, dieser Meinungsumschwung sei eben durch die Einigkeit unter den Demonstranten zu erklären, stellten Natalie Glance und Bernardo Huberman, zwei Forscher am Xerox Research Center in Palo Alto (Xerox PARC), die die Dynamik sozialer Systeme studierten, fest, dass unterschiedliche Kooperationsschwellen unter Individuen eine Menge »kippen« und in eine plötzliche Kooperationsepidemie verfallen lassen können. Glance und Huberman wiesen darauf hin, dass als erstes eine Minderheit von Extremisten sich zur Aktion entscheidet und dass dann, wenn die Bedingungen stimmen, ihre Aktionen die Aktionen anderer auslösen können, die erst jemand anderen den ersten Schritt tun sehen müssen, ehe

7 | »ENGwear: Wearable Wireless Systems for Electronic News Gathering«, siehe http://www.eyetap.org/hi/ENGwear, zuletzt gelesen am 1. März 2002. 8 | Steve Mann/Hal Niedzviecki: Cyborg: Digital Destiny and Human Possibility in the Age of the Wearable Computer, Mississauga 2001.

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Smart Mobs. Die Macht der mobilen Vielen (2002) | 365 sie selbst aktiv werden – dies ist der Punkt, an dem die Mitläufer den frühen Nachahmern folgen, die ihrerseits den ersten Akteuren folgten.9 Plötzliche Kooperationsepidemien sind nicht notwendigerweise angenehme Erlebnisse. Lynchmobs und ganze Nationen kooperieren, um Gräueltaten zu begehen. Jahrzehnte vor dem Fall des Kommunismus untersuchte der Soziologe Mark Granovetter radikales kollektives Verhalten sowohl negativer als auch positiver Art und schlug ein »Schwellenmodell kollektiven Verhaltens« vor. Ich erkannte in Granovetters Modell eine entscheidende begriffliche Brücke, die intelligente Kooperation (von Smart Mobs) mit dem »emergenten« Verhalten unintelligenter Akteure wie Insektenvölkern, Herden und Schwärmen verbindet. Granovetter erforschte Situationen, in denen Individuen mit Entweder-oder-Entscheidungen im Hinblick auf ihre Beziehung zu einer Gruppe konfrontiert waren – sich einem Aufstand oder Streik anschließen oder nicht, eine Innovation annehmen, ein Gerücht verbreiten, eine Aktie verkaufen, eine Versammlung verlassen, in ein anderes Land auswandern. Er erkannte die entscheidende Kennzahl als den Anteil von Menschen, die handeln müssen, ehe ein Einzelner beschließt, sich ihnen anzuschließen. Eine von Granovetters Aussagen liefert einen Hinweis auf die Dynamik von Smart Mobs: »Durch die Erklärung paradoxer Ergebnisse als Resultat von Häufungsprozessen verlagern Schwellenmodelle die »Befremdlichkeit«, die häufig mit kollektivem Verhalten assoziiert wird, aus den Köpfen der Akteure auf die Dynamik der Situation.«10 Bei Schwellenmodellen kollektiven Handelns geht es Medien um Austausch von Koordinationsinformationen. Das zu verstehen ermöglichte es mir, etwas zu erkennen, das mir zuvor nicht deutlich genug aufgefallen war – eine mögliche Verbindung zwischen computerbestückten sozialen Netzwerken denkender kommunizierender Menschen und der Schwarmintelligenz nicht denkender (aber ebenfalls kommunizierender) Ameisen, Bienen, Fische und Vögel. Einzelne Fische und Vögel (und Kampfpiloten im engen Formationsflug) bilden Scharen und Schwärme, indem sie darauf achten, was ihre nächsten Nachbarn tun. Die koordinierten Bewegungen von Schwärmen oder Herden ist eine sich dynamisch verschiebende Häufung von Einzelentscheidungen. Selbst wenn ein Leitthunfisch oder eine Leittaube Kommandos gäbe, so könnte kein Befehlsübermittlungssystem von einer zentralen Stelle aus rasch genug operieren, um zu vermeiden, dass man von Haien angegriffen wird oder gegen Bäume kracht. Was Schwärme und Völker anlangt, können die emergenten Fähigkeiten dezentraler Selbstorganisation überraschend intelligent sein. Was passiert, wenn die Individuen in einer eng koordinierten Gruppe

9 | Vgl. Natalie Glance/Bernardo Huberman: »The Dynamics of Social Dilemmas«, in: Scientific American 3 (1994), S. 76-81. 10 | Mark Granovetter: »Threshold Models of Collective Behaviour«, in: American Journal of Sociology 83/6 (1978), S. 1420-1443.

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366 | Howard Rheingold intelligentere Lebewesen sind als simplere Organismen wie Insekten oder Fische? Wie zeigt sich emergentes Verhalten bei Menschen? Kevin Kelly verfolgte die neuen Theorien zu emergenten Eigenschaften bis auf William Morton Wheeler zurück, einem Experten für das Verhalten von Ameisen.11 Wheeler nannte Insektenkolonien »Superorganismen« und definierte die Fähigkeit des Insektenvolkes, Aufgaben zu bewältigen, zu denen keine einzelne Ameise oder Biene intelligent genug wäre, als »emergente Eigenschaften« des Superorganismus. Kelly zog Parallelen zwischen den Arten, wie biologische und artifizielle »Vivisysteme« dieselben vier Charakteristika von, wie er es nannte, »Schwarmsystemen« zeigen: • • • •

das Fehlen von auferlegter zentralisierter Kontrolle die Autonomie der Untereinheiten die hohe Verbindungsdichte zwischen den Untereinheiten die vernetzte nichtlineare Kausalität sich untereinander beeinflussender Gleichrangiger.12

Steven Johnsons 2001 erschienenes Buch Emergence zeigt, dass die Prinzipien, die Kelly von biologischen auf technologische Netzwerke übertrug, auch auf Städte und das Empfehlungssystem von Amazon zutreffen: »In diesen Systemen erzeugen Agenten, die auf einer bestimmten Stufe angesiedelt sind, Verhalten, das eine Stufe höher liegt: Ameisen bilden Kolonien; Stadtmenschen bilden Nachbarschaften; einfache Mustererkennungssoftware lernt neue Bücher zu empfehlen. Wir nennen dieses Fortschreiten von Regeln auf niedrigem zur Verfeinerung auf einem höheren Niveau Emergenz.«13 Im Fall von Städten freilich bringen, obwohl die emergente Intelligenz dem Ameisenverstand ähnelt, die einzelnen Einheiten, die Menschen, außergewöhnliche eingebaute Intelligenz mit – oder zumindest die Fähigkeit dazu. An diesem Punkt müssen die Verbindungen zwischen dem Verhalten von Smart Mobs und dem von Schwarmsystemen tentativ bleiben; allerdings haben einige der frühesten Untersuchungen bereits gezeigt, dass die richtige Art von sozialen Online-Netzwerken mehr wissen als die Summe ihrer Teile: Miteinander verbunden und auf die richtige Weise kommunizierend, können menschliche Populationen eine Art von »kollektiver Intelligenz« erkennen lassen. Es gibt verschiedene Theorien über das Internet als das Nervensystem eines globalen Gehirns, aber Bernardo Huberman und seine Kollegen vom

11 | Vgl. William M. Wheeler: Emergent Evolution and the Development of Societies, New York 1928. 12 | Vgl. ebd. 13 | Steven Johnson: Emergence: The Connected Lives of Ants, Brains, Cities and Software, New York 2001.

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Smart Mobs. Die Macht der mobilen Vielen (2002) | 367 Forschungslabor für Informationsdynamik bei Hewlett-Packard nutzen clever Märkte und Spielsimulationen als Computertestgelände für Experimente mit emergenter Gruppenintelligenz. Die Hollywood-Börse zum Beispiel nutzt den Markt, der aus dem Handel mit symbolischen Aktien entsteht, zur Vorhersage von Kassenerfolgen und Oscar-Gewinnen. Sie haben herausgefunden, dass Gruppenvorhersagen genauer waren als die jedes einzelnen Teilnehmers.14 Das Forschungsteam von HP erhebt den außerordentlichen Anspruch, eine mathematisch verifizierbare Methode zur Gewinnung emergenter Intelligenz aus einer Gruppe und zur Nutzung des Gruppenwissens zur Zukunftsprognose auf einem begrenzten, aber nützlichen Gebiet geschaffen zu haben: »Man kann die Prognoseleistung von Teilnehmern an Informationsmärkten hernehmen und Gewichtungsschemata erzeugen, die zukünftige Ereignisse voraussagen, selbst wenn es sich nicht um das gleiche Ereignis handelt wie das, bei dem die Leistung gemessen wurde.«15 Vor Jahrzehnten glaubten Computerwissenschaftler, es werde eines Tages Formen »künstlicher Intelligenz« geben, aber abgesehen von ein paar Visionären, dachten sie dabei nie an mit Computern ausgestattete Menschen als eine Art sozialer Intelligenz. Und obwohl jeder, der etwas von der Technik statistischer Prognosen versteht, eilig den Vorbehalt anbringen wird, dass Überraschungen unvermeidbar sind und eine der grundlegenden Eigenschaften komplexer anpassungsfähiger Systeme ihre Unberechenbarkeit ist, sind die ersten Erkenntnisse, wonach über das Internet verbundene Gruppen von Menschen emergente Prognosefähigkeiten zeigen können, doch potentiell profund. Eine weitere Gruppe, die emergente Gruppenintelligenz ernst nimmt, ist das Forschungslaboratorium in Los Alamos, wo eine Forschergruppe zum Thema »künstliches Leben« 1998 einen Bericht verfasste unter dem Titel »Symbiotische Intelligenz: Selbstorganisierendes Wissen in durch menschliche Interaktion betriebenen verteilten Netzwerken«.16 Die Prämisse dieses interdisziplinären Teams basiert auf der in den letzten Jahren gelegentlich vorgeschlagenen Ansicht, dass die menschliche Gesellschaft ein anpassungsfähiger kollektiver Organismus sei und dass die soziale Evolution sich parallel und mit derselben Dynamik vollziehe wie die biologische. Nach dieser Theorie haben neues Wissen und neue Technologien die Entwicklung der Maximalgröße funktionierender sozialer Gruppen von Stämmen über Nationen bis hin zu globalen Koalitionen ermöglicht. Das

14 | Kay-Yut Chen/Leslie R. Fine/Bernardo A. Huberman: Forecasting Uncertain Events With Small Groups, HP Laboratories, Palo Alto 2001. 15 | Ebd. 16 | Norman L. Johnson et al.: »Symbiotic Intelligence: Self-Organizing Knowledge on Distributed Networks, Driven by Human Interaction«, in: Chris Adami et al. (Hg.), Artificial Life VI: Proceedings of the Sixth International Conference on Artificial Life, Cambridge/MA 1998.

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368 | Howard Rheingold Wissen und die Technologie, die den Sprung vom Clan zum Stamm, zur Nation, zum Markt, zum Netzwerk auslösten, hatten alle eine gemeinsame Eigenschaft: Sie erweiterten die Art und Weise, wie menschliche Individuen denken und kommunizieren und vergrößerten ihre Fähigkeit, ihr Wissen zu teilen. Die von den Wissenschaftlern in Los Alamos betriebenen Forschungen bestätigten die Behauptungen von Hubermann und anderen, dass Gruppen von Menschen, die durch Online-Netzwerke in Verbindung stehen, kollektive Entscheidungen treffen können, die sich als zutreffender erweisen als die Leistungen der besten Einzelprognostiker in der Gruppe. Wenn es keine Sackgasse ist, könnte die Forschungsrichtung, die von Hubermans Team, den Forschern in Los Alamos und anderen eingeschlagen wurde, die Fähigkeiten von Smart Mobs auf völlig neue Dimensionen von Möglichkeiten erweitern, genauso wie das Moore’sche Gesetz die Fähigkeiten von Computernutzern erweiterte.

Zum Schluss Werden selbstorganisierte Ad-hoc-Netzwerke von Körpercomputer-Usern mithilfe von Agentenprogrammen, die die Privatsphäre schützen, eine neue Renaissance zur Blüte bringen, mit Wohlstand, Wissen und einer wiederbelebten Zivilgesellschaft, oder wird dasselbe technologisch-soziale Regime zu nichts anderem führen als einer weiteren Einnahmequelle für die Desinfotainment GmbH? Oder ist das die falsche Frage? In Anbetracht der erwähnten technologischen, ökonomischen und politischen Veränderungen schlage ich die folgenden Fragen vor: •





Was wissen wir heute über die emergenten Eigenschaften von mobilen Ad-hoc-Netzwerken, und was werden wir darüber in Zukunft wissen müssen? Was sind die zentralen Fragen für den Einzelnen in einer Welt voller Überwachungsgeräte – soll heißen, was können wir dagegen unternehmen? Was sind die langfristigen Konsequenzen kurzfristig getroffener politischer Entscheidungen über die Nutzung mobiler, allgegenwärtiger, immer eingeschalteter Medien durch und deren Wirkung auf uns?

Smart Mobs sind kein »Ding«, auf das man mit dem Finger zeigen oder das man mit zwei Worten erklären kann – genauso wenig war »das Internet« so ein Ding. Das Internet ist das, was passierte, als viele Computer miteinander zu kommunizieren begannen. Der Computer und das Internet wurden erdacht, aber die Art und Weise, wie die Menschen sie benutzten, war in keiner der beiden Technologien angelegt noch wurden die weltverändernden Nutzungen dieser Werkzeuge von den Erdenkern und

2007-03-26 15-01-51 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 359-370) T05-05 rheingold.p 142895398976

Smart Mobs. Die Macht der mobilen Vielen (2002) | 369 Verkäufern vorausgesehen. Textverarbeitung und virtuelle Communities, eBay und E-Commerce, Google und Weblogs und Reputationssysteme entstanden. Smart Mobs sind eine unberechenbare, aber zumindest teilweise beschreibbare emergente Eigenheit, die zu Tage tritt, je mehr Menschen Mobiltelefone benutzen, je mehr Chips miteinander kommunizieren, je mehr Computer wissen, wo sie sich befinden, je mehr Technologie am Körper getragen werden kann und je mehr Menschen anfangen, diese neuen Medien zu nutzen, um neue Formen von Sex, Handel, Unterhaltung, Gemeinschaft und, wie immer, Konflikten zu erfinden. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Michael Strand

Literatur Armond, Paul de: »Black Flag Over Seattle«, in: Albion Monitor 72 (Februar 2000). Siehe auch www.monitor.net/monitor/seattlewto/index.html, zuletzt gelesen am 1. März 2002. Arquilla, John/Ronfeldt, David (Hg.): Networks and Netwars: The Future of Terror, Crime, and Militancy, Santa Monica 2001. Chen, Kay-Yut/Leslie, Fine R./Huberman, Bernardo A.: »Forecasting Uncertain Events With Small Groups«, HP Laboratories, Palo Alto 2001. ENGwear: »ENGwear: Wearable Wireless Systems for Electronic News Gathering«, siehe www.eyetap.org/hi/ENGwear, zuletzt gelesen am 1. März 2002. Glance, Natalie/Huberman, Bernardo: »The Dynamics of Social Dilemmas«, in: Scientific American 3 (1994), S. 76-81. Granovetter, Mark: »Threshold Models of Collective Behaviour«, in: American Journal of Sociology 83/6 (1978), S. 1420-1443. Johnson, Norman L. et al.: »Symbiotic Intelligence: Self-Organizing Knowledge on Distributed Networks, Driven by Human Interaction«, in: Chris Adami et al. (Hg.), Artificial Life VI: Proceedings of the Sixth International Conference on Artificial Life, Cambridge/MA 1998. Johnson, Steven: Emergence: The Connected Lives of Ants, Brains, Cities and Software, New York 2001. Mann, Steve/Niedzviecki, Hal: Cyborg: Digital Destiny and Human Possibility in the Age of the Wearable Computer, Mississauga 2001. Parry, Richard Lloyd: »The TXT MSG Revolution«, in: Independent, 23 (Januar 2001). Siehe auch www.independent.co.uk/story.jsp?story= 51748, zuletzt gelesen am 1. März 2002. Rafael, Vincente L.: »The Cell Phone and the Crowd: Messianic Politics in Recent Philippine History«, in: Public Culture 3 (2003). Siehe auch http: / /communication . ucsd . edu/ people/f_ rafael_ cellphonerev_ files. htm, zuletzt gelesen am 23. Mai 2002. Ronfeldt, David/Arquilla, John: »Networks, Netwars, and the Fight for the Future«, in: First Monday 6, 10 (Oktober 2001). Siehe auch http://first

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370 | Howard Rheingold monday.org/issues/issue6_10/ronfeldt/index.html, zuletzt gelesen am 1. März 2002. Wheeler, William M.: Emergent Evolution and the Development of Societies, New York 1928.

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Web Grrrls, Guerilla Taktiken (2004) | 371

Web Grrrls, Guerilla Taktiken: Junge Feminismen im Web (2004) Jayne Armstrong

»Wir sind in das Zeitalter des DIY-Feminismus eingetreten … Deine Art von Feminismus ist so, wie Du ihn haben willst und was Du daraus machst. Definiere Deine Agenden. Fordere und gewinne Dein F-Wort wieder.«1

Mitte der 1990er Jahre tauchte eine neue Generation junger feministischer Stimmen im Internet auf, die sich des Mediums der Grrrl-E-Zines bedienten. E-Zines wie Saucy Chicks (saucy-chicks.com), Fluffy Mules (btinternet. com/~virtuous/fluffymules), The F-Word (thefword.org.uk), Disgruntled Housewife (disgruntledhouswife.com), PlanetGrrrl (planetGrrrl.com), Wench (wench.com), Bitch (bitchmagazine.com) und Cuntzilla (cuntzilla.org) veranschaulichen, wie sich junge Frauen und Grrrls die neuen Technologien des World Wide Web aneignen, um Frauen- und Grrrl-Netzwerke aufzubauen sowie Communities und alternative »Bildräume« zu schaffen.2 Vom akademisch-feministischen Diskurs marginalisiert, sind »Grrrls« junge Feministinnen, die das Internet nutzen, um Netzwerke aufzubauen und einen Ort zu schaffen, an dem sie ihre Interessen und Erfahrungen zum Ausdruck bringen können. Diese Orte im Netz werden zu einem Mittel, durch das Grrrls die Bedeutungen von Weiblichkeit diskutieren, verhandeln und bestreiten sowie alternative feministische Diskurse und Praktiken schaffen können. Folglich können die E-Zines dieser Frauen und Grrrls als »subalterne Gegenöffentlichkeiten« begriffen werden, das heißt, diskursive Orte, »wo Mitglieder von untergeordneten sozialen Gruppen Gegendiskurse erfinden und zirkulieren lassen, um oppositionelle Inter-

1 | http://www.thefword.org.uk, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006. 2 | Vgl. Manuel Castells: Das Informationszeitalter: Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, Band 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001.

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372 | Jayne Armstrong pretationen der Interessen und Bedürfnisse ihrer Identitäten zu formulieren«3.

Was ist ein Grrrl-E-Zine? E-Zines sind unabhängig produzierte und publizierte elektronische Zines oder Magazine, die als Hypertext produziert werden und im Cyberspace existieren. Grrrl-E-Zines wurden zur Gänze unter Berücksichtigung des Mediums entwickelt und sehen klassischerweise eine Reihe von thematischen Seiten oder Rubriken vor, die subjektive und autobiografische Texte, feministische Kritik, Features, Humor, Foren und Spaß umfassen. Grrrl-E-Zines sind keineswegs ein homogenes Genre – oft steht eine Deklaration ihres Begriffs von Feminismus auf der Startseite – und die Produzentinnen nutzen eine Vielfalt an Praktiken, um ihre feministischen Ziele zu formulieren: von der Autobiografie zur Kritik bis hin zur Aneignung und Transformation von Konventionen von Frauen- und Mädchenzeitschriften. Auf diese Weise werden das Leben und die Erfahrungen der Grrrls sowie die Produkte und Texte der Massenkultur zu Hilfsmitteln (Ressourcen) der Artikulation neuer weiblicher und feministischer Identitäten. Oft als Primärbeispiele des Third-Wave-Feminismus zitiert4, haben Frauen- und Grrrl-E-Zines viele gemeinsame Merkmale, insbesondere den Gebrauch von zahlreichen Hypertext-Links, die sie mit anderen Grrrl-Seiten und »brauchbaren« Ressourcen im Internet verknüpfen. Sie teilen auch einen impliziten und manchmal expliziten Drang zu praktischer Partizipation, nicht im Sinne von Tischlerarbeit im Haus, sondern als Form einer feministischen Do-It-Yourself-Praxis, die sowohl die Art und Weise, in der sich junge Frauen und Grrrls Technologien aneignen, als auch eine Form feministischer Praxis beschreibt, die in der Rückforderung des Feminismus für junge Frauen wurzelt. Dieses Kapitel soll eine Analyse einer Reihe von populären Grrrl-EZines bieten und wird die Taktiken und Praktiken berücksichtigen, die junge Frauen und Grrrls anwenden, um eine feministische Identität im Web zu konstruieren. Diese Praktiken und Taktiken umfassen: die eigene Stimme zu erheben (eine eigene Sprache zu formulieren), Grrrl-Netzwerke zu knüpfen und eine Reihe von Textstrategien, darunter Mimesis, Parodie und Ironie.

3 | Nancy Fraser: »Öffentlichkeit neu denken«, in: Elvira Scheich (Hg.), Vermittelte Weiblichkeit, Hamburg 1996, S. 163. 4 | Vgl. Ednie Garrison: »US Feminism-Grrrl Style! Youth (Sub)Cultures and the Technologies of the Third Wave«, in: Feminist Studies 26/1 (2000), S. 141169.

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Die eigene Stimme erheben Ein signifikantes Merkmal vieler Grrrl-E-Zines sind die autobiografischen Protokolle, Artikel und Features, die jenen Erfahrungen und Anliegen, die junge Frauen heutzutage machen und bewegen, eine Stimme verleihen. In einer Kultur, in der die Stimmen und Erfahrungen junger Frauen marginalisiert werden, erlauben Protokolle und Tagebücher diesen Frauen und Grrrls, ihr Leben zu dokumentieren, ihre Erfahrungen zu publizieren und ihre Anliegen mit anderen zu teilen. Eine Betonung des »Persönlichen« ist keineswegs eine neue Strategie von Feministinnen. Authentizität, Selbsterfahrung und Aufrichtigkeit untermauerten die Entwicklung der Selbsterfahrungs-Gruppen, die ein Merkmal der radikalfeministischen Bewegung der 1970er Jahre waren, deren Ziel es (teilweise) war, gemeinsame Anliegen und Themen zu identifizieren. Die Wahrheit zu sagen und von Erfahrungen zu sprechen, wurde folglich eine von der jungen feministischen Generation im Westen benutzte Taktik. Features und Artikel können sowohl Gewalt gegen Frauen, die mediale Repräsentation von Frauen und Mädchen, Körperpolitiken, Identitätspolitiken und die Konsumkultur als auch ein breites Spektrum an allgemeineren Anliegen zu Umwelt, Politik und Bildung fokussieren. Diese neuen feministischen Stimmen können nicht einfach im Sinne einer einzigen Agenda definiert werden und während sie ganz deutlich nicht uninformiert über feministische Debatten und Theorien sind, lehnen sie doch die Formen und Sprache eines akademischen Feminismus zugunsten eines »alltagssprachlichen Feminismus« ab. Thomas McLaughlin hat den Begriff einer »alltagssprachlichen« Theorie im Zusammenhang mit den Verfasser/-innen und Produzent/-innen von Zines (selbst publizierte AmateurMagazine mit geringer Reichweite) geprägt, die Formen einer praktischen Kritik entwickeln, die theoretische Fragen aufwerfen. Hier bezieht sich »alltagssprachlich« »auf die Praktiken jener, die keine kulturelle Macht besitzen und die eine kritische Sprache sprechen, welche in lokalen Anliegen wurzelt, und nicht die Sprache, die von den akademischen Wissenseliten gesprochen wird … Sie machen weder von der Sprache noch von den analytischen Strategien wissenschaftlicher Theorien Gebrauch; sie entwickeln eine Sprache und Strategie, die ihren eigenen Anliegen entsprechen. Und sie entstehen aus äußerst lokalen Themen, die zu grundlegenden theoretischen Fragestellungen führen.«5

Das »Alltagssprachliche« oder der »alltagssprachliche Feminismus« bezieht sich also auf die Sprache und kritische Praktiken, die junge Frauen

5 | Thomas McLaughlin: Street Smarts and Critical Theory: Listening to the Vernacular, Madison 1996, S. 6.

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374 | Jayne Armstrong und Grrrls verwenden, um die Strukturen und Diskurse, die sie als Frauen konstruieren, zu hinterfragen.

Das Grrrl Wide Web knüpfen Kommerzielle E-Zines sind durch ihren eingeschränkten Gebrauch von Hyperlinks und den Wunsch, redaktionelle Kontrolle über den Inhalt der Seite zu behalten, charakterisiert. Hier sind die Leser/-innen darauf beschränkt, innerhalb der Website zu surfen und es werden ihnen – mit Ausnahme der Foren – nur wenige Beitragsmöglichkeiten gewährt. Unabhängig produzierte E-Zines, und hier vor allem Grrrl-E-Zines, benutzen allerdings Hypertext-Links, um Netzwerke und Netze von Grrrl-Spaces zu schaffen, um Frauen und Grrrls mit »nützlichen« Ressourcen zu verbinden und um sie zu ermuntern, zur Website etwas beizutragen. Der primäre Zweck von Hypertext-Links auf Grrrl-Sites ist es, Bezüge zu anderen Grrrl- und feministischen Sites, zu Webzirkeln und Quellen herzustellen. Die Arbeiten von Sadie Plant und Donna Haraway heranziehend, verwendet Nina Wakeford die Metaphern des Netzwerkens und Webens, um Grrrl-Praktiken im Cyberspace zu beschreiben: »Weben könnte eine produktive Metapher sein, um den Prozess des Gestaltens von Seiten und des Verbindens mit anderen zu beschreiben. Webseiten könnten als gewebte Produkte elektronischer und sozialer Netzwerke interpretiert werden. Im Gegensatz zum Begriff der Grenze könnte das Knüpfen benützt werden, um die Beziehungen innerhalb elektronischer Netzwerke und zwischen den Seiten selbst, wie auch jene zwischen den Personen, die diese gestalten, zu betonen.«6

Weben ist eine sinnvolle Metapher, um zu beschreiben, wie junge Frauen und Grrrls das Web benutzen, doch sie beschreibt auch den taktischen Gebrauch von Hypertext-Links, um sich mit anderen Grrrl-E-Zines zu verbinden und Beziehungen zu diesen herzustellen.

Web Grrrl Taktiken In seinem Buch »Kunst des Handelns (The Practice of Everyday Life)«7 beschreibt Michel de Certeau die Taktiken oder Arten des Agierens von machtlosen und marginalisierten Menschen, um Identitäten zu kreieren,

6 | Nina Wakeford: »Networking Women and Grrrls with Information/ Communication Technology: Surfing Tales of World Wide Web«, in: Jennifer Terry/ Melodie Calvert (Hg.), Processed Lives: Gender and Technology in Everyday Life, New York 1997, S. 62. 7 | Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988.

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Web Grrrls, Guerilla Taktiken (2004) | 375 Communities zu erhalten und praktische Formen von Macht zu erlangen. Taktiken sind Formen des Widerstands, die die Formen des Kompromisses, des Verhandelns oder der Subversion annehmen können und als Siege der Schwachen über die Starken verstanden werden. Für de Certeau sind Taktiken eine Form des Wilderns, dessen Merkmale Betrug und List sind. De Certeaus Theorie beruht auf der Idee, dass durchschnittliche Menschen durch die Praktiken des Konsums Wege finden, den Machtstrukturen Widerstand zu leisten. Er argumentiert, dass Menschen die Waren und Produkte der Konsumgesellschaft für ihre eigenen Zwecke benutzen können. Während sie der vorherrschenden kulturellen Ökonomie nicht entkommen, können sie sich dennoch deren Produkte für ihre eigenen Zwecke aneignen. Bezug nehmend auf de Certeau, hat Constance Penley die Art und Weise untersucht, wie weibliche Star Trek-Fans Star Trek-Texte und Technologien taktisch nutzen, um ihre eigenen Texte zu schaffen.8 Die Produzentinnen und Verfasserinnen von Frauen- und Grrrl-E-Zines verwenden ähnliche Taktiken, um Communities und Netzwerke zu bauen, »offizielle« Diskurse zu Weiblichkeit anzugreifen und Grrrl-Spaces und Identitäten zu gestalten. Diese Taktiken sind zielgerichtet und oft politisch motiviert und kombinieren Techno-Taktiken oder die Aneignung von Computer-, Internet- und Webtechnologien mit semiotischen Taktiken, darunter Mimesis, Parodie, Ironie, Übertreibung und Kritik. Folglich sind solche Taktiken weitaus bedeutender als die opportunistische List, die de Certeau beschreibt; sie sind Guerilla-Aktivitäten und, wenn sie kombiniert werden, werden sie zu mächtigen Strategien für die Konstruktion von alternativen weiblichen und feministischen Identitäten.

Mimesis »›Grrrl‹, ein Wort, das durch die Bikini Kill-Sängerin und Aktivistin Kathleen Hanna geprägt wurde, ist eine spontane Rückeroberung des Wortes ›girl‹ durch junge Feministinnen … ›Grrrl‹ verleiht unseren Miezekätzchen-Kehlen wieder das Knurren.«9

Viele E-Zines sind durch ihren Gebrauch von Begriffen wie »Grrrl«, »wench« (Frauenzimmer, Maid), »bitch« (Miststück, Hure) und »chick« (Tussi) charakterisiert. Insbesondere Grrrl wurde synonym mit ›junge Feministinnen im Web‹ und wurzelt in der Riot-Grrrl-Bewegung, die in den 1990er Jahren in den Underground-Music-Communities und in der

8 | Vgl. Constance Penley: NASA/TREK: Popular Science and Sex in America, New York 1997. 9 | Laurel Gilbert/Kile Crystal: Surfergrrls: Look, Ethel! An Internet Guide for Us!, Seattle 1996.

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376 | Jayne Armstrong Underground-Zine-Bewegung der USA ihre Anfänge nahm. Riot Grrrls sagten dem Sexismus der Underground-Musikszene den Kampf an und ermutigten Mädchen und Frauen sich zu behaupten. Die Riot-Grrrl-Bewegung dehnte sich dank gedruckter und elektronischer Zines bald über die gesamte USA und Europa aus. Diese Szene hat Kearney eingehend untersucht und kommt zum Schluss: »Diese jugendlichen Frauen haben sich das Wort ›girl‹ angeeignet, von den dominierenden Konnotationen befreit und diese soziale Kategorie neu formuliert, indem sie eine neue Identität geschaffen haben, die ihren revolutionären Geist besser repräsentiert. ›Riot Grrrl‹ symbolisiert folglich die zornige Jugendliche, die sich selbst und andere ermächtigt, ihre Stimme zu erheben und gegen die Unterdrückung zu kämpfen. Dann wieder ist es ein Aufruf zu handeln (›Riot, Grrrl!‹).«10

Die Widersprüche und Werte aufzuzeigen, die die Vielzahl der benutzten Begriffe für die Beschreibung von Frauen und Mädchen aufweisen, ist der erste Schritt in Richtung darauf, deren Bedeutungen zu transformieren. Volosinov argumentiert, dass »jedes lebende ideologische Zeichen, wie Janus, zwei Gesichter hat. Jeder momentane Fluch kann ein Wort des Lobes werden, jede aktuelle Wahrheit muss für viele Menschen zwangsläufig wie die größte Lüge klingen«11. Indem sie die Widersprüche und Werte, die den vielen Begriffen für »Frau« innewohnen, beleuchten, zeigen Grrrls die Vieldeutigkeit der Zeichen auf, und »wench« und »bitch« werden zu Schauplätzen für den Kampf um Bedeutung, die in jeder Äußerung und in jeder Rede offenkundig ist. Bezug nehmend auf die Arbeit von Luce Irigaray empfiehlt die Philosophin Rosi Braidotti die Strategie der Mimesis, um die kulturellen Bedeutungen von »Frau« zu hinterfragen. Mimesis bedeutet, zu den Bildern, Begriffen und Definitionen »der Frau« zurückzukehren und diese Bilder zu behandeln. Sie schreibt: »Man erfindet das Subjekt der ›Frau‹ nicht durch pure Willenskraft neu; vielmehr erfordert dieser Prozess eine Dekonstruktion der vielen, oft widersprüchlichen Bedeutungen und Darstellungen von ›Frau‹.«12 Viele Frauen- und Grrrl-E-Zines nutzen Mimesis als Strategie, um Bedeutungen und Repräsentationen von »Frau« politisch und selbstbe-

10 | Mary Celeste Kearney: »Producing Girls: Rethinking the Study of Female Youth Culture«, in: Sherrie A. Inness (Hg.), Delinquents and Debutantes: Twentieth-Century American Girls’ Cultures, New York, London 1998, S. 287. 11 | Valentin Volosinov: Marxism and the Philosophy of Language, Cambridge 1973, S. 23. 12 | Rosi Braidotti: »Signs of Wonder and Traces of Doubt. On Teratology and Embodied Differences«, in: Nina Lykke/Rosi Braidotti (Hg.), Between Monsters, Goddesses and Cyborgs. Feminist Confrontations with Science, Medicine, and Cyberspace, London 1996, S. 135-152.

2007-03-26 15-01-51 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 371-383) T05-06 armstrong.p 142895399016

Web Grrrls, Guerilla Taktiken (2004) | 377 wusst zu dekonstruieren. Indem sie diese Bedeutungen analysieren und immanente Normen und Widersprüche darin aufzeigen, beginnen junge Frauen, Grrrl-Identitäten auszubilden. Die Rubrik »about« (»Über uns«) wird in E-Zines oft dazu benutzt, die Wahl der Namensgebung der Seite zu erklären. Wench beginnt beispielsweise mit einer Hinterfragung der Begriffs-Bedeutung. »Was genau ist eine ›wench‹? Scheint eine ganz einfache Frage zu sein, nicht wahr, bis man versucht, sie zu beantworten. Das Wort hat mehrere Definitionen und sie treffen sich an einer gefährlichen Kreuzung. Laut Webster kann eine wench – ›eine junge Frau‹ oder ›ein Mädchen‹; – ›eine weibliche Dienerin‹; – ›eine lüsterne Frau oder Prostituierte‹ sein. ›Wench‹ wird Frauen oft als verallgemeinernder, vager Beiname hingeworfen, der eine Form von Missbilligung impliziert. Doch das Wort unterstreicht die Situation, in der sich die meisten Frauen heutzutage wiederfinden. Dieses einzelne, mehrdeutige Wort hat gleichzeitig drei sehr unterschiedliche Bedeutungen. Heutzutage wird von einer Frau erwartet, dass sie jung ist (oder so aussieht, als wäre sie es), häufig, dass sie Dienstmädchen (besonders dann, wenn sie eine Familie hat) und Sexualobjekt zugleich ist. Diese Rollen stehen oft im Widerspruch zueinander: die Sexualität heranwachsender Mädchen wird meistens verurteilt, auch wenn die Gesellschaft ihnen sagt, dies sei alles, was sie zu bieten hätten; von Frauen wird erwartet, dass sie im Schlafzimmer toll, im Alltagsleben allerdings unterwürfig und seriös sind; das jugendliche Aussehen von Frauen wird als deren wichtigste Qualität betrachtet, selbst wenn sich die Gesellschaft auf deren Dienste als Hausfrauen, billige Arbeitskräfte, sexuelle Dienerinnen und Brutmaschinen für Babys verlässt. Das ist ein gehöriges Maß an Ironie und Symbolik für ein kleines Wort. Deshalb ist es auch der perfekte Titel für dieses Projekt.«13

Dieses Zitat aus Wench zeigt, wie Mimesis in Frauen- und Grrrl-E-Zines funktioniert. Die Autorinnen von Bitch wenden eine ähnliche Strategie an, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Werte lenken, die sich an »bitch« angelagert haben. Sie zeigen aber auch, wie der Begriff oft als Mittel benutzt wird, um Frauen zum Schweigen zu bringen, und nennen Gründe, warum Frauen ihn verwenden und sich damit auseinandersetzen sollten: »Als Beleidigung wird ›bitch‹ zumeist Frauen entgegengeschleudert, die sagen, was sie denken; die eine Meinung haben und nicht davor zurückschrecken, diese zum Ausdruck zu bringen. Wenn eine weltoffene Frau zu sein bedeutet, dass man eine ›bitch‹ ist, dann fassen wir dies als Kompliment auf, danke. Darüber hinaus verliert der Begriff seine Macht, uns zu verletzen, wenn wir ihn als Kompliment begreifen. Und wenn wir Menschen dazu bringen können, darüber

13 | http://www.wench.com/about, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006.

2007-03-26 15-01-51 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 371-383) T05-06 armstrong.p 142895399016

378 | Jayne Armstrong nachzudenken, was sie sagen, wenn sie den Begriff verwenden, dann ist das umso besser. Und, Last but not Least, beschreibt ›bitch‹ mit einem Wort, wer wir sind, wenn wir kein Blatt vor den Mund nehmen; was uns so wütend macht, ist, dass wir nicht darüber schweigen möchten; und die Handlung, uns Gehör zu verschaffen.«14

Die Bedeutungen, die Frauen zugeschrieben werden, zu dekonstruieren ist eine der »Taktiken«, die die Herausgeberinnen von Grrrl-E-Zines benutzen. Es ist der erste Schritt, eine feministische Identität im Internet zu artikulieren.

Die Politik der Parodie Grrrl-E-Zines wenden eine Reihe von textuellen und stilistischen Taktiken an, um vorherrschende Diskurse über Weiblichkeit zu untergraben und neue Bedeutungen zu erzeugen. Durch eine parodistische Auseinandersetzung mit den Produkten der Massenkultur – insbesondere Frauen- und Mädchenzeitschriften und weiblichen Stereotypen – stellen Grrrl-E-Zines die Darstellungen von Frauen und Mädchen in Frage. Parodie kann als textuelle oder semiotische Taktik verstanden werden, die von Grrrls verwendet wird, um ihre eigenen Interessen zu fördern, indem Codes mit alternativen Bedeutungen in den Diskurs eingebracht werden und indem diese an existierende Strukturen von Bedeutung geknüpft werden. Folglich ist die Parodie ein Mittel, mit dem sich Grrrls in die Systeme von Repräsentation durch Aneignung und Manipulation von Text-Konventionen einschreiben können. Das E-Zine Fluffy Mules parodiert die Konventionen von Frauenzeitschriften und der Celebrity- und Modeindustrie, um die Repräsentationsformen von Weiblichkeit zu kritisieren. Die Aufmachung, Celebrity-Ikonen, Einkaufstipps und die Modeseiten werden verwendet, um die dominierenden Codes von Weiblichkeit zu unterwandern. Mit ironischer Stimme definiert sich Fluffy Mules selbst als »Mode & Fakten, Kitsch & Handtaschen für das moderne Ding ›Frau‹. Von Sam und Jules … die Ihren Plüschpantoffelproblemen furchtlos gegenüberstehen. Weil Sie f*ucking (sic!) sagenhaft sind! (auch wenn einige Modemagazine mit ihren Bildern nahe legen, dass Sie einer magersüchtigen 14-Jährigen gleichen sollten).«15

Inhalte wie »Wie aussehen?«, »Modegeschwätz«, »Le Shopping«, »StilIkonen«, »Märchenheldinnen«, »Die Augenbrauen der Reichen und Berühmten« und »Objekte der Begierde« zielen darauf ab, vorherrschende

14 | http://www.bitchmagazine.com, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006. 15 | http://www.fluffymules.com, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006.

2007-03-26 15-01-51 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 371-383) T05-06 armstrong.p 142895399016

Web Grrrls, Guerilla Taktiken (2004) | 379 kulturelle Werte anzugreifen und zeigen ein kritisches Bewusstsein darüber, wie Konsumkultur als primärer Ort für die Konstruktion von zeitgenössischen weiblichen Identitäten erzeugt wird. Unter »Modegeschwätz« bieten die Autoren Sam und Jules mit ihren Rezensionen über »Damenbärte«, »Muschihöschen« und »Flamingobeine« eine Kritik der Modeindustrie und Modetrends. »Wie aussehen?« wirft einen ironischen Blick auf Rollenbilder. Um zum Beispiel wie eine Figur aus dem Film The Matrix auszusehen, ist Folgendes erforderlich: »Schwarz … viel schwarz … post-goth trifft auf Helmut Lang; Stiefel – groß und maskulin; glänzende Hosen, um Deinen winzigen Arsch herzuzeigen; Gel, um Deine ach-so-schicke Frisur in Form zu halten, sogar inmitten eines Tumultes; ein Handy, je flacher, desto besser; super slicke Laptops und in der Luft schweben.«16 Durch Ironie und mit einem kritischen Bewusstsein gegenüber der Art, wie zeitgenössische Weiblichkeit durch die Diskurse von Performance und Stil dargestellt wird, hinterfragt Fluffy Mules aktuelle Repräsentationen von Weiblichkeit. Ironie kann eine mächtige Form der Parodie sein, doch andere Webseiten wenden andere Varianten und Taktiken an, um ihre Ziele zu erreichen. Disgruntled Housewife macht sich das populäre Bild der Hausfrau der 1950er Jahre als Mittel zunutze, um die Bedeutungen zu unterwandern, die gemeinhin mit weißen Hausfrauen aus der Mittelschicht assoziiert werden und eine Distanz zu dieser Identität zu behaupten. Unter Verwendung der Ikonografie populärer kultureller Repräsentationen der Hausfrau der 1950er Jahre, insbesondere von Bildern der »häuslichen Göttin« in der Werbung, in Zeitschriften, Filmen und dem Fernsehen, parodiert Disgruntled Housewife diese glamouröse Figur, die es liebte, für ihren Mann zu kochen und die sich am Konsum einer wachsenden Palette von Gütern und Produkten für den Haushalt sowie an den gesteigerten Wahlmöglichkeiten als Konsumentin erfreute. Mit seinem Kochbuch für Speisen, die Männer lieben (»Männer mögen Fleisch«), Ideen, wie man »Männer glücklich macht und hält«, Sammlungen von Kitschobjekten, Pin-Ups und Listen von essentiellen Haushaltsprodukten parodiert, übertreibt und verspottet Disgruntled Housewife Hausfrauen und ihre Repräsentation als Konsumentinnen ersten Grades auf spielerische Weise: »Wie jedes brave, kleine Hausweibchen weiß, führt der schnellste Weg zum Herzen eines Mannes durch seinen Schlund. Also bindet eure Schürzen um, legt Wives and Lovers auf und beginnt, ein feines, kleines Mahl zu kochen.«17 Disgruntled Housewife stellt auch die Konstruktion von Frauen als sexuelle Objekte in Frage und ermutigt Frauen, sich als sexuelle Subjekte zu

16 | Ebd. 17 | http://www.disgruntledhousewife.com, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006.

2007-03-26 15-01-51 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 371-383) T05-06 armstrong.p 142895399016

380 | Jayne Armstrong begreifen. »Slutty« (»Nuttig«) hinterfragt die Diskurse, die weibliche Sexualität regulieren, während »Confessions« (»Beichten«) Frauen ermutigt, sich zu ihren sexuellen Wünschen und Fantasien zu bekennen (»Sage mir Deine und ich sage Dir meine«). Die Kombination von Parodie, Kritik und persönlichen Erzählungen der Leser/-innen veranschaulicht die Taktiken, die von Disgruntled Housewife verwendet werden. Primär als Ressource für britische Frauen, die an neuen Medien und Technologien interessiert sind, entwickelt, umreißt PlanetGrrrl seinen Platz im Internet und in Bezug auf Frauenzeitschriften in seiner Rubrik »Über uns«. »Wir sind Kein Portal! Wir wollen nicht ›der‹ einzige Ort für Tussen sein. ;) Wie langweilig das wäre. Wir sind nicht ein Haufen ›zorniger Teenager‹. Wir werden nicht über schrundige Brustwarzen reden oder darüber nachdenken, wie man zu einem großartigen Leben kommt, weil man Oberschenkel hat, die so straff sind, dass man damit Tennisbälle schlagen könnte, oder wie man ein Menü zusammenstellt.«18

Unter Hinweis darauf, »100-prozentig frei von 1950er Jahre Hausfrauen und Bridget Jones« zu sein, behauptet PlanetGrrrl eine Grrrl-Identität, die Häuslichkeit und die Abhängigkeit von Männern ablehnt. Die Aneignung der Konventionen, »Wer ist in« und »Wer ist out« oder »Wer ist heiß« und »Wer nicht«-Rubriken, die in Frauenzeitschriften so beliebt sind, wird hier zum Mittel, um die »Girls« von den »Grrrls« zu trennen. Für PlanetGrrrl zählen Germaine Greer, Pamela Anderson, Xena – Warrior Princess, Kathy Burke, Mo Mowlam und Vivienne Westwood zu den Grrrls. Dieser eklektische Mix aus akademischen Feministinnen, Celebrities, Politikerinnen und Figuren aus den Medien legt nahe, dass die Vorbilder für die heutigen jungen Feministinnen nicht auf jene beschränkt sind, die mit den radikalen Stimmen kampagnen-führender Feministinnen assoziiert werden, sondern auch bei den Stars und fiktiven Charakteren der Massenmedien zu finden sind.

Guerilla-Kriegerinnen Marigold ist ein kanadisches E-Zine, das von der »Bosslady« Audra Estrones entwickelt wurde und geleitet wird und sich als »40 Prozent politische Rallye, 60 Prozent Schlummerparty« beschreibt; es vereint sechs Sites, die persönliche Berichte von Frauen in ganz Kanada, Kulturkritik, politischen Aktivismus, Kunst, Lyrik und eine Anzahl von Foren umfassen. Die Websites sind:

18 | http://www.planetGrrl.com, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006.

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Web Grrrls, Guerilla Taktiken (2004) | 381 • • • • • •

The Life of Girls and Women (Das Leben von Mädchen und Frauen) – »Online-Tagebücher von fern und weit« Suffragette City – »Politische Nachrichten, Meinungen und Anleitungen« Whoa Nellies – »Aufwiegler/-innen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« Re:Views – »Unsere Wahl über Popkultur und das echte Leben auch« Surfacing – »Artists in Electronic Residence« What’s that Marigold? – »Die Foren. Sprecht mit uns und miteinander«.

Von Bust (dem amerikanischen Magazin, das als Zine begann) inspiriert, erschien Marigold erstmals im Dezember 1999 im Internet. Wie schon ihr Slogan zeigt, vereint Marigold das Zelebrieren von Frauenleben und Frauenkultur mit politischem Aktivismus. Die Foren stellen einen wichtigen Teil von Marigold dar und funktionieren als Mittel, um Themen und Ereignisse zu diskutieren, aber auch, um Treffen zwischen »Maripeeps«, wie die Mitglieder von Marigold genannt werden, zu arrangieren. Wie bei vielen Grrrl-E-Zines bieten die Foren zugleich eine Möglichkeit für Mitglieder wie für Nicht-Mitglieder, Themen zu diskutieren. Bei Marigold unterstützen sie jedoch auch eine Community gleichgesinnter Frauen und Männer (Marigold hat viele männliche Teilnehmer, die sich selbst als Feministen bezeichnen) sowohl im »virtuellen« als auch im »realen« Raum. Marigold ermutigt zu einem Gebrauch von Guerilla-Taktiken, um ein Bewusstsein für marginalisierte feministische Heldinnen zu schaffen, die bedeutende Beiträge zu den Künsten, zur Politik, zum Feminismus, zur Wissenschaft und so weiter geleistet haben, die aber in der Geschichtsschreibung Kanadas selten Erwähnung finden. Mit dem Ruf »Hast Du einen Drucker oder Zugang zu einem und hast Du eine Klammermaschine, Klebstoff oder Kaugummi? Dann kannst auch Du ein/e Guerilla-Krieger/-in ungelobter kanadischer Frauen werden«, werden Leser/-innen ermuntert, Posters von den »Whoa Nellies« oder »Maple flavoured women« downzuloaden. Marigolds Guerilla-Taktiken dehnen sich auf andere Aspekte der Website aus, insbesondere auf den Gebrauch von Hypertext-Links, die Leser/ -innen zu anderen Quellen und Informationen führen. »Suffragette City« (etwa: Stadt der Stimmrechtlerinnen) bietet Leser/-innen ein vielfältiges Spektrum an Links zu feministischen und Aktivismus-Seiten sowie Links zu Informationen über Politik und Formen des Sexismus rund um den Globus. Diese Sektion der Website umfasst auch von den Mitarbeiter/-innen persönlich zusammengestellte Bibliografien von feministischen Texten und Literatur ebenso wie Artikel und Essays zu einer Reihe von politischen und feministischen Themen.

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382 | Jayne Armstrong

Schlussfolgerung »Der etablierte Feminismus hat den Draht zu dem, was einige junge Frauen tun, verloren – besonders zu den Zines, zu Riot Grrrl und zur Subkultur. Der Feminismus muss zu dem, was in der Subkultur passiert, wieder zurückfinden.«19

Die dritte Welle des Feminismus sollte nicht als radikaler Bruch mit den Stimmen der zweiten feministischen Bewegung verstanden werden: Wie wir gesehen haben, übernehmen Grrrl-E-Zines einige der Praktiken, die mit den radikalen Feministinnen der zweiten Phase assoziiert werden, beispielsweise die Autobiografie und das Sprechen über (eigene) Erfahrungen. Doch gibt es Hinweise, dass Web-Grrrls die Unterscheidung zwischen dem »feministischen« Subjekt und dem »weiblichen« Subjekt verschwimmen lassen – eine Unterscheidung, die großteils während der zweiten feministischen Bewegung geformt wurde. Die Stimmen, die in den E-Zines junger Frauen und Grrrls zu Wort kommen, fordern sowohl Feminismus als auch Weiblichkeit für sich ein und artikulieren sowohl die Probleme als auch das Vergnügen junger Frauen in der heutigen westlichen Welt. Die feministischen/weiblichen Räume, die durch Grrrl-E-Zines geschaffen werden, sind klar von einer Auseinandersetzung mit dem feministischen Diskurs geprägt, doch sind es die populären »Celebrity«-Feminismen, die am häufigsten auf den Seiten der Grrrl-E-Zines auftauchen. Feministinnen wie Naomi Wolf, Rene Denfeld, Germaine Greer, Susan Faludi und Natasha Walter werden oft mit ihren Formen des »Powerfeminismus« zitiert, die mit einer Ablehnung des akademischen Feminismus und einem Aufruf, Feminismus für eine Mehrheit zu fordern, einhergehen. Wie problematisch auch immer der »Celebrity«-Feminismus sein mag (und viele Feministinnen stimmen mit der von Wolf und Denfeld geprägten Marke »Powerfeminismus« nicht überein), hat dieser doch dabei geholfen, eine neue Generation junger Frauen anzuregen, das F-Wort zurückzufordern. Dennoch ist es wichtig, dass die dritte feministische Bewegung nicht auf ein munteres Re-Branding oder auf die E-Zines reduziert werden kann, die von den jungen, vorwiegend weißen, gebildeten und heterosexuellen Grrrls, die hier zur Debatte stehen, herausgegeben werden. Die dritte feministische »Welle« entstand ursprünglich aus der Kritik an der Vereinheitlichung der Kategorie »Frau« und insistiert darauf, die Verschiedenheit der Erfahrungen von Frauen und die Unterschiede zwischen Frauen zur Kenntnis zu nehmen. Viele Grrrl-E-Zines ermuntern Frauen und Mädchen dazu beizutragen. Sie erkennen und feiern diese Vielfalt und es gibt noch viele andere, die Identitätspolitiken in den Vordergrund stellen und insbe-

19 | http://www.thefword.org.uk, zuletzt gelesen am 1. Februar 2006.

2007-03-26 15-01-51 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 371-383) T05-06 armstrong.p 142895399016

Web Grrrls, Guerilla Taktiken (2004) | 383 sondere auf Ethnie (Race) und Sexualität Bezug nehmen, wie z.B. Slander (worsethanqueer.com) und Techno-Dyke (technodyke.com). Dieser Text stellt lediglich einige Taktiken, die von jungen Frauen verwendet werden, in den Vordergrund. Viele Aspekte der Diversität und Differenz wären andernorts noch zu behandeln. Übersetzung aus dem Englischen: Jeanette Pacher

Literatur Braidotti, Rosi: »Signs of Wonder and Traces of Doubt. On Teratology and Embodied Differences«, in: Nina Lykke/Rosi Braidotti (Hg.), Between Monsters, Goddesses and Cyborgs. Feminist Confrontations with Science, Medicine, and Cyberspace, London 1996, S. 135-152. Castells, Manuel: Das Informationszeitalter: Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, Band 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988. Fraser, Nancy: »Öffentlichkeit neu denken«, in: Elvira Scheich (Hg.), Vermittelte Weiblichkeit, Hamburg 1996, S. 151-182. Garrison, Ednie: »US Feminism-Grrrl Style! Youth (Sub)Cultures and the Technologies of the Third Wave«, in: Feminist Studies 26/1 (2000), S. 141-169. Gilbert, Laurel/Crystal, Kile: Surfergrrls: Look, Ethel! An Internet Guide for Us!, Seattle 1996. Kearney, Mary Celeste: »Producing Girls: Rethinking the Study of Female Youth Culture«, in: Sherrie A. Inness (Hg.), Delinquents and Debutantes: Twentieth-Century American Girls’ Cultures, New York, London 1998, S. 285-310. McLaughlin, Thomas: Street Smarts and Critical Theory: Listening to the Vernacular, Madison 1996. Penley, Constance: NASA/TREK: Popular Science and Sex in America, New York 1997. Volosinov, Valentin: Marxism and the Philosophy of Language, Cambridge 1973. Wakeford, Nina: »Networking Women and Grrrls with Information/ Communication Technology: Surfing Tales of World Wide Web«, in: Jennifer Terry/Melodie Calvert (Hg.), Processed Lives: Gender and Technology in Everyday Life, New York 1997, S. 51-66.

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) vakat 384.p 142895399056

Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture

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) T06-00 resp VI.p 142895399112

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) vakat 388.p 142895399152

Einleitung | 387

Einleitung

Die schnelle Expansion und optisch-visuelle Perfektionierung von Videound Computerspielen seit Mitte der 70er Jahre hat heute zu einer Hybridisierung sowohl der verschiedenen semiotischen Maschinen Kino, TV und Computer als auch der unterschiedlichen »Distributionskanäle« Filmmarkt, Fernsehen, Mobilfunk und Internet geführt. Narrative Szenarien der Kinofilme finden Aufnahme in die Game-Kultur, Elemente des digitalen Spiels Eingang in Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilm, in Kunst und Alltagspraktiken. Diese hochgradige Transdisziplinarität, die das Feld der Neuen Medien in Forschung und Anwendung generell bestimmt, besitzt auch und besonders im Feld des interaktiven und digitalen Spiels Folgen für die Theoriebildung.1 Schon die Bezeichnungsvielfalt, Computer-, Elektronik-, Video-, Tele-, Bildschirmspiel usw.,2 deutet auf Vielfalt und Komplexität dieses Formats hin. Wirtschaftswissenschaften, Mathematik, Literaturwissenschaften, Soziologie, Pädagogik und Psychologie, um nur einige wesentliche Spezialdiskurse zu benennen, haben seit den 20er Jahren zur Herausbildung und Ausdifferenzierung von Theorie und Methodik des Gegenstandsbereichs Spiel beigetragen. So kommt das Computergame wie selbstverständlich in vielen der historischen Texte vor, die sich mit Computer,3 Digitalisierung, Netzwerktechnologien oder Künstlicher

1 | Weiteres Signal dafür, dass in den Game Studies programmatisch transbzw. multidisziplinär gearbeitet wird, ist das Erscheinen von Sammelbänden wie: Britta Neizel/Matthias Bopp/Rolf F. Nohr (Hg.): »See? I’m real ...«. Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von Silent Hill, Münster, Hamburg, Berlin, Wien, London 2005. 2 | Häufig erfolgt die terminologische Differenzierung je nach Speichermedium bzw. Display: PC, Gameboy, Konsole. 3 | Alan M. Turing (vgl. seinen Beitrag im Kapitel »Computer und Digitalisierung: Medium, Tool, Form?«) wählt für seine Ausführungen zum Thema »Computermaschinerie und Intelligenz« (1950) das Beispiel des Spiels, um seine Thesen zu illustrieren.

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388 | Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture Intelligenz beschäftigen. In Ökonomie, Mathematik und Soziologie stand und steht es zudem in unmittelbarem Konnex zu Modellen der Simulation, der Prognose, der statistischen Evaluation und der Konfiguration von Testszenarien, wie sie für die modernen postfordistischen »Risikogesellschaften« und ihre normalisierenden Regulative kennzeichnend sind. Im Zentrum der Theoriebildung stand lange Zeit die Gegenstandsbestimmung und damit die Frage, was denn das digitale Spiel überhaupt sei, wie seine strukturellen Einheiten und Effekte, seine Wirkungs- und Nutzungsimplikationen zu bestimmen seien. Spätestens seit Johan Huizingas »kanonischem« Text »Homo ludens« (1938) kommt in Adaption der im englischsprachigen Raum geläufigen Differenzierung zwischen Play und Game den »Freiheitsgraden« des Spiels und der Spielpraxis, der »Logik und Logistik der Pfade«, eine herausragende Bedeutung zu, welche in der Historiografie des Game in philosophischen und literarischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts (z.B. Friedrich Schillers) zurückverfolgt werden.4 Viele Studien und Analyseansätze sind von dieser Differenzierung inspiriert worden und machen sie für Funktionszusammenhänge des Computerspiels fruchtbar, indem sie z.B. zwischen der Subjektposition und optischen Adressierung von »Player« und »Gamer« differenzieren. Einige Theorieansätze gehen zeitlich noch weiter zurück. Anknüpfungen an antike Epigramme, kultisch-rituelle, mnemotechnische oder kombinatorische Verfahren wie Labyrinthe, Text- und Zahlenrätsel, Enigmata oder Paradoxien5 eröffnen der Computerspieltheorie bzw. den Computerspieltheorien einen theoretisch-methodischen Zugriff auf den Komplex virtueller Kartografien, wie er sowohl in den historischen Text-Adventures als auch in den modernen 3D-Spielewelten dominierend ist. Espen J. Aarseth erfasste diese methodische Figur mit dem Begriff des Ergodischen.6 Dieser Terminus, der der Physik entlehnt ist, verbindet Kategorien der Narratologie und rezeptionsästhetische Modelle der Lektüre operativ mit Registern des Handelns, der Partizipation und Aktion. Dabei steht insbesondere das Switchen zwischen primär passiven und inter-aktiven Phasen des Spielens, und damit die Opposition von Determinismus und Freiheit(sgraden der Gamer/-innen), im Vordergrund, welche dann wiederum

4 | Vgl. Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1994; vgl. auch Jean Piaget: Nachahmung, Spiel und Traum, Stuttgart 1969; den Referenzpunkt bei Schiller bilden die 1795 erschienenen Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«; vgl. zur Theorie des Spiels in der Ökonomie: John von Neumann/Oskar Morgenstern: Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, Würzburg 1973 (im Original: The Theory of Game and Economic Behavior, 1944); zu weiteren bibliografischen Hinweisen vgl. auch: http://www.gametheory. net, zuletzt gelesen am 18. November 2005. 5 | Vgl. insbesondere den Beitrag von Charles Cameron in diesem Kapitel. 6 | Vgl. dazu seinen Text im Kapitel »Hypertext – Hypermedia – Interfictions«.

2007-03-26 15-01-52 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 387-392) T06-001 einleitung.p 142895399200

Einleitung | 389 auf systemtheoretische, diskursanalytische oder strukturalistische Modelle des Handelns (Michel de Certeau, Niklas Luhmann usw.) rekurrieren. Claus Pias verfolgt in seinem Beitrag in diesem Band diese Problematik am Beispiel des Game-»Klassikers« Adventure weiter, indem er Adventurespiele als »entscheidungskritische Spiele« zwischen den großen Paradigmen der Erzählung, der in der Mathematik entworfenen Graphentheorie und den Höhlen-Kartografen der Archäologie verortet. Dabei wird auch deutlich, dass sich trotz der großen Bandbreite des Gegenstandes Game und der Ausdifferenzierung der methodischen Zugangsweisen längst ein Kanon »klassischer« Spiele konstituiert hat, der als wichtiger Markierungspunkt der Theoriebildung betrachtet werden muss. Im Umfeld von Spielen wie Adventure, Myst, Tomb Raider, SimCity, Civilisation, Quake usw.,7 kann jene diskursive Explosion konstatiert werden, die Michel Foucault für die Entstehung komplexer Macht- und Wissensstrukturen unter dem Begriff des Dispositivs beschrieben hat. In den letzten Jahren sind in zunehmendem Maße Standardbehauptungen der Game Studies in Frage gestellt worden. James Newman z.B. widerspricht nicht nur der Setzung, dass Spiele interaktiv seien, er relativiert auch die Operationalität des Terminus »ergodisch« für die Aktivität des elektronischen Spielens, indem er die Passivität (und nicht die Kontrolle) der Spielenden zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht.8 Ausgehend von seinen Analysen und Feldstudien lässt sich daraus die Problemstellung entwickeln, welchen Status »Schlüsselbegriffe« der Film-, Fernseh- und Kulturwissenschaften (stellvertretend sei hier das Konzept der »Repräsentation« genannt) für die Theorien des digitalen Spiels besitzen. In solchen theoretisch-methodischen Re-Visionen stellt sich damit als Konsequenz sogleich die Frage nach dem Aktualisierungsbedarf anderer Grundannahmen über Games und Spielepraxis: Wie ist es beispielsweise um die u.a. von Sherry Turkle9 untersuchten Identifikationseffekte durch Avatare und Spielfiguren bestellt? Ist der aus den Filmwissenschaften adaptierte Begriff der Schaulust, der »Visual Pleasure«,10 zur Beschreibung der Oberflächen-, Erzähl- und Nutzungsstrukturen von Games geeignet?

7 | Vgl. zu SimCity auch Shawn Miklaucics Beitrag im Kapitel »Mögliche Welten? Virtualität – Simulation – Digital Environments«. 8 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel. 9 | Vgl. Sherry Turkle: Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computerkultur, Reinbek 1994; vgl. auch ihren Beitrag im Kapitel »Cyborgs – Avatars – Fake-Identities«. 10 | Das Konzept der »Visual Pleasure« wurde – in Relation zu Kategorien des Narrativen – u.a. von Laura Mulvey in den Filmwissenschaften entwickelt; vgl. Laura Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2003, S. 389-408 (im Original: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, 1973).

2007-03-26 15-01-52 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 387-392) T06-001 einleitung.p 142895399200

390 | Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture Seit ihrer Beschäftigung mit Computerspielen leg(t)en Literatur- und Sprachwissenschaften – ebenso wie ein Großteil der pädagogischen Fachliteratur – den Fokus auf narrative und metaphorologische Aspekte der Games sowie auf deren psychologische Rezeptionseffekte. Analyse und Kategorisierung von Sujet oder Erzählperspektive oder zwischen textuellen und paratextuellen Komponenten11 waren für die in diesen Fachdisziplinen entwickelten Theorien charakteristisch.12 In den Film- und Fernsehwissenschaften bzw. den Medientheorien wurden und werden – ergänzend wie auch konterkarierend (!) – Präfigurationen und Parallelentwicklungen aus der Kinematografie (vom Bildersturz bzw. -sprung in Mary Poppins bis zum Film als Metaplay in David Cronenbergs eXistenz) zur Analyse und theoretischen Modellbildung im Bereich des elektronischen Spiels herangezogen (Lev Manovich, Siegfried Zielinski u.a.).13 »Virtuelle Realität und Computerspiele«, so Jay D. Bolter Ende der 90er Jahre, »setzen die Perspektive der ersten Person bzw. die subjektiven Kameratechniken des Filmes fort. Eine virtuelle Umgebung ist tatsächlich nichts anderes als eine Übung in Sachen Perspektive: sie versetzt den Zuschauer in das Zentrum der grafischen Welt und lädt ihn ein, diese Welt aus seiner Perspektive zu erkunden«.14 Die Relevanz solcher Modelle, die von der Kategorie der Repräsentation, der Dominanz des Visuellen und der zentralen Bedeutung von Identifikationstheorien ausgehen, stellen in diesem Band, ausgehend von Espen J. Aarseth, Jean-Louis Baudry und John Fiske, sowohl Sue Morris als auch James Newman. Sherry Turkle15 und andere führten in diese Basistheoreme generationen-, gender- und klassenspezifische Differenzie-

11 | Den Begriff der Paratextualität führte insbesondere Gérard Genette in die Literatur- und Medienwissenschaften ein; vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 2003. 12 | In diesem Kontext wird auf kognitionspsychologische Theoreme und damit auf Modelle der Wissens- und Informationsübermittlung Bezug genommen. 13 | Vgl. etwa Lev Manovichs einführenden Text in: Noah Wardrip-Fruin/ Nick Montfort (Hg.): The New Media Reader, Cambridge/MA 2003, S. 13-16; Siegfried Zielinski: »Backwards to the Future. Entwurf für eine Untersuchung des Kinos als Zeitmaschine,« in: Schnitt – Das Filmmagazin 30 (2003), S. 22-25. 14 | Jay David Bolter: »Die neue visuelle Kultur. Vom Hypertext zum Hyperfilm«, in: Stefan Bollmann (Hg.), Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Reinbek 1998, S. 367-373, hier: S. 368. 15 | Vgl. S. Turkle: »Ich bin Wir?«, a.a.O. Als früher »Klassiker« der Wechselwirkung von Computer und Kino gilt Lev Manovichs im Internet veröffentlichter Aufsatz: »What is Digital Cinema?« bzw. »Cinema and Digital Media«, in: Jeffrey Shaw/Hans Peter Schwarz (Hg.), Perspektiven der Medienkunst/Perspectives of Media Art, Ostfildern 1996. Insbesondere mit Lara Croft etablierte sich eine extensive gendertheoretisch motivierte Auseinandersetzung mit Games; vgl. u.a. Astrid Deuber-Mankowski: Lara Croft. Modell, Medium, Cyberheldin, Frankfurt a. M. 2001.

2007-03-26 15-01-52 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 387-392) T06-001 einleitung.p 142895399200

Einleitung | 391 rungen ein, indem sie Narrative und Symbolik der Games auf die Alltagspraktiken und damit die Game-Theorie systematisch auf Paradigmen der Cultural Studies bezogen. Schon die frühen digitalen Spiele, Spacewar (1962), Adventure (1972), Pong (1976), Pac Man (1978) oder Tetris (1984), machten deutlich, dass das Computerspiel selbst als eine – ganz spezifische Zielgruppen adressierende – Mischform verschiedener Medien und Genres eingestuft werden muss. Es transportiert über seine Oberflächenstruktur und Dramaturgie nicht nur literarische und filmische Narrationsschemata, Symbole und Topoi des Science-Fiction- und Fantasykosmos, sondern auch Aufgabenstellungen der traditionellen Brett-, Wettkampfoder Sportspiele, Rätsel- und Denksportaufgaben, Labyrinth- und Testszenarien sowie psychodramatisch inspirierte Rollenspielkonstellationen. Es unterhält damit hoch komplexe Bezüge zu vielfältigen anderen kulturellen Formen und Praktiken. In den neu entstandenen Spielkreuzungen, die nun in größerem Umfang auf Taktilität und Kinästhetik ausgerichtet sind, wird spätestens seit den 90er Jahren der Spiele-PC zudem auch als bildgenerierende Maschine eingesetzt, der interaktiv erschließbare komplexe Szenerien und virtuelle Architekturen per Mausklick offeriert und diese filmisch-szenischen Bildeffekte mit narrativen Bausteinen und den Strategien der verschiedenen traditionellen Wettkampfspieltypen, mit Simulationsszenarien oder Testaufgaben koppelt. Die Faszination an der Begehbarkeit des Bildes (»Surf the Picture«) wird somit erweitert um Elemente aktiver Gestaltung, die jedoch in der Regel auf die Ästhetik der jeweiligen Game Engine begrenzt bleibt. Kunstgeschichte und -theorie, die sich verhältnismäßig spät und insgesamt in weitaus geringerem Maße als die oben genannten Disziplinen mit Computer- und Telespielen auseinandergesetzt haben, rekurrierten insbesondere auf Rezeptionstheoreme der Narrativität von nicht bewegten Bildern und interessier(t)en sich für Aktivitätsgrade der Bildlektüre (in Analogie zu den für die Medienkunst entworfenen Interaktivitätsmodellen) und für die Figur des Beobachters/der Beobachterin im virtuellen Raum. Solche Perspektivierungen lassen sich mit den oben genannten, an Analyseansätzen zur subjektiven Kamera in den Filmwissenschaften orientierten Versuchen korrelieren, die privilegierte Betrachtungs- und Handlungsposition im Computer-, Tele- und Konsolenspiel theoretisch-methodisch zu erfassen und – z.B. an einzelnen Genres wie dem Ego Shooter – zu exemplifizieren. Sue Morris macht für die Analyse von First Person Shootern insbesondere das von Baudry entworfene Apparatus-Modell sowie den Begriff der »suture« nutzbar.16 Doch auch die produktionstechnische Genese der Games und ihre ästhetischen Implikationen zählen heute zu den wichtigen Komponenten der Spieltheorien: Anfang der 90er Jahre wurden parallel zu jenen Filmtheorien, die die Kinematografie als Dispositiv begriffen und dies argumentativ mit dem Modell der Kontrollgesellschaft zusammenbrachten, auch die Computer-

16 | Vgl. ihren Beitrag in diesem Kapitel.

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392 | Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture spiele als ästhetisch-machttechnologische Fortschreibungen arbeits-, überwachungs- und militärtechnischer Apparaturen und Medienpraktiken beschrieben. Die Interface-Konfigurationen der Spiele wie auch das Spieldesign selbst sind damit – den Apparatustheorien in den Filmwissenschaften vergleichbar – als Strukturelemente medienindustrieller und -institutioneller Systeme und Großkomplexe zu betrachten, in denen sie zahlreiche regulative und integrierende Funktionen übernehmen: die der Normalisierung und Leistungsskalierung ebenso wie die der Gemeinschaftsbildung, der Subversion oder des »Doing Gender«. In den letzten Jahren hat sich ein nicht unerheblicher Teil der theoretischen Auseinandersetzung jenen Spielformaten zugewendet, die zwischen Kunst und Forschung, zwischen Kunst und E-Toy angesiedelt sind. Die bereits erwähnte Anbindung an den Bereich der Prognose und des Erprobungsszenarios, der Simulation, kommt hier in besonderem Maße zum Tragen. Das digitale Spiel selbst ist, wie u.a. Ausstellungen und Kongresse zur Historiografie von Spielen zeigen, längst schon ein Format mit eigener Geschichte geworden. Beleg dafür ist neben Institutionalisierungs-, Musealisierungs- und Archivierungsprozessen auch das Erscheinen von Richtlinien, Manifesten und anderen Programmtexten aus der Game-Kultur. Ernest W. Adams »Dogma 2001«, das dem für den Film entworfenen »Dogma 95« nachempfunden ist,17 ist ein Beispiel für die – die Emergenz des Spielformats stets begleitende – Kritik am »Industrieprodukt« Computerspiel. Es formuliert im Rahmen eines strikten Konzepts von Ge- und Verboten die Forderung nach einer alternativen ästhetischen wie auch ideologisch-politischen Gestaltung des digitalen Spiels. Die Spieleindustrie trägt dem inzwischen dadurch Rechnung, dass sie Entwickler/-innen und Aktivist/-innen der Independent Game und Machinima-Szene anzuwerben versucht. Das Game der Zukunft wird, so die Vorausdeutung vieler Developer, autark, d.h. weitgehend userunabhängig, sein. »Das erklärte Ziel ist: Das Spiel spielt von alleine: der Spieler steigt irgendwann ein und spielt einfach mit«.18

17 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Band. 18 | »Auf dem Holodeck. Interview mit Tom Putzki, Mitgründer der deutschen Computerspielefirma Piranha Bytes«, in: Der Schnitt – Das Filmmagazin 30 (2003), S. 28f., hier: S. 29.

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Die Mystery-Games der Antike (1996) | 393

Die Mystery-Games der Antike (1996) Charles Cameron

Beginnen wir mit ein klein wenig historischer Perspektive ...1 Aus meiner Sicht sind die heutigen Computerspiele des Myst-Genres nur das jüngste Beispiel für eine lange Tradition von Werken, die unser geistiges Auge ansprechen – die realitätsnaheste »Virtuelle Realität« all dieser Spiele ...

I. Virtuelle Räume Da wäre z.B. die Gedächtniskunst. So lautete der Name, den Klassik und Renaissance jenem Typus einer leitenden Visualisierungsstrategie verliehen, die es Rednern und Predigern ermöglichte, lange und komplexe Reden und Texte zu memorieren, indem sie die verschiedenen Gegenstandsbereiche ihrer Rede auf die Komponenten einer Architektur »übertrugen«, die ihnen im Gedächtnis geblieben war ... Ein wichtiger Vertreter dieser Kunst war Matteo Ricci, der erste Jesuit, der China besuchte: Sein Gebrauch der Gedächtniskunst machte großen Eindruck auf die konfuzianischen Schulen dieser Zeit ... »Ricci schlug drei Hauptoptionen für eine solche Gedächtnis-Architektur vor: Erstens können sie der Realität entlehnt sein, d.h. also z.B. von Gebäuden stammen, in denen man sich aufgehalten oder die man mit eigenen Augen gesehen hat und im

1 | Anm. d. Hg.: Der Text erschien unter dem Titel »The Mysts of Antiquity« am 23. April 1996 auf der Hipbone-Game-Website (http://home.earthlink.net/~hip bone/Mysts.html), die von James Cameron initiiert wurde. Textbild, Habitus und stilistische Eigenarten (z.B. die Verwendung von Auslassungspunkten an Stelle von Gedankenstrichen am Ende eines Textabsatzes) wurden weitestgehend beibehalten, soweit sie den Textfluss bei der Lektüre nicht stören. Im zweiten Teil des Textes orientiert Cameron sich an Ton und narrativer Kombinatorik der Chymischen Hochzeit.

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394 | Charles Cameron Gedächtnis wieder aufrufen kann. Zweitens können sie vollkommen fiktiv sein, also Produkte der Fantasie in der einen oder anderen Form; oder, drittens, können sie halb real und halb fiktiv sein wie z.B. bei einem Gebäude, das man gut kennt, durch dessen Rückseite man jedoch gedanklich eine Tür als Abkürzung in einen neuen Raum einzieht oder in dessen Mitte man im Geist eine Treppe gebaut hat, die in ein höheres Stockwerk führt, welches vorher nicht existiert hat.«2

Die Mnemotechnik wurde von dem Dichter Simonides erfunden und wird detailliert in dem gleichnamigen Buch der Renaissance-Historikerin Frances Yates beschrieben. Yates trägt – ich denke in ihrem Buch »Theatre of the World« – auch die fesselnde Hypothese vor, dass das stark auf Körperlichkeit ausgerichtete Theater Shakespeares ein Versuch war, das Theater der Erinnerung in der Kunst nach außen zu transformieren ... »Je mehr wir über die Psychologie des Geistes herausfinden, desto mehr Sinn scheint es zu machen, die Mnemotechnik, die man einst lehrte, als integralen Bestandteil der Rhetorik aufzufassen. […] Von Simonides bis Leibniz gab es viele berühmte Gelehrte, die die Gedächtniskunst praktizierten. Cicero, Descartes, Lullus, Bruno und Leibniz waren mit diesen Techniken vertraut. Die Vertreter der Mnemotechnik, allen voran Bruno und Leibniz, setzten große Hoffnungen in eine Universalsprache, die auf einem räumlich-virtuellen System basiert. Wir können ihre Hoffnungen jetzt im Display des Computers Realität werden lassen.«3

Unter diesem Blickwinkel betrachtet, besitzt die Gedächtniskunst eine lange und facettenreiche Historiografie, die schließlich und endlich zur Entwicklung moderner Mnemotechniken führt, aber auch, so glaube ich wenigstens, zur Konstruktion »Virtueller Welten«, wie wir sie kennen gelernt und im Spiel erfahren haben ...

II. Fantasy und Spiele Ein anderer Entwicklungsstrang, der in die heutigen Fantasy-Welten des Computerspiels führt, kommt aus dem Bereich der Alchimie. Ich habe an anderer Stelle bereits vorgeschlagen, Michael Maiers »Atalanta fugiens« (1617) als einen Vorläufer unserer Glasperlenspiele (Glass Bead Games) aufzufassen – denn das Buch besteht aus einer ganzen Serie von Einheiten, die wiederum aus emblematischen Zeichen zusammengesetzt sind, ergänzt durch ein Epigramm in lateinischer Sprache, einen dreiteiligen Musikkanon und einen Kommentar.

2 | Jonathan D. Spencer: The Memory Palace of Matteo Ricci, New York 1984, S. 1-2. 3 | Jeff Nickerson: »The Mind’s Eye and the CRT Terminal: Towards a Diagrammatic Interface«, in: Visible Language 19, Frühjahr 1985, S. 390.

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Die Mystery-Games der Antike (1996) | 395 Aber ergänzend zu ihrem eminent wichtigen Beitrag zum symbolischen und emblematischen Denken haben die Alchimisten auch Geschichten erzählt; und erst heute stieß ich zufällig auf ein Zitat von einem von ihnen, das so gut in unsere heutige Tradition des Schachspiels passt, dass ich es hier beschreiben möchte: »Dieweil fiengen der König und Königin kurtzweil wegen mit einander anzuspielen. Das sahe einem Schach nicht ungleich, allein hett es andere Leges: es waren aber Tugendt und Laster wider einander, da kundte man artlich sehen, mit was Practicken die Laster der Tugendt nachstelleten und wie ihnen wieder zubegegnen, diß gieng so artlich und Künstlich zu, daß zu wünschen, wir hetten dergleichen Spiel auch.«4

Das Zitat stammt aus einem der erstaunlichsten Bücher der Welt – der »Chymischen Hochzeit« von Johann Valentin Andreä, zuerst 1616 veröffentlicht und 1690 von Ezechiel Foxcroft ins Englische übertragen. Das Buch erschien ganz kurz nach den zwei »Rosenkreuzer Manifesten«, »Fama« und »Confessio«,5 die ganz Europa durch die Behauptung in Aufregung versetzt hatten, dass Europa von einer Geheimgesellschaft unterwandert werde, die mit den Mitteln der neu entdeckten Naturwissenschaften sowie mit anderen okkulten Mitteln und geheimem Wissen den Umsturz und Untergang der Zivilisation betreibe. Die Manifeste behaupteten aber nicht nur die Existenz einer solchen Geheimgesellschaft, sie forderten darüber hinaus ähnliche Gruppen und Bewegungen dazu auf, sich zu erkennen zu geben und dem Geheimbund anzuschließen – und einige sehr kluge Männer, u.a. Descartes, versuchten tatsächlich, Kontakt mit ihnen aufzunehmen, vergeblich: So geheim die Bruderschaft war, so unsichtbar blieb sie auch. Jung schätzte dieses Buch sehr, denn er schrieb in seinen »Mysterium Coniunctionis«, dass es in seinem Inhalt so reich sei, dass er nur ganz oberflächlich darauf eingehen könne. J.W. Montgomery, dessen zweibändige Studie »Kreuz und Kruzifix« ein Faksimile der wunderschönen alten Foxcroft-Übersetzung enthält, vergleicht es mit Tolkiens Werk, und ich bin ganz sicher, würde er heute darüber schreiben, würde er es mit Myst vergleichen. »Die ›Chymische Hochzeit‹ ist ein fantastisches Stück Fantasy, das uns einlädt: zu

4 | Anm. d. Hg.: Zitate der Chymischen Hochzeit nach: Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz Anno 1495; unter: http://12koerbe.de/lapsitexillis/chym.htm; zuletzt gelesen am 22. November 2005. Die Zitate finden sich dort in den Kapiteln 4 und 7. 5 | Anm. d. Hg.: Mit vollständigem Titel: »Fama fraternitatis Roseae Crucis oder Bruderschaft des Ordens der Rosenkreuzer« (1614) und »Confessio oder Bekenntnis der Sozietät und Bruderschaft Rosenkreuz« (1615).

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396 | Charles Cameron einer königlichen Hochzeit, zu Abenteuer, Träumen, okkulten Symbolen, zu einer grauenerregenden Höhle, zu Garten, Turm, Uhr, zu mathematischen Tricks, Rätseln, Chronogrammen – ganz zu schweigen von einem ›über die massen zierlichen Altärlin‹, auf dem ein ›schwarz samtenes Buch, ein elfenbeinerner Leuchter, eine Himmelskugel, eine Uhr, die die volle Stunde schlägt‹, ein Brunnen, der mit Blut gefüllt ist, ein Totenschädel und eine Schlange ausgestellt sind ...«6

Aber was mich im Augenblick am meisten interessiert, ist der »Jungfrauen Scherz«7, für den an einem bestimmten Punkt der Erzählung zwei Gruppen von Jungfrauen und Edelmännern nach dem Abendmahl zusammengerufen werden. Dabei narren die Jungfrauen die Männer damit, dass sie ihnen Beischlaf in Aussicht stellen. Zunächst betrachten die Männer dies als Scherz: »Unser Jungfraw aber kundt uns nit ungevexiert lassen, fieng deßwegen wieder an: ›Ihr Herren, wie wann wir das Glück liessen erzeigen, wer doch heunt bei den andern schlaffen mußte?‹«8

Dieses mehr als großzügige Angebot kann niemand ausschlagen, und so bilden sie alle einen Kreis und kommen überein, dass die siebte Person im Kreis neben der Jungfrau Alchimia mit der siebten Person im Kreis von deren Platz aus gesehen schlafen solle, »es wer jetzt gleich ein Jungfraw oder Mann«, und so weiter. Während jedoch die Edelmänner keinen Betrug wittern, haben die Jungfrauen längst dafür gesorgt, so zu stehen, dass sie untereinander Paare bilden. Und so fühlen sich die Männer schließlich »redlich betrogen«. Dies ist ein unterhaltsames Beispiel für mathematische Trickspielereien, die diesen Effekt möglich machen und uns auf unheimliche Weise vor Augen führen, wie Täuschung und Logik gemeinsam zu den Erzählformeln zeitgenössischer Spiele beitragen. Enigmata, Paradoxien und mathematische Spielereien im Kontext anspruchsvoller Fantastik? Johann Valentin Andreäs »Chymische Hochzeit« – veröffentlicht in Straßburg sieben Jahre vor dem ersten Shakespeare-Stück – besitzt all dieses ... Übersetzung aus dem Englischen: Karin Bruns

6 | Anm. d. Hg.: Die hier – ganz im Ton des 17. Jahrhunderts – aufgezählten Gegenstände und Devotionalien finden sich größtenteils auch in der imaginären Rätselwelt von Myst wieder. 7 | Beschrieben bei Foxcroft, S. 107, Montgomery, S. 398-399. Anm. d. Hg.: Bei Cameron finden sich zu diesen Angaben keine weiteren bibliografischen Verweise. 8 | http://12koerbe.de/lapsitexillis/chym.htm, dort Kapitel 4.

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Die Mystery-Games der Antike (1996) | 397

Literatur Nickerson, Jeff: »The Mind’s Eye and the CRT Terminal: Towards a Diagrammatic Interface«, in: Visible Language 19 (Frühjahr 1985), S. 390. Spencer, Jonathan D.: The Memory Palace of Matteo Ricci, New York 1984, S. 1-2.

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398 | Claus Pias

Adventures Erzählen Graphen (1999) Claus Pias

1. Höhle, Spiel und message processing* Im Jahr 1838, also genau 130 Jahre bevor die ARPA bei Bolt, Beranek & Newman die Entwicklung der ersten vier Internet Message Processors (IMPs) in Auftrag gibt, die William Crowther, Frank Heart, Robert Kahn, Severo Ornstein und David Walden 1970 präsentieren sollten,1 tätigt Frank Gorin einen für die Geschichte der Adventurespiele folgenreichen Grundstückskauf.2 Er erwirbt die sogenannte Mammoth Cave, die mit über

* | Anm. des Autors: Der Text erschien erstmals in: Ulrike Bergermann/Hartmut Winkler (Hg.): TV-Trash. The TV-Show I Love to Hate, Marburg 2000, S. 85106. Seitdem hat sich die Literatur zu Computerspielen so rapide vermehrt, dass auf eine Einarbeitung verzichtet werden muss. Eine vorrangig narratologische Perspektive pflegen die seit 2001 erscheinenden Game Studies: The International Journal of Computer Game Research (http://www.game studies.org). Vgl. ferner: Heide Hagebölling (Hg.): Interactive Dramaturgies. New Approaches in Multimedia Content and Design, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 2004 sowie Joost Raessens/Jeffrey Goldstein (Hg.): Handbook of Computer Game Studies, Cambridge/MA 2005, bes. die Sektion »Storytelling«. Zur Geschichte der Vernetzung inzwischen: Jochen Koubek: Vernetzung als kulturelles Paradigma, Berlin (Diss.) 2003; Mercedes Bunz: Internet. Eine mediale Historiografie, Weimar (Diss.) 2005. 1 | Katie Hafner/Matthew Lyon: Where Wizards Stay Up Late. The Origins of the Internet, New York 1996; William Crowther/Frank Heart/Robert Kahn/Severo Ornstein/David Walden: The Interface Message Processor of the ARPA Computer Network, Paper für die Spring Joint Computer Conference of the American Federation of Information Processing Societies, 1970. 2 | Zum Folgenden ausführlich: Alexander Clark Bullitt: Rambles in Mammoth Cave During the Year 1844 by a Visiter (!), New York (Reprint) 1973; Roger W. Brucker/Richard A. Watson: The Longest Cave, New York 1976; Duane De Paipe: Gunpowder from Mammoth Cave. The Saga of Saltpetre Mining Before and During the War of 1812, Hays/KS 1985; Joy Medley Lyons: Mammoth Cave. The Story Be-

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Adventures Erzählen Graphen (1999) | 399 350 Meilen größte Höhle der Welt im Karst von Kentucky. Eben jenem Frank Gorin gehörte auch der Sklave Stephen Bishop, und es ist wohl der tuberkuloseinduzierten Philanthropie seines Herrn geschuldet, dass Bishop nicht nur in Latein und Griechisch, sondern auch in Speläologie dilettieren konnte. So erforschte Bishop die Höhlen seines bettlägerigen Herrn und verdoppelte das kartografierte Territorium schon innerhalb eines Jahres. Das unterirdische Dunkel durch Benennung lichtend, entstand nicht nur eine (halb klassische, halb folkloristische) Topologie mit Raumbezeichnungen wie River Styx, Snowball Room, Little Bat Avenue oder Giant Dome, sondern auch ein Inventar von Merkwürdigkeiten wie blinden Fischen, stummen Grillen, Fledermäusen und indianischen Artefakten. Bishop starb 1856, doch seine 1842 aus dem Gedächtnis gezeichnete Karte blieb bis in die 1880er Jahre in Gebrauch. John Croghan, der nächstfolgende Besitzer, baute die Höhlen zum touristischen Ausflugsziel aus. Die Nachbarorte ruhten nicht, und die Eröffnung der Great Onyx Cave im nahe gelegenen Hochins Valley führte in den 20ern zu den sogenannten Kentucky Cave Wars: Falsche Polizisten, orientierungslose Führer und brennende Ticket-Services bestimmten die Lage, sodass die Höhlen 1941 für die Öffentlichkeit geschlossen wurden. Nach dem Krieg wurden sie mit einiger Verspätung als Nationalpark wiedereröffnet, und Höhlenforscher suchten nach einem lange vermuteten Verbindungsgang zwischen Flint Ridge und Mammoth Cave. Der Durchbruch gelang 1972 einer jungen Physikerin namens Patricia Crowther, die – ausgehend von einem Raum namens Tight Spot – jene entscheidende »muddy passage« auf der Karte verzeichnen konnte, durch die man zur Mammoth Cave gelangt. Patricia war nun niemand anderes als die Ehefrau jenes eingangs erwähnten William Crowther, des genialen Programmierers der Internet Message Processing Group, der seine militärisch-wissenschaftlichen Routing-Probleme bei BBN ab und an ruhen ließ, um die speläologischen seiner Gattin auf den dortigen Dienstrechnern zu erfassen und zur Weitergabe an die Cave Research Foundation aufzubereiten. Und (s)einer Scheidung ist es zu danken, dass Crowther nicht nur die ausbleibenden Höhlen-Ausflüge auf seinem Rechner zu simulieren suchte, sondern ab 1973 diese auch in einer kinder- und laienfreundlichen Form implementierte.3

hind the Scenery, Las Vegas 1991; http://www.mammothcave.com; http://www.nps. gov/maca/macahome.htm; http://www.nps.gov/maca/slh.pdf. 3 | Dazu gehörte beispielsweise auch ein Programm, das die über Tastatur eingegebenen Notationsdaten als Karte auf einem Plotter ausgeben konnte (beispielsweise – in Vergessenheit des antiken bivium – »Y2« für einen Scheideweg mit Haupt- und Nebenausgang). Zum Folgenden vgl.: »A History of Adventure« (http: //people.delphi.com/rickadams/adventure/a_history.html); Tracy Kidder: Die Seele einer neuen Maschine. Vom Entstehen eines Computers, Reinbek 1984, S. 88-93;

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400 | Claus Pias Die erste Version – auch unter dem treffenden Namen Colossal Cave bekannt – basierte, in schönem Angedenken an die Lieblingsregion des Pärchens, auf einem vier Ebenen tiefen Modell der Bedquilt Cave und übernahm folgerichtig auch Raumbezeichnungen wie Orange River Rock Room aus der realen Höhlensituation. Diese – aus FORTRAN-Beschränkungen in schönem Doppelsinn »ADVENT« genannte – Begründung eines neuen Spieltypus kursierte im jungen Netz und fand ihren kurzen Weg zu Don Woods vom Stanford Artificial Intelligence Lab (SAIL). Nachdem Crowther 1976 zu XEROX PARC gewechselt war, erweiterten er und Woods die Karte des Programms, überzogen sie mit Ortsbeschreibungen in Tolkien’schem Ambiente und setzten dem Herumlaufen ein Ende. In Form von aufzufindenden Schätzen und Objekten gab es nun eine Geschichte mit einem Ende namens maximale Punktzahl. Die Semantisierung eines kartografischen Settings, seine Anreicherung durch Gegenstände und Rätsel war für die geübten Spieler des papierbasierten Rollenspiels Dungeons and Dragons nichts Ungewöhnliches. Erstaunlich ist jedoch, wie nachdrücklich sich die vom Realen abgenommene Topologie dieses ersten Adventures ins Raumgedächtnis seiner Spieler einschrieb, die sich bei einem Besuch der Mammoth Cave sofort und ohne Karte darin zurechtfanden.4 Die Orientierungsleistung, die das Modell ADVENT abfordert, erweist sich in Anwesenheit des Modellierten als gelungene Programmierung seiner Spieler. Kurt Lewins topologische Psychologie, die ja zu der Einsicht führte, dass wir in Räumen immer schon auf bestimmten Wegen laufen, ohne uns diese Wege eigentlich klarzumachen und ohne sie selber im strengen Sinne gebahnt zu haben, bekommt hier einen ganz neuen Sinn. Wenn Derrida davon spricht, dass die Architektur als eine »Schrift des Raumes« das Ich »instruiert«, dann gebührt diese Leistung hier einer nicht metaphorisch, sondern ganz wörtlich zu verstehenden Schrift eines Textadventures.5 Das wiederholte Tippen von Befehlen wie »LEFT«, »RIGHT« oder »UP« als Kommandos an einen Avatar im symbolischen Spielraum hallt im Realen zurück als Kommando an den eigenen Körper. Der Gang des Spielers durch die Höhle ist kein Heidegger’sches »Bewecken« mehr, das den Raum erst erschließt, sondern tatsächlich nur noch »Bewegen« in einem Déjà-vu vorhandener Trassen in bereits gebahnten Räumen. Jenseits von realweltlichen Höhlen und Fantasyliteratur, von Rollenspielen und unglücklichen Ehen trug jedoch ein technisches Problem entscheidend zur Emergenz von Adventurespielen bei. Crowther gehörte

Steven Levy: Hackers. Heroes of the Computer Revolution, London 1984, S. 281302; K. Hafner/M. Lyon: Where Wizards Stay Up Late, a.a.O., S. 205ff. 4 | Mitteilung von Melburn R. Park vom Department für Neurobiologie der Universität Tennessee. 5 | Vgl. Jacques Derrida: »Point de la folie – maintenant l’architecture«, in: Ders., Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987.

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Adventures Erzählen Graphen (1999) | 401 nämlich zum Programmiererteam der IMP-Group, die sich aus echtzeiterfahrenen Ingenieuren des Lincoln Lab rekrutierte und deren wesentliche Aufgabe es war, die Routing-Probleme des ARPAnet zu lösen.6 Seine erste Aufgabe resultierte aus den ARPA-Spezifikationen, die ein dynamisches Routing verlangten: Fällt eine Verbindung zwischen zwei Punkten des Netzes aus, so muss der Datenfluss über eine (möglichst geringe) Zahl anderer Nodes zum Ziel finden. Die Nachricht wurde folglich in Packets zerlegt, die jeweils nur eine Absender- und eine Empfängeradresse, nicht aber eine Wegbeschreibung bei sich führen, und der Rest blieb der postalischen Intelligenz des Systems überlassen. Das zweite Problem hieß Transparenz und meinte die Verbergung der gesamten Subnet- und RoutingEntscheidungen vor dem Benutzer. Da Post das ist, was keine Adresse hat, durfte bei einer Verbindung von der UCLA nach Utah eben auch nur Utah erscheinen und nicht etwa der Weg dorthin. Transparenz bestand also gerade nicht in der Sichtbarmachung von Wegen, sondern in deren Verschwinden, darin, dass Verwaltungsentscheidungen nicht mehr nachvollzogen werden können. Aus dieser Ausgangskonfiguration des ersten Adventurespiels lassen sich mindestens drei Schlüsse ziehen. Erstens basieren Adventurespiele auf Karten oder genauer: auf Orten und Wegzusammenhängen. Diese Orte können »Räume« einer Höhle sein oder Nodes eines Netzes, wobei die Wege zwischen ihnen auf eine je spezifische Weise verschwinden. Zweitens sind Adventurespiele Geschichten in jenem basalen Sinn, dass sie einen Anfang und ein Ende haben. Dies können zwei postalische Adressen sein oder Auszug und Heimkehr eines Helden oder Start- und Haltepunkte eines Programms. Drittens sind Adventures Serien von Entscheidungen, die auf Orte der Karte verteilt sind. Dies können Rauten in einem Flussdiagramm sein, Knoten in einem Netzwerk oder »Scheidewege« eines Helden. Im Folgenden möchte ich etwas genauer auf den Zusammenhang zwischen Erzählung und Topografie in Adventurespielen eingehen und auf ihr mögliches Aufgehen (oder Nichtaufgehen) im Rahmen einer mathematischen Graphentheorie hinweisen.

2. Erzählung Crowthers und Woods Adventure beginnt für seinen Spieler mit den berühmten Sätzen: »You are standing at the end of a road before a small brick building. Around you is a forest. A small stream flows out of the building and down a gully.« Zugleich (und auf Computerseite) beginnt es mit ganz anderen Sätzen,

6 | Vgl. K. Hafner/M. Lyon: Where Wizards Stay Up Late, a.a.O., S. 83-136.

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402 | Claus Pias nämlich jenen unsichtbaren Instruktionen, die die Möglichkeitsbedingung der Spieler-Instruktion darstellen. Diese eignen sich allerdings weniger dazu, (vor-)gelesen, als vielmehr dazu, von Compilern übersetzt zu werden. Was dort aufgeschrieben ist, ist – in Anlehnung an Wolfgang Hagen – kein Spiel, ohne dass es übersetzt würde in die Physikalität von Hardwarezuständen, womit »res gestae« und »historia rerum gestarum« zusammenfallen.7 Wenn Adventurespiele allseits unter eine Literatur names »Interactive Fiction« subsumiert werden, dann unterschlägt diese Beschreibung einen unsichtbar gewordenen Text namens Programmcode, der die Möglichkeitsbedingung der »gegenständlichen Schicht des literarischen Werkes« (Roman Ingarden) ist.8 Wo das Eintauchen einer Madeleine in Lindenblütentee stillschweigend und lebensweltlich voraussetzen kann, dass es nicht nur Madeleines und Tee gibt, sondern auch Hände, die Gebäck greifen können, Tassen, in die man Tee gießen kann, dass Tee flüssig und Madeleines kompatibel mit Tassendurchmessern sind, da bedürfen Adventurespiele erst einer ontologischen Klärung dessen, was »der Fall ist«. »Interactive Fiction« muss also gerade umgekehrt gelesen werden: als Fiktion der Interaktivität, zu der es des programmiertechnischen Entwurfs eines Weltzusammenhangs bedarf. Demnach beginnt Adventure erst einmal, also im FORTRAN-Sourcecode, mit den Zeilen: DIMENSION LINES(9650) DIMENSION TRAVEL(750) DIMENSION KTAB(300),ATAB(300) DIMENSION LTEXT(150),STEXT(150),KEY(150),COND(150),ABB(150), 1 ATLOC(150) DIMENSION PLAC(100),PLACE(100),FIXD(100),FIXED(100),LINK(200), 1 PTEXT(100),PROP(100) DIMENSION ACTSPK(35) DIMENSION RTEXT(205) DIMENSION CTEXT(12),CVAL(12) DIMENSION HINTLC(20),HINTED(20),HINTS(20,4) DIMENSION MTEXT(35)

Es handelt sich – wie der Befehl so treffend sagt – um die Dimensionierung der Variablen einer Welt, die durch (jeweils maximal) 9650 Wörter beschreibbar ist, 150 unterscheidbare Orte hat, in der 100 Objekte vorkommen, in der 35 bestimmte Handlungen möglich sind und in der eine Sprache gesprochen wird, die aus 300 Wörtern besteht.9 Die Belegung

7 | Vgl. Wolfgang Hagen: Der Stil der Sourcen (http://www.is-bremen.de/ ~hagen). 8 | Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968.

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Adventures Erzählen Graphen (1999) | 403 dieser Variablen erfolgt durch das Auslesen einer externen Datenbank, so etwa die Beschreibung der Eröffnungssequenz: 1 1 1

YOU ARE STANDING AT THE END OF A ROAD BEFORE A SMALL BRICK BUILDING. AROUND YOU IS A FOREST. A SMALL STREAM FLOWS OUT OF THE BUILDING AND DOWN A GULLY.

Und erst wenn alle Variablen belegt sind, beginnt das Spiel mit der Ausgabe des ersten (Daten-)Satzes (vom Typ »LTEXT«), und das Programm verwaltet fortan nur noch, was zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten mit bestimmten Objekten unter welchen Vorbedingungen möglich ist. Adventurespiele – so könnte man vorgreifend sagen – bestehen also aus Records oder Datensätzen und deren Verwaltungsrichtlinien, nach denen der Spielverlauf prozessiert (wird). Um das Spiel spielbar zu machen, bedarf es der Simulation einer konsistenten Welt, die in entscheidenden Parametern der Lebenswelt gleicht: Briefkästen können sich öffnen, Fensterscheiben sind durchsichtig, Flaschen enthalten Wasser. Was daher programmtechnisch auf dem Arbeitsplan steht, ist ein Reverse Engineering aristotelischer Kategorienlehre, heißt es doch dort (Kapitel 4, 1b25-2a3): »Von den Dingen, die ohne Verbindung ausgesagt werden, bezeichnet jedes eine Substanz oder eine Quantität oder eine Qualität oder ein Relativum oder einen Ort oder eine Stelle in der Zeit oder eine Lage oder das Haben von etwas oder ein Tun oder Erleiden. Substanz ist – um eine ungefähre Vorstellung zu vermitteln – so etwas wie Mensch, Pferd; Quantität so etwas wie zwei Ellen lang, drei Ellen lang; Qualität so etwas wie weiß, schriftkundig; ein Relativum so etwas wie doppelt, halb oder größer; ein Ort so etwas wie im Lyzeum, auf dem Marktplatz; eine Stelle in der Zeit so etwas wie gestern oder letztes Jahr, eine Lage so etwas wie liegt, sitzt; ein Haben so etwas wie hat Schuhe an, ist bewaffnet; ein Tun so etwas wie schneiden, brennen; ein Erleiden so etwas wie geschnitten werden, gebrannt werden.«

Wo Aristoteles sich zunächst nur gegen die Mehrdeutigkeit des Prädikats »sein« in der platonischen Ontologie wendet und versucht, verschiedene Weisen der Prädikation zu unterscheiden, erscheint später die Hoffnung, zehn Kategorien könnten ausreichen, um alle verschiedenen Funktionen von »ist« zu erfassen. Die Problemorientierung auf Vollständigkeitsbeweise verfehlt jedoch die Kategorienlehre von Computerspielen völlig. Bei

9 | Zu einer Wittgenstein’schen Lektüre dessen, »was der Fall ist« vgl. Heinz Herbert Mann: »Text-Adventures. Ein Aspekt literarischer Softmoderne«, in: Hens Holländer/Christian W. Thomsen (Hg.), Besichtigung der Moderne. Bildende Kunst, Architektur, Musik, Literatur, Religion. Aspekte und Perspektiven, Köln 1987.

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404 | Claus Pias ihnen geht es nicht um die vollständige Klassifizierung eines mannigfaltig Vorhandenen, sondern um die Möglichkeitsbedingung alles Seienden in der künstlichen Welt selbst. In einer Kategorientafel würden sie den »reinen Verstandesbegriffen« naherücken: Denn wie der Verstand nur durch sie ein Objekt denken kann, so kann im Programm nur durch sie ein Objekt überhaupt sein.10 Nachdem die Welt dimensioniert ist, halten die Dinge Einzug. Als »Objects« haben sie alle (Held und Feinde, Waffen und Schätze, Briefkästen und Fensterscheiben) den gleichen Status, weshalb in einer gott- wie programmiererdurchwalteten Welt auch alles mit allem verwandt ist. »End of a Road« ist im Beispiel das elterliche Objekt (Parent) von »you«, »gully« und »small brick building« (Children), die untereinander Geschwister (Siblings) sind. Diese Pointer-Struktur bedeutet gewissermaßen die Abschaffung transzendentaler Obdachlosigkeit, denn logischerweise kann nichts nirgendwo sein. Als hierarchisches Inventar aufgeschrieben liest sich dies so: [ 41] » « . [ 68] »End of a Road« . . [ 21] »you« . . [239] »small brick building« . . [127] »gully«

Wobei das [41] ein programmiertechnisches Dummy ist, das nirgends sichtbar, aber zugleich überall ist, weil es die logische Ermöglichung aller anderen Objekte ist, die auf der hierarchischen Stufe von beispielsweise Objekt [68] liegen. Mit Lacan gesprochen ist jedes Objekt das, was die Leere seiner eigenen Stelle ausfüllt, einer Stelle, die dem ausfüllenden Objekt vorangeht, sodass [41] vielleicht auch ein programmtechnisches »objet petit a« heißen könnte. Wie auch immer: Jedes Objekt hat Attribute und Eigenschaften. Erstere sind simple Flags, die nur gesetzt oder ungesetzt sein können. Eine aristotelische Qualität wie »brennbar« bedeutet also nur, dass unter den 32 verwalteten Status-Bits eines für Brennbarkeit (Burnability) steht und gesetzt ist. Eigenschaften hingegen haben numerische Werte, die beispielsweise Adressen von Strings sein können. Zu den Eigenschaften gehören die Namen der Objekte, ihre Größe oder ihr Gewicht, aber auch die Adressen von speziellen Routinen oder ihre Punktzahl bei erfolgreicher Benutzung. Dass die Welt des Spiels notwendigerweise eine relationale Datenbank ist, hat – schon aus Gründen der Endlichkeit von Speichern – zur Folge, dass das, was keinen Datensatz hat, auch nicht existiert. Diese schlichte Einsicht ist jedoch entscheidend für den Zusammenhang von Literatur und

10 | Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt, 3. Aufl., Hamburg 1990, S. 115-125.

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Adventures Erzählen Graphen (1999) | 405 Spiel. Was nämlich in den Strings der Raumbeschreibungen als Literatur steht, muss noch lange nicht in der Datenbank, auf die das Spiel aufsetzt, vorhanden sein. Beispiel: »To the north a narrow path winds through the trees« – der Weg ist gangbar, doch die Bäume lassen sich nicht fällen, weil sie keine Objekte sind und folglich nicht zur Disposition stehen. Die spielbare Welt des Adventures ist nicht an sich, sondern immer schon für uns. Was zur Welt der Zwischentexte gehört und nur halluzinierbar ist, nennt sich Literatur, was zur Welt der Objektdatenbank gehört und referenzierbar ist, nennt sich Spiel. Oder genauer: Nicht alle Wörter in den Texten adressieren Objekte, aber spielbar ist nur, was eine Adresse hat. Spielen heißt folglich zu nehmen, was auf seine (Wahr)nehmung wartet und als (Ver-) Handelbares (oder als Ware) wahrgenommen wird. Dieses Handeln geschieht in Textadventures auf Kommandozeilenebene durch die Eingabe von Sätzen wie »GO NORTH«, »OPEN GULLY« usw., die von einem Parser gemäß der Generativen Transformationsgrammatik analysiert und anhand von »Verb Frames« oder »Stereotypes« verarbeitet werden. Die Verstehensillusion, die sie erzeugen, beruht darauf, dass sie überlieferte Sprache in verarbeitbare technische Sprache zu konvertieren vermögen.11 Oder umgekehrt: Dass sie eine formale Sprache, eine Befehlssprache im Kommandozeilen-Format in Lexik und Syntax so zu gestalten vermögen, dass sie dem lexikalischen und syntaktischen Format überlieferter Sprache ähnlich erscheint. Es erübrigt sich zu zeigen, dass jedes Wort eindeutig definiert sein muss, dass die Syntax der Eingaben korrekt sein muss, damit das Spiel spielbar ist, und dass der Spieler sich nur mit den Wörtern zu Wort melden kann, die ihm das Programm erlaubt. Bemerkenswert ist vielmehr, dass das Stellende der Vorschrift beim Schreiben in Kommandozeilen zugleich das Herstellen eines Spielverlaufs ermöglicht, also als ποιησις gewissermaßen das Anwesende in die Unverborgenheit hervorkommen lässt. Am Interface des Textadventures wird auch technische Sprache zum Medium der Entbergung. Die Freiheitsillusion des Adventures besteht darin, dass es diese Grenze von Literatur und Datenbank verwischt, oder anders: dass es nur zur Wahrnehmung dessen instruiert, was auch Objekt ist: »A table seems to have been used recently for the preparation of food. A passage leads to the west and a dark staircase can be seen leading upward. A dark chimney leads down and to the east is a small window which is open. On the table is an elongated brown sack, smelling of hot peppers. A bottle is sitting on the table. The glass bottle contains: A quantity of water.«

Während das leise Lesen bildgebender Literatur einem alphabetisierten, romantischen Publikum den Boden der Innerlichkeit bereitete, wird das

11 | Vgl. Martin Heidegger: »Sprache«, in: Ders., Überlieferte Sprache und technische Sprache, hg. v. Hermann Heidegger, St. Gallen 1989, S. 20-29.

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406 | Claus Pias Lesen von Adventurespielen zur Lektüre von »Informanten«. Die Geschichte des Spielverlaufs als Folge von Tableaus dinglicher Rätsel besteht gewissermaßen im Abtasten von Keywords und der Rekonstruktion einer verlorengegangenen Gebrauchsanweisung. Adventurespiele treffen sich in dieser Veräußerlichung mit der Poetologie des Nouveau Roman, beispielsweise derjenigen Robbe-Grillets, dessen Texte wie Beschreibungen von Adventure-Räumen gelesen werden können, z.B. diese Stelle aus Der Augenzeuge: »Es gab dort also, vom Fenster aus linksherum gesehen […]: einen Stuhl, einen zweiten Stuhl, den Toilettentisch (in der Ecke), einen Schrank, einen zweiten Schrank (der bis in die zweite Ecke reichte), einen dritten Stuhl, das mit seiner Längsseite an der Wand stehende Bett aus Vogelkirschbaumholz, einen sehr kleinen, runden, einfüßigen Tisch mit einem vierten Stuhl davor, eine Kommode (in der dritten Ecke), die Tür zum Flur, eine Art Schreibschrank, dessen Platte hochgeklappt war, und schließlich einen dritten Schrank, der schräg in der vierten Ecke stand, vor dem fünften und sechsten Stuhl. In diesem letzten wuchtigsten und immer abgeschlossenen Schrank befand sich auf dem unteren Brett in der rechten Ecke die Schuhschachtel, in der er seine Schnur- und Kordelsammlung unterbrachte.«12

Die Dinge im Hotelzimmer des Uhrenvertreters Matthias könnten wohl leicht in einem Objektbaum verzeichnet werden, hätten Attribute wie »Containability«, verzeichneten Enthaltenes als Properties (dritter Schrank > Schachtel > Schnüre) oder würden durch solche disambiguiert (erster, zweiter, dritter ... Stuhl). Ich erspare mir eine Diskussion des Begriffs vom »offenen Kunstwerk«, nicht ohne zu konstatieren, dass Adventurespiele keine offenen Kunstwerke sind. Stattdessen verweise ich exemplarisch auf ein funktionales Modell von Erzählung, wie es Roland Barthes bereitstellt.13 (Und man mag sich ernsthaft fragen, inwiefern der Strukturalismus nicht nur ein Analysewerkzeug für Adventures ist, sondern selbst schon jener kyberneti-

12 | Alain Robbe-Grillet: Der Augenzeuge, Frankfurt a. M. 1986, S. 159. 13 | Vgl. Roland Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen«, in: Ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 102-143. Das Beispiel ist willkürlich; zur Funktionalität der Ereignislogik könnte beispielsweise auch Claude Bremond (Logique du récit, Paris 1973) herangezogen werden (»raconter, c’est énoncer un devenir«, S. 325); oder Arthur C. Danto (Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965), dem Erzählen als logischer Dreischritt erscheint: »1. X is F at t-1; 2. H happens to X at t-2; 3. X is G at t-3« (S. 236); oder Wolf-Dieter Stempels Minimalforderungen des Erzählens wie »resultative Beziehung« zwischen Ereignisgliedern, »Referenzidentität des Subjekts«, »Solidarität der Fakten« usw. (»Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs«, in: Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 325-346 [Poetik und Hermeneutik V]).

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Adventures Erzählen Graphen (1999) | 407 schen Episteme angehört, die zugleich Adventures, »technische Sprachen« und Strukturalismus begründet.) Barthes’ strukturale Analyse jedenfalls zerlegt Erzählungen in Einheiten, und weil diese Segmente einen funktionalen Charakter haben, entsteht aus ihnen eine Geschichte oder »Sinn« (und zwar in der Bedeutung einer Richtung von Beziehungen). Bei den funktionalen (oder »distributionellen«) Elementen unterscheidet Barthes die »Kardinalfunktionen« (oder: »Kerne«) von den »Katalysen«. Kerne eröffnen eine für die Geschichte folgetragende Alternative: Ein Gullydeckel kann geöffnet oder nicht geöffnet werden, dass er aber überhaupt da ist, eröffnet (wie der Kauf eines Revolvers) eine erzählerische Alternative, ein bivium, einen Scheideweg. Während die Kerne chronologische und logische Funktionalität besitzen, also wichtig für die Geschichte bzw. den Spielfortschritt sind, haben Katalysen keinen alternativen Charakter, sondern lediglich eine chronologische Funktion. Sie sind gewissermaßen Parasiten, die sich an der logischen Struktur der Kerne nähren und den Raum zwischen zwei Momenten der Geschichte beschreiben. Im Beispiel könnte eine Beschreibung folgen, mit welcher Mühe sich der Spieler durch den Gully zwängt, deren Fehlen in frühen Adventures nur dem mangelnden Speicherplatz geschuldet ist, später jedoch oft eingesetzt wird, um den Unterschied zwischen zeitlichen und logischen Folgerungen zu verschleiern: »With great effort, you open the gully far enough to allow entry« statt »The gully is open«. (Dass sie keine logische Bedeutung haben, zeigt sich schon daran, dass man sie über den Befehl »VERBROSE [ON, OFF]« abschalten kann.) Die Kerne sind also die Risikomomente der Erzählung, die Stellen an denen der Spieler Entscheidungen zu treffen hat, die Katalysen hingegen sind die Sicherheitszonen und Ruhepausen, die Momente, in denen das Spiel aufgrund bestimmter Entscheidungen ohne Eingriffe weitergeht. Die Erzählung von Adventures erscheint also als System von funktionalen Öffnungen und Schließungen, gewissermaßen als teleologischer Staffellauf, in dessen Verlauf jedes Objekt an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit durch den Spieler zu seinem vorbestimmten Ziel, zu seinem Übergabezusammenhang findet. Als Aufgabe des Spielers erscheint also auf erzählerischer Ebene das Auslösen von Katalysen, weshalb ich Adventures entscheidungskritische Spiele nennen möchte.

3. Topografie Die Erzählungen von Adventures sind nun auf diskrete »Räume« (Rooms ist nebenbei ein Ausdruck der Höhlenforschung) verteilt. Die Räume bilden die Orte, an denen Kerne lokalisiert sind und von denen Katalysen ihren Ausgang nehmen. Indem der Spieler Probleme löst, funktionale Schließungen vornimmt, durchläuft er notwendigerweise zugleich die Topografie der Adventurewelt. Oder umgekehrt: Wenn Anfang und Ende eines Adventures jeweils Orte sind, dann ist der Sinn des Spiels, und zu-

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408 | Claus Pias gleich die einzige Möglichkeit, es »sinnvoll« zu spielen, vom ersten Ort zum letzten Ort zu gelangen und en passant alle Katalysen herbeizuführen, die nötig sind, um von einem Ausgangspunkt namens Spielbeginn zu einem Endpunkt namens Spielende zu gelangen. Ich möchte drei Beispiele erwähnen, die eine vergleichbare Struktur haben. 1. Flowcharts: Blickt man auf die Geschichte der Programmierung digitaler Rechenmaschinen, dann zeigt sich, dass es eine Ähnlichkeit von »Entscheidungsproblem« und entscheidungskritischem Adventurespiel gibt. Von Neumanns und Goldstines »Planning and Coding«14 ist (Wolfgang Hagen hat zuletzt nachdrücklich darauf hingewiesen15) die Verteilung eines Plots in Form eines bekannten mathematischen Problems auf die Topografie einer Rechnerarchitektur. Der U-förmige ENIAC war bekanntlich raumgroß, und die Einheiten für Addition, Multiplikation usw. waren sichtbar im Raum verteilt. Von Neumann geht daher nicht von einem Konzept der Sprache, sondern von einem der Kartografie aus. Seine Flussdiagramme beschreiben einen Wegzusammenhang zwischen Eingang und Ausgang, auf den bestimmte Entscheidungssituationen und Übertragungen, also mit Barthes: Kerne und Katalysen, verteilt sind. (Deswegen sind Adventurespiele auch so leicht in der Neumann’schen Notation anschreibbar.) Die Frage nach dem, was der Spieler ist, erscheint unter diesen Voraussetzungen als Frage nach dem, was eigentlich durch das Flussdiagramm fließt. Dazu John von Neumann: »Ebenso klar scheint, dass das grundlegende Funktionsmerkmal des Codes in Verbindung mit der Entwicklung des Prozesses, den er kontrolliert, in dem Weg [course] gesehen werden muß, den die C-Steuerung [control] durch die codierte Sequenz nimmt, wobei sie die Entwicklung des Prozesses nachzeichnet. Wir schlagen daher vor, die Planung einer codierten Sequenz mit dem schematischen Entwurf

14 | Zum Folgenden vgl.: Herman H. Goldstine/John von Neumann: »Planning and Coding Problems for an Electronic Computing Instrument«, in: John von Neumann: Collected Works, hg. v. Abraham Haskel Taub, Bd. 5, New York 1963, S. 81-235; Herman Goldstine: The Computer from Pascal to von Neumann, 2. Aufl., Princeton 1993; Presper Eckert Interview (http://www.si.edu/resource/tours/comp hist/ekkert .htm); ENIAC History Overview (http://seas.upenn.edu/~museum/histoverview. html); Arthur W. Burks/Alice R. Burks: »The ENIAC. First General-Purpose Electronic Computer«, in: Annals of the History of Computing 3/4 (1981), S. 310389; Arthur W. Burks: »From ENIAC to the Stored-Program Computer. Two Revolutions in Computers«, in: A History of Computing in the Twentieth Century, hg. v. Nicholas Metropolis/Jack Howett/Gian-Carlo Rota, New York, London 1980, S. 311344. 15 | Vgl. Wolfgang Hagen: »Von NoSource zu Fortran«, Vortrag auf dem Kongress »Wizards of OS«, Berlin 16. Juli 1999 (http://www.is-bremen.de/~hagen /notofort/NoSourceFortran/index.htm).

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Adventures Erzählen Graphen (1999) | 409 des Weges von C durch diese Sequenz beginnen zu lassen, d.h. durch die benötigte Region des Selectron-Speichers. Dieses Schema ist das Flußdiagramm von C.«16

Dabei bezeichnet C einfach die Speicherinhalte, die auf der Verfahrensroute des Diagramms prozessiert werden. Die Gesamtheit dieser abgefragten Speicherinhalte ist das »Objekt«, der Datensatz mit seinen Attributen und Eigenschaften, der den Spieler repräsentiert. Der Avatar »fließt« gewissermaßen durch die Präskriptionen eines Verfahrensweges wie ein Formular durch einen Dienstweg, auf dem bestimmte Eintragungen und Löschungen vorgenommen werden müssen, damit der nächste Entscheidungsort erreicht werden kann. Nun findet das Adventurespiel in der Ungewissheit über den künftigen Verfahrensweg statt, ja es besteht sogar darin, den einzig richtigen für jede einzelne Situation zu ermitteln. Der Spieler ist also mit der Bearbeitung eines Datensatzes beschäftigt, der ausschließlich auf der taktischen Ebene jeweils so zu manipulieren ist, dass er verfahrenskonform wird. Die Alternativboxen oder »Durchgangspunkte« eines Adventures bedürfen nicht der rhetorischen Leistung eines Lebenslaufes, die darin besteht, eine Einheit durch die wiederholte »Integration von Nichtselbstverständlichkeiten« in ein Zeitschema herzustellen.17 Sie kontrollieren lediglich die jeweils situative Beschaffenheit des sie durchfließenden Datensatzes. Diesen Datensatz – den Avatar, Protagonisten oder poetischen »Engelskörper« – zu manipulieren, also in taktischen Entscheidungen dessen Attribute und Eigenschaften zu verändern und ein Hindurchgleiten zu ermöglichen, ist Aufgabe des Spielers. Adventures haben, kurz gesagt, nichts mit dem viatorischen Prinzip des klassisch-romantischen Bildungsromans zu tun. 2. Labyrinthe: Adventurespieler zeichnen beim Spielen Karten, weshalb das Spielen eine doppelte Entdeckungsbewegung, nämlich von programmierter (also immer schon geschriebener) Erzählung und Karte bedeutet. Im Verlauf des Spiels werden also immer nur Teile der Topografie und der Erzählung überschaubar, mit seinem Ende jedoch kippt partikulare Ansicht in globale Übersicht, Verwirrung des Moments in Epiphanie der Ordnung. Dies ist auch das Prinzip des neuzeitlichen, des multikursalen Labyrinths, das als Figur spätestens seit Comenius’ Erzählung Labyrinth der Welt mit Topografie verschmilzt.18

16 | H.H. Goldstine/J. von Neumann: Planning and Coding Problems, a.a.O., S. 84 (Übers. C.P.). 17 | Vgl. Niklas Luhmann: »Erziehung als Formung des Lebenslaufs«, in: Dieter Lenzen/Niklas Luhmann (Hg.), Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form, Frankfurt a. M. 1997, S. 11-29, hier: S. 18. 18 | Vgl. Max Bense: »Über Labyrinthe«, in: Ästhetik und Engagement, Köln, Berlin 1970, S. 139-142; Helmut Birkhan: »Laborintus – labor intus. Zum Symbolwert des Labyrinths im Mittelalter«, in: Festschrift für Richard Pittioni, Wien 1976,

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410 | Claus Pias Ich erwähne nur ein Labyrinth, nämlich jenen Irrgarten in Versailles, der 1674 nach Entwürfen des königlichen Gartenarchitekten André le Nôtre vollendet wurde. In diesem versteckt sind 39 Skulpturen nach Äsop, die der Führer Charles Perraults beschreibt. Bemerkenswert ist, dass Sébastien LeClercs Kupferstich einen Ariadnefaden verzeichnet, der nicht nur dem bloßen Herauskommen aus dem Labyrinth dient, sondern den kürzesten (und nahezu schleifenfreien) Weg beschreibt, der an allen 39 Skulpturen entlangführt. Schreibt man nun noch das Labyrinth als Graphen an, dann zeigt sich, dass zwei Drittel aller Kerne (oder graphentheoretisch: Knoten) mit Skulpturen besetzt sind. Die Routenplanung des Perrault’schen Führers erscheint also als Programm oder Routing im heutigen Sinne, indem sie (Besucher-)Ströme von einem Eingang (Input, Sender) über einen optimierten Entscheidungsweg zu einem Ausgang (Output, Empfänger) leitet. Dass dabei die Reihenfolge der Knoten oder Skulpturen wichtig sein kann, dass sie – in einer bestimmten Reihenfolge abgeschritten – zusätzlichen Sinn machen, also die »Gestalt« einer Erzählung bekommen, ist eine zusätzliche Option. Dieses touristische Problem wiederholt sich bekanntlich einige Jahrzehnte später in Königsberg, wenn Leonhard Euler einen Weg sucht, wie sich alle Brücken über den Pregel überschreiten lassen ohne eine davon zweimal ablaufen zu müssen.19 Seitdem heißt ein Graph G »eulersch«, wenn es einen geschlossenen Kantenzug in G gibt, der alle Kanten von G genau einmal durchläuft. Diese Vermeidung von Redundanz behandelt Sehenswürdigkeiten als Sehensnotwendigkeiten und macht aus Irrgärten mathematische Graphen.

S. 423-454; Gaetano Cipolla: Labyrinth. Studies on an Archetype, New York 1987; Penelope Reed Doob: The Idea of the Labyrinth from Classical Antiquity through the Middle Ages, Ithaca, London 1992; Umberto Eco: »Kritik des Porphyrischen Baumes«, in: Ders., Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig 1990, S. 89-112; Abraham Moles/Elisabeth Rohmer/P. Friedrich: Of Mazes and Men – Psychology of Labyrinths, Strasbourg 1977; Karl Kerényi: »Labyrinth-Studien«, in: Ders., Humanistische Seelenforschung, Wiesbaden 1978, S. 226-273; Hermann Kern: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen, 3. Aufl., München 1995; Wolfgang Haubrichs: »Error inextricabilis. Form und Funktion der Labyrinthabbildung in mittelalterlichen Handschriften«, in: Christel Meier/Uwe Ruberg (Hg.), Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, Wiesbaden 1980, S. 63-174. 19 | Vgl. Leonhard Euler: »Solutio problematis ad geometriam situs pertinentis«, in: Comment. Acad. Sci. I. Petropolitanae 8 (1736), S. 128-140.

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Adventures Erzählen Graphen (1999) | 411

4. Graphentheorie Damit komme ich zum letzten Punkt, an dem die Fäden wieder etwas zusammenlaufen. Die Erzählungen von Adventurespielen sind graphentheoretisch »Bäume«, also zusammenhängende, kreisfreie Graphen mit (so sie nicht trivial sein sollen) mindestens zwei Blättern.20 Die Kreisfreiheit von Bäumen garantiert logischerweise, dass jeder Weg in einem Baum ein »Pfad«, also der kürzeste Weg zwischen zwei Knoten, ist. Dies birgt einige Implikationen für die Erzählung. Wenn die Größe |E| eines Graphen durch die Anzahl seiner Kanten bestimmt ist, und die Erzählung eines Adventures ein Baum ist, dann ist die »richtige« Geschichte, also die, die es spielerisch herzustellen gilt, diejenige, die |E| am nächsten kommt. Angenommen die Geschichte eines Adventures hat 12 Kanten (oder mit Barthes: Katalysen), von denen sechs zu Blättern führen, also einem Spielende, das z.B. die Form des Todes des Spielers annimmt, dann bedeutet dies, dass das »richtig« oder erfolgreich zu Ende gespielte Spiel sechs Kanten hat und mindestens fünf Fehlentscheidungen bereithält. Die Illustration zeigt einen solchen Baum, wobei der unterste Knoten s (Source) der Spielbeginn und der oberste t (target) das erfolgreiche Spielende, der Graph also »gerichtet« ist. Gestrichelte Kanten signalisieren Fehlentscheidungen, die zum Tod des Spielers führen. Wie ersichtlich, bedeutet das gelungene Spiel das Durchlaufen einer möglichst großen Anzahl von Kanten, nicht jedoch aller Kanten. Spielen erscheint als Versuch, ein Ende möglichst lange hinauszuschieben ohne redundant zu werden, und zwar genau so lange, bis alle funktionalen Schließungen vollzogen sind, bis gewissermaßen kein erzählerisches Legat übrig bleibt. Zur anderen Hälfte, die den zweiten Graphen ausmacht, sind Adventurespiele Topografien. Sie basieren auf Labyrinthen, auf die eine Geschichte pointiert, verteilt werden muss. Betrachtet man Karten von Adventures und rekonstruiert den dazugehörigen Spielweg, so wird deutlich, dass es sich nicht um Bäume handelt, sondern um zusammenhängende Graphen mit zwei ausgezeichneten Knoten, nämlich dem ersten Raum s und dem letzten Raum t. Folglich müssen der Baum der Erzählung und der Graph des Raumes nur in diesen beiden Punkten zur Deckung kommen. Und graphentheoretisch heißt dies einfach, dass die Erzählung der BlockGraph des Raumes ist. Wo mehrere Bewegungen durch die AdventureWelt nötig sind, um die Erzählung entlang einer Kante zu katalysieren (z.B. ein Labyrinth im Labyrinth zu durchwandern), da lassen sich diese mehreren Bewegungen zu einem erzählerischen Block zusammenfassen. Da der Graph des Spiel-Raumes also ebenfalls ein gerichteter ist, heißt er mathematisch »Netzwerk«. Und ein Netzwerk dient bekanntlich der Überbringung eines Gutes (beispielweise einer E-Mail oder »C« in einem von Neumann’schen Flussdiagramm) von s nach t, wobei – getreu dem

20 | Vgl. einführend Reinhard Diestel: Graphentheorie, Berlin 1996.

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412 | Claus Pias Flusserhaltungssatz – das Gut an keinem Knoten außer s eingebracht werden und an keinem außer t austreten darf, denn sonst gäbe es ja ein Sicherheitsleck. Und damit wären wir wieder bei William Crowther und den Routing-Problemen der ARPAnet-Konstrukteure, denn nichts anderes beschreibt Lickliders entscheidender Entwurf von 1968 als das graphentheoretische Problem, wie über ein Netzwerk von Nodes und Kanälen (oder Kanten) Datenpakete optimal von s nach t transportiert werden können.21 Im Netz werden diese Probleme jedoch nicht durch Spieler oder Operateure gelöst, sondern aus Komplexitätsgründen durch Softwareintelligenz, was in den 60ern zu einem Rendezvous von Algorithmen und Graphentheorie führte.22 Die Tabellen, mit denen Crowther arbeitete, um nicht nur die intakten und defekten Leitungen des ARPAnet, sondern zugleich auch die von seiner Frau erfassten Höhlenein- und ausgänge zu verwalten, sind einfache Adjazenzlisten, durch die man Graphen gängigerweise codiert. Und nicht zufällig entsteht um 1972 der sogenannte DFS (Depth First Search)-Algorithmus, der durch bestimmte Auswahlstrategien wie Kantenschichtverfahren kürzeste Wege (also Pfade) von s nach t durch einen Graphen sucht.23 Dies ist ein ökonomisches Problem, das (wie schon in Elektrizitäts- und Telefonnetzen) als Minimierung von »Überführungskosten« gehandelt und nach dem Greedy-Prinzip organisiert wird, welches besagt, dass lokal beste Lösungen auch global die besten sein werden. Dies könnte beispielsweise nahelegen, die »Literatur« von Adventures als Funktion einer grafischen Kantengewichtung zu lesen, die Übergangswahrscheinlichkeiten herstellt. Dass die Benutzung einer Banane zum Öffnen einer Tür geringe Funktionswahrscheinlichkeit hat, versteht sich (lebensweltlich-stereotyp) von selbst, dass die Überwindung eines Gegners

21 | Vgl. Joseph Carl Robnett Licklider: »The Computer as a Communication Device«, in: Science and Technology, April 1968 (Reprint bei DEC, Systems Reseach Center, Palo Alto 1990), S. 32ff. Eine vergleichbare packet-Struktur brachte ein 1960 projektiertes und pünktlich zum Vietnamkrieg implementiertes Netzwerk hervor, nämlich in Gestalt des Containers als Datenpaket genormter Größe, mit Absender und Empfängeradresse, wobei das ›Gut‹ auf verschiedene Container verteilt wurde, die unterschiedliche Passagen nahmen (dazu David F. Noble: »Command Performance. A Perspective on the Social and Economic Consequences of Military Enterprises«, in: Merritt Roe Smith (Hg.), Military Enterprise and Technological Change, Cambridge/MA 1987, S. 338ff.). 22 | Dieter Jungnickel: Graphen, Netzwerke und Algorithmen, Heidelberg 1987; Thomas Emden-Weinert et al.: Einführung in Graphen und Algorithmen, Berlin 1996; http://www.informatik.hu-berlin.de/~weinert/graphs.html. 23 | Robert E. Tarjan: »Depth First Search and Linear Graph Algorithms«, in: SIAM J. Comput. 1 (1972), S. 146-160; vgl. C.Y. Lee: »An Algorithm for Path Connection and its Applications«, in: IRE Trans. Electr. Comput. EC-10 (1961), S. 346-365; Edward F. Moore: »The Shortest Path through a Maze«, in: Proc. Internat. Symp. Theory Switching, Part II, Cambridge/MA 1959, S. 285-292.

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Adventures Erzählen Graphen (1999) | 413 die Erzählung mit hoher Wahrscheinlichkeit voranbringt, ebenfalls. Die Strings, die an jeder Risikosituation namens Knoten auf dem Bildschirm erscheinen, legen bei »richtiger« Lektüre bestimmte Wahrscheinlichkeiten nahe. Man könnte vielleicht sagen, dass so etwas wie »poetische Notwendigkeit« den Spieler bei seiner Bildung von Metonymien instruiert. Die von ihm getroffenen Entscheidungen basieren auf seiner Kompetenz, eine bestimmte Art von narrativer Plausibilität zu erkennen. Dass Adventures sich stark an Gattungskonventionen (Detektivgeschichte, Fantasy usw.) halten, dient wahrscheinlich dazu, diese Übergangswahrscheinlichkeiten zu modellieren, oder genauer: Unwahrscheinlichkeit zu senken. Hayden White nennt das in Anlehnung an Northrop Frye »Patterns of Meaning« und meint damit, »einer Ereignisfolge eine Plotstruktur zu verleihen, so dass sich ihr Charakter als verstehbarer Prozess durch ihre Anordnung als eine Geschichte von ganz bestimmter Art […] offenbart«.24 Eine »Geschichte bestimmter Art« gewichtet also die Kanten des Graphen. In Graphen gibt es zwar kein narratives Geschehen, sondern nur Anfangs- und Enddaten, doch bieten sie als »Protokollanten der Kontingenz« (White) gerade deshalb die Möglichkeit, dass »Geschichte« auf ihnen aufsetzen kann. Eine Diskursarchäologie des Adventurespiels bestünde also darin, nicht die Geschichten von Adventures, sondern ihre Graphen und Algorithmen zu lesen, nicht die Inhalte mit pädagogischer Sorge zu interpretieren oder philologischer Sorgfalt zu vergleichen, sondern die Möglichkeitsbedingungen der Aussagen selbst in den Blick zu bekommen.25

5. Datenbanken erzählen Zum Schluss möchte ich die losen historischen Fäden zu zwei Thesen zusammenziehen, in denen sich die verschiedenen Aspekte von Interaktion, Narration und Wissensverwaltung vielleicht verbinden könnten. Erstens möchte ich an Vannevar Bushs prominente Fantasie einer netzwerkförmigen Wissensorganisation erinnern. Es scheint mir alles andere als zufällig, dass einerseits Adventurespiele von Leuten entwickelt wurden, die im Netzwerkrouting arbeiteten und dass andererseits Bush die Navigation durch die Datenbestände seines MEMEX mit dem routing in automatisch vermittelnden Telefonnetzen vergleicht. Die Arbeit der Lektüre be-

24 | Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1991, S. 75. 25 | Von einem medienarchäologischen Standpunkt aus wäre es sicher interessant, Adventures in Zusammenhang mit der (weitgehend europäischen) Informationsästhetik der 60er Jahre zusammenzubringen, innerhalb derer viel mit Übergangswahrscheinlichkeiten experimentiert wurde – sei es zur Textproduktion oder zur Stilanalyse. Vgl. z.B. die Themenhefte der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 2,8 (1972) und 4,16 (1974).

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414 | Claus Pias steht – so schreibt Bush – darin, Anknüpfungspunkte zu finden und diese als Verknüpfungen oder Links zu realisieren: »Selection by association, rather than by indexing«. Wissen entsteht, wie Bush als Koordinator von 6.000 Wissenschaftlern während des Zweiten Weltkriegs lernen konnte, darin, Vorhandenes unter bestimmten Gesichtspunkten zu verknüpfen: »Ein Datensatz muss, wenn er für die Wissenschaft nützlich sein soll, […] gespeichert werden, und vor allem muss er abgefragt werden. […] Tatsächlich ist jedes Mal, wenn man Fakten gemäß gängiger logischer Verfahren verknüpft, der kreative Teil des Denkens bloß mit der Auswahl der Daten und den einzusetzenden Verfahren beschäftigt.«26

Banaler gesagt, geht es in Adventurespielen nicht darum, die Datenbank der Spielwelt auszulesen (das würde Bush allenfalls »Indexing« nennen), sondern darum, Verknüpfungen herzustellen: Waffen mit Gegnern, Schlüssel mit Türen, Fragen mit Antworten. Es lohnt jedoch, dabei einen kühlen oder distanten Blick zu behalten, der erkennen lässt, wie Waffen, Gegner, Schlüssel, Türen, Fragen oder Antworten allesamt Records oder Datensätze sind, zwischen denen Verbindungen hergestellt werden: Die Logik solcher Verknüpfungen während des Lesens ist, so Bush weiter, »menschlich«, weil sie unwahrscheinlich ist. Daher sollte das, was wahrscheinlich (und leichter berechenbar) ist, besser den Maschinen überlassen werden, das aber, was unberechenbar ist, zumindest in eine benutzerfreundliche Form gebracht werden. »Ein neuer, wahrscheinlich positionaler, Symbolismus muss der Reduktion mathematischer Transformation auf Maschinenprozesse allem Anschein nach vorausgehen. Dort, jenseits der strikten Logik des Mathematikers, liegen die Anwendungen der Logik auf alltägliche Vorgänge. Vielleicht werden wir eines Tages mit derselben Sicherheit Argumente auf einer Maschine anklicken [click off], mit der wir heute Preise in die Kasse eingeben.«27

Datensätze, Dokumente oder Diskurselemente haben Positionen oder Orte. Sie liegen in der Topografie eines Netzes oder einer Karte als Knoten vor, die durch Kanten verbunden werden, die der Benutzer des MEMEX einzeichnet. Die fortwährend wiederholte Urszene lautet: »Before him [dem Benutzer] are the two items to be joined«. Was aus dieser lesenden Codierung von Dokument-Knoten durch Adjazenzlisten entsteht, ist ein Weg (Trail) durch eine topografische Wissensordnung, die Bush wiederum »Labyrinth« nannte. »Thus he [der Benutzer] builds a trail of his interest through the maze of materials available to him. And his trails do not fade.«

26 | Vannevar Bush: »As We May Think«, in: Atlantic Monthly 7 (1945), S. 101-108; http://www.isg.sfu.ca/~duchier/misc/vbush/vbush.txt (Übers. C.P.). 27 | Ebd.

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Adventures Erzählen Graphen (1999) | 415 Die Korrespondenzen könnten deutlicher nicht sein. Ich bin in einem Raum 13 mit Item 47 und Item 73 der Datenbank, genannt »Gefängnis«, »Schlüssel« und »Tür«. Ich verknüpfe Item 47 mit Item 73, indem ich »benutze Schlüssel mit Tür« anklicke. Das Bit für »offen« an Item 73 wird gesetzt, die Tür ist offen. Ich bewege mich in Raum 14 weiter und ziehe eine Spur auf der Karte des Spiels, der Karte, auf der die zu verknüpfenden Dinge positioniert sind. Ich speichere den Spielstand ab und meine Spur verschwindet nicht. Adventures sind Datenbanken im Sinne von Bush: eine positionale Ordnung der Wissensobjekte, zwischen denen es Links herzustellen gilt. Was ist aber (und dies wäre der zweite Punkt) das besonders »menschliche« an dieser Art Datenverwaltung, das, was Bush unberechenbar oder unwahrscheinlich nennt? Wenn die Karte des Spiels eine verräumlichte Datenbank ist, dann ist es die Erzählung, die diese Datenbank verzeitlicht. Die Daten müssen durchlaufen werden, weshalb Lösungsanleitungen ja auch »Walkthroughs« heißen. Erzählung ist eine bereits im Netz gelegte Spur, die ich durchlaufen muss. Umgekehrt – und damit komme ich wieder auf Hayden White zurück – ist Erzählung eine Methode, unwahrscheinliche Ereignisse wahrscheinlich zu machen. Erzählung ist also das, was eine Spur erkennen lässt und ihre Nachzeichnung während des Entstehens ununterbrochen instruiert und lenkt. Erzählung ist das, was einen Schritt, einen Klick, eine Entscheidung plausibilisiert, was an eine Form erinnert und die Kanten des Netzes gewichtet. Erzählung ist, was Übergangswahrscheinlichkeiten herstellt. Etwas wie »poetische Notwendigkeit« unterrichtet den Spieler bei seiner Herstellung von Verknüpfungen, bei der Rekonstruktion einer Plotstruktur. Die von ihm getroffenen Entscheidungen basieren auf seiner Kompetenz, eine bestimmte Art von narrativer Plausibilität zu erkennen. Dass Adventures sich stark an Genrekonventionen halten, dient wahrscheinlich dazu, Übergangswahrscheinlichkeiten zu modellieren, oder genauer: Unwahrscheinlichkeit zu senken. Ich mache diesen Vorschlag nicht zuletzt deshalb, weil Computerspiele ganz besondere Formen von Ereignissen produzieren. Es handelt sich um Ereignisse, die eine Virtualität und eine Aktualität haben. Virtuell deshalb, weil sie in Datenbank und Fabel immer schon geschrieben stehen und sich in gewissem Sinne immer schon ereignet haben. Aktuell deshalb, weil sie in jedem neuen Spielen aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit geführt werden und aus dem Kalkül in die Zeit übertreten. Es sind gewissermaßen versicherungstechnische Ereignisse wie Autounfälle, die mit dem Unterschreiben des Vertrages und dem Zahlen der Beiträge immer schon virtuell passiert sind, bevor sie sich aktuell ereignen. Sie sind zugleich gespaltene Ereignisse, Ereignisse mit zwei Hälften, einer sichtbaren und einer unsichtbaren. Sie entstehen aus einem Zusammenspiel von Menschen mit Maschinen, Eingaben und Programmen, kurzum aus einer Interaktion, die eine kommensurable und eine inkommensurable Seite hat. Diese Seiten schreiben verschiedene Formen der Geschichte: eine Geschichte in einem anderen Medium und eine Geschichte des Mediums »in its own Terms«,

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416 | Claus Pias wie Tim Lenoir sagen würde. Das ist einfach nachzuprüfen: Man braucht nur einen Spieler zu fragen, was er gerade getan hat, und er wird eine Geschichte der Art erzählen: »Erst habe ich mir eine hölzerne Hand besorgt, dann bin ich damit zum Termitenzirkus gegangen, habe die Termiten auf eine Jagdtrophäe des Bösen abgesetzt, der hat dann vor Wut seinen Stock durchgebrochen, usw.«28 Ich frage mich, wie die andere Geschichte zu schreiben wäre, die Geschichte des Mediums in seinen eigenen Begriffen. Unter Unix gibt es ja den schönen Befehl HISTORY, der eine Chronik der letzten Eingaben am Terminal zurückgibt. In diesem Sinne müsste man wohl die Befehle, die gesetzten Flags und Attribute entlang eines Timecodes verzeichnen, die sich ereignen, wenn eine hölzerne Hand ergriffen wird, die sich ereignen, wenn das Spielerobjekt dem Termitenzirkusobjekt nahe kommt, die sich ereignen, wenn Hand und Termiten sich zusammentun. Eine solche Geschichte bestünde wohl aus »Protokollen« (oder eben »Protokollanten der Kontingenz«) – der Kontingenz deshalb, weil menschliche Eingaben unwahrscheinlich sind. Jedenfalls wäre es wohl keine Erzählung. Vielleicht ist die Frage nach Ereignis und Geschichte diejenige, an der sich die beiden Möglichkeiten treffen, Computerspiele anzusehen: der einen, die sich gewissermaßen die menschliche Seite anschaut, und der anderen, die sich die maschinistische Seite anschaut. Eine Frage, die vermittelt zwischen den Begriffen Interaktion, Narration und Wissensorganisation und zugleich zwischen technikzentrierten und performativen Fragen. In diesem Sinne könnte man vorschlagen, Geschichte als Interface zu begreifen. Erzählung ist das, was Programmereignisse ermöglicht, ohne dass Spieler/User dabei zählen müssen. Denn ein Adventurespiel auf Datenbankebene zu spielen, ist ziemlich unmöglich, wenn keine Erzählung da ist. Es wäre nicht nur müßig, sondern würde auch unser Vorstellungsvermögen übersteigen und keinen Spaß machen, mit einem Kommando die Datensätze 47 und 73 zu verlinken. Es ist aber sehr leicht, den Befehl »benutze Schlüssel mit Tür« zu tippen oder zu klicken. Adventurespiele sind zugleich etwas anderes als das Netz, weil sie erstens endlich sind und weil es zweitens einen vorgeschriebenen Weg durch ihre Datenbestände zu nehmen gilt. Für genau dies, für die Rekonstruktion und den Nachvollzug einer gelegten Spur, wäre Erzählung dann das Interface. Sie wäre das, was eine Archivarbeit ermöglicht, durch die tatsächlich herauskommt, wie es »wirklich gewesen ist« und immer sein wird. Und das sollte eine Medienwissenschaft zumindest anregen, die Erzählung von Computerspielen nicht bloß vom Erzählten oder der Konkurrenz zu Filmen und Büchern her zu begreifen, sondern von den Möglichkeiten des computergestützten Erzählens her, von dem, was überhaupt mit Datensätzen, Verknüpfungen und Karten erzählbar ist und was nicht.

28 | Ein Beispiel aus Flucht von Monkey Island (Lucasarts 2001).

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Adventures Erzählen Graphen (1999) | 417

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420 | Ernest W. Adams

Dogma 2001 1 (2001) Ernest W. Adams

1. Das Spieldesign soll nicht von der zur Verfügung stehenden Hardware beeinflusst werden, sondern sich einzig und allein um die Spielidee drehen. Die Hardwarevoraussetzungen sollen vom Programmierer während der Entwicklung ermittelt werden. 2. Die Benutzung jeglicher 3D-Beschleuniger ist untersagt. Software-3DEngines sind nicht verboten, jedoch muss das Spiel mindestens 20 FPS bei einer Auflösung von 640 x 480 x 16 Bit SVGA darstellen. 3. Es sind nur folgende Eingabegeräte erlaubt: Auf einer Konsole der mitgelieferte Controller; bei einem Computer: ein zweiachsiger Joystick mit 2 Knöpfen, eine Standard 101-Tasten-Tastatur und/oder eine Maus mit zwei Buttons. 4. Es sollen nicht vorkommen: Ritter, Elfen, Zwerge oder Drachen. Noch sollen Zauberer, Hofdamen, Barden, Barmänner, Golems, Riesen, Kleriker, Totenbeschwörer, Diebe, Götter, Engel, Dämonen, Zauberinnen, Untote oder verwesende Teile von diesen (mumifiziert oder verwesend), Nazis, Russen, Spione, Söldner, Weltraumhelden, Sturmtruppen, galaktische Piloten, menschenähnliche Roboter, böse Geister, verrückte Wissenschaftler oder fleischfressende Aliens verwendet werden. Und keine verdammten Vampire! Zur Erläuterung: Wenn du glaubst, dass es nicht möglich ist, ein Spiel ohne diese Figuren zu erschaffen, dann bist du nicht kreativ genug, dich einen Spieledesigner zu nennen. Zum Beweis – beachte, dass diese Figuren nicht verboten sind: Königinnen, Imps, Masai-Krieger, Gespenster, Succubi, Hunnen, Mandarinsoldaten, Bürokraten, Grizzlybären, Hamster, Seeungeheuer, vegetarische Aliens, Terroristen, Feuerwehrmänner, Generäle, Verbrecher, Detektive, Magier, Spirituelle, Schamanen, Prostituierte und Lacrosse-Spieler.

1 | http://de.wikipedia.org/wiki/Dogma_2001; das Original erschien 2001: http://www.gamasutra.com.

2007-03-26 15-01-54 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 420-421) T06-03 dogma.p 142895399376

Dogma 2001 (2001) | 421 5.

Die folgenden Spieletypen sind verboten: Ego-Shooter, Side-ScrollingSpiele, jegliche Spiele mit »Spezialangriffen«. Ebenfalls nicht erwünscht sind: Militärsimulationen, Simulationen von Sportarten, die regelmäßig live im Fernsehen übertragen werden, Echtzeitstrategiespiele, die sich ausschließlich auf Kriegsführung und Waffenproduktion konzentrieren, Schlüssel-Schloss-Adventures, zahlenlastige Rollenspiele und jegliche Kartenspiele, die in »Hoyle’s Rules of Card Games« gefunden werden können. 6. Auch alle cineastischen Cut-Scenes und andere nicht-interaktive Filmszenen sind verboten. Wenn solche Szenen zur Handlung nötig sind, sollen sie ausschließlich mit Text erstellt werden. 7. Gewalt ist strikt auf verschwindende Gegenstände oder Gegner limitiert. Kein Blut, keine Explosionen, keine übertriebenen Sterbeanimationen. 8. Es kann Sieg oder Niederlage geben, aber nicht nur »Gut und Böse«, da Gut gegen Böse einfach eine zu oft benutzte und unrealistische Ausrede ist um zwei Parteien gegeneinander kämpfen zu lassen. Wenn zwei Seiten sich bekriegen, muss es dafür einen guten Grund geben – oder gar keinen, wie beim Schach. 9. Wenn ein Spiel eher realistisch als abstrakt ist, so sollte die Story kongruent sein, z.B.: keine »Gesundheitspacks« in alten Ölfässern. 10. Wenn ein Spiel eher realistisch als abstrakt ist, dann sollte die Nichtfarbe Schwarz so wenig wie möglich verwendet werden, außer wo nötig, z.B. bei Tinte. Schwarz darf ebenfalls in dunklen Räumen verwendet werden, in denen das Licht nicht angeschaltet ist. Übersetzung aus dem Englischen: Karin Bruns

2007-03-26 15-01-54 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 420-421) T06-03 dogma.p 142895399376

422 | Sue Morris

First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) Sue Morris

Während sich die akademische Forschung zunehmend Computerspielen und den dazugehörigen Kulturen widmet, steht eine grundsätzliche Analyse der eigentlichen Interaktion von Spielern1 mit Computerspielen und der Interaktion innerhalb von Spielumgebungen noch aus. Dieser Essay versucht die Wirkungsweisen von Subjektivität im Zusammenhang eines bestimmten Computerspielgenres – des First-Person-Shooter (FPS)2 – mithilfe des Begriffs des Computerspiel-»Apparatus« darzustellen. Das Modell des Kino-Apparatus ist ein Konzept, dass sich für die Filmwissenschaft als sehr brauchbar herausgestellt hat, um die mit der Situation des Zuschauens im Kino einhergehenden und miteinander verwobenen technischen, situativen, textuellen, psychologischen und gesellschaftlichen Prozesse erkennen und benennen zu können. Für die psychoanalytische Filmtheorie liegt die Macht des Kinos nicht in seiner Fähigkeit Realität zu reproduzieren, vielmehr erlauben uns die spezifischen Bedingungen des Kino-Apparatus, unsere Ungläubigkeit vorübergehend zu vergessen: »Es ist der Apparatus, der eine Illusion herstellt, nicht der Grad der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.«3 Der Begriff »Apparatus« dient der

1 | Anm. d. Übersetzerin: Das englische Wort Player ist geschlechtsneutral. Grundsätzlich bin ich um eine entsprechend neutrale Ausdrucksform im Deutschen bemüht. Da das Wort Player im Text aber sehr häufig vorkommt, habe ich mich entschieden im Folgenden ausschließlich die männliche Form zu verwenden, um das Lesen des Textes nicht durch ständigen Gebrauch von Formen wie »der Spieler/die Spielerin« oder »Spieler/-innen« zu erschweren. 2 | Anm. d. Übersetzerin: Im Deutschen wird statt des Begriffs »First-Person-Shooter« oft der Begriff »Ego-Shooter« benutzt. Da aber im Originaltext oft nur die Abkürzung FPS steht, habe ich diesen Begriff beibehalten. 3 | Jean-Louis Baudry: »The Apparatus«, in: Theresa Hak Kyung Cha (Hg.),

2007-03-26 15-01-55 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 422-441) T06-04 morris.p 142895399456

First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) | 423 Beschreibung miteinander verbundener interaktiver Prozesse des Publikums mit der medialen Form des Films; er bietet sich aber ebenso für eine Analyse von Subjektpositionen anderer medialer Formen an. Ich werde mich auch auf einige Modelle der Konstituierung von Subjektivität beziehen, die in Untersuchungen zu Film und Fernsehen herausgearbeitet worden sind. Es ist allerdings notwendig von Beginn an zu betonen, dass Film, Fernsehen und Computerspiele völlig verschiedene und eigenständige mediale Formen sind – sowohl als textuelle Systeme als auch im Sinne der Mechanismen, mit denen sie Menschen in Anspruch nehmen oder beschäftigen. Mein Ziel ist es nicht, eine einfache Übertragung von Film- und Fernsehtheorie auf das Genre des Computerspiels vorzunehmen, sondern eher die Überlegung, wie Konzepte, die ursprünglich zur Analyse anderer medialer Formen entwickelt wurden, eine Analyse dieses relativ neuen und bislang kaum erforschten Mediums stützen können.

Die Spiele Im Mittelpunkt dieser Analyse steht das Szenario, das ein »Computerspiel« im eigentlichen Sinne umgibt: Eine einzelne Person vor einem Computerbildschirm, die eine Maus und eine Tastatur benutzt. Auch wenn ein bestimmter Spiel-Text in verschiedenen Spielformaten erhältlich sein mag (z.B. PC, Dreamcast, GameBoy), hat jedes Format seine eigenen technischen, umgebungsbedingten und sozialen Bedingungen beim Spielen – sie hier alle zu untersuchen würde den Rahmen einer solchen Analyse sprengen. So beziehe ich mich auf Beispiele aus den FPS-Spielen Quake (id Software, 1996), Quake II (id Software/Activision, 1997), Quake III Arena (id Software/Activision 1999), Unreal Tournament (Epic MegaGames & Digital Extremes/GT Interactive, 1999) and Half-Life (Valve/Sierra, 1999). Das Szenario eines typischen FPS-Spiels sieht ungefähr so aus: Du befindest dich an einem fremden, feindlich gesinnten Ort, und zwar meist unbeabsichtigt, unbewaffnet und verletzbar. (Die Feindseligkeit der Umgebung ist unerlässlich für das Shooter-Genre; sonst gäbe es für die Spieler nicht viel mehr zu tun, als ab und zu ein Rätsel zu lösen und die Landschaft zu bewundern à la Myst [Cyan/Broderbund, 1993].) Man muss diesen Ort erkundschaften, um Waffen und andere nützliche Dinge zu finden und durchläuft dabei die verschiedenen Spielarenen oder -ebenen in einer Art Mission. Man muss gegen Feinde oder Monster kämpfen oder versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen. In der Einzelhandelsversion von Half-Life wird das Spiel wie folgt beschrieben:

Apparatus, Cinematographic Apparatus: Selected Writings, New York 1980, S. 25-37, hier: S. 27.

2007-03-26 15-01-55 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 422-441) T06-04 morris.p 142895399456

424 | Sue Morris »Wieder so ein Tag im Büro. So siehts jedenfalls aus […] bis dein Experiment in die Luft geht. Jetzt, wo Aliens durch die Wände kommen, ein militärisches Killerkommando alles tötet, was ihm in die Quere kommt, und deine Kollegen in Stücke gerissen sind, kämpfst du ums Überleben. Wohin kannst du gehen? Wem kannst du trauen? Und kannst du alles entschlüsseln, bevor sie dich in einen Leichensack stecken?«

Diese erzählerische Interaktion einer Person mit der Software des Computerspiels nennt sich »Single-Player«-Spiel. FPS-Spiele können auch Multi-Player-Spiele sein, bei denen entweder über eine LAN- (Local Area Network) Verbindung verschiedener Computer, die sich am gleichen Ort befinden, oder übers Internet gespielt wird. Im letzteren Fall dient ein nur für diesen Zweck eingerichteter Computer als Server, normalerweise bei einem Internet Service Provider (ISP),4 einer Universität oder einem anderen Ort, der eine schnelle Internetverbindung ermöglicht. Multi-Player-Spiele können »Todeskämpfe«, sogenannte Deathmatches, sein, bei denen die Spieler gegeneinander antreten um die höchste Anzahl von Kills oder Frags zu erlangen. Oder es handelt sich um irgendeine Form von Mod (Modifizierungen des ursprünglichen Spielcodes), die oft eine Art Team-Wettkampf oder Eroberungsspiel zum Inhalt haben wie etwa Capture the Flag (CTF), eine Art Footballspiel mit Raketenabschüssen, oder wie Half-Life: Counter Strike, bei dem die Spieler in Terroristen und Gegenterroristen eingeteilt werden, die entweder eine Reihe von Missionen erfüllen oder sich dagegen verteidigen müssen. Team-Mods können sehr kompliziert sein, da sie verschiedene Klassifizierungen von Figuren und eine fortgeschrittene Strategie besitzen, welche eine sehr komplexe Kooperation und Kommunikation zwischen den Mitspielern eines Teams erfordert. Bei Multi-Player-Spielen ist der Spielort5 Bestandteil der auf dem Server abgespielten Software, vom Spieler wird sie aber als eine 3D-Spielarena oder Spielkarte wahrgenommen, in der sich alle Mitspieler treffen und interagieren. Dabei kann ein Spieler – statt aktiv mitzuspielen – auch nur zuschauen, entweder indem er einem aktiven Spieler folgt oder indem er sich auf der entsprechenden Spielebene frei bewegt, als ob er durch den 3D-Raum flöge. In einem Multi-Player-Spiel sind die Charakterisierung der

4 | Als dieser Text geschrieben wurde, gab es weltweit über 20.000 FPSGame-Server, bei denen etwa 70.000 Spieler gleichzeitig zu einem beliebigen Zeitpunkt eingeloggt waren. Half-Life ist zurzeit mit Abstand das beliebteste Spiel aufgrund des sehr erfolgreichen Mods Counter-Strike. Es macht etwa zwei Drittel der Spieler und Server aus (Gamespy). 5 | Anm. d. Übersetzerin: Im Englischen steht hier Game Space. Obwohl Space sicher besser mit »Raum« übersetzt wäre, habe ich mich, angesichts der Bedeutung des deutschen Wortes »Spielraum«, stattdessen für »Spielort« entschieden.

2007-03-26 15-01-55 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 422-441) T06-04 morris.p 142895399456

First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) | 425 Figuren und die narrativen Elemente des Single-Player-Spiels auf ein Minimum reduziert; an ihre Stelle tritt eine soziale Umgebung, die sich aus dem Zusammentreffen des Spiel-Textes, der spezifischen Regeln des jeweiligen serverabhängigen Mods und der Anwesenheit anderer Teilnehmer, die während des Spiels (durch Keyboardeingabe) miteinander kommunizieren können, ergibt. Multi-Player ist bei Weitem die gängigste Variante von FPS-Spielen, ein Single-Player-Spiel wird gewöhnlich einmal oder vielleicht auch zweimal gespielt, während Multi-Player-Spiele regelmäßig über Monate oder sogar Jahre gespielt werden.6 Ich beziehe mich im Folgenden mehr auf MultiPlayer-Spielerfahrungen, nicht nur weil sie die häufigere Form des Spielens darstellen, sondern auch weil die gesellschaftlichen Dimensionen von Multi-Player-Spielen Einfluss auf die Spiel/Spieler-Interaktion in beiden Spielsituationen (Single- und Multi-Player) haben.

Apparatus Der Begriff des Kino-Apparatus umfasst die technischen Grundlagen des Films (die spezifischen ausstattungsbedingten Effekte einschließlich Kamera, Licht, Film, Projektion), die Bedingungen des Zuschauens (abgedunkelter Zuschauerraum, Immobilität, Licht, das von hinten auf eine Leinwand, vor der die Zuschauenden sitzen, fällt), den Film selbst als Text sowie die psychologischen Prozesse, die dem Akt des Zuschauens zu eigen sind, und durch die der Zuschauende in den Mittelpunkt des Prozesses gestellt wird. Für meine Analyse des First-Person-Shooter-Spiels im Sinne eines Apparatus, werde ich diese grundlegenden Kategorien des Kino-Apparatus übernehmen und dabei zwischen den technischen Grundlagen von Computerspielen, den Bedingungen des Computerspielens, dem Spiel als Text und den psychologischen Prozessen, die beim Spieler ablaufen, unterscheiden. Mit dem Begriff des Spiel-Textes meine ich die Festlegungen durch die Computersoftware selbst, wie sie auf der erworbenen CD-ROM zu finden sind: visuelle Bilder, Charakterisierungen der Figuren, die Erzählung, die programmgesteuerten Regeln und die allgemeine Organisation des Spiels; eigentlich all die Mittel des Spiels, auf die ein Spieler zugreift. Der Begriff Spielort meint die auf dem Bildschirm sichtbare und durch PC-Lautsprecher bzw. -Kopfhörer hörbare, computer-generierte Umgebung. Diese wird auch vom Spieler konzeptuell als die Umgebung verstanden, in die man »eintritt«, wenn man spielt. Die von mir benutzten Begriffe Player und Gamer erscheinen zunächst austauschbar, es gibt aber einen feinen Unter-

6 | Anm. d. Übersetzerin: Das Deutsche erlaubt diese Unterscheidung leider nicht. Im Folgenden ist Player mit »Spieler« übersetzt und Gamer unübersetzt gelassen, um die Unterscheidungen des Originaltextes zu transportieren.

2007-03-26 15-01-55 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 422-441) T06-04 morris.p 142895399456

426 | Sue Morris schied. Player beschreibt eine Person im Akt des Spielens (analog zum Begriff Spectator beim Film), wohingegen der Begriff Gamer eine subjektive Positionierung, basierend auf Spielpraktiken, einschließt.7 Meistens ist damit gemeint, dass die betreffende Person regelmäßig Computerspiele spielt, dabei ein hohes Maß an Können entwickelt hat und bis zu einem gewissem Grad teilhat am gemeinsamen Wissen derjenigen, die sich als Gamer identifizieren (um bei der Analogie zum Film zu bleiben: das Äquivalent zu »Film Buff«).

Technische Grundlagen Bei FPS-Spielen »bewegen« sich die Spieler in einer 3D-Welt, die sie auf dem Computerbildschirm aus eigener Perspektive (First Person) sehen, im Gegensatz zu einem Shooter-Spiel aus der Perspektive der dritten Person (Third-Person-Shooter-Game) wie etwa Tomb Raider, bei denen der Spieler eine Figur steuert, die auf dem Bildschirm sichtbar ist. Anders als bei Spielen wie Myst, die vorgefertigte Standbilder benutzen und damit den Spieler auf eine bestimmte Perspektive festlegen, gibt es beim FPS-Spiel keine Fixierung der Betrachterperspektive außer den vom Basisprogramm vorgegebenen physikalischen Gesetzmäßigkeiten (z.B. der simulierten Schwerkraft). Der Spieler steuert seine Bewegungen und Handlungen im Spiel (üblicherweise) durch den Gebrauch eines Keyboards und einer Maus. Die am häufigsten vorkommende Situation des Computerspielens ist, dass eine einzelne Person an einem (Schreib-)Tisch vor einem PC sitzt. Der Computerbildschirm befindet sich auf Augenhöhe des Spielers und besitzt praktisch die gleichen technischen Grundlagen wie das Fernsehen: ein Bild auf einem Schirm, von dem Licht in Richtung des Zuschauers ausstrahlt. Der Computerbildschirm ist jedoch viel näher – 30-60 cm von den Augen des Spielers entfernt –, sodass wie im Kino der größte Teil des Sehfelds des Spielers von dem Bild eingenommen ist. Anders als bei Zuschauern im Kino sind die Spieler nicht von Dunkelheit umgeben, ihre visuelle Aufmerksamkeit ist aber beim Spielen hauptsächlich auf den Bildschirm gerichtet, und das Spiel selbst erfordert ihre volle Konzentration und Beteiligung.

7 | Diese Tatsache hat zu einer Veränderung beim Entwickeln von Spielen geführt. Quake III Arena (1999) wurde ausschließlich als Multi-Player-Spiel herausgebracht, eine Single-Player-Version wurde nicht entwickelt. Das Half Life-MultiPlayer-Mod Counter-Strike wurde auf CD-ROM als eigenes Spiel verkauft, anders als bei vorangegangenen Mods, die als Online-Downloads frei verfügbar waren.

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First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) | 427

Bedingungen des Computerspielens Wie beim Fernsehen ist der Ort des Computerspielens meist das Zuhause. Es kann in einem eigenen Raum (Arbeits- oder Schlafzimmer) oder in einem gemeinsamen Raum (Wohnzimmer) stattfinden. Immer jedoch zieht sich der Spieler dabei in eine Art Enklave zurück, um Ablenkung und Unterbrechungen auf ein Mindestmaß zu begrenzen. Multi-Player-FPSSpiele werden auch auf LAN-Partys gespielt, bei denen eine Gruppe von Spielern ihre Computer mitnehmen und über eine LAN-Verbindung miteinander spielen. Das können kleine Treffen bei einer der Personen zuhause sein, regelmäßige Treffen von ein paar hundert Spielern oder jährlich stattfindende Großveranstaltungen wie etwa QuakeCon, bei denen sich mehr als 3.000 Spieler versammeln. Egal ob zuhause oder bei einer LAN-Party, das Spielen findet oft an einem eigens dafür eingerichteten Platz statt. Ein wichtiger Faktor bei der Entscheidung für einen bestimmten Ort ist der Ton. Da sich nicht nur der Spieler auf den Ton des Spiels konzentrieren können muss, sondern die anderen Menschen in der Umgebung die vom Spiel ausgehenden Geräusche aushalten müssen, tragen Spieler oft Kopfhörer. Sie müssen, wenn sie keinen separaten Raum für das Spielen zur Verfügung haben, für einen geeigneten Klangbereich sorgen, um ganz in die Spielerfahrung eintauchen zu können. Aus kinästhetischer Perspektive befinden sich Gamer in einer merkwürdigen Situation: Sie sind unbeweglich und doch höchst aktiv. Es handelt sich dabei um eine Unbeweglichkeit im Sinne des Ortes, an dem sie sich befinden: Sie stehen nicht von ihrem Stuhl vor dem PC auf. Es gibt für sie keine Möglichkeit, sich aus dieser Position wegzubewegen und gleichzeitig die (vollständige) Kontrolle über das Spiel zu behalten. Jede bewusste Bewegung, die sie ausführen, dient dem Spiel. Beide Hände sind beschäftigt: eine mit der Maus oder dem Trackball, die andere mit der Tastatur. Fast jede andere Bewegung der Hände würde die Leistung des Spielers negativ beeinflussen. Die »unbeweglichen« Kinobesucher können noch trinken, essen oder irgendeine andere Bewegung machen, bei der sie den Kinosessel nicht verlassen müssen. Bei einem Single-Player-Spiel muss ein Gamer, wenn er derartige Tätigkeiten ausführen möchte, das Spiel unterbrechen. Da bei einem Multi-Player-Spiel eine derartige Unterbrechung nicht möglich ist (das Spiel geht auch ohne Beteilung des Spielers weiter), muss er entweder die aktive Arena verlassen, sich in eine rein beobachtende Position begeben und eine ruhige Ecke (auf dem Spielfeld) finden, wo die Chance von einem Feind entdeckt zu werden gering ist, oder er muss einfach aufhören zu spielen, womit sein Punktestand verfällt. Ein besonderes Merkmal von Multi-Player-Spielen sind die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten sich am Spiel zu beteiligen. Spieler können durchgehend stundenlang spielen, ein oder zwei Schwierigkeitsstufen absolvieren, bevor sie eine Zigaretten- oder Teepause machen, oder auch nur mit Freunden auf dem Spieleserver chatten. Erfolgreiches Spielen aber

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428 | Sue Morris verlangt vom Spieler volle Aufmerksamkeit, und mit dieser Art des Spielens beschäftige ich mich in diesem Artikel. Obwohl die Spieler vor ihrem PC fixiert sind, bewegen sie sich dennoch auch körperlich, nicht nur beim Steuern des Spiels, sondern auch in ihren Reaktionen: FPS-Spieler reagieren auf die Aktivität ihres Avatars oft mit Bewegung, in einer Art unbewusster Zwangsrückkopplung mit der Aktivität auf dem Bildschirm. Ihr Oberkörper bewegt sich z.B. hin und her, während sie versuchen Projektilen auszuweichen oder im Spiel um die Ecke biegen. Es durchzuckt sie z.B., wenn sie irgendetwas erschreckt. Laidlaw beschreibt FPS-Spieler wie folgt: »Diese typisch jugendliche, männliche Person, die sich von außen betrachtet in einer Art spastischer Fuge zu befinden scheint, dicht über den Computer gebeugt, weltvergessen, zuckend und keuchend, als ob er um die Ecken des Bildschirms zu schauen versucht. Ab und zu springt er vom Stuhl auf, als ob irgendein unsichtbares Wesen ihn von hinten gepackt hätte.«8

Eine weitere ungewollte physische Reaktion auf Computerspiele ist eine Art systemische adrenagetische (adrenergic) Reaktion, bei der Herzschlag, Blutdruck und Atem erhöht sind.9 FPS-Spieler benutzen oft den Ausdruck »Adrenalinschock«, um diese Erfahrung zu beschreiben.10 Obwohl diese Reaktion auch stattfindet, wenn man alleine spielt, ist sie wahrscheinlich bei Multi-Player-Spielen mit ihrem schnelleren Tempo, ihrer Unberechenbarkeit und dem durch Konkurrenz verursachten Stress um einiges stärker. Diese unbewussten physiologischen Reaktionen, hervorgerufen durch Dinge, die auf dem Bildschirm passieren, verstärken beim Spieler auf physischer Ebene das Gefühl seiner »Ver-Körperung« innerhalb der Spielraumes. Auch die Handbewegungen eines geübten Spielers werden bis zu einem gewissen Grad unbewusst. Einige Spielzüge erfordern eine komplexe Reihe von Tastaturanschlägen und Mausbewegungen. Diese werden analysiert, entworfen, erinnert und geübt, aber darüber hinaus werden sie so verinnerlicht, dass die einzelnen Bewegungen nicht mehr bewusst ausgeführt werden, sondern zu einem Teil des Stils des jeweiligen Spielers werden (genauso wie ein trainierter Tänzer Pirouetten aus dem »Muskelgedächtnis« ausführt, statt sich jedes Mal die Abfolge von Drehungen,

8 | Mark Laidlaw: »The Egos at id«, in: Wired 4/8 (1996), S. 122-127, S. 186-189, hier: S. 126. 9 | Vgl. Mary E. Ballard/J. Rose Wiest: »Mortal Kombat (tm): The Effects of Violent Videogame Play on Males Hostility and Cardiovascular Responding«, in: Journal of Applied Social Pychology 26 (1996), S. 717-730; Ulf Lundberg/B. Rasch/O. Westermark: »Physiological Reactivity and Type A Behaviour in Preschool Children: A Longitudinal Study«, in: Behavioral Medicine 17/4 (1991), S. 149-157. 10 | Vgl. z.B. Laidlaw: »The Egos at id«, a.a.O., S. 122.

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First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) | 429 Hebungen und Armbewegungen, die eine Pirouette erfordert, bewusst zu machen). Um wirkliches Können bei einem Spiel zu erlangen, reicht bewusstes Spielen allein nicht aus; Spieler müssen mit ihren »Fingern denken können«, sodass sie sich als Verlängerung des Spiels empfinden oder sich das Spiel wie eine Verlängerung ihrer selbst anfühlt.11 In diesem Sinne können Computerspiele einen eskapistischen, meditativen Zustand hervorrufen, bei dem durch intensive Konzentration eine Ebene des Bewusstseins oder des Flow entsteht, in die alltägliche Gedanken oder Sorgen nicht eindringen.12

Computerspiel als Text Beim Computerspiel ist der Spieler, ebenso wie der Zuschauer beim Film, in einen einzigen Text involviert: das Spiel selbst. FPS-Spieler sind jedoch in einem noch höheren Maße in diesen einzigen Text integriert. Auch wenn es zu den Merkmalen eines erfolgreichen Single-Player-Spiels zählt, das Gefühl vom Spiel als realen Ort hervorzurufen, kennt der Spieler diesen Ort nicht notwendigerweise gut. Ziel des Spiels ist, von einer Oberfläche zur nächsten zu gelangen. Im Gegensatz dazu lernen Spieler bei Multi-Player-Spielen die verschiedenen Spielebenen extrem genau kennen, so gut, dass sie diese sogar mit verbundenen Augen durchsteuern können.13 Eine Ebene genau zu kennen ist für den wetteifernden Spieler wesentlich: wo die verschiedenen Waffen zu finden sind, wo und wann Munition, Gesundheits- und Spezialgegenstände zu finden sind, welche Waffen sich besonders für den Einsatz in bestimmten Gegenden eignen oder wieviel Zeit man für einen bestimmten Spielzug benötigt. Diese Kenntnisse helfen nicht nur dem Spieler, sondern sie erhöhen gleichzeitig die Wahrnehmung des Spielorts als realen Ort: Alles ist bekannt, es ist ein »Ort«, an den sich der Gamer begeben kann und alles so vorfindet, wie er es erwartet, lediglich die Gegenwart und Aktionen anderer Spieler bringen Variationen hervor. Das zeitliche Setting des Spiels ist meistens die Gegenwart, aber eine dislozierte Gegenwart. Die Spielerfahrung vermittelt ein Gefühl von Unmittelbarkeit, das durch Interaktivität hervorgerufen wird. Jede Handlung bringt unmittelbares Feedback (ob von der Software des Spiels selbst oder durch Informationen von Server/Spieler bei einer Online-Verbindung). Dennoch ist die Art, wie Gamer die Echtzeit empfinden, erheblich verändert: Stunden können blitzschnell vergehen. Auch wenn dies ein Effekt ist,

11 | Vgl. Sherry Turkle: The Second Self: Computers and the Human Spirit, New York 1984, S. 85. 12 | Vgl. Mihaly Csikszentmiljalyl: Flow: The Psychology of Optimal Experience, New York 1990. 13 | Vgl. Adrian Zain (›Zeeko‹): »The Things We Do«, in: Singnet Dominion, 2. April 1999; http://gaming.singnet.com.sg/ttwd.html.

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430 | Sue Morris der bei vielen Beschäftigungen eintritt, die ein hohes Maß an Konzentration und Engagement erfordern, erhöht es im Spiel die »Entrücktheit« des Spielorts, der eigene zeitliche Gesetzmäßigkeiten zu haben scheint wie in einem Traum. Der Sound funktioniert in Computerspielen auf verschiedenen Ebenen. Wie im Kino dienen Soundeffekte als auditive Ergänzung der Aktionen auf dem Bildschirm (das Abfeuern einer Waffe wird von einem entsprechenden Geräusch begleitet) und als Mittel, das Gefühl eines realen physischen Raumes zu vermitteln (man hört den Wind heulen, ein Lava-Tümpel blubbert und pfeift). Aber im Gegensatz zu den im Film üblichen Methoden Ton einzusetzen,14 ist beim Computerspiel nicht das Bild das primäre Referenzobjekt des Tons. Obwohl Spieler nur 90-120 Grad der Umgebung auf einmal sehen können,15 erhalten sie auditive Informationen aus den gesamten 360 Grad der Umgebung (so wie im richtigen Leben). Sie hören, wenn jemand einen angrenzenden Aufzugschacht hinabspringt oder wenn eine Munitionskiste hinter ihnen auftaucht. Der Stereosound bei 3D-Spielen ermöglicht ein genaues Richtungs- und Lautstärkenverhältnis von Distanzen und erschafft ein realistisches Gefühl der Dinge, die in der Umgebung stattfinden.16 Der Sound ist aber nicht primär aus ästhetischen Gründen von so großer Bedeutung für die Spieler, sondern er dient insbesondere als Träger von Information. Aktionen im Spiel sind stets mit einem spezifischen Soundeffekt verbunden, und erfahrene Spieler lernen diese (wieder-)zuerkennen und strategisch einzusetzen. Durch die Geräusche auftauchender Munition, Waffen oder Rüstungen, von Schritten eines herannahenden Spielers, dem Abfeuern von Waffen usw. erhält der Spieler viel schneller und über größere Distanzen hinweg wichtige Informationen als dies über visuellen Input möglich wäre. Das Tragen von Kopfhörern, das viele Spieler (bei offiziellen Wettbewerben sind es alle) praktizieren, dient daher nicht allein der Herstellung eines auditiven Raums, der ein stärkeres Gefühl vom Eintauchen ins Spiel hervorruft, sondern auch der besseren Verwertbarkeit der richtungsweisenden Eigenschaften des Tons. Die Fähigkeit, auditive Informationen gut verwerten zu können, unterscheidet Experten von anderen Spielern.17

14 | Vgl. John Ellis: Visible Fictions, London 1992, S. 128-129. 15 | Das Sichtfeld ist bei FPS-Spielen individuell einstellbar, Einstellungen zwischen 90-120 Grad sind dabei am beliebtesten. 16 | Vgl. Bobby Prince: »Tricks and Techniques for Sound Effect Design«, in: Gamasutra, August 1997; http://www.gamasutra.com/features/sound_and_music /081997/sound_effect.htm. 17 | Weitere Beispiele für die große Bedeutung des Sounddesign für Computerspiele finden sich bei Dennis Fong (›Tresh‹): »Knowing Sounds«, in: Thresh’s Quake Bible, 2000; http://www.gamersx.com/bibles/quake/subsections/techniques/ adv-sounds.aso.

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First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) | 431

Psychologische Prozesse Für die psychoanalytische Filmtheorie liegt die Bedeutung des Kino-Apparatus in der Herstellung eines Traumzustandes. Im Gegensatz zu Freud, für den Traum eine »normale halluzinatorische Psychose« ist, wird Film als Medium gesehen, das »eine künstliche Psychose« herstellt, »ohne dem Träumenden die Möglichkeit irgendeiner direkten Kontrolle anzubieten«.18 Dieser traumähnliche Zustand erlaubt dem Filmschauenden eine primäre kinematografische Identifikation: Die unbewusste Identifikation des Subjekts im Kino mit dem Akt des (Zu-)Schauens, mit der unsichtbaren filmischen Organisation des Sehens, die ein transzendentales Subjekt erzeugt, als »reines und alles sehendes unsichtbares Subjekt«.19 Einige Elemente des Computerspiel-Apparatus scheinen zu einem immersiven, traumähnlichen Zustand beizutragen, den Mechanismen des Kinos vergleichbar. Wegen der Nähe zum Spieler nimmt der Computerbildschirm, obgleich er viel kleiner ist als eine Kinoleinwand, einen ähnlich großen Teil des Sehfeldes des Spielers ein. Wie schon im Kino, ist auch der Sound im Computerspiel immersiv; er übertönt alle Geräusche der Außenwelt und wird durch den Gebrauch von Kopfhörern noch dominanter. Computerspiele werden in der Regel (zeitweise oder dauerhaft) in einem Raum gespielt, der dem Spielen gewidmet ist, egal ob zuhause oder bei einer LAN-Party. Die Aufmerksamkeit der Spieler ist hoch, ihre Konzentration ist ganz auf einen einzigen Text fokussiert. Anders aber als bei Baudrys Zuschauer/Träumer besitzt der Spieler jedoch ein hohes Maß an Kontrolle über die Geschehnisse auf dem Bildschirm – dies ist für das Computerspiel essentiell und dem Traum geradezu entgegengesetzt. Während das Bewusstsein etwas zu kontrollieren die traumähnlichen Eigenschaften des Mediums, und somit auch die primäre Identifikation im Sinne des Kinos, verringert, verstärken bei FPS-Spielen andere Mechanismen das Gefühl von Immersion und Identifikation mit dem Spiel. Anders als bei der Vorstellung von primärer kinematografischer Identifikation, die von einer theoretischen Identifikation mit einem transzendentalen Subjekt abhängig ist, oder den Mechanismen der »suture«, welche den Zuschauer in ein Spiel der Blicke zwischen den Charakteren des Films verwickeln,20 wird beim FPS-Spiel primäre Identifikation sehr viel direkter hergestellt durch eine durchgängig realisierte First-Person-Per-

18 | Robert Stam/Robert Burgoyne/Sandy Flitterman-Lewis: New Vocabularies in Film Semiotics, London 1992, S. 144. 19 | Vgl. Christian Metz: The Imaginary Signifier: Psychoanalysis and the Cinema, übersetzt von Celia Britton/Anwyl Williams/Ben Brewster/Alfred Guzzetti, Bloomington 1982, S. 79. 20 | Vgl. R. Stam/R. Burgoyne/S. Flitterman-Lewis: New Vocabularies in Film Semiotics, a.a.O., S. 169.

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432 | Sue Morris spektive, dem Gefühl des Agierens beim Spieler selbst und der Erfahrung von Interaktivität. Die First-Person-Perspektive wird nicht nur erfolgreich in FPS-Spielen eingesetzt, sondern auch in Abenteuer-/Rätselspielen wie etwa Myst oder Riven (Cyan/ Red Orb, 1997), um ein Gefühl der Verkörperung innerhalb des Spielorts hervorzurufen. Computerspiel-Designer sehen das dadurch hervorgerufene immersive Gefühl als wesentlichen Beitrag zu einer Spielerfahrung, die mehr im Inneren, auf tieferen emotionalen Ebenen stattfindet.21 Wenn primäre Identifikation die Identifikation des kinematografischen Subjekts mit dem Akt des Zuschauens beschreibt, dann ist der FPS-Spieler unmissverständlich derjenige, der sieht. Er ist im Spiel selbst unsichtbar, genauso wie im realen Leben der eigene Köper aus der eigenen Perspektive fast ganz unsichtbar bleibt. Der Spieler wird nicht nur durch die optische Perspektive, sondern auch durch seine absolute Kontrolle über diese Perspektive an den Schauplatz des Geschehens versetzt. Beim Film wird die enunziative Position des »Produzenten von Fiktionen« vom Betrachtenden als eigene, ganz natürliche Perspektive verinnerlicht, obwohl sie medial durch die Kameraposition und, darüber vermittelt, durch den Regisseur konstituiert wird. Im Computerspiel können sich die Spieler aufgrund ihrer aktiven Rolle selbst als Produzenten von Fiktion sehen (trotz der von Programmierern und Designern über die Game Engine und grafische Gestaltung ausgeübten Autorschaft). Design und User-Interface bei FPS-Spielen tragen gleichfalls dazu bei: Spieler können über die Control-Tasten während des Spiels Befehle eintippen und so Einstellungen des Spiels verändern. Die »Open Source«-Beschaffenheit des Spielcodes erlaubt es den Spielern, ihre eigenen Spielmodelle, Oberflächen (Maps, Skins) und Mods zu erstellen, was viele auch tun.22 Dadurch können sich FPS-Spieler selbst als »Produzenten von Fiktion« erleben – sowohl im übertragenen als auch bis zu einem gewissen Grad im wörtlichen Sinne. Sherry Turkle nennt Computerspiele »etwas, das du tust, etwas, das du mit deinem Kopf machst, eine Welt, in die du eintauchst, und bis zu einem gewissen Grad etwas, zu dem du ›wirst‹«.23 William Bricken beschreibt Virtuelle Realität als etwas Umfassendes; dadurch, dass der »Beteiligte Teil der Information« wird, findet eine Verschiebung statt. An die Stelle des »Gefühls ein Bild zu betrachten« tritt das »Gefühl sich an einem Ort zu befinden […], nicht mehr nur als Betrachtender, sondern als Erlebender,

21 | Vgl. Stephen Clarke-Wilson: »Applying Game Design to Virtual Environment«, in: Clark Dodsworth (Hg.), Digital Illusion: Entertaining the Future with High Technology, Siggraph Series, New York 1980, S. 230. 22 | Die kreativen Beiträge von Spielern sind eine sehr wichtige Facette der FPS-Szene. In einer Umfrage, die ich 1999 mit FPS-Spielern gemacht habe, gaben drei Viertel der Befragten an, schon irgendein kreatives Projekt im Zusammenhang mit ihrer Spielpraxis durchgeführt zu haben. 23 | S. Turkle: The Second Self, a.a.O., S. 65-67.

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First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) | 433 nicht mehr nur an der Schnittstelle mit einem Display, sondern in einer Umgebung lebend«.24 Auch wenn bei Computerspielen (derzeit) der Spieler nicht vollständig von den Bildern der virtuellen Umwelt umgeben ist, wie es das Ziel von VR-Systemen ist, so schaffen FPS-Spiele doch ein existentielles Gefühl vom Spielort als einem Ort, an dem man war. Gamer »LadyICE« beschreibt die FPS-Erfahrung so: »Ich habe viele verschiedene Arten von Genres gespielt und habe immer wieder festgestellt, dass ich FPS-Spiele bevorzuge. Warum? Letzten Endes ist es die Tatsache, dass ich das Gefühl habe im Spiel zu sein – absolute Kontrolle über meine Spielfigur zu haben.«25

Anders als bei Film und Traum, denen gemeinsam ist, dass die Beteiligten keine Kontrolle über die Bilder haben, die sie sehen, trägt das Maß an Kontrolle, das ein Spieler hat, zu seinem Gefühl bei, sich im virtuellen Raum zu befinden. Ein erfahrener Gamer aus meinem Bekanntenkreis hat mir berichtet, dass er während einer einstündigen, unangenehmen medizinischen Behandlung seine Lieblingsspielebene von Quake aus dem Gedächtnis durchgespielt hat, ein Prozess, durch den er sich selbst ein Stück weit vom physischen Schmerz entfernen konnte, den er im wirklichen Leben erlebte. Gamer sprechen, um ihre Erfahrungen im Spiel zu beschreiben, in der ersten Person und vermitteln damit ein Gefühl ihrer Anwesenheit am Spielort. Das folgende Beispiel ist typisch: »Ein Fahnenträger hatte unsere Fahne und war uns die ganze Zeit auf q3wctf2 entwischt. Also entschloss ich mich den roten Waffenraum, in dem sich der Teleporter befindet, zu durchsuchen – ehrlich gesagt, verstecke ich mich immer dort, wenn ich die Fahne habe. Ich stehe also in der Tür, kann aber nichts sehen. Also schieße ich ein paar Raketen auf den Teleporter und siehe da ... er war die ganze Zeit über dort.«26

Dieses Zitat zeigt, dass für FPS-Spieler das Gefühl von Immersion und primärer Identifikation sehr viel stärker ist als bei anderen medialen Formen. Was beim Film »der gebannte Blick« des Zuschauenden ist (the

24 | Zit. nach Andrew Calcutt: White Noise: An A-Z of the Contradictions of Cyberculture, Moundsmills 1999, S. 133. 25 | Zit. nach Chin Wong (›Frosty‹): »HellChick and LadyICE Interview«, in: GamersOrb, 4. Juni 2001; http://www.gamersorb.com/main/interviews/go_ant_ heli.shtml. 26 | [EvEm]_Xtro: »›I Can See Youuuuu!‹«, in: Evil Empire Gaming, 10. Juli 2000, auch unter: http://evem.org.au/clan.nsf/docs/20000710201 2431.

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434 | Sue Morris Gaze) und beim Fernsehenden der »zerstreute Blick« (the Glance),27 ist bei FPS-Spielen der durchdringende »fixierende Blick« (the Stare). Folgende Tabelle fasst die verschiedenen Elemente des Apparatus von Film, Fernsehen und FPS-Computerspielen zusammen. Diejenigen Elemente des Computerspiel-Apparatus, die beim Spieler zu einem Gefühl des Eintauchens beitragen, sind hier fett gedruckt. Daraus sollte nicht geschlossen werden, dass hier eine Kontinuität zwischen den Eigenschaften von Film, Fernsehen und Spielen besteht. Es handelt sich vielmehr um Elemente, die in jedem Medium bis zu einem bestimmten Maß vorhanden sind. Eine solche Tabelle ist in jedem Fall schematisch und birgt das Risiko der Vereinfachung in sich, ermöglicht es jedoch, bestimmte dominierende Tendenzen sichtbar zu machen. Mentale Mechanismen der Zuschauenden

Film

Fernsehen

Spiel

weit

mittel/nah

sehr nah

Technische Grundlage Entfernung vom Bildschirm/von der Leinwand Lichtprojektion

von hinten

von vorne

von vorne

Bildqualität

solid image

interfaced

interfaced

Ton

vertieft

Aufmerksamkeit vertieft der Zuschauenden erregen

Ort

öffentlich

zuhause

zuhause

physische Nähe zu anderen

nah

allein oder mit anderen

meist allein

Geräusche der Umgebung

Ruhe

Ablenkung

Ton des Spiels dominiert

Blick

nach oben

nach unten/ Augenhöhe

Augenhöhe

Beleuchtung der Umgebung

dunkel

dunkel oder hell

dunkel oder hell

Verhältnis von Bild und Größe der Zuschauenden

Bild größer

Bild kleiner

Bild kleiner

abgelenkt

sehr involviert

Bedingungen des Zuschauens

Aufmerksamkeit der involviert Zuschauenden

27 | Sandy Flitterman-Lewis: »Psychoanalysis, Film and Television«, in: Robert C. Allen (Hg.), Channels of Discourse, Reassembled: Television and Contemporary Criticism, 2. Aufl., Chapel Hill 1992, S. 203-246, hier: S. 217.

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First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) | 435 Zugang – Technologie

eingeschränkt

zugänglich

zugänglich

Sozialer Kontext

Ereignis – »lasst uns ins Kino gehen«

Ereignis oder Ereignis – »lasst Ablenkung – »was uns spielen« kommt im Fernsehen?«

bearbeitet/ verdichtet

verdichtet/Echtzeit Echtzeit, vom Gefühl her verzerrt

Text Zeit

zeitlicher Ort

zeitlich entfernt

Gegenwart

Gegenwart

Anzahl der Texte

einzelner Text

Möglichkeit mehrerer Texte

einzelner Text

Zugang – Möglicheingeschränkt keit der Auswahl des Textes

eingeschränkt verfügbar (mehr Möglichkeiten bei Video)

Präsenz des Autors/Autorin

anwesend

meist abwesend

Perspektive

verschieden

verschieden

erste Person

textuelles Engagement

konzentriert

abgelenkt

konzentriert

primäre Identifikation

stark

unterschiedlich

sehr stark

sekundäre Identifikation

stark

stark

gering

Vereinnahmung

Zuschauende sind Zuschauende vereinnahmt vereinnahmen

Spieler ist vereinnahmt

Verantwortungsgefühl gegenüber den Geschehnissen auf dem Bildschirm

gering

hoch

Mechanismen der Vereinnahmung

Zuschauende vom adressiert Zu»Gaze« vereinschauende nahmt

gering (aber erhöht durch Sozialisierung des zuschauenden Subjekts)

Spieler trägt zum Text bei

Spieler taucht in Spielort/Game Space ein

Soziale Subjekte Aufgrund der Verschiedenheit des Kino-Apparatus von dem des Fernsehens scheint die psychoanalytische Filmtheorie nicht besonders geeignet zu sein für die Fernsehanalyse.28 Fernsehzuschauer werden auch als »soziale Subjekte« verstanden, bedingt durch den Ort des Zuschauens

28 | Vgl. Jane Feuer: »Narrative Form in American Network Television«, in: Colin MacCabe (Hg.), High Theory/Low Culture, Manchester 1986, S. 101-114, hier: S. 102; John Fiske: Television Culture, London 1987, S. 226.

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436 | Sue Morris (das Zuhause), ihr erhöhtes Verantwortungsgefühl für das, was sie auf dem Bildschirm sehen, und die Art, wie sie sich vom Text des Fernsehens adressiert fühlen – alles Dinge, die sich auf die subjektiven Alltagspositionierungen der Zuschauenden beziehen.29 Althussers Begriff der »Anrufung« bezieht sich auf die Art und Weise, wie ein Diskurs an einen (idealen) Adressaten appelliert, und wie wir durch unsere Reaktion die durch diesen Diskurs vorgegebene Definition von »uns« akzeptieren und die zugewiesene Position einnehmen.30 Zum Beispiel adressiert das Fernsehen den Zuschauenden als Familienmitglied: Viele beliebte Fernsehserien beziehen sich auf die Familie als Einheit. Sitcoms werden als Variationen der »normalen« Familie konstruiert, und der Programmablauf basiert traditionell auf der Alltagsroutine der »typischen« Familie.31 Bei FPS-Spielen ist die hervorgerufene primäre Identifikation so stark, dass sich Gamer der textuellen und sozialen Einflüsse auf ihre Subjektivität nicht bewusst werden. Es ist einfach zu glauben, dass lediglich »ich das Spiel spiele«. Jedoch ist das Subjekt stark von der Anrufung durch den Spieltext selbst und durch die sozialen Einflüsse geprägt, die sowohl mit dem Spiel verbunden sind (die man also während des Spiels erfährt) als auch außerhalb des Spiels liegen (d.h. die Gesamtheit der textuellen und sozialen Manifestationen der Spielergemeinschaft).

Soziale Einflüsse des Spiel-Textes Bei Single-Player-FPS-Spielen muss der Spieler bis zu einem gewissen Grad die Charakterisierung und Adressierung als Protagonist des Textes annehmen, sei es in minimaler Form (des namenlosen Weltrauminfanteristen von Quake II, im Spiel als »du« angesprochen) oder in expliziter Form (Half Life-Figur Gordon Freeman, angesprochen als »Gordon«). Bei Multi-Player-Spielen fehlt die direkte Charakterisierung. Stattdessen wählen die Spieler einen Namen und ein Vorbild um sich selbst darzustellen. Die Namen stammen entweder von vorhandenen fiktiven Personen (z.B. »Dr. Evil«, »Cartman«, »Trinity«) oder werden von den Spielern selbst erfunden. Dabei reicht die Auswahl von eher aggressiv konnotierten (»xTerMin8R«) zu sonderbaren (»ThindyBrady«) Namen – oft zeigt sich darin aber eine subjektive Positionierung, die die kämpferischen Aspekte des Spiels widerspiegelt, z.B. »Armageddon«, »Hellbitch«, »CopKiller«. Auch einige Clan-Namen folgen dieser thematischen Ausrichtung, beispielsweise die Australischen Clans »War« und »Carnage« und die Nord-

29 | Vgl. J. Fiske: Television Culture, a.a.O., S. 62. 30 | Vgl. Louis Althusser: »Ideology and Ideological State Apparatuses«, in: Ders., Lenin and Philosophy and Other Essays, übersetzt von Ben Brewster, New York 1971, S. 127-186, hier: S. 132-134. 31 | Vgl. J. Ellis: Visible Fictions, a.a.O., S. 164-165; J. Fiske: Television Cultures, a.a.O., S. 56-58.

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First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) | 437 amerikanischen weiblichen Clans »PMS« (Psycho Men Slayers) und »Violent Femmes«: Die Art, wie Spieler auf Grundlage oder unter Einfluss des Spieltextes selbst ihre Identitäten auswählen, die aktive Konstruktion der vom Text beeinflussten Spiel-Identitäten also, stellt eine Weiterführung von Althussers Konzept der Anrufung dar, die über die Bedeutung hinausgeht, die diesem Konzept für Film und Fernsehen beigemessen wird. Gamer benutzen ihre »Spielnamen« auch bei Online-Chats und in realen sozialen Zusammenhängen mit anderen, z.B. bei LAN-Treffen, bei denen man sich selten mit dem Geburtsnamen anredet. Viele setzen den für das Computerspiel gewählten Namen auch sonst als Online-Namen ein – in ihren E-Mail-Adressen z.B. – und tragen so entscheidend zu ihrer Identifizierung als »Gamer« bei. Auch wenn das Spielen nur einen Teil ihrer Subjektivität ausmacht und nicht etwa die Hauptquelle ihrer Definition als Subjekt ist, fügt es sich ein in eine Reihe anderer weitgehend anerkannter Aspekte von Subjektivität, wie etwa Rasse und Geschlecht. Es wird so zu einem Teil der »Struktur abrufbarer Identifikationen« eines Spielers.32 Auch die Kommunikation innerhalb des Spielorts wird vom Spieltext selbst beeinflusst. »Trash-Talk«, Beschimpfungen bei Multi-Player-Spielen, kann als Resultat der in FPS-Spielen seit ihrer Entstehung vorhandenen »Haltung« gesehen werden. In Wolfenstein 3D (Apogee/id Software, 1992) können die Spieler zwischen vier Schwierigkeitsstufen wählen: »Can I play, Daddy?«, »Don’t hurt me«, »Bring ’em on!« und »I am Death incarnate«. Duke Nukem 3D (3D Realms/GT Interactive, 1996) war wegen des Trash Talk der Figur Duke äußerst populär, einschließlich der Zitate von Bruce Campbells satirischem Actionhelden »Ash« aus den Evil Dead-Filmen (»Come get some«, »Hail to the King, Baby«). Multi-Player Quake ging noch einen Schritt weiter mit aggressiven oder humorvollen, aber oft infantilen »Kill«-Botschaften (z.B. »Player 1 tears Player 2 a new one«) und mit Beschimpfungen von Spielern, die aus einem Spiel auszusteigen versuchten. Bei Multi-Player-Spielen schließt die Kommunikation der Spieler miteinander oft die programmierten aggressiven Aussagen des Spiels selbst mit ein. Spieler beschimpfen sich gegenseitig – meist gut gemeint und humorvoll, aber nicht immer. Beschimpfungen sind so sehr zu einem Teil der Spielethik von FPS-Spielen geworden, dass es bei Unreal Tournament automatisierte Beschimpfungen gibt (sogar von Bots)33– ein Spieler, der getötet wurde, erhält eine von der Software selbst generierte beleidigende Botschaft, z.B. »Die, Bitch!« oder »Try turning the Safety off«. Dieser Um-

32 | Vgl. John Hartley: »Television and the Power of Dirt«, in: Australian Journal of Cultural Studies 1/2 (1983), S. 69-70. 33 | Von der Software generierte Spielgegner, die zum Üben von Deathmatches eingesetzt werden oder um bei Single-Player-Spielen einen Multi-Player-Eindruck zu verschaffen.

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438 | Sue Morris gangston findet sich inzwischen auch in Computerspielzeitschriften und auf vielen Internetseiten wieder; ein Hauch von ironischem Draufgängertum durchzieht viele dieser sekundären Spiel-Texte.

Soziale Regeln des Spiels Bei Computerspielen sind die von der Software vorgegebenen Regeln schwarz-weiß: Ein Spielzug ist entweder möglich oder eben nicht; ein Schuss trifft ein bestimmtes Ziel oder eben nicht. Anders als bei physisch ausgetragenen Sportarten gibt es keine Möglichkeit mit dem Linienrichter zu diskutieren. Weil die von der Software vorgegebenen Regeln so klar definiert sind, befreit dies die Spieler letztendlich davon, im Spiel moralische Entscheidungen treffen zu müssen – was möglich ist, ist auch erlaubt. Ein Phänomen bei Multi-Player-Spielen ist jedoch das Entstehen von sozialen Regeln und Einschränkungen. Bestimmte Handlungen werden als unsportlich oder sogar als Schummeln angesehen, auch wenn sie im Spiel möglich sind. Diese Regeln können sich auf den Gebrauch bestimmter Waffen beziehen, aber auch auf Spielstrategien oder allgemeines soziales Verhalten. Im Multi-Player-Spiel Quake II wird ein Spieler, der von der stärksten Waffe (BFG) Gebrauch macht, oft von anderen Spielern verbal »misshandelt«. Die dahinter liegende Rechtfertigung ist folgende: Da diese Waffe ausgedehnten Schaden verursacht, bedarf es keiner besonderen Fähigkeiten sie zu benutzen, und ihr Gebrauch verdirbt das Spiel durch leicht gemachte Kills. Eine andere Waffe (Hyperblaster) gilt als unfair, weil die durch ihren Gebrauch entstehende Grafik lästige Verzögerungen verursacht. Eine weitere, höchst umstrittene Spielstrategie bei Deathmatch-Spielen ist das sogenannte »Camping« – die Praxis des Ausharrens in einer strategisch günstigen Gegend und das Ansammeln von Frags. Obwohl es sich dabei um eine sehr effiziente und logische Spielstrategie handelt (wenn man in Betracht zieht, dass Ziel des Spiels ist, so viele Frags wie möglich zu sammeln), gilt sie allgemein als unfair, da sie dem Spieler, der Camping betreibt, Vorteile bringt: Das Herumlaufen im allgemeinen Handgemenge wird irgendwie als ehrenhafter angesehen. Wenn ein Spieler »campiert«, beginnen andere Spieler sich zu beklagen und den entsprechenden Spieler zu beschimpfen. Manchmal tun sie sich sogar zusammen um den Spieler zu eliminieren und so die Balance des Spiels wiederherzustellen.34 Diese Konventionen werden zwar gemeinsam entwickelt, umgesetzt und auch oft online in Strategieanleitungen zur Verfügung gestellt, einige werden aber auch institutionell umgesetzt. So wird bei einigen Spielser-

34 | Eine satirisch formulierte, aber sehr genaue Liste der sozialen Konventionen, die im Kontext von Quake II stehen, findet sich bei Paul O’Keefe: »Strategies: 25 Tips for Multi Player Quake«, in: LamerKatz, 14. November 2001; http://www. lamerkatz.com/strategies/25tips.shtml.

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First-Person-Shooters – Ein Computerspiel-Apparatus (2002) | 439 ver-Administratoren das BGF »abgestellt«, damit es während des Spiels erst gar nicht benutzt werden kann. Server können auch Anti-Camping-Algorithmen abspielen, die jene Spieler aufspüren, die zu viel Zeit an einem bestimmten Ort verbracht haben.35

Die Computerspielgemeinschaft Sobald Spieler online spielen, werden sie, wenn auch in unterschiedlichem Maße, zu einem Teil der Spielergemeinschaft. Auch wenn es inzwischen möglich ist ein Spiel wie Quake II, Arena oder Half Life: Counter Strike zu kaufen und sich direkt mit einem Internet-Spiel zu verbinden, werden alle Spieler irgendwann die große Zahl von Online-Ressourcen nutzen müssen: um Upgrades herunterzuladen und Informationen zu Strategie und speziell angefertigten Spielvarianten zu erhalten. Solche Ressourcen sind für Gamer, die ein hohes Maß an Können erreichen wollen, unverzichtbar. Über die Spielerfahrung hinaus sind sie auch Ursprung von Interesse, Bildung und Kontakt mit der Spielgemeinschaft. Die Teilhabe an einer Online-Kultur nicht nur durch die Partizipation an einem Spiel, sondern auch an Internetseiten (einschließlich Diskussionsforen), Mailing-Listen, Internet Relay Chat Channels (IRC) und Live-Chat-Programmen trägt mit weiteren sozialen Einflüssen zur Formierung des spielenden Subjekts bei.

Schlussfolgerung Im Vorangegangenen habe ich gezeigt, wie Computerspiele im Sinne eines »Apparatus« analysiert werden können, indem die verschiedenen technischen, textuellen, situativ bedingten, psychologischen und sozialen Aspekte des Spielens von FPS-Spielen untersucht werden. Ich habe aufgezeigt, auf welche Art und Weise der FPS-Spiel-Apparatus zu einer außerordentlich intensiven Medienerfahrung bei Spielern führt, bei der die First-Person-Perspektive der ersten Person, die Agens des Spielers und die Wirkungsweisen der Interaktivität sich zu einem Gefühl von primärer Identifikation verdichten, die stärker ist als im Kino. Um mit Baudry zu sprechen: Das FPS-Computerspiel kann als Angebot einer künstlichen Psychose, die dem Spieler die Illusion vollständiger Kontrolle vermittelt, aufgefasst werden. Ich habe auch einige der sozialen Einflüsse auf die Subjektivität von Spielern untersuchen können, etwa die Art wie ein Spieler durch den Spiel-Text selbst oder durch die intertextuellen Quellen anderer Medien und sekundärer Spiel-Texte adressiert wird sowie die weiteren sozio-kulturellen Kontexte von Spielpraktiken. Ein Sichtbarmachen dieser Effekte, der Art wie

35 | Vgl. Mat Ownby: Balance of Power, 1999; http://www.planet quake.com /bop/bop.html.

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440 | Sue Morris Spieler mit dem Medium beschäftigt sind und es benutzen, kann in der Diskussion über aktuelle Themen im Feld der First-Person-Shooter neue Akzente setzen und einen Beitrag zur Forschung über Computerspielpraktiken und -communities leisten. Übersetzung aus dem Englischen: Susanna Noack

Literatur [EvEm]_Xtro: »›I Can See Youuuuu!‹«, in: Evil Empire Gaming, 10.7.2000; http://evem.org.au/clan.nsf/docs/200007102012431. Althusser, Louis: »Ideology and Ideological State Apparatuses«, in: Ders., Lenin and Philosophy and Other Essays, übers. von Ben Brewster, New York 1971, S. 127-186. Ballard, Mary E./Wiest, Rose J.: »Mortal Kombat (tm): The Effects of Violent Videogame Play on Males Hostility and Cardiovascular Responding«, in: Journal of Applied Social Pychology 26 (1996), S. 717-730. Baudry, Jean-Louis: »The Apparatus«, in: Theresa Hak Kyung Cha (Hg.), Apparatus, Cinematographic Apparatus: Selected Writings, New York 1980, S. 25-37. Calcutt, Andrew: White Noise: An A-Z of the Contradictions of Cyberculture, Moundsmills 1999. Cha, Theresa Hak Kyung (Hg.), Apparatus, Cinematographic Apparatus: Selected Writings, New York 1980. Clarke-Willson, Stephen: »Applying Game Design to Virtual Environments«, in: Clark Dodsworth Jr. (Hg.), Digital Illusion: Entertaining the Future with High Technology. SIGGRAPH Series, New York 1998, S. 229-239. Csikszentmiljalyl, Mihaly: Flow: The Psychology of Optimal Experience, New York 1990. Ellis, John: Visible Fictions, London 1992. Feuer, Jane: »Narrative Form in American Network Television«, in: Colin MacCabe (Hg.), High Theory/Low Culture, Manchester 1986, S. 101114. Fiske, John: Television Culture, London 1987. Flitterman-Lewis, Sandy: »Psychoanalysis, Film and Television«, in: Robert C. Allen (Hg.), Channels of Discourse, Reassembled: Television and Contemporary Criticism, 2. Aufl. Chapel Hill 1992, S. 203-246. Fong, Dennis (›Tresh‹): »Knowing Sounds«, in: Thresh’s Quake Bible, 2000; http://www.gamersx.com/bibles/quake/subsections/techniques/ advsounds.aso. GameSpyLiveStatsPage, 14. November 2001; http://www.gamespy.com/ stats. Hartley, John: »Television and the Power of Dirt«, in: Australian Journal of Cultural Studies 1/2 (1983), S. 62-82.

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442 | James Newman

Der Mythos des ergodischen Videospiels. Einige Gedanken über das Verhältnis von Spieler und Spielfigur in Videospielen (2002) James Newman

Einleitung Eines der verbreitetsten Missverständnisse über Videospiele ist, dass sie ein interaktives Medium seien. Mit dieser Aussage beabsichtige ich, die Aufmerksamkeit weder auf den problematischen und ideologisch aufgeladenen Begriff der »Interaktivität« zu lenken noch auf die Schwierigkeit, Videospiele als ein Medium aufzufassen, auf die schon Friedman hingewiesen hat.1 Dieses Missverständnis zeigt eher ein viel fundamentaleres Missverstehen von Videospielen und Spielerfahrung. Ganz einfach gesagt sind Videospiele nicht interaktiv, ja noch nicht einmal ergodisch. Obwohl sie vielleichtinteraktive oder ergodische Elemente haben, wäre es falsch, anzunehmen, dass sie nur eine Art von Erfahrung anbieten und nur eine Form von Beschäftigung fördern. Videospiele bieten stark strukturierte und, besonders wichtig, stark segmentierte Erfahrungen. Spielsequenzen, von denen sich die Idee der Interaktivität oder Ergodizität von Videospielen ableiten, sind markiert durch die Ästhetik von Filmsequenzen, Kartografien und Displays von Spielergebnissen oder Etappenzeiten usw. Untersucht man die Kontexte, in denen Videospiele tatsächlich benutzt werden, kann man vielmehr annehmen, dass das Spiel nicht lediglich mit Kontrolle oder dem aktiven Eingreifen gleichgesetzt werden muss. Das Vergnügen am Videospielen wird oft von jenen genossen, die man im Allgemeinen eher als Nicht-Spieler betrachten würde – »Zuschauer/-innen«, die keine direkte Kontrolle mittels der Kontrollfunktionen des Spiels

1 | Vgl. Ted Friedman: »Civilization and its Discontents: Simulation, Subjectivity and Space«, in: Greg Smith (Hg.), Discovering Discs: Transforming Space and Genre on CD-ROM, New York 1999; http://www.duke.edu/tlove/writing.htm.

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Der Mythos des ergodischen Videospiels (2002) | 443 ausüben. In diesem Artikel stelle ich die Behauptung auf, dass Spieler/-innen von Videospielen weder ein Joypad noch eine Maus oder eine Tastatur wirklich berühren müssen, und dass unsere Definition diesen nicht-kontrollierenden Rollen angepasst werden muss. Das Vergnügen am Videospiel ist nicht einfach durch das Steuern eines Joysticks gegeben. Ich möchte darüber hinaus behaupten, dass das Wechselspiel von Sequenzen, die einen höheren oder geringeren Anteil an Kontrolle erfordern, zusammen mit der Vielfalt an »kontrollierenden« und »nicht-kontrollierenden« oder »primären« und »sekundären« Rollen, signifikante Folgen für die Art und Weise hat, wie die Charaktere im Videospiel konstruiert werden, ebenso wie für die Art von Beziehung, die wir zu diesen aufbauen. Ich behaupte, dass für den kontrollierenden Spieler der Begriff der »Figur« innerhalb der Spielsequenzen unpassend ist. Hier wird die »Figur« als eine Reihe von Charakteristika oder Ausstattungen betrachtet, die vom Spieler, der die Kontrolle ausübt, verwendet und verkörpert werden. Die primäre Spieler-Figur-Beziehung ist die einer Ver-Körperung als Vehikel. Indem ich dieses Modell vorschlage, versuche ich die Begriffe der Identifikation und der Empathie in der primären Spieler-Figur-Beziehung in Frage zu stellen – und folglich auch die Bevorzugung von visuellen und an Repräsentation orientierten Ansätzen. Ich möchte darüber hinaus zeigen, wie das Übertragen von Videospiel-Figuren in andere Medien die Komplexität und Vielfalt des Figurenbestandes erhellt. In Erweiterung von Friedmans Arbeiten zu SimCity und Civilization ist es möglich, einen Schritt weiter zu gehen und zu behaupten, dass schon allein die Vorstellung des primären Spielers, der sich auf eine einzige Figur in der Spielwelt bezieht, bemängelt werden kann. Anstatt einen bestimmten Charakter in der Spielwelt anzunehmen, zu werden, und die Welt mit dessen Augen zu sehen, begegnet der Spieler dem Spiel, indem er gleichzeitig mit allem innerhalb der Spielwelt in Beziehung steht. Der Denk- und Lernprozess eines Super Mario-Spielers ist daher besser als komplexes Ensemble von Aktivitäten, Szenarien und Orten aufzufassen. Es ist nämlich fast unmöglich, die »Figur« Mario isoliert von der Super Mario-Welt mit ihren Warp Zonen, den Aktivitäten des Rennens und Springens und den diversen Gegnern, Widersachern und Feinden auf »Dinasaur Island« zu analysieren. Durch diese Einsicht wird zugleich das gängige Modell der Spieler-Figur-Identifikation problematisiert, das – ebenso wie die Differenzierung zwischen aktiv Spielenden und passiven Nicht-Spielern – auf einem mangelnden Verständnis für die Erfahrung des Videospielens beruht.

Jenseits des Visuellen Letztes Jahr, bei der ersten akademischen Videospiele-Konferenz Großbritanniens, nahm ich die Gelegenheit wahr, einen absichtlich provokant verfassten Artikel vorzustellen, in dem behauptet wird, dass beim Video-

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444 | James Newman spielen die Oberflächenerscheinung des Spiels keine Rolle spielt. Ich habe diese Idee später auch Gruppen von Medienstudent/-innen im Grundstudium präsentiert und diese haben mich, wie viele der Vertreter/-innen bei GameCultures, angesehen, als wäre ich völlig verrückt geworden. Warum soll man so viel Energie in aufwändige Schaueffekte, CGI-Intros, Cut In-Szenen, in die Grafik, in Systeme für Strukturen und Oberflächen, in Beleuchtung(smodelle) usw. setzen, wenn diese Dinge gar keine Bedeutung haben? Videospiele und -systeme werden aufgrund ihrer bestechenden grafischen Aufbereitung verkauft. Wenn wir uns mit dem offensichtlichen Schwachsinn solcher Scheuklappen-Ansichten herumschlagen, dauert es nicht lange, bis das »L-Wort« in solchen Diskussionen fällt … »Lara«. Erwartet man allen Ernstes von mir, zu glauben, dass sich Tomb Raider so gut verkauft hätte, wenn Lara Croft wie Vibri von Vib Ribbon ausgesehen hätte? Nun ja, das sage ich nicht wirklich. In Hinblick darauf, wie sich das Spiel verkauft oder besser: verkauft hat, sage ich das eigentlich überhaupt nicht. Wenn ich behaupte, dass die Erscheinung keine Rolle spielt, spreche ich ganz sicher nicht über das Bewerben und das Marketing von Spielen. Was ich aber behaupte ist, dass die Freude am »Spielen« von Videospielen nicht grundsätzlich visueller Natur ist, sondern kinästhetischer. So gesehen ist das Aussehen von Lara oder Vibri während des Spielens für den primären Spieler nicht entscheidend. Es ist aber von größter Bedeutung, wie es sich anfühlt, in der Spielwelt von Tomb Raider oder Vib Ribbon zu sein. Viele tolle Spiele haben keine besonders gute visuelle Gestaltung – eine ganze Generation von Spieler/-innen ist mit rudimentären Leuchtmarkierungen, @-Zeichen oder gar nur textbasierten Spielen aufgewachsen –, doch gibt es nur wenige gute Spiele mit schlechten Kontrollfunktionen. Nur wenige gute Spiele fühlen sich beim Spielen ›schlecht an‹ (feel bad). Mit dieser Behauptung will ich auf Folgendes hinaus: Ein besseres Verständnis der spezifischen Relation zwischen Spieler und Bildschirm-Charakter wird vermutlich dazu führen, dass wir über Lara und die ihr assoziierten Spieldramaturgien nicht mehr in Kategorien der »Repräsentation« nachdenken müssen. Vielleicht müssen wir über »sie« dann auch gar nicht mehr nachdenken.

Ergodische Videospiele? Aarseth hat 1997 völlig zu Recht auf die Redundanz des Konzepts der »Interaktivität« hingewiesen.2 Die Verwendung des Begriffs in vielfältigsten Zusammenhängen, die in Qualität und Erfahrungsweise so unterschiedlich sind wie Videospiele und das Menü einer DVD, hat diesen bedeutungslos werden lassen. Wenn überhaupt, ist er nur noch für das

2 | Vgl. Espen J. Aarseth: Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore/MD, London 1997.

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Der Mythos des ergodischen Videospiels (2002) | 445 Marketing von Bedeutung. Während das Konzept der Ergodizität erheblich besser ist, da es sich doch auf eine konkrete Definition gründet, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass dessen Anwendung auf Videospiele keineswegs einfach ist. Es ist daher nützlich, mit einer scheinbar simplen, doch häufig übersehenen, wenngleich kritischen Frage zu beginnen: Wie ergodisch sind Videospiele? Wir haben alle schon Fragen dieser Art gestellt, wurden solche gefragt und wir sind es gewohnt in vergleichenden Begriffen zu denken. Wir fragen also gern, ob Spiele mehr oder weniger ergodisch sind als Fernsehen, Film oder das Internet. Solche Ansätze verdecken allerdings die wahre Komplexität der Ergodizität von Videospielen. Eine fruchtbarere Art der Fragestellung ist, in Betracht zu ziehen, wieviel Zeit wir tatsächlich mit nicht-trivialen Aktivitäten verbringen, während wir spielen. Leider ist die Antwort darauf nicht so einfach wie die Frage und hängt zudem von dem spezifischen Spiel ab, doch was wichtiger ist: Die Antwort ist (wie ich glaube) in allen Fällen »nicht die ganze Zeit«. Wenn wir ein Spiel wie StarFox 64 (in Europa unter dem Namen Lylat Wars bekannt) betrachten, bekommen wir allmählich einen Begriff von dem Ausmaß der »Non-Ergodizität« in Videospielen. Drehen Sie Ihren N64 auf und Sie werden mit einem fast zweiminütigen Introfilm »beglückt«, bevor Sie den PRESS START BUTTON des Startscreens bekommen. Selbst dann werden Ihnen beinahe drei Minuten weiterer kontextualisierender Introfilme geboten, ehe Sie mit Ihrem Arwing Raumschiff starten können. Wichtig ist in diesem Kontext, dass Videospiele keine singuläre ergodische Erfahrung präsentieren. Sie sind stark strukturiert und beinhalten Episoden intensiver ergodischer Beschäftigung. Allerdings sind diese Sequenzen unterbrochen durch bzw. umgeben von Zeitspannen stark beschränkter, und sehr oft fast gar keiner, Ergodizität. Selbst wenn Sie bereits Ihren Arwing bestiegen und zu fliegen begonnen haben, ist die Erfahrung nicht die eines ununterbrochenen Spiels. Die meisten Videospiele sind portioniert und in einzelne, wenn auch miteinander verbundene, Sequenzen verpackt. Diese können die Form von Levels (StarFox), Etappen (Gran Turismo), Runden (Virtual Fighter) oder Zonen, Stufen, Partien usw. haben. Das heißt nicht, dass Sie vor einem leeren Bildschirm sitzen und darauf warten, bis das nächste Level geladen ist. Diese »nichtergodischen« Sektionen sind integrale Bestandteile des Spiels. Sie vermitteln uns den Eindruck des Fortschreitens durch eine Welt und erklären, wie die Levels zusammenpassen (z.B. bei StarFox). Sie bieten uns vielleicht Pausen zwischen den Levels und informieren uns über unsere Leistung (Super Mario Kart); sie erlauben uns, unsere Fortschritte zu beurteilen, Etappenzeiten zu vergleichen, uns im Ruhm zu sonnen oder uns für die Art, wie wir die letzte Kurve genommen haben, zu tadeln. Sie bieten womöglich Cut-Scenes, die die Rahmenerzählung (sofern es eine gibt) unterstützen, wie bei Metal Solid Gear, Final Fantasy oder der Tomb Raider-Serie, oder möglicherweise reflektieren sie einfach die technischen Grenzen des Systems, auf dem das Spiel läuft, mit seinem limitierten RAM-Speicher

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446 | James Newman und vergleichsweise langsamen Zugriffszeiten. Ungeachtet ihrer spezifischen Funktionen oder dem Grund für ihre Existenz ist es wichtig festzuhalten, dass Videospiele keineswegs durchgehend und ausschließlich ergodisch sind.

On-Line/Off-Line In meiner bisherigen Forschungsarbeit habe ich ein Modell vorgeschlagen, das auf der Identifikation zweier grundlegender Formen der Beschäftigung mit Videospielen basiert, die ich als »On-Line« und »Off-Line« bezeichnet habe. Im weitesten Sinn bezieht sich On-Line auf die Form ergodischer Partizipation, die wir, allgemein formuliert, als »das Spiel spielen« betrachten. Also bin ich On-Line, wenn ich Metal Gear Solid tatsächlich spiele – wenn ich Mario in Super Mario 64 bin; wenn ich um eine Bahn in einer überzeichneten Skyline in Gran Turismo 3 sause. Off-Line kann als ein der Non-Ergodizität gleichgestellter Spielmodus betrachtet werden, und während es wichtig ist, dass wir diesen Begriff nicht mit Passivität verwechseln – aus Gründen, die ich später erläutern werde –, beschreibt Off-Line dennoch Zeitintervalle, in denen keine Input-Befehle vom Spieler verzeichnet werden. In dieser Terminologie beziehe ich mich auf die On-Line- oder Off-Line-Form der Beschäftigung des Spielers mit Spielen ebenso wie auf On-Line- oder Off-Line-Sequenzen oder -Ebenen in Spielen. Die Unterscheidung zwischen On-Line- und Off-Line-Ebenen muss nicht notwendigerweise ein banales Umschalten von Cut-Scenes auf Spielsequenzen meinen, denn es wird eine Vielzahl von Techniken verwendet, die solche Übergänge auf subtilere Weise leistet. Das offensichtlichste Beispiel wäre vielleicht ein Rennspiel wie wipEout, in dem dem Spieler vor dem Rennen eine Panoramafahrt über die Startzone präsentiert wird, ehe er auf dem Fahrersitz seines Fahrzeugs platziert wird und auf das grüne Licht wartet. In dieser Zeit liegt das Spiel nicht in den Händen des Spielers. Anstatt einfach die Kontrolle an den Spieler zu übergeben, sobald das grüne Licht leuchtet, kann der Spieler allerdings schon den Motor auf Touren bringen. Dies klingt nicht sehr beeindruckend, doch dient es einer Reihe von Absichten. Am effektivsten kann man wohl in Spielen wie Super Mario Kart und wipEout versuchen, einen extra schnellen Turbo-Start herauszuholen. Folglich sind die Grenzen zwischen Off-Line- und On-LineEbenen und Engagement tatsächlich verwischt. Ähnliche Techniken kann man in den neuesten Versionen der Final Fantasy-Serien (z.B. FF VII und IX) finden, beispielsweise dort, wo versucht wird, gerenderte Off-Line- und On-Line-Sequenzen nahtlos ineinander zu integrieren. In Spielen wie z.B. Shenmue hilft dieses Verwischen von Grenzen ein kohärentes und fließendes Gefühl des Spielens zu erzeugen, bei dem die Spieler nichts Trennendes spüren, während sie vom ergodischen Spielintervall zu einer fixen Filmsequenz wechseln. Ganz ähnlich wie bei einigen der Quick Time Events (QTE) in Shenmue können ergodische Markierungen Sektionen, die sonst Off-Line sind, unterbrechen und zerteilen und dem ganzen Szenario

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Der Mythos des ergodischen Videospiels (2002) | 447 dadurch den Eindruck erhöhter partizipatorischer Beteiligung verleihen, da die Aufmerksamkeit gebündelt bleibt, um sich gegen potentielle Überraschungsangriffe zu schützen. Wir beginnen nun allmählich zu erkennen, dass der Binarismus von On-Line- und Off-Line nicht ausreicht, um die Vielfalt der Beschäftigungsformen im Prozess des Spielens zu fassen. Daher sollten On-Line- und Off-Line-Beschäftigung als polare Extreme eines Erfahrungs- oder Ergodizitäts-Kontinuums betrachtet werden. So können wir Formen wie das höchst aufmerksame Beobachten und die gespannte Erwartung, wie oben im Beispiel der Shenmue-QTEs beschrieben, besser erklären, in denen trotz eines Fehlens von Input-Befehlen durch den Spieler, dieser mehr involviert zu sein scheint, als wenn er eine Introsequenz (oder jede andere mediale nicht-ergodische Form) betrachtet. Das Hilfsmittel der QTEs bei Shenmue oder das Auf-Touren-Bringen bei wipEout verleiht dieser Spielsequenz ein ergodisches »Potential«, das einen höheren Grad an Engagement seitens des Spielers verlangt als die Cut-Scene bzw. Standard-Fertigszene oder das Intro. Darüber hinaus ermöglicht uns ein ergodisches Kontinuum von OnLine/Off-Line-Engagement, Rollen wie die des »nicht-kontrollierenden Navigators« zu erklären. Wie Jessen bemerkt hat,3 bieten Videospiele nicht ausschließlich den Erfahrungsmodus der Vereinzelung, ganz egal was populäre Diskurse über deren inhärente Asozialität suggerieren mögen. Sogar Single-Player-Spiele wie Tomb Raider, werden oft von »Teams« gespielt – wobei der primäre Spieler (Hauptspieler) die traditionelle Aufgabe der Kontrolle übernimmt, während andere, sekundäre Spieler (Nebenspieler) lediglich an der Handlung Interesse zeigen und die Aktionen verfolgen. Sie üben am Bildschirm keine direkte Kontrolle aus, sondern übernehmen Aufgaben wie Kartenlesen, das Lösen von Rätseln usw. und achten auf all die Dinge, für die der Hauptspieler keine Zeit hat. Hier können wir sogar Ergodizität bei jenen Spielern feststellen, die gar keine Kontrolle ausüben. Gemessen an ihren Reaktionen scheint das Ausmaß an partizipatorischem Engagement von Nebenspielern in der Tat während einiger Spielsequenzen größer zu sein als jenes des Hauptspielers in Standardszenarien. Während fertige Szenarien Haupt- und Nebenspielern die Gelegenheit zur Entspannung zwischen Sequenzen mit hektischem, schnellem und lautem Spielablauf bieten, erhalten Spielsequenzen das

3 | Vgl. Carsten Jessen: »Children’s Computer Culture«, in: Ders., Children’s Computer Culture: Three Essays on Children and Computers, 1995; sowie: »Girls, Boys and the Computer in the Kindergarten: When the Computer is turned into a Toy«, in: Ders., Children’s Computer Culture: Three Essays on Children and Computers, 1996, und: »Interpretive Communities: The Reception of Computer Games by Children and the Young«, in: Ders., Children’s Computer Culture: Three Essays on Children and Computers, 1998; alle Artikel unter: http://www.hum.sdu. dk/cen ter/kultur/buE/articles.html, zuletzt gelesen im Januar 2002.

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448 | James Newman Interesse und die Aufmerksamkeit durch wiederholte und oft »wilde« Vorschläge aufrecht, wobei Ratschläge und Warnungen von Seiten der Nebenspieler kommen. Die Rolle des Nebenspielers wird häufig von Leuten eingenommen, die Spiele an sich mögen, sie allerdings zu schwierig finden. Sie ist nur ein Beispiel dafür, wie Spieler Videospielerfahrungen auf eine Art einsetzen, die von den Developern nicht beabsichtigt war (bzw. von Wissenschaftlern nicht beobachtet wurde). Eine Reihe von Spielern, mit denen ich gearbeitet habe, liebt die Idee der Legend of Zelda-Serie, doch frustriert es sie, wenn ihre Versuche nach nur wenigen Minuten am Joystick durch den schnellen »Tod« der Spielfigur enden. Also spielen sie gemeinsam. Eine »Co-Piloten«-Rolle zu spielen ermöglicht es darüber hinaus, Aspekte des Spiels wahrzunehmen, die in der Rolle des Hauptspielers unbemerkt bleiben. Folglich kann man seine eigenen Fähigkeiten Off-Line perfektionieren, indem man die Rolle des Nebenspielers einnimmt. Es dauert, diese oftmals nicht anerkannten Rollen angesichts der natürlichen Interessen und Bedenken der Studierenden sowie der scheinbaren Energieverschwendung, die im Game-Design durch den anhaltenden Kampf um die immer bessere visuelle Aufmachung von Videospielen repräsentiert wird, zu realisieren. Warum sollte man unter großem Aufwand Laras Pferdeschwanz animieren, wenn es für den Spieler keinerlei Konsequenzen besitzt? Dieser Effekt, ebenso wie die wunderschönen Spiegelungen in Gran Turismo 3 und die Wassereffekte in Wave Race: Blue Storm, existieren aus einer Reihe von Gründen. Zuerst einmal ist es unglaublich schwierig, »Interaktivität« über nicht-partizipative Werbekanäle (TV, Printmedien etc.) oder sogar in einem Kaufhaus zu verkaufen, da es Zeit in Anspruch nimmt, die Kontrollfunktionen auszuüben bzw. zu erlernen, der Erfolg zunächst gering ist, und gleichzeitig die erste Frustration, die bei den meisten Spielen auftaucht, kaum verkaufsfördernd ist. Spiele aufgrund ihrer visuellen Perfektion zu verkaufen ist viel leichter, als nicht spielbare Demosequenzen auf Videowänden, Screenshots, der Verpackung, Werbung im Fernsehen und in den Printmedien. Zweitens dient die aufwändige audiovisuelle Aufbereitung der Spiele potentiell den Nebenspielern. Neben dem Erstellen und Lesen von Karten, dem Abwehren von Gefahren und dem Lösen von Problemen oder Rätseln, besitzen letztere die Möglichkeiten, die Spielwelt einer genauen Prüfung zu unterziehen, Reflexionen zu bewundern, grafische Nuancen zu unterscheiden oder gar Programmierfehler festzustellen. All dies erweitert und vertieft die Erfahrungen des sekundären Spielers. Off-Line-Ergodizität ist durch genau diese Kombination von Aktivität, die zum Erreichen des Spielziels beiträgt, und das Vergnügen am Audiovisuellen charakterisiert.

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Der Mythos des ergodischen Videospiels (2002) | 449

Spiele spielen Die On-Line-Beziehung zwischen Hauptspieler und dem System/dem Spiel ist keine klare Subjekt-Objekt-Beziehung. Vielmehr ist das Interface ein kontinuierlicher Feedback-Loop, bei dem man den Spieler als in die Konstruktion und Komposition der Erfahrung verwickelt und zugleich dieser vorausgesetzt auffassen muss. Auf der Interface- bzw. Kontroll-Ebene in diesem Feedback-Loop (und folglich auf der Bedeutungsebene für das Erleben des Spiels) gefangen, erfährt der Spieler die Ebene direkter Beteiligung und kann dann vielfältige und scheinbar widersprüchliche Präsentationen des Selbst unterstützen und dekodieren. Es ist also beispielsweise in einem CoinOp-Spiel möglich, zugleich in einem Modellauto zu sitzen, das Lenkrad zu halten und Fußpedale zu haben, einen Bildschirm anzuschauen (vermutlich die Windschutzscheibe), durch den wir ein entferntes, eindeutig medialisiertes Bild von uns sehen, das von einer Kamera übertragen wird, die sich in einem uns verfolgenden Hubschrauber befindet. Das Bild ist voll typischer Täuschungen einer Kameraübertragung wie z.B. dem Flackern der Linse. Dennoch wird diese Erfahrung als eine direkte beschrieben, eine des Seins, Tuns und Partizipierens. Nintendos Wave Race: Blue Storm bietet nicht nur das Flackern der Linse, sondern zeigt auch Regentropfen und Spritzwasser von den Jetski des Spielers, die auf die Scheibe treffen, und dennoch wird das Erlebnis einer direkten Partizipation nicht verringert, macht das Spiel nicht den Eindruck ferngesteuert zu sein. Viele Spieledesigner, Kritiker und Kommentatoren meinen allerdings, dass es dies sollte. Bob Bates Ansicht ist typisch dafür. First-Person-Spiele (wie Ego Shooter) tendieren dazu, schneller und außerordentlich immersiv zu sein. Die Wahrnehmung »in der Welt« zu sein ist stark, da der Spieler mit seiner Figur sieht und hört. Third-Person-Spiele erlauben dem Spieler, seine Figur in Aktion zu erleben. Sie sind weniger vereinnahmend, doch helfen sie dem Spieler, sich stärker mit der Figur, mit der er spielt, zu identifizieren. Wenn wir allerdings direkte Partizipation als etwas betrachten, das sich von einem Befehls-Loop auf Interface-Ebene ableitet, dann können wir die Spiel-Perspektive von den – immer wieder beschriebenen – Empfindungen von Immersion, Beteiligtsein und Sich-in-der-Spielewelt-Befinden theoretisch ablösen – was Bob Bates mit dem »Sekundär- oder Nebenspieler« präziser zu beschreiben scheint, welcher die Welt des Spiels sehr genau prüft und Vergnügen aus den visuellen und akustischen Eindrücken zieht. Bezogen auf diesen Spieler mag es sehr wohl passend sein, den höheren Grad an Identifikation, der mit der Third-Person-Perspektive eintritt, zu diskutieren. Für den Hauptspieler hat die Spielperspektive allerdings nur insofern Bedeutung, als sie Auswirkungen auf den Spielprozess hat. Hauptspielern wird oft dynamische Kontrolle über den Blickwinkel eingeräumt durch die Möglichkeit, zwischen einer Anzahl von Ansichtsvoreinstellungen hin und her zu switchen, wie bei der Virtual Racing/Daytona-Serie von Sega, oder der vollständigen optischen 360 Grad-Kontrolle bei

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450 | James Newman Super Mario 64. Nintendos GameCube-Joypad hat eine eigene, tatsächlich direkt daneben angebrachte »C«-Taste für die Kontrolle der Kamera im Spiel selbst. Gerade weil der Sinn des In-der-Spielewelt-Seins viel eher von einer Verbindung auf der Ebene des Interface herrührt als von einem Produkt, das sich über den Blickwinkel definiert (wie bei »Super Mario World«, das seine [Spiel-]Welt von einem Blickwinkel des Außenstehenden präsentiert), können diese ebenso anspruchsvoll sein wie Spiele mit Blickwinkeln von (Pseudo-)Hauptspielern (ersten Spielern) wie Quake oder sogar Zweit(bzw. dynamisch sich verändernden) Spielern wie Super Mario 64. Während des On-Line-Spielens werden Videospiele von den Hauptspielern als direkt erlebt, gleichgültig wie ihre Präsentation oder die Vermittlung des Inhalts beschaffen ist. Beim Erinnern an das Spiel sprechen Spieler nicht vom Spielen oder Kontrollieren, sondern vom »Sein«. Die Konzentration auf den optischen Blickwinkel (auf den oft völlig zu unrecht als »Perspektive« verwiesen wird) enthüllt ein überhöhtes Vertrauen in die Modelle von Repräsentation und die Mechanismen von Spieler/ Betrachter-Verbundenheit. Hier behaupte ich, dass der Grad der partizipatorischen Verwicklung und Beteiligung in bzw. an ein spezifisches Spiel nicht von der Art der Präsentation abhängt. Während sich Spielewelten gegenüber dem nicht beteiligten Beobachter, oder sogar dem Sekundärspieler, häufig selbst als »Täuschung« oder als »unreal« dekonstruieren – z.B. weil sie Mängel und Fehler aufweisen, die die Nicht-Authentizität der Präsentation offenlegen (z.B. durch missglückte Visualisierungen, Bufferfehler und ähnliches wie in wipEout von Psygnosis) –, verlieren solche Mängel für den aktiv beteiligten On-Line-Spieler ihre unmittelbare Bedeutung, und dieselben Spielewelten konstruieren einen kohärenten Erfahrungszusammenhang, der ihnen sowohl Glaubwürdigkeit als auch »Realismus« verleiht. Das On-Line/Off-Line-Kontinuum spiegelt die Bedeutung des Engagements, der Einbindung des Spielers und seiner Verwicklung in das Herstellen und Funktionieren von Erfahrung. Letztere zeigen das Bedürfnis, über eine losgelöste und separierte Analyse von »Systemen«, »Output-Stimuli« und »Interfaces« hinauszugehen (wie dies in vielen klassischen HCI Forschungsarbeiten der Fall ist, z.B. bei Benyon und Murray)4 – und die Erkenntnis von den Unterschieden zwischen steuernden und nicht-steuernden, primären und sekundären Spielern – und wie diese Videospiele schätzen und sich unterschiedlich mit ihnen beschäftigen – zu inkludieren.

4 | David Benyon/Dianne Murray: »Experience with Adaptive Interfaces«, in: The Computer Journal 31 (1988) H.5, S. 465-473.

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Der Mythos des ergodischen Videospiels (2002) | 451

Es gibt nur einen Mario? In ihrer Arbeit über die ödipalisierten Narrative in von Videospielen ordnet Kinder jedem der vier von den Spielern wählbaren Charaktere von Super Mario Bros.2 ein Zielpublikum von Spielern zu, was die Existenz jeder einzelnen Erscheinung damit rechtfertigt und erklärt, dass sie dazu gebraucht wird, um die Verbindung mit allen Gruppen von Spielern zu fördern. 7-14-jährige männliche Personen wählen »Mario« und »Luigi«, Kinder im Vorschulalter »Toad« und weibliche Spielerinnen »Princess Toadstool«. (Nebenbei bemerkt ist »Toad« ein vermenschlichter Fliegenpilz, obwohl Kinder es verabsäumt, dies zu erwähnen. Vielleicht gibt es keinen alters- oder geschlechtsspezifischen Code für die Repräsentation von Pilzen?) In der Tat macht sich Kinder selbst einige Mühe, um das Problem dieser scheinbar sauberen Klassifikation zu benennen, indem sie unterstreicht, dass: »Obwohl sie [Princess] beim Springen und Tragen unterlegen ist, besitzt sie die einzigartige Fähigkeit, für 1,5 Sekunden zu schweben – ein funktionaler Unterschied, der häufig dazu führt, dass mein Sohn und seine Freunde sie anderen Charakteren gegenüber vorziehen, selbst wenn dies das Risiko einer Transgender-Identifikation bedeutet«.5

Ganz richtig hat Jenkins auf die potentielle Unzulänglichkeit der traditionellen Ansätze von Identifikation, die in Kinders Bericht angedeutet werden, hingewiesen: »Legt dies nicht nahe, dass traditionelle Berichte von Identifikation mit (Spiel-)Charakteren unzulängliche Beschreibungen für die Beziehung der Kinder zu diesen Figuren sein könnten?«6

Vielleicht deutet die offensichtliche Bereitschaft dieser Jungen, unter bestimmten Umständen eine weibliche Figur auszusuchen, »selbst wenn dies die Gefahr einer transgeschlechtlichen Identifikation birgt«, auf einen Prozess der Figurenwahl hin, der weder auf empathischer Identifikation noch auf Repräsentation basiert. Spieler wählen aber im Stadium der Character Selection nicht automatisch nach Vernunftsgünden die beste Figur für die zu bewältigende Aufgabe (obwohl dies schon vorkommt, besonders dann, wenn Spieler ein Expertenwissen über eine Spielwelt erlangt haben und die Anforderungen, die verschiedenen Umgebungen zu spezifischen

5 | Marsha Kinder: Playing with Power in Movies, Television and Video Games: From Muppet Babies to Teenage Mutant Ninja Turtles, London 1993, S. 107. 6 | Henry Jenkins: »›x Logic‹: Repositioning Nintendo in Children’s Lives«, in: Quarterly Review Of Film And Video 14 (1993) H. 4, S. 55-70, hier: S. 68.

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452 | James Newman Zeitpunkten an sie stellen, genau kennen). Viel bedeutender ist es, zu realisieren, dass der Vorgang der Figurenwahl, die Kinder beschreibt, eine Beziehung zu diesen Figuren zu erkennen gibt, die repräsentative Eigenschaften zugunsten der Zusammensetzung der Figur als Set von Fähigkeiten, Potentialen und Techniken vernachlässigt. Der Spieler benutzt und verkörpert die Figur in der Spielwelt. Während sie auf der Verpackungsschachtel, in der Werbung, ja sogar in vorgefertigten und Intro-Szenen innerhalb des Spiels ihre Bedeutung beibehält, spielt die Erscheinung der Spielfigur während der On-Line-Beschäftigung keine oder nur eine sehr geringe Rolle. Ich möchte hiermit behaupten, dass der Grad an Engagement, Vertiefung oder Präsenz, die durch den Spieler erlebt wird – der Grad, wie sehr der Spieler sich als die Figur selbst betrachtet –, nicht von der Repräsentation abhängt. On-Line wird die »Figur« als Leistungsfähigkeit begriffen – als eine Anordnung von Eigenschaften. Die Unterscheidung in On-Line/Off-Line bietet einen nützlichen Rahmen, innerhalb dessen diese multiple Existenz weiter untersucht werden kann. »Sonic the Hedgehog« stellt in einem Trickfilm eine ganz andere Figur dar als in einer On-Line-Sektion eines Videospiels. Im Trickfilm besitzt Sonic Autonomie und Unabhängigkeit. Kurz gesagt, besitzt er einen Charakter (einen begrenzten vielleicht, aber nichtsdestotrotz einen Charakter, während es Off-Line kein »Er« gibt). Es macht nur in dieser Welt jenseits des On-Line-Videospiels Sinn, von Sonic als »Er« zu sprechen. In den Videospielen wird Sonic zur Fähigkeit, schnell zu laufen, einen Loop zu drehen, Ringe zu sammeln … In Werbungen für »Lucozade« geht und spricht Lara, sie schießt und rennt. Wichtig dabei ist, dass sie all das ohne die Präsenz eines Spielers macht. In den On-Line-Sektionen von Tomb Raider macht Lara ohne Spieler nichts, sie steht bloß da. Wenn ich den Tomb Raider-Film ansehe, kann ich schlafen oder hinausspazieren und Lara wird immer noch den Tag retten. Doch das Spiel braucht mich. In den Intros und den Feature-Szenen braucht mich Lara nicht, doch Tomb Raider braucht den Spieler On-Line. Das Spiel ist nichts ohne den Spieler. Die Figuren sind nichts ohne den Spieler. Die Individualität und Autonomie, die eine Figur Off-Line – ob in Filmen, Werbungen, Spielfilmszenen oder sogar auf der Verpackung des Spiels – aufweist, werden On-Line subsumiert und zugunsten von spielspezifischen Techniken und Fähigkeiten, die der Spieler einsetzt und – was noch wichtiger ist – innerhalb der Spielwelt verkörpert, vernachlässigt. Wir können beobachten, wie die Figuren bei ihrer Bewegung zwischen den Medien sowohl Charaktereigenschaften erlangen als auch verlieren, je nach den spezifischen Anforderungen. Jenkins schreibt darüber, wie Zeichentrickfiguren – sobald sie in die Videospielwelt übertragen werden – vieler ihrer typischen Charaktereigenschaften beraubt werden und daher »kaum mehr als ein Kursor, der die Beziehung des Spielers zur Spielwelt vermittelt« sind.7

7 | Vgl. Mary Fuller/Henry Jenkins: »Nintendo® and New World Travel

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Der Mythos des ergodischen Videospiels (2002) | 453 Folglich löst sich der On-Line-»Charakter«, wie wir ihn in den non-ergodischen Medien verstehen, auf. On-Line-Charaktere werden durch Bausätze verfügbarer Fähigkeiten und Kapazitäten konstituiert. Sie sind das Equipment, das der Spieler in der Spielwelt verwendet. Sie sind Vehikel, Mittel. Es ist einfacher, sich dies vorzustellen, wenn wir an ein Rennsimulationsspiel wie Gran Turismo denken, wo wir wortwörtlich ein Fahrzeug fahren, und ich möchte anregen, dass wir uns trotz ihrer repräsentativen Charaktereigenschaften alle Videospiel-Figuren auf diese Weise vorstellen. On-Line wird Lara weniger über ihre Erscheinung definiert als über die Tatsache, dass »sie« den Spieler befähigt, die Distanz x zu springen, während die Schlucht vor uns viel größer ist, sodass wir besser anfangen sollten, über einen neuen Weg der Beschreibung nachzudenken. Der Produktionsprozess von Videospielen enthüllt viel über die Bedeutung(slosigkeit) von Repräsentation und Charakterisierung im »traditionellen« Sinn. Pilotwing64 ist ein anschauliches Beispiel dafür. Figurendesign »tauchte einfach eines Tages auf und wir begannen sofort, diese in (teilweise fertige) Spiele zu implementieren. Um die Figuren als solche wird keine Erzählung entwickelt, doch sie sind im Spiel sehr präsent und besitzen unterschiedliche Charakteristika, der starke, stämmige Typ erfordert offensichtlich viel mehr Hubkraft, doch er kann den Hängegleiter schneller drehen.«8

Auch hier werden Figuren über Charakteristika, die das Spiel beeinflussen, definiert. Es macht nichts, dass es ein stämmiger Typ ist – oder überhaupt ein junger Mann – oder gar ein menschliches Wesen. Dass der Hängegleiter sich schneller drehen kann, ist das Wichtigste, denn dies beeinflusst die Art und Weise, wie das Spiel gespielt wird. Und dies beeinflusst wiederum meine Chancen, eine hohe Punktezahl zu erreichen. Die TV-Werbekampagne für Rayman 2 von Ubisoft für Nintendo64 veranschaulicht gleichfalls die Dominanz von Fähigkeit und Erfahrungsmöglichkeit für die Wirkung des Videospiels. Rayman wird weder über seine Erscheinung noch über irgendwelche Charaktereigenschaften von Individualität oder Autonomie definiert, sondern durch seine Fähigkeit (und daher auch die des Spielers) zu laufen, zu springen, zu schwimmen. »Keine Arme, keine Beine… Das ist wahr, aber Rayman kann alles machen (oder beinahe alles!): springen, schwimmen, einen Loop drehen, klettern, Wände erklimmen, gleiten und fliegen, wobei er sein Haar als Hubschrauber verwendet … Rayman entfaltet sich im Verlauf des Spiels und er erhält von seinen Freunden tempo-

Writing: A Dialogue«, in: Steven G. Jones (Hg.), Cybersociety: Computer-Mediated Communication and Community, Thousand Oaks, London, New Dehli 1995, S. 61. 8 | Dave Gatchell: »Nintendo’s Ultramen«, in: Edge (UK Ausgabe) 29 (Februar 1996), S. 50-64, hier: S. 64.

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454 | James Newman räre Kräfte wie beispielsweise im Hubschrauber-Modus zu fliegen, Purple Lumz zu fassen oder sogar die Gewalt seines Schusses stetig zu steigern!«9

Ein Statement Hideo Kojimas, Produzent der phänomenal erfolgreichen Metal Gear Solid-Reihe (für PlayStation und PlayStation2), die für ihre filmischen Qualitäten gelobt wurde, ist ähnlich aufschlussreich: »Wir haben uns bemüht, ihm [Snake] nicht zuviel Charakter zu verleihen, da wir möchten, dass verschiedene Spieler seine Rolle einnehmen können. Snake ist nicht wie ein Filmstar. Er ist nicht jemand, dem man zuschaut, sondern jemand, in dessen Rolle man schlüpfen kann. Snake zu spielen gibt den Spielern die Chance, ein Held zu sein.«10

Die »Charakterisierung«, Individualität und Unverwechselbarkeit von Snake beruht nicht auf seiner On-Line-Erscheinung (wo »er« durch den Spieler anhand eines Sets an verfügbaren Techniken und Fähigkeiten verkörpert wird), sondern vielmehr in den Off-Line-Spielfilmszenen und den kontextualisierenden Narrativen der einleitenden Sequenzen. On-Line gibt es keinen Snake.

Wie ein Computer denken Bisher hat sich die Diskussion auf das Überdenken von Spieler-Spielfigur-Beziehungen konzentriert. Dabei habe ich zwischen primären und sekundären Spielern unterschieden und herausgearbeitet, dass – zumindest für den primären Spieler – die Erscheinung der Spielfigur während der Spielsequenzen sowohl im Sinne ihrer repräsentativen Eigenschaften als auch der Art ihrer Präsentation vergleichsweise unbedeutend ist. Friedman folgend, möchte ich eine noch radikalere Art empfehlen, diese Beziehung zu definieren. On-Line ist die Figur ein Komplex aller Aktionen, die es in der Spielwelt gibt. Ich meine damit, dass On-Line Lara »zu sein« bedeutet, mit Rätseln konfrontiert zu sein aber auch mit den Techniken und Ressourcen ausgestattet zu sein, um diese zu lösen. Es bedeutet, in dunklen, feuchten Höhlen zu sein und von Wölfen angefallen zu, aber auch, das Equipment zu besitzen, um sie zu bekämpfen. Die Situation und Aktion innerhalb der Spielwelt sind unerbittlich mit der Auffassung des Spielers und seiner Erfahrung, in dieser Spielwelt zu sein, verbunden. Bedeutung ist für Spieler um die Handlung herum strukturiert, um die Umgebung, um Aktivität. Jedes Modell der Spieler-Figur-Verbindung, das sich auf die Identifikation mit einem einzigen Wesen in der Spielwelt

9 | Ubisoft (US) Website, 2001: http://www.ubisoft.com/usa/rayman2/index. html, zuletzt gelesen im Juli 2002. 10 | Hideo Kojima: »Hideo Kojima Profile«, in: Arcade 1 (Dezember 1998) H. 1, S. 42-43, hier: S. 43.

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Der Mythos des ergodischen Videospiels (2002) | 455 gründet, ist also zu sehr vereinfacht. Obwohl meine Beispiele Videospiele, in denen eine klar definierte, spielerkontrollierte »Figur« identifiziert werden kann, fokussieren, egal, ob dies ein Mann, eine Frau, ein Auto, ein Raumschiff, oder ein Pilz ist fokussieren, ist dieses Prinzip ebenso in Spielen zu entdecken, die weder eine vermittelnde »Figur«, ja noch nicht einmal einen abstrakten Kursor aufweisen, um mit Jenkins zu sprechen. Wie einer meiner Teilnehmer am Dissertations-Feldforschungsseminar dreist, aber einsichtig proklamierte: »Wenn ich Tetris spiele, bin ich ein Tetraminoe.« Als wir dieses Problem genauer untersuchten, behauptete er, dass er sich nicht so sehr als einzelnen Tetris-Block betrachte, sondern sogar als jeden Tetris-Block, ganz gleich ob als fallender, gefallener oder einer, der noch fallen wird. Dies verlangt klarerweise einen völlig neuen Rahmen, innerhalb dessen die Beziehung zwischen Spieler und Spielwelt verstanden werden kann. Sogar die Idee der On-Line-Figur als identifizierbares und singuläres Wesen, das durch den Spieler verkörpert wird, ist eine Vereinfachung, die auf ein vorbehaltloses Vertrauen in existierende Publikumsrollen hinweist. Wie schon erwähnt, legt meine bisherige und aktuelle Forschung zur On-Line-Beziehung zwischen Spieler und Spielwelt nahe, diese Verbindung als Erfahrungseinheit zu betrachten, die als Synthese von Handlung, Standort und Szenario und nicht nur als Verbindung zwischen Subjekt und Objekt innerhalb einer Welt aufgefasst werden muss. On-Line ist der Spieler zugleich das Ziel und die Handlung, dieses zu erreichen. Hier scheint Friedmans Idee, »wie ein Computer zu denken«, besonders zutreffend zu sein: »Wenn Sie ein Simulationsspiel wie Civilization 2 spielen, ist Ihre Perspektive – die Augen, durch die Sie lernen, das Spiel zu beobachten – nicht die irgendeiner Figur oder irgendeiner Menge an Figuren, ganz gleich ob Könige, Präsidenten oder sogar Gott. Die Art, in der Sie lernen zu denken, korrespondiert nicht mit der Art, wie man sich üblicherweise einen Sinn auf die Welt macht. Die Freuden des Simulationsspiels rühren eher daher, einen unbekannten, fremden geistigen Zustand einzunehmen: zu lernen, wie ein Computer zu denken.«11

Man kann behaupten, dass Friedmans Konzept auch jenseits der »Simulations«-Spiele Aktualität besitzt, die er thematisiert (Civilization und Sim City), und vielleicht auch auf Spiele übertragen werden kann, bei denen eine offensichtliche Spieler-Figur identifiziert werden kann. In Spielen wie Tomb Raider oder Super Mario, ebenso wie in Friedmans Civilization, betrachtet sich der primäre Spieler womöglich nicht als irgendeine bestimmte Figur im Bildschirm, sondern vielmehr als die Summe aller Kräfte und Einflüsse, die das Spiel ausmachen. Übersetzung aus dem Englischen: Jeannette Pacher

11 | Ted Friedman, Publikation in Arbeit, S. 2.

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456 | James Newman

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Der Mythos des ergodischen Videospiels (2002) | 457 Newman, James: Reconfiguring the videogame player Abhandlung, präsentiert bei der internationalen Computer- und Videospiele-Konferenz Game Cultures, Bristol, 29. Juni-1. Juli 2001. Segal, K.R./Dietz, W.H.: »Physiological Responses to Playing a Video Game«, in: American Journal of Diseases of Children 145 (1991), H. 9, S. 1034-1036. Ubisoft (US) Website; http://www.ubisoft.com/usa/rayman2/index.html, zuletzt gelesen im Juli 2002.

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Cyborgs – Avatars – Fake-Identities

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Einleitung | 461

Einleitung

Die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen für die Interaktion mit dem Computer ist mittlerweile zu einem kulturellen Topos geworden. Die Informatisierung und Kybernetisierung unseres Alltags durch das Pervasive Computing – die Durchdringung und Vernetzung sozialer und subjektiver Erfahrungen mit »smarten« Technologien – hat eine Vielzahl technologischer Narrative und Narrative des Technologischen entstehen lassen. Die sublime Anpassung von Technologien, die automatisch auf den Menschen reagieren, sich ihm unmerklich anpassen und dadurch ihre stoffliche Widerständigkeit einbüßen, stellt indes keine genuin neue Erfahrung dar, die unabdingbar auf die technische Innovation digitaler Medien verweisen würde. So werden bereits in früheren Gesellschaftsdiagnosen Fragen nach dem kulturellen Stellenwert des die Moderne prägenden fortgesetzten Medienwandels aufgeworfen. Meist war dabei auch die Rede von einem zunehmenden Verschwinden der Differenz zwischen medial generierter und subjektiver Wirklichkeit. So monierte Günther Anders bereits 1956 eine zunehmende Phantomisierung der Welt durch Rundfunk und Fernsehen, die sich dem Menschen anschmiegen würde »wie der Handschuh der Hand«.1 Damit wurde ein klassischer Topos der Medialisierung des Computers vorweggenommen: Nämlich die Inszenierung von Faszination und Schrecken bei der Thematisierung des »Verschwindens des Interface« – diese Denkfigur erfreut sich in der Populärkultur gegenwärtig ungebrochener Beliebtheit, wenn es darum geht, Szenarien eines apokalyptischen Posthumanismus und allmächtige Kontrollphantasien zu entwerfen. Demzufolge liegt die Annahme nahe, dass sich Medien- und Kulturtechniken wechselseitig bedingen. Innerhalb dieses medienkulturellen Beziehungsnetzes stellen »Cyborgs«, »Avatare« und »Fake-Identities« zentrale Such-

1 | Günter Anders: »Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen«, in: Claus Pias/Joseph Vogl/Lorenz Engell/Oliver Fahle/Britta Neitzel (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgebenden Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 209-222, hier: S. 217.

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462 | Cyborgs – Avatars – Fake-Identities begriffe dar, mit denen immer auch die Vermischung der Grenzen zwischen biologischen und technologischen Systemen in einem breit gestreuten Cross Over – von Wissenschaftskommunikation, Science-Fiction bis Fantasy – angezeigt wird.2 Dabei kommt es zu Überlagerungen von anthropologischen und medialen Projektionen, die sich wechselseitig bedingen und durchdringen.3 In allgemeiner Hinsicht kompensieren »Cyborgs« und »Avatare« das Drohbild der vollständigen Immersion des Bewusstseins in der virtuellen Welt. Als semiotisch differenzierte Identitätsangebote und Körpermodelle übernehmen sie die Aufgabe, das Inferface als ein persönliches Digital Environment erfahrbar zu machen. Sie verkörpern die strategische Funktion einer angenehmen Benutzerfreundlichkeit, indem sie uns von den sogenannten »Zumutungen« der unübersichtlichen Hardware- und Programmierebenen der Computertechnologie erlösen sollen. Der Philosoph und Trendanalytiker Norbert Bolz sieht im einfach handhabbaren Design von Benutzeroberflächen eine Chance für die Emanzipation des Users vom Computer als Medium: »Gnädig verbirgt uns die Benutzeroberfläche die logische Tiefe der Geräte.«4 Eine diametral andere Einschätzung benutzerfreundlicher Interfaces vertritt Friedrich Kittler, der vor dem »Softwareideal vom Computer als besserer Waschmaschine« als einer finalen politischen Kontrolltechnologie warnt: »Über der Hardware, ihrer Programmierbarkeit zum Trotz, fiele eine unwiderrufliche Deckelhaube zu.«5 Diese Medienkontroverse hat sich bis heute als kanonische Streitfrage erhalten und ist eng verknüpft mit der machttheoretischen Thematisierung von Funktionsmechanismen und Subjektivierungsformen spätkapitalistischer Gesellschaften. Der Begriff »Cyborg« leitet sich vom englischen Kunstwort Cybernetic Organism ab und wurde erstmals im militärisch-strategischen Kontext der US-amerikanischen Raumfahrt verwendet. 1960 veröffentlichten der Biophysiker Manfred E. Clynes und der Psychologe Nathan S. Kline in der Zeitschrift Astronautics einen Artikel unter dem Titel »Cyborgs and Space«.6 In dieser von der NASA in Auftrag gegebenen Studie erforschten die bei-

2 | Vgl. Mona Singer: »Cyborg – Körper – Politik«, in: Karin Gieselbrecht/ Michaela Hafner (Hg.), Data|Body|Sex|Machine, Wien 2001, S. 20-44; vgl. auch die kritische Position der cyberfeministischen Theoretikerinnen und Künstlerinnen im Kapitel »Gender – Technologien – Cyberfeminismus«. 3 | Vgl. Simon Ruf: »Über-Menschen. Elemente einer Genealogie des Cyborgs«, in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.), Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, S. 267-286. 4 | Norbert Bolz: Weltkommunikation, München 2001, S. 137. 5 | Friedrich Kittler: »Hardware, das unbekannte Wesen«, in: Sybille Krämer (Hg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a. M. 1998, S. 119-132, hier: S. 131. 6 | Vgl. ihren Beitrag in diesem Kapitel.

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Einleitung | 463 den Wissenschafter die technologischen Möglichkeiten der Anpassung von Menschen an die Weltraumumgebung. Sie konzipierten einen »chemischen Cyborg«, dessen Stoffwechsel mithilfe von künstlichen Organen und Drogeninfusionen gesteuert werden sollte. Die U.S. Air Force hat die Vorschläge von Clydes und Kline teilweise verwirklicht, indem sie die Reaktionszeiten von Piloten bei Überschallflügen minimierte.7 Als Wissenschaftsmodell stand der Cyborg in der Folge für die Ablösung der biologischen durch die technische Evolution, mit welcher stereotype Vorstellungen einer neuen Version des »Superman«8 konnotiert wurden. Mithilfe von technischen Apparaturen, die den menschlichen Körper mit zusätzlichen Funktionen und Fähigkeiten ausstatten, wird bis heute eine technische Leistungssteigerung des menschlichen Körpers erwartet (z.B. mithilfe von »Robot Suits«). Das »Cyborg«-Konzept hat sich in expliziter Bezugnahme auf die Studie von Clynes und Kline als reiche Fundgrube für Science-Fiction-Autoren erwiesen. So diente die erste populärkulturelle Adaption »Cyborg« (1972), der Roman des Schriftstellers Martin Caidin, als Vorlage für die Fernsehserie »Six Million Dollar Man« (1973-1978). In ihrem 1990 verfassten Text »The Fantasy beyond Control«9 thematisiert die US-amerikanische Medienkünstlerin Lynn Hershman die intermediale Dimension und das Spiel mit Gender-Stereotypen in ihren frühen Video-Installationen »Roberta Breitmore« und »Lorna«.10 Mitte der 70er Jahre realisierte sie die Portrait-Performance »Roberta Breitmore« (197578), die durch fünf verschiedene Schauspielerinnen als fiktive Frauenfigur verkörpert wurde. Mit einer Schminkmaske entstand eine neue Identität, deren gesteuerte Aktivitäten die Grenze zwischen Kunst und Leben zu verwischen suchten, indem die Kunstfigur simulierte, dem typischen sozialen Leben innerhalb einer liberalen Gesellschaftsordnung nachzugehen. Die meisten ihrer Arbeiten beschäftigen sich mit den Konstruktionen von stereotypem Gender Posing und dessen Repräsentationen durch massenmediale und technische Systeme. Hershman selbst teilt ihr Werk in B.C. (Before Computers) und A.D. (After Digital) ein, womit sie ihr Werk formal auf zwei Faktoren reduziert: Werke, die ohne technische Hilfsmittel

7 | Vgl. »An Interview with Manfred E. Clynes« (geführt von Chris Hables Gray), in: Chris H. Gray (Hg.), The Cyborg Handbook, New York, London 1995, S. 43-54; Robert A. Freitas: »The Birth of Cyborg«, in: Marvin Minsky (Hg.), Robotics, New York 1985, S. 146-183. 8 | Vgl. Robert C.W. Ettinger: Man into Superman, New York 1972. 9 | Vgl. Lynn Hershman: »The Fantasy Beyond Control«, in: Noah Wardrip-Fruin/Nick Montfort (Hg.), The New Media Reader, Cambridge/MA, London 2003, S. 643-647; vgl. ihren Beitrag in diesem Kapitel. 10 | Vgl. die erste deutschsprachige Monografie zu Lynn Hershmans interaktiven Videodiskinstallationen: Söke Dinkla: Pioniere Interaktiver Kunst, hg. v. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Ostfildern 1997.

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464 | Cyborgs – Avatars – Fake-Identities auskommen, und Werke, für die ab 1980 digitale Medien eine entscheidende Grundlage bilden.11 Hershmans »Lorna« gilt als die erste interaktive Installation in der Videokunst (1979-83). Diese auf einer Videodisk produzierte Arbeit zeigt die Geschichte einer Frau, die beinahe ohne sozialen Kontakt in ihrer Wohnung lebt. Ihr wichtigster Gegenstand ist der Fernsehapparat – ein Vermittler zur Außenwelt und ein Instrument zur Interaktion. Die Betrachter finden sich in der Rolle der Protagonistin wieder. Immer wieder müssen von den Rezipienten der Installation Fortsetzungen der Geschichte von Lorna gefunden werden. Drei Möglichkeiten gibt es, mit denen die Geschichte zum Ende geführt werden kann: Verzweiflung und Tod durch Selbstmord, Aufbruch und Flucht durch Verlassen der Wohnung, oder: ein Schuss auf den Fernseher – die Dispensation des Mediums selbst. Mit der interaktiven Miteinbeziehung der Rezipienten hat Hershman einen Prototyp nicht-linearer Filmerzählung geschaffen, der vor dem Hintergrund der Video- und Computerspiele zu sehen ist. Dabei verwischt Hershman die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz, indem sie den Ausstellungsbesucher/-innen am Anfang des ersten Kapitels zu ihrer Teilnahme an dem weltweit ersten interaktiven Video-Kunst-Spiel gratuliert. Ähnlich wie bei Computer Games kann die »Struktur nach und nach entdeckt, die ›Fallen‹ umgangen und so die Taktik erkannt werden, die zu einer Befreiung der Protagonistin führt.«12 Obwohl der voyeuristische Rezipient zwar »aktiv« handelt, bleibt sein Handlungsspielraum doch gleichermaßen durch die Vorgaben der Hard- und Software der Videodisk begrenzt. In seinem Aufsatz »Der heilige Cyborg« kritisiert der englische Soziologe Richard Barbrook den hegemonialen Diskurs von »Künstlichem Leben« und »Künstlicher Intelligenz«. Dabei thematisiert der Autor die strategischen Interessen dieser Rhetorik: Nämlich die marktwirtschaftliche Kolonisierung des Cyberspace, die sich einerseits mit der Aufwertung von partizipatorischen Selbsttechnologien dekoriert, um andererseits den damit einhergehenden Abbau sozialstaatlicher Regulierung und menschenrechtlicher Grundsätze zu entschuldigen. Barbrook positioniert den Begriff des Cyborg im Kontext transhumanistischer Programmatik.13 Diese strebt die

11 | Zu näheren Erörterungen siehe: Lynn Hershman-Leeson (Hg.), Clicking In: Hot Links to a Digital Culture, Seattle 1996. 12 | Nicoletta Torcelli: Video Kunst Zeit. Von Acconci bis Viola, Weimar 1996, S. 300-301. 13 | Vgl. seinen Beitrag in diesem Kapitel. In der »Transhumanistischen Deklaration« (2002) der »World Transhumanist Association« wird verkündet: »Die Menschheit wird sich zukünftig durch Technologie radikal verändern. Wir sehen voraus, dass es machbar sein wird, die menschliche Verfassung neu zu definieren; das schließt Parameter wie die Unvermeidbarkeit der Alterung, die Limitierungen des menschlichen und künstlichen Intellekts, ungewollte Psyche, Leiden und unsere Gebundenheit an den Planeten Erde ein«, vgl. »The Transhumanist Declaration«,

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Einleitung | 465 Verbesserung des menschlichen Zustandes durch technologische Methoden an. Der medienkritische Ansatz von Barbrook, den Cyborg als Chiffre für den digitalen Übermenschen zu interpretieren, argumentiert nicht nur für eine polemische Distanz gegenüber den politischen Euphemismen der Biotechnologie, sondern argumentiert darüber hinaus für einen intellektuellen Skeptizismus gegenüber der universellen Anthropologisierung technologischer Artefakte wie den Cyborg. In ihrem Text »Avatars im World Wide Web. Die Vermarktung der ›Herabkunft‹« (1997) untersucht Victoria Vesna Identitätskonstruktionen im Cyberspace. Für digitale Stellvertreter des Users, welchen man in Computerspielen häufig begegnet, hat sich in den 80erJahren die Bezeichnung »Avatar« behaupten können.14 Im Kontext von Multi-User-Umgebungen bedeutet »Avatar« die Identität, die ein Online-Selbst im Cyberspace angenommen hat. Zunächst gibt Vesna einen Überblick über die etymologischen und begriffsgeschichtlichen Definitionen des Avatars und zeigt in diesem Zusammenhang die theologischen Implikationen auf, die auch heute im Image-Design der Softwareindustrie eingesetzt werden. Anhand von unterschiedlichen Beispielen aus der Populärkultur differenziert Vesna Kategorien und Typologien des Avatars, die sie vor dem Hintergrund detaillierter Recherchen im Bereich industrieller Anwendung und kommerzieller Nutzung problematisiert. Vesna untersucht Avatars hinsichtlich ihrer Eigenschaft als semiotische Objekte.15 Als Zeichenträger sind die Avatars inszenatorisch aufgeladen. Im Kontext von Netzidentitäten ermöglichen sie ästhetische Erfahrungen, sich in Experimenten der Selbst-, Fremd- und Weltwahrnehmung als ein Anderer zu inszenieren (Fake-Identities). Dabei kann sich das Subjekt auch aus der Außenperspektive als virtueller Akteur beobachten und sich selbst als sein eigener Beobachter erfahren.16 Mit dieser Differenzierung der persona (Maske, Rolle, Schauspieler) des Users etablieren sich neue digitale Kommunikationsformen. Diesen neuen Formen virtuellen Handelns spürt der Aufsatz von Sherry Turkle »Ich bin Wir?« (2001) nach. Die Sozialwissenschafterin und Anthropologin Turkle untersucht die Transformation unseres Selbstverständnisses vermittels computerbasierter Technologie und Ästhetik. Echtzeitvideoverbindungen und virtuelle Konferenzräume, MUDs, die Multi User Domains, und IRC, der Internet Related Chat, modifizieren die Techniken der Subjektivierung: Es multiplizieren sich Lebens-

vgl. http://www.transhumanism.org/index.php/WTA/declaration/, zuletzt gelesen am 2. Februar 2006. 14 | Vgl. die einführende Überblicksdarstellung zum Thema von Christiane Paul: »Artificial Intelligence and Intelligent Agents and Telepresence, Telematics, Telerobotics«, in: Dies., Digital Art, London 2003, S. 146-164. 15 | Vgl. ihren Beitrag in diesem Kapitel. 16 | Vgl. zu Avatars als optischer Erzählinstanz im Computerspiel den Beitrag von Sue Morris im Kapitel »Inter-Acting: Games, Spieltheorie, Game-Culture».

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466 | Cyborgs – Avatars – Fake-Identities entwürfe in der Summe aufgeteilter Präsenzen (Windows). Dabei ersetzt die Simulation der Wirklichkeit (MUDs, IRC) das RL (Real-Life). Turkle liefert damit eine schlüssige Erklärung für den Triumph von grafischen Interfaces und des WWW (grafische Browser wie Mosaic, Netscape & Co). Ihr großer Verdienst ist es hier, Techniken nicht selbstreferentiell durch technisches Know-how zu erklären, sondern übergreifend von medialen Kulturtechniken auszugehen, indem sie die betreffenden Techniken mit den – historische Zäsuren setzenden – Diskursen wie Moderne und Postmoderne in eine Interrelation setzt.17 Der Computer wird damit zu einem Diagnoseinstrument, vermittels dessen sich subjektive Lebensentwürfe ablesen lassen. Das Selbst als allgemeiner Platzhalter erfährt sich ihrer Ansicht nach als dezentriert und spielt nicht mehr nur verschiedene Rollen in verschiedenen Kontexten zu verschiedenen Zeitpunkten, sondern existiert in vielen Welten und spielt zahlreiche Rollen gleichzeitig. Mit der Hervorhebung der kulturellen Bedeutung des Computers argumentiert Turkle für eine Kultur der Simulation, welche als Indikator eines neuen Verfahrens der Subjektivierung verstanden wird. Demzufolge verständigen sich neben instrumentell-strategischen und kommunikationsorientierten Handlungsnormen virtuelle Gemeinschaften vor allem über das spielerische Handeln als eine spezifische Dimension des Cyberspace. Indem das Spielerische als dritte Kategorie von Handlung und die ihr eigene Normativität sich als Modell der im Netz ausgebildeten Kommunikation und ihrer Regeln verstehen lässt, wird die digitale Ausweitung von Inszenierungsmöglichkeiten Teil eines multiplen Selbst, mit dem sich das alltägliche Handeln in einem »Als-ob« stilisiert.

17 | Vgl. die soziologische Studie zum Thema der Identitätskonstruktionen und -erfahrungen von User/-innen: Sherry Turkle: Leben im Netz (im Original: Life on the Screen, 1998), Reinbek 1999. Im Rahmen dieser Analyse hat Turkle über 1000 Stammkund/-innen von Chatrooms und MUDs, darunter 300 Kinder und Jugendliche, beobachtet und befragt; vgl. auch ihren Beitrag in diesem Kapitel.

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Der Cyborg und der Weltraum (1960) | 467

Der Cyborg und der Weltraum (1960) Manfred E. Clynes, Nathan S. Kline

Um den Anforderungen einer außerirdischen Umwelt zu begegnen, macht es mehr Sinn, die menschlichen Körperfunktionen zu verändern, als eine irdische Umwelt im Weltraum zu erzeugen. Eine Möglichkeit, den menschlichen Körper an die Erfordernisse der bemannten Raumfahrt anzupassen, sind Systeme künstlicher Organismen, welche die unbewussten Selbstregulationsprozesse des Menschen erweitern. Die Aufgabe, den menschlichen Körper jedweder ausgewählten Umwelt anzupassen, wird durch zunehmendes Wissen über homöostatische Prozesse, deren kybernetische Aspekte wir gerade erst zu verstehen und zu untersuchen begonnen haben, einfacher werden. In der Vergangenheit hat die Evolution die Veränderung körperlicher Funktionen zur Anpassung an verschiedene Umgebungen mit sich gebracht. Von nun an wird es möglich sein, dies zu einem gewissen Grad ohne Veränderung der Erbanlagen, durch geeignete biochemische, physiologische und elektronische Modifikationen des bestehenden menschlichen Modus Vivendi zu erreichen. Homöostatische Mechanismen, wie man sie bei Organismen findet, werden so konstruiert, dass sie stabile Wirkungsweisen in der jeweiligen Umgebung des Organismus ermöglichen. Drei Beispiele für erfolgreiche, durch biologische Mechanismen gegebene Lösungen des Problems von Körperumgebung in Bezug auf Temperaturbedingungen sind der Mensch, Tiere, die Winterschlaf halten, und poikilothermische Fische (Organismen, deren Blut die Temperatur der Umgebung annimmt). In der Biologie sind unterschiedliche Lösungen für ein weiteres Problem entwickelt worden – das Problem der Atmung. Säugetiere, Fische, Insekten und Pflanzen haben jeweils verschiedene Adaptionen entwickelt, denen zwar spezifische Beschränkungen innewohnen, die jedoch ihrem jeweiligen Handlungsraum entsprechen. Wenn ein Organismus außerhalb dieses Raumes leben wollte, stellte dies bisher ein scheinbar »unüberwindbares« Problem dar. Ist dieses Problem denn wirklich unüberwindbar? Wenn ein Fisch an Land leben wollte, könnte er es nicht einfach so tun. Wenn sich jedoch ein besonders intelligenter und einfallsreicher Fisch fände, der sich ausführ-

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468 | Manfred E. Clynes, Nathan S. Kline lich mit Biochemie und Physiologie beschäftigt hätte, und noch dazu ein Meister der Technik und Kybernetik wäre, und ihm darüber hinaus ein sehr gut ausgestattetes Labor zur Verfügung stünde, dann wäre es durchaus denkbar, dass dieser Fisch ein Instrument entwickeln könnte, welches ihm erlauben würde, an Land zu leben und Luft zu atmen. Es wird so auch immer deutlicher, dass wir in nicht allzu weit entfernter Zukunft genug Wissen zur Verfügung haben werden, um Steuerungssysteme zu entwickeln, die maßgeblich dazu beitragen werden, dass wir mit unseren Körpern nicht weniger schwierige Dinge tun können. Die Umgebung, mit der sich der Mensch derzeit beschäftigt, ist der Weltraum. Welches sind – aus biologischer Sicht – die notwendigen Veränderungen, damit der Mensch im Weltraum leben kann? Künstlich geschaffene Atmosphären in einem abgeschlossenen Raum sind lediglich Ausweichmanöver, um Zeit zu gewinnen, und zwar gefährliche Ausweichmanöver, da wir uns so in die gleiche Situation bringen wie ein Fisch, der eine kleine Menge Wasser zum Leben an Land mitbringt. Wir werden also allzu schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen. Mit der Raumfahrt gehen zahlreiche und vielfältige biologische Probleme einher. Langzeit-Weltraumfahrten, die nicht Tage, Monate oder Jahre, sondern vielleicht sogar mehrere tausend Jahre andauern, werden eines Tages Realität werden, und die resultierenden physiologischen und psychologischen Bedingungen müssen in Betracht gezogen werden. Widmen wir uns also der letzteren Problematik. In einigen Fällen haben wir Lösungen vorgeschlagen, die wahrscheinlich mit derzeit verfügbarem Wissen und Technologien umgesetzt werden könnten. Andere Lösungen sind Ideen für die Zukunft, die bereits Züge einer künftigen Science-Fiction annehmen. Um dies zu veranschaulichen: Möglicherweise gibt es viel effizientere Wege, die Funktionen des Atmungsapparates auszuführen, als das Atmen, das bekanntlich im Weltraum beschwerlich ist. Ein Lösungsvorschlag für die nicht allzu weit entfernte Zukunft ist relativ einfach: Nicht atmen! Wenn der Mensch eine teilweise Anpassung an die Bedingungen im Weltraum versucht, statt darauf zu bestehen, seine eigene Lebensumwelt mitzunehmen, entstehen eine Reihe neuer Lösungsmöglichkeiten. So beginnt man zu überlegen, ob sich durch die Integration wesentlicher, exogener Geräte eine Veränderung menschlicher homöostatischer Mechanismen herbeiführen ließe und es dem Menschen so möglich würde, qua natura im Weltraum zu leben. Das autonome Nervensystem und die endokrinen Drüsen wirken im Menschen zusammen, um die verschiedenen Balancen aufrechtzuerhalten, die für sein Überleben notwendig sind. Dies geschieht ohne bewusste Steuerung, obwohl das Nervensystem und die Drüsen entsprechend beeinflusst werden könnten. Unter extraterrestrischen Bedingungen wäre es notwendig, diese automatischen Reaktionen mit Hilfe der Steuerungstechnik und des weitreichenden Wissens über physiologische Prozesse, entsprechend anzupassen.

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Der Cyborg und der Weltraum (1960) | 469

Der Cyborg gibt dem Menschen Freiheit beim Forschen Welche Geräte sind notwendig, um sich selbstregulierende Mensch-Maschinen-Systeme zu erschaffen? Diese Selbstregulierung muss ohne die Unterstützung des Bewusstseins funktionieren, um mit den körpereigenen, autonomen homöostatischen Steuerungsmechanismen kooperieren zu können. Für den exogen erweiterten organisatorischen Komplex, der unbewusst als integriertes homöostatisches System funktioniert, schlagen wir den Begriff »Cyborg« vor. »Cyborg« schließt bewusst exogene Komponenten ein, die die selbst-regulierenden Steuerungsfunktionen des Organismus erweitern, um ihn so an neue Umgebungen anzupassen. Wenn der Mensch im Weltraum nicht nur sein Fahrzeug steuern muss, sondern ständig Dinge überwachen und neu einstellen muss, um sich selbst am Leben zu halten, wird er zum Sklaven der Maschine. Der Sinn und Zweck des Cyborgs, und seines eigenen homöostatischen Systems, ist es, ein Organisationssystem zur Verfügung zu stellen, mit dem derartig roboterhafte, technische Probleme automatisch und unbewusst geregelt werden, sodass dem Menschen die Freiheit gegeben wird zu forschen, schöpferisch tätig zu sein, zu denken und zu fühlen. Ein bereits existierendes Instrument, das bei Überlegungen zur Konstruktion von Cyborgs hilfreich sein kann, ist die geniale, von S. Rose entwickelte, osmotische Druckpumpe zur gleichmäßigen, langsamen Injektion biochemischer Substanzen in biologischen Abständen. Die in eine Kapsel eingeschlossene Druckpumpe wird in den Organismus eingepflanzt und erlaubt die Verabreichung eines bestimmten Medikaments direkt an einem bestimmten Organ, in beliebigen, gleichmäßigen Dosen, ohne dass sich der Organismus darüber bewusst ist oder darum kümmern müsste. Es gibt bereits jetzt Kapseln, die so geringe Mengen wie 0,01 ml/Tag über einen Zeitraum von 200 Tagen abgeben, und es gibt keinen Grund, warum dieser Zeitraum nicht deutlich verlängert werden könnte. Die Apparatur ist schon an Kaninchen und Ratten getestet worden, und bei Menschen im Rahmen der gleichmäßigen Anwendung der Heparin-Injektion benutzt worden. Bei der Einpflanzung der Einspritzpumpe in die Körper von Tieren sind keine unangenehmen, allgemeinen Auswirkungen auf die Gesundheit festgestellt worden. Bereits vor 5 Jahren wurde eine Einspritzpumpe von 7 cm Länge und 1,4 cm Durchmesser, deren Gewicht 15 mg betrug, Ratten mit einem Gewicht von 150-250 g erfolgreich unter die Haut gesetzt. Die Kombination einer osmotischen Druckpumpe mit anderen Mechanismen zur Sinnessteuerung kann, zusätzlich zu körpereigenen Steuerungsmechanismen, der kontinuierlichen Regelung dienen, was eine Anpassung an die erwünschten Leistungsmerkmale, unter verschiedenen Umweltbedingungen, möglich macht. Würde man entsprechende Merkmale festlegen, wäre ein solches System bereits heute mit einer Verabreichung von bestimmten Medikamenten möglich. Zum Beispiel könnte so der systolische Blutdruck gemessen und mit

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470 | Manfred E. Clynes, Nathan S. Kline einem Referenzwert, der auf den vorhandenen Bedingungen im Weltraum basiert, verglichen werden. Auf Grundlage der Unterschiede zwischen gemessenem Wert und dem Referenzwert könnte dann die Vergabe eines adrenergischen oder gefäßerweiternden Medikaments gesteuert werden. Natürlich setzt ein solches System voraus, dass wir wissen, welches der ideale Blutdruck für unterschiedliche Bedingungen im Weltraum ist. Obwohl es sehr schwierig ist, die Grenzen der »natürlichen«, physiologischen und psychologischen Leistungsfähigkeit des Menschen für jedes Individuum gleichermaßen zu erweitern, sehen wir die Fähigkeiten, wie sie bei den Techniken von Yoga oder Hypnose zum Einsatz kommen, als Chance. Die Vorstellungskraft wird durch Steuerung der Muskeln, wie sie selbst ein Anfänger des Yoga beherrscht, ausgedehnt, und Hypnose wird sich vielleicht per se einen festen Platz in der Raumfahrt sichern, auch wenn es noch viel zu lernen gibt über die Phänomene der Dissoziation, über die generelle Anwendung von Instruktionen und über die Problematik des Verzichts auf Selbststeuerung. Wir arbeiten gerade an einem neuen Präparat, das vielleicht die Möglichkeiten der angewandten Hypnose in der Weltraumfahrt sehr verbessern wird, sodass Ansätze der Pharmakologie und der Hypnose kombiniert und verbunden werden könnten.

Psycho-Physiologische Schwierigkeiten Richten wir unsere Aufmerksamkeit nun auf einige der speziellen physiologischen und psychologischen Schwierigkeiten, die die Raumfahrt mit sich bringt, und schauen wir, wie die Dynamiken des Cyborgs zu einem besseren Verständnis und einer besseren Nutzung natürlicher menschlicher Fähigkeiten führen könnten. Schlaflosigkeit: Bei Flügen von relativ kurzer oder moderater Dauer – etwa einige Wochen oder Monate – wäre es wünschenswert, den Astronauten durchgehend wach und bei voller Aufmerksamkeit zu halten. Die Erweiterung der normalen Körperfunktionen durch die Verabreichung von Antidepressiva, zusammen mit weiteren Medikamenten, ist bereits heute Realität. Bei Flügen, die einen oder zwei Monate dauern, bräuchte ein Mensch unter normalen Umweltbedingungen und mit der Einnahme solcher Medikamente nur einige wenige Stunden Schlaf am Tag. Versuche zeigen, dass die Effizienz unter den angegebenen Systembedingungen nicht sinkt, sondern steigt. Daher spricht unseres Erachtens nichts gegen eine Einnahme von entsprechenden Medikamenten über einen längeren Zeitraum. Auswirkung radioaktiver Strahlung: Ein Untersystem des Cyborgs würde einen Sensor zur Feststellung von Strahlungswerten beinhalten sowie eine veränderte Form der osmotischen Pumpe von Rose, mit der automatisch entsprechende Dosierungen schützender Medikamente injiziert wür-

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Der Cyborg und der Weltraum (1960) | 471 den. Experimente der AF School of Aviation Medicine zeigen bereits eine Erhöhung der Strahlungsresistenz bei Affen als Resultat der kombinierten Gabe von Aminoethylisotioronium und Cysteinen. Stoffwechselprobleme und hypothermische Kontrollen: Im Falle von lang andauernden Raumfahrten stellt die geschätzte Menge an notwendiger Energiezufuhr von 10 lb pro Tag – 2 lb Sauerstoff, 4 lb Flüssigkeit und 4 lb Nahrung– ein großes Problem dar. Bei einem Flug von einem Jahr oder länger gäbe es, unter der Voraussetzung, dass die Raumfähre zuverlässig funktioniert, kaum einen Grund, dass der Astronaut über einen längeren Zeitraum wach sein müsste, außer bei einem Notfall. Hypothermie (Reduzierung der Köpertemperatur) schiene ein wünschenswerter Zustand bei solch langen Reisen, um den Stoffwechsel und damit auch den menschlichen Nahrungsverbrauch zu reduzieren. Der Einsatz von externer Kühlung, die Reduzierung der Bluttemperatur im arterio-venösen Gefäßsystem und künstlicher »Winterschlaf« (durch Steuerung der Funktion der Hirnanhangdrüse), einzeln oder auch in Kombination mit Medikamenten, scheinen Möglichkeiten zu bieten, einen solchen Zustand herbeizuführen und aufrechtzuerhalten. Eine Steuerung der Temperatur durch Einflussnahme auf das Temperaturregulierungszentrum im Gehirn wäre wünschenswerter als eine Veränderung der Referenzwerte. Sauerstoffzufuhr und Kohlendioxidentsorgung: Atmen im Weltraum ist ein Problem, da die Umgebung nicht die notwendige Menge an Sauerstoff liefern kann, und es mit der Atmung zur Eliminierung notwendiger Kohlendioxide sowie zu Hitze- und Wasserverlusten kommt. Eine umgekehrte Brennstoffzelle, die CO2 auf seine Bestandteile reduziert, die Kohle entsorgt und den Sauerstoff rückführt, würde Lungenatmung überflüssig machen. Ein solches System, entweder durch Solar- oder Atomenergie betrieben, würde die Lunge ersetzen und Atmung, wie wir sie kennen, überflüssig machen. Konventionelle Atmung wäre, wenn es die Umgebung erlaubt, immer noch möglich – das Betreiben der Brennstoffzelle würde dann entsprechend ausgesetzt. Flüssigkeitsaufnahme und -abgabe: Eine Balance des Flüssigkeitshaushaltes eines Astronauten könnte weitgehend aufrecht erhalten werden durch das Einrichten von Hämodialysezugängen. Diese müssten von den Harnleitern ausgehend verlegt werden – dabei müssten allerdings toxische Substanzen entfernt werden. Mit der Sterilisierung des Magendarmtraktes, die eine intravenöse oder direkte intragastrische Nahrungsaufnahme ermöglicht, könnte die Fäkalabgabe auf ein Minimum reduzieren werden, und diese könnte vielleicht sogar weiterverwertet werden. Enzymsysteme: Unter den Bedingungen einer reduzierten Körpertemperatur würden bestimmte Enzymsysteme aktiver bleiben als andere. Inwiefern pharmazeutische oder chemische Mittel diese Enzymaktivität be-

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472 | Manfred E. Clynes, Nathan S. Kline einflussen könnten, ist bislang kaum systematisch untersucht worden, aber ohne Zweifel werden sie eine wichtige Rolle spielen. Da der Stoffwechsel der Enzymsteuerung unterliegt, gibt es hier einige verlockende Möglichkeiten. Zum Beispiel wäre es vielleicht möglich, durch eine invitro vorgenommene Bestrahlung bestimmte Organismen von aerobischen in anaerobische Zustände zu versetzen und durch Untersuchung der Veränderungen von Enzymsystemen diese möglicherweise der Anwendung auf den Menschen anzupassen. Auf die gleiche Weise könnten andere Arten von Atmosphären untersucht werden. Vestibularfunktionen: Desorientierung und Übelkeit als Folge von gestörten Vestibularfunktionen, verursacht durch die Schwerelosigkeit, könnten durch den Gebrauch von Medikamenten reguliert werden: Entweder durch zeitweise Ableitung endolymphatischer Flüssigkeiten oder, alternativ dazu, durch komplette Befüllung der Nasennebenhöhlen oder durch andere Methoden chemischer Steuerung. Hypnose könnte für die Steuerung der Vestibularfunktionen ebenfalls nützlich sein. Kardiovaskuläre Steuerung: Die Anwendung der Theorie der Steuerungstechnik auf die Biologie hat bereits für die Untersuchung multipler homöostatischer Funktionen des kardiovaskulären Systems derart fruchtbare Ergebnisse geliefert, dass die Möglichkeit der Veränderung dieses Systems durch die Cyborg-Technik denkbar ist. Bereits vorhandene, durch RoseEinspritzpumpen verabreichte Medikamente wie Epinephrin, Reserpin, Digitalis, Amphetamine etc., bieten zahlreiche Möglichkeiten zur Veränderung kardiovaskulärer Funktionen in Anpassung an eine bestimmte Umgebung. Veränderung von spezifischen homöostatischen Referenzpunkten innerhalb und außerhalb des Gehirns sowie elektrische Stimulation, entweder als Mittel der Regulierung des Herzschlags oder zur Beeinflussung ausgewählter Gehirnzentren zur Steuerung kardiovaskulärer Funktionen, sind weitere Möglichkeiten. Erhalt der Muskelfunktionen: Verlängerte Schlafphasen oder eingeschränkte Aktivität haben eine abschwächende Wirkung auf den Muskeltonus. Auch wenn die Reduzierung der Körpertemperatur und des Stoffwechsels die Tragweite des Problems vielleicht abmildern, scheinen Untersuchungen der chemischen Ursachen für Atrophie notwendig, um bei länger andauernden Raumfahrten durch angemessenen, pharmazeutischen Schutz den Erhalt des Muskeltonus zu unterstützen. Wahrnehmungsprobleme: Durch das Fehlen der Atmosphäre verändern sich die gewohnten Bedingungen der visuellen Wahrnehmung. Unser Augenmerk sollte sich darauf richten, ein Mittel verfügbar zu machen, das einige der gewohnten Verzerrungen wiederherstellt, sodass sich ein Astronaut vor dem Start daran gewöhnen könnte. Ein Teil des Problems würde sich aus der Suche nach einem adäquaten Bezugssystem ergeben, und

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Der Cyborg und der Weltraum (1960) | 473 diesbezüglich könnten die Faktoren, die die Autokinese (und die optischen Wahrnehmungen der Bewegung) beeinflussen, auch einen Einfluss auf die Wahrnehmungsproblematiken im Weltraum haben. Druck: In einer Umgebung mit einem Luftdruck unter 60 mm Hg beginnt das Blut des Menschen bei normaler Körpertemperatur zu kochen. Deshalb muss, wenn sich der Mensch außerhalb des Raumfahrzeugs ohne Druckausgleichsanzug bewegt, ein Weg gefunden werden, seine normale Temperatur so zu verringern, dass der Druck beim Verdunsten der Körperflüssigkeiten nicht größer ist als der Druck im Gewebeinneren. Das ist ein weiterer Grund, weshalb die Herabsetzung der Körpertemperatur notwendig ist, um den Gebrauch eines bewegungseinschränkenden Druckausgleichsanzugs zu vermeiden. Variationen der Außentemperatur: Selbst wenn der Mensch bei extremen Temperaturen den Schutz eines Raumfahrzeugs oder einer Raumstation brauchen wird, ist es wahrscheinlich, dass es auch moderate Temperaturbedingungen gibt, die innerhalb oder nahe der Grenzen dessen liegen, was der menschliche Körper tolerieren kann. Durch Steuerung der Reflexion und Strahlenabsorbierung durch schützende Kunststoffkleidung und bereits existierende Chemikalien, die Veränderungen der Pigmentierung herbeiführen und wirksamen Schutz gegen aktinische Strahlen bieten, sollte es möglich sein, die gewünschte Körpertemperatur beizubehalten. Notwendig wäre ein lichtempfindliches, chemisch-reguliertes System, dass sich so an die eigenen Gegebenheiten der Lichtreflexion anpassen könnte, dass die gewünschte Temperatur aufrechterhalten würde. Schwerkraft: Eine Veränderung des Verhältnisses von Schwerkraft und Kraft der Trägheit zu molekularen Kräften wird u.a. Beweglichkeitsmuster verändern. Steuerung der Körpertemperatur und andere medikamentöse Anwendungen könnten möglicherweise zu einer Verbesserung der Bewegungsfunktionen unter den Bedingungen größerer oder geringerer Schwerkraft (im Vergleich zur Schwerkraft auf der Erdoberfläche) führen. Magnetfelder: Chemikalien und Veränderungen der Temperatur könnten möglicherweise die spezifische Wirkung magnetischer Felder verzögern oder abschwächen. Sensorische Unveränderlichkeit und mangelnde Handlungsmöglichkeiten: Nicht der eigentliche Mangel an sensorischen Reizen, sondern die Eintönigkeit oder die Unveränderlichkeit sensorischer Reize ist das Schreckgespenst des Astronauten. Die meisten bisher durchgeführten Experimente zum Mangel an sensorischen Reizen haben gezeigt, dass es die Unveränderlichkeit des sensorischen Inputs ist, die Unwohlsein verursacht und unter extremen Bedingungen zu psychoseähnlichen Zuständen geführt hat. Von noch größerer Bedeutung ist vielleicht die Tatsache, dass es an

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474 | Manfred E. Clynes, Nathan S. Kline Handlungsmöglichkeiten mangelt bzw. diese unveränderlich und begrenzt sind. In vielen Experimenten haben Probanden »Lust auf Handlung« geäußert. Eine Intervention, die Situationen so strukturiert, dass Handlungen ein bedeutsames sensorisches Feedback bieten, könnte diese Schwierigkeiten verringern. Wiederum könnten Medikamente bei der Reduzierung resultierender Spannungen eine nützliche Rolle spielen. Handlungen, bei denen Unklarheit darüber besteht, ob sie sinnvoll sind, oder sensorische Reize, die keine Möglichkeiten zu angemessenen Reaktionen bieten, werden als sehr verunsichernd erfahren. Psychosen: Auch bei größtmöglicher Vorsicht lässt sich kaum die Möglichkeit ausschließen, dass irgendwann während einer langen Weltraumreise eine psychotische Episode stattfinden wird, und dies ist ein Umstand für den bislang kein Steuerungsmechanismus vollständig entwickelt werden konnte. Auch wenn eine osmotische Notfallpumpe, die hochpotentes Phenothiazin kombiniert mit Reserpin enthält, als Teil der Ausstattung eines jeden Astronauten bereitgestellt werden könnte, kommt es bei Menschen in psychotischen Zuständen häufig zu einer Weigerung, die eigenen Gedankenprozesse, Emotionen oder das eigene Verhalten als abnormal zu sehen, was bedeuten würde, dass derjenige die Einnahme von Medikamenten möglicherweise verweigert. Aus diesem Grund bedarf es bei angemessener Überwachung einer Vorkehrung, mit der die Medikamente von der Erde aus oder, bei Anwesenheit einer Crew an Bord, von einem Begleiter verabreicht werden können. Limbo: Es sollte auch die Eventualität möglicherweise auftretender extremer Schmerzen oder Leiden, als Folge von unvorhergesehenen Unfällen, in Betracht gezogen werden. Der Astronaut sollte daher die Möglichkeit haben, sich für den Zustand der Bewusstlosigkeit entscheiden zu können, falls es ihm notwendig erscheint. Verlängerter Schlaf durch medikamentöse oder elektronische Behandlung erscheint hier am sinnvollsten. Weitere Probleme: Selbstverständlich gibt es eine ebenso große Zahl medizinischer Probleme, denen durch pharmakologische Einflussnahme begegnet werden kann, die hier aus Platzgründen nicht diskutiert wurden. Dazu gehören Zustände wie Übelkeit, Schwindel, Stuhlgangsstörungen erotische Bedürfnisse, Vibrationstoleranz etc. Die erwähnten Probleme zeigen jedoch, was der Cyborg im Zusammenhang mit Raumfahrt bedeuten kann. Auch wenn einige der vorgeschlagenen Lösungen unrealistisch erscheinen mögen, sollte darauf hingewiesen sein, dass in der sowjetischen Fachliteratur Hinweise auf einschlägige Forschung in vielen dieser Teilbereiche zu finden sind. So finden sich bei den Russen beispielsweise Vorschläge zur Sauerstoffsättigung vor Abflug, nämlich als Lösung des Problems der Atmung während der ersten Minuten nach Start der Raumfähre; Berichte über die Veränderung der Vestibu-

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Der Cyborg und der Weltraum (1960) | 475 larfunktionen, sowohl durch Medikamente als auch durch Operationen; Untersuchungen zur Wahrnehmungspsychologie und zum Sehvermögen unter den Bedingungen des Weltraums; Erkenntnisse, welche die Herabsetzung von Köpertemperatur thematisieren, die dazu beitragen kann, Druckausgleichsprobleme zu lösen etc. Die Lösung der vielen technologischen Probleme in der bemannten Raumfahrt durch Anpassung des Menschen an die Umgebung, statt umgekehrt, wird nicht nur ein großer wissenschaftlicher Fortschritt sein, sondern möglicherweise auch eine neue und erweiterte Dimension für den menschlichen Geist bedeuten. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Susanna Noack

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Die Fantasie außer Kontrolle (1990) Lynn Hershman

Vielleicht war es nur die Nostalgie, die mich dazu gebracht hat, eine interaktive Video-Fantasie zu suchen; ein Verlangen nach Kontrolle, Steuerung, Lebensnähe und nach direkter Aktion. Zweifellos war mein Wunsch, die Leere anzufüllen, akut. Dieser totale, kumulative und chronische Zustand ist vermutlich ein Nebeneffekt (oder für Videokünstler ein Berufsrisiko) von zu vielem Fernsehen. Fernsehen ist von Natur aus ein fragmentarisches und inkomplettes Medium, distanziert und unbefriedigend, wie platonischer Sex. So ist eine der Vorbedingungen des Video-Dialogs, dass er nicht antwortet. Er existiert nur als bewegtes statisches Element, als einseitiger Diskurs, der – wie ein Trickspiegel – absorbiert, statt zu reflektieren. Mein Weg zu interaktiven Arbeiten begann unter der Tarnkappe der Performance. 1971 wurde eine zweite Identität als »Roberta Breitmore« geschaffen, die eine atmende, simulierte Person war und zuerst von mir, später von einer Serie von »Multipla« gespielt wurde. »Roberta« existierte im wirklichen Leben und in der wirklichen Zeit. Während des Jahrzehnts ihrer Aktivität wurde sie in viele Abenteuer verstrickt: Jedes davon war eine symbolische Reflexion der Gesellschaft, deren Teil sie war. Als Beispiel sei angeführt, dass sie ein Bankscheckkonto eröffnete und den Führerschein beantragte. Sie besuchte wöchentlich den Psychiater und hielt ihre »gefälschte Geschichte« ebenso aufrecht wie ihre vorgegebene Sprache, Gestik, Stimm-Modulation und Körperhaltung. Ihre echte Identität, der Beweis ihrer realen Existenz, wurde vom Bankkonto und von den Berichten des Psychiaters erbracht. Indem sie Artefakte der Kultur ansammelte und direkt mit dem Leben interagierte, wurde »Roberta« ein Zweiweg-Spiegel, der kulturelle Verzerrungen so reflektierte, wie sie erlebt wurden. »Roberta« war stets das Ziel einer Kontrolle, gesehen durch eine zeitliche Distanz. Ihre manipulierte Realität, die Beugung der Zeit, wurde Modell für ein privates System interaktiver Performances. Die Entscheidungen fielen zufällig und wurden nur sehr schwach überprüft. Anstatt auf Platte oder Hardware wurden ihre Akten in Fotos und Texten abgespeichert, die ohne vorgegebene Sequenzen betrachtet werden konnten. Dies erlaubte Betrach-

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Die Fantasie außer Kontrolle (1990) | 477 tern, Voyeure in der Geschichte zu werden.1 Ihre Interpretationen variieren je nach der Perspektive und Ordnung der Segmente. Zwei Jahre nach der »Roberta«-Transformation2, wurde »Lorna«, die erste interaktive Videoplatte, fertiggestellt. Anders als Roberta, deren Abenteuer direkt in der Umwelt stattfanden, war »Lorna« eine im mittleren Alter befindliche, unter Platzangst leidende Person, die sich fürchtete, ihre winzige Wohnung zu verlassen. Die Prämisse war, je mehr sie zu Hause blieb und fernsah, umso ängstlicher wurde sie – primär deshalb, weil sie die erschreckenden Meldungen von Nachrichten- und Werbesendungen übernahm. Weil sie ihr Heim nie verließ, bekamen die Objekte darin eine große Bedeutung. Sie wurden für sie, was Mont St. Victoire für Paul Cézanne war. Auf der Platte »Lorna« ist jedes Objekt nummeriert und verzweigt sich in Kapitel, die wiederum in das bewegte Videobild eindringen, das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von »Lorna« darstellt. Die Zuseher/Mitwirkenden können die einzelnen Segmente per Fernsteuerung ansprechen. In der Geschichte tauchen dann viele Elemente ferngesteuert auf. Dies leitet einerseits die Handlung, verbindet aber auch den Betrachter mit seinem Referenzpunkt. Obwohl nur 17 Minuten bewegter Bilder auf der Platte sind, gibt es 36 kurze Kapitel zur Auswahl, die zufällig oder geordnet auftreten können, die ein undefiniertes Gefühl von Ordnung, Zusammenhang und Zeit hervorrufen. Drei verschiedene Sequenzen am Schluss der Narration verzweigen sich aus Variationen der Handlung und umfassen das Gefangensein in wiederholten Traumsequenzen, unter Verwendung von mehreren Soundtracks, vor- und rückwärtslaufenden Bildern in Zeitraffer oder Zeitlupe. Diese Verzerrung der Perspektiven erinnert mich an eine Art elektronischen Kubismus, bei dem dasselbe Ding gleichzeitig von verschiedenen Seiten betrachtet werden kann. Es gibt keine Hierarchie in der Ordnung der Entscheidungen, sie folgen der Lust und Laune des Betrachters. Natürlich sind solche Anwendungen des Zufalls und der Unordnung nichts Neues, sie wurden z.B. von Stephane Mallarmé, John Cage und Marcel Duchamp (besonders in seiner Musik) erforscht. Ihre richtungweisenden Ideen bei zufälligen Operationen fanden gut fünfzig Jahre vor dem Einsatz jener Technologie statt, die ihre Konzepte erst so richtig zur Entfaltung gebracht hätte. »Lorna« wird im wahrsten Sinne des Wortes von ihrer Medien-Landschaft eingefangen. Ihre Passivität (die wahrscheinlich durch die ständige Kontrolle durch die Medien hervorgerufen wird) ist ein Kontrapunkt zum direkten Eingriff des Spielers. In dem Maße, in dem der sich verzweigende Pfad abgebaut wird, erkennt der Spieler mehr und mehr die subtilen und doch machtvollen Angstmechanismen, die von den Medien ausgelöst

1 | »Roberta« wurde während der Arbeit an ihr nie ausgestellt. Sie wurde erst sichtbar, als sie Geschichte war. 2 | »Roberta« wurde 1978 bei der Krypta der Lucrezia Borgia in Ferrara (Italien) exorziert. Ihr Opfer-Zustand wurde zur Emanzipation umgewandelt.

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478 | Lynn Hershman werden, und wird gleichzeitig durch diese Erfahrung aktiviert und gestärkt. Als Spiel war »Lorna« dazu gedacht, Übergänge zwischen den Betrachtern/Spielern in ein umgekehrtes Labyrinth ihrer selbst zu schaffen, mit anderen Worten, sie werden gezwungen, Entscheidungen in dem Augenblick zu analysieren und zu hinterfragen, in dem sie getroffen werden. Trotz einiger Theorien, die das Gegenteil aufrechterhalten,3 ist die dominierende Annahme, dass das Schaffen von Kunst aktiv, das reine Betrachten hingegen passiv sei. Radikale Veränderungen in der Kommunikationstechnologie, wie die Verbindung von Bild, Klang, Text und Computern haben diese Ansicht allerdings in Frage gestellt. Betrachter/Spieler von »Lorna« berichten, sie hätten den Eindruck gehabt, Macht zu erhalten, weil sie die Möglichkeit bekamen, »Lornas« Leben zu manipulieren. Anstatt automatisch gesteuert zu sein, lag die Entscheidung im wahrsten Sinne des Wortes in ihrer Hand. Sie beobachteten nicht einfach eine Erzählung mit einer von einem unsichtbaren Allwissenden vorgegebenen Struktur. Die Umkehrung der Beziehung zwischen der Medienstruktur und dem Individuum hat viele Implikationen. Die Berieselung mit übertragener, vorstrukturierter und vorgeschnittener Information, welche die Medienkonsumenten umgibt (und manche sagen sogar, entfremdet), wird weggewischt, abgeleitet, aufgesaugt durch einen Input vom Betrachter. Jede Veränderung der Grundlagen des Informationsaustausches ist insofern subversiv, als sie die Mitwirkung verstärkt und somit eine völlig andere Dynamik bei den Betrachtern erzeugt. »The Electronic Diary«, das »Elektronische Tagebuch«, eine Serie von aufgezeichneten konfessionellen Performances, war als Gegenmaßnahme und Umkehr der Medienmethoden gedacht. Durch überwiegende Einzelpersonen-Nahaufnahmen wurde versucht, das Gefühl der Nähe zum Betrachter herzustellen und dabei Dinge zu diskutieren, die normalerweise unausgesprochen bleiben, und auf diese Weise die Zuseher in ein Gespräch einzubeziehen. Interaktive Systeme brauchen reagierende Zuseher. Deren Auswahl wird durch ein Keyboard, eine Maus oder einen Touch-Screen erleichtert. Mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung werden weitere Permutationen möglich sein, nicht nur zwischen dem Betrachter und dem System, sondern auch zwischen einzelnen Elementen des Systems selbst. Manche Leute fühlen, dass Computersysteme irgendwann die Persönlichkeitsverzerrungen und -abweichungen der Benutzer widerspiegeln werden.4 Dennoch scheinen diese Systeme nur zu antworten. Dass sie lebendig oder unabhängig seien, ist reine Illusion. Tatsache ist, dass Entscheidungen auf Basis jener architektonischen Strategien getroffen werden, die dem Platten-

3 | Ähnliche Ideen wurden beispielsweise von Mitarbeitern des Media Lab am MIT vorgebracht. 4 | Einige der Gedanken Leo Steinbergs zum Beispiel.

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Die Fantasie außer Kontrolle (1990) | 479 oder Computersystem sozusagen angeboren sind. Andererseits gibt es natürlich einen Raum irgendwo zwischen der technologischen Einheit und dem Betrachter, in dem eine Fusion/Verbindung/unsichtbare Transplantation stattfindet – den Freiraum der Tech-tuition, der Soft-Resolution. Es ist ein Raum, in dem Realität und Fiktion verwaschen werden, wo der Inhalt kodifiziert wird, wo Handlung zur Ikone, zum Symbol wird. Bewegung und Plastizität der Zeit werden zu ikonoplastischen Logomotionen. Nach Freud kann die Realität auf jene Wahrnehmungen beschränkt sein, die durch Worte oder visuelle Codes verifiziert werden können. Deshalb werden die Wahrnehmungen zu den treibenden Kräften jeder Handlung, welche die tatsächlichen Ereignisse beeinflussen oder sogar kontrollieren. Die Wahrnehmung wird somit der Schlüssel zur Realität. Elektronische Medien basieren auf der Informationsgeschwindigkeit. »Terminal«, einst der Inbegriff des »Endpunktes«, wurde zu einer begrifflichen Matrix der Informationsverbreitung. Die Einführung eines neuen Massenmediums in den späten 40er Jahren schuf eine unvergleichliche Möglichkeit, die Massenwahrnehmung zu steuern. Unmittelbare Kommunikation neigte dazu, die Bedeutung der Medien nur zu verstärken. Allabendlich Bilder in Millionen von Heimen auszustrahlen hatte eine Beschleunigung der Zeit zur Folge, eine Erhöhung der Geschwindigkeit, mit der das Leben voranschreitet, und gleichzeitig einen destabilisierenden Effekt auf traditionelle Gemeinschaften. Das Individuum fühlte seine Ohnmacht, auf diese Übertragungen nicht einzuwirken zu können, außer mit der Alternative, das Gerät einfach abzudrehen, eine Option, die nur ein noch größeres Gefühl der Distanz und Entfremdung auslöst. Ein ähnliches Phänomen hatte die Erfindung des Automobils mit sich gebracht: Weil sich der traditionelle Sinn für Entfernungen verschob, erlebten die Menschen das Gefühl einer kulturellen Zeitverschiebung. Es gibt unter den Medienwissenschaftlern Diskussionen darüber, ob es möglich ist, Phänomene zu beobachten, ohne sie gleichzeitig zu beeinflussen. Allein der Akt, ein eingefangenes Bild zu betrachten, schafft Distanz zum ursprünglichen Ereignis. Das eingefangene Bild wird zu einem Relikt der Vergangenheit. Das Leben ist ein bewegtes Ziel, und jedes Objekt, das davon entfernt wird, wird Geschichte. Die Massenmedien gestalten Information um, indem sie den Aussichtspunkt des Betrachters mit dem Aufnahmefeld einer Kamera vertauschen. Information wird außerhalb der Kontrolle des Individuums präsentiert, die Betrachter werden vom Referierenden getrennt, was zu einer Verminderung ihrer Identität führt. Nach Roman Jakobson sind »die persönlichen Fürwörter die letzten Elemente, die ein Kind beim Sprechen lernt, und die ersten, die bei Aphasie wieder vergessen werden«.5 Wenn das von einem Betrachter bewohnte Gebiet

5 | Roman Jakobson: »Child Language, Aphasia and Phonologica Universals«, in: Janua Linguarum 71 (1968), und »Studies on Child Language Aphasia«, in: Janua Linguarum 114 (1971).

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480 | Lynn Hershman durch Identitätsverschiebung geleert wird, so wird es durch ein Gefühl der Abwesenheit ersetzt. Dieser Verlust der Bindung, der Verankerung (der vielleicht metaphorisch durch die zeitgenössische Form des Schamanen als Bezugsperson geheilt wird) führt zu Spannung, zu einem Gefühl des Dahinfließens, zu Unwohlsein, zu einem Virus von einem niedrigen kulturellen Niveau. Vielleicht ist dies der Sitz jener Nostalgie, den ich im ersten Satz dieses Artikels erwähnt habe. »Lorna« wurde aus einer obsessiven Neugierde heraus entwickelt und aus dem Drang, genau zu erfahren, wie ein interaktives Videoplatten-System nun tatsächlich realisiert werden kann. Aber »Lorna« ist relativ unzugänglich, nur von Zeit zu Zeit als Installation in einer Galerie oder einem Museum zu sehen und nur in 25 Stück Auflage vorhanden, von denen auch nur mehr 14 existieren. Die technologische Entwicklung der vergangenen Jahre hat Programme wie Hypercard einem jeden zur Verfügung gestellt, der mit einem Computer arbeiten kann. Die nächste interaktive Platte wird als Laserplatte oder Video-CD adaptiert werden, aber relativ billig zugänglich und zu den meisten Computern kompatibel sein. Die Motive und Strategien der Anbahnung eines Kontaktes, die unvollständige Diskette der sexuellen Fantasie wird die Verschmelzung des Betrachters/ Mitwirkenden mit Kontakt, Wahrnehmung und Kognition anstreben. »Making Contact the Incomplete Interactive Sexual Videodisk« (»Anbahnung eines Kontaktes – die unvollständige interaktive sexuelle VideoDiskette«) braucht den Benutzer zu ihrer Vervollständigung und ist ein Projekt, bei dem die Mitwirkenden alternative Geschichten entwerfen, die von ihren speziellen Wünschen geleitet werden. Segmentierte Fantasiebilder, die Ideen von Kontakt, Perzeption und Antwort enthalten, werden miteinander interagieren und mögliche Muster der Erzählung aufbauen. Ziel des Projektes ist es, die Präsentationsmethoden und den Zugang zu neuen Technologien zu verbessern, die Mitwirkenden direkt einzubinden, sie zu aktiven Mitarbeitern des Systems zu machen und die Entfremdung, die von den Kommunikationsmedien der Gegenwart so häufig hervorgerufen wird, nicht nur zwischen Individuum und Maschine, sondern auch im zwischenmenschlichen Bereich zu beseitigen und umzukehren. Wegen seines Ziels der Zugänglichkeit wird das Projekt für vier mögliche Systeme konzipiert. Auf CDV und Laser-Disc gepresst, ist ein Zugang zum Projekt für Hypercards, die meisten Computer und CD-Player sowie jede Kombination dieser Elemente möglich. Das Stück wird Video, Klang, Text und Fotografie, verschiedene Standpunkte und Handlungsfäden einsetzen, auf die der Zuseher reagieren muss. Es kann von bis zu vier Spielern gespielt werden, die jeweils unterschiedliche Standpunkte einnehmen. Die Prämisse für »Making Contact the Incomplete Interactive Sexual Videodisk« bezieht sich direkt auf die Natur der Interaktion als solcher, auf die Frage, warum die Platte unvollendet ist, solange sie nicht vom Spieler manipuliert wird. Unter den Optionen im Verzweigungsbaum findet sich die Möglichkeit, Folgendes zu benutzen:

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Die Fantasie außer Kontrolle (1990) | 481 • • •

einen entsprechend gefärbten emotionellen Joystick, ein »echtes« Telefon, das den Spielern erlaubt, miteinander zu kommunizieren, die Möglichkeit, einen alternativen Weg im Spiel zu nehmen und Dinge anders zu sehen.

Die Verlangsamung einer Szene kann beispielsweise gegensätzliche Strukturen oder kompositorische Harmonien offenbar werden lassen. Einige der Fragen beziehen sich auf Dinge, die acht Bilder vorher zu sehen waren, und trainieren dadurch das Wahrnehmungsgedächtnis des Spielers. Das Video ist daraufhin ausgerichtet, die Grenzen des Bildschirms (oder des distanzierten Betrachters) zu überschreiten und zu näherem Kontakt anzuregen. Bilder und Worte, die auf einzelnen Frames unsichtbar sind, werden als Stolpersteine eingebaut. Manchmal taucht ein Dämon auf und will zu einem »Abschneider« einladen, der dann in einer Endlosschleife endet. Dann wiederum fragt ein Zen-Meister nach der Natur der Realität. Ersatzantworten der Betrachter führen zu neuen Fenstern mit neuen Fragen über Entfremdung und Kontakt in der heutigen Mediengesellschaft. Es wird Passagen mit interaktivem Klang für zwei oder drei Spuren, Computeranimation, eingescannte Reflexions-Bilder geben, die sich alle in vereinheitlichter Form vereinigen und für ein breites Publikum ebenso zugänglich sind, wie sie diese Kunstform weiter verbreiten werden. Die Fantasien werden miteinander interagieren können, gefiltert durch die Persönlichkeit und das Gefühl des/der Spieler(s) für Zufall und Realität. Es wird erotisch und unterhaltend sein und letztlich eine befriedigende Erfahrung, bei der es keine Verlierer gibt.6 Mit dem Anwachsen der interaktiven Technologie wird auch ihr politischer Einfluss offenbar. Traditionelle Erzählungen, die eine Einleitung, eine Mitte und ein Ende aufweisen, werden neu strukturiert, ähnlich wie DNS-Moleküle neu strukturiert werden. Und tatsächlich kann die neue Darstellung des Lebens als Modell für ein gepflegtes Chaos dienen. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht nicht uninteressant zu erwähnen, dass etliche Künstler derzeit das DNS/RNS-Modell in ihrer Arbeit verwenden. »Der Genetiker Susumo Ohno glaubt, dass er Gene decodiert, um Musikkunst der westlichen Welt zu schaffen; so ähneln z.B. einige Teile der RNS einer Maus einer Nocturne von Chopin. William Burroughs glaubt, dass das Pawlowsche Prinzip zwischen Tonbandgeräten und genetischen Aufzeichnungsgeräten so gut funktioniert, dass psychoaktive DNS

6 | Dieses Projekt wurde ursprünglich von Paula Levine, Starr Sutherland, Christine Tambly, Ann Marie Gard und mir konzipiert.

2007-03-26 15-01-58 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 476-482) T07-02 hershman.p 142895399856

482 | Lynn Hershman sich mit Chromoxiden verbündet, um Verschwörung und Widerstand zu organisieren.«7 Es existiert eine ansehnliche Gruppe von Leuten, die erwarten, persönlich an Werten teilzuhaben, die ihr Leben bestimmen, die jene Mechanismen, die sie von der freien Wahl abhalten, selbst steuern wollen und die den Platz der Leere mit Wünschen und den Platz der Nostalgie mit emanzipatorischer Reflexion füllen wollen. Die transgressive Taktik reziproker Dialoge vertraut auf ein Gefühl übersteigerter Interferenz. Eine statische Interaktion. Ein Paradoxon der doppelten Helix. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Wilfried Prantner

Literatur Jakobson, Roman: »Child Language, Aphasia and Phonologica Universals«, in: Janua Linguarum 71 (1968), S. 7-101. Jakobson, Roman: »Studies on Child Language Aphasia«, in: Janua Linguarum 114 (1971), S. 7-132. Kahn, Douglas: »A Better Parasite«, in: Art & Text 31 (Dezember-Februar 1989), S. 67-75.

7 | Douglas Kahn: »A Better Parasite«, in: Art & Text 31 (Dezember-Februar 1989).

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Der heilige Cyborg (1996) | 483

Der heilige Cyborg (1996) Richard Barbrook

Die Suche nach Bedeutung »Religion ist ein Traum, in dem uns unsere eigenen Vorstellungen und Gefühle als externe Wesenheiten erscheinen, als Lebewesen, die außerhalb von uns selbst existieren.« Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums

Während des Kalten Krieges wurde uns gesagt, dass wir nur die krasse Wahl zwischen zwei inkompatiblen Ideologien hätten: der liberalen Demokratie und dem totalitären Sozialismus. Doch umso länger der jahrzehntelange Kampf der Supermächte um die Weltherrschaft anhielt, umso unwilliger wurden die Menschen, sich im Namen eines der beiden Systeme aufzuopfern. Als der Kalte Krieg schließlich endete, war es schon äußerst schwierig noch daran zu glauben, dass entweder das amerikanische oder das sowjetische System wirklich über das universale Modell für die menschliche Entwicklung verfügte. Die »großen Erzählungen« sowohl der liberalen Demokratie als auch des totalitären Sozialismus waren durch die Handlungsweisen ihrer Schutzherren in Gestalt von Supermächten in Diskredit gezogen worden. Wie die Postmodernisten häufig zu erläutern wussten, hatten sich Philosophien der Befreiung in Ideologien der Herrschaft verwandelt. Dennoch hat das Ende des Kalten Krieges nicht das Ableben der Ideologien bewirkt. Ganz im Gegenteil haben andere »große Erzählungen« schnell die Lücke gefüllt, welche durch die Implosionen von liberaler Demokratie und totalitärem Sozialismus hinterlassen worden war. Da die säkularen Utopien des Kalten Krieges nicht länger glaubwürdig sind, haben viele der zeitgenössischen Ideologien ein starkes spirituelles Moment. Von den USA bis in den Iran träumen religiöse Fundamentalisten von der Rückkehr in eine imaginäre Vergangenheit. Allerdings haben die Gefolgsleute dieser reaktionären Bewegungen große Schwierigkeiten, die prämodernen Glaubenssätze ihrer Religionen mit der modernen Realität des täglichen Lebens in Übereinstimmung zu bringen.

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484 | Richard Barbrook Dies hat den Raum für Glaubenssysteme geöffnet, die einen stärker synkretistischen Ansatz verfolgen. Schon seit Beginn der Dämmerung des Zeitalters der Moderne gab es immer wieder Glaubensrichtungen, die Religion mit Wissenschaft zu verbinden suchten. Freimaurerei, Saint-Simonismus, christliche Wissenschaften, Freudianismus und Scientology sind nur einige der bekanntesten Versuche, diese Gegensätze wiederzuvereinen. Trotz ihres Einfallsreichtums wurden alle diese Kulte von der letzten Welle des mitleidlosen Prozesses der Modernisierung überrollt. Was viele Leute nun suchen, ist eine zeitgemäßere hochtechnologischere Form der Verbindung von Religion und Wissenschaft. In Erwiderung zu diesem spirituellen Hunger florieren nun viele verschiedene Varianten eines mystischen Positivismus. Von der Chaosmathematik bis zu den letzten Entwicklungen von Hypermedia werden die neuesten technologischen Fortschritte hinsichtlich ihrer magischen Signifikanz ausgeplündert. So zum Beispiel favorisieren einige Gurus das Konzept der »Meme«: Diese selbst replizierenden kulturellen Einheiten, die angeblich unser Schicksal bestimmen. Dieser neue Glaube beansprucht, von den neuesten Ergebnissen der Evolutionstheorie inspiriert zu sein, einer Theorie, die bislang zu den schärfsten Gegenspielern religiösen Glaubens gezählt wurde. Nun allerdings glaubt auch der Meme-Kult, dass Materie von »Geist« kontrolliert wird, was seit Jahrtausenden die Grundlage für alle Religionen war. Während es viele Leute unakzeptabel finden, dass Götter und Engel ihre Leben dominieren sollen, haben die selben Leute kein Problem damit an genau dasselbe Konzept zu glauben, solange die Geister nun auf Meme umgetauft werden. Folgt man einigen der Anhänger dieses neuen Glaubens, so werden die geisterhaften Meme tatsächlich physische Gestalt annehmen. Wie im Neuen Testament wird der Geist zu Materie. Doch wird der neue Heiland nicht menschliche Gestalt annehmen. Stattdessen wird sich, im Zeitalter der Netze und PCs, der Menschengott aus Silikon, Plastik und Metall herausentwickeln. Fern davon eine Fantasie von Außenseitern zu sein, handelt es sich dabei um eine der populärsten Manifestationen des zeitgenössischen Mystizismus. Seit Jahrzehnten haben Regierungen und Unternehmen aufwendige wissenschaftliche Forschung im Bereich der Künstlichen Intelligenz und der denkenden Roboter finanziert. Wie Shoshana Zuboff in »The Age of the Smart Machine« (1989) erläutert, untermauert die Simulation menschlichen Denkens durch Maschinen deutlich das Wachstum an Produktivität, das sich nun in einigen Wirtschaftsbereichen ereignet. Wie auch immer, die Anhänger von Hans Moravec, Marvin Minsky oder anderer Vertreter dieser Schule sind nicht wirklich daran interessiert, wie intelligente Maschinen Waren billiger erzeugen oder Dienstleistungen besser ausführen können. Stattdessen suchen sie nach spiritueller Erlösung in Form von Maschinen. Am allermeisten sehnen sie es herbei, der Ankunft des Menschengottes aus Silikon beiwohnen zu können.

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Der heilige Cyborg (1996) | 485 Doch wie in der christlichen Apokalypse wird die Ankunft dieser »Künstlichen Intelligenz« kontinuierlich verschoben. Nichtsdestotrotz bleibt es ein sehr mächtiger Mythos unserer Zeit. In der Science-Fiction sind Computer mit Bewusstsein und freche Robs essentielle Bestandteile des Genres. Von Rachel in »Blade Runner« hin zu Data in »Star Trek« benutzen SF-Storys die Fantasie vom Künstlichen Leben, um dem modernistischen Dilemma Ausdruck zu verleihen: Wodurch zeichnet sich unser Menschsein wirklich aus? Nun allerdings, wenn dieser SF-Antropomorphismus von mystischem Positivismus vereinnahmt wird, entwickelt er sich ironischerweise zu einer Fundgrube ausgesprochen vormoderner Sehnsüchte. Genau wie in den traditionellen Religionen nährt der Kult des Künstlichen Lebens eine Reihe atavistischer Fantasien: Babys zu machen ohne Sex zu haben; der Herr über Sklaven zu sein; Unsterblichkeit zu erlangen; ja sich sogar in reinen Geist zu verwandeln. Indem die weltlichen Mythen entwertet wurden, wurden die Uraltmythen in Form von SF-Monstern wiedergeboren.

Fantasie 1: Männer bekommen Babys »Eine neue Spezies würde mich als ihren Schöpfer und Ursprung verehren; viele glückliche und hervorragende Existenzen würden mir ihr Dasein verdanken. Und kein Vater könnte eine so vollständige Dankbarkeit seines Kindes einfordern als ich die der ihren.« Mary Shelley, Frankenstein oder der moderne Prometheus

Die Erschaffung von Leben ohne Sex ist ein uralter patriarchalischer Mythos. Im Christentum und anderen prämodernen Religionen wurde der Menschengott konzipiert, ohne dass Notwendigkeit für die Verwirrung stiftenden Emotionen bestand, die durch sexuelle Begierde hervorgerufen werden. Nachdem durch göttliches Wirken hervorgerufe Schwangerschaft nun nicht mehr glaubwürdig klingt, haben wir nun Jungfrauengeburten, die von der Wissenschaft produziert werden. Unter der Annahme, dass das menschliche Bewusstsein wie ein Computerprogramm funktioniert, behaupten einige Wissenschaftler, dass sie Maschinen bauen können, die für sich selbst denken würden. Diese wilde Vermutung scheint wie eine radikale feministische Parodie der männlichen Domäne der Wissenschaft zu sein. Von Gebärmutterneid erfasst, versuchen männliche Wissenschaftler eine Form von Leben ohne Emotionen, Einfühlungsvermögen und Geselligkeit zu erschaffen. Im Gegensatz dazu beschreibt Mary Shelley in ihrer pionierhaften Geschichte vom Künstlichen Leben das Monster als tragische Figur gerade deshalb, weil seine Verbrechen eine Reaktion darauf sind, dass es von der Wärme menschlicher Gesellschaft ausgeschlossen ist. Ohne Mary Shelleys politische Überzeugungen nachvollziehen zu können, verfehlen die Verfechter des Künstlichen Lebens diese grundlegende Wahrheit. Menschli-

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486 | Richard Barbrook ches Bewusstsein ist nicht einfach nur das Ergebnis elektrischer Impulse im Gehirn. Es ist auch der vorläufige Höhepunkt eines langen Prozesses der gesellschaftlichen Entwicklung. Unsere Intelligenz ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Errungenschaft. In diesem Augenblick bilden wir eine Spezies von circa 5 Milliarden intelligenter Wesen auf diesem Planeten. Doch vielen dieser autonomen intelligenten Wesen geht es sehr schlecht. Ungefähr die Hälfte der menschlichen Bevölkerung lebt in Armut und ein Viertel ist völlig mittellos. Anstatt davon zu träumen, Menschengötter zu bauen, sollten wir besser daran arbeiten, wie uns kluge Maschinen dabei behilflich sein können, uns umeinander zu kümmern. Die Erben des »modernen Prometheus« haben die republikanischen Ideale, die von Mary Shelley in »Frankenstein« favorisiert wurden, bislang noch nicht implementiert.

Fantasie 2: Loyale Sklaven »The tv set shouted, – duplicates the halcyon days of the pre-Civil War Southern states! Either as body servants or tireless field hands, the custom-tailored humanoid robot – designed specifically for YOUR UNIQUE NEEDS, FOR YOU AND YOU ALONE – given to you on your arrival absolutely free, equipped fully, as specified by you before your departure from Earth ...« Philip K. Dick, Do Androids Dream of Electric Sheep?

Die Suche nach Künstlichem Leben beinhaltet noch andere rückwärtsgewandte Fantasien: Der Wunsch nach Sklaverei ohne Schuld. Viele weiße Amerikaner fühlen immer noch Nostalgie für den alten Süden. Einige Europäer und Asiaten träumen von der Rückkehr in die feudale Vergangenheit. Die Advokaten der Künstlichen Intelligenz versprechen, diese reaktionären Fantasien in High-Tech-Form Wirklichkeit werden zu lassen. In ihrer Science-Fiction-Zukunft werden die Privilegierten unhinterfragte Dienste von Robotersklaven genießen. Programmiert zu gehorchen ohne zu fragen, wird das Künstliche Leben mit seinem unterwürfigen Status immer zufrieden sein. Kein Spartakus oder Toussaint L’Ouverture1 wird jemals die Annehmlichkeiten dieser Herren von Robotersklaven bedrohen. In der Realität allerdings ist es unmöglich, den Mehrwert von Sklavenarbeit zu genießen, ohne dafür menschliche Zwänge in Kauf zu nehmen. Selbst wenn die meisten Arbeiten von Robotern ausgeführt werden, sind Menschen nötig, um diese Maschinen zu erfinden, zu bauen und zu war-

1 | Anm. d. Hg.: François-Dominique Toussaint L’Ouverture (geb. um 1743 in Cap Haitien, gest. 1803 in Fort Joux), haitianischer Nationalheld afrikanischer Herkunft und einer der maßgeblichen Führer der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung.

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Der heilige Cyborg (1996) | 487 ten. Technologie ist niemals einfach nur ein Ding. Es ist immer auch die Kristallisation sozialer Beziehungen zwischen Menschen. Im frühen 20. Jahrhundert z.B. bestand eine Parallele zwischen den Technologien, die in Fertigungsstraßen angewandt wurden und der Auferlegung tayloristischer Arbeitsdisziplin auf die Fabriksarbeiter/-innen. Über die letzten Jahrzehnte hat die Verbreitung von PCs und Netzen die Entstehung postfordistischer Methoden der Arbeitsorganisation reflektiert. Wie Douglas Landauer in »The Trouble With Computers« (1995) zeigt, kann das technische Potential von Informationstechnologien nur dann zur Gänze realisiert werden, wenn die kreative Imagination der Menschen maximiert wird. Anstatt von Robotersklaven zu träumen, sollten wir die innovativen Fähigkeiten der digitalen Kunsthandwerker preisen. Indem sie neue Formen handwerklichen Geschicks erlangen, benutzen sie Hard- und Software, um nützliche und schöne Hypermedien zu schaffen. Für sie ist Technologie mehr ein Werkzeug denn ein Diener. Das Auftauchen digitaler Kunsthandwerker ist die neueste Manifestation des hegelianischen Projektes der Moderne. In dieser Vision der Zukunft ist die Herrschaft der »Meister« unvermeidbar zum Untergang verdammt, da nur die »Sklaven« die Welt durch harte Arbeit zu transformieren wissen.

Fantasie 3: Cyborg-Unsterblichkeit »Du wolltest wissen wer ich bin. Ich gab Dir eine Antwort. Ein ferngesteuerter Roboter. Ein Service-Element, das von einem Programm aus dem Raumschiff der Bopper ferngelenkt wird. Aber ... ich bin immer auch noch Misty-Girl. Die Seele ist die Software, verstehst du. Die Software zählt, die Gewohnheiten und die Erinnerungen. Das Gehirn und der Körper sind bloß Fleisch, Samen für die Organbanken.« Rudy Rucker, Software

Die mächtigste Fantasie der traditionellen Religionen war ihr Versprechen ewigen Lebens. Indem sie behaupteten, den Zauber zu beherrschen, der den Tod überwindet, linderten sie unsere Angst vor der unausweichlichen physischen Auslöschung und machten den Verlust geliebter Mitmenschen erträglich. Dieses falsche Versprechen wurde jedoch die längste Zeit durch den Fortschritt der Wissenschaft in Verruf gebracht. Aus diesem Grund sehnen sich die Leute nach einer mehr High-Tech-orientierten Form der Vermeidung der körperlichen Desintegration. So wie die alten Ägypter ihre Toten mumifizierten, verkünden Marvin Minsky und andere nun das Herstellen digitaler Simulakra der Verstorbenen. Sie glauben sogar, dass sie nach dem Tod weiterleben werden, durch Computer- oder Robotmodelle ihrer selbst. Anstatt auf die göttliche Wiederauferstehung zu warten, werden ihre Seelen sofort in neuen Silikonkörpern wiederauferstehen. Ironischerweise ist dieser neue Spiritismus von jenen profunden

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488 | Richard Barbrook Transformationen unseres täglichen Lebens durch neue Technologien inspiriert. Wir sehen es als selbstverständlich an, dass wir auch nachts Licht haben, dass wir über Ozeane fliegen und mit Leuten auf der anderen Seite des Erdballs kommunizieren können. Über alles andere hinaus erwarten wir von der modernen Medizin, die Sterblichkeit zumindest aufschieben zu können. Anders als für unsere Vorfahren ist für uns die Wahrscheinlichkeit gering, dass wir schon in früher Kindheit sterben. Auch das Kinderbekommen endet selten tödlich und wir können erwarten, viele Jahrzehnte zu leben. Von Brillen bis zu Herzschrittmachern haben wir ein Feld von Technologien entwickelt, das unsere körperlichen Mängel kompensiert und unsere physische Existenz verlängert. In der modernen Welt sind wir nun alle Cyborgs. Doch trotz all dieser technischen Fortschritte sind wir immer noch menschliche Wesen aus Fleisch und Blut. Wir sind profane Wesen und nicht heilige Cyborgs. Wir müssen unsere Sterblichkeit akzeptieren. So wie in der Vergangenheit lenkt uns auch heute die Suche nach der Chimäre der Unsterblichkeit bloß von den praktischen Problemen der Verbesserung des Lebens in den Jahren, die uns gegeben sind, ab. Es gibt keine mystischen Lösungen für die Lösung der existentiellen Dilemmas der Conditia Humana.

Fantasie 4: Purer Geist werden »There’s a great burning column, like a tree of fire, reaching above the western horizon. It’s a long way off, right round the world. I know where it springs from – they’re on their way at last, to become part of the Overmind. Their probation has ended: they’re leaving the last remnants of matter behind.« Arthur C. Clarke, Childhood’s End

Die Sehnsucht nach einem Silikonkörper führt gewöhnlich zu einer noch primitiveren Form des Mystizismus: Die Fantasie von der Trennung des Geistes vom Körper. Wenn wir den Gnostikern folgen, dann würde religiöse Hingabe der reinen Seele erlauben, das verdorbene Fleisch zu verlassen und sich mit der Göttlichkeit zu vermengen. In unserer modernen Welt können wir nicht glauben, dass der Geist durch magische Mittel in himmlische Sphären aufsteigen kann. Stattdessen werden wir genötigt darüber zu fantasieren, unsere Körper aufzugeben und im Cyberspace weiterzuleben. Bereits jetzt, wenn wir Minitel, MUDs oder IRC benutzen, können wir virtuelle Persönlichkeiten annehmen, die sich von unserem Alltagsselbst unterscheiden. Die Adepten des mystischen Positivismus wollen diesen Prozess bis hin zu seinem unlogischen Ende führen. Unsere Avatars würden nicht länger einfach bloß Mittel für Rollenspiele sein. Sie sollen unsere gesamte Existenzform ausmachen. Sie würden uns erlauben, in einer Cybervariante des Überhirns zu verschmelzen. Genauso wie die anderen Fantasien leitet sich diese Manifestation des

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Der heilige Cyborg (1996) | 489 Kultes des Künstlichen Lebens teilweise von Alltagserfahrungen ab. Menschen in der modernen Gesellschaft sind von Informationstechnologien abhängig, um die Einschränkungen von Zeit und Raum zu überwinden. In der Arbeit und im Spiel verbringen wir immer mehr Zeit im Cyberspace. Digitale Technologien können jedoch die gegenseitige Verbundenheit von Geist und Körper nicht auflösen. Auch wenn wir als Avatars im Cyberspace herumlaufen, verbleiben unsere physischen Körper immer noch vor dem Bildschirm sitzend. Der PC, das Netz, das Telefon und andere Medien sind Werkzeuge, die unsere Möglichkeiten der gemeinsamen Arbeit und des Spiels erweitern. Zu glauben, dass uns diese Technologien in ein digitales Nirvana führen können, verschleiert einfach nur die entscheidende Frage: Wie können Hypermedien benutzt werden, um die Lebensqualität der Mehrzahl der Menschen auf diesem Planeten zu verbessern. Die Hälfte der Weltbevölkerung hat noch nicht einmal einen Telefonanschluss, geschweige denn einen Internetzugang. Mystische Antworten geben keine praktischen Lösungen für unsere Probleme.

Der moderne Zustand »Modernität ist Karikatur und Nutznießer einer totalen Revolution, die nie stattgefunden hat.« Henri Lefebvre, Einführung in die Modernität

Obwohl die Postmodernisten die »großen Erzählungen« denunzieren, zeigt die Popularität des Mythos von der Künstlichen Intelligenz unsere tiefe Sehnsucht, unsere historische Vergangenheit und unsere wahrscheinliche Zukunft zu verstehen. Der jüngste Zuwachs an PC- und Netznutzern zeigt, dass das Tempo der Veränderungen weit davon entfernt ist, sich zu verlangsamen, sondern sich im Gegenteil einmal mehr beschleunigt. Die alten Industrien sind im Niedergang und neue Formen von Arbeit entstehen. Doch weder die liberale Demokratie noch der totalitäre Sozialismus sind in der Lage zu erklären, was vor sich geht. Weil diese abgehalfterten politischen Ideologien nicht länger glaubwürdig sind, wurde ein offener Raum für Erklärungsmodelle von Nichtpolitikern geschaffen. Von der Notwendigkeit befreit, vergangene und gegenwärtige menschliche Gesellschaftssysteme zu untersuchen, sind Priester und Wissenschaftler in der Lage, fantastische Erklärungen der menschlichen Bestimmung zu verkünden. Im mystischen Positivismus werden die Irrtümer beider Erklärungssysteme kombiniert, um eine machtvolle »große Erzählung« für unser Zeitalter zu schaffen. Mit der Hilfe rationalistischer Wissenschaften sind wir in der Lage, unseren irrationalen Wunsch zu erfüllen, gottgleich zu werden. Allerdings ist der mystische Positivismus, trotz seiner futuristischen Rhetorik, eine Wiederaufführung sehr traditioneller Ideen: Jungfrauengeburt; Sklavenbesitz; Leben nach dem Tod; die Existenz von Geistern. In

2007-03-26 15-01-58 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 483-491) T07-03 barbrook.p 142895399904

490 | Richard Barbrook den Schriften von Hans Moravec, Marvin Minsky und anderen ist der Roboter der fetischisierte Ausdruck prämoderner Bedürfnisse. Alte religiöse Mythen, materialisiert in Silikon, Plastik und Metall. New-Age-Illusionen, ausgedrückt in der Sprache harter Wissenschaft. Doch die Träume des mystischen Positivismus, obwohl sie fundamentalen Wahnsinn verraten, geben Antwort auf das menschliche Bedürfnis nach einer Art »großer Narration«. Da die Ideologien der liberalen Demokratie und des totalitären Sozialismus nicht mehr funktionieren, können biologischer Reduktionismus und Cyberutopismus eine neue Vision unserer Zukunft schaffen. Unter dem Strich jedoch ist der Haupteffekt des mystischen Positivismus, klares Denken darüber zu verhindern, wie wir unsere Zukunft gestalten sollen. Genau wie in der Vergangenheit ist der lebhafte Glaube an ein übernatürliches Nirvana eine gute Entschuldigung, es zu vermeiden, irgendetwas Praktisches zur Lösung unserer weltlichen Probleme beizutragen. In den USA ist die »Virtuelle Klasse« der High-Tech-Unternehmer und ihrer hochspezialisierten Arbeitnehmer bereits im Begriff, sich in wohlbehütete Vorstädte und den verschlüsselten Cyberspace zurückzuziehen. Der Mythos vom Künstlichen Leben reflektiert diesen sozialen Autismus. Besessen von der Schaffung des Menschengottes fällt es den Privilegierten leicht, über fortgesetzten Machtmissbrauch und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten hinwegzusehen. Indem sie glauben, dass sie im Begriff sind, ins posthumane Stadium einzutreten, ist es den Mitgliedern der »Virtuellen Klasse« möglich, ihre unbehaglichen Gefühle über Solidarität mit der Menschheit als Ganzem zu unterdrücken. In der Wirklichkeit aber können wir keine gute Gesellschaft schaffen und eine stabile Umwelt bewahren, ohne Wohlstand und Macht gleichmäßiger zu verteilen. Deshalb brauchen wir eine sozialdemokratische »große Erzählung«, welche die Menschen dazu inspiriert, die vielen Hindernisse auf dem Weg zum Glück zu überwinden. Das Versagen der säkularen Ideologien der Ära des Kalten Krieges ist keine Entschuldigung, Rationalität grundsätzlich zu verdammen. Im Gegenteil ist der Abgang der liberalen Demokratie und des totalitären Sozialismus eine Gelegenheit, das Projekt des Modernismus wiederzubeleben. Die Prinzipien der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – sind immer noch relevant. Was wir nun brauchen, sind hartes Denken und praktische Arbeit, um Wege zu finden, wie diese Ideale im zeitgenössischen Kontext realisiert werden können. Anstatt zu versuchen, auf Informationstechnologien neue Religionen zu gründen, sollten wir untersuchen, wie wir sie als Werkzeug benutzen können, um das Projekt des Modernismus zu vollenden. Die Einführung intelligenter Maschinen wird uns von vielen weltlichen Arbeiten befreien, die wir bislang noch immer ausführen müssen. Die Vertiefung unserer Fähigkeiten im Gebrauch digitaler Technologien wird es uns ermöglichen, neue Güter und Dienstleistungen zu erfinden. Dennoch werden weiterhin Frauen Babys zur Welt bringen, werden nicht Sklaven alle Arbeiten ausführen, werden wir nicht ewig leben und weiterhin ein Leben in Fleisch und Blut führen. Die Zurückweisung des Mythos vom

2007-03-26 15-01-58 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 483-491) T07-03 barbrook.p 142895399904

Der heilige Cyborg (1996) | 491 Künstlichen Leben ist ein notwendiger Schritt zu einer Verbesserung der Realität des menschlichen Lebens. Wir werden von keinem heiligen Cyborg befreit werden. Wir können uns nur selbst befreien, durch intelligente Gedanken und harte Arbeit. Es gibt immer noch eine real existierende Welt, die wir zu gewinnen haben ... Übersetzung aus dem Englischen: Florian Rötzer

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492 | Victoria Vesna

Avatars im World Wide Web: Die Vermarktung der »Herabkunft« (1997) Victoria Vesna

Einleitung Im Jahr 1995 wurde das Internet der kommerziellen Nutzung zugänglich gemacht. Die NSF zog sich offiziell zurück und begann mit der Planung von Internet2, einem Netz, dessen Hauptaufgabe in der Erleichterung der Forschungs- und Bildungsaufgaben der Universitäten der Vereinigten Staaten bestehen soll. Dieses neue Netz soll nach seiner Vollendung hundert bis tausendmal schneller sein als das bestehende Internet. Anwendungen wie Tele-Immersion und digitale Bibliotheken werden die Verwendung des Computers in den Bereichen Unterricht, Kommunikation und Zusammenarbeit grundlegend verändern.1 Obgleich die Universitäten in der Anfangsphase der Entwicklung und Forschung für dieses Netz die Führungsrolle übernommen haben, handelt es sich dabei doch um ein gemeinsames Projekt von Regierungsbehörden, privaten Unternehmen und gemeinnützigen Organisationen. Das bedeutet, dass dieses Projekt möglicherweise denselben Weg nehmen wird wie das ursprüngliche Internet, also anfänglich nur den Forschungsinstitutionen, die es testen, zugänglich sein und erst später dann der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Firmen wie IBM, die bereits in dieses Projekt investieren, haben höchstwahrscheinlich langfristige Pläne in Bezug auf das kommerzielle Potential eines derartigen superschnellen Netzes. Als man das Internet der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte, hat man quasi die Büchse der Pandora geöffnet, und überhaupt niemand konnte auch nur versuchen, den immer rascher zunehmenden Aktivitäten Einhalt zu gebieten. Die Internet-Erfinder hatten das Netz so konzipiert, als würden nur Maschinen miteinander »kommunizieren«, und hätten wohl nicht

1 | Internet2 – auch als I2 bekannt – entsteht im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen mehr als 100 Universitäten in den USA, http://www.internet2.edu.

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Avatars im World Wide Web: Die Vermarktung der »Herabkunft« (1997) | 493 im Traum daran gedacht, dass ihr ursprüngliches Netz von Maschinen sich in ein Netzwerk der Menschen, die diese Maschinen benutzen, verwandeln könnte. Die rasante Zunahme der Internet-Benutzer, der Anzahl der mit dem World Wide Web verbundenen Hosts sowie der im Web vertretenen Unternehmen hat unter Firmen und Investoren buchstäblich zu einem »Goldrausch« geführt. Diese Euphorie wird durch die Entwicklungen auf dem Elektroniksektor noch angeheizt, und viele Gesellschaften investieren beträchtliche Summen, um herauszufinden, auf welche Art und Weise man über Internet alles – von Lebensmitteln bis zu Kleidung und Filmen – am effizientesten kaufen und verkaufen kann. Ein besonders interessanter Aspekt in Zusammenhang mit der Kommerzialisierung des Netzes besteht jedoch darin, dass diese weitestgehend von Ex-Hippies betrieben wird, die gestern noch gegen das Establishment protestiert haben, und Freaks, die in der Softwareindustrie praktisch über Nacht zu Millionären geworden sind. Viele dieser neuen Mächtigen (mit Ausnahme des allerwichtigsten überhaupt) bringen von östlichen Philosophien beeinflusste Wertesysteme mit in den Markt ein, während sie mit etablierten Firmenstrukturen zusammenarbeiten. Es ist nicht uninteressant sich anzusehen, wie diese scheinbar gegensätzlichen Welten zwischen Traum und Massenmarkt Gestalt annehmen. Dieses seltsame Zusammenspiel bzw. dieser Widerspruch lässt sich am besten anhand unseres – auch unter der Bezeichnung »Avatar« bekannten – Online-Selbst in MultiUser-Umgebungen analysieren. Der Begriff »Avatar« hat mittlerweile eine eingeschränktere Bedeutung angenommen als seine ursprünglich aus dem theologischen Bereich kommende.

Definitionen des Avatar Bevor wir uns nun in Analysen darüber stürzen, wie Projektionen unseres Selbst sich im Internet manifestieren und welche Art von Implikationen dies hinsichtlich unserer zukünftigen Sicht des Marktes haben kann, wäre es vermutlich sinnvoll, sich einen Überblick über die unzähligen Definitionen des Begriffs »Avatar« zu verschaffen. Nach dem »Dictionary of Hinduism« (1977) bedeutet »Avatara« eine »Herabkunft«, insbesondere das Herabsteigen eines Gottes vom Himmel zur Erde. In den »Puranas« ist der Avatara eine Inkarnation, die von einer göttlichen Emanation (Vyuha) unterschieden wird. Beide werden mit Shiva und insbesondere mit Vishnu in Zusammenhang gebracht. Der Begriff des »Avatara« stellt wahrscheinlich eine Weiterentwicklung des alten Mythos dar, demzufolge ein Gott durch die schöpferische Kraft seiner Maya nach seinem eigenen Willen jede Gestalt annehmen kann, so wie es Indra getan hat. Der Begriff des »Avatara« ist im Hinduismus mit einem sehr komplexen hierarchischen System mit zahlreichen unterschiedlichen Ausprägungen verbunden. »Longman’s Dictionary« (1985) definiert den Avatara ebenfalls als In-

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494 | Victoria Vesna karnation der Hindugottheit Vishnu sowie als Verkörperung eines Begriffs oder einer Philosophie. Andererseits erfahren wir aus dem »Oxford Dictionary« (1990), dass ein Avatara die Herabkunft einer Gottheit zur Erde in fleischgewordener Gestalt (d.h. wie in »der fünfte Avatara erschien als Zwerg«), eine Manifestation oder Darstellung vor der Welt (z.B. der Avatara der Mathematik), aber auch ein Stadium sein kann. Wenn man nun »Webster’s Dictionary« (1989) zu Rate zieht, erfährt man, dass ein Avatara eine Manifestation oder Verkörperung einer Person, eines Begriffs oder einer Philosophie, ein abweichendes Stadium oder eine Version einer fortbestehenden grundsätzlichen Einheit ist. Und das »Random House Dictionary« (1995) schließlich beschreibt den Avatara als »Verkörperung oder konkrete Manifestation beispielsweise eines Prinzips, einer Haltung, einer Lebensanschauung o.ä.«. Im heutigen Indien können besondere Persönlichkeiten als Avatars bezeichnet werden, was darauf hinweist, dass die ursprüngliche theologische Bedeutung dieses Ausdrucks in der volkstümlichen Kultur sogar an der Quelle selbst einen Wandel erfahren hat. Auf der Website der India Group schreibt beispielsweise der Teilhaber Anil Srivastava über sich selbst: »Anil Srivastava, Avatar der globalen Märkte und der neuen Technologien, betrachtet vom Omphalos in Silicon Valley aus interaktive Medien, Netzwerke und Online-Dienste.«2 Für jemanden, der mit Multi-User-Umgebungen vertraut ist, bedeutet »Avatar« ganz einfach die Identität, die jemand im Cyberspace angenommen hat. Der Ursprung der Verwendung dieses Wortes in der Industrie lässt sich allerdings nicht so leicht klären. Nach Peter Rothman, Gründer von Avatar Software und Avatar Partners (bzw. später DIVE Labs) »würde jeder, der behauptet, zu wissen, wer das Wort als erster verwendet hat, Tatsachen erfinden«.3 Rothman und sein Partner fanden diesen Ausdruck 1982 im Wörterbuch und waren von der Definition in »Webster’s Dictionary« – »Verkörperung eines Begriffs oder einer Philosophie in einer Person« – einfach begeistert. Die Debatte darüber entwickelte sich – wie passend – innerhalb des Diskussionsforums »Well«, in dessen Rahmen Neal Stephenson behauptete, diesen Ausdruck in »Snow Crash« als Erster verwendet zu haben.4 Da dieser Roman jedoch erst im Jahr 1992 veröffentlicht wurde, wollte man Stephensons Behauptung nicht anerkennen. Man geht heute im Allgemeinen davon aus, dass dieser Ausdruck erstmals in Randy Farmers und Chip Morningstars »Habitat« verwendet wurde.

2 | http://www.indonet.com/AnilSrivastava.html, zuletzt gelesen am 2. Februar 2006. 3 | Ich habe Peter Rothman am 31. Dezember 1996 bei MetaTools INC. in Carpinteria interviewt. Seine Gesellschaft DIVE wurde von MetaTools übernommen, wo er gegenwärtig die Forschungs- und Entwicklungsabteilung leitet. 4 | Neal Stephenson: Snow Crash, New York 1992.

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Avatars im World Wide Web: Die Vermarktung der »Herabkunft« (1997) | 495 Farmer und Morningstar ließen sich dabei von der hinduistischen Wurzel des Wortes inspirieren.5 Der Name »Avatar« erfreut sich heutzutage offensichtlich großer Beliebtheit. Zahlreiche Gesellschaften haben verschiedene Versionen dieses Namens – im Allgemeinen in Kombination mit einem anderen Wort – eintragen lassen. Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit wären die Firma Avatar Partners, die Software für den Handel im Internet entwickelt, die auf größere Ferien-, Wohn- und Erholungszentren spezialisierte Bauund Immobilienfirma Avatar Holdings, und Avatar Systems, eine Transportgesellschaft, die sich auf Firmenumzüge spezialisiert hat, um nur einige von ihnen zu nennen. Die Wirtschaft verbindet offensichtlich Besitzansprüche mit diesem Ausdruck. So wurde beispielsweise Avatar Partners von der Gesellschaft Avatar Financial Associates, die behauptete, sie hätte diesen Namen als Erste eintragen und schützen lassen, ein Gerichtsverfahren angedroht. Und dann gibt es da noch den Avatar Nine-Day Course über den »Beitrag zur Erschaffung einer aufgeklärten planetaren Zivilisation«. In einer enthusiastischen Aussage behauptet ein überzeugter Anhänger im Net: »Ich habe mich zum Avatar-Kurs angemeldet, um zu versuchen, die Verhaltensmuster zu ändern, die in Widerspruch zur ordnungsgemäßen Führung meiner Geschäfte standen. Avatar hat mich gelehrt, die Überzeugungen, die für meine Probleme verantwortlich waren, ganz einfach zu identifizieren und mit ihnen fertig zu werden… Die Erfahrungen mit Avatar waren für mich wunderbar und wirklich verblüffend. Mein Leben ist erfüllter, bedeutsamer und angenehmer, seitdem ich zu einem Avatar geworden bin.«6

Die Herabkunft des Avatar Der Gedanke der »Herabkunft« des Avatar von einem nicht näher genannten in einer von vielen möglichen Erscheinungsformen passt sehr gut zu der umgekehrten Hierarchie, die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft ursprünglich mit der Einführung des späteren Internet etabliert wurde – der Client führt »Uploads« und »Downloads« am Server durch. Die Diskussion der Softwareindustrie über die Avatars dreht sich im Grunde um die in Echtzeit zwischen einer Vielzahl von Servern ablaufenden Interaktionen zwischen Objekten. Wenn man von Avatars spricht, wird

5 | Vgl. Randy Farmer/Chip Morgenstar: From Habitat to Global Cyberspace, unveröffentlicht 1995, vgl. http://www.communities.com/paper/hab2cybr. html, zuletzt gelesen am 2. Februar 2006. 6 | William L. Owens, Wisconsin/USA, vgl. http://www.epcnet.com/avatar /index.html, zuletzt gelesen am 2. Februar 2006.

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496 | Victoria Vesna die Diskussion persönlicher und es werden Themen aufgeworfen, die mit der Natur der Identität, mit der Sicherheit, mit den zwischenmenschlichen Beziehungen und den Internet-Gesellschaften in Zusammenhang stehen. Das Avatar-Konzept lässt sich auch leicht auf die vielen unterschiedlichen Ausprägungen von Computernachrichten und -darstellungen übertragen, die vom Web auf die Monitore der Clients heruntergeladen werden. Und schließlich passen all diese Konzepte und Hierarchien hervorragend zu den Finanzmärkten, die es gewohnt sind, mit Zahlen zu jonglieren. Der Gedanke, dass sich Produkte oder Dienstleistungen als Ergebnis von Informationen, die von Internet und World Wide Web »heruntergeladen werden«, auf einem Computerbildschirm selbst »aufbauen«, stellt für Unternehmer eine äußerst attraktive Perspektive dar. Der Besitzer eines Servers empfindet ein Gefühl von Macht und Dominanz, sobald er sich vom herkömmlichen Markt aus Fleisch und Blut distanziert hat. Ganz besonders faszinierend ist die Art und Weise, in der manche Menschen die mystischen Aspekte des Begriffs »Avatar« in verschiedene Softwareanwendungen einbringen. So schreibt beispielsweise Peter Small in der Einleitung zu seiner Online-Version eines Buchs mit dem Titel »Magical Web Avatars«: »Der mystische Aspekt impliziert, dass die Gottheit Vishnu über keine spezifische Form oder Gestalt verfügt, bevor sie als Avatar auf Erden erscheint. Implizit bedeutet das, dass jegliche physische Erscheinung eines Avatar nicht mehr als ein temporäres Stadium oder eine temporäre Form oder Phase aus einer unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten, eine vergängliche Gestalt aus einer nicht definierten und nicht definierbaren Anzahl von Ursprüngen ist. Das Erfassen dieses Begriffs macht den Ausdruck Avatar zum idealen Wort für die Beschreibung der Web-Kommunikationsprodukte in diesem Buch.«7

Die Produktwerbung ist also untrennbar mit Mystizismus und New-AgeWertvorstellungen verbunden. Dasselbe gilt für viele Software-Produkte mit mystisch codierten Konnotationen und auch für die Marketing»Gurus«. Die New-Age-Philosophie umfasst eine eklektische Mischung unterschiedlicher religiöser Elemente, ohne jedoch die Loyalität gegenüber einer Nationalität oder gar spezifischen Gottheit für sich in Anspruch zu nehmen. Doch der starke ideologische Charakter, der mit kulturellen Prozessen und der Vermarktung von Produkten und Ideen verbunden ist, bleibt bestehen und scheint im Aufbau zahlreicher neuer High-Tech-Firmen große Bedeutung zu haben. Allein die Entscheidung, eine Identität in vernetzten Räumen als »Avatar« zu bezeichnen, weist bereits auf diesen

7 | Peter Small: Magical Web Avatars: The Sorcery of Biotelemorphic Cells, unveröffentlicht 1997, vgl. http://192.41.36.58/avatars/Index.htm, zuletzt gelesen am 20. August 2005.

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Avatars im World Wide Web: Die Vermarktung der »Herabkunft« (1997) | 497 Trend hin. Im Cyberspace stellt der Avatar ein ungewohntes Zusammenspiel von linken Utopien und rechtem Unternehmertum, gewürzt mit einem Schuss esoterischem Spiritualismus, dar. Die New-Age-Religion operiert Hand in Hand mit Netzwerktechnologien und »organischen« Firmenstrukturen – den neuen »coolen« Gesellschaften, die sich in allen Bereichen der High-Tech-Industrie entwickeln. Der von der Unternehmerelite hoch geschätzte Psychologe James Hillman schreibt in seinem einflussreichen Bestseller »Kinds of Power«: »Die Wirtschaft ist der einzige effektive synkretistische Kult, der heute in der Welt noch besteht, der einzige ökumenische Glaube unserer Welt. Sie stellt das tägliche Ritual dar, das Christen, Hindus, Mormonen, Atheisten, Buddhisten, Sikhs, Adventisten, Animisten, Protestanten, Moslems, Juden, Fundamentalisten und New Ager in einem gemeinsamen, allen gleichermaßen zugänglichen Heiligtum vereint … .«8

Wie ließe sich dann das Internet vervollkommnen, damit es die multinationalen Gesellschaften mit ihren Kunden ohne Rücksicht auf Nationalität, Rasse oder Glaubensbekenntnis verbindet? Eine Multi-User-Umgebung mit ihrer dynamischen Konzeption, die sofortige Kontaktaufnahme und Kommunikation ermöglicht, ist der ideale Ort für die Schaffung von Gemeinschaften mit unterschiedlichen kommerziellen oder sonstigen Interessen und Märkten. So erklärt sich auch das World Wide Web mit seiner benutzerfreundlichen Grafikschnittstelle – im Gegensatz zu seinen Vorgängern, den textbasierten virtuellen Realitäten, die nur fachkundigen Unix-Anwendern zugänglich waren. Bis zum heutigen Tage sind textbasierte Umgebungen noch immer aktiv. Sie zählen hunderttausende Benutzer und liefern jedem, der wirtschaftliche Projekte mit grafischen Multi-User-Communities im Web plant, nützliche Forschungsdaten. Naturgemäß verspricht der grafische Abkömmling Benutzerzahlen in einer Größenordnung von hunderten Millionen.9 Gegenwärtig gibt es über 500 MOOs10 und hunderttausende Anwender, die ohne Weiteres von den textbasierten Umgebungen auf stärker grafisch konzipierte Umgebungen umsteigen könnten.

Die Hierarchien von Multi-User-Umgebungen Eine Analyse der Hierarchie von MUDs und MOOs erweist sich als hilfreich, wenn wir versuchen wollen, die sich entwickelnde soziale Struktur der Avatars im Cyberspace zu verstehen.11 Es wird heute allgemein aner-

8 | James Hillman: Kinds of Power, Redfern 1995. 9 | Vgl. Kim Cleland: »Chat Gives Marketers Something to Talk About«, in: Advertising Age (1996), S. 38-41. 10 | Vgl. Sherry Turkle: Life on the Screen, New York 1995. 11 | MOO ist die Abkürzung für »MUD-Object Oriented«. Und MUD bedeu-

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498 | Victoria Vesna kannt, dass die Arch-Wizards die »Besitzer« der MOOs sind und dass Neulinge in der jeweiligen Umgebung im Allgemeinen Gäste sind, deren Status sich mit der Zunahme ihrer Aktivitäten und Erfahrungen weiterentwickelt. Die meisten MUDs und MOOs lassen den Benutzern ihre Anonymität, um die Online-Atmosphäre nicht durch die Einbeziehung des Offline-Lebens zu zerstören. Eine Ausnahme davon bildet das MediaMOO des MIT, wo jeder Benutzer über einen »Aliasnamen« und einen »wirklichen Namen« verfügt.12 Die wirklichen Namen scheinen üblicherweise nicht auf, können aber mit dem Befehl @whois sichtbar gemacht werden. Nur die Janitors (MOO-Administratoren) können wirkliche Namen eingeben oder ändern. Da das Ziel darin besteht, das Gemeinschaftsgefühl unter den Medienforschern zu stärken, muss jeder, der um die Zuteilung eines Aliasnamens ansucht, seine Forschungsinteressen angeben. Unabhängig von dem besonderen Zweck des jeweiligen MOO, d.h. gleichgültig, ob sich das MOO den niedrigsten, schmutzigsten Phantasien über Burgverliese und Drachen widmet oder hohe theoretische Zielsetzungen verfolgt, sitzen die Verantwortlichen für den Code immer ganz an der »Spitze«. Avatar III – The Crypt steht beispielsweise im Besitz einer britischen Gesellschaft, die sich auf Spiele spezialisiert hat, und wird von dieser auch betrieben.13 The Crypt ist eine Beta-Adresse, die voraussichtlich kommerziell genutzt werden wird, sobald eine genügend große Anzahl von Spielern sie erst regelmäßig besucht. Beim ersten Besuch dieser Adresse erhält man – ganz und gar nüchtern verpacktes – Werbematerial über die Gesellschaft, die das MOO produziert. Die Avatarbewohner sind Ladenbesitzer, Geldwechsler, Pfandleiher, Hausierer, Stadtwachen, Markt- und Burgfieranten. Die Avatarklassen sind äußerst unterschiedlich, und die Besucher werden so zugeteilt, dass sie den Fähigkeiten der verschiedenen Klassen entsprechen. Die textliche Gestaltung und die Hierarchie dieser Adresse

tet »Multiple User Dungeon« (oder Dimension). Die MUDs begannen als interaktive Adventures, Games ähnlich wie Dungeons and Dragons für den Computer – doch diese Version konnten die Teilnehmer übers Internet spielen. Inzwischen hat sich die Verwendung von MUDs auf andere Arten von Spielen und auch auf eher gesellschaftliche Zwecke ausgeweitet. Die Objektorientierung der MOOs legt den Programmierschwerpunkt verstärkt auf die in den MOOs enthaltenen »Objekte«. Einige der bisher bedeutendsten Forschungsarbeiten über MUDs und MOOs wurden von Xerox Parc, der Universität Virginia und dem MIT Media Lab durchgeführt. Curtis Pavel hat bei Xerox Parc LambdaMOO geschaffen und über die sozialen Phänomene textbasierter virtueller Realitäten geschrieben (1992). 12 | Media MOO: http :// asb. www. media. mit. edu/ people/ asb/ MediaMOO, Verbindung mit MediaMOO von einem UNIX-Host aus: telnet. 13 | Avatar III – the Crypt, vgl. http://www.avatar.co.uk/, zuletzt gelesen am 2. Februar 2006.

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Avatars im World Wide Web: Die Vermarktung der »Herabkunft« (1997) | 499 erinnern in unheimlicher Weise an das Klassensystem, mit dem England so vertraut ist. Rose hat sich als Benutzerin der ersten Stunde in dem mittlerweile fünf Jahre alten MOO in den Rang eines Gottes hochgearbeitet. Sie loggt sich täglich ein, um Neulingen behilflich zu sein, und verdient sich auf diese Weise Punkte. Der Benutzer benötigt 1.000 Erfahrungspunkte, um auf die zweite Ebene vorzurücken, und 1.024.000 Punkte, um die zwölfte und höchste Stufe zu erreichen. Götter können um weitere Stufen nach oben klettern, damit gewährleistet ist, dass Götter einer niedrigeren Ebene Götter einer höheren Ebene zu keinerlei Handlungen zwingen können.14 Die Benutzer werden dazu ermutigt, Benutzern auf niedrigeren Ebenen behilflich zu sein, was nicht nur eine Lektion in zwischenmenschlichen Beziehungen darstellt, sondern auch das Wachstum der Gemeinschaft sichert. So haben jene, die an der »Spitze« stehen, eine ähnliche Position inne wie religiöse Gestalten der Vergangenheit. Sie bieten Anreize und fungieren dadurch als primäre Agenten der Sozialisierung – und werden durch diesen Prozess immer mächtiger.15 Ein besonders interessanter Aspekt in Zusammenhang mit Avatar III ist, dass das Rollenspiel in einer kommerziellen Shopping-Site, Silicon Village, angesiedelt ist. So bildet sich um diese Shopping-Site herum eine ganze Gemeinschaft, in der die Benutzer den illusorischen Eindruck haben, anonym zu sein. Die Arch-Avatars, die Eigentümer, können jedoch sämtliche eventuell benötigten persönlichen Informationen über Vorlieben und Abneigungen der Benutzer, die Beteiligung an Newsgroups, bevorzugte Websites und Surfgewohnheiten, erhalten. Sobald ein Benutzer sich unter einer Adresse einloggt, besteht die Möglichkeit, Informationen über seine weiteren Bewegungen, die von ihm angeklickten Objekte, den Namen des Bereichs, den Computertyp und die allgemeine Lokalisierung zu erhalten. Persönliche Informationen werden immer rascher zu einer begehrten Ware, und die Verpacker und Wiederverkäufer derartiger Informationen werden in unserem Informationszeitalter am meisten profitieren.

Die Herabkunft des grafischen Avatar Die Fortschritte, die die Industrie beim Erfinden von Möglichkeiten zum Abkassieren auf den potentiellen Märkten des World Wide Web gemacht hat, sind wirklich beeindruckend. Besonders erfolgversprechend scheinen in diesem Zusammenhang die von großen Gesellschaften gesponserten

14 | Ich habe Rose am 29. Mai 1997 interviewt. Im wirklichen Leben arbeitet sie im Büro einer Sozialversicherung. 15 | Ein Beispiel für einen Verhaltenscode in einem Online-Spiel lässt sich unter der folgenden Adresse finden, vgl. http://games.world.co.uk/code_of_conduct. html, zuletzt gelesen am 2. Februar 2006.

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500 | Victoria Vesna Chatrooms mit Stars, die Seifenopern, Online-Geschäfte und Rollenspiele zu sein – also Orte, an denen sich potentiell große Gemeinschaften bilden können, die sich regelmäßig einloggen, um miteinander zu kommunizieren, Ideen auszutauschen und Cybercash auszugeben. Die meisten Unternehmer setzen offensichtlich auf Chatrooms, die von jeder Menge Avatars bevölkert sind. Schätzungen zufolge sollen Online-Chats im Jahr 2000 bereits für 7,9 Milliarden Online-Stunden verantwortlich sein – und damit auch für Werbeeinnahmen in der Größenordnung von einer Milliarde Dollar. Doch die Hersteller von virtuellen Umgebungen prognostizieren, dass schon bald 2D- und 3D-Grafikumgebungen das Scrollen in den Textfenstern der Chatrooms ersetzen werden. Zugleich suchen die Vermarkter eifrig nach Möglichkeiten, die neue Technologie für die Werbung zu nutzen. Seifenopern im World Wide Web werden beispielsweise als ideale Umgebung für den Einsatz von Marketingstrategien angesehen, die sich auf in den Text integrierte Werbebotschaften konzentrieren.16 Darüber hinaus gibt es, im Gegensatz zum Fernsehen, praktisch keine Normen für die Werbung im Web. Zurzeit ermöglichen mehrere Cyberseifenopern Werbefirmen eine Integration ihrer Produkte in die Handlung. Rocket Science Games, ein Hersteller interaktiver Unterhaltungssoftware, und CyberCash, eine Gesellschaft, die sich auf Zahlungstransaktionen im Internet spezialisiert hat, sind mittlerweile eine Partnerschaft zur Entwicklung einer virtuellen Videospielhalle im World Wide Web eingegangen. Virtual Arcade soll im Laufe dieses Jahres erscheinen und wird interaktive Versionen klassischer Videospiele bieten. Die Benutzer werden – wie verlautet – die Möglichkeit haben, die Spielumgebung zu verändern, und der Preis für jedes Spiel wird nur 25 Cent betragen. Die Zahlungen werden über eine »elektronische Geldbörse« erfolgen, die die Benutzer von ihrem Bankkonto wieder auffüllen können.17 Natürlich würden all diese Entwicklungen keineswegs so rasch vor sich gehen, wenn das WWW eine reine Textumgebung wäre. Obgleich textbasierte MOOs und MUDs nach wie vor sehr aktive Gemeinschaften sind und es für sie wahrscheinlich immer einen Platz geben wird, hat das wirkliche »Goldfieber« erst mit der Einführung der grafischen Benutzerschnittstellen begonnen. »Graphical Multi-User Konversations« (GMUKs) sind eine Art Mittelding zwischen einem MOO und einem Chatroom oder einem Chatkanal. Die GMUKs bieten den Anwendern nicht nur reine Textkommunikation, wie dies bei den meisten virtuellen Chat-Umgebungen der Fall ist, sondern erweitern diese um eine audiovisuelle Dimension, die die Illusion von Bewegung erzeugt, sowie um eine räumliche Dimension.

16 | Zu den Online-Seifenopern zählen: »The Spot«: http://www.thespot.com; »Ferndale«: http://www.ferndale.com; »Techno 3«: http://www.bluepearl.com/blue pearl; »The East Village«: http://www.theeastvillage.co, zuletzt gelesen am 2. Februar 2006. 17 | Francisco Chronicle, 13. Februar 1996.

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Avatars im World Wide Web: Die Vermarktung der »Herabkunft« (1997) | 501 Die beliebteste GMUK ist gegenwärtig The Palace, ein Client/ServerProgramm von »Time Warner«, das eine visuelle und räumliche Chat-Umgebung erzeugt.18 Zurzeit finden sich im Internet zahlreiche Palace-Sites, die stark unterschiedliche technische und künstlerische Qualitäten wie auch unterschiedliche grafische Themen aufweisen. The Palace wurde von Jim Bumgardner und Mark Jeffrey für Time Warners Palace Group entwickelt und erstellt. Die Software für diese Umgebung wurde im November 1995 freigegeben. Seit damals wurden mehr als 300.000 Client-Versionen heruntergeladen, und mehr als 1.000 kommerzielle und private PalaceGemeinschaften wurden gegründet. Die wichtigsten Investoren sind Intel, Time Warner und Softbank sowie Gesellschaften wie Capitol Records, Twentieth Century Fox, Fox Television, Sony Pictures und MTV.19 Time Warners »avs«, wie Palace-Mitglieder die Avatars liebevoll nennen, lassen sich in zwei große Kategorien einteilen. Zur ersten dieser Kategorien zählt die Standardgarnitur von »Smileys«, die mit dem Palace-Programm geliefert wird. Diese Smileys sind allen Benutzern, auch nicht registrierten »Gästen«, zugänglich. Die Standard-»avs« werden mit Neulingen, den nicht registrierten Gästen, die als niedrigere Klasse der Palace-Bevölkerung angesehen werden, assoziiert. Diese Gäste haben die Registrierungsgebühr nicht bezahlt, gehören der Palace-Kultur nicht an und müssen sich mit den Standard-»avs« und -»props« begnügen. Sie können keine eigenen Avatars erzeugen und müssen einen Smiley verwenden, der sie als Neuling identifiziert. Erst nachdem er die Registrierungsgebühr bezahlt hat, kann der Benutzer die Funktionen der Palace-Software für die Erstellung und Ausgabe von »props« in Verwendung nehmen. An dieser Stelle kann der Benutzer unter folgenden Avatars wählen: »Animal«, »Cartoon«, »Celebrity«, »Evil«, »Real«, »Idiosyncratic«, »Positional«, »Power«, »Seductive« oder »Sonstige«. Palace ist ein hervorragendes Beispiel für eine Cyberspace-Umgebung, die den Ansatz einer etablierten Unterhaltungsindustrie in Richtung »pre-packaged programming« (Fertigprogramm) für die Öffentlichkeit darstellt und an Entwicklungen wie Disneyland oder sonst eine geplante Gemeinschaft erinnert.

Die Earth-to-Avatar-Konferenz Das größte Problem, mit dem sich die Industrie konfrontiert sieht, die Multi-User-Umgebungen für Avatars herstellt, ist die Tatsache, dass die Menschen viele verschiedene Identitäten annehmen können und noch

18 | Die Palace-Homepage ist online erreichbar unter der Adresse: http:// www.thePalace.com, zuletzt gelesen am 2. Februar 2006. 19 | John Suler: The Psychology of Cyberspace. World Wide Web, unveröffentlicht November 1996, vgl. http://www.rider.edu/~suler/psycyber, zuletzt gelesen am 2. September 2005.

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502 | Victoria Vesna immer ziemlich schwer rückverfolgbar sind. Dies deswegen, weil es keine universelle Norm gibt, die es den Avatars erlauben würde, sich von einer virtuellen Welt in die andere zu bewegen. Zurzeit gibt es auf dem Web eine Reihe verschiedener Avatars – VRML-, 2D-, Text- oder Voxel-Avatars sowie Virtual Humans, die die von VR News geschaffene Gruppe bezeichnet, die dem Austausch von Informationen über die Entwicklung autonomer, menschenähnlicher Agenten dient. Konsummuster, finanzielle Transaktionen, Sicherheit und Identifizierung müssen im Avatar erhalten bleiben, damit sich der Markt voll und ganz entwickeln kann. Die Verwendung genormter Avatars kann bei der Verwendung von Mechanismen für die Suche nach Avatars und deren Eigenschaften im Internet behilflich sein. Schließlich sind heute auch schon Avatarfirmen gang und gäbe – sie können ihre Avatars zu niedrigeren Kosten anbieten, einem größeren Personenkreis zur Verfügung stellen und eine umfassendere Anwendbarkeit garantieren. Im Oktober 1996 kamen im Rahmen der Earth-to-Avatar-Konferenz in San Francisco Architekten von 3D-Grafikschnittstellen im Web zusammen, um über den Mangel an Normen für Avatars zu diskutieren. In seiner Analyse der Zukunft des Cyberspace meinte John Sculley, der frühere Präsident von Apple Computer, sobald erst einmal erwiesen wäre, dass die Technik funktioniert, und Normen vereinbart werden, würden die »Spieler der ersten Liga« im Cyberspace Einzug halten. Sculley sieht die Avatars, die zu Mitgliedern sich selbst organisierender Gruppen werden, als »treibende Wirtschaftskraft für diese Branche«.20 Die Universal Avatar Standards Group erklärte, dass ihr wichtigstes Ziel darin bestehe, sich unter Berücksichtigung von Aspekten wie Darstellung des Geschlechts, Nachweis der Identität, persönlicher Ausdruck kontra gesellschaftliche Zwänge, Avatar kontra Weltmaßstab sowie Emotionskommunikation auf die Natur der Avatars zu konzentrieren. Maclen Marvit, Teleologe bei Worlds in San Francisco, liefert den nachfolgenden Überblick über den Ansatz von UA: »Unsere Branche ist an einem Punkt angelangt, an dem viele Gesellschaften innovativ tätig sind – sowohl in technischer als auch in künstlerischer Hinsicht. Das Ziel von UA besteht darin, den Benutzern die Möglichkeit zu bieten, sich zwischen den verschiedenen Technologien so frei wie nur möglich hin und her zu bewegen und sich dabei aus jeder Technologie das Beste zu holen, während zugleich eine konsistente Identität gewahrt bleibt. Wenn sich also Bernie von einer ›Welt‹, die unter Verwendung einer Technologie entwickelt wurde, in eine andere ›Welt‹ mit einer anderen Technologie begibt, kann er seine Avatar-Darstellung, seine Internet-Telefonnummer und seinen Identitätsnachweis mitnehmen.«21

20 | Sue Wilcox: »Bringing ›Behaviors‹ to VRML: Making Sense of the Avatar Debate«, in: Netscape World, unveröffentlicht 1997, http://www.netscapeworld.com /netscapeworld/nw-01-1997/nw-01-avatar.html, offline. 21 | Ebd.

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Avatars im World Wide Web: Die Vermarktung der »Herabkunft« (1997) | 503 Dieser Vorschlag bezieht sich auf eine Architektur für die gleichzeitige Verwaltung tausender geografisch voneinander getrennter Benutzer mit interaktivem Verhalten, Stimme, 3D-Grafik und Audiolokalisierung. Er beruht auf einem leistungsfähigen Konzept, das unter dem Begriff »Regionen« bekannt ist und beschleunigte 3D-Grafik sowie effiziente Client/Server-Kommunikation in verschiedenen aneinander angrenzenden Welten ermöglicht. Das Thema der Standardisierung von Avatars ist für den Erfolg von VRML als kommerziell überlebensfähige Sprache von grundlegender Bedeutung. Bis eine gemeinsame Avatar-Definition vorliegt und die Universalität der Bewegung zwischen Räumen im Internet realisiert ist, scheint es für jede VRML-Gesellschaft unrealistisch, sich Hoffnungen auf finanzielle Gewinne zu machen. Der Vorschlag diskutiert die Einrichtung einer Verbindung zu einem Benutzerprofil, das HTML-codiert ist und Daten enthält, die der Benutzer je nach Wunsch entweder über seine Phantasie oder über seine wahre Identität bekanntgeben möchte: Identitätsnachweise, verkäuferspezifische Erweiterungen und die Geschichte des Benutzers. Eine Geschichte könnte sich auf Spiele beziehen, z.B. auf den Status eines Wizards in einem Rollenspiel, oder auch Marketinginformation über mittels Kreditkarte getätigte Käufe enthalten.

Schluss In seiner heutigen Ausprägung ist das Internet ein großes Testgelände für die Auslotung des Markts, sozusagen ein lebendes Labor. Es ist klar, dass der Weg, den die meisten Gesellschaften einschlagen, in der Entwicklung von »Multi-User-Communities« mit genormten Avatars besteht. So ist die Verbindung zwischen dem Benutzer, dem physischen Selbst und dem Bankkonto direkt und eindeutig. Die von den Firmen gestiftete Verwirrung hinsichtlich der Idee des Avatar besteht darin, dass jene, die an der »Spitze« der Hierarchie stehen – die Besitzer der Server – das Fußvolk der Benutzer zu Avatars berufen. Dies verleiht dem Anwender vermeintliche Macht, und schließlich beginnt er misstrauisch zu werden. Die Technologie wird »Gott«, namenloser Avatar, unsichtbare Macht. Wenn Internet2 Realität wird, wenn Avatars genormt werden und Cybercash perfektioniert wird, dann werden wir auf eine Welt blicken, die wir uns heute nicht einmal vorstellen können. Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Prantner

Literatur Cleland, Kim: »Chat Gives Marketers Something to Talk About«, in: Advertising Age (1996), S. 38-41.

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504 | Victoria Vesna Curtis, Pavel: Mudding: Social Phenomena in Text-based Virtual Realities, unveröffentlichtes Manuskript 1992. Dictionary of Hinduism, London 1977. Dillistone, Frederick William: The Structure of the Divine Society, Cambridge 1951. Farmer, Randy/Morgenstar, Chip: From Habitat to Global Cyberspace, unveröffentlicht 1995; http://www.communities.com/paper/hab2cybr. html. Hillman, James: Kinds of Power, Redfern 1995. Levere, Jane: Advertising: »With Soap Operas on Web, What’s Next?«, The New York Times, 11. März 1996. Longman Dictionary, Harlow (Essex) 1985. Oxford Dictionary, New York 1990. Random House Dictionary, New York 1994. Riedman, Paul: »Avatars Build Character on 3D Chat Sites«, in: Advertising Age (1996), S. 57-61. Small, Peter: Magical Web Avatars: The Sorcery of Biotelemorphic Cells, unveröffentlicht 1997; http://192.41.36.58/avatars/Index.htm Stephenson, Neal: Snow Crash, New York 1992. Suler, John: The Psychology of Cyberspace. World Wide Web, unveröffentlicht Nov. 1996; http://www.rider.edu/~suler/psycyber Turkle, Sherry: The Second Self: Computers and the Human Spirit, New York 1984. Turkle, Sherry: Life on the Screen, New York 1995. Webster’s New Dictionary, Cleveland 1991. Wilcox, Sue: »Bringing ›Behaviors‹ to VRML: Making Sense of the Avatar Debate«, in: Netscape World, unveröffentlicht 1997; http://www.nets capeworld.com/netscapeworld/nw-01-1997/nw-01-avatar.html, offline.

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Ich bin Wir? (2001) | 505

Ich bin Wir? (2001) Sherry Turkle

Wir bewegen uns von modernistischer Kalkulation in Richtung postmodernistischer Simulation, wo das Selbst ein multiples, verteiltes System ist.

Es gibt viele Sherry Turkles. Es gibt eine »französische Sherry«, die in den 1960er Jahren in Paris Poststrukturalismus studierte. Es gibt die Sozialwissenschaftlerin, ausgebildet in Anthropologie, Individualpsychologie und Soziologie. Es gibt Dr. Turkle, die medizinische Psychologin. Es gibt Sherry Turkle, die Buchautorin von »Psychoanalytic Politics« (1978) und »The Second Self: Computers and the Human Spirit« (1984). Es gibt die Professorin Sherry Turkle, die seit beinahe 20 Jahren Studierende am MIT betreut. Und es gibt die Forscherin des Cyberspace, die Frau, die sich womöglich als Mann einloggt oder als eine andere Frau oder ganz einfach als ST. All diese Sherry Turkles zusammen haben ein neues Buch geschrieben, »Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet«, das am 30. November 1995 bei Simon & Schuster erschien. »Life on the Screen« handelt davon, wie grundlegend der Computer unsere Art und Weise zu denken und fühlen formt, wie Menschen von Technologien geprägte Ideen für ihre eigenen Zwecke adaptieren, wie Computer nicht nur unser Leben, sondern unser Selbstverständnis verändern. Die Geschichte gründet sich auf Turkles Forschungsarbeit der letzten Dekade. Bei einer Reihe von Pizzapartys, die in der Umgebung Bostons für MUDs veranstaltet wurden, beobachtete Turkle, dass sich Gespräche schnell um multiple Persönlichkeiten, Romanzen und das, was im virtuellen Raum als »real« gelten mag, drehten. Sie wandte sich bald der Welt des Internet Relay Chat, der Newsgroups, der Bulletin Boards sowie diversen kommerziellen Online Services zu. Und untersuchte ebenso die sich multiplizierenden Cyberspace-Existenzen von Kindern und Jugendlichen. Was hat sie herausgefunden? Dass das Internet Millionen von Menschen in neuen Räumen miteinander verbindet, die die Art wie wir denken und Gemeinschaften bilden, verändern. Dass wir uns von »einer modernistischen Kultur der Kalkulation in Richtung einer postmodernistischen

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506 | Sherry Turkle Kultur der Simulation« entwickeln. Dass uns das Leben am Monitor erlaubt, »uns für unsere eigene Dramen – Dramen, in denen wir Produzent/ -in, Regisseur/-in und Star sind – zu inszenieren. Der Computermonitor ist der neue Ort für unsere Fantasien, sowohl für erotische als auch für intellektuelle. Wir benutzen das Leben am Bildschirm, um mit den neuen Denkweisen über Evolution, Beziehungen, Sexualität, Politik und Identität vertraut zu werden.« Turkles Metapher des Fensters eignet sich gut, um die folgenden Auszüge aus ihrem neuen Buch vorzustellen. »Dieses hermetisch abgeschottete Reich am Monitor erlaubt uns, immer wieder durch den Cyberspace und das reale Leben zu zirkulieren«, schreibt Turkle. Fenster ermöglichen es, gleichzeitig in mehreren Kontexten zu sein – in einer MUD, in einem Textverarbeitungsprogramm, in einem Chatroom, in einer E-Mail. »Fenster sind eine starke Metapher dafür geworden, uns als multiples, verteiltes System zu verstehen«, schreibt Turkle. »Das Selbst spielt nicht mehr bloß unterschiedliche Rollen in verschiedenen Settings zu verschiedenen Zeiten. Die Lebenspraxis in Fenstern ist das eines dezentralen Selbst, das in vielen Welten existiert, das zeitgleich viele Rollen spielt.« Nun mag das reale Leben »bloß ein weiteres Fenster sein«, wie eine der von Turkle befragten Personen meint. Noch vor 10 bis 15 Jahren war es beinahe undenkbar, über den Umgang mit Computern im Sinn von vagen Unternehmungen und ungewissen Wahrheiten zu sprechen. Der Computer besaß eine klare intellektuelle Identität als Rechenmaschine. In einem Einführungskurs für Programmieren an der Harvard University stellte ein Professor 1978 den Computer als riesigen Kalkulator vor. Er versicherte den Studierenden, dass Programmieren eine schematische Technik sei, dessen Regeln glasklar seien. Solche Beteuerungen fangen den Kern dessen, was ich als modernistische computerbasierte Ästhetik bezeichne, ein. Das ist der Computer als Rechner: Egal, wie kompliziert ein Computer erscheinen mag, das, was im Inneren abläuft, kann mechanisch erklärt werden. Programmieren war eine technische Fähigkeit, die richtig oder falsch ausgeführt werden konnte. Die richtige Weise wurde durch das Wesen des Computers als Rechenmaschine vorgegeben. Die Richtigkeit war linear und logisch. Dieses lineare, logische Modell leitete das Denken nicht nur über Technologie und Programmieren, sondern auch über Ökonomie, Psychologie und soziales Leben. Computerbasierte Begriffe waren eine der großen modernen Metanarrative, sie waren Erzählweisen wie die Welt funktioniert und boten vereinheitlichende Bilder an; mit ihnen konnten komplizierte Sachverhalte analysiert werden, indem diese in simplere Elemente zerlegt wurden. Computer, so nahm man an, würden – indem sie sich zu besseren und schnelleren Rechenmaschinen, zu besseren und schnelleren Analysemotoren entwickelten – mächtiger werden, sowohl als Werkzeuge als auch als Metaphern. Aus heutiger Sicht sind diese grundlegenden Lektionen virtueller Er-

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Ich bin Wir? (2001) | 507 fahrung falsch. Programmieren ist nicht mehr ein schematischer Prozess. Programmieren wir etwa, wenn einer von uns seine Textverarbeitungssoftware individuell adaptiert? Wenn man »Organismen« entwirft, um im Computerspiel SimLife eine Simulation der darwinistischen Evolution zu bevölkern? Oder wenn man in einer MUD einen Raum baut, damit, bis auf einen Tag im Jahr immer, wenn die Tür dazu geöffnet wird, die Melodie »Happy Un-Birthday« ertönt? Die Lektionen virtueller Alltagskultur haben heutzutage nichts mit Kalkulation und Regeln zu tun, sondern mit Simulation, Navigation und Interaktion. Schon die Vorstellung des Computers als riesiger Rechenmaschine ist kurios geworden und veraltet. Vor 15 Jahren waren die meisten Benutzer von Computern darauf eingeschränkt, Befehle zu tippen. Heute benutzen sie serienmäßig produzierte Software, um simulierte Schreibtische zu bedienen, mit simulierten Farben und Pinseln zu zeichnen und in simulierten Cockpits zu fliegen. Die heutigen computerbasierten Modelle unseres Verstandes umfassen oft eine postmoderne Ästhetik dezentraler Organisation. Ein Großteil führender Computerwissenschaftler strebt nicht mehr danach, Computern Intelligenz zu programmieren, sondern erwartet sich, dass Intelligenz durch die Interaktionen kleiner Subprogramme entsteht. Bei den Spielen der sogenannten Sim-Serie (SimCity, SimLife, SimAnt, SimHealth) versucht man, eine Gemeinschaft, ein Ökosystem oder eine Öffentlichkeit herzustellen. Ziel ist es, ein erfolgreiches Ganzes aus komplexen, miteinander in Beziehung stehenden Teilen zu kreieren. Tim ist 13 Jahre alt und unter seinen Freunden sind die Sim-Spiele Thema ausführlicher Gespräche über das, was er die Sim-Geheimnisse nennt. »Jedes Kind weiß, dass Shift-F1 zu drücken einem einige tausend Dollar in SimCity bringt«, gesteht er. Doch Tim weiß, dass die Sim-Geheimnisse auch ihre Grenzen haben. Sie sind kleine Tricks, doch um die geht es nicht in dem Spiel. Im Spiel geht es darum, Entscheidungen zu treffen und Feedback zu bekommen. Tim spricht zwanglos über die Kompromisse in SimCity – von Baubeschränkungen innerhalb einer Zone und wirtschaftlicher Entwicklung, Umweltkontrollen und Wohnungsförderungen. SimLife ist Tims Lieblingsspiel, denn »auch wenn es kein Videospiel ist, kann man es wie eines spielen.« Er meint damit, dass – wie in einem Videospiel – Ereignisse in der Sim-Welt Dinge vorantreiben. (»Meine Trilobyten sind ausgestorben. Sie müssen wohl zu wenige Algen gehabt haben. Ich gab ihnen keine Algen. Ich hab das vergessen. Ich glaube, ich mache das ab jetzt.«). Er ist in der Lage, aufgrund einer vagen, intuitiven Ahnung dessen, was funktionieren wird, zu agieren, auch wenn er kein verifizierbares Modell der dem Spiel zugrunde liegenden Regeln hat. Wenn er sein Universum in einem Szenario bevölkert, das einem Biologielabor ähnelt, gibt Tim jeweils 50 von seinen Lieblingslebewesen hinein, wie etwa Trilobyten und Seeigel, doch nur 20 Haie. (»Von denen möchte ich nicht 50, ich will das hier ja nicht ruinieren.«) Tim kann immer noch spielen,

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508 | Sherry Turkle auch wenn er keine Ahnung hat, was der Motor des Geschehens ist. Beispielsweise frage ich ihn, wenn seine Seeigel aussterben, warum das passiert ist. Tim: ST: Tim: ST: Tim:

Ich weiß nicht. Das ist einfach etwas, das passiert. Weißt Du wie man die Ursache herausfinden kann? Nein. Stört es Dich, dass du keine Erklärung dafür hast? Nein. Ich lasse mich durch solche Dinge nicht stören. Das ist nicht wichtig.

»Dein Orgot wird gerade aufgefressen«, sagt uns das Spiel. Ich frage Tim was ein »Orgot« ist. Er weiß es nicht. »Ich ignoriere das einfach«, sagt er. »Um zu spielen braucht man solche Dinge nicht zu wissen.« Es fällt mir sichtlich schwer, meine seit jeher existierende Gewohnheit zu verstecken, Wörter, die ich nicht verstehe, nachzuschlagen, da Tim versucht, mich mit einem Arbeitsbegriff für »Orgot« zu beschwichtigen. »Ich ignoriere den Begriff, doch ich glaube, es ist eine Art Organismus. Das hab ich nie gelesen, aber rein durchs Spielen würde ich sagen, dass es so etwas ist.« Das »Orgot«-Thema kommt nicht zur Ruhe: »Dein Feigen-Orgot hat sich in eine andere Art verwandelt«, informiert uns das Spiel. Diesmal sage ich nichts, doch Tim kann meine Gedanken lesen: »Lass Dich nicht beirren, wenn Du nicht verstehst. Ich sage mir einfach, dass ich das ganze Spiel in nächster Zeit vermutlich nicht verstehen werde können. Also spiele ich es einfach.« Ich beginne in Wörterbüchern nachzuschlagen, in denen »Orgot« nicht gelistet ist, und finde schließlich im Spiel selbst eine Referenz dazu, in einer Datei, die READ ME benannt ist. Die Datei entschuldigt sich dafür, dass »Orgot« in dieser Version von SimLife mehrere und in mancherlei Hinsicht einander widersprechende Bedeutungen erhalten hat, dass eine jedoch dem Begriff des Organismus ziemlich nahe kommt. Tim hatte Recht gehabt. Kinder kommen mit der Idee, dass leblose Objekte sowohl denken als auch eine Persönlichkeit besitzen können, gut zurecht. Doch sie fragen sich nicht mehr, ob die Maschine lebt. Sie wissen, dass sie dies nicht tut. Die Frage des Lebendig-Seins ist in den Hintergrund gerückt, so als ob dies geklärt wäre. Doch der Begriff der Maschine wurde erweitert und beinhaltet die Annahme, dass sie eine Psyche besitzt. Wenn sie von Computern auf psychologische Weise sprechen, gestatten Kinder diesen Maschinen, eine Spur Animismus zu bewahren, ein Zeichen, dass sie eine Phase gründlicher Überlegung durchlaufen haben, in der die Frage der Lebendigkeit des Computers im Mittelpunkt stand. Kinder gestehen der Welt der Maschinen auch neue Fähigkeiten und Privilegien zu, die auf der Grundlage ihrer Lebhaftigkeit, wenn nicht ihres Lebens basieren. Sie sorgen dafür, künstliche Objekte mit Eigenschaften

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Ich bin Wir? (2001) | 509 auszustatten, beispielsweise mit Zielen und Ideen, die einst nur Lebewesen vorbehalten waren. Computern eine psychologische Komponente zuzugestehen kann bedeuten, dass die Objekte der Kategorie »Maschine«, genau wie die Objekte der Kategorien »Menschen« und »Haustiere«, passende Partner für den Dialog und Beziehungen werden. Obwohl Kinder zunehmend den Computer lediglich als Maschine betrachten, schreiben sie diesen mit zunehmender Wahrscheinlichkeit Qualitäten zu, die die Unterscheidung Maschine/Mensch unterminieren. Kinder entwickeln diese beiden Konzepte gleichzeitig und verstehen das, was sie als psychologische Aktivität des Computers begreifen (die Interaktivität genauso wie Sprechen, Singen und Rechnen), als Zeichen von Bewusstsein. Doch sie bestehen darauf, dass Atmen, Blut haben, Geborenwerden und, wie ein Kind es nannte, »echte Haut zu besitzen«, die wahren Zeichen für Leben sind. Heutzutage denken Kinder über Maschinen nach, von denen sie glauben, dass sie intelligent sind und Bewusstsein haben, ohne davon auszugehen, dass es sich dabei um lebendige Wesen handelt. Diese Kinder, die so mühelos Bewusstsein und Leben voneinander trennen, sind Pioniere einer größeren kulturellen Bewegung. Erwachsene, die viel weniger als Kinder einzugestehen bereit sind, dass die gegenwärtig avanciertesten Computerprogramme nahe daran sind an einem Bewusstsein, schrecken nicht mehr vor eben jener Idee der denkenden Maschine zurück. Selbst noch vor zehn Jahren provozierte die Idee maschineller Intelligenz scharfe Debatten. Heute dreht sich die Kontroverse um Computer nicht mehr um ihre Fähigkeit von Intelligenz, sondern um ihre Lebens-Fähigkeit. Wir sind bereit zuzugestehen, dass die Maschine ein Bewusstsein besitzt, doch nicht, dass sie lebendig sein kann. Menschen akzeptieren die Idee, dass bestimmte Maschinen einen Anspruch auf Intelligenz haben und folglich auf einen respektvollen Umgang. Sie sind bereit, sich mit Computern in vielen Bereichen zu beschäftigen. Allerdings, wenn sie überlegen, was – wenn überhaupt – Computer letztlich von uns Menschen unterscheidet, dann verweilen sie lang und gerne bei den Aspekten des Menschen, die mit der Sinnlichkeit und physischen Körperlichkeit des Lebens verbunden sind. Es ist, als ob sie betonen wollten, dass, obwohl moderne Maschinen möglicherweise in einem kognitiven Sinn psychologisch zu verstehen sind, sie keinesfalls psychologisch vergleichbar in der Art unserer Beziehung zu unserem Körper oder zu anderen Menschen sind. Manche Computer mögen als intelligent betrachtet werden und können sogar ein Bewusstsein entwickeln, doch sie werden nicht von einer Mutter geboren, in Familien großgezogen, sie kennen nicht den Schmerz des Verlusts noch leben sie mit dem Bewusstsein, dass sie sterben werden. Der 13-jährige Tim glaubt, dass SimLife im Gegensatz zu Videospielen und Computerprogrammieren nützlich ist. »Man kann Pflanzen und Tiere

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510 | Sherry Turkle in andere Spezies verwandeln. Man kann das Ökosystem in Balance halten. Man ist Teil von etwas Bedeutendem.« Tim glaubt, dass »die Tiere, die im Computer heranwachsen, lebendig sein könnten«, obwohl er, wie er hinzufügt, »das etwas unheimlich« findet. Die 10-jährige Robbie, die ein Modem zum Geburtstag geschenkt bekommen hat, betont nicht den Aspekt der Kommunikation, sondern den der Mobilität, wenn sie darüber nachdenkt, ob die Wesen, die sie in SimLife geschaffen hat, lebendig sind. »Ich glaube, sie sind ein bisschen lebendig im Spiel, doch man kann es abdrehen ohne das Spiel zu speichern und dann sind alle Lebewesen, die man geschaffen hat, verschwunden. Doch wenn sie herausfinden könnten, wie man diesen Teil des Programms loswird, so dass man das Spiel speichern müsste … dann könnten [die Lebewesen], wenn das Modem an ist, aus dem Computer kommen und zu America Online wechseln.«

Sean, 13, der noch nie ein Modem verwendet hat, entwickelt eine Variante von Robbies Vorstellung des Reisens. »Die Lebewesen könnten noch lebendiger sein, wenn sie in das DOS-System hinein könnten. Wenn sie im DOS-System wären, wären sie ein wenig wie Computerviren und könnten auf alle Disketten; und wenn man seinen Freunden diese Disketten leihen würde, dann wäre es, als würden sie reisen.« In den späten 70er und frühen 80er Jahren, als ich die kindlichen Vorstellungen über Lebendigkeit im Zusammenhang mit Standrechnern studierte, hatte sich der Fokus des kindlichen Denkens auf die psychologischen Eigenschaften eines Objekts verlagert. In den Aussagen von Kindern über Lebewesen, die in Simulationsspielen existieren, wie sie heutzutage von Reisen via zirkulierender Disketten oder via Modem, von Viren und Netzwerken sprechen, kommt Bewegung als Kriterium für das LebendigSein wieder zum Vorschein. Kinder nehmen vielfach an, dass die Kreaturen der Sim-Spiele ein Verlangen haben, aus dem System auszubrechen und in eine größere digitale Welt zu gehen. Die Lebewesen im simulierten Raum fordern Kinder heraus, eine neue Sprache zu entwickeln, um über sie und ihren Zustand zu sprechen, wie auch mobile Roboter, die herumwandern und ihre »eigenen Entscheidungen« darüber treffen, wohin sie gehen. Als der MIT-Professor Rodney Brooks seine 10-jährige Tochter fragte, ob seine »Moboter« – das heißt seine mobilen Roboter – lebendig seien, antwortete sie: »Nein, sie haben bloß die Kontrolle.« Für dieses Kind, und das trotz der Arbeit seines Vaters, ist Leben biologisch begründet. Man kann Bewusstsein und Sinn besitzen ohne lebendig zu sein. Am Schluss der »Artificial Life Conference« im Jahre 1992 saß ich neben der 11-jährigen Holly und wir beobachteten eine Gruppe von Robotern mit merklich unterschiedlichen »Persönlichkeiten«, die an einer speziellen Roboterolympiade miteinander wetteiferten. Ich erzählte ihr, dass ich zu Roboter und Leben forschte und Holly wurde nachdenklich. Dann sagte sie plötzlich:

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Ich bin Wir? (2001) | 511 »Ich mag Pinocchio. Zuerst war Pinocchio nur eine Marionette. Er war gar nicht lebendig. Dann war er eine lebendige Marionette. Dann war er ein lebendiger Bub. Ein echter Bub. Doch er war lebendig, bevor er ein echter Bub war. Also, ich glaube, dass Roboter so sind. Sie sind so lebendig wie Pinocchio [die Marionette], aber nicht wie echte Buben.«

In den frühen 70er Jahren wurde die Game Culture von Dungeons and Dragons, einem Face-to-Face Rollenspiel überrollt. In der High-Tech-Kultur blieb der Begriff »dungeon« als Bezeichnung für einen virtuellen Ort erhalten. Als also virtuelle Räume geschaffen wurden, die viele User benutzen und darin kollaborieren konnten, wurden diese als Multi-User-Dungeons oder MUDs betrachtet, eine neue Art von sozialer virtueller Wirklichkeit. (Manche Spiele basieren auf Software, die sie technisch zu MUSHes oder MOOs machen, doch der Begriff MUD wird für alle Multi-User-Environments verwendet.) MUDs sind eine neue Art des virtuellen Wohnzimmer-Spiels und eine neue Form von Gemeinschaft. Zudem sind textbasierte MUDs eine neue Form kollaborativer Literatur. MUD-Spieler sind MUD-Autoren und zugleich die Produzenten und Konsumenten der medialen Inhalte. So gesehen hat die Teilnahme an einer MUD viele Ähnlichkeiten mit dem Verfassen von Drehbüchern, mit Performance Art, Straßentheater, Improvisationsschauspiel oder sogar der Commedia dell’Arte. Doch MUDs sind auch noch etwas anderes. Durch ihre Teilnahme werden die Spieler nicht nur zu Textautoren, sondern zu Autoren ihrer selbst und konstruieren neue Identitäten durch die soziale Interaktion. Da die Teilnahme an einer MUD durch das Schicken von Text an einen Computer, der das MUD-Programm und dessen Datenbank enthält, gekennzeichnet ist, sind MUD-Identitäten durch die Interaktion mit der Maschine bestimmt. Nehmen Sie diese weg und die MUD-Charaktere hören auf zu existieren: »Ein Teil von mir, ein sehr wichtiger, existiert nur in PernMUD«, sagt ein Spieler. Mehrere Spieler scherzen, dass sie wie »die Elektroden in einem Computer« sind, um den Grad ihres Gefühls der Zugehörigkeit zu diesem Raum zum Ausdruck zu bringen. Sämtliche MUDs sind mittels der Metapher des physischen Raums organisiert. Wenn man eine MUD betritt, findet man sich womöglich in einer mittelalterlichen Kirche wieder, von der aus man den städtischen Hauptplatz betreten kann, oder aber in der Garderobe eines großen, weitläufigen Hauses. Wenn man sich beispielsweise bei LambdaMOO einloggt, eine der beliebtesten MUDs im Internet, findet man folgende Beschreibung: »Der Garderobenraum. Die Garderobe ist ein dunkler, beengter Raum. Es scheint sehr voll zu sein hier drinnen; andauernd rennen Sie gegen Dinge, die sich wie Mäntel, Stiefel und andere Menschen (die anscheinend schlafen) anfühlen. Eine nützliche Sache, die Sie in Ihrem Herumtaumeln entdeckt haben, ist eine metallene

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512 | Sherry Turkle Türschnalle, die in Hüfthöhe an etwas, das möglicherweise eine Tür ist, angebracht ist. Es gibt eine aktuelle Ausgabe der Zeitung. Schreiben Sie ›News‹, um sie zu sehen.«

In den MUDs unterhalten sich virtuelle Charaktere miteinander, sie tauschen Gestiken, drücken Gefühle aus, gewinnen und verspielen virtuelles Geld und ihr sozialer Status steigt und fällt. Eine virtuelle Person kann auch sterben. Einige sterben eines »natürlichen« Todes (ein Spieler beschließt, sie abzudrehen), ihr virtuelles Leben kann aber auch vernichtet werden. Das alles wird durch Schreiben erreicht – und das in einer Kultur, die in der audiovisuellen Umarmung des Fernsehens scheinbar in einen tiefen Schlaf gefallen war. Doch dieses neue Schreiben ist eine Art Hybrid, eine Mischform: Sprache, die, augenblicklich eingefroren, ein Artefakt wird, allerdings ein merkwürdig ephemeres Artefakt. Bei dieser neuen Form des Schreibens ersetzt ein flimmernder Bildschirm bald den vorhergehenden – wird das neu Geschriebene nicht ausgedruckt. Die Anonymität der MUDs gibt Menschen die Chance, viele oft unerforschte Aspekte ihres Selbst zum Ausdruck zu bringen, mit ihrer Identität zu spielen und neue Identitäten auszuprobieren. MUDs erlauben die Erschaffung einer Identität, die so fließend und multipel ist, dass dies an die Grenzen des Begriffs geht. Schließlich bezieht sich Identität auf die Gleichheit zwischen zwei Eigenschaften, in diesem Fall zwischen einer Person und seiner oder ihrer Figur. In MUDs kann man jedoch mehrere zugleich sein. Ein 21-jähriger Student verteidigt seine gewalttätigen Charaktere als »etwas, das in mir ist; doch offen gesagt, würde ich lieber innerhalb der MUDs, wo es keinen Schaden anrichtet, vergewaltigen«. Eine 26-jährige Büroangestellte meint: »Ich bin nicht ein Ding, ich bin viele Dinge. Jeder Teil kommt in MUDs viel stärker zum Ausdruck als im wirklichen Leben. Obwohl ich also mehr als ein Selbst in den MUDs spiele, fühle ich mich mehr ›ich selbst‹, wenn ich in die MUDs hineingehe.« In der Wirklichkeit scheint dieser Frau die Welt zu eng als dass sie ihr erlauben würde, bestimmte Aspekte ihrer Persönlichkeit, die sie zu sein fühlt, zu äußern. Computercharaktere zu schaffen scheint also eine Möglichkeit der Selbstdarstellung zu sein und führt dazu, dass sie sich innerhalb einer Reihe virtueller Masken mehr sich selbst fühlt. MUDs bedeuten Verschiedenheit, Vielheit, Heterogenität und Fragmentierung. Eine solche Erfahrung von Identität widerspricht der lateinischen Wurzel des Wortes, idem, was »das Gleiche« bedeutet. Doch dieser Widerspruch definiert zunehmend unsere Lebensbedingungen auch jenseits der virtuellen Welt. MUDs werden also zu Denkhilfen für das Nachdenken über die postmoderne Identität. Die Entfaltung sämtlicher MUDAktivitäten findet in der Tat in einem entschieden postmodernen Kontext statt. Es gibt parallele Erzählungen in den unterschiedlichen Räumen einer MUD. Die Kulturen von Tolkien, Gibson und Madonna koexistieren und interagieren miteinander. Da MUDs von ihren Spieler/-innen geschrieben

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Ich bin Wir? (2001) | 513 werden, sind insgesamt tausende von Menschen, manchmal hunderte zur gleichen Zeit, an verschiedenen Orten eingeloggt; der einzelne Autor ist versetzt und verteilt. Traditionelle Vorstellungen von Identität sind an einen Begriff der Authentizität gebunden, die solch virtuelle Erfahrungen aktiv untergraben. Wenn jeder Spieler viele Charaktere in vielen Spielen schaffen kann, ist das Selbst nicht nur dezentriert, sondern auch endlos multipliziert. Als neue gesellschaftliche Erfahrung werfen MUDs viele psychologische Fragen auf: Welche Auswirkung hat es, wenn eine Figur in einem Rollenspiel zu sehr »aus sich herausgeht«? Wenn im Spiel etwas gewagt wird, dessen sich der Spieler im »wirklichen« Leben entsagt? Was, wenn die Figur Erfolg auf einem Gebiet genießt (sagen wir beim Flirten), die der Spieler niemals erreichen konnte? Konfusionen tauchen dann häufig dort auf, wo Figur und Spieler verschmelzen, wo die multiplen Charaktere zusammengenommen etwas ergeben, was der Spieler als sein oder ihr authentisches Selbst begreift. Doug ist ein College-Student aus dem Mittleren Westen. Er spielt vier Charaktere in drei verschiedenen MUDs. Einer davon ist der einer verführerischen Frau. Einer ist ein cowboyhafter Macho, dessen Selbstbeschreibung betont, dass er »der Typ Marlboro-Mann« ist. Die dritte Figur ist ein Hase von nicht näher definiertem Geschlecht, der die MUD durchwandert und dabei Leute einander vorstellt; eine Figur, die er Carrot nennt. Doug meint dazu: »Carrot ist so unaufdringlich, dass die Leute ihn sogar bei ihren Privatgesprächen dabei sein lassen. Ich halte Carrot also für meinen passiven, voyeuristischen Charakter.« Die vierte Figur spielt Doug nur in einer MUD, in der sämtliche Figuren Pelztiere sind. »Ich möchte über diese Figur am liebsten gar nicht sprechen, da mir meine Anonymität dort sehr wichtig ist«, meint Doug. »Nur soviel sei gesagt, dass ich mich in FurryMUDs wie ein Sextourist fühle.« Doug erzählt, wie er in Fenstern seine Figuren spielt und wie das Benutzen von Fenstern es ihm ermöglicht hat, »Teile meines Gehirns ein- und auszuschalten«. »Ich teile mein Bewusstsein … ich kann mich als zwei, drei oder mehrere betrachten. Und ich schalte einfach einen Teil meines Verstandes aus und dann wieder ein, wenn ich mich von Fenster zu Fenster bewege. In einem Fenster bin ich in irgendeinen Streit verwickelt, und mache mich in einer anderen MUD an ein Mädchen ran; und in einem anderen Fenster läuft vielleicht ein Tabellenkalkulationsprogramm oder irgendein anderes technisches Ding für die Schule … Und dann erhalte ich eine Echtzeit-Nachricht, die am Bildschirm aufblitzt, sobald sie von einem anderen Systembenutzer geschickt wurde; ich schätze das ist RL (Real Life). RL ist bloß ein weiteres Fenster, und meist ist es nicht mein bestes.«

Spielen war schon immer ein bedeutender Aspekt unserer persönlichen Anstrengungen, eine Identität aufzubauen. Der Psychoanalytiker Erik Erikson nannte das Spielen eine »Spielzeug-Situation«, »in dessen Unwirk-

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514 | Sherry Turkle lichkeit« es möglich ist, uns »zu offenbaren und anzuvertrauen«. Obwohl MUDs nicht die einzigen »Orte« im Internet sind, wo mit Identität gespielt wird, bieten sie dennoch eine unvergleichliche Möglichkeit für ein solches Spiel. In einer MUD hat man die Chance, tatsächlich eine Figur und die Umgebung zu schaffen und dann in dieser Spielzeug-Situation zu leben. Eine MUD kann der Kontext für die Entdeckung sein, wer man ist und wer man zu sein wünscht. So sind MUDs Laboratorien für die Konstruktion von Identität. Stewart, ein 23-jähriger Physikstudent, benutzt MUDs, um Erfahrungen zu machen, die er sich im wirklichen Leben (RL) nicht vorstellen kann. Seine intensiven Verwicklungen online beschäftigten sich mit zentralen Themen seines Lebens, doch letztendlich versagten sie dabei, erfolgreiche Lösungen zu finden. Im echten Leben dreht sich bei Stewart alles um die Laborarbeit und um seine Zukunftspläne in der Wissenschaft. Sein einziger Freund ist sein Zimmergenosse, der ebenfalls Physikstudent ist und den er als noch zurückgezogener als sich selbst beschreibt. Für Stewart bedeutet dieses beschränkte, fast klösterliche Studentenleben keine radikale Abweichung von dem Leben, das er davor geführt hatte. Seit seiner Kindheit leidet er an Herzproblemen; ein kleiner Aufstand, ein Skiausflug als er im ersten Semester war, brachte ihn für eine Woche ins Krankenhaus. Er hat ein recht beschränktes Leben geführt. Stewart ist mindestens 40 Stunden pro Woche in der einen oder anderen MUD eingeloggt. Es scheint irreführend zu sein, das, was er dort macht, als Spielen zu bezeichnen. Er verbringt seine Zeit damit, ein Leben zu entwerfen, das einen weiteren Horizont hat, ausgefüllter ist als jenes, das er tatsächlich, physisch lebt. Stewart, der sehr wenig gereist ist und noch nie in Europa war, erklärt mit Freude, dass seine liebste MUD zwar in Englisch gespielt wird, physisch aber auf einem Computer in Deutschland liegt und viele europäische Spieler hat. Auf dieser deutschen MUD hat Stewart eine Figur namens Achilles entworfen, doch bittet er seine MUD-Freunde, ihn so oft wie möglich Stewart zu nennen. Er möchte das Gefühl haben, dass sein reales Selbst irgendwo zwischen Stewart und Achilles existiert. Er will das Gefühl haben, dass sein MUD-Leben Teil seines wirklichen Lebens ist. Stewart besteht darauf, dass er nicht in Rollen schlüpft, sondern dass MUDs ihm einfach erlauben, eine bessere Version seines Selbst zu sein. In der MUD entwirft Stewart einen Lebensraum, der zu seinem idealen Selbst passt. Sein Studentenzimmer ist bescheiden, doch das Zimmer, das er für Achilles in der MUD gebaut hat, ist elegant und stark von Ralph Lauren-Werbungen beeinflusst. Er hat es »das Heim unter dem Silbermond« benannt. Es gibt da Bücher, ein loderndes Kaminfeuer, Cognac und einen Kaminsims »voll mit Bildern von Achilles’ Freunden aus aller Welt«: »Man blickt auf ... und durch das gewaltige Licht hat man einen atembe-

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Ich bin Wir? (2001) | 515 raubenden Blick auf den nächtlichen Himmel. Der Mond ist immer voll über Achilles’ Heim und sein Licht füllt das Zimmer mit einem warmen Schimmer.« Darüber hinaus, dass MUDs Stewarts soziale Welt erweitert haben, haben sie ihm auch die einzige Romanze und Intimität beschoren, die er je hatte. Bei einem gesellschaftlichen Ereignis, einer »Hochzeit« zwischen zwei Stammspielern einer in Deutschland beheimateten MUD, die ich Gargoyle nennen will, traf Achilles eine Figur namens Winterlight, die von einer der drei weiblichen Spielerinnen dieses MUDs gespielt wird. Stewart, der mit Rendezvous und romantischen Beziehungen nur wenig Erfolg hatte, konnte diese begehrte Spielerin bezaubern. Bei ihrer ersten Verabredung führte Achilles Winterlight in ein italienisches Restaurant ganz in der Nähe von Stewarts Studentenheim. Er hatte oft davon geträumt, mit einer Frau dorthin zu gehen. Stewart verwendete eine Kombination von MUD-Befehlen, um einen romantischen Abend zu simulieren – Winterlight vom Flughafen mit einer Limousine abholen, sie in ein Hotel fahren, damit sie duschen konnte, und sie dann in ein Restaurant führen und Kalbfleisch für sie bestellen. Dieses Abendessen führte zu weiteren Verabredungen, bei denen Achilles zärtlich und romantisch, galant und poetisch war. Die Intimität, die Achilles im Werben um Winterlight erfuhr, ist Stewart in anderen Zusammenhängen unbekannt. »Sie ist eine sehr gute Freundin. Ich habe eine Menge herausgefunden, von Dingen die Physiologie betreffend bis hin zur Farbe ihres Nagellacks.« Schließlich bat Achilles Winterlight um ihre Hand. Als sie zustimmte, hatten sie eine formale Verlobungsfeier in der MUD. Bei der Verlobung gab Winterlight Achilles eine Rose, die sie in ihrem Haar getragen hatte; Achilles gab ihr 1000 Papiersterne. Obwohl Stewart der Feier alleine in seinem Zimmer mit seinem Computer und Modem beiwohnte, reiste eine Gruppe europäischer Spieler/-innen tatsächlich nach Deutschland, wo der Server von Gargoyle steht, und traf sich bei gutem Essen und Champagner. Viele der 25 Gäste dieser Feier in Deutschland brachten Geschenke und hatten sich für den Anlass schick gekleidet. Stewart fühlte sich, als würde er eine Party organisieren. Es war das erste Mal, dass er jemals Gastgeber war und er war stolz auf seinen Erfolg. Im wirklichen Leben fühlte sich Stewart aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme, seiner Schüchternheit und sozialen Isolation sowie seiner wirtschaftlichen Nöte eingesperrt. In der Gargoyle-MUD hat er diese Hindernisse zumindest vorübergehend überwunden. Die psychologischen Auswirkungen des Lebens am Monitor können kompliziert sein: Ein sicherer Ort ist nicht alles, was man für einen persönlichen Wandel braucht. Stewart kam zur MUD mit ernsthaften Problemen und für ihn führte das Spielen in MUDs zu einem tatsächlichen Rückgang seiner Selbstachtung. MUDs halfen Stewart zwar, über seine Sorgen zu sprechen solange sie emotional relevant waren; dennoch ist Stewart ent-

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516 | Sherry Turkle schieden der Meinung, dass MUDden letztendlich dazu geführt hat, dass er sich schlechter fühlt. MUDden konnte Stewarts Bild von sich als zurückgezogen, unattraktiv und mangelhaft nicht ändern. Obwohl Stewart sich bemüht hat, sein Alter Ego in der MUD, der »bessere« Achilles, Teil seines realen Lebens werden zu lassen, sagt er, dass er versagt hat. Er sagt, »Ich bin nicht sozial. Ich mag keine Partys. Ich kann mit Leuten nicht über meine Probleme reden.« Eine Integration des sozialen Achilles, der über seine Sorgen sprechen kann, und des unsozialen Stewart, der nur durch das Ausblenden dieser zu Rande kommt, ist nicht passiert. Aus Stewarts Sicht haben MUDs ihn einiger seiner Schutzmechanismen beraubt, ihm aber im Gegenzug nichts gegeben. In der Tat erzeugen MUDs ein Gefühl der Verletzlichkeit, das Stewart bislang nicht kannte. Obwohl er hoffte, dass MUDs ihn heilen würden, sind es nun MUDs, die ihn krank machen: »Wenn du fühlst, dass du stagnierst und du das Gefühl hast, dass in deinem Leben nichts passiert und du feststeckst, passiert es sehr leicht, dass man sehr viel Zeit da drinnen verbringt.« Stewart kann nicht von den Erfahrungen und gesellschaftlichen Erfolgen seiner Achilles-Figur lernen, da diese sich zu sehr von dem unterscheiden, wozu er sich im Stande fühlt. Trotz seiner Bemühungen, Achilles in Stewart zu verwandeln, hat Stewart seine Kräfte gespalten und betrachtet sie nur als Möglichkeit für Achilles in der MUD. Es ist nur Achilles, der den Zauber verbreiten und das Mädchen für sich gewinnen kann. Indem er diese Unterscheidung zwischen sich selbst und den Errungenschaften seiner Monitor-Figur macht, gesteht sich Stewart die positiven Schritte, die er gemacht hat, im realen Leben nicht zu. Wie bei einer erfolglosen Psychotherapie hat das MUDden Stewart nicht dabei geholfen, diese guten Erfahrungen zu verinnerlichen oder sie in sein Selbstbild zu integrieren. Beziehungen in der Jugend sind üblicherweise durch ein allgemeines Verständnis darüber beschränkt, dass die Bindung von begrenzter Natur ist. Der virtuelle Raum ist für solche Beziehungen sehr passend; seine natürlichen Beschränkungen halten die Dinge in Grenzen. Wie im »Zauberberg« von Thomas Mann, der in der Isolation eines Sanatoriums spielt, werden Beziehungen sehr schnell intensiv, weil sich die Teilnehmer/-innen in einer entlegenen und unbekannten Welt mit seinen eigenen Regeln isoliert fühlen. Wie andere elektronische Treffpunkte, können auch MUDs eine Art leichter Intimität heranzüchten. In einer ersten Phase empfinden die Spieler/-innen die Aufregung einer sich schnell vertiefenden Beziehung und das Gefühl, dass selbst die Zeit beschleunigt ist. »Eine MUD beschleunigt Dinge. Sie beschleunigt Dinge unheimlich«, sagt ein Spieler. »Weißt du, man denkt nicht darüber nach während man spielt, doch du triffst jemand in einer MUD und innerhalb einer Woche hast du das Gefühl, dass ihr schon immer befreundet seid.« In einer zweiten Phase versuchen Spieler/-innen üblicherweise, die

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Ich bin Wir? (2001) | 517 Dinge von der virtuellen in die reale Welt zu führen und sind meist enttäuscht. Gender-Tausch in MUDs stellt keinen unwesentlichen Teil des Spiels dar. Einigen Schätzungen zufolge hat Habitat, eine japanische MUD, 1,5 Millionen User. Habitat ist ein kommerzieller MUD, der Profit einspielen soll. Unter den registrierten Mitgliedern von Habitat herrscht ein Verhältnis von vier realen Männern zu jeder realen Frau. Doch in der MUD ist das Verhältnis drei zu eins. Anders gesagt, eine signifikante Anzahl von Spielern, einige Zehntausende, haben Interesse am virtuellen Cross-Dressen. Worum geht es bei diesem virtuellen Gender-Tausch? Einige, die es tun, behaupten, es sei nicht besonders bedeutsam. »Wenn ich eine Frau spiele, nehme ich das in Wirklichkeit nicht zu ernst«, sagt der 20-jährige Andrej. »Ich mache es, um das Verhältnis von Frauen zu Männern zu verbessern. Es ist nur ein Spiel.« Auf einer Ebene ist der virtuelle GenderTausch einfacher als dies wirklich zu tun. Sich als Frau in einem Chatroom oder auf einem IRC-Kanal oder in einer MUD zu präsentieren, erfordert vom Mann lediglich, eine Beschreibung zu formulieren. Wollte ein Mann eine Frau auf den Straßen einer amerikanischen Stadt spielen, müsste er unterschiedliche Teile seines Körpers rasieren, Make-up und möglicherweise eine Perücke, ein Kleid und Stöckelschuhe tragen; vielleicht seine Stimme, seinen Gang und seine Manieren ändern. Er hätte Sorge zu bestehen und es bestünde vielleicht noch mehr Sorge, nicht zu bestehen und dies würde das Risiko von Aggression und möglicherweise sogar einer Verhaftung bedeuten. Es gibt also mehr Männer, die es mit virtuellem Cross-Dressing versuchen. Doch sobald sie mal als Frau online sind, finden sie es bald schwierig, diese Fiktion aufrechtzuerhalten. Eine Zeit lang als Frau durchzugehen bedeutet, zu verstehen wie das Geschlecht Sprache, Umgangsformen, die Interpretation von Erfahrungen beeinflusst. Frauen, die versuchen als Mann zu bestehen, sind mit derselben Herausforderung konfrontiert. Das virtuelle Cross-Dressen ist nicht so einfach, wie Andrej vorzugeben versucht. Es kann nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch psychologisch kompliziert sein. Eine virtuelle Rolle einzunehmen kann einen in dauernde Beziehungen verwickeln. Man entdeckt möglicherweise Dinge an sich selbst, die man bislang nicht kannte. Case, ein 34-jähriger Industrial Designer, der mit einer Kollegin glücklich verheiratet ist, spielt gegenwärtig eine weibliche Figur in einer MUD. Auf meine Frage, »Hat MUDden jemals emotionellen Schmerz bei dir verursacht?«, antwortet er: »Ja, aber ebenso einen Lernprozess, wie er aus schweren Zeiten resultiert.« »Mein Spiel schmerzt mich jetzt. Mairead, die Frau, die ich in MedievalMUSH spiele, führt eine interessante Beziehung mit einem Typen. Mairead ist Rechtsanwältin und die hohen Ausbildungskosten müssen von einem Unternehmen oder

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518 | Sherry Turkle einem Adelshaus bezahlt werden. Sie hat sich in einen Adeligen verliebt, der das Studium bezahlt hat. (Case geht dazu über, von Mairead in der ersten Person zu sprechen.) Nun will er mich heiraten, obwohl ich eine Bürgerliche bin. Schlussendlich habe ich ja gesagt. Ich versuche mit ihm darüber zu reden, dass ich eigentlich sein Eigentum bin. Ich bin eine Bürgerliche … Damit bin ich aufgewachsen, so ist das Leben. Er will diese Situation abstreiten. Er sagt, ›Nein, nein, nein … Wir werden dich auflesen, dich auf deine eigenen Beine stellen, die ganze Welt steht dir offen.‹ Doch jedes Mal, wenn ich mich benehme als würde ich eines Tages eine Gräfin sein … wie bei ›Und diese Tapete hat mir sowieso noch nie gefallen‹ werde ich zurechtgestutzt. Die Beziehung wechselt zwischen aufbauen und runtermachen. Das richtet bei einer Person psychologisch einen unglaublichen Schaden an. Und genau das, was er an ihr mochte, dass sie unabhängig, stark war, dass sie sagte, was sie bewegte – all das wird ihr ausgetrieben.«

Case sieht mich mit einem gequälten Lächeln an und seufzt, »das Leben einer Frau«. Er setzt fort: »Ich sehe, wie sie [Mairead] auf ein größeres psychologisches Problem zusteuert. Was wir haben ist eine nicht funktionierende Beziehung. Doch obwohl es sehr schmerzhaft und anstrengend ist, ist es sehr interessant mich zu beobachten, wie ich mit diesem Problem fertig werde. Wie werde ich meine Figur aus diesem Schlammassel herausholen? Denn ich will nicht so weitermachen. Ich will da raus … Du siehst, dass diese Frau zu spielen mir zeigt, was ich in meinem psychologischen Repertoire habe, was mir schwer- und was mir leichtfällt. Und ich kann auch sehen, wie manche Dinge, die funktionieren, wenn man ein Mann ist, einfach nicht gehen, wenn man eine Frau ist.«

Darüber hinaus führt Case die Komplexität des Rollentausches der Geschlechter als Vehikel der Selbsterkenntnis an. Er beschreibt sich als netten Typen im wirklichen Leben, ein »Jimmy Stewart-Typ, wie mein Vater«. Er sagt, dass er im Allgemeinen seinen Vater mag, und sich selbst, doch spürt er, dass er einen Preis für seine zurückhaltende Art zahlt. Insbesondere kommt er in Verlegenheit, wenn es zu Konfrontationen kommt, ob zu Hause oder in geschäftlichen Angelegenheiten. Case spielt in MUDs gerne eine weibliche Rolle, weil es ihm leichter fällt, aggressiv und konfliktfreudig zu sein. Online spielt Case mehrere »Katherine Hepburn-Typen«, starke, dynamische, »in der Welt stehende« Frauen, die ihn an seine Mutter erinnern, »die genau das sagt, was sie denkt«. Wenn man als Mann anmaßend ist, ist es für Case gleichbedeutend mit »ein Bastard, ein Rüpel« zu sein. Wenn man als Frau anspruchsvoll ist, wird es als »modern und ausgeglichen« gewertet. Einige Frauen, die männliche Rollen spielen, sehnen sich nach Unsichtbarkeit oder nach dem Recht, unverblümter oder aggressiv zu sein. »Ich

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Ich bin Wir? (2001) | 519 wurde im Süden geboren und mir wurde beigebracht, dass Mädchen Männern nicht widersprechen«, sagt Zoe, eine 34-jährige Frau, die männliche und weibliche Rollen in vier MUDs spielt: »Wenn wir beim Essen saßen redete immer mein Vater und meine Mutter pflichtete ihm bei. Ich dachte, mein Vater wäre ein Gott. Ein oder zwei Mal habe ich widersprochen. Ich erinnere mich besonders an ein Mal als ich zehn war und er mich dann ansah und sagte, ›Nun, nun … wenn dieser kleinen Blume noch mehr Dornen wachsen, wird sie nie einen Mann kriegen.‹«

Zoe schätzt MUDs dafür, dass sie ihr ermöglichen, eine geistige Haltung zu erlangen, wo sie ihre Anliegen innerhalb ihrer Ehe besser vertreten kann (»zu sagen, was mich bewegt, noch ehe alles aus dem Lot kommt«) und wo sie ihren Job als Finanzbuchhalterin für ein kleines Biotechnologie-Unternehmen meistert. »Ich habe zwei Jahre lang eine männliche MUD-Rolle gespielt. Anfänglich machte ich das, weil ich ein gleichberechtigtes Spielfeld in Sachen Autorität haben wollte, und die einzige Möglichkeit, die mir dazu einfiel, war, einen Mann zu spielen. Doch nach einer Weile war ich vom MUDden gefesselt. Ich wurde ein Magier in einer ziemlich simplen MUD. Ich nannte mich Ulysses und ließ mich auf das System ein und bemerkte, dass ich als Mann standhaft, hart sein konnte und die Leute glauben würden, ich sei ein großartiger Magier. Wenn ich als Frau meine Grenzen ziehe und standhaft bin, habe ich mich immer wie eine Zicke gefühlt und eigentlich spüre ich, dass auch die Leute mich als Zicke betrachteten. Als Mann war ich von all dem befreit. Ich lernte aus meinen Fehlern. Ich wurde besser im streng sein, doch wurde ich nicht rigide. Ich übte, in sicherer Entfernung von Kritik.«

Zoes Wahrnehmung ihrer geschlechtsspezifischen Schwierigkeiten sind beinahe das Gegenteil von Cases. Während Case Aggression nur bei Frauen akzeptabel findet, findet Zoe dies nur bei Männern. Diese Geschichten teilen die Idee, dass der virtuelle Geschlechtertausch Menschen einen größeren emotionellen Raum in der Wirklichkeit verschaffte. Zoe meint: »Ich wurde wirklich gut darin, einen Mann zu spielen; so gut, dass jeder im System mich als Mann akzeptierte und mit mir wie mit einem Mann sprach. Folglich sprachen andere Typen mit Ulysses von Mann zu Mann. Es war sehr bestätigend. All die Jahre war ich paranoid darüber, wie Männer über Frauen sprachen. Oder ich dachte ich sei paranoid. Dann hatte ich die Chance, ein Mann zu sein, und ich sah, dass ich überhaupt nicht paranoid war.«

Virtueller Sex, ob in MUDs, privaten Räumen oder kommerziellen Online-Services, besteht aus zwei oder mehr Spieler/-innen, die Beschreibungen von körperlichen Handlungen, verbalen Äußerungen und emotionel-

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520 | Sherry Turkle len Reaktionen ihrer Figuren tippen. Im Cyberspace ist diese Aktivität nicht nur gewöhnlich, sondern für viele Leute der Mittelpunkt ihrer Online-Erfahrungen. In MUDs haben manche Menschen Sex als Figuren ihres eigenen Geschlechts. Andere haben Sex als Figuren des anderen Geschlechts. Manche Männer spielen weibliche Figuren, um Netsex mit Männern zu haben. Und beim »Falsche-Lesbierin-Syndrom« übernehmen Männer weibliche Online-Rollen, um Netsex mit Frauen zu haben. Obwohl es nicht so weit verbreitet zu sein scheint, habe ich einige Frauen kennen gelernt, die erzählen, dass sie als männliche Figuren auftreten, um Netsex mit Männern zu haben. Manche Menschen haben Sex als nicht-menschliche Figuren, beispielsweise als Tiere in den FurryMUDs. Manche genießen Sex mit einem Partner. Manche nutzen Virtual Reality als Ort, um mit Gruppensituationen zu experimentieren. Im wirklichen Leben kann solch ein Verhalten (wo möglich) enormen praktischen und emotionellen Stress verursachen. Virtuelle Abenteuer sind möglicherweise ein einfacheres Unterfangen, doch auch sie können in bedeutende Komplikationen münden. Martin und Beth, beide 41, sind seit 19 Jahren verheiratet und haben vier Kinder. Am Anfang ihrer Ehe bereute Martin es, nicht mehr Zeit gehabt zu haben, um sexuell zu experimentieren und hatte eine außereheliche Affäre. Dieser Seitensprung verletzte Beth zutiefst und Martin beschloss, so etwas nie wieder zu tun. Als Martin MUDs entdeckte, war er begeistert. »Ich bin wirklich monogam. Ich bin wirklich nicht an außerehelichen Beziehungen interessiert. Doch, Sie wissen schon, die Möglichkeit, ein bisschen TinySex zu haben, ist irgendwie cool.« Martin beschloss, Beth von seinem Sexleben in der MUD zu erzählen und sie beschloss, ihm zu sagen, dass es ihr nichts ausmachte. Beth hat sich bewusst dazu entschieden, Martins sexuelle Beziehungen in MUDs eher wie das Lesen eines erotischen Romans zu betrachten denn als hätte er ein Rendezvous in einem Motel. Für Martin sind seine Online-Affären eine Art, die Lücken seiner Jugend zu schließen und seine sexuellen Erfahrungen zu erweitern, ohne seine Ehe zu gefährden. Andere Partner von virtuellen Ehebrechern teilen nicht Beths tolerante Haltung. Janet, eine 24-jährige Sekretärin in einer New Yorker Rechtsanwaltskanzlei, ist sehr unglücklich über das Sexleben ihres Ehemanns Tim im Cyberspace. Nach seiner ersten Online-Affäre gestand Tim seine virtuelle Untreue. Als Janet dagegen protestierte, sagte Tim, dass er aufhören würde, seine Online-Geliebte zu »sehen«. Janet meint, dass sie nicht sicher ist, ob er tatsächlich damit aufgehört hat. »Was mich am meisten stört ist, dass er es überhaupt tun will. Auf gewisse Weise würde es mir leichter fallen zu verstehen, wenn er im wirklichen Leben eine Affäre haben wollte. Da könnte ich mir wenigstens sagen, ›Nun, es ist weil jemand einen schöneren Körper hat oder einfach weil es etwas Neues ist‹. Es ist so wie der erste

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Ich bin Wir? (2001) | 521 Kuss immer der beste Kuss ist. Doch indem er das in einer MUD tut, sagt er, dass er das Gefühl von Intimität mit jemand anderem haben möchte, den Teil einer Begegnung mit einer anderen Frau, wo man ›nur redet‹, und das kommt für mich näher an das heran, was am Sex das wichtigste ist.« »Anfangs sagte ich ihm, dass er es nicht mehr machen dürfe. Dann geriet ich in Panik und reimte mir zusammen, dass er es vielleicht trotzdem macht, da – anders als im wirklichen Leben – ich es niemals herausfinden konnte. All diese Tausende von Menschen auf der ganzen Welt mit ihren bescheuerten falschen Namen … keine Chance, es jemals herauszufinden. Ich machte also einen Rückzieher und sagte, dass darüber zu reden völlig unmöglich sei. Doch nun weiß ich nicht, ob das die richtige Entscheidung war. Ich fühle mich paranoid sobald er am Computer sitzt.«

Diese bekümmerte Ehefrau ringt mit sich darüber zu entscheiden, ob ihr Ehemann untreu ist, wenn seine Figur beim Verfassen von Echtzeit-Erotika mit einer anderen Figur im Cyberspace zusammenarbeitet. Und darüber hinaus, sollte es einen Unterschied machen, wenn es sich herausstellt, dass die Cyberspace-Geliebte – ohne das Wissen ihres Mannes – ein 19-jähriger männlicher Erstsemestriger ist? Was, wenn »sie« ein gebrechlicher 80-jähriger Mann in einem Pflegeheim ist? Und – was noch beunruhigender ist – was, wenn sie ein 12-jähriges Mädchen ist? Oder ein 12-jähriger Junge? TinySex wirft die Frage auf, was Sex und Treue im Grunde bedeuten. Geht es um die körperliche Handlung? Geht es um die emotionelle Intimität mit jemand anderem als dem primären Partner? Steckt Untreue im Kopf oder im Körper? Findet es im Wunsch oder im Handeln statt? Was macht die Verletzung von Vertrauen aus? Und sobald wir Virtualität als eine ernstzunehmende Lebensart begreifen, brauchen wir eine neue Sprache, um über die einfachsten Dinge zu sprechen. Jedes Individuum muss sich fragen: Wie sind meine Beziehungen beschaffen? Wo liegen die Grenzen meiner Verantwortung? Und sogar noch grundlegender: Wer und was bin ich? Wie ist die Verbindung zwischen meinem physischen und meinen virtuellen Körpern? Und ist dies anders in unterschiedlichen Cyberspaces? Diese Fragen sind ebenso zentral für das Denken über die Gemeinschaft: Wie ist das Wesen unserer sozialen Verbindungen? Welche Verantwortlichkeit haben wir für unsere Handlungen im realen Leben und im Cyberspace? Welche Art von Gesellschaft oder Gesellschaften schaffen wir, sowohl real als auch online? Wenn Menschen einen Online-Charakter annehmen, dann überschreiten sie die Grenze in ein hoch aufgeladenes Territorium. Einige spüren ein unangenehmes Gefühl der Fragmentierung, andere ein Gefühl der Erleichterung. Einige ahnen die Möglichkeiten sich selbst zu entdecken, sich sogar zu transformieren. Serena, eine 26-jährige Diplomandin der Geschichte, sagt: »Wenn ich mich in eine MUD einlogge und eine Figur schaffe und weiß, dass ich beginnen muss, deren Beschreibung zu tippen,

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522 | Sherry Turkle überkommt mich immer ein Gefühl von Panik. So als könnte ich etwas herausfinden, was ich gar nicht wissen will.« Arlie, eine 20-jährige Studentin, meint: »Ich bin immer sehr gehemmt, wenn ich einen neuen Charakter kreiere. Meistens endet es damit, dass ich eine Figur schaffe, die meine Eltern besser nicht kennen würden. … Doch diese Figur ist Teil von mir.« »Ironie handelt von Widersprüchen, die sich nicht im größeren Ganzen auflösen … handelt von der Spannung, inkompatible Dinge zusammenzuhalten, weil beide oder alle notwendig und wahr sind« – Donna Haraway. Wenn wir an der Grenze von Realem und Virtuellem stehen, ruft unsere Erfahrung ins Gedächtnis, was der Anthropologe Victor Turner als einen Wendepunkt bezeichnet hat, ein Moment des Übergangs, wo neue kulturelle Symbole und Bedeutungen entstehen können. Wendepunkte sind Zeiten voll Spannung, extremen Reaktionen und großen Chancen. Als Turner über Wendezeiten sprach, verstand er es als Zustand des Übergangs, doch das Leben im Fluss ist möglicherweise nicht mehr zeitgemäß. Technologie holt selbst die Postmoderne auf den Boden der Wirklichkeit; die Geschichte der Technologie lehnt modernistische Lösungen ab und erfordert eine Offenheit gegenüber multiplen Ansichten. Multiple Ansichten rufen wiederum einen neuen Moraldiskurs hervor. Die Kultur der Simulation mag uns dabei helfen, eine Sicht einer multiplen, doch einheitlichen Identität zu erlangen, deren Flexibilität, Spannkraft und Kapazität für Freude aus dem Zugang zu unseren vielen Selbst resultiert. Doch wenn wir in diesem Prozess die Realität verloren haben, steigen wir mit einem schlechten Geschäft aus. In Wim Wenders Film »Bis ans Ende der Welt« entwickelt ein Wissenschaftler ein Gerät, das die elektrochemische Hirnaktivität in digitale Bilder übersetzt. Er schenkt seiner Familie und nahen Freunden diese Technologie, die nun kleine, batteriebetriebene Monitore halten und ihre Träume betrachten können. Am Anfang sind sie entzückt. Sie sehen ihre geschätzten Fantasien, ihre geheimen Selbst. Sie sehen die Bilder, die sie sonst vergessen würden, Szenen, die sie sonst unterdrücken würden. Wie bei den Figuren, die man in einer MUD spielen kann, eröffnet das Betrachten seiner Träume auf einem Bildschirm neue Aspekte des Selbst. Allerdings verdüstert sich die Geschichte bald. Die Bilder verführen. Sie sind üppiger und verlockender als die Realität, die sie umgibt. Wenders Figuren verlieben sich in ihre Träume, werden süchtig nach ihnen. Menschen wandern mit Leintüchern über ihren Köpfen herum, um die Monitore, von denen sie sich nicht trennen können, besser zu sehen. Sie sind von den Monitoren gefangen, gefangen von den Schlüsseln zu ihrer Vergangenheit, die die Monitore zu haben scheinen. Wir sind ebenso anfällig dafür, unsere Monitore auf diese Weise zu benützen. Menschen können sich in den virtuellen Welten verlieren. Manche sind verleitet, das Leben im Cyberspace als unbedeutend zu betrachten, als Ausflucht oder bedeutungslose Zerstreuung. Das ist es nicht. Unsere Erfahrungen, die wir dort machen, sind ernstes Spiel. Wir verharmlosen

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Ich bin Wir? (2001) | 523 sie auf unser Risiko. Wir müssen die Dynamik virtueller Erfahrungen verstehen, sowohl um vorauszusehen, was womöglich gefährdet ist, als auch um diese Erfahrungen so gut wie möglich zu nutzen. Ohne tiefem Verständnis der vielen Selbst, die wir in der Virtualität zum Ausdruck bringen, können wir unsere dort gemachten Erfahrungen nicht nutzen, um die Realität zu bereichern. Wenn wir unser Bewusstsein darüber, was hinter unseren Online-Figuren steht, verfeinern, werden wir eher Erfolg darin haben, unsere virtuellen Erfahrungen für persönliche Veränderungen zu nutzen. Das Gebot der Selbsterkenntnis war schon immer im Kern philosophischer Untersuchungen. Im 20. Jahrhundert fand es seinen Ausdruck auch in der Kultur der Psychoanalyse. Man könnte sagen, es bestimmt die Ethik der Psychoanalyse. Aus der Perspektive dieser Ethik arbeiten wir daran, uns selbst zu erkennen, nicht nur, um unser eigenes Leben zu verbessern, sondern auch jenes unserer Familien und unserer Gesellschaft. Psychoanalyse ist ein Überlebens-Diskurs. Aus einer modernistischen Weltanschauung heraus geboren, hat es Formen hervorgebracht, die für eine postmoderne Ära relevant sind. Mit seinen mechanistischen Wurzeln in der Kultur der Kalkulation werden psychoanalytische Ideen in einer Kultur der Simulation neuerlich relevant. Manche glauben, wir seien am Ende des Freud’schen Jahrhunderts. Doch ist die Realität komplexer. Unser Bedürfnis nach einer praktischen Philosophie der Selbsterkenntnis war noch nie so groß wie jetzt, da wir darum ringen, Bedeutung aus unserem Leben am Bildschirm zu ziehen.

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524 | Reader Neue Medien

Quellennachweise

Espen J. Aarseth: Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore/MD: Johns Hopkins University Press 1997, Einführung. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors und Johns Hopkins University Press, Baltimore. Ernest W. Adams: Dogma 2001. A Challenge to Game Designers, 2001, online: http://www.designersnotebook.com/Columns/037_Dogma_2001/ 037_ dogma_2001.htm, zuletzt gelesen am 01. Juli 2006. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Agentur Bilwet: »Der Datendandy«, in: Dies., Der Datendandy. Mannheim: Bollmann Verlag 1994, Kapitel 10, S. 75-80. Übersetzung von Petra Ilyes. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Agentur Bilwet, Amsterdam. Marie-Luise Angerer: »Medienkörper/Körper-Medien: Erinnerungsspuren im Zeitalter der ›digitalen Evolution‹«, in: Claudia Öhlschläger/Birgit Wiens (Hg.), Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung (Geschlechterdifferenz und Literatur, Band 7), Berlin: Erich Schmidt Verlag 1997, S. 277-290. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Erich Schmidt Verlags, Philologische Abteilung, Berlin. Jayne Armstrong: »Web Grrrls, Guerrilla Tactics: Young Feminism on the Web«, in: David Gauntlett/Ross Horsley (Hg.), Web.Studies, London: Edward Arnold Publishers 2004, S. 92-102. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Autorin und Hodder Headline Group/Education, London. autonome a.f.r.i.k.a-gruppe: »Bewegungsle(e/h)re? Anmerkungen zur Entwicklung alternativer und linker Gegenöffentlichkeit. Update 2.0«, in: links – Sozialistische Zeitung 308/309, Jan./Feb. 1996. Der Text darf kopiert und

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Quellennachweise | 525 weiterverteilt werden, da beim Verlag kein Copyright gegeben ist. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der autonomen a.f.r.i.k.a.-gruppe, Ludwigsburg. Anne Balsamo: »On the Cutting Edge: Cosmetic Surgery and the Technological Production of the Gendered Body«, in: Nicholas Mirzoeff (Hg.), The Visual Culture Reader, London: Routledge 1999, S. 223-233. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Richard Barbrook: »Der heilige Cyborg«, in: Telepolis, 10. Juni 1996, Übersetzung von Florian Rötzer, Telepolis Artikel: http://www.telepolis.de/r4/ artikel/6/6062/1.html. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und von Telepolis. John Perry Barlow: Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, Davos, 08. Februar 1996, Übersetzung von Stefan Münker. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Übersetzers Stefan Münker. Vgl. die Originalvorlage mit dem Titel »A Declaration of the Independence of Cyberspace« online: http://homes.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html, zuletzt gelesen am 01. Juli 2006. Max Bense: »Kunst und Intelligenz« [1965], in: Ders., Ausgewählte Schriften in vier Bänden, hg. v. Elisabeth Walther, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 1997, Bd. 1: Philosophie, S. 350-361. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der J.B. Metzlerschen Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart (©). Jay David Bolter: »Seeing and Writing«, in: Ders., Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing, Hillsdale: J.J. Lawrence Erlbaum Associates 1991, S. 63-81. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors und J.J. Lawrence Erlbaum Associates. Vannevar Bush: »As We May Think«, in: The Atlantic Monthly 176 (7/1945), S. 101-108. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von The Atlantic Monthly. Charles Cameron: The Mysts of Antiquity, online: http://home.earthlink. net /~hipbone/Mysts.html, zuletzt gelesen am 01. Juli 2006. Manfred E. Clynes/Nathan S. Kline: »Cyborgs and Space«, in: Astronautics (14/9) 1960, S. 26/27, 74/75. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des American Institute of Aeronautics and Astronautics. Critical Art Ensemble: »Elektronischer ziviler Ungehorsam«, in: nettime (Hg.), Netzkritik Materialien zur Internetdebatte, Berlin: Edition ID-Archiv/ID Verlag 1997, S. 37-47. Deutsche Erstveröffentlichung, Übersetzung

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526 | Reader Neue Medien von Thomas Atzert. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des ID Verlag, Berlin, www.idverlag.com (©). Esther Dyson/George Gilder/George Keyworth/Alvin Toffler: »Cyberspace und der amerikanische Traum. Auf dem Weg zur elektronischen Nachbarschaft: Eine Magna Charta für das Zeitalter des Wissens«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. August 1995, Übersetzung von Reinhard Kaiser. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt a. M. William Henry Fox Talbot: »Der Stift der Natur« [1844], in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie I 1839-1912, München: Schirmer/Mosel 1980, S. 60-63. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers Wolfgang Kemp. Donna Haraway: »Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften«, in: Dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M., New York: Campus Verlag 1995, S. 33-72, Übersetzung von Fred Wolf. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Campus Verlags, Frankfurt a. M., New York. Lynn Hershman: »The Fantasy Beyond Control«, in: Noah Wardrip-Fruin/Nick Montfort (Hg.), The New Media Reader, Cambridge/MA, London 2003, S. 643-647. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Derrick de Kerckhove: »Text, Kontext, Hypertext. Drei Sprachzustände, drei Bewusstseinszustände«, in: Ars Electronica 2002: Unplugged – Art as the Scene of Global Conflicts, Übersetzung von Wilfried Prantner, OnlineArchiv: http://www.aec.at/de/archives/festival_archive/. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Ars Electronica Center, Linz. Friedrich Kittler: »Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt«, in: Christine Schöpf/Gerfried Stocker (Hg.), Ars Electronica 2003: Code – The Language of Our Time, Ostfildern 2003, S. 15-19. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Ars Electronica Center, Linz. Timothy Leary: »Das interpersonale, interaktive, interdimensionale Interface«, in: Manfred Waffeneder (Hg.): Cyberspace. Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. Copyright für die deutsche Übersetzung von Ulrich Möhring, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.

2007-03-26 15-02-00 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 524-528) T08-01 quellennachweis.p 142895400072

Quellennachweise | 527 Steven Levy: »The Hacker Ethic«, in: Ders., Hackers. Heroes of the Computer Revolution, New York: Anchor Press/Doubleday 1984, S. 21-34. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors und Andrew Nurnberg Associates Ltd, London. Shawn Miklaucic: »Virtual Real(i)ty: SimCity and the Production of Urban Cyberspace«, in: Game Research, 07. Juli 2002, online: http://www.gameres earch.com/art_simcity.asp, zuletzt gelesen am 01. Juli 2006. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors und Game Research, Kopenhagen, www.game-research.com. Sue Morris: »First-Person-Shooters. A Game Apparatus«, in: Geoff King/ Tanya Krzywinska (Hg.), Screenplay. Cinema/Videogame/Interface, London: Wallflower Press 2002, S. 81-97. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Autorin und Wallflower Press, London. James Newman: »The Myth of the Ergodic Videogame«, in: Game Studies. The International Journal of Computer Game Research 2 (1/2002), online: http://www.gamestudies.org/0102/newman/, zuletzt gelesen am 01. Juli 2006. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors und Game Studies. Nam June Paik: »Cybernated Art«, in: Manifestos (Great Bear Pamphlets), New York: Something Else Press 1966, S. 24. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Nam June Paik und der Holly Solomon Gallery. Claus Pias: »Adventures Erzählen Graphen«, in: Ulrike Bergermann/ Hartmut Winkler (Hg.), TV-Trash. The TV-Show I Love to Hate, Marburg: Schüren Verlag 2000, S. 85-106. Überarbeitete Fassung des Autors. Howard Rheingold: »Smart Mobs. The Power of the Mobile Many«, in: Ders., Smart Mobs. The Next Social Revolution, Cambridge/MA: Perseus Books Group 2003, Kapitel 7. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Siegfried J. Schmidt: »Virtuelle Realitäten«, in: Ders., Die Welt der Medien. Grundlagen und Perspektiven der Medienbeobachtung, Wiesbaden: Vieweg Verlag 1996, S. 101-108. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Michel Serres: »Der Mensch ohne Fähigkeiten. Die neuen Technologien und die Ökonomie des Vergessens«, in: Transit 22 (Winter 2001/02), S. 193-206. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers Michael Bischoff.

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528 | Reader Neue Medien Roberto Simanowski: Interfictions. Vom Schreiben im Netz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, Einführung (Teilabdruck), S. 9-14. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Suhrkamp Verlags, Frankfurt a. M. subRosa: Manifesto for Becoming Autonomous Zones (2002), online: http://refugia.net/textspace/refugiamanifesta.html, zuletzt gelesen am 01. Juli 2006. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von subRosa, Brüssel. Alan M. Turing: »Computing Machinery and Intelligence«, in: Mind: A Quaterly Review of Psychology and Philosophy 59 (236), S. 433-460, Oktober 1950. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Mind. Sherry Turkle: »Who am We?«, in: Dies., Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet, New York: Simon & Schuster 1995, S. 236-250. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Victoria Vesna: »Avatare im World Wide Web: Die Vermarktung der ›Herabkunft‹«, in: Ars Electronica 1997. Fleshfactor. Informationsmaschine Mensch, Online-Archiv: http://www.aec.at/de/archives/festival_archive/. Übersetzung von Wilfried Prantner. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Ars Electronica Center, Linz. VNS Matrix: Cyberfeminist Manifesto, Deklaration Adelaide und Sydney, Australien 1991. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen von VNS Matrix. John Walker: »Hinter den Spiegeln«, in: Manfred Waffeneder (Hg.), Cyberspace. Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. Copyright für die deutsche Übersetzung von Ulrich Möhring, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.

Trotz intensiver Recherche und mehrmaliger Kontaktaufnahme konnten nicht sämtliche Genehmigungen aller Rechteinhaber eingeholt werden. Diesbezügliche Hinweise und Rückfragen an die Herausgeber sind willkommen.

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Autorinnen und Autoren | 529

Autorinnen und Autoren

Espen J. Aarseth: Associate Professor für Computerspieltheorie und digitale Kultur am Center of Computer Games Research an der IT Universität in Kopenhagen und an der Universität in Oslo. 2001 Mitgründer der Fakultät für Humanistische Informatik an der Universität Bergen/Norwegen und des multidisziplinären Journal for Computer »Game Research«: http:// gamestudies.org. Seine Doktorarbeit »Cybertext: On Ergodic Literature« an der Fakultät für Komparatistik beeinflusste die Theoriebildung sowohl der Hypertextualität als auch des Computerspiels. Ernest W. Adams: Freier Game Designer, Consultant und Autor. Mitglied des International Hobo Game Design Konsortiums, Mitgründer der International Game Developer’s Association. Seine in zehn Thesen gefasste Kritik an Computerspielen bzw. seine »Dogma 2001« genannten Thesen zum Game Development wurden und werden in der Game- und OnlineKultur stark diskutiert. Weitere Texte: »Game Design« (zus. mit Andrew Rolling); »Break into the Game Industry: How to Get a Job Making Video Games«; www.designersnotebook.com. Agentur Bilwet: Die Agentur Bilwet wurde 1983 von Basjan van Stam gegründet. Seit 1985 haben sich der Agentur Bilwet Geerd Lovink, Arjen Mulder, Ger Peeters und Lex Wouterloot lose assoziiert. Ein zentrales Medienverfahren der Gruppe ist es, fiktive Konzepte zu verfassen, die »UTOs« (»Unbekannte Theorie-Objekte«) genannt werden. Die »UTOs« referieren auf keinen individuellen Autor, entstehen aus einer kollektiven Schreibpraxis und sollen in der Ausübung der »illegalen Wissenschaften« vor allem zirkulieren – durch Auftritte, Bücher, wechselnde Kontakte, Radioprogramme, Briefe, Reisen, Manifeste, Telefongespräche, Spaziergänge und Übersetzungen. Marie-Luise Angerer: Geboren 1958 in Bregenz/Österreich; Professorin für Gender[ ]Medien an der Kunsthochschule für Medien Köln. Forschungsschwerpunkte: Affekt & Sexualität in Medien.Kunst.Netz. Publikationen

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530 | Reader Neue Medien u.a.: »The making of ... Begehren, digital« (http://www.medienkunstnetz. de); Herausgabe von »Future Bodies. Visualisierung von Körper in Science und Fiction« (zus. mit K. Peters und Z. Sofoulis, 2002); »Begehren nach dem Affekt« (ersch. 2006 bei diaphanes); homepage: http://gender.khm. de/angerer. Jayne Armstrong: Master of Fine Arts in Creative Nonfiction, Croucher College (USA). Mitglied des Center for Women’s Studies an der West Virginia University. Arbeitet zurzeit an einem umfangreichen Forschungsprojekt zum Themenzusammenhang »Web Life, Identities, Arts and Culture«. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe: Seit den 90er Jahren aktives Kollektiv politischer Aktivisten. Auf der Homepage www.contrast.org der anonym agierenden Gruppe findet sich eine Textsammlung zu Medienkritik, -theorie, alternativer Medienpraxis und Methoden subversiven Mediengebrauchs (»Kommunikationsguerilla« oder »Culture Jamming«). Anne Balsamo: Geschäftsführende Direktorin des Institute for Multimedia Literacy und des Academic Programs am Institute for Multimedia Literacy der University of Southern California/USA. Professorin für Interactive Media and Gender Studies. 2002 Mitgründerin von Onomy Labs, Inc., Mitglied des kollaborativen Forschungsteams RED (Research on Experimental Documents). Ihre theoretischen Arbeiten verbinden Technologie, Design und Kulturtechnologien. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen auch die sozialen und kulturellen Implikationen der Biotechnologie. Texte: »Technologies of the Gendered Body. Reading Cyborg Women« (1988). Richard Barbrook: Studium der Sozial- und Politikwissenschaften an den Universitäten Cambridge, Essex und Kent. Anfang der 80er Jahre engagierte sich er beim Aufbau von Community Radios in London. Zurzeit koordiniert er das Hypermedia Research Centre an der Westminster University. Er leitete dort das erste Master of Arts-Programm des neu geschaffenen Studienganges Hypermedia. Gemeinsam mit Andy Cameron schrieb er 2001 den Artikel »California Ideology«, eine richtungsweisende Kritik an der neo-liberalen Positionierung des Magazins »Wired«. John Perry Barlow: Geboren 1947. Texter der Rockband »Grateful Dead« und Mitgründer der »Electronic Frontier Foundation« (EFF). Er ist Mitglied der International Academy of Digital Arts and Sciences und zurzeit Fellow am Berkman Center for Internet and Society der Harvard Law School. Als Reaktion auf den »Telecommunication Reform Act« der USamerikanischen Regierung verfasste Barlow 1996 seine Version der USamerikanischen Zivilgesellschaft im Zeitalter der Neuen Medien, die »Declaration of the Independence of Cyberspace«.

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Autorinnen und Autoren | 531 Max Bense: Geboren 1910 in Strasbourg. Studium der Mathematik, Physik und Philosophie in Bonn, Köln und Basel. 1949 wurde Bense Professor für Philosophie der Technik, Wissenschaftstheorie und mathematische Logik an der Technischen Hochschule Stuttgart, wo er bis 1976 lehrte. Er prägte den Begriff der »Informationsästhetik«. Unter dem Einfluss der Kybernetik und der Computerkunst veröffentlichte er zahlreiche Werke zur informationstheoretischen Grundlegung der Ästhetik: »Ästhetische Information« (1957); »Programmierung des Schönen« (1960); »Aesthetica. Einführung in die Ästhetik« (1965); »Einführung in die informationstheoretische Ästhetik« (1969). Bense starb 1990 in Stuttgart. Jay David Bolter: Professor an der School of Literature, Communication, and Culture und am College of Computing des Georgia Institute of Technology in Alberta, USA. Er studierte Computer Science an der University of North Carolina und entwarf zusammen mit Michael Joyce das Hypertextschreibprogramm »StorySpace«. Sein Buch »Writing Space« (1991) trug maßgeblich zur Herausbildung kulturwissenschaftlicher Theorien der Hypertextualität und -medialität bei. Weitere Texte: »Turing’s Man. Western Culture in the Computer Age« (1984); »Remediation. Understanding New Media« (2000, zus. mit Richard Grusin). Karin Bruns: geb. 1957, Professorin für Medientheorie und Leiterin des Instituts für Medien an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz, Österreich. Studium der Germanistik, Physik, Sozialpsychologie und Sozialanthropologie an der Ruhr-Universität Bochum; bis 2002 Lehr- und Forschungstätigkeit an den Universitäten Bochum und Essen, an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und der Hochschule für Fernsehen und Film München. Filmseminare und Kuratorinnentätigkeit bei Film- und Videofestivals in Deutschland und England. Habilitation 2003 an der Universität Essen/Duisburg. Publikationen zuletzt: »Connected« – Emergenz, Struktur und Symbolik virtueller Gemeinschaften, in: Andrea Jäger/Gerd Antos/Malcolm H. Dunn (Hg.): Masse Mensch, Halle (Saale) 2006; »Do it wherever you want it but do it!« Das Gerücht als partizipative Produktivkraft der neuen Medien. In: Britta Neitzel/Rolf F. Nohr (Hg.): Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion, Marburg 2006. Vannevar Bush: Geboren 1890 in Everett, Massachusetts, USA. Studium der Ingenieurwissenschaften am Tufts College, Massachusetts, der Harvard University und am Massachusetts Institute of Technology (MIT). 1939 wurde Bush Vorsitzender des National Defense Research Comittee und 1941 Direktor des Office of Scientific Research and Development. Im Zweiten Weltkrieg beteiligte er sich an der Forschung und Entwicklung im Bereich militärisch-strategischer Anwendungen. Bush entwickelte Rechenmaschinen zur Datenverarbeitung, verbesserte die Radar- und Sonartechnologie und war an der Gründung des amerikanischen Rüstungsun-

2007-03-26 15-02-00 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 529-539) T08-02 Autorinnen und Autoren.p 142895

532 | Reader Neue Medien ternehmens Raytheon beteiligt. Im Jahr 1945 veröffentlichte Bush seinen 1939 geschriebenen Aufsatz »As We May Think«, in dem er das Konzept einer fiktiven Maschine, »Memex« (»Memory Extender«), vorstellte. Memex gilt als Vorläufer des Personal Computers und des Hypertextes. Dieser Aufsatz gilt als die erste Beschreibung einer informationsverarbeitenden Maschine als persönliches Werkzeug sowie des Konzepts der MenschComputer-Interaktion. Bush starb 1974 in Belmont, Massachusetts. Charles Cameron: Gamedesigner und -theoretiker. Er studierte Theologie in Oxford/England und lebt heute als freier Gamedesigner in Los Angeles/USA. Gründete in den USA die HipBone-Games Website. Diese Plattform analysiert, entwirft und diskutiert Computerspiele aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive und – inspiriert durch Hermann Hesse – unter Bezug auf Glasperlenspiele (Glass Bead Games): http://home.earthlink. net/~hipbone. Manfred E. Clynes: Geboren 1925 in Wien. Professor am Lombardi Cancer Center, Department of Physiology and Biophysics, Georgetown University, Washington DC. 1938 Emigration nach Australien. Studium der Musik an der Juilliard School und der Neurowissenschaften an der University of Melbourne. 1953 kam er als Fulbright-Stipendiat in die USA und lehrte in Princeton, Harvard und am MIT. 1960 veröffentlichte Manfred E. Clynes gemeinsam mit dem Psychologen Nathan S. Kline vom Rockland State Hospital in der Zeitschrift Astronautics einen Artikel unter dem Titel »Cyborgs and Space«. In dieser von der NASA in Auftrag gegebenen Studie wurden technologische Möglichkeiten der Anpassung von Menschen an die Weltraumumgebung erforscht. Für die Kombination von kybernetischem System und Organismus prägten Clynes und Kline den Neologismus »Cyborg«, der in der Popularkultur des Science-Fiction zum Leitbegriff avancierte. Critical Art Ensemble: Gegründet 1987 von Steven Kurtz und Dorian Burr. Ein mittlerweile aus fünf Künstler/-innen bestehendes Kollektiv, dessen Mitglieder die Schnittstellen unterschiedlicher diskursiver Felder und politischer Handlungsräume erforschen: Computerkunst, Performances, Technologie, politischen Aktivismus, Medienkritik, Textkunst und Forschung. In der kollektiv verfassten Publikation »Electronic Civil Disobedience and other Unpopular Ideas« (New York, 1996) entwickelte die Gruppe ihr Konzept des »elektronischen zivilen Ungehorsams«. In den letzten Jahren hat das Critical Art Ensemble vor allem Projekte in den Bereichen »Biotech« und »Tactical Media« durchgeführt. Derrick de Kerckhove: Direktor des McLuhan-Programms und Professor für Französisch an der University of Toronto/Kanada. Von 1972 bis 1980 am Zentrum für Kultur und Technologie, Assistent, Übersetzer und CoAutor von Marshall McLuhan. Weitere Texte: »McLuhan and the ›Toronto

2007-03-26 15-02-00 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 529-539) T08-02 Autorinnen und Autoren.p 142895

Autorinnen und Autoren | 533 School of Communication‹« (1989); »Integral Awareness, Integrative Thinking by Mark Federman« (2002). Esther Dyson: Geboren 1951 in Zürich. Studium der Ökonomie in Harvard. Arbeitet als Publizistin und Netzaktivistin. Mitglied zahlreicher HighTech-Organisationen, etwa der Internet-Lobby »Electronic Frontier Foundation«. Seit 1982 gibt sie den monatlichen Newsletter Release 1.0 heraus, mit dem sie weltweite Reputation erlangt hat. Ende 1994 sorgte Dyson für Aufsehen mit einem langen Text über »Geistiges Eigentum im Internet«, der später auch in Wired erschien. Dysen ist Co-Autorin der berühmten »Magna Carta for the Knowledge Age« (1994). William Henry Fox Talbot: Geboren 1800 in Dorset, England. Physiker und Chemiker, Pionier der Fotografie, erfand 1834 das Negativ-Positiv-Verfahren mit Chlorsilberpapier (»Talbotypie«). 1840 benutzte er erstmals Gallussäure als Entwickler, was das Kopieren und Vergrößern von Fotos ermöglichte. 1843 stellte er auf diese Weise auch Vergrößerungen her und gab das erste mit fotografischen Illustrationen versehene Werk heraus. In seinem ersten Buch zur Fotografiegeschichte, »The Pencil of Nature« (1844-1846), reflektiert Talbot erstmals verschiedene Anwendungsmöglichkeiten des neuen Mediums und stellt diese anhand fotografischer Beispiele vor. Seine Entdeckung, dass rasch aufeinander folgende Lichtblitze vom menschlichen Auge als andauernde Beleuchtung gedeutet werden, war von grundlegender Bedeutung für die weitere Entwicklung des Films. Talbot starb 1877 in Lacock Abbey (Whitshire). George Gilder: Geboren 1939 in New York City. Arbeitet als Autor und Journalist. Sein Buch »Wealth & Poverty« (1981) wurde als »The Bible of the Reagan Revolution« bezeichnet. 1989 schrieb Gilder »Microcosm« – ein Buch zur Geschichte der Halbleiterindustrie. Inzwischen zählt er zu den führenden Trendexperten im Bereich der Computertechnologie. Er ist Co-Autor der »Magna Carta for the Knowledge Age« (1994). Donna Haraway: Biologin, Professorin für Women’s Studies an der University of California, Santa Cruz/USA und für Feministische Theorie und Technoscience an der European Graduate School in Saas Fee/Schweiz. Ihr »Manifesto for Cyborgs« gilt als Initiationstext einer utopisch-kritischen Politik des Post-Humanen. Texte: u.a. »Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature«; http://www.egs.edu/faculty/haraway.html. Lynn Hershman: Geboren 1941 in Cleveland (USA). Master of Arts an der San Francisco State University, mit Schwerpunkt Kunstkritik. Seit 1993 Senior Professor for Electronic and Digital Arts an der University of California. Lynn Hershmans Werk umfasst Performances, Fotografien, Videos und zahlreiche interaktive Installationen. Bereits in den 70er Jahren experimentierte sie mit interaktiven Technologien und nutzte sie zur Erzählung

2007-03-26 15-02-00 --- Projekt: T339.kumedi.bruns-reichert.medienreader / Dokument: FAX ID 021d142895395872|(S. 529-539) T08-02 Autorinnen und Autoren.p 142895

534 | Reader Neue Medien nichtlinearer Filmgeschichten. In vielen Werken setzt sich Hershman mit der Konstruktion von Identität und deren Prägung durch technische Systeme und massenmediale Repräsentationen auseinander. Sie lebt und arbeitet in San Francisco/CA (USA). George Keyworth: Geboren in Boston, Massachusetts. Studium der Physik an der Yale University. 1968 Abschluss mit dem Ph.D. in »Nuclear Physics« an der Duke University. Von 1981 bis 1986 war er der Wissenschaftsberater von Ronald Reagan und engagierte sich für das militärische Weltraumprogramm SDI. Keyworth ist Co-Autor der »Magna Carta for the Knowledge Age« (1994). Friedrich Kittler: Geboren 1943 in Rochlitz (Sachsen); 1963-1972 Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Freiburg i. Br.; 1976 Promotion über Conrad Ferdinand Meyer, 1984 Habilitation im Bereich der neueren deutschen Literaturgeschichte. Aufenthalte als Visiting Assistant Professor und Visiting Professor an US-amerikanischen Universitäten (University of California, Berkeley, University of California, Santa Barbara, Stanford University). 1986-1990 Leiter des DFG Projekts Literatur und Medienanalyse in Kassel; 1987 Berufung als Professor für Neugermanistik an die Ruhr-Universität Bochum sowie 1993 an den Lehrstuhl für Ästhetik und Geschichte der Medien der Humboldt-Universität Berlin; 1996 Distingished Scholar an der Yale University und 1997 Distinguished Visiting Professor an der Columbia University in New York. Mitglied des Hermann von Helmholtz Zentrums für Kulturtechnik und der Forschergruppe »Bild Schrift Zahl« (DFG). Publikationen: »Aufschreibesysteme 1800/1900« (1985); »Grammophon Film Typewriter« (1986); »Draculas Vermächtnis: Technische Schriften« (1993); »Kunst und Technik« (1997); »Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft« (2000). Nathan S. Kline: Geboren 1916. Studium der Psychiatrie. Baute 1952 das Rockland Psychiatric Center und 1975 das Rockland Research Institute auf. Zahlreiche Forschungsprojekte zur Biomedizin und Psychopharmakologie. Er instrumentalisierte als einer der ersten Computertechnologien für die psychiatrische Forschung. 1960 veröffentlichte Kline gemeinsam mit dem Biophysiker Manfred E. Clynes in der Zeitschrift Astronautics einen Artikel unter dem Titel »Cyborgs and Space«. »Cyborg« ist die Abkürzung für cybernatic organism und wurde von Kline und Clynes verwendet, um einen sich selbstregulierenden Mensch-Maschinen-Hybriden zu bezeichnen, der im Weltraum überleben konnte. Nathan S. Kline starb 1982 in Seattle. Timothy Leary: Geboren 1920 in Springfield, Massachusetts. Diplomstudium der Psychologie an der University of Alabama und der University of Washington. Doktorstudium an der University of Berkeley. Von 1955 bis 1958 war er Direktor der psychologischen Forschungsabteilung am Kaiser Foundation Hospital in Oakland, 1959 ging er als Dozent für klinische

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Autorinnen und Autoren | 535 Psychologie an die Universität Harvard. Dort wurde er 1963 entlassen, nachdem er die Einnahme von LSD und Haschisch zur Bewusstseinserweiterung öffentlich empfohlen hatte. 1969 wurde Leary wegen Verstoßes gegen die Rauschgiftgesetze zu zehn Jahren Haft verurteilt. 1970 setzte er sich in den Libanon, dann in die Schweiz ab, von wo aus er 1973 jedoch an die USA ausgeliefert wurde und dort bis 1977 im Gefängnis saß. In den 90er Jahren entwickelte er visionäre Internet-Utopien über die Entstehung einer quasi-übermenschlichen Intelligenz im Netz als »Hypermensch«, als »neuer Schöpfungsakt« und als »Gottersatz«. Timothy Leary starb 1996 in Los Angeles. Steven Levy: Geboren 1951 in Philadelphia. Studium der Literaturwissenschaften an der Temple University, Philadelphia, USA. Fellow am Freedom Forum Media Studies Center. Er ist Kolumnist des Newsweek Magazine und schreibt seit den 80er Jahren für das Magazin Wired. Er ist Autor mehrerer Bücher zum Thema Sci-Tech u.a. »Hackers« (1984), »Artificial Life« (1992) und »Crypto« (2001). Levy lebt in New York. Shawn Miklaucic: Studium der Soziologie. Professor am Institute of Communications Research, University of Illinois, USA. Er arbeitet zu Gametheorie, Interaction Design und Spielsoziologie. In seinen Analysen integriert er unterschiedliche Theorieansätze aus den Cultural Studies und der Politischen Philosophie (Foucault, Jameson, Lefebvre). Er veröffentlichte zuletzt: »God Games and Governmentality: ›Civilization II‹ and Hypermediated Knowledge«, in: Jack Z. Bratich/Jeremy Packer (Hg.), Foucault, Cultural Studies, and Governmentality, New York 2003. Sue Morris: Doktorandin in Media and Cultural Studies an der University of Queensland in Brisbane, Australien. Mitarbeiterin des GameSchwerpunkts der Zeitschrift M/C – A Journal of Media and Culture (www.media-culture.org.au/archive.html) und Gründerin des ersten »Women Only-Quake II«-Clans in Australien. Herausgeberin und Autorin der Website www.game-culture.com. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählt u.a. der Zusammenhang von Game und Gender, Spiel, Spielpraxis und Kultur. Ihr Text analysiert das populäre und umstrittene Spielformat des Ego Shooters unter Bezug auf die Apparatus-Theoreme Jean-Louis Baudrys und Christian Metz’. James Newman: Dozent für Neue Medien und Game Studies am Bath Spa University College und Edge Hill University College in Lancashire, England. Leiter eines Forschungsprojekts über Computerspiele, Game Culture und Fandom. Verfasste mehrere Bücher über Computerspiele und -spielkultur, lehrt und arbeitet sowohl im Bereich Game Design als auch GameTheorie. In seinen Vorträgen und Texten differenziert er das von Espen J. Aarseth entwickelte Konzept der Ergodizität von Computerspielen weiter aus.

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536 | Reader Neue Medien Nam June Paik: Geboren 1932 in Seoul, Korea. 1953-56 Studium der Musik-, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Tokio. Von 19561958 studierte er Musikgeschichte an der Universität München und Komposition an der Freiburger Musikhochschule. 1957 trifft Paik am Internationalen Sommerkurs für Neue Musik in Darmstadt mit Karlheinz Stockhausen und John Cage zusammen. Als Hauptvertreter der Fluxus-Bewegung realisiert Nam June Paik in den 60er Jahren zahlreiche, von John Cage angeregte Aktionen. Zeitgleich schafft er die ersten Roboter und Videoinstallationen, die sich durch eine Verbindung von Musik und elektronischer Bildherstellung auszeichnen. 1963 erste Ausstellung mit manipulierbaren Fernsehern; 1964 Übersiedlung nach New York. Seit 1979 ist der Künstler Professor an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Seit 1988 lebte und arbeitete Paik in New York und Florida. Er starb 2006 in Miami. Claus Pias: Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der digitalen Medien an der Universität Wien. Er studierte Elektrotechnik in Aachen sowie Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie in Bonn. Seine Texte und insbesondere seine an der Bauhausuniversität Weimar verfasste Dissertation »Computer Spiel Welten« (München 2002) verortet das digitale Spiel u.a. im Kontext arbeits- und militärhistorischer Wissensfelder. Ramón Reichert: Dr. phil., Univ. Ass. am Institut für Medien/Medientheorie der Kunstuniversität Linz, Studium der Philosophie und Kultur- und Medienwissenschaft in Berlin, London und Wien. Zur Zeit Konsulent des Siemens Arts Program und Mitarbeiter des Instituts Europäische Geschichte und Öffentlichkeit der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, Wien. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte als Mediengeschichte, Visuelle Kultur, Popularkultur, Geschichte und Theorie der Medienkunst. Veröffentlichungen (Auswahl): »Der Diskurs der Seuche. Sozialpathologien 1700-1900« (1997); »Effizienzfieber. Zur Rationalisierung der Alltagskultur« (1998); »Schöne neue Arbeit. Ästhetik, Politische Ökonomie und Kino« (2000); »Die Konstitution der sozialen Welt. Zur Epistemologie und Erkenntniskritik der Human-, Sozial- und Kulturwissenschaft« (2003); »Governmentality Studies. Analysen liberal-demokratischer Gesellschaften im Anschluss an Michel Foucault« (2004); »Kulturfilm im ›Dritten Reich‹« (2005); »Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens« (2007). Howard Rheingold: Geboren 1947 in Arizona, USA. Studium der Psychologie am Reed College der State University of New York. Den ersten Kontakt mit einer virtuellen Community hatte Rheingold in den 80er Jahren, in »The Well«, einem der ersten lokalen Netzwerke, das via Modem und Mailboxsoftware organisiert war. 1994 war er an der Gründung von Hotwired beteiligt, der Website des Wired Magazine. Als Autor zahlreicher Buchpublikationen und Aufsätze beschäftigt sich Rheingold mit den sozio-

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Autorinnen und Autoren | 537 kulturellen Aspekten neuer Technologien und beschreibt die auf OnlineInteraktionen aufgebauten sozialen Beziehungen von Menschen. Seine wichtigsten Publikationen sind: »Tools for Thought« (1985); »Virtuelle Gemeinschaften« (1994); »Smart Mobs« (2003). Siegfried J. Schmidt: Studium der Philosophie, Germanistik, Linguistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Freiburg i. Br., Göttingen und Münster. Er promovierte 1966 über den Zusammenhang von Sprache und Denken von Locke bis Wittgenstein. Seit 1965 Assistent am Philosophischen Seminar der TH Karlsruhe. Professuren: ab 1971 in Bielefeld für Texttheorie, seit 1979 für Germanistik/Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Siegen, zuletzt für Kommunikationstheorie und Medienkultur an der Universität Münster (seit 1997). Herausgeber der Reihe »LUMIS« sowie von »DELFIN«. Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit arbeitet er auch als Künstler im Bereich der visuellen Poesie. Wichtigste Publikationen: »Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus« (1987); »Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus II« (1992); »Die Welten der Medien« (1996); »Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft« (2000); »Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus« (2003). Michel Serres: Geboren 1930 in Agen, Frankreich. Wissenschaftsphilosoph. In den Nachkriegsjahren Studium der Mathematik, Logik und der Naturwissenschaften an der Ecole Navale und an der Ecole normale supérieure de la rue de l’Ulm. Nach seinem Studium fuhr er 1955 zur See, über den Atlantik, durch das Mittelmeer, den Suezkanal. 1958 Rückkehr nach Paris, um Wissenschaftsgeschichte zu studieren; enge Freundschaft und Zusammenarbeit mit Michel Foucault; von seinem Mentor Gaston Bachelard übernahm er die Verknüpfung von Wissenschaftstheorie mit Poesie, von Andre Leroi-Gourhan den Blick auf breite menschheitsgeschichtliche Entwicklungslinien. Serres ist Professor für Philosophie an der Sorbonne in Paris und im kalifornischen Stanford; seit 1990 Mitglied der Academie française. Ins Deutsche übertragene Veröffentlichungen: »Carpaccio. Ästhetische Zugänge« (1981); »Der Parasit« (1981); »Hermes I-V« (1991-94); »Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische« (1998); »Elemente einer Geschichte der Wissenschaften« (Hg., 1998); »Atlas« (2005). Roberto Simanowski: Assistant Professor im Department of German Studies der Brown University in Providence, USA, Herausgeber der Internetzeitschrift dichtung-digital. Er arbeitet theoretisch wie auch praktisch-kreativ im Bereich Hyperfiction, digitale und partizipative Schreibprojekte. Sein Buch »Interfictions«, dem der hier abgedruckte Text entnommen ist, thematisiert nicht nur Computerliteratur und Schreiben im und für das Netz als eigenständiges literarisches Feld, sondern untersucht auch die Relevanz von Zielgruppen und Communities für das New Story Telling.

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538 | Reader Neue Medien subRosa: Gruppe von Theoretikerinnen und politischen Aktivistinnen, die sich selbst als »reproduzierbare« cyberfeministische Zelle bezeichnet. In den Arbeitsfeldern Biotechnologie, Reproduktionstechnologien, feministische Strategien, Gender-Technologie und kulturell-ästhetische Produktion erstrebt subRosa ein transdisziplinäres Networking, das High Tech und Low Tech verbindet und Produktionen der Unterhaltungselektronik umschreibt; www.cyberfeminism.net. Alvin Toffler: Geboren 1928 in New York City. Amerikanischer Schriftsteller und Trendforscher. Seine früheren Arbeiten beschäftigen sich mit den Themen der »Digitalen Revolution« und des »Information Overload«, später arbeitete er zu politischen Aspekten der militärischen Informationstechnologien. Toffler veröffentlichte seine Studie »Die dritte Welle« mit großer Medienresonanz 1980. Er vertritt darin die Ansicht, dass der größte Teil der sozialen Probleme auf den beschleunigten technischen Fortschritt im Informationszeitalter zurückzuführen seien. Toffler ist Co-Autor der »Magna Carta for the Knowledge Age« (1994). Alan Mathison Turing: Geboren 1912 in London. Studium der Mathematik am King’s College in Cambridge. 1936 beschrieb Turing in seinem Artikel »On Computable Numbers« das erste Mal seine »Turing Maschine«, die als theoretisches Modell eines elektronischen Digitalrechners gilt. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er an der Entwicklung der Colossus-Maschine, die Codes der deutschen ENIGMA-Chiffriermaschine entschlüsselte. Nach dem Krieg entwickelte er den Turing-Test für eine universelle Turing-Maschine, den er 1950 in seinem Text »Computing Machinery and Intelligence« in der Zeitschrift Mind (Oxford University Press) veröffentlichte. Mit diesem grundlegenden Artikel gab er der Entwicklung der neuen Disziplin der Künstlichen Intelligenz einen entscheidenden Impuls. 1952 wurde Turing bei einer Demonstration gegen die Homosexuellengesetze verhaftet und wegen seiner Homosexualität zu einer einjährigen Hormonbehandlung mit Östrogen verurteilt. Turing beging 1954 Selbstmord. Sherry Turkle: Geboren 1948 in New York. Studium der Soziologie und Psychologie an der Harvard University. Professorin der Sozialwissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit dem Schwerpunkt Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Ihr bekanntestes Buch »Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet« (1995) repräsentiert einen mittlerweile kanonischen Text in der ethnologischen Erforschung des Cyberspace. Dabei befasst sich Turkle mit der Frage, wie das Internet und das Interface die physischen Tätigkeiten – durch Echtzeitvideoverbindungen und virtuelle Konferenzräume (MUDs, Netsex-Erweiterung der physischen Präsenz), IRC (Internet Related Chat) – sowie das Selbstbild (multiples Selbst, simulierte Biografien) von Menschen verändern.

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Autorinnen und Autoren | 539 Victoria Vesna: Geboren 1959 in Washington D.C., USA; 2000 Promotion am Centre for Advanced Studies in Interactive Arts, University of Wales, UK. Victoria Vesna ist Künstlerin, Professorin und Leiterin des Fachbereichs Design/Medienkunst an der School of the Arts, University of California, Los Angeles. Ihr künstlerischer Ansatz kann als experimentelle Forschungsarbeit definiert werden, die digitale Netzwerkumgebungen mit realen öffentlichen Plätzen zueinander in Beziehung setzt. Dabei schafft sie Multi-User Environments in VRML (Virtual Reality Markup Language). Sie untersucht in diesem Zusammenhang die Beeinflussung des sozialen Verhaltens durch Kommunikationstechnologien. Ihre theoretische Forschung beschäftigt sich mit der Geschichte von Kunst und Computern, Gesellschaft, Bio-/Nanotechnologie und Datenbankästhetik. Sie lebt und arbeitet in Los Angeles/CA, USA. VNS Matrix: Zusammenschluss der vier australischen Künstlerinnen Francesca da Rimini, Virginia Barrett, Julieanne Pierce und Josie Starrs Anfang der 90er Jahre. VNS Matrix (sprich: Venus Matrix) gehörten damit zu den ersten cyberfeministischen Gruppen, die die neuen digitalen Technologien und Medien in macht- und gendertechnologischer Perspektive kritisierten. John Walker: Programmierer, Mitgründer der Softwarefirma Autodesk Inc., Co-Autor von AutoCAD und Mitarbeiter des Fourmilabs (Schweiz), Entwickler von Zufallsgeneratoren und astronomischen Programmen. Sein Text »Hinter den Spiegeln« erschien unter dem Originaltitel »Through the Looking Glass« 1988 als internes Papier für Autodesk Inc. in Sausalito. Weitere Texte: »The Hacker’s Diet«; »The Autodesk File. Bits of History, Words of Experience«; http://www.fourmilab.ch.

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Cultural Studies Claudia C. Ebner Kleidung verändert Mode im Zeichen der Cultural Studies

Moritz Ege Schwarz werden »Afroamerikanophilie« in den 1960er und 1970er Jahren

Mai 2007, ca. 240 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-618-2

März 2007, 180 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-597-0

Rainer Winter, Peter V. Zima (Hg.) Kritische Theorie heute

Marcus S. Kleiner Medien-Heterotopien Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie

Mai 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-530-7

Rainer Winter, Sonja Kutschera-Groinig Widerstand im Netz? Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation Mai 2007, ca. 150 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-555-0

Eva Kimminich, Michael Rappe, Heinz Geuen, Stefan Pfänder (Hg.) Express yourself! Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground April 2007, 254 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-673-1

Karin Bruns, Ramón Reichert (Hg.) Reader Neue Medien Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation April 2007, 542 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-339-6

2006, 460 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-578-9

Christoph Jacke, Eva Kimminich, Siegfried J. Schmidt (Hg.) Kulturschutt Über das Recycling von Theorien und Kulturen 2006, 364 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-394-5

Marian Adolf Die unverstandene Kultur Perspektiven einer Kritischen Theorie der Mediengesellschaft 2006, 290 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-525-3

Tanja Thomas, Fabian Virchow (Hg.) Banal Militarism Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen 2006, 434 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-356-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Cultural Studies Karin Lenzhofer Chicks Rule! Die schönen neuen Heldinnen in US-amerikanischen Fernsehserien

Gerhard Schweppenhäuser »Naddel« gegen ihre Liebhaber verteidigt Ästhetik und Kommunikation in der Massenkultur

2006, 322 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-433-1

2004, 192 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-250-4

Johanna Mutzl »Die Macht von dreien ...« Medienhexen und moderne Fangemeinschaften. Bedeutungskonstruktionen im Internet

Christoph Jacke Medien(sub)kultur Geschichten – Diskurse – Entwürfe

2005, 192 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-374-7

2004, 354 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-275-7

Ruth Mayer Diaspora Eine kritische Begriffsbestimmung

Brigitte Hipfl, Elisabeth Klaus, Uta Scheer (Hg.) Identitätsräume Nation, Körper und Geschlecht in den Medien. Eine Topografie

2005, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-311-2

2004, 372 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-194-1

Kien Nghi Ha Hype um Hybridität Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus

Birgit Richard Sheroes Genderspiele im virtuellen Raum

2005, 132 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN: 978-3-89942-309-9

María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2005, 162 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-337-2

2004, 124 Seiten, kart., 15,00 €, ISBN: 978-3-89942-231-3

Kerstin Goldbeck Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung Die Fernsehkritik und das Populäre 2004, 362 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-233-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Cultural Studies Ruth Mayer, Brigitte Weingart (Hg.) VIRUS! Mutationen einer Metapher 2004, 318 Seiten, kart., 26,00 €, ISBN: 978-3-89942-193-4

Ulrich Beck, Natan Sznaider, Rainer Winter (Hg.) Globales Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierung 2003, 344 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-172-9

Jannis Androutsopoulos (Hg.) HipHop Globale Kultur – lokale Praktiken 2003, 338 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-114-9

Rainer Winter, Lothar Mikos (Hg.) Die Fabrikation des Populären Der John Fiske-Reader 2002, 374 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-933127-65-5

Udo Göttlich, Lothar Mikos, Rainer Winter (Hg.) Die Werkzeugkiste der Cultural Studies Perspektiven, Anschlüsse und Interventionen 2002, 348 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-933127-66-2

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de