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German Pages XVII, 551 [562] Year 2020
EDMUND HUSSERL
STUDIEN ZUR STRUKTUR DES BEWUSSTSEINS TEILBAND II GEFÜHL UND WERT TEXTE AUS DEM NACHLASS (1896-1925)
HERAUSGEGEBEN VON
ULLRICH MELLE UND
THOMAS VONGEHR
STUDIEN ZUR STRUKTUR DES BEWUSSTSEINS TEILBAND II GEFÜHL UND WERT
HUSSERLIANA EDMUND HUSSERL GESAMMELTE WERKE
BAND XLIII/2
STUDIEN ZUR STRUKTUR DES BEWUSSTSEINS TEILBAND II GEFÜHL UND WERT
Texte aus dem Nachlass (1896–1925)
AUF GRUND DES NACHLASSES VERÖFFENTLICHT VOM HUSSERL-ARCHIV (LEUVEN) UNTER LEITUNG VON
ULLRICH MELLE
EDMUND HUSSERL STUDIEN ZUR STRUKTUR DES BEWUSSTSEINS TEILBAND II GEFÜHL UND WERT
Texte aus dem Nachlass (1896–1925)
HERAUSGEGEBEN VON
ULLRICH MELLE UND THOMAS VONGEHR
123
Edmund Husserl† Hrsg. Ullrich Melle Husserl Archives Leuven, Belgien
Thomas Vongehr Husserl Archives Leuven, Belgien
Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke ISBN 978-3-030-35925-6 ISBN 978-3-030-35926-3 https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3
(eBook)
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INHALT
i werten und wert. zur wertlehre § 1. § 2. § 3. § 4. § 5. § 6. § 7.
Sachbestimmtheiten und Wertbestimmtheiten . . . . . . Empirische Apperzeption und Gemütsapperzeption. Stehen Glauben und Gefallen auf einer Stufe? . . . . . . . . . Wollen ist keine Wertapperzeption. Die Bewertbarkeit des Wollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemütsmotivation im Unterschied zur empirisch-assoziativen Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werten als im Wahrnehmen fundierter Akt. Erfüllung der Wertmeinung. Unmittelbare und mittelbare Werte . . . . Empfinden und apperzeptive Objektivation in Akten des Wahrnehmens und Gefallens . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis von Freude, Wunsch und Wollen zum Werten. Die Fundierung des Wollens im Wünschen . . . . . . . .
1 3 11 13 22 32 40
Beilage I. Die Fundierung der Gemütsakte als Gemütsapperzeption und Gemütsmeinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Beilage II. Gibt es spontane Gemütsakte als eine von den theoretisch bestimmenden Denkakten unterschiedene Klasse von Vernunftakten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
Beilage III. Das sinnliche Gefühl als immanente Zeiteinheit ist kein auf den Empfindungsinhalt bezogener Akt . . . . . . . . . .
50
vi
inhalt
ii die von gegenständen ausgehende erregung von gefühlen gegenüber der auf die gegenstände hinzielenden wertung. die frage nach dem gefühlscharakter des wertens § 1.
§ 2.
§ 3.
§ 4.
Die Intensitätsunterschiede im affizierten Gefühl und im Gefühlslicht gegenüber den Unterschieden des Wertes. Die Erregung von Gefühlsakten durch wertcharakterisierte Objekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinnliche Gefühle als Gefühle, deren Erregung kein Werten des Objekts zugrunde liegt. Ist das Werten ein erregtes Fühlen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verschmelzung des Empfindungsgefühls mit dem Empfindungsinhalt. Der Gefühlston. Die Unterscheidung zwischen der Geschmackslust und der dadurch motivierten Freude am Haben der Geschmackslust. Der Übergang der Freude in die frohe Stimmung . . . . . . . . . . . . . Das Schwelgen in der Phantasie – die Freude an wissenschaftlicher Forschung: Erlebnislust als Voraussetzung der Freude als wertendes Gefallen. Das wertende Gefallen als Gefühlsapprehension . . . . . . . . . . . . . . . . .
Beilage IV. Empfindungsgefühl und Gegenstandsgefühl
. . . . .
53
57
59
66 70
iii die analogie zwischen denkakten und axiologischen akten. rezeptivität und spontaneität bei der konstitution von seins- und wertobjektivitäten § 1. § 2. § 3.
§ 4.
Affektion, Auffassung, Zuwendung und schöpferischer Verstandesakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Zuwendung und Gemütszuwendung . . . . Zuwendung als Modus der Lebendigkeit, Erfassung und Denksetzung. Die Konstitution empirischer und axiologischer Abhängigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefühlssinnlichkeit und Intentionalität . . . . . . . . .
73 85
87 92
inhalt
vii
iv die arten der gemütsintentionalität § 1.
§ 2. § 3. § 4.
Ding- und Wertapperzeption. Gefühls-, Begehrungs- und Willenseigenschaften als objektive, apperzipierte Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wertapperzeption und Gefühlsapperzeption. Die Frage nach der Intentionalität der Stimmung . . . . . . . . . . . . Das Begehren des Schlechten. Objektiver Wert und hedonischer Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Intentionalität des Gefühlsaffekts. Gefühlsausbreitung und miterregte Gefühle. Objektive und übertragene Gefühle
Beilage V. Die Unterscheidung zwischen Affekten und ihren Ausstrahlungen einerseits und der größeren oder geringeren Lebendigkeit und Hingabe bei den Gemütsakten andererseits . . . .
97 101 105 108
115
v die konstitution der gemütscharaktere § 1. § 2. § 3.
§ 4. § 5. § 6. § 7.
Freude aufgrund von Anschauungen und aufgrund von Urteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlichte Wertapperzeption und Stellungnahmen des Gemüts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefühlszuwendung und Erregungsstrom. Die Gegebenheit der Gemütscharaktere im Gemütsakt und in der setzenden Erfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemütscharaktere als ontische Charaktere . . . . . . . . Subjektive Richtung-auf und Stellungnahme bei den Erscheinungen und bei den Gemütscharakteren . . . . . . Empirische Apperzeption und Wertapperzeption . . . . . Die Empfindungsunterlage der Sondergefühle und der Einheitsform der Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . .
117 118
121 131 134 136 141
viii
inhalt
vi gefühlsbewusstsein – bewusstsein von gefühlen. gefühl als akt und als zustand § 1.
§ 2. § 3. § 4. § 5. § 6.
Über die Beobachtung von Gefühlen. Lektüre von und Kommentar zu Moritz Geigers Abhandlung in der LippsFestschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meinendes Vorstellen und meinendes Fühlen . . . . . . Thema, Aufmerksamkeit und Interesse in der Sphäre der Vorstellungen und Gemütsakte . . . . . . . . . . . . . Gefallen als Akt und der Affekt der Freude als Zustand . . Sinnliche Lust, Genuss, Stimmung und intentionale Wertgefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiede und Zusammenhang zwischen Wertbewusstsein und intentionalem Freudegefühl . . . . . . . . . .
143 150 157 165 171 177
Beilage VI. Wertbewusstsein und Genuss . . . . . . . . . . . .
183
Beilage VII. Das Sich-Aufdrängen eines Objekts als Reiz zur Zuwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
188
vii passivität und aktivität in intellekt und gemüt § 1. § 2.
Das aktive Wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . Urdoxa und Modalisierung. Die Ichbeteiligung bei der Modalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Latente Intentionalität, das Wachwerden des Ich und die Leistung des aktiven Ich . . . . . . . . . . . . . . . . Passive Lust und aktives Gefallen. Lust als Gegenstand und Lust als Wert. Die Aktrichtungen der Intellektion und Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Bewusstseinsstrom ist durch und durch Objektivation und Synthesis. Die konstitutive Funktion der Lust . . . .
191
Beilage VIII. Objektivation und wertendes Gefühl . . . . . . . .
210
§ 3. § 4.
§ 5.
193 198
203 207
inhalt
ix
Beilage IX. Die notwendige Vorstellungsgrundlage eines Gemütsakts. Fundierte Qualifizierungen: Sinnesstrukturen und entsprechende Aktschichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214
Beilage X. Die in verschiedenen Stufen gegebenen Vorgegebenheiten für das Werten. Wertung in der Möglichkeit als eine Modalität des Wertens. Explikation des Wertes in den Gemütsakten . . .
216
Beilage XI. Sachliche und axiotische Affektion. Die Scheidung zwischen Empfindungsdaten und Gefühlsempfindungen in der Sphäre ursprünglicher Affektion. Wie verhalten sich sinnliche Gefühle zum Gefallen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
218
Beilage XII. Sachen und Werte. Gefühlsbewusstsein als doxisches Bewusstsein von einem Wert und als Gemütsverhalten zu einem in einem doxischen Akt gegebenen Gegenstand . . . . . . . .
220
viii reine werte gegenüber praktischen werten. die frage nach der absoluten willenswahrheit § 1. § 2. § 3.
§ 4.
Reine Werte und ihre Rangordnungen. Werten als das Erleben reiner Freude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begehrungswerte als existenziale Werte. Auf reine Schönheiten im rein wertenden Erschauen gerichtete Begehrungen Wertung von Wertobjekten als mögliche Begehrungsziele. Wertung des Wertgenusses. Praktische Werte als Schönheitswerte einer neuen Stufe. Die Frage nach einer von der Schönheitswertung noch zu unterscheidenden Willenswahrheit Formale Wertlehre und formale Praxis. Reine absolute Werte gegenüber individuell relativen praktischen Werten. Der universale kategorische Wille als ein praktisches Gut . . . . .
225 228
231
233
Beilage XIII. Die Willensrichtigkeit als Schönheitswert. Muss jedes Wollen auf einen Wert gehen? . . . . . . . . . . . . . . . .
237
Beilage XIV. Hat der Wille im Gerichtetsein auf das praktisch Gute seine eigene Richtigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238
x
inhalt
Beilage XV. Lust und Wert
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
240
Beilage XVI. Freude als Modus des Genusses. Freude an der reinen Idee. Ideenschönheit. Auf Schönes gerichtetes Wollen und Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Beilage XVII. Das Reich der reinen Schönheitswerte als Reich des Genusses gegenüber den absoluten Gewissenswerten. Das Vernunftgesetz der Wahl des Besten unter dem Erreichbaren gilt nur für die hedonischen Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
242
Beilage XVIII. Ist jede Freude ein Für-wert-Halten und ist jedes Werten ein positives Gefühl? Ist Werten eine eigene Art der Stellungnahme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
245
ix das gefallen am schönen und der schönheitswert § 1.
Das nicht durch einen Glauben motivierte, uninteressierte Gefallen am Schönen gegenüber dem Gefallen am Wesen als Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Schön-Gefallen als inhaltliches Gefallen. Inwieweit ist ein Glauben Motivationsgrundlage für ein Schön-Gefallen? Das Gefallen an einem Ding wegen seiner schönen Erscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gefallen am Schönen als Gefallen an der Erscheinung und das Missfallen am Hässlichen als qualitativer Gegensatz. Schönheitswert als Wert der Erscheinung gegenüber Güterwert als Wert des Erscheinenden als Seiendem. Gibt es bloße Begehrungswerte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253
Beilage XIX. Die Selbstgegebenheit des Guten in der Freude am Dasein gegenüber der Selbstgegebenheit des Schönen in der Freude an der bloßen Erscheinung. Das Schöne, um seiner Schönheit willen begehrt, wird zum reinen Guten . . . . . . . . . . . .
256
§ 2.
§ 3.
247
250
inhalt Beilage XX. Die Selbstgegebenheit eines Schönheitswertes in der Anschauung des Eigenwesens eines Gegenstandes. Die Fundierung eines Gutwertes in einer Seinsmodalität. Gegenstandswesen und Erscheinungswesen als das Reich des spezifisch Ästhetischen. Freude an der Selbsthabe eines Gegenstandes . . . . . . . . .
xi
257
ERGÄNZENDE TEXTE
a wert und billigung Nr. 1. Billigung, Wert und Evidenz . . . . . . . . . . . . . .
261
Nr. 2. Wertnehmung und Billigung . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Frage nach der Konstitution und Erfassung des Wertes § 2. Durchführung der Analogie zwischen intellektiver und Gemütssphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Zwei Arten von Billigungen . . . . . . . . . . . . . . § 4. Der Doppelsinn des Bewertens . . . . . . . . . . . . .
269 269 270 272 273
Nr. 3. Das wertkonstituierende Gefühl als zum Gegenstand gehörendes, in seinem Wesen gründendes Gefühl. Die Klarheit des Gefühls als Analogon der Evidenz . . . . . . . . . .
276
Nr. 4. Erfüllt sich der Wunsch in der Freude? Das doppelte Gerichtetsein des Wunsches auf Befriedigung und auf ein wahrhaft Gutes. Der Doppelsinn von Erfüllung: Auswertung und Befriedigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
287
. . . . . . . . . . . . . .
293
Nr. 6. Ästhetische Wertung: Schönheit aufgrund des perzeptionalen Inhalts und Schönheit aufgrund der Darstellung . .
297
Nr. 7. Wertverhalte und die Objektivität der Werturteile . . .
307
Nr. 8. Billigung als sekundäres Gefühl auf Richtigkeit gehend. Doppelsinn des Billigens und Wertens . . . . . . . . . . .
313
Nr. 5. Konvenienz der Gemütsakte
xii
inhalt
b intellekt und gemüt. sind gemütsakte objektivierende akte? – gemütsakte und ihre beziehung auf objekte Nr. 9. Die verschiedenen Bewusstseinssphären und die allgemeinen, alle Sphären betreffenden Bewusstseinsformen . . . .
321
Nr. 10. Wunsch und Wunschverhalt. Wunschaussagen als unmittelbarer Ausdruck von Wünschen. Freude, Lust und Wünschen in ihrem Verhältnis zum Werten. Wert und Sollen . .
324
Nr. 11. Das Gefallen (Freude) als Zustand. Seine Erregung durch ein phantasiertes Objekt oder eine Tatsache. Doxische Prädikate der propositionalen Materie gegenüber Gemütsprädikaten als Prädikaten von Tatsachen . . . . . . . . . . .
330
Nr. 12. Intellektive und emotionale Akte: Unterschiede in der Art der Intentionalität und der Fundierung. Sinnengegenstände und Gefühlsgegenstände . . . . . . . . . . . . . .
332
Nr. 13. Haben Gefühlsprädikate bloß subjektive Geltung, indem die Gefühlsakte objektiviert und dem erscheinenden Gegenstand zugedeutet werden? . . . . . . . . . . . . . . . . .
339
Nr. 14. Die wesentliche Verschiedenheit zwischen Gemütsakten und objektivierenden Akten in der Weise der gegenständlichen Beziehung. Meinen als Doxa und Meinen als Hinwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
341
Nr. 15. Gefühlscharakter und Wertprädikat. Entspricht jeder Aktart eine bestimmte Charakterisierung ihrer Gegenstände?
346
Nr. 16. Seinsobjektivation und Wertobjektivation. Gehören Wertprädikate zum Wesen des Dinges? . . . . . . . . . . .
350
Nr. 17. Die Rede von Färbung bei Gemüts- und Wunschakten. Ist die gegenständliche Beziehung der Gemüts- und Wunschakte keine echte Objektivation? . . . . . . . . . . . . . . . . .
361
inhalt
xiii
Nr. 18. Die Unterschiede in der Fundierung von prädikativen Akten und von Gemütsakten . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
Nr. 19. In welchem Sinn alle Akte eine Vorstellung zur Grundlage haben. Seinswertungen und Gemütswertungen. Nochmaliges Überdenken der Darstellung in den Logischen Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
369
Nr. 20. Sinnliches und wertendes Bewusstsein gegenüber dem Verstand als logisches Vermögen . . . . . . . . . . . . .
378
Nr. 21. Intellekt und Gemüt. Die Unterscheidung zwischen niederen und höheren Bewusstseinsstufen. Empirische Funktion und Wertungsfunktion. Das Meinen als das eigentliche Objektivieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
380
Beilage XXI. Die Vieldeutigkeit des Begriffs Meinung . . . . . .
387
Beilage XXII. Affektion, blinde Funktion und Spontaneität in Verstand, Gemüt und Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . .
388
Nr. 22. Resultate: Vorstellungsapperzeption und Gemütsapperzeption. Verstandesobjektivation und Gemütsobjektivation
392
c zur phänomenologie des fühlens, begehrens und wünschens Nr. 23. Einige Grundpunkte zur Lehre vom Gefühl. Empfindungslust und Gefallensapperzeption. Direktes und indirektes Gefallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nr. 24. Sachanschaulichkeit und Wertanschaulichkeit . . . . . § 1. Das Sich-Sättigen einer mittelbaren in einer unmittelbaren Lust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Die Unterscheidung zwischen urteilender Werterkenntnis und fühlendem Werthalten . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Die Sättigungsunterschiede in der emprischen Wahrnehmung und in der Wertnehmung . . . . . . . . . . . . .
395 406 406 407 408
inhalt
xiv § 4.
Die Bedeutung der Sättigung für das Wünschen und Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
414
Nr. 25. Willenswerte, die nicht durch bloße Gefallenswerte bestimmt sind: Der höhere Wert des Wollens des fremden Gutes
417
Nr. 26. Die Frage nach der Vorstellungsgrundlage des Wunsches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
419
Nr. 27. Die mit der dinglichen Apperzeption Hand in Hand gehende Gefühlsapperzeption: Es bedarf keiner von den Empfindungen unterschiedenen Gefühlsempfindungen . . . . .
420
Nr. 28. Das Genießen als Wahrnehmung des Gefallenswertes. Der Unterschied zwischen direktem und indirektem Gefallen. Mängel der Fülle in der Freude als Anlass für Wünsche
421
Nr. 29. Worin besteht der Unterschied zwischen existenzialen und nicht-existenzialen Gefühlen? . . . . . . . . . . . .
423
Nr. 30. Die Bestimmung der Gefühlsmodi durch die Modi des impressionalen Aktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
425
Nr. 31. Der Unterschied zwischen Empfindungsgefühl, Inhaltsgefühl und Gegenstandsgefühl . . . . . . . . . . . . . .
427
Nr. 32. Die Fundierung eines Gefallens in der Materie der Vorstellung. Die Bestimmung des Charakters des Gefallens und Begehrens durch die Setzungscharaktere . . . . . . . . .
433
Nr. 33. Vollkommenheitsgrade der Sättigung eines Wunsches und die der unterschiedlichen Höhe des Genusswertes entsprechenden Grade der erfüllenden Freude . . . . . . . .
436
Nr. 34. Unterschiede der Reinheit und Unreinheit der Gefühle. Der Charakter der Gefühle fundiert in den Gewissheitsmodi und den Modi der Anschaulichkeit der unterliegenden Vorstellung. Die Wesensbeziehung von Wunsch und Freude . .
439
inhalt
xv
Nr. 35. Wertsteigerung, Bevorzugung und Intensitätsunterschiede bei Lust und Unlust . . . . . . . . . . . . . . . .
443
Nr. 36. Das Gefallen des Besseren. Das Vorziehen als Gefallen zweiter Stufe. Sinnliche und ästhetische Werte . . . . . .
445
Nr. 37. Das Vorziehen als ein in Gefallensakten fundierter beziehender Akt. Ist das Vorziehen ein Gemütsakt? . . . . . .
448
Nr. 38. Eigentliche und uneigentliche Gefühle. Das Vorziehen aufgrund uneigentlicher Vorstellung und Wertung. Vorziehen im Gefallen und Wünschen. Das Problem der als richtig charakterisierten Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . .
449
Nr. 39. Freude an eigenem und fremdem Schmerz. Neid als Schmerz über die Freuden eines anderen . . . . . . . . . .
461
Nr. 40. Das Gefallen in der Phantasie und unter Assumtion. Das ästhetische Gefallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
463
Nr. 41. Wirkliche Gemütserlebnisse in der Phantasie. Freude an der Phantasie. Phantasiewirklichkeit als Einheit der Konsequenz von Verstandes- und Gemütsapperzeptionen in der Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
468
Nr. 42. Die Frage nach der Entstehung des Unlustgefühls des Mangels in Auseinandersetzung mit Hermann Schwarz . . .
474
Nr. 43. Gründet sich das Wünschen auf ein assumtives Gefallen?
478
Nr. 44. Triebgefühl, Gefühl des Mangels, Begehren und Wunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
482
Nr. 45. Wünschen und Begehren. Die fundierenden Akte des Wünschens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die notwendigen Zusammenhänge zwischen intellektiven Stellungnahmen, Gemütsakten und dem Wünschen . . . . § 2. Die Bezogenheit des Wunsches auf eine aktuelle Glückslage § 3. Wünschen als Vermissen und als Begehren . . . . . . . .
491 491 495 500
xvi
inhalt
d schönwert und gutwert. wertkonstitution und gefühl Nr. 46. Das Sich-Verlieben als innere Entscheidung aus den Tiefen des Ich. Aktives Gefallen und Wertapperzeption. Die Entscheidung für einen Vernunftwert . . . . . . . . . . . . .
507
Nr. 47. Genuss und Habe. Sinnliche und geistige Werte und Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Sinnliche Lust und Genuss an lustbringenden Gegenständen. Die Verfügungsfreiheit über einen Gegenstand hinsichtlich der Realisierung seiner Lusteigenschaft. Gemeingüter . . § 2. Die kallistische Apperzeption. Die Eröffnung einer Region von Sonderschönheiten durch ein künstlerisches Problem. Das Verlangen nach neuen Problemen und neuen Typen von Schönheit. Schönheit als eine Idee ist eine Sphäre der Vernunft und des schöpferischen Handelns . . . . . . . .
516
Nr. 48. Schönheit als der allgemeine Wertbegriff. Wahrheit als eine Sphäre von Schönheiten. Das von der Wissensfreude geleitete Vernunftstreben gegenüber der bloßen Tendenz auf Erfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
520
Nr. 49. Das wertende Gefallen als Wertapperzeption gegenüber der durch den gewerteten Gegenstand erregten sinnlichen Lust und ihrer sinnlichen Resonanz . . . . . . . . . . . .
522
Nr. 50. Der doppelte Sinn, in dem Gegenstand Wert hat: als Wert in sich habend und als mittelbaren Wert habend wegen der möglichen Realisierung der wertgründenden Momente. Gut und Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
524
Nr. 51. Werten, Fühlen und Begehren. Schönwerten und Gutwerten. Gutwerten, ohne sich am Gut zu freuen . . . . . .
527
Nr. 52. Werterfassung trotz Hemmung des Gefühls . . . . . .
530
513
513
inhalt
xvii
Nr. 53. Die originale Konstitution des Wertes im originalen Akt des Wertnehmens. Originalbewusstsein und Evidenz. Die Vergegenwärtigungsmodifikation der Wertimpression als originaler Grund für die Erfassung der Möglichkeit eines konkreten Wertes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
532
Nr. 54. Das Schöne als ideal identischer „Schein“ in Impression und Phantasie. Die realisierende Objektivierung des Schönen macht es zu einem geistig bedeutsamen Realen . . . . . . .
534
Nr. 55. Freude in ihrem Verhältnis zu Wunsch und Wille. Die Frage nach den Aktklassen und ihrer Einheit . . . . . . .
536
Nr. 56. Zu den Äquivokationen des Wortes Wert . . . . . . . .
538
Nr. 57. Gefühl und Wertkonstitution. Das Problem der Gefühlsqualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Das Genießen als originäre Wertgegebenheit und seine Modalitäten. Antizipationen des Gefühls: das Fühlen als Bewusstsein-von. Ist der konkrete Wert ein reines Vorstellungsgebilde und ist das Ich nur als gewahrendes aktiv? . . . . § 2. Die Frage nach den Gefühlsqualitäten . . . . . . . . . .
540
540 544
Nr. 58. Die Wertapperzeption als Konstitution des vorgegebenen Wertgegenstandes. Das Verhältnis von Aktivität und Passivität bei der Wertkonstitution. Unterschiedliche Wertschichten. Das Auswerten als Leistung des Intellekts gegenüber den Gefühlsbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . .
547
Nr. 59. Sachliche und axiologische Eigenschaften . . . . . . .
550
Nr. 60. Wertprädikate als nicht-relationelle Prädikate. Der Unterschied der Wertprädikate von den doxischen Modalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
551
I. WERTEN UND WERT. ZUR WERTLEHRE1
h§ 1. Sachbestimmtheiten und Wertbestimmtheiteni
5
10
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Sind im Wert en die Werte G egens tände? Wie z. B. im Gefallen: Ist im Gefallen selbst der Wert, das Gefällige als solches, nicht Gegenstand? Man wird sagen: Das Gefallen selbst objektiviert nicht, nur Vorstellungen und Urteile, die objektivierenden Akte, objektivieren.2 Nun gut, eine Objektivation muss zugrunde liegen, und das anderweitig schon Objektivierte (das, was gefällt) steht im Gefallen als gefällig da, steht als schön und gut da. Aber im Gefallen allein? Was sind „schön“ und „gut“? Prädikate! Muss da also nicht weitere Objektivation konkurrieren? Was besagen diese Prädikate? Etwa: „Das Gefallen gehört zur Sache“? Aber ist das Objekt, das als schön dasteht, damit auf das Gefallen bezogen? Wenn das Objekt als schön dasteht, so hat es damit doch nicht die relative Eigenschaft, es sei etwas mir Gefallendes (mir oder irgendjemand) oder Gefallen-Sollendes. Wenn ein roter Gegenstand dasteht, so steht er eben als rot da und nicht etwa als der Gegenstand, der von mir oder irgendjemand als rot aufgefasst und beurteilt werden soll. Andererseits, wenn wir sagen, die Röte ist eine Eigenschaft des Objekts, und wieder, die Schönheit sei eine Eigenschaft des Objekts, so ist doch klar, dass das grundversc hiedene „ Eigenschaften “ sind. Man wird etwa sagen, die eine gehöre zu den theoretischen
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Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg. Das kann nur heißen, nur Erfassen, prädikativ Setzen, als Subjekt Setzen etc. „objektiviert“. Das ist natürlich kein Gefallen. Bin ich nun gefallend einem Gegenstand „zugewendet“ – was heißt das? Der Gegenstand ist objektiviert in dem Sinn von gesetzt (Objekt der Zuwendung und Setzung), und vermöge des Gefallens ist ein Neues am Gegenstand konstituiert, aber nicht erfasst, gesetzt. Es bedarf einer neuen Zuwendung. Das Gefallen konstituiert, aber setzt nicht. 2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 1 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3_1
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E igens c haft en (rein sachliche, reale im weitesten Sinn), die andere zu den W er tei gensc haften.1 Was klärt aber diesen Begriff von „theoretisch“? Wir nennen ein Ding schön, aber auch eine Theorie schön, das Verhalten eines Menschen, seine Gefühle, seine Entschlüsse etc. schön, gut etc. „Schön“, „gut“ ist ein Gegenstand. Der Gegenstand aber „ist, was er ist“, zunächst unabhängig vom Schönsein, Gutsein etc. Das Wertprädikat setzt einen Gegenstand, einen vollen Gegenstand voraus. Auch vom Werten können wir sagen, es setze schon den Gegenstand voraus, auf den es sich beziehe, das heißt, es ist fundiert in einem Vorstellen, in einem anderweitigen, einem „objektivierenden“ Akt.2 Eventuell kann in diesem unterliegenden Objektivieren schon ein Werten beteiligt sein. Dann setzt dieses wieder ein anderes unterliegendes Objektivieren voraus. Zuletzt kommen wir notwendig auf „bloße Objektivationen“3 als fundierende Akte, die nichts von Wertungen in sich schließen. Als Beispiele könnten etwa bevorzugende Akte dienen bzw. Bevorzugungsprädikate. Das Prädikat „besser“, „schöner als“, setzt schon hdasi als schön und gut Gewertete voraus. Dies sind aber zunächst, abgesehen von dem Wert, Gegenstände. Jedenfalls also: Erst ein Gegenstand und dann ein Gefallen daran und mit diesem erst sich konstituierend das Prädikat gefällig, Wert des Gegenstandes. Dieser Wert ist nicht etwas für sich, vielmehr „durch“ das Gefallen konstituiert sich ein erweiterter Gegenstand, der Gegenstand, der nun das Wertprädikat hat, in sich schließt. Mit Beziehung auf ein neues Werten hat er dann wieder neue Prädikate etc. Wir unterscheiden Eigenschaften eines Gegenstandes, die ihm „von vornherein“ zukommen, und solche, die ihm „erst durch das Werten“ zukommen, erst vermöge des Gemüts zuwachsen. Aber was soll diese Unterscheidung, da doch die Werte dem Gegenstand objektiv zukommen sollen, ob ich oder jemand ihn wertet oder nicht?
1 Dieser Gegensatz kann aber nicht parallel laufen dem von Intellekt und Gemüt. Denn offenbar stehen Prädikate wie „wahr“, „wahrscheinlich“, „fraglich“ etc. den Prädikaten „gut“, „schön“ vollkommen parallel. 2 hFundiert ini einem sachvorstellenden Akt, besser hini einer Apperzeption. Objektivierender Akt ist zweideutig. 3 Bloße empirische Apperzeptionen.
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Es kann hier also nichts weiter gesagt sein als eben dies: Wertprädikate sind prinzipiell verschieden von allen anderen Prädikaten. Was Gegenstände si nd (an und für sich oder in Relation zu anderen Gegenständen) und was Gegenstände wert sind (welche Wertprädi5 kate ihnen zukommen), das ist zweierlei: Sein der Gegenstände und W er ts ein der Gegenstände.1 Gegenstände konstituieren sich als das, was sie sind und „vor“ allem Wertsein sind, durch den Verstand. Sie konstituieren sich hinsichtlich ihrer Wertbestimmtheiten durch das Gemüt. Wert kann 10 nichts sein, das nicht schon abgesehen vom Wert ist. Ein Gegenstand hat seine Natur, und erst durch diese Natur hat er Wert. Was liegt nun hinter all dem, und wie histi es tiefer zu klären?
h§ 2. Empirische Apperzeption und Gemütsapperzeption. Stehen Glauben und Gefallen auf einer Stufe?i Auf Gegenstände überhaupt, auf Gegenstände, sofern sie überhaupt sind und irgendwelche Prädikate haben, bezieht sich in reiner Allgemeinheit die formale Logik als formale Gegenstandslehre (bzw. Geltungslehre von Bedeutungen). Betrachten wir nun individuelle Gegenstände. Individuelle Ge20 genstände können (I) ousiologisch bestimmt werden, sie sind ousiologische Einheiten und haben als solche in einem allerweitesten Sinn eine Natur, ein Sein im Sinn einer οσÝα. Andererseits (II) können sie axiologisch bestimmt werden und haben als so bestimmte einen Wert.2 Dabei ist in gewisser Weise der Wert in der Natur und nicht 25 die Natur im Wert fundiert. I) Betrachten wir die Konstitution der Gegenstände hinsichtlich ihrer Natur oder die Gegenstände als Naturgegenstände im weitesten Sinn, in Abstraktion von dem auf ihre Natur erst bezogenen Wert, so heißen die Naturgegenstände Gegenstände der Erfahrung, Gegen30 stände der „sinnlichen Wahrnehmung“, der Erinnerung, der Erwar15
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Das alles ist richtig, und doch sind es gefährliche Reden. Das ist 1) eine relative Unterscheidung, 2) eine absolute. Im letzteren Fall schließen wir unter dem Titel Natur alle Wertbestimmungen aus. 2
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tung, der immanenten oder transienten. Als Erfahrungsgegenstände haben sie ihre Zeit, nämlich ihre Dauer, verändern sich oder bleiben unverändert, und die Gegenstände als zeitliche konstituieren sich in der „ursprünglichen Assoziation“. Wofern sie transiente Gegenstände sind, konstituieren hsiei sich durch andersartige assoziative Intentionen und assoziative Motivationszusammenhänge zwischen ihnen. Darauf gründet sich das bestimmende Denken, das die Gegenstände zu Gegenständen der Natur im engeren Sinn mit der objektiven Naturzeit, dem Raum, den kausalen Eigenschaften etc. objektiviert. Die Einheit der Naturgegenstände im speziellen Sinn hält sich durch in zusammenhängender Wahrnehmung, indem die intentionalen Komponenten der Wahrnehmung sich im Fortgang kontinuierlicher Wahrnehmung erfüllen, bestätigen, bekräftigen, immerfort in schlichter vereinheitlichender Weise. Das zu erforschen ist Sache der Theorie der Erfahrung als Theorie der Konstitution der Erfahrungseinheiten und der Bestimmung dieser Einheiten in Form der Naturwissenschaft (der physischen und psychophysischen). II) Was die Konstitution der axiologischen Gegenstände, der axiologischen Bestimmtheiten erfahrungsmäßig konstituierter Gegenstände anlangt, so entspricht der Erfahrung nun die Erwertung; wie in der sinnlich schlichten Erfahrung der Gegenstand als Naturobjekt erscheint, so erscheint in der Erwertung der Wert, bzw. es erscheint in der sich auf Erfahrung phanseologisch bauenden Wertung der natürliche Gegenstand in seinem Wert. Wir könnten auch sagen, der W ahrnehm ung entspricht die Wertnehmung als der unmittelbar konstituierende und gleichsam gebende Akt. Die „Werterscheinung“ ist nicht Erscheinung im empirischen Sinn der „sinnlichen“ Erscheinung. Die Einheit der sinnlichen Intentionen in der empirischen Erscheinung und die Einheit der empirischen Erscheinung im empirischen Wahrnehmungszusammenhang ist charakterisiert als „assoziativer“ Motivationszusammenhang, die Intentionen sind assoziative Intentionen und erfahren die ihnen eigentümliche Sättigung. Wenn aufgrund einer Erscheinung (einer empirischen, sensationellen), in der das empirische Objekt „dasteht“, sich ein Wertsein konstituiert, so ist das Konstituierende und Einheitgebende für den Wert keine sensationelle, empirische Apperzeption, keine „assoziative“ Auffassung. Wir haben hier nicht bloß Komplexe von Erfah-
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rungsintentionen mit „Hin- und Rückweisen“ und heini sich im Sinn dieser Intentionen Sättigen, sättigende Vereinheitlichungen etc., sondern hier treten eigene Wertapperzeptionen auf. Den empirischen Empfindungen entsprechen Gefühlsempfindungen. Man darf sich die Sache aber nicht so denken, dass den empirischen Empfindungen nur Gefühlsempfindungen entsprechen, die ihrerseits eine analoge intentionale Einheit gewinnen wie jene ersteren. Etwa so, als ob zu den empirischen Empfindungen gewisse Gefühlstöne gehören, entsprechend zu den empirischen Einheiten Gefühlseinheiten: Die sinnlichen Empfindungsabschattungen der erscheinenden dinglichen Merkmale sind sozusagen belegt mit verschmolzenen Gefühlseinheiten, und diese tragen nun dem empirischen Zusammenhang der Abschattungen entsprechende Intentionen, die auf eine bevorzugte Abschattung (bzw. eine ausgezeichnete Stellung und Orientierung des Objekts) Beziehung haben, in denen der Gefühlseindruck der „günstigste“ wäre. In einem solchen Fall wäre die den Gefühlen zugehörige Intention eine empirische, im Wesen nicht unterschieden von der äußeren Dingauffassung als Erfahrungsauffassung. Durch die motivierenden okulomotorischen und sonstigen Umstände wären dann die Gefühlsmomente wie sonstige sinnliche Momente mitmotiviert, die durch sie konstituierten Bestimmtheiten gehörten genauso zum Gegenstand wie Farbe und Wärme. Auch nicht so kann es sein wie bei der Konstitution anhängender Bestimmtheiten und von Wirkungsbestimmtheiten. Freilich in dieser Weise wird der Wohlgeschmack einer Speise auch apperzipiert, nämlich in ähnlicher Weise wie das Tönen eines Dinges, einer Glocke, die angeschlagen wird. Es konstituieren sich also auch Wirkungsbestimmtheiten, die aus der empirischen Apperzeption (der assoziativen) von Gefühlsempfindungen und Gefühlskomplexen (aktuellen Gefühlsempfindungen und empirischen Intentionen auf solche) erwachsen, sofern eben Gefühle aufgefasst werden als erregt durch die Gegenstände. Also, es gibt empirische Gemütseigenschaften als anhängende; genauso wie ein Ding bald warm, bald kalt ist, bald ertönt und nicht tönt, so ist es bald angenehm, bald unangenehm, bald lusterregend und bald nicht. Aber von diesen Erfahrungsapperzeptionen, in denen Gefühlsempfindungen als empirische Empfindungen fungieren (empirische Empfindungen, das heißt ja nicht bloß Farbenempfin-
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dung etc., sondern auch jedes beliebige Erlebnis, das in empirischer Funktion, etwa als „innere Sinnlichkeit“ fungiert), sind scharf zu unterscheiden die Wer tu ngsapperze pti onen. Die Empfindungen „Lust“ und „Unlust“ sind Empfindungen wie andere Empfindungen. Erst die Akte des Gefallens oder Missfallens bringen das Wesentliche für die Wertapperzeption. (Das schließt aber nicht aus, dass auch diese Akte empirisch fungieren können, in empirischer Apperzeption als empirische „Repräsentanten“ oder Empfindungen, so ja psychologisch und psychophysisch.) Nun mögen aber die zu den untersten empirischen Empfindungen (den primären Inhalten, denen der „äußeren Sinnlichkeit“) gehörigen Gefühlsfärbungen, empirisch einheitlich appherzipierti, ein Gefallen oder Missfallen am Gegenstand begründen, oder es mag der Gegenstand mit Rücksicht auf die ihm in gewissen Erfahrungszusammenhängen zuwachsenden Gefühlsbestimmtheiten Gefallen erregen. Auch kann sich das Gefallen gründen auf bestimmte Seiten, auf bestimmte „Ansichten“ vom Objekt oder auf bestimmte Arten des Ablaufs von gewissen Erscheinungen aus seiner umfassenden Erscheinungsmannigfaltigkeit, also sich nicht auf das Objekt selbst und primär, sondern auf solche Ansichten desselben beziehen. Unmittelbare Gegebenheit eines Selbstwertes, unmittelbare Gegebenheit eines Mittelwertes als solchen, Wertmeinung, Wertintentionen und Werterfüllungen. Was soll das heißen: Wertintentionen? Glaubensintentionen, die auf Wertsein gerichtet sind? Nein. Man darf nicht unmodifizierte Intentionen (Impressionen) und Glaube verwechseln.1 Wir haben Anschauung, und zwar a) empirische Anschauung (sinnliche Anschauung im gewöhnlichen Sinn), z. B. empirische Wahrnehmung und Erinnerung; b) Wertanschauung. Beiderseits unterscheiden wir immanente und transiente Anschauung. Wir sprechen
1 Nota: Wertapperzeption ist auch eine Apperzeption, und das ist nichts spezifisch zum „Gemüt“ Gehöriges, ebenso wenig als zum „Verstand“, wenn wir diesem die empirische Sphäre zuordnen (Natur). Andererseits ist Apperzeption die Wurzel alles Logischen; es macht das Vorstellen in einem gewissen Sinn aus. Wenn wir das echte Verstandesmäßige als das Denken nehmen, so ist es die Unterlage für alles Denken: das, woraus das Denken alle Gegenständlichkeit herausarbeitet. Der Unterschied zwischen empirischer Apperzeption und Wertapperzeption ist aber ein fundamentaler innerhalb der Apperzeption.
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von immanenter Wahrnehmung und Erinnerung: gerichtet auf Immanentes, auf primäre Inhalte etc. Alles Immanente kann empirische Auffassung erfahren und darin als „Empfindung“ fungieren. Der sinnlichen Anschauung, der schlichten, steht gegenüber die „kategoriale Anschauung“ im Sinn meiner Logischen Untersuchungen. Sie ist Sache des Denkens; die kategorialen Gegebenheiten sind Denkgegebenheiten, und Denken kann sich natürlich auf empirisch Gegebenes sowie auf axiologisch Gegebenes in gleicher Weise beziehen. Urteilen wir aufgrund sinnlicher Anschauung, so mögen wir etwa das Bewusstsein haben: „S ist P!“ Da können wir dann wieder einen Gegenstand-worüber entnehmen, den Sachverhalt zum Subjekt neuer Prädikationen, Bestimmungen machen. Steht mir nun urteilend das „S ist P!“ da, so kann ich mich dabei freuen. Ich kann dann aber wieder denkend objektivieren, ich kann aussagen: „Dass S P ist, ist erfreulich.“ Der Sachverhalt bekommt ein Gemütsprädikat und eventuell ist das ein objektiv gültiges Wertprädikat. Verleiht das Urteil dieses Prädikat dem Sachverhalt oder der Gemütsakt? Wer objektiviert? Nun, das Denken, das Urteilen, ist von sich aus nicht schöpferisch, sofern es „Vorgestelltes“ voraussetzt, das es denkend fasst und formt. Die Form der Prädikation und das Prädikat als solches stammen aus dem Denken, aber nicht der Inhalt des Prädikats. Freilich, der Gegenstand im eigentlichen Sinn, als das, was ist und mit sich identisch sowohl dies als jenes ist, und einmal dies und das andere Mal jenes ist, ist Sache des Denkens, aber des Denkens aufgrund eines vorgegebenen Vorstellens (bzw. in Bezug auf ein vorgegeben Vorgestelltes). Aber Vorstellen, was sagt das? Doch nicht bloß Sinnliches. Ist es nicht das Gemüt, das auf dem Grund anderweitiger sinnlicher Vorstellung Wertnehmung, schlichte Wertgemeintheit schafft und so die Unterlage für das denkende Objektivieren herstellt? Vom Glaubensakt sagen wir, dass er Beziehung auf Gegenständliches habe. Auch vom Gemütsakt sagen wir das. Gilt die Rede beiderseits in gleichem Sinn? Was soll Glaubensakt besagen? Das Urteilen, und zwar hinsichtlich seines Gewissseins? Aber der bloße Glaube objektivier t ni cht, er „ setzt “ den bedeuteten Sachverhalt.1
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Glaube bedarf einer „Erscheinung“.
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Im Fall der Wahrnehmung sprechen wir auch vom Modus des Glaubens. Auch hier objektiviert der Glaube nicht als dieses Moment, sondern er „setzt“ das Objekt, und das Objekt-Setzen bedarf der „Materie“, der Apperzeption. So ist es auch mit dem Gemütsakt, das heißt hier mit dem Gemütscharakter, der das Pendant und Analogon des Glaubens ist. Er verleiht die „Gemütsfärbung“, die Gefallensfärbung einem Vorgestellten. In der Gemütsapperzeption ist das sinnlich apperzipierte oder kategoriale Objekt mit dem Gemütsprädikat bekleidet oder erscheint, steht da in solcher Charakterisierung, und im nachkommenden Urteil wird ihm das Prädikat „schön“, „gut“ etc. prädikativ zugemessen. Aber das kann ich nicht recht verstehen. Das Wahrgenommene steht als wirklich (selbstgegenwärtig impressional) und als wahrhaft seiend da. Es gefällt mir. Ist dieses Gefallen auf gleicher Stufe zu behandeln mit dem Glauben als Bewusstsein des Wahrhaftseins (des Seins im Sinn der Wahrheit)? Oder ist, wenn ich urteile „S ist P!“ („Das Wetter ist stürmisch“) und wünsche „Es möge S P sein“, der Charakter des Wahrhaftseins auf der einen und der des Wunsches auf der anderen hSeitei ganz gleichstehend? Urteilend „S ist P!“ kann ich eine Umwandlung vollziehen, die den Seinscharakter sozusagen in ein Prädikat verwandelt: „Dass S P ist, ist wirklich so“ bzw. auch: „Das Urteil ist wahr“. Wünsche ich, S möge P sein, so kann ich nun sagen: „Dass S P sei, ist wünschenswert“, aber auch sagen: „Dass S P sein möge, das ist recht so“ bzw. „Der ‚Wunsch‘ ist berechtigt“. Dass die Richtigkeit hier und dort (Richtigkeit des Wunsches, Richtigkeit des Urteils) sich genau entspricht, das ist zweifellos. Anders aber steht es doch mit dem Entsprechen des „Glaubens“ mit dem Wünschen etc. Parallelisieren wir empirische Apperzeption und Gemütsapperzeption, so konstituiert die erstere der Materie nach die Seinsprädikate (den noch nicht denkmäßig gefassten Seinsgehalt des Gegenstandes), die Gemütsapperzeption den noch nicht denkmäßig gefassten Wertgehalt des Gegenstandes, seine Werteigenschaften. Was ist dann empirische Apperzeption? Es ist da doch gar nichts als der ganze Gehalt der empirischen Anschauung (der Wahrnehmung oder Erinnerung) und überhaupt der empirischen Vorstellung, bloß abgesehen vom Modus des Glaubens, des Zweifelns etc. Und so ist dann natürlich auch die Gemütsapperzeption der Gemütsakt selbst
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(so wie er in seiner Konkretion auf empirische Apperzeption und empirisches Denken gebaut ist), nur abgesehen von seinem Modus, und es gibt doch hier parallele Modi: Wunschgewissheit, Wunschneigung etc. Nun hieß es oben, der empirische Gegenstand, der Sachverhalt erhalte eine Gemütsfärbung. Der Gegenstand steht da als erfreulich oder unerfreulich. Der gedachte Sachverhalt steht da als seinsollender. Andererseits, der G l aube „ färbt “ nicht. Die Farbe färbt, die Farbe ist Bestimmung des Gegenständlichen, gehört zu seinem Inhalt, die Farbenmeinung oder -erscheinung ist Bestandstück der Gegenstandsapperzeption. Der Glaube oder Unglaube ist ein bloßer „Modus“. Muss man also sagen: Gefallen und Glauben stehen nicht auf einer Stufe? Die Gemütsprädikate entspringen dadurch, dass eine neue Apperzeption die Gemütsfärbung des Objekts konstituiert. Aber freilich bleiben da Zweifel übrig. Das „Wirklichsein“ steht nicht auf einer Stufe mit „erfreul i ch“. Aber stehen nicht Sein und Seins oll en auf e i ner Stufe? Ist Gefallen und Wünschen also nicht zu sondern? Oder Gefallen als Werten und Gefallen als Annehmlichkeit erfahren, Sich-Freuen etc.? Es gibt Objektivationen mit den Modi des Glaubens, und Objektivation setzt irgendeinen Modus voraus und ein Was, eine „Materie“. hAufi dieses Was, das wir Apperzeption nennen (Auffassung), beziehen sich nun fundamentale Unterschiede: 1) die Unterschiede der empirisch-sinnlichen, „theoretischen“, und der „Gemüts-“Apperzeptionen;1 2) die Unterschiede der „Anschaulichkeit“ (anschauliche, unvollkommen anschauliche, nicht anschauliche leere Apperzeptionen); 3) innerhalb der Anschauung die Unterschiede zwischen schlichten und nicht schlichten. Schlichte: empirische Anschauungen (sinnliche im gewöhnlichen Sinn), empirische Empfindungen mit den eventuell sich transient darauf bauenden empirischen Deutungen, Sättigungen dieser Deutungen etc. entsprechend den Unterschieden der Immanenz und Transzendenz. Andererseits Gemütsanschauungen, Gemütsempfindungen und Gemütsdeutungen, die einen als immanente Färbungen der sinnlichen Empfindungen, die anderen als
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Cf. unten.
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transiente Gemütsfärbungen. Nicht schlichte: kategoriale empirische Anschauungen. Gemütssynthesis des Vorziehens? Kategoriale Gebilde bezogen auf sinnliche oder Gemütsanschauung. Sinnlich-empirische, „theoretische“ Prädikate – Gemütsprädikate. 4) Unterschiede der immanenten und transienten Apperzeption. Was sind das, t heore ti sche Apperzeptionen? Liegt das spezifisch Theoretische nicht im apophantisch Kategorialen, also in den Funktionen der Synthesis (Meinung und ihre kategorialen Gestaltungen)? Das ist vielleicht der richtigste Sinn von theoretisch. Dann hätten wir zu unterscheiden (nicht „theoretische“, sondern) sinnliche oder empiri sc he Apperzepti o nen und Gemütsapperzeptionen.1 Beim Wort „sinnlich“ ist an innere ebenso wie an äußere Sinnlichkeit zu denken. Hierher gehört alles immanent Fassbare in der phänomenologischen Zeitlichkeit, das dann als empirische Empfindung fungieren kann für transiente Intention (Deutung) gemäß der empirischen Motivation, der „assoziativen“, und auf diesem Grund allerlei kategoriale Gebilde. Wir haben daher sorgfältig zu unterscheiden das schlichte immanente Gefallensmoment und überhaupt das „empfundene“ Gefallen, das sinnliche Apperzeption erfahren kann – z. B. bei der Bildung der empirischen Prädikate von Objekten hwiei „Gefallen weckend“, „in uns Gefallen erregend“ und in diesem Sinn reizend, gefällig – und die wirkliche Wertapperzeption. Der „Wert“ bezieht sich notwendig auf Zusammenhänge der Wertmotivation. Er „konstituiert“ sich erst. Gemütsapperzeptionen setzen notwendig empirisch sinnliche voraus, sind in ihnen fundiert. Die empirische Gegenständlichkeit erhält „Färbungen“, wird gemütsmäßig (aber nicht wieder empirisch) aufgefasst. Hier ist nun das Gebiet der Gemütsmotivationen. Die assoziative Motivation liegt als zum empirischen Gegenstand gehörig bei der Wertung dieses Gegenstandes zugrunde. Aber wenn auf ihr auch die Gemütsapperzeption ruht und wenn sie diese auch bestimmt, so sind doch die Gemütsmotivationen nicht auf empirisch-assoziative zu reduzieren. (Dem entspricht die Unterscheidung der Ontologien.
1 Bloße Apperzeption enthält also noch nichts von Meinung, obwohl Bemerken das oder jenes schon abheben kann.
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Abgesehen von der Ontologie des Immanenten haben wir die Ontologie des „realen“ Seins, des Seins im engeren Sinn der ουσÝα, und die Ontologie des Wertseins.)
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h§ 3. Wollen ist keine Wertapperzeption. Die Bewertbarkeit des Wollensi Es fragt sich, ob nun hier der Wille untergebracht werden kann. Der Wille ist keine Apperzeption, ebenso wenig wie der „Glaube“ und seine Modi. Wertend sehe ich den Gegenstand als wert, und wollend (nur dann kann ich wollen) steht ein Vorgestelltes als wert da. Aber das Wollen gibt ihm kein Prädikat. Oder sollen wir sagen, es gäbe ihm das Prädikat des Gesolltseins oder besser: des Seinsollens? Also vielmehr, dass der Gegenstand ist (der als nichtseiend vorgestellt oder gedacht ist), das ist ein Gesolltes. Dass der Gegenstand sei, ist hier der Wert, das, was „schön wäre“. Aber das Wollen gibt ihm nicht die „Färbung“, sondern das Werten. Allerdings wird auch das Wollen in Apperzeptionen hineingezogen werden können; so in der Wahrnehmung der Handlung. Aber die Handlung ist nicht etwa eine Objektivität, die dem „Wert“ gleichsteht. Die Handlung ist zunächst ein gewisser (z. B. in der Wahrnehmung ablaufender) Vorgang der Natur. Aber sie ist mehr. Der Vorgang läuft „willentlich“ im durchgehenden fiat ab. Es konstituiert sich gegenüber dem bloßen Vorgang, dem bloßen Werden im empirischen Sinn, das „Wirken“, das schöpferische Werden, d. i. eben die Handlung und ihr Endergebnis, das Werk. Das ist eine eigenartige Objektität, so wie die zugehörige Apperzeption eine eigenartige Apperzeption ist. Aber es ist keine Wertapperzeption. Sie kann einer Wertapperzeption und Wertbeurteilung zugrunde liegen so wie die bloße empirische Apperzeption und empirische Dingsetzung. Aber die Frage „Ist das eine Tat, ist das eine Handlung, ein Werk?“ ist eine andere als „Ist das Ding gut, wert, ist die Tat eine gute etc.?“ Wir sehen, neben der Dinggegenständlichkeit, die sich in empirischer Apperzeption konstituiert, konstituieren sich noch andere Gegenständlichkeiten (und zwar in empirischer Apperzeption mitgründend, aber nicht durch sie) und darunter die Wertgegenständlichkeit. Aus der „Gemüts“-Sphäre entspringen neue transiente Prädikate von
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vorgegebenen (vorkonstituierten) Gegenständen, die eine Transienz eines eigenen Typus darstellen. Wollen als solches, sagte ich oben, ist nicht Werten, d. i. hnichti wertkonstituierend. Ist Wollen also ein Modus der wertenden Apperzeption? Aber soll sich der Wille nebenordnen zu den Modi, in denen Apperzeptionen jeweils zur Konkretion ausgestattet sein müssen, den Glaubensmodi? Das geht nicht. In diese Reihe gehört der Wille offenbar nicht. Dagegen gehört er in eine Reihe mit dem Wünschen, Begehren, Fliehen, ebenso gesättigte Freude und ihr Gegenteil, die Trauer. Aber liegt nicht in der Freude ein Gefallen, ein Werten vor? Und ebenso überall: im Wünschen, im Fliehen? Gewiss, aber der Wunsch als solcher bringt ein Neues herein. Im Wunsch ist das Erwünschte nicht „gefärbt“, es ist nicht in einer Wunschfärbung „wahrgenommen“ bzw. wahrzunehmen. In diesem Sinn „wahrzunehmen“ als Wert ist das Erwünschte, wenn dasselbe, die erwünschte Sache, gegeben wäre „in“ seinem Wert bzw. dastehend in seiner auswertenden Wertung. Sollen wir also sagen: Wunsch und Wille und ebenso Freude gehören zusammen, und sie ordnen sich neben den Komplex der Glaubensmodi? Aber wie sollen wir das durchführen? Der1 Wille kann beurteilt werden als gut und schön, er selbst unterliegt der Wertung. Auch der Glaube kann als Wert beurteilt werden: Er ist wertvoll oder wertlos. Der Glaube ist zu bestätigen als richtig, sofern er sich auf Wahrheit richtet. Ist nicht Glaube, der die Wahrheit trifft, ein Wert? (Nicht ist die Wahrheit selbst, als solche, d. h. der seiende Sachverhalt, ein Wert.) Ein bestimmter Sachverhalt kann Wert sein, aber nicht seiender Sachverhalt als solcher. Wohl aber das evidente Gegebenhaben des Sachverhalts und das in solches Schauen überzuführende, das richtige Urteilen. Der Wille, der einen Wert trifft, ist selbst ein Wert. Eine Persönlichkeit, deren Wollen habituell auf Werte gerichtet ist im Sinn des „höchsten praktischen Gutes“, ist ein Wert. Alle menschlichen Wollungen können einem Willenssystem eingeordnet werden, in dem sich
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An den Rand des folgenden Textes (bis etwa S. 13,12) hat Husserl eine Null geschrieben und notiert: „Keine Fortführung. Keine zusammenhängende Behandlung mehr!“ – Anm. der Hrsg.
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als Ganzem das in einer menschlichen Gemeinschaft Bestmögliche, Wertvollste realisiert. Dahingestelltseinlassen, Zweifeln, Vermuten dachte ich hier gefasst unter den Titel „Glaubensmodi“. Natürlich auch das Fragen. 5 Wie steht es mit Anerkennen und Verwerfen, Billigen und Missbilligen, „als wahr und falsch, als gut und schlecht Bewerten“? Eine Handlung bewerte ich als gut. Sei es, dass ich sie „sehe“, sei es, dass ich sie „in der Vorstellung werte“. Ich „sehe“, dass sie „richtige“ Handlung ist, vernünftige, und werte hsiei als vernünftig und wie jede 10 vernünftige als gut. Ebenso werte ich ein Urteil als wahr. Ich urteile dabei, das Urteil sei richtig und werte es als ein Gut (jedes „richtig“ gilt mir da als gut).
h§ 4. Gemütsmotivation im Unterschied zur empirisch-assoziativen Motivationi1 „Akte“ (Meinungen, intentionale Akte) beziehen sich (richten sich) auf Gegenstände. Man zählt da auf: Glauben, Vermuten, Zweifeln, Fragen, Gefallen, Sich-Freuen, Wünschen, Wollen und ihre eventuellen Negativa. Was Wahrnehmen, Erinnern etc. anlangt und andererseits Urteilen als Prädizieren, prädikativ Fragen, Vermuten etc., 20 so gehört das in die erste Reihe: Es ist dem allgemeinen Modus nach Glaube etc. Nur ist die „Materie“ eine andere. Gegenstände erscheinen, sind vorgestellt, gedacht. Sie können „theoretisch“ betrachtet, bestimmt, nach Wesen oder Wirklichsein bestimmt, wissenschaftlich erklärt werden.2 Das Gemütsverhalten 25 zu vorstelligen (erscheinenden, gedachten) Gegenständlichkeiten im weitesten Sinn: ob das Gegenständliche sich aufgrund einer empirischen Apperzeption oder einer Gemütsapperzeption konstituiert, das ist hierbei gleichgültig. Da werden die Gegenstände nicht bestimmt; es ist, wofern hnichti willentliches Verhalten wie im Erkennen leitend 15
1 Vgl. Beilage II: Gibt es spontane Gemütsakte als eine von den theoretisch bestimmenden Denkakten unterschiedene Klasse von Vernunftakten? (S. 49). – Anm. der Hrsg. 2 Also durch eine Apperzeption hindurch geht eine aussondernde Herausmeinung, Synthesis, Prädikation.
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ist, nicht auf Wahrheit, auf richtiges Urteilen, Begründen abgesehen. (Mit anderen Worten: Im willkürlichen Erkennen ist der Wille gerichtet auf den Wert richtigen und begründeten Urteilens; aber das ist eben nicht der einzige Wert.) Vielmehr: Die Gegenstände gefallen oder missfallen, sei es in sich oder um eines anderen willen. Sie gefallen, wenn sie an sich selbst gefallen, um dieser oder jener eigenen objektiven Bestimmung willen oder um ihrer Erscheinungsweise willen oder auch darum, weil sie zu dieser primär gefälligen Erscheinungsweise gebracht werden können. Gegenstände sind Objekte der Freude: Sie ist Freude über das Sein von Gegenständen, über den Bestand von Sachverhalten etc. Auf Gegenständlichkeiten „gehen“ Wünsche. Wünsche richten sich auf das Sein etwa von Dingen, auf das Eintreten von Vorgängen, auf das Sich-Herausstellen von Erkenntnissen, darauf, dass sich im theoretischen Denken eine Theorie gerade der Form als wahr ergeben möge etc. Wollungen gehen auf Realisierung: auf Erzeugung von Dingen aus Dingen, auf den Vollzug von Leibesbewegungen etc. Die fundamentalen Akte, so genannt, weil alle anderen Akte sie als „Fundamente“ voraussetzen: Apperzeptionen, vollzogen im Modus des Glaubens oder in einem der verschiedenen gleichstehenden Modi hwiei Unglaube, Zweifel etc. Was die sonstigen „Akte“ anlangt, Gefühle, Begehrungen und Wollungen, so können sie in Erfahrungsapperzeptionen hineingezogen werden. In gewisser Weise kann das natürlich jeder Akt, auch Wahrnehmen, Urteilen, wie wenn ich sage, ich nehme wahr, ich urteile, dass … Nun meinte ich, glaubend steht mir das Geglaubte nicht in einer „Glaubensfärbung“ da, es steht da im Sinn der betreffenden gegenständlichen Apperzeption. Man könnte freilich sagen: Die Fiktion steht anders da, „erscheint mir anders“ als ein für wirklich gehaltenes Objekt, etwa der Rohns.1 Indessen, eigentlich gesprochen erscheint der Gegenstand nicht in verschiedenen Bestimmungen, in verschiedenen gegenständlichen Charakteren, die ja dann als Prädikate von ihm erschienen. Gefällt mir ein Objekt, betrachte ich es mit Wohlgefallen, so hat es die angenehme Gefühlsfärbung. Das Gefallen ist auf das Objekt be1 „Der Rohns“ war ein beliebter Gasthof auf dem Hainberg bei Göttingen. – Anm. der Hrsg.
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zogen, es hat darin seine „Intentionalität“. Es ist nicht ein beliebiges, neu auftretendes Bewusstseinsmoment, sondern es ist auf das doch transiente Objekt bezogen, das als gefallend dasteht. Zum Beispiel ein edles Pferd gefällt mir, die Gestalt dieses Pferdes in ihren schönen Linien, der Ausdruck der Energie im Auge, die Anmut und Kraft der Bewegungen. Von dem Erfahrungsobjekt und auch den betreffenden Erfahrungsbestimmungen, die für die Schätzung grundlegend sind, ist nur Weniges gegeben und nicht adäquat gegeben, aber alles ist empirisch apperzipiert und darauf gründen sich die Gefühlsmomente und Gefühlsintentionen, die in ihrem Zusammenhang, in ihrer harmonischen Einheit das Gefallen fundieren. Es würden diese Intentionen bei passendem Ablauf der empirischen Erscheinungen des Pferdes sich harmonisch erfüllen, soweit sie sich im partiellen wirklichen Ablauf der Wahrnehmungen, die ich vom Pferd bewusst habe, nicht wirklich erfüllen. Hier haben wir einerseits Erfahrungszusammenhänge (assoziative) und Erfahrungsmotivationen. Aber nicht bloß solche. Neben den Motivationen, die zur Konstitution des Dinges gehören (zunächst zu den inneren raumfüllenden, das Ding primär konstituierenden Eigenschaften; dann zu den anhängenden, den Wirkungseigenschaften), haben wir die „Gefühlscharaktere“. Ich meine nicht die „Gefühlswirkungen“ des Objekts. Soweit ich sie auffasse, und ich kann ja jederzeit diese Wirkungsapperzeption vollziehen, habe ich nichts Neues, oder vielmehr ich habe damit nur ein Sekundäres. Das Ding erregt in mir Wärme, es erregt in mir Lust etc. Es handelt sich auch nicht bloß darum, dass neben den aktuellen Gefühlen, die Erlebnisse sind, noch Erinnerungen an Gefühle geweckt werden, dass Anzeichen da sind für Gefühle, die aktuell eintreten würden, wenn die und die Erscheinungsänderungen vor sich gingen. Das wären „erregte Assoziationen“, das wären Erfahrungsintentionen, und wenn sie und soweit sie in der Gesamtapperzeption auftreten, konstituieren sie sinnliche Eigenschaften, empirische Gefühls eigensc haft en al s Wi rkungseigenschaften. Insoweit wären G efühl e da in Funkti on von empirischen Empfindungen (sinnliche Repräsentanten). So können Gefühle fungieren, aber das ist nicht ihre Funktion, wenn wir im Gefallen leben. Sie können, sagte ich, so fungieren. Sie tun es zum Beispiel, wenn ich die verschiedenen Situationen des Gegenständlichen verfolge, auf die verschiedenen Erscheinungen achte und die unter diesen Situa-
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tionen zu erhoffenden Gefühlswirkungen als Wirkungseigenschaften des Dinges anspreche. Das Mienenspiel des Pferdes ist Anzeichen für seine Energie, die ich ihm einfühle. Diese Energie ist die Bedingung für bewertete Leistungen, im Wettlauf zum Beispiel. Aber das Mienenspiel wirkt nicht bloß als Anzeichen für ein anderweitig Gefallendes, oder besser: Im Mienenspiel sehe ich nicht bloß die Energie, und die Energie „erinnert“ nicht nur an Leistungen, die, wenn sie vorhanden wären, gefallen würden. Vielmehr das Mienenspiel und die Energie gefallen auch selbst um dieses Erinnerungszusammenhangs willen. Die schlanken Beine und die ganzen Proportionen des Baus gefallen als Anzeichen der Schnelligkeit. Die Schnelligkeit werte ich, die gefällt mir als aktuelle Leistung. Aber das Anzeichen für mögliche Schnelligkeit gefällt selbst und als solches. Das ganze Tier, so wie es mir da erscheint, ist ein System von Anzeichen für allerlei mögliche Gefälligkeiten, aber auch selbst gefällig um dessentwillen. Und das einzelne Gefällige motiviert in diesem System, das eine „Harmonie“ ist, ein höheres Gefallen. D as i st ni cht ei ne bloße Assoziation, s onder n hier t ri tt ein e neue Moti vation auf. Nun kann man sagen: Im Gefallen lebend erscheint das Objekt, das Pferd, und es gefällt. Das heißt nicht, es wird ein System von Gefallensmotivationen irgendwie gegenständlich. Gewiss: Indem mir das Pferd gefällt, sind die verschiedenen Linien empirischer Assoziation erregt, die Tendenzen auf die Erscheinungsmannigfaltigkeiten, welche so und so geartetes Gefallen erwecken würden. Und mit den empirischen Tendenzen, den empirischen Intentionen, sind verflochten Gefallensintentionen. Aber das ist doch nicht so zu verstehen, dass ich Vorstellungen von Erscheinungen habe, die ich nicht habe, sondern eventuell haben würde. Ich habe jetzt die und die Wahrnehmung oder Wahrnehmungskontinuität. Das Pferd steht da von der und der Seite, und allmählich von den und den geänderten Seiten. Und darin stecken mannigfaltige „Erfahrungsintentionen“. Nun, ebenso habe ich aufgrund dieser Wahrnehmung ein aktuelles Gefühl, das aktuelle Gefallen, und in ihm stecken mannigfaltige Gefallensintentionen. W ie die Wahr nehmu ng, so h at auch das Gefallen seine Tr ans z endenz. Wie die in der aktuellen Wahrnehmung vereinigten Wahrnehmungsintentionen, so „weisen“ auch die im aktuellen Gefallen geeinigten Gefallensintentionen auf mögliche Erfüllungen
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hin und beiderseits nicht bloß die einzelnen, sondern in ihren harmonischen Verwebungen die Komplexe, und all das gemäß der Weise des Zusammenhangs und des Ablaufs. Die Erfüllungen sind neue Akte und sind bloße Aktmöglichkeiten. Sie sind nicht vorgestellt. Vorgestellt ist einfach das Pferd. Eventuell mag eine reproduktive Vorstellung von dem Pferd in den und den Situationen, im Wettlauf etc., auftauchen. An diese vorgestellten Situationen knüpft sich „ein Gefallen in der Vorstellung“, das heißt aber, sie stehen ähnlich als gefällig da, wie das jetzt aktuell wahrgenommene Pferd als gefällig dasteht: Hier wie dort ist nicht das Gefallen als solches gegenständlich, so wenig als das Wahrnehmen als solches, die empirischen Akte, gegenständlich sind. Beiderseits aber stehen reproduzierte Erscheinung oder verbildlichende mögliche Erscheinung (Pferd im Wettlauf) und entsprechende Gefühlsfärbung nicht isoliert da, ohne Zusammenhang mit der aktuellen Pferderscheinung in der Wahrnehmung und ihrem Gefühlscharakter. Es sind motivierte Erscheinungen, sie gehören zu dem Objekt, das so eben wahrgenommenes Objekt ist. Auch die Gefallenscharaktere gehören zu diesem Objekt, sie gehören zu dem „Pferd im Wettlauf“, dem Objekt in dieser Situation. Aber das ist „dasselbe“ Pferd, das ich jetzt wahrnehme, nur in einer möglichen und motivierten Situation gedacht. Die Gefallenscharaktere sind zwar Gefallenscharaktere „in der Phantasie“, und die Gefallensakte sind Gefallensakte modifizierter Art. Andererseits ist es nicht so, als ob ich mir dächte, es gefiele mir etwas, und zwar das phantasiemäßig Vorgestellte (hdasi durch illustrierende Vergegenwärtigung Aktuelle), das mir aber in „Wahrheit“ gar nicht gefällt. Es gibt da also ein In-Wahrheit-Gefallen in der Phantasie. Das Gefallen ist wirklich und eigentlich auf das Phantasievorstellen gegründet, bezieht sich „eigentlich“ auf das Phantasieobjekt: Und nun ist das Phantasieobjekt nicht „bloß Phantasieprodukt“, sondern es stellt mir das jetzt Wahrgenommene in einer möglichen Situation vor, die als reale Möglichkeit motiviert ist, wobei das Gefallen, das zu ihr gehört, seinerseits „begründende“, motivierende Beziehung hat zu dem aktuellen Gefallen aufgrund der Wahrnehmung. Wenn mir aber das Objekt gefällt, steht es nicht als gefälliges, als schönes, angenehmes ohne weiteres da? Bedarf es da erst einer neuen Apperzeption? Ist es nicht so, dass nicht nur das Objekt, welches gefällt, mir vor Augen steht, sondern ohne weiteres auch
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das Objekt als gefällig? Es ist sozusagen mit einem Gefälligkeitscharakter bekleidet, und zwar speziell nach Seiten der und der gefallenden Momente. Indessen, worin soll hier der Zweifel bestehen? Ich bedarf nicht eines neuen „objektivierenden“ Aktes und mit ihm neuer objektivierender Auffassung, wie wenn ich etwa von der bloßen Wahrnehmung übergehe zur Auffassung: „Ich sehe“ das Objekt und ich sehe es gerade in dieser Erscheinungsweise etc., und ich fühle Gefallen und das Objekt erregt hini mir Gefallen. Aber im schlichten empirischen Wahrnehmen und Gefallen habe ich schon die doppelte Apperzeption. Man könnte allenfalls sagen: Mag es vorkommen oder auch nur denkbar sein (was der einzige Zweifelspunkt ist), dass ein Fühlen statthat, ohne dass schon solche Beziehung auf das anderweitig erscheinende Objekt hergestellt sei, welche ihm Gefälligkeitscharakter verleihe1 (und mag dann noch ein verständlicher Sinn der Beziehung auf den Gegenstand für das Gefühl übrig bleiben wie etwa bloß sofern, als man feststellen könnte, dass solch ein Gefühl notwendig fundiert sein müsste in Vorstellungen, was alles Punkte des Zweifels sind) – ich wiederhole, mag es sich damit wie immer verhalten, eins ist sicher, dass, wo immer wir von Werten sprechen und wo immer wir bestimmt sprechen von Freude-über, von Trauer-über, da haben wir das erscheinende oder sonst vorgestellte Objekt in einem betreffenden Charakter da.2 Das Objekt steht da als angenehm, nett, reizend, hübsch etc. oder als widerwärtig, langweilig, unschön, ein Sachverhalt als erfreulich oder unerfreulich etc. (Allerdings bei der Freude und Trauer wie bei Wunsch und Willen ist dieses Erscheinen wohl anders zu verstehen.) Da scheint doch bei all solchem „Werten“ eine neue Apperzeption hereinzukommen,3 nämlich gemäß einer neuen Motivation, der Gemütsmotivation, zu der das „umwillen“ gehört. Nicht weist in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und
1 Das kann doch nur den Sinn haben, dass ein Fühlen statthat, aber kein sich des gefälligen Objekts bemächtigendes Meinen, ein in dem fundierten Gefallen lebendes. 2 Also im Gemütsakt lebt ein Meinen, oder vielmehr, es ist nicht nur ein G e m ü t s „ Zustand “, sondern ein wirklicher „Akt“, wofern wir zum Akt als wesentlich das Meinen rechnen. 3 Das Gemütserlebnis als Gefallen etc., das ist die neue „Apperzeption“, und nur das ist besonders wichtig, dass sie neuartig ist gegenüber der empirischen und dass sie ihre Transzendenz haben kann etc.
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innerhalb der Momente jeder Erscheinung eines auf das andere bloß empirisch (assoziativ) hin, sondern eine neue Motivation tritt auf, und Motivation ist es auch, welche jedes Gefallensmoment mit seiner gegenständlichen Unterlage verknüpft. Der Gefühlscharakter gehört nicht zu seinem Gegenständlichen wie warm zum warmen Körper oder wie Ton zum tönenden Gegenstand bloß empirisch, sondern gehört zu ihm durch eine eigene Beziehung der Begründung, phanseologisch durch eine eigene Motivation. Die Vorstellungsunterlage motiviert das Gefühl ganz anders wie es eine andere Vorstellung motiviert. Und ebenso ist es etwas völlig Neues, diese eigentümliche Art, wie im Ablauf der sinnlichen Erscheinungen durch eine gewisse Schicht derselben ein Gefühlsablauf motiviert ist und sich eine Gefühlseinheit konstituiert. Das Objekt hat seinen Wert, sofern es etwa in gewisse wirkliche oder mögliche Erfahrungszusammenhänge hineingehört und sofern zu den diese konstituierenden Erscheinungsmannigfaltigkeiten wieder gewisse ausgezeichnete Erscheinungsmöglichkeiten gehören, die bestimmte gefühlsmäßige Einheiten konstituieren. Betrachte ich das Objekt, wie es ist, so bewege ich mich in den zusammengehörigen Erscheinungen, ich meine bald dies, bald jenes gegenständliche Moment heraus und folge seiner Einheit im Erscheinungsablauf. Und abgesehen von den aktuellen Erscheinungen kann ich der Einheit in möglichen motivierten (assoziativen) Erscheinungen nachgehen und dann weiterdenkend das Moment als Merkmal, als Eigenschaft bestimmen und so das Objekt in verschiedener Richtung bestimmen. Lebe ich aber im Werten, so sind damit gewisse Erscheinungszusammenhänge und Erscheinungsmöglichkeiten und entsprechende Denkmöglichkeiten ausgezeichnet, nur in ihnen bewege ich mich meinend, um die Einheit des Gefühlscharakters bzw. Einheit des Wertprädikats zur Gegebenheit zu bringen. Es kommt jetzt nicht überhaupt auf die Einheit des Objekts an, auf seine Merkmale und die Bestimmung dieser Merkmale, sondern nur auf das, was fundierend ist für das Wertmäßige und soweit es das ist. Jedenfalls also ist das Wertprädikat nichts im empirischen Zusammenhang als solchem sich Konstituierendes und auch nichts sinnlich naturhaft Gewirktes (als ein psychischer in mir gewirkter Zustand, der eine ganz andere Einheit hat als die Werteinheit, die ja vielmehr eine durch vielfältige mögliche Gefühlszustände hindurchgehende
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und in ihr sich bloß bekundende Einheit histi). Vielmehr ist die Sache die, dass sich auf einem empirischen Gegenstandsbewusstsein ein gewisses wertendes Bewusstsein gründet, das mit jenem nicht geeinigt ist wie empirisches Gegenstandsbewusstsein mit empirischem Gegenstandsbewusstsein, vielmehr in völlig neuer Weise. Und dieses wertende und im Empirischen fundierte Bewusstsein trägt in sich eine neue Einheit, die auf das empirische Objekt bezogen werden kann als ein neuartiges Prädikat, das wir Wert nennen. Zum Objekt gehört der Wert: Das empirische Objektbewusstsein fundiert eben ein Wertbewusstsein, das seine intentionale Erfüllung finden kann, und zwar so, dass eine bestimmte Entfaltung des Objektbewusstseins stetiges Fundament ist für einen bestimmt motivierten Zusammenhang eines Einheit gebenden Wertbewusstseins, das die ursprünglich fundierte Gefühlsintention erfüllt. Diese Erfüllung ist Gemütserfüllung, Erfüllung im Werten. In der logischen Apperzeption, der prädikativen Synthesis und verbalen Konzeption, welche den Wert zum Prädikat einer Aussage macht, fungiert die Erfüllung zugleich als Bestätigung. Nämlich auf die Gemütserfüllung „richtet“ sich mit die logische Intention. Tritt die Erfüllung ein, so bewahrheitet sich die gegenständliche Wertintention. Fragt man: „Wie macht die logisch-prädikative Intention den Wert zum Prädikat?“, so lautet die Antwort: Zunächst wird auf den Wert geachtet. So gut ich auf die Form eines Gegenstandes achten kann, so gut auch auf die Schönheit, die ihm aufgrund der Form und anderer Bestimmtheiten zukommt. Die gesamte empirisch-axiologische Apperzeption in ihrer Komplikation kann in verschiedener Weise von einem Meinen beseelt sein; das Aufmerken, Achten und Herausmeinen kann sich da in verschiedener Richtung betätigen, wie sie das ja schon in der Unterschicht der bloß empirischen Apperzeption tun kann.1 Ich
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Also dieses Meinen ist das überall eigentlich objektivierende, und zwar sowohl in der empirischen als in der nicht-empirischen Sphäre. Die bloß dingliche Apperzeption ist noch keine Objektivation und steht völlig gleich der axiologischen Apperzeption. Das Meinen kann schlichtes oder synthetisches sein, und alle Formen der Synthesis gehören zu ihm, während aus den Apperzeptionen die Materie stammt und danach die besonderen Relationen, empirische Relationen und Wertrelation und Relation zwischen empirischem Gegenstand und Wert. (Das „Meinen“ ist ein Setzen, ein
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kann verschiedene Eigenschaften (vor ihrer begrifflichen Fassung) bevorzugen. Das Ganze ist in gewisser Weise natürlich gemeint, aber darin das betreffende gegenständliche Moment. Ebenso wenn wir die axiologische Apperzeption hinzunehmen. Gemeint ist das ganze empirische Objekt oder vielmehr das gleichsam empirisch-axiologische Objekt, aber durch das Meinen bevorzugt sind nun die Apperzeptionsschichten, die Sache der Wertung sind, die empirischen, die der Wertung zugrunde liegen, und zwar in besonderem Sinn zugrunde liegen, und die wertende Apperzeption selbst. Und damit ist der Wert des Objekts, das um der und der Momente oder empirischen Zusammenhänge willen wert ist, das Gemeinte. Mehr ist also hier nicht zu sagen, so wenig wie bei den bloß empirischen Apperzeptionen. Übrigens, was die Rede von bloß empirischer Apperzeption anlangt, so ist zu bemerken, dass, auch wenn Axiologisches mitspielt, die „Betrachtung“ und logische Bestimmung eine bloß empirische ist, wenn Meinung und Bestimmung eben sich in der bloß empirischen Apperzeptionsschicht bewegen.1 Sicher ist danach: Nur in Gemütsakten kann der Sinn der Wertprädikate gefunden werden, aber Gemütsakte allein objektivieren nicht. (Das kann doch nur heißen, zum Objektivieren gehört das Meinen und das denkende Bestimmen.) Gegeben und urteilsmäßig gesetzt ist ein Wert in einer Evidenz, und diese ist nicht als Evidenz, sondern vermöge ihres Gehalts, ihres Sinnes, verschieden von anderen Evidenzen, von nicht-axiologischen. Evidenz ist, abgesehen vom Urteil, Gegebenheitsbewusstsein, und G egebenheitsbewusstsein is t über all gatt ungsm äßi g dassel be. Wir können auch sagen, ein Wert wird angeschaut, wird wahrgenommen. (Im Allgemeinen ist Wert ein transzendentes Prädikat und bezieht sich als solches auf empirische Dinglichkeiten. Doch ist auch immanente Wertung möglich, z. B. Wertung einer schönen Tonfolge: Sie ist schön.)
„Glauben“, hesi gehört also in eine eigenartige Reihe. – Nachträgliche Bemerkung hvoni 1910.) 1 Zur Frage des Vermeinens als Objektivieren cf. auch αα in Ph h= Text Nr. 23i und weiter unten p. 25 h= S. 35,25–37,25i.
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werten und wert. zur wertlehre h§ 5. Werten als im Wahrnehmen fundierter Akt. Erfüllung der Wertmeinung. Unmittelbare und mittelbare Wertei1
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Überlegen wir noch einmal: Was sind das, Gemütsakte? Sollen wir nicht sagen, es sind Gemütsapperzeptionen? Analysieren wir die Gefallensakte. Ich vollziehe ein Gefallen an einer Zigarre. Ich „versenke“ mich darein und mache mir, über das einfache Gefallen daran hinausgehend, klar, was mir daran eigentlich gefällt und „warum“ es mir gefällt. Ich stelle mir vor, dass ich die Zigarre rauche. Ich empfinde gleichsam den Geruch und Geschmack, eine gewisse Anregung meines Gedankenverlaufs und meiner Stimmung. Und nicht nur das nehme ich „gleichsam“ wahr, sondern auch den edlen Geruch, den schönen Geschmack, das Wohlgefühl der freien heiteren Stimmung etc. Das gehört zur Zigarre (so wie ich sie da auffasse), dass sie zum Rauchen geeignet ist, dass sie unter den Umständen eines wirklichen Rauchens die und die Geschmackseigenschaften hat und gefühlsmäßig so und so charakterisierte. Und nun „gefällt“ mir die Zigarre um dessentwillen, oder besser: um dessentwillen ist sie mir wert, ist sie eine schöne, eine gute Sache. Sie ist es um solcher realen Möglichkeiten willen. Das aktuelle Gefallen, mit dem ich sie jetzt betrachte, und das aktuelle empirische Wahrnehmen, das ich von ihr habe, enthält jetzt nichts von all dem. Aber so, wie im sinnlichen Wahrnehmen beschlossen sind mannigfache „Intentionen“, die auf „Wahrnehmungsmöglichkeiten“ „hinweisen“, so sind im sinnlichen und gefühlsmäßigen Apperzipieren zusammen auch beschlossen gewisse Gefühlsmöglichkeiten: Es sind „Hinweise“ da auf die und die empirisch-sinnlichen Erscheinungszusammenhänge und auf die in ihnen fundierten Gefühle und Gefühlszusammenhänge. Jetzt erlebe ich die sinnliche Wahrnehmung: das sinnliche Empfindungsmaterial in dem Komplex von teils eigentlich perzeptiven, teils uneigentlichen Intentionen. In unserem Beispiel entfallen Gefühle, die am eigentlich perzeptiven Gehalt hängen. Gefühlsintentionen gehören zu den uneigentlichen Intentionen und so, dass die Realisierung (Erfüllung) auf Erscheinungsreihen führt, die in gewisser Weise Träger von phansischen Gefühlen sind, die übrigens wieder ihre intentionale 1 Grundlegend. Zur Lehre von der Konstitution von realen „empirischen“ Werten durch transiente Werterscheinungen.
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Vereinheitlichung haben. Aber jetzt habe ich nicht bloß die Wahrnehmung mit all diesen sensuellen und gefühlsmäßigen intentionalen Komponenten – das heißt, ich habe nicht bloß die Wahrnehmungsapperzeption, die die Zigarre zugleich als das Raumding und als das zum Rauchen befähigte und so und so riechende, schmeckende, sondern auch als das wohlschmeckende etc. vorstellt –, vielmehr habe ich ein Werten der Zigarre als so wahrgenommener, als so apperzipierter. Dieses Werten ist ein im Wahrnehmen fundierter neuer Akt (eine Aktimpression), worin diese Zigarre als ein Wert „dasteht“, genauer: als ein Wert vermeint ist. Ich werte sie, ich schätze sie, ich vollziehe eine Wertschätzung aufgrund jener sinnlich gefühlsmäßigen Apperzeption, und zwar Wahrnehmung. Ich vollziehe eine Wertschätzung: Die Zigarre gefällt mir, ein Gefallensakt wird vollzogen auf dem Grund jener Apperzeption. Aber die Zigarre steht nun als eine werte da. Das Gefallen ist als Gefallenan ein Wertvermeinen, und so steht das Objekt nicht nur als dasjenige da, als das es in der bloßen Wahrnehmung erscheint und gesetzt ist (und zwar der Wahrnehmung im weiteren Sinn, der Gemütseigenschaften miterfasst, Wohlgeschmack etc.), sondern es steht vermöge des aktuellen Gefallens als wert da (aktuelles Gefallen-Haben ist nichts anderes als Bewusstsein von einem Gefälligen). Dieses Dastehen ist aber nicht wieder ein Wahrnehmen, nicht ein Wahrnehmen zweiter Stufe. Der Wert ist ja nicht „gegeben“ und in keiner Weise gegeben; es ist nicht so wie beim Wahrnehmen, wo das Objekt, wenn auch nur unvollkommen, einseitig und etwa nur nach visuellen Raumbestimmtheiten der einen Seite gegeben ist. Und das betrifft sowohl das Objekt selbst als irgendwelche Bestimmtheit des Objekts. Man darf nicht sagen: Das Objekt ist ja das Wahrgenommene, das ist es, das Wert hat; den Wert selbst habe ich nicht gegeben, er ist nur uneigentlich mitwahrgenommen, wie so viele sonstige Bestimmtheiten des Objekts mitgemeint, aber nicht eigentlich wahrgenommen sind. Denn man muss beachten: Mitgemeinte, uneigentlich mithwahrigenommene Momente des Wahrgenommenen als solchen kommen in neuen Wahrnehmungen, welche in die Erfüllungsreihe der erst vollzogenen Wahrnehmung gehören, zur Gegebenheit. Aber der Wert der Zigarre kommt nicht perzeptiv zur Gegebenheit.1 1
Ja, nicht „perzeptiv“, nicht durch sinnliche Empfindungsdarstellung. Auch nicht
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Wenn ich von Erscheinung zu Erscheinung wahrnehmungsmäßig übergehe, so komme ich nicht zu einer Erscheinung, die den Wert bringt; vielmehr, das Gefallen, das ich vollziehe, das Wertschätzen, weist sich im Übergang von Erscheinung zu Erscheinung aus, nämlich bei passender Auswahl der zum Objekt gehörigen Erscheinungen, bei Realisierung derjenigen Erscheinungen, welche die fundierenden (sozusagen motivierenden) Gefühlseigenschaften des Objekts zur Gegebenheit bringen. So erweist sich das Wertschätzen als „berechtigt“ und das Objekt hat wirklich den Wert. Es hat nicht nur wirklich die betreffenden Eigenschaften Wohlgeschmack etc. – die sind seinen Wert begründende, aber nicht selbst sein Wert –, sondern das Gefallen an ihm (die besondere Gefälligkeit, die ihm in dem jetzt nachzuprüfenden Wertschätzen zugemeint wird) ist, weil sie sich als vorhanden ausweisen, seinerseits ausgewiesen als berechtigt; der Wert kommt ihm wirklich zu, weil er die Eigenschaften hat, die wertgründend sein sollen. Der Wert ist nachgewiesen, das Wertschätzen ist ein berechtigtes und „evident“ berechtigtes. Aber es hat nicht den Charakter eines Wahrnehmens, ja eines Dingwahrnehmens! Es ist ein Akt höherer Stufe.1 Die einfachsten Gefallensakte sind natürlich die immanenten. Ich sehe etwa eine immanente Rotausbreitung von einer Qualität, die ein Wohlgefallen begründet. Dieses Rot in sich selbst „ist schön“. Das ist ein schlichtes Gefallen und ein solches, das den Charakter eines Empfindens und „Wahrnehmens“ hat. Das Rot ist mir gegeben, sinnlich gegeben, und seine Wohlgefälligkeit, seine Schönheit ist mir ebenso schlicht gegeben, und alles in allem steht es einfach als wohlgefälliges Rot da. Die Sache liegt nicht mehr so einfach, wenn ich ein okulomotorisches Rot nehme. Es ist schon eine empirische Einheit und dem entspricht eine empirische Gefühlseinheit:
so wie physikalische Eigenschaften. Nicht als dingkonstituierend für das ruhende Ding und das Ding in seinen möglichen Veränderungen, den darin hervortretenden physikalischen Beschaffenheiten. Aber andererseits doch perzeptiv, sofern die Hinzunahme der Gemütsmotivation eine fundierte Objektität konstituiert, die ihre „Wahrnehmung“ hat. 1 Müssen wir nicht fundamental scheiden: 1) Wahrnehmen = Gegebenheitsbewusstsein in einer sinnlichen Apperzeption; 2) Wahrnehmen h=i Gegebenheitsbewusstsein überhaupt, z. B. in einer Gefühlsapperzeption? Siehe schon richtig unten.
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Das wohlgefällige Rot weist sich hier aus im okulomotorischen Prozess des Herumschauens, in dem alle sinnlichen und gefühlsmäßigen Intentionen sich zugleich erfüllen und ineinander einheitlich, Einheit konstituierend, übergehen. Da haben wir schon eine transiente (wenn auch voll anschauliche) sinnliche und zugleich gefühlsmäßige Wahrnehmung. Das Neue, was das höhere Gefallen (das wir hier immer als Wertschätzen, Werten bezeichnet haben) mit sich bringt, ist das etwas anderes als ein Werten des Objekts um der immanenten oder sonstwie unmittelbaren Schönheiten willen, die zu gewissen seiner Eigenschaften gehören? (Sei es primär konstituierender, sei es anhängender, oder Dispositionen, Fähigkeiten, zumindestens Eigenschaften, die als ihm zukommend so erfasst werden, dass das Objekt unter hypothetischer Annahme solche haben würde.) Genieße ich die Zigarre, so ist der edle Havannageschmack schön, „edel“ in sich selbst, und das ist unmittelbar wahrgenommen. Die Zigarre selbst ist dabei, wenn ich sie nun schätze (sie selbst als gut bezeichne, wenn ich es ausdrücke), nicht bloß als gut vermeint, sondern ich „sehe“ gleichsam, dass sie als den edlen Geschmack habende gut ist, und dieses „Sehen“ erfüllt das Schätzen der Zigarre als gut, wenn ich sie nicht wirklich genieße. Aber die Art, wie diese mittelbare Gefälligkeit, dieses mittelbare Schönsein um der Schönheit der Eigenschaft willen, dem Ding zukommt, ist offenbar eine wesentlich andere als diejenige, die der Eigenschaft selbst zukommt. Und hier haben wir eben nicht eine Eigenschaft „wert“ am Gegenstand „wahrgenommen“, nämlich als eine eigentliche Eigenschaft, als so etwas wie rot usw. In diesem Sinn ist der Wohlgeschmack eine Eigenschaft; und gehört die Schönheit des Geschmacks auch nicht zum Gegenstand so wie eine selbständige Eigenschaft, so doch als Komponente einer Eigenschaft komplexer Art. Doch ist auch das nicht genau. Eigentlich wohl wird man nur sagen können, dass wahrgenommen der Geschmack ist1 und direkt daraufhin gegeben, als in ihm fundiert, die Gefälligkeit des Geschmacks und nun das Objekt selbst in neuer Weise, in höherer Stufe, in der Motivation des Umwillen halsi „gut“.2
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Ja, eben „sinnlich“ wahrgenommen als dingliche Eigenschaft. Das ist eben wertgenommen in einer Wertwahrnehmung.
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Wenn ich aber ein Objekt aktuell werte, ohne die Eigenschaften, um derenhtwilleni es wert ist, in ihrer Schönheit gegeben zu haben und ohne so die eigentliche Wertbegründung zu erschauen: Verhält sich da das aktuelle Werten, das ich vollziehe, zu demjenigen aktuellen Werten, das sich in eigentlicher Weise auf den Wertungsgründen in ihrer Gegebenheit aufbaut, nicht doch ganz analog wie ein wahrnehmendes Meinen hinsichtlich der nicht-erscheinenden Bestimmtheiten zu dem erfüllenden, in dem die bloß mitgemeinten Bestimmtheiten wirklich wahrnehmungsmäßig gegeben sind? Ja und Nein, wie man es nimmt. Zunächst macht sich dringend ein Bedürfnis geltend, scharf zu unterscheiden zwischen Mitgemeintheiten, die man wesentlich zur transzendenten Dingwahrnehmung rechnen muss, ohne die eben der Dinggegenstand nicht als gegeben dastehen könnte, und sonstigen Mitgemeintheiten, die darum aber nicht etwa den Charakter von Denkgemeintheiten, von Gedanken haben sollen.1 Wahrnehmen im eigentlichen Sinn ist ein selbsterfassendes, vermeintlich selbsterfassendes Meinen, und zwar eines individuellen zeitlichen Gegenstandes und hinsichtlich seiner zeitlichen Fülle. Also ein vermeintliches Erfassen einer Selbstgegenwart. Die Fähigkeit eines empirischen Gegenstandes, eines physischen Dinges etwa, unter gewissen Umständen gewisse Leistungen vollführen zu können, kann ich in eins mit der Wahrnehmung des Gegenstandes mitmeinen, aber dieses Mitmeinen gehört nicht selbst in das Wahrnehmen. Was heißt Fähigkeit, was heißt allgemein „unter gewissen Umständen vollführen zu können“? Darin liegt: Die und die Umstände angenommen, „muss“ oder wird der und der Erfolg, die und die „Leistung“ eintreten. Ich nehme die Zigarre wahr und daran schließt sich alsbald die Vorstellung „Ich zünde sie an“, und dies angenommen, unter dieser Annahme, wird sie brennen und wenn ich rauche, den bekannten Geschmack entwickeln etc. Das alles aber so, dass ich gar kein begriffliches Denken vollziehen müsste, und im Allgemeinen wird das auch gar nicht vorhanden sein. Dieses Ganze kann „anschaulich“ ablaufen;
1 Mitmeinung von Eigenschaften der Art der Fähigkeiten bei einer Wahrnehmung: solche Mitmeinung histi nicht selbst eigentlicher Wahrnehmungsbestand.
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es kann aber auch nur Einzelnes klar werden, und doch ist das die Meinung. Und diese Fähigkeit der Zigarre, rauchbar und schmeckbar zu sein, gehört zu ihr, sie ist eine Bestimmtheit der Zigarre und etwas eventuell bei ihrem Anblick Mitgemeintes. Aber Annahme und Folgesetzung sind keine Bestandstücke von Wahrnehmungen. Und das Anschauen, das hier stattfindet, ist kein bloß sinnliches Anschauen schlichter Art, sondern schon ein Akt höherer Stufe, auf der Linie zum Kategorialen (dem eigentlich synthetischen „Denken“) liegend. Wenn ich nun die Zigarre sehend, sie als so und so schmeckend auffasse, z. B. eine Sumatra als so, als von leichtem und flüchtigem Aroma, eine Havanna als „schwer“, so ist diese Auffassung nicht mehr Sache der Wahrnehmung. Und wenn sie sich zunächst in der klaren Vereigentlichung aufgrund der Anschauung (eine Art Erinnerung) und dann durch wirkliches Rauchen bestätigt, so ist der bestätigende Akt keine Wahrnehmung, sondern ein auf Wahrnehmung sich gründender Akt höherer Stufe. Wahrnehmen kann ich, wie gesagt, nur das Anzünden, Rauchen und Schmecken, nicht, dass unter Annahme des Anzündens und „Ziehens“ Rauch entwickelt und Geschmack der und der Art eintreten werde (muss).1 Man wird sagen wollen, das sind aufgrund der Anschauung bzw. Wahrnehmung vollzogene „Denkakte“. Indessen, wenn wir begriffliche Akte darunter verstehen, so glaube ich doch, dass all das ohne eigentliche Begrifflichkeiten vollziehbar ist. Nun, das überträgt sich natürlich auch auf das Wertmeinen, das sich an die Wahrnehmung der Zigarre und die Mitmeinung ihrer Fähigkeit zur Entwicklung eines gewissen Wohlgeschmacks anschließt. Hier tritt ein Gefallen an dem „unter Umständen zu entwickelnden Geschmack“ in die Mitmeinung ein, und zwar als Gefallen unter den Umständen und ihrer Assumtion, und selbstverständlich gehört
1 Ja, so könnte man sagen; aber das ist nur als Aporie brauchbar. Die ganze Betrachtung ist umzukehren. Jede Dingwahrnehmung und Wahrnehmungsausweisung führt zurück auf „Annahme und Folgesetzung“. Sind nicht Wirkungseigenschaften, physikalische Eigenschaften, etwas einem Ding Wesentliches, und könnte ich von Dingwahrnehmung sprechen, wenn ich ihre Ausweisung nicht mehr Wahrnehmung nennen dürfte? Freilich hat Dingwahrnehmung ihre Stufen, und wir werden in der Tat auf Akte höherer Stufe geführt. Und es ist immer zu sagen: Es ist zu unterscheiden die Dingwahrnehmung (Sachwahrnehmung) mit ihren verschiedenen Stufen und die Wahrnehmung der höheren Objektivität: Dingwert, Gut, Gebrauchsobjekt etc.
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ebenso wenig wie dieses „unter Assumtion“ und wie jede Eigenschaft von der Art der Fähigkeiten und erst recht der Wert nicht zu den Wahrnehmbarkeiten im eigentlichen Sinn (etwa den Dingwahrnehmungen).1 So ist es überall, z. B. wenn ich eine Geige werte, an ihr die Bauart, die schöne Form etc. als Anzeichen für den edlen Ton hwertei, den sie im Spielen (falls sie gespielt und von einem Geiger gespielt wird) entwickeln würde. Die Wertmeinung als aktuelle Für-wert-Haltung bestätigt sich im wirklichen Spielen. Aber dieses Sich-Bestätigen, Sich-Erfüllen, ist etwas ganz anderes als das bloße Sich-Erfüllen einer schlichten empirischen Intention. Zunächst bestätigt sich die Setzung unter Annahme; unter Annahme des Spielens erfolgt wirklich das Tönen bekannter Art, und es ist wirklich ein „edler Ton“. Es bestätigt sich, dass unter dieser Annahme nicht nur die empirische Folge eintritt, sondern auch das in ihm fundierte Gefallen. Das letztere freilich anders als das erstere, insofern, als es anders mitgesetzt ist: Die empirische Folge ist das Erste. Aber das Gefallen ist fundiert in dem Wahrnehmen von Toneigentümlichkeiten gewisser Art, das als Wahrnehmen eines solchen Inhalts (immanenten) ein Gefallen, ein Schönfinden eigentlich und wirklich fundiert. Dieses ist nicht selbst eine empirische Folge, sondern eine notwendige Mitfolge. Aber freilich, indem es eins ist mit dem Empirischen, ist es auch empirisch mitmotiviert: Der schöne Ton ist unter Annahme gesetzt und bestätigt sich im Fall der Realisierung dieser Annahme als wirklich eintretend. Und nun bestätigt sich auch die Wertsetzung, nur eben in einer Wertnehmung als Wertwahrnehmung. Die Geige als wirklich mit der Eigenschaft begabt, diesen Ton zu erzeugen (diese Begabung hat sich ja bestätigt), ist wirklich wert. Das wertende Gefallen ist dabei zwar ein momentaner Akt, aber der Wert gehört zum Objekt; nämlich
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All die vorstehenden wichtigen Ausführungen zeigen, dass sich transiente Werte durch transiente Apperzeptionen konstituieren, analog wie sich Dingrealitäten (reales Sein) durch Dingapperzeptionen konstituieren. Und dass dabei die Konstitution des transzendenten Wertes nicht etwa so erfolgt, dass jeder Dingerscheinung ein Wertungsmoment im Wertbewusstsein zugeordnet ist, so dass es sich in der Tat um eine neuartige, rein im Werten sich konstituierende Einheit auf dem Grund der Dingeinheit handelt.
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zum Wesen der ganzen Sachlage, an der das Objekt als so geartetes beteiligt ist und um derentwillen es die und die wertbegründenden empirisch-axiologischen Eigenschaften hat, gehört das Wertprädikat, bzw. zu den konstituierenden Akten des und des Wesens (in dem sich wesensmäßig solche Eigenschaften konstituieren) gehört wieder wesensmäßig die Möglichkeit solchen eigentlich zu vollziehenden Gefallens. Und wieder: Das an die „uneigentliche“ Vorstellung, an die Objektvorstellung und uneigentliche „Mitmeinung“, angeschlossene Gefallen ist „richtig“, wenn diese Meinungen von solchem Wesen und solcher faktischen Anordnung sind, dass Erfüllbarkeit besteht. Das Gefallen, d. h. das Werthalten des Gegenstandes als Träger solcher empirischen und axiologischen Bestimmtheiten: Es ist noch kein Beurteilen als wert im prädikativ-begrifflichen Sinn. Es ist ein in der Gemütssphäre wurzelnder Akt fundierter Apperzeption. Solche noch nicht begrifflich fundierten Apperzeptionen, die nichts mit dem Gemüt zu tun haben, finden wir in der Sphäre des „Intellekts“ genug.1 Ich erkenne ein Bild als edel, das ich in den Uffizien gesehen habe. Ich sehe ein Bild, und es steht in der Erinnerung ein anderes da, das ihm ähnlich ist, und ich erfasse die Ähnlichkeit usw. Die ganze Schicht des Kategorialen – und doch, wie es scheint, noch unabhängig von Begriff und Wort. Das Erkennen des Bildes als ein Bild, der Ähnlichkeit als Ähnlichkeit etc. ist nicht erfordert. (Aber schließlich, gehört nicht auch das begriffliche Denken in die gleiche Linie? Doch nicht, sofern es allen schlichten Apperzeptionen, auch fundierten, gegenübersteht.) In den bisherigen Betrachtungen haben wir die komplizierten Fälle im Auge gehabt, wo Dinge um gewisser Fähigkeiten, Vermögen zu den oder jenen Leistungen, gewertet werden. Konkrete Dinge können aber auch werte sein auf einfacher Grundlage: Zum Beispiel, ein Ding ist wert um seiner schönen Form willen, ein Haus ist wert um seiner schönen Fassade willen und dgl. Der Wert des Dinges kann bestimmt sein durch die oder jene Erscheinungsmomente,
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Intellekt und Gemüt scheiden sich also durch die Apperzeption, und es stehen gleich: sinnliche Auffassung und Gefühlsauffassung, sinnliche Dingerscheinung und sinnliche Werterscheinung. – Das alles spricht aber nicht dagegen, sondern dafür, dass jeder Apperzeptionsart eine Wahrnehmungsart entspricht und überall Wahrnehmung etwas Gemeinsames ist.
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durch wahrnehmbare Momente, an die sich eine Schönheitswertung anknüpft. Die Momente gefallen unmittelbar, sie sind unmittelbar und durch ihr eigenes Wesen schön. Aber sie sind bloß Momente an dem Ding, und dieses hat Wert um der schönen Momente willen, die es in der Erscheinung darbieten kann. Die Schönheit der Form wird natürlich nicht bloß zu einem einzigen Anblick derselben gehören, sondern mannigfaltige schöne Anblicke können in der Art des Ablaufs eine höhere Schönheit begründen, die einheitlich als Schönheit „der“ Form aufgefasst wird. Ebenso, die Färbung eines Stoffes kann prächtig sein in einzelnen Faltenbildungen, aber auch jede Wendung des Anblicks kann neue Schönheitsmomente abgeben für die einheitliche Schönheitswertung, die all diese Momente zur Einheit einer Schönheit vereinigt. Der Gegenstand ist aber konkreter Wert um dieser Eigenschaft willen, dieser schönen Eigenschaft. Jedes Ding, jeder konkrete Gegenstand wird gewertet und ist ein Wert um gewisser ihm zugehöriger Eigenschaften oder Erscheinungsweisen willen, und zuletzt werden wir auf immanente Wertungen von anschaulichen Momenten und auf Einheitswertungen von intuitiven Einheiten kontinuierlich ineinander übergehender, stetig verbundener Momente zurückgeführt. Damit haben wir einen bestimmten Begriff von Wert, der sich in der Wertung von konkreten transienten Gegenständen (wahrnehmbaren Gegenständen) konstituiert, studiert.1 In ihm steckt wesentlich eine axiologische Motivation der Art des Umwillen. Er setzt also einen anderen Wertbegriff voraus. Primäre Werte sind immanente Werte, Werte, die Immanentem unmittelbar anhängen. Ebenso Einheitswerte, das sind Werte, die als Werteinheiten sich aufgrund von schlichten Einheiten (die als solche in schlichter Anschauung zur Entfaltung kommen können) konstituieren. Auch das als unmittelbare Werte. Schon das sind zweite Werte, aber nicht mittelbare Werte. Mittelbare Werte. Konkrete hWertei, Werte von transienten Dingen um gewisser Werteinheiten willen, die sich an irgendeine Eigenschaftseinheit anschließen, sowie Werte von Dingen um gewis-
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Eben korrelativ dazu, dass Dingerscheinungen (= sinnlich transiente Erscheinungen aufgrund primärer Inhalte) sinnliche Werterscheinungen parallel laufen als sinnlich transiente Erscheinungen aufgrund primärer Gefühle.
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ser Fähigkeiten willen. (Güterwerte führen schon ins Willensgebiet, von dem hier noch keine Rede ist.) In den Vorlesungen1 sprach ich von Schönheitswerten, aber es fehlt mir noch an passenden Namen. „Konkrete Dingwerte“ – demgegenüber kann ich nicht von „Eigenschaftswerten“ sprechen, sofern nicht Eigenschaft als solche in Frage kommt, sondern der Inhalt der Eigenschaft. Sollen wir sagen „Inhaltswert“? Oder einfach: schlichte Werte und fundierte Werte? Primitive und abgeleitete?2 Jedenfalls scheidet sich ab: Dinge als Werte und das axiologische Prädikat, hdasi Prädikat Wertsein von Dingen und nicht zu verwechseln mit dem, was man natürlicherweise auch als Wertprädikat bezeichnen wird: nämlich die bestimmten Prädikate des Dinges, die den Wert des Dinges begründen, um derentwillen er Wert ist. Bei diesen wieder, im Fall der Ausweisungsmöglichkeit, zurückgeführt auf immanente und Einheitswerte, die grundlegend sind für alle Mittelbarkeit in der Werthaltung. Zum Werten gehört unmittelbar das Bevorzugen. Es gefällt mir A (ich werte A), es gefällt mir B: A gefällt mir besser. Die beiden Wertmeinungen fundieren eine Bevorzugung, deren Korrelat der relative Vorzug ist des A gegenüber dem B. Dabei können die unterliegenden Gefallensakte „evident“ sein oder nicht. Sie können der Auswertung bedürftig sein oder nicht. Und dasselbe gilt, und einigermaßen dementsprechend, für das Bevorzugen. Nach Brentano ist der Akt der Bevorzugung ein Gemütsakt. Natürlich gehört das Bevorzugen zur Gemütssphäre insofern, als es ja ein einheitliches Meinen ist, das in den schlichten Gefallensakten fundiert ist, und zwar notwendig, also im strengen Sinn. Soll das Zur-GemütssphäreGehören noch mehr besagen? Natürlich, ein Wahrnehmungsakt, der sich auf die beiden Wertakte richtet, vereinigt sie ganz anders, vereinigt primär die Wahrnehmungen von ihnen und ist nicht in ihnen
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Gemeint ist wohl die Ethik-Vorlesung aus dem Wintersemester 1908/09 (vgl. Husserliana XXVIII). – Anm. der Hrsg. 2 Empirische Werte gegenüber empirischen Realitäten, Dingen. Alle diese Erscheinungen gehören in die Sphäre der Rezeptivität, und es ist nicht entschieden, ob es nun eine eigene Gemütsspontaneität gibt. Wichtig ist aber auch das, dass wir hier gar keine Gleichstellung von Gefühl und Trieb finden. Es gibt doch keine „Trieberscheinungen“. Oder wo sind sie? Sinnliche Güter (Begehrungserscheinung).
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prinzipiell fundiert. Prinzipiell ist das Wahrnehmen zweier Akte überall dasselbe, nicht bloß zweier Wertungsakte. Aber ist andererseits nicht das Bevorzugen einer Wahrscheinlichkeit prinzipiell dasselbe Bevorzugen wie dieses Vorziehen des Gemüts? Ist es nicht schließlich 5 ein Steigerungsverhältnis, das erfasst wird, hier zwischen Werten, so dort zwischen Wahrscheinlichkeiten? Aber freilich, das Erfassen setzt einmal das Leben in Wahrnehmungen, das andere Mal das Leben in Vermutungen, das dritte Mal Leben in Gefallensakten voraus! Und das macht wesentliche Unterschiede?
h§ 6. Empfinden und apperzeptive Objektivation in Akten des Wahrnehmens und Gefallensi
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Objektivier ende Akte.1 Objektivieren auch Gemütsakte? Objekt, das Seiende, das mit sich Identische: identisch im „Vorstellungsbewusstsein“. Es steht nämlich als das Eine da, als das eine Ding z. B. in der Mannigfaltigkeit sich „vereinigender“ Erscheinungen, auch im Übergang von Anschauungen verschiedener Art, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Phantasien etc. Das stetig Eine wird dann zum synthetisch, im diskursiven und begrifflichen Denken Identifizierten. Also Vorstellungsbewusstsein kann verstanden werden als Einheitsbewusstsein in dem doppelten Sinn: als kontinuierliches Einheitsbewusstsein und als sich absetzend synthetisches Bewusstsein des Identischen; doch wird das wohl nicht ohne weiteres schon als begrifflich prädizierendes anzusehen sein, so dass das noch ein Neues wäre. V or s tellung i m we i testen Si nn h isti der Akt,2 der, wie immer, intentionale Ein hei t konstituiert, die als identische und anderen gegenüber unterschiedene im logischen Denken bestimmbar ist. Vorstellung hat ihr Korrelat im Objekt; jedes Objekt konstituiert sich in Vorstellungen und seiner Kategorie nach in Vorstellungen entsprechender Vorstellungskategorie.
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Cf. K 46 ff. h= S. 324,6 ff.i. Der Akt?! Aber ist dann nicht jeder Akt, da sich in jedem etwas bewusst macht, was zum Gegenstand-worüber werden kann, eine Vorstellung? 2
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Wie steht es nun mit der Wertobj ektivation? Zu ihr gehören Bestimmungen wie „gefällig, angenehm, schön, wertvoll“.1 1) Zugrunde liegende Objektivation des Objekts, das gefällt; 2) das Gefallen daran mit seiner „neuen intentionalen Beziehungsweise“. Nun meinte ich aber (in den Originalblättern): „Im Gefallen lebend objektiviere ich nichts.“ Da habe ich nur eine Objektität, die des Gegenstandes. Es käme allererst eine neue Objektivation hinzu, welche den Gegenstand als, sei es gefallenden oder als gefälligen, werten auffasse. Das eine Mal wird das Gefallen auf das Subjekt bezogen, das andere Mal erschiene der Gegenstand selbst als Träger des Gefallenscharakters. Dieser Charakter sei nichts sich in der empirischen Mannigfaltigkeit als Einheit (empirische Einheit) Konstituierendes, er sei also keine dingliche Eigenschaft (keine empirische) des empirischen Gegenstandes. Erst das empirische Objekt, fertig vorliegend sozusagen, und dieses ist dann gefällig. Es hat einen Gemütscharakter, eine „anhängende“ Bestimmtheit, aber nicht eine physische wie das Tönen des Objekts. Ich sprach dann noch davon, dass das Objekt einmal unter solchen Umständen gegeben ist, dass das Gefälligkeitsprädikat ihm aktuell oder direkt zukommt, z. B. der Apfel im Essen, das andere Mal indirekt: der Apfel als mögliches Objekt des Essens und dadurch einen Gefallenscharakter tragend. Fasse ich das Gefallen als mein Gefallen auf, als meinen Zustand, so sage ich, das Objekt ist Objekt meines Gefallens, bzw. es gefällt mir, es übt auf mich einen Gefallensreiz hausi. Bleibt die Beziehung auf mein Ich außer Spiel, so steht das Objekt selbst als gefällig, angenehm, schön da. Aber es steht als das nicht da bloß aufgrund des Gefallens, sondern vermöge eines Betrachtens, Wahrnehmens, Schauens. Das seien objekt ivi erende Akte, die sich auf den Gemütsakt bauen, und erst sie bezögen das Gefühl in das Gegenstandsbewusstsein hinein, als seinen Stoff, und konstituierten den gefallenden Gegenstand. Der in der unterliegenden bloßen Vorstellung vorgestellte (wahrgenommene) Gegenstand wird als diese Gefallenseigenschaft habend aufgefasst. Nur so könne sich der Wert konstituieren, eben als Wert
1 Und diese stehen parallel zu „wirklich und wahrseiend“, wenn man wertende Akte und Urteilsakte (seinssetzende Akte) parallel stellt.
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des Gegenstandes, als Prädikat desselben und dabei nicht als das bloße Prädikat „gefallend zu sein“. Diese Auffassung erfordert aber immer neue Überlegung.1 Was soll eigentlich die „intentionale Beziehung“ des Gefallens auf das vorgestellte Objekt besagen, wenn nicht das, dass im Gefallen als einem Bewusstsein das Objekt als gefällig „vermeint“ ist? Aber was sagt da „meinen“ und was „Bewusstsein“? Freilich haben wir die Unterschiede in der Richtung des Herausmeinens. Eine echte Havanna oder eine schöne alte Geige kann ich mit entsprechender Ehrfurcht betrachten, es kann mich aber inzwischen irgendeine Struktur des Holzes interessieren – was das da ist, dieser Streifen etc. –, und während ich noch Gefallen habe, kann ich speziell in der unter dem Gefallen liegenden Objektivation leben und ein Besonderes am Objekt als empirisches Objekt herausmeinen. So wie nun aber das ganze Objekt „dasteht“, aber gerade dieses Moment des Gegenstandes, diese Struktur dieses Teiles der Oberfläche, das speziell Gemeinte ist, so steht noch das Wertstück als solches da, die edle Geige, obschon ich nicht im Wertbewusstsein lebe und, was dasselbe ist, auf das Wertsein achte. Natürlich kann ich nun bald auf das Wertsein des Gegenstandes achten, bald darauf, dass er mir gefällt oder dass der Gegenstand mich zum Werten reizt. Schließlich kann ich auch sagen, der Gegenstand nötige mich zum Urteil, und ebenso sagen wir ja auch, der Gegenstand errege in uns gerade die Erscheinung. Wenn wir den Akt auf das Ich beziehen und zwischen Akt und Gegenstand und Ich eine Beziehung herstellen, so ist der „Akt“ in Beziehung auf den Gegenstand schon vorausgesetzt, das heißt, dass der Gegenstand als so und so bestimmter dasteht, ist Voraus-
1 Es hieß oben, erst das „Betrachten“, „Wahrnehmen“ konstituiere den gefallenden Gegenstand. Aber Wahrnehmen als Hinsehen-auf ist Hinsehen auf einen schon konstituierten Gegenstand. Schon das Reden vom Wahrnehmen ist zweideutig: Einmal nimmt man die Apperzeption hinzu, nimmt also das volle konkrete Phänomen, insbesondere im Fall der empirischen Wahrnehmung, das andere Mal nur das Hinsehen, das Hingerichtetsein für sich. Natürlich, das Gemüt konstituiert den Gegenstand schon vor dem Hinsehen und sehend Erfassen, Setzen. Aber Gegen-stand, Objekt eben der Setzung, ist er erst in der Setzung. Und danach ist auch Objektivation zweideutig: 1) das, was Voraussetzung dafür ist, dass wir etwas setzen können, als seiend nehmen und zum Worüber machen können: die Apperzeption; 2) das Zum-Objekt-Machen, das Als-seiend-Nehmen selbst.
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setzung; ebenso wenn wir das Gefallen des Gegenstandes auf das Subjekt beziehen, so ist vorausgesetzt, dass der Gegenstand als gefällig dasteht. In der phänomenologischen Reflexion haben wir dann Gegenstandserscheinung und das plus des Gefallens, das sich auf die Gegenstandserscheinung baut. Und wie Gegenstandserscheinung in sich auf den Gegenstand bezogen ist, sofern es der bestimmte Wechsel der „Stellung“ ist, der den Hinblick auf die Erscheinung aus dem Erscheinungsbewusstsein selbst hervorgehen lässt, so ist das Gefallen in sich „Bewusstsein“ vom Gefälligen als solchen, und derselbe Wechsel der Stellung, der reflektierende Blick auf das Gefallen, macht dieses zum Gegenstand, während vorher nicht ein besonderer Blick auf das Gefällige erforderlich war, weil eben das Gefallen selbst Bewusstsein vom Gefälligen ist.1 Die Reflexion ist Wahrnehmung, es bedarf einer eigenen Wahrnehmung, humi das, was nicht bewusst war, im spezifischen Sinn zum Bewusstsein zu machen (wofern eben Erscheinung wirklich nicht bewusst ist). Vielleicht ist es klarer, so zu sagen: Meinen in einem ganz spezifischen Sinn als Es-abgesehen-Haben, Darauf-Hinsehen, Herausmeinen, ist etwas, was sich mit verschiedenem „Bewusstsein“ verbindet und in ihm verschiedene Gliederungen, Bevorzugungen etc. hervorruft. Nennen wir das Meinen in diesem Sinn Objektivieren (= Aufmerken), dann ist es überall ein und dasselbe und hat vielleicht nur verschiedene Modi.2 Die Unterschiede der „Akte“ bestehen dann aber in dem, was das spezifische Meinen voraussetzt: im „Bewusstsein“, in ver sc hi edener „ Apperzeption “.3 Also das immanente Apperzipieren, die Linie des phanseologischen Flusses, in dem sich unabhängig vom spezifischen Meinen die Einheit des Tones konstituiert, die aber Objekt im eigentlichen Sinn erst ist, wenn das Meinen sich in diesen Fluss einlebt und der Ton nun das Gemeinte ist. Oder die Dingwahrnehmung in ihren Abflüssen von ineinander übergehenden Erscheinungen: Das Ding steht da als selbstgegenwärtig.
1 Ja, da ist aber die Frage: Ist die Gefallenszuwendung schon Gegenstandssetzung? Schon Gewahrung in dem Sinn der Seinsnehmung? Demnach ist das Folgende zweideutig. 2 Vergleiche aber das nächste Blatt h= S. 35,25–37,25i. Objektivieren im eigentlichen Sinn ist mehr, ist denkendes Objektivieren. 3 Das Wort „Apperzeption“ ist unsinnig.
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Aber Gegenstand im eigentlichen Sinn ist es erst, wenn das Meinen in diesem Abfluss lebt. Der Gegenstand ist Gemeintes. Ebenso mein Gefallen. Das Meinen muss im Gefallen leben und dann ist das Gefällige als solches nicht nur bewusst, sondern gemeint.1 Es bleibt aber zu erforschen übrig,2 ob das Identifizieren und Unterscheiden und alles darauf gebaute Prädizieren (auch das begriffliche Erkennen) in die Sphäre des spezifischen Meinens als solchen gehöre, also Modi des Meinens sind, Modi der Objektivierung in einem aus gezei chneten Si nn.3 Das Dies-Meinen, das Als-einA-Meinen, das Meinen, A sei b etc. Aber liegt im Begreifen und Denken nicht ein Sich-Konstituieren neuer Gegenständlichkeiten vor, die wieder herausgemeint werden können? Das bloße Herausmeinen ist doch kein Apperzipieren. Das synthetische Zusammenfassen, Begreifen, Prädizieren ist aber Apperzipieren; da liegt die Schwierigkeit.4 Das ist natürlich richtig, dass Objektivieren im eigentlichen Sinn (des seinssetzenden Zum-Objekt-Machen) voraussetzt ein Meinen, und ein denkendes Meinen, ein bestimmendes und begründendes Meinen. Das wahre Objekt ist das Objekt, das seine Identität durchzuhalten vermag, oder das erscheinende Objekt, das in solcher Weise bestimmt gedacht wird, dass das so bestimmte unter allen Erkenntnisumständen, in jeder Erkenntnislage als dieses selbe so bestimmte erhalten bleiben kann. Das gilt auch vom werten Objekt; es muss sich als Wert ausweisen und seine Identität als wertes ausweisen. Die Objektivierung vollzieht sich überall zuhöchst durch das identifizierende und bestimmende Denken und Theoretisieren. Also na-
1 Muss man aber nicht scheiden: Vordergrundgefallen und Hintergrundgefallen, einerseits ein Gefallensmeinen, eine Zuwendung, und andererseits das Den-Gefallenswert-Setzen, Seinssetzung-des-Wertes-Vollziehen? 2 Cf. αα S. 4 h= S. 400,18–402,12i in Ph und B und oben p. 16 f. h= S. 20,19 f.i. I 3 Vielleicht ist das so: Meinen ist kein Denken, kein Urteilen niederster Stufe, aber jedem Meinen entspricht ein mögliches Denken bzw. jedem Akt, der Meinung in sich aufgenommen hat. – Indessen, genau besehen ist es doch evident, dass das „Setzen“, das z. B. im Wahrnehmen (im vollen gewöhnlichen Sinn) liegt, zwar noch kein Begreifen, aber doch etwas mit dem Urteilen Verwandtes ist. Das schlichte Setzen ist Objektivieren durch seine Unterlage: auch das synthetische Setzen ist durch seine Unterlage und seine Formen (die intellektive Form) ein Objektivieren. Das Setzen macht aber Gegenstände in einem anderen Sinn. 4 Es ist schöpferisches „Apperzipieren“.
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türlich muss Denken zum Gefallen (Wertnehmen) so hinzutreten wie zum bloßen Wahrnehmen (überhaupt hzumi sinnlichen Vorstellen).1 Sind also die Gemütsakte, speziell die Wertungs-, Gefallensakte, vorstellende hAktei? Umfasst also der Titel „Vorstellen“ am Ende alle Akte? Natürlich soll der Unterschied zwischen Vorstellen in einem prägnanten Sinn und Gefallen nicht verwischt werden. Das Vorstellen macht Nicht-Werte zu Gegenständen oder ist die apperzeptive Quelle von wertfreien Gegenständen (Gegenständen, die wert sein können, aber nicht Wert enthalten können), oder Vorstellen konstituiert als Quelle Gegenstände hinsichtlich nicht-axiologischer Prädikate. Das Werten konstituiert aufgrund des Vorstellens die axiologischen Prädikate. Vorstellen geht auf „bloße Sachen“, Gemüt geht auf Wertsein von Sachen, Wertsachen, Gemüt ist Anteilnahme an Sachen. Kurzum, wir haben verschiedene Klassen und Schichten von Objektivitäten mit verschiedenen Ursprungsquellen. Objektivierende Akte im Gegensatz zu wertenden Akten? Da bliebe nur übrig: Objektivationen, die keine Gemütsstellung bzw. Apperzeption voraussetzen, und solche, die es tun. Die Verbindung zwischen Vorstellen im engeren Sinn (sachkonstituierender Akt) und Denken (setzendem) müsste gelöst werden. Das Sachstellen (Sachapperzeption) und das Werten (Wertapperzeption) wären gleichberechtigt, nur dass jedes Wertstellen ein Sachstellen voraussetzt. Und zu beidem stände das Denken in gleicher Beziehung, auf alle bloß sachliche oder höher fundierte Objektität in gleicher Weise bezüglich.2 Gehen wir auf tiefste Grundlagen der vor allem Denken liegenden Akte (Apperzeptionen, aber ursprüngliche, unmodifizierte) zurück,3 so kämen wir etwa zurück a) auf die sinnlichen Empfindungen, Empfindungen im gewöhnlichen Sinn; b) haufi die schlichtesten sinnlichen Gefühle (Gefühlsempfindungen).4 Die letzteren in den ersteren fundiert. Man darf vielleicht wagen zu sagen, dass schon die primitivsten Gefühle wirkliche Gefühlsakte sind, also in der Weise von sonstigen
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Aber das Wahrnehmen ist schon ein Seinssetzen, das Gefallen bedarf erst eines darin fundierten Seinssetzens. 2 Das ist doch nicht völlig korrekt, aber im Wesen richtig gemeint. 3 Rekapitulation. 4 Aber wohl auch c) Triebempfindungen.
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Gefühlsakten fundiert, nämlich fundiert in den Empfindungen, was freilich wieder voraussetzt, dass Empfindungen auch schon „Akte“ sind, schon Bewusstsein-von. Freilich, die „Intentionalität im vollen Sinn“ vollendet sich erst durch das spezifische Meinen, das in gewisser Art eigentliche Objektivieren. Die sinnlichen Empfindungsinhalte sind Einheiten des Bewusstseins, in denen sich, wenn das Meinen darin lebt, der dauernde Empfindungsinhalt als Objekt Gemeintes konstituiert (das Immanente). Dasselbe gilt nun aber auch von allen Akten: Nämlich sie wären nach dieser Auffassung konstituierte Einheiten, d. h. Empfundenheiten, empfundene Inhalte, und „Reflexion“ auf sie wäre nichts anderes als ein sich am „Empfundenen“ betätigendes Meinen, durch das die Akte (Gefallen etc.) zum Objekt würden. Aber gegenüber den primären, sinnlichen Empfindungsinhalten hätten diese Aktempfundenheiten das Eigene, dass sie nicht nur bewusst, sondern Bewusstseinvon sind, und dass sie somit nicht nur gemeint sein können, sondern dass in ihnen auch ein Meinen leben und sich auf das in ihnen bewusste Objekt richten kann. So das Erscheinen als immanenter Gegenstand und der erscheinende Gegenstand als im Erscheinen erscheinender. Empfindungen (bzw. einheitliche Empfindungsinhalte) bilden den „rohen Stoff“ der empirischen Apperzeptionen, vor allem der empirischen Wahrnehmungen, der sinnlichen. Bildlich: Empfindungsinhalte, sei es Inhalte der äußeren oder auch inneren Sinnlichkeit, werden „gedeutet“. Es handelt sich also um gewisse Akte, die sich aufgrund von Empfindungen aufbauen in bestimmt zu beschreibender Art. Dabei aber so, dass in diese Apperzeptionen (abgesehen von der „Empfindungsunterlage“, wo sie als psychologisierte Gefühle etwa auftreten mögen) keine Gemütsakte eintreten. Sie konstituieren Sein, nicht Wert. Das ist also eine eigene Gruppe von Apperzeptionen (das sind also fundierte Bewusstseinsarten, nicht bloß „Empfindungen“), und diese machen einen besti m m ten Begriff von Verstand. Eine andere Gruppe von Apperzeptionen sind die Gefühlsapper zeptionen (die Wertungen). Sie treten in primitivster Form schon auf als sinnliche Gefühle: Das sind nicht bloß Empfindungen (das sind sie auch, sofern sie ja bewusst sind), sondern schon Bewusstsein-von, und zwar Gefühlsbewusstsein-von, Wertung primitivster Art, nämlich Wertungen von Empfindungsinhalten. Dann haben wir wie Wertung von Empfindungsinhalten, so auch Wertung
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von „Verstandesobjekten“, d. i. von realen Gegenständen, von psychischen und physischen Vorkommnissen (von Natur). Das ist eine neue Apperzeption, bei der die primitiven Gefühle (die sinnlichen Gefühle) eine analoge Rolle spielen (bis zu einem gewissen Grad) wie die Empfindungen für die Verstandesapperzeption. Jetzt haben wir noch die Frage, ob Gefühlsapperzeption nun zu ergänzen ist durch prinzipiell ebenso eigenartige Gruppen hvoni Begeh r ungs - und W oll ungsapperzepti onen, und ob allen diesen Gruppen dann gleichwertig und in gewisser Weise überlegen gegenübertritt die logische Apperzeption, die der spezifisch theoretischen Vernunft. Es hat mich unendliche Mühe gekostet, diese Auffassung durchführen zu können: Seit den neunziger Jahren, wo ich bei allen Akten das „Erscheinen-von“ bemerkte, versuchte ich es immer hwiederi, und da ich keine Möglichkeit sah, konnte ich mit diesem Erscheinen, Bewusstsein-von bei allen Akten nicht fertig werden. I s t die Dur chführ ung nun wi rkl i ch geglückt? Es sträubt sich ja sozusagen alles in mir dagegen, dies dahinzugeben: Wenn ich ein Haus wahrnehme, so habe ich einen intellektiven Akt, einen Wahrnehmungsakt. Ich kann aber ebenso wahrnehmen ein Gefühl, ein Wahrnehmen, einen immanenten Rotinhalt, einen Willen etc., und ebenso kann ich all das denken, und das Denken scheint eben Anschauungen, Vorstellungen näher zu stehen als den Gemütsakten: Beide zusammen hatte ich als objektivierend gefasst. Gemütsakte, meinte ich, seien Materialien für Objektivierungen, aber nicht selbst Objektivierungen. (Beziehung der Gemütsakte auf das Subjekt im psychologischen Sinn und dgl.) U nd nun im Gegensatz: Das Wesen des Bewusstseins ist gerade „Vorstellen“, Objektivieren, wenigstens in gewissem Sinn.1 Die Modifikationen in Phantasie etc. kann jedes Bewusstsein erfahren. Schon die primitive Empfindung ist Bewusstsein-von, und jeder Akt Bewusstsein-von etc.! Früher sagte ich: Die Handlung ist eine Objektität, die letztlich durch „Vorstellung“ zustande kommt als den objektivierenden Akt. Ich brauchte ja eine eigene Objektivation. Also h1)i zunächst die empirische Apperzeption: Vorgang; 2) der Wille: der Vorgang ist
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„willentlich“, vom Willen getragen; 3) Apperzeption als Objektivation, welche den Vorgang als aus dem Willen „hervorgehend“, von ihm getragenen setzt. I n der ander en A u ffassung aber: Auf einer sinnlichen empirischen Apperzeption, durch die der Vorgang sich konstituiert, baut sich das Bewusstsein schöpferischen Wirkens, das den Vorgang willentlich beseelt. Und dieses Bewusstsein ist Bewusstsein von Handlung, Tat. Ich brauche keine neue Objektivation. (Darin liegt eben eine neue Apperzeption, Gegenstand konstituierend.) Das Meinen lebt darin, und das genügt, um dann in logischer Apperzeption anzuheben: „Dies ist eine Handlung“, oder sonst wie zu prädizieren.1 Die Theorie mag mir noch so sehr wider den Strich gehen, ich werde s ie annehmen müs sen. Zu jeder Apperzeption gehört dann eine eigene Richtigkeit, eine eigene Evidenz, nämlich (das Wort „Evidenz“ lasse ich besser für das logische Gebiet) eine eigene Erfüllung. Die Erkenntnis erkennt dann und formuliert Bedingungen der Möglichkeit der Erfüllung der Dingapperzeption bzw. Bedingungen der Möglichkeit der Durchhaltung der Dingsetzung, Bedingung der Möglichkeit der Erfüllung bzw. Durchhaltung der Wertintentionen etc. Die Erkenntnis auf sich selbst (auf die logische Sphäre) bezogen erkennt und formuliert auch Bedingungen der Möglichkeit der Bewährung, der Bestätigung der Denkapperzeptionen überhaupt (Logik).
h§ 7. Das Verhältnis von Freude, Wunsch und Wollen zum Werten. Die Fundierung des Wollens im Wünscheni
Es ist nun die Frage, wie sich das Werten zum Wünschen und Wollen verhält. Ich habe umfassende Betrachtungen angestellt, in denen mir schien, dass man den Begriff des Wertens so weit fassen könne, 30 dass er Wünschen und Wollen umfasst. Ein allgemeiner Begriff von Gemütsakt und Gemütsapperzeption schien sich abzuheben, ohne
1 Aber ein seinssetzendes Meinen muss sich etablieren, um eben das Konstituierte zum Gegenstand der Erfassung und des Denkens darüber zu machen.
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dass seine scharfe Begrenzung gelang. Andererseits war in den letzten Betrachtungen offenbar von einem engeren Wertbegriff die Rede, und es kommt natürlich sehr viel darauf an, hier überall die scharfen Grenzen zu finden und zu sichern. Die Idee (die leider noch unklare) von Gemüt hat einen Gegenpart in der Idee Intellekt: Denken als Urteilen; aber auch Fragen und Vermuten scheinen sich an Urteilen eng zu attachieren. Und die Sphäre der Dinglichkeit, der Natur? Nun, da hätten wir zu sagen, dass die alte Vermögenseinteilung Welt als Vorgegebenheit nimmt und fragt, wie kann sich Bewusstsein zu ihr verhalten: vorstellend, denkend, im Gemüt Anteil nehmend und praktisch wollend. Dabei aber besteht die Neigung, statt dieser Vierteilung eine Zweiteilung zu vollziehen, oder es besteht die Neigung, Vorstellen und Denken als Intellekt und Anteilnehmen als Werten und Begehren, Wollen als Gemüt wieder in eins zu nehmen (νουσ, ρεξισ). Das Vorstellen angesehen als verworrenes Denken, oder, wie man auch sagt: Vorstellen enthält schon unklar eingewobene Denkelemente. Und dann wohl analog das Anteilnehmen, das Gefallen, Sich-Freuen, Werten irgendwie eine niedere Stufe für das Wünschen und Wollen. Wille geht auf Realisierung von Werten. Auch der Wunsch richtet sich auf Wertgehaltenes, auf etwas, das ihm als Wert gegenübersteht, und richtet sich darauf, dass dieses Werte sei. Wie ist dieses Ric hten auf Wer te un d auf das Sei n des Werten zu verstehen? Das Urteilen richtet sich auf Wahrheit; die Erfüllung in der Evidenz ist sozusagen sein Ziel. Aber im Urteilen steckt nichts von der erfüllenden Evidenz oder von einem Gedanken daran. Urteilen heißt „für wahr halten“, aber es ist nichts weiter als eben Urteilen, als eine gewisse Art des Vermeinens. So ist auch das Wünschen ein gewisses Vermeinen, ein gewisses Bewusstsein-von. Das Urteil kann sich auf leeren Vorstellungen aufbauen, oder auch auf vollen. Auch der Wunsch kann sich auf leeren und kann sich auf vollen Vorstellungen aufbauen. (Auch der Unterschied der wirklichen Anschauung vom Beurteilten, Erwünschten und von indirekt hilfreichen Suggestivvorstellungen, die der Deutlichkeit der leeren Vorstellungen dienen, eventuell durch einige Analogisierungen, die das Beurteilte oder Erwünschte vorstellen, gegenüber den ohne solche Suggerierung
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auftretenden leeren Vorstellungen ist zu erwähnen.) Beiderseits sind auch Unterschiede der Lebhaftigkeit zu erwähnen, auf der einen Seite ein lebhaftes Überzeugtsein, auf der anderen Seite die Lebhaftigkeit des Wunsches. Habe ich eine Anschauung vom Geurteilten, so ist es ein Problem, wie da Anschauung eigentlich fungiert, z. B. wenn ich sage „Auf dem Hainberg steht der so genannte Rohnsgasthof“ etc. Jedenfalls habe ich da eine Anschauung, die Unterlage einer prädikativen Gliederung ist: Ich urteile „gleichsam“ (als ob ich ein Wahrnehmungsurteil fällte: Und das ist ein Phantasieurteilen), aber ich urteile andererseits wirklich. Habe ich hier zweierlei? Doch nicht. Ich kann die Einstellung des Gleichsam-Urteilens haben, ich habe aber die Einstellung des Wirklich-Urteilens. Beim Wunsch, wenn ich mir anschaulich vorstelle, ich machte einen Lotteriegewinn, während ich wünsche, dass ich ihn machen möge, kann ich mich doppelt einstellen: Das „möge“ ist dieser Wunsch, das andere ist die Phantasiefreude über diesen Gewinn. Ist diese Quasi-Freude wirklich vollzogen, so wäre das der Phantasieprädikation entsprechend. Steckt aber irgendwie eine Phantasieprädikation (als Gleichsam-Prädikation) in dem Urteil, das seinen Sachverhalt anschaulich vergegenwärtigt? Und wieder, steckt irgendwie die Freude als Phantasiefreude im anschaulichen Wunsch? Sicherlich ist es ein großer Unterschied: Sich einerseits hineinträumen in einen großen Lotteriegewinn und in diesem Träumen die Freude daran genießen (Phantasiegenießen) und andererseits nicht in der Phantasie genießen, sondern aufgrund der Phantasie des Gewinnes „ihn“ entbehren, d. i. die Freude eben nicht genießen, sondern in einem gegenteiligen (das Genießen nicht etwa vorstellenden) Bewusstsein den „Mangel“ empfinden und wieder, denn das ist etwas Neues, wünschen, begehren. Kann man da nun im Wünschen eine eigene Komponente finden wie „Werten“, und zwar als etwas vom Wünschen zu Unterscheidendes?1 Ähnlich kann man bei der Freude fragen: Die Freude ist Freude darüber, dass A ist. Die Trauer ist Trauer darüber, dass A nicht ist. Freuen kann ich mich aber nicht nur nicht, ohne für wirklich zu halten, ich kann mich auch nicht freuen, ohne dass das A, das als wahrhaft
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Werten im Wünschen und Sich-Freuen.
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seiend vermeint ist, mir als A wert ist. Steckt in der Freude also ein Werten des A und dazu eine Komponente, die auf das Sein des A bezüglich ist? Wie verteilt sich das Sich-Freuen auf den „Inhalt“ und wie auf das Moment der „Wirklichkeit“? Steckt in ihm ein von der Frage nach Wirklichkeit unabhängiges Werten? Und wie steht es mit dem Willen? So wie wir von Freude und Trauer sagen, dass sie einerseits auf Wahrhaftsein, auf „Wirklichkeit“ gehen und andererseits ein Werten dessen, was da ist oder nicht ist, voraussetzen, und wie wir eben dasselbe vom Wünschen sagen, so auch vom Willen. Er ist, wird man sagen, nicht selbst Werthalten, aber setzt ein solches voraus. Aber bringt der Wille nicht bei all dem ein Neues? Die Freude ist „genießend“ gerichtet auf das Werte und wertvoll Seiende, auf das Gute (nicht gerade real Seiendes, sondern Existierendes). Der Wunsch ist begehrend gerichtet auf das Gute (in der Weise des Seinsollens-Bewusstseins, also gerichtet in konstitutiver Weise auf Seinsollendes, das, wenn es wäre, gut wäre). Wie der Wille? Ist er in ähnlichem Sinn nur gerichtet? Etwa so, dass er nicht nur auf Sein, sondern auf das Seinwerden gerichtet ist?1 Aber was heißt das? Ich will, dass das Werk, das mir vorschwebt, sei. Ich will es ausführen!2 Zunächst möchte man sagen: Da liegt ein Wünschen zugrunde und nicht ein bloßes Werten. Was ich will, das ist mir erwünscht. Und Wille geht im fiat auf das machende, „schöpferische“ Verwirklichen des Gewünschten und somit auch des Guten. Der Wille ist gerichtet nicht nur auf das Gute, sondern auf das Werk, auf die Tat, und auf die Tat durch das Medium der „Handlung“. Der bloße „Entschluss“ ist „leere Willensintention“? Aber was soll diese Rede hier bedeuten? Ich kann den Entschluss bei klarer Vorstellung des zu Realisierenden haben, und ist der Entschluss ganz klar, so habe ich die klare Vorstellung einer Handlung, die in dem Ziel terminiert. Darin liegt ein fiat als Ansatzpunkt und so alles Weitere, was Handlung und Tat charakterisiert: nur „vorstellungsmäßig“. Aber jetzt habe ich ein wirkliches fiat, ein wirkliches „Ich will“. Das
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Aber Seinwerden steht doch nicht dem Guten gleich. Seinwerden konstituiert sich ohne Wille! 2 Das Werk ist ein Seinsollendes, und es ist ein Gutes. Realisierung von Gutem.
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ist sehr ähnlich dem oben erwähnten Fall des Urteils, das sich nicht auf Wahrnehmung aufbaut, sondern auf Erinnerung oder sonstige aktuelle Vergegenwärtigung. Einerseits stelle ich den Sachverhalt vor und vollziehe ein Gleichsam-Urteilen in der Vergegenwärtigung, und andererseits urteile ich jetzt und wirklich und gewissermaßen durch das Vergegenwärtigungsurteil hindurch, so wie ich im Entschluss wirklich und jetzt will und gleichsam durch das Phantasiewollen und Phantasiehandeln hhindurchi.1 Andererseits: Entspricht dem ausführenden Wollen auf der Urteilsseite irgendetwas? Offenbar nicht. Das Urteil kann berechtigt oder unberechtigt sein; es kann dem bloßen Urteil gegenübergestellt werden ein begründendes Urteil (es ist zu beachten, dass ich bei dieser vergleichenden Betrachtung immer Erfahrungsurteile und Wollungen parallelisiere, nicht etwa mathematische und überhaupt Wesensurteile, bei denen ja all das nicht gilt), aber auch der Entschluss kann berechtigt und unberechtigt sein, und ich kann mir ihn nicht bloß klar, sondern mir auch seine Rechtsgründe klar machen.2 Aber Verwirklichung ist etwas anderes als Rechtsausweisung. Der Entschluss wird „ausgeführt“, und die Handlung ist charakterisiert als Ausführung des Entschlusses. Liegt nun wirklich im Wol l en das Wünschen? Im Entschluss bin ich gerichtet auf das Ziel (dass A sei), aber darauf gerichtet durch die vorgestellte (mehr oder minder bestimmt vorgestellte) Handlung. Es ist eine Willenslinie, die da durchgeht durch diesen vorgestellten Vorgang. Der dem Willen entsprechende Wunsch ging auf das ASein. (Natürlich kann ich auch ein Handeln wünschen: Ich wünschte, dass ich das täte, dass ich das Werk ausführte. Selbst während der Ausführung kann ich wünschen, dass sie wirklich zu Ende käme, dass ich es zustande brächte: also hinsichtlich des noch nicht Ausgeführten, obschon „ins Werk Gesetzten“.) Also wie sind hier die Verhältnisse?
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Und beiderseits kann man fragen: Liegt nicht in jenem Urteil ein Zustimmen zu dem im vergegenwärtigten Urteil Geurteilten und ebenso im Entschlusswillen eine Willenszustimmung zu dem vergegenwärtigten Willen? 2 Dagegen kann man sagen: Das Urteil der Zustimmung findet Ausweisung, indem ich den Rohns wahrnehme, ihn so finde, wie ich ihn geurteilt hhabei. Der Entschlusswille kommt aber nicht zu seinem Recht durch Handlung und nur nach seiner Wertkomponente durch Wertausweisung. Also wir haben keine richtige Analogie.
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Wünsche ich, „einen Spaziergang zu machen“, also eine Handlung, so brauche ich ihn darum noch nicht wirklich zu machen, obschon ich „weiß, dass er ausführbar ist“; ich habe das Bewusstsein „Ich kann“. Wie wird der Wunsch zum Willen? Natürlich abgesehen von Erwägungen von Motiven, von der Erkenntnis, dass hdasi, was dawider ist, „nicht in Betrachtung kommt“ und dgl. Nun einfach: Ich will und tue. Ich „entschließe mich“ etwa, erst das und das fertig zu machen und dann zu gehen, oder ich tue einfach: Das fiat inszeniert die Handlung. Da steckt doch nicht noch einmal der Wunsch darin, sondern Wunsch ist einfach durch Wille abgelöst in seinen stetigen Modifikationen, so wie sie zur Handlung als fiat usw. gehören.1 Doch das war vielleicht etwas voreilig oder vielmehr ungenau. Ich wünschte die Handlung, das Spazierengehen, das Theater oder den Freund zu besuchen etc. Ich handle nun. Dann erfülle ich durch sie den Wunsch. Soweit die Handlung noch nicht ausgeführt ist, ist der Wunsch noch lebendig. Ich ziehe mich schon an: Das liegt noch vor der Handlung, die ich eigentlich wünschte, und dient zu ihrer „Inszenierung“. Es ist sozusagen die Handlung, die ich vollziehen muss, um die Handlung, die ich wünsche, ausführen zu können. Während des Anziehens habe ich also noch den unerfüllten Wunsch. Nun gehe ich schon spazieren und habe das Behagen der Erfüllung, aber zugleich wünsche ich noch weiter spazierenzugehen. Es kann aber auch sein, dass ich ausgehen will, um einen lieben Besuch zu machen: Während des Gehens habe ich Vorerfüllung, sofern ich ja Erreichung erhoffe und insofern Befriedigung. Andererseits noch lebendigen Wunsch in Hinsicht auf den Besuch selbst, der ja noch nicht wirklich erfüllt ist. Muss nicht so in jedem Willen Wunsch des Zieles und des noch nicht realisierten Weges als Weges zum Ziel enthalten sein? Und ebenso immer etwas von Freude: Denn Freude ist wirkliche und antizipatorische Wunscherfüllung, wie ich öfters mir zurechtzulegen
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Natürlich wird die Sache zweideutig, wenn wir eben nicht scheiden: den „bloßen Wunsch“ und dasjenige Langen, Streben, das als ungesättigter Wunsch z. B. in aller Handlung oder im bloßen Entschluss vorliegt.
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versuchte.1 Und Willensaktion, ausführende Handlung, ist immer schon Wunscherfüllung. Die Sache ist nicht anders, wenn ich nur ein A-Sein vorstelle und wünsche, derart, dass der Wunsch keinen Gedanken an eine Handlung, die in A-Sein terminiert, mit sich führt. Tritt der Gedanke dann ein und führe ich aus, so empfinde ich Vorfreude, Freudeantizipation (Hoffnungsfreude) und dabei immerfort noch „Wunsch“, auf das Ziel gerichtet. Die Vorfreude wächst, je mehr ich mich handelnd dem Ziel annähere. Wir hätten hinsichtlich der Verhältnisse von Freude und Wunsch also gleichsam: Freude = gesättigter Wunsch. Wunsch = ungesättigte Freude.2 Darüber noch nähere andere Untersuchungen, doch kann ich das hier nicht weiter erwägen. Also kann man sagen, der Wille sei Wunsch im Modus des fiat? Das wird nicht gehen, wenn man „Wunsch“ im gewöhnlichen Sinn versteht, weil ja dann „Wunsch“ keine Realisierung zum Ziel hin vorstellt. Nimmt man aber „Wunsch“ allgemein als begehrendes Streben, und scheidet man bloßen Wunsch und Wille, wobei das Begehren modifiziert ist durch das fundierende „Ich kann“ und dadurch, dass es das „Ich will“, das fiat in sich aufgenommen hat – wie dann? Die Antwort wird lauten: D er Wi l l e i st al so im Wunsch fundiert, und dur ch dies e n geh t er auf ei n für gut Gehal tenes. Und er geht darauf in der Weise des Machens. Das Gute als Ziel des Machens = das praktisch Gute, das gute Werk, die gute Tat.3 Das fiat als solches „erfüllt“ sich im Handeln und endet, sich erfüllend, im Werk, im Willensziel, dem als gut Vermeinten.4 Die Wunschunterlage „erfüllt“ sich in Freude. Diese ist reine Freude, wenn sie in sich nichts mehr zu wünschen übrig lässt. Dann ist das
1 Wunscherfüllung, das ist voreilig. Aber doch liegt wohl ein Gutes darin: Jedes in Funktion der Erfüllung stehende Phänomen ist eine Sattheit zu dem, was auf Seiten bloßer Intention steht. Aber das satte Phänomen braucht nicht immer in einem Erfüllungsübergang aufzutreten. So würden Freude und Wunsch so zusammengehören wie einsichtiges Urteil und uneinsichtiges, wie klare Anschauung und Leervorstellung. 2 Wunsch müsste aber sein völlig ungesättigte Freude, analog der Leervorstellung und nicht der unvollkommenen Anschauung. 3 Aber dann wäre zu sagen: Das „Ich will“ ist keine bloße Modalität des Wunsches, mag auch der Wunsch im Willen seinen Basischarakter haben, sondern ein völlig Neues und in sich kein „Vermeinen“. 4 Doppelsinn von Erfüllung.
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Gute gegeben. Der Wille geht allerdings in der Weise der Realisierung nur auf sein Ziel. Aber der Wille richtet sich auch in einem anderen Sinn auf das Gute: Nämlich sofern er (das pure Willensmoment des fiat) ein Unselbständiges ist, fundiert in der beschriebenen Unterlage. Jedenfalls das konkrete Erlebnis Wille (und „Ich will“) ist ein „intentionales Erlebnis“ mit der praktischen Intention auf ein zu erzielendes Gutes. Das Problem ist dann aber, inwieweit das Aktmoment des fiat selbst als intentional auf Gutes gerichtet bezeichnet werden kann. Offenbar ist die Sachlage keineswegs dieselbe wie für die Intentionalität einer Vorstellung oder auch eines Wunsches, einer Freude. Und man wird vielleicht doch sagen müssen, es ist keine eigentliche Intentionalität, sondern eine akquirierte, nämlich doch so, dass konkrete Phänomene als Konkretes eine Intentionalität sicher haben, die nicht bloß die von Komponenten ist. Er „vermeint“ – indem er sich auslebt, indem er realisiert –, ein Gutes zu realisieren. Der Wille ist richtig, ist reiner Wille, wenn das vermeinte Gute wirklich gut ist. Jeder Wille ist „Intention“ auf eine gute Tat. Er will gleichsam guter Wille sein. Aber das betrifft ihn als „Vermeinen“ und betrifft ihn analog wie jedes Vermeinen. Die „Richtung-auf“, die in der Realisierung liegt, obschon Richtung auf ein für gut Vermeintes, ist doch zu unterscheiden von der „Richtung auf das wahrhaft Gute“, die besteht, wenn das Gute eben wahrhaft gut ist. Die ungebrochen ablaufende Handlung erreicht wirklich ihr Ziel; das Ziel, das der Wille sich gesetzt hhati oder dessen Erzielung ihn ausmacht, ist am Ende der Handlung Wirklichkeit. Aber in dem anderen Sinn hat sich seine Meinung, ein Gutes zu realisieren, nicht auch erfüllt (wenn nämlich das Ziel nicht wahrhaft gut ist etc.).
Beilage I hDie Fundierung der Gemütsakte als Gemütsapperzeption und Gemütsmeinungi1
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Fundi er te Appe rzep t i o n e n und f u n d i e r t e A k t e a l s M e i n u n g e n sind zu unterscheiden. Nämlich, wir unterscheiden das Erfahren als ein Sich-
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erfahrend-Verhalten vom erfahrenden Meinen, d. i. vom Wahrnehmen, Erinnern etc., in dem Bemerksamkeit und A u f m e r k s a m k e i t a l s H i n s e h e n auf waltet. Ebenso das Gemütsverhalten und das wertende Meinen. Das (seinssetzende!) Meinen glaube ich ansehen zu dürfen als die eigentlich theoretische Grundfunktion. Zum Meinen gehören die verschiedenen Formen der Synthesis, die in ihrer Reinheit in der formalen Logik ihre Gesetzmäßigkeit entfalten. Aber zur vollen theoretischen Funktion gehört das Bedeuten (Konzipieren, das eigentliche Bedeuten, das den Wortsinn macht). Dadurch kommt es zur Prädikation. Wenn es nun von jedem Gemütsakt (Gefallen, Wünschen, Wollen) heißt, dass er fundiert ist, so ist die Frage, ob die Fundierung statthat als Fundierung von Apperzeption durch Apperzeption, oder auch (denn die erste Fundierung ist unerlässlich) von Akt durch Akt hinsichtlich der Meinung. Ich kann in einer empirischen Apperzeption leben, hier Meinen üben, den Gegenstand wahrnehmen (Seinssetzung also) und an ihm das oder jenes als zu ihm gehörig wahrnehmen etc. und kann bei all dem Wohlgefallen haben, ohne im Wohlgefallen meinend zu leben.1 Dann steht das Objekt nicht als gefällig für mich da; ich sehe das Objekt, meine es aber nicht als gefällig. In der Freude freue ich mich darüber, dass A α ist. Hier meine ich das, und zugleich ist der Gemütszustand und, wenn ich meine, die Gemütsmeinung fundiert in dem Urteil (in der identifizierenden Synthese). Es ist zu untersuchen, ob wir unterscheiden müssen das bloße Hinsehenauf und das Zum-Dies-worüber-einer-(prädikativen, adjizierenden)-Synthesis-Machen. Es scheint mir, dass das nicht zu trennen histi und dass im Hinsehen-auf schon die „Das-“ oder „Dies“-Setzung vorliegt, nur natürlich vor dem konzeptiven Ausdruck. Was die eigentliche Dies-Setzung auszeichnet, ist, dass das Dies schon zum Subjekt und dgl., zum Nominale einer prädikativen Synthese, geworden ist, während freilich ein Hinsehen, ein ZumGegenstand-Haben möglich ist vor all dem. So, wenn ich auf den Wunsch hinsehe oder auf die Freude, ohne über sie zu prädizieren. Systematisch und in Aporien untersuchen, was das „Meinen“ ist, wenn ich wahrnehmend, urteilend, mich freuend etc. dem Wahrgenommenen zugewendet bin, dem Sachverhalt zugewendet bin bzw. dem „So ist es!“, dem Erfreulichsein zugewendet bin etc. Inwiefern man alles Meinen dem Erfassen gleichsetzen kann oder nicht. Ob nicht vielmehr jede Stellungnahme selbst das Meinen ist und davon zu unterscheiden das seinsfassende, seinssetzende Meinen ihres Korrelats (Wertes).
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Im Gefallen meinend leben, das ist nicht Seinssetzung des gefälligen Objekts.
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Beilage II hGibt es spontane Gemütsakte als eine von den theoretisch bestimmenden Denkakten unterschiedene Klasse von Vernunftakten?i1 5
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Hier2 kommt die Problematik nicht zu klarer Abhebung. 1) Akte „richten sich“. Zunächst: Theoretische Akte des bestimmenden Denkens „richten sich“ auf Gegenstände bzw. auf Sachverhalte. Schon da die Frage: Ist das Sich-Richten auf Gegenstände, die da bestimmt werden, und auf die Sachverhalte ein Richten im gleichen Sinn? Sind dem Bestimmen nicht Gegenstände „vorgegeben“ durch „vorstellende“ Akte bzw. durch vorstellende Apperzeptionen, durch die ein Strahl des Meinens hindurchgeht, der ihre Gegenstände für das bestimmende Denken zunächst zur Objektivation bringt, und konstituieren sich dann nicht durch das theoretisch bestimmende Meinen selbst neue Gegenständlichkeiten, derart, dass dann neue Erfassungen und theoretische Bestimmungen eben diese neuen Gegenständlichkeiten betreffen können? Das geht nun die bloß theoretischen Akte an. Die Frage ist dann aber weiter, ob den theoretischen (bestimmenden, logischen etc.) Akten parallel laufen Gemütsakte, die sich analog wie diese auf Gegenständlichkeiten „richten“, in analogem Sinn wie sie Spontaneitäten sind, die neuartige (prädikative) Gegenständlichkeiten konstituieren. 2) Die erfassenden und bestimmenden Akte richten sich auf ihnen vorgegebene Gegenstände und zuletzt auf schlicht vorgegebene, z. B. auf Wahrnehmungsgegenstände. Dem entsprechen die schon vor der Zuwendung möglichen, bloß sinnlichen Vorstellungen (Apperzeptionen). Die Spontaneität des Bestimmens setzt eine Rezeptivität voraus. Nun finden wir aber in der Sphäre der Rezeptivität den fundamentalen Unterschied der Seinsapperzeptionen (der Dinglichkeitsapperzeptionen) und der „Gemüts“-Apperzeptionen. Wir haben wie eine sachkonstituierende so eine wertkonstituierende Sinnlichkeit. Sind nun etwa die spontanen, sich im prägnanten Sinn „richtenden“ Gemütsakte nichts anderes als bloße Zuwendungen zu dem in solchen Gemütsapperzeptionen Vorgegebenen, im Voraus Konstituierten und hdeni eventuell darauf bezüglichen theoretischen Meinungen? Besteht wirklich eine Analogie zwischen theoretisch bestimmendem Denken (als einem Titel für „Verstandesakte“) und eigenen Vernunftakten verschiedener weiterer
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Klassen, die wir als praktische, ästhetische etc. Vernunft bezeichnen? Oder gibt es im Grunde nur eine Vernunft, nämlich die theoretische, so dass aller Unterschied in den schlichten Apperzeptionen läge? Doch könnten Komplexionen und Synthesen in der Gemütssphäre wohl auftreten, aber so, dass 5 doch keine Analogie und Parallelität mit der Synthesis der Verstandessphäre bestände. 3) Wie versteht sich, wenn wir von Akten der emothionaleni und volhitiveni Vernunft sprechen, die besondere Beziehung auf Apperzeptionen, die wir als Wertapperzeptionen und dgl. bezeichnen? Hat theoretische Vernunft 10 eine besondere Affinität zu den primären Apperzeptionen, den sinnlichen im engeren Sinn, als ob das „theoretische Apperzeptionen“ wären? Und hhati ebenso jeder andere Vernunftakt eine besondere Affinität zu Apperzeptionen einer besonderen Gruppe? Wir stoßen immer wieder auf das Problem von sinnlichem Gefühl und Gefühlsakt in besonderem Sinn usw. 15 Im Weiteren ist nur klar gemacht, dass es gegenüber den Dingapperzeptionen parallel laufende eigentümliche Wertapperzeptionen (als Werterscheinungen, und zwar rezeptiven) gebe, und das ist freilich sehr wichtig.
Beilage III hDas sinnliche Gefühl als immanente Zeiteinheit ist kein auf den Empfindungsinhalt bezogener Akti1
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Das sinnliche Gefühl ist bezeichnet als Akt, als Wertung bezogen auf den Empfindungsinhalt, im einfachsten Fall auf den primären Inhalt. Wie konstituiert sich demnach das sinnliche Gefühl? Der primäre Inhalt als immanente 25 Zeiteinheit konstituiert sich im inneren Zeitbewusstsein, das sinnliche Gefühl hkonstituiert sichi offenbar als höhere Schicht über diesem den primären Inhalt konstituierenden Bewusstsein. Es konstituiert sich dabei offenbar selbst als Empfindungsinhalt, aber als unselbständiger, der eben den primären Inhalt voraussetzt. Beide Schichten zusammen – die relativ selbständige fun30 dierende (wenn sie wirklich selbständig ist!) und die fundierte – konstituieren den sozusagen gefühlvollen primären Inhalt. Das sinnliche Empfinden und in gleicher Weise das darauf gebaute sinnliche Fühlen ist also nichts anderes als inneres Bewusstsein (Zeitliches konstituierendes) und hat darin seine Intentionalität (die innere).
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Hat es aber nun Sinn, hier noch von einer zweiten Intentionalität zu sprechen, nämlich derjenigen, welche der konstituierte Gefühlsinhalt in Bezug auf den primären Inhalt haben soll? Intentionalität vor dem Erfassen, Meinen, Sich-Zuwenden besagt nichts anderes als ein „Bewusstsein-von“, 5 das mögliche Unterlage für ein Meinen abgeben kann. Und so hat es offenbar keinen Sinn, von einer solchen zweiten Intentionalität zu sprechen. Ich kann natürlich die beiden Komponenten aufeinander beziehen, aber das ist Sache des prädikativen Beziehens. Gründet sich ein Apperzipieren auf die Sinnlichkeit, so bringt sie freilich eine neue Intentionalität hinein, sie konstituiert 10 eben ein neues Objekt, das seinerseits mit den primären Inhalten und dgl. in Beziehung zu setzen ist, was wieder Sache der prädikativen Akte ist. Solche gegenständlichen Beziehungen sind nicht zu vermengen mit den intentionalen Beziehungen von „Akten“ auf Gegenstände. Also das sinnliche Gefühl als konstituierte Zeiteinheit ist kein „Akt“, so wenig wie der primäre 15 sinnliche Inhalt ein Akt ist. Ganz anders die „Gefühlsapperzeptionen“, die konstituiert sind als Zeiteinheiten und zugleich „Bewusstsein-von“ sind. Nicht das sinnliche Gefühl, sondern das sinnliche Fühlen (allgemeiner: nicht Empfindung als Inhalt, sondern Empfindung als Empfinden) ist ein Akt.1
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Das ist aber immer wieder zu überlegen! Vergleiche dieselbe Stellungnahme in den nächsten Blättern hwohl Haupttext III, § 4, S. 92i, wo sich zeigt, dass dann die Analogie mit „Trieben“ verloren geht!
II. DIE VON GEGENSTÄNDEN AUSGEHENDE ERREGUNG VON GEFÜHLEN GEGENÜBER DER AUF DIE GEGENSTÄNDE HINZIELENDEN WERTUNG. DIE FRAGE NACH DEM GEFÜHLSCHARAKTER DES WERTENS1
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h§ 1. Die Intensitätsunterschiede im affizierten Gefühl und im Gefühlslicht gegenüber den Unterschieden des Wertes. Die Erregung von Gefühlsakten durch wertcharakterisierte Objektei 10
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Was ich Akt des Gef allens in meinen älteren und neueren Manuskripten zu bezeichnen pflegte – ist das das „vom Ich ausgehende“ spontane Für-wert-Halten, Wertnehmen oder Wertsetzen? Dem steht gegenüber das „vom Objekt ausgehende“, „durch das Objekt“ Affiziertwerden, der Affekt der Lust oder Freude, das eigentliche Gefühl, das genossen bzw. erlitten wird.2 Wie beides zueinander steht, ob es sich dabei um zwei „Seiten“ einer und derselben Sache oder um trennbare, wenn auch – sei es faktisch oder notwendig – miteinander verbundene Sachen3 (eventuell beiderseitig oder einseitig ablösbar) handelt, darüber ist nichts gesagt. Das affizierte Gefühl ist bei mir und hat Beziehung auf den Gegenstand: Es ist von ihm erregtes Gefühl. Was das „bei mir“ jeweils besagt, ob dasselbe oder Verschiedenes bei sinnlichen und geistigen Gefühlen, das ist erst zu überlegen. Und ebenso, was das „Erregtsein vom Objekt“, „vom Objekt ausgehen“ besagt. 1
Meditation. Anfang September 1911. Ja, was sind da für Fälle leitend? Doch nur der Fall eines Affekts, der als erregt durch eine in der Wahrnehmungsanschauung oder Erinnerungsanschauung gegenwärtige Gegenständlichkeit bewusst ist. Oder nicht? – Das Bild einer schönen Frau: Ich sehe auf sie hin, sie gefällt mir als schöne Frau und „in mir“ wird eine Lust erregt. Und im Denken? Erregt der gedachte Gegenstand die Freude? 3 Ob mit jedem Werten eine aktuelle „Lust an“, derart wie die Freude, gegeben ist. 2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 53 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3_2
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Der Gegenstand erscheint im „Gefühlscharakter“, im rosigen Licht, in trüber Gestalt, verschattet.1 Es ist wieder zu fragen, ob dieses „Licht“ oder diese Dunkelheit, diese Verschattung, mit dem erscheinenden oder vermeinten (ist das dasselbe?) Wertcharakter zusammenfällt oder nicht. Dabei fällt aber gleich auf: Das affizierte Gefühl und ebenso das Gefühlslicht am Gegenstand kann lebhafter und minder lebhaft sein, intensivere Lust, brennenderer Schmerz, rosigeres, strahlenderes Licht, minder rosig, tieferer, dunklerer Schatten und minder dunkler. Wie hsteht esi aber mit den Unterschieden des W er tes als des Korrelats der Werthaltung? Wir sprechen von höher wert und minder wert. Das läuft, wird man sagen, gar nicht parallel jenen Intensitätsunterschieden im Gefühl und im Gefühlslicht. Man mag da sogleich sagen: Wert, Unwert, das gehört in besonderer Weise zum Objekt. Das Werten bezieht sich auf bestimmte Momente des Objekts, auf bestimmte Wertgründe überhaupt, die zum Objekt „gehören“; das Gefühl gehört nicht so zum Objekt, es gehört zum großen Bassi n der Erlebnisse, zum „ B ew us s ts eins st rom “, i n dem al l e Gefühle in eine Einheit tr eten, in einen Gefühlsstrom, und hin demi jedes neu erregte Gefühl das Gesamtniveau verändert und die Art der Beziehung, die hervortretende Gefühle zu ihren Erregungsobjekten haben, mitbestimmt. Das Gefühl ist nicht bestimmt dadurch, dass es in der oder jener Weise (durch die und jene Motivation „vermittelt“) Gefühl „an“ dem Objekt ist, von ihm „erregt“ etc., und das Gefühlslicht am Objekt ist nicht bestimmt durch Objekt und Werten des Objekts etc., sondern all das histi auch bestimmt durch das Gefühlsbassin: Eine gewaltige Freude, ein starker positiver Affekt erhöht alle positiven Lichter und drückt alle Schatten herab (nämlich erhellt sie) und mutatis mutandis ebenso ein negativer hAffekti. Natürlich entsprechend auch jeder geringere Affekt. So ist in der Sphäre der Affektion alles in beständigem Fluss, alles relativ, ein πρÞσ τι. Es ist da weiter so manches problematisch und zu überlegen. Wir haben, möchte man sagen, in der Freude, sofern sie Freude an etwas
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Der erscheinende Gegenstand des Gefallens hat den rosigen Schimmer. Ist der Gegenstand, etwa die Geliebte, gedacht, verbal, so hat das Wort den rosigen Schimmer: der Name der Geliebten.
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ist, öfters ein Sich-Freuen „um eines Wertes willen“. Die Freude geht auf das Objekt, das al s Wert dasteht. Ist es nicht so bei der Freude an der Überwindung einer mich beschäftigenden theoretischen Schwierigkeit? Die Problemlösung werte ich, und habe ich sie, so freue ich mich. Hier handelt es sich um Erfüllung einer Wunschintention. Ich trauere über den Tod einer edlen Frau (Frau-Objekt), ihr Nichtsein als Unwert, sie steht (abgesehen von dem Gedanken an Sein) als „Schönes“ da, als Wertobjekt, und dass sie nicht mehr ist, betrübt mich, „erfüllt“ mit, erregt Trauer. Nun gehört dazu die Frage, ob nic ht Fr eude und Trauer, i hrem normalen Begriff nac h, über all i n di eser Wei se auf Wertung fundiert sind: Die so genannten Gefühlsakte beziehen sich auf ihre Objekte in der Weise eben von Gefühlen, als von ihnen erregt, aber erregt um der Objektwerte willen, dadurch „motiviert“, begründet. „Gegenstände erregen Freude“. Aber das ist ungenau, wird man sagen. Das Sein von Gegenständen, dass der Gegenstand ist oder nicht ist, kann Freude und Trauer erregen. Ich freue mich an der geliebten Person: an ihrem Dasein, an ihrem Mir-gegenwärtig-Seinund-mir-Liebes-Bezeugen, an der Art, wie sie sich aktuell hier und jetzt gibt. Ich freue oder betrübe mich über Tatsachen, darüber, dass das oder jenes eingetreten ist, dass der oder jener mathematische Satz wirklich gilt (so dass meine Vermutung bestätigt ist, die in „erster Linie“ mir am Herzen liegt und mir nun Freude machen kann) etc. Im Fall der Existenz von Gegenständen ist zwar das Gefühl in gewisser Weise doch auf den Gegenstand bezogen, der da als seiend gesetzt ist, aber „eigentlich“ ist es Gefühl der Freude über das Sein. Ebenso, wenn ich mich über das Tun und Lassen der Geliebten freue, so habe ich Freude „an der Geliebten“. Der Wertquell ist die Geliebte, ihre Eigenschaften der „Schönheit“, ihre Werteigenschaften. Und nun können sich Übertragungen auf äußeres Tun und Lassen herausstellen und fundierend wirken. Es ist aber auch umgekehrt so, dass Werteigenschaften der Person Wert geben und nun Freude über sie fundieren mögen. Eine positive Wert„tatsache“ hat ihre Termini, ihre Gegenstände-worüber, und soweit sie Wertquellen oder Wertableitungen sind, geht auch auf sie der Freudencharakter hüberi bzw. geht von ihnen Freudenerregung aus. Ist nun Freude Fr eude über di e Tatsache, so kann gemeint sein Freude über den Sachverhalt oder Freude über die Sachlage. In
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gewisser Weise beides, doch in eigentlicherem Sinn Letzteres: Durch die Sachverhaltsetzung hindurch geht die Freudenerregung (wie die Wertung), aber der Wert ist derselbe bei unmittelbar äquivalenten Sachverhalten und ebenso ist das „Objekt“ der Freude dasselbe. In gewisser Weise „bezieht sich“ und richtet sich die Freude auf die Sachlage und in gewisser Weise auf ihre Termini: Gegenstände und gegenständliche Existenzen. Wieder in anderer Weise auf die Wertlage (wertvolle Sachlage) und auf die Gegenstände, sofern sie wertgründende sind. Das gibt der Rede von Erregung einen verschiedenen Sinn. Die Erregung geht von den Gegenständen aus, aber von den Gegenständen, sofern sie wertcharakterisiert sind, und eventuell eigentlicher von den (wohl dadurch begründeten, motivierten) Sachlagen, sofern sie Wertlagen sind. Danach haben wir bei den Erlebnissen der Freude und Trauer im spezifischen Sinn wohl deutlich unterschieden – und sich wirklich abhebend – eine auf das „Objekt“ zielende, gegen das „ Objekt “ hingehende W ert ung1 (mit all dem, was sie voraussetzt) und die gegen das Subjekt hin gehende G efühlserregung, nämlich die Freude und Trauer selbst, die einerseits das Objekt als erfreulich bzw. traurig charakterisiert, aber zugleich beim Subjekt angreift als: Ich bin traurig, ich bin erfreut. Wir haben aber noch nichts gesagt über Trennbarkeit oder Nichttrennbarkeit, ob die Wertung möglich ist ohne die Erregung und gar die Erregung ohne Wertung (dieselbe Freude, aber nicht Freude am Werten). In letzterer Hinsicht: Könnte nicht ein Objekt ein „Gefühl“ erregen, ohne dass das Gefühl seinen „Grund“, sein „Motiv“ hat in einer Wertnehmung, einer Wertsetzung? Könnte nicht Letzteres zunächst sein und ein andermal dasselbe Objekt dasselbe Gefühl erregen, aber ohne Wertobjekt zu sein? Insofern wäre das Gefühl keine Freude (trotz desselben qualitativen Inhalts), als eben das Gesamtphänomen ein anderes wäre: Die Erregung ginge nicht bloß vom Objekt, sondern vom Wertobjekt aus, nicht von der Sachlage, sondern hvon deri Wertlage.
1 Das ist nicht deutlich. Das „Objekt“ steht einfach als wert da. Die Reflexion findet das Werten.
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h§ 2. Sinnliche Gefühle als Gefühle, deren Erregung kein Werten des Objekts zugrunde liegt. Ist das Werten ein erregtes Fühlen?i
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Nun, zunächst sehen wir von der Frage der eventuellen Qualitätsgleichheit des erregten Gefühls und der Frage überhaupt in der Form, wie sie zuletzt gestellt ist, ab und stellen allgemein das Problem so: Ist ein Gefühl, ein positives oder negatives, eine Lust oder Unlust, durch ein Objekt erregbar, ohne dass der Erregung „zugrunde liegt“ ein Werten des Objekts? Und wir werden noch allgemeiner fragen müssen: Müssen G ef ühl e überhaupt erregt sein, das heißt, gehört es zum Wesen jedes Gefühls eine Erregungsrichtung und (wofern das Auf-Objekte-Bezogensein bei Gefühlen den Charakter des Vom-Objekt-Erregtseins haben soll) somit ein Objekt, von dem es err egt i st, hzu habeni? Gibt es unerregte Gefühle? Man könnte selbst die Frage aufwerfen: H aben Gefühle ihrem Wesen nac h nur die eine Ar t der G egenstandsbeziehung, die wir „ E r r egung von ihnen “ nennen? Wir halten uns zunächst an das Problem. Man wird sagen: Gewiss können Objekte Gefühle erregen ohne fundierendes Werten. Beispiele in beliebiger Zahl bietet das Feld der s innlic hen G efüh l e. Wir haben freilich unter diesem Titel Verschiedenes zu unterscheiden: das Wohlgefühl im „Genuss“ einer Speise als sinnliches Gefühl am Geschmack, der Geschmacksempfindung; das Gefühl an der gegenständlichen Speise, die einem „Bissen“ nach im Mund zerkaut wird: das auf den Bissen bezogene Gefühl und das auf den Rest der Speise auf dem Teller bezogene Gefühl. Wieder etwas anderes ist das Gefallen im Anblick des Kuchens, der auf den Tisch gestellt ist, wobei ich die Erwartung habe, etwas abzubekommen; wieder anderes, wenn ich satt bin und nichts mitessen will. In der letzteren Hinsicht ähnlich: Gefallen am Kuchen, der im Schaufenster des Kuchenladens ausgestellt ist. Ebenso die Lust an einer schönen visuellen Form oder einer schönen Farbe, aber „so, wie sie sich gerade darstellt“; das Gefallen an der Farbeigenschaft des Gegenstandes oder an der Formeigenschaft des Gegenstandes sowie am Gegenstand selbst, sofern er diese Eigenschaften hat. Das Wohlgefühl im Befassen des Samtes und das Gefallen am Samt selbst, sofern er so befasst dieses Wohlgefühl erregt, und wesentlich „dasselbe“ Gefallen, das
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ich am Sehen des Samtes „mit Beziehung darauf“ habe. Das Gefallen an der Amati-Geige um ihres schönen Tones willen (den ich eventuell nicht hören kann, sie wird nicht gespielt), das Gefallen am schönen Ton selbst und in sich selbst. Genauer besehen scheiden sich: I.hai Gefühle „ am “ Empfindungsinhal t (Lust am Wohlgeschmack, „am“, „im“); hbi Gefühle am appr ehh endi ert en i G egenstand (Wahrnehmungsgegenstand) – Lust am, Gefallen am Kuchen –, und zwar am Wahrnehmungsgegenstand selbst, am Gegenstand vermöge gewisser Folgen etc. II. Gefühle am Phantasie- und Erinnerungsinhalt, am phantasierten oder erinnerten (vergegenwärtigten) Gegenstand, und zwar an ihm selbst und an ihm vermöge seiner Beziehungen zu anderen etc. Die Vergegenwärtigungen hsindi volle oder leere. Bei II. fragt es sich, ob die Gefühle „wirkliche“ Gefühle sind oder Vergegenwärtigungen von Gefühlen oder beides etc.: sich jetzt von wirklicher Lust berührt fühlen oder sich einer sinnlichen Lust erinnern und eventuell auch jetzt in der Erinnerung, aufgrund der Erinnerung an gehabte Lust sich freuen etc. III. Statt apprehhendierteri Gegenstände nehmen wir Gegenstände überhaupt, gedachte und im Denken gesetzte oder gedankenhaft bloß gedachte Gegenstände, Sachverhalte etc. Das sind aber bloß Anfänge. Und dazu gehören dann weitere Probleme: Ob das „ Werten “ auch ei n Fühlen ist, nur ein appr ehens iv verm it te l tes oder durch Vergegenwärtigung vermitteltes, ob, wenn zwischen Wer ten und dem erregten (weiteren) Fühlen unterschieden wird, eben nicht Gefühle höherer Stufe in Frage sind oder hob es sichi nicht (eventuell auch) um sinnliche Gefühle, die sich weiter anknüpfen, oder um angeknüpfte Gefühle mit dunkler Sachunterlage etc. hhandelti.
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h§ 3. Die Verschmelzung des Empfindungsgefühls mit dem Empfindungsinhalt. Der Gefühlston. Die Unterscheidung zwischen der Geschmackslust und der dadurch motivierten Freude am Haben der Geschmackslust. Der Übergang der Freude in die frohe Stimmungi Beschränken wir uns auf das „Primitivste“, auf Empfindungslus t, auf E mpf indungs gefühl e, so ist klar, dass der Empfindungsinhalt es ist, der die Lust trägt (oder den Schmerz), rein in sich s elbs t und ganz unmi ttel bar. Das Gefühl ist insofern grundlos, als es kein eigent li ches „ Moti v “ hat, es sei denn, dass man den Empfindungsinhalt selbst als Motiv bezeichnen wollte. Man könnte sagen: Aber der Empfindungsinhalt „erregt“ Lust nicht um irgendetwas willen (was doch auf etwas anderes zurückweist), sondern „durch sich selbst“. In ihm selbst liegt der „Grund“ der Lusterregung, und sie geht nicht nur von ihm aus, sondern sie ist rein in ihm selbst verankert oder verwurzelt oder hat in ihm selbst die eine und einzige und letzte Quelle. Darauf wäre aber zu erwidern: Ist das phänomenologisch gesprochen, dass die Geschmackslust, die Lust i m Wohlgeschmack und „an“ der Geschmacksempfindung, von dieser Empfindung „ausgeht“ als eine von da auslaufende „Erregung“, dass aus der Empfindung als einer „Quelle“ das Gefühl hervorgeht und dass sie „Grund“, „Motiv“ der Lust sei? Wie kommt es, dass es mir mitunter scheint, so wäre es, und manchmal wieder das entschiedene Gegenteil? Bei Gerüchen kommt es vor, dass sie zuerst und momentan gefallen und dann missfallen, und hzwari ganz entschieden, und dann scheint es nicht, dass sie sich darin ändern, dass sie „süß“, lustbetont etc. sind, wie sie es waren. Ebenso „bestechende“ Melodien. Hängt es nicht davon ab, ob wir in die Empfindung den Wohlgeschmack etc. hineinsehen und seine Gefühlsempfindungsbetonung herausheben oder ob wir vom Gefallen oder Missfallen sprechen, das in diesem Empfindungsgefühl sehr wohl seine Quelle haben kann? Man könnte unterscheiden: 1) Ein Gefühl ist auf einen Gegenstand bezogen, auf irgendetwas, und geht vom Gegenstand aus, von etwas aus, sofern er das ist, was Lust m acht. Und 2) Ein Gefühl hat in irgendetwas seine Q uel l e; dann kann es in einem anderen seine Quelle und hini einem anderen sein O bj ekt haben. Quelle wäre das
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Gründende oder auch der Grund, und es wären unmittelbare Gründe („in sich selbst“) und mittelbare zu unterscheiden. Aber die Empfindungslust ist „erregt“ durch den Empfindungsinhalt, ob dieser vergegenständlicht und beachtet ist oder nicht. Ob die Lust am Empfindungsinhalt verschwindet oder sich modifiziert, wenn dieser Inhalt als darstellender für einen Wahrnehmungsgegenstand figuriert, ist ein Problem.1 Es gehört nicht zum „erregten“ Gefühl im eigentlichen Sinn, dass sein Erreger als „Gegenstand bewusst ist“, also auch nichts von einer bewussten Motivation, von einer notwendigen Gründung des Gefühls in einer Wertnehmung, heineri Für-wert-Haltung eines in irgendeinem Sinn „vorstelligen“ Gegenstandes. „Gegenstand“ soll nicht nur heißen Aufgemerktes, worauf sich ein Blick richtet, ein Hinmeinen und Erfassen, sondern hsolli auch heißen „Aufgefasstes“, Apprehendiertes.2 Es können Apprehhensioneni im Hintergrund erlebt sein und ihre Gefühle tragen (die apprehendierten Gegenstände „erregen“ Gefühle), ohne dass Strahlen des Hinmeinens, des Aufmerkens hindurchgehen.3 Geschieht es nachträglich, so heißt es: Gefühle sind Erlebnisse gewesen, und die Gefühle „bezogen sich“ auf die apprehendierten Gegenstände, waren von ihnen „erregt“, aber potenziell ist die Beziehung des Erregens insofern, als keine eigene Linie oder Richtung von dem Gegenstand hin zum Gefühl „bewusst“ ist. Übrigens, was heißt apprehendierte Gegenstände? Apparierende? Anschauliche? Es können aber auch leer vorstellige, sozusagen leer apprehendierte Gegenstände ihr Gefühl erregen. Mein Freund ist im Zimmer, ich spreche mit meinem Nachbarn, bin meinem Freund nicht zugewendet, und doch verlässt mich nicht das Hintergrundbewusstsein
1 Siehe folgendes Blatt h= S. 61,16–63,16i. Es besteht keine phänomenologische „Erregungs“-Beziehung zwischen Empfindungsinhalt und Empfindungslust. 2 Cf. die Beilage und darin die Verbesserung h= Beilage IV: Empfindungsgefühl und Gegenstandsgefühl (S. 70)i. 3 Alles Aufgemerkte ist ein Gegenständliches im vollen Sinn, und selbst wenn der Gegenstand sich nicht in einer Apprhehensioni konstituiert, ist doch eine „Auffassung“, ein Objektbewusstsein da, ein Einheitsbewusstsein. Blicke ich auf ein Empfindungsmoment hin, so steht es als Einheit da, als Dauerndes, Identisches etc. Dieses Einheitsbewusstsein ist die Auffassung, und es ist auch da der Unterschied: auf das Einheitliche, Identische, das Objekt aufmerkend hinsehen oder hdavoni wegsehen, hesi nicht bemerken etc.
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von seiner Gegenwart, und damit ist ein beständiges Gefühl erregt und hdiesesi bestimmt den ganzen „Gefühlsstrom“. Soweit Empfindungsinhalte, die gerade Erlebnisse sind, ihre apprehhendierendeni Auffassungen haben, fragt es sich, ob die Empfindungsgefühle notwendig Grundlagen sind von Gefühlen an den apprhehendierteni Gegenständen bzw. ob sie sich notwendig, der Apprehhensioni entsprechend, in solche Gefühle „umwandeln“. Das Wort „umwandeln“ soll andeuten, dass die Empfindungsgefühle eventuell nicht bloß neue Gefühle erwecken, sondern sich mit solchen entweder verschmelzen oder durch die zu den apprehhendierteni Inhalten (Vergegenwärtigung oder Ähnliches) gehörigen Gefühlstendenzen eine Umänderung erfahren, ein Neues ergeben, das die Empfindungsgefühle nicht bloß enthält. Ebenso mit Beziehung auf die Gefühlstendenzen, die zu erregten „gegenständlichen Zusammenhängen“ gehören, zu den erregten Vorstellungsreihen etc. Wie steht es nun, wenn ich mich dem „Inhalt“ (Empfindungsinhalt) speziell zuwende, aufmerkend den Blick darauf richte? Ich hatte während des Essens mit den Kindern gesprochen und war zugewendet (bemerkend, thematisch) ihren Erzählungen. Ich genieße darum doch das Essen mit Lust, und die Lust bezog sich teils auf die aktuellen Sinnesempfindungen, teils auf das Gegenständliche, den Bissen im Mund, die Speise auf dem Teller etc. Nun achte ich auf die Sinnesinhalte, die freilich fortfahren, apprhehendierendi zu fungieren, auf den Bissen „bezogen“ zu sein etc. Ich finde dann auch das Lustgefühl eins mit dem Inhalt. Ich kann wohl auf den Inhalt besonders achten, aber das Gefühl ist damit eins. Ich scheide dabei eventuell das Gefühl, das an ihm speziell hängt, und weitere Gefühlsflüsse, die dadurch erregt werden (eventuell Seligkeit des Genießens, eventuell Freude an der Lust selbst etc.). Hält man sich an das erstere, so hat man nicht den Eindruck, als ob hier zweierlei wäre: 1) das Erregende, der Empfindungsinhalt; 2) bei „mir“ das durch ihn erregte Gefühl. Diese Unterscheidung wird man nur machen bezüglich jener weiteren Gefühle. Das zum Empfindungsinhalt selbst gehörige direkte Gefühl ist mit ihm verschmolzen, es folgt allen Wendungen und Verschiebungen dieses Inhalts, liegt auf ihm. Hier kann man nichts finden von einem Erregen, von einer Beziehung, von einem Gegenüber zwischen Erregen und Erregtem. Davon kann gesprochen werden, wenn ich vom
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Empfindungsinhalt übergehe zum (eventuell apprehhendierteni) Gegenstand.1 Die Speise, eventuell der Bissen erregt im Mund dadurch, dass er gekaut etc. wird, das Wohlgefühl, er erregt den Geschmack und mit dem Geschmack das Gefühl. In „mir“, in meinem leiblichen Ich, erregt er Geschmack und Gefühl: beides an derselben „Stelle“. „Tiefer in mir“ sind die mittelbar erregten Gefühle, und habe ich an dem Wohlgeschmack und am Essen mit dem ganzen Rhythmus sinnlicher Empfindungen und mit ihnen untrennbar einiger (oder vielmehr ungetrennt einiger) sinnlicher Gefühle meine „Freude“, so ist diese Freude Freude des zentralen Ich, wenn sie auch nicht aus dem „Innersten“ kommen mag.2 Hier kommt sogleich das Problem: Ist die Empfindungslust und die eigentlich erregte Lust von einer Gattung? Jede „erregte“ sinnliche Lust gewiss, aber da fragt es sich wieder, ob diese „Erregung“ dieselbe ist wie bei geistiger Lust (Freude). Erregung kann sagen ein „Im-Ichbewirkt-Werden“, so wie ein Licht in mir die Empfindung der Blendung und das mit ihm einige unangenehme Blendungsgefühl bewirkt oder wie die Speise in mir die Geschmacksempfindungen und die Geschmackslust bewirkt usw. Das Erregte, die Empfindung, das Gefühl, hat seine „Ursache“ in dem Erregenden, dieses ist ein „Reiz“, der auf das Ich ausgeübt wird. Dagegen, wenn der Wohlgeschmack Freude in mir erregt, so hat diese Freude ihren „Grund“ im Wohl-
1 Hinter diesen Satz hat Husserl später ein Frage- und ein Ausrufungszeichen gesetzt; dazu seine Randbemerkung: „Das ist schief. Denn mit dem sinnlichen Gegenstandsgefühl steht es genauso wie mit dem Empfindungsgefühl. Beides kann aber Gefallen erregen.“ – Anm. der Hrsg. 2 Ist da nicht übersehen, dass in der Tat in der Hinwendung auf den „Wohlgeschmack“ auch eine immanente Objektivierung statthat und dass ich nun auch „erregte“, begründete „Lust“, „Gefallen“ oder auch Missfallen haben kann? In der Tat: Ein süßes Backwerk gefällt mir im ersten Moment, aber es wandelt sich dann das Gefallen in Missfallen. Und zwar rein im Essen und hohnei Hinwendung auf die Empfindung. Bleibt da nicht trotz der Umwendung von Gefallen in Missfallen die Empfindungslust dieselbe? Es „schmeckt“, und doch, ich habe kein Gefallen an dem „süßen Zeug“. Aber freilich, das bedarf der Analyse und die Frage ist die hnachi der genaueren Deutung. Sind Momente starker Empfindungslust mit Momenten der Unlust gemengt oder ist das Ganze, das Empfindungsgefühl, seinem Gesamtcharakter nach sinnliche Unlust, obschon im Einzelnen sinnliche Lust da ist? Oder muss man nicht vielmehr sagen: Jawohl, das Empfindungsgefühl hat seine Gestaltqualität, aber diese fundiert erst das Gefallen oder Missfallen? Das Widerwärtige der Süßigkeit, das ich nachher fühle, gibt sich nicht als eins in und mit der Empfindung. Aber erregter Ekel?
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geschmack, und zwar in der Schicht der sinnlichen Empfindungs„lust“, und wieder kommt als „gründend“ oder motivierend in Frage das Jetzt-Haben oder -Genießen der sinnlichen Empfindungslust und die Fakta, die es voraussetzt. D i e Em pfindungslust hat keine „ Gr ünde “, keine Mo ti ve. D i e Em pfindungslust hat keine „ Gegens tände “, kei ne Sachl age, auf die sie sich bezieht.1 W as w ir aber Freude nennen, hat G ründe, Motive. Das Gefallen, die Freude, die „geistige Lust“ hat ihre Gegenstände, bezieht sich auf Sachverhalte etc. (Doch ist das Wort „geistige Lust“ hier irreführend. Der schöne Kuchen im Schaufenster gefällt: Das wäre auch „geistige Lust“.) Damit zusammenhängend: Bei der Empfindungslust hat es keinen Sinn, von Vernunft und Unvernunft zu sprechen, hier konstituiert sich keine eigenartige axiologische Objektität.2 Andererseits, jede „geistige“ Lust, jedes Gefallen, steht unter Vernunftnormen und konstituiert eigenartige Wertobjektitäten. Empfindung und Empfindungsgefühl sind eins. Das Gefühl ist keine vom Empfindungsinhalt abtrennbare Schicht, eigentlich kann man gar nicht von einer „Schicht“ sprechen. Das Empfindungsgefühl ist ein „Gefühlston“, ein „sinnlicher Charakter“, der gattungsmäßig ein gleichartiger ist bei allen lustbetonten Inhalten und wieder bei allen schmerzbetonten.3 Dieser Charakter differenziert sich aber, eine Geschmackslust ist eine andere als eine Augenlust etc. Ich kann die Charaktere aber nicht eigentlich abheben, sondern nur durch Gegenüberstellung von lust- und unlustbetonten oder von lustbetonten und gleichgültigen Geschmacksinhalten oder visuellen Inhalten etc. das Moment der Gefühlsbetonung abstrahieren.
1 Das gilt aber nicht bloß von der Empfindungslust, sondern auch von der „sinnlichen Lust am Gegenstand“, hdemi Wohlgeschmack. 2 Die apperzhipiertei Empfindungslust steht unter der apperzheptiveni Vernunft, nicht unter einer eigenen Vernunftart. 3 In der Einheit eines Empfindungsverlaufs können die Gefühlstöne wechseln, sich verändern, nach Intensität sich abstufen etc. Wie steht es nun mit der Einheit des Gefühls, die zum Gesamtrhythmus gehört? Es scheint mir, dass das nicht wieder eine Empfindungslust ist, als ob sie zum Empfindungsgehalt als Gefühlston gehörte, sondern dass sie schon ein „Gefallen“ ist, das zur Einheit der lustbetonten oder mit diesem Lustrhythmus überdeckten Empfindung „intentional“ gehört. Aber freilich, das hat seine Schwierigkeiten!
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Freilich ist die Frage, ob der Gleichgültigkeit eine eigene Betonung entspricht und ob hesi somit zum Wesen jedes sinnlichen Inhalts gehört, einen Gefühlston zu haben. Sicher ist, dass durch solche Vergleichungen und Analysen die Unterscheidung von Empfindungsinhalt und Gefühlsmoment möglich ist in vielen Fällen, während gleichwohl beides völlig einig ist, analog wie die unterscheidbaren Momente im Empfindungsgehalt selbst. (Womit aber nicht gesagt ist, dass nicht der „Ton“ eine eigene Stellung im Komplex hat: das hat aber auch Qualität, Intensität etc.) Man sieht auch, dass der Gefühlston eine wechselnde Intensität hat, aber eine Intensität, die eben zu ihm und nicht zum Empfindungsinhalt gehört (Intensität der Tonlust und Intensität des Tones im gewöhnlichen Sinn). Was die Qualität anlangt, so scheint das Gefühlsmoment sich als Lust und Schmerz und eventuell halsi Mischung zu qualifizieren. Doch liegen auch da Probleme. Erregt ein Gegenstand Gefallen (sei es ein Empfindungsgegenstand vermöge seines Gefühlstones, sei es ein Ding vermöge des dinglichen Gefühlstones), so steht er als gefällig da; erscheint er, so erscheint er umflossen von einem „rosigen Licht“. Der Empfindungsinhalt hat kein rosiges Licht, keinen rosigen Schimmer. Beim Essen hat die Speise, die noch auf dem Teller ist, das rosige Licht, nicht der Bissen, der im Mund ist, bzw. nicht der Geschmacksinhalt.1 Der Bissen übrigens wohl darum nicht, weil wir ihn nicht eigentlich während des Kauens und Den-Wohlgeschmack-Empfindens als Objekt, als Gegenstand konstituiert haben. Es ist nicht so, wie wenn wir einen Knopf im Mund habend seine Objektität konstituieren, etwa uns überlegen, ob wir ihn als Knopf erkennen würden, wenn wir ihn nicht gesehen hätten etc. Bei den „Akten des Gefallens“, bei den Affekten der „Freude“ ist übrigens zu bemerken, dass der rosige Schimmer entweder den Charakter der Gegenstandszugehörigkeit hat, als die im Gegenstand durch das, was er ist oder was zu ihm gehört, fundierte Aureole, oder dass er den C harakt er des erborgten Abglanzes hat. Jederlei Sache hat ihren rosigen Schimmer, wenn ich in froher Stimmung bin, aber nicht als Eigenschimmer. Andererseits, der eigene Schimmer
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Immer derselbe Irrtum, als ob es auf Apprehhensioni ankäme.
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kann seine besondere primäre Zugehörigkeit zum Inhalt des Gegenstandes, den oder jenen Inhaltsmomenten, etc. haben oder ihm zukommen um der Beziehung zu anderem willen. Doch ist da die Frage, w ie der r os ige Schim m er zur erschei nenden Erfreulichkeit s teht. Ein Gesicht sieht lieb aus: Entweder es wird die Person direkt apprehendiert als liebenswürdig, gut, edel etc., und das Gesicht drückt das aus, dann gefällt das Gesicht als Ausdruck, und zwar als wirkliche Anzeige davon. Eventuell aber „mahnt“ das Gesicht daran, es ähnelt einem solchen Ausdruck, ich bin aber nicht sicher, ob wirklich, ich apprehendiere es nicht ohne weiteres so, nicht ernstlich, ich verhalte mich ähnlich wie bei einem Satz, den ich höre und verstehe, aber ohne Stellung zu nehmen. Eventuell vermute ich, dass das Gesicht das ausdrückt etc. Natürlich nicht verbal, sondern rein der Apprehhensioni gemäß (wie bei der gewöhnlichen Wahrnehmung: Wahr-nehmung, Anmutung, Zweifel etc.). Wir genießen essend: Wir empfinden den Wohlgeschmack. In dem Sinn genießen wir nicht im Gefallen, in der Freude etc. Wir genießen die sinnliche Lust, das kann einfach heißen, wir empfinden den Wohlgeschmack; wir können aber auch Freude am Haben der Geschmackslust bzw. am Empfinden des Wohlgeschmacks haben. Dann haben wir eine Freude, ein Gefallen, das seinen Grund (sein Motiv) besitzt in dem Wohlgeschmack und offenbar näher und eigentlicher in dessen Lust-(Gefühls-)Charakter. In dieser Weise genießend (uns freuend) werden wir im Allgemeinen auf den Wohlgeschmack hinsehen, ihn „zum Gegenstand machen“ bzw. die Speise, das Essen hinführend zu diesem „Genuss“, diesem Wohlgeschmack. Doch freuen wir uns eventuell noch, wenn wir nicht aufmerkend darauf hinsehen, das heißt, die Freudezuwendung geht nach der Abwendung über in frohe Stimmung. Man kann zunächst sagen, dass die Objektivation in den Hintergrund tritt, aber noch da ist, und ebenso erfährt die Freude eine Hintergrundwendung, die sie darum nicht aufhebt. Im Hintergrund bin ich mir meiner Kaubewegungen etc. und der im Gaumen lokalisierten Geschmackslust „bewusst“; ich empfinde nicht nur, ich habe natürlich auch gewisse Apprehhensioneni dabei, gewisse Heraushebungen, die doch kein Aufmerken sind, der Geschmack ist intensiv, in gewisser Weise ausgezeichnet, betont (gegenüber dem Druck und Zug meiner Kleider und dgl.), ebenso hlaufeni gewisse Linien vom
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„Essen“ zu diesem Geschmack. Und nicht nur ist der Geschmack ein Lustgeschmack, sondern er macht auch lustig, auf ihn ist ein Wohlgefallen bezogen, obschon nicht eine Hinwendung, Hinmeinung gerichtet, und von da aus breitet sich eine heitere Stimmung, ein Ge5 fühlsstrom: Der ganze Gefühlsstrom des Hintergrunds, des „inneren Lebens“, hat einen eventuell gewaltigen Zufluss bekommen. Nicht nur werde ich an Freudiges erinnert, sondern das so Erregte erhält einen Zuwachs an Freude, und schließlich alles und jedes erhält einen rosigen Schimmer, einen Freudigkeitscharakter. (Natürlich können 10 wir uns auch wieder der Freudenstimmung zuwenden und uns auch an ihr freuen.) Das Problem bleibt aber noch übrig, ob denn bei den angegebenen und wohl noch zu vermehrenden Unterschieden doch etwas davon übrig bleiben kann, dass Gefühl als Empfindungsgefühl und 15 Gefühl als Freude, als Gefallen, als wertkonstituierender Akt, eben beides „Gefühle“ seien, Erlebnisse einer und derselben wesentlichen Gattung.
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h§ 4. Das Schwelgen in der Phantasie – die Freude an wissenschaftlicher Forschung: Erlebnislust als Voraussetzung der Freude als wertendes Gefallen. Das wertende Gefallen als Gefühlsapprehensioni
Vielleicht wäre es gut, vorher noch ein anderes Problem aufzuwerfen: Ob denn, wie Empfindungen Träger von Gefühlen sind, d. h. Gefühlsbetonung haben, nicht auch andere „Erlebnisse“ oder im Zeit25 strom des konstituierten seelischen Seins auftretende Vorkommnisse Gefühlsbetonung haben. (Davon abgesehen, dass natürlich Phantasmen als Vergegenwärtigungsmodifikationen von Empfindungen ihre Gefühlsmodifikationen als Vergegenwärtigungsmodifikationen haben.) Wie ist es z. B. beim „Schwel gen i n der Phantasie“? Lust30 volle Phantasien bzw. Freuden in der Phantasie, etwa aufgrund von Phantasielust, sind „eingebildet“. Es ist aber „süß“, solchen Phantasiefreuden hingegeben zu sein. Erlebnisse sind die Phantasien, darunter die Gefühlsphantasien: die Phantasien selbst, nicht das Phantasierte. Knüpfen sich an die Phantasien, an die Erlebnisse der Lustver35 gegenwärtigung mit all ihren Unterlagen, Gefühlsbetonungen?
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Oder handelt es sich um G efal l ensakte, Freudenakte? Ist dieses Schwelgen (ein aktuelles Erlebnis) analog dem Geschmacksschwelgen, d. i. dem Erleben des sinnlichen Wohlgeschmacks? Natürlich, wenn ich diesem mich aufmerkend und objektivierend (subjektivierend) zuwende, freue ich mich über ihn. Ebenso: Ich schwelge phantasierend. Wende ich mich dem Phantasieren als solchen und dem Lustgefühl zu, so mag ich daran wieder mein „Vergnügen“ haben, es kann mir gefallen. Es kann mir auch missfallen: Phantasieschwelgerei lähmt die Tatkraft etc. Ebenso kann ich im Wohlgeschmack, statt mich zu freuen (mich ihm in Freude hinzugeben), mich abwenden: in Missfallen. Es ist jetzt vielleicht nicht an der Zeit, sinnliche Freude zu genießen etc. Habe ich Gefallen am Phantasieren um der Lust willen, die ihm selbst (vermöge seines Gehalts) als Erlebnislust, als Gefühlston anhängt? Ebenso, habe ich Missfallen am Phantasieren von Hässlichem um der Erlebnisunlust hwilleni, die ihm als solchem anhaftet? Wieder kann man überlegen: Wie steht es mit der Freude an w iss ens c haft li cher F orschung, am Fortschreiten theoretischer Erkenntnis? In der wissenschaftlichen Forschung lebend bin ich ihren Problemen und Sachen zugewendet. Aber mein Gefühl ist in Anspruch genommen. Haben die Erlebnisse der theoretischen Forschung dabei eine Erlebnislust, die prinzipiell derselben Gattung ist wie eine Empfindungslust? Ich kann mich dann in der Reflexion diesen Erlebnissen zuwenden. Kann ich nun nicht in hderi Zuwendung zu ihrer Gefühlsbetonung wissenschaftliche Forschung in ähnlicher Weise genießen, wie ich mein Essen und die Essenslust genieße, wenn ich hungrig bin: also mich dieser Lust freuen? Doch wohl. Ist aber, wird man weiter überlegen, Freude an der Erlebnislust Freude an der wissenschaftlichen Forschung selbst? In der ersteren bin ich der Lust des Erlebnisses, des Forschens zugewendet, und sie ist mein Freudenmotiv (Freudengrund) und Objekt zugleich. In der Freude an der wissenschaftlichen Forschung: Ist diese mein Objekt und ist sie es „um der daran geknüpften Lust willen“? Etwa in dem Sinn, dass ich mich an der Forschung freue, weil ich mich eigentlich an der Lust der Forschung freue. Kann ich mich am Ende primär nur an der Lust freuen (sie genießen) und ist alles andere nur erfreulich um der Lust willen? Um des Genusses der Lust willen? Des mög-
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lichen Genusses, wenn ich ja nicht wirklich genieße (mich freuend zuwende)? Man möchte sagen: Eines ist sicher, dass Freude und Lust untr ennbar zusam men hängen. Aber zu unterscheiden ist erlebte Lus t, empfundene (also Empfindungslust und Erlebnislust irgendwelcher Art), und Freude al s G efallen, die Lust zwar vorauss etz t, aber nic ht Lust i st. Analog wie eine Wahrnehmung Empfindung voraussetzt, aber nicht Empfindung ist. Jedes Gefallen1 an einem Objekt setzt voraus, dass das Erlebnis, in dem das Objekt bewusst ist, eine Erlebnislust trägt. Gefallen an einer Phantasie setzt voraus Erlebnislust des Phantasierens, Gefallen an einer Erscheinung Erlebnislust am Erscheinen, Gefallen an wissenschaftlicher Forschung Erlebnislust hani der wissenschaftlichen Forschung, Gefallen an einer Speise Erlebnislust der Speisenwahrnehmung oder sonstigen „Vorstellung“.2 Und die Speisenwahrnehmung hat Erlebnislust nach dem Gesetz, dass, wenn sich an ein Wahrnehmungsobjekt bekannterweise unter gewissen Umständen „bewirkte“ Lust anknüpft, dass dann sein Wahrnehmen Erlebnislust trägt. Wie aber beim Wahrnehmen des Wohlgeschmacks selbst, nämlich der aufmerkenden und objektivierenden Zuwendung zu dieser Geschmackslust? Wir müssten sagen: Dieses wahrnehmende Hinblicken trägt wie jedes Objektivieren eines Gefühls selbst ein Gefühl. Und genauer: Jede Objektivation, die gerichtet ist auf ein komplexes Ganzes, in dem ein Gefühlsfaktor auftritt, der in die Objektivation einbezogen ist, ist selbst Träger eines Gefühls. Also sowie ich auf eine sinnliche Lust hinblicke, hat dieses Hinblicken einen Lustcharakter. Aber auch wenn ich auf eine Freude hinblicke (die ja eine Lustkomponente hat), hat dieses Hinblicken Lustcharakter.3 Und nun würde man weiter sagen: Diese Erlebnislust ist eben Erlebnislust und ist noch kein Gefallen. Aber es ist sozusagen Ge-
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Der Text von „Jedes Gefallen“ bis „sicher unrichtig.“ (S. 69,4) von Husserl später zwischen eckige Klammern gesetzt, dazu seine Randbemerkung: „Das alles ist Konstruktion und falsch.“ – Anm. der Hrsg. 2 Eigentlich „Erscheinung“, Zuwendung ist nicht nötig. 3 Soweit sich der Wohlgeschmack etc. als Einheit konstituiert hat, wirklich konstituiert auch ohne Hinblicken, soweit trägt er auch eine in der Objektivation fundierte Lust.
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fühlsrepräsentant für das auf das Gegenständliche bezogene Gefallen oder vielmehr für den Wertcharakter, der sich darin konstituiert. Aber freilich, wo sind die phänomenologischen Ausweise für diese Konstruktion? Sie ist so, wie sie da steht, sicher unrichtig. Eines steht außer Zweifel: Wo immer Gefallen, Für-wert-Halten, Sich-Freuen etc., da auch Gefühle, und zwar Gefühle, die als solche zu derselben Gattung gehören wie die Empfindungsgefühle. Und hes isti zweifellos, dass bloße Gefühle nicht mehr und nicht in besserem und anderem Sinn „Intentionalität“ haben denn Empfindung. Also sie sind Erlebniseinheiten, erlebnismäßig dauernde etc., aber nicht „intentionale Erlebnisse“, d. h. Erlebnisse, die „gegenständliche Richtung-auf“ haben in irgendeinem Sinn (Erlebnisse immer als Zeiteinheiten des „Bewusstseins“).1 G efühl e gehören also wesentlic h z um B est and al l er wertenden Akte und zunächst derjenigen, in denen Wertobjekte als solche „erscheinen“, gegeben sind. Ebenso wie Empfindungen da sein müssen, damit Seinsobjekte gegeben sind, zunächst erscheinen. Die erlebten Empfindungen gehen in Apprehensionen ein. Darin liegt das „Intentionale“ im eigentümlichen Sinn. Irgendwie gehen die erlebten Gefühle, damit ein Gefallen, ein Werten (als Wertnehmen) und dgl. Erlebnis werden kann, ebenfalls in so etwas wie Apprehensionen ein. Und diese Apprehensionen sind so wenig selbst Gefühle, als die objektivierenden Apprehensionen, die Seinsapprehensionen im engeren Sinn, Empfindungen sind. So freilich geht es nicht, dass man einfach sagt, die Seinsobjektivationen, die die „Grundlage“ bilden, tragen irgendwelche Gefühlscharaktere. Beim sinnlichen Geschmack haben wir in der Regel einen Komplex von Momenten, von denen gewisse in ihrer Folge und Gestalt eine Folge und einen Rhythmus von Gefühlen tragen. Schon das weist darauf hin, dass die Gesamtobjektivation ihre Komponenten haben wird und dass speziell auf diese das Gefühl aufgelegt sein wird. Aber das erklärt nicht die „Beziehung auf“ die ent-
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Erlebnis kann auch einen anderen Sinn haben. In dem jetzigen sind es „Einheiten“ des Bewusstseins, sich als solche konstituierend in Erlebnissen im anderen Sinn, die keine solchen Einheiten sind.
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die von gegenständen ausgehende erregung
sprechenden Gegenständlichkeitsmomente, und es fragt sich, ob es da etwas weiter zu erklären gibt, nämlich ob man eben nicht antworten muss (und sinngemäß nichts anderes verlangen kann als zu sagen): Eine eigentümliche Apprehension, ein eigentümliches Wer5 ten, Gefallens-„Bewusstsein“, eine eigentümliche „Intentionalität“ beseelt die „Gefühlsempfindung“. Die Empfindungen sind Zuständlichkeiten? Das wird man nicht sagen. Empfindungen sind Objekte in einer ungewöhnlichen Empfindungsreflexion, und wenn der Blick auf sie sich richtet, so nimmt er sie 10 doch nicht als Ichzustände. Allerdings bei den Gemeingefühlen kann man zweifelhaft werden. Wie steht es mit den Gefühlen? Die Empfindungsgefühle finden wir auch „äußerlich“ eigentlich doch nicht als Zustände, nämlich Ichzustände.
Beilage IV hEmpfindungsgefühl und Gegenstandsgefühli1
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Es scheint, dass man unterscheiden muss: das Empfindungsgefühl, das „an und in“ der Empfindung selbst liegt (der „Gefühlston“), und das Gegenstandsgefühl, d. i. das Gefallen. Auch der „Empfindungsinhalt“, die Empfindung als Einheit, ist ein „Ge20 genstand“. Ich kann darauf hinsehen und ihn eben als Gegenstand in seiner Einheit erfassen. Dann finde ich an ihm selbst den Gefühlston, und dieser ist dann „Motiv“ des Gefallens oder Missfallens: um dessentwillen gefällt er mir. Keineswegs ist eine transiente Apprehension nötig und damit ein transienter Gegenstand. Sind solche da, so gehört zu ihnen ebenfalls ein 25 Gefallen oder Missfallen, und eventuell von ganz anderen Vorzeichen. Das Empfindungsgefühl, der Gefühlston, kann sich seinem Charakter nach (wenn etwa auch nicht der Zeiterstreckung, eventuell der Intensität und den Intensitätsgesamtcharakteren nach) erhalten, und das Gefallen, die fühlende Stellungnahme, kann sich ändern, ihr „Vorzeichen“ umkehren. 30 Ich esse ein süßes Backwerk, es schmeckt vortrefflich, nach einer Weile werde ich seiner überdrüssig, es fängt mir an zu ekeln, es wird mir widerwärtig. Der Geschmack hat sich nicht wesentlich geändert, aber auch der Gefühlston am und im „Wohlgeschmack“ ist nicht umgeschlagen, er ist vielleicht nicht mehr so intensiv, dem Gefühlston nach, vor allem mag es sein, dass mir das
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ewige Süßes-Essen „langweilig“ wird, es gefällt mir nicht mehr trotz seines positiven Gefühlstones. Das Abstumpfen besteht hier doch nicht darin, dass der Geschmack selbst den positiven Gefühlston verloren haben müsste. Natürlich wird man auch scheiden bei einer süßlichen Melodie, die mir zunächst sehr wohl gefällt, während mir nachher ihre Trivialität zum Bewusstsein kommt und sie mir zu missfallen beginnt: den immerfort süßen Charakter der Melodie und das darin gründende Gefallen, und nachher das in der Trivialität gründende Missfallen. Aber freilich, die Melodie ist nicht ein bloßer Empfindungsgegenstand. 1 Wenn wir uns der Empfindungseinheit zuwenden, so hat sie an sich jenen Gefühlston, und um dieses willen gefällt sie oder missfällt sie „unmittelbar“. Das ist die einfachste unmittelbarste Art der Begründung von Gefühlsakten. Die Empfindung gefällt oder missfällt da „um ihrer selbst willen“, und das heißt, der Grund der Gemütsakte liegt rein im Gegenstand, immanent. Die Empfindungseinheit „konstituiert“ sich und in und mit ihr die Einheit des Gefühlsrhythmus. Sie konstituiert sich, d. i., ein Einheitsbewusstsein ist Erlebnis, gleichgültig, ob ein Strahl der Aufmerksamkeit und der Gegenstandssetzung hindurchgeht oder nicht. Dieses „Einheitsbewusstsein“ („Auffassung“ von Einheit) ist nun selbst Träger eines Gefühls, das „Beziehung“ hat auf das Identische, die Einheit, die aufgefasst ist.
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Man darf nicht etwa meinen, dass im Fortgang des Essens sich „Gestaltqualitäten der Lust und Unlust“ bilden, derart, dass stark hervortretende Lustmomente doch ein starkes Unlustmoment bezogen auf das Ganze fundieren. Die Unlust am Ganzen ist Missfallen des Ganzen und keineswegs ein Empfindungsgefühl, das zu ihm gehört als Gestalteinheit der Partialgefühle. Wir können dieser Gestalteinheit uns zuwenden, sie ist ein Rhythmus von Gefühlen, einheitlich, aber nicht eine Lust oder eine Unlust. Dagegen, diese Einheit kann gefallen oder missfallen.
III. DIE ANALOGIE ZWISCHEN DENKAKTEN UND AXIOLOGISCHEN AKTEN. REZEPTIVITÄT UND SPONTANEITÄT BEI DER KONSTITUTION VON SEINS- UND WERTOBJEKTIVITÄTEN1
h§ 1. Affektion, Auffassung, Zuwendung und schöpferischer Verstandesakti
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Es wurde oft gegenübergestellt Se insmotivation und Wertmotivation. Seinsmotivation ist empirische Motivation, sinnliche, Empfindungsmotivation und hat vom Standpunkt des allgemeinen Bewusstseins darin ihre volle Universalität, dass jedes Erlebnis auch als „Empfindung“ fungiert und konstitutiv ist für empirisches „Sein“, für Natur. Was ist da aber der Gegensatz? Doch nicht das auf „Natur“ jeweils bezogene Werten. Oder Werten überhaupt? Ob das nun immer auf Natur bezogen ist oder nicht, und was es daneben sonst auch geben mag, soviel ist klar, dass, wenn Werten zum Fühlen in Beziehung gesetzt ist, wir zwar mögen sagen können: So wie durch Empfindungen (primäre Empfindungen) sich räumlich-zeitliches Sein konstituiert und mit solchem Sein zusammenhängende Auffassungsweisen, so konstituiere sich durch die mit den Empfindungen verflochtenen, in ihnen fundierten Gefühle etwas, nämlich Werte. Ich sage, so mögen wir sagen können, aber es ist klar, dass wir nicht alles umspannen: nicht das „Denken“, das doch konstitutiv ist als „schöpferisches“ Bewusstsein für Klassen von Gegenständlichkeiten, nicht das spontane Werten, nicht das schöpferische Bewusstsein, in dem „synthetische“ Gegenständlichkeiten erwachsen, das „umwillen“, das „infolge“ und so weiter, hnichti die Begehrungsund Willensobjektitäten.
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Wohl Anfang November 1911. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 73 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3_3
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Wir haben doch 1) Rezeptivität – Sinnlichkeit: a) Da ist das Feld der Empfindungen (was eine Funktion andeutet), der Assoziationen, der blinden Motivation, die „konstitutiv“ ist für Natur, physische und psychophysische Natur; b) das Feld der ursprünglichen Gefühls- und Triebpassivitäten; und c) der zu ihnen gehörigen blinden Motivationen, die konstitutiv sind für Objektitäten höherer Stufe, für die wir keine zusammenfassenden Namen haben: Objekte der Liebe, Wertobjekte, Taten, Schöpfungen, alles blind, z. B. instinktive Liebe der Kinder und Eltern, Nesterbau etc. 2) Spontaneität – Verstand: a) die schöpferische Funktion des Denkens und die Verstandesmotivationen des Denkens; b) die schöpferische Funktion des Wertens; c) weiter die des Wünschens und Wollens mit all ihren spontanen Motivationen. Das Spontane liegt in der Ichaktivität in einem besonderen Sinn. Spontaneität setzt Rezeptivität voraus.1 Es ist aber zu beachten, dass wir unterscheiden müssen: I. die urquellende Spontaneität, die Akte selbst, die Aktsetzungen, die Verstandesakte; II. die verströmende, nachlebende Spontaneität, die Übergänge in Passivität, die Übergänge in Zuständlichkeit; III. der Niederschlag der Verstandesakte in Form von sekundärer Sinnlichkeit, das dunkel Gewordene, das einmal hell war, das passiv Gewordene, das einmal aktiv war – dem gegenüber sind wir rezeptiv: Wir haben eine ursprüngliche Rezeptivität und eine in Rezeptivität übergegangene Spontaneität. Sind hier nun nicht noch ernste Schwierigkeiten übrig?2 Im Denken, im Werten, Wollen, kurzum in jedem spontanen Bewusstsein, 1
Das Wort „Spontaneität“ rechtfertigt sich durch Beziehung auf das Ich, es besagt also Ichspontaneität, es betrifft also die aus dem Ich hervorquellenden eigentlichen Akte. Aber die Affektionen? 2 Im Folgenden versuchte ich, die Auffassungsfunktionen den Denkfunktionen des Verstandes möglichst anzunähern, und versuchte zuerst, das „setzende“, im Erfassen, Aufmerken, Durchlaufen, Explizieren sich vollziehende Auffassen als „Vollzug“ der Auffassung anzusehen gegenüber dem Hintergrundauffassen. Es stellt sich aber heraus,
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haben wir ein „sehendes“ Bewusstsein-von, nicht ein blindes. Aber macht die Spontaneität das Sehen und die Rezeptivität die Blindheit? Wird das blinde Bewusstsein, das wir „Haben einer Erscheinung“, einer Gegenwärtigung, einer Vergegenwärtigung etc. nennen, nicht zum sehenden durch schlichte Zuwendung? Und was ist diese s chlichte Z uwendung? Ist sie einer der spontanen Akte, ist sie denkende Zuwendung, ist sie Seinssetzung? Aber wie, wenn ich mich einem Phantasieobjekt zuwende? Ich müsste dann sagen, dass sie eine „Quasi-Zuwendung“ histi, und wenn ich sie nicht so vollziehe, d. i. dabei „in der Phantasiewelt lebe“, so ist es eine aktuelle Zuwendung und dann Setzung des Phantasierten als solchen, eine objektivierende Setzung. Es ist aber hier vieles zu klären und zu scheiden. In meiner Lehre von den attentionalen Wandlungen ist hervorgetreten, dass Zuwendung zum Gegenstand einer sinnlichen Erscheinung, die vordem ohne Zuwendung bewusst war, nicht besagt die Hineinsendung eines Aufmerksamkeitsstrahles in eine „Erscheinung“, die genau hsoi, wie sie war, nun einen Strahl in sich aufgenommen hat. Wir müssen zwar von einem Strahl der Zuwendung sprechen und von einer Zuwendung des Ich, aber müssen wir andererseits nicht sagen: Die Zuwendung ist nicht (dem Gleichnis entsprechend) bloße Zuwendung, sondern das ganze Phänomen – und vor allem wohl die Auffassung – hat „Aktivierung“ erfahren, sie ist vollzogene Auffassung, während wir freilich hinsichtlich der Empfindung weiter sagen müssen, sie konstituiere sich passiv; das Zeitbewusstsein wird nicht „vollzogen“. Jedenfalls ist in dieser Richtung die beseelende Aktivität nicht in gleicher Weise vom Charakter der spontanen Gestaltung. Aber ist es bei der Dingerscheinung viel besser? Ist nun diese vollzogene Auffassung gegenüber der passiv gehabten, sozusagen erlittenen, nicht eine Spontaneität, und zwar eine Spontaneität der Setzung gewisser „Materie“? Freilich eine „unvollkommene“ Spontaneität, die nach Reihen vollzogener neuer Auffassungen drängt und nach Reihen von Explikationen und beziehenden spontanen Akten. Ist doch schon ein gewaltiger Unterschied zwischen dass ein kardinaler Unterschied ist zwischen dem Vollzug der Verstandesakte und dem aktuellen Erfassen, zwischen Erfassungsfunktionen und synthetischen (schöpferischen) Verstandesfunktionen. Gleichwohl ist die Lektüre des Weiteren lehrreich.
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der Schicht der zum Phantom gehörigen Apparenz und der Schicht des substanzial-kausalen Dinges, das doch in wirklich vollziehender Weise nur bewusst werden kann in beziehenden Akten, in denen zwar immerfort schon das reale Ding als Ding aufgefasst ist, aber als das nur „gesehen“ ist in vollziehender Weise, wenn ein „wenn und so“ oder ein „weil und so“ in der Abhängigkeit kausaler „Erscheinungen“ erfasst wird. Werden wir also nicht darauf zurückgeführt, dass hdasi, was wir zunächst als Rezeptivität ansetzen, eine notwendige Scheidung fordert? Dass wir, genauer gesprochen, unterscheiden müssen zwischen 1) der Schicht der blo ßen Affektionen (die nichts von Funktion enthalten), die Schicht, innerhalb welcher sich die primären Inhalte (als immanente Zeitlichkeiten natürlich) konstituieren. Hier haben wir eine ursprüngliche und apriorische Form, die Form aller immanenten Erlebnisse, die immanente Zeit.1 2) Den Affektionen stehen gegenüber die Funktionen; dahin gehören alle sinnlichen Auffassungsfunktionen, durch welche das Bewusstsein eines Dinges erwächst, aber auch alle sinnlichen Gefühlsfunktionen (Gefühlsauffassung), durch welche das Bewusstsein eines empirischen Wertes erwächst, und was in gleicher Stufe noch hdazui gehören mag. Jede Funktion lässt nun, und ebenso das durch Funktion Gebildete, eine doppelte Erlebnisweise zu. (Wobei hätte vorausgeschickt werden müssen, dass jede Funktion fundiert ist wesentlich in Affektion und mit ihr die Einheit eines funktionellen konkreten Ganzen des Erlebnisses herstellt. Solche Konkreta haben wir jetzt im Auge, eventuell unter bloßem Hinblick auf die Momente der Affektion.) Eine doppelte Erlebnisweise, sagte ich: Eine Funktion kann vollzogene, von Spontaneität beseelte, „lebendige“ Funktion sein, und sie kann nicht-vollzogene, nicht-spontane, unlebendige sein, erstarrte Funktion sein. In diesem Sinn scheiden wir Rezeptivität unlebendiger, inspontaner Funktionen von der Spontaneität vollzogener Funktionen, und in diesem Sinn mengen wir nicht durcheinander (müssen wir sorgfältig gesondert erhalten) Rezeptivität und Affektivität (Rezeption und Affektion). 1 Aber das Konstituieren vollzieht sich doch durch Intentionalität, aber nicht durch eigentliche Akte.
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Damit ist aber noch nicht allem Genüge getan. Denn nun bedarf es einer Grundunterscheidung innerhalb der Funktionen, die wir bei dem Parallelismus zwischen rezeptiven und spontanen Funktionen innerhalb einer Sphäre, etwa der der Spontaneität, allein verfolgen können. „Zuwendung“ – knüpfen wir daran an. Der Ausdruck „Rezeption“, und demgemäß hder Ausdrucki „Rezeptivität“, ist zweideutig. Die unlebendige Funktion (die Funktion im Status der Erstarrung, der Unlebendigkeit eben) kann in Lebendigkeit übergehen und lebendige Funktion in erstarrte. Aber nicht jede lebendige Funktion ist Wiederbelebung einer erstarrten, nicht jede erstarrte erstarrt gewordene, nicht jede ist Erstarrung einer vordem lebendigen. Diese Verhältnisse heißt es hzui studieren. Das Lebendigwerden kann ein bloßes Sich-Einleben, ein bloßes Sich-Zuwenden sein. So in der ganzen Sphäre der Affektion. Ja, es ist im erweiterten Sinn von einer Affektion im Gesamtrahmen des Zeitbewusstseins zu sprechen, das heißt, jedes immanent-einheitliche Erlebnis „affiziert“, sofern es Objekt möglicher bloßer Zuwendung und setzender Erfassung sein kann. Es affiziert den „inneren Sinn“, heißt nichts anderes als: Ein Blick „innerer Wahrnehmung“, ein schlichter Hinblick darauf, der erfasst und setzt, was anderweitig konstituiert ist, findet statt oder kann stattfinden. Die Sphäre bloßer Affektion, die Sphäre bloßer Sinnlichkeit besagt: Es gibt eine Sphäre von Erlebnissen, von immanenten zeitlichen Inhalten, die keine andere Belebung erfahren können als diejenige als zeitlich-immanente Inhalte, keine andere als die schlichte Zuwendung zu ihnen in der „inneren Wahrnehmung“, d. h. in der schlichten immanenten Reflexion. Hierbei ist zu beachten: Sie heißt Wahrnehmung, weil das immanente Zeitbewusstsein selbstgegenwärtigendes ist. Einfache Zuwendung, schlicht setzende, thetische Erfassung eines als selbstgegenwärtige Wirklichkeit Bewussten charakterisiert Wahrnehmung; und ist die Gegenwärtigung die des zeitkonstituierenden Bewusstseins, so ist die Wahrnehmung „innere“ Wahrnehmung. Sie hat ihre parallelen immanenten Reflexionsarten in der inneren Erinnerung, inneren Phantasie usw. Diese Zuwendung der inneren Reflexion ist zwar schon ein actus der Freiheit, eine Spontaneität, aber eine solche, die durchaus ge-
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bunden ist an die „Vorgegebenheiten“ des inneren Bewusstseins, an das anderweitig Konstituierte, das nach dem ursprünglichsten Gesetz des Bewusstseins seine notwendige apriorische Form der immanenten Zeit erhält. Hinter dieser Gruppe von inneren Erfassungen liegt übrigens noch eine Klasse von schlichten Zuwendungen: die Reflexionen auf das Bewusstsein selbst, das die immanenten Inhalte konstituiert. Verbleiben wir aber im Rahmen des immanenten Zeitbewusstseins! Wir haben dann in dem bloßen Sich-Zuwenden ein Erfassen, ein Entnehmen, ein schlichtes Hinsehen-auf, das zugleich Heraussehen, Herausgreifen ist. Denn, was immer da ergriffen ist, hat seinen Horizont, seine Umgebung. 3) Ähnliches gilt, wenn wir von den sinnlichen Empfindungen zu den Auffassungen bzw. zu den Erscheinungen übergehen. Die äußere Erscheinung ist Inhalt des inneren Bewusstseins und lässt als das eine innere Zuwendung zu, und sofern sie als dieser einheitliche immanente Inhalt Schichten, Teile hat, lässt sie verschiedene „innere“ Wahrnehmungen zu. Andererseits, sofern sie eine Einheit der Funktion ist, hat sie den Charakter eines intentionalen Erlebnisses und lässt, wenn sie unlebendige funktionelle Einheit war, einen belebenden Strahl schlichter Zuwendung zu, einer setzenden, erfassenden Zuwendung, wodurch aktive Wahrnehmung, äußere Wahrnehmung erwächst (ebenso die Parallelen: Erinnerung etc.). Das Sehen ist nichts anderes als die Lebendigkeit der Auffassungsfunktion als perzeptiver (ebenso der Erinnerungsfunktion: Quasi-Setzen, Lebendigkeit der modifizierten Funktion). An die bloße Zuwendung kann sich, während sie immer lebendige Aktivität, lebendige Funktion verbleibt, anschließen das Durchlaufen im freien Ablauf der Motivationszusammenhänge verschiedener Schichten, das wir onthischi bezeichnen als über den Gegenstand hinsehen, ihn mit dem Blick durchlaufen, ihn von allen Seiten ansehen usw. Dabei expliziert sich der Gegenstand. Die Gesamtfunktion „impliziert“ Teilfunktionen, „intentionale Strahlen“, die ihrerseits „hinweisen“ auf Reihen von neuen intentionalen Komplexen bzw. auf Reihen neuer intentionaler Strahlen in diesen usw. Die Intentionen gehen in dem Fluss der funktionalen Komplexe einig ineinander über; und was in der vorangehenden hReihei „unerfüllte“ Intention ist, ist in der folgenden erfüllte usw. Dabei aber auch das zu beschreibende Spiel von „Näherbestimmungen“, nämlich dessen, was
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vordem nur unbestimmter intendiert war; aber auch „Andersbestimmungen“, immer im Rahmen der Bewusstseinseinheit, in der immerfort der eine Gegenstand dasteht. Ferner gehört hierher der Unterschied des freien Durchlaufens einer Gruppe zusammengehöriger Wahrnehmungen (etwa in freien Augenbewegungen), wobei sich der Gegenstand, wahrnehmungsmäßig immer neue Seiten bietend, zeigt, und des ganz andersartigen Durchlaufens der Explikation, der Einzelzuwendung zu dem in einer und derselben Erscheinung Erscheinenden und der Einzelbelebung von Teilintentionen, die hierbei zugleich nähere Bestimmung erfahren können, sofern die Intention auch ohne neuen Zuzug von Wahrnehmungen (von Erscheinungsmaterial) reicher, bestimmter werden kann. Ferner auch dies, dass bei unveränderter Erhaltung des Erscheinungsbestandes ein vergegenwärtigendes Verfahren möglich ist, wonach die aktuellen Erscheinungen übergeführt werden in Reihen von Erscheinungs-Vergegenwärtigungen und hwiri in ihnen eine, wenn auch unvollkommene Erfüllung durch erinnernde Vergegenwärtigung erfahren können. Ferner der Unterschied der intentionalen Zusammenhänge, die zur Konstitution des Raum-Phantoms und zur Konstitution der realen Prädikate des realen Subjekts, überhaupt des realen Dinges, gehören. Wie zur schlichten Explikation des durch Phantome Gegebenen das kathegorischei Urteil, die kategorische identifizierende Synthesis steht, so hstehti zur explikativen Entfaltung der zum verworrenen Auffassen gehörigen Realitätsintentionen, zu welcher Entfaltung die Modifikation des belief zum „Annehmen“ und Darauf-Hinnehmen gehört, das hypothetische und kausale Urteil.1 Das sagt, dass Explikation eine Unterstufe ist zur Urteilssynthese, und zwar zur Urteilssynthese, die hier „analytisch“ erfasst, was im erscheinenden Ding „liegt“, intendiert ist. In dieser Sphäre der dingkonstituierenden Funktionen haben wir also eine ganz andere Situation als in der Sphäre der Affektion, des inneren Bewusstseins. Bei dieser besteht Lebendigkeit bzw. Verlebendigung bloß darin, dass sich als erste „Zuwendung“ ein verleben-
1 Dieser Satz wurde später in eckige Klammern gesetzt, dazu am Rand ein Fragezeichen. – Anm. der Hrsg.
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digender Strahl innerer Wahrnehmung auf das immanente Erlebnis richtet, und die Belebung besteht in nichts als in dem Hinsehen auf das Konstituierte oder sich weiter Konstituierende. Was weiter noch möglich ist, ist Explikation, ein Achten auf Teile und Momente. Im Übrigen ist das innerlich Wahrgenommene „im Voraus da“ – ebenso da in der Wahrnehmung wie vor ihr. Dagegen haben wir in der Sphäre der dingkonstituierenden Funktionen zwar auch eine gewisse Vorgegebenheit – immerfort und von vornherein steht das Ding da und ihm kann ich mich schlicht zuwenden –, aber es ist „da“ durch das Medium des unendlich vielgestaltigen Spiels von „Intentionen“, von wirklichen und angezeigten. Es erscheint, und die bloße Zuwendun g und bl oße Explikation leistet hier nicht alles, ist nicht alle „Verlebendigung“. Die Belebung macht aktive Meinung, verwandelt die latente in patente, in wirkliche Meinung, und die Entfaltung der Meinung kann besagen: heinerseitsi Entfaltung des in ihr r eel l Enthal tenen, andererseits die Explikation des Vermeinten als solchen, wie es gerade gemeint ist. Es kann hbeisagen: die Entfaltung des Seins, wie es im Sinn der Meinung ist, bestimmtes ist, soweit die Meinung bestimmt ist, eventuell, wie es möglicherweise ist und wie es sich eventuell im Fortgang neuer und neuer Erscheinungen „herausstellen“ würde und eventuell wirklich herausstellt. Meinung weist hin auf neue Meinungen, und in dem Ablaufen der wirklichen Erscheinungen bestätigt sich die Meinung, bestimmt sie sich näher, widerlegt sie sich usf. Was alles passend zu verstehen ist, da noch keine Prädikation vollzogen sein soll. Also innerhalb dieser Funktionen treten völlig neue Vorkommnisse auf. Aber welcher Art ist hier die Spontaneität des Vollziehens? Ich habe nicht mehr bloße Zuwendung und Festhaltung, sondern Mehrfältigkeit der Zuwendungen, Durchlaufen und Durchhalten der Einheit in der Abhängigkeit, Durchhalten nicht nur der Einheit des Phantom-Erscheinenden durch den Fluss der Phantom-Erscheinungen, sondern der Einheit des Realen, die den Hinblick auf Umgebungsänderungen und die Abhängigkeiten fordert, oder Durchlaufen hypothetischer Erscheinungsreihen in der Vergegenwärtigung unter Hinblick auf die hypothetisch abhängigen Reihen, unter Durchhaltung der Einheit des erscheinenden Realen durch diese hypothetischen Reihen hindurch.
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Aber vorgegeben ist auch hier der Gegenstand. Er ist es, der immerfort einheitlich erscheint, er ist es, der sich in kontinuierlicher Durchhaltung nach seinen Eigenschaften expliziert usw. Es wird durch die Spontaneität des Durchlaufens, des Durchlaufens der hdiei Raumgestalt konstituierenden Erscheinungsreihen, der die Realität konstituierenden Abhängigkeitserscheinungen etc. keine neue Gegenständlichkeit konstituiert. Alles ist gebunden durch die aktuellen Erscheinungen und ihren Bestand an Auffassungsfunktionen. Wir stellen nun gegenüber: solche Auffassungsfunktionen und diejenigen Funktionen als Verstandesfunktionen, welche Sachverhalte, Subjekte, Prädikate etc. konstituieren. Die „Zuwendung“ erfasst das schon anderweitig Konstituierte; überhaupt die „Anschauung“, empirische Vorstellung, ist entweder schlichte Erfassung oder Übergang von erster Zuwendung zu immer fortgesetzter Erfassung dessen, was stetig, kontinuierlich gegeben erscheint. Die Spontaneitäten des Sich-Zuwendens, Durchlaufens etc. ermöglichen die Erfassung des einen, aber s ie kon s ti tui eren ni cht einen neuen, sondern sie durchlaufen nur den einen und denselben Gegenstand, der schon immer vorgegeben war. Die eigentlich schöpferischen Akte, die Verstandesakte, konstituieren auf dem Grund von Vorgegebenheiten neue Gegenständlichkeiten; in der prädikativen Synthese erzeugt sich die auf sie gerichtete lebendige Meinung und erzeugt sich spontan, schöpferisch. Wir sind rezeptiv hinsichtlich der Grundlagen dieser Akte, aber wir sind aktiv hinsichtlich der Konstitution der Verstandesobjekte. Es ist kein „Auffassen“, sondern Auffassung ist etwas uns passiv Zukommendes, etwas uns Befallendes. Wir haben eben die Erscheinung, und wechselt die Auffassungsweise, so springt Erscheinung in Erscheinung um. Spontaneität heißt aber nicht W illkür lichkeit. Wir können ja willkürlich Dinge gestalten, wir können auch willkürlich unter Umständen zweideutige Erscheinungen in der einen und anderen Weise vollziehen etc., aber es ist ein freies Gestalten, ein Konstituieren von neuartigen Gegenständlichkeiten, bei denen hdiei Gegebenheit der „Wahrnehmung“ nur in dieser Lebendigkeit der Aktivität bestehen kann und nicht vorher bestehen kann in einer unlebendigen Gegebenheitsform. Aufrichtig gesagt, bin ich mit all diesen Beschreibungen noch lange nicht zufrieden. Klar ist nur eins: Die Sphäre der Verstandesakte ist eine wesentlich neue gegenüber der Sphäre der Funktionen bloßen
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Erscheinens, ebenso wie diese eine wesentlich neue ist gegenüber der Sphäre der bloß primären Inhalte. Es ist auch klar, dass das bloße äußere und innere Wahrnehmen und die gleichstehenden Akte der klaren und dunklen „Vorstellung“ (Anschauung etc.) schon die verschiedenen Modi des belief und, wie wir sehen, auch die des Annehmens und Darauf-Hinsetzens haben und dass die bloße Zuwendung, die hier als Aufmerksamkeit auftritt, zwar „belebt“, aber noch nicht ein Modus der höheren Verstandessphäre ist. Das bloße Erfassen ist noch nicht Synthesis. Es ist die schlichte Thesis. Das Allgemeine allen Zuwendens bzw. Zugewendetseins ist der Modus des „Lebens“, der Belebung der Funktion bzw. der von dem Strahl der Aktivität beseelten Auffassungsfunktion – mag übrigens Erfassung als Seinssetzung vollzogen sein oder hypothetische Setzung etc. Ich lebe in der schlichten Wahrnehmung, ich sehe das Ding, ich lebe in der Explikation des „schwer“, wobei ich mir das Ding etwa gehoben „denke“ und wuchtig auf die Hand drückend etc. Auf das Ding bin ich hingewendet in diesen hypothetischen Veränderungsweisen etc. In der Urteilssynthese aber vollziehe ich formende Synthesen, Subjektformung, Beziehung des Prädikats auf das Subjekt etc. Sofern ich in all dem lebe, bin ich mit dem Sachverhalt „beschäftigt“. Er ist mein Gegenstand, aber nicht in der Weise schlichter Zuwendung oder der kontinuierlichen Einheit einer Auffassung. Ich kann auch sagen, ich bin dem Sachverhalt zugewendet, aber es ist nicht so, als ob ich einem Vorgegebenen zugewendet wäre, das mir schon vor der Zuwendung „erscheinen“ könnte. Freilich, einem auftauchenden Gedanken, Urteilsgedanken kann ich mich nachträglich zuwenden. Aber das ist kein aktives, vollziehendes Denken. Das alles ist noch nicht genug durchgearbeitet, diese verschiedenen Zuwendungen, diese verschiedenen Arten, wie Objekte eigentlich und nicht eigentlich konstituiert, gegeben und nicht gegeben etc. sind. Man muss wohl sagen: Das Urteil wird „gefällt“, vollzogen. Ist es richtig, auch bei der Auffassung von einem Vollziehen zu sprechen? Nein, sie ist einfach da, ich habe die Erscheinung. Ich habe nicht das Urteil, ic h ur tei le, ich vollziehe ein Subjizieren, Prädizieren. Im Urteilsvollzug bin ich mir des Sachverhalts bewusst, bin ich mit ihm beschäftigt, aber nicht so, als ob er voraus konstituiert wäre und ich mich ihm bloß zuwendete. Allerdings: Nachdem ich geurteilt habe,
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sinkt das Urteilserlebnis zurück, ich kann mich nun dem Geurteilten, dem schon Konstituierten, konstituiert Gewesenen zuwenden. Aber das ist kein vollziehendes Urteilen. Das originäre Bewusstsein vom Sachverhalt ist aber das aktive, das Urteilsfällen. Das Zurückwenden zu dem Geurteilten ist schon eine sekundäre Modifikation. Ich bedarf ihrer freilich für neue Urteilsbildungen, wie z. B. „daraus folgt“, aber dann ist das neue Urteilen als vollziehendes und in seinem Vollzug fundiert in dem modifizierten früheren Urteil, in seinem VollzogenHaben, dann aber nicht mehr Vollzogen-Sein. Erst muss ich ein Urteil etabliert haben, dann kann ich darauf „hinsehen“ und daraufhin neue Urteile vollziehen. Das originäre Bewusstsein vom Ding verliert aber nicht die Originarität, wenn ich mich einem anderen zuwende, und es verdankt nicht die Originarität dem Aufmerken etc. Aus den vorstehenden Ausführungen ist zu lernen, dass wir die „Funktionen“, die Erscheinungen konstituieren, grundwesentlich unterscheiden müssen von den eigentlichen aktiven (spontanen) Verstandesfunktionen; die einen sind die Funktionen der niederen „Synthesis“, die anderen die Funktionen der höheren, der logischen Synthesis. Kant, wo er von Synthesis spricht, hat wohl gerade die niederen Funktionen (Synthesis der Einbildungskraft) im Auge, in der höheren Stufe spricht er von analytischer Einheit. Diese setzt jene voraus. Jene erscheint ihm als die eigentlich schöpferische: eben weil diese nur auseinanderlegt, was jene „unbewusst“ geschaffen. Indessen, wenn wir von „schöpferisch“ sprechen, so meinen wir das schöpferische Konstituieren, das in der Spontaneität als solcher liegt, während die niedere Synthesis nicht schöpferisch ist, insofern, als die Erscheinung einfach etwas Gehabtes ist und wir keine Fragen haben, wie Einbildungskraft aus Empfindung Erscheinung „mache“. Sie macht gar nichts, sofern sie Rezeptivität ist. Psychologisch und phänomenologisch-genetisch mag man von Produzieren sprechen, phänomenologisch-statisch kann man nur die Komponenten der Erscheinung und sie selbst ihrem Wesen nach analysieren. Phänomenologisch-statisch finden wir aber den Wesensunterschied vor zwischen Auffassung und logisch verknüpfender Funktion, von logisch mannigfach formender. Wir dürfen, wie aus den obigen Darstellungen hervorgeht, das B eleben, das vonstatten geht, wenn der Strahl der Aufmerksamkeit in einem Empfinden oder Auffassen lebt oder dahinein sich lebt,
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wenn er vordem darin nicht war, nicht auf eine Stufe stellen mit dem Leben der formenden, von sich aus konstituierenden Spontaneität des logischen Verstandes.1 Die Aktivität des spontanen Denkens kann in Unlebendigkeit zurücksinken, das sagt hier, der Denkakt, der vollzogen war, hat sich verwandelt in einen unlebendigen, erstorbenen Denkakt, der nun kein vollziehendes Denken mehr ist, aber in ein wiedervollziehendes zu verwandeln ist. Dieser Unterschied von Vollzug und ers t orbener Akti vi tät des Nichtvollzugs, die r eaktivier bar is t, i st ei n wesentlich anderer als der Unters c hied z wis chen aufm erkendem, aktiv setzendem A uffas s en und ni cht- set zendem. Freilich ist immer wieder zu überlegen, ob nicht ein Gemeinsames übrig bleibt, ob also, wie wir das vollziehende Denken in gewissem Sinn ursprünglicher nennen als das nicht-vollziehende, so wir das setzende Auffassen als das ursprünglichere ansehen müssen gegenüber dem nicht-setzenden. Das Setzen wäre die Aktivierung des beliefMoments und ähnlicher Momente, und das scheint sich ja gut anzulassen. Oder noch besser: Die ganze Auffassung gewinnt Leben und verliert Leben, und das betrifft natürlich vor allem auch den Modus des Bewusstseins (die Modalitäten). Richtig ist jedenfalls auch, was ich in anderen Manuskripten auszuführen suchte, dass dem synthetischen Akt, dem logisch vollzogenen, gegenübersteht der unvollzogene, der durch den Strahl der Zuwendung, den er jetzt zulässt, keineswegs zum vollzogenen wird. Jeder Verstandesakt lässt eine Modifikation zu in eine bloße „Vorstellung“, in dem Sinn, dass Vorstellung ein Akt schlichter Zuwendung, Erfassung ist. Das Urteil ist synthetische Erfassung, die nominale Setzung setzt schlicht, genau so, wie eine Anschauungssetzung schlicht setzt (cf. Logische Untersuchungen). In der synthetischen „Erfassung“ erfasse ich aber eigentlich nicht den Sachverhalt, das tue ich in der nachkommenden einstrahligen Erfassung.
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Das ist wesenhaft eine Genese.
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h§ 2. Theoretische Zuwendung und Gemütszuwendungi
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4) Wir sprachen bisher von der theoretischen Verstandessphäre, der logischen, und von den niederen Verstandesfunktionen, den Funktionen der empirischen Auffassung. Gehen wir jetzt in die parallelen Gebiete über. Die Zuwendung, schlichte Erfassung, Setzung, von der wir bisher sprachen, sei es die auf sinnlich Erscheinendes bezogene, sei es auf Vorstellung im kategorialen Gebiet (nominale Vorstellung von Sachverhalten etc.), war Seinserfassung, Seinssetzung. Aufmerksamkeit heißt hier im Wesentlichen dasselbe (eventuell mit Hinzunahme der Modifikationen). W ir ver suc hen nu n, den Aufbau der wertenden und pr aktis c hen Vernunf t genau anal og anzusehen. Dem empfundenen primären Inhalt entspricht dann das „sinnliche“ Gefühl, dem sinnlich primären Empfinden das Gefühlsempfinden; dem Auffassen als ein Ding (Gebiet der Empfindungsfunktionen) das Auffassen von empirischen Werten, das Gebiet der unteren, der „empirischen“ Gemütsfunktionen. Entspricht nun der schlichten Thes is der theoret is chen Zuwen dung eine schlichte Thesis der Gemüts zuwendung, dem schlichten Hinsehen, Hinmerken ein schlichtes Hinfühlen, ein schlichtes Hinbegehren und Wollen? Das Gefühlsempfinden ist fundiert im primären Empfinden, im Empfinden sinnlicher Inhalte, das empirische Werten in einem empirischen Auffassen. Ist das Im-Gefühl-sich-Zuwenden, das Im-Gefühl„Fassen“, fundiert in einem „verstandesmäßigen“ (in einem weiteren Sinn verstandesmäßigen) Erfassen (einem Seinssetzen bzw. seinen Modifikationen)? Und ist dann weiter die höhere Vernunftfunktion des Gem üts fund i ert i n der höheren Vernunftfunktion des Ver s tandes (der logischen)? Das sind sich aufdrängende Fragen. So wie das nicht-setzende und setzende empirische Auffassen von einer Gattung sind und hbeidei wieder in einer Gattung sind mit dem logischen Urteilsverknüpfen und -formen, so würde das Sichim-Gefühl-Zuwenden ein Gefühlsleben sein, das nicht einen neuartigen Akt hinzubrächte zum Fühlen, das keine Zuwendung enthält, und wieder wäre von derselben Gattung das Fühlen der Verstandesstufe. Wir hätten eben überall die niedere Stufe (Rezeptivität)
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und die höhere (Spontaneität), nur dass in den neuen Gebieten alles in dem primären Gebiet, dem seinskonstituierenden, fundiert wäre. Ich habe also z. B. eine Empfindung und wende mich dem Empfindungsinhalt zu, einem primären Inhalt wie etwa einem Ton. Er ist angenehm, sinnlich angenehm, er gefällt mir, ich lebe im Gefallen, bin im Gefallen dem Ton zugewendet. Ich sehe eine schöne alte Geige, ich vollziehe das Anschauen, lebe im Anschauen, ich sehe sie mir an. Aber das empirische Dingauffassen fundiert ein Wertauffassen, ein empirisches Werten. In diesem lebe ich, ich habe Wohlgefallen an der Sache, bin ihr im Wohlgefallen zugewendet. Die Zuwendung ist eine anschauende Zuwendung, sie ist aber vermöge der Fundierung zugleich gefallende Zuwendung. Nun kann sich aber ein Seinssetzen nicht nur richten auf die Geige, sondern auch auf die Gefälligkeit, auf das Wertprädikat. Und da liegt nun der Haken. Da zeigt sich doch das Unzureichende der versuchten Theorie. Entweder wir t renn en das theoreti sche Sich-Zuwenden, das E rfass en, Denk- Setzen von de m empirischen Dingauffas s en, fassen es ni cht als einen bloßen Modus desselben, sondern als einen eigenen St ra hl der Akti vi tät, der zum h Dingi auffas s en keine bes ondere Affi ni tät hat, sondern auch zum Gemütsauffassen sich gesellen, in es hineinleuchten, aus ihm entnehmen kann, und in gleicher Weise. Jeder Akt, so würde man dann s agen, voll zieht ei n spontanes oder nicht-spontanes „ A uffas s en “, und i n j edes Auffassen kann ein Erfassen eintr eten, ei n Str ahl der Zuwendung bzw. Entnehmung kann sich zugesellen. Und ist es ein synthetischer Akt, so kann (wenn er nicht von vornherein theoretischer Akt ist, der in jedem Schritt theoretischer, eben setzender, erfassender ist) parallel mit den Aktschritten ein Erfassen statthaben, ein Hinsehen auf das in diesem Akt synthetisch zur „Apperzeption“, zur Konstitution Kommende. So etwa, wenn ich mir den bewussten Ausdruck eines Fragens oder Wünschens so deute: S möge p sein – ich sehe auf die Wunschform hin, sehe auf das „möge“ hin und drücke es aus; dieses Ausdrücken fordere das „Hinsehen“, das ein Erfassen sei. Und wie ich theoretisch hinsehen kann, kann ich dann weitere Funktionen des Verstandes vollziehen: Das ist gefällig, dass S p sei, hesi ist zu wünschen, es möge sein (prädikativ) etc.
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Oder wir geben die Parallelität zwischen Gemütszuwendung und theoretischer Zuwendung auf und ebenso weiter zwischen theoretischem Verstand und emotionalem Verstand und praktischer Vernunft.
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h§ 3. Zuwendung als Modus der Lebendigkeit, Erfassung und Denksetzung. Die Konstitution empirischer und axiologischer Abhängigkeiteni
hInhalt:i Die Grundschwierigkeit. Eine Gemütsapperzeption: Gemütsakte objektivieren, fungieren als „Erscheinungen“, und diese ha10 ben wie alle Erscheinungen Modi der „Setzung“, modale Unterschiede. Scheiden wir: 1) Glaube als Denksetzung;1 2) verborgener „Glaube“ (Denksetzung), der gar kein Glaube ist, als Modus der ursprünglichen Aktualität. A priori entspricht jeder ursprünglichen Aktualität eine 15 Möglichkeit der Denksetzung, eines Entnehmens, Subjektsetzens etc. Denksetzung ist dabei immer gebunden an Vorgegebenheit, an zugrunde liegende „Auffassung“, an zugrunde liegende Akte, denen sie entnimmt. Wenn wir dazunehmen, dass jeder Akt (und im Grund sagt das „Akt“ selbst) als Bewusstsein-von Substrat möglicher 20 Denksetzung sein kann, also auch der Denkakt selbst in seiner vollen Konkretion, da er ein neues Bewusstsein-von herstellt, wo immer er eine Denksynthesis ist, so kann dann Denken sich wieder auf Denken als Substrat begründen usw. Und das stimmt auch. Ist damit ausges chl ossen, dass das empirische Dingauffassen, 25 das Haben einer Dingerscheinung, nicht selbst ein Denken sei, ein verworrenes Denken, das in der Zuwendung übergeht in den Modus der Klarheit? Mindestens ein niederer Modus, eine niedere Stufe des Denkens, etwas gattungsmäßig mit Denken Verwandtes?2
1 „als“ verändert in „und“; dazu die Bemerkung: „Ich sagte ‚Glaube als Denksetzung‘: Gewöhnlich werden ja Glaube und Denken identifiziert: Das ist aber sehr gefährlich.“ – Anm. der Hrsg. 2 Es zeigt sich, dass diese Frage zu bejahen ist.
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Das zunächst ist ausgeschlossen, dass das seinserfassende SichZuwenden nichts anderes sei als die Wiederaktualisierung eines dunklen Denkens: etwa so, wie ein Urteil, eine Überzeugung, aus dem Dunkel emportaucht und dann von neuem vollzogen wird. Wir sind im Neuvollzug dem Sachverhalt (schrittweise, in seinem SichAufbauen) zugewendet; im sich „regenden“ Gedanken fehlt die Zuwendung zu den Sachen. Man muss ja schon bei diesem Fall unterscheiden die schlichte Zuwendung zu dem auftauchenden Gedanken (Gedachten) und die Erneuerung des Vollzugs. Reaktivierung eines Gemütsaktes ist doch nicht die Zuwendung zu dem in ihm konstituierten Gegenstand, nicht seine Erfassung – wenn wir Erfassung als eine Seinssetzung mit Zuwendung identifizieren! Müssen wir aber nicht sagen: Jeder Akt hat seinen Modus der Lebendigkeit (= Zuwendung) und seinen hModusi der Unlebendigkeit (Hintergrund). I m l ebendi g vol lzogenen Akt sind wir dem Gegenst ändli chen, das er konstituiert, zugewendet: Wir leben eben im Bewusstsein, das in seiner Weise Bewusstsein„von“ ist; also j edes l ebendi ge Bewusstsein ist in seiner B ew us s ts einsar t Zu wendung. Lebendiges Anschauen (Anschauen, in dem ich lebe) ist anschauende Zuwendung; lebendiges Fühlen, Werten ist fühlende, wertende Zuwendung; lebendiges Begehren und Wollen ist begehrende Zuwendung usw. Jedes lebendige Bewusstsein kann aber Substrat einer Denksetzung sein; und dann ist einmal das Angeschaute, das Ding, Denksubjekt, das andere Mal ist das Gefällige Denksubjekt, und dieses, wenn es ein Dinggefallendes ist, hat unter seinen Prädikaten die Gefälligkeit, und das Denken kann dieses Prädikat vom Ding aussagen, das Prädikat kann im Subjekt gefunden und gesetzt werden. Die ideale Möglichkeit der Denksetzung, der prädikativen, macht es, dass jeder Akt Bewusstsein von einem Gegenstand heißt, denn der Gegenstand ist eigentlich erst „Gegenstand“ im Denken, nur da ist er Seiendes (wenn wir Gegenstand Seiendes nennen), das ist und so und so beschaffen ist. Andererseits, jeder Akt als Bewusstsein-von ist „Erscheinung“ im weitesten Sinn von Gegenständlichem, der Akt gibt den Gegenstand, der Akt ist die Vor-Gegebenheit des Gegenstandes, die zu eigentlichster Gegebenheit im Denken wird. Insbesondere aber heißen gebende hAktei die Anschauungen, wobei die Frage ist, wie der Begriff der
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Anschauung zu erweitern ist über die sinnliche Sphäre, über die Sphäre der primären Inhalte und der erscheinenden Dinglichkeiten. Jeder Akt als konkretes Ganze genommen ist mögliches Substrat: Der Denkakt, in dem das Denksubjekt, in dem überhaupt die Denkobjekte im spezifischen Sinn (die „Worüber“) vergegenständlicht sind, konstituiert als Ganzes einen neuen Gegenstand, der in einem neuen Denken zum Worüber werden kann usw. Fassen wir die Sache so, dann tritt das Denken aus der Reihe der Akte durch besondere Funktion heraus, während es als Akt doch wieder in sie hineingehört (womit zugleich die Rückbezüglichkeit des Denkens auf sich selbst zusammenhängt). Scharf geschieden haben sich uns die Zuwendung, die hdiei Lebendigkeit in der Sphäre jedes Aktes ist, jeder Aktartung, und die Denksetzung. Bleibt aber jetzt noch etwas von hderi Analogie übrig zwischen Denkakten und Gemütsakten, Willensakten? Wir müssen Zuwendung als das Allgemeinere unterscheiden von der s chlichten Thesi s der Erfassung, wie sie z. B. hervortritt im auswählenden Zusammenfassen, Kolligieren. Wir können innerhalb einer Mehrheit von lebendigen Anschauungen, deren Gegenständen wir aufmerksam (bemerksam) zugewendet sind, in einem Griff zwei Gegenstände ergreifen oder auch einen Gegenstand, der nun ein Dies ist. Ebenso können wir, wo uns mehreres gefällt, ein Gefallen auf A und B richten, ebenso eine Einheit der Willenssetzung, einer Sollenssetzung, die in eins A und B als Seinsollendes setzt. Das ist etwas anderes, als A und B kollektiv erfassen und dabei Lust an A und Lust an B haben etc. Ich kann annehmen, es sei A; ich kann A annehmend setzen und daraufhin steht B als Folge da, und nun gefällt B, aber unter Annahme, in der Weise der Freude. Es gefällt in der Weise „unter Voraussetzung, dass B ist“, nicht in der Weise „Ich freue mich“, sondern „Ich würde mich freuen“. Ebenso, dass A sei, das wäre erfreulich um des daran geknüpften Erfreulichen (das erfreulich sein würde) willen. Das mag als Beispiel dienen. Das wäre also zu studieren. Ich sehe ein Ding, ich habe die Anschauung: Das Ding sieht „schwer“ aus. So geartet ist diese Anschauung, dass ich daran knüpfen kann ein annehmendes Vorstellen, ein annehmendes Überführen der Anschauung und Erfassung des Dinges in Phantasiemodifikationen des Inhalts: Wenn ich das Ding da heben würde, so würde
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ich einen großen Druck empfinden; wenn das Ding geworfen würde, würde es die und die Dinge zertrümmern etc. Das sind empirische Abhängigkeiten, die hier intuitiv zu Bewusstsein kommen, Abhängigkeiten in der dinglichen Seinssphäre, Abhängigkeiten zwischen „Ursache“ und „Wirkung“, zwischen Vorgang am Ding und Folgen desselben als Vorgang gerade an diesem real so beschaffenen Ding, oder zwischen Vorgang in der Annahme und Vorgang in der Folge unter Annahme. Wir haben aber auch Abhängi gkei ten in Hinsicht auf Wertbes timmthei ten, in Bezug auf axiologische Prädikate von Dingen, Personen, Sachverhalten etc. Gesetzt, dass das Ding so und so gefärbt würde, dann würde es schön sein. Gesetzt, die Engländer würden zum Krieg übergehen, so würde das traurig sein. Gesetzt, dass das und das einträte, dann müsste das getan werden, dann müsste das geschehen, dann müsste eins von beiden geschehen, dann wäre eins von beiden erfreulich etc., das eine, wenn das wäre, das andere, wenn das wäre usf. W ir finden al so Anal ogi en, aber sind es bloße Analogien? Hypothetische Seinszusammenhänge, Zusammenhänge realer Veränderung, wie konstituieren sie sich? Sie konstituieren sich in den Dingauffassungen und deren Zusammenhängen: So geartet ist die Auffassung von A und die von B und ihre Verbindung, dass die Auffassung der Veränderung von A eine Einheit des Bewusstseins mit der Veränderung von B zeigt, charakterisiert dadurch, dass die Veränderung von B als „notwendige Folge“ erscheint. Das schon vor der Prädikation: So wie in der Setzung des Zusammen A und B als zusammenseiend bewusst sind (etwa real als zugleich seiend), ehe noch eine Prädikation der Gleichzeitigkeit statthat, die aber in diesem Einheitsbewusstsein ihre Unterlage hat (beziehend sage ich dann aus, eben Beziehung „herstellend“: A ist zugleich mit B oder B zugleich mit A), so ist das bloße Nacheinander eine ebensolche Einheit und dann aber auch das „infolge“ (Eintreten infolge davon). Das konstituiert sich durch eine eigene Einheit des Bewusstseins, d. i. durch eine eigene Form der Auffassung höherer Stufe. Und erst nachher mag Explikation und Prädikation eintreten, und ich bilde: Wenn A sich so und so verändert, verändert sich notwendig, verändert sich infolge davon B so und so. Das gilt für eigentlich kausale Zusammenhänge, aber auch für die räumlichen. Die Auffassung ei-
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nes Dinges ist eine solche, die das Ding im Raumzusammenhang erscheinen lässt. Zu ihrem Wesen gehört, dass, wenn die Raumform sich ändert, diese Änderungen an die Gesetze der Geometrie gebunden sind. Das ist aber ein logischer Ausdruck. Zum Wesen des Raumerscheinenden als solchen gehören gewisse Notwendigkeiten des Zusammenseins und die dadurch bestimmten Abhängigkeiten, Notwendigkeiten der möglichen Veränderung, und sofern jedes dinglich Reale zunächst räumlich Geformtes ist, gehören diese Notwendigkeiten zu ihm. Dabei ist noch zu sagen: Ich habe die „Auffassung“ der Gleichzeitigkeit, die Anschauung davon, wenn ich kollektiv das Gleichzeitige in seinem Zusammendauern erfasse – vor der Explikation und Prädikation. Diese setzt solches „zusammen“ voraus. Ebenso, ich habe die „Anschauung“ der kausalen Abhängigkeit, wenn ich A erfasse und B erfasse und dieses im Charakter des „infolge“ ablaufen sehe. Im Übergang von A zu B finde ich an B diesen Charakter, ohne dass ich aber schon ein Relationsurteil (eine relationelle Synthese) bilde: B ist die Wirkung, A ist die Ursache. Jeder anschaulichen Relation gehört solch ein Übergangsbewusstsein zu als Fundament für eine Relationsprädikation. Gehen wir nun zu den axi ol ogi schen Auffassungen über.1 Auch da finden wir natürlich relativ „schlichte“ axiologische Auffassungen und Einheiten solcher Auffassungen in Verbindung mit und fundiert in schlichten sinnlichen (dinglichen) Auffassungen. Ich betrachte A, B, C – aber eine Einheit der Betrachtung umspannt das alles in eins und schließt anderes aus. Ebenso, ich freue mich an A, B, C – eine Einheit der Freude geht auf das Gesamte (wie z. B., wenn ich einer interessanten Disputation folge). Ich freue mich an A um des B willen. Ich freue mich am schönen Gedanken und gehe über zur Person, die ihn äußert, und sie hat den Charakter der Schönheit, des Wertvollen und des Wertvollen infolge, mit Beziehung auf … Das kommt dann zur prädikativen Synthese und zur Aussage in einem beziehenden Urteil. A xiologis che Akt e bauen si ch aber auch auf Denkakte. Ich weiß, dass A B sein wird, ich höre es. Und nun denke ich, dass,
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Hier heißt jeder Akt „Auffassung“.
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wenn A B ist, C D sein muss. C D! Das ist erfreulich. Nun freue ich mich, dass A B sein wird. Überhaupt entsprechen den unprädikativ fundierten axiologischen Akten die prädikativ fundierten. Ich drücke aus, ich prädiziere, was ich vordem hatte: Wenn A B sein würde, so 5 wäre es schön; das „A ist B!“ steht als Schönes da, wenn A B aufgefasst ist und als Gefallendes dasteht etc. Die Freude, das Werten geht auf die erfreuliche Sachlage, und die ist gesetzt durch das Medium des Satzes; nicht auf den Satz kommt es an, der ist nicht das Objekt der Freude, sondern die Sachl age sel bst, und dabei wieder auf die 10 erfreuliche Sachlage als solche: Es kommt nur auf die Bestimmung an, die Trägerin des Gefallens ist. W or in s oll nu n di e Anal ogi e zwi schen Denkakten und axiologis c hen Akt en bestehen? Eine Analogie, die wohl zugleich die zwischen wahr (seiend), schön, gut sein soll?
h§ 4.i Gefühlssinnlichkeit und Intentionalität1
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Die tiefstliegende Intentionalität liegt im inneren Bewusstsein, dem die Einheit im immanenten Zeitfluss konstituierenden; darin konstituiert sich also das einheitliche, dauernde, entstehende und vergehende Erlebnis, z. B. das Erlebnis der im engeren Sinn sinnlichen 20 Empfindung (die Einheit des primären Inhalts). Wie steht es nun mit dem sinnlichen Gefühl? Ein Gefühl kann sich als reine Zuständlichkeit anknüpfen an einen dauernden Ton, und zwar rein seinem Inhalt nach, unabhängig von der eventuellen Apprehension, in die er verflochten ist; ebenso an eine Farbe, 25 aber nicht als Gegenstandsfarbe, sondern als reiner Inhalt (Farbe gerade so, wie sie jetzt erscheint). Die immanente Zeiteinheit dieses Gefühls konstituiert sich im inneren Bewusstsein. Es ist offenbar, dass die Bezogenheit des Gefühls auf den immanenten primären Inhalt zugleich besagt eine Einheit des Gefühls mit dem Inhalt im 30 inneren Bewusstsein; sie bilden zusammen die Einheit eines immanenten Erlebnisses, das sich im inneren Bewusstsein so konstituiert, dass sich die inneren Konstituentien des primären Inhalts und des
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Gefühls im inneren Zeitbewusstsein decken, nämlich dass sich die Erlebniseinheit konstituiert durch stetige Einheit der beiderseitigen Konstituentien (jede konstituierende Gefühlskomponente ist Gefühl an einer bestimmten Inhaltskomponente). Geht das Gefühl auf ein Ding, das in einer Erscheinungskontinuität bewusst ist – sagen wir der Einfachheit halber, es läge eine unveränderte Erscheinung als zuständliches Erlebnis zugrunde –, dann vereint sich jede Gefühlskomponente (jedes immanente Konstituens des Gefühls im inneren Bewusstsein) mit einem bestimmten Konstituens der einheitlichen Erscheinung. Jeder Augenblick (jeder im inneren Bewusstsein konstituierte) ist Erscheinungsaugenblick und Gefühlsaugenblick zugleich. Und die Konstituentien des Augenblicks, die zu dem Gefühlsaugenblick und Erscheinungsaugenblick gehören, müssen sich decken. Aber das Gefühl richtet sich auf das erscheinende Ding und vielleicht gar nicht hinsichtlich seiner Farbe etc. Das Gefühl kann Gefühl an der Erscheinung selbst sein im Gegensatz dazu, dass sie als andere Möglichkeit Gefühl am erscheinenden Ding ist. Im ersteren Fall ist es genau so, wie wenn das Gefühl Gefühl an einem primären Inhalt ist. (Im weiteren Sinn sind primäre Inhalte Empfundenheiten, aber ebenso alle Erlebnisse als Einheiten des inneren Bewusstseins.) Wie klärt sich dieser Unterschied auf? Das ist natürlich eine Sache von fundamentaler Bedeutung. Der primäre Inhalt, die sinnliche Empfindung, hat Einheit im inneren Bewusstsein, und dieses hat Intentionalität, nicht aber die sinnliche Empfindung als konstituierte Einheit. Das primäre Gefühl ist das dem primären Inhalt unmittelbar zugehörige, und dieses hat ebenfalls keine Intentionalität. Der nicht-intentionale primäre Inhalt erfährt eine Auffassung, er wird zur intentionalen Erscheinung, einer Zuständlichkeit, aber einer Intentionalität der theoretischen Sphäre. Ebenso erfährt das primäre Gefühl eine „Gefühlsauffassung“, es wird zum intentionalen Gefühl, das in der sinnlich-theoretischen Erscheinung fundiert ist und eine Erscheinung höherer Stufe möglich macht: sozusagen die Gefühlserscheinung. Die Auffassung besteht in der unteren Stufe aus theoretischen „intentionalen Strahlen“, aus dem, was im Spiel theoretischer Motivationen steht, was sich mit anderem seiner Art zur Einstimmigkeit verbindet, was einstimmige Erfüllung oder widerstimmige Aufhebung erfahren kann usw.
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Die Gefühlsauffassung besteht ebenso aus emotionalen „intentionalen Strahlen“ und Strahlenkomplexen, fundiert durch die unterliegenden, eine Einheit theoretischer Erscheinung bildenden Strahlenkomplexe. Intentionalitäten haben ihre eigene Weise sich zu vereinen, sich zu „decken“, miteinander einheitlich zu verschmelzen, und dabei kann ein Teil der theoretischen Strahlen ungedeckt bleiben. Allerdings ist die Frage, ob schon in der zuständlichen Sphäre der Gefühlsübertragung Rechnung getragen ist, ob schon da neben der bestimmt fundierten (speziell auf Färbung, Gestalt und dgl. gerichteten) Gefühlsintentionalität noch eine übertragene zu unterscheiden ist: Die ganze Erscheinung nach ihrem ganzen Gehalt trägt Gefühl und intentionales Gefühl, aber nur gewisse ihrer konstituierenden Intentionen haben die Auszeichnung, dass die Gefühlsintentionalität auf ihre Gegenständlichkeit „speziell“ geht. Doch kommt hmani hierbei ins Gedränge mit den Fällen, wo in Hinsicht auf gewisse Komponenten des Erscheinenden ein positives, in Bezug auf andere ein negatives Gefühl ursprünglich zuständlich vorhanden ist. Hier ist überhaupt vieles zu studieren. Nun erhebt sich aber natürlich die Frage: Ist, wie die theoretische Erscheinung intentionale Auffassung eines primären Inhalts ist, auch die Gefühlserscheinung hinsichtlich ihrer Gefühlsseite intentionale „Auffassung“ eines primären Gefühls? Wir bewegen uns hier durchaus in der ursprünglich-sinnlichen Sphäre, in der Sphäre der ursprünglichen Zuständlichkeiten, und halten wir das im Auge, dann wird wohl gesagt werden müssen, dass primäre Gefühle der Gefühlsintentionalität notwendig zugrunde liegen müssen, nämlich solche, die in der primären Sphäre einig sind mit den primären Inhalten. Indem der Komplex primärer Inhalte gemäß seinen doppelten „Repräsentanten“ eine doppelte Intentionalität trägt, ist diese so einig, dass einheitlich die Gefühlsgegenständlichkeit erscheint, und nun kann der Blick der Zuwendung einmal durch die gründende hSchichti gehen und gerichtet sein auf den erscheinenden theoretischen Gegenstand, oder auf das Begründete, das Neue, gehen und, gerichtet auf den Gefühlscharakter, auch in eins nehmen das Ganze, oder eins auf das andere, das Gefühlsprädikat auf das Ding beziehen. Vielleicht muss man aber sagen, dass es im Wesen der theoretischen Zuwendung liegt, dass sie in einem Strahl eigentlich nur durch eine Schicht gehen kann. Was ernstlich durchzudenken ist.
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Ebenso wie mit den emotionalen primären Inhalten und Apprehensionen muss es sich verhalten mit den primären Triebinhalten und ihren Apprehensionen. Was wäre da exemplarisch anzuführen? Nun, etwa der Trieb, der auf die Forterhaltung eines angenehmen Tones, 5 eines angenehmen Geschmacks etc. „gerichtet“ ist. Und ebenso das Widerstreben dem Unangenehmen. Aber hier wird man sofort den Einwand erheben, dass sei schon Intentionalität, es bestehe ja eine Richtung-auf, die strebende Intention erfülle sich, finde Befriedigung oder Missbefriedigung.1
1 Fortsetzung in Ax etc. h= VI. Gefühlsbewusstsein – Bewusstsein von Gefühlen. Gefühl als Akt und als Zustand (S. 143)i.
IV. DIE ARTEN DER GEMÜTSINTENTIONALITÄT1
h§ 1. Ding- und Wertapperzeption. Gefühls-, Begehrungs- und Willenseigenschaften als objektive, apperzipierte Eigenschafteni 5
hInhalt:i 1) Werten, Wertapperzeption, Wertvermeinung und eventuell Werterfassung. 2) Akte, die „auf Werte gerichtet“ sind oder vielmehr, die gegen Werte oder Unwerte reagieren. Die Liebe und Begeisterung, die auf ein als Wert Dastehendes gerichtet ist, mit der ich, mit der mein Gemüt auf ein Wertsein reagiert.
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Auf „Werte“ gerichtet sein, was kann das sagen? Etwas Schönes steht mir vor Augen. Ich kann es sehen und als Schönes finden, ohne dass ich mich daran freute, ohne dass ich in Erregung käme, entzückt wäre, ohne dass ich genösse, mich dem Schönen hingäbe etc. (Ich lasse offen, ob das Ausdrücke für dasselbe oder wesentlich dasselbe sind oder nicht.) Aber ich habe nicht bloß die Wahrnehmung des Objekts, sondern auch die „Wertung“, sofern ich Wertapperzeption vollziehe. Was das ist, habe ich vor einigen Jahren genau studiert und dabei gleichgeordnet: das D ingauffassen, das Wahrnehmen (Wahrnehmungserscheinung mit oder ohne Zuwendung), und das Dingwertauffassen, und so überhaupt das transzendierende „Auffassen“ hundi das Wertapp erzipiere n; ebenso wie parallel gehen primäre Empfindun g und Gef ühlsem pfindung. Es ist offenbar, dass die Freude über das Schöne, die Begeisterung, die es erregt, nicht Freude ist am bloßen Sein des Objekts, sondern Freude am Sein des Wertobjekts. Wir haben hier eine Spontaneität der Zuwendung des Gemüts, die fundiert ist in einer Rezeptivität des bloßen Wertbewusstseins. Ebenso kann ich mit Entzücken ein
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© Springer Nature Switzerland AG 2020 97 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3_4
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„Bild“ betrachten, nicht mit Freude am Dasein des Marktobjekts Bild, sondern hmiti Entzücken an der „schönen Erscheinung“. Ich kann eventuell in der Phantasie eine herrliche Gestalt „sehen“ und an dem schönen Gebilde der Phantasie, an der schönen Erscheinung mein Entzücken haben. Hier ist keine Existenzialsetzung vollzogen, aber auch hier hfindet sichi der Unterschied zwischen Rezeptivität (Phantasiebewusstsein, in dem ein Wertobjekt erscheint, nämlich eine Erscheinung, eine Quasi-Erscheinung, bewusst ist, während Existenz des erscheinenden Objekts „außer Frage“ ist, und diese Erscheinung steht als Schönes da) und darauf gebauter Spontaneität: Das Schöne entzückt. Die Wertapperzeption ist Apperzeption. Es konstituiert sich eine Objektität, es ist eine fundierte Apperzeption. Eine Unterschicht: das bloße Ding. Ich kann durch diese Unterschicht hindurch einen Strahl der Erfassung richten: Ich nehme das Ding und nur das Ding wahr, ich erfasse es. Ich kann das Ganze erfassen, der ganze Wert ist wahrgenommen. Ich kann auch durch die unselbständige Oberschicht den Strahl senden und kann vom Ding zu seinem Wertprädikat mich wenden, explikativ und prädikativ: Das Ding ist schön. Es ist eine „aufmerkende“ Zuwendung, ein geistiges Hinsehen, ein Erfassen. Es ist überall vom selben Charakter. Es ist „Wahrnehmen“, wenn ich eine Wahrnehmungserscheinung als Unterschicht habe, hundi wahrgenommen ist das Ding, das Ding mit seinem Wert. Das Wertobjekt hat Einordnung in die räumlich-zeitliche Welt: Freilich seine Wertprädikate, obschon sie dieses reale Objekt hat, gehören nicht konstitutiv zum räumlich-zeitlichen Dasein, sie sind diesem außerwesentlich. Aber das Wahrnehmen als schlichtes „Erfassen“ des RäumlichZeitlichen und das Erfassen des Räumlich-zeitlich-Wertlichen (Ding in seinem Wertcharakter) sind nicht wesentlich verschiedene Sachen. Rezeptivität weist auf Rezipieren (Akzipieren) hin und das ist immer dasselbe. Das Akzipieren selbst ist aber eine Form der Spontaneität und leitet über in Explikation, Prädikation, ins Begreifen, kurz, in die theoretische Sphäre. Für diese macht es keinen Unterschied aus, ob die Rezeptivität diejenige der Unterschicht ist, in der sich Natur konstituiert, oder eine Oberschicht, die Naturkonstitution voraussetzt. Also in der Art, wie schlichte explikative Urteile (Wahrnehmungsurteile und ihre Verwandten) zustande kommen, bestehen keine
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wesentlichen Unterschiede; solche liegen nur in den Unterlagen, die rezeptiv gegeben sind (vorgegeben). Die Sache ist offenbar eine andere, wenn hdasi Urteil sich nicht auf bloße Rezeptivität, sondern auf Spontaneität zurückbezieht. Es ist nun aber zu überlegen, wie weit die Rede von „Gefühlsapperzeption“ oder, wie ich geradezu sagte, „Wertapperzeption“ reicht und ob, was hier gesagt worden histi, wie es da steht, wirklich haltbar ist. In der Dingapperzeption haben wir keine Positivität und Negativität. Was aber die Gefühle anlangt, so sind sie positiv oder negativ. Man wird daher geneigt sein zu sagen: Positive oder negative Wertung richtet sich auf den Gegenstand oder seine Beschaffenheiten, und je nach dem Übergewicht der positiv oder negativ wertenden Gefühle wird der Gegenstand als positiv- oder negativ-wert charakterisiert sein. Wo ist da eine „Apperzeption“? Wenn ich einen Gegenstand im Durchlaufen wahrnehme, so konstituiert sich im Ablauf der mannigfaltigen Empfindungsabschattungen und Empfindungsausbreitungen in der Motivation dieser Phänomene durch die Ablaufs-„Umstände“ (nämlich durch die entsprechenden motivierenden Empfindungen) die Einheit des erscheinenden Gegenstandes, der sich in jenen Abschattungen „darstellt“ nach den und den Seiten, Momenten. Wenn nun ein Gefühl, etwa eine gewisse Lustfärbung, ihrem Lustinhalt nach bestimmt durch den Inhalt, auf den sie „geht“, an solchen Empfindungsausbreitungen hängt und wenn nun im motivierenden Ablauf der Umstände nicht nur Empfindungsabschattungen in bestimmt motivierter Weise ablaufen, sondern auch die durch sie bestimmten Gefühle, dann konstituiert sich mit dem erscheinenden Gegenstand zugleich ein objektiver Gefühls c harakt er als Beschaffenheit am Gegenstand. Genauer gesprochen: Ein bloß farbiges Phantom hat eine Schicht objektiver Gefühlscharakteristik, und es gehört zum Wesen solcher Gefühlscharakteristik, dass sie oft in die Einheit eines Gefühls zusammengeht, das als Ganzes positiv oder negativ oder indifferent ist – oft, aber nicht immer. Ein Gegenstand sieht auf der einen Seite schön gefärbt, auf der anderen Seite gleichgültig oder unschön aus. Die vagen Worte müssen aber so interpretiert werden: Eine Einheit des Gefühls gehört zu dieser oder jener Fläche oder Flächengruppierung, eine andere Einheit des Gefühls (eines indifferenten) zu einer anderen, wieder eine andere Einheit des Missfälligen zu einer dritten etc.
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Nun gehen wir vom Phantom zum realen Ding über. Neben der Konstitution der realen Eigenschaften, die zum raum-zeitlichen Ding und Dingzusammenhang gehören, haben wir da auch eine Konstitution von Wertcharakteren: Unter den und den realen Umständen geht vom Objekt ein Klang aus, der sich so und so kausal verändert mit Änderung der realen Umstände, unter gleichen Umständen der gleiche Klang hbleibti etc. Aber der Klang ist ein „schöner“, und die kausal so und so bestimmte Klangordnung – Intensität, Rhythmus usw. – fundiert ein Wohlgefallen. Oder das Ding ist ein Hammer. Wenn es unter Leitung eines Willens von einer Hand geschwungen wird etc., so können erwünschte und erstrebte Erfolge eintreten: Das Eintretende erfreut als den Willen erfüllend, es hat den Wert eines Willenszieles etc. Also, das Ding kann nicht nur als Ding apperzipiert werden, sondern auch als Subjekt von realen Eigenschaften, realen Erfolgen, als Glied realer Zusammenhänge, die gefühlsmäßig charakterisiert sind, aber auch als Subjekt von möglichen realen Erfolgen (von solchen, die real möglich sind, die unter gewissen Umständen eintreten würden etc.). Und ohne dass an diese klar und deutlich gedacht würde, kann das Ding als Subjekt möglicher oder wirklicher angenehmer Erfolge, als mögliches Mittel des Willens einen Wertcharakter haben, Wertbeschaffenheiten annehmen und unmittelbar in diesen apperzipiert sein. Ebenso hkann esi den Charakter eines Gutes, den Charakter eines Nützlichen, eines Werkzeugs, einer Lampe etc. hannehmeni. Nun ist aber zu unterscheiden: Wie die realen Eigenschaften, die ich mitapperzipiere in der Dingapperzeption, allgemein zu reden, Leerintentionen sind, deren Klärung uns auf einen „hypothetischen“ Zusammenhang der Anschauung führt (wenn das angeschlagen wird, so tönt es, hat es einen „metallischen Klang“, wenn hesi beleuchtet wird, so blitzt es glänzend etc.) und deren wirkliche Erfüllung auf kausale Zusammenhänge der Impression zurückgeht (ich schlage an – es tönt, und weil ich angeschlagen habe, tönt es etc.), so sind die Gefühlsapperzeptionen leere Gefühlsintentionen, deren Klärung auf hypothetische Gefühle, aber motivierte zurückführt: Wenn in gewisser Weise angeschlagen wird, so entsteht ein Ton, ein gefälliger; wenn ich die Anschauung des Tones habe, so habe ich auch die hypothetische Gefälligkeit; aber dass die Gefälligkeit hypothetisch
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zu dem Gegenstand gehört, das setzt die akustisch-reale Eigenschaft des möglichen Tönens bei Anschlag etc. voraus. Der Gegenstand hat neben seinen realen Eigenschaften (zu denen wesentlich hypothetische Zusammenhänge gehören) auch Gefühls-, Begehrungs-, Willenseigenschaften. Es gehört objektiv zu ihm (das liegt in der Apperzeption), unter Umständen, bei passender Änderung der realen Umstände, das Gefühl, das ästhetische Gefühl, das seinsschätzende Sich-Freuen etc., das Begehren, das Wollen so und so zu bestimmen, und das Gefühl ist dann ein inhaltlich so und so bestimmtes. Diese appherzeptiveni Eigenschaften setzen das Ding in Beziehung zu einem wertenden Subjekt, so wie die reinen Dingeigenschaften es beziehen auf ein empfindendes Subjekt. Ob sich verschiedene Subjekte dabei gleich verhalten oder nicht, ist beiderseits eine Sache, die nicht die Apperzeption selbst angeht. Wir haben nun hinzuzufügen, dass das Objekt, das da in der lebendigen Anschauung, sagen wir in einer bestimmten Wahrnehmungserscheinung und Wahrnehmung, selbst vor Augen steht, nach gewissen in die Erscheinung fallenden Momenten ein aktuelles Gefühl erregt und dass es zugleich in der Gefühlsapperzeption nach vielerlei möglichen Gefühlswirkungen apperzipiert sein kann und sein wird und dass das aktuelle Gefühl in ähnlicher Weise als Erfüllung einer Gefühlsintention, die zur gesamten Apperzeption gehört, dasteht, wie das aktuell Gesehene der erscheinenden Dingseite jeweils zugleich als Erfüllung der Gesamtapperzeption in dinglicher Hinsicht dasteht. (Alles Übrige ist bloß gemeint, bloß intendiert, dieses aber ist zugleich gemeint und Meinung erfüllend.)
h§ 2. Wertapperzeption und Gefühlsapperzeption. Die Frage nach der Intentionalität der Stimmungi Wir haben aber weiter zu sagen: Insoweit Apperzeption Apperzeption ist, und Gefühlsbeschaffenheiten und Gefühlsauffassungen Beschaffenheiten bzw. Auffassungen wie sonst sind, hesi besteht doch ein w es entli cher U nterschi ed. Man kann etwa sagen: Wertapperzeptionen sind eben Apperzeptionen. Ich kann aber einmal in der Apperzeption leben, in welcher der Gegenstand mit seinen Wertei35 genschaften konstituiert histi, das andere Mal lebe ich in der Ge30
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fühlsstellungnahme, in der Gefühlsspontaneität. Aber wie ist diese Unterscheidung zu verstehen, zu klären oder näher zu bestimmen? Ich sehe eine schöne Frauengestalt. Einmal bin ich entzückt, das andere Mal lässt sie mich kalt, obwohl ich sie gleich schön finde. Dasselbe gute Essen, je nachdem ich satt oder hungrig bin, entzückt mich oder lässt mich kalt. Ich vermisste es, und ich schätze es als ebenso „wert“, als ebenso gut. Das Fühlen als Werterfassen ist zu scheiden vom Genießen, von der höheren Gemütsreaktion. In der Sphäre der höheren Gemütsakte: Ein Wertgehaltenes erfreut mich. Ich kann aber etwas erfreulich finden, ohne dass ich mich der Freude hingebe, ohne dass ich mich voll lebendig freue. Ebenso, ich kann etwas wünschenswert finden („erwünscht“), ohne dass ich lebendig wünsche, und ich kann, wenn ich das tue, mehr oder minder innig wünschen. Ich kann entschlossen sein und der Entschluss steht vor mir. Ich kann aber auch wollen, aktiv, lebendig, und mit „allen Kräften der Seele“ wollen, leidenschaftlich oder minder leidenschaftlich wollen. Wie sollen wir derartigen Unterscheidungen gerecht werden? Es ist da auch Folgendes zu überlegen. Ich spreche mit einer lieben Person. Sie steht in ihrer „Lieblichkeit“ da, meine Aufmerksamkeit gehört dem Gespräch, in dem sich die seelische Art der Person bekundet, und dabei sehe ich sie an, ihr Mienenspiel ist die Brücke des Verständnisses, ich höre die Worte, mit dem warmen Klang ihrer Stimme etc. Das alles hat seine Gefühlsfärbungen, seine Gefühlsapperzeptionen. In immer steigendem Maß werde ich von Freude erfüllt, die Freudenerregung steigt an. Ich bin aber nicht der Freude, auch nicht der Erfreulichkeit als solcher zugewendet, sondern dem Gesprochenen, dem Anschauen der Person in ihrem Schönheitshabitus etc. Die Freude kann noch lange nachklingen. Ich bin noch in gehobener Stimmung, wenn ich mich anderen Personen zuwende etc. Wenn ich an das Gespräch zurückdenke, so steht es als schön, als Träger der Freude, als freudenerregend und erfreulich da. Oder die Schönheit dieser Seele, die Anmut ihrer geistigen Art, das neckische Spiel ihres Witzes oder Humors etc. ist das Erfreuliche, ist das, was Freude weckte und meine nachträgliche gute Stimmung. Ich scheide da mein körperliches Wohlgefühl. Ich sage etwa: Infolge der Erfassung dieser Schönheiten gerate ich in steigende Freudenaffekte und zu ihnen gehört auch ein erregtes körperliches Lustgefühl. Aber
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die körperliche Lust, das Wohlsein in der Brust etc., ist nicht die Freude selbst, sondern die Freude ist Freude über die Schönheit, und wenn ich jetzt nicht an die Schönheit denke, so ist darum doch die Freude eben Freude über die Schönheit (ja infolge hder Schönheiti). Weist man darauf hin, dass Freude sich überträgt, dass eine gute Stimmung alles in schönem Licht erscheinen lässt, geneigt macht, überall Erfreuliches zu finden, so wäre zu sagen: Ist einmal durch ein als Wert erfasstes Objekt A eine Freudenreaktion eingetreten, so besteht die Tendenz dafür, dass andere Wertobjekte mich auch in Freude versetzen, diese Freudenreaktion hervorrufen, dagegen für Unfreudenobjekte, dass sie keine Freude hervorrufen etc. Überall finden wir ja positive und negative Wertmomente, aber nicht alle heben wir heraus und nicht alle erfassten wecken hingebende Freude, wecken Affekte, spontane Gemütszuwendungen oder Abwendungen. Hat eine solche aber stattgefunden, und insbesondere in höherem Maße, dann sind gleichartige dadurch gefordert; es besteht die Tendenz auf ähnliche Zuwendungen. Bin ich nun in guter Stimmung, so pflanzt sie sich also leicht fort (solange sie nicht durchbrochen wird durch die Gegentendenz, durch entgegengesetzte Affekte). Bin ich nun in guter Stimmung, so kann das heißen, ich merke, dass ich nicht nur mich an dem oder jenem Bestimmten freue, sondern dass ich in einem Rhythmus der Freude lebe: Freude schließt sich an Freude. (Dazu kommt, dass Freude sich überträgt auf alles im Zusammenhang Stehende.) Dabei behält aber die Stimmung immer eine „Intentionalität“. Ich unterscheide gut zwischen dem Gegebenen, seinen Wertcharakteren und dem, was von ihnen aus motivierend fungiert für meine Stimmung. Diese ist ja eine Gefühlseinheit, die allem Erscheinenden eine Farbe verleiht, aber eine einheitliche, einen einheitlichen Schimmer der Freude, eine einheitliche dunkle Färbung der Trauer. Ich kann nun zurückgehen, ich kann fragen: „Worüber bist du so schlecht gestimmt?“, „Was macht dich so heiter?“ Aber sagt das anderes, als dass die Freude motiviert ist? Ist sie, diese heitere Stimmung, selbst intentional gerichtet? Jedenfalls doch nicht auf das Motivierende. Und da ist nicht die Rede von einer psychologischen Wirkung, sondern von einer Motivation. Die Freude geht von dem und dem Wertobjekt aus, sie kann von ihm auch ausgehen, wenn das Wertobjekt jetzt nicht wirklich vorstellig ist. Sie ist eine „dunkle Wertintention“; eine
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dunkle Seinssetzung und Wertung histi da, welche die Stimmung motivier t. (Aber die Stimmung ist nicht ein Gefühl, das auf das Wertobjekt gerichtet ist.) Aber eine hWertungi? Es können auch mehrere sein. Es kann eine Einheit der Stimmung motiviert sein durch sehr verschiedene Wertungen und Wertreaktionen. Es sind verschiedene Ströme von froher Stimmung, die in die Einheit einer frohen Stimmung zusammengehen. Aber muss Stimmung immer motiviert sein? Dass Stimmung oft so geartet ist, dass wir nachforschen können nach ihren Motiven, dass wir ihr ansehen können, sie habe „Gründe“, Gründe, die wir aus dem Bewusstseinshintergrund hervorholen können, ist sicher. Und Stimmung kann verschiedene Grade haben, sie kann eine so arge Verdunklung besagen, dass nichts mich mehr freut und alle Antriebe der Handlung, alle Antriebe zur Freude und zum Wunsch etc. entfallen. Ich bin „wie gelähmt“, ich bin unter dem Druck eines großen Unglücks, das eben als ein einzig Niederdrückendes wirkt, als eine „Stimmung“ der Lähmung. (Was soll man für Stimmung sagen? Zustand des Trübsinns, Melancholie?) Oft ist es schwer, klar zu sehen, was es eigentlich ist, das hier Motiv ist. Dass es das ist, zeigt sich hdarani, dass, wenn es aufgeklärt und dann eventuell in seiner Nichtigkeit aufgewiesen ist (was es voraussetzt, besteht gar nicht), dass dann der Trübsinn mit einem Mal entwurzelt ist. Aber fordert jeder solche Gemütszustand sein Motiv? Kann nicht grundlos alles mich betrüben, alles in schwarzer Farbe dastehen? Aber das hieße, dass ich der Tendenz unterläge, grundlos überall nur auf das Unschöne und die negativen Wertseiten durch negative Affekte zu reagieren, aber nicht auf positiv Wertes durch positive, und dass, wo nichts Unschönes gerade da ist, das eine aktuelle Reaktion des Missfallens erregt, von den beständigen negativen Reaktionen eine Stimmung zurückbleibt, die dann eben ihr Motiv hat in der beständigen Erfahrung von „Unglück“. Vielleicht freue ich mich im Einzelnen; ich bin nicht ganz unfähig, das Schöne zu sehen und mich zu freuen, aber ich kann mich nicht der Freude hingeben. Es bleibt eine wenig lebhafte Freude; viel stärker und heftiger reagiere ich gegen Negatives durch Unfreude und so wirkt nur diese auf die Stimmung nachhaltig ein. Also jedenfalls hsindi zu scheiden: die Gefühlsakte, die einzelnen Gefühlsreaktionen und die Einheit der Stimmung als die Einheit der
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Gefühlsfärbung, die der gesamte Bewusstseinsbestand, die gesamte Sphäre des Erscheinenden als solchen, durch Übertragung erhält, der allgemeine Strom des Gefühls, in dem wir schwimmen. 1) Die Intentionalität des Wertens als hdiei der Wertapperzeption. 5 2) Die Intentionalität der Gefühlsreaktion, des Gefallens, die auf das Gefallende und als Wert Dastehende gerichtet ist, des SichFreuens-Über, des Sich-am-Schönen-Freuens, des Sich-am-GutenFreuens, des Begehrens nach etwas, des aktuellen Wollens, SichEntschließens, Tuns. 10 3) Die Intentionalität des Gemütszustandes, der festen Entschlossenheit als Habitus, in dem ich durch das Leben gehe und, während ich dies und jenes denke, fühle, tue, immer im Hintergrund mein Ziel habe, meinen festen Zusammenschluss, oder die hIntentionalität deri heiter zuversichtlichen Stimmung, oder die hderi beständigen Trauer 15 etc.
h§ 3. Das Begehren des Schlechten. Objektiver Wert und hedonischer Werti
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Beispiele: Jemand weiß, dass äußere Ehre, Anerkennung, hohe Orden etc., eigentlich etwas Wertloses sei, aber er hat nun einmal eine Leidenschaft dafür. Er will es, und der Wille kann so leidenschaftlich sein, dass er nicht vor Verbrechen zurückschreckt. Ebenso hderi W ille z ur M acht. Ich frage gar nicht danach, ob Macht an sich etwas Wertes ist. Jemand nimmt Macht, Geld etc. so sehr als Endziel, dass ihm völlig gleich ist, ob es etwas Wertes ist oder nicht. Vor die Frage gestellt, ob dieses oder jenes Mittel oder der Zweck selbst nicht etwas Schlechtes sei, kann der vom verbrecherischen (oder nicht ethisch gerichteten) Willen Beseelte sehr wohl erkennen, dass es schlecht sei, und innerlich wirklich die negative Wertung vollziehen. Aber der Unwert bewegt nicht sein Gemüt, bestimmt nicht seinen Willen. Er reagiert darauf mit Gleichgültigkeit. Ja noch mehr. Jemand kann sehen, dass das Schlechte schlecht ist, und doch, er begehrt danach und will es. Er richtet, humi es zu erreichen, Menschen zugrunde, ihre Seelen; er tritt alle Werte mit Füßen und reagiert darauf sogar mit Freude. Natürlich, er reagiert darauf nicht direkt mit Freude, das heißt, wenn ein positiver Wert
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direkt motiviert (Motiv ist, um „seiner selbst willen“ zu reagieren), so kann er nur einen positiven Affekt motivieren und ein negativer einen negativen. Aber um Machtbewusstsein zu erlangen, gerade um der Leidenschaft an der Machtbetätigung zu frönen, kann es jemandem Freude machen, Werte – und Werte jeder Art – mit Füßen zu treten (Luzifer). Schrankenlose Willkür, das ist es, was Freude weckt, Lust an der Schrankenlosigkeit, an der Möglichkeit, „frei“ jeder Laune zu folgen, nach Belieben „Gutes“ und „Böses“ zu tun etc. (nämlich in sich positiv Wertes zu realisieren oder positiv Unwertes: aber nicht um des Wertes willen, sondern um die Macht zu erweisen etc.). Der Taumel der politischen Macht: Menschen und Völker regieren und unterzwingen, jeden Widerstand brechen, einen nach dem anderen. Immer Neues ersinnen, um das Bewusstsein der schrankenlosen Macht zu aktivieren, das Lebendigmachen des Bewusstseins: Ich kann alles, was ich will. – Ich bin allmächtig: Cäsarenwahnsinn. Nun wird man aber sagen können: Im Willen zur Macht ist eben die Macht gewer tet, im Willen zum Geld eben das Geld etc. Das Begehrte, das Gewollte muss Gewertetes sein: Indem es zu eigentlicher Vorstellung gebracht ist, steht es als „Lustvolles“, Erfreuliches da. Macht muss meine Lust, meine Freude sein, damit ich nach Macht streben kann. Ist Macht mein Endziel, erstrebe ich es als das Einzige, also nicht um eines anderen willen, so muss Macht als solche für mich in der Vorstellung charakterisiert sein als etwas in sich Lustvolles, in sich Erfreuliches. Darum kann aber, wird man weiter sagen, das Endziel doch als „unwert“ dastehen können. Endziel bzw. Für-sich-Erfreuliches, Fürsich-„Lusterweckendes“ ist darum noch nicht Wertes. Und ich kann diesen Unterschied machen und eventuell sehen, dass etwas unwert ist, während es gleichwohl als Erfreuliches, als Freudebringendes dasteht und als Endziel meines Willens gesetzt wird. Die Geg enans ic ht wäre die: Es sei zu unterscheiden, hnämlichi „Es steht etwas als an sich erfreulich da“ könne heißen: 1) Es freut mich aktuell, und ich bin mir dabei keiner Mittelbarkeit bewusst, keines Erfreulichseins-Umwillen. 2) Es besteht wahrhaft und wirklich keine Mittelbarkeit – nämlich es kann eine Freude eine verborgene Intentionalität haben, die zurückweist auf Motive, ohne dass ich mir das deutlich mache. Zum Beispiel: Ich war in kleinen Verhältnissen, musste mich ducken, wurde überall oder öfters zurückgesetzt; ich tat
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Schönes, es wurde aber nicht anerkannt, und im Guttun, im Leisten guter Werke, wurde ich durch Missgunst, Zurücksetzung beständig gehemmt. Das Gute, das ich wirken wollte, konnte ich nicht wirken, meine Macht war gehemmt. Und nun erwächst eine leidenschaftliche Begierde nach Ehre und Macht. Zunächst um des Guten willen. Aber sie extendiert sich, sie wird zur Macht- und Ehrliebe überhaupt. Ich beneide jeden, der Macht hat, der, was er will, durchsetzen kann. Auch wenn es etwas Schlechtes ist, was er tut, ich beneide ihn, dass er es tun kann, dass er die Macht hat. Aber kann ich nachher noch sagen: Eigentlich will ich, liebe, begehre ich Macht um des Guten willen, das ich durch sie realisieren könnte? Kann ich sagen, ich strebe zunächst nach Macht, aber eigentlich nur um des Guten willen? Nein. Nachdem der Übertragungsprozess vollzogen ist, kann ich zwar allenfalls noch einsehen: Macht ist nicht an sich ein Gutes, sondern nur als Mittel für die Realisierung von Gütern. Aber das ändert nichts daran, dass ich nun Macht absolut will, dass ich Macht absolut setze. Dass es mir absolute Freude macht. Vielleicht sage ich: Objektiv mag es ohne Wert sein, aber für mich ist es der absolute Wert: das absolut Erfreuliche und Gewollte. Es tritt also der Doppelsinn hervor zwischen Wert als an sich erfreuend, als etwas, worauf ich schlechthin (nicht als Mittel) „Wert lege“, hdas ichi als erfreulich mir setze, und Wert als an sich wert, als objektiv wert – wie immer das nun zu bestimmen sei. Doch man muss hier sehr sorgsam überlegen. Ich liebe Macht oder Geld nicht mehr um des Guten willen, wozu es Mittel ist, sondern „selbst“. Die Liebe zum Guten ist vielleicht in mir erstorben oder kommt nicht mehr zur Geltung und Entfaltung. Solange ich Gutes anerkannte und liebte, ging es mir schlecht, ich wurde verfolgt etc., und so bekam das Gute selbst in meiner Vorstellung den Charakter eines Leidbringenden, ja Verhassten.1 Nachdem ich beständig entbehren musste, habe ich einen wahnsinnigen Hunger nach Genuss bekommen, so wie der Hungernde schließlich einen leidenschaftlichen Hungerwahn bekommt: Speise ist für ihn das Höchste
1 Das Gute, in sich Werte und als Wert Erkannte fordert Opfer von mir, Opfer an leidenschaftlich Begehrtem (Nicht-Wertem), und ich will diese Opfer nicht bringen. Ich begehre es nicht, sondern seine Vernichtung. Freilich, kann man das Gute und als gut Erkannte an sich hassen?
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und müsste er morden und sich am Fleisch des Nebenmenschen sättigen. Leidenschaftliche Gier im Wünschen, Streben, aber auch im Genießen. Demgegenüber die nicht-existenziale Freude, in der gar nichts von Begehren und Genießen des Seins steckt. Die reine 5 Inhaltsfreude, rein durch den Inhalt bestimmt und gar nicht von der Existenz. Das καλÞν und dann diejenige Freude am Sein, die Freude ist am Sein eines καλÞν und rein durch dieses bestimmt ist?1 Das macht die Freude am Wert aus. Objektiv wert ist, was rein durch seinen Inhalt, rein durch sein Wesen „Lust“ bestimmt. 10 Hedonis ch wer t ist, was Lust erweckt, die nicht aus dem Inhalt selbst stammt, zu ihm wesentlich gehört, durch ihn ausschließlich motiviert ist (scil. wir beschränken uns auf Selbstwerte im Gegensatz zu Mittelwerten). Dunkle Motivation kann sein eine solche, die, wenn man ihr nachgeht, zu einer Inhaltsmotivation sich expliziert. Sie kann 15 aber auch zu anderem führen: zu Motivationen des „Instinkts“, die indirekt wert sein können, soweit sie durch Inhaltsmotivationen äquivalent zu begründen sind, die aber nicht selbst Wertmotivationen in sich schließen.
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h§ 4. Die Intentionalität des Gefühlsaffekts. Gefühlsausbreitung und miterregte Gefühle. Objektive und übertragene Gefühlei
Weiter: Wie scheiden wir Werten und Hingabe an Werte? Ich kann in einem inhaltsbestimmten Fühlen leben und kann den Gegenstand als Wert erfassen und beurteilen. Ist das Letztere nicht eine Modifi25 kation des Gefühls, die ihm schon ein ursprüngliches Leben raubt? Das ist doch nicht notwendig. Wenn ich ein Schönes sehend genieße und dann mir denkend zum Bewusstsein bringe: „Das ist schön“, so kühlt das nicht ab. Aber ist es nicht doch eine Ruhepause des Gefühls,
1 Wir haben hier also Leidenschaft (Neigung) und Vernunft gegenübergestellt. Zunächst stellen wir gegenüber: 1) die begehrende Freude und 2) die nicht-begehrende (nicht am Sein hängende). Man kann aber auch gegenüberstellen: 1) die Freude, das Gefallen an einem reinen Inhalt; 2) die Freude am Sein oder Nichtsein: a) bestimmt rein durch den Inhalt, durch das Schöne; b) durch anderes bestimmt oder unrein auch durch anderes bestimmt. Und ebenso Begierde und Wille.
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eine momentane Abkühlung, die sozusagen ein Atemholen hvori erneuerter und wieder frischer Hingabe ist? Ich kann mich nun lebhafter hingeben etc. Man könnte fragen: Ist Hingabe an Werte wirklich etwas Zweites und nicht vielmehr ein fortgesetztes Einleben in das Werten? Es sei das Eigentümliche des wertenden Fühlens, dass es eine Steigerung des Einlebens, die Steigerung zum Affekt zulasse. Indessen, da ist immer wieder dieselbe Antwort zu geben: Es ist zu unterscheiden zwischen der Schönheit, die im Objekt selbst liegt, dem Leben in dem Schönheitsbewusstsein, andererseits der reaktiven Freude, mit der mich die Schönheit erfüllt. Ein Freudenstrom wird durch diese erregt, in ihm finden wir auch sinnliche Momente, wie das sinnliche Wohlgefühl, das als „Schauer“ meinen Körper durchströmt, das Gefühl der Seligkeit, das ich in der Brust fühle als ein Wohlgefühl, das dort lokalisiert ist. Damit ist aber der Unterschied noch nicht geklärt. Das Werten: Ist denn das zu verstehen nur als ein „Inhaltswerten“ und nicht als jederlei Gefühl? Und finden wir nicht den Unterschied zwischen Hingabe und Nicht-Hingabe bei allen Gemütsakten? Ich werte ein schönes Weib, ich werte ein gutes Essen, ich werte einen Sachverhalt. Ich denke mir etwa: Deutschland, es blühte, an der Spitze einen zweiten Bismarck etc. Das wäre schön! Denke ich mir, dass es ist, so steht es in Gedanken als erfreulich da: Wie würde es mich freuen! Dass es faktisch nicht ist, das ist bedauerlich: Ich bedauere es. Ich begehre, dass es ist: Es steht als Seinsollendes da. Haben wir nicht überall das Phänomen des Gemütsaktes, in dem etwas als erfreulich, bedauerlich (als wünschenswert, als seinsollend) etc. „dasteht“ und demgegenüber die Hingabe, die mehr oder minder lebendige Freude, Trauer, Wunsch etc.? Indessen, das sind nicht reaktive Gemütsbewegungen oder nicht alle. Primär habe ich ein Werten als ein Gefallen am Inhalt eines Objekts bzw. vermöge des Inhalts am Sein des Objekts, ein Gefallen an einem Sachverhalt, daran, dass das und jenes ist, und, bestimmt durch den Inhalt, ein primäres Gefallen am Sein des Sachverhalts. Oder ist schon das durch das „Sein“ bestimmte Gefühl reaktiv? Das pure Gefallen am Inhalt, am schönen Ton, ist das das Werten, das seine Intentionalität eben darin hat, dass es seinem Wesen nach ein Gefühl ist, das auf den Ton geht? Aber haben wir da nicht das Reaktive: die Freude, die durch dieses Gefühl erregt wird? Ich gerate in ein
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Entzücken, eine heitere Stimmung etc., die dann nicht mehr bloßes Gefallen am Ton ist, sondern eine Folge dieses Gefallens, dadurch motiviert. Ich bin entzückt von der Schönheit des Tones, das Gefallen, das Schönheitswerten liegt zugrunde, ist Ausgang und Anregung. In der Apperzeption wird dann der Ton als schöner und seine Schönheit als entzückende Schönheit aufgefasst. Mittelbar heißt das Ding dann selbst ein Entzückendes: Es hat Momente an sich oder Eigenschaften, die das Gefühl berühren, die gefallen, und das Gefallen erregt Affekte, erregt heitere Stimmung etc. Wie steht es also mit der I ntentionalit ät der Freude? Verstehen wir unter Freude den Affekt, die Freudenerregung, die von dem Wertobjekt als solchem ausströmt, so ist offenbar die Intentionalität dieses Af fe kts eine andere als die des Werthaltens: Nämlich die „intentionale“ Beziehung des Freudenaffekts auf das, worüber ich mich freue, histi eine andere als die des Wohlgefallens an der Sache. Das Werthalten ist Richtung auf das wertgehaltene Objekt, im Gefallen bin ich dem Gegenstand zugewendet, und jedenfalls (wenn Aufmerksamkeit nicht nötig ist), solange das Gefallen da ist, Bewusstsein ist, ist auch ein fundierendes Gegenstandsbewusstsein da. Dagegen histi die affizierte Freudenerregung nicht Richtungsbewusstsein auf das erregende Wertobjekt. Sie ist Beziehung auf dieses Objekt als erregendes, als motivierendes. Sie kommt von einem gefallenden Objekt her, sie selbst richtet sich aber nicht auf das Objekt, das sie erregte. Was besagt demnach die Apperzeption des Objekts als erfreulich? Es ist so beschaffen, dass es Eignung hat, Freude zu erregen, in Freudenerregung zu versetzen, und das durch seinen „Wert“, dadurch, dass es gefällig ist. Aber ist, wird man fragen, nicht auch das wertende Gefallen ein durch das Objekt bzw. durch das Gegenstandsbewusstsein erregtes? Und scheidet sich, wenn ich in den Affekt der Freude, in das Entzücken, in die Seligkeit geraten bin, dann noch das wertende Gefallen und das Entzücken? Und weiter: Solange noch das Objekt wirklich bewusst ist, erscheint es da nicht als entzückend und das Entzücken auf das Objekt bezogen? Verdunkelt sich das Objektbewusstsein oder wende ich mich anderem zu, so verdunkelt sich auch das auf das Objekt bezogene Entzücken, nämlich es klingt ab, ich lebe nicht mehr in ihm. Andererseits setzt es sich fort, eventuell in einer heiteren Stimmung, die etwas Nachgewirktes ist, ein sich über
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den Bewusstseinsinhalt verbreitendes Gefühl, mit seinem Licht alle Objekte färbend und zugleich für jedwede Lustreize empfänglich machend (andererseits unempfänglich für Unlustreize). Hat nicht dieses wie jedes Gefühl seine Intentionalität, wenn auch eine verworrene? Wir haben wie einen Vorstellungshintergrund, die Einheit der Hintergrundapperzeption, so einen verworrenen Gefühlshintergrund: Sind wir heiter gestimmt, so sieht sich dies oder jenes, worauf unser Blick fällt, freundlich, rosig, lieblich an. Wir können aber reflektieren und die Einheit der Stimmung als heiter erfassen, halsi eine Einheit unbestimmt verbreiteten Gefühls, in welches auch mancherlei sinnlich körperliche Gefühle einfließen, das seine Einheitsfärbung hat und dadurch charakterisiert ist, dass es sich über Objekte verbreitet, die nicht von sich aus durch ihren Inhalt ein Gefallen fundieren (bzw. ein „gefällig“). Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob ein Gefühlscharakter sich über Objekte verbreitet, sie färbt, oder ob er durch ihren Inhalt „gefordert“ ist, durch das Objekt als so geartetes bestimmt und erweckt. Wir kommen über diesen Unterschied nicht hinaus. Ein Objekt ist darum nicht schon erfreulich und steht nicht schon darum als erfreulich da, weil eine heitere Stimmung ihm Licht verleiht. Disponiert sie dazu, dass Erfreuliches zu seinem Recht kommen hkanni, dass Erfreulichkeitsmomente hervortreten und gewertet werden können, so ist sie selbst es nicht, die Erfreulichkeit konstituiert. Aber das scheint wieder zu weit gegangen. Die Dinge stehen wirklich als erfreulich, als schön da. Wenn ich heiter gestimmt bin, finde ich da nicht die ganze Welt herrlich? Sie ist es nicht an sich, nicht an und für sich ist alles schön und gut – das Licht ist ein erborgtes Licht. Aber immerhin, es ist ein Licht. Und wenn ich der Motivation nachgehe und das Motivierende rechtfertige, kann ich ja auch sagen: Alles schön finden, wenn man so viele Freudengründe hat, ist schon recht, nur darf man diese Schönheit der Übertragung nicht verwechseln mit originärer Schönheit. Müssen wir also nicht sagen: Gewiss ist zu unterscheiden zwischen Gefühlen, die wertend auf ein Objekt bezogen sind, hdiei so im Objektbewusstsein fundiert hsindi, dass sie auf das Objekt nach seinem Inhalt gehen (wenn auch vielleicht bloß vermeintlich durch den Inhalt bestimmt), und Gefühlen, die als Erregungen von anderweitigen Gefühlen ausströmen, Affekten, die als Gefühlsströme mannigfache Komponenten haben und anneh-
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men können, darunter sinnlich körperliche Gefühle, missbehagliches Gemeingefühl, Wohlgefühl, das den Körper durchströmt usw., und darüber hinaus dem Charakter der Motivation, der zurückweist auf das vielleicht dunkel Motivierende? Andererseits müssen wir sagen: Wenn der Affekt mit dem err egenden Gef ühls o bj ekt bewusst ist, so erscheint er intentional auf dies es bezogen, und dieses erscheint dann als erfreulich, entzückend, süß, beseligend. Schwierig ist die volle Klarlegung solcher Intentionalitäten wie der Gemütsintentionalitäten überhaupt.1 Und wie ist es dann mit Wunsch und Willen? Das Gegenständliche steht „in der Vorstellung“ als beseligend, entzückend da (gesetzt, dass es wäre). Es ist nicht. Ich vermisse es, ich begehre danach: je nach der Höhe der prätendierten Beseligung mehr oder minder leidenschaftlich. Und ebenso kann der Wille ein mehr oder minder leidenschaftlicher sein. Der Wille kann bestimmt sein durch den Wert einer Sache: Die Sache selbst durch das, was sie ist, bestimmt den Wert (im Wertvermeinen), und der Wert als seiend gedacht motiviert eine hypothetische Freude, und zwar eine rein durch den Wert motivierte Freude. Ebenso kann das Bedauern des Nichtseins durch den Wert motiviert sein und schließlich auch der Wille. Der Wille ist reiner Wille nur dann, wenn, was er will, rein um des Wertes willen gewollt ist. Nicht die Freude am Wert ist das Motivierende, sondern der Wert selbst, der die Freude seinerseits motiviert als rechte Freude. Nicht immer ist aber der Wille durch den Sachwert selbst motiviert. Es gibt noch andere Bestimmungsgründe des Willens: blinde Affekte, blinde Leidenschaften. Aber auch die Affekte gehen, sagten wir, auf die Sachen. Da ist zu sagen: Es scheiden sich eben Gefühle, die nicht nur überhaupt auf Sachen gehen, sondern auf den Inhalt der Sachen als Wertnehmungen bezogen sind, als eigentümlich durch die Sachgehalte gegründet, und Affekte, die durch solche Wertungen motiviert und rein durch sie motiviert sind. Andererseits hhaben wiri Gefühlsmeinungen, die nicht „erfüllbar“ sind durch reine Wertnehmungen. Somit kommen wir wieder darauf zurück: Muss man nicht echte Intentionalität in der Gemütssphäre anerkennen, und muss
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Cf. nähere Ausführung nächstes Blatt, A, 2. Seite h= ab S. 113,5i.
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man nicht auch anerkennen, dass jeder Gemütsakt in gewisser Weise Gemütsmeinung ist, die ihrem Sinn nach auf Wertung bezogen ist? Da ist von neuem das Machtbewusstsein, die bewusste Bosheit etc. zu erwägen. Wenn1 ich in der Wut, im Zorn bin und auf den Erreger des Zorns hinblicke (z. B. auf den Menschen, der mich geärgert hat), so erscheint er als intentionales Objekt des Affekts. Jemand redet gemeine Dinge, bekundet gemeine Gesinnung, ich werde von einem Affekt des Ekels befallen. Mit Ekel blicke ich auf den Menschen hin. Jemand gefällt mir, er äußert schöne Gesinnungen, sein geistiger Habitus ist schön und immer wieder schön in seinen Bekundungen, ich werde „warm“, ein Affekt liebender Zuwendung erfüllt mich und verbreitet sich. Liebend bin ich ihm zugewendet. Wir haben hier ein Kerngefühl, das sich erweitert und verbreitert und nicht nur sich steigert nach „Lebendigkeit“. Die Einheit der Person ist nicht nur Einheit als Gegenstand, sondern die verschiedenen Akte des Gefallens gewinnen Einheit, Gefühlseinheit; sie gehen zwar dahin, sie laufen ja zeitlich ab, aber sie verlieren sich nicht spurlos (ich rede nicht von unbewussten Dispositionen). Die Person gefällt und momentan „hinsichtlich“ der jetzigen Bekundung einer Charakterseite, aber wie sie die Einheit ist, die sich soeben nach den und jenen Seiten gezeigt, dies und jenes geäußert hat oder hat ahnen lassen, so ist sie Einheit des Gefallens, das seinem Gesamtcharakter nach bestimmt ist durch die abgelaufenen Gefallensakte. Das einheitliche Gefallen ist Gefallen an der Person, die hsichi und sofern sie sich so und so bekundet hat, und zugleich, in Besonderung, explizites Gefallen an ihr hinsichtlich der jetzigen aktuellen Äußerung. Aber das ist noch nicht der Affekt: Das Gefühl gewinnt eine Ausbreitung noch anderer Art. Neben den durch das Objekt, durch die Person und ihre seelischen Bekundungen, erweckten Gefühle, welche intentional auf das Objekt gerichtet und rein von ihm aus bestimmt sind (und hvoni seinen eventuellen Zusammenhängen), haben wir noch einen erregten Gefühlsstrom, einen Strom körperlicher Wohlgefühle, aber auch anderweitige Gefühle, ein erhöhtes Bewusstsein des eigenen Wertes oder der Erhöhung der eigenen Persönlichkeit 1 hDas Folgende isti Zusatz und nähere Ausführung zu A hsiehe oben, S. 112, Anm. 1i. – Wichtig.
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und so manches miterregte Gefühl, das sich in seinem Charakter der Gefühlslage anpasst. Und dieser ganze Strom ist eine Einheit, hat einen einheitlichen Gefühlscharakter (in anderen Fällen Einheit und dabei doch Unstimmigkeit, widerspruchsvolle Stimmung, Schwanken zwischen Leid und Lust usw.), und all diese Gefühle sind nicht gesondert von denjenigen, die ihre besondere Richtung auf das Objekt haben und die nun den Kern eines Gesamtgefühls, eines Affekts ausmachen. Sie haben alle die Motivationseinheit der Erregung: Das Gefühlsganze ist, so wie es ist, charakterisiert als affiziertes durch das Objekt und seine Sondergefühle. Wir können das Objekt als Erreger dieses ganzen Affektes apperzipieren. Leben wir aber im Affekt, so ist er als ganzer intentional auf das Objekt gerichtet, der Kern richtet sich speziell auf ihn, aber die affektive Ausbreitung ist nicht vom Kern getrennt und von der Intentionalität auf dasselbe getrennt. Das ändert nichts daran, dass die Ausbreitung ihre Komponenten hat, die ihre Intentionalität auf andere Objekte haben. Ich bin etwa in einem Affekt der Liebe, sagen wir leidenschaftlicher Liebe, dem Objekt zugewendet: Dann sind die liebende Zuwendung und das Leidenschaftliche nicht hinsichtlich der Intentionalität getrennt, obschon der den Kern der Gefallenszuwendung erweiternde Erregungsstrom in sich sinnliche Objekte und sonstige andere Objekte hat. Man kann das vergleichen mit der Art, wie eine äußere Wahrnehmung sich auf ein Wahrgenommenes bezieht. Ich sehe das Haus, und das steht in einer Objektumgebung da. Die Gesamtwahrnehmung ist gerichtet auf das Objekt: nach einem Kern, nach der Wahrnehmungserscheinung, die speziell zu diesem Objekt in sich gehört, und hnachi einem Strahl der besonderen Zuwendung, der hier hindurchgeht. Aber die Umgebung ist nicht durch eine Reihe getrennter Erscheinungen und Zuwendungen wahrgenommen – Zuwendungen gehen durch sie gar keine hindurch –; das ganze Hintergrundbewusstsein ist eins und ist eins mit dem Bewusstsein von dem Haus, und es hat auch in Bezug auf dieses seine Intentionalität, sofern eben dadurch das Haus das vollbestimmte meiner Wahrnehmung ist, als welches es gerade diesem Zusammenhang perzeptiv angehört. Freilich, ob diese Analogie eine vollkommene ist, kann gefragt werden. Der Affekt ist eine Einheit mannigfaltigen Gefühls. Darin hat der Kern, das Wohlgefallen, eine besondere Intentionalität, durch sie vor allem geht das Sich-Zuwenden vonstatten. Aber wenn es
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mich mit allen Sinnen der Geliebten entgegendrängt, so sind doch alle leidenschaftlichen Erregungen, so sehr sie zu betrachten sind als Erregungen eben, als Ausstrahlungen, doch mitbeteiligt an der Zuwendung. Das Ich weitet sich gewissermaßen, indem es in diesem 5 Gefühlsstrom lebt, aus, soweit er reicht, und richtet sich durch ihn auf das Objekt.
Beilage V hDie Unterscheidung zwischen Affekten und ihren Ausstrahlungen einerseits und der größeren oder geringeren Lebendigkeit und Hingabe bei den Gemütsakten andererseitsi1
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Zu unterscheiden 1) reaktive Gefühle, Affekte, die erregte Freude, der erregte, „bewirkte“ Affekt, der erregte Zorn, Wut, die erregte Furcht, die innere Geschlossenheit, der zuversichtliche Habitus (der Affekt) usw. Es gibt auch da ein Recht. Ich habe ein Recht, fröhlich, fröhlicher Stimmung, in fröhlicher Erregung zu sein, denn … Jemand hat Recht, zornig, in der Erregung der Indignation zu sein usw. Es ist dabei auch wieder zu unterscheiden: a) die Freude über die empfangene gute Nachricht, die Besorgnis über das drohende Unheil, das Gefühl des umutig Abgestoßenseins von der erfahrenen Beleidigung etc.; b) der Affekt der Freude, die gesamte ausgestrahlte Freude, die frohe Stille heiterer Stimmung oder aufgeregte Lustigkeit mit den mannigfaltig sich einflechtenden sinnlichen Komponenten: Wohlgefühl im körperlichen Habitus, eine erregte sinnliche Regsamkeit mit lebendigen sinnlichen Gefühlskomponenten. a) und b) sind miteinander verschmolzen, ja es fragt sich, ob zu trennen ist. Aber bei a) haben wir den Akt, der gerichtet ist auf die empfangene schöne Nachricht, umflossen von einem sich verbreitenden Erregungsstrom der Lust, der heiteren Stimmung etc. Bei b) nehmen wir den Erregungsstrom selbst eventuell mit dem Akt, der ein meinendes Sichrichten-auf ist. Und wenn dieser vorübergegangen ist, fließt von ihm eine Komponente ein: das noch lebendige Gefühl. Im Erregungsstrom, der bleibenden Zuständlichkeit, bleibt diese Komponente wohl nicht dauernd erhalten, aber als dieser Strom weist er zurück auf seinen Ursprung, und in ihm liegt auch seine Motivation.
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Wohl Anfang Dezember 1911. – Anm. der Hrsg.
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Es ist Heiterkeit, Freudigkeit wegen der Nachricht und heißt noch Freudigkeit über sie, solange noch der Ursprung ihre Färbung bestimmt und wohl noch eine Komponente eben eine Färbung ihr verleiht. 2) Wir haben bei den Gemütsakten größere oder geringere „Lebendigkeit“, die intensitätsartigen Unterschiede. Ich freue mich mehr oder weniger, ich liebe heißer oder minder heiß. Im Zusammenhang damit steht, aber davon zu unterscheiden ist die Ichferne und das Mit-dem-Herzen-dabei-Sein, die Hingabe. Ich bin in gewisser Weise von der Freude berührt, die Sache steht als erfreulich da, aber ich lebe nicht in der Freude, bin in ihr der erfreulichen Sache nicht hingegeben (bzw. nicht der Freude hingegeben). Im Allgemeinen wird dann kein Freudenstrom (der Affekt) von dem Erfreulichen ausstrahlen, obschon auch das schon sein kann. Es strahlt schon Freude aus, sie beginnt mich zu umfangen und doch verbleibt sie noch „außer“ mir, ich schwimme nicht im freudigen Strom, lebe nicht darin. Ebenso, ein Ärger berührt mich, etwas steht als ärgerlich da, vielleicht beginnt schon von da aus ein sichtbarer Strom des Ärgerns auszustrahlen, aber ich gebe mich ihm nicht hin. Das kann so erfolgen, dass ich hmichi dem mich zu sich Hinziehenden gegenüber ablehnend verhalte, mich zurückhalte: durch eine Gegentendenz oder einen Willen. Es kann aber auch sein, dass ohne solchen Willen, ohne Abwehr und Zurückhaltung ich den Ärger außerhalb meiner habe. Freilich wenn der Strom des Affektes anschwillt, dann beginnt er mich, wie ein erregtes Meer, zu umspülen und dann muss ich entweder mich dagegen stemmen und geradehalten oder mich hingeben, oder wenn ich keinen Widerstand versuche und leiste, sinke ich passiv unter und lebe im Affekt des Zornes bzw. Ärgers (Zorn enthält eine Affektivität, die in Wollungen ausstrahlt).
V. DIE KONSTITUTION DER GEMÜTSCHARAKTERE1
h§ 1. Freude aufgrund von Anschauungen und aufgrund von Urteileni 5
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F reude, dass etw as ist. 1) Es kann eine Wahrnehmung oder „Erinnerung“ zugrunde liegen, und ich kann Gefallen (existenziales Gefallen) am daseienden oder als seiend erinnerungsmäßig bewussten Objekt haben. Ich freue mich an einer Sache, die ich „habe“: a) im Genießen genießende Freude; b) im Antizipieren des Genusses Freude an der Sache als Quelle möglicher Genüsse. 2) hFreudei aufgrund eines prädikativen Urteils: Die Buren haben gesiegt. Die Hausfrau freut sich, dass die Speise wohlschmeckend, wohlgeraten ist. a) Explikation (anschaulich): das Essen, wohlschmeckend. Explikation mit beziehender Setzung (Einheitsbewusstsein). Es braucht keine Prädikation vollzogen zu sein, keine Aussage, keine begriffliche Fassung. b) Prädikation: Gegebenheit des Sachverhalts in der anschaulichen Explikation, oder vielmehr in der beziehenden Setzung. Zur Freude bedarf es nicht der begrifflichen Fassung, der Denkmeinung als begreifender Urteilsmeinung. Wie ist es aber in der Freude an der Speise, wobei ich den Ausdruck mitvollziehe? Nun, Freude ist Freude am Sein oder am Sosein etc. Sachverhalte sind thetisch oder synthetisch. – Die Speise, das ist ein Sachverhalt? Das ist doch ein Gegenstand. Nun, Gegenstand in diesem Sinn (der doch der eigentliche ist) ist das Korrelat einer gültigen thetischen Setzung, sonst hätte ich nicht Gegenstand schlechthin, sondern „Gegenstand“ in Anführungszeichen. D em G attungsc harakter nach ist aber das Gefallen am G egenstand (existenzial), das Sich-an-ihm-, -mit-ihm-Freuen, thetisch, schlechthin, nicht verschieden von
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Dezember 1911.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 117 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3_5
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der Fr eude am „ bezi ehenden “ Sachverhalt. Im Übrigen ist überall das Kategoriale und das Gegenständliche, das ist, was es ist, ob es begriffen wird oder nicht, zu unterscheiden. Ähnliches für Wünsche, Fragen etc. Ich hverimisse A, es ist als 5 nichtseiend bewusst: Dazu gehört eben das Bewusstsein des „nicht“, aber nicht ein prädikatives Urteil. Negative Setzung. Wunsch und Freude als reaktive Akte. Ich freue mich am Genuss: Der Gegenstand schmeckt und das freut mich, der Gegenstand als wohlschmeckend angeschaut, gedacht etc., hich freue michi an ihm, als wirklich ange10 nehm, gut. Also eigentlich: Ich freue mich, dass A schön, gut, wert ist? Natürlich ist das eine Verschiebung des Ausdrucks.
h§ 2. Schlichte Wertapperzeption und Stellungnahmen des Gemütsi 1) Wertapperzeption. 2) Reaktion des Gemüts auf die apperzipierten Wertlichkeiten, als Freude, als Wunsch etc. Das Wesen der Wertapperzeption: das „Erfassen“, „Anschauen“ von Werten. Wertgegebenheit im Wertnehmen als Analogon des Anschauens von Nichtwerten im Wahrnehmen. Die Wahrnehmungs20 auffassung, die Wahrnehmungserscheinung mit ihrem Empfindungsmaterial. Die Wertauffassung, Werterscheinung mit ihrem Material an „Wert-Empfindungen“. Aber wie steht es da mit dem Unterschied zwischen Positivität und Negativität? „Reagiert“ nicht das „Gemüt“ auf sinnliche Empfindung durch positive oder negative Wertempfin25 dung, durch positive oder negative „Gefühle“? Haben wir da nicht unterste „Reaktionen“? Nun, in ihnen hätten wir dann „passive“ Reaktionen, nicht aktive.1 15
1 Aber da ist das erste Problem. Und näher wäre zu überlegen, ob nicht Doppeltes vorliegt: 1) aufgrund der primären Empfindungen mannigfaltige, und zwar qualitativ mannigfaltige „Gefühlsempfindungen“, Gefühlscharaktere, wobei der qualitative Unterschied nichts mit Positivität und Negativität zu tun hat; 2) passive Reaktionen des Wohlbehagens und Missbehagens – also hier die Positivität und Negativität –, Zuständlichkeiten, nicht spontanes Gefallen oder Missfallen. Ich rauche eine Zigarre mit Wohlbehagen, aber zugewendet bin ich wissenschaftlichen Gedanken. Eventuell rauche ich die Zigarre ohne rechten Genuss, oder sie schmeckt negativ. – Aber sind die
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Ferner, diese Gefühle sind „Repräsentanten“ für Auffassungen, für Auffassungsschichten, die auf den Auffassungen der primären Sinnlichkeit gebaut sind und neue „Prädikate“ konstituieren: „angenehm“, „schön“ etc. Wie beschreiben sich diese Auffassungsschichten gegenüber den primären? Nun hat jede Dingauffassung ihre Schichten, warum nehmen wir diese alle zusammen und nicht dazu die Wertauffassungsschichten? Man könnte auch fragen: Warum ist nicht „Phantom“ eine eigene Kategorie gegenüber Ding? Warum stellen wir Dinge und Werte gegenüber? Ist das überhaupt richtig? Warum sollen wir Gegenstände, individuelle Gegenstände (als NichtSachverhalte), nicht in Kategorien sondern wie Phantome, Dinge, Werte? Aber Werte, sind die eben einfach als Gegenstände anzusetzen? Schlichte G efühl e. Ein Ton, mild, rein, in edler Klangfarbe anschwellend und wieder abschwellend, das Gefühl folgt als ein Wohlgefallen dem Fluss der Töne. Aber ist das Wohlgefallen nicht schon reaktive Gefühlszuwendung, ein Sich-Freuen-an, und hängen nicht an dem stetig oder diskret wechselnden Empfindungsmaterial Gefühlsmomente eigenen Gehalts, die eine Gefühlseinheit schaffen, welche ihrerseits das Gefallen-an, das Sich-Freuen fundiert? So wie der Wohlgeschmack einer Speise und so überhaupt das im Geschmack liegende Gefühl eine Gefühlseinheit eigener Art ausmacht, auf die sich erst das Wohlgefallen an der Speise gründet. Dieses Wohlgefallen kann lebhafter oder minder lebhaft sein, kann mich kaum berühren, es kann ausbleiben, während ich doch „empfinde“, und zwar auch dem sinnlichen Gefühl nach. Die Lebhaftigkeit des Wohlgefallens ist aber etwas anderes als die Intensität, die in der Sinnlichkeit liegt. Der Ton hat seine Intensität, aber der Ton hat auch seine größere oder geringere Milde, Lieblichkeit, er ist edler oder weniger edel etc. Die graduellen Abstufungen dieses Edelseins sind ein anderes als die Lebhaftigkeit, mit der ich mich daran freue. Hier liegt die Lebhaftigkeit in mir, in meiner „Betätigung“ des Gefallens, dort liegt sie nicht in „mir“, sondern an der Sache selbst und ihrem Charakter. Soviel steht also fest. Gefühle ohne Vorzeichen nicht Konstruktion? Es sind eben die Empfindungen, und die qualitativen Unterschiede gehören zu ihnen, und zum Gefühl als solchen gehört nur Positivität und Negativität.
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Danach habe ich in früheren Jahren verwechselt: 1) schlichte Wertapperzeption, zur Gruppe der schlichten Apperzeptionen überhaupt gehörig bzw. Werten als Vollziehen einer solchen Apperzeption; 2) Werten als heini im höheren Gemütsgebiet Reagieren gegen Wertlichkeiten, also aufgrund von Wertapperzeptionen. I. Apperzeption als schlichtes, Gegenstände konstituierendes Bewusstsein. Oder weiter gefasst Perzeption: Empfindung (immanente empirische und axiologische Sinnlichkeit) und schlichte Auffassung, Auffassung als Phantom, als Ding, als Ding mit Wertcharakter. Dabei apprehensive und direkt prehensive Momente dieser Gegenständlichkeiten. Dazu Unterschiede der „Dunkelheit“. Das kann nun die Modifikationen haben, die wir Aufmerksamkeit nennen; ich achte auf den Empfindungsinhalt, auf den Gefühlsinhalt, auf das Ding, auf den Wert. Ferner, das kann die Unterschiede der Modalität haben. Und wieder: Ich kann Setzung vollziehen, Explikation, Prädikation, mit begrifflicher Fassung. Und das Dingsein kann sich ausweisen, ebenso das Wertsein. Wir stehen ja in Gegenstandssphären: korrelativ in der Sphäre des Urteils über die oder jene Gegenstände. Und was Sein und Wahrheit hier besagt, das kann nur aus dem Wesen der Korrelation dieser Gegenständlichkeiten und ihrer Erkenntnis, ihres Gegebenhabens und des darauf gegründeten Urteilens, entnommen werden. (Das Urteilen ist dabei freilich eine allgemeine Schicht mit allgemeinen Eigentümlichkeiten.) II. Die Stellungnahmen des Gemüts. Ich vollziehe aufgrund von Akten (intentionalen Erlebnissen) der ersten großen Gruppe natürlich Urteile darüber etc., eingerechnet ein Wünschen, ein Wohlgefallen, ein Betrübtsein, ein Begeistertsein, ein Empörtsein etc. Lebe ich darin, so ist auf der einen Seite für das Bewusstsein das angeschaute, dunkel vorstellige, gedachte Objekt (die Objektität) mit seinen objektiven Bestimmtheiten im Sinn seiner Apperzeptionen, auf der anderen Seite die eigentümlichen Reaktionsweisen mit ihren qualitativen Charakteren. Diese geben dem Objekt nichts ab. Das Entzücken ist bei mir, ist Charakter des Stellungnehmens, des Gemütsbewusstseins; die Schönheit, über die ich entzückt bin, ist beim Objekt.1 Die Reflexion lehrt mich, dass sie das „Motiv“ ist für meine
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Cf. 8 h= S. 123,5–124,30i.
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Gemütsstellungnahme, dass vom Ich die Gemütszuwendung gegen das Objekt, und zwar gegen das schöne, geht und dass das Objekt die Begeisterung „erregt“, eventuell ein Mich-zu-ihm-Hinziehen des Objekts zu konstatieren ist etc. Da ist für die verschiedenen Fälle 5 näher zu beschreiben, wie die Linien vom „Subjekt“ zum Objekt und umgekehrt laufen; was durchaus doch Linien sind, die zum Charakter des Stellungnehmens mit seinem Inhalt gehören. h…i1
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h§ 3. Gefühlszuwendung und Erregungsstrom. Die Gegebenheit der Gemütscharaktere im Gemütsakt und in der setzenden Erfassungi2 1) W er tapperz epti o n, Wertauffassung, Wertnehmung. Ein Bild steht als schönes Bild da. Eine Geige steht als schöne, wertvolle Geige da, ein Ton klingt edel. 2) A ffekte und G em ütsstel l ungnahmen. Von dem edlen Ton bin ich entzückt, oder ich wende mich ihm mit Wohlgefallen zu. Ich bin Liebhaber alter Instrumente: Ich bin begeistert von dem herrlichen Bau der Geige. Ich bin empört über das Verhalten der Engländer. Ich sehe eine Tierquälerei und bin entrüstet. Wir haben in solchen Fällen, wird man sagen, a) ein erregendes Objekt, das einen positiven oder negativen Wertcharakter hat; von dem Objekt geht das Erregen aus: Die Geige „versetzt“ mich ins Entzücken, die Tierquälerei versetzt mich in Empörung, der „Gedanke“ an die Geliebte erregt in mir Sehnsucht (und dabei hat das Vorgestellte als solches den Charakter des die Sehnsucht Erregens). b) Wir drücken uns auch so aus: Die Schönheit des Bildes versetzt mich in Entzücken oder erweckt ein lebhaftes Gefallen. Und zugleich: Ich bin von dem Bild entzückt, weil es schön ist. Es gefällt mir um seiner Schönheit willen. Ich bin von der Schönheit der Geige, von ihrer edlen Form, von ihrem edlen Ton entzückt, begeistert. Ich bin
1 Ein hier anschließender Text ist in Husserliana XX/2 als Beilage LV: Das ausdrückliche Wünschen in der Redeform mit „möge“ und der Ausdruck des Wunsches (S. 428) veröffentlicht. – Anm. der Hrsg. 2 Zweite Überlegung. Mit vielem Neuen.
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empört von der Tierquälerei, mich empört die Gemeinheit solcher Handlung etc. Dürfen wir der Sprache nachgehen, so haben wir zu scheiden 1) zwischen dem Objekt selbst, 2) seinem positiven oder negativen Wertcharakter oder hdemi Komplex von Bestimmtheiten, die wertcharakterisiert sind, und dann erst 3) die Gemütsstellungnahme bzw. den Affekt, der in verschiedener Weise bezogen ist, gerichtet ist auf das Objekt selbst und auf seinen Wertcharakter bzw. auf das Objekt in seinem Wertcharakter. Die Gemütsstellungnahme geht auf das Objekt in seinem Wertcharakter und geht auf das Objekt „um seines Wertcharakters willen“. Dieses „umwillen“ ist ein bestimmtes und nicht mit anderem zu verwechselndes: nämlich wenn ich den Handschuh der Geliebten mit Entzücken betrachte um der Beziehung zur Geliebten willen. Das ist ein ganz anderes „umwillen“, eine Mittelbarkeit des Gefallens, während im unmittelbaren Gefallen jenes erstere „umwillen“ schon vorausgesetzt ist. Das Gefallen geht auf das Objekt durch die Wertapperzeption hindurch; oder in gewisser Weise: Es geht auf das Objekt durch seinen Wert. Primär zieht die Schönheit mich an, das Objekt aber als Träger der Schönheit, das Gefallen am schönen Objekt geht durch seine Schönheit hindurch. c) Während das Objekt Gefallen erregt (durch seinen Wert), richtet sich das Gefallen auf das Objekt. Die Stellungnahme hat eine „Richtung“, sie ist aber entweder Richtung-zu als positive Zuwendung oder Richtung-gegen als Abwendung (entsprechend der doppelten Erregungsweise von Seiten des Objekts, der anziehenden und abstoßenden). d) Das Gefallen, das Sich-Freuen, Wünschen etc. kann ruhiges (unerregtes), stilles Gefallen etc. sein und kann erregtes, bewegtes sein. Stille Freude und erregte Freude, ein ruhiger Wunsch und ein leidenschaftlicher, brennender Wunsch. Das Wollen kann ein ruhiger Entschluss oder ein leidenschaftlicher Wille sein. (Da ist die Frage, ob die Erregung, hobi der Affekt und wie er zum Gefallen selbst etc. gehört.) Die Reflexion lässt uns unterscheiden: 1) das gefallende, liebende etc. Zugewendetsein und 2) den Strom der Erregung, in den diese Zuwendung eingeschmolzen ist, der sie in sich hegt und trägt. Einerseits möchte man so sprechen und auch sagen, das ruhige Gefallen „steigere sich“ zur Begeisterung, zum erregten Entzücken, anderer-
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seits wieder, es breite sich ein Strom der Erregung von ihm aus, aber allerdings ein Strom, in dem das Gefallen selbst eine Verbreitung gewinnt: Das Ganze ist eins, ist leidenschaftliches Gefallen, ist Begeisterung. Wir scheiden auch die gefallende Zuwendung, das entzückte Zugewendetsein, und den Erregungsstrom, dem wir uns zuwenden können, während wir uns vom Objekt abwenden und nicht mehr Gefallenszuwendung üben. Wir finden dann einen Strom sinnlicher, körperlich lokalisierter Gefühle, der noch verbleiben kann und normalerweise verbleibt (ja, eine Zeit verbleiben muss), auch wenn eine andere Stellungnahme gerichtet auf andere Objekte oder eine auf andere Objekte gerichtete theoretische Betrachtung einsetzt. Nun besteht aber die leidenschaftlich-liebende Zuwendung oder das leidenschaftliche Begehren, das leidenschaftliche Sich-Freuen etc. nicht in einer Gefallenszuwendung etc. plus einem Strom sinnlicher Erregung. Indem sich das Entzücken auf das Objekt richtet, das inbrünstige Begehren auf das Vermisste etc., gehört zu dem SichRichtenden eben der sinnliche Strom mit, der aber seinerseits als bloß sinnlicher Strom gar keine solche Richtung hat. Es ist also ein phänomenologisch Eigenartiges da; eine gewisse Verbreiterung, einen gewissen ausstrahlenden Erregungsstrom von Gefühlen finden wir um den Akt, durch den er aber nicht eine bloße Umgebung erhält, sondern die ihn selbst eigenartig verbreitert und modifiziert. Der Strom ist ein mit ihm einiges Erlebnis, aber so, dass er in entfernter Analogie für das intentionale Erlebnis eine solche Rolle spielt wie Empfindung in der gegenständlichen Wahrnehmung. Das Entzücken, und nicht ein erregungsloses Gefallen, richtet sich auf das Objekt, und das Objekt steht nicht bloß als gefällig, sondern (der Modifikation des Aktes entsprechend) als entzückend da. Sowie die gefallende Zuwendung fortfällt, verliert der Erregungsstrom diese intentionale Funktion. Er ist sinnlicher Strom, der nur im Strom des Zeitbewusstseins zurückweist auf das Entzücken, in dem er jene Funktion hatte. Und vermöge dieser Einheit heißt es weiter von ihm: Das selige Gefühl in der Brust etc. „stammt“ von jenem Objekt her, ist dadurch erregt. Erregt war das Entzücken mit dem sinnlichen Bestand in der Zuwendung. Und reflektieren wir auf das Erlebnis des Entzückens, so erscheint darin das Gefallen und auch das rein sinnliche als „erweckt“ und in diesem Sinn erregt.
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Es1 ist zu beobachten, dass das Entzücken (das, von dem es heißt, dass es sich richte auf das Objekt und von ihm erregt sei im ersten Sinn) im eigentlichen Sinn nicht die sinnlichen Gefühle in sich hat, ebenso wenig wie die Wahrnehmungserscheinung die Empfindungsinhalte in sich hat, oder wie die Empfindungen nicht zur Aussage gehören. Man wird da bedenklich sein. Ist das Entzücken, ist der leidenschaftliche Wunsch, der Affekt der Liebe, nicht ebenso wie der Willensentschluss usw. ein „psychisches Phänomen“, zu dessen Bestand die sinnlichen Gefühle selbstverständlich gehören? Wohin denn sonst, da sie nicht zum Objekt gehören? Man kann versuchen, darauf zu antworten: Bin ich im Gefallen dem Objekt zugewendet, in der Liebe, im Entzücken etc., so habe ich ein Phänomen, das je nach den Auffassungsrichtungen, die eingeschlagen werden können, verschiedene Modifikationen erfahren kann, die alle wesentlich zusammengehören. Lebe ich im Gefallen, im Entzücken, im Wunsch, darin dem Objekt zugewendet, so ist eben das Objekt Objekt für mich, nämlich sofern es erscheint, gedacht ist usw. Aber das Objekt ist nicht bloßes Anschauungs-, Phantasie-, Denkobjekt. Es steht da als entzückend, möchte man sagen, es steht da als „Geliebte“, als Ersehnte; ein als künftig vorstelliger Vorgang in der Sphäre, die charakterisiert ist als die praktische „Freiheit“, steht da als gesollt (Korrelat des „gewollt“), oder ein Geschehen steht da als erwünscht etc. Aber wie steht es „als“ das da? Das ist nun schwer zu beschreiben. Denn das ist sicher, dass hdasi „geliebt“, „gefällig“, „erwünscht“ etc. nicht im oder am Objekt ist wie eine es konstituierende Beschaffenheit, wie ein Bestandstück, auch nicht wie eine Relation, eine relative Bestimmtheit. Wir können das Lieben auf das Geliebte im beziehenden Betrachten und Setzen beziehen, aber davon soll hier ja nicht die Rede sein. Es ist ganz und gar nicht so, wie im prädikativen Urteilen der geurteilte Sachverhalt als „bestehend“ dasteht oder in der Wahrnehmung des Gegenstandes dieser als „seiend“. In der Gegenstandsapperzeption ist Einheit der Auffassung vollzogen und damit erscheint der
1 Von „Es“ bis „darauf zu antworten“ (S. 124,11) später zwischen Klammern gesetzt, dazu die Randbemerkung: „Das ist alles unklar.“ – Anm. der Hrsg.
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Gegenstand mit seinem gegenständlichen Inhalt, in der Erfassung ist er erfasst. Die Gemütsprädikate „erfreulich“, „entzückend“ etc. können zur Einheit einer Apperzeption gehören, aber wenn ein Ding, eine Person Entzücken „erregen“ und ich im Vollzug der Freude lebe, dann ist nichts vom Entzücken (oder braucht nichts zu sein) in die Apperzeption des Gegenstandes hineingezogen. Ich kann den Wunsch haben, es möge S p sein, aber ich brauche keine Einheit der Auffassung zu haben, die den vorstelligen Sachverhalt und den Wunschcharakter, den des „möge“, in eins fasst und so eine Einheit des Wunsches „Es möge S p sein“ konstituiert. Freilich liegen da große Schwierigkeiten. Was heißt: zur Einheit einer Apperzeption? Ich kann ein Bild als entzückend auffassen, ohne dass ich jetzt aktuell Entzücken erlebe. Ich sehe schon das Bild, es hat bei mir früher und öfters vielleicht Entzücken erregt, und nun fasse ich es als das auf. (Ich habe gehört, dass das Bild von Raffael ist, auch das kann vergleichend herangezogen werden. Jetzt sehe ich es und fasse es sogleich als „von Raffael“ auf, ehe ich wirklich urteile. Durch das Urteil hat sich die gegenständliche Auffassung bereichert und kann nun wieder zum Urteil durch Auseinanderlegung führen.) Dieses Als-etwas-Auffassen ist das empirische Auffassen als Apprehendieren. Dergleichen liegt mit in allem Dingauffassen. Aber was ich vom Gegenstand anschaulich erfasse, was mir von seinem Inhalt „gegeben“ ist, das ist nicht bloß apprehendiert. Wenn ich jetzt wieder das Entzücken empfinde, so apprehendiere ich nicht nur das Entzückende, sondern ich habe es gegeben. Aber ist da nicht wieder zu unterscheiden und zu überlegen? In der Dingauffassung habe ich das Gegebene als Erscheinendes; es liegt Gegebenes und Nichtgegebenes im Rahmen der einheitlichen Auffassung. Wenn ich auf dem Grund einer Dinganschauung aber Entzücken erlebe, besteht da auch in einem analogen Sinn eine Einheit der Auffassung, welche die Dingauffassung (die empirische Erscheinung) übergreift und ein Gegenständliches konstituiert, das neben dem Inhalt der spezifischen Dingerscheinung auch die Bestimmtheit „entzückend“ enthält? Ich kann das Ding als entzückend aufgefasst haben und nun auch das Entzücken erleben und das „entzückend“ als Inhaltsbestimmtheit gegeben haben: also als apperzipierten Inhalt und als gegeben. Man wird aber sagen müssen, dass Entzücken erlebt sein kann, ohne
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in dieser Weise in apperzeptiver Funktion zu stehen. Das ist offenbar vorausgesetzt, damit sich empirische Apperzeptionen fraglicher Art „bilden“ können. Aber worin besteht das „Empirische“ der Apperzeption? Nur darin, dass eine Erinnerung des Gegenstandes und seiner Inhaltsbestimmtheiten, die fundierend für das Entzücken waren, und dieses Entzücken selbst in seiner Beziehung darauf auftaucht und, in eins gesetzt mit dem jetzt erscheinenden Gegenstand (dessen Wertbestimmtheiten noch nicht hervortreten etc.), eine Mitsetzung des „entzückend“ erzeugt. Sind die Bestimmtheiten angeschaut und findet freie Hingabe an ihre Werte statt, so gehört dazu das Entzücken. Ich kann aber zum ersten Mal das Entzücken erleben. Ich kann darin leben, ohne das Objekt als entzückend „aufzufassen“. Aber steht es nicht doch als das da? Und kann ich nicht darauf achten? Tue ich das, so brauche ich nicht das Objekt auf mich, auf das Subjekt zu beziehen. Ich achte auf das „wundervoll“, auf das „herrlich“ und drücke es aus, wie ich sonst anschaulich Gegebenes an einem Objekt ausdrücke. Und das Wundervolle ist nicht bloß zusammengenommen mit dem Vorgestellten, es ist auch nicht kausal bezogen auf das Entzücken: so wie der Stich und Schmerz auf die stechende Nadel. Ich kann zwar die Auffassung vollziehen: Der Gegenstand erregt in mir Entzücken, Freude, Gefallen, oder schlechthin: hEri erregt Gefallen (zu supponieren ist: bei irgendjemandem oder allgemein). Aber ich kann eben auch anders auffassen: Herrlich, entzückend ist der Gegenstand. Entzückend heißt zwar Entzücken erregend, aber es ist unverkennbar, dass das Wort auch und zumeist gebraucht wird, um den Charakter des Gegenstandes zu bezeichnen, ohne Gedanken an die Erregungsbeziehung gegen mich hin. Ein strahlendes Licht liegt auf dem G egenstand, färbt ihn, gibt ihm einen Charakter. Es ist gleichsam das Entzückendsein ein Lichtstrom, der auf dem Objekt liegt. Auf seinen Lichtcharakter kann ich achten. Aber steht dabei nicht das Objekt als das Lichtausstrahlende da? Es steht in der Tat in strahlender Schönheit da, wie wir hesi ja von der Geliebten, von einer schönen Person etc. wirklich sagen. Es ist nicht so, dass das Entzücken, das außerhalb des Objekts im Subjekt liegt, auf das Objekt ein Licht wirft. Erlebe ich Entzücken, so erlebe ich das Gegenstandsbewusstsein des Objekts mit dem Entzücken in eins, derart, dass das Gegenständliche nicht nur in der Weise bewusst ist, wie es
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im Gegenstandsbewusstsein sinnlich apperzipiert ist oder eventuell gedacht ist, sondern es ist bewusst im Charakter der strahlenden Schönheit etc. Ich kann dabei erfassend dem Objekt zugewendet sein und nicht seiner strahlenden Schönheit. Das ist schwierig. Was soll das besagen? Ich betrachte das Objekt nach seinen inneren Eigenschaften, nach seinen Relationen, so wie sie im Objektbewusstsein konstituiert sind, ich denke über das Objekt hnachi, ich beschäftige mich damit theoretisch etc. Es kann dabei ein Gefallen am Objekt vorhanden sein, auch ein sehr lebhaftes Gefallen. Ist es nun anders, wie wenn ich eben nach gewissen Bestimmtheiten dem Objekt zugewendet bin, sie ausschließlich heraushebe und erfasse? Ich habe die Gegenstandsapperzeption, lebe aber (mit meiner Aufmerksamkeit) bald in der, bald in jener Schicht und gründe darauf Explikation und Prädikation. Nun gehört der Lichtcharakter nicht zur Gegenstandsapperzeption, nicht zur Schicht der Empfindungsauffassungen. Er gehört in eine andere Dimension. Er gehört ursprünglich zum Objekt, d. i., im Entzücken, das fundiert ist durch die Gegenstandsapperzeption, konstituiert sich dieser Charakter ursprünglich als Charakter des Objekts. (Ich könnte sagen: Ebenso wie ein sinnliches Gefühl auf einem sinnlichen Empfindungsbewusstsein sich baut und Gefühlscharakter am Gegenstand, am Empfindungsinhalt ist.) Müssen wir also nicht sagen: Es handelt sich hier nicht um eine empirische Apperzeption, um eine solche, die einem Gegenstand empirische Einheit gibt (ihn als das konstituiert), aber wenn wir den Ausdruck „Apperzeption“ erweitern, eben auch um eine Apperzeption. Ich kann in ihr wie hini der empirischen Apperzeption „leben“, dann bin ich dem, was sich in ihr speziell konstituiert, speziell zugewendet. Lebe ich in der Wahrnehmung (der äußeren Wahrnehmung), dann sehe ich auf den Gegenstand hin, und je nach den Schichten, in denen ich aufmerkend lebe, sehe ich speziell diese oder jene Momente des Gegenstandes speziell. Dieses bloße Aufmerken ist noch nicht Theoretisch-mit-dem-Gegenstand-beschäftigt-Sein, noch nicht Urteilen und dabei Von-der-Willenstendenz-auf-theoretische-Wahrheit-Beherrschtsein. Lebe ich im Entzücken über das schöne Bild, über den liebenswürdigen Menschen etc., so bin ich dem Licht, der strahlenden Schönheit, dem Gemütscharakter zugewendet. Es bedarf keines besonderen
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Erfassens. Ein sinnlicher Gegenstand kann schon im Hintergrund als unbeachteter Umgebungsgegenstand erscheinen: Ich wende mich ihm zu, ich erfasse ihn, der vorher nicht erfasst war. Es kann auch das Gefallen erregt sein, ich wende mich aber nicht dem Gefälligsein zu, sondern erst dem Gegenstand und beschäftige mich mit ihm „theoretisch“ oder betrachte ihn nach seinem empirischen Bestand, dann aber wende ich mich der Schönheit, der Herrlichkeit zu. Ich lebe mich in das Entzücken ein: Aufmerksamkeit wie sonst jedes Bewusstsein kann Unterlage eines Aufmerkens sein, in jedem kann ich zugewendet sein. Was wir soeben ausgeführt haben, das gilt offenbar von Gemütscharakteren erster wie von solchen höherer Stufe. Ich kann ein Objekt als in der oder jener Hinsicht angenehm, wohlschmeckend etc. apperzipieren, ich brauche dabei gar nichts zu fühlen, ich habe eine erweiterte Apperzeption gegenüber derjenigen, die das Objekt ohne die Gemütsbeschaffenheiten apperzipiert. Wenn das Objekt aber zum ersten Mal und originär als Gefühlsobjekt bewusst ist, so haben wir keine empirische Apperzeption, sondern eine Gemütsfärbung des Objekts; das Objekt steht als so gefärbt da und ist als das angeschaut, wahrgenommen, wenn wir den Blick darauf richten. In der Regel sind aber (wie wenn wir eine neue Melodie hören) empirische Apperzeptionen im Spiel. Zugleich aber werden entzückende Gefühle erregt, die ihrerseits aktuelle Gefühle neu fundieren mögen. In der genießenden Einstellung: Die Gefühlsverläufe aufgrund der Tonempfindungsfolgen und der mitapperzipierten Gedanken erleben und in den Gefühlen leben, wäre also Anschauen der Melodie in ihrer Schönheit, in ihren Gefühlsbestimmtheiten. Nun erhebt sich dabei aber die Frage: Was unterscheidet das Genießen der Mel odi e, in dem wir der Schönheit doch zugewendet sind, vom theor eti s chen Beobachten? Ebenso überall. Wenn ich zornig bin, wenn ich über die Abscheulichkeit der Handlungsweise eines Menschen leidenschaftlich erregt bin, so soll das Sehen dieser Abscheulichkeit eben bestehen in den Gefühlserregungen selbst und in dem durch sie hindurchgehenden Strahl der Aufmerksamkeit (Zuwendung). Indem ich dem zugewendet bin, es sehe, „urteile“ ich auch darüber, ich drücke es aus, ich sage etwa: „Das ist abscheulich!“ Aber ich bin nicht in theoretischer Einstellung. Ich beobachte nicht und mache keine theoretische Feststellung. Sollen wir sagen,
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zum Theoretischen gehört das theoretische Interesse, das Streben, die Tendenz, die auf objektive Begründung gerichtet ist? Wie ist es aber, wenn ich im Ärger zugleich die Gründe der Abscheulichkeit auseinanderlege? „Das war schlecht von Dir, denn usw.“ Das tun wir doch oft. Dergleichen kommt unserer Erregung entgegen, nährt sie in diesem Fall, und alles, was sie nährt, das bleibt in ihrem Zug, gehört mit zu ihr und ist nicht „theoretische Erwägung, theoretische Beschäftigung“ und dgl. Als Psychologen mögen wir im Zorn innerlich kühl notieren: „Das ist eine interessante Eigentümlichkeit des Zornes, so ist seine Verlaufsart etc.“ Wir notieren es zu Zwecken wissenschaftlicher Feststellungen, die in einer ganz anderen Linie liegen als die Zornerregung selbst und was sie an Wahrnehmungen, Urteilen, Feststellungen etc. umschließt. Wie kann man solche Unterschiede beschreiben; das Genießen, das Im-Affekt-Leben, das Im-ruhigenGefühl-Leben etc. und das Betrachten, Wahrnehmen, Beobachten, theoretische Feststellen? Ich erinnere mich eines ärgerlichen Auftritts: Ich vergegenwärtige mir die Situation, und der Ärger steht „wieder“ in mir auf, das Ärgerliche steht wieder ärgerlich vor mir, abscheulich, hässlich etc., ich sehe es. Und nun ändere ich doch meine Einstellung, wenn ich wie ein „unbeteiligter Zuschauer“ betrachte, analysiere, theoretisch beschreibe, fixiere und daraufhin Feststellungen mache, die meine theoretische Erkenntnis erweitern.1 Versuchen wir zu unterscheiden: 1) Ein Gemütsakt aufgrund eines sachkonstituierenden Aktes ist Erlebnis. Weder dem Objekt, der Sache, noch dem Gemütscharakter sind wir zugewendet. 2) Zuwendung zum Objekt in der Weise etwa einer Wahrnehmung. Es ist also Erfassung oder Quasi-Erfassung, Aufmerksamkeit-auf. 3) Wir „leben im“ Gemütsakt. Kann da noch ein Unterschied gemacht werden zwischen Aufmerksamkeit auf das Gemütsprädikat (während wir zugleich der Sache, wenn auch nicht primär zugewendet sind) und dem bloßen Leben im Gemütsakt? Wenn die Sache
1 Das alles ist gut. Ich muss nur unterscheiden rein theoretisches Interesse, als auf gegenständliche Bestimmung, Sein und Sosein gerichtetes und darin terminierendes Interesse. Und andererseits ein Interesse am Sein, Sosein, an Gründen und Folgen im Dienst des Gemüts.
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anschaulich vor uns steht und dabei auch die das Gemütsprädikat begründenden Sachbestimmtheiten, so ist die Frage: Ist das Im-GefühlLeben Anschauung, eventuell Wahrnehmung von dem Objekt in seinem Gefühlscharakter? Wenn aber eine „leere“ Vorstellung oder ein Gedanke vorschwebt und dabei lebendig gefühlt wird, so steht uns doch, wenn auch in leerer Weise, gedanklich das Objekt da und charakterisiert durch das Gefühl. Ist nun zu unterscheiden die Zuwendung im Gefühl und eine setzende Erfassung bzw. Aufmerksamkeit? Eine Sachlage, die mir vorschwebt, erfüllt mich mit Trauer, sie steht als traurig da. In der Trauer lebend bin ich auf das Traurige gerichtet. Ist dieses Gerichtetsein zu unterscheiden von der Aufmerksamkeit auf hdiei Trauer? Ich vollziehe Erfassung und beziehende Betrachtung, wenn ich das „Dastehende“ expliziere, und vollziehe Erkennung, wenn ich ausdrücke: Die Sache ist traurig. Aber haben wir hier nicht genau dasselbe, wie wenn ich eine empirische Anschauung, eine Dinganschauung oder einen „Gedanken“ expliziere und darüber dann prädiziere? Freilich, ein Gegenstand, der nicht angeschaut ist, hat für mich kein Prädikat, das anschaulich da ist. Wenn ich aber aufgrund eines „leeren“ Vorstellens ein Gefühl wirklich vollziehe, habe ich doch ein merkwürdiges „Als-erfreulich-, Als-traurig-etc.-Dastehen“. Die Freude, die Trauer sind ja aktuell bewusst, der Gegenstand ist im Dunkel und nicht gegeben. In der Einstellung auf den Gegenstand bezieht sich die Trauer, die Freude auf ihn, sie gehört zu ihm, aber sie gehört zu ihm nicht als ihn konstituierend, sondern in eigener Weise. Subjektiv sage ich „Ich habe Freude“ und auch: „Ich habe den Gedanken an den Sachverhalt“, „Ich habe die Überzeugung von seinem Bestehen“, „Ich habe das Bewusstsein davon, dass er ist.“ Aber ich sage nicht bloß: „Die Freude ist verknüpft mit diesem Bewusstsein“, sondern: „Die Freude ist Freude über die Sache“ und „Die Sache ist erfreulich.“ Dabei bin ich auf die Sache „aufmerksam“ und auf die Erfreulichkeit und haufi die Beziehung zur Sache, auf das Erfreuliche. Lebe ich in der Freude, so ist die Einheit des Bewusstseins vorhanden, und es ruht der „Blick“ auf der Sache in ihrer Erfreulichkeit, ohne Explikation und Prädikation. So können wir auch, wenn das Gefühl sich auf die Gegebenheit des Gegenstandes und der wertgründenden Prädikate aufbaut, keinen Unterschied finden zwischen der Zuwendung im Gefühl und dem Im-Gefühl-Leben und der Anschauung des
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Gegenstandes in seiner Gefühlsbestimmtheit, in der Aufmerksamkeit auf sie. Das Phänomen fungiert ebenso wie das Phänomen der sinnlichen Anschauung als Grundlage für die Prädikation, für die Subjekterfassung, Prädikaterfassung etc. 5 4) Wie ist nun theoretische Betrachtung, das Zum-theoretischenThema-Machen, das Beobachten und theoretische Feststellen zu beschreiben?
h§ 4. Gemütscharaktere als ontische Charakterei
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Aber nun ist die Frage: Der Lichtcharakter, das Strahlende (bzw. das Dunkle, Traurige), ist am Gegenstand; wie steht es mit dem Gefallen, dem Entzücktsein, dem Betrübtsein, Trauern etc.? Was macht den Unterschied zwischen dem einen und anderen, und wie ist ihr phänomenologisches Verhältnis? Und ebenso beim Wünschen, Begehren, Wollen. Wir können auf den „Akt“ des Wünschens reflektieren und konstatieren: Ich wünsche. Und was wünsche ich? Dass ein Ereignis eintrete, dass ein Objekt mein Eigen wird etc. Ich kann aber auch sagen: Ich wünsche – was? Den Wunsch „S möge p sein!“ Das ist es, was ich wünsche. Oder mich freuend freue ich mich im Akt der Freude über das Objekt. Ich kann aber auch sagen: In ihm steht da das Erfreuliche in seiner Erfreulichkeit, die Geliebte eben als die Geliebte. Wünschen, das heißt, die und die Wunschakte vollziehen in Bezug auf ein Vorstelliges. Und es heißt, das Vorgestellte im Charakter des „möge“ bewusst haben, also bewusst haben das „S möge p sein!“ Im Lieben haben wir das Bewusstsein der Geliebten als solchen usw. Es ist nicht anders, wie wenn ich urteile, hundi ich das Bewusstsein habe: „S ist p!“ Es handelt sich bei Urteilen und Urteil (Geurteiltes als solches), bei Wünschen und Gewünschtem als solchem (Wunsch) etc. um „zwei Seiten einer und derselben Sache“. Überall gilt: Nicht ein subjektives Erlebnis des Wünschens, irgendein subjektives Gefühlsdatum, ist verknüpft mit dem vorstellenden Bewusstsein (dem vom erwünschten Objekt), sondern das „möge“ ist ein Charakter, der im wünschenden Bewusstsein, so wie es fundiert ist im Sachbewusstsein, zur Sache gehört. Wir können nicht wünschen, ohne dass in ihm dieses „möge“ bewusst und in Bezug auf die bewusste Sache bewusst ist, in
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eigentümlicher Einheit mit ihr; und blicken wir schlicht auf die Sache hin, so können wir, wie ihre eigenen Prädikate, mit denen sie etwa angeschaut ist, so das im Wunschbewusstsein sich konstituierende „möge“ erfassen: Es ist da eins mit der Sache, obschon nicht sie als Sache konstituierend. Wir können nicht lieben, ohne dass darin die Sache im Charakter der „geliebten“ dasteht; dieser Charakter eigentümlich einig mit den Charakteren, die die Sache konstituieren und die innerlichen Bestimmtheiten der Sache als Sache ausmachen. Das ist eben das Bewusstsein des Liebens, dass sich in ihm ein Neues, das „geliebt“, konstituiert, und das besagt nicht, dass Liebe ein subjektives Gefühl ist, das auf der einen Seite steht und der gedachte oder angeschaute Gegenstand auf der anderen, nur so, dass irgendwie das Gefühl eins ist mit dem Anschauen oder Denken der Sache. Vielmehr, wie im Sachbewusstsein eben die Sache mit ihren Bestimmungen bewusst ist, so ist im Bewusstsein der Liebe, so wie es einig ist mit dem Sachbewusstsein, ein neuer Charakter bewusst und als Charakter der Sache, eben das „geliebt“, der Charakter des „lieb“, der nicht das Lieben ist, so wenig wie das „möge“ das Wünschen ist und das Angeschaute das Anschauen ist, das Urteilen das Geurteilte ist. Diese Objektitäten höherer Stufe können nun zu Themen der Urteilsbehandlung werden, der Wunsch zu einem Dies, oder es können innerhalb der Einheit des Wunsches Unterschiede gemacht, es kann das Gegenständliche, das Erwünschte, zu einem Dies und Subjekt gemacht werden und darauf das Prädikat bezogen werden: „erwünscht“. Dabei scheidet sich Vermeintes und Wirkliches. Es ist bewusst „S möge p sein!“ Aber der vermeinte Wunschverhalt braucht nicht „wahrer“ Wunschverhalt zu sein: Das Urteil, dass S p sei, sei erwünscht, kann wahr und falsch sein, obschon ich wirklich Wunschbewusstsein habe und das Erwünschte als erwünscht „dasteht“. So wie in der Wahrnehmung, in der Erinnerung, in der Erwartung usw. ein Dasein bewusst ist, aber vermeinendes und gültiges Bewusstsein zu unterscheiden ist, so gilt das für jederlei Bewusstsein-von, auch für das Wunschbewusstsein, und zum Wesen jedes Bewusstseins gehört die Möglichkeit der Ausweisung oder Abweisung, der Begründung oder Entgründung und der Konstituierung von Urteilen und Urteilsbegründungen, in denen sich eins und das andere in Formen urteilenden Denkens vollzieht.
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Nun heißt es, Gefallen, Liebe etc. ist etwas Subjektives. Die Liebe breitet sich über das Objekt aus, von meiner Subjektivität geht etwas auf das Objekt über, gefallend wende ich mich dem Objekt zu. Das Sehnen ist bei mir, und die Sehnsucht breitet sich über das Objekt und zieht es zum Subjekt hin usw. Aber das Subjektive als Erlebnis kann sich nicht ernstlich über das nur Intentionale, etwa nur Gedachte, leer vorstellige Gegenständliche ergießen, kann nicht ernstlich damit sich verbinden und eins werden – es sei denn in der Weise eines beide umspannenden kolligierenden oder beziehenden Bewusstseins, in dem freilich alles und jedes „eins“ werden kann. Einheit hat das Gemütsbewusstsein und das fundierende Gegenstandsbewusstsein, und so geartet ist die Einheit, dass sich in ihr ontisch konstituiert der Gegenstand als Träger eines Gemütsprädikats. Beziehe ich aber das Objekt auf das Erlebnis der Liebe, das zur Subjektivität in dem besonderen Sinn gehört, die alle Gemütserlebnisse teilen, so erscheint das Objekt als Zielpunkt liebender Zuwendung und die Liebe als durch das Objekt erregt, der Geliebtheitscharakter des Objekts als durch die Liebe bedingt, von da ausstrahlend usw., aber auch die Lieblichkeit des Objekts als Quelle der Liebe. Zweifellos müssen wir aber unterscheiden den konstituierten ontischen Charakter des „möge“, des „fraglich“, des „gefällig“ etc. vom „subjektiven“ Wünschen, Fragen etc. Wir dürfen nicht so sprechen, als ob der subjektive Charakter selbst objektiv wäre oder sich dem Objekt auflegte etc. Die leidenschaftliche Erregung, in der ich mich befinde, die ich als so und so geartete Erregung, als phansisches Phänomen betrachten kann, ist nicht objektiviert und auf den Gegenstand irgendwie objektiv bezogen, wenn ich in der leidenschaftlichen Bewegung begriffen dem Objekt zugewendet bin. In ihr konstituiert sich ein objektiver Gemütscharakter. Es ist freilich nicht so, wie ich, eine Wahrnehmungserscheinung erlebend, des Objekts, das erscheint, bewusst bin, wo ich ja auch nicht die Erscheinung (das phansische Phänomen) nehme und auf das Objekt beziehe. Die Erscheinung erlebend habe ich allererst Bewusstsein vom gegenwärtigen Objekt. Hier fungieren die Empfindungen in eigener Weise, wir sprechen von Repräsentation, wir können nachträglich den Gehalt der Erscheinung auf das Erscheinende beziehen, empfundene Farbeninhalte auf objektive Farbe etc. Die „subjektiven“ Erregungen können wir analog auch auf das leidenschaftlich begehrte Objekt beziehen, aber in ihnen
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stellt sich nichts dar. Und doch konstituiert sich in einer völlig eigentümlichen Weise ebenfalls ein Ontisches, das „möge“. Mehr Analogie finden wir mit der Weise, wie sich im Vermuten das „vermutlich“, im problematischen Anmutungsbewusstsein das „möglich“ konstituiert.
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h§ 5. Subjektive Richtung-auf und Stellungnahme bei den Erscheinungen und bei den Gemütscharaktereni 1) Erscheinung, empirische Auffassung, einfach Bewusstsein-von, aber keine „Stellungnahme“. Modi: Gewissheit (Wirklichkeit), Negation (Schein), Anmutung (Möglichkeit) etc. 2) Das Erfassen, Setzen. Ich kann sagen, dieser Gegenstand ist erfasst gewesen, jener war bewusst, aber nicht erfasst; aber es konstituiert sich dabei kein gegenständlicher Charakter, abgesehen von diesem eigentümlichen relativen Charakter (der übrigens seine Merkwürdigkeit hat). 3) Das „Beziehen“ – konstituierend für A in B, A hat b – vor der ausdrücklichen Fassung. Auch: Gesetzt, dass A in B ist, ist C. Freies Konstituieren von Gegenständen neuerer Stufe. Das „Übergehen“ von A zu B und umgekehrt. Das Auffassen der Formen und der geformten Gebilde (Erfassen?), das Erkennen derselben im Ausdrücken. Das alles ist nicht Stellungnehmen. Modi wie beim schlichten Auffassen. 3a) Das denkende Meinen, das nicht erkennend, ausdrückend ist, sich nicht nach Vorgegebenem richtet. 4) Es sind hier allerlei Reflexionen möglich; das Erfassen kann sich verschieden wenden, auf Unterschiede zwischen Inhalt und Charakter, von Empfindung und Auffassung usw. Hat beziehende Setzung stattgefunden, so kann das Erfassen sich zuwenden dem Gesamtinhalt und Gesamtcharakter etc. Nun das Stellungnehmen. 5) Das Stellungnehmen. Wie ist es mit dem Billigen und Missbilligen? Mit dem Sich-auf-den-Boden-einer-Ansicht-Stellen etc.? Es mutet sich etwas als so seiend an. Ich stimme zu, ich stelle mich hauf den Boden der Anmutungi, ich ergreife Partei, indem ich zustimmend urteile, es ist so. Etwas anderes ist das „Stellungnehmen“ des Gemüts, aber auch des Verstandes. Ich bin entzückt, ich blicke liebend auf ein Objekt. Ich wünsche, dass S p sei. Ich will. Ich fasse einen Entschluss. Ich
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handle. – Steht sich das alles gleich? Nehmen wir Stellungnahmen des Gefühls und Affekts. In empirischer Auffassung kann ich Objekt und Ich aufeinander beziehen. Das kann ich auch bei der Wahrnehmung, der Phantasie, der Erinnerung, beim Denken tun. Ich nehme das Objekt wahr, ich erinnere mich der Person, ich denke den Sachverhalt, ich urteile ihn. Ebenso, ich liebe die Person, ich bin von dem Bild entzückt etc. Aber wir merken den großen Unterschied. Das Haben der Wahrnehmung (der Phantasie), der Erinnerung ist etwas ganz anderes als das Haben der Liebe, der Empörung, der Begeisterung, der Freude … Wahrnehmend habe ich Empfindungen und Auffassungen. Und indem ich das erlebe, ist das Ding „da“, jetzt gegenwärtige Wirklichkeit, Zielpunkt des „geistigen Blickes“. In den Empfindungsinhalten stellt sich vom Gegenstand ein Inhalt dar, in der Empfindungsausbreitung eine Fläche und überhaupt eine „Seite“ des Phantoms, und so, dass ich ein „Sehding“ erfassen kann, eine „perspektivisch verkürzte Seitenfläche“, die dieselbe ist im Wechsel des Blickes etc. Beschreiben kann ich das „Wahrnehmen“ nur durch solche gegenständlichen Beziehungen. Und was ich da erfasse, ist „Darstellung“ des Gegenstandes, Darstellung verschiedener Dignität und Stufe, und hsiei gehört zum Gegenstand phänomenologisch so, dass das Bewusstsein vom Gegenstand eben hier nichts ist als das Bewussthaben der Darstellung, und durch sie hindurch habe ich den Gegenstand, nämlich hdurch sie hindurchi erscheint er und kann er erfasst sein. Nennen wir die Darstellungen zur Subjektivität gehörige, subjektive Erscheinungen gegenüber dem Erscheinenden, subjektive Repräsentanten gegenüber dem Repräsentierten, so ist dieses Subjektivsein etwas total anderes als das Subjektivsein der Liebe, der Empörung etc. E ine gewi ss e Verwandtscha ft hat das Letztere mit dem E r f as s en, dem b ezi ehende n und schlichten Erfassen, nämlich als subjektives Sich-Richten-auf, aber nicht mit dem Empfinden, dem Auffassen, das, indem es ein Objekt erscheinen lässt, gewissermaßen selbst objektiv ist, im Objekt liegt und nicht Subjektivitätscharakter hat wie das Lieben, das Wünschen etc. Und selbst das Beziehen: Ist es nicht dem Ich äußerlich, sofern es Beziehungsauffassung ist? Und zum „Ich“ gehört nur der Strahl der Aktivität, das Erfassen, Festhalten, das Zusammenhalten (Kolligieren).
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Dabei ist nicht an das empirische Ich zu denken, sondern im Phänomen liegt ein gewisses Sich-Richten-auf, auf dessen einer Seite Empfindung, Erscheinung, Ding liegt oder auch beziehende Auffassung (Beziehungserscheinung, möchte man sagen), durch die hindurch der Sachverhalt gegeben ist, während auf der anderen Seite nichts zu fassen ist. Richtung-auf ist nicht Richtung eines als Ich zu fassenden Ausgangsdinges oder Ausgangspunktes, sondern eben Richtung-auf bzw. Richtung durch Erscheinung, durch Darstellung etc. Und das „durch“ sagt wieder nur etwas, was man nur an dem Darstellen selbst, so wie es im Gerichtetsein fungiert, verstehen kann: Die Reflexion zeigt uns die Darstellung, die nun in sich Ziel der Richtungauf ist. Und wo Richtung-auf eine Richtung auf rein Immanentes ist, wie eine Empfindung, finden wir überhaupt nur dieses Einfältige, z. B. Rotinhalt, Ton. Aber freilich, wenn wir ins Zeitbewusstsein eintreten, sehen wir, dass die Richtung-auf ein Strahl ist, der seine Kontinuität der Breite hat: selbst eine Einheit, sich im Zeitbewusstsein konstituierend. Wenn wir andererseits die Liebe, Empörung etc. und alle ähnlichen „subjektiven“ Akte hnehmeni, so haben wir auch eine Richtung-auf. Genauer, wir haben irgendeine objektivierende Richtung-auf mit all dem, was sie an Darstellungsstufen in sich schließen mag, aber wir haben andererseits auch die liebende Richtung-auf, die empörende Richtung-auf etc. Wie man sieht, hat jede eine eigene Qualität, und zu jeder Qualitätsart gehört eine Positivität und eine Negativität. Positivität und Negativität treten nicht auf in der Erfassung (in der theoretischen Zuwendung), aber sie treten auf in der „Auffassung“, im beziehenden Bewusstsein, sofern es Gegenständlichkeit konstituierend ist (Seinsmodus). Wir haben in der Bewusstseinssphäre zweierlei Akte (zu denen Positivität und Negativität gehören), die einen sind objektivierend, die anderen nicht-objektivierend, die letzteren liegen in besonderem Sinn auf der subjektiven Seite.
h§ 6. Empirische Apperzeption und Wertapperzeptioni Wenn ich öfters Gefallen an etwas gefunden habe, so fasse ich es im neuen Fall von vornherein als schön, als entzückend etc. auf, 35 ehe ich noch das aktuelle Entzücken wirklich erlebe. Ich sehe von
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weiter Ferne eine berühmte Madonna von Raffael und fasse sie als das berühmte und „schöne“ Werk auf. So fasse ich ein Nützliches als nützlich auf, ohne den Nutzen zu aktualisieren, die Speise als wohlschmeckend, ohne sie wirklich zu schmecken etc. Ebenso eine Geige als vermutlich herrlich tönend. (Ich sehe ihren Charakter als echte Amati.) Ebenso aber auch: Ich sehe einen Gegenstand als Hammer, als Werkzeug. Ich sehe einen Gegenstand und erfasse mit die Rückseite. Und schließlich: Die Vorderseite, und zwar die Farbe etc., sehe ich „wirklich“, aber in diesem Sehen liegt auch ein Auffassen. Man wird hier geneigt sein, von Erkennen zu sprechen. Ich erfasse ein Ding als Ding, das ist ein Erkennen. Ich erkenne aufgrund der aktuellen Empfindungserlebnisse unter gegebenen Umständen einen farbigen, runden Gegenstand, eine Einheit von Eigenschaften und gerade von diesen Eigenschaften, die mir fortgesetzt gegeben wären in einer zusammenhängenden Einheit der Erkenntnis. Auch das eigentlich Wahrgenommene ist erkannt, und das uneigentlich Mitgefasste ist miterkannt. Nun, dann ist Erkennen ebenso viel wie empirisches Auffassen und wohl zu scheiden vom Erkennen des Gegenstandes als Gegenstand eines „Begriffs“, als Subjekt eines Prädikats. Begriffe gehören in die Sphäre des Denkens, und Denken setzt hier, als unter Begriffe bringen, ein „Anschauen“, ein „Auffassen“ voraus. A pper zepti on al s em pi ri sche Auffassung, in der ein empir is cher Gegens tand erschei nt als Ding und in seinem empir is chen Wer t, i st ei n festum grenzter Begriff.1
1 Jeder Akt ist also Bewusstsein von etwas, nämlich nicht nur jeder „stellungnehmende“ Akt des Gemüts, sondern jeder spontan sich zuwendende Akt, wozu auch das Urteilen zu rechnen ist. Bewusstsein in diesem Sinn ist nicht identisch mit Erfassung, mit Betrachtung und darauf gegründeter Prädikation. Denn das sind nur Einzelfälle solchen Bewusstseins. Aber jedes Bewusstsein kann Grundlage eines erfassenden Bewusstseins sein, und das erfasst dann, je nach der „Richtung“ des erfassenden Aktes, das Bewusste, das Urteil, den Wunsch etc. und macht es in der Erfassung zum Objekt, eventuell zum Explikanden, expliziert seine Teile, hebt seine „Charaktere“ hervor, bezieht diese auf das Subjekt hoder esi analysiert, was Sache des „Aktes“ ist, Sache der Modi ist, in denen dasselbe Kategoriale, Optionale etc. gegeben ist. Ein Bewusstsein ist Bewusstsein-von, das heißt eben, es ist eine Reflexion möglich, die 1) evident macht, es war etwas, das nicht erfasst war, und dieses war Bewusstsein von etwas; 2) aus diesem lässt sich „nachträglich“ in der Reflexion eben entnehmen das Was etc. Bewusstsein-von, das ist das „intentionale“ Bewusstsein. Es gibt so viele Grundarten, so viele Grundarten von Gegenständlichkeiten es gibt. Bewusstsein-von
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Wie weit reicht Apperzeption? Ein Ding erscheint und erscheint mit den und den inneren Bestimmtheiten und den und jenen äußeren, das und das bewirkend, die und jene Einflüsse erfahrend usw. Und dabei ist mancherlei uneigentlich erscheinend, mitaufgefasst in der einen oder anderen Richtung, etwa was sich auseinanderlegt mit den Worten: Wenn das Ding so behandelt wird, dann tritt das und das ein, es hat die Fähigkeit, so und so zu wirken und zu leiden. Ein Mensch histi ein Gegenstand, der „leiblich“ die und die Eigenschaften hat und der zugleich erlebt, Bewusstsein hat, die und die wirklichen Akte, die und die Eigenschaften geistiger Art, Fähigkeiten etc. hat. Zur Apperzeption, in welcher ein empirischer Gegenstand sich konstituiert, gehört wesentlich das Ineinander von „motivierenden Umständen“ und „Motivaten“, das „wenn und so“, „weil und so“, das Zueinander-„gehören“, womit gegeben ist, dass, wenn die „Umstände“ in Fluss kommen, sich die Zugehörigkeiten entsprechend ändern usw. Die Konstituentien des Gegenstandes, die Teile, Momente, die Eigenschaften, Fähigkeiten, gehören zusammen, sie konstituieren in der Einheit der Zusammengehörigkeit den Gegenstand als etwas, das das und das ist, und sie gehören zusammen in dieser Form des „weil – so“ und „wenn – so“, die hinweist auf den möglichen Fluss der Phänomene. Kommen die Phänomene in Fluss, so muss, da sich das darstellt, sich dann jenes darstellen etc. Es muss das und das kommen. Es ist eine identische substanzial-kausale Einheit untergelegt, eine Einheit des Phantoms, die ihre eigenen Formen hat, auch ein Identisches histi, das sich durchhält durch einen Fluss von Erscheinungen, und von Erscheinungen, die den Typus haben: Wenn das Einheitliche unter den Umständen so ist, so muss es bei Änderung der Umstände so sein; da es als dieses Identische sich jetzt so darstellt, muss es sich im Fortgang der Erscheinungen so darstellen etc. Das Substanzial-Kausale liegt aber in der höheren Schicht, die schon Phantome voraussetzt und Weil-so-Beziehungen, die schon zu Phantomen gehören, neu einführt.
ist nicht so viel wie Erleben. Erleben ist das immanente Zeitbewusstsein, auch das ist Bewusstsein, aber der radikalsten Tiefe. Aber noch eins ist zu erörtern: Hat denn Bewusstsein-von Intensitäten? Ich liebe, begehre heißer und minder heiß. Ich bin mehr oder weniger entrüstet.
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Gibt es nicht noch andere Zusammengehörigkeiten? Und entspringen aus diesen nicht andererseits wieder empirische Zusammengehörigkeiten? Nämlich wenn ich einen edlen Ton höre: Ich höre den Ton und er gefällt. Es ist hier die Schwierigkeit zu entscheiden, ob das „edel“ bloßes Korrelat des Gefallens ist oder ob zum Ton ein sinnliches Gefühl gehört, während das Gefallen ein Neues, ein stellungnehmender Akt des Gemüts ist. Muss man nicht sagen, so wie Empfindung einmal ohne Zuwendung statthat, das andere Mal mit Zuwendung (erfassender Setzung), so auch das an den Empfindungsinhalt geknüpfte Gefühl (oder das auf Empfindungsbewusstsein gegründete Gefühlsbewusstsein), nur dass wir hier eine doppelte Art der Zuwendung haben: einmal die erfassende, die den Gefühlsinhalt eben erfasst, und die andere die Gefallenszuwendung. Aber ist das eben anderes als das Stellungnehmen zu dem Gefühl und ein zweites dem hGefühli gegenüber? Jedenfalls, blicke ich mit Gefallen auf das Objekt hin, auf den Ton, so hat der edle Ton seine Gefälligkeit, es ist das Gefällige bewusst, der Ton im Charakter der Gefälligkeit. Und dieser Charakter gehört zum Ton und näher zu ihm vermöge der und der Momente (der und der Wertcharaktere). Diese Zugehörigkeit ist eine ganz andere als die der Zugehörigkeit innerhalb einer empirischen Apperzeption. Sie ist durch den Akt des Gefallens originär „gestiftet“. Man kann versuchen zu sagen: Die empirische Apperzeption ist passive Apperzeption. In der Zuwendung, die hier bloße Erfassung ist, verhalten wir uns entnehmend, und entnehmend, ohne dass wir vorher gegeben haben in einer Aktivität. Die empirische Anschauung gibt, und wir haben nur zu nehmen, um das Gegebene zu erfassen. Das Geben ist ein passives Haben, kein aktives Geben. Hier aber im Gefallen haben wir eine Aktivität, die sich auf der Passivität des gebenden Bewusstseins aufbaut; das Gemüt nimmt Stellung zum Gegebenen, und indem es das tut, ist ein Neues gegeben, wir können nun wieder erfassen.1 Nun stiftet sich aber im Bewusstseinszusammenhang immer wieder neu empirische Apperzeption. Ich kann ein Objekt als entzückend 1
Vgl. aber Aπ 7 = 65 h= S. 65,17–67,8i. Gefallen ohne Zuwendung. Heiterkeit, die sich von der Geschmackslust ausbreitet, während ich nicht im Gefallen der Speise als gefällig zugewendet, sondern mit anderen Dingen beschäftigt bin.
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(empirisch) apperzipieren, ohne ein aktuelles Gefallen zu vollziehen, ohne also das „gefällig“ originär zu konstituieren und dann das Konstituierte am Objekt als seinen Charakter zu erfassen. Man wird etwa sagen: Ich habe bei dergleichen Entzücken erlebt und das Entzückendsein erfasst, und nun, ohne wirklich das Entzücken zu erleben, apperzipiere ich das Objekt als entzückend. Nun habe ich eine Apperzeption wie eine andere, und sie kann nun Aussagen fundieren wie „Dies ist entzückend“, „Dass dies geschehe, ist zu wünschen, ist wünschenswert“ etc. Aufgrund dieser Apperzeption kann dann ein neues Gefallen statthaben. Eine Geige apperzipiere ich als herrlich. Sie „hat“ einen entzückenden Ton und entzückt um dessentwillen selbst: Aktuell entzückte früher vielleicht der Ton der wirklich gespielten Geige und sie selbst um dieses Tones willen, aber dann, wenn ich sie nur sehe, wo sie nicht gespielt wird, gefällt sie. Wir haben ein sozusagen apprehensives Gefallen, ein Gefallen an der Geige um dessentwillen, dass, wenn sie gespielt wird, sie einen herrlichen Ton gibt, einen schönen Ton und einen entzückenden Ton. Die Geige ist als das apperzipiert, und diese apperzeptiven Charaktere sind die Motive („Quellen“) des Gefallens. (Der Ausdruck „apprehensives Gefallen“ ist wohl unbrauchbar.)1 Wie ist es, wenn ich einen Sachverhalt denke und ich sage aus, er sei wünschenswert, ohne dass ich wünsche? Ruht das auch auf empirischer Apperzeption? Habe ich dergleichen auch bei Gedachtem? Habe ich wirklich gewünscht, dass S p ist, so mag der Gedanke, dass S p ist, Träger einer Apperzeption sein: Dass S p ist, steht als wünschenswert da, es hat den apperzeptiven Charakter. Aber wie ist das zu denken? Anstelle des aktuellen Wünschens steht eine Modifikation, es ist kein lebendiger2 Akt, aber ein „totes“ Wünschen. Ebenso, wenn etwas als gefällig, entzückend apperzipiert wird, tritt, wird man sagen, für das lebendige Gefallen ein totes, passives ein. Und nun kann ich mich auch hier dem Charakter zuwenden, kann die Objektität als erfreulich, erwünscht etc. setzen und erfassen.
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Es ist ein auf Wertung als Wertapperzeption gegründetes Gefallen. Statt „lebendiger“ hatte Husserl ursprünglich „spontaner Akt“ geschrieben und dann dazu am Rand bemerkt: „Spontan ist zweideutig. Es handelt sich nicht um Zuwendung, sondern um ursprüngliches Leben.“ – Anm. der Hrsg. 2
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Werden wir also nicht zurückgeführt auf die Unterschiede zwischen „ lebendigen “ Akten und „ toten “ (Passivitäten, in die Aktivitäten übergehen können)? Und wie weit das zurückzuführen ist, ist für mich immer fraglich gewesen: Ob dann nicht auch sinnlichdingliche Apperzeption zurückführt auf ursprüngliche Aktivitäten, auf wirkliche Akte des aufgrund gewisser Motivationszusammenhänge des Empfindens sich haufibauenden Einheitsbewusstseins, Gegenstandsbewusstseins? Die schon konstituierte Einheit kann Träger neuer Prädikate werden: Neue Schichten von Motivationen verflechten sich mit den alten und hdarunteri solche, wo neue Akte, die Gemütsakte, fungieren, die in den Akten der Unterschichten fundiert sind. Wir hätten dann Dingmotivationen, damit verflochten Wertmotivationen der Schicht der sinnlichen Gefühle, dann Gefallensmotivationen: Unter den und den Umständen nimmt das Objekt Werteigenschaften an, und dann knüpft sich daran Gefallen, das zu diesen Eigenschaften als Werteigenschaften gehört. Es fundiert dann einen Sachverhalt, der Freude erregt, oder das Nichtsein des angesetzten Sachverhalts fundiert einen Wunsch und das Angesetzte ist erwünscht etc. Das Objekt gefällt, es hat eine Beschaffenheit, die angeschaut lebendiges Gefallen erregt. Das Objekt im Charakter des Gefallens, das ist noch nicht das Objekt in der Gefallensbeschaffenheit. Aber eins hängt mit dem anderen zusammen: Das Erfassen erfasst das Objekt und die Gefälligkeit an ihm. Sie ist, wenn das Wertmoment anschaulich gegeben ist, selbst „anschaulich“ mitgegeben und so das Objekt als das angeschaute.
h§ 7. Die Empfindungsunterlage der Sondergefühle und der Einheitsform der Gefühlei Die sinnlichen Gefühle, positive oder negative, Gefühle der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, des Wohlseins oder Unwohlseins: Sie haben neben Positivität und Negativität nur uneigentliche Qualitäten, sofern sie Einheitsformen von Gefühlen sind, die durch die Empfindungsunterlage bestimmt sind. Wenn man will, haben sie Qualitäten: Die Lust an einem Ton und die Lust an einer Farbe sind 35 verschieden, eben weil die Lust fundiert ist in Verschiedenem und 30
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durch diese Fundierung, in der sie mit dem Fundierenden auch eins ist, ihre konkrete Bestimmtheit erhält und somit auch ihren Zusammenhangscharakter. So ist auch sonst Fundiertes bestimmt, so z. B. die Wahrnehmung, je nachdem sie Wahrnehmung von dem und jenem ist. Es ist nun offenbar, dass zu den verschiedenen sinnlichen Elementen in sich Gefühle gehören und dass dabei die Einheitsformen der Gefühle Eigenheiten haben, weil Gefühle durch Gefühle vielleicht gesteigert oder herabgesetzt werden können und weil andererseits auch – und das jedenfalls – die Einheitsformen der sinnlichen Empfindungen ihrerseits die Gefühle ändern, die zu den Elementen gehören: Jeder Ton einzeln gefällt, ist sinnlich angenehm, in ihrem Zusammen können sie aber missfallen oder sich in besonderer Weise hinsichtlich ihrer Annehmlichkeit steigern etc. Wir finden an Ganzen aus Empfindungselementen ein einheitliches Gefühl, und dieses einheitliche Gefühl ist nicht nur Gefühl am Ganzen, sondern wir finden, dass es sich auch in bestimmter Weise verteilt, dass Sondergefühle zu den oder jenen Teilen gehören und gewissermaßen Glieder ausmachen in einem Gefühlsmilieu, in einer Gefühlssauce, die über das Ganze der Empfindungen ausgegossen ist. Aber diese Verbindungsart macht es doch, dass das Gefühlsganze, das einheitliche Gefühl, unterscheiden lässt die einheitliche Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit oder Gleichgültigkeit und die Gefühle, die zu den einzelnen Teilen gehören, an ihnen hängen. Aber wenn ich hinweise auf Musik: Ist es da nicht klar, dass wir nicht alles auf Positivität oder Negativität reduzieren können und haufi Mischungen bzw. Einheitsformen aus Gefühlen, die nur diese beiden Qualitäten haben?
VI. GEFÜHLSBEWUSSTSEIN – BEWUSSTSEIN VON GEFÜHLEN. GEFÜHL ALS AKT UND ALS ZUSTAND1
h§ 1. Über die Beobachtung von Gefühlen.i Lektüre von hund Kommentar zu Moritzi Geigers Abhandlung in der Lipps-Festschrift2
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hGeiger meint, diei analysierende Beobachtung von emotionalen Gefühlen hseii unmöglich, weil Gefühle während des „Erlebens“ nicht zum Objekt gemacht, nicht vergegenständlicht werden können (hS.i 136). hS.i 135: Eine „teilende Gliederung des Gefühls“ sei nur möglich, wenn das Gefühl gegenständlich geworden ist. Dann muss es jedoch seine „Erlebnisstellung“ aufgeben, es hört auf, „unmittelbar erlebt zu sein“. Es ist wohl möglich eine „nachträgliche Analyse des Gefühls“, wenn das Gefühl vergangen ist und ich darauf hinblicken kann, nicht aber eine „Analyse während des Erlebens“. Ich kann dem nicht beistimmen, da ich keine reine Bestätigung finde. – Ich war eben „schlecht disponiert“. Nun überkommt mich meine ganze Situation, die ihre Trübnis hat. Wie kann ich mein Leben vollenden, wie meine übergroßen Lebensaufgaben erfüllen? Die Wissenschaft schreitet vorwärts, meinen langjährigen Bemühungen scheint der Abschluss versagt zu sein, und andere Vorwärtsdrängende entdecken von neuem, was ich schon längst gefunden hhabei. Es überkommt mich das Gefühl der Vergeblichkeit meiner Arbeit. Und während ich diese Stimmung erlebe, blicke ich auf sie hin. Nun meint Geiger, das sei Beachtung, nicht Beobachtung. Nun will ich aber beobachten. Ich wiederhole die Motivation, ich lebe wiederholt diese 1
1911. – Anm. der Hrsg. Husserl zitiert im Folgenden aus Moritz Geiger, „Das Bewusstsein von Gefühlen“, in: Münchener Philosophische Abhandlungen, Theodor Lipps zu seinem sechzigsten Geburtstag gewidmet von früheren Schülern, hrsg. von A. Pfänder, Leipzig 1911, S. 125– 162. – Anm. der Hrsg. 2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 143 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3_6
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traurige Stimmung, d. h. in ihrer Beziehung auf die Motive, und zugleich beobachte ich Teile und Seiten. Freilich, die frische Erinnerung spielt dabei ihre Rolle, aber die Stimmung, die ich analysiere, ist nicht die vergangene, sondern die immerfort lebendige, die Einheit, die durch diesen Ablauf hindurchgeht, die Art, wie sie ihre explizite und nach Ablauf der Motivationsvorstellungen implizite Beziehung auf die Motive hat etc. Die Schwierigkeiten sind hier im Allgemeinen dieselben, wie wenn ich das Wesen der Apperzeption studieren will, das Wesen eines „Erlebnisses“, einer Phansis beliebiger Art. Ich muss Reflexion üben. Freilich, das theoretische Interesse, die Intention forschender Betätigung, hat seinen Einfluss. Die „Höhe“, der „Grad“ der Gefühlslebendigkeit wird geändert. Bin ich niedergeschlagen, traurig, übel gestimmt, so wird das theoretische Interesse den Lebendigkeitsgrad der Traurigkeit herabsetzen, obschon sie nicht sogleich verschwinden wird. Das Gefühl wird heller, dünner, weniger satt, schließlich ganz dünn. Es mag sein, dass, sowie das forschende Interesse zurücktritt und seinerseits an Lebendigkeit einbüßt, die alten Motive wieder ihre Kraft gewinnen, die Trauer wird satter. Es kann aber auch sein, dass die Stimmung „verfliegt“. Indessen, wenn ich analysieren will, kann ich eben „wiederholen“, die Motive mir von neuem vergegenwärtigen, und wenigstens einen Teil ihrer Kraft werden sie von neuem entfalten, und so kann ich allgemeine Wesensfeststellungen machen. Ja, nun wird man aber sagen: Das Gefühl, das ich analysieren und beobachten wollte, ist es nicht mehr, das ist abgelaufen und hat nicht standgehalten. Aber macht das so prinzipielle Unterschiede gegenüber äußeren Vorgängen? Auch die laufen ab, und wenn ich sie beobachten will, so kann ich nur das Neue analysieren und in frischer Erinnerung der Einheit der neuen Phasen und der alten nachgehen. Das wesentlich Neue ist nur die Reflexion, und überall, wo ich Reflexion hgeibrauche, habe ich heinei andere Beobachtungsweise. Ferner der unleugbare Einfluss des theoretisch beobachtenden Interesses auf andere Gefühle. Nachträglich sagt aber G ei ger hauf S.i136, dass der Satz, dass die Beobachtung der Gefühle „im vollen Erleben“ ausgeschlossen sei, nur für eine bestimmte Art der Beobachtung gelte, die mit der Art verwandt sei, wie wir Gegenstände zu beobachten pflegen. Nämlich dann, wenn ein einheitliches Ich seine Gefühle, die es erlebt, gleich-
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zeitig mit Aufmerksamkeit zu erfassen sucht. Es soll aber andersartige Bewusstseinszustände des Beobachtens von Gefühlen geben, nämlich die Fälle, w o man i n vol l em Si nn sei n eig ener Zuschauer ist. Man ist dann in ein beobachtendes und ein erlebendes Ich ges palten. Man beobachtet, wie man gefühlsmäßig auf bestimmte Erlebnisse reagiert, wie Freude und Angst sich bilden, wie Hass und Liebe entstehen, wie man mitleidig oder grausam ist, wie man in Wut ausbricht. Und während das „eine Ich“ all das erlebt, sieht das andere Ich dem ruhig zu, nimmt Stellung dazu, ist erstaunt darüber oder erfreut – oder fragt sich, was wohl andere bei solch einem Gefühlsausbruch denken mögen. Hier haben wir also ein erlebendes, fühlendes, begehrendes, handelndes, auch nachdenkendes etc. Ich und ein beobachtendes, das all dem sich zuwendet, aber auch mehr: Das Ich erlebt Gefühle, es fühlt, und es nimmt fühlend Stellung zu diesen Gefühlen, es hat Gefallen daran etc., oder es missbilligt etc. Das Ich kann beobachten und andererseits zusehen, dass es beobachtet und somit sein Beobachten beobachten – oder nicht? Wo ist hier bei dieser Rede von „Spaltung“ die Grenze? Die ganze Sache ist mir nicht recht klar. Geiger sucht den U nterschi ed zwi schen der Beobachtung in der Spaltung und d er ungespal t enen Beobachtung (nicht seine Ausdrucksweise!) so zu verdeutlichen: „Im ersteren Fall teilt sich das Ich für mein Erleben: Das eine Ich erlebt, während das andere beobachtet.“ hS. 137i Kann man nicht auch sagen: Das Ich hat allerlei Erlebnisse und zudem das Icherlebnis des auf dieses Erlebnis bezogenen Beobachtens, nämlich es „hat“ jene Erlebnisse nicht nur, sondern hat sie in der Weise der Objekte eines Aufmerkens? Ebenso aber hat es einerseits gewisse Erlebnisse, andererseits neue Erlebnisse des auf jene bezogenen Billigens oder Missbilligens, Sich-Freuens oder hSich-iBetrübens, des Sie-auf-ein-Urteilen-anderer-Menschen-Beziehens etc. „Nicht sind“, heißt es weiter, „wie in den früheren Fällen der Beobachtung von Gefühlen, zwei Strahlen eines einheitlichen Bewusstseins-Ich vorhanden, von denen der eine im Gefühl auf die Gegenstände geht, der andere das Gefühl beachtet, sondern das Ich selbst teilt sich.“ Was sind das für frühere Fälle? hS.i 133: Wir sind ungeduldig und bemerken das. Wir ärgern uns und bemerken es. Die Gefühle sind
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dabei nicht gegenständlich, meint G ei ger. „Sie bleiben in Erlebnisstellung.“ hS. 137i Demgegenüber kann analysierende Beobachtung eintreten, die Gefühle hören dann auf, Erlebnis zu sein und werden zu Gegenständen: in der Erinnerung. Die Frage ist, ob es sich hier wirklich um radikale Unterschiede handelt. Es gibt sicherlich Fälle einer Spaltung des Ich in dem Sinn, dass ich als Subjekt zu mir selbst (ich als Objekt) wahrnehmend (beobachtend), urteilend, fühlend, wollend Stellung nehme. So zum Beispiel: Ich fühle, dass ich jetzt in einer vertrackten Situation bin, ich weiß und fühle mich von Freunden bedrängt, in meinem Streben verkannt etc. Ich ordne mich der leiblichen und sozialen Welt ein, einer gesellschaftlichen Gruppe, einer Familie etc. Ich stelle mich vor als Familienvater, als Mitglied einer Fakultät, als Freund gegenüber Freunden etc. „Ich“, der Vater etc., bin, indem ich „mich“ vorstelle, über mich urteile etc., Objekt wie jemand sonst. Andererseits: Reflektierend finde ich mich, den Vorstellenden, Urteilenden, oder „mein“ Vorstellen, mein begriffliches Fassen und Urteilen, mein Fühlen, Billigen etc. bezogen auf mich als Objekt. Und nun rückt all das in Objektstellung, oder das erlebende Ich, das stellungnehmende gegenüber dem soeben objektivierten, wird selbst zum Objekt und wird doch mit diesem „identifiziert“, und alsbald steht dahinter als ideale Möglichkeit einer neuen Reflexion das erlebende und nicht objektivierte Ich. Das alles ist unzweifelhaft und seine nähere Wesenserörterung ist eine besondere Aufgabe. Nun kann man allenfalls so unterscheiden: 1) Ich sage etwa in innerem Sprechen: Ich bin neugierig, wie ich mich aus dieser Situation herauswickeln werde. Werde ich stark genug sein etc.? Ich sage etwa zu mir mit Goet he: Nutze deine jungen Tage etc., sei ein Held! Du hast keine andere Wahl! Hier bin ich Objekt, und ein Objekt, das ein Ich ist, das hsichi auf sich selbst richtet, zu sich selbst spricht, sich Lehren gibt, sich über sich betrübt oder freut etc. Und Reflexion übend kann ich dann sagen, es sei zu unterscheiden zwischen dem nicht objektivierten, erlebenden Ich als einer gewissen Schicht von Erlebnissen und zwei objektivierten und miteinander identifizierten Ich-Schichten, ein Ich auf sich „selbst“ gerichtet. 2) Ich bin traurig gestimmt, und in dieser Stimmung lebend mag ein beachtender Blick auf sie gehen, ohne dass ich mich als „Ich bin traurig gestimmt“ objektiviert setzte. Ich bin lustig und blicke auf
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die Lustigkeit hin, eventuell freue ich mich auch der Lustigkeit, ohne dass ich mir sagte und mich objektiv setzte: Ich bin lustig, und ich freue mich darüber. Es ist allerdings die Frage, ob nicht, wie allzeit Dinge „da“ sind, so auch gegenüber den Dingen ein Ich, heini einfaches Ich, bewusst ist, wenn auch nicht wörtlich und begrifflich gesetzt. Und weiter, wenn die Verstimmung beachtet ist, ob sie nicht als Verstimmung des Ich bewusst ist und gesetzt ist. Dann aber kann ich mich ärgern, dass ich verstimmt bin und kann den Ärger bemerken. Muss ich dann den Ärger selbst wieder als „Ich ärgere mich“ objektivieren? Oder ich bin heiter und bemerke die Heiterkeit und freue mich der Heiterkeit, ich bin der Heiterkeit zugewendet und in der Weise der Beachtung und wieder der Freude, ich bemerke auch die Freude. Muss sie wieder als „Ich freue mich über meine Heiterkeit“ objektiviert sein? Muss jedes beachtete Gefühl als „Ich fühle“ objektiviert sein? Jedenfalls könnte man aber einen Unterschied darin finden: Einmal erlebe ich Stimmungen, Affekte etc., und objektiviert steht da: ich, der ich in diesen Stimmungen befindlich bin, und diese selbst als meine Stimmungen etc. Zugleich aber steht sozusagen dahinter „ich“, der das beobachtet, der im Hintergrund neugierig ist, wie ich mich nun verhalten werde, der Urteile abgibt und dgl. (insbesondere Werturteile). Ein anderes Mal fühle ich das und jenes, urteile ich so oder so, handle ich, bemerke all das, aber ich stehe dabei nicht hinter all dem als stellungnehmendes Ich, das sich sich gegenüberstellt und dabei von hint en her Stellung nimmt, sondern ich tue es von vor ne her, sozusagen offen, nicht als ein gleichsam Zweiter, als wie ein Fremder, aber als eine sozusagen fremde Person, die zugleich ich bin, als ob ich mich in einen anderen hineingesteckt hätte, der mir gegenübersteht und über mich urteilt, sondern ohne aus mir hinauszugehen, nehme ich Stellung, urteile ich etc. Das hat wohl G eige r gemeint. Er sagt ja: „Hier teilt sich das Ich für mein Erleben. Das eine Ich erlebt, das andere hIchi beobachtet“ (ist neugierig, ist erstaunt, was das Ich für Dummheiten macht, wie unvorsichtig es sich gehen lässt etc.). Nicht sind „zwei Strahlen eines einheitlichen Bewusstseins-Ichs vorhanden, von denen der eine im Gefühl auf die Gegenstände geht, der andere das Gefühl beachtet, sondern das Ich teilt sich selbst“ (S. 137). Wieder sagt er (S. 137 unten): „Bei der Beobachtung der Gefühle in der
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Ichspaltung ist es nur indirekt das Gefühl selbst, das beobachtet wird, es ist vielmehr das erlebende Ich in seiner Gesamtheit mit den zugehörigen Gefühlen, dem sich ein anderes beobachtendes (und sonst stellungnehmendes) gegenüberstellt.“ Das Hinter-Ich, das mir selbst gewissermaßen entfremdete, der Beobachter, der unbestechliche Zuschauer in der Gewissensbeurteilung etc., ist gerichtet auf das „erlebende“ Ich, auf das lebendige, eigentliche Vordergrund-Ich; es beobachtet aber, indem es beobachtet, wie ich fühle, denke etc., eben auch dieses Fühlen als Zustand, als meinen „lebendigen“ Zustand etc. Ich verstehe nicht recht, warum diese Beobachtung von Gefühlen so radikal verschieden sein soll und warum sie eigentlich von Geiger ausgeschlossen wird. Die Apperzeptionsweise ist verschieden, aber „indirekt“ ist die Beobachtung des Gefühls doch nicht. Nur dass das Gefühl apperzipiert ist als Gefühl des „lebendigen“ Ich (es fehlt ein Wort!), und es ist nicht abzusehen, warum in der Ichteilung Beobachtung des Gefühls möglich sein soll und ohne Ichteilung nicht. Da bleibt doch sehr viel Ungeklärtes übrig. S. 138: Un t ers chied zwi schen ni cht erfassten Gefühlen ( nic ht mit A ufm erks am kei t erfasst) und n icht beachteten „ gegens tändli chen Erl ebni ssen “. 1) Ich gehe bei einer Farbe von Nichtbeachtung zu Beachtung über. 2) Ich gehe bei einem Gefühl von Nichtbeachtung zu Beachtung über. ad 1) Erst war ich anderen Gegenständen, etwa der Gestalt des Blattes zugewendet, dann der Farbe. Eine Gegenstandseinstellung geht in die andere über: Auf die Gegenstandsseite des Bewusstseins bin ich dabei immer eingestellt. ad 2) Ein Gemälde anschauen und genießen. Dann beachte ich die Gefühle, das Erlebnis des Genusses, des Gefallens am Bild. „Die gesamte Einstellung ist geändert“, einmal lebe ich im Gefühl, ich bin ganz darin. Dabei achte ich auf das Bild. Wenn ich aber auf das Gefühl achte, ist nicht ein neuer Gegenstand, Gefühl genannt, für meine Aufmerksamkeit an die Stelle eines anderen getreten, sondern die ganze Bewusstseinsanordnung ist verschoben. Das ist richtig. Aber das gilt nicht nur für Gefühle, sondern für den ganzen Bereich der (nicht objektivierten) Erlebnisse, für alles, was
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„Bewusstsein“ ist und überhaupt nicht „gegenständlich“ ist, aber in einer „Reflexion“ zum Gegenstand werden kann. Einmal bewege ich mich in einem apperzheptiveni Feld: im Feld „erscheinender“ oder sonstwie „bewusster“, „vorgestellter“ Gegenstände. Das andere Mal überschreite ich dieses Feld und „mache“ zum Gegenstand, was vordem nicht gegenständlich war, nicht etwa bloß unbemerkter, aber vorstelliger Gegenstand war. Das ist das Entscheidende. hS.i 139: Die I ntent i onal i tät der Gefühle. Brentano und seine Schüler (ebenso die Grazer psychologische Schule) behaupten den „intentionalen Charakter der Gefühle“. Ähnlich wie in den Akten des Meinens das Gemeinte erfasst wird, wie in den Vorstellungsakten das Vorgestellte, so wird auch in einer Freude irgendein Gegenständliches erfasst. G ei ger vermeint damit auch meine Stellung zu bezeichnen, aber das ist verkehrt (vgl. Logische Untersuchungen). Das habe ich nie gesagt, dass die Freude „erfasst“, wie eine Vorstellung erfasst. Wohl spreche ich von einem gegenständlich Gerichtetsein, etwa, dass Gefallen seinem spezifischen Wesen nach die Beziehung auf ein Gefallendes fordere. Aber es fragt sich, was Gerichtetsein und Beziehung-auf für ein Gefühl und für jeden Akt, der nicht Vorstellung ist, besagen soll. Geiger reproduziert wesentlich meine Ansicht, wenn er sagt, dass der erfreuliche Gegenstand ni cht so (hS.i 140) in dem Erlebnis der Freude gegeben sei wie der gemeinte Gegenstand im Meinen, der wahrgenommene im Wahrnehmen. Aber dennoch seien wir im Zweifel (den er als Gefühl fasst) gerichtet auf das Bezweifelte, in der Freude auf das Erfreuliche: Wir beziehen uns in der Freude auf den Sachverhalt. Das ist, wie gesagt, meine Lehre in den Logischen Untersuchungen und weicht also wesentlich ab von der Lehre, die vorher hS.i 139 als die Brentanos und seiner Schüler (darunter werde ich selbst durch ein Zitat befasst) bezeichnet worden histi. Geiger findet es nicht glücklich, die Beziehung der Freude auf den Sachverhalt (er selbst gebraucht jetzt denselben unvermeidlichen Ausdruck wie ich) als intentionale zu bezeichnen. Es sei zweckmäßiger, von intentionaler Beziehung nur da zu reden, wo ein Gegenständliches im Akt wirklich erfasst wird. Er spricht von „Gegenstandsrichtung“, ein Ausdruck, den ich doch auch oft verwende. Also nach
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Geiger (das gesteht er zu) haben Gefühle „Gegenstandsrichtung“, wenn wir fühlend auf die Gegenstände der Gefühle eingestellt sind (hS.i 141). Es ist unvermeidlich, von Gegenständen der Gefühle öfter zu sprechen und wohl immer. Und damit ist eben auch die Rede von „Beziehung“ auf Gegenstände, von Richtung auf sie als unvermeidlich dargelegt. „Wie aber ist die Beziehung von Gefühl und Gegenstand beschaffen, wenn wir innerlich nicht auf die Gegenstände, sondern auf das Gefühl selbst eingestellt sind?“ Wenn wir das Gefühl beachten, während wir es erleben? Geiger unterscheidet Beachtung von Gefühlen und als allgemeineren Fall Einstellung auf Gefühle (es gibt Einstellung-auf, die nicht Beachtung ist). Beispiel: ästhetische Landschaftsschilderungen, die Einstellung rein auf Gegenstände fordern (hS.i 142). Es muss auf die Gegenstände hingeblickt werden. Im Erfassen des Gegenstandes baut sich hier das Gefühl auf (realistische Landschaftskunst). Andere Kunstwerke dagegen (Richtungen der Lyrik) wollen weniger im Erfassen des Gegenstandes genossen sein, sondern darauf kommt es ihnen an, eine „Stimmung zu erregen“. Bei unzähligen lyrischen Gedichten ist es nicht sehr wesentlich, die innere Einstellung zu richten auf die Worte und ihren Sinn, sondern die Worte wollen eine bestimmte Stimmung in mir anklingen lassen. „Die Einstellung richtet sich dann auf die Stimmung – der Gegenstand ist gleichsam außerhalb der Einstellung.“ Wir seien auf die Stimmung eingestellt, ohne das Gefühl zu beachten.
h§ 2. Meinendes Vorstellen und meinendes Fühleni E in Gefühl beachten ist sicherlich etwas ganz anderes als in einem Gefühl leben und, des näheren, darin in bevorzugendem 30 Sinn „leben“. Es kommen hier verschiedene Differenzen in Betracht. Bei Gefühlen wie bei allen anderen Erlebnissen haben wir den Unterschied des Im-Vordergrund-Stehens und Im-Hintergrund-Stehens, und das in verschiedenem Sinn. G ei ger spricht von „Einstellung“ auf ein Gefühl, auf eine Stimmung, und stellt das gegenüber der 35 Einstellung auf einen Gegenstand. Das scheint mir schief. Insbeson-
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ders wenn es heißt, bei der Einstellung auf das Gefühl verbliebe der Gegenstand des Gefühls „außerhalb der Einstellung“: als ob Einstellung beiderseits dasselbe besagte. Wir können in einem analogen Sinn sehr wohl sagen, wir lebten in der Vorstellung des Gegenstandes, wir seien vorstellend auf den Gegenstand „meinend“ oder bloß bemerkend gerichtet, auf ihn zielte ein thematisches Meinen, auf ihn zielte ein bloßer Blickstrahl, ein Strahl der Aufmerksamkeit, und andererseits, wir lebten im Gefühl, wir seien fühlend auf den Gegenstand und seinen Wert gerichtet, und dabei entweder in der Weise des thematisch auf das Gefühlte Gerichtetseins oder hdesi nicht-thematisch und bloß nebenbei (neben dem Thema), im Vorübergehen etc. darauf fühlsmäßig Gerichtetseins. Sprechen wir hier von Einstellung auf das Gefühl, so müssten wir dort von Einstellung auf die Vorstellung sprechen, sprechen wir hier hingegen von der Einstellung auf das Gefühlte (auf den Objektwert), so dort von der Einstellung auf den (Vorstellungs-)Gegenstand. Da liegen die Analogien. Zu bemerken ist aber, dass wir hier besser nicht von Unterschieden des Im-Vordergrund-und-Hintergrund-Stehens sprechen. Das Bild ist vieldeutig. Das wird sich im Weiteren zeigen, und näher wird sich zeigen, dass wir bei allen „Akten“ unterscheiden müssen die Fälle des im spezifischen Sinn Gerichtetseins-auf, Abzielens, Hingewendetseinsauf, von Fällen, wo das nicht statthat, und wieder in der ersteren Sphäre die Fälle, wo die Hinwendung einem theoretischen oder Gemütsthema gilt (das sich in dieser Hinwendungsweise konstituiert) und wo sie einem gilt, das außerhalb des Themas steht, wofern überhaupt ein Thema konstituiert ist. Damit sind aber nicht zu verwechseln die Unterschiede der „Bew us s ts eins höhe“, der Aufdri ngl i chkeit, der Lebendigkeit, die sich mit den eben genannten kreuzen, also z. B. sich finden innerhalb der Akte, in denen wir kein Abzielen-auf und kein thematisches Meinen im Besonderen vollziehen. Nämlich Vorstellungen können mehr oder minder gehoben sein, sich mehr oder minder aufdrängen (aufdringlich sein), größere Lebendigkeit haben oder geringere. Hier bestehen graduelle Unterschiede, die es aber nicht hindern, dass doch von V ors tellungs hint ergründen gesprochen werden kann, die das unterste Niveau bezeichnen, von dem aus ein Abheben statthat, gewissermaßen ein diskreter Lebendigkeitsunterschied, der Dif-
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ferenz schafft gegenüber dem Niveau.1 Ebensolche Unterschiede bestehen in der Gemütssphäre. Ein vager Gefühlshintergrund, der nichts von Hinwendung-auf, Hingerichtetsein-auf konstituiert hat, und davon abgehoben lebendige Gefühle derselben Art. Und natürlich auch in der spezifischen „Bewusstseins“-Sphäre (der der spezifischen Intentionalität) eben dasselbe. Etwas anderes ist es aber, wenn wir die Rede von Vordergrund und Hintergrund auf Unterschiede zwischen thematisch und nichtthematis ch beziehen. Zum Beispiel, ich bin in niedergedrückter Stimmung und lese ein G oethe’sches Gedicht, und zwar ästhetisch. Das ästhetische Erlebnis steht im Vordergrund, das heißt, darin vollziehe ich ein thematisches Bewusstsein, das bestimmte Erlebnisreihen zentriert und verknüpft und erhöht. Die trübe Stimmung steht im Hintergrund, sie ist nicht verschwunden, sie hat ihre Aufdringlichkeit und ihre Lebendigkeit. Sie hat ihre Abhebung gegenüber anderen Gefühlen. Wieder kann es sein, dass dazwischen manche Vorstellungen und Gefühle etc. außerhalb des Themas auftauchen und, sofern sie Richtung-auf haben, im „Vordergrund“ stehen. Nun heißt V order grund alles, was Bewusstsein im spezifischen Sinn ist, spezifische Richtung-auf. Und dieser Vordergrund teilt sich wieder: der Kreis dessen, was im Vordergrund des „ Interesses “ steht, dessen, was zur Ei nhei t des Themas (des theoretischen oder axiologischen oder praktischen) gehört, und das, was zurücksteht. Das alles bedarf also hier hderi Überlegung. Sorgsamste Begründung ist nötig, um die zweierlei (bzw. dreierlei) sich kreuzenden Unterschiede zur Klarheit zu bringen. Also 1) Empfindungen, sinnliche Apperzeptionen, Gefühle etc. können Unterschiede der Aufdri ngl i ch keit (Tendenz, zu größerer Lebendigkeit aufzusteigen, wieder Tendenz, zu Hinwendungen zu werden) und Unterschiede der Lebendigkeit, der Deutlichkeit der Abhebung, der Reinlichkeit in der Ausbildung, Ausgestaltung bei Erhaltung ihres Sinnes, der Klarheit und Unklarheit zeigen. Da ist
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Es muss unterschieden werden zwischen der A u f d r i n g l i c h k e i t als einer Tendenz (ein phänomenologischer Charakter) und der L e b e n d i g k e i t, der Höhe im „Bewusstseinsniveau“.
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offenbar noch zu gruppieren und Unterschiede dieser jetzt zusammengefassten Gruppe hsindi sorgsam zu fixieren.1 2) Auf der anderen Seite stehen die Meinungen und ihre Unterschiede. Eine Vorstellung (Objektivation) kann meinende sein, einen Meinungsstrahl enthalten oder auch nicht. Meinung zunächst allgemein: Hinwendung-auf, Ichrichtung-auf. hE s i s ei nun di e Vorstel l ung „ G rundlage “ für ein Fühlen: Das Vorgestellte gefällt, stimmt traurig (sofern es an Trauriges erinnert und diese Traurigkeit „weckt“) etc. Dann ist zweierlei möglich (so könnte man deuten): a) D as Mei nen lebt ausschließlich im Vor s tellen, es ist die Spontaneität des den Gegenstand Fassens und Setzens, an ihm das oder jenes an Teilen, Momenten Erfassens, Beziehens, Identifizierens, Unterscheidens etc., das Heer der „theoretischen“, „logischen“ Akte. Das Vorgestellte berührt das Gemüt, aber im Gefallen etc. lebt kein „Meinen“, keine Spontaneität. Es ist pass ives Fühl en.2 b) Das Fühlen kann auch ein „ meinendes “ Fü hl en sein, ein aktives, spontanes Gefallen. Das Ding da gefällt, und in der Beziehung in sich selbst, in der anderen Beziehung um des oder jenes willen. Spontan verbinden und sondern sich die Gefallensakte, Akte als Spontaneitäten. Meinen besagt da, wie es scheint, Spontaneität, Aktivität gegenüber Passivität,3 und da kämen in Betracht die Unterschiede zwischen Vorstellungsakten als spontanen Setzungen, Erfassungen etc. und Vorstellungen, die dieser Eigentümlichkeit entbehren. Der Kontrast tritt hervor, wenn Spontaneität sich in Passivität verwandelt, wenn das spontane Vorstellen in den nicht-aktiven Modus zurücksinkt, auch bei höheren Formen der Objektivierung. Ich urteile und wende mich heinemi neuem Sachverhalt zu: Ich urteile neu, und das alte Urteil sinkt zurück, es ist nicht mehr Akt, es verwandelt sich in eine Passivität. Wenn so jede Spontaneität sich wandeln kann in Passivität, so ist es klar, dass unterschieden werden muss: urs pr üngli che P assi vi tät, die noch nicht Aktivität war, das 1 Über Aufdringlichkeit liegen 2 Blätter in PPP zu Anfang h= Beilage VII: Das Sich-Aufdrängen eines Objekts als Reiz zur Zuwendung (S. 188)i. 2 Passiv im Sinn eben von nicht-meinend; aktiv = meinend = spontan. 3 Ist denn „Spontaneität“ ein klarerer Begriff als Meinen? Ich glaube jetzt, dass es umgekehrt ist und dass man Spontaneität durch Meinen definieren kann aufgrund passender Beispiele.
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ursprüngliche Chaos, das, was nicht an sich den Charakter des caput mortuum, des unlebendig Gewordenen hat. Dann das Modifizierte, das unlebendig G ewordene, die verwandelte Aktivität, endlich die A kte s elbs t. Im Fortgang der Akte finden wir einen Hintergrund des ganz Unlebendigen und den Zug der zurücksinkenden Spontaneitäten. Wir müssen aber noch genauer sein. Nicht nur dieses Dreierlei müssen wir ja unterscheiden – das, was nicht den Charakter gewesener Spontaneität hat, der sich ausweist, indem wir das Phänomen der „Reakti vierung“ vollziehen, das, was ich habe, und hdasi, was aktive Spontaneität ist –, sondern wir haben auch die m odalen U nterschi ede: Akt, herabsinkender Akt, seine Lebendigkeit soeben einbüßend, absterbend (die Spontaneität zieht sich da zurück), und das schon völlig Unlebendige, mag es auch reaktivierbar sein. Ferner ist es klar, dass wir auf Seiten der Spontaneität Unterschiede haben wie das spontane Einsetzen und das Noch-Spontaneität-Sein nach dem Einsetzen. Ich urteile, setze das Subjekt und daraufhin das Prädikat. Bei der Prädikatsetzung ist die Subjektsetzung vorausgesetzte und noch festgehaltene Aktivität, aber nicht mehr schöpferische, urquellende Aktivität. Ein Zurücksinken ist schon da, aber noch ein Strahl der Spontaneität. Ganz anders, wenn ich mich einem anderen Thema zuwende, verhält es sich mit dem ganzen „zurücksinkenden“ Urteil. Wir erkennen also hier zw ei Komponent en in den Phänomenen, die nicht im Quellpunkt, im schöpferischen Punkt, liegen: das Herabsinken und die Spontaneit ät (das spontane Lebendigsein). Ein Herabsinkendes kann noch Spontaneität enthalten, nämlich von einem Quellpunkt aus kann dahin noch ein Strahl gehen, oder es kann das „Ergebnis“ der Setzung, der urquellenden Spontaneität, festgehalten sein. Ich habe die Intention, etwas Neues daran anzuknüpfen etc. Auch wenn ich Prädikatsetzung übe und von ihr aus ein Strahl der Spontaneität zur Subjektsetzung, die herabgesunken oder vielmehr im Herabsinken ist, geht, geschieht dies so, dass das Herabsinken zugleich ein Halten des „Ergebnisses“ ist. Also Schöpfung und Erhaltung auf der einen Seite, auf der anderen Seite kein Halten mehr und damit Unlebendigkeit, alsbald stirbt das Leben ab. Das Abgestorbene aber zeigt den Unterschied des vom Leben Herabsinkens mit dem Schein des Lebens und den anderen des völlig toten Hintergrunds. Jenes hat noch etwas Lebenswärme, obschon keine wirkliche Spontaneität. All
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diese Unterschiede bestehen gewiss. Aber nun fragt es sich, ob wir mit ihnen für unsere Fragen etwas machen können. Ein vorstellendes Meinen richtet sich auf Gegenstände, „beschäftigt“ sich mit ihnen, und das Gefühl „betätigt“ sich an diesen Gegenständen; sie gefallen, missfallen, sie wecken Stimmungen und sind so Träger von Stimmungen. Nun kann ich mich dabei in verschiedener Weise „verhalten“: a) Ich „lebe“ im Vorstellen, im Urteilen, in der theoretischen Spontaneität (allgemeiner in der sachkonstituierenden). Gefühle, die sich auf die Gegenstände beziehen, sind Erlebnisse, aber ich „lebe“ in ihnen nicht. b) Ich lebe vorzugsweise im Gefühl, in den Gefühlsakten, die sich auf die Gegenstände beziehen,1 und die Vorstellungen, Urteile etc. vollziehe ich entweder nur „nebenbei“ in der Weise, dass ich das und jenes an ihnen bemerke und beziehend auffasse, ohne dass es mir „darauf ankommt“, sofern es nämlich für meine Gefühlseinstellung irrelevant ist, oder ich fasse es auf, sofern es für das Gefühl relevant ist; das gegenständliche Fassen und Urteilen fundiert das Fühlen. Aber dieses „fundiert“ besagt auch etwas für die Art der vorstellenden Spontaneität. Ich lebe nicht im Vorstellen schlechthin, sondern primär im Fühlen und im Vorstellen nur als „Voraussetzung“ des Fühlens. Ich betrachte eine Landschaft ästhetisch, und in der Einheit des ästhetischen Gefühls ist eine gewisse Vorstellungsunterlage Erfordernis. Das bestimmt mein Betrachten. Daneben fällt mir außerhalb des ästhetischen Einheitsgefühls und der dadurch bestimmten Einheit der fundierenden Betrachtung manches auf: „Hier wird auch Mais gepflanzt“ und dgl. Es kann auch umgekehrt sein. Ich betrachte als Landwirt die Gegend und nebenbei fällt mir eine hübsche Baumgruppe ästhetisch auf, oder eine malerische Ruine. Offenbar sind das ganz andere Unterschiede als die vorhin besprochenen der Spontaneität. Das Vorstellen, Urteilen ist einmal die „Hauptaktion“, das andere Mal ist es das Fühlen. Mein Ich „lebt in der ersten Linie“ im Urteilen, ein andermal im Fühlen. Es kann auch im objektivierenden Verhalten ein Unterschied dieser Art sein. Mein Hauptthema gruppiert gewisse Vorstellungen, Urteile zusammen, in denen bin ich haupts äc hli ch da bei; dazwischen schneit dieser oder jener
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Vorher: Ich lebe weder im Sachkonstituieren noch im Gefühl.
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Gedanke hinein, das oder jenes außerhalb des Themas Stehende fällt auf. Ebenso: Die Einheit der ästhetischen Haltung bestimmt das ästhetische Thema; was dieses durchbricht, nicht hineingehört, sei es an Vorstellungen oder Gefühlen, das ist anders charakterisiert. Aber da ist wieder der Unterschied: Die Vorstellungsunterlage, Vorstellung als Voraussetzung, gehört mit zum ästhetischen Thema, aber nur als Voraussetzung. Die Vorstellung konstituiert nicht selbst das Thema, aber sie hilft dazu mit und wesentlich, primär aber das Gefühl. Also haben wir in der Tat sehr wesentlich auseinanderzuhalten: die Unterschiede zwischen Spontaneität als einsetzenden und festhaltenden Akten gegenüber der Passivität und Rezeptivität und all dem, was dazugehört, und die Unterschiede zwischen dem, was das primäre Thema ist und was es nicht ist, worin das Ich sich primär postiert hat und wo nicht. Ferner wäre noch zum Obigen zu erwägen, dass ich auch als Landwirt, Agronom, als Geologe etc. meine bestimmt gerichteten „Interessen“ habe, dass da auch Gefühle lebendig sind. Ich habe Liebe zur Wissenschaft und näher zur Geologie, ich habe Liebe zur Landwirtschaft, oder Landwirtschaft ist mein Beruf, und damit hängt es zusammen, dass ich mich für Landwirtschaftliches, auch wo es sich nicht um meine Güter handelt, interessiere, teils, um für meine Wirtschaft davon Nutzen zu ziehen, teils, weil es mir an sich gefällt, zum Selbstinteresse geworden ist. Diese Gefühle bewegen mich und „bestimmen“ den Gang meiner Betrachtungen, Vorstellungen, Urteile, in all dem „lebe“ ich nun im besonderen Sinn, dazwischen schneit etwas herein, gegen das Thematische.1 Ferner ist es Sache besonderer Überlegung festzustellen, was das besagt: Das Thema liegt in der Vorstellung selbst, hnämlichi die Gegenstände, die Sachverhalte etc., und ein andermal kommt es nicht
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Hingabe an wissenschaftliches Denken und Forschen erfreut mich. Reflektiere ich, so finde ich diese Freude. Umgekehrt, solche Freude bestimmt meinen Willen zum wissenschaftlichen Forschen und bewirkt, dass ich mich in solches Denken und Forschen gern einlebe. Im derartigen „intellektiven“ Verhalten lebe ich dann vorzugsweise, es konstituiert mir theoretische Themata. Mit diesen hat die Freude an der Forschung nichts zu tun, sie gibt nicht theoretische Themata. Ihr Thema ist das Forschen, wenn sie thematische Freude wird.
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auf die Sachen und Sachverhalte selbst an, sondern auf die Weise, wie sie erscheinen, auf Stimmungen, die sie erwecken. Oder es kommt nur auf Stimmungen an und darum nur auf die Erscheinungen oder auf die halb unklaren, vagen Vorstellungsweisen der Gegenstände, während 5 klare Vorstellungen – und versunken in das, was die Gegenstände sind und wie sie sind – den Stimmungsgehalt nicht zur Weckung brächten etc. Man darf nicht wie G ei ger gegenüberstellen Einstellung auf das Gefühl und Eins tel l ung auf den Gegenstand (statt auf 10 das Vorstellen!), sondern: Auf der einen Seite ist Gefühl das Thema meines Lebens, in dem ich in besonderem Sinn lebe, andererseits Vorstellen, Urteilen, Zweifeln etc., in dem ich thematisch lebe.
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Kann man sagen: Alles, was Thema ist, ist innerhalb der Sphäre der Objektivation, des „Vorstellens“, beachtet? Sicher kann man umgekehrt sagen: Beachtet, ja pri m är beachtet, kann auch etwas s ein, das nic ht Them a ist, wie wenn mir etwas auffällt und ich momentan mich ihm zuwende, ohne dass es darum zum Thema wird (was auch ein eigener Charakter an der Sache ist). Zum Thema gehört das Neugesetzte ebenso wie das Festgehaltene. Aber auch nur Festgehaltenes, mag es auch ein „vorläufig Zurückgestelltes“ sein? Das wird man wohl nicht in jedem Sinn sagen können. Wenn ich zu wissenschaftlichem Zweck mehrerlei lese, so habe ich neben den immer neuen Ursetzungen Festhaltungen, hundi das Festgehaltene noch lebendig bezogen auf das Neugesetzte usw. Aber nun gehe ich zu einer neuen Gedankenreihe über, die ich „auch“ gebrauche, und dann wieder zu neuen. Man wird vielleicht sagen müssen, dass der Begri ff der Festhal tung ein doppelter ist. Ich will ja von dem Gelesenen nichts preisgeben; indem ich es in den Hintergrund zurücksinken lassen muss, halte ich es doch, wenn auch in dunkler Weise, in gewisser Art fest. Kehre ich dazu zurück, so tue ich es als zu etwas, was ich immerfort als Thema habe und als zum Thema gehörig behalte (zurückkehren zu einem nebenher Auffälligen ist etwas anderes). Aber dieses Behalten ist ein anderes
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als dasjenige, das im noch Lebendigen, noch Klaren waltet, wofern Linien der Rückbeziehung, der Synthesis durch dasselbe hindurchgehen. Das „Ergebnis“, an das ich Weiteres „anknüpfe“ (das gesetzte Subjekt, das zum Träger des Prädikats wird, zum Subjektbeziehungspunkt einer zweiten beziehenden Setzung etc., oder der gesetzte Satz, der zur Prämisse einer schließenden Setzung wird usf.), ist ausgezeichnet dadurch, dass Aktionsstrahlen von den neuen Quellpunkten zu den Festgehaltenheiten laufen, also in der Modifikation hsindi noch Strahlen der Aktivität. Wenn ich aber Neues anfange und das Alte vorläufig zurückstelle, noch halte, aber eine Aktionsbeziehung sich erst herausstellen soll, die noch nicht vorgesehen ist, noch nicht mehr oder minder bestimmt angezeigt histi, so ist der Charakter ein anderer. Es bleibt zurückgestellt, aber noch „gehalten“ mit einer unbestimmten Intention, es sollte oder könnte sich Weiteres daran knüpfen; es wird unlebendig. Aber eventuell wird es, wenn auch nicht eigentlich reaktiviert, so doch emporgehoben und nun Durchgangspunkt eines verknüpfenden Strahles. In der einen oder anderen Weise ist alles, was thematisch ist, gehalten und dabei bald mehr oder minder klar, in verschiedener Höhe des Zurücksinkens oder Zurückgesunkenseins bis zur vollen Dunkelheit. Es fällt dabei außerhalb des Rahmens der Beachtung und Beobachtung; in diesen fällt dagegen alles, durch das die Synthesis „lebendig“ hindurchgeht. Sprechen wir von Meinen, so ist das genau in dem erörterten Sinn doppels innig: Das G em ei nte i st entweder das Gesamtreich des Themat is chen, und das befasst als dunkel Gemeintes alles „Gehaltene“, sei es Zurückgestellte, oder es ist der Bereich des aktuell, des „ aufm erksam “ G em ei nten, des primär oder sekundär in merkender Weise Gemeinten, d. i. hdesi aktuell Gesetzten, Verknüpften etc.: Lebensstrahlen der Setzung (Erfassung), Verknüpfung, Beziehung (klare Meinung gegenüber der dunklen). Nun dachten wir uns all das auf die Sphäre des „Vorstellens“ bezogen: Meinen als vorstellendes Meinen, und zwar vorstellende s thematisches Meinen. Im weiteren Sinn vorstellendes Meinen (der Ausdruck passt nicht mehr) wäre jederlei Bemerken und Aufmerken und seine Verdunklungen, aber eigentlich „gemeint“ ist das Thematische. Nun soll sich das in genauer Analogie übertragen auf die Gemütssphäre, also Gefallensmeinung, ästhetische Meinung, ethische Meinung etc.,
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das „lebendige“ Gemütsleben, das im besonderen Sinn aktive, in dem eine Ichaktivität lebt. Es kann dabei sein, dass diese Gefühlsaktivität fundiert ist in einem vorstellenden Meinen, dass also Einheit des „Themas“ durch Vorstellen und Fühlen hindurchgeht. Es kann aber auch sein, dass Vorstellen fundiert, aber nicht thematisch ist. Freilich ist das schwierig. Zunächst ist zu beachten, dass es sehr verschiedene Formen von Gefühlen und sonstigen „Gemütsakten“ (auch Wollungen) gibt, die nicht thematische Auszeichnung haben, keine Gemütsthemata konstituieren, kein Gemütsmeinen ausmachen. Vorhin hatten wir die Fälle betrachtet, in welchen ein theoretisches Meinen vollzogen, Erlebnis ist und auf das so Gemeinte „nebenbei“ auch Gefühle gehen. Ein eigener Fall ist aber auch der eines jeden theoretischen, aber nicht meinenden Interesses, wobei im Grunde das Wort „Interesse“ unpassend ist. Ich denke an die beständigen Fälle, in denen wir uns theoretisch betätigen und dabei bald Lust, bald Unlust erleben, von Gedanken zu Gedanken weggetrieben werden etc. Reflektieren wir, freuen wir uns des Wissens, der Einsicht, ärgern wir uns über die Unklarheit, und zwar eben in der Reflexion, hinblickend-auf, dann haben wir sich-hinwendende und thematische Gemütsakte. Wenn nicht, so erleben wir die Gefühle des Ärgerns, der Freude, aber „unbewusst“. So sind all die mannigfaltigen Lebensgefühle „unbewusster“ Art, die den Rhythmus des Lebens begleitenden Gesamtgefühle, unthematisch. Ebenso ist auch die Freude an der Willenserzielung als solcher, wenn sie reflektiv bewusst ist, thematisch, sonst nicht. Nun können wir wohl sagen: Der Satz „Ein Akt hat Richtung auf den Gegenstand“ gilt allgemein als Wesenseigentümlichkeit aller Akte, wenn wir das Wort „Richtung“ passend verstehen. Dieser allgemeinen „Intentionalität“ steht gegenüber die besondere, die s pezifis ch mei nende Bezi ehung auf Gegenstände. Die thematische Intentionalität kommt den Akten zu, in denen wir in prägnantem Sinn leben und auf Gegenstände und Gegenstandswerte und gegenständliche Ziele als Thema gerichtet sind.1 In diesem Sinn liegt keine 1
Das ist alles nicht besonders gut. Akte sind sich-hinwendende und sich-nichthinwendende, siehe unten. Und andererseits: Akte sind thematische und nicht-thematische. Thematische Akte brauchen aber nicht bewusste Hinwendungen, bewusste SichRichtungen hzui sein. Dann sind sie zwar thematische, aber nicht eigentliche, bewusste „Meinungen“.
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Intentionalität vor, wenn wir nebenbei bemerken, nebenbei, nämlich außerhalb des theoretischen Themas, auf das wir denkend und vorstellend hingerichtet sind, oder wenn wir nebenbei fühlen, außerhalb eines fühlend Hingewendetseins, etwa in der Lust, die unser glücklich fortschreitendes Forschen unreflektiert begleitet usw. – auch wenn wir in der Betätigung des Schreibens nebenbei eine Fliege abwehren, gehört dieser Willensakt nicht zum Willensthema usw. Nun scheint es mir aber, als ob das noch nicht alle wesentlichen Unterschiede befasst. In der Vorstellungssphäre haben wir den Unterschied zwischen Bem erk tem , nämlich Beachtetem, und dem Hinter grund, etwa dem visuellen Hintergrund, von dem sich ein Gegenständliches durch einen Strahl des heraushebenden und pointierenden Bemerkens absondert. Aber der Hintergrund besagt auch: Vorstellungen. Das Bem erkte, eventuell ganz scharf und fix Erfasste, ist darum, wie wir wissen, kei neswegs schon Thema. Ebenso haben wir einen G efühl svordergrund und -hintergr und, und zwar ein pointierendes Gefallen mit „Richtung“ auf einen Gegenstand und Hintergrundslust oder -unlust ohne solche „Richtung“. Die Hinwendung, das „Sich-Richten-auf“ als ein Besonderes! Und das wieder kreuzt sich mit dem Thematischen und Nicht-Thematischen. Also hätten wir zu sagen, es sei zu unterscheiden: 1) die Intentionalität im wei tes ten S i nn, d. h. die allgemeine Beziehung auf Gegenstände. Sie besagt eine Wesensei genschaft der Phänomene, die sich eigentlich expliziert durch die folgenden Unterschiede. Nämlich gehen wir von den besonderen Fällen aus, so kann 2) ein „Akt“ eventuell nicht nur Beziehung, sondern Hinwendung auf, Hingerichtetsein auf etwas zeigen, als Aufmerksamkeit (Bemerksamkeit) auf etwas in der „theoretischen“, der Vorstellungssphäre; als Gefühlshinw endung, Hinrichtung-auf, als Wi l l ensrichtung-auf in der Gemütssphäre. Zum Wesen jedes Aktes, der nicht diesen Modus zeigt, gehört es, dass er sich in diesen Modus verwandeln lässt und so, dass wir evidenterweise sagen müssen: Er hat schon in sich die und die Beziehung auf den Gegenstand, aber sie wird erst zur „Richtung-auf“ in der Modifikation der Hinwendung. Das wäre die Verallgemeine r ung von Aufmer ksam kei t (al s Bemerksamkeit). 3) Jeder Akt kann den Modus des them ati schen annehmen, derart, dass sein intentionales Korrelat den Charakter des Intendierten im be-
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sondersten Sinn hat, des thematisch Gemeinten. Die Intentionalität im allgemeinen Sinn soll sagen „Beziehung auf Gegenstände“, aber genauer besehen ist sie immer Beziehung auf Gegenstände, in eigener Art aber auch in der Gefühlssphäre Beziehung auf Wert, in der Willenssphäre Beziehung auf Ziele. Im Vorstellen leben kann sagen, dass das Vorgestellte mein Thema ist; es kann sagen: hesi als theoretisches Thema setzen, das Objekt erfassen, als Subjekt setzen, als Beziehungspunkt etc., und zwar im Thema, im Hauptabsehen (denn dasselbe kann man auch außerhalb des Themas). Andererseits: Das Vorstellen in seiner relativen Klarheit, Vagheit, Bildlichkeit etc. dient eventuell nur als Unterlage, „um“ Stimmungen zu fundieren. Das Vorgestellte ist nicht mein Thema. Ich lebe „vorzugsweise“ in der Stimmung und in der Vorstellung nur, sofern sie Stimmung weckt. Es kann aber auch sein, dass (wie z. B. bei der Freude an einem lebendig sich abspielenden Vorgang) das Leben im Gefühl zugleich Leben in der Vorstellung ist, bei des gl ei ch thematisch, einheitlichthematisch. Die Analogie scheint durchführbar zu sein. Bemerken, Aufmerken, beobac hte nd Beschäftigtsein, das sind Vorstellungsreden. Ich beobachte es: Es ist mein Thema. Ich bemerke es nebenbei, es ist nicht mein Thema. Also das beobachtend Beschäftigtsein, das Aufmerken im spezifischen Sinn, weist auf thematisches Vorstellen hin. Das Analogon wäre Gefallen haben: nebenbei hoderi primär Gefallen haben (Gefallenssetzung), i m G efallen thematisch leben: inter es s ier t sei n. Theoretisch interessiert sein = theoretisch Meinen, gefühlsmäßiges Interesse = Gefühlsmeinen, und zwar in der thematischen Bevorzugung. Vom Gefühl berührt sein, während das eigentliche Interesse in einer anderen Linie verläuft, ist nicht „interessiert“ sein. I nter -es se: Ich bin bei dem einen selbst dabei, bei dem anderen nicht. Unter den intentionalen Erlebnissen im weitesten Sinn (Akten im weitesten Sinn) heben sich also heraus: 1) die Phänomene der Zuwendung, und zwar der bloßen Zuwendung „ohne Interesse“. Die Zuwendung kann primäre oder sekundäre Zuwendung sein etc. Während ich meinen Blick auf etwas richte, fällt mir schon etwas anderes auf, dem ich erst nachher den Blick zuwende, nämlich primär zuwende. Zugewendet, aber sekundär, bin ich ihm schon, „es
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fiel mir auf“, das ist das Sich-zuwenden-aber-noch-nicht-primär-denVorzugsblick-darauf-richten. Einfältige und mehrfältige Zuwendungen, Aussonderungen eines Kreises, außerhalb dessen etwas verbleibt, was noch immer merklich ist. Also hsindi weitere Unterschiede zu machen! Modi des Aufmerkens bzw. Bemerkens, des Erfassens und Befassens. 2) Phänom ene des Interesses i m weitesten Sinn, des theoretischen und praktischen Interesses etc. Verschiedene Modi. Ein Interesse und Akte, die außerhalb stehen, oder mehrere sich durchkreuzende, durchbrechende, störende Interessensphären. Ein Interesse „entzündet“ sich, etwas „weckt“ mein Interesse, es wird zu einem neuen Thema, während ein anderes Thema noch lebendig ist. Die obigen Betrachtungen haben gezeigt, dass nicht jedes Phänomen des Interesses ein Phänomen der Aufmerksamkeit, ein Phänomen der Zuwendung ist. Es gibt eine dunkle, außerhalb der Sphäre des Bemerkens stehende Interessensphäre, etwas, von dem ich nicht mehr sagen kann, dass ich es, wenn auch nebenbei, bemerke. Kein Strahl der Hinwendung im vorigen Sinn geht dahin. Oder auch: Hinwendung als Strahl des Bemerkens und Aufmerkens und Hingewendetsein ohne jedes Bemerken sind zu unterscheiden. Ebenso der Doppelsinn von Richtung. Wir könnten auch von unbewusstem Interesse sprechen, von unbewussten Richtungen auf ein Thema: wenn das Unbewusste die Sphäre der Unbemerksamkeit besagt. Die Phänom ene d es Interesses sind Phänomene des Meinens im engst en Si nn (aufmerkendes Meinen, merkendes Meinen, Interesse im engsten Sinn), wenn sie eben mit Zuwendung, Hinwendung „verbunden“ sind, wenn die Objekte (onthischei Korrelate) des Interesses Objekte sind, denen das Ich zugewendet ist. Man wird noch die Sätze aussprechen können, 1) dass jedes „Phänomen des I nter ess es“ (in dem jetzigen Sinn, also jedes im speziellen Sinn thematisch meinende Bewusstsein) entweder meinendes Vorstellen ist oder es hat ein, wenn nicht meinendes, so zuwendendes Vorstellen zur Grundlage. 2) Allgemeiner: Jedes „Bewusstsein“, und zwar jeder Akt, der den Modus einer Zuwendung, einer Richtung-auf im speziellen Sinn hat, ist entweder vorstellende Zuwendung oder hat eine solche vorstellende Zuwendung zur Grundlage.
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3) Am Allgemeinsten: Jeder Akt ist entweder Vorstellung oder hat eine Vorstellung zur Grundlage. Die Vorstellung braucht aber nicht merkende, erfassende oder gar meinende zu sein. Dieser letztere Satz macht am meisten Schwierigkeiten: nämlich die Schwierigkeiten, die Empfindungen und die zu ihnen gehörigen Gefühle, Tendenzen, richtig zu interpretieren. Und das sowohl für die Empfindungen im gewöhnlichen Sinn (sinnliche Empfindung) als auch für die Erlebnisse, die, ohne Objekte von Zuwendungen zu sein, doch Empfindungen sind, Zeiteinheiten konstituierend, aber chaotisch. Sind „Empfindungen“ Grenzfälle von Vorstellungen (Vorstellungsaktualitäten gegenüber Nichtaktualitäten), so ständen ihnen gegenüber transiente Vorstellungen. Deutlicher: Überall hätten wir den Unterschied zwischen erfassenden Vorstellungen (zuwendenden) und nicht-erfassenden; und dieser Unterschied kreuzte sich mit dem der immanenten Vorstellungen und der transienten. Erstere hsindi die Empfindungen bzw. Wahrnehmungen immanenter Empfundenheiten. Mit Beziehung auf die Gegenüberstellung von erfassenden (allgemeiner: hinwendenden) und thematischen Akten ist zu erwägen, ob dann unsere obige Darstellung, die einen dunklen Hintergrund innerhalb der thematischen Sphäre nachzuweisen suchte, nicht dahin drängt, oder es mindestens nahelegt, anzunehmen, dass dieser Hintergrund doch nicht völlig frei von Zuwendung ist, hund zu erwägen,i ob das Im-Dunklen-Halten-und-Mitnehmen auch ein Modus des Erfassens und Fassens ist. Wir könnten etwa sagen: innerhalb der Sphäre des zuwendenden Vorstellens (des zufassenden, noch haltenden und behaltenden) sei eben zu scheiden: a) Die primäre Zuwendung, das aufmerksam erfassende, das erwählende Vorstellen, der pointierende Blick richtet sich darauf, es vor allem bevorzugend. b) Die sekundären Zuwendungen. Neben dem Ersten ist noch ein Zweites und Drittes oder eine Gruppe und dgl. mitgefasst, miterblickt; auch das ist eine Auswahl, eine Bevorzugung, indem noch anderes übrig bleibt, was vorstellig ist. c) Ein gefasster Hintergrund, der „Hintergrund“ ist, weil er eine niederste Stufe darstellt von gefassten Objektitäten, vor denen, die sub b) und a) bevorzugte sind.
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d) Und all dem gegenüber gibt es nun eine Fülle von Vorstellungserlebnissen, durch die gar kein Blick geht, in denen nichts von Fassung lebt, die bloße Passivität, das Chaos. Also sämtliche Empfundenheiten gehören in die Sphäre des Unerfassten, auch dunkel Unerfasstheni. Aber es mögen auch apperzeptive „Wahrnehmungsvorstellungen“ (transiente Vorstellungen) auftauchen ohne jeden Blickstrahl; sie machen im eigentlichen Sinn keinen Hintergrund aus, der, wie das Bild andeutet, ein Gefasstes ist ohne jedes Fassen. Irgendein beliebiger Akt ist „bewusst“, aber nicht Objekt einer Zuwendung, weder einer primären noch entfernten Erfassung. Dagegen der gegenständliche Hintergrund der Wahrnehmungsfelder ist, wenn auch dunkel, hintergrundmäßig erfasst. Vielleicht nur teilweise, oder genauer gesprochen: Vielleicht ist die Zahl der ausgebildeten Apperzeptionen dürftig, vielleicht hsindi nicht alle Sinnesempfindungen in Apperzeptionen einbezogen, aber allgemein zu reden ist immer ein Hintergrund da, von dem sich das primär und sekundär Erfasste (das Aufgemerkte und Bemerkte) abhebt. Wir würden also dann innerhalb der Sphäre der Erfassungen im weitesten Sinn, der zuwendenden Vorstellungen, unterscheiden die Sphäre der Klarheit (der Merksamkeit) und die Sphäre der Dunkelheit; und innerhalb der ersteren Sphäre das Aufgemerkte (Begriffene) gegenüber dem bloß Bemerkten (nebenbei Mitgefassten, noch Gehaltenen etc.). Aufmerksamkeit und Bemerksamkeit wären also Gebiete innerhalb der erfassenden, zuwendenden Vorstellungen, eine Sphäre der Auswahl des Herausgeschauten gegenüber dem „dunkel bewussten“ Hintergrund (hdemi verworren gesehenen). Analoges würde dann gelten für alle Zuwendungen, die ja vorstellende voraussetzen. Ferner würden wir nun für die thematischen Akte sagen, dass in den Rahmen des Themas nur „konstituierte“, irgendhwiei gefasste, ergriffene Objektitäten hineingehören können. In die Sphäre vorzüglicher Meinung gehören ausschließlich Objekte elektiver Zuwendung, herausgegriffene, aufgemerkte. In die Sphäre dunkler Meinung, des thematischen Hintergrunds, gehören Hintergrundobjekte, die aber konstituierte sind. Also das „Fel d der kon sti tui erten Objektitäten“ (bzw. konstituierten Werte, konstituierten Onta etc.), das Feld bewusster, im weitesten Sinn gefasster, ist es, aus welchem das thematische Bewusstsein ein engeres Feld auswählt: theoretische, axiologische
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und praktische Themata und thematische Gruppen. Außerhalb des thematischen und des zuwendenden Bewusstseins bleibt aber vieles. Wir können auch sagen: Bewusstsei n im weitesten Sinn oder A kt zerfällt in eine Sphäre von Akten, in welchen sich Onta konsti5 tuieren – der Kreis der Gegenstände, Werte, praktischen Ziele etc., mit denen Bewusstsein sich beschäftigt, die ihm als Vordergrund oder Hintergrund gegenüberstehen etc. –, und in eine andere Sphäre von Akten, die zwar „gegenständliche Beziehung“ haben, aber so, dass das Bewusstsein sich hier nicht mit Gegenständen abgibt, Gegenstän10 den zugewendet ist, sie erfasst oder noch fasst, sich irgendhwiei damit zu schaffen macht etc., und so für sonstige Onta.
h§ 4. Gefallen als Akt und der Affekt der Freude als Zustandi
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I) Freude als meinender Akt, also auch als Zuwendung (Gefallenan, Sich-Freuen-über). I a) Im Akt leben und am Gegenstand den Charakter der Herrlichkeit finden. II) Freude als Zustand, im Zustand der Freude leben, ohne sich dem, worüber man sich freut, zuzuwenden, den Freudenzustand darauf zu beziehen. II a) Endlich kann man im Zustand der Freude leben und auf den Gegenstand hinblicken und sich sagen, dass er es sei, um dessentwillen man sich freue, er es sei, der uns freudig gestimmt, fröhlich mache. hadi I) Einmal der Akt also. Sollen wir nicht sagen, der Akt, das sei Wohlgefallen-an? Ich höre eine beglückende Nachricht, ich höre sie mit Glücksgefühlen, ich höre sie mit großem Wohlgefallen, mit großer Freude, mit Glücksgefühlen. hadi II a) Dem Boten sage ich: Ich freue mich darüber von Herzen. Es macht mich glücklich (es erfüllt mich mit Glück, Freude). hadi I a) Ich kann auch sagen: Das ist schön, das ist herrlich. Hier habe ich eine andere Auffassung. Der Gegenstand hat hier für mich den Charakter der „Schönheit“, einen Wertcharakter. Den spreche ich aus. Der Nachricht bin ich zugewendet und nicht nur vorstellend, sondern fühlend. Die Gefühlszuwendung ist ein freudiges Gefallen. Ähnlich wie ich in der Betrachtung eines Bildes (nicht des abgebil-
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deten Gegenstandes schlechthin) ein ästhetisches Wohlgefallen oder Missfallen habe. Dass das und jenes eintritt oder eingetreten ist, das sehe oder höre ich mit Freude, mit Freudenzuwendung. Ich sehe ein Schauturnen mit Vergnügen, diese Darbietungen männlicher Kraft, Gewandtheit, Kühnheit. Das sind offenbar nicht nur Zuwendungen, sondern thematische. Ich lebe thematisch im Gefühl. Ein Wohlgeruch, den mir ein Lüftchen herweht, mag momentan mich berühren und Zuwendung finden, aber nebenbei. Wie steht es nun mit dem Zustand der Freude? Der Akt der zuwendenden Freude, der Freudenmeinung, geht über in den Zustand der Freude, Zustand des Glückes, der Seligkeit, in die andauernde „Stimmung“, in den eventuell sehr beweglichen und inhaltlich sich ändernden Affekt der Freude. Was ist das für ein Unterschied, den wir hier zu fassen suchen? Betrifft er al l e Bewusstseinssphären? Einige Beispiele könnte man zunächst sammeln: Zweifel als Akt, Zweifel als Zustand (nicht mehr aktueller Vollzug des „Ist A oder ist es nicht?“ und dgl.), Urteil als Akt: „S ist p!“, Urteil als Glaubenszustand. Entschließen als Akt, Zustand der Entschlossenheit; Wünschen als Akt, Wunsch als Zustand (Begehrlichkeitszustand); schmerzliches Vermissen als Akt und Zustand der Entbehrung. Sehen wir uns den Fall der Freude näher an! Ich sehe mit Wohlgefallen das Schauturnen. Nachdem dies vorüber ist, hatte ich Wohlgefallen, der „Akt“ ist dahin, so wie die Wahrnehmung und die Wahrnehmungsurteile dahin sind. Ich höre die gute Nachricht mit Wohlgefallen. Nachdem ich hsiei gehört habe, ist das Wohlgefallen daran als Akt dahin. Ebenso wie der Urteilsakt. Ich freue mich darum aber „noch“. Ebenso wie ich noch glaube, dass ich das und das erreicht habe etc.? Nun, eins ist sicher: Der Akt ist zwar vorüber, aber er erfährt ja, indem er einsetzt und abläuft, zugleich eine Modifikation. Es ist nicht bloße Modifikation frischer Erinnerung. Ich habe ja „noch“ Wohlgefallen, ich urteile „noch“, ich stehe noch auf dem Boden des Gefallens, noch auf dem Boden des Urteils. Vollziehe ich Wiedererinnerung, rekapituliere ich sozusagen, so bestätige ich die Stellungnahme und hebe sie nicht auf. Das gefiel mir nicht nur, sondern es war schön, es war, aber es war ein Wohlgefälliges, und nicht nur hatte ich Wohlgefallen gehabt. Und die mir mitgeteilte fortwirkende oder fortbestehende Tatsache ist noch immer erfreulich. Wir haben also mehr als Erinnerung an
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die Stellungnahme, Wiedererinnerung oder retentionale Erinnerung, sondern die Retention ist auch Retention der Stellungnahme selbst, sie ist Festhalten als Stellungnahme. Also das Aktbewusstsein, die aktuelle Zuwendung und Meinung, verliert zwar den Charakter der Aktualität im eigentümlichen Sinn des originären Ansetzens und Ablaufens, aber sie erhält sich in einer Modifikation, in welcher die Stellungnahme zuständlich erhalten bleibt, festgehalten retiniert bleibt. Dabei findet Verdunklung statt. Die Vorstellung, das Urteil, die eventuell darauf gebauten Akte verdunkeln sich – in welchem Sinn? Nun, die Vorstellungen werden aus klaren, aktuellen, deutlichen in abgeblasste Retentionen, in verworrene Vorstellungen, in leere verwandelt. Die Urteile ebenso: Sie werden leere Nachgebilde. Die Richtung auf Gegenstände, Sachverhalte, Werte und Wertverhalte ist da, aber ohne „Klarheit und Deutlichkeit“. Aber das erschöpft nicht die Sache. Wenn die beglückende Nachricht gehört ist, das Hören abgelaufen histi, so bin ich in einem retentionalen Wohlgefallen der Freude noch – wenn auch in einem Leerbewusstsein – gerichtet auf sie als Glücksnachricht, sie ist noch immer mein Thema, das Worüber, auf das ich sozusagen hinziele. Ebenso bei einem Urteil: Ich lese den Satz mit Überzeugung, und noch nach dem Lesen bin ich auf den Sachverhalt im Glaubenszustand gerichtet. Ich meine ihn noch. Die Deutlichkeit der Richtung (wenn auch nicht die Klarheit) ist sicher. Aber die primäre Richtung kann zur sekundären werden, ich wende mich zu einem neuen Urteil, das alte noch haltend etc. Das haben wir schon besprochen. Wie aber bei der Freude? Ich verbleibe im Zustand der Freude, ohne immerfort während dieses Zustands eigentlich auf das Erfreuliche gerichtet zu bleiben, so wie dort beim Urteil innerhalb eines umfassenden Themas neue Fäden anknüpfend, etwa erfreulichen Folgen nachgehend, aber immerfort festhaltend. Jedenfalls, wenn auch in gewisser Weise die Beziehung auf das Erfreuliche während des Zustands der Freude verbleibt, scheint es doch mit der Richtung darauf sich ganz anders zu verhalten als im Fall des Urteils. In der Tat ist hier Neues zu beachten. Das Analogon, und zwar das volle des Urteils, ist das Wohlgefallen. Wir unterscheiden aber das Wohlgefallen und die Freude, die mich durchschauert etc. Das Wohlgefallen, der Akt, durchschauert mich
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nicht, aber er erregt Schauer der Seligkeit. Das Wohlgefallen, der Akt im eigentlichen Sinn, die Zuwendung und „Meinung“, ist die Quelle eines Aff ekts d er Freude, die Quelle einer Fröhlichkeit, eines Frohmuts, einer fröhlichen Stimmung. Fast kann man sagen, dass in den meisten Fällen das Wort Freude den Affekt, die Stimmung ausdrückt und nicht den Akt. (Das Wort „Affekt“ weist auf die Erregung, auf das Emporgetragenwerden zu „Wellengipfeln“ stürmischen Gefühls oder tiefen Tälern hin, das Wort „Stimmung“ hweisti mehr auf ein ausgeglichenes Niveau, nämlich auf gleichmäßige Regsamkeit des Gefühls in dem positiven Niveau oder auf Herabstimmung – Tiefenniveau – hin.) Anstatt „Es gefällt mir“ sagen wir allerdings „Ich habe Freude daran“: Hier tritt mehr der Akt hervor. „Das erfüllt mich mit Freude“: Das weist mehr auf den Affekt hin. In manchen Beispielen können wir es uns deutlich machen, dass heinei solche Unterscheidung zu machen ist und dass in der Tat der Gefallensakt als Quelle eines Affekts anzusehen ist. Ich sehe das Turnen und es gefällt mir, im Fortgang der Vorstellung erwächst immer lebhaftere Freude, ich komme in wachsende freudige Erregung, eventuell in einen wahren Sturm des Entzückens. (Statt Turnen auch etwa ein Ballwettspiel, eine Regatta etc., und der dafür empfängliche Zuschauer. Doch beim Wetten nehme ich Partei und bin mit meinen Begierden, Einsätzen etc. interessiert: was zunächst wohl besser ausgeschlossen wird.) Ich gehe von Akten des Wohlgefallens zu neuen und neuen über. Das, was just an der Reihe ist, gefällt mir anders, als wenn es bei Beginn der Darstellung gestanden wäre. Es gefällt nicht als besser; ich werte es vielleicht weniger oder würde ihm einen geringeren Wert beimessen, wenn ich vergliche. Und doch steigert sich mein Wohlgefühl, ich komme in größere Erregung, die Freude wird immer größer, ich komme immer mehr in Stimmung (also Affekt und Stimmung). Jetzt fragt es sich aber, wie die Sache zu deuten ist. Sind Akt und A ffekt zu tr ennen? Oder haben wir etwa im selben Gefallensbewusstsein zwei „ Sei ten “ zu unterscheiden: das Wohlgefallen als Werthaltung und eine Komponente, der die Steigerung zukommt, die Komponente der Freude und Freudenerregung, die mit der Dauer und Zahl der Wohlgefallensakte sich (im Allgemeinen) steigert? Eine Seite des Wertens, eine Seite des Genießens; die letztere, die Lust als Zustand, als Passivität, die erstere, die Stel-
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lungnahme der Werthaltung, als Aktivität. Aber sind Aktivität und Passivität zwei Seiten einer und derselben Sache? Und man könnte einwenden: 1) Zwei „Seiten“?! Können wir nicht „kalt bleiben“, unlustig, unfähig zu genießen? Kann es nicht sein, dass wir Schätzung haben, in diesem Sinn Gefallen, ohne im Geringsten in Erregung zu kommen, ohne uns zu freuen, ohne zu genießen? So z. B. auch bei der ästhetischen Wertung: Ich gehe müde von der Reise in die Bildergalerie, ich sehe vielerlei Schönes, erhabene und reizvolle Kunstwerke, ich fasse ihre Schönheit auf, ich betrachte sie ästhetisch. Aber der eigentliche „Genuss“ ist gering, ich komme nicht wie in Fällen körperlich-seelischer Frische in einen Zustand seligen Entzückens, in einen Strom der Freude. Es regt sich zwar allerlei, aber es kommt nicht zur Entwicklung: Die Müdigkeit und ihre Gefühlsstimmung überwiegt und hält alles nieder. So auch mit den Gefühlen in Bezug auf meine Nebenmenschen im geselligen Verkehr. Ich spreche mit einem neuen Kollegen. Jede seiner Äußerungen gefällt mir, in ständigem Wohlgefallen steht seine ganze Persönlichkeit vor mir. Trotzdem werde ich nicht warm. Ein anderes Mal werde ich fröhlich, ein Strom der Heiterkeit, der Wärme durchfließt mich etc. Indessen ist es doch fraglich, wie weit dieses Argument trägt. Es ist, könnte man sagen, die Sache die, dass jedes Gefallen nach seiner Zustandskomponente seinen Wärmegrad hat, dass mitunter, wenn Gefallen an Gefallen sich reiht, das vorangegangene Gefallen noch „nachwirksam“ ist, dass dann „durch“ diese Nachwirkung die Wärmegrade der neuen Gefallensakte steigen. Doch kann der Ausdruck Wärmegrad beirren. Besser: Erregungsgrad, Temperatur. Eine unangenehme Nachricht oder einfacher, ein unangenehmer Geruch ist missfällig und hat seine Grade. Geniert mich immer wieder ein neuer und neuer Missgeruch, so steigert sich der Erregungsgrad jedes neuen Gefühls. In dem obigen Beispiel: Ich bleibe kalt, würde besagen: Die Temperatur der Gefühle verbleibt auf einem niedrigen Niveau. Aber Gefallen ist und bleibt Gefallen, Missfallen Missfallen. Einmal ist die Komponente des Genießens bzw. Leidens (der eigentlichen Lust und Unlust) gesteigert, das andere Mal nicht. Bei der anderen Auffassung würde man sagen, die Temperatur kann gleich Null sein und es handle sich nicht um Seiten, sondern nur um eine mitverbundene Komponente.
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2) Nun, aber weiter ist in Rechnung zu ziehen der Unterschied zwischen der Temperatur der zuständlichen „Seite“ oder Komponente und der bleibenden und durchgehend einheitlichen Stimmung. Vielleicht hat uns das Besonderes zu lehren, ebenso der bleibende Erregungszustand, der Affekt. Auf der einen Seite haben wir die Einheit des Aktes bzw. die Mehrheit aufeinander folgender und miteinander nicht (durch verknüpfende Akte) zusammenhängender Akte: Ich gehe in der Galerie, Kunstausstellung, von Bild zu Bild, habe Wohlgefallen und wieder Gefallen. Auf der anderen Seite verbinden sich die Lusterregungen, die Gefühlserregungen, zu der Einheit einer Stimmung. Ferner: Sind alle Akte dahin, so verbleibt eine gehobene oder herabgedrückte Stimmung, ein positiver oder negativer Affekt. Die Akte wirken nach, aber ich vollziehe sie nicht mehr, ich halte sie auch nicht nach, wie wenn auf Akte, indem sie in Retention verbleiben (indem ich sie, ihre Stellungnahme, noch festhalte), neue Akte hsichi gründen. Es ist hier auch an Folgendes zu erinnern: Ich spreche einen lieben Menschen, bin ihm in Wohlgefallen zugewendet und komme in den Zustand warmer, eventuell seliger Erregung. Ich kann nun fortgehen und noch, ihm in der Erinnerung zugewendet, das Wohlgefallen, die Freude weiterherileben. Aber auch wenn ich mich anderen Gegenständen zuwende, verbleibt die glückliche „Stimmung“ und die erst allmählich abklingende freudige Erregung. Ebenso die gehobene Stimmung nach dem „Genuss“ eines großen Kunstwerkes. Hier ist also zu unterscheiden einerseits das Wohlgefallen und der Genuss in der Zuwendung, andererseits die nachbleibende Stimmung oder Erregung. Weiter kann man überlegen: Ich sehe ein Kunstwerk und werte es als Kunstwerk, nämlich ich „erfasse seine Schönheit“, aber nicht „vorstellend“, sondern die Schönheit geht mir in der Wertung auf, in der ästhetischen „Anerkennung“. Ich gerate nun in einen seligen Zustand, ich genieße das Werk, ich freue mich daran. Mich durchschauert die ästhetische Lust. Eine edle Persönlichkeit steht vor mir, ich „fühle ihren Wert“ im Wertbewusstsein. Ich gerate in eine Freudigkeit, ein Wohlgefühl durchströmt mich, eben dasselbe, das noch nachbleibt, wenn die Wertung vorüber ist. Ich habe „an“ der Person meine Freude. Das Kunstwerk macht mir Freude, ich
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genieße es. Genieße ich das Ding und erregt das meine Freude, macht es mir als Ding Freude? Oder die edle Person, ist es ihr Dasein und weckt die daseiende Person die Seligkeit? Natürlich kann ich auch diese kausale Einstellung einnehmen und so sprechen. Aber davon ist hier doch keine Rede. Besser kann man schon sagen: Die Schönheit des Kunstwerks weckt und erregt meine Freude, und dieser Freude, Lust „hingegeben“ (d. i., ohne sie etwa zu beobachten, zum psychologischen Faktum zu objektivieren) genieße ich.1 Und weiter kann ich sagen: Dieser Genuss hat seine Quelle in dem Schönen, im Bewusstsein der Schönheit; in weiterer Folge geht er über in die fröhliche, gehobene Stimmung, die ebenfalls ihre Quelle hat, nicht im Schönen oder vielmehr nicht im Bewusstsein der Schönheit, in der Zuwendung zu ihr, in ihrem Erfassen und Bewusstseinsmäßig-Haben, sondern im Genuss. Die Lust am Schönen, der Genuss ist Ausstrahlungspunkt, Quelle einer Stimmung, er ist eventuell Erregung, jedenfalls „Lust“, und von ihm geht weitere Erregung aus. So scheiden wir auch beim niederen sinnlichen Genuss: Ich esse den Strudel; was ich eben im Mund habe, schmeckt gut. Ich genieße, und zugleich geht von da aus ein Wohlgefühl als angenehme, heitere Stimmung, eventuell lange nachbleibend. In anderen Fällen kann es sein: Der Strudel ist gut, aber ich kann nicht recht genießen, der Genuss macht mir auch weiter keine Freude, es geht von da nicht aus, hesi verbreitet sich von da aus nicht eine heitere Stimmung (Magenfreude).
h§ 5. Sinnliche Lust, Genuss, Stimmung und intentionale Wertgefühlei
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Die Stimm ung is t m oti vi ert. In guter Stimmung befindlich, fröhlich singend etc., erlebe ich Lust und eventuell Lust auf Lust in mehrfältigen „Akten“. „Ich finde nun alles schön.“ Ich werde auch 30 empfänglich für wirkliche Schönheiten, wende mich ihnen zu. Ich
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Oder ist das das Richtige, zu sagen: Die Schönheit ist Korrelat des Gefühls ästhetischer Freude, und diese Freude ist dann der Quell ausstrahlender Affekte, Stimmungen?
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singe ein schönes Lied und freue mich daran. Dasselbe Lied würde mir sonst nicht so viel Genuss bereiten, jetzt ist die Höhe der Lustwärme des zugehörigen Genusses eine besonders große. Alles nimmt Farbe und Wärme von der Stimmung an, alle Lust wird gesteigert, erhält einen Zufluss von Wärme, der eben nicht aus ihrem Wertobjekt stammt, und Gleichgültiges wird fast zu einem „Schönen“ (nämlich es erhält einen erborgten Glanz). Ich weiß das auch. Ich kann sagen: „Ich bin glücklich, fröhlich, lustig, weil ich eine so gute Mahlzeit eingenommen, weil ich so herrliche Kunstwerke genossen, weil ich einen Erfolg errungen (die Nachricht davon empfangen) habe usw. Alles macht mir doppelte Freude, weil …“. „Motiviert“ besagt da nicht „berechtigt“, sondern drückt nur aus das Ausstrahlen, und dass ich im Phänomen selbst finden kann, dass die Lust nicht aus dem Wert des Objekts selbst stammt, sondern auf frühere Wertung und Genuss zur üc kweis t als daher „kommend“. Diese Gefühlsreflexe (erborgter Glanz) begründen keine Werte, auch nicht abgeleitete Werte (eher Quellen der Wertirrtümer). Wenn wir das Bewusstsein, in dem die Sache als wert bewusst ist, und die Lust als Zustand, als Genuss, zu sondern versuchen, so ist auf Seiten des Genusses von Steigerungsgraden gesprochen, ferner von Ausbreitung, Ausstrahlung, die die Verknüpfung mit dem aktuellen Wertschätzen verlieren kann. Halten wir die Verknüpfung noch fest, dann bemerken wir Unterschiede wie: Ich betrachte mit Genuss das Bild, „mich“ durchschauert eine Seligkeit. Mich: Durch meinen Körper geht ein Strom der Lust, ich fühle diese Seligkeit im Herzen, in der Brust, die Schauer breiten sich bis in die Zehen aus etc. Das sind doch, möchte man sagen, lauter sinnliche Gefühle. Indem sie bezogen sind auf Körperteile, sind diese doch nicht ein Worüber der Freude, nicht Gegenstand des Genusses. Ich habe nicht Lust, Freude an meinem Herzen, an meiner Brust. Das wird nicht gewertet, und das steht nicht als Schönes da, dessen Güte und Schönheit erregt keine Lust, sondern ich freue mich über das Kunstwerk, über das Sehen (wertende Erfassen) des Schönen, ich freue mich über die Güte dieses Menschen (über sie, die als wertes Schönes bewusst ist). Die Verbindung zwischen Freudezustand, seligem Schauer etc. und Leibesauffassung, Leibesgliedauffassung, ist eine wesentlich andere als die Verbindung etwa der Lust an der Speise und der Speisenauffassung. Die Speise schmeckt, macht Lust; in gleichem Sinn
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„schmeckt nicht“ meine Brust, macht sie mir nicht Lust. Andererseits könnte man sagen: Es ist das Wohlgefühl, die süße Lust (der nagende Schmerz) in der Brust, aber nicht ist ein bestimmtes Objekt darin Objekt der Lust, vielmehr histi ein Empfindungsgehalt mit Lust verwoben; so wie bei angenehmen Hautempfindungen, wo wir auch nicht sagen, ich freue mich über meine Haut, sie macht mir Lust etc. Muss man nicht doch sagen, es handle sich um sinnliche Lüste, nur ausstrahlend von der Ursprungslust? Und wie dann mit den nachkommenden Stimmungen? Soll man sagen, in sich selbst sind sie sinnliche Gefühle? Ich bin „niedergestimmt“, in bedrückter Stimmung. Ich bin heiter gestimmt, in gehobener Stimmung. Kann man sagen: Einerseits ist hier sicher ein Empfindungsgehalt, und dieser histi Träger von unangenehmen oder angenehmen sinnlichen Gefühlen, alles zu einer vagen Einheit verschmolzen? Andererseits sind das Gefühle, die ihre Quelle haben: Ich bin niedergedrückt, weil ich Schweres erlebt habe. Das steht im Hintergrund. Aber ich denke nicht daran, es ist nicht etwa wirklich (im Allgemeinen nicht) im Hintergrund als Vorstellung des erlebten Unglücks. Oder ich bin in gehobener Stimmung, ich habe Herrliches gesehen, ich war soeben im hPalazzoi Pitti etc., ich habe kürzlich eine große Freude erlebt. Aber an das alles denke ich jetzt nicht, es ist nicht wirklich im Bewusstseinshintergrund vorstellig. Es wirkt aber nach, und die heitere oder gehobene Stimmung weist noch darauf zurück.1 Dieser Ursprungscharakter unterscheidet Stimmungen, die sonst, in sich selbst, nach ihrem Gefühlsgehalt, nach ihrem Verlauf, ihrer Einheitsform gar nicht unterschieden wären. Ebenso kann die mich durchschauernde Seligkeit qua süßer Schauer genau dieselbe sein beim Anblick eines hohen Kunstwerkes der Malerei, bei einer Symphonie, aber auch bei einer Seligkeit im Anblick des geliebten, sich hingebenden Weibes etc., eventuell auch bei religiöser Seligkeit. Es sind A nnexe si nnli cher G efühl e, Ausweitungen, Verbreitungen, Ausstrahlungen von Ursprungsgefühlen, dadurch jeweils charakterisiert und ihrem Wert nach nur bestimmt durch diesen Zusammenhang. 1
Aber sind das nicht dunkle Wertungen und Vorstellungen des Bewusstseinsuntergrunds? Natürlich nicht außerhalb der Achtsamkeitssphäre stehende anschauliche Apperzeptionen.
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Man könnte hinzufügen, dass die Art, wie diese sinnlichen Annexe ihre Rolle spielen, ethisch bedeutsam ist: Der Fromme, der sich in jeder Weise hineinsteigert in Schauer der Seligkeit, kann zu einem Genüssling der Religiosität werden. Statt in religiösen Wertgefühlen, in Hingabe an einen Wert des Göttlichen zu leben, lebt er im Genuss der sinnlichen Schauer, die er auch auf unechte Weise zu erregen weiß durch bedeutungslos gewordene Zeremonien, kirchliche Formen etc. Und ist nicht Ähnliches auch beim Ästhetizismus zu sagen? Er ist nicht so sehr dem Wert des Schönen hingegeben, der reinen Freude daran, als dem Genuss, den diese Freude verbreitet und mit sich führt, und da können ähnliche Genüsse auch aus ästhetisch bedenklichen Quellen stammen.1 Kann ich also Akt u nd Zustand unterscheiden? Der Akt (die Stellungnahme) hat intentionale Richtung auf das Gute, das Schöne etc., er hat Hinwendung dazu und Meinung. Während ich mich am Schönen freue – aktiv, ihm zugewendet, es betrachtend und die Freudenmotive durchlaufend,2 den Wert konstituierend –, erlebe ich auch Ausstrahlungen in Form sinnlicher Freude, Erregungen, Affekte (ich bin affiziert, verhalte mich dabei aber passiv). Ich erlebe Wohlgefühle, sinnliche Schauer etc. In dieser Hinsicht erlebe ich Zuständlichkeiten. Ich bin da nicht dem Sinnlichen zugewendet, ich vollziehe in dieser Hinsicht keine Akte (als Zuwendungen und Meinungen).3 Ich kann mich ihm aber auch zuwenden, nämlich diesen Schauern, diesem süßen Wohlbehagen, und das selbst wieder kann Objekt der Freude werden, eines Genusses. Man lebt sich darin ein und macht es zum Thema. Man stellt sich auf das Wohlgefühl ein, steigert es dadurch etc. Das scheint wirklich nahezulegen, dass sinnliche Gefühle Empfindungen gleichstehen und nicht Akte sind. Akt wäre hier das Gefallen an dem süßen Schauer, wie Gefallen am Wohlgeschmack der Speise. Ich möchte folgende Stellung einnehmen: 1) Wenn ich über den Verlust meines Freundes trauere, so ist das ein Akt der Un-Freude
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Shiehei 53 h= S. 176,3–177,19i. Diese Freude wäre die Urquellfreude und identisch mit dem wertenden Gefallen. 3 Das alles ist gut, aber es ist nicht darauf Rücksicht genommen, dass ich in der affektiven Liebe, Begeisterung etc. liebend zugewendet bin und dass man sagen muss, dass die sinnliche Verbreitung, die Größe von Affektion selbst eine intentionale Funktion gewinnt. Demgemäß steht das Objekt nicht nur als gefällig, sondern als herrlich da etc. 2
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über diesen Verlust, etwas, was als Wert dastand, ist nicht, und das Nicht-Sein des Gutes, das Nicht-mehr-Sein, erregt Schmerz. Die gegen dieses Nicht-Sein gewendete Unfreude ist der Akt der Trauer. Wenn ich mich an dem lieben Menschen und seinem Gehaben in Reden und Tun, etwa in dem Gespräch mit ihm, freue, so ist das ein Akt der Fr eudenzuwendung zu ihm, der liebenden Hinneigung. In diesem Akt ist er und sein Gehaben mir als „lieb“ bewusst und sein Dasein als erfreulich. Dies ist das onti sche Korrelat des Aktes (der in der Reflexion gegenständlich bewusst werden kann), und eins und das andere ist untrennbar. 2) Wie verhalten sich nun Freude und Trauer als Akt zum Zus tand, zur Sti mm ung der Freude bzw. Trauer und zum Affekt der Freude, Freudigkeit, Fröhlichkeit? Schon während ich mit dem lieben Menschen spreche, kann die Freude in Freudenerregung, in den Affekt übergehen. Man wird wohl auch sagen: in freudige Stimmung. Es handelt sich zunächst in unserem Beispiel um eine Kette thematisch zusammenhängender Akte der Freude. Jeder solche Akt und die Einheit des eventuellen Gesamtaktes ist einerseits Wohlgefallen, in dem ein Wertcharakter bewusst ist, und sofern in ihm Wert bewusst ist, hat das Unterschiede der Werthöhe, aber nicht der Lebhaftigkeit. Andererseits kann ich dabei mehr oder minder tief freudig bewegt, tiefer oder weniger tief betrübt sein. Mein „Interesse“ ist nicht immer gleich tief, ich bin bald oberflächlich, bald tiefer interessiert, mit meinem I c h betei li gt. Dies e Gr ade der Betei l i gung des Ich, des Interessierts eins, des Hineinreichens des Gefühls in mein Ich und meines Ich in das Gefühl sind wohl eine eigene Sache und nicht ohne weiteres identisch mit größerer oder geringerer Erregung. Ich kann sehr tief betroffen, sehr tief bewegt sein, die Freude kann eine sehr tiefe sein, ohne dass sie den Charakter großer Erregung zeigte, dass sie zu erregter, eventuell lärmender Fröhlichkeit würde. Meine Freude kann auch mehr oder minder klar und deutlich, nach ihren Objekten und Motivationen expliziert sein. Mit der Fr eude als Akt der i nteressierten Zuwendung geht Hand in Hand der Fr eudenerregungszustand (oder Lähmung) und die frohe Stimmung, ebenso bei der Trauer der Lähmungszus tand, eventuell hderi Erregungszustand der „leidenschaftlichen“ Betrübnis, Herabstimmung etc. Das sind sinnliche Gefühlsannexe,
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eventuell intentional eins mit dem ursprünglichen Akt, gefühlsapperzeptiv eins: Ich bin mit Leidenschaft zugewendet oder abgewendet. Die Schwierigkeit ist es, der Schicht gerecht zu werden, in der die Unterschiede hzwischeni der „still beseligten“, der „stürmischen“, leidenschaftlichen Freude, der Freudenüberwältigung und -überraschung – das Herz steht still und eine große Woge der Seligkeit strömt in das weitgeöffnete Herz hinein, dann Aufregung oder Freudenschmerz, hdasi Herz droht zu zerspringen vor Freude – hundi der ausgeglichenen sonstigen Liebe ohne Leidenschaft usw. hliegeni. Oben sprachen wir vom Interessiertsein, von Graden des Hineinreichens des Ich in das Gefühl und des Gefühls in das Ich. Kann man nicht sagen: In der begehrenden, verlangenden Freude (in der ein Verlangen Erfüllung findet) geht ein Strahl aktiver Freudenrichtung aus dem Ich auf den Gegenstand und in den Gegenstand, genauer in das Geliebte, das als solches ein „Gut“ ist, als Liebeswert dasteht? Die Liebe umfängt das Geliebte, bildlich gesprochen. Der Sammler umarmt sein Objekt sozusagen mit dem Gefühl, gibt sich ihm hin, von innen heraus gegen das Objekt als wertes. Die Teile und Seiten des Objekts, die Wertteile, Wertseiten sind, werden durchlaufen, und während die Wertapperzeption und Wertsetzung die Einheit des Wertes „erfasst und setzt“, „realisieren“ sich die Wertkomponenten, und mit dem realisierenden Gefallen und seinem Rhythmus verbindet sich der Rhythmus von Gefühlen, die den Genuss ausmachen (siehe unten). Diese genießende Zuwendung besteht in Erfüllungsgefühlen, die durch die Realisierung der Wertintentionen fundiert sind. Nun steht dem gegenüber ein Gegenstrahl. Der Richtung gegen das Objekt und seinen Wert hin entspricht die Gegenrichtung: von da zurück zu den Gefühlen des Genusses und dem, was sich an sie anknüpft. Ich sagte: Diese Gefühle machen den Genuss aus. Das ist nicht genau. Der Strom der durch die Wertintentionen erregten eigentlichen Freudengefühle wird zum Genuss durch die Rückwendung. Der Sammler genießt, indem er betrachtend und auswertend sich freut (sich also in der Freude dem Wertobjekt hingibt) und indem er sich umgekehrt der Freude hingibt. Er erlebt nicht nur die Freude, das Entzücken, lebt nicht nur in ihm in der Weise der Hinwendung auf das Objekt, sondern er lebt auch im Entzücken in der Weise des Genusses, welcher Genuss der Freude, Genuss des Entzückens ist. Das ist eine
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Fr eude zw eit er St ufe:1 Er ist nicht nur beglückt, sondern freut sich seines Glückes, und so bereichert sich sein Glückszustand. Ebenso beim Genuss des Kunstliebhabers. Der Ästhet giert nach ästhetischer Freude, und indem er Ästhetisches anschaut, sich daran freut, erfüllt sich auch in der Rückwendung im Genuss der ästhetischen Freude sein Begehren nach ihr. Offenbar gehört aber nicht zum Wesen jeder Freude der Genuss zweiter Stufe, was ja einen unendlichen Regress mit sich führen würde. Also können wir diese zweite Stufe ausschalten und sagen: Oft verbindet sich mit der Freude ein Genuss an der Freude. Ist die Freude sehr lebhaft, so drängt sie sich dem reflektierenden Bewusstsein, nämlich dem Wertbewusstsein (dem Hinblick und der Freude im Hinblick) auf, es bestehen also dann Tendenzen zum Genuss an einer vorhandenen Freude und ebenso zur Trauer über eine vorhandene Trauer (sich glücklich – sich unglücklich fühlen, preisen). Es bleibt also, wenn wir diese Schicht ausschließen, zweierlei: 1) Zum Wesen des Freudebewusstseins, des expliziten, realisierten, gehört ein Werterfassen, ein Prozess der realisierenden Entfaltung von Werten, nämlich der Werte, worüber man sich freut. 2) Die Freude selbst ist das durch das werterfassende, wertnehmende Bewusstsein fundierte oder motivierte Gefühl.
h§ 6. Unterschiede und Zusammenhang zwischen Wertbewusstsein und intentionalem Freudegefühli Jetzt ist aber die Frage die nach der Art und dem Sinn der In25 tentionalität dieser eigentlichen Freude (und zudem ist zu beachten, dass wir bevorzugt haben die Fälle der expliziten, „klaren und deutlichen“ Freude). Ist es nicht klar, dass die Intentionalität der Freude selbst eine andere ist als die des ihr zugrunde liegenden Wertnehmens? 30 Man möchte allerdings sagen: Im Werten steht mir etwas als wert, in der Freude als erfreulich da. Aber näher besehen ist die Sachlage doch eine wesentlich verschiedene: Das Schöne erregt nicht das
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Cf. 51 h= S. 173,9–174,29i.
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Schönfinden (das Wertbewusstsein), so wenig hwiei das Ding das Vorstellungsbewusstsein erregt, oder so wenig hwiei das praktisch Sein-Sollende das Seinsollensbewusstsein erregt. „Zustände“ werden erregt, in Zustände fühlen wir uns versetzt, „Akte“ werden nicht erregt. Akte: dazu gehört Apperzeption, Modi der Stellungnahme hetc.i. Die Fr eude appe rzi pi ert ni cht. Die Freude hat keine Modi der Stellungnahme und ist keine solche. Sie ist ein Zustand, der durch gewisse Apperzeptionen und Stellungnahmen erregt ist. Also die Art der I ntentionali tät besteht hier darin, dass der „erscheinende“ oder bewusste Wert Ausstrahlungspunkt einer Erregung ist, ein Erreger für ein Erregtes, für den Ichzustand. Nun mag man aber einwenden: Die Freude apperzipiert nicht, sie ist nicht konstitutiv für ontische Bestimmtheiten. Aber erhellt die Freude nicht, lässt sie das Erfreuliche nicht als solches, nämlich in rosigem Licht erscheinen? Und verdunkelt die Trauer nicht, erscheint das Traurige nicht als solches, nämlich in dunklem, trübem Licht? Trägt der Heilige nicht seinen Heiligenschein, die Geliebte ihre Aureole etc.? Also, da hilft nichts, wir müssen sagen, auch die Freude hat ihre „Intentionalität“, nämlich eine gewisse „Beziehung auf ihren Gegenstand“. Aber doch wohl eine andere als die Wertung. Wir können die Sachlage so ausdrücken: Das Erfreuliche hat eine „Beleuchtung“, welche von der Freude als dem Lichterquell ausgeht. Das Werte erregt Freude, und die Freude erleuchtet das Werte. Sie setzt ihm Lichter auf, aber sie ist das Lichtgebende. Die Lichter (die Beleuchtung, der Schimmer oder Schein) kann ich beachten, ich kann „sehen“, dass die Geliebte nicht nur schön und wert, sondern „lieb“ ist. Sie sieht lieb aus etc. Aber damit stehe ich sogleich in der Beziehung zwischen Beleuchtetem und Beleuchtendem. Ich brauche auf das erhellende Licht der Freude nicht primär zu achten, aber es ist dann mit zur Gebung gekommen, und ich kann dem Gang des Lichtes nachgehen. Worin besteht die liebende Hinwendung, die Hinwendung der Freude an dem Objekt bzw. an seinem Dasein und Sosein? Sie besteht darin, dass wertende Zuwendung Freude erregt und ein Strahlenbündel dieser Freude auf die betreffenden werten Teile und Seiten des Daseins geht. In der Freude leben und in ihr zugewendet sein, besagt, dass die Freude Erlebnis ist, aber nicht Objekt, dass aber
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die Hingabe an das Objekt Hingabe1 an seinen Wert und nicht bloß an den Wert, sondern an die von der Freude ausgehende Erleuchtung ist. Das Ich lebt sich sozusagen aus in der Ausstrahlung, in der das strahlende Gebilde, das erfreuliche Objekt, das freudenhelle, dasteht. Nur dass nicht ein eigenes Vorstellen und Aufmerksamsein (vorstellendes Postieren und Setzen) auf den Wert und das Rosigsein, auf den Schimmer geht. Das Licht der Freude bestrahlt das ganze Wertobjekt. Aber die spezifischen Wertmomente haben ihre besondere Beziehung zur Freude bzw. zu dem Licht als „Gründe“, als eigentliche Erregungspunkte der Freude bzw. Treffpunkte der Freudenstrahlung. Wir hatten bisher solche Akte der Freudenzuwendung betrachtet, in welchen sich Wertbewusstsein und Freudenbewusstsein in explikativer Weise entfalten: Fälle der Klarheit und Deutlichkeit im Freudenbewusstsein. Im Fall der Verworrenheit ist eben das vorgestellte Objekt bzw. das seinsgesetzte in einem mehr oder minder verworrenen Vorstellen vorgestellt; darauf gründet sich ein verworrenes, nicht expliziertes, nicht klares Wertbewusstsein. Die erregte Freude ist ebenso verworren, ohne bestimmte Erregungsbeziehung zu bestimmten Wertungskomponenten, und ebenso ist das Licht eine allgemeine Erleuchtung ohne deutlich abgehobene Wertfundierungen. Das Bild vom Erleuchten ist eben nicht in jeder Hinsicht passend, so sehr es sich aufdrängt. Es fehlt im Bild das Analogon für die besondere Beziehung der erleuchtenden Strahlenbündel zu den deutlich konstituierten Wertseiten, die besondere Zugehörigkeit von Lichtcharakteren zu solchen Seiten, während zu anderen Seiten diese Beziehung fehlt. Das Objekt ist wohlgefällig, lieblich, erfreulich um der oder jener Momente willen; die sind das eigentlich am Objekt Erfreuliche, aber alles, das ganze Objekt, ist lichtumflossen. Und wo keine Sonderung und Verdeutlichung statthat oder wo gar ein uneigentliches, leeres Vorstellen und Setzen das Objekt bewusst macht, da geht in diese intentionale Richtung ein allgemeiner Schein, der darum doch sehr lebhaft sein kann, wie auch die Unterschiede der Lebhaftigkeit der Freude in eine andere Linie gehören. Sonst macht ein besonders lebhaftes, also besonders helles Licht deutlich, aber
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Das Wort „Hingabe“ ist für beides genommen doch bedenklich.
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dieses Freudenlicht verdeutlicht nichts, und wofern es Deutlichkeit hat, verdankt es sie anderen Quellen. Gehen wir weiter! Nehmen wir den Fall: Ich sprach mit der Geliebten und Freude an ihr erfüllte mich. Ich kann über gleichgültige Dinge mit ihr verhandelt haben, in denen das Thema lag. Die wertnehmenden Akte waren nicht thematisch, ich lebte nicht im Wertfassen und nicht in thematischer Zuwendung der Freude zu ihrer Schönheit, Güte, ihrer Anmut etc. Aber doch fehlt es nicht an einem Bewusstsein dieser Werteigenschaften und an einer vielleicht lebendigen Freude, nicht an der Verklärung, die von dieser ausgehend das Sein der Geliebten bzw. ihr Sein in der Erscheinung umfloss. Also hier liegt keine thematische Freudenzuwendung vor; Wertung und Freude beziehen sich, jede in ihrer Art, auf den Gegenstand, es fehlt aber die Eigens-Zuwendung, die meinende Zuwendung. (Die Geliebte selbst ist nicht Thema. Und doch alles, was zu ihr in Beziehung steht, wird mir leichter auffallen, und fällt es auf, so ist es in Bezug auf sie zentriert. Dieses Zentriertsein ist verwandt mit dem Thematischsein, als wäre die Geliebte verborgenes Thema: Aber freilich, meinende Zuwendung fehlt.) Weiter ist der Unterschied zu besprechen zwischen den Fällen, wo die Freude sich auf aktueller Vorstellung, Setzung, Wertnehmung aufbaut oder wo sie auf Retention sich gründet. Die Geliebte hat das Zimmer verlassen. Ich bleibe ihr aber zugewendet. Erinnerungsbilder von ihr, Leervorstellungen und Setzungen sind Durchgangsglieder für wertende und freudige Zuwendungen. Zum Beispiel, das Schöne wird plötzlich verdeckt, ist nicht mehr sichtbar, ich bin aber noch darauf gerichtet. Es mag aber auch sein, dass ich im Glücksgefühl weiterlebe, die selige Freude fortempfinde, die mich soeben in Richtung auf das lebensvolle Dasein und Sich-Geben der Geliebten erfüllte, aber ohne dass ich den meinenden Blick auf sie und ihre Verklärung behielte. Das geschieht etwa in der Art, dass ich nun der Seligkeit selbst zugewendet bin und das Glück genieße, also in einem Gefühl der Freude zweiter Stufe (dieser Fall war schon erwähnt). In diesem wie im vorigen Fall ist immerfort eine gewisse Beziehung auf den beglückenden Gegenstand lebendig, ein vorstellendes und wertendes Bewusstsein ist noch vorhanden. (Obschon sich im letzten Fall der Strahl des Meinens da herausgezogen hat; die spezifische Intention geht nicht dem Licht der Ausstrahlungsrichtung der Freude nach,
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der rosige Schimmer, das von der Freude kommende Licht, wird verworren.) Natürlich bestehen auch die Unterschiede, ob die wertgebenden Momente selbstgegeben sind, dadurch, dass eine Anschauung des Objekts nach seinen wertgründenden Eigenschaften vollzogen ist, oder ob etwa von dem Objekt bloß die Rede ist: Ich höre eine freudige Nachricht, das Freudenlicht strömt auf den Satz über, auf das Ausgesagte als solches und dadurch auf den Sachverhalt; es mag auch eine Betonung statthaben hinsichtlich der besonderen wertsetzenden Worte und Sachen. Aber es bedarf der Klarheit. Die Gründe der Wertung sind nicht gegeben, der Wertverhalt ist bloß denkmäßig gesetzter, und der Wert selbst ist bloß gedanklich gesetzter etc. Wieder ein Neues: Die Geliebte ist aus dem Zimmer gegangen, ich bin von Glück erfüllt, aber nicht ihrem „Bild“ (Retention) zugewendet, aber auch nicht der Seligkeit, dem Glück. Ich nehme etwa ein Buch zur Hand, blicke im Zimmer umher: Alles hat von ihrer Gegenwart Reiz und Wert angenommen. Hier verbleibe ich in der thematischen Einheit, und die Akte implizieren noch Beziehungen und Meinungen (wenn auch sekundäre), die auf die Geliebte gehen. Ich freue mich an all diesen Dingen, aber um der Beziehung zur Geliebten willen. Ihre Gegenwart hat diesen Raum geweiht, ihre Beschäftigung mit diesen Dingen hat ihnen Wert gegeben etc. Es brauchen dabei keine eigenen Meinungsstrahlen sich auf die Geliebte in der Erinnerung zu richten. Gerichtet sind wir auf die Sachen, auf ihre Wertcharaktere und ihre Freudenerhellung. Aber diese Freuden haben Zusammenhang mit der lebendigen Seligkeit, die mich erfüllt, strahlen von ihr aus, obschon in anderer Weise als wenn sie die Objekte der Seligkeit wären. Und erst recht, wenn hichi in die übrige Umwelt hinausblicke: Ich freue mich des Lichtes, das auf alles fällt. Wie ist die ganze Welt so schön! Alle Welt empfängt Licht von der Geliebten etc. Im Rausch der Seligkeit bin ich ganz von dieser „erfüllt“. Bald wende ich mich dem seligmachenden Objekt zu, bald der Seligkeit, ihrer in Freuden innewerdend, bald äußeren Objekten, die Reflexe an ihnen genießend. Bei all dem behält die Freude, der Freudenzustand, die Seligkeit, ihre intentionale Richtung im weiteren Sinn, wenn auch nicht das meinende Gerichtetsein. Kann nun die erregte Freude über A die Beziehung auf das Objekt, die Beziehung auf den erregenden A-Wert einbüßen?
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Etwas macht mir Freude. Ich bin dann fröhlich, gut gestimmt. In der fröhlichen Stimmung freue ich mich nicht mehr über A; ich mag aber wissen, dass ich fröhlich bin, weil A mich fröhlich machte. Es können aber auch nacheinander mehrere voneinander unabhängige Erfreulichkeiten mich fröhlich gemacht haben. Auf die Frage nach dem Grund der Fröhlichkeit kann es sein, dass ich mich des einen oder anderen nicht mehr erinnere, nicht alle Gründe angebe und vielleicht gar keine bestimmten Gründe anzuführen vermag. Solche Fröhlichkeit als Stimmung kann ursprünglich Freude über A oder A’ gewesen sein, sie ist es nachher nicht mehr, sie entbehrt der bestimmten Beziehung auf diese ursprünglichen Anregungsgründe. Es braucht auch nicht vorhergegangen zu sein ein großer Anstoß der Erregung, aus kleinen und wiederholten Anregungen kann ein Strom und Habitus heiterer Lebensstimmung erwachsen. Freudengefühle und heitere Stimmungen können auch erwachsen ohne Untergrund einer thematisch wertenden Intentionalität, nämlich ohne sich als spezifisch sich richtende Freuden auf Gewertetes zu etablieren; so z. B. Freude an der wissenschaftlichen Forschung oder vielmehr in ihr als Freude am Rhythmus der Problemstellungen und Problemlösungen durch mancherlei Enttäuschungen und Hindernisse und entsprechende Unliebsamkeiten hindurch, wobei die thematische Intention durchaus im theoretischen Bewusstsein sich hält. Jede Freude dieser Art hat ihre „Beziehung“ auf das sie Fundierende und Erregende, aber keine thematische Richtung. So mag auch der Rhythmus des Lebens unterer Stufe mit seinen Vorstellungen, Urteilen, seinen Wertungen und Strebungen eine tiefere (oder höhere) Schicht des Gefühls im Rhythmus ohne Hinwendung mit sich führen. Auch mancherlei im Verborgenen auftauchende Gedanken (Erinnerungen, Vorstellungen irgendwelcher Art), in denen kein Strahl der Meinung hindurchgeht, begründen Gefühle, regen heitere und traurige, lustige hundi unlustige Gefühle an, die in einen einheitlichen Gefühlsstrom einmünden können, in eine Einheit der Stimmung. hHierihinein gehört auch der große Strom der sinnlichen Gefühle, der Gemeingefühle, wobei auch zu sagen ist, dass von jeder lebhaften Freude Ströme sinnlicher Gefühle ausgehen und die Freudenerregung erweitern und verbreitern, ja dass, wie es scheint, jede Erregung von Freude ihre sinnlichen Komponenten hat, einen breiten Gehalt
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sinnlicher Lust, der aber durch die Erregungsbeziehung zu dem eventuell sehr geistigen Ursprung, durch den Ursprung aus ästhetischen, wissenschaftlichen, religiösen Sphären, eine geistige Seite hat und eventuell eine Hinwendung zum Geistigen.
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hInhalt:i Im Akt leben: als sich ausleben, H i n g a b e a n G e m ü t s a k t e als freie Hingegebenheit. Enthaltung: Urteilsenthaltung. Freudenenthaltung (Enthaltung im Genießen), Willensenthaltung. Wert und Genuss der werten 10 Sache.2
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Ich kann etwas erfreulich finden, ohne mich daran wirklich zu freuen. Ich bin vielleicht zu dösig, um mich zu freuen, zu stumpf. Ich ärgere mich, dass ich mich nicht freuen kann, wo ich doch überzeugt bin, dass es schön ist, dass der Sachverhalt so ist oder das Ereignis eingetreten ist. Ich kann sogar „einsehen“, dass es erfreulich ist. Wie ist das zu erklären? Es kann ein Konflikt der Motive vorliegen. Zum Beispiel ich kann einsehen, dass es gut ist, dass Russland eine Niederlage erlitten hat. Aber ich habe russische Staatspapiere und ich empfinde den Schaden des tiefen Kursstandes, der eine Folge der Niederlage ist. Ich kann mich an dem für erfreulich erachteten Sieg der Japaner nicht freuen. Oder jemand teilt mir mit, dass ein langjähriger meiner Wünsche erfüllt ist. Ich bin aber noch nicht in der Einstellung, mich zu freuen. Ich weiß, dass die Sachlage, die da eingetreten ist, erfreulich ist, dass ich mich freuen sollte, aber ich freue mich noch nicht. Oder ich bin verschlafen, ich stecke in ganz anderer Sache mit meinem ganzen Denken und Fühlen. Aber ich verstehe sogleich, dass das Ereignis ein erfreuliches ist, ehe ich mich wirklich freue. In solchen Fällen habe ich gegenüberstehend g e w u ss t e , g e d a c h t e , g e u r t e i l t e Er fr eul i c hke it und w irk l i ch e Fre u d e. Kann ich auch die Evidenz haben, einsehen, dass etwas erfreulich ist, ohne wirkliche Freude? Wie es scheint, gibt es dazu Parallelen überall: Ich kann „sehen“, dass ein Bild „reizend“ ist, ohne dass ich fähig wäre, momentan mich dem Reiz hinzugeben. Ich kann einen ästhetischen Wert „sehen“, ohne
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1909. Umfassende Ausführungen in HH in Q h= IV. Die Arten der Gemütsintentionalität (S. 97)i. 2
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ihn doch zu genießen. Den Wohlgeschmack einer Speise kann ich empfinden, aber ich „genieße“ nicht die Speise. Ich halte etwas für erwünscht, für begehrenswert, ich wünsche, begehre aber nicht danach. Ich halte etwas für gut, für wollenswert, ich will es aber nicht. Ich entscheide mich nicht praktisch dafür: Alles spricht dafür, nichts dagegen. Ich denke auch nicht an die Mühe, die es machen würde, auszuführen, was gewollt wäre. Ich bin eben rein passiv. Ich tue nichts. Kann man auch Fälle aus der U rt e i l ssp h ä r e heranziehen? Ich halte eigentlich etwas für richtig, aber ich will mir es nicht eingestehen. Ich sage anderes aus. Ich bleibe bei meiner Parteimeinung. Ich sage sie nicht nur in Worten hausi, ich „glaube“ sie auch. Ich fühle das Übergewicht, das für eine Lehre spricht, ich „lasse sie (oder es) aber nicht gelten“. Andere Überzeugungen stehen ihr gegenüber, die ich festhalten will, an denen mein Herz hängt, die ich gemütsmäßig bevorzuge. Ich suche nach Gründen, eventuell Scheingründen, welche das Übergewicht, sei es auch nur zum Schein, paralysieren könnten. Was sich als wahr anmutet, wird von mir nicht als wahr hingenommen, sondern ich nehme ablehnend Stellung dazu. Aber freilich, kann ich wirklich sehen, dass S p ist, und dann doch dagegen „Stellung nehmen“? Man könnte auch auf das Phänomen der Urteilsenthaltung hinweisen. Ich sehe, dass S p ist. Es steht vor mir „S ist p!“ Ich enthalte mich aber des Urteils. Ich will jetzt nicht dafür „Stellung nehmen“, aber auch nicht dagegen. Ich nehme die Stellung der Urteilsenthaltung. Kann ich mich nicht auch der Freude „enthalten“? Ich sehe, dass etwas erfreulich ist, es steht als erfreulich da: Ich will aber nicht in der Weise der aktiven Freude dazu Stellung nehmen. Und freue ich mich schon, so kann ich mich der aktiven Freude enthalten. Kann ich mich ebenso eines Wunsches enthalten, einer Begierde enthalten, obschon eine Sachlage als wünschlich (wünschenswert), als angenehm erscheint? Man kann sich einem Wunsch, einer Begierde hingeben, und dabei ist die Rede von lebhaftem, brennendem Wunsch, je „mehr“ ich mich ihm hingebe, umso mehr Macht gewinnt er über mich, umso lebhafter wird er usw. I ch kann mi ch e i n e r Ü b e rze u g u n g h i n g e b e n. Und damit hängt zusammen, dass eine Überzeugung lebhafter und minder lebhaft ist. Haben wir auch beim Wollen Analoga? Lebhaftigkeit des Wollens, Stärke, „ Ener gi e “ des Wol le ns? Handelt es sich hier um i m m a n e n t e M o m e n te der A kte oder um Zusammenhangscharaktere? Ich lebe im Wollen, das Wollen nimmt eine ausgezeichnete, beherrschende, andere Akte ausschließende, hemmende Stellung im Bewusstseinsleben etc. heini, beherrschend den Verlauf der Akte etc.
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Ist es umgekehrt, um wieder zur Freude zurückzugehen, bei dieser ebenso? Ist es etwa so: Ich halte nicht nur „theoretisch“ etwas für erfreulich, in der Weise eines Wissens, dass es erfreulich ist, eventuell auch, dass Freude daran gefordert ist etc., sondern ich „sehe“ es als erfreulich? Dazu gehört auch ein Akt der Freude.1 Nun könnte man sagen, e s g i b t d a v e rsch i e d e n e E i n s t e l l u n g e n: 1) Ich freue mich über das Ereignis. 2) Ich appherzipierei das Ereignis als erfreulich. „Ich nehme an ihm die Erfreulichkeit, Schönheit, die rosige Färbung wahr.“2 Der Akt hat da eine verschiedene Funktion. Aber ein Sich-Freuen-an ist gewisser Weise auch im zweiten Fall da. Aber i n de r We ise des A k t v o l l zu g e s bestehe ein weiter Unterschied. Ich freue mich nicht nur insoweit, als ich nötig habe, um das Erfreuliche zu konstatieren („wahrzunehmen“), ich gebe mich auch der Freude hin. Ich lebe im Genuss und ganz ausschließlich oder nicht ganz ausschließlich. Ich freue mich, aber dazwischen achte ich auch auf anderes, beschäftige mich auch mit diesem etc. Endlich kann es sein, dass ich „keine Zeit habe, mich zu freuen“. Ich werfe rasch Blicke darauf, Blicke der Freude, a b e r m e i n Lebens mi tte lpunkt mu ss w o a n d e rs l i e g e n. Ich darf mich nicht in der jetzigen Lebenslage solcher Freude hingeben. Mein Interesse, meine Kraft gehört anderem. Genießen entspannt, ich muss aber in Spannung bleiben, meine Energie gesammelt erhalten etc. Oder ich genieße zwar, aber mit Enthaltsamkeit: Ich muss immer parat bleiben, was die Stunde bringen kann. Wie der Soldat auf der Wache im Genuss nicht frei ist, sich ihm n i ch t f re i hingibt, sondern beständig gewärtig ist des Einfalls der Feinde. Der Akt der Freude ist da, aber in verschiedener Weise da. Er ist entw ede r f re i e E n e rg i e o d e r g e h e m m t e E n e r g i e, und die Hemmung kann sein Hemmung, die von anderen Akten der Freude etc. ausgeht oder von einem hemmenden Willen, einer „Enthaltung“. Ein willkürliches Schrankenziehen im Gegensatz zum freien, ins Unendliche sich auslebenden Akt, der schrankenlosen Hingegebenheit (die unwillkürliche oder willkürliche sein kann). Das sind natürlich phänomenologische Unterschiede. Zu bemerken ist dabei: Wenn ich ein Erfreuliches als solches „s e h e“, so ist das Moment des Freuens n i ch t ch a ra k t e ri s i e r t a l s e i n S i c h - F r e u e n i m gewöhnl i c hen Sinn. Sehr gewöhnlich sind die Schwankungen: Ich halte etwas für erfreulich, weiß, dass es das ist, gebe mich dann der Freude hin
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Aber wie? Das ist zu erwägen. Das ist: Ich vollziehe einen „Verstandesakt“, eine „Vorstellung“, theoretische Setzung, ein Urteil. 2
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(freue mich nun daran). Oder ich freue mich, konstatiere die Erfreulichkeit, sehe das Objekt in seiner Erfreulichkeit, gebe mich dann der Freude doppelt hin, da ich das sehe usw. Gebe ich mich hin, so steht schon das Erfreuliche als erfreulich da. Das Schöne steht als schön da. In der o b j e k t i v e n E i n s t e l l u n g, in der ich zunächst bin, tritt objektiv das Schöne hervor. Ich fühle d e n R e i z , d e n e s übt, aber ich lebe nicht im Gefühl, sondern im Objektitätsbewusstsein, und das impliziert ein Auffassungsbewusstsein „schön“. Gebe ich mich hin, so „gebe ich mich der Schönheit hin“, und in gewisser Weise „gebe ich mich der Freude an der Schönheit, dem Genuss der Schönheit hin“. Das Schöne steht schon halsi schön da, und ich wende mich im Gefallen der Schönheit zu. Das schöne Objekt l ockt mi ch mit seiner Schönheit, an ihm Gefallen zu haben, in der genießenden Freude zu leben (mich im anderen Sinn dem Genuss in die Arme zu werfen etc.). Damit braucht nicht gesagt zu sein, dass eine M e h r f ä l t i g k e i t d e s Gefühl s vorliegt, eines, das zur Konstitution der Schönheit am Objekt gehört, und eines, das zum Gefallen gehört. (So, um einen parallelen, obschon andersartigen Fall heranzuziehen, wird dieselbe Tastempfindung einmal zur Rauigkeit des Objekts und in anderer Auffassungsrichtung zur Rauigkeitsempfindung in der Hand, gehörig zum Subjekt.) Der obj ekti ve Cha rak t e r, der Charakter der Schönheit, des Wertes etc. änder t s i c h ni cht mit der Schrankenlosigkeit der „Hingabe“ bzw. mit der Beschränkung und Enthaltung. Die Freude mag auch in der freien Hingabe und mit dem Maß der Ausschaltung hemmender Momente lebhafter und immer lebhafter werden: Aber das ist Sache des aktiven Verhaltens, nicht aber ändert es etwas an dem Wert der Sache, so wie er natürlich als Wert bewusst ist. Freilich ist da ein Feld der Untersuchung. Natürlich ändert sich der relative Wert, je nachdem in der Umgebung höhere oder niedere Werte zur Vergleichung herangezogen werden und überhaupt im Sehfeld des Bewusstseins auftreten und mitsprechen. Aber wenn ich z. B. meine Aufmerksamkeit auf eine Speise konzentriere und ihren Wohlgeschmack, so ist das günstig, um diesen in seiner Eigenart deutlich und klar herauszubestimmen, herauszufassen. Und gebe ich mich dem Genuss hin, frei, so mag der Genuss n u n l e b h a f t e r s e i n als in dem Fall, wo ich abgelenkt war und dgl. Aber der lebhaftere Genuss macht nicht den Wohlgeschmack intensiver: Er g i l t m i r als unverändert, er gehört zum Objekt. Ich sage auch, e r komme b e sse r zu r G e l t u n g , z u s e i n e m R e c h t e t c. Aber das impliziert dasselbe: d a s O b j e k t i v se i n d e r W e r t e i g e n s c h a f t. Wir hätten auch so zu sagen: Es kann sein, dass eine Begierde Macht und immer mehr Macht gewinnt und dass das, wonach ich begehre, sein Wert, infolge der Begierden-Intensität ü b e rsch ä t z t w i r d. Täuschungen in
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Bezug auf die Wertgrade sind möglich und sind bedingt durch die Intensität der Hingabe des Genusses, des sich hingebenden Gefühls d e s A f f e k t s. Aber wir sprechen eben von Täuschungen. Es liegt in der „Natur“ dieser Verhältnisse zwischen Wert und Genießen, dass Wert etwas Objektives ist und nicht bestimmt durch die wechselnde Höhe des Genusses. Doch das sind nur Anfänge! Zusätze: In der Urteilssphäre, zunächst bei den Urteilen im engeren Sinn der aussagenden Akte, der behauptenden, glaubenden, unterscheiden wir den Charakter des Urteils im logischen Sinn, und zwar phanseologisch, vermöge dessen die Behauptung eben Behauptung ist, S ist P!, der Glaube eben das glaubt usw. Demgegenüber unterscheiden wir andererseits das mehr oder minder lebhafte Überzeugtsein, das Bewusstsein der Unehrlichkeit, der Parteinahme, die Gegenmotive unterdrückt hat oder nicht hat aufkommen lassen etc. Das alles bezieht sich auf die su b j e k t i v e W e i s e d e s V o l l z u g e s „ des s el ben Urtei ls “.1 Hierher gehört auch ein oft hereinspielender Sinn der Rede von „Stellungnahme“ (weswegen das Wort2 n i ch t brauchbar ist für Aktqualität, Aktintention), wonach wir uns einer Ansicht anschließen, uns auf ihre Seite stellen, was dem Urteil einen Modus gibt, der es als Urteil (als Glaube, dass das und das sei, hinsichtlich dieses Allgemeinen, was überall die Rede von demselben Glauben, demselben Urteil begründet) nicht ändert. Und die Weise dieses Stellungnehmens ist dann wieder eine verschiedene, sofern sich damit verknüpft ein ehrliches und unehrliches Parteinehmen und dgl. Und das Gegenteil ist Nicht-Stellungnehmen (Enthaltung) und DagegenStellungnehmen als Nein-Bewusstsein. Ähnliches gilt für Vermutung, Für-Wahrscheinlich-Halten, Zweifeln (unehrliches Zweifeln, aus dem Parteigeist heraus) usw. Wieder sehen wir Analoges in der Gemütssphäre. Nun fragt es sich freilich, ob nicht in der Urteilssphäre es bloße Gemütscharaktere sind, Gefühle, Tendenzen, welche die Unterschiede ausmachen. Zum Teil spielen natürlich solche mit. Aber doch wohl nicht anders als bei
1 Über diese Modalitätheni Gewissheit, Überzeugung vgl. die hBlätteri α 6 ff. in I B ausführlich h= Husserliana XL, Text Nr. 11: Gewissheit und Überzeugung. Wahrscheinlichkeitsverhalt als Korrelat der Vermutung. Ob Gewissheit relevant für die Logik ist (ab S. 243, 2)i. 2 hStellungnahmei = als Parteinahme. Partei ergreifen kann Zustimmen heißen; ich kann aber auch Partei nehmen, mich einverstanden erklären, mich auf Seite des Urteilenden stellen, für seine Ansicht Partei ergreifen, mich dafür gefühlsmäßig engagieren. Ich kann aber auch für einen Urteilsinhalt, der mir sich entgegendrängt, interessiert sein, ein Interesse daran haben, ihn zu übernehmen, gelten zu lassen, ihn zu urteilen.
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den Gemütsakten selbst,1 wo sich mit ihnen Tendenzen verbinden können und oft verbinden, die sich auslebend den Charakter des Gemütsaktes selbst bestimmen, indem wir uns darin ausleben oder nicht ausleben etc. Jedenfalls haben wir hier e i n e S p h ä re v o n M o t i v a t i o n e n , d i e d u r c h 5 di e s ämtl i c h en A ktarte n (A rt e n v o n Im p r e s s i o n e n ) h i n d u r c h g e hen. Überall haben wir zu unterscheiden: 1) das, was zur betreffenden „A k t qual i tät“, zur Weise der Intention gehört, die einzig und allein für die Rechtsfrage relevant ist (neben der Materie), so dass wir überall den Be10 griff des „intentionalen Wesens“ als Produkt der intentionalen Materie mit intentionaler Qualität als fundamental finden; 2) und das, was zur W e i s e des „ Vol l z ug s “ der Intention gehört und was i n t e n s i t ä t s a r t i g e Unterschiede mit sich führt. Die Behauptung, das Urteil habe keine Intensitätsunterschiede: in ihrem 15 intentionalen Wesen. Was aber Gemütsakte anlangt, so haben sie darin Intensitätsunterschiede, aber daneben noch intensitätsartige Unterschiede in der Weise des Vollzuges, derart, dass diese dazu beitragen, dass wir in der Wertung Verwechslungen begehen können.2
Beilage VII Das Sich-Aufdrängen heines Objekts als Reiz zur Zuwendungi3
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Das Auffallende in der sinnlichen Sphäre.4 Ein Ton, ein Geräusch, eine Farbe ist mehr oder minder aufdringlich. Aber auch ein Gedanke, der auftaucht, kann aufdringlich sein, ein Wunsch, eine Begierde kann mich verfol25 gen mit ihrer Aufdringlichkeit. Wie ist diesem Unterschied phänomenologisch beizukommen? Dem Aufdrängen entspricht zunächst ein sich mehr oder minder scharfes Abheben in der sinnlichen Sphäre: Kontraste, qualitative Diskontinuitäten erheblichen Abstandes und dgl. Von qualitativen Diskontinuitäten (vgl. hLogischei
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Nicht anders? Einem Wunsch, einer Freude gebe ich mich hin, in ihr lebe ich mich aus. Nicht im Urteilen in demselben Sinn. Motive der Hingabe sind zu scheiden von ihr selbst und ihrer wechselnden Intensität. 2 An den Rand dieses Absatzes hat Husserl später ein Fragezeichen geschrieben. – Anm. der Hrsg. 3 Wohl 1911. – Anm. der Hrsg. 4 Cf. Πλ in X h= Husserliana XLIII/1, Text Nr. 10i.
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Uhntersuchungi III) ist in der unsinnlichen Sphäre keine Rede. Gleichwohl löst sich aus dem Gefühlshintergrund irgendein Gefühl ab, oder es bewegen mich verschiedene dunkle Gedankenrichtungen, aber ein Gedanke, noch vor der Zuwendung, hebt sich schon heraus, hat eine Geschlossenheit, eine Emporhebung und ein Sich-dem-Ich-Entgegenheben. Wir werden doch wohl in der sinnlichen Sphäre unterscheiden müssen jene qualitativen Diskontinuitäten (oder intensiven und was immer in gleicher Linie steht), die ein Aufdrängen „bewirken“, und die sonstigen, hdiei in ähnlicher Weise zum Aufdrängen in der Beziehung von Bedingungen stehen (ein Aufdrängen bedingend), und das Aufdrängen selbst. Die Aufdringlichkeit hat graduelle Abstufungen, und das sich Aufdrängende kommt mir dabei näher oder bleibt ferner: Sich-Aufdrängen ist Mirsich-Aufdrängen. hIni der Aufdringlichkeit unterscheiden wir also das, was sich aufdrängt, und das „Ich“, dem es sich aufdrängt, zu dem es vordringt und dem es gewisser Weise näher kommt oder ferner bleibt und dem es doch äußerlich bleibt. In gewisser Weise erreicht es das Ich in der Zuwendung, und zwar es wird gemerkt und ist doch nicht gemeintes Objekt, nicht Objekt der primären Zuwendung, der bevorzugenden Erfassung. Oder es „erzwingt“ sich diese Erfassung und wird Thema der Betrachtung, der Beurteilung etc. Danach möchte man sagen: Etwas, ein „Objekt“ drängt sich „mir“ auf; es geht vom Objekt ein „Reiz“ aus, der sich auf mein Ich richtet. Dieser „Reiz“ ist ein Reiz zu der Ich-Spontaneität, ein Reiz, das Objekt zu erfassen, mich ihm thematisch zuzuwenden oder mich ihm im Gefühl, im Begehren zuzuwenden (sozusagen hesi zum Gefühlsthema zu machen) oder bei „Objekten“ gewisser Art mich ihm wollend zuzuwenden, wie wenn das Objekt eine „mögliche“ Handlung im Feld meiner „Freiheit“ ist; sie drängt sich mir auf, und ich vollziehe nun die Willenszuwendung, ich sage Ja. Das „Ich“ lebt in den Zuwendungen, Hinwendungen, in den spontanen „Akten“ im besonderen Sinn, und dem „Ich“ steht gegenüber ein Nicht-Ich. Da ist aber zu unterscheiden: Eine Sphäre von intentionalen Erlebnissen, denjenigen des Hintergrunds, in denen das „Ich nicht lebt“, die teils völlige Ich-Ferne haben, bald sich mehr oder minder zur Umwandlung in Substrate der Zuwendung drängen. Aber sind sie schon Substrate einer Zuwendung, kann von ihren Objekten ein neuer Reiz ausgehen, zum Beispiel, ich sehe erfassend einen Menschen, der zunächst sich aufgedrängt hat der wahrnehmenden Zuwendung, und nun übt dieser Mensch „durch seine Liebenswürdigkeit“ einen Reiz hausi auf eine Gefallenszuwendung, auf eine liebende Zuwendung usw. Die Art des Menschen ist mir zunächst angenehm, seine anmutigen Bewegungen, die neckische Art zu scherzen, die edle Gesinnung,
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die sie bekundet etc., und als angenehm, lieblich, anmutig steht das da. Aber ich werde nun warm und wärmer, schließlich bin ich entzückt. Ich kann zugewandt sein dem, was die liebe Person sagt, eine Weile „theoretisch“ beschäftigt mit einer Frage, die sie stellt, während ich immer5 fort von ihrem Reiz berührt bin, sie steht als Reizende da; alsbald, sowie die Frage beantwortet ist, wird der Reiz Übermacht, und ich lebe im Gefallen, im Entzücken oder zugleich darin und in einem Spiel von Reden, die mir dazu dienen, sie ihren Reiz entfalten zu lassen; eventuell aber auch lebe ich in der Tendenz meinerseits, ihr Gefallen zu erwecken und dann doch wieder 10 ihr primär Gefallen zuzuwenden etc.
VII. PASSIVITÄT UND AKTIVITÄT IN INTELLEKT UND GEMÜT1
h§ 1. Das aktive Wahrnehmeni
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Das terminierende Meinen. Das urteilend bestimmende Aussagen, gerichtet auf das „So ist es“. Das aktive Wahrnehmen, das strebende und „handelnde“ Gerichtetsein auf das dauernd „vor Augen Stehende“, in der aktiven Synthese lebend, dem, was sich da als leibhaft gegenwärtig gibt, nachgehen, es fortgehend in aktiver Betrachtung, in „aktiver“ Inspielsetzung von Kinästhesen: Augenbewegungen, näher treten, seitwärts treten etc., zur aktualisierten Gegenwart bringen in immer neuen Phasen seiner sich dabei im Modus „leibhaft“ herausstellenden Gehalte seiner Dauer, durch die es als einheitlicher Gegenstand hindurch dauert oder „ist“. Es können sich dabei einzelne Momente des Gehalts abheben, auf dem Untergrund der Gesamtwahrnehmung zu Sonderwahrnehmung als Sondererfassung kommen, und während die Einheit der Gesamtwahrnehmung als Wahrnehmung ihres Gegenstandes als des in fortgehender Gegenwart seienden, fortdauernden, identischen sich erhält, decken sich in Einzelsynthesen als Partialsynthesen die eben so einzeln wahrgenommenen Bestimmungseinheiten. Der Gegenstand bestimmt sich als α und wieder als β usw. Die Wahrnehmung erfasst und greift zugleich vor in Vorerwartungen, die aber zugleich Vorgriffe sein können dessen, was der Gegenstand der Wahrnehmung jetzt schon, nur noch nicht wahrgenommen, ist. So aber nur bei der transzendenten Wahrnehmung. Die immanente hat nur Horizonte der Erwartung bzw. hhati vor sich das „Kommende“ sowie hinter sich das noch im Griff Liegende, soeben Gewesene. Das räumlich Seiende ist in jeder Phase seines Seins (seiner
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Wohl 1923. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 191 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3_7
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Dauer) ein Extendiertes, ein kontinuierlich Ausgebreitetes in der Koexistenz, derart, dass von dieser Ausbreitung immerfort nur eine Seite leibhaft wahrgenommen ist, das Übrige nur mitgenommen ist, aber Vorgriff ist für ein künftiges wirkliches Wahrnehmen, das dasselbe in einer späteren Phase seiner Dauer erfasst, aber so, dass es einen Horizont des eigenen vergangenen Seins erfasst. Es ist nicht im Vorgriff gesetzt als schlechthin Kommendes der fortgehenden Wahrnehmung, sondern als ein solches, das, wenn eine gewisse Kinästhese ins Spiel gesetzt würde, zu erwarten wäre. In der Art dieses „wenn“ und „so“ konstituiert sich dann Ruhendes, Unverändertes und Bewegtes bzw. zugleich qualitativ Verändertes. Wie immer, ob wir immanente oder transzendente Gegenstände in Betracht ziehen, das aktive Wahrnehmen setzt voraus ein schlummerndes, passives „intentionales Erlebnis“, „Bewusstsein“, und dieses wird zum Untergrund (in früheren Manuskripten sagte ich „Substrat“) für Aktivitäten. Die passiv konstituierte Einheit der passiven Synthese „affiziert“ das Ich und darin liegt, dass in der Gestalt aktiven Strebens, eines aktiv Gerichtetseins, der sich verwirklichenden Einheit entgegengegangen wird, sie aufgenommen, rezipiert wird. Das kann „erzwungen“ sein wie im Beispiel des Pfiffes, es kann aber auch frei sein, indem ich „gerne“, in einem wertenden Interesse „willig“ mich gerade diesem zuwende und es mir bekannt machen will. Dazu gehören bei transzendenten Gegenständen auch passive oder frei ins Spiel zu setzende Kinästhesen und ein Eintreten in experimentierend herauszustellende Kausalzusammenhänge, heini Eingreifen in die in kinästhetischer Vermittlung abzuwandelnden Umstände und hdiei Beobachtung der Folgen. Ebenso kann ich auf die Vergangenheit zurückgehen, sie mir wieder vergegenwärtigen, sie mir zu wiederholter Kenntnis bringen und das Bewusstsein des „Ich kenne das, was etwa noch fortdauert, so wie es war, wie es durch alle Veränderungen oder Unveränderungen hindurch war und eventuell noch ist“. Sicher, ich habe davon ein Wissen, das ich jederzeit „verwirklichen“, frei wieder zu aktueller Kenntnis bringen kann. Ebenso, wenn ich von vornherein Wiedererinnerungen habe und gar keine Wahrnehmung zugleich von der wiedererinnerten Gegenständlichkeit. Sie kann Erneuerung einer erzwungenen rezeptiven Erfassung sein oder einer freien, es kann auch „nachträgliches“ Erfassen in der Wiedererinnerung sein, auf-
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grund einer Hintergrundwiedererinnerung, der das wache Ich fehlte. Oder „nachträgliche“ Explikation und Urteil, und dazu kommen nun wiederauftauchende oder analog einfallende Urteile, die als fertige Gebilde auftauchen und als das Niederschläge implizierter Aktivität 5 sind und nun reaktiviert werden können und „dieselben“ Urteile in reaktivierter Gestalt ergeben mögen.
h§ 2. Urdoxa und Modalisierung. Die Ichbeteiligung bei der Modalisierungi
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Wir haben das ursprüngliche Gegenstandsbewusstsein als Wahrnehmen und seine Abwandlungen in konkrete Retention, in Wiedererinnerung und Erwartung (konkrete Protention und anschauliche Vorvergegenwärtigung). Wir haben die passiv und aktiv erwachsenden synthetischen Gebilde aufgrund dieser vorgebenden Erlebnisse eines verschieden gewandelten „Gegenstandsbewusstseins“, endlich auch die „Quasi-Akte“ als Phantasien, dann aber auch die Modalitäten der Gewissheit: Ich glaube, ich zweifle, ich halte für möglich, für wahrscheinlich, ich leugne, ich neige zum Glauben, ich inhibiere den Glauben und stelle zur Erwägung, ich entscheide mich bejahend, ich entscheide mich für die Wahrscheinlichkeit, ich lehne ab. Was liegt da in den Ichreden? Im schlichten Glauben bin ich auf die kontinuierliche Einheit gerichtet und „vollziehe“ stetig die Protention, die stetige Vorerwartung, wie ich in eins damit die stetige Retention vollziehe. Das heißt, stetig bin ich auf das als jetzt Eintretende gerichtet und nehme es auf; in stetiger Richtung auf das neu Eintretende, das seinen Horizont des stetig Kommenden mit sich führt, ist stetig das Aufgenommene aufgenommen Bleibendes, Ergriffenes und im Griff Bleibendes, und das ist eben Retention, in ihrer Stetigkeit ein beständiges stetiges Kontinuum in stetem Wandel und ins „verworrene“ Dunkel verfließend. Dieses Vollziehen, dieses mit offenen Armen Aufnehmen und Behalten ist ein stetiges „Tun“, ist sich stetig erfüllendes, vom Ich ausgehendes realisierendes Streben, und sein Medium sozusagen ist die Intentionalität. Doch wie ist es, wenn ich nicht in der Wahrnehmungs- (oder Wiedererinnerungs-) Gewissheit lebe, vollziehend und stetig das Sein, das Hindauern, in stetiger Erfüllung lebend, erfasse?
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Das ist klar, dass das „ Ich gl aube “ nicht ein Zuerteilen eines C har akt ers der G ewi sshei t, ei n vom Ich her Zuerteilen is t an irgendetwas, das irgend schon da ist, irgend schon vorstellig ist und nun demgemäß den Charakter „gewiss“ annimmt und hat. Diese Intentionalität in der Strukturform stetiger Erfüllung ist selbst Bewusstsein eines gewissen Seins, und das Gewisssein als ur s pr üngliche Doxa ist nichts als eben das Allgemeine dieser Strukturform, und der darin konstituierte gegenständliche Sinn hat den Modus leibhaft seiend (selbstgegenwärtig, in der Erinnerung Reproduktion der Selbstgegenwart). Oder sollen wir besser sagen: Ein in dies e r Str uktur verl aufender i ntentionaler Prozess ist s tetiger „ Glaube “, sofern in jeder Phase die erreichte Gesamtintention und darin herausgehoben etwa die Endintention „ungebrochen“, „unmodalisiert“, nicht gehemmt, gespalten, durchstrichen ist? Intention kann eben entweder ursprüngliche Intention sein und bleiben oder eine eigentümliche Art Abwandlung erfahren, und das ist die Modalisierung. Und die nicht abgewandelte Gestalt, eben diejenige, die Einstimmigkeit charakterisiert, und jede intentionale Komponente innerhalb der Einstimmigkeit, das ist „Glaube“, und der Sinn hat den Modus der Gewissheit. Der gegenständliche Sinn ist eben ein Abstraktes und hat selbst mit Rücksicht auf die bloßen Abwandlungsformen in der Reihe der Modalisierungen eine erkennbare abstrakte Scheidung in bloßen gegenständlichen Sinn als „Inhalt“ und eine modale Form; darin die Urform der Gewissheit und dann die Abwandlungsformen der Gewissheit. Der gegenständliche Sinn ist ein abstrakt Identisches im vollen Sinn (gegenständlicher Sinn in seiner Modalität), er bleibt derselbe im Wandel der Modalität (Seinsmodalität). Wie ist es nun mit dem I chtun i n der ursprüngl i chen Modalisierung? Sowie die Intentionalität sich von einem Punkt aus spaltet, nämlich sowie von einer Stelle aus mehrfache Protentionen auftreten, die sich „hemmen“, miteinander „streiten“, bin ich in Widerstreit mit mir, bin ich Zweifelnder und dann Fragender. Wenn ich in der Wahrnehmung des Gegenstandes oder Vorgangs bin und sie noch im Werden ist, dann besagt diese Spaltung, dass die Auffassung in eine Doppelauffassung auseinandergeht, die Ichintention in eine Doppelintention, dass ich statt eines Sinnes einen Doppelsinn habe, dass ich statt eines Seins, Gewissseins eines seienden Dinges (Satz), zwei habe. Aber
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doch wieder nicht, insofern als jeder solche Satz (jedes solche Sein) durchlaufbar oder fortführbar histi in einer Einstimmigkeitskontinuität (mit ihren Erfüllungen und Stimmungen), sowie ich eben ihm nachgehe, tätig mich in ihn hineinlebe und dieses Gewisssein habe, hichi mich haberi da nur hineinleben kann unter beständiger Hemmung, Bestreitung. Alles ist wie im Fall der schlichten Gewissheit, nur dass alles „bestritten ist“ durch die Gegenintentionen. Lebe ich mich in diese, also in die Gegenauffassung, ein, so habe ich das andere dingliche Sein, aber wieder mit entsprechender Bestreitung. Gebe ich mich dem einen hin, so gibt sich das andere als nichtig, und umgekehrt. Was heißt das „gebe ich mich hin“? Das Bewusstsein des einen kann die Form der Hypothese gewinnen, des „gesetzt, dass“. Lasse ich das gelten, dann ist das andere ungültig, ich kann es dann nicht gelten lassen; ebenso umgekehrt. In der Gewi ss heit habe ich schlechthin bewusstes Sein, ich habe den gegenständlichen Sinn in schlichter (unbestrittener) Geltung. Im Z w eifel habe ich den gegenständlichen Sinn in bestrittener Geltung (in bestrittener Gewissheit), und bestrittene Geltung setzt eine damit streitende und korrelativ selbst bestrittene Geltung voraus: Stimme und Gegenstimme, und jede Stimme hat etwas Geltungskraft, aber doch nicht die Kraft der Geltung schlechthin; das Unbestrittene, gegen das nichts spricht. Indem ich das eine betrachtend durchlaufe, bin ich „geneigt“ zu glauben; in der Linie meines Fortgehens habe ich das „Es stimmt“ und die fortgehende Erfüllung meines „Ich glaube“, „Ich bin gewiss“. Aber von der anderen Seite her kommt das „nicht“, das Streiten: Ich bin bei all dieser Neigung gehemmt zu glauben, eben durch eine beständige Gegenneigung. Das Ich erteilt als o w ohl nic ht einen Charakter, aber es selbst ist in der Modalis ierung betei l i gt, betroffen. Es ist nicht so, wie wenn es einmal das und das andere Mal jenes vorfände und dem nachgehe, das hieße ja, in der Kenntnisnahme und Kenntnis erstrebend, erzielend hzui leben, sondern ich werde in diesem Tun gehemmt, ich schwanke, ich bin geneigt, ich lehne ab. Ebenso in den Gestalten des explizierenden und begreifenden Denkens, zunächst in der anschaulichen Sphäre und dann im sekundären, unklaren und symbolischen Urteilen. Es ist ein Kreis von Modi des „Gegenstandsbewusstseins“, aber hier von Modi der Ichaktivität und Ichpassivität, Modi des thematischen Vollzugs von Intentionali-
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tät, die als solche Einheit gegenständlichen Sinnes in kontinuierlichen oder diskreten Synthesen der Einstimmigkeit oder Unstimmigkeit bewusst haben. Aber die Schwierigkeit ist, deutlich gegenüberzustellen, was schon im Hintergrund als Einstimmigkeit und Unstimmigkeit der „Intentionalität“ vor sich gehen kann und was die Wachheit des Ich und seine Beteiligung hereinbringt. Sollen wir sagen, das Ich erstrebt1 einstimmiges, sich fortgesetzt bestätigendes Sein als gesetztes Sein, als Satz, und solche Sätze, die es als sicheren Besitz behalten, auf die es zurückkommen kann, sofern es sie als seine Sätze in erneuten Setzungen wieder aufnehmen kann? Soll man sagen, es ist eben Aktivität in diesem Sinn der standhaltenden und schließlich der sich fortgesetzt und durch Selbstgebung bewährenden Gewissheit; und zudem das Geschehen der fortgehenden Kenntnisnahme und Erkenntnis, in fortschreitender Erweiterung der Erkenntnis und der Erweiterung der sicheren Erkenntnis, also heinerseitsi Fortschreiten im systematischen Entfalten dessen, was der Gegenstand ist, des systematisch urteilenden Entfaltens des gesetzten Gegenstandes und des systematischen Herstellens der Beziehungen, in denen sich die Beziehungsbestimmungen herausstellen usw., und andererseits der systematischen Prüfung, des Infragestellens, des Abweisens der Zweifel, der Herausstellung der Wahrheit selbst als Norm der Urteile, der Norm für die Beantwortung der Fragen, der Verwandlung bloßer Urteilsneigung in feste und begründete Urteile, ebenso der Verwandlung der Fragen (Zweifelsfragen) als Überführung in die entscheidenden Antworten, der Beseitigung der Ablehnungen durch Überführung in die Positionen etc.? Dann denken wir uns das Urteilen als Urteilen in der Konsequenz eines „theoretischen“, auf wahren Gegenstand und wahre prädikative Sätze gerichteten Interesses.2 So ist im Grunde die Einstellung der Logik: Logische Urteile sind als Urteile in solchem Zusammenhang gedacht. Aber wir können doch dieses universale „logische Interesse“ und seine praktische Zweckidee universaler Wahrheit und Wirklichkeit außer Spiel lassen und doch von Urteil sprechen. Voran liegt der Seinsglaube der noch
1 In gewisser Weise allerdings „erstrebt“, aber das besagt natürlich nicht von vornherein „beabsichtigt“. 2 Das wäre ein „Absehen“ haben, Absichten haben, Begierde und Willen haben in Richtung auf wahres Sein.
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„unbestimmten“ Gegenständlichkeit, das urdoxische Bewusstsein, das seinssetzende Vorstellen, das positionale, also nicht das bloße Phantasieren als Quasi-Vorstellen, das schlichte ungebrochene Meinen des Ich als Seinsmeinen eines gewissen, aber nicht entfalteten Sinnes.1 Und dann die explizierenden Urteile (Sätze) als synthetische Aktivitäten bzw. synthetische explikative Gebilde und ihre synthetischen Einheitsformen (dann die Modalitäten und wieder die durch sie ermöglichten höheren Urteilsweisen). Alles in der Positionalität ist da zunächst einfach Glaube mit einfachem „unbestimmtem“ Sinn, dann wieder Glaube als synthetischer Glaube, polythetischer Glaube auf Glauben gegründet und verknüpft, das Ganze aber nicht vom Ich her ein Glaube, sofern nicht eine Ichsetzung auf das Ganze gerichtet ist; und ebenso einfache und synthetische Modalisierungen, Glaube mit Glaubensabwandlung verbunden etc. Aber jede Synthese konstituiert eben ein „Ganzes“. Der Satz ist selbst ein vorgegebener Gegenstand; er ist durch die soeben vollzogene und abgeschlossene Synthese vorkonstituiert als vorausgehendes, vorgebendes Bewusstsein. Ein einstrahliger Glaubensakt, ein thematisches Erfassen kann sich auf den Satz richten, und nun kann er expliziert werden, und es ist etwas anderes, diese Explikation zu vollziehen in neuen Urteilen, als das alte Urteil zu wiederholen. Ebenso wie jede Synthesis der analytischen Form selbst einstimmiger Glaube bzw. Objektivation ist und (nämlich implizite) ein aktiv zu vollziehender „nominaler“ Glaube, so jede Modalität, die selbst kein „Urteil“ bzw. keine Seinssetzung ist. Jede aktive Seinssetzung kann dann weiter forttreiben zu Urteilen. Logisch zusammenhängend: das System der von einer oder mehreren Seins- oder Gegenstandssetzungen und dann überhaupt von einem allgemeinen offenen Horizont von möglichen und wirklichen Gegenständen ausstrahlenden
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Das ursprüngliche „instinktive“ Wahrnehmen, dann Erinnern und diskret Künftiges Erwarten, instinktives Affizieren und Zuwenden, das Zuwenden als instinktives Streben in realisierender Erfüllung, in dieser glatt sich abwickelnden Erfüllung hsichi „befriedigend“. (Dieses innere Streben und Erfüllung histi nicht Realisierung im Sinn der umgestaltenden Erzeugung eines Gegenstandes, was einer anderen Stufe angehört.) Das ursprünglich instinktive Streben erfährt dann in der Auswirkung die verschiedenen „Hemmungen“, Modalisierungen.
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synthetisch-aktiven Setzungen und Modalisierungen und dann wieder von Urteilen, die, durch diese Modalisierungen vermittelt, dazu dienen, dieses Gebiet von seienden oder möglicherweise seienden Gegenständen zu erkennen. Das Überhaupt-Urteilen – Modalitäten 5 des Überhaupt und alle Modalitäten im Überhaupt. Die Quantifikation. Das Verhältnis des Urteilens und seiner Urteilsmodalitäten zu den „Gemütsakten“ und Willensakten.
h§ 3. Latente Intentionalität, das Wachwerden des Ich und die Leistung des aktiven Ichi 10
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Die latente Intentionalität ist die Voraussetzung und Unterlage für alle patente Intentionalität, d. i. für alle eigentlichen Ichakte. Bewusstsein ist absolutes Leben überhaupt, und alles Wachwerden des Ich ist Affiziertwerden durch etwas, das schon bewusstes Etwas histi, d. i. vor aller „Zuwendung“, Erfassung, Beurteilung, aber auch Bewertung, Begehrung, Wollung, Handlung bewusstseinsmäßig konstituiert ist als intentionale Einheit. Bewusstsein überhaupt ist in einer gewissen Weise immerfort und unaufhebbar „objektivierendes“, in gewisser Weise ist es immerfort und notwendig doxisch und liegt in ihm latent und doch nicht als eine leere Möglichkeit „seiende“ Gegenständlichkeit, und in gewisser Weise sind schon diesem Bewusstsein, in dem das Ich nicht wach ist für seine Gegenständlichkeit und das sie nicht erfasst, „setzt“ und urteilsmäßig betrachtet, bestimmend behandelt etc., auch Modalitäten der Gewissheit bzw. Seinsmodalitäten nicht fremd, liegen in ihm latent.1 Es ist dabei zu sagen, dass latente Intentionalität nicht nur beständig fließendes Leben ist, das etwa gedacht ist als dumpf-traumloser Schlaf – oder auch, das Hintergrundleben ist jener Art, die alles wachaktive Leben umflutet –, sondern auch die latente Intentionalität ist voll sozusagen von patenter. Jedes polythetische „Erzeugnis“ z. B. des urteilenden Denkens ist innerhalb des wachen Lebens liegend, ist als das in gewisser Weise in dem Lichtkreis, den die Rede vom Blickfeld der Aufmerksamkeit bezeichnen könnte, und ist doch eine latente Ge-
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Auch Werte und Tätigkeiten, Begehrungen und „Handlungen“.
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genständlichkeit, die einer eigenen Ichaktivität und Leistung bedarf, um patente, um erfasste, in Kenntnis genommene Gegenständlichkeit zu sein und dann gar weiter zum „Gegenstand worüber“, zum Substrat des bestimmenden Urteilens hzu werdeni. Und nun gar, wenn wir in der Erfassung und Betrachtung einer äußeren Wahrnehmung die in ihr latenten Orientierungen, perspektivischen Erscheinungen (Abschattungen, Aspekte) nehmen, dann weiter zurückgehend die in Abschattungsfunktion stehenden Empfindungsdaten und endlich die temporalen Abschattungen, die Bewusstseinskontinua des inneren Zeitbewusstseins, durch welche diese selbst, aber auch alles, was Erlebnis und Erlebnismoment im inneren Zeitbewusstsein ist, sich als Zeiteinheit konstituiert. Die B r ent ano’sche Lehre „Alles Bewusstsein ist Vorstellung oder hat Vorstellung zur Unterlage“ könnte so interpretiert werden, dass „Vorstellung“ soviel besagte wie latente Intentionalität. Aber freilich zeigt sich dann, dass die „Grundklassen der Intentionalität, roh gesprochen Intellekt und Gemüt und Wille“, und dass die zu ihnen gehörigen Grundweisen der Abwandlung schon zum latenten Gebiet, zum „Vorstellen“ gehören; oder, das Leben ist durch und durch objektivierendes (Gegenstände konstituierendes), zugleich aber auch wertend und strebendes und realisierendes Leben. Das objektivierende Leben ist dabei in seiner untersten Struktur durchgehend hyletisch objektivierendes und bietet in der Entwicklungsstufe des auf eine Außenwelt bezogenen Lebens die durch dieses Leben hindurchgehende Unterstufe des naturerfahrenden Lebens, das eine in sich geschlossene, von aller sonstigen Objektivierung und von aller Wertung abstraktiv zu sondernde Unterschicht darstellt, die strömende Einheit also der äußeren „wertfrei“, von allen Gemütszuwächsen und praktischen Bedeutungen frei gehaltenen Erfahrung. In erweiterter Fassung des Begriffs der Hyle haben wir also eine Schicht der hyletischen Objektivierung mit den hyletischen Urteilen, dann der darin fundierten mundanen, auf Natur bezogenen Wertobjektivierung und praktischen Objektivierung (Kultur), die sich in Werturteilen, Zweck- und Mittelurteilen etc. entfaltet, das histi in patenten Objektivierungen, denen des urteilenden und erkennenden Intellekts. Aber über all das greift die fortgehende latente Objektivierung und desgleichen die latente Wertung und Strebung. Und zudem, das latente Gemüt, der latente Wille kann
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in seiner Weise auch patent werden, ohne sich zugleich zu eröffnen in der Weise des Urteils. Das Ich, indem es Gemütsstellungnahmen vollzieht und sich praktisch entscheidet oder handelt, schafft dabei so wie als urteilend aktives Ich neue Objektivierung; es konstituiert neue Gegenständlichkeiten in latenter Form, die dann wieder patent werden können für das urteilende Ich, und zudem das Gemüt bewegen, dadurch den Willen bestimmen können usw. in infinitum. W as leist et das akti ve Ich? Es macht nicht die gegenständliche Einheit, die vorkonstituiert schon bereit ist und es vor der Zuwendung affiziert. Aber es belebt die Intentionalität in der eigentümlichen Weise der Aktivierung, des aktiven Vollzugs, und wird selbst zum vollziehenden und, was nur ein anderer Ausdruck ist, zu dem sich zuwendenden, die Einheit erfassenden, ihr nachgehenden, von ihr stetig Kenntnis nehmenden Subjektivität – das Letztere im Falle einer „schlichten“ erfahrenden Vorstellung, die selbst nicht schon „kategoriales Gebilde“ und somit nicht aus einer ursprünglichen Aktivität hervorgegangenes Erzeugnis ist, das als solches auf seine ursprüngliche Genesis zurückweisend zum „Nachgehen“, zur „näheren Kenntnisnahme“ der „Reaktivierung“ bedarf. In jedem Fall nimmt das Ich den Gegenstand zur Kenntnis, und der Anfang ist die aktive R ezepti vit ät, die Aufnahme des schon Konstituierten in die Kenntnis, und der Fortgang ist dann die eigentlich syn-thetische, in diskreten Schritten sich vollziehende Synthesis des Urteilens, die von Seiten des Bewusstseins eine Einheit des Bewusstseins ist, die mehrfältig Thesen verknüpft und eben damit eine neue Gegenständlichkeit vorkonstituiert. Das tätige schlichte Erfahren und überhaupt das sich hinwendende Erfassen stellt den Gegenstand in den Blick, macht ihn zum Thema und eröffnet die Gegenständlichkeit zunächst im durchlaufenden Betrachten. (Ich spreche von Reaktivierung. In gewisser Weise gilt das schon von der Erfahrung, der äußeren, obschon da der Ausdruck ein uneigentlicher ist, da es sich nicht um Wiederherstellung einer ursprünglich konstituierenden Aktivität (kategoriale Erzeugung) handelt, sondern humi „Wiederherstellung“ der Assoziationen, der solche Assoziationen urstiftenden Zusammenhänge.) Das Urteilen eröffnet die Gegenständlichkeit, entfaltet sie bzw. die sie gebende Intentionalität, aber das erkennende Tun eröffnet die In-
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tentionalität auch, indem es ihrem unbestimmten Sinn folgend neue Intentionalität frei herstellt, welche das Unbestimmte bestimmt. Das ist doppeldeutig. Die Horizonte, die unerfüllten, ausfüllen durch fortgehende Wahrnehmung desselben, sich dabei von immer neuen Seiten zeigenden Gegenstandes, das ist eine Weise, ihn näher zu bestimmen. Andererseits aber das eigentlich urteilende Bestimmen, das ihn nach einzelnen Momenten und Teilen näher Betrachten, ihn durch Kenntnisnahme seiner Eigenschaften und Bestandstücke kennenlernen, in seinen Eigenschaften ihn „in Sonderheit“, in seiner besonderen Bestimmtheit kennenlernen. Erst in diesen fortgehenden Leistungen wird das Substrat, der Gegenstand selbst, zum erkannten, und zu diesen Leistungen gehört auch, ihn ineins mit anderen Substraten und in Beziehung zu ihnen kennen hzui lernen, ihn im Zusammenhang mit ihnen durch Relationsbestimmungen hzui bestimmen. Erst dadurch erwachsen dem erkennenden Ich „Gegenstände der E r kennt nis“ als erkannte Objekte, im allgemeinsten Sinn gesprochen als begriffene. In der Erkenntnis einen Begriff von einem Gegenstand gewinnen heißt, ihn als in mannigfaltigen Erkenntnissen erkannten, urteilsmäßig bestimmten gewinnen als einen solchen, der von nun ab ins Bewusstsein tritt als begriffener, als Gegenstand, an dem sich alle Prädikate attributiv niedergeschlagen haben. Doch kommt dazu das Begreifen als unter allgemeine Begriffe stellen, als durch allgemeine Prädikate bestimmen, ihn als Einzelnes von Allgemeinheiten, in Beziehung auf Umfänge von möglichen und wirklichen und dabei unbestimmt allgemein gedachten Gegenständen hbestimmeni. Erst das erkennend urteilende Ich übt durch ausweisende, begründende Tätigkeit Arbeit im Dienste der Wahrheit, oder vielmehr: Im urteilenden Denken gerät das Ich auf die unliebsame Hemmung der Urteilsgewissheit, auf Modalisierungen, auf die unliebsame Nötigung der Preisgabe, der Verwerfung einer erworbenen Überzeugung; es lernt den Wert der Wahrheit als Norm kennen und der Urteile, die aus der Evidenz geschöpft jeder Negation, jedem Zweifel, jeder Modalisierung standhalten. Tiefere Analyse zeigt und bewährt, bringt zu einem immer tieferen und reineren Verständnis, dass Bewusstseinsleben, monadisches Sein, nicht ein toter Komplex von dinglichen „Daten“ ist und von toten, wenn auch gesetzlich geregelten Abwandlungen dieser Daten,
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Verbindungen, Verschmelzungen, Zusammenbildungen von Sonderkomplexen, die selbst einander gegenüber geregelte Kausalitäten üben – so etwas wie eine Natur, wie die in der Naivität absolut gesetzte physische Natur. Jede solche Auffassung übersieht in ihrer Naivität das Ich und hdasi erkennende Ichbewusstsein und das Bewusstseinsleben überhaupt, durch das eine Natur und jedes ihr analog gedachte sachliche Sein seinen Sinn erhält, und hsiei verkennt, dass dieses SinnErhalten sehr viel besagt, und vor allem hbesagt, dassi das sachliche Sein nur ist, was es ist, als im Bewusstseinsleben sich konstituierender Sinn, wirklich konstituierter oder aus schon konstituiertem durch passiven und aktiven Fortgang des intentionalen Lebens weiter zu konstituierender. Ein Bewusstseinsleben konkret genommen oder eine Monade ist ein in sich wesensmäßig geschlossener Strom der „Intentionalität“, eine Totaleinheit der „Intention“, durch und durch „Bewusstsein von“, und sofern in diesem Kreis, in dieser Totalität, irgendetwas „ist“, ist es als synthetische Einheit von Bewusstsein. Das aber so sehr, dass auch jeder Lebenspuls, der da Bewusstsein heißt, selbst nur ist als synthetische Einheit, als Sinnesleistung von Bewusstsein, dessen Sinnespol und Satz dieses Bewusstsein ist, und so schließlich auch für das Sein der Totalität selbst. Si e ist, was sie ist, durch eigene Sinngebung, durch h di e i si e sich selbst Sinn und Sein gibt, durc h die si e nur dadurch ist und nur dadurch s ein kann, das s si e d urch si ch sel bst und für sich selbst is t. Freilich, die Ausdrücke sind, obschon bezeichnend, doch wieder gefährlich: als ob die Monade ein schaffender Gott wäre, der Gegenständlichkeiten, Welten machte und dabei sich selbst „machte“. Bewusstsein, Monade, ist durch und durch Intentionalität, und was irgend im Bewusstsein oder an ihm zu konstatieren, zu unterscheiden, gegenüberzusetzen ist, ist nur Wesensmoment der Intentionalität, nur aus ihrem eigenen Wesen zu schöpfen und außer diesem Wesen sinnlos. Durch das monadische Bewusstseinsleben hindurch geht passive Intentionalität mit passiven Verschmelzungen kontinuierlicher Synthese, in beständigem Fortströmen sich abwandelnd und dabei durch Einheit des in der kontinuierlichen Synthese als kontinuierlicher Deckung verbundenen Bewusstseins. So ist immanente Zeit und der fortgesetzt sich erweiternde Gehalt des immanenten Werdens ein
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Titel für ein Werdenssystem aus konstituierten Einheiten, in ihrer passiven Einstimmigkeit oder Deckung seiend und in der notwendigen Zeitform seiend. In der Passivität tritt dann Affi ni tät des Ähnlichen und Gleichen als eine Art diskreter Synthese (intentionaler Deckung) auf. Doch wäre wohl vorher zu nennen die Diskontinuität der A bhebung gegenüber derjenigen Kontinuität der Verschmelzung, die kein Sonderbewusstsein überhaupt möglich machte. Das bezeichnete einen Grenzfall, Nul l fal l des Lebens, von dem fraglich ist, ob er zu denken ist als Null fal l i n der G enesis. Es fragt sich auch, ob Abhebung nicht kontinuierliche Abhebung gegen einen Hintergrund ist, also beständig kontinuierliche Diskontinuität in eins mit einer kontinuierlichen Kontinuität im Abgehobenen. Was die Affektion des Ähnlichen anlangt, so betrifft das Koexistenz und Sukzession. Was Sukzession anlangt, so ist eben das verklungene Bewusstsein, auch das längst verklungene (unbewusste), nicht nichts, sondern in kontinuierlicher perspektivischer Kontraktion der Retentionen nur latente Intentionalität, zu wecken durch eine explizite Gegenwart. Aktivität und Ich. Die intellektive Tätigkeit, anfangend mit der erfassenden Zuwendung, ist Wachwerden des Ich und Eröffnung des Reichs der Freiheit. Alle Gemütsaktion und Willensaktion setzt intellektive Patenz schon voraus, und jede Stufe neuer Aktion schafft Möglichkeiten neuer Intellektion und neue Möglichkeiten der Freiheit.
h§ 4. Passive Lust und aktives Gefallen. Lust als Gegenstand und Lust als Wert. Die Aktrichtungen der Intellektion und Emotioni Die Aktivität des Gemüts und des Willens. Das Gemüt vor der A ktivität. Das Bewusstsein in seiner passiven Intentionalität konstituiert Sinn, zuunterst „ichfremden“ hyletischen Sinn in passiver Kontinuität der Deckung unter Abhebung. Aber in dieser Passivität fundiert die hyletische Intentionalität auch Lust oder Unlust, Annehmlichkeit und Peinlichkeit. Und das ergibt Schichten weiterer 35 Synthesen von wandelbaren Schichten an schon anderweitig konsti30
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tuierten Gegenständen. Auch das geht in Assoziation ein, bedingt Weckung usw. Ferner hängt mit der Erregung assoziativer Protentionen auf Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten, auf mögliche Wandlungen der Gegenstände, bei denen Angenehmes erwachsen würde und dgl., begehrendes Streben zusammen, als Streben nach einer Seinsgestaltung, nach Seinsverläufen, die Lust bringen würden (und entsprechend entgegengesetzt für Unlust). Aber auch instinktives Treiben, das erst im Gang der passiven „Erfahrung“ (der latenten) sich enthüllt und dann zum lustgerichteten Begehren wird, in sich wirklich gerichtete Intentionen auf lustbringende Gegenstandsgestaltungen tragend. Das unwillkürliche, passive Realisieren instinktiven Strebens und dann zielgerichteten latenten Strebens. Wie das Gemüts-Ich wach wird. Wach wird das Ich in der Zuwendung zu den Gegenständen, in der gefallenden Zuwendung zu ihnen, und das sagt doch nicht bloß ein Erfassen und Betrachten des „angenehm“, „lustvoll“ als eines nur fundierten hyletischen Charakters (als ob es das wäre). Das Ich ist hinsichtlich einer konstituierten Einheit intellekt iv: Es ist kenntnisnehmend, Seiendes ist als solches erfasst, ist Thema, wird zum Substrat etc. Das Ich ist aber nicht hinsichtlich der G efühl scharaktere kenntnisnehmend und bestimmend, obschon es auch das werden kann und oft genug auch das ist. Es hat Gefallen an der Sache, es macht sich das vor der Zuwendung schon Lustvolle in der Weise des Gemüts zu eigen, es genießend, im Gefallen damit beschäftigt. Man könnte sagen: Wie die vorstellende Intentionalität, die passiv nicht bleibt, was sie war, sondern die neue Gestalt (Modus) der vom Ich aus „vollzogenen“ annimmt und das Spiel der intellektiven Aktionen inszeniert, so nimmt die passive Lust, passiv im Sinn der „ichlos“ erlebten Lust als einer eigenen fundierten Intentionalität, den Charakter an des „Ich habe Gefallen“, nicht an der Lust (als ob sie Gegenstand wie ein anderer wäre), sondern am Gegenstand, der vordem schon in latenter Weise Lustgegenstand war und nun Gegenstand des Gefallens ist, einer aktuellen Weise des Lusthabens, der Gegenstand bewegt mich, affiziert mich in der Weise des Gemüts, und ich antworte, mich ihm hingebend, in der Weise des Gefallens. Wie jeder intellektive Akt neue Gegenständlichkeit latent konstituiert, so auch jeder Gemütsakt und jeder Akt überhaupt: Der Ge-
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genstand hat nun eine neue Schicht „gefällig“.1 Vor der Zuwendung des fühlenden Ich ist er schon mit einer Lustschicht ausgestattet, und wie ich in der Zuwendung ihn erfasse und von ihm weitere Kenntnis gewinne als den, der schon vordem war, so auch kann ich ihn vorfinden als den, der schon „angenehm“ war. Dieses „angenehm“ ist nicht verloren, es hat jetzt den Modus des „gefällig“. An ihm ist weiter das „angenehm“, aber ich habe von mir aus meine Freude daran. Aber muss man dann nicht sagen, es ist eben hier zweierlei, das Kenntnis nehm en der Lust und das Sich-daran-Freuen als „ A ntw or tr eakti on “ des Ich? Aber heißt das dann nicht, dass eine gewisse Sorte sinnlicher Momente, genannt sinnliche Gefühle, die Auszeichnung hat, „im“ Ich besondere Reaktionen zu erwecken oder gewisse Weisen der Erfassung, die Freude ist, zu erwecken? Nicht nur: Ich nehme Kenntnis, sondern in neuer Schicht: Ich habe Gefallen?2 1) R ic htung auf di e gegenständl iche Einheit – Synthese der Identifikation, der Bestimmung, hdesi Urteilens: Antwort auf die Seinsaffektion (at tent io nal e Affekti on – Affektion des Gegenstandes als Einheit). 2) Ric htung auf den Wert, Antwort auf die Affektion der Lust und Unlust, auf die des Gefühls: Hingabe in Form des patenten Gefühls.3 Das Ich ist genießend und Gefühlsintention als Streben erfüllend in der genießenden Lust, die, fundiert durch ein Merkmal, die Gegebenheit des Merkmals voraussetzt. Gefallen haben: Ein Ich hat Lust und strebt nach ihr, sie habend. Aber wodurch scheidet sich das von der Lustwahrnehmung? Ich kann sie doch haben und mich nicht daran freuen, nicht mit Gefallen antworten. Lust ist eben doch etwas Eigenes. Passiver Gemütsmodus, der affizierend aktive Gemütstätigkeit motiviert? Was sagt das aber? Es ist wie ein sinnlich 1 Ich habe neben den Gegebenheitsmodi, in denen sich der Gegenstand als Einheit konstituiert, noch subjektive Modi des Gefühls als solche, die nicht konstitutiv sind und doch zu ihm insofern gehören, als er in Verbindung mit gewissen seiner Gegebenheitsweisen, als gerade durch diese fundiert, die weitere hat, die doch nicht darstellend ist, also nichts zur Synthese beiträgt. Wie ist es bei immanenten hyletischen Daten, einer schönen Farbe, einem süßen Geigenton? Das Immanente ist selbst subjektiv. Ist also hier eine solche Scheidung möglich? Das reicht hier nicht hin. 2 Nein! Die sinnlichen Gefühle vor der Zuwendung sind Hintergrundwertungen; Zuwendung aber ist hier sinnlich genießen, wertend. 3 Was sagt patentes Gefühl?
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hyletisches Erleben schon vor der Zuwendung: Dieses in der Weise der Zeitkonstitution konstituiert das einheitliche hyletische Datum als synthetische Einheit. Die Schicht der Hintergrundlust ist fundiert durch das hyletische Erleben und hängt an seinem Verlauf, an der Art seines gegenständlichen Sinnes und seiner Zeitgestalt. In dieser Fundierung konstituiert die parallele Schicht eine fundierte Einheit, d. i. die sinnliche Lust. Lust als Gegenstand affiziert zur Aufmerksamkeit, zur Erfassung und zum Eintreten in die Identitätssynthesen und Urteilssynthesen. Aber bedarf diese Erfassung nicht voraus erst der Aktivierung des Wertens? Lust als Wert affiziert zur Gemütsaktion. Wir hätten also Gegenstandsbewusstsein universal, Bewusstsein überhaupt. Gegenstände können in verschiedenen „Gefühlscharakteren“ gegeben sein, eventuell dass der Gegenstand in irgendeiner subjektiven Gegebenheit (und dadurch fundiert) eine Gefühlsweise als zugehörige Gegebenheitsweise hat, und diese kann einerseits selbst als Gegenständliches, zum Gegenstand der Unterlage wie eine Gegebenheitsweise Zugehöriges, sachlich affizieren und Urteilsgegenstand werden, andererseits aber Thema genießender Zuwendung und sonstiger Akte des Gefallens hwerdeni.1 Dann kommen wir in die eigenen synthetischen Zusammenhänge des Gemüts hinein und des Willens. Streben und Wille gehören zum „Urteil“, zur Intellektion, ebenso wie zur Emotion. Immerfort haben wir Gegenstandsbewusstsein und Gegenstandskonstitution verschiedener Stufe: latent. Andererseits, immer ist das Ich affiziert, und wird es eventuell wach, das ist, es tritt auf als vollziehendes Ich – Objektivation vollziehend, urteilend oder Wertung vollziehend – und endlich halsi aktiv strebendes. Vom Ich her haben wir dann die beiden Aktrichtungen Intel lek tion und Emotion, dem entsprechend das Gegenstandsbewusstsein immerfort zugleich Gemütsmodi der Gegebenheit hat, die nicht für die jeweiligen Gegenstände konstitutiv sind. Wi r haben daher schon in der Passivität der Latenz I ntel le kt und G em üt i n der Latenzstufe: Vor der I c haktivit ät haben wir Gegenstandskonstitution und Gemüts-
1 Gegebenheitsweisen der Objektivierung sind patent nur in einer Reflexion. Setzt nicht die Reflexion auf die gefühlsmäßige Gegebenheitsweise den Wert voraus, das aktuelle Werten? Das ist erst genießende Lust, dann Lust als gegenständlicher Charakter und objektiviert erfasst.
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oder Wertgestalt. Alles, was aber im Leben auftritt, ist selbst objektiviert und kann in Objektivation eintreten, auch die Akte des Ich etc. Es ist also ein im mer währendes O bj ektivieren und Werten und ein immerwährendes Affizieren und Reagieren gegen Affektion 5 in Formen aktiver Intellektion und Emotion. Ic h erkenne also keine Gr undkl ass en an, oder i n we lchem Sinn soll von Gr undklas s en gespr ochen werden?
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h§ 5. Der Bewusstseinsstrom ist durch und durch Objektivation und Synthesis. Die konstitutive Funktion der Lusti Im inneren Bewusstsein konstituiert sich all das, wovon wir hier in der Phänomenologie sprechen, hyletische Daten, kontinuierliche Synthesen, verschiedene „Weisen der Intentionalität“, objektivierende Intentionalität und ihre Modalitäten, wertende, praktische. Und das sagt: D er Bewusstsei nsstrom selbst ist durch und dur ch Objekti vati on, immerfort als inneres Bewusstsein für das Ich latent, und immerfort kann es patent werden, eben dadurch, dass das Ich Affektion erfährt und aktiv reagiert. Das ist dann aber selbst wieder im inneren Bewusstsein objektiviert-latent und so in infinitum. Der tiefste strukturelle Kern sind die hyletische Objektivierung und die Wertung in sinnlicher Lust und dazu die Urtitel der Genesis: Assoziation hundi Apperzeption. Man könnte sagen: Bewusstsein is t d ur c h und durc h S ynthesi s, und Ichleben ist Aktleben, A ktivität ( Str eben u nd Wol l en), das den Urformen der Sinngebung – der sac hl i chen und wertenden, die sich immer wieder in höheren Stufen wiederholt – folgend zum aktiven Urteilen, Werten und zum eigentlich wollenden Gestalten wird und schließlich zum Selbstgestalten. Das monadische Leben ist durchaus „Bewusstsein-von“. Wenn Bewusstsein-von als abzuhebende Sondergestalt „intentionales Erlebnis“ heißt, so geschieht das darum, weil jedes einzelne Bewusstsein entweder schon den Modus der eigentlichen, ichlichen „intentio“, des Hin-Gerichtetseins, des strebenden Bewusstseins hat oder diesen Modus annehmen kann. Intention ist der Titel für einen universalen Modus aller Bewusstseinserlebnisse, wodurch das Ich zu
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dem „Gegenstand“ des Bewusstseins „in Beziehung tritt“. Jedes Bewusstsein ist „Gegenstandsbewusstsein“, Bewusstsein seines Gegenstandes – das sagt, es ist selbst Synthese und gehört in Bewusstseinsmannigfaltigkeiten, wirkliche und mögliche, hinein, die synthetische Einheit haben, verknüpft sind durch Synthese „desselben“; dieses Selbe ist Substrat eines in wechselnder „Bestimmtheit“, in wechselndem „Sinneshorizont“ ihm zugehörigen Sinnesgehalts, der, sich bestimmend, durch alle Bestimmungsmodi hindurch heini Selbes ist und zum identischen Substrat als hdieiselbe Bestimmung gehört. Diese legt sich auseinander und wird patent in der expliziten Objektivierung, einem intentionalen Bewusstseinsmodus, in der Ichtätigkeit des urteilenden Lebens. Doch das ist nicht so einfach. Ein Bewusstseinserlebnis kann in verschiedene synthetische Zusammenhänge treten und in verschiedener Weise latent werden, derart, dass in der Latenz verschiedene Gegenstände es sind, die als in dem betreffenden Bewusstsein bewusste zu bezeichnen wären. Jedes Bewusstsein hat aber seinen Gegens tand sc hlec ht hi n, und alle anderen Gegenstände, die noch in ihm bewusste heißen können, sind es dank Bewusstseinserlebnissen, die in dieses Bewusstsein eingeflochten, für seine Einheit konstitutiv sind und deren Gegenstand schlechthin eben der jeweilige Gegenstand, und er allein, ist. Wie ist das zu beschreiben?1 Bewusstsein ist Medium einer Ichintention (bzw. Affektion), die sich erfüllt in synthetischen Zusammenhängen. Es heißt Bewusstsein von dem Identischen, das sich in diesen Zusammenhängen als identisch „herausstellt“, „urteilend“. Wir können dann einsehen, dass sehr mannigfaltige Bewusstseinsweisen wesensmäßig zu diesem synthetischen und begreifenden Herausstellen gehören und dass diese Bewusstseinsweisen in „konstitutiver Funktion“ stehen und ihre Gegenständlichkeiten ihrerseits in konstitutiver Funktion stehen, z. B. als Abschattungen-von, als Anzeichen-von, Ausdrücke, Abbildobjektevon usw. „Konstitutive“ Probleme – letzte Konstitution, konstitutive Elemente, Elementarbewusstsein und Elementargegenstände. Das B ew us s ts ein al s st ufe nwei se Ei nhei t der Gegenständlichkeit kons titui erende s, aufgebaut aus Bewusstsein, das „ kons titutive Funkti on “ hat. 1
Vgl. weiter unten hab S. 210,28i.
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Aber nun kommt das Probl em des Gemüts, der Lust- und Unlustaffektion etc. Die Gegenstandskonstitution führt in die Synthesis und in die Betrachtung der konstitutiven Funktionen für die Synthesis. Wenn ein Gegenstand Lustgegenstand ist, so ist er freilich als lustig bewusst, und das Lustmoment ist auch mitkonstitutiert in „gegenständlicher“ Weise. Aber für den Gegenstand, der als lustig bewusst und bald wieder bewusst ist als unlustig, haben wir eine abgesc hlos se ne G egenstandskonstitution, und in dies em Z usam menha ng hat di e Lust keine konstitutiven Funktionen. Das gilt es deutlicher zu machen. Denn ist nicht der Wertgegenstand auch wieder Gegenstand? Er hat Wert. Hat er Wert als eine Eigenschaft, als etwas zu seinem eigenen Sinn Gehöriges? Wir haben ein geschlossenes System der Bewusstseinssynthese und in ihm den sich identisch durchhaltenden und bestimmenden Gegenstand, und wir haben in diesem Bewusstsein als Synthese fundiert ein neues Bewusstsein, das seine eigene Synthese hat. Nun haben wir sonst auch fundiertes Bewusstsein, Relationsbewusstsein zum Beispiel. Aber hier im Wertbewusstsein konstituiert sich zunächst ein Gegenstand in eigener Synthesis und aufgrund seiner Bestimmung die in ihr fundierte Schicht Wert. Und sie ist nicht nur etwas, was der Gegenstand als seine Bestimmung in sich und in seinem beziehenden Übergang hat, sondern in der Patenz heißt es, ich genieße, ich fühle Lust am Gegenstand, an dieser Bestimmung. Die Lust ist für den Gegens tand nic ht ko nsti tuti v, si e ist ihm fremd, sie ist „ s ubjektiv “, si e i st ei ne Wei se, wi e er sich mir gibt, wie er „ er lebt “ is t, aber nic ht ei ne W ei se, wie er sich „ darstellt “, kons tituiert. Die Lus t is t auch n i cht ei n Rel ationscharakter, der dem Gegenstand im Verhältnis zu anderen vorkonstituierten und dann erfassten Gegenständen zukommt. Lustcharakter kommt dem Gegenstand, eventuell dem bestimmten Gegenstand, auch dem in Relation bestimmten, zu. Die Objektivation liegt darunter und fundiert in ihren synthetischen Gestalten eine darüber gelegte Schicht der Wertung. Erst wenn diese patent wird und dann Lust gegenständlich erfasst hwirdi, haben wir Relation.
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Das Ich als strebendes, realisierendes Ich: in jeder Betrachtung, im durchlaufenden Wahrnehmen eines äußeren Gegenstandes, im Vollzug der Kinästhesen und in dieser Vermittlung im realisierenden Ablaufen allein der Erscheinungsweisen des Gegenstandes, seiner Seiten, seiner Orientierungen etc., im Vollzug der Explikationen der sich „aufdrängenden“ Beziehungen, im Vergleichen etc., so im Verlauf der urteilenden Tätigkeiten, die eben „Tätigkeiten“ des Ich sind. Das Ich affiziert und den Affektionen „passiv“ folgend, bald ungehemmt, bald gehemmt in Zweifel und Frage, in passiver Aufhebung der Hemmung wieder hemmungslos fortgehend, fortgezogen, reagierend und nicht im prägnanten Sinn „spontan“, in echter Ichspontaneität tätig. Das passiv strebende (tendierende, intendierende) Ich in der „Enthüllung“ eines latenten „Gegenstandsbewusstseins“. Der „Gegenstand“ affiziert, ein „Identisches“. Affektion in Richtung auf Synthesen der „Identifizierung“. In der Passivität treten solche Affektionen auf, so sich enthüllend, dass Gegenstände erzielt und fortschreitend sich bestimmend als Urteilsgegenstände erzielt, zugeeignet, in Kenntnis genommen und erkannt werden. Der Gegenstand ist sozusagen das Erzeugnis des objektivierenden, auf vorkonstituierten gegenständlichen Sinn gerichteten, diesen Sinn realisierendentfaltenden Ich – des urteilenden. Wie steht es dann mit dem Fühlen? Im absoluten Leben und seinem Strömen kommt immerfort Synthese, kontinuierliche und diskrete Synthese, zustande, es ist immerfort latentes „Gegenstandsbewusstsein“, immerfort eben Bewusstsein-von, nämlich im Hintergrund. Und es ist Bewusstsein von etwas in sehr verschiedenen „Hinsichten“, nämlich je nach der Richtung der Synthese, die gerade im Strömen eingeschlagen, protentional eröffnet ist. So kann ein konkretes Erlebnis als Bestandstück des Erlebnisstromes, in dem es ein relativ für sich Konkretes ist, sehr verschieden als Bewusstsein-von fungieren, und eben damit drückt sich schon diese Relativität aus: Es ist eigentlich nur, was es ist, in seinem universalen Erlebniszusammenhang und der synthetischen Richtung, der es zugehört und die seine „Konkretion“ mitbestimmt. Daher die Rede von verschiedenen Einstellungen, in denen z. B. bald ein äußerer Gegenstand, bald seine Erscheinungsweise, seine Weise der Orientierung etc. zum Gegenstandworüber werden. Die synthetischen Einheiten und mit ihnen die synthetischen Linien stehen in Wesenszusammenhängen, und das ergibt dann wie
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in diesen Fällen gerade und reflektierte Blickrichtungen und Ordnung im Vollzug der Reflexionen.1 Im inneren Bewusstsein ist alles, was da Erlebnis heißen kann (wie sehr es seinerseits Bewusstsein-von ist und in Deckungseinheit eintretend „Gegenstände“ konstituiert), wiederum Gegenstand, das heißt, ihm entspricht eine strömende Bewusstseinsmannigfaltigkeit, heinei strömende und eventuell diskrete Synthese, in der es selbst das Konstituierte, der Gegenstand, das identische Sein ist. So ist auch jedes der Erlebnisse, die wir Gefühle nennen, heinei Einheit, wie freilich auch jede Affektion eines Vorgegebenen (eines latent Bewussten in Richtung auf eine Synthese), jede Zuwendung des Ich, jeder Prozess des Urteilens. Gefühle sind Momente von Erlebnissen, in denen als Bewusstsein-von irgendwelche Gegenstände bewusst sind. Zum Beispiel, Erlebnisse äußerer Wahrnehmung als kontinuierlich hinströmende Synthesen, deren „gegenständliche Einheit“ ein Ding, ein dinglicher Vorgang ist, sind zugleich fühlende Erlebnisse, sofern der Gegenstand als lieblich, angenehm, schön, gut bewusst ist. Man möchte nun sagen (Widerlegung nachher): Was liegt hier anderes vor denn eine fundierte Objektivation? Freilich, wenn es ein Ding ist, so kommt die Lusteigenschaft, der Lustwert, ihm anders zu als eine Farbe, als eine spezifische Dingeigenschaft. Diese kommt ihm als sein Wesen konstituierende zu, in seiner ganzen Dauer, ob wirklich und eigentlich wahrgenommen oder nicht. Der Gefühlscharakter, etwa der dem Ding „vermöge seiner Färbung“ zukommende, kommt ihm in der Wahrnehmung zu, aber nicht an sich. Das Ding hat immerfort seine Färbung, seine wie immer sich verändernde, und so ist jede Wesenseigenschaft in aller Veränderlichkeit immer an sich da, ob erfahren oder nicht erfahren. Das Gefühl aber kommt ihm als zu einer einzigen Färbung hgehörigi und nur in der aktuellen Wahrnehmung zu. Das Ding kann als schön apperzipiert werden, ohne dass seine Schönheit selbst gegeben ist; es ist dann eben in der Weise eines appherzeptiveni Horizonts im Bewusstsein gelegen, dass ein Übergang in die betreffende Wahrnehmungsgegebenheit möglich ist, in dem das Gefühlsmoment hervortreten würde. Aber dieses Hervortreten ist eben doch ein anderes als das eines zum Gegenstand konstitutiv gehörigen Moments. Die Farbe ist da, wenn der Gegenstand da ist, mag ich auf die Farbe, falls sie überhaupt in die Wahrnehmung fällt, achten oder nicht. Die Schönheit der Farbe ist nicht in gleichem Sinn da. Nicht immer berührt der Gegenstand und seine Farbe mein Gefühl, und wenn ich verzweifelter Stimmung bin, wenn meine gesamte
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Vgl. 11 h= S. 207,29–209,35i.
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Gefühlslage ein Lustgefühl hier nicht aufkommen lässt, so ist es auch nicht da. Und wenn es da ist bzw. wenn der Gegenstand hinsichtlich einer ihm eigenen Bestimmung als lustvoll charakterisiert ist, kann dieser Charakter selbst wechseln und anders als ein eigenschaftliches Moment, handers,i als ob der Gegenstand sich verändern würde. Wie ist es bei immanenten Daten? Müssen wir hier, etwa bei einem lieblichen Ton, der außerhalb aller räumlichen Objektivierung als Empfindungsdatum genommen ist, nicht sagen, der Ton selbst und sein Gefühlscharakter seien eins, es liege eine Zweischichtigkeit vor? Zu scheiden sei zwar, aber so, dass der Gefühlscharakter fundiert sei durch den fundierenden sinnlichen Gegenstand, so wie er in seiner Dauer qualitativ und intensiv sich extendiert als dahinwährender, und hso wie eri dabei halsi so sich gestaltender bewusst ist. Ich kann affiziert sein durch diese fundierende Einheit, während das Gefühl da ist, ich kann auch auf den fundierten Gefühlscharakter achten. Er ist eben auch gegenständlich bewusst und fundiert, das ist, ich muss eben auch in der Zuwendung dem Fundierenden zugewendet sein und dann zudem dem ihm Zugehörigen der höheren Schicht. Aber ist hier nicht zu unterscheiden das geni eßende Zug ew e n d e t se i n d e s Ic h, das in der Lust strebend lebt, und das Zug ew ende t se i n zu d e r B e st i m m u n g d e s W e r t e s wie zu Bestimmungen überhaupt oder die urteilend-objektivierende Einstellung und die vom Ich her fühlende? Da liegen die Schwierigkeiten. Ich habe eine hyletische „Objektivation“ und darin fundiert eine Gefühls„objektivation“. Daran ist doch nicht zu zweifeln. Nun kann das „Objektive“ affizieren, d. i. eine Ichtendenz auf explizite Objektivation, auf Urteile hkanni statthaben. Andererseits, das Fühlen ist nicht nur objektivierend, in synthetischen Einheiten stehend oder hin siei einzutreten befähigt. Das Ich vollzieht das Gefühl als Gefühl, als Bewertung des fundierenden Gegenstandes (des Gefühlssubstrats), und das ist ein anderes als Vollzug der Wertobjektivation. Muss ich nicht sagen, zur Wertobjektivation als expliziter, patent vollzogener komme ich erst dadurch, dass ich nach Zuwendung zum fundierenden Gegenstand und der betreffenden fundierenden Bestimmung zunächst „genießend“ das wertende Fühlen vollziehe, und dann erst kann ich in die Werturteilseinstellung übergehen? Und sagt das nicht so viel wie: Das Werten ist von vornherein kein Objektivieren, sondern schon im latenten Hintergrund ein in dem Objektivieren Fundiertes? In der Patenz aber ist das Objektivieren zum Urteilen geworden und das Fühlen zum aktiven Fühlen (aktuellen Werten), das aber nicht frei steht, sondern, fundiert im objektivierenden Urteilen, zum Gefallenhaben, Sich-Freuen an dem Gegenstand geworden ist. Die Sachlage ist aber vermöge der Fundierung eine wechselnde und schwierige: weil ich urteilen kann und das Gefühl noch immer latent sein
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kann, nämlich nicht von mir vollzogenes. Ich betätige objektivierendes Interesse, das ist, ich bin vollziehend urteilendes Ich, ich betätige demgegenüber wertendes (fühlendes) Interesse, das ist, ich bin vollziehend fühlendes Ich. Ich kann im „theoretischen“ Interesse leben, ohne im fühlenden Interesse zu leben; ich bin nicht fühlend in Aktion, sondern nur urteilend. Bin ich aber fühlend in Aktion, so ist die Urteilsaktion dienende Funktion. Endlich kann ich nun auch von der Einstellung des fühlenden Betätigtseins (aktuelles Werten) in die Einstellung des objektivierenden Bewertens, d. i. in die Einstellung des Werturteils übergehen, in der hderi Wert zum gegenständlichen Bestimmungsmoment geworden ist, zum Prädikat eventuell prädizierendbegreifender Urteile. Tue ich das, so kann ich auch sagen: Der Gegenstand, die Färbung, die so und so sich darstellende Gestalt des Gegenstandes erregen mein Gefallen, sind Thema meiner Gefallenswertung oder bestimmen mich als fühlendes Ich, ihnen mich im Gefallen zuzuwenden. Und von daher hat er die Wertbestimmung. Dabei affiziert mich der Gegenstand, er bestimmt mich als fühlendes Ich im Fühlen, und sofern er schon in der Latenz für mich gefühlsmäßig da war, affizierte er mich in dieser Hinsicht schon vorher. Die latente Objektivation ist Ausgang einer Affektion als objektivierender Affektion, Affektion zum Urteilsvollzug, Affektion gerichtet auf das Ich als objektivierend-urteilendes; das latente Gefühl affiziert mich nicht als Objekt, es ist Ausgang einer Gefühlsaffektion, ich bin affiziert, motiviert zum aktiv fühlenden, aktiv wertenden Ich zu werden. S o i s t a l s o O b j e k t i v a t i o n ( Ur tei l ) und Ge fühl (W e rt u n g ) g ru n d w e s e n t l i c h u n t e r s c h i e d e n. Das Gefühl als Gefühl wertet aufgrund irgendwelcher Objektivation, es begründet damit neue Objektivation, es ist aber nicht in sich selbst Objektivation. Das Ich als urteilendes Ich verhält sich identifizierend-bestimmend, das Ich als wertendes Ich aufgrund von Urteilstätigkeit bewertend. Als urteilendes beurteilt es Gegenstände als wert, mittels Wertung konstituiert es Wertapperzeption und Wertvergleichung, Werturteil. Wie verhält es sich aber mit den Ur teil smodal itä t e n und wie mit der P h a n t a s i e? In der Phantasie bin ich quasi-urteilend, quasi-wertend. Als aktuelles Ich urteile ich aber „aufgrund“ der Phantasie wirklich und werte wirklich. Die Phantasiewelt, der Phantasiezentaur ist für mich als aktuelles Ich, obschon ein Modifikat eines wirklichen Objekts, selbst etwas Wirkliches. Und ich kann ihn schön oder hässlich finden und dem Phantasieding diese Prädikate urteilend zuschreiben. Ebenso gibt es Urteile und Wertungen, die zwischen Wirklichkeit und Phantasie spielen. Was aber die Urteilsmodalitäten anlangt, so sind es natürlich neue „Bewusstseinsweisen“ bzw. Weisen der Intentionalität des Ich. Ich bin vermutendes und nicht in Gewissheit urteilendes, ich bin zweifelndes, fragendes hIchi
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etc. Aber hat nicht das Gemüt analoge Modalitäten: in Gewissheit werten, zweifelnd werten, in Wertanmutung leben etc.? Somit käme ich zu der alten Stellung zurück: Wir haben grundverschiedene Formen des Bewusstseins in folgendem Sinn: 5 1) Bewusstsein als positionales, als Wirklichkeitsbewusstsein und Bewusstsein als Phantasie – Modi der Positionalität; 2) Modi der Originalität und Nicht-Originalität, der Antizipation; auch das Werten kann ein originales und ein antizipierendes sein; 3) Modi der Gewissheit, die in Urteilseinstellung in der Wertsphäre in 10 Modi der Urteilsgewissheit übergehen. Demgegenüber der Unterschied, der durch alle Modalisierungen hindurchgeht, der, der die Grundklassen Objektivation und Gefühl (Urteilen, Werten) bestimmt.
Beilage IX hDie notwendige Vorstellungsgrundlage eines Gemütsakts. Fundierte Qualifizierungen: Sinnesstrukturen und entsprechende Aktschichtungeni1
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Die bisher betrachteten Gruppen von Akten sind die a l l e r s c h l i c h t e s ten, und sie füllen einen b e st i m m t e n B e g ri f f v o n V o r s t e l l u n g. Der 20 Vorstellungsinhalt oder Sinn hat die einfachste Struktur. Die Vorstellungsgegenstände, rein als Vorgestelltes, haben keine eigentliche Gliederung mehr aus einer möglicherweise wechselnden Modalität des Seins: seiend schlechthin oder fraglich, zweifelhaft, nichtig und dgl. Hierbei spielt das „seiend schlechthin“ die Rolle der Urform, die sich nur abwandelt, modifiziert. 25 Dementsprechend hat das jeweilige Vorstellen selbst seinen Aufbau. Haben wir eine normale Wahrnehmung von unserem Theater, dann wieder eine Erinnerungsvorstellung von unserem Martinstor, so haben sie das gemein, dass sich das Ich im einen und anderen Fall eines Seienden gewiss ist; es hält einmal dies und einmal ein anderes für seiend. Für-seiend-Halten nennt man 30 auch „Glauben“, mindest in der philosophischen Tradition, die auf H u m e zurückgeht, auch Position, Seinssetzung. Was aber beiderseits unterschieden ist, histi, dass einmal der und das andere Mal der andere Gegenstand erscheint und hdass eri beiderseits der Inhalt des Glaubens, der Seinssetzung ist, das Thema der Thesis.
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Ein z wei te r Vorste ll u n g sb e g ri f f ist derjenige, der die These ausschließt. Verwickelter ist die Struktur schon, wenn sich ein A k t d e s G e f a l l ens oder Mi ssfal le ns mitrichtet auf einen vorstelligen Gegenstand, ein Aktstrahl, eine Stellungnahme des Sich-daran-Freuens oder einer Unfreude. Dann erhält der Gegenstand noch eine neue und in einer ganz anderen Dimension liegende Qualifizierung, er steht als erfreulich oder unerfreulich da oder auch als schön oder hässlich; das sind Qualifizierungen, die dem „Gemüt“ zugerechnet werden, womit aber phänomenologisch eben nur die völlig neue Dimension bezeichnet wird. Also haben wir wieder in den höheren Akten einen entsprechenden Sinn, der im Sinn der bloßen Vorstellung fundiert ist. Der konkret vollgenommene schlichte Gemütsakt, wie der der Freude an dem schönen Ding und seinem Dasein, setzt – und das gilt für jeden ähnlichen Gemütsakt – notwe ndig e i n e V o rst e l l u n g s u n t e r l a g e v o r a u s, also schon einen Sinn mit einer Seinsqualifizierung, und dann b a u t s i c h d a r a u f ei ne z wei te, e ine Ge mü t sq u a l i f i zi e ru n g, ein vermeinter Schönheitswert oder ein Hässlichkeitswert (ein Unwert, wie wir auch sagen), der als ausschließlich zum Vorgestellten als solchen gehörig selbst ein Sinnesmoment ist. Ebenso bringt ein Begehren oder ein Wollen neue solche Momente, aber ausschließlich neue und fundierte Qualifizierungen herein. Der vorgestellte, in diesen Fällen nicht schon als seiend gegebene Gegenstand hat den neuen Charakter eines seinsollenden, und in verschiedener Weise, wenn er erwünschter und wenn er praktisch erstrebter ist, als Ziel einer Verwirklichung genommen. Im letzteren Fall ist vorausgesetzt, dass er dem Strebenden bewusst ist, von ihm vermeint ist als nichtseiender, während im Fall des Wunsches genügt, dass er den Charakter des Zweifelhaftseins, des VielleichtNichtseins hat. Alle diese Unterschiede liegen rein in den betreffenden intentionalen Erlebnissen selbst und sie zeigen Sinnesstrukturen auf der einen Seite und entsprechende Aktschichtungen auf der Gegenseite an. Wie vielfältig diese Akte auch sein mögen, sie sind doch eingliedrige Akte, sie können trotz ihrer Schichtung nicht in selbständige Akte zerlegt, in für sich bestehende Akte zergliedert werden. Wenn wir ein Gebäude sehen, es architektonisch schön finden, also in einem ästhetischen Gefallen ästhetisch Stellung dazu nehmen, so haben wir zwar in gewisser Weise zwei Akte vollzogen, einen vorstellenden mit seiner Seinssetzung und einen wertenden mit seiner Wertsetzung. Aber während der erstere für sich ein volles Ganzes ist, ist der wertende nicht daneben zu legen. Er ist nur, was er ist, ineins mit der Vorstellung, die er voraussetzt und mitumschließt. Wie „seiend“ nur denkbar ist an etwas, etwa ein Vorstelliges, das seiend ist, so Wertsein nur als Wertsein von etwas, das seinerseits in irgendeiner Seinsweise gedacht sein muss. Inten-
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tionale Erlebnisse können also, ohne konkrete einfache Erlebnisse zu sein, unzerstückbare, mehrere Positionen vollziehen, mehrere Qualifizierungen ihrem Vorstellungsgehalt erteilen. Ein und derselbe Inhalt (ein und derselbe Vorstellungssinn) kann oft1 5 mehrfach Thema sein, in thematischen Akten Thema eines bloßen Interesses an seinem Sein, eines theoretischen Interesses, dazu hThemai eines ästhetischen Interesses, eines Begehrungsinteresses oder eines vollen praktischen Interesses hseini. Dabei hat der Gegenstand als Sinn seinen Sinnescharakter, seiend, schön seiend, seinsollend, in verschiedenen Nuancen.
Beilage X hDie in verschiedenen Stufen gegebenen Vorgegebenheiten für das Werten. Wertung in der Möglichkeit als eine Modalität des Wertens. Explikation des Wertes in den Gemütsakteni2
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Urteile, Denkakte sind Gegenstände bestimmende, sie setzen „vorgestellte“, in schlichten Gegenstandssätzen gesetzte Gegenstände voraus, und die Gegenstandsthesen setzen voraus vorgegebene Gegenstände, ursprüngliche Empfindungssinnlichkeit und in höherer Stufe sinnliche Appherzeptioneni. Wertungen als Akte sind Gegenstände schätzende Akte, sie setzen also 20 schon Gegenstände voraus, die für das wertende Subjekt in irgendeiner Stufe gegeben sind, dem Werten vorgegeben. Die Vorgegebenheit besagt, sie sind entweder in niedersten Akten der aktiven Wahrnehmung haufgrundi von Empfindungsdaten und hihneni ähnlichen Erinnerungsakten etc. gegeben oder in beliebig höherer Stufe: Es sind Gegenstände der Denksphäre, also 25 etwa komplexe Sachverhalte, die in einem theoretischen Denken gesetzte sind. Ich freue mich darüber, dass A ist, dass A B ist, dass vermutlich A, also in Folge davon B ist etc. Ich freue mich da über Sachverhalte, ich kann mich auch über die betreffenden Erkenntnisse freuen, über die erkannten Wahrheiten als solche und darüber, dass ich sie erkannt habe. Dann ist nur 30 der Gegenstand ein anderer, ebenso die Schönheit einer Theorie. Auch Gebilde der Phantasie sind Gegenstände, nämlich wie Sätze, wie auch Wahrheiten, noematische Gegenstände, identifizierbare Gegenstände: Gegenstände der Gattung Fiktion. Nicht die Zentauren selbst sind Gegenstände (Seiendes), sondern die Zentaur-Fiktionen; ich kann statt in der 15
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Phantasie zu leben und mich in das Sein, das Quasi-Wahrnehmen hineinzudenken als aktuelles Ich, auf das Phantasierte als solches hinblicken und es in wiederholten Akten willkürlich als dasselbe setzen. Es ist dann freilich ein willkürliches Gebilde. Aber ich kann auch in wiederholter Erinnerung auf dasselbe Phantasierte zurückkommen und es als dieses Selbe erfassen, auch es schön finden und immer wieder mich daran freuen, wie an meinem schönen „Araber mit der schwingenden Lanze“, der jahrelang gerne vor dem Einschlafen erschien und mich erfreute. Das kann in der Passivität erfolgen, und wir haben dann kein subjektives Phantasiegebilde als Wirkgebilde. Ich kann aber auch mit Rücksicht auf die Seinsmodalitäten nicht nur mögliche Bestimmungen erwägen, also Gegenstände nicht wirklich bestimmen, sondern „in der Möglichkeit bestimmen“, ihnen mögliche Bestimmungen zuteilen, sondern auch Gegenständen nach diesen möglichen Bestimmungen mögl i c he W erte zuw e rt e n; und wie ich mir mögliche Gegenstände „denken“ kann, das Phantasiebewusstsein in ein mögliches Bewusstsein (ein doxisch-modales, also einen wirklichen Akt des wirklichen Ich) wandeln kann, so kann ich in der Möglichkeit werten; ich habe dann eine M o d a l i t ä t des W er tens. Möglichkeit ist mögliche Wirklichkeit; wir kommen hier auf das Begehren, Wünschen, Erstreben und die neue Aktsphäre, die solche Möglichkeitswertungen und in der Erfüllung Wirklichkeitswertungen voraussetzt. Ur tei l e: Da haben wir das F o rm e n sy st e m d e r B e s t i m m u n g und aller damit zusammenhängenden Verbindungsformen (kollektives, plurales Urteilen), die Formen der Modalität etc. Bei den G e m ü t s a k t e n haben wir entsprechend der Explikation des „unbestimmten“ Gegenstandes nach seinen Bestimmungen, also Überführung in Urteile und Konstitution immer neuer Denkinhalte, die Explikation des „unbestimmten“, „verworrenen“ Wertes (des „sinnlich“ vorgegebenen, eventuell sekundäre Sinnlichkeit), und die Wertmomente entsprechen den wertfundierenden Sachbeschaffenheiten und Relationen. Natürlich auch die entsprechenden Modalitäten, Verbindungsformen, die dazugehören, sind zu erwähnen. Wie in der Urteilssphäre die logischen Modifikationen haben wir hier die spezifischen Wertmodifikationen Grund – Folge, Zweck – Mittel, Selbstwert – Mittelwert. Und so haben wir eine Systematik der Wertungen, der Wertsätze, nicht der Werturteilssätze, sondern der Wertsätze selbst und der Wunsch- und Willenssätze selbst. Am Gegenstand oder an den Gegenständen des Urteils und für ein „Gebiet“ an den Gegenständen des Gebiets überhaupt erzeugen sich im fortgesetzten Bestimmen attributive Bestände, die sich im Gegenstandssinn (im gesetzten Gegenstand als solchem) unter dem Titel Merkmalsgehalt niederschlagen und insofern zum „apperzeptiven“ Bestand gehören, als sie späterhin in der Genesis in der Weise sekundärer Sinnlichkeit gegeben sind
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(Apperzeption ist hier nicht gegenständliche Konstitution durch Assoziation, sondern hist Konstitutioni nach dem Gesetz des Niederschlags der aktiven Bestimmung eben in sekundär sinnlich gegebenem Bestand) – g e n a u s o, sagen wir, verhält es sich auch hinsichtlich der Wertungen und der Wert5 bestimmungsbestände an den Gegenständen als Werten.1 Die ursprüngliche Verworrenheit einer Wertapperzeption ist etwas anderes als die Verworrenheit der späteren schlichten Auffassung des Wertes, der expliziert worden ist, und gar bei erzeugten Wertgebilden, bei Werken, die auf Werte angelegt sind und erst studiert werden müssen. Das weist hier hin auf die Funktion der 10 Unbestimmtheit in der theoretischen wie in der axiologischen Apperzeption.
Beilage XI hSachliche und axiotische Affektion. Die Scheidung zwischen Empfindungsdaten und Gefühlsempfindungen in der Sphäre ursprünglicher Affektion. Wie verhalten sich sinnliche Gefühle zum Gefallen?i2
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I dee ei ner bloße n A f f e k t i o n (bzw. eines bloß Affizierenden, als immanent temporale Einheit dann zu bloßer Erfassung kommend) – vor der Erfassung das Gefühl berührend –, was würde das sagen? Die Tendenz geht nicht bloß auf eine erfassende Zuwendung, sondern auf eine gefallende 20 oder missfallende Zuwendung, eine axiotische neben einer bloß sachlichen Zuwendung. Die letztere geht auf den (in sich ungeschiedenen, inexplizierten) Sachgehalt, als „Seins“gehalt, die erstere auf den Wertgehalt. Das würde sagen: Erst in der sachlichen Zuwendung haben wir Sache und Sacheinheit des und des Gehaltes; erst in ihr geht die sachliche konkrete Einheit über 25 in explizite Sonderheiten, das eine legt sich auseinander in Prädikaten und wird zum Gegenstand für Prädikate. Zurückblickend müssen wir aber sagen, „implizite“ hatte das Affizierende schon seinen Sachgehalt, „ungeschieden“ die Explikate in sich bergend; es fehlt eben nur die Explikation, es fehlt die kategoriale Struktur mit ihren Schritten. Ein anderer Ausdruck dafür ist: Es 30 ist ein rein Affizierendes da, mit reinem und ursprünglichem Empfindungsgehalt, mit impliziten Empfindungsdaten (Dabilien). Di es e Ursprüng li chk e i t l i e g t v o r j e d e r A p p e r z e p t i o n. Erst in Folge der „immer wieder“ vollzogenen Zuwendungen und Explikationen,
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In den alten Studien habe ich auch eine empirisch-assoziative Appherzeptioni von Werteigenschaften aufzuzeigen gesucht. Das ist zu vergleichen. 2 Wohl 1919/20. – Anm. der Hrsg.
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deren Möglichkeit a priori gewährleistet ist (jedes Affizierende ist erfassbar und explizierbar), wird auch jedes A f f i zi e re n d e a l s „ H i n t e r g r u n d o b j ekt “ schon vor der Erfassung als Gegenstand, das ist als Substrat möglicher Explikate, „aufgefasst“, wir haben dann mehr als reine Affekte, wir haben eben Hi nter g rundge ge n st ä n d e. Wie steht es nun aber mit der ursprünglichen a x i o t i s c h e n A f f e k t i o n? Kann hier etwas dem Sachgehalt Entsprechendes angenommen werden? Ist die Lehre von den Empfindungsgefühlen haltbar? Müssen wir nicht sagen, es ist eine höhere, durch das Sachbewusstsein (als „unvollzogenes“, unexpliziertes doxisches Bewusstsein) fundierte Bewusstseinsweise und bezogen auf den Sachgehalt nach den oder jenen in der Explikation hervortretenden Komponenten? „Sinnliche Gefühle“ wären dann was? Sie sind doch auch nach der gefallenden Zuwendung vom Gefallen unterscheidbar! So das eventuell „leidenschaftliche“ Wohlgefühl im Genuss einer Speise.1 Man könnte aber geltend machen, dass die Scheidung zwischen Empfindungsdaten und Gefühlsempfindung erst die Sphäre der objektiven Apperzeption etwas angehe, sofern eine Scheidung innerhalb der ursprünglichen affektiven Sphäre eintrete zwischen D a t e n , d i e d a r s t e l l e n d e F u n k t i o n2 oder dar s tel l ung s-motiv i e re n d e erlangen, und Daten, d i e e s n i c h t t u n und die apperzipiert werden als „Leibesempfindungen“: Wirkungen in der ästhhesiologischeni Sphäre der Leiblichkeit und vermöge der „Zufälligkeit“ bloß subjektiv. (Der eine schmeckt so und der andere anders.) Diese „Gefühlsdaten“ haben aber eventuell eine ursprüngliche Beziehung zu einem (instinktiven?) Gefallen oder Missfallen; zu allem Gefallen gehören wesentlich solche Daten. Was gefällt, hat nicht nur einen Sachgehalt, sondern erregt (motiviert) durch ihn „sinnliche Gefühle“ und Gefallen.3
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Gefühlsempfindungen und Sachempfindungen? Die würde also das Sachliche machen in Richtung auf Objektivität. 3 Aber „Gemeinempfindungen“? – Nachträglich sehe ich, dass K. O e s t e r r e i c h diese Frage der Gefühlsempfindung ausführlich und gerade in der hier relevanten Hinsicht erörtert. hVgl. Konstantin O e s t e r r e i c h, Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen, Leipzig 1910.i 2
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Beilage XII Sachen und Werte. hGefühlsbewusstsein als doxisches Bewusstsein von einem Wert und als Gemütsverhalten zu einem in einem doxischen Akt gegebenen Gegenstandi1 5
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Sachen sind Gegenstände. Gegenstände überhaupt konstituieren sich als Einheiten der Intentionalität. Individuelle Objekte (Natursachen) konstituieren sich durch Apperzeptionen von physischen Daten (hyletischen), der Gegenstand „erscheint“ als Identisches von Eigenschaften, Natureigenschaften, realen. Werte, werte Sachen konstituieren sich als Gegenstände. Nehmen wir wertvolle Naturgegenstände, so konstituieren sie sich als identische Einheiten von Natureigenschaften und darin fundiert als identische Einheiten von werthaften sachlichen Eigenschaften, sie haben überhaupt eine Schicht von Wertcharakteren über hderi der bloßen Natur. Nun könnte man sagen, und ich habe früher auch in dieser Richtung gesucht: Wir haben, könnte man sagen, danach zweierlei Apperzeptionen, bloße Sachapperzeptionen und Wertapperzeptionen. So wie für die Apperzeption von Natursachen die hyletischen Daten als apperzeptives Material fungieren, so für Apperzeptionen von Werten den hyletischen Daten analoge Gefühlsdaten. Die Gefühlsdaten sind fundiert in den hyletischen Daten, die Gefühlsapperzeptionen in den sachlichen Apperzeptionen. Über die sachliche Einheit breitet sich eine Gefühlseinheit aus. Wir haben in Unterstufe bei Natursachen darstellende Intentionen, vor allem Gefühl Intentionen auf sachliche Einheit, darauf wertende Intentionen, Intentionen auf eine wertobjektive Einheit. Das Identische ist nicht bloß Sache, sondern ein konkreter Wert. Doch reicht diese Auffassung nicht aus, und die Unterscheidung zwischen hyletischen Daten (Empfindung) und sinnlichen Gefühlen (Gefühlsempfindungen) ist unklar. Es gibt sicherlich in der hyletischen Sphäre Unterschiede in der apperzeptiven Funktion. Aber entweder Gefühlsempfindungen sind eben Empfindungen, hyletische Daten, oder sie sind den doxischen Charakteren parallele Charaktere, und dann haben wir höchstens bei ihnen mögliche „qualitative“ Momente zu unterscheiden, die aber nicht mit hyletischen Daten zusammengemengt werden dürfen. Das würde sagen, dass jedes Gefühl einerseits seine Modalitäten wertender Vernunft, seine Modalitäten als wertender Akt hat, und andererseits, dass es Unterschiede des Gefühls gibt, durch die sich ein Gefühl in allen solchen Modalitäten von einem anderen Gefühl und seinen entsprechenden Modalitäten unterscheidet. 1
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Überlegen wir: 1) Irgendhwiei sei ein Gegenstand bewusst. Jedes Bewusstsein ist in gewissem Sinn „Gegenstandsbewusstsein“. Das Wort soll also nichts weiter sagen, als dass ein Bewusstsein unter einem gewissen, bei jedem Bewusstsein möglichen und geltenden Gesichtspunkt betrachtet wird, eben den, dass jedes Bewusstsein, jedes intentionale Erlebnis, und in der Regel in verschiedenen Weisen, mehrfach, mehrschichtig den oder jenen Gegenstand – in der Weise des Bewussthabens – in sich „hat“, „meint“, und in dieser Hinsicht Doxa von ihm ist und in Hinsicht auf doxische Vorkommnisse betrachtet werden soll. So, wenn wir sagen, ein Gegenstand sei in einem Bewusstsein gegeben, als seiend erfasst und gesetzt oder in einer der Seinsmodalitäten gesetzt, oder er sei in einem Bewusstsein vor dem Erfassen, vor dem Darauf-aufmerksam-gerichtet-Sein schon als seiend in gewisser Weise bewusst, sei vorgegebene Wirklichkeit wie ein Gegenstand, der sich im unerfassten, nicht-aufgemerkten Hintergrund abhebt, auf den hmani erst nachher aufmerksam wird, ihn erfassend und als daseiend „vorfindend“. Auch das rechnen wir hierzu, dass wir Gegenständliches phantasieren, als quasi-daseiend gegeben oder vorgegeben haben, in „Phantasiemodifikationen“, Neutralitäten des doxischen Bewusstseins. Also in der Rede von Gegenstandsbewusstsein handelt es sich immer um eine Einstellung unserer Betrachtung, in der wir Doxischem, wie es in jedem Bewusstsein „liegt“, nachgehen. Ein Gefühlsbewusstsein bezieht sich auf einen Gegenstand, aber als Gefühlsbewusstsein ist es nicht Gegenstandsbewusstsein. Es kann unter dem Gesichtspunkt eines Wertbewusstseins betrachtet werden als Bewusstsein vom vermeinten Wert, vermeint in doxischem Sinn. Man kann sagen, jedes Gefühlsbewusstsein sei eo ipso hinsichtlich des gefallenden oder missfallenden, lustvoll gefühlten oder unlustvoll gefühlten Gegenstandes Gegenstandsbewusstsein, und zwar nicht nur vom Gegenstand, der dabei das Gemüt oder vielmehr mich, das fühlende Ich, in der Weise des Gefühls berührt, sondern auch in Hinsicht auf einen Gegenstandswert oder den Gegenstand als einen konkreten Wert. Aber es ist eine wesentlich andere Einstellung, forschende Intention, die der Beziehung des fühlenden Ich und den Modalitäten und Qualitäten des Fühlens in Bezug auf den zu bewertenden und vermöge des Gefühls zu bewertenden Gegenstand, ja eine gewisse Wertung erfahrenden Gegenstand, nachgeht, und demgegenüber die Einstellung, die das fühlende Bewusstsein zugleich als eine Doxa von einem konkreten Wert und darin von einem gewerteten Gegenstand und seiner Wertcharakteristik (nach Qualität und Modalität des Wertes) ansieht und dieses cogito „Ich fühle, ich verhalte mich fühlend, einen Wert erfühlend“ als ein Gegenstandsbewusstsein von einem Wert betrachtet. Es ist freilich hier schwer, sich aushzuidrücken; es kommt zunächst darauf
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an, zu sehen. Das Ich lebt in seinen „Verhaltungsweisen“, das sind die „Bewusstseinsweisen“; es verhält sich doxisch, philatisch, orektisch – das einfachste doxische Bewusstsein, etwa ein Empfindungsbewusstsein oder ein sinnlich-reproduktives, ist einfach das Gegebenhaben eines daseienden, dauernden Empfindungsinhalts oder eines (nicht eigentlich daseienden, nämlich gegenwärtigen, sondern eines) vergegegenwärtigt Seienden solchen Inhalts; es ist Gegenstandsbewusstsein. Ich kann auch reflektieren und das doxische Erlebnis selbst als gegenwärtig finden und dann als vergegenwärtigt. Ich sage dann, das „innere Bewusstsein“ sei selbst doxisches Bewusstsein von dem Erlebnis. Warum das zu keinem unendlichen Regress führt, das ist eine Sache für sich und gehört zur Phänomenologie des „inneren“ Bewusstseins. Natürlich kann in Freiheit Explikation einsetzen, und die Folge der „logischen“ Akte, die sämtlich wiederum „Gegenstandsbewusstsein“ heißen können, konstituieren die logischen Gegenständlichkeiten immer neuer Stufe. Diese Akte (synthetische im eigentlichen Sinn, Akte der Analytik, darum auch analytische, also mit dem entgegengesetzten Term zu benennen) schaffen keine neuartigen „Verhaltungsweisen“, sondern immer wieder doxische Akte, als synthetische Gebilde. Sie gehören also in den allgemeinen Titel Doxa, Gegenstandsbewusstsein, als Tätigkeiten, die aus einem konstituierten Gegenstand oder mehreren immer neue schaffen. Aufgrund eines Gegenstandsbewustsein und in Bezug auf einen schon in irgendeinem doxischen Modus vorschwebenden Gegenstand kann dann ein Gemütsverhalten, eine Verhaltungsweise des Fühlens, Begehrens erfolgen bzw. Erlebnis sein. Zum Beispiel, ein Empfindungsdatum ist konstituiert (also schon vor dem Bewusstsein von einem Naturobjekt), und zu dem Datum, dem Rot, der Farbenkomplexion, verhält sich das Ich fühlend: Lust, Unlust. Wie im Gegenstandsbewusstsein haben wir hier attentionale Modifikationen und allerlei Modalitäten der Verhaltungsweise in sich selbst, in der Bewusstseinsweise im Rahmen des „Gefühls“. Aber nun muss ich mir einwenden: Das Gefühl ist doch nicht so etwas wie die Doxa. Im Gegenstandsbewusstsein „verhalte“ ich mich nicht zum Gegenstand, das tue ich im Gefühl, im Wünschen, Streben. Ist dieses dem Gegenstandsbewusstsein gleichzustellen? Durch das erstere „habe“ ich überhaupt den Gegenstand, er ist für mich da, Thema oder schon vorthematisch mich affizierend, um mich zuzuwenden. Im Gefühl hat er eine wechselnde subjektive Färbung – darin liegt, möchte man sagen, der Gegenstand in sich selbst hat sein ichfremdes Wesen und dazu wechselnde subjektive Momente (beiderseits vermeintlich). Aber woher dann das Analogisieren von „Urteilen“, „Denken“, Fühlen, Begehren? Ein „Denken“ eines Gegenstandes (ein Gegenstandsbewusstsein) ist „Meinen“, ist im Allgemeinen
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ein Bewusstsein, in dem der Gegenstand und seine Merkmale nicht „wirklich gegeben“, nicht originär angeschaut sind. Das „geglaubte“ a ist wirklicher Glaube, es sei a, aber nicht schon wirklich gegebenes a. Im Fühlen habe ich den Gegenstand vermeint als a und den als a vermeinten bewusst als gefällig, 5 angenehm etc. Nun sagen wir auch hier, das vermeinte Prädikat sei eventuell „bloß“ vermeint. Aber ist das Gefallen, das ich habe, ein bloßes Bewusstsein von einem gegenständlichen Prädikat, das ich ihm zumeine, das mir aber erst zur originären Gegebenheit kommen muss? Ist es nicht in jedem Fall so, dass, wenn ich Gefallen habe, ich eben den gedachten Gegenstand wirklich 10 als gefällig vorfinde? Es ist doch etwas ganz anderes, wenn ich bloß denken, urteilen würde, er sei gefällig, er würde gefallen, wenn ich mir ihn näher brächte.
VIII. REINE WERTE GEGENÜBER PRAKTISCHEN WERTEN. DIE FRAGE NACH DER ABSOLUTEN WILLENSWAHRHEIT1
h§ 1. Reine Werte und ihre Rangordnungen. Werten als das Erleben reiner Freudei
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1) Wert als „ Schönes “, außerhalb jeder wünschenden, begehrenden und pra ktisc hen E instellung, originale Selbstgegebenheit des Wertes im Sich-daran-genießend-Freuen, die subjektive Verwirklichung des Wertes als genossenen Wertes. In der bloßen „Phantasie“verwirklichung – d. i. in der Einstellung der Neutralität – ist die Wertidee gegeben (nicht das Eidos, sondern die IndividualIdee), an der das vorliegende Seiende Anteil hat, und diese Wertidee kann selbst als der Wert, unabhängig von Verwirklichung im faktischen Individuum bezeichnet werden (oder im Individuum als-ob, der eigentlichen Phantasie). Werte haben Wertgrößen, Wertstufen. Probleme des wertlichen Mangels, der Unzulänglichkeit. Wandlung des Gegenstandes in der Phantasie, durch die er seine „volle“, beste Schönheit gewinnen würde. In dieser Einstellung, in der es also nur auf die Idee abgestellt ist, oder in diesem Werten, das den Wert unabhängig von Wirklichkeit und freier Phantasie ergibt, fungiert das Ich als reines Ich des Wertens, ähnlich wie im Urteilen und Einsehen, wenn nämlich das Urteilen als Bewusstsein des Urteils und das Einsehen als Selbsthabe des vermeinten Sachverhalts verstanden sein soll, das Ich als reines Ich fungiert. Wir können wieder sagen, als eine Idee Ich, sofern das zu substruierende konkrete Ich, eines konkreten Lebens nämlich und seiner konkreten Geschichte, frei variabel ist. Das Urteil,
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Etwa 1923/24. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 225 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3_8
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die Wahrheit, aber auch der vermeinte und der wirkliche Wert sind „Wesen“, die also vielen möglichen Ich identisch gemeinsam sein können, unabhängig von der immanenten Kausation (Motivation im weiteren Sinn) oder hderi Motivation im prägnanten Sinn, die zu ihnen im Lebenszusammenhang notwendig gehören müssen. 2) Was dabei ausgeschaltet bleibt, ist also alles Triebmäßige, alles sich an die Wertmeinung (den vermeinten Wert) und den Wert selbst (in der Selbsthabe) anschließende, sich damit verbindende Langen, das, wenn es eröffnet ist, Begierde ist.1 All dergleichen führt über den gegebenen Inhalt oder Sachverhalt der Wertung als solcher und den Wert als rei nen We rt hinaus (als das Schöne) und kann ausgeschaltet werden, sei es durch Variation der Umstände, in denen das Begehren als nicht mehr motiviert fortfällt, sei es durch „Enthaltung“ vom Begehren durch seine Außer-Kraft-Setzung, Einklammerung. Ist so die „Neigung“ ausgeschaltet, so auch das von ihr geleitete, ihr nachgebende Wollen und willentliche Realisieren. 3) Wir können sagen, wir haben dann ein rein durch den „Inhalt“, eventuell rein durch den sinnlichen Inhalt fundiertes Fühlen; und was da als Wert erschaubar ist in dem auf das originäre Fühlen folgende Schauen, das ist wesensmäßig durch den betreffenden Inhalt bestimmt und als das einsehbar. Sind die Substratinhalte als dieselben gedacht, so muss auch der Wert derselbe sein, in notwendiger Identität derselbe. Das würde besagen: Es gibt hier auch für sinnliche Gefühle in Bezug auf ihre sinnlichen Unterlagen eine zweifellose Evidenz, und wenn die Schönheitsurteile wechseln, so liegt es an der Besonderheit aller Werte, Relationscharaktere des Ranges und der relativen Wertgröße (innerhalb eines Ranges) anzunehmen, und zwar wieder wesensmäßig. Das ist, Werten mag insofern reines Werten sein, als es alles Begehren ausschließt. Aber es ist im Allgemeinen insofern nicht rein auf seinen Inhalt bezogen, als es durch Weckung von anderen schon erwerteten Werten und hdurchi Überschiebung der Werte in Beziehungen verflochten wird. Wo im Bewusstseinsfeld, im Feld des aktuellen oder auch des Unterbewusstseins, andere Werte mitfungieren, da tritt eine gesetzmäßige Wirkung der Wertabstu-
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Am Rand dieses Satzes ein Fragezeichen. – Anm. der Hrsg.
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fung ein. Das Höherwertige „entwertet“ das Minderwertige (lässt es „unter sich“), umso mehr, je größer der Wertabstand ist.1 Das Werten, kann man sagen, ist das E rleben „ reiner Freude “ (aber nicht derjenigen Freude, die als sattes Begehren der Erfüllungsmodus eines Strebens, eines Begehrens ist). Diese reine Freude ist gewissermaßen in ihrer „Größe“ verschattet durch das Übertönen einer größeren Freude (wo diese geweckt ist).2 Doch ist diese Größe nicht Lebhaftigkeit, die ein Wechselndes ist unabhängig von der „Größe“. Es gibt Grade der Empfänglichkeit für Werte, Störungen der Auswirkung der Freude, z. B. je nachdem ich frisch oder müde bin, die nichts mit der „Wertgröße“ zu tun haben, und danach Grade der Lebhaftigkeit.3 Das Werten (Schönwerten) ist so geartet, dass sich darin der Wert in einer Größe, einer Werthöhe gibt, die aber als solche hervortritt im Wertvergleich. Diese Höhe ist das Identische, das dem Wert zukommt im Wechsel seiner relativen Charaktere des „relativ minderwertig“, „relativ höherwertig“, des „tief“ und „hoch“ und des „weder tief noch hoch“. So wie die sinnliche Größe einer sinnlichen Figur als ihre absolute Größe besagt, dass sie identischer Beziehungspunkt von Größenvergleichung ist und dementsprechend sinnliche Relationscharaktere wechselnd annehmen kann, aber dabei doch in diesem Wechsel das identische Größenmoment behält, so für die Rangierung der Werte. Oft heißt Wert = Wertgröße und „den Wert bestimmen“ = den Wert einer Wertskala einordnen unter Zugrundelegung einer zugehörigen Gleichheit. Und wenn nicht eines Etalons, so einer Rangordnung, und in jedem Rang einer, wenn auch unmessbaren Größenordnung, weder höher noch tiefer (so wie bei Raumgrößen weder größer oder kleiner): „auswerten“ h=i bestimmen, ob ein Wert zu den
1 Sie treten passiv in eine Bewusstseinsverbindung, eine Synthese, in der der aktuell selbstgegebene Wert einen neuen intentionalen Charakter erhält. 2 Stehen aber zwei beliebige Werte in einer Größenrelation? 3 1) Zu den reinen Werten gehören im möglichen Bewusstseinszusammenhang desselben Ich Relationen, eine Art Steigerung (Minderung) der Werthöhe. Nehmen wir Wert und Unwert zusammen im weiteren Wertbegriff, so haben wir „± Reihe“ durch 0 vermittelt. 2) Klein und kleiner ist ein Mangel; groß, größer ein Vorzug. Wie versteht sich das? Liegt da ein neues reines Werten vor? Das Kleinere sei relativ unwertig gegenüber dem Größeren. – Das geht nicht.
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niederen oder hohen gehört, unter den niederen zu den gemeinsten oder relativ höherstehenden etc.1
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h§ 2. Begehrungswerte als existenziale Werte. Auf reine Schönheiten im rein wertenden Erschauen gerichtete Begehrungeni 3a) V er flec htu ng von Werten und Begehren. Die Frage der B egehr ungswer te. Schönheitswerte, reine Werte können dazu dienen, Gegenständen, die an ihnen Anteil haben (die schön sind), einen Wert in ganz anderem Sinn zu erteilen. Sie können daraufhin das Begehren erregen, m. a. W. der Wert, die Schönheit des Gegenstandes, kann das Motiv eines Begehrens und praktischen Absehens sein, das gerichtet ist auf den Genuss des Wertes, d. i. auf seine subjektive Verwirklichung in der reinen ursprünglichen Wertung der reinen Freude. Es ist zu beachten, dass hier der Wert, im Modus der Verwirklichung für mich, das Motiv ist bzw. das Ziel ist, also im Begehren beschlossen ist in Form der Vergegenwärtigung, wenn schon einer leeren. Es kann sein, dass ich dieses Ziel habe, „Genuss“ eines Kunstwerks, Freude an wissenschaftlicher Einsicht – dieses als ein rein Schönes angestrebt. Wenn ich aber hungrig bin, begierig bin zu essen, meinen Hunger zu stillen, dann ist das Treiben, Begehren nicht gerichtet auf ein Schönes, etwa auf schönen Geschmack. Auch hier bestehen zwar Möglichkeiten für „schöne“ Ziele, wie beim Gourmet, der die Schmeckharmonie, die Feinheit des Geschmacks, die Schönheit „ästhetisch“ genießen will. Im Stillen des Hungertriebes selbst ist nicht die Schönheit das Leitende, obschon sie auch mit eine Rolle spielen kann. Voran geht der „ blinde Tr ieb “, und wenn er schon einmal gestillt war und somit als treibende, verlangende Intention, die die Vorstellung (Antizipation) der Erfüllung in sich schließt, dann trägt die erfüllende Begehrungslust in sich den Begehrungswert. Ein Objekt, das ein Begehren zu
1 „Besser gefallen“, minder gefallen: herausstellen eines relativen Unwertes bzw. relativen Wertes; also Wertung zweiter Stufe?
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erfüllen vermag, hat We rt, Begehrungswert, hier Gutwert. Sofern artmäßig Objekte normalerweise den Menschen (empirisch) zur Befriedigung ihrer „Bedürfnisse“ dienlich sind, haben sie allgemein Wert (für Menschen überhaupt, für Menschen unserer modernen Völker etc.).1 Für Begehrungswerte gelten wieder Absorptionsgesetze, Gesetze der Relativität. De r Tri eb kann besser oder minder gut befr iedigt wer den, wobei hdarini beschlossene Schönheitswerte mit dienlich sein können. Es gibt wieder eine Wertvergleichung und eventuell sogar eine empirische Quantifizierung. Der mindere Begehrungswert hat wieder ein relatives Gebrechen, ist relativ missfällig etc. Fassen wir den Begri ff des Begehrungswertes in voller W eite, so werden wir hdiesemi nicht nur 1) zurechnen die Klasse der natürlichen Güter, die aus natürlichen, d. i. ursprünglich instinktiven Trieben, Bedürfnissen entspringen. 2) Aus der Erfahrung reiner Schönheit, die ein reines Freudenbewusstsein ist, entspringen Wünsche, Begierden nach solchen Freuden, und so sind diese nicht nur Werte aus dem Schönheitswerten, sondern auch aus dem Begehren.2 Allgemein gesprochen sind also Begehrungswerte nichts Ideales (nur wo schon reine Schönheitswerte sie bestimmen und ausschließlich, kann von Idealität die Rede sein). Stelle ich mir irgendein Ich vor (mich selbst etwa frei abwandelnd), das hungert, so liegt darin freilich analytisch die Beziehung auf Sättigung durch Speise, wenn ich schon aus Erfahrung weiß, was mich oder empirisch andere Menschen sättigt, und ich das antizipierend vorstelle und dem Trieb im Voraus als Zielvorstellung beigeselle. Aber da ist keine Wesensnotwendigkeit zu finden, und es ist kein Wunder, dass Speisen, die dem Chinesen wert sind, mich anekeln können und umgekehrt. Al l e Werte si nd hier empirisch. Zum Wesen der Begehrungswerte gehört, dass sie existenziale Werte sind, thematisch auf existierendes Reales und auf mich in meiner Wirklichkeit gehen. hZum Wesen des Begehrungswerts gehörti die Erfüllungsfreude als dessen Selbstgebung, also das Sich-
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Im Allgemeinen sind Begehrungswerte durch empirische Objekte bestimmt; sie sind nicht rein durch die Wertsubstrate ideal, wesensmäßig bestimmt. 2 Ja, welchem? Theater – mein Dasein dort, um das Schöne zu genießen.
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„Auswirken“ des Triebes, das sich erfüllende Entspannen, am Gegenstand der Charakter des das Bedürfen, Begehren Befriedigenden; und so ist auch das Theaterstück ein Begehrungswert. In der Erfüllungsfreude des Hörens aber bringt mich der Künstler schließlich in die Einstellung der reinen Freude, in der ich selbstvergessen und seinsvergessen und ganz in der reinen Idee und ihres reinen Wertes lebe; nun ist eben kein Begehrungswert mehr da. Hier haben wir das Merkwürdi ge, dass Gegenständlichkeiten wie Theatervorstellungen Begehrungswerte sind, sofern sie ja (als Kaufwerte) gemeint sind als Begehrungswerte. Sie beziehen sich auf Bedürfnisse, die durch Hören gestillt werden sollen. Aber wenn ich ins Theater gehe, um einen reinen Kunstgenuss zu erzielen, so besteht die Erfüllung darin, dass ich nicht einen Begehrungswert genieße, sondern einen reinen Schönheitswert erschaue und durchlebe. Nun ist doch wirkliche Erfüllung (von real gerichteten Begierden) da und der Kunstgenuss auch als Erfüllung erlebt. Aber da haben wir das Eigene, dass, während ich im Stillen des Hungers in der „Wollust“ der Trieberfüllung lebe (nota bene, im gierigen Essen), ich in der Erfüllung meines Theaterwunsches nicht in der Wunscherfüllung (des Im-Theater-sein-Wollens, des Als-dieses-Ich-dabei-seinWollens) lebe (also nicht in der real gerichteten Befriedigungslust), sondern in der Anschauung der reinen Schönheit, wobei die betreffende Befriedigungslust, die auf mich und das Theater thematisch geht, in gewisser Weise eingeklammert ist. So ist auch ein Unterschied im „Genuss“ eines malerischen Kunstwerks, ob es das reine Bewusstsein des Schönen ist (das Auskosten des Schönheitswerts) oder ob es angeschaut ist mit den Augen des Sammlers oder Liebhabers, der die Befriedigung genießt, es „glücklich“ erworben zu haben und als sein Eigen zu besitzen. Beides kann sich verflechten und abwechseln, aber es ist dann eine Einstellungsänderung oder in der Verflechtung eine trübende Störung. Der Genuss ist dann unreiner, durch Begehrung verunreinigter Genuss.1 Wir können also wohl auch in gewisser Weise scheiden: 1) Begehrungen, Strebungen, Wollungen, die auf reine Schönheiten in
1 Ist es nicht vielmehr so, dass ich wie das Theater, die Schauspieler, so mich und mein Mit-Da-Sein als sich befriedigend ausschalten muss?
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rein wertendem Erschauen gehen und insofern selbst rein sind in ihrer Absicht, da sie alle Beigaben der Befriedigungslust (soweit sie selbst ein empirisch Zufälliges sind und nicht zum Schönen selbst gehören) ausschließen, und 2) Begehrungen, die unrein sind oder 5 von vornherein nichts Reines (obschon getrübt) enthalten. Ebenso Wünsche, reine Wünsche, gerichtet auf ein Schönes, wobei wir zum Wünschen nicht das Langen rechnen, sondern nur das Vermissen der reinen Schauung. Unreine Wünsche im Gegenfall.1
h§ 3. Wertung von Wertobjekten als mögliche Begehrungsziele. Wertung des Wertgenusses. Praktische Werte als Schönheitswerte einer neuen Stufe. Die Frage nach einer von der Schönheitswertung noch zu unterscheidenden Willenswahrheiti
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4) Ich kann Werte selbst wieder werten, nicht Objekte, insofern sie Wert haben, und nicht ihre Werteigenschaft ihrerseits im Sinn einer Größenschätzung werten, als minderwertig oder hochwertig, und so in den oder jenen Relationen der Höhe, sondern ich kann auch Wertobjekte, und zwar in der Idee, als Objekte, die Werte (wie ich etwa einsehe) haben oder eventuell annehmen würden durch 20 Änderung der Umstände oder eigene Änderung, werten als mögliche Begehrungs- und Willensziele. Begehrungsziele können wertvoll, können wertvoller und minder wertvoll sein; das Begehren, Wollen dieser Ziele kann ein richtiges oder unrichtiges, kann ein besseres oder schlechteres sein. 25 Ferner: Genuss, Haben der Werte ist selbst wieder etwas Wertbares. Gegenstände sind Werte um ihrer Fähigkeit willen, im genießenden Fühlen als Werte genossen zu werden. Sind sie in dieser Eigenschaft bekannt, so ist die subjektive Verwirklichung des Wertes selbst wieder wert, sofern ich mich daran freuen kann, dass ich mich an 15
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Die Pein des Begehrens löst sich in der Erfüllung, aber in der Erfüllung selbst ist noch kontinuierliche Pein und kontinuierliche Erfüllungslust. Dagegen im reinen Fühlen des Schönen ist gar keine Pein und Entspannung der Pein. Es ist nicht Glück, sondern „Seligkeit“, ja Selbstvergessenheit; alle Gefühle gehören in die Idee und ihren Wert hinein, aber das darin fundierte ästhetische Gefühl ist ein wirkliches Gefühl.
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dem Wertobjekt erfreue. Begehrendes Streben „geht auf Genuss“; in der erfüllenden Verwirklichung habe ich Verwirklichungsfreude, als Freude am Genuss, Freude an der Habe des Wertes. Streben nach Erzeugung eines Wertobjekts oder seiner Wandlung im Sinn höheren Wertes ist Streben nicht nach dem Genuss des Objekts, sondern: Das Objekt als Wertträger ist wert, die Tatsache, dass das Objekt geeignet ist, genossen zu werden, dass es, wenn es so und so ist, mit der freien subjektiven Möglichkeit verbunden ist, in die Gegebenheitsweise gebracht zu werden, in der es genossen wird, ist selbst ein obschon mittelbarer Wert, ist ein Erfreuliches. Doch ist das anderes als eine subjektive Umwendung des gegenständlichen Wertes selbst? So wie das Sein eines Dinges sein Korrelat hat in der Tatsache seiner Erfahrbarkeit, so ist das Korrelat des Wertseins die subjektive Möglichkeit, es als Wertes zu „erfahren,“ sich daran zu freuen. Aber ist das, wenn ich diese subjektive Wendung vollziehe, nicht selbst wieder ein Schönes? Muss ich nicht sagen: Auch beim blinden Begehren (im instinktiven Trieb) hat das Begehrte im Erzielen einen Wert in sich, zu unterscheiden von der Gierfreude als Freude in der Entspannung des Triebes, in der Erfüllung, der realisierten Habe des Wertmoments?1 Dazu komme aber das Relationsmäßige, die damit zusammenhängende empirisch-apperzeptive Gestaltung, z. B. bei Speisen hdiei Harmonie der sukzessiven Geschmäcke, die nur verstanden wird, wenn man schon einen „gebildeten Geschmack“ hat und gewisse sinnliche und gefühlsmäßige Antizipationen oder Apperzeptionen. Pure Schönheitswertung der Genüsse als Genüsse, die reinen Freuden gegenüber den durch Gier, durch Leidenschaft, Neigung getrübten. Wertung der praktischen Ziele als Ziele, das Streben nach reinen Freuden hat einen höheren Rang. Reine Werte als Ziele haben einen höheren Rang als unreine Werte. Ein reines Ziel und subjektiv das Streben nach Reinem ist selbst ein reiner Wert.2 Wertungsfeld: das Universum der Praxis einer Subjektivität. Die „Absorption“ der niederen Werte durch höhere ist in der reinen
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Aber der Schönheitswert ist nicht ursprüngliches Motiv. Ein praktischer Wert hier also = ein praktisches Ziel bzw. eine praktische Absicht und Handlung als Wert (Schönes). 2
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Wertsphäre eine unei gentl i che Absorption. Wirkliche Abs or ption der prakt is chen G üte r, Werte. Das Minderwertige pr aktis c h real is ier t i st ei n prakti sch Schlechtes und nicht bloß praktisch Minderwertiges. Sowie Schönheitswerte als praktische angesehen werden, erhalten sie neue Wertbedeutung. Praktische W er te als sol che s ind eben Schönheitswerte einer neuen Stufe, oder Wert als Ziel, als praktisch realisiert gedacht, also im Rahmen einer personalen Gesamtpraxis, bestimmt eine neue Wertung, die Wertung von Praktischem als Praktischem; und ein positiver Wert (der also in sich ein Schönes, ein rein Erfreuliches ist) wird eventuell als praktisches Ziel in willentlicher Verwirklichung gedacht unwert. Das minder Schöne ist nicht nur minder schön und mangelhaft, sondern minder Schönes als Ziel ist ein unwertes Ziel. Das gilt nun ganz allgemein. Was sind nun für besondere Feststellungen nötig? Reic ht d as für ei ne „ Theorie der praktischen Ver nunft “ aus? Sie wäre danach eine universale Wertlehr e pr akti s cher W erte und würde eine universale Wertlehre der vor-praktischen Werte voraussetzen. A) Zunächst also Interpretation praktischer Vernunft als schönwertender der Praxis. B) Demgegenüber also die Frage: Gibt es, abgesehen von einem Schönheitswerten der Praxis, in ihrem eigenen Wesen Unterschiede zwischen Willensmeinung und Willenshabe des Vermeinten, Selbsthabe eines Willenswahren, womit die Schönheitswertung nur parallel läuft, wie in der Urteilssphäre?
h§ 4. Formale Wertlehre und formale Praxis. Reine absolute Werte gegenüber individuell relativen praktischen Werten. Der universale kategorische Wille als ein praktisches Guti
5) Formale (analytische) Wertlehre. Die Lehre von der „ Konsequenz “ im W ert en. Werten als Wertvermeinen ohne Frage nach 30 wahren Werten; G eset ze, di e der Werterschauung nicht bedür fen. For male ( analyt is che) Prakti k. Das Wollen als willentliches Meinen, die Lehr e von den Wi l l ensmeinungen und ihrer Kons equenz. Die formale „Willenswahrheit“. Die volle Willens35 meinung verwirklicht sich nicht nur in der Realisierung (ideell in
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der phantasie-anschaulichen Verwirklichung); vermeint ist darin auch die Erzielung des eventuell vermeinten Wertes im wirklichen und möglichen Genuss. Aber das vor der Wertung des Willens und seines Zielwertes selbst. Wert in dem weitesten und bedenklich weiten Sinn ist Genießbares, Erfreuliches. Aber nun bedarf es der relativen Auswertung der Werte: im Sinn der Interpretation A) und der Auswertung der Werte als praktischer und mit Beziehung auf die jeweilige gesamte praktische Sphäre. Da ist vieles praktisch unwert, was in der Tat als positiv-wert genossen, positiv-wertig erfahren wird. Die E ndgült i gkeit i n der Praxi s. Idee eines Willenslebens, in dem jeweils das bestmögliche praktische Gut gewollt wird, ein Gut, das bleibend gebilligt werden kann als das an sich beste, das gewollt werden konnte.1 Das Leben als Willensleben das bestmögliche, die Person die beste, die sie von sich aus sein konnte, sich im besten Wollen und Tun zu bestmöglicher entwickelnd. Soweit ich Möglichkeiten sehe, meine praktischen Ziele zu bestimmen und zwischen Zielen zu wählen, „muss“ ich das Bestmögliche wählen und wollen. Muss ich? Sofern ich überhaupt als Mensch diese Möglichkeit verstehe und werten kann, kann ich nicht anders, als nach dem Bestmöglichen streben, es begehren – aber wirklich tun ist nicht begehrend wünschen. Ich kann dem Anreiz der „Neigungen“ nachgeben und Unwertes wählen. Ich sehe ein: Mein Leben ist unbedingt ohne Wert, unschön, wenn ich nicht die Forderung des kategorischen Imperativs anerkenne. Die hypothetischen Vernunftforderungen: Unter Voraussetzung der und jener Werte ist konsequenterweise das und das praktisch wert und zu erstreben. Das Streben histi relativ gut. Voraussetzungslos: Die Gesinnung, das erreichbar Beste zu wählen, ist ein unbedingter Wert, und der Wille, der ihr folgt, ein absolut guter Wille.2 Dazu brauche ich nicht hdiei formale allgemeine Formulierung (des kategorischen Imperativs). Das konkret und individuell
1 Das bestmögliche praktische Gut wäre hier gleich das Schönste in der wertenden Betrachtung der Praxis. 2 Schwierigkeit: Bei jeder Wahl habe ich außerhalb des Wahlkreises einen unendlichen praktischen Horizont.
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Beste steht da als absolut Gutes der momentanen Praxis. Im nächsten Moment kann freilich eine bessere Möglichkeit kommen, aber diese offene Möglichkeit ist leer. Vorausgesehenes gehört mit zur praktischen Gegenwartssphäre. Das alles ist noch formal: Es bedarf aber noch weiterer Überlegungen. Ein reiner Wert ist absoluter Wert und hat (trotz seiner Relativität und in ihr) Endgültigkeit – ein reiner Schönheitswert. Aber wir haben reine Werte, die vor der Praxis liegen, und wir haben die praktischen Werte, die selbst reine Werte, reine Schönheiten sein können, hsiei sind aber in ihr individuell relativ als von mir jetzt zu wollende.1 Ein reiner Wert kann reiner Eigenwert sein oder reines Mittel für einen reinen Eigenwert sein, überhaupt um des Eigenwertes willen reinen Wert haben, ohne ihn in sich zu haben. Gibt es einen absoluten und reinen praktischen Wert, d. i. ein praktisches Ziel als einen solchen reinen Wert, und korrelativ einen absoluten und reinen guten Willen als auf diesen gerichtet (und selbst als solcher Wert dann charakterisiert)? Besondere praktische Werte, etwa bestimmt durch einen reinen außerpraktischen Wert, sind relativ; jeder kann je nach personalen Umständen auch schlecht sein.2 Er ist also nicht rein durch seinen Inhalt (seine „Materie“) bestimmt als praktisch Gutes, wenn es Gutes ist; also nur hypothetisch Gutes, und wenn endgültig Gutes, hdanni nur in Relation zu anderem, was Endgültigkeit bestimmt als Endgültigkeit in dieser Relation. Genauer: Gibt es einen absol uten Ei genwert, und zwar einen praktischen, der endgültig und universal gültig ist, universal gültig für jedermann, sofern er rein durch seinen allgemeinen Sinngehalt
1 Würde ich die Praxis als ein Reich der Schönheit werten und ein Schönstes darin finden, so wäre a priori diese schönste Praxis selbst wieder ein zu Begehrendes, und der Wille, das schönste Ziel zu verwirklichen, wäre ein Wille höherer Stufe (schon die Entscheidung in der Wahl ist ein Wille, der auf ein mögliches Wollen bezogen ist). A priori wäre dieser höhere Wille selbst ein rein Schönes und in eventuell neuer Überlegung und Verwirklichung in infinitum. 2 Das ist missdeutlich. Das relativ Beste bzw. der in der Wahl beste Wille und sein Willensziel ist hier und jetzt für mich doch ein „absoluter“ Wert in einem bestimmten Sinn, nämlich in und mit seiner Relativität auf Ich- und Gegenwartslage. Aber e s i s t kein absolut objek tiver W e r t f ü r j e d e r ma n n u n d f ü r m i c h i n j e d e r L a g e.
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bestimmt ist und rein durch das Ich als praktisches Ich? Hier bietet sich der kategorische Imperativ dar. Nämlich, er sagt nicht nur, das Beste unter den praktisch möglichen Werten ist überhaupt das einzig im gegebenen Fall praktisch Gute, sondern „Wolle das Beste überhaupt“ in habitueller Gesinnung. Betrachten wir diesen Willen: Ich will überhaupt das Beste unter den praktisch für mich möglichen wahren Werten; darin liegt analytisch, ich will überhaupt nur wahre Werte mir als Ziele stellen und unter denen, die ich jeweils erreichen kann, allzeit das wählen, das ich als das Beste erkennen kann. Es sei nun dieser Wille selbst gewertet mit seinem allgemeinen Inhalt. Hier ist der allgemeine Normgehalt selbst in den Willen aufgenommen, er ist ein praktisch Gewähltes, der Wille ein endgültiges und bleibendes reines Gut. Er ist allein das absolut invariable, eigene Gut, auf das bezogen alle praktischen Güter für mich in gewisser Weise Konsequenzen sind. Freilich nicht formale Konsequenzen; aber lebe ich konsequent gemäß dem Prinzip, so wird mein inhaltliches Handeln immer und notwendig auf das praktisch Beste gerichtet sein. So könnte man sagen. Aber ist das in jeder Hinsicht richtig? Dieser allgemeine Wille ist ein reiner und zweifellos ein absolutes Gut. Und dieses allgemeine Ziel ist sicher ein solches, das hmani kein besseres und in keiner praktischen Lage finden könnte. Es kann wohl in jeder praktischen Lage für mich praktisch gut sein, nämlich wenn ich davon weiß, wenn ich es eingesehen habe; habe ich das, so ist es sicher unübersteiglicher praktischer Wert und sicher ist, dass, wenn ich mich wollend für es nicht entscheide, ich fehle. Das Gegenteil wollen, es ablehnen, ist absolut unwert. Aber auch mich des Willens enthalten oder auch nur zögern, obschon das Unwert-Sein nicht von gleicher Art und Rang ist. Das eine sagt, ich will es zulassen, dass ich überhaupt oder gelegentlich schlecht handle, oder ich will überhaupt oder gelegentlich schlecht handeln, und das Schlechte hzui wollen ist radikal schlecht, und überhaupt Schlechtes ist „satanisch“. Das andere wäre eine abschwächende Modalität davon: Analytisch liegt in der Willensenthaltung (wenn sie nicht für absolute Werte als Mittel dient, sondern absolut eigenständig sein soll), dass es unentschieden sei, ob das „Projekt“ das beste sei. Das ist aber ein willentlicher Widersinn, und hdas gilti ebenso vom Zögern, da ich doch Einsicht habe.
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Habe ich aber den Willen gefasst, so ist es für immer der meine bleibende Wille, er kann nicht aufgehoben werden durch Preisgabe; das geschähe durch einen Gegenwillen, durch einen Willen, der den kategorischen Imperativ negierte oder durch einen besonderen abso5 luten Wert, der ihm widerspräche – und das ist absoluter praktischer Widersinn. Aber freilich kann ich den kategorischen Imperativ als wirksames Gut in jeder praktischen Sphäre verfallen lassen. Ich kann mich ja gegen ihn versündigen, indem ich sündhaft oder verkehrt will. Jeder material bestimmte Wille, der auf ein absolut unwertes 10 Ziel geht, lässt sich als unwert auswerten, auf Form bringen, und dann ist der „Widerspruch“ in forma da. Nennen wir einen solchen Willen den „universalen katego ris chen W illen“, so ist dieser ein absolut praktisches Gut und auf ein absolut praktisches Gut gerichtet. Wir könnten sagen, er ist als 15 Wille (Entschluss, noematisch wie „Urteil“) absolute Willenswahrheit, absolut wahrer (richtiger) Wille. Was darin in absoluter Einsicht gegeben ist, ist im anderen Sinn die Willenswahrheit selbst.
Beilage XIII hDie Willensrichtigkeit als Schönheitswert. Muss jedes Wollen auf einen Wert gehen?i1
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Wie steht es nun mit eventuell anderen absoluten praktischen Gütern? Einerseits Allgemeinheiten als Ziele (ideale Willensgegenstände, so wie Allgemeines, Ideen auch Seinsgegenstände sind, und wie diese einen Seinsumfang haben, hsoi jene einen Umfang an konkreten Zielen), andererseits also 25 konkrete Ziele, die etwa absolute Werte sein könnten. Es gibt praktische Güter, die in reinen Schönheiten eine Wertmaterie haben, die den Gutwert als praktische Materie bestimmt. Aber wenn wir an den kategorischen Imperativ als „praktisches Gut“ denken, so werden wir doch bedenklich. Ist das wirklich ein vorgängig Schönes? Es ist ein formal Allgemeines. Gehen 30 wir auf Einzelfälle. Jemand wählt, ohne an den kategorischen Imperativ zu denken und ihn in seinem Willen zu wählen, das Beste als Bestes unter dem Erreichbaren. Wie geht das vor hsichi? „Das wäre gut, das ist vorzüglicher, das wäre richtig gewählt, das andere wäre ‚falsch‘ gewählt;
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hier ist noch etwas in Betracht zu ziehen – das ist noch besser, demgegenüber wären die anderen unrichtig praktisch gewählt usw.“ Ich kann nun auch das schön finden, dass jemand die richtige Wahl trifft, und hdasi Beste unter allem als richtig Gewähltes ist ein Schönes. Konkret und als formale Allgemeinheit ist aber die richtige Wahl hier nicht schon Richtigkeit im Willen? Und so ist auch das Allgemeine und Formale überhaupt des Besten in der Wahl ein wahrhaft Gesolltes, ein Willenswahres und ein Absolutes in sich, dem ein absoluter Wert parallel korrespondiert. Es kann nun natürlich sein und kann selbst formal-allgemein erwogen werden, dass der Wille sich auf vorgegebene Werte und auf absolute Werte richtet, und so haben wir ein Reich des Willens umsteckt, das für sich seine formalen Gesetze hat. Das praktisch Beste nämlich ist hier das Schönste, das Wertvollste – wenn nichts weiter in Wahl steht als zu Erwägendes im praktischen Blick. Andererseits, ist es denn notwendig, dass jedes Wollen auf einen Schönheitswert oder -unwert (Gefühlswert), Wert in eigenem Sinn, unmittelbar oder mittelbar, geht? Schon das fiel uns ja auf, dass die Falschheit des Minderwertigen als praktisch Gewähltem nicht vom Gefühl vorgezeichnet ist, ebenso hnichti die Wahrheit des Besseren als des praktisch Gesollten. Das „gesollt“, die Willensrichtigkeit bringt der Wille herein. Aber wo haben wir Fälle, in denen Werte nicht Motive des Willens sind?
Beilage XIV hHat der Wille im Gerichtetsein auf das praktisch Gute seine eigene Richtigkeit?i1 Wir scheiden Sachverhalt selbst und wahres Urteil und Einsicht, in der der Sachverhalt gegeben histi. Davon wieder scheiden wir Wert des Sachverhalts, Wert richtiger Urteile, Wert der Einsicht. Wie hinsichtlich der Willenssphäre? Das praktisch Gute im absoluten Sinn. Der praktische Entscheid, der Entschluss, der absolut richtig ist. Das richtige Wollen und endlich das richtig 30 und einsichtig auf das Gute (das praktisch Wahre) gerichtete Wollen. Verdankt der Wille seine Wahrheit dem Werten des Wollens und Gewollten? Man kann ihn werten, wie man auch das richtige und einsichtige Urteilen werten kann. Aber wir müssen doch scheiden, was sich im Urteilsgebiet selbst als Adäquation und dgl. abspielt und was das Werten leistet und hier an 35 Werten herausholt. Will ich ein Minderwertiges, so ist dieser Wille unwert. 25
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Gibt es aber eine eigene Adäquation des Willens an Willensziele, einen Unterschied zwischen wol l e n d e m V e rm e i n e n u n d w o l l e n d e r S e l b s t habe des Ver mei nten – eine erfüllende Verwirklichung der W i l l e n s m e i nung al s s ol che r? Hier ist nicht zu übersehen, das Wollen abstrakt genommen als Verwirklichungsintention und Verwirklichung selbst geht eben auf Verwirklichung – aber in concreto dessen, was in der Unterlage vermeint ist und noch nicht willentlich vermeint, aber nun in den Willen aufgenommen histi. Man könnte sagen, Wollen geht in der Zielinhalt gebenden Unterlage auf Wert, aber das im Wollen Gewollte kann vermeint sein. Die Willensmeinung ist erst erfüllt, wenn der Wert als Wert realisiert ist. Erweist sich der vermeinte Wert als unwert, so ist zwar vielleicht schon etwas realisiert, aber gleichwohl der Wille seinem eigenen Sinn nach aufgehoben; es ist ein falscher Wille, er hat statt Willenswahrheit Willensfalschheit: Er hat etwas erreicht, aber her hati nicht das Ziel, das er wirklich meinte, erreicht. Aber wenn ich in der Wahl, im Umkreis praktischer Möglichkeiten, minder Gutes will oder gar Schlechtes? Ich folge der Versuchung und sehe vielleicht das Bessere bzw. das Mindere und das Schlechte. H a t d a d e r W i l l e i n s i c h e ine Unric h t i g k e i t – vor aller Frage, ob er ein wertvoller ist oder nicht? Hat da in der Richtung auf einen reinen Wert und in seiner Erschauung der Wille selbst Richtigkeit als Gerichtetheit auf das praktisch Gute (nicht als bloß wertes, sondern) als ein eigentümlich Willenswahres? So ist es die Lehre meiner Ideen. Es durchdringt sich die Dreieinigkeit des Urteilswahren, des Gefühlswahren (des Schönen), des Willenswahren (Streben, Begehren, realisierend Wollen). In der Willenssphäre ist das Gewollte in ähnlichem Sinn für praktisch gut gehalten (für gesollt gehalten), wie in der Urteilssphäre das Geurteilte „Für-wahr-Gehaltenes“ ist. Was ein uneigentlicher Ausdruck beiderseits wäre. Jedes Urteil steht unter dem Gesetz, dass es bewährbar ist als wahr bzw. als falsch; jeder Wille ebenso als richtig oder unrichtig. Jedem Urteil entspricht Sein in Wahrheit oder Nichtsein in Wahrheit, jedem Willen praktisch Gesolltes (praktisch Gutes) oder NichtGesolltes (praktisch Verwerfliches) – falls hier nicht noch weitere Differenzen sind.
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reine werte gegenüber praktischen werten Beilage XV hLust und Werti1
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Lust am Schönen, am Genuss des Schönen ist nicht zu verwechseln mit dem Erwerten des Schönen, in dem es als Schönes bewusst und selbstgegeben ist. Sprechen wir von Lusthaben, Genießen, Sich-Freuen, so stehen wir in der Gradualität des Sich-mehr-oder-weniger-Freuens, und diese wechselt für dasselbe Schöne, das bewusstseinsmäßig als dasselbe in der Größe seines Wertes erhalten bleibt. Bekanntlich stumpft sich die Lust ab, aber während sie das tut, nimmt darum der Wert nicht ab. Die Lust, die Freude an einem antizipierten, an einem bloß vermeinten Wert kann sehr lebhaft sein und ist wirkliche, nicht bloß vermeinte Lust. Der Wert selbst ist aber nicht in der Lust, sondern im ursprünglichen „Werten“ selbstgegeben. Aber bewegen wir uns da nicht in gefährlichen Allgemeinheiten? Die Vorfreude am morgigen Genuss einer Oper ist Vorfreude und zugleich gegenwärtige wirkliche Freude. Aber ist nicht die Erwartung der künftigen Musikaufführung mit ihrer erwarteten Freude in der Tat auch ein vermeinter gegenwärtiger Wert, der zugleich auf einen künftigen bezogen ist? Wertnehmen ist Sich-Freuen, ist „Lust“ oder „Unlust“ haben, aber das SichFreuen kann richtig oder unrichtig sein, und der Wert kann selbstgegeben sein oder nicht. Schließt er eine Beziehung auf einen nicht selbstgegebenen hWerti mit ein, so ist er eben mit einer „Voraussetzung“ behaftet und nicht selbstgegeben. Man könnte also sagen, es bestehen hier zwei Dimensionen: die Dimension der Lust-Gradualität und die Dimension der Wert-Gradualität. Aber sind sie nur abstrakt trennbar? Ist nicht die eine Seite eben die Seite des Wertens, die andere die der Lust und des Begehrens und so, dass das Begehren völlig schweigen kann? Der Wert motiviert Lust, Wertsteigerung hmotivierti wieder hLusti, Unwertminderung wieder. Freilich, ist Lust nur durch Wert motiviert? Aber ist nicht selbst auch Lust als solche und Lusterhöhung etc. wertbar, und bestimmt sie nicht auch für sich das Begehren? Ich bedauere, dass ich mich nicht mehr so lebhaft freue, ich merke die Abstumpfung, ich werde müde.
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Beilage XVI hFreude als Modus des Genusses. Freude an der reinen Idee. Ideenschönheit. Auf Schönes gerichtetes Wollen und Begehreni1 5
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Ist es nicht richtiger, so wie es schon die alten Manuskripte tun, in folgender Weise zu unterscheiden: 1) Reine Freude in Allgemeinheit genommen als Modus des Genusses, d. i. des Satthei tsmodus eines Hinstrebens, der freilich nur Einheit des „Wertes“ als selbstgegebenen konstituiert in einem kontinuierlich synthetischen Spiel von Intention und Erfüllung, der von Phase zur kommenden Phase bloß intendierend, langend vorgerichtet ist, sich aber alsbald satt erfüllt, eventuell höherstufig in der Weise einer Harmonie, mit Dissonanzen etc. Man kann auch Lust (im Allgemeinen) sagen. U n f r e u d e, Unlust: Einheit im kontinuierlichen Gegenstreben sich kontinuierlich so fortsetzend und Einheit des Unwertes im Spiel der Vorintention und der bestätigenden Erfüllung konstituierend. 2) Die Freude kann bloße Instinkterfüllung sein, oder sie kann reine Inhaltsfreude sein, Freude am Was, am individuell Existierenden in Hinblick auf sein Was, oder endlich Freude am reinen Wesen, an der reinen „Idee“, vor allem hier der individuellen Idee, die in der Einstellung der puren Neutralität sich konstituiert und darum das Gemeinsame ist der Seinserfahrung und der Erfahrung-als-ob (und ihrer selbst), weil Neutralisierung sowohl von der Positionalität als von der Quasi-Positionalität aus frei beliebig vollzogen werden kann. Aber schließlich, wie immer „Einheiten“ sich konstituieren, im Zusammenhang der konkreten konstituierenden Subjektivität berühren sie auch das Gefühl, sie gehören in den Zusammenhang des strebenden Daseins, und so können sie durch ihren Inhalt oder, wenn sie schon ideale Einheiten sind, als solche Freudengehalte Werte sein. (Natürlich nicht alle Ideen konstituieren sich als solche aus Neutralisierung.) 3) Begehren im gewöhnlichen Sinn ist ein auf Verwirklichung von Realem bzw. auf Veränderung von Realem gehendes Streben. Das Kunstgebilde (Goethes „Faust“) begehre ich also nicht in diesem Sinn, aber dass die Aufführung im Theater es für mich verwirkliche. Es ist zu unterscheiden die Freude an der guten (und schönen) Aufführung, die Freude daran, dass ich dabei bin, und die Freude in der Hingabe an das ideale Werk selbst, in der ich es selbst in seinem reinen Wert erfahre.
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4) Eine solche Idee ist nichts Einfaches wie etwa ein Ton (eine Tonidee), und es können mannigfaltige ideale Elemente, in denen es sich in seiner Ideenzeitlichkeit aufbaut, das Gefühl und Streben verschieden berühren und bald ein harmonisches, bald disharmonisches Ganzes der „Stimmung“ ergeben. Ich lebe in der „reinen“ Phantasiewelt, im reinen „Bild“, und zudem in der Einheit der Stimmung, die rein zur Idee gehörig ihr ideales Korrelat hat im Wert – da aber ist bald Einstimmigkeit, bald Unstimmigkeit, Disharmonie nicht in Einheit der Harmonie sich auflösend, und das ist Fundament für ästhetische Freude und Unfreude (Unbefriedigung). Naturschönheit hliegti nicht in der bloßen Idee. 5) Ich muss, um die inhaltliche oder reine Ideenschönheit und Unschönheit ursprünglich zu konstituieren und, was ich früher die „Wertapperzeption“ nannte, aufgrund der elementaren Wertfunktion zu vollziehen, alles Gefühls- bzw. Strebensverhalten, das andere Quellen hat, ausschalten. Ein Möbel kann schön an und für sich sein, aber es erweckt fatale Erinnerungen. Auch ist zu berücksichtigen ein Schönes an und für sich und ein Schönes im Zusammenhang – das Möbel im Ganzen der Zimmermöblierung. 6) Begehren und Wollen auf Schönes gerichtet – ist Gesolltes, aber das Wollen hat seinen praktischen Bereich. Menschliches Wollen als universales auf das ganze strebend-wollende Dasein gerichtete Wollen. Das absolute Sollen und seine Relativität. Ist das absolut Gesollte schön? Der auf absolutes Sollen gerichtete Wille ist schön, ist ein Wert. Ein Menschenleben, das wir ethisch nennen, ist auch schön. Ist aber sein „ethischer Wert“ ein Folgewert der Schönheit, der „Erfreulichkeit“ in Gefühlshingabe daran, oder in der Idee, vermöge der Idee? Heißt „um der Schönheit willen etwas tun“ nicht, das Schöne realisieren und in der Verwirklichung es anschauen und sich daran freuen wollen – wie im Theater?
Beilage XVII hDas Reich der reinen Schönheitswerte als Reich des Genusses gegenüber den absoluten Gewissenswerten. Das Vernunftgesetz der Wahl des Besten unter dem Erreichbaren gilt nur für die hedonischen Wertei1
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Kunstwerke als Objekte des Genusses. Freude an der Wissenschaft, im 35 Nachverstehen der Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnis, an der sys1
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tematischen Aufnahme des in irgendeiner Sonderwissenschaft Geleisteten. Freund der Astronomie, Freund der Botanik gegenüber der schöpferischen Forschung und Arbeit. Der Liebhaber „arbeitet“ nicht, so wie hderi Sportsmann nicht arbeitet, obschon er sich sehr müht und plagt. Der Dilettant in der Kunst. Die Freude am künstlerischen Gestalten und Können. Kunst als Sport. Aber für so manche Wissenschaftler ist auch Wissenschaft ein Sport. Zum Sport gehört der Wetteifer, nicht nur Freude am Können, sondern am Besserkönnen, am Können des Besten, das von anderen gekonnt und geleistet wird. Dazu eventuell und in der Regel die Freude an der öffentlichen Anerkennung und Ehrung des Bestkönners. Der berufene Wissenschaftler, Künstler geht nicht auf Genuss aus, auf Erzielung von ihm Erfreulichen, wie der Liebhaber, der Sportsmann. Dem berufenen Forscher ist die Wissenschaft eine „ h e i l i g e “ S a c h e , G e w i s s e n s s ac he, Sc hi c ksal ssache, hier ist die wesentliche Stätte seiner persönlichen Verantwortung. Pfli cht. Dem Liebhaber ist Wissenschaft, Kunst etc. Sache der Erholung, der Lebensfreude etc. Das Reich der „Genüs se“, der Verwirklichung von G e f ü h l s w e r t e n, niedere und edle, „erhebende“ Genüsse. Dieses im weitesten Sinn „h e d o ni s c he“ Reich ist ein Reich rechtmäßig bestehender und miteinander vergleichbarer Werte, der reinen Schönheitswerte, aber freilich auch Unwerte. Es hat seine Idealität. Das gepriesene Paradies, aber auch das Reich der Seligen um Gottes Thron wird gedacht als ein Reich reiner Freuden, obschon das letztere nicht bloß als das. Reine „Glückseligkeit“ (reine Seligkeit) gehört jedenfalls wesensmäßig zum Ideal eines vollkommenen personalen Daseins, obschon damit noch nicht gesagt ist, dass dieses Leben als solches bloßer Glückseligkeit und nie unterbrochen gedacht sein muss oder auch nur gedacht sein kann. Nur muss Glückseligkeit als „reine“ Seligkeit verstanden und bestimmt werden. Das Reich der „Schönheits“werte hat seine gattungsmäßigen Besonderungen, aber dieses Reich hat re g i o n a l e U m g r e n z u n g; in gewissem hSinni sind in diesem Reich die „heterogenen“ Werte doch vergleichbar, obschon nicht messbar. Die durch verschiedene Inhaltsarten bestimmten Genüsse (Freuden im onthischeni Sinn) stehen in R e l a t i o n d e s h ö h e r u n d t i e f e r, in Gradualitäten des Schönheitswertes, denen gesetzmäßig der Vernunftvorzug folgt (gegen Bre ntano), nota bene, wenn eben der Schönheitswert allein in Willensfrage ist (als Willensmotiv in Frage). Man kann ferner sagen: Zu jedem praktischen Feld, das jeder konkreten Gegenwart als praktischer zugehört, gehören immer Schönheitswerte und -unwerte, und sie gehören zum universalen Feld praktischer Vernunft. Wie sie überhaupt darin letztlich zu „bewerten“ sind, steht in Frage. Man sieht schon, dass sie nie ganz auszuschalten sind. Auch ist klar, dass sie zu den eventuell
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andersartigen „Werten“, den a b so l u t e n W e rt e n, die oben unter dem Titel der „Berufs“-, der Gewissenswerte genannt wurden, in Wesensbeziehung stehen. Der berufene, aus Berufung arbeitende Wissenschaftler und Künstler wird es nicht ablehnen, wenn man ihm sagt, er arbeite doch für das Publikum, das Schönes genießen will, und so überhaupt für den allgemeinen Nutzen, das allgemeine Wohl. Freilich betrifft das das Reich allgemeiner und berechtigter Bedürfnisse, das entsprechende der allgemeinen und berechtigten Willensziele. Jedenfalls gehören dazu Schönheitswerte und überall, wo sie in Frage sind und mindesthensi ausschließlich in Frage sind, da hat das Gesetz des Besten unter dem Erreichbaren von Schönheitswerten – und das ist hier: der größte Schönheitswert – seine Stelle. W o a b s o l u t e W e r t e a b e r daneben i n Fra ge kom m e n , i st v o n e i n e m „ g r ö ß t e n G u t “ , v o n ei nem Bes s ere n und Be st e n k e i n e R e d e. Fingieren wir, dass nur Schönheitswerte in Frage kommen,1 mag es nun sein, dass der Wertende und Handelnde in einer Lage ist, in der er einsieht, dass es in ihr andere Werte bzw. andere Willensziele als hedonische nicht geben kann (falls eine solche Lage überhaupt möglich ist), oder sei es so, dass diese anderen Werte zwar da sind, aber hdass siei das Reich des Genusses ganz allgemein offen zugänglich sein lassen oder hdass siei irgendwelchen, aber noch unbestimmten Genuss fordern oder endlich so, dass er momentan oder überhaupt noch blind ist für andersartige Werte (dass ihm das ethische Lebensziel noch gar nicht aufgegangen ist).2 Sind in dem einen und anderen Sinn nur hedonische Werte in Frage, so ist es eine „Forderung“ der „Vernunft“, den größtmöglichen zu wählen. Wer anders wählt, wählt unver nünfti g, töricht, dumm; er wählt das Mindere, wo er das Mehr, das Bessere hätte wählen können (so natürlich, wenn die Vorzüglichkeit eine klare, evidente ist).3 Hier ist die Stelle der Wertung der A f f e k t i o n s w e r t e. Aus närrischer Verliebtheit in einen besonderen Wert, aufgrund subjektiv-psychologischer Hemmungen, die ihn für das Bessere als besser blind hmacheni (es ihn nicht, wie es in Wahrheit ist, rein genießen lassen), wählt er das mindere Gut. Wie steht es nun mit den G e w i sse n sw e rt e n? Wie steht es hier mit der Rede von praktischer Vernunft? Wie hier mit dem Verhältnis von praktischer und wertender Vernunft?
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Aber kommen sie letztlich nicht überall in Frage? Freilich sagt das eben nicht, dass sie damit außer Rücksicht bleiben können – und schon in dieser Überlegung hsind siei in Rücksicht gezogen worden. 3 Aber besteht hier wirklich eine Forderung, ein Sollen, oder muss ein solches überall bestehen und eventuell hypothetisch vorausgesetzt bleiben? 2
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Hier ist also Verschiedenes zu erwägen. Setzen wir an: Genuss = Verwirklichung eines Wertes. Ist das eine berechtigte Gleichung? Sich einen Wert in seinem Eigenwesen, in seiner Möglichkeit vorstellen = sich in den vollendeten Genuss hineindenken und quasi wirklich und voll genießen. Jede 5 Werterwägung vor der Realisierung ist Erwägung der möglichen „Werte“, ihrer Echtheit und ihrer praktischen Möglichkeit. So also jede „Auswertung“ des „wahren“ Wertes. Was da herausgestellt wird, ist eine ideale Möglichkeit, eine „Wertidee“, sei es auch eine individuell gebundene, und eventuell im Vergleich solcher Ideen die „Idee“ des Besten. 10 Im rein wertenden Bewusstsein spielt das willentliche Verwirklichen und wohl auch das strebende Gerichtetsein auf den Wert keine Rolle. Es ist hier zu unterscheiden das Für-wert-Halten im Status „bloßer Meinung“ (Doxa), das kein bloßer Glaubensmodus, sondern zugleich Gemütsmodus ist, und das Für-wert-Halten, das den Wert selbst Haben und Halten ist im Genuss oder 15 vielmehr in der lebendig erfüllten Vorstellung des Genusses – da wir hier in der Sphäre des bloßen Wertens in der Ideensphäre sind, im Rahmen der Möglichkeit.
Beilage XVIII hIst jede Freude ein Für-wert-Halten und ist jedes Werten ein positives Gefühl? Ist Werten eine eigene Art der Stellungnahme?i1
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Beispiel: ein schöner Tempel. Ich sehe ihn und erschaue seine Schönheit, aber dem gebe ich mich nicht hin, eröffne mich dieser Schönheit nicht, ich durchlebe sie nicht wertfühlend. Ich bin etwa mit der Welt zerfallen, 25 ich bin aus besonderen Gründen, etwa einer ungeheuren Schande, die mir, einem eitlen Menschen, irreparabel zu Teil geworden ist, in eine Perversion hineingeraten, in der ich die Welt hasse. Ich hasse dieses schöne Gebilde, statt mich daran zu freuen. Ich hasse diesen schönen Sonnenuntergang, am liebsten würde ich ihn, würde ich die Sonne und alles Licht vernichten. Ich 30 hasse dieses Kunstwerk, gerade weil es schön ist – ich zünde es an, es zu vernichten. Mir ist alles misslungen, ich hasse jeden Menschen, der Erfolg hat, ich möchte ihn herabsetzen, je größer er ist, umso lieber würde ich ihn töten. Ich bin unbedeutend, klein, meine Gedanken sind missraten und ganz rechtmäßig verachtet. Aber das ertrage ich nicht – jedes Bessere möchte
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Etwa 1923/24. – Anm. der Hrsg.
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reine werte gegenüber praktischen werten
ich auslöschen, um mich nicht als klein, verächtlich anschauen zu müssen. Ich hatte mich gewöhnt, mich immerfort an anderen zu messen und äußeren Erfolg, fremdes Lob, und möglichst vielfältiges und großes, einseitig zu schätzen, ja ganz ausschließlich. Ich habe keinen Erfolg, und nun möchte ich, da ich die Menschen nicht zu Liebe zwingen kann, ihnen mit Hass vergelten. Schönes kann gehasst werden und nicht bloß hintangesetzt hwerdeni zugunsten eines Besseren. Hässliches, Abscheuliches kann Gegenstand der Freude sein, d. i. rein in sich betrachtet Hässliches. Wie ist die Einheit der Freude am Hässlichen, am Schlechten, Abscheulichen zu verstehen? Ist denn jede Freude ein „Werthalten“, Wertfühlen? Nicht jedes Urteil, jeder Glaube ist ernstlich ein Für-wahr-Halten oder gar Einsehen. Jemand kann schadenfreudig sein und zugleich fühlen, dass die Schadenfreude ein Schlechtes ist bzw. dass der Schaden des anderen für ihn kein Gutes sei. So kann einer urteilen und auf seinem Urteil bestehen und zugleich doch fühlen, dass es nicht so ganz in Ordnung ist und dass die Gegenargumente eine Kraft haben. Er will aber darauf nicht achten, er möchte „sich keine Blöße geben“ oder vielmehr sie bloß nicht zugestehen und tut so, als ob er, wer weiß welche guten Gründe noch hätte. Ist aktuell Werten ohne weiteres sich an einem Wert freuen? Und ist das Werten, in dem ein reiner Wert gegeben ist, immer ein positives Gefühl, also eventuell Freude? Eine „edle Trauer“ sagen wir. Es ist einerseits ein Unwert, über den wir trauern, andererseits ist das Traurige doch ein „edler“ Unwert. Freude am Gemeinen, am Misslingen fremden Strebens, Hass des Edlen ist auch ein Unwert. Aber ein unedler, „abscheulicher“ Unwert. Es kann sein, dass ich eine edle Freude preisgeben muß, mich an einem Schönen nicht freuen darf zugunsten einer edlen Trauer. Edle Trauer – Trauer über Nichtsein eines echten Gutes. Ist dieses Nichtsein Überzeugung geworden, so ist Trauer das richtige Verhalten des Gemüts; es ist positiver Wert. Aber „freut“ man sich an dieser Trauer? Man findet sie „angemessen“. Den Unwert dieses Nichtseins erfährt man. Aber durch was für ein Gefühl? Durch die Trauer? Oder gibt es e i n e e i g e n e A k t a r t, Art von Stellungnehmen, „W e rt e n“, mit eigener Erfüllung und Selbsthabe gegenüber Gefühl en a l s Pa ssi v i t ä t e n ?
IX. DAS GEFALLEN AM SCHÖNEN UND DER SCHÖNHEITSWERT1
h§ 1. Das nicht durch einen Glauben motivierte, uninteressierte Gefallen am Schönen gegenüber dem Gefallen am Wesen als Seiendeni
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Das Wohlgef allen (Sic h-Freuen) am Gegenstand aufgrund seines E igenwesens, näher aufgrund des gesamten konkreten Eigenwesens, falls der Gegenstand hinsichtlich dieses Wesens bekannt oder gegeben ist. Adäquat gegeben ist ein immanentes Datum in der immanenten Anschauung oder ein sinnliches Phantom, eine schöne Farbe, eine schöne Melodie rein als akustisches Phänomen, ein schönes räumliches Phantom etc. Wir sagen, das ist schön (oder unschön etc.). Stelle ich mir das gleiche Phantom im Bild dar oder phantasiere ich es, so habe ich hinsichtlich des Wohlgefallens, das ich haben werde, zu unterscheiden: 1) das Wohlgefallen in der Vorstellung, das PhantasieWohlgefallen, als ob ich hdas Phantomi selbst schaute mit Augen und Ohr; 2) das aktuelle Wohlgefallen an dem perzeptiven oder reproduktiven „Bild“, aber das schwankende und bald vage, bald mehr klare Bild – das histi eigentlich Bild von etwas, das im Schwanken dasselbe ist und nur mit verschiedenen Klarheitsmodi „erscheint“. Nicht dieses Selbe in seiner jeweiligen Erscheinungsweise ist das schöne Bild, sondern eben das Selbst, das „quasi“ Gesehenes, Gehörtes etc. ist. Dem bin ich mehr oder minder fern, und danach hat mein Gefallen seine Modi, es ist in gewisser Weise antizipierendes, ähnlich wie wenn ich ein Phantom wirklich sehe, aber nicht optimal, sondern in einer von ihm selbst abstehenden Unklarheit. Gleichwohl, es gefällt durch sein Eigenwesen: Das Wesen ist aber nicht vollkommen gegeben. So auch das „Bild“. Es ist aktuelles 1
Wohl 1925. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 247 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3_9
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Gefallen am (nicht vollkommen gegebenen) Bild, aber an dem Bild selbst. Das Bild und die perzeptive „Wirklichkeit“ haben das „Wesen“ gemein. Doxisch: Wirklichkeit und Möglichkeit haben ein gemeinsames Wesen, als ideal-identisches. Kann ich nicht im Gemüt so ei ngestel lt sein, dass mein Gefallen als aktuelles nicht betroffen wird, ob i ch wirklich höre oder phantas ier e – abgesehen von den Gradualitäten der Klarheit, die einen Vorzug des wirklichen Hörens machen? Dann hätten wir also ein Gefallen (ein ursprüngliches Erfühlen eines Schönen), das nicht fundiert wär e i m Erfahren (Wahrnehmen, ursprünglich Seinserfassen) als Erfahren, nicht im Finghiereni, Phantasieren als Phantasieren, nicht im Für-möglich-Halten als Für-möglich-Halten, obschon das, was da als schön gefällt, in irgendeinem dieser Anschauungsmodi bewusst sein muss. Was sagt da das Nicht-Fundiertsein? Ich, der „Wertende“ und als solcher bin hier in einer Einstellung, in der ich keine „Stellung“ nehme für Sein oder Nichtsein oder auch nur für Möglichkeiten, kein „Interesse“ dafür habe, keine Doxa als in dieser Hinsicht motivierend „vollziehe“, obschon gegebenenfalls Wirklichkeit bewusst ist in gewisser Weise, sofern ich eben das Phantom wahrnehmungsmäßig vor mir habe, oder Fiktion, sofern es als bloßes Phantasiebild vorschwebt, das als solches jederzeit von mir als nichtig, als ein Nichts beurteilt werden kann. I ch bi n doxi sch also hinsichtlich aller Seins modali tät en ne utral, aber wohlgemerkt – hier gerate ich in Zweideutigkeit – in einem gewissen Sinn neutral. Nicht als ob ich aktive Enthaltung übte, aktiv neutralisierte; als Wertender bin ich neutral, nicht durch Glauben motiviert. Sagt man so, dann gerät man in die schiefe Frage: Bin ich auch hinsichtlich des Wesens „neutral“? Ist nicht neutrales Anschauen „Selbsthabe“ des puren Wesens und ist nicht dieses selbstgeschaute Wesen dasjenige, was mir gefällt? Oder bin ich auch in dieser Hinsicht neutral? Ist es nicht richtig zu sagen, dem Gefallen liegt auch hier ein „Gegenstand“, ein im wiederholten Gefallen Identifizierbares zugrunde, das, worauf ich hinsehe und was ich eben in eins setze im Übergang von Anschauung zu Anschauung vom Selben, mag der doxische Modus der Anschauung wechseln.1
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Gleichwohl kann man doch sagen, das hGefallen ami Schönen, uninteressiert
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Aber habe ich dann nicht doch noch einen Glauben in dieser Einstellung, eine Ineinssetzung, den Glauben der Selbsthabe des konkreten Wesens als eines „idealen“ Seins, das gegen individuelle Wirklichkeit und Möglichkeit unempfindlich ist, weil es das vom Wechsel solcher Setzung, die ja neutralisiert ist, Unbetroffene bleibt, und andererseits in der Neutralität eben selbst erst hervortritt? Aber hier gilt es eben vorsichtig sein. Ich bin ja nicht aktiv neutral, mich der doxischen Stellungnahme enthaltend, und nicht bilde ich aktiv eine Ideation, ich habe also nicht das reine Wesen als doxisches Thema gebildet. Das Gefallen am Schönen als uninteressiertes ist nicht Gefallen an dem puren Wesen als Seienden. Dann wäre es inter es s ier t. 1 Dieses pure Wesen ist, wenn das Interesse am Sein dieses Wesens außer Frage ist, ursprünglich bewusst als schön, reiner Schönheitswert. So wie Deckung unter Neutralität individueller Doxa einen neuen Gegenstand in neuer Doxa ergibt, der also in der Wesensschauung ursprünglich gegeben ist, so ergibt die Deckung unter Neutralität der durch individuelles Glauben fundierten Gefühlsstellungnahmen (der interessierten) eine neue Gefühlsstellungnahme, fundiert durch das Erschauen bzw. Setzen des Wesens. Das Wesen selbst, das anschauliche, konkrete Wesen ist ein Schönes, Gutes, und zwar Schönes der „Idee“, des Wesens selbst.2 Aber alles, was da ausgeführt wurde, gilt nun für die Fälle, wo ein Wesen nicht adäquat gegeben ist, wo es nur intuitiv antizipiert ist, und schließlich für das bloß wertende Meinen, das überhaupt nicht Werterschauen ist. Dazu: Der Gemütsakt des Gefallens hat entsprechende Modalitäten, in Abhängigkeit von den fundierenden Glaubensmodalitäten. Überall gilt natürlich auch die Wendung von der Gemütseinstellung, der wertenden, in die nachkommende doxische, in der der
Gefallenden, ist als uninteressiertes Gefallen Gefallen am Wesen, nur dass das Wesen nicht gesetzt ist urteilsmäßig. 1 Aber jederzeit kann ich das Wesen aktiv doxisch konstituieren. Tue ich das, so habe ich im Gemüt alsbald ein Wohlgefallen, das dieses Erschaute, jedenfalls gesetzte Wesen als wertendes Thema hat. Dann ist das Wesen bewusst als eine Ideenschönheit – oder vielmehr als ein Ideen-Gutes. Korrelativ: Freude am Sein. 2 Aber ein Schönes im eigentümlichen Sinn nur durch Neutralität im Sinn der Uninteressiertheit.
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Wert zur doxischen Setzung, also zur Seinserfassung kommt, einer Erfassung, die je nachdem evidente und adäquate ist oder nicht. Die Schönheiten, von denen hier die Rede war, waren reine, eigentliche Schönheiten (denen konkrete Wesen entsprechen), Sein 5 von idealen Gegenständen, denen Möglichkeit, d. i. mögliche individuelle („reale“) Wirklichkeit, entspricht, wo hihneni nicht gar in der Tat Wirklichkeit „entsprechen“ mag, die aber selbst nicht reale Wirklichkeiten oder Möglichkeiten sind. Als Idealität haben sie einen Umfang idealer Möglichkeiten, obschon nicht immer in gleicher Weise. 10 Diese Schönheiten sind selbst, wie sich zeigte, ideale und in ihrer Art konkrete Wesenheiten, zunächst Idealitäten konstituiert im Gemüt und dann im „Verstand“.
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h§ 2. Das Schön-Gefallen als inhaltliches Gefallen. Inwieweit ist ein Glauben Motivationsgrundlage für ein Schön-Gefallen? Das Gefallen an einem Ding wegen seiner schönen Erscheinungeni Gehen wir nun von den konkreten Wesen über zu wirklichen und möglichen Realitäten (den Vereinzelungen der Ideen), so sind diese Einzelheiten, die der doxischen Wesen, nun auch Einzelheiten der Werte-Wesen, der idealen Werte. Sie haben „Anteil“ an der betreffenden Idee der Schönheit, die selbst ideale Schönheit ist. Hier ist aber Folgendes zu beachten: Wenn ich einen Ton, den ich höre, schön finde, so brauche ich das konkrete Eidos dieses Tonwesens natürlich nicht gebildet und diesen Ton als Einzelnes dieses allgemeinen Wesens gedacht zu haben. Dieser Ton als dieser-da ist wahrgenommen, also in Seinsgewissheit bewusst. Das Wohlgefallen an ihm ist nicht Wohlgefallen an dem allgemeinen Wesen, auch nicht an diesem da als dem als Vereinzelung des Wesens Gefassten; wie danach der Schönheitswert dieses Einzelnen nicht als Vereinzelung des allgemeinen Wertes bewusst ist. Wir können hier offenbar nur sagen: In der Einstellung des wertenden Ich, des auf Schönheit „gerichteten“, und zwar auf dieses Schöne, verhält es sich so wie in der Einstellung des bloß anschauendglaubenden Ich, des „betrachtenden“ der Wahrnehmung, der Erin-
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nerung oder des das Fiktum betrachtenden. Der „Blick“ ruht auf dem „Inhalt“, dem in Identität sich bekundenden, aber nicht als identisch urteilsmäßig gesetzt, dem, der fassbar, aber nicht gefasst ist als Wesen in besonderen Akten der Ideation. Dabei ist das Ich glaubend in Gewissheit oder einer Modalität bzw. „neutral“ im Glauben.1 Eben dergleichen liegt notwendig dem Wohlgefallen als SchönGefallen zugrunde.2 Aber nun entspricht dem inhaltlichen Betrachten das inhaltliche Gefallen. Es ist nicht Gefallen, das auf das Wesen als Eidos gerichtet ist, es ist nicht Gefallen, das seine besondere Motivationsgrundlage hhati im Glauben und den Glaubensmodalitäten (oder im Vollzug der Neutralität als Enthaltung hat), sondern das Gefallen vollzieht sich, wie immer es sich mit diesen Modalitäten verhalten mag, rein im Blick auf den Inhalt, in seiner „Betrachtung“. Im Wandel der Glaubensstellung bzw. Neutralisierung muss dann dieser „selbe“ Inhalt in Deckung mit sich selbst bleiben – was aber nicht heißt, dass das Eidos als solches zur gegenständlichen Setzung kommt, und das Wohlgefallen bliebe ungeändert, nur wäre das Schöne einmal ein als seiend Bewusstes, das andere Mal als vermutlich Seiendes, das dritte Mal ein Bildfiktum und wieder ein „Phantasie-Bild“. Ein Eidos als solches kommt erst zur Setzung, wenn ich im Bewusstsein der Beliebigkeit der Wandlung reiner Möglichkeit und der eventuell gegebenen Wirklichkeit in Möglichkeit das Identische als solches und als Seiendes setze. I n w elcher W eis e spi el t aber der Glaube als Stellungnah me h eine i f undie rend-m oti vi erende Rolle für die Gemüts s tellungnahme? Haben wir nicht verschiedene „Glauben“ in Betracht zu ziehen, und solche schon als Voraussetzung im SchönGefallen? Das Letztere kann so gemeint sein: Betrachte ich den schönen Regenbogen, der sich über das Werra-Tal spannt, so mag ich wissen und dessen gerade auch jetzt in besonderer Weise inne sein, dass dieser Bogen in der Landschaft selbst „nichts“ ist – aber
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Probleme! Bloße „Betrachtung“ des „Wahrnehmungsbildes“, des „Wahrnehmungsinhalts“ ohne „Stellungnahme“, ohne Vollzug des Seinsglaubens (Regenbogen, Stereoskop, Bildbetrachtung). Ihm entspricht ein Wesen (niederster Differenz), aber ist nicht dieses „Wesen“ als Seiendes gesetzt? In „Urteils“einstellung? 2 Das ist offenbar unsauber, aber zu beachten.
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schön ist nicht die Wirklichkeit, sondern diese „Erscheinung“, und diese Erscheinung sehe ich, sie ist für mich in ihrer Art Wirklichkeit. Ebenso ist das schöne Stereoskopbild für mich als Erscheinung Wirklichkeit und die erscheinende Bild-Landschaft als solche, so wie sie der Künstler hier dargestellt hat usw. Das, worauf ich im Gefallen hinblicke und hwasi mich dabei „bestimmt“, ist selbst in einer Doxa gegeben als seiend, ohne weitere Frage, wohin dieses Sein gehört, zu welchem Seinszusammenhang, welcher Seinsart es ist usw. So entzückt mich auch der Tanz auf der Bühne, „ein Bauerntanz vor der Schenke“ – als Erscheinung, als perzeptives Phantasiebild in Bewegung. Freilich, ich habe noch eine reale Wirklichkeit, die meiner Umwelt, mit der das Fiktum streitet, zu der es also in Bezug steht, zu der ich es aber nicht aktiv vollziehend in Bezug setze. Genauer gesprochen, ich neutralisiere die Glaubenstendenzen, die dem Bauerntanz zugehören, ich bin in Neutralität und habe eben darum ein reines Phantasiebild – eine bloße Phantasie„erscheinung“. Der Bauerntanz gehört zu einem Phantasieraum, einer Phantasiezeit, einer Phantasiewelt, das Glaubenssystem ist ein Glaubenssystem-als-ob, eben Phantasieglaube. Aber auch auf diesen Glaubenals-ob kommt es nicht an. Denn andererseits habe ich nun die Erscheinung als Erscheinung, die Phantasiewelt als Phantasiewelt, und der Phantasie-Tanz als solcher ist selbst nun „Seiendes“, hat seinen „Glauben“, und dieser fundiert mein Schönheitsgefallen. So gefällt mir auch ein Schönes der Wirklichkeit aufgrund seiner Erscheinung, etwa die schöne Gestalt und Färbung eines Dinges – nichts anderes als dieses, keineswegs aber das Ding, sofern es existiert und was dabei in realer Wahrheit sonst ihm zukommen mag. Freilich, das reale wirkliche Ding kann mir nun lieb sein, weil es diese Erscheinung darbietet und eventuell nur in einer gewissen Stellung, in einem gewissen Aspekt Schönheit bietet. Es ist dann um der schönen Erscheinung willen mir lieb und heißt „schön“ als eine schöne Erscheinung bietend. Dann ist nicht das Ding und die Dingwirklichkeit an sich selbst schön, sondern primär und eigentlich schön ist die Erscheinung; es selbst ist schön „umwillen“, in Übertragung. Andererseits, wo eine Wirklichkeit in mannigfaltigen Erscheinungen erscheint und Wirklichkeit des Daseins sich modalisieren kann, da erwächst auch im Gemüt eine neue Gestalt von „Wertungen“,
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nämlich die sich mit den Modalisierungen selbst modalisierenden. Allem voran ist aber zu betonen: Es handelt sich um Gemütsakte, in denen Gl aube Mot i vati onsgrundl age ist. Das Gefallen an einem Ding um dessen willen, dass es schöne Erscheinungen bietet, 5 ist eigentlich noch nicht ein Gefallen, das motiviert ist durch den Glauben an die Wirklichkeit des Dinges. Denn das Ding selbst als erscheinendes ist, solange ich in der reinen Schönheitswertung stehe, dann selbst nur Erscheinung, nur dass diese Erscheinung schön ist in Übertragung.
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h§ 3. Das Gefallen am Schönen als Gefallen an der Erscheinung und das Missfallen am Hässlichen als qualitativer Gegensatz. Schönheitswert als Wert der Erscheinung gegenüber Güterwert als Wert des Erscheinenden als Seiendem. Gibt es bloße Begehrungswerte?i Das Gefallen nimmt eine wesentlich neue Gestalt aber an, wenn der Wirklichkeitsglaube des durch Erscheinung Erscheinenden selbst Motivationsgrund ist. Wir stehen dann im Reich des begehrenden Gefallens. Nämlich das r ei ne Schönfi nden, am Schönen Gefallen haben, ist noch nicht Freude am Dasein. Wir können auch sagen, das Gefallen an der Erscheinung (die freilich als Erscheinung „ist“) ist nicht Gefallen am Dasein des Erscheinenden. Dieses Gefallen, die Das eins fr eude, is t ei n Modus des Begehrens, und zwar des erfüllten. Änderung der Überzeugung in irgendwelchen Modalisierungen modalisiert das Sich-Freuen (die Freudengewissheit geht über in Freudenvermutlichkeit etc., was Gefühlsmodi der Freude sind), und der Umschlag in Seinsnegation führt zur Freudennegation, die „Unfreude“. Die Korrelate sind: Güter und Übel als Analoga der Wirklichkeiten und Nichtigkeiten bzw. Wahrheiten und Unwahrheiten. Sind aber nicht auch Schönheiten und Hässlichkeiten Analoga? Hier ist aber zu beachten: Schönhei ten sind die Werte, die bewusst werden im Wohlgefallen an einer Erscheinung. Aber Missfallen des Häs s lic hen is t ni cht fundi ert i n ein er Modalisierung des Seins der Er sc hei nung und ist nicht selbst eine Modalisierung
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des Als-schön-Gefallens; sol ches Al s-hässlich-Missfallen ist nicht ein Un- Gef all en, ei ne U n-Freude. Aber bestehen hier nicht Zusammenhänge? Wir sprechen von Trauer, von Leid, ob es sich um Missfallen an einem Schmerz handelt oder um Trauer, Schmerz, „Unfreude“ über einen Verlust. Die Sprache bezeichnet qualitative Gegensätze, indem sie sich auf den Standpunkt eines Gliedes stellt, oft durch Negativa. Oft ist es so, dass ein inhaltlich bestimmter Lebensstrom vermöge dieses Inhalts in der einheitlichen Gefühlscharakterisierung des Behagens verläuft, dass aber ein anderes Mal der Charakter des Missbehagens sich motiviert gibt als in Folge einer peinlichen Störung, deren Wegfall das allgemeine Behagen wiederherstellen würde. Soll man sagen „Unlust“, „Unbehagen“, der negative Ausdruck deutet die Störung der einstimmigen Lust an? Jeder Schmerz „stört“, insbesonders jeder einzelne sinnliche Schmerz. Aber er ist an sich missfällig, abgesehen von der Störung, er ist es, abgesehen davon, dass er das sonstige Wohlgefallen in gewisser Weise hemmt, nicht zur Auswirkung kommen lässt. Wir haben doch ein Positives und Negatives im Gefühl im Sinn einer qualitativen Opposition. Andererseits, das qualitativ Positive der Daseinsfreude verwandelt sich in das qualitativ Negative, wenn Dasein in Nichtsein glaubensmäßig sich wandelt; und wenn eine Erscheinung positiv gefällt, so missfällt eben eine andere im Sinn der Opposition negativ, nur dass hier die Gegenqualität nicht motiviert ist durch eine Daseinsnegation. Danach haben wir überall, wo Erscheinung und Erscheinendes eine Rolle spielen bzw. wo gegenüber dem Sein der Erscheinung ein erscheinendes Sein vermeint sein kann, zu unterscheiden: 1) Sc hönheitswer t als Wert der Erscheinung selbst und als Übertragungswert den Wert des Erscheinenden als solchen, ohne Betracht aller Seinsfragen; 2) G üterwert (Begehrungswert) als Wert des Erscheinenden als daseienden. Der Gegensatz des Schönen ist Unschönes. Der Gegensatz eines Gutes ist ein Schlechtes, das, dessen Sein ein Unwert ist. Das Nichtsein eines Gutes ist ein Mangel, Fehler, und als das ein Unwert, aber eigentlich nicht ein Schlechtes. Nur sofern wir Nichtsein selbst als Sein fassen (aber nun ist es nicht mehr erscheinendes Sein), und dieses Sein missfälliges ist, unwertiges Sein, kann man auch hier von Schlechtem sprechen. Aber man fühlt schon sprachlich den Unterschied: Das Schlechte ist das oppositum
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des Guten, der Mangel ist ein Unwert, aber nicht in demselben Sinn Gegensatz.1 Es ergeben sich nun weitere schwierige Probleme, zusammenhängend mit der Wertverschiebung, Entwertung im Beziehungszusammenhang. Ist nicht an sich jede Instinktbefriedigung, jede Befriedigung eines Triebes, eines Strebens, jedes Sich-Entspannen eines solchen ein Wert (ursprünglich anschaulich wohlgefällig), jede Hemmung ein Unwert? Gibt es also nicht Werte, die auf vorangehendem Treiben, Streben beruhen, mag es auch völlig blind sein? Bedürfnisbefriedigungen als solche.2 Um seiner Schönheit willen kann ein Gegenstand begehrt werden und dann kann überhaupt ein habituelles Bedürfnis nach Gegenständen solcher Schönheit erwachsen. Dann erweckt solch ein Gegenstand, realisiert Befriedigung, hat den Wert der Befriedigung, aber auch den „höheren“ Wert der Schönheit. Die „Lust“ der Befriedigung ist ein „Zuwachs“. Kann es „wahre Werte“ geben, die zur Schönheit keine Beziehung haben? Begehrungswerte, die bloße Instinktwerte, bloße Befriedigungswerte sind und an sich gleichgültig wären, wenn sie nicht begehrt würden, und, wie wir gleich annehmen können, ihrer Art nach habituell und empirisch allgemein begehrt. Ihre Artung bestimmt die Richtung des instinktiven Strebens. Aber wie wohl zu beachten: Es ist kein im Wesen, an der intuitiv zu fassenden Artung als solcher hängender Wert bzw. ein darauf bezügliches Gefallen da, sondern ein Trieb, der sich in dieser Artung befriedigt und ein Gefallen an dem Gegenstand und seiner artmäßigen Eigenheiten, sofern er die Spannung des Strebens entspannt und schließlich Befriedigungslust ergibt.
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Aber iteriert sich nicht in gewisser Weise auch das Erscheinen, nur dass wir auf Ur-Erscheinungen zurückkommen, die Anschauungen im ursprünglichen Sinn oder vielmehr die Anschauungs„bilder“? 2 Aber wie stehen hdazui die „Gegenstände“ des Bedürfnisses? Sie sind wert als bedürfnisbefriedigende. Wie steht das zu Schönheitswerten, Gütern aus Schönheit?
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Beilage XIX hDie Selbstgegebenheit des Guten in der Freude am Dasein gegenüber der Selbstgegebenheit des Schönen in der Freude an der bloßen Erscheinung. Das Schöne, um seiner Schönheit willen begehrt, wird zum reinen Guteni1
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Das „Schöne“ unterscheidet sich vom „Guten“ dadurch, dass die subjektiven Erlebnisse, in denen sie als solche, als das Schöne oder als das Gute, selbstgegeben sind, verschieden sind. Beim Guten ist es Freude am Dasein, Befriedigung in dem Genuss seiner Wirklichkeit, bei dem Schönen ist es Freude an seiner bloßen Erscheinung, hani seiner bloßen „Vorstellung“, das ist, der Wirklichkeitsglaube, wie er in der Wahrnehmung, in der Erfahrung liegt, ist die Gefühlsart nicht mitbestimmend. Nennt man derartige, durch den Glauben an ein in einer Erscheinung Erscheinendes fundierte Gefühle (Wertungen) „interessiert“, so ist das Wohlgefallen am Schönen (das Werten) ein „uninteressiertes“. Darin liegt aber, das Wohlgefallen wäre dasselbe, wenn zum Beispiel statt der Wahrnehmungsgegebenheit eines Schönen eine abbildliche Gegebenheit (im abbildlichen Anschauen) oder stattdessen wiederum eine vollkommen klare Phantasie gleichen Gehaltes Erlebnis wäre. Doch wird im Allgemeinen der aktuelle Daseinsglaube nicht ohne Wirkung bleiben, das Schöne wird um seiner Schönheit willen begehrt, und nun wird es zum Guten werden. Aber es bleibt auch dann die Möglichkeit, das „Interesse“ auszuschalten und das Schöne rein als solches zu werten, andererseits sich daran wieder interessiert zu freuen und dabei so, dass das Interesse rein durch die Schönheit und dadurch, dass das Schöne wirklich ist, bestimmt wird. In diesem Fall haben wir ein reines Gut (ein καλοκαγα©Þν), ein solches, das begehrt und genossen wird rein darum, weil es schön ist, erstrebt wird rein um seines Schönheitswertes willen. Jedes Gute ist dann selbst wieder ein Schönheitswert, nämlich dass ein Schönes um seiner Schönheit willen erstrebt oder als seiend genossen wird, ist selbst wieder als „bloße Vorstellung“ wertbar und histi dann ein Schönes und so in infinitum. Das überträgt sich entsprechend auf die Bewusstseinsweisen des Gemüts, welche sich auf Schönes und Gutes beziehen, ohne es in sich selbst verwirklicht zu haben. Hinsichtlich des Guten (obschon dann vielleicht nur vermeintlich Guten) oder Unguten haben wir dann die Modalitäten des Begehrens (und Fliehens) als fundiert durch die Modalitäten des Seinsglaubens. Hinsichtlich des (vermeintlich) Schönen sind keinerlei Modalitäten des
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Glaubens fundierend, und es kommen nur in Betracht die Abwandlungsgestalten der Vorstellungsgehalte, in denen, statt der Gehalte selbst, unklare Antizipationen derselben für das uninteressierte Gefühl leitend sein mögen.
Beilage XX hDie Selbstgegebenheit eines Schönheitswertes in der Anschauung des Eigenwesens eines Gegenstandes. Die Fundierung eines Gutwertes in einer Seinsmodalität. Gegenstandswesen und Erscheinungswesen als das Reich des spezifisch Ästhetischen. Freude an der Selbsthabe eines Gegenstandesi1
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Scheiden wir deutlicher und beschreiben wir, was hier an Möglichkeiten verständlich vorliegen kann. 1) Ästhetisch Schönes (wie immer dieses ästhetisch näher bestimmt werden mag), etwa Kunstschönes, bezeichnet eine Gattung des Schönen übe rh a u p t (des καλÞν), das ist eines solchen, das r ei n dur c h se in E ig en w e se n W e rt h a t, worin beschlossen ist, dass hdasi, was außerhalb dieses Wesens liegt, nicht wertfundierend ist. D a j e d e s Ei genwes en a ls Ide e zu f a sse n i st , so i st e i n e S c h ö n h e i t e i n i d e a l e r W er t. Die Idee eines derart Schönen überhaupt, eines Etwas überhaupt solchen Wesens, ist selbst ein Schönes höherer Stufe, und alles singulär Schöne ist schön um der Anteilnahme willen an der Schönheit der Idee. Das Schönheitswerten ist uninteressiert – am Daseinszusammenhang. Andererseits ist ein Gu t w e rt dadurch charakterisiert, dass sein Wert fundiert ist durch Wirklichsein, Möglichsein und sonstige Seinsmodalitäten. Von Seiten der den Wert subjektiv verwirklichenden Erlebnisse gesprochen, ist ein Schönheitswert als solcher selbstgegeben in einem Werten, dem ein gegenständliches Anschauen zugrunde liegt als ein solches, das das Eigenwesen des Gegenstandes anschaulich macht. In der Erfassung dieses Wesens, des Was-Gehaltes, ist das Wohlgefallen gegründet, in dem der Schönheitswert selbst im Gemüt erfasst wird. Dagegen ist das Werten eines Guten fundiert im Daseinsglauben (und in Glaubensmodalitäten); d e r G e m ü t s a k t hat nun den C hara kter d e s i n t e re ssi e rt e n , e i n e s i m w e i t e s t e n Si nn begehr ende n, w o h i n d a n n a l so a u c h d i e F r e u d e a n d e m wi r kl i c hen Dase in zu re ch n e n i st (nämlich als erfülltes Begehren).
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Wo ein Gutes gut ist um seiner Schönheit willen, wo also der Daseinswert bestimmt ist durch den Schönheitswert, haben wir den Fall des καλοκαγα©Þν. 1) Fr eude a m E ig enw e se n e i n e s G e g e n s t a n d e s, am Gegenstand um seines eigenen Wesens willen. 2) Fr eude am Geg en st a n d u m se i n e r E r s c h e i n u n g s w e i s e ( s e i ner noematische n Geg e b e n h e i t sw e i se ) w i l l e n, die ihm dauernd zukommt und seine Eigenheit ist, als etwas von ihm frei Zugängliches. Sie macht nicht sein Wesen, „gehört“ aber zum Wesen, und die Erscheinung selbst hat ein Wesen. Ge ge nstands w e se n u n d E rsch e i n u n g s w e s e n g e h ö r e n „ wes ens mäßig “ zusamm e n. Das ist d a s R e i c h d e s s p e z i f i s c h Ä s t h e ti s c hen. Aber ist nicht das „Selbst“ und die „bloße Meinung“ eine verschiedene Gegebenheitsweise? Freue ich mich an der Wahrheit ästhetisch? 3) Freude am Selbsthaben des „Gegenstandes selbst“ gegenüber dem Vermeinten als solchem, an der „Wahrheit“ gegenüber der „Meinung“, hdie „Wahrheit“i als „das Selbst“, was die Meinung bloß meint.1 4) Freude an einem Gegenstand um eines anderen willen, nicht an seinem Eigenwesen oder aufgrund desselben, sondern etwa weil das Sein des Gegenstandes real Grund ist (oder vermutlich es ist) für die Verwirklichung eines anderen, an dessen Eigenwesen ich Freude haben würde, oder weil das Sein des Gegenstandes Anzeichen ist dafür, dass nun das Eintreten des anderen zu erwarten ist (Anzeichen für das Seinwerden), oder weil das Dasein dieses Gegenstandes Erinnerungszeichen ist für an sich werte Gegenstände, mit denen er zusammen war, oder für einen anderwertigen, z. B. ästhetisch werten hGegenstandi. ad 3) Ich freue mich genießend und selbsthabend – ich habe den Gegenstand selbst und den Wert selbst –, andererseits, ich freue mich, ohne den Gegenstand selbst zu haben, ich glaube, dass er ist, und ich freue mich um dessen willen, was er gemäß dem Sinn dieses Glaubens ist (mir gilt). Ich freue mich der Selbsthabe als solcher, nicht am Gegenstand als dem Soseienden. Hier freut mich der Gegebenheitsmodus des Gegenstandes, während er selbst mir vielleicht gleichgültig ist. Ich kann mich an der Erscheinungsweise eines Gegenstandes freuen, während der Gegenstand selbst mir gleichgültig ist, oder nur wert um dieser Erscheinungsweise willen. Kann ein Gegenstand mir auch wert sein um der Erkenntnis willen, die ich von ihm gewinne? Ja, wann ist die Erkenntnis von ihm überhaupt wert? Wo sie es ist, kann auch diese Wertübertragung statthaben. Wird nicht dem Astronom der Sternenhimmel auch darum lieb, weil er so viel von ihm erkannt hat?
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Ich strebe von Meinung zu dem entsprechenden Selbst.
ERGÄNZENDE TEXTE
A. WERT UND BILLIGUNG
Nr. 1 B illigung, Wert h undi Evidenz1
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Ich billige eine Freude: Du, freue dich daran, das ist recht. Es ist erfreulich, dass dem deutschen Volk in Kaiser Wilhelm eine so große und edle Persönlichkeit beschieden wurde. Das heißt nicht hnuri, man freut sich daran, sondern auch, man hat „Grund“, sich daran zu freuen. Es ist eine berechtigte Freude. Es liegt darin eine Billigung der Freude. Es ist unerfreulich, es ist durchaus nicht erfreulich: Eine Freude daran ist oder wäre zu missbilligen. Dagegen: „Es ist angenehm, unangenehm, es ist schmerzlich etc.“ enthält nichts von solcher Billigung. Wir sagen zwar selten, es ist freuenswert, trauernswert, aber wir könnten es sagen. Im „Erfreulichen“, im zu Betrauernden steckt es darin. Wünschenswert: Hier steckt eine Billigung, Wertung des Wunsches. Ebenso begehrenswert, liebenswert, hassenswert. Wollenswert sagen wir nicht, aber dafür erstrebenswert. Was meint nun diese „Billigung“? „Ich billige deine Freude“ = „Du hast recht daran, dich zu freuen.“ Heißt das, ich freue mich darüber, es gefällt mir, dass du dich daran erfreust? Nein. Es kann jemand meinen, der Andere habe durchaus kein Recht, sich daran zu erfreuen, aber er kann sich freuen, dass er sich daran freut. Ich billige einen Wunsch. Ich sage, es sei wert, dergleichen zu wünschen. Heißt das, ich freue mich darüber, dass man dergleichen wünscht, oder es sei (von der Person abgesehen, die sich freut) eine Freude? Offenbar nicht. Und so überall. Was ist das nun: „Billigen“, Fürrichtig-, Für-wert-Halten? Ist Billigen vielleicht Gefallen, Missbilligen = Missfallen?
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Wohl 1896/97, mit Anmerkungen etwa aus 1908/09. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 261 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3
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Ein Bild gefällt, ein Buch gefällt mir oder missfällt mir. Aber auch von einer Speise, etwa vom Wein, sagt man, er gefalle oder missfalle. Das Bild betrachte ich mit Lust, das Buch lese ich mit Vergnügen, die Speise esse ich mit Lust. Gefallen ist oft nichts weiter als Ausdruck des Lusthabens oder Lustbegründens. „Ist hesi Ihnen gefällig?“ = „Wünschen Sie hesi?“ Was so beschaffen ist, dass es uns Lust bereitet, wenn wir es besitzen, das wünschen wir. Jemand tut uns einen Gefallen = Er tut, was uns angenehm ist oder was wir wünschen. Aber die „Billigung“ steckt in all dem nicht. Es gefällt mir, dass du dich daran erfreust, es missfällt mir, dass du dieses wünschst. Darin steckt nicht Billigung im prägnanten Sinn. Wenn wir billigen, da gefällt uns oft das Gebilligte. Aber nicht immer, wenn wir Gefallen haben, brauchen wir zu billigen. Ich kann ein Gefallen haben am Genuss des Weines, aber diesen Genuss missbilligen. Jemand spricht einen Wunsch aus, den ich mit Vergnügen erfüllen will, ich freue mich darüber, dass er ihn ausspricht, er gefällt mir; darin liegt aber nichts von einer Billigung des Wunsches. Man könnte hier freilich sagen: Ich freue mich über den Wunsch des Anderen, sofern ich mich eben freue, ihn erfüllen zu können. Die eine Freude begründet die andere. Aber ich habe doch auch an dem Wunsch selbst eine Freude, möge sie auch in einer anderen Freude gründen.1 Billigung ist jedenfalls ein Akt des Gefühls, Billigen ist verwandt mit Gefallen, Sich-Freuen etc., Missbilligung ist verwandt mit Missfallen, mit Unlust, Unfreude. Dieses Gefühl ist ein sekundäres. Es geht auf primäre Gefühle: Billigung einer Lust, einer Freude, einer Hoffnung, einer Furcht, eines Wunsches etc. Ferner: Wenn wir billigen, steht uns das Gebilligte objektiv gegenüber. Ich habe nicht einfach Lust und zugleich ein anderes Gefühl, sondern die Billigung bezieht sich auf gegenständlich vorgestellte Lust. Diese kann – muss aber nicht – wirkliche Lust sein; ich kann mir eine Lust an dem Obszönen vorstellen und daran eine Missbilligung knüpfen, ohne diese Lust selbst wirklich zu fühlen. Was wir billigen, das „hat“ einen Wert (es wird für wert gehalten), es erscheint als wert.
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Beziehen sich Gefühle auf Gegenstände, so geben sie zu objektiven Prädikaten Anlass: Diese Speise ist angenehm (nicht nur: sie schmeckt mir gut). So begründet die Billigung die Prädikate „gut“, „wert“.
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Billigen ist Wertschätzen. Aufgrund der Billigung erwächst das sachliche Prädikat „wert“. Die Billigung kann nun sein eine evidente oder nicht-evidente. Dem entspricht der objektive und subjektive Wert. Billigung der seligen Freude am tugendhaften Handeln, Billigung einer rein ästhetischen Freude, Madonna, edle religiöse Gefühle. Missbilligung einer niedrigen Lust. Es fragt sich nun, worin diese Evidenz liegt und worin sie ihren Anhalt besitzt. Sollen wir sagen, die edle Freude hat eben den Charakter des Edlen, und darum wird sie gebilligt, und zwar „evident“ gebilligt? Oder sollen wir sagen, die evidente Billigung lässt erst die Freude als eine reine erscheinen?1 Versuchen wir folgende Auffassung: Eine evidente Billigung lässt das Gebilligte als wahrhaft wertvoll erscheinen. In manchen Fällen ist das Gebilligte als Ganzes der Begründer der Evidenz. In anderen erscheint die Evidenz der Billigung motiviert durch einen gewissen Charakterzug des Gebilligten. Das Erstere gilt von der Lust im Allgemeinen, das Letztere von der edlen Lust. Die edle Lust, die edle Hoffnung, ein sittlicher Wille etc. haben in dem „Edlen“ einen eigentümlichen Charakterzug, um dessen willen sie als wertvoll gebilligt werden. Erlebe ich das Edle selbst, so wird es notwendig gebilligt, und diese Billigung ist eine eigentliche und erfüllte gegenüber einem vagen Gefühl, das sich etwa im „Gedanken“ an Edles einstellt und bald so, bald so gerichtet ist. Die edle Lust ist nicht bloß als Lust, sondern auch als edle Lust wert, und zwar um der letzteren willen in höherem Grad wert. Nehmen wir nun eine ästhetische Freude, eine Betätigung der Nächstenliebe und dgl. Das sind „evidente Werte“. Wie erkennen wir diese Werte? Die Reflexion auf2 Billigung allein würde nicht genügen, wir müssten auch die Evidenz der Billigung als einen eigentümlichen Charakterzug derselben erfassen. Nächstenliebe ist etwas wahrhaft Gutes. Es würde dann der Satz gelten: Die evidente Billigung ist evident wertvoller als die nicht-evidente. Wenn eine Billigung evident ist, so ist es evident, dass die entsprechende Missbilligung nicht
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Ja, das Letztere: Auf den Charakter des Gegenstandes bezieht sich objektiv der Wert und wird mit Evidenz als zu ihm gehörig erfasst. 2 Reflexion auf? Nein. Darin lebend konstituiert sich eine Objektität.
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evident ist. Die Missbilligung eines evident Billigen (Wertvollen) ist evident zu missbilligen. Die Billigung eines evident Missbilligen ist evident zu missbilligen. All diese Urteile wären zugleich im Urteilssinn Evidenzen. Es ist logisch unverträglich, dass dasselbe in demselben Sinn und in demselben Akt gebilligt und missbilligt wird, und wieder, es ist logisch unverträglich, dass etwas den Charakter des wahren Wertes und Unwertes hat.1 Dagegen gilt nicht etwa der Satz: Von zwei entgegengesetzten Wertungen ist eine richtig, die andere unrichtig. Läs s t s ich das nun auf U rtei l e übertragen?2 Wir unterschieden: ein Urteil fällen und das Urteil billigen oder missbilligen. Wir billigen ein Urteil, wenn wir ihm ein Recht zuerkennen. Wir sagen dann auch „zustimmen“. Zustimmen heißt oft soviel wie Übereinstimmen, dasselbe urteilen, was ein anderer urteilt, oder selbst ein gefälltes Urteil prüfend betrachten, sich gegenüberstellen und es so zunächst vorstellen und dann es in gleicher Weise wie ursprünglich fällen. Das tun wir aber aufgrund der Prüfung und der darauf folgenden Billigung. Wir stimmen nicht bloß zu, sondern wir billigen. Entweder Gott ist gerecht oder Gott ist ungerecht. Entweder Gott existiert oder er existiert nicht. Sollen wir hier sagen, dass die Zustimmung auf evidenter Billigung beruht? Erfassen wir die Evidenz der „Anerkennung“3 davon, dass eines von beiden gilt? Oder billigen wir das Urteil, weil es evident ist? Ist also Evidenz ein Charakterzug des Urteils selbst? Wir sagen: Es leuchtet ein, dass eines von beiden gilt. Heißt „Es leuchtet ein“ soviel wie „Es ist evident zu billigen“? hHeißti „Es leuchtet ein, dass 3 größer als 2 ist“ hsoviel wiei „Ich sehe es ein.“ Hier scheint doch das Urteil selbst den Charakter der inneren Klarheit zu haben, den Charakter der Einsicht.4 Und dies ist es, welches der Billigung zugrunde liegt. Um dieser Klarheit willen
1 Dieser Satz ist später wie folgt verändert worden: „Es ist logisch unverträglich, dass dasselbe in demselben Sinn (?) mit Evidenz als ‚edel‘ gebilligt und missbilligt wird? Nein, aber es ist unverträglich, dass etwas den Charakter des wahren Wertes und Unwertes hat.“ – Anm. der Hrsg. 2 Das Weitere ist mangelhaft und durch meine Logischen Untersuchungen überholt. Doch noch lesenswert. 3 = Billigung. 4 Zustimmungswürdig.
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ist das Urteil evident wertvoll; das Gegenteil evident unwert, evident verwerflich. Zu billigen ist das Urteil, weil die Evidenz eben ein Wert ist, zu missbilligen, weil die negative Evidenz ein Unwert ist. Wie verhalten sich nun Evidenz und Wahrheit? Urteile ich mit positiver Evidenz, so urteile ich, wie geurteilt werden soll. Ich bin berechtigt, dem Urteil zuzustimmen. Urteilt jemand anderer dasselbe Urteil, wenn auch nicht mit Evidenz, so bin ich doch berechtigt, seinem Urteil zuzustimmen, weil ich die Evidenz habe. Aber seine Urteilsweise ist doch eine mangelhafte, da er doch keine Evidenz hat? Seine Urteilsweise ist mangelhaft, aber das Urteil, das er fällt, ist wertvoll. Indem ich es vorstelle, knüpft sich daran die Einsicht, dass dem wirklich so ist, das Urteil erhält evidente Billigung. Es ist zweierlei: das subjektive Urteilen eines anderen beurteilen, und das objektive Urteil, das er fällt, beurteilen. Das subjektive Urteilen ist vollkommen, erfährt positive Wertschätzung, Billigung, wenn es positiv evident ist. Das objektive Urteil hingegen kann gebilligt werden, auch wenn der Urteilende selbst keine Evidenz hat. Das objektive Urteil wird gebilligt als wahr, wenn es übereinstimmt (identisch ist) mit einem als positiv evident erfassten Urteil, wenn also das, was der Prüfende mit Evidenz anerkennt, dasselbe ist wie das, was der Urteilende schlechthin urteilt oder anerkennt, was er für wahr hält ohne vollkommenes Wissen, ob es wahr ist. Immerhin besteht eine Schwierigkeit. Wenn das Urteil Wert hat um der Evidenz willen (und Evidenz ein innerer Charakter des Urteils selbst ist), die sich daran knüpft, wie könnte das Urteil ohne darin liegende Evidenz Wert haben? Wenn sich die Wertung auf das Urteil um der Evidenz willen richtet, so liegt das komplexe Phänomen Evidenzurteil zugrunde. Wenn ein Urteil identisch ist mit einem solchen, das mit positiver Evidenz eingesehen ist, ist es wahr. Wahr ist das Urteil, es ist logisch billigenswert. Aber wie kommt es zu dieser Wertung? Man kann sagen: Dem, was der andere objektiv behauptet, dem objektiven Urteil, z. B. „Zwei Größen einer dritten gleich sind untereinander gleich“, stimme ich mit Evidenz zu. Das objektive Urteil ist also wahr, obschon der andere die Wahrheit nicht erkennt. Am einfachsten ist also die Sache, wenn wir die Evidenz in die Billigung ausschließlich verlegten. Ein Urteil ist wahr, wenn es billigenswert ist. Die Erfahrung davon machen wir in der evidenten Billigung. Ob der, hderi das Urteil fällt, selbst den Wert erlebt, ist
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gleichgültig. Ist jemand da, der ihn überhaupt erlebt oder zu erleben fähig ist, dann ist das Urteil wahr. Die Billigung bezieht sich ja nicht auf den subjektiven Urteilsakt, auf den Akt dieses Subjekts unter diesen Umständen, in diesem Zeitpunkt etc., sondern auf das objektive Urteil, darauf, dass Gold gelb ist, dass 2 mal 2 4 ist usw.1 Kann man nicht ebenso in der anderen Auffassung sagen, ein Urteil ist wahr, wenn es evident ist? Ob der Urteilende selbst die Evidenz erlebt, ist gleichgültig; wenn nur ein idealer Intellekt diese Evidenz erlebt und zu erleben fähig ist. Die Billigung des Wahren bezieht sich dann darauf, dass dieses selbe Urteil von einem vollkommen logischen Wesen mit Evidenz eingesehen würde. Dem läge aber doch zugrunde: „Ein Urteil ist wahr, wenn es evident ist, gleichgültig, ob der Urteilende die Evidenz erlebt.“ Also müsste das Urteil auch evident sein, wenn die Evidenz nicht erlebt würde, sonst könnte der Wert nicht bestehen, der doch in der Evidenz gründet. Aber was ist Evidenz, die nicht erlebt wird? Ist Evidenz ein positiver Charakterzug des Urteils, der nur unmerklich bleibt? Das wird man wohl nicht behaupten dürfen.2 Nach all dem scheint es mir, dass die andere Auffassung, die zunächst minder plausibel schien, doch die bessere ist.3 Wir werden sagen: Gewiss, Urteile werden nicht bloß gefällt, sondern mit evidenter Billigung gefällt. Diese evidente Billigung ist das, was wir innere Klarheit, Einsicht und dgl. nennen. Wir müssen natürlich auf diese evidente Billigung reflektieren, wenn wir das Urteil als evident bezeichnen. Wir stellen dann das Urteil objektiv gegenüber, und daran knüpft sich ein wohl geschiedener und auf es bezogener Akt der Billigung, der einen eigentümlichen Charakter hat und dem Urteil selbst den entsprechend relativen Charakter verleiht, eben den der evidenten Wahrheit, der evidenten logischen Berechtigung. Die Billigung selbst ist dann selbst eine evident berechtigte usw. Es gilt dann das evidente Urteil: Von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten
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Und die Billigung selbst als Spezies gehört zum Urteil spezifisch genommen. Aber diese Schwierigkeit löst sich, wenn man Evidenz als subjektiven Ausdruck dessen bezeichnet, was objektiv Wahrheit heißt. Diese letztere ist eine Beschaffenheit des Urteils, aber eine solche, die nicht als inneres Moment in das Urteil eingeht, also erlebt sein muss, wenn wir urteilen. 3 Nein, dieselben Schwierigkeiten kehren wieder zurück. Siehe folgende Seite. 2
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Urteilen sind nicht beide wahr und sind nicht beide falsch. In Bezug auf ein vorgelegtes Urteil gilt: Entweder ist es wahr oder falsch. Das Letztere macht aber Schwierigkeiten: Wir können doch nicht sagen, dass jedes Urteil faktisch evidente Billigung oder evidente Missbilligung findet.1 Es kommt oft vor, dass jemand ein Urteil fällt ohne evidente Billigung, hdassi wir aber die evidente Billigung dafür haben. Oder dass wir sie jetzt nicht haben und dann nachträglich gewinnen. So erkennen wir die Berechtigung von Urteilen, die zunächst als berechtigte nicht charakterisiert waren. Denken wir uns nun ein ideales Wesen, das so vollkommen ist, dass es aller Evidenz fähig ist, also jede evidente Billigung oder Missbilligung, deren irgendein Wesen je fähig war oder fähig sein wird, hat oder haben kann in freier Verfügung. Dann müssen wir uns denken, dass dieses Wesen über jeden Sachverhalt ein evidentes affirmatives oder negatives Urteil fällen kann. Denn hat es nicht Evidenz der Affirmation, so ist das Urteil objektiv nicht wahr. Niemand, der dieses Urteil fällt, fällt es mit Recht. Kann es nun auch sein, dass in Betreff des kontradiktorischen Gegenteils dasselbe gilt? Nein, denn es ist evident, dass eins von A und Nicht-A ist. Entweder Gott ist oder Gott ist nicht, das ist evident. Eins von beiden Urteilen – Gott ist gerecht, Gott ist nicht gerecht – gilt. Dieser zusammengesetzte Sachverhalt ist evident. Gilt also in Wahrheit „Gott ist gerecht“ nicht, so muss das andere objektiv wahr sein und umgekehrt. Wir können auch so sagen: Der objektive Mangel an positiver Evidenz ist äquivalent mit dem Vorhandensein negativer Evidenz und umgekehrt. Dieser Satz gilt nicht bei anderen als hbeii logischen Billigungen und Missbilligungen. Also Evidenz eines Urteils wäre eine gewisse Beziehung desselben auf den „Gegenstand“, auf Anschauung, und zwar eine innere Beschaffenheit des Urteils, ein innerer Charakter, eine innere Fülle seines psychologischen Gehalts. Nun sagt man: „Ein Urteil ist richtig“, das ist ein Werturteil: Ein Urteil ist richtig, das urteilt, was geurteilt werden soll. Im „soll“ ist ja eine Bewertung ausgesprochen. Man möchte hier antworten: Setzen wir uns die Erkenntnis als Zweck, so ist das zweckgemäße Urteilen dasjenige, welches uns Erkenntnis gibt; also ein Urteil, das selbst Erkenntnis ist oder das in Erkenntnis 1
Also kehren dieselben Schwierigkeiten wieder zurück.
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zu verwandeln wir disponiert sind, sei es, dass wir unmittelbare Evidenz herbeischaffen, indem wir fähig sind, die Sachlage zur Evidenz zu bringen, sei es, dass wir durch einen mittelbaren Prozess, durch einen Beweis Evidenz zu gewinnen vermögen. So wird das einsichtige Urteilen zum Maß der Richtigkeit, denn es ist das zum Zweck gesetzte. Man könnte hesi aber auch so versuchen: Ein Urteil ist richtig, wenn es in gewisser Weise bewertet wird, eben als richtig. In gewissen Fällen hat das Urteil den Wert wirklich, in anderen wieder nicht. Was heißt das aber, es hat den Wert wirklich? Wir urteilen nicht bloß, es hat Wert, sondern es hat ihn wirklich, wir erleben den Wert. Und so kämen wir unter Annahme, dass es eigentümliche intellektuelle Wertprädikate gibt, doch wieder dazu, dass Übereinstimmung bestehen muss zwischen dem Urteilen über Wert und dem Sein des Wertes, zwischen Vorstellen oder Meinen, dass ein Urteil wert ist, und Erleben, dass es wert ist. Dieses Erleben kann nicht etwa bedeuten das Dasein von Billigung oder Missbilligung, denn das charakterisiert eben auch das „Meinen“, das eventuell falsche Urteilen über Richtigkeit. Oder ist gesagt: Das Urteil U hat Wert, das hieße, die Billigung des Urteils sei eine richtige? Dann kämen wir aber ins Unendliche. Das Urteil U ist richtig, es hat einen Wert im intellektuellen Sinn. Dieses Urteil hat selbst wieder Wert in diesem Sinn usw. Gegen diesen Regress wäre ja nichts einzuwenden, aber was meint das Haben von Wert? Es meint doch nicht: Es wird bewertet. Bestenfalls kann es meinen, in der Bewertung stecke ein eigentümlicher Charakterzug, eben das Wertmoment. Aber soll man etwa sagen, dieses Darinstecken, das habe keine andere Bedeutung, als dass das bezügliche Urteil selbst wieder Wert habe usw.? Und wenn wir das bewertete Urteil selbst nehmen: Ist das Sein dieses Urteils nichts anderes als der Umstand, dass das Urteil, das darüber gefällt wird, Wert hat? Und bei diesem wieder in infinitum?
Nr. 2 h Wer tne hm ung und Bi lligung i1
h§ 1. Die Frage nach der Konstitution und Erfassung des Wertesi 5
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Lust kann nicht identisch sein mit Wert. Denn nicht jede Lust ist ein Gutes (auch nicht relativ), und nicht jede Unlust ein Schlechtes. Lust an der Gemeinheit ist schlecht, Unlust an der Gemeinheit ist gut. Die Lust wird dabei beurteilt als Lust an der Gemeinheit, die Unlust „gehört“ zur Gemeinheit, „stimmt zu ihr“, „so soll es sein“. Die Lust „gehört nicht“ zur Gemeinheit, sie „stimmt nicht“ mit ihr, „streitet“ in gewissem Sinn mit ihr, „so soll es nicht sein“. Liebe gehört zur Wissenschaft, zur edlen Kunst etc. So stimmt es richtig zusammen. Und ich kann das einsehen, ich kann es einsehen, dass zum Irrtum „als solchen“ Unlust gehört (abgesehen von der „Konsequenz“, von dem, was gegebenenfalls durch Erkenntnis bzw. Irrtum motiviert würde) und zur Erweiterung der Erkenntnis Lust. Ich freue mich über die gewonnene Einsicht. Nun beurteile ich: So ist es recht, diese Einsicht hat Wert. Ebenso, ich wünsche, ich strebe nach Einsicht. Dieser Wunsch, dieses Streben, beurteile ich, hat Wert. Und ich kann das wieder einsehen. Ich kann einsehen: Jede positive Gemüts tätigkeit , di e auf ei nen W ert geht, ist selbst ein W er t ( hat Wer t). Sie ist „richtig“, sie stimmt zu dem, was in der Weise des Wollens, Wünschens „intendiert“ ist. Dieses ist ein Wert, und sie „richtet sich nach dem Wert“, eben darum ist sie eine richtige. Was ist das nun, „Wert“? Sollen wir sagen: Eine Lust ist es, die zu ihrem Gegenstand gehört, die sich nach ihm richtet, oder eine Unlust, die zu ihrem Gegenstand gehört und sich also nach ihm richtet? Oder sollen wir sagen, auch die Lust muss notwendig schon nach etwas sich richten, was eben ein Wert ist, z.B. die Lust ist ein Wert, weil schon die Einsicht, auf die sie sich „richtet“, ein Wert ist? Was soll aber zuletzt den Wert bestimmen, oder wie soll er sich
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„konstituieren“? Jedenfalls, Wert ist ein Prädikat, das auf Gemütstätigkeiten zurückweist, das sich in Gemütstätigkeiten konstituiert, nur „aufgrund“ solcher gewonnen werden kann. (Ich sagte damals „in Reflexion auf“,1 das ist aber ein schlechter Ausdruck.) Man könnte hier an die „billigenden und verwerfenden“ Gemütstätigkeiten denken. Es gibt Billigungen, „in“ welchen, aufgrund derer wir mit Evidenz Werte erfassen können, in denen Werte „gegeben“ sind, die wir im evidenten Urteil dann als solche gegebenen Werte, halsi evidente Werte, in Anspruch nehmen können. Die Einsicht billige ich und sehe, sie ist ein Wert aufgrund dieses Billigens. Wie es ein Für-wert-Halten gibt, so ein Wertsein, das wir einsichtig erfassen. In gewissen Fällen des Billigens erfassen wir das einsichtige Urteil, den Wert selbst. Man könnte nun sagen: Die Billigung ist eine richtige, weil der Gegenstand eben ein werter ist. Wir sagen ebenso: Das Urteil ist ein richtiges, weil der Gegenstand eben existierender, wahrer ist. Ähnlich wie wir einen Gegenstand nur für wahr erkennen können, indem wir ihn für wahr halten, so können wir einen Gegenstand nur für gut erkennen, indem wir ihn für gut halten, billigen. In gewissen Akten des Urteilens steht der „Gegenstand“ (Sachverhalt) so da, dass wir erkennen, das Sein, die Wahrheit gehören wirklich zu ihm, er „besteht wirklich“. In gewissen Akten des Billigens steht der Gegenstand so da, „so mit Wert umkleidet“, dass wir erkennen, der Wert gehört ihm in der Tat zu, er sei nicht bloß für wert gehalten, sondern sei wert.
h§ 2.i Durchführung der Analogie zwischen intellektiver und Gemütssphäre
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In der intell ekti ven Sphäre (Urteilssphäre) haben wir so etwas wie Wahrnehmung, und näher reine Anschauung, adäquate Wahrnehmung – Wahrnehmung von Dingen und Eigenschaften, adäquate Ideation: das Schauen von Wesen und Wesenszusammenhängen. Und 30 wir haben gedankliche Urteile, wir haben die Sphäre des symbolischen, des leeren, des vagen Meinens. Endlich haben wir Anpassung: Die Gedanken richten sich nach den Wahrnehmungen und das Gesehene kommt zum reinen Ausdruck, und es entspringt ein Urteil, das 1
Siehe oben Text Nr. 1 und dort S. 263,28. – Anm. der Hrsg.
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richtig ist. Es ist nicht bloß gemeint und gesagt, sondern stimmt zu dem Gegebenen, das Gemeinte ist wirklich. Die A nal ogie der G em ütssphäre bzw. Wertsphäre würde fordern: Werte sind gegeben. Es gibt Gemütsakte, die sich auf vorgestellte Objekte so beziehen, dass diese den Wert haben bzw. Werte sind oder dass hier eine wirkliche und eigentliche Wertgebung, Wertnehmung könnten wir sagen, al s Anal ogon zur Wahrnehmung statthat. Diese wertnehmenden Akte sind dann die Unterlagen für wahrnehmende,1 nämlich für solche, welche rein schauend den Wert wahrnehmen (nicht Wert in abstracto; so wie in der Wahrnehmung das Wahrgenommene nicht das Sein in abstracto ist, sondern der Gegenstand, so auch hier: das Werte in seiner Wertheit). Im ästhetischen Gefallen und im ästhetischen Schauen und Werten lebend vollziehe ich z. B. eine Wertnehmung und vollziehe doch eo ipso eine Wahrnehmung des Kunstwerkes, sofern ich eben nicht bloß das erscheinende Ding mir ansehe (und eventuell beschreibe), sondern das Kunstwerk als solches. Die Wertnehmungen sind so wie die Wahrnehmungen adäquat und inadäquat, die Wertnehmungen enthalten teils eigentliche, teils uneigentliche Wertintentionen. Eine Wertnehmung wäre eine eigentliche, die keine unerfüllten Wertintentionen hätte.2 Fasst man Wertnehmungen als etwas auf individuelle Einzelheit Bezogenes haufi, so wie Wahrnehmung, so haben wir anzureihen die auf Allgemeines bezogenen wertschauenden Akte. Das Einzelne ist schon Wertgenommenes oder Wertzunehmendes, also nicht bloß Sein, sondern schon Wert. Das Allgemeine ist eine Wesensallgemeinheit, ein allgemein Geschautes, auf Zusammenhänge, Fundierungen von Werten oder von Gegenständen und Wertbestimmungen bezüglich.3 Denn die Sachlage ist hier komplizierter, da den Gemüts-
1 Wozu erst eine angeblich auf Wertnehmung beruhende Wahrnehmung? Ist nicht Wertnehmung Selbsterfassung des Wertes und als solche in erweitertem Sinn Wahrnehmung? Das zeigt doch gleich das Beispiel! Gegenüberstellen kann man nur Dingwahrnehmung und Wertobjekt-Wahrnehmung. Den dinglichen Intentionen entsprechen dann Wertintentionen. 2 Es wird auch hier so etwas wie immanente Wertung geben, die rein adäquat ist: etwa immanente Inhalte und auf sie bezogene Wertung. 3 Damit wird dann zusammenhängen das Gesetz, dass die Richtigkeit allgemeiner
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tätigkeiten „objektivierende Akte“ zugrunde liegen. Doch schon in der objektivierenden Sphäre haben wir ja bald Komplikationen, die ihre Schwierigkeiten haben wie die „Prädikate“ seiend, wahr etc., auch wahrscheinlich, Notwendigkeit. Weiter das „ verworrene “ 5 W er ten, das keine Anschauung von Wert bietet, das sich erfüllen kann seinem Wesen nach in einem entsprechenden Wertnehmen, Wertschauen und dadurch Erlebnis des „So ist es“ hwirdi, aber nur im Gleichnis gesprochen. Denn indem die verworrene, leere Wertung sich in eine volle verwandelt, Wertfülle annehmend, wird nicht 10 ein Sein erkannt, sondern ein Wert, Wertsein. Aber die Frage ist, inwiefern? Ist nicht der Wert auch ein Sein, ein mit sich Identisches? Der so und so vorgestellte Gegenstand erscheint als Wert, und es stellt sich heraus, er ist wirklich wert, der Wert kommt ihm zu, gehört zu ihm.
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h§ 3. Zwei Arten von Billigungeni
Kann man sagen, es gibt zwei Arten von Billigungen: 1) einem „Sachverhalt“1 die Wahrheit zubilligen, urteilend ihn als wahr anerkennen, 2) einem Sachverhalt einen Wert zubilligen, ihm fühlend den Wert zufühlen. Haben wir nicht urteilsmäßige Billigung und 20 gemütsmäßige Billigung? Man kann die Sache aber so fassen: Ein Urteil wird gebilligt, wenn es wahr ist, richtig erfolgt etc. Hier wird das Urteil eben bewertet. Das falsche Urteil ist ein Unwert, es wird missbilligt. Das ist wie jede Billigung ein Gefühlsakt, der nicht das Urteil selbst ist, sondern ein 25 darauf bezogener wertender Akt, nämlich ein Spezialfall des Billigens überhaupt.2 Andererseits ist das Werturteil „A hat einen Wert“, „Es
Wertungen Richtigkeit der Wertungen für jeden Einzelfall besagt. Oder: Werte sind eben Prädikate, ohne das könnte Wert nicht als allgemeines Prädikat konstituiert werden. 1 „Sachverhalt“ später verändert in „Urteilsverhalt“; dazu die Randbemerkung „Nicht statt Sachverhalt: Bedeutungsverhalt? Satz? Wertverhalt ebenfalls als Bedeutungsverhalt.“ – Anm. der Hrsg. 2 Es gibt aber noch ein Bewerten im uneigentlichen Sinn, ein Normieren als Abmessen, ob etwas einem Maß, einer Bedingung genügt (die eventuell gefordert und wirklich bewertet sein kann), z. B., ob ein Urteil logisch zu begründen ist.
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ist zu billigen (billigenswert)“ eben ein Urteil, und dieses Urteil ist wieder zu billigen, wenn A eben wirklich einen Wert hat. Also nicht z w ei A r ten von Bi ll i gungen, aber wir haben zwei Gattungen von Akten, objektivierende und wertende (billigende), und im Zu5 sammenhang damit zwei Gattungen idealer Prädikate: Urteilsinhalte sind wahr (Sachverhalte seiend), Gegenstände existierend, Gemütsinhalte gut (Gemütsbedeutungen, kommt das hier auch vor?) bzw. im konkreten Sinn hsindi ihre Gegenstände Güter. Nun, was hat es mit dem Bi l l i gen auf sich? Ist dieser der Werte 10 konstituierende Akt und etwa etwas Besonderes neben Gefallensakten, neben Wünschen, Wollungen? Und sie selbst hsindi also nicht wertkonstituierend?
h§ 4. Der Doppelsinn des Bewertensi1 Im edlen Wünschen und Wollen zum Beispiel, im edlen Gefallen, in der edlen Trauer läge also noch nicht der Wert, im unedlen Wünschen noch nicht der Unwert? Vielmehr bedürfte es erst des Gefühls der Billigung oder Missbilligung? Wert und Unwert lägen in diesen Gemütsakten also nur insofern, als sie mögliche Fundamente gewisser billigender Akte wären. 20 Ist es aber nicht wie beim Urteil? Das Urteil mag richtig sein, aber ich muss erst nachsehen, ob es das ist, ob es Gründe hat, ob es begründet und damit evident gemacht werden kann. Ebenso „liegt“ im edlen Wollen der Wert in dem Sinn, dass es im Sinn eben eines richtigen Wollens zur „begründenden“ Erfüllung gebracht werden 25 kann, und davon muss ich mich erst überzeugen, wenn ich das Wollen als edles mit Recht bezeichnen, es als solches soll „billigen“ können, „bewerten“ können. Das Bewerten hat einen Doppelsinn. Urteilend bewerte ich etwas, ob es einer „Norm“ entspricht, messe ich etwas an einem Maß (wie wir ja sogar sagen: Wie groß bewertest Du diese 30 Stange?). So bewerte ich Urteile nach ihrer Angemessenheit an die Wahrheit oder nach ihrer Begründbarkeit. Wiederum bewerte ich Gemütsakte nach ihrer Angemessenheit an Gemütsnormen, an die 15
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Bedingungen der „Richtigkeit“ oder der Erfüllbarkeit. Ich kann auch sagen, ich bewerte z. B. ein Wollen nach seinem „Wert“. Aber dieser Wert ist eben das Maß und ist hier Wert im zweiten Sinn. Beim Bewerten im ersten Sinn nehme ich ein Maß und gehe der Angemessenheit an dasselbe oder der Messbarkeit nach, indem ich aus irgendwelchen Gründen Wert darauf lege, dass es diese Messbarkeit besitzt. Aber auf diese Gründe und dieses Werten kommt es dabei nicht weiter an. Ich kann mich auch so stellen, als ob ich hier wertete, während ich in Wahrheit dem gar keinen Wert beimesse. So kommt es für das Abmessen der Richtigkeit nicht darauf an, ob das Maß selbst in einem echten Sinn einen Wert hat. Im zweiten Sinn ist aber gerade das in Frage. (Wenn ich mich recht entsinne, habe ich darüber in den Prolegomena gesprochen.) Wie ist es nun beim evidenten Urteil und dem Analogon, dem „evidenten“ Wollen, d. h. dem Wollen, das sich nicht blind auf sein Ziel bezieht, sondern so, dass es der reinsten Erfüllung seiner Wertintentionen gewiss ist (soweit dergleichen überhaupt möglich histi), einem Wollen, das sich das Willensziel nicht nur überhaupt vorstellt, sondern auch seine Werte mitvorstellt in vollster Klarheit? Nun, auch da ist es zweierlei: Evidenz haben und sich davon überzeugen, ob die Evidenz wirklich Evidenz ist, ob alle Intentionen wirklich erfüllt und erfüllbar sind, ob in der komplexen Gesamtintention nichts von Unerfüllbarem bzw. Unerfülltem, nichts von möglichem Widerstreit etc. übrigbleibt. Also eine gewisse Reflexion ist nötig, ein Normieren, ein Analysieren und Schritt für Schritt schauendes Konstatieren. Also auch Evidenz fordert „Bewertung“. Das Beispiel der Grausamkeit. Ich erfahre von einer Grausamkeit, ich vollziehe sie am Ende selbst. Sie ist ein Unwert. Konstituiert sich in ihr ein Unwert? Freude an den Qualen eines Lebewesens. Nun, um das Urteil zu fällen (das ist schlecht, das ist ein Unwert, zu den Qualen eines Lebewesens „gehört“ nicht Freude, sondern Mitleid, nicht ihre Förderung, sondern ihre Milderung und Beseitigung), muss ich diese Ungehörigkeit „empfinden“. Es muss mir missfallen. Aber Missfallen überhaupt ist nicht Gegebenheit von Unwert (z. B. Missfallen an dem Wohlsein eines anderen), Gefallen überhaupt nicht Wertempfinden, Wertnehmen (wie grausame Freude). Sagt man aber, das Missfallen tue es nicht, sondern Missbilligen, und ebenso sei der Wert im Billigen gegeben, so ist das nur ein anderes Wort (wie ja faktisch Schlechtes
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gebilligt werden kann etc.). Zum Leid des Anderen „gehört evidenterweise“ Mitleid, und damit streitet Mitfreude, also Grausamkeit. Und doch ist das kein Wesenszusammenhang gewöhnlicher Art, so wie zu einem S ein P gehört und ein damit unverträgliches P’ mit P streitet. Sonst könnte ja die Grausamkeit nicht eintreten, der man doch die Anschauung vom Leid des Anderen absprechen kann. Hier ist also das Problem. Ist1 diese Auffassung begründet, so scheint es, dass wir in der Tat zu scheiden haben U rtei l e und Beurteilungen; die letzteren ermöglichen die Normierung. Ich kann aber gar nicht sagen, dass ich mir schon klar bin. Beim Urteil haben wir die Anmessung an die „Anschauung“, haben wir die Evidenz im Sinn der Adäquation. Wir haben hier also inhaltliche Besonderheiten, die der Billigung zugrunde liegen. Die „Erfüllung“ ist doch nicht selbst Billigung; die Eigenschaft einer Meinung, erfüllbar zu sein, kann uns die Meinung „billigen“ lassen, wir legen auf solche Meinungen Wert und nennen andere wertlos, aber das Billigen konstituiert nicht die Wahrheit und das Sein selbst. Also Urteilen ist Urteilen, Beurteilen ist aber kein Urteilen neuer Art, sondern ein Schätzen und Urteilen aufgrund des Schätzens. Wie nun in der Gemütssphäre? Da bedarf es eben der Analysen. Zunächst hinsichtlich der Über- und Unterordnung, der Einfachheit und Komplexion. Ist nicht jedes Gemütsphänomen in gewisser Weise ein Für-wert-Halten? Gibt es nicht zu jeder Gattung von Gemütsphänomenen „Wertnehmungen“? Und besteht das Schätzen nicht einerseits in dem Erkennen des Wertes, in der Erkenntnis, dass zu solchen Sachen der und der Wertcharakter wesentlich gehört etc.? Und fürs Zweite das Abwägen des relativen Gewichts? Das Wort Gewicht erinnert an die Vermutungssphäre. Im Vermuten selbst, ist da das „Es dürfte sein“ erfasst? Eventuell vollzieht sich das „Annehmen“ (Analogon von Wahrnehmen), gleichsam ein Sehen. Und dann relative „Wert“-Schätzungen des Gewichts. Das schlösse nicht aus, dass sich an einen als gut erkannten Willen wieder ein berechtigtes Gefallen knüpft, so wie an ein gut gelungenes Urteilen (Beweisen, Theoretisieren) ein Gefallen, ein „Anerkennen“: Schön geurteilt, das war vortrefflich. Aber das wären doch sekundäre Schätzungen. 1
Zusätze (1907).
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hDas wer tkon sti tui erende Gefühl als zum Gegenst and gehörend es, i n seinem Wesen gr ündendes G efühl . D i e Klarheit des Gefühl s al s Anal ogon der Evidenz i1 Der Eine hat Lust an A, der Andere Unlust, der Dritte verhält sich indifferent. Soll sich aber an A eine Lust anknüpfen etc., was billigen wir oder missbilligen wir in solchen Fällen? Die Lust als Lust am A, oder A als Objekt dieser Lust?2 Ebenso billigen oder missbilligen wir ein Begehren oder Wollen als Begehren oder Wollen an dem oder jenem, sei es überhaupt, sei es unter den so und so gearteten Umständen. Die Lust ist eine gute. Auch das Lustobjekt nennen wir ein gutes. Die Speise ist gut. Wird die Speise gebilligt? Die Lust ist eine gute, das heißt, es ist r ic hti g, sich an solcher Speise zu freuen,3 diese Speise soll schmecken, „muss“ jedem schmecken. Das heißt doch nicht: „Der Gedanke, dass diese Speise wohlschmecke, ist ein lustvoller.“ Aber liegt nicht wesentlich ein Billigen, ein gewisses eigenartiges Gefallen vor? Der Geschmack „gehört“ zur Speise. Dass diese Speise wohlschmecke, das ist einmal eine Tatsache. Im Allgemeinen wenigstens schmeckt sie. Mir schmeckt sie. Dass man sich am Wohlgeschmack der Speise freue, das ist zu billigen: überhaupt und allgemein. Aber nicht ist, dass diese Speise wohlschmecke, zu billigen: die Tatsache. Die Billigung richtet sich nicht auf die Speise und ihren Geschmack, sondern auf die Freude daran, als solche. Lust ist ein subjektiver Ausdruck, lustvoll, gut ein objektiver. Die Speise erregt, sagen wir auch, Lust, sie ist lustvoll, sie ist gut. Das Prädikat wird objektiv angeknüpft in der Weise eines sonstigen Prädikats, etwa „rot“ und „rund“. Das ist offenbar durchaus natürlich.
1 Abschrift hwohl um 1909i eines eng beschriebenen Doppelblattes auf altem vergilbtem Briefpapier. Ich glaube aber nicht, dass es älter ist als h18i97 (oder h18i96?). 2 Oder: die Freude an solcher Lust? Lust im einen Sinn: „sinnliche“ Lust, Lustempfindung. Andererseits: die Freude. 3 Genauer, sich am Wohlgeschmack solcher Speise zu freuen, an der sinnlichen Lust, die zu ihr als Wohlgeschmack gehört?
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Indem sich Lust an das Objekt „knüpft“, erscheint es als Träger eines gewissen Prädikats; die „Lust“ erscheint als Beschaffenheit des Objekts. Erst der Widerspruch führt dahin, das Prädikat zu subjektivieren (ähnlich auch bei Farbe und anderen „theoretischen“ Prädikaten). Mir erregt die Speise Lust (mir erscheint sie als „gut“, oder wie man in Niederdeutschland sagt „schön“), dem anderen erregt sie Unlust; mir erscheint das Objekt rötlich, der andere kann das nicht finden: Ihm erscheint es grau. Wenn wir nun objektiv urteilen „Die Speise ist gut“, so werden wir naiverweise das Urteil des anderen „Die Speise ist eine gute“ billigen, und urteilt er, sie sei schlecht, es missbilligen. Dieses Billigen oder Missbilligen ist aber hier ein bloß logisches. Wir werden sagen – solange wir das Prädikat als „objektives“ nehmen –, er urteile wahr bzw. falsch. Sowie wir aber dahinterkommen (oder es bedenken), dass wirklich in Beziehung auf dieselbe Speise1 verschiedene Stellungnahme möglich ist, dass wir selbst einmal so und einmal so uns verhalten, nämlich einmal schmeckt sie uns, das andere Mal nicht, so merken wir, dass sich das Urteil als ein objektives nicht aufrechterhalten lässt, bzw. dass sich das Prädikat nicht als ein objektives fassen lässt, da wir sonst in Widersprüche verfallen. Wir müssen es also subjektivieren, d. h. seinen objektiven Wert ändern, es in Relation zum schmeckenden und demgemäß „wertenden“ (Gefallen habenden) Subjekt bringen (mit dieser Relation, als solches relatives Prädikat, ist es dann wieder „objektiv“). Andererseits: Wenn der andere anders in seinen Gefühlen reagiert, so missbilligen wir sein Verhalten; wenn er ebenso reagiert, so billigen wir es, wir sympathisieren damit. Es gefällt uns, wenn der andere sich freut, wo wir uns freuen (geteilte Freude – doppelte Freude). Was die Gründe des Widerstreits anlangt, so haben wir zu beachten: Das Gefallen an der Speise ist Gefallen am Geschmack der Speise, und a) dieser Geschmack kann ein verschiedener, demgemäß die Lustempfindung eine verschiedene sein, und demgemäß wieder
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Dieselbe Speise: im Wesentlichen dieselbe. Und einmal der und das andere Mal jener Geschmack, je nach der „Stimmung“ unseres Organismus. Und dementsprechend einmal Gefallen, das andere Mal Missfallen. Sinnliche Lustempfindung – Gefallen.
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kann das Wohlgefallen wechseln. b) Ferner: Der Geschmack kann im Wesen derselbe sein, aber die Geschmacksanalyse kann eine verschiedene sein, die Fähigkeit, Unterscheidungen zu machen, mit denen Komplexionen der fundierten sinnlichen Gefühlsempfindungen zusammenhängen. Es kommt auch auf die Auffassung, Einordnung, Rhythmisierung der unterschiedenen hEmpfindungeni an: ähnlich wie bei der Tonfolge. Eine „feine“ Speise ist für den Gourmet eine Symphonie, in Geschmackselementen und Gefühlsempfindungselementen fundiert, die er herausanalysiert und in bestimmter Weise ordnet, rhythmisiert. Der Bauer kann hier nicht unterscheiden, für ihn fließt alles in ein Chaos zusammen, und demgemäß ist sein Geschmacksurteil nicht in gleicher Weise fundiert. Daher also: Je größer die Erziehung des „Geschmackssinnes“ (was ein unrichtiger Ausdruck ist), umso größer die Annäherung an Einheit des Urteils, an Übereinstimmung. Nun kann man sich hierbei auch nach Autorität richten. Eben weil man selbst anerkennt, dass mit der Verfeinerung des Sinnes und seines Urteilslebens, und überhaupt mit der Verfeinerung der „Kultur“ Genüsse wie Einsichten zugänglich werden, die vordem nicht da waren, erkennt man auch fein erzogene Menschen als Autorität an in der oder jener Hinsicht. Ehe man selbst so und so scheidet, rhythmisiert und in eigentlicher Weise schätzt (Selbsteinsicht hat), selbst ursprünglich und eigentlich fundiertes Urteil hat aufgrund der wirklich gegebenen Daten der Empfindung und der Gefühlsharmonie, richtet man sich nach dem, dem man diese Fähigkeit zumutet. Man will an dem Gefallen empfinden, das er für gefällig, schön, gut erklärt. Man empfindet sich ein, man redet sich das Gefühl ein, und man findet dann wirklich Gefallen: ein uneigentliches, ein bloß anempfundenes Gefallen, nicht ein „wirklich begründetes“, d. h. im eigenen Erleben begründetes, als begründet sich ausweisendes, ein „evidentes“ (als richtig charakterisiertes). So richtet man sich auch nach Mode, nach dem Geschmack einer Klasse, nach dem französischen Geschmack. Die anempfundenen Gefühle können dann sehr feste werden, sich immer mehr steigern. Sie sind wirkliche Gefühle, aber nicht wohlfundierte. Sie können sich aber z. B. in der Selbsterziehung der Kunst nach dem Urteil wirklicher, „sachverständiger“ Kunstkenner auch in echte, „richtig charakterisierte“, wohlfundierte Gefühle (Wertschätzung und dann Werturteil) verwandeln, indem
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eben in der Erziehung des Geschmacks die Vorbedingungen für die „eigentlich“ zugehörige und in seiner Zugehörigkeit erkannte Wertschätzung geschaffen werden. Haben wir nun einmal, wie immer es damit stehen mag, an etwas Gefallen und halten wir dieses Gefallen im einen oder anderen Sinn für richtig (also es selbst wertschätzend) oder auch ganz naiv, ohne über das Gefallen zu urteilen, haben wir überhaupt unser Gefallen, das wir aber am Gegenstand objektivieren in dem „Das ist gefällig, das ist schön und gut“,1 so erscheint uns die Freude an diesem Gefallen, an dieser „Lust“, in weiterer Folge der Wunsch, uns solche „Lust“ zu verschaffen, der darauf gerichtete Wille als berechtigt, das Gegenteil für unberechtigt, unvernünftig; oder auch: die Freude an einem solchen Schönen und Guten, der Wunsch, solch Gutes uns zu verschaffen, der Wille, es zu realisieren. Das alles an und für sich, das heißt, solange nicht Rücksicht auf etwaige Folgen und dgl. in Frage ist. Was ist da beurteilt? Ich kann urteilen und beurteile zunächst: Das ist gut. Und demgemäß für jedermann: Das Gefallen an solchem ist richtig, sich an solchem zu freuen, ist richtig. Es wünschen, es wollen, ist richtig. Was da beurteilt ist, ist nicht sinnliche Lustempfindung, sondern Gefallen. Das Geschmacksgefallen ist ebenso ein Gefallen wie das niedere und höhere Gefallen am Gesang, an Melodie, an der hohen Tonkunst. Der Wunsch richtet sich auf Sein oder Realisierung des Gefälligen, ebenso Wille auf Realisierung. Natürlich kann ich auch darüber mich freuen, daran Gefallen haben, dass mir dieses oder jenes gefällt, z. B., dass mir diese Symphonie gefällt, sofern ich eben damit den richtigen Geschmack ausweise; und habe ich solches Gefallen nicht, so kann ich wünschen, es zu haben, ich suche nach Erziehung des Geschmacks, ich glaube, dass ein solches Gefallen das richtige ist, und ich möchte es mir zueignen. Wir haben also zunächst „an einer Sache Gefallen“. An was für einer Sache? Nun, an einer Speisenharmonie, an einem „Kochkunstwerk“, an einem Tonkunstwerk, an einer „schönen Natur“, an einem schönen Menschenkind. Aber auch an anderem. An einem scharf-
1 Besser und einfacher: Haben wir ein Gefallen und setzen wir nur voraus, dass wir kein Bewusstsein haben von seiner etwaigen Unrichtigkeit.
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sinnigen Beweis, an der Erkenntnis, an einer wohl begründeten Gefallensweise (Gefühlsevidenz) usw. Ferner: Ein Wunsch gefällt, ich billige ihn, er ist Wunsch, der das Sein eines „Guten“ wünscht, also von etwas, das gefällig ist. Ebenso der Wille etc. Also da haben wir Akte, die auf „Gutes“ gerichtet sind. Wir haben natürlich zu unterscheiden: das aktuelle Gefallen an einem Seienden, die Freude, und die Vorstellung der betreffenden Sache und darauf bezogen das modifizierte Gefallen. Die bloß vorgestellte Sache ist eine Sache, die erfreulich wäre, wenn sie eben wäre. Nun die Wesenssachlage: Zu einer solchen Sache als so geartet gehört ein Gefallen, und es wird zur aktuellen Freude, wenn die Sache wirklich ist, es wird zur Quasi-Freude (Modifikation), wenn ich mir denke, annehme, dass sie ist. Und nehme ich nicht an, lebe ich bloß in der Vorstellung, ohne Sein oder Nichtsein in Betracht zu ziehen, so gehört zu ihr auch eine aktuelle Freude (nicht die Einfühlungsfreude, die zur vermeinten Sache gehört, sondern eine Freude, die zur Vorstellung gehört), eine Vorstellungsfreude, die ästhetische Freude oder etwas Allgemeineres (καλÞν). Wunsch und Wille setzen voraus, dass der Gegenstand als guter dasteht, das ist, es muss seine Vorstellung eine Quasi-Freude fundieren (nicht eine ästhetische). Der Wunsch ist berechtigt, wenn diese Quasi-Freude zu dem Gegenstand in der Tat „gehört“.1 Dann eben „gehört“ der Wunsch zu diesem Sein oder hzumi Realisieren des Gegenstandes; der Gegenstand ist gut, darum ist es „gut“, dass er sei, es ist wünschenswert, dass er sei. Was macht den Gegenstand zum „Guten“? Nicht das Gefallen überhaupt, sondern dass er gefallenswert sei, dass das Gefallen zu ihm gehöre – und zu so einem überhaupt –, dass es „vernünftiges Gefallen“ sei. Was macht dann den Wunsch, den Willen, die Freude etc. zu einem vernünftigen Wunsch, Willen? Dass er zu seinem Gegenstand als einem wahrhaft Guten gehöre. Der Wunsch selbst ist als Wunsch eines wahrhaft Guten ein gefallenswerter, ein guter. Wiederum: Das Gefallen gehört zu diesem und zu einem so gearteten Wunsch, Willen überhaupt.
1 Aber gehört dann nicht zum vorgestellten Gegenstand als solchen eben die ästhetische Freude, so dass beides übereinkommt?
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Also was ist das: Ich werte den Gegenstand, ich werte dann das Gefallen am Gegenstand, ich werte den Wunsch, die Freude, den Willen auf das Sein dieses Gegenstandes bezogen oder das ästhetische Gefallen, das für hdasi Sein desselben gleichgültig, doch auf seine Vorstellung bezogen ist? Ich werte den Gegenstand: Ich halte ihn für gut. Er gefällt mir nicht nur oder gefällt anderen nicht nur, er ist gefallenswert: Das Gefallen „gehört“ zu ihm. Ebenso: Ich wünsche nicht bloß dieses oder jenes, sondern es ist wünschenswert, der Wunsch „gehört“ zu solchem. Und wieder: Der Wunsch ist ein guter, ein Gefallen gehört zu ihm (weil er richtig ist: Zum Richtigen als solchen „gehört“ Gefallen). Di eses „ G ehören “, das ist also jetzt das Pr oblem. Nicht das macht also die Wertschätzung aus, dass sich überhaupt ein gewisses „Gefühl“, eine Lust oder ein Gefallen (oder ein ganz spezifisch eigenartiges Billigen), an eine Sache knüpft und darunter auch an Gemütsakte knüpft, die „wertgeschätzt“ werden. „Gefühle“ sind freilich immer im Spiel, seien es impressionale Gefühle, seien es Phantasiegefühle. Aber so darf man nimmer die Sache fassen, als ob es unter dem Titel „Wertgefühle“ eine eigene Sorte von Gefühlheni gibt, deren Anknüpfung Wert macht. Wir haben den Unterschied zwischen „Es scheint so“ und „Es ist wirklich so“, was überall und so auch hier zur Idee der Objektivität gehört. Und wieder gehören zur Objektivität Wesen und Wesensgesetze. Das Gefühl, die Fühlsweise, der Gemütsakt, gehört wesentlich zu dem oder jenem Gegenständlichen, zu den oder jenen schon vorausgesetzten Gemütsakten: Wesentlich, das heißt, zur Idee eines A „gehört“ das Gefühl, nicht individuell, nicht empirisch allgemein, sondern wesentlich. Die Freude über eine gewonnene wissenschaftliche Einsicht ist „berechtigt“, Freude über Gewinn wissenschaftlicher Einsicht ist ein Gut (allgemein gesprochen), sie ist ein Wünschenswertes. Zu der Vorstellung solcher Freude gehört gesetzmäßig, wesentlich der Wunsch und in sich betrachtet der Wille: so eins mit der Vorstellung, dass er gerichtet ist auf diese vorgestellte Freude. Der Wunsch nach Freuden solcher Art ist generell richtig, das heißt nicht einfach, er wird gebilligt. Er ist billigenswert? Das heißt aber wieder, die Billigung ist eine richtige. Macht diese Richtigkeit wieder eine Billigung, die aber selbst wieder richtig sein muss etc.? Oder hat die Billigung, die sich anknüpft, ein spezifisches „Wertmoment“
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gleich in sich?1 Nun, dann können wir wieder fragen, warum hat nicht schon das einfache Gefallen an einer Musik oder das Wünschen einer Sache, das ein Wünschenswertes wünscht, das Wertmoment in sich? Was ist das, ein Wertmoment? Steckt das in dem Akt, der „richtig charakterisiert“ ist, in dem ein Gutes nicht bloß für gut gehalten hwirdi, sondern als gut dasteht, darin? Steckt im Erfreulichen (wahrhaft Erfreulichen, im Wünschenswerten etc.) das Wertmoment, oder im betreffenden Sich-Freuen, Wünschen etc.? Nein. Im Gegenstand stecken gegenständliche Prädikate, in ihm steckt kein Wert, so wenig in ihm „Sein“ steckt. Im Akt aber steckt nicht irgendein Kennzeichen, eine Marke „Wert“: Das erklärt nicht das Gegenüber von Fürwerthalten und Wertsein, von richtig und unrichtig Werten, von Wertüberzeugung und Werteinsicht. Fehlt das wertanzeigende Moment, so fehlt nicht der Wert, sondern nur die Einsicht in den Wert. Analogie mit dem intellektiven Gebiet. Anschauungsleere Urteile, unvollkommen mit Anschauung erfüllt, und vollkommene, auf Anschauung gegründete Urteile; Urteile aufgrund der Anschauung, der Wahrnehmung im weiteren Sinn, die den Sachverhalt selbst gibt. Im ersteren Fall glaube ich, dass die Sache sich so und so verhält, aber ich sehe es nicht. Das Urteil ist vollzogen, aber „in“ ihm ist der Gegenstand nicht gegeben. Ebenso bei Wertverhalten. Es gibt ein Werten, das bloßes Wertvermeinen ist, d. h. nicht ein Urteilen über Wert, welches begleitend da sein kann, aber nicht da sein muss, sondern z. B. etwa einfach ein Gefallen an der Sache, nichts weiter. Und andererseits kann der vorhin nur „vermeinte“ Wertverhalt ein „gegebener“ sein. Wieder ein Gefallen an derselben Sache, aber so, dass dieses Gefallen eben seine „Berechtigung“ in sich trägt. Aber dabei darf nicht an irgendeinen zufälligen Charakter oder an einen beliebigen Index gedacht werden, ebenso wenig wie im Fall des Urteils. Hier ist die Sache insofern komplizierter, als im eigentlichen Sinn ein Fürwerthalten schon ein Vorstellen und Beurteilen ist, und ebenso der Ausdruck „Gegebenheit“ des Wertes selbst abermals auf ein Urteilen, hier auf ein Wahrnehmen, auf ein intuitives Erfassen und dann haufi ein adäquates Aussagen hinweist. 1 „Richtig charakterisierte Gemütstätigkeit“, sagt B r e n t a n o. Besteht die in einem Wertmoment? Eine Marke „Wert“.
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Im Fall des Urteils, eines beliebigen Urteils (nicht gerade auf Werte gerichtet), haben wir den Gegensatz zwischen symbolischem und intuitiv begründetem, einsichtigem, adäquatem Urteil. Vom letzteren heißt es, es sei in ihm die Sache selbstgegeben. Auch hier müssen wir hbeiachten: Dass sie gegeben ist, dass sie nicht „bloß vermeint“ ist, das tritt erst hervor in einem schauenden Analysieren und Konstatieren, in „Wahrnehmungen“ und Urteilen, die auf die vorgegebenen Urteile allererst bezogen sind: Reflexion. Die Eigenart nun des evidenten Urteils liegt in ihm selbst, nicht als ein beliebiger Index, sondern als Erfüllung in der „Anschauung“ oder als Stimmen der Meinung mit der Anschauung, die genau gibt, was da gemeint ist. Und besteht das, so sehen wir ein, das Urteil als solches stimmt zur Anschauung als solcher, wesenhaft. Und so ist es eine Eigenart des Urteils, dass es erfüllbar ist, dass es die ideale Möglichkeit der Adäquation hat.1 Ähnlich wird es sich bei Werturteilen und zunächst bei Wertungen vor dem Urteil verhalten. Auch hier liegt die Objektivität in der Idealität. Die Lust an der Erkenntnis. Denke ich mir eine Erkenntnis wahrhaft gegeben, stelle ich sie anschaulich vor, nun knüpft sich „Lust“ daran, d. i. ein Gefallen. Dem Wesen nach gehört solches Gefallen zur Einsicht. Solches? Was heißt das? Nun, es gibt ein „anempfundenes“ Gefallen, das zum Gegenstand an und für sich nicht gehört, mit ihm nicht wahrhaft eins ist. Dieses anempfundene, anhängende Gefallen „bezieht“ sich auf den Gegenstand und doch „gründet“ es nicht in ihm, in seinem Wesen. So wie zu der Anschauung eines Gegenstandes die und die intellektive Fassung und Setzung „gehört“ bzw. zu der intellektiven Sachlage – dass ich das und das weiß und jenes nicht weiß – „die“ Vermutung gehört, so gehört „das“ Gefallen zu dem Gegenstand bzw. zu der Wahrnehmung des Gegenstandes, zur Vorstellung usw. Es ist eine innere Einheit: Im Wesen der betreffenden Unterlage der Wahrnehmung etc. gründet das Gefühl, und objektiv: Der Gegenstand „fordert“ das Wertprädikat. Das wertkonstituierende Gefühl hat Konvenienz mit der Sache, es ist kein vages
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„Das“ Urteil stimmt. (Das Urteil ist hier spezifisch verstanden, nicht als ein konkret bestimmter Akt. Immer Idee. Die Rede von Erfüllbarkeit ist danach wohl zu verstehen.)
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Gefühl (Analogon des verworrenen Urteils), sondern ein klares, in der „Sache“ gründendes Gefühl. War zunächst ein „vages“ Gefühl vorhanden, so „erfüllt“ sich diese bloße Gefühlsmeinung, wenn sie übergeht in das entsprechende klare Gefühl, das sich der Sache selbst „anmisst“. Die Fühlsweise gewinnt Kraft, sie bekräftigt sich, sie gewinnt Fülle der Berechtigung. Ich habe an den Gegenstand vielleicht vage gedacht und ihn in verworrener Weise gewertet. Ich bringe mir ihn in der rechten Weise zur Anschauung, und nun baut sich darauf das Gefühl in neuer Weise, zu dem Gegenstand gehörig, in seinem Wesen gründend, von ihm gefordert, zu ihm stimmend. Und nun „stimmt“ das verworrene mit dem klaren Gefühl und bemächtigt sich seines „Rechtes“. Andererseits, das Gefühl ist ohne Wert, ihm entspricht nicht ein Wert, es ist unberechtigt, wenn die „Klärung“ ausweist, dass es zu dieser Sache nicht gehört:1 Doch freilich, es kann dann noch relativ berechtigt sein durch Wertbeziehungen, Wertübertragungen. Nun, dann gehört es zu dem Zusammenhang, wenn die Voraussetzung eben, auf die es gründet, besteht oder noch besteht; sonst ist es überhaupt nicht zu rechtfertigen. Es ist ein falsches Gefühl. Also wieder: Der Gemütsakt ist (und jeder Gemütsakt ist) ein „Wertvermeinen“, ein Fürwerthalten. Ihm „entspricht“ ein wirklicher Wert, wenn die ideale Möglichkeit besteht, dass auf dieselbe Sachlage bezogen ein entsprechendes klares und, was damit schon gesagt ist, in ihr fundiertes, zu ihr gehöriges Gefühl erlebt wird. Und das sind nicht empirische, sondern ideale Verhältnisse. Man darf also nicht einwenden: Mag sein, dass wir oder einige unter uns so konstituiert sind, dass die Möglichkeit besteht, dass wir mit gewissen Gegenständen bzw. mit gewissen Anschauungen, Vorstellungen etc. klare Gefühle verbinden und so „Werte erleben“, aber ebenso gut könnten solche Wertgefühle auch mit anderen Vorstellungen und entgegengesetzten verbunden sein, oder es könnten mit denselben Gegenständlichkeiten verbunden sein entsprechende negative Wertgefühle. Antwort: Wir haben die Evidenz (im Urteilssinn), dass das wertkonstituierende, wertausweisende Gefühl, das
1 Besser: zur Sache an und für sich gehören, zur Sache durch Übertragung gehören, zur Sache gar nicht gehören.
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klare, nicht mit beliebigen Gegenständen verträglich ist und dass, wenn es mit einem Gegenstand eins ist, diese Einigkeit etwas im Wesen des Gegenstandes Gründendes ist (bzw. im Wesen des sich anpassenden Anschauens, Vorstellens etc.). Wir haben weiter die Evidenz, dass, wenn auf einer Unterlage (die zum Wesen des Gefühls gehört) ein klares Gefühl sich gründet, mit ihr ein klares entgegengesetztes unverträglich ist, dass ein klares Gefühl der und der Spezies mit gewissen Unterlagen verträglich, mit anderen unverträglich ist etc. Und ebenso sind die Verhältnisse zwischen anempfundenem, anhängendem Gefühl und entsprechendem klaren wesensgesetzlich geregelt: dass jedes Gefühl sein Recht oder Unrecht hat, dass, wenn eines sein Recht hat, das Negativum kein Recht hat, sondern Unrecht usw. Wieder ist das Analogon der Evidenz, die Klarheit des Gefühls, nicht etwa ein Charakter, der als Index dem Gefühl (dem sonst unveränderten) anhaftet, sowenig die anschauliche Vorstellung sich von der unanschaulichen (die klare von der verworrenen) bloß dadurch unterschiede, dass eine beiderseits gleiche Vorstellung, phänomenologisch gleich, noch einen anhängenden Index trüge. Zu dem gegebenen sinnlichen Material „gehört“ die und die Apperzeption, die und die kategoriale Fassung etc. als ideale Möglichkeit. Und ebenso gehört zu dem so und so Gefassten die und die „Gefühlsapperzeption“, die und die „Gemütsformung“ und diese so und eigentlich vollzogene Gemütsapperzeption. Das ist „Klarheit“ des Gefühls und das Maß der Berechtigung. In symbolischer Weise kann ich dieselbe Gegenständlichkeit vorstellen: Die Vorstellung weist sich in Gegenüberstellung zur klaren, Evidenz gebenden als „dasselbe“ vorstellend aus: Einheit der Identifizierung, der urteilenden Identifizierung. Und dabei ist auch schlichte Deckung möglich: Die symbolische geht in die klare über, eint sich mit ihr, nimmt Fülle an. Auch das vage Gefühl kann sich mit dem „entsprechenden“ klaren einen. Gefühle sind keine Vorstellungen, also die Einheit ist nicht Einheit der Identifizierung und der Erfüllung im Sinn der identifizierenden, wahrmachenden. Berechtigend ist die Klarheit, sie weist das Gefühl als „zugehörig“ zu der Sachlage aus. Im Übrigen geht in all die Wesenszusammenhänge niemals das jeweilige Gefühl in seiner Konkretion und in der Mannigfaltigkeit seiner wechselnden Momente ein, sondern nur gewisse Momente:
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die Freude an der Einsicht etc. Das braucht wohl kaum gesagt zu werden. Ebenso ja auch: Das Urteil des Inhalts „S ist P“ ist berechtigt etc. Nähere Betrachtung erfordert hier noch manches, besonders ist zu 5 achten auf die „Zugehörigkeit des Gefühls zu den Sachen“ oder hdiei Forderung der Sachen, „Gründung“ des Gefühls in den Sachen etc. und Begründung des Gefühls in der Vorstellungsunterlage, also in den Anschauungen etc. Klarstellung dessen, was phänomenologisch ist, und dessen, was den Gegenständen zugemessen wird, und warum 10 etc.1
1 Nota. Das war nicht eine bloße Abschrift heines älteren Textesi, sondern vielfach Besserung und in einigem Vertiefung.
Nr. 4 hEr fül lt s ic h der Wunsch i n der Freude? Das doppelt e G eri chtetsei n des Wunsches auf Bef ri edi gung und auf ein wahrhaft Gutes . Der D oppel si nn von Erfüllung: Aus wert ung und Befri edigung i1 2
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K ann man nun et wa das Verhäl tni s zwischen Freude und W uns c h3 par all eli si eren m i t dem Verhältnis von Erfüllung ( er füllendem Akt ) u nd Intenti on auf objektivierendem Gebiet?4 Bei den objektivierenden Akten ist ein evidentmachender Akt (wie die Wahrnehmung, kathegorialei Intuition) – soweit er evidentmachender ist – Erfüllung der Intention, der Intention Fülle, Sättigung verleihend im Übergangserlebnis des Sich-Erfüllens. Das Erfüllende ist nicht Intention. Freilich, die Wahrnehmung, soweit sie inadäquat ist, soweit sie unerfüllte, ungesättigte intentionale Strahlen enthält, ist selbst noch „Intention“, sättigungsbedürftig. Aber soweit sie im „eigentlichen“ Sinn Wahrnehmung ist, soweit sie volle, satte Intentionen enthält, ist sie nicht bloße Intention. Kann man nun so auch die Freude auffassen?5 Kann man sagen, Freude ist immer, ist ihrem Wesen nach „erfüllender Akt“, satter Akt, voller, zur Erfüllungsfunktion berufen (als Analogon der Evidentmachung), aber hinsichtlich der Sättigung bestehen noch Grade (Grade der Fülle), nämlich insofern, als Freude, wirkliche Freude, mehr oder minder reine Freude sein kann, noch unerfüllte Komponenten in sich schließend? Analog wie die inadäquate Wahrnehmung? Und ist danach die der Freude entsprechende Leerintention der Wunsch? Der Wunsch befriedige sich im Eintritt der Freude, d. i., 1
Wichtig! Wohl um 1909. – Anm. der Hrsg. 3 hDas ist dasi Thema der folgenden Blätter. 4 Oder hmiti dem Verhältnis voller und leerer Intentionen, „befriedigter“ – unbefriedigter. Entweder wir sprechen von Intentionen im Gegensatz zu Erfüllungen oder von vollen und leeren, satten und unsatten und schließlich ganz leeren Akten oder Intentionen, wobei Intention gleich Akt ist wie in den Logischen Untersuchungen. 5 Gegen den Doppelsinn von Intention hundi Erfüllung in den Logischen Untersuchungen und die falsche Interpretation der Erfüllung in der Gemütssphäre. 2
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er gewinne Fülle der Freude, d. i. die Fülle, die zu ihm als Wunsch gehören könne: Analog wie eine leere Vorstellungsimpression (objektivierende Impression), z. B. ein leeres Urteil, Erfüllung gewinne in dem ihm entsprechenden vollen impressionalen Akt (denn nur um das Verhältnis unmodifizierter Akte handelt es sich). Indessen, wird diese Auffassung sich durchführen lassen? Jedenfalls enthält sie große Schwierigkeiten. Die Erfüllung eines Wunsches, sein Sich-Erfüllen bringt Freude. Der Wunsch, indem er Erfüllung findet, terminiert in Freude, wie schon der Prozess der Erfüllung Freude ist: nun, eben weil Momente der Wunschintention sich dabei befriedigen. Aber ist Befriedigung dies er „ I ntent ion “, nämlich dieses begehrenden Langens, mit dem E vident mac hen in der Urteilssphäre zu vergleichen? Wir haben auf dem Gebiet des Gemüts auch „Evidenz“. Denken wir uns den Wunsch erfüllt und denken wir uns dabei alles, was noch uneigentliche Wertintention, uneigentliche Freude, unrealisierte histi, realisiert, versuchen wir im Gedanken bis zur letzten Auswertung vorzuschreiten, so stellt sich heraus, ob der Wunsch berechtigt ist oder nicht, und mittels des objektivierenden Denkens können wir das evidente Werturteil aufgrund der Möglichkeit der Ausweisung der Werte fällen. Zum Wesen des Wunsches gehört es, auf Freude „gerichtet“ zu sein (die in der Erfüllung aktuelle Freude würde), nämlich auf ein Sein gerichtet zu sein, das, wenn es wäre, Freude begründete, und zwar gehör t es zum Si nn des Wunsches, da ss er auf reine Fr eude geri chtet is t, nämlich gleichsam meint, dass diese Freude sich als reine Freude realisieren und damit „berechtigen“ ließe. Das kann nun vor aller aktuellen Realisierung ausgewiesen werden, sei es die Evidenz, dass diese reine Freude zur Wunscherfüllung notwendig gehören würde, dass sie im Fortgang der Auswertung der vorläufigen Freude sich herausstellen müsste, oder hzuimindest die vernünftige Wahrscheinlichkeit, dass sie es würde. Ich wünsche A. Mache ich mir A klar, so steht es als erfreulich da. Stelle ich mir A als seiend vor, so hat es den Charakter eines Erfreulichen, sei es in sich, oder wenn A wäre, wäre B, dann C etc., und schließlich wäre etwas in sich Erfreuliches. Diese Zusammenhänge können solche der evidenten Notwendigkeit sein oder der erfahrungsmäßigen Gewissheit oder der erfahrungsmäßigen Wahrscheinlichkeit. Dem nachgehend realisiere ich in der Vorstellungssphäre, in
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der Vorstellungs- und Gemüts„klärung“ den „Sinn“ des Wunsches und sein Recht und fasse es denkmäßig als Werturteil. Dazu gehört keine wirkliche Realisierung. Die Realisierung der Freude und des Erfreulichen gehört nicht zur ganz andersartigen „Realisierung“ des Wertes. Das Letztere entspricht dem Evidentmachen in der objektivierenden Sphäre, hderi Realisierung des Sinnes und Erschauung der Geltung in der reinen Erfüllung als Adäquation. Es scheint zunächst, dass die Freude etwa mit der Wahrnehmung parallelisiert werden könnte; die letztere bzw. das Wahrnehmungsurteil weist das leere Tatsachenurteil aus, aber dann muss sie sich selbst noch ausweisen. Zunächst steht sie als genugtuender Ausweis da, man sieht ja die Sache, aber dann erwacht das Bedürfnis nach neuer Ausweisung (das Bedürfnis ist freilich ein Wunschakt): Die Wahrnehmung ist noch nicht reine Wahrnehmung. So nun beim Wunsch. Die Wunschbefriedigung ist Freude und terminiert in abgeschlossener Freude, aber die Freude braucht noch nicht die „reine“ Freude zu sein. Die Wunschbefriedigung ist noch nicht „letzte“ Befriedigung. Aber was heißt das, die Freude ist nicht reine Freude? Sie ist Freude, volle und ganze Freude. Sie enthält vielleicht nicht das mindeste von Wunsch, der sich unerfüllt fühlt. Ich mag ja das A, das ich wünsche, um anderetwillen werthalten oder wertgehalten haben, z. B. das Geld um der Güter willen, die es mir verschaffen kann. Aber im Begehren nach Geld braucht das gar nicht mehr in Frage zu kommen. Es kann sein, dass es das tut: Ich begehre nach Geld, um eine Reise zu machen, und denke beständig daran, aber in unzähligen Fällen ist keine solche Beziehung gewärtig. Nun, ist der Wunsch bloßer Wunsch nach Geld und habe ich das Geld, so freue ich mich. Diese Freude ist ganz reine Freude und doch „inadäquat“, und demgemäß ist die Wunschbefriedigung völlige und reine Wunschbefriedigung, letzte Befriedigung: Der Wunsch ging ja gar nicht auf etwas anderes. Und ebenso der Wille, der ja in dieser Hinsicht genauso Intention ist wie der Wunsch. Ist der Wunsch auf A als Mittel zu B gerichtet, dann ist A wert um des B willen; dann würde die Erfüllung von A Freude sein, aber behaftet mit der weitergehenden Wunschintention auf B. Zum Beispiel: Ich wünsche brennend, dass die Geliebte kommen möge. Natürlich, um mich ihrer zu freuen. Kommt sie und ist sie nicht zu sprechen, so bin ich enttäuscht: Die Freude des Kommens ist erfüllt, aber die weitergehende Wunschintention und die letztlich zielgebende ist
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unerfüllt. So bin ich unbefriedigt. Hier geht eben der Wunsch nicht einfach auf A, sondern auf A um des B willen. Etwas anderes ist es, dass zum „Sinn“ eines Wunsches (und Willens) die „Meinung“ gehört, dass das Erwünschte, sei es in sich, sei es um eines anderen willen, ein Gut sei. Ich wünsche A, darauf bin ich im Sinne des Wünschens „gerichtet“, danach lange ich, strebe, begehre ich. Ich halte A für wert, es steht mir, wenn ich es mir vorstelle, als freudebringend da. Tritt es ein, so erfüllt sich der Wunsch, und diese Freude ist realisiert als Erfüllungsfreude. Aber diese Freude kann eine „uneigentliche“, „unklare“ sein. Was ist es dann, was am A erfreulich ist? Ja, da sehe ich vielleicht, dass A in sich gar nichts hat, was Freude begründen, motivieren könnte, und dass die Freude nur zu motivieren ist (und bei mir auch motiviert war oder im „Dunkeln“ jetzt auch motiviert ist) durch ihre Beziehungen zu B, C … Faktisch ist der Wunsch nun nicht gerichtet auf das B, C …, weil die Motivation „nicht wirksam“ war, aber eigentlich ist es die „Meinung“ des Wunsches, einen wirklichen Wert, sei es in sich oder einen Mittelwert für einen Wert in sich, zu treffen. Freilich, aktuell bezogen ist der Wunsch nicht auf den Wert, als ob dieser vorgestellt wäre. Vorgestellt ist A. Gemütsmäßig bezogen ist der Wunsch aktuell nicht auf das ausweisende Wertbewusstsein, sondern auf das Freudenbewusstsein an A.1 Ich mag ja wünschen, ohne mir diese Freude vorzustellen oder mich in diese Freude hineinzufühlen, und das ist selbstverständlich der normale Fall, aber zum Wesen des Wunsches und hzui seinem Sinn als Wunsch gehört die Möglichkeit, sich zu „verdeutlichen“: „Wäre A, das wäre doch schön.“ Das A-Sein muss also als erfreulich dastehen können. Andererseits: Potenziell ist der Wunsch auch bezogen auf die Möglichkeit eines ausweisenden Wertbewusstseins. Die Überzeugung muss gelten, dass, wenn A wäre, etwas Schönes wäre, etwas wahrhaft Schönes. Der Wunsch, der sich auf A richtet, hätte keinen „Sinn“, wenn ich einsehen würde, dass A gar nichts an sich hat, was Freude fordert, und dass A nur um anderes willen Freude fordern könnte, das unter sonstigen Umständen wirklich Freude forderte, aber unter den gegebenen es nicht mehr tun kann, ja das Gegenteil forderte.
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Doch eigentlich auch das nicht.
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In diesem Sinn richtet sich der Wunsch auf das Gute, so wie das Urteil auf das Wahre, und der Wunsch bezieht sich dabei (anders gefasst) auf wertausweisende Freude als mögliche Erfüllung vermöge der Wesensverhältnisse, die zwischen Wunsch und Freude bestehen. Es ist auch zu sagen: Der Wunsch weist seine Richtigkeit aus in dem begründenden Prozess, der auf den „evidenten“, seiner berechtigenden Gründe klar bewussten Wunsch führt. Zu dieser Begründung gehört nicht aktuelle Freude und Freudeberechtigung, sondern potenzielle Freude (nicht Freude unter Assumtion, sondern hypothetische Freude: Wenn das A wäre, so wäre etwas Erfreuliches). Die Freude aber, die aktuelle, hat wieder ihre Richtigkeit und Unrichtigkeit. Auch sie bezieht sich ihrem „Sinn“ nach auf einen Wert, ebenso wie die potenzielle Freude es in potenzieller Weise tut. Das ist ja bei der wesentlichen Beziehung zwischen Wunsch und Freude im Wunsch schon vorausgesetzt. Also d ie R ic htung d es Wunsches auf Erfüllung (Befriedigung) is t etwas anderes al s di e „ Ri chtung “ des Wunsches auf ein w ahr haft Gut es. Die erstere Richtung und der Begriff der Wunschbefriedigung ist dem Wunsch eigentümlich als einem Langen, Begehren. Die letztere gehört aber auch zur Freude und gehört in analoger Weise zu allen Akten. Aber nach dem Ausgeführten hängt dieses zweierlei Gerichtetsein nahe zusammen: nämlich beim Wunsch und Willen, wo eben dieses Zweierlei vorhanden ist. Die sachobjektivierende Intention, sagen wir z. B. das Urteil, richtet sich auf die Sache und in korrelatem Sinn auf Begründung, Bestätigung, Bewährung, die das Urteil als begründetes hervorgehen lässt (natürlich ein Doppelsinn von Gerichtetsein). In sich hat das Urteil aber gar nichts von der Vorstellung der Begründung etc. Was vorliegt, ist das bloße „S ist P!“, d. i. Vorstellung und näher impressionale Prädikation, Überzeugung von „S ist P“ und ohne jedes Zweierlei. Aber nun ist eben der Unterschied zwischen dem Glauben „S ist P!“ und dem „Es ist wirklich und wahrhaftig so“, wie es in dem Akt des begründeten, des sich voll begründenden Glaubensbewusstsein ist. Wir gebrauchen, indem wir das Denken als eine Handlung ansehen, die auf den Wert der begründeten Wahrheit gerichtet ist, das Bild von der Intention. So ist auch das Wünschen und Wollen, das SichFreuen, das ästhetische Werten „gerichtet“. Aber eine Intention im echten Sinn, ein Abgesehenhaben, haben sie nicht auf Werte oder
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auf Ausweisungen; nur analogisch, wenn ich mir denke, dass ich handelnd mein Sich-Freuen, mein Werten, mein Wünschen regeln will, so dass jedes jederzeit nach dem Wert, der in seinem Sinn angelegt ist, orientiert bleibt. Demnach wird auch die Rede der Logischen Untersuchungen von der „Erfüllung“ der Urteilsintention störend, es sei denn, dass prinzipiell beim Wunsch und Willen niemals von der Erfüllung, sondern nur von der Befriedigung gesprochen wird, andererseits bei den objektivierenden Intentionen niemals von Befriedigung. Erfüllung im Sinn von A us w ert ung und im Sinn von Befriedigung müssen streng geschieden werden. Andererseits kann man zwar von der Auswertung sprechen, aber es fehlt ein Wort für den Unterschied zwischen leeren und vollen Intentionen. Dieser letztere Ausdruck ist gut. Aber das Vollwerden der Intentionen, das ist eben Erfüllung, und da haben wir wieder den störenden Doppelsinn. Wenn ein Ding sich dreht, so verwandeln sich leere in volle Intentionen, sie nehmen Fülle an. Das sind doch Ausdrücke, die nicht zu vermeiden sind. Und diese Verhältnisse habe ich doch auch zuerst entdeckt. Soll man sagen Realisierung und Entrealisierung? Aber das wäre erst recht bedenklich. Also bleibe ich bei voll – leer, Erfüllung (oder Füllung).
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Das Ur teil s ti mm t zur Wahrnehmung. Der Satz (die Urteilsbedeutung) stimmt mit der Wahrnehmungserscheinung, mit der Sache, so wie sie gegeben ist. Di e Freude sti m mt zur Wertwahrnehmung, zur Lust an der Sache, zur lustvollen Sache. Die Lust gehört zur Sache unmittelbar, die Sache ist unmittelbar und in sich lustvoll. Der Wille s timmt: Die Handlung würde ein Erfreuliches und Erfreuenswertes realisieren. 1) Freude an „S ist P“; Trauer darüber, dass M N ist; Wille, dass S P sein soll; Wunsch, dass S P sein möge. 2) Reflexion, ob die Freude stimmt, ob die Freude eine berechtigte ist, ob der Wille ein guter ist. Ist das eine bloß theoretische Reflexion? Von der Freude gehe ich in die Auswertung der Freude, wie ich vom Urteil (das ich in der Reflexion beurteile) in die „Auswertung“ des Urteils übergehe, in seine Begründung. Ich kann auch hier von „Begründung“ sprechen. Ist di e Freude begründet? a) Übergang von der ursprünglichen Freude zu der Auswertung der Freude: W ar um fr eue ic h m ic h? Lässt sich die Freude „aufrechterhalten“, wenn man dem „Warum“ nachgeht, wenn man ihrer „Meinung“ nachgeht, ihrer „Bedeutung“? b) Urteile über dieses Verhältnis. Konstatierung: Die Freude ist berechtigt, sie besteht zu Recht in der Erwägung ihres Sinnes. Zum Wesen dieser Freude (solcher Freude überhaupt) gehört es, da ihre „Voraussetzungen“ zu Recht bestehen, richtig zu sein. Die Billigung eines beliebigen Urteils: „Das Urteil ist richtig“ – das ist ein neues Urteil. Das setzt aber voraus die Urteilsauswertung, das ist ein intellektiver Akt, das intellektive Erlebnis der „Billigkeit“ des Rechtsausweises. Ebenso die Billigung eines Gemütsaktes (oder einer Gemütssetzung). Wir sprechen das Billigungsurteil aus, aber zugrunde liegt die „Auswertung“, die Begründung, die ein Gemütsakt ist. Ergänzend möchte ich noch bemerken, dass die Klarlegung der eigentüml ic hen Begründung, welche das konveniente
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und vor all em ei nsi chti ge Werten durch seine Grundlage er fähr t, ihr e Sc hwier i gkei ten hat. Brentano behandelt diese Frage in einem übrigens etwas anderen Zusammenhang in seiner Schrift über den Ursprung der sittlichen Erkenntnis, S. 95.1 Unrichtige Gemütstätigkeit gilt auch ihm allgemein als Schlechtes, richtige als Gutes. Die Lust am Schlechten ist ein Beispiel einer unrichtigen Gemütstätigkeit, sie ist also schlecht. Andererseits meint Brentano aber, dass jede Lust als solche ein Gut sei, und demnach läge hier ein Fall der Mischung vor. Lust am Schlechten wäre danach nicht ein rein Schlechtes. Das ist recht anstößig, wenn wir etwa an eine Lust der Grausamkeit denken, die doch, je mehr sie sich steigert und in Wollust ausartet, nicht an Wert zunimmt, sondern ins Extreme der Widerwärtigkeit sich verliert.2 Nach Br entan o sollen wir in dieser Mischung eigentlich einen Akt der Bevorzugung üben, in der der Wert der Lust als solcher positiv in die Waagschale fiele, was mir ganz unannehmbar erscheint. Mit diesem Fall parallelisiert er das Missfallen, und zwar das eins ichtige M is sf all en am Schl echten, z. B. der edle Schmerz an der unterdrückten Unschuld. Hier haben wir ein richtiges und einsichtiges Gemütsverhalten, vermöge dieser vollkommenen Konvenienz wertvoll. Andererseits wieder eine Vermischung mit einem Unwerten, es ist ja Unlust an einem Schlechten. Es handle sich also wieder nicht um ein reines Gut, wie es bei einer edlen Freude vorläge, und wieder soll der Wert dieses unreinen Gutes durch Bevorzugung
1 Husserl bezieht sich hier auf Franz B r e n t a n o, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig 1889. – Anm. der Hrsg. 2 Brentano meint, dass jede Lust als solche wert sei, dass jede Lust bei der Wertabwägung als ein positives Gewicht in Anschlag komme, und das scheint mir sehr zweifelhaft. Ich meine, dass einer solchen unethischen Lust wie der Lust am Gemeinen und Schlechten auch nicht das leiseste Wertmoment einwohne, dass die Richtung solcher Lust auf Schlechtes statt auf Gutes nicht das Schlechte mindert in der Weise der algebraischen Summe, sondern sie erhöht. Symbolisch: nicht + L h+i – S, sondern L × – S = – L × S. Es wäre ja sonst auch Folgendes denkbar: Wenn wir hani ein großes Unglück wie das Erdbeben in Süditalien denken und nun fingieren, dass Millionen Menschen sich darüber freuen, ja mit wahrer Wonne sich darüber freuen würden, dann könnte man am Ende einen Überschuss des Guten ausrechnen: Das eine und selbe Übel wird immer mehr in seinem Gewicht in der Sphäre der Existenzialgüter gemindert bis zum Verschwinden durch entsprechende Fülle von darauf bezogener Lust. – Das geht nicht. Eine Welt, wo das möglich wäre, wäre eine wahre Hölle.
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konstatiert werden. Auch diese Auffassung erscheint mir bedenklich. Mir scheint es sicher, dass bei der Wertung eines Gefallens oder Missfallens am Schlechten, einer bösen Lust, einer edlen Trauer, die Wertung auf die Akte geht rein nach ihrer Harmonie oder Disharmonie mit dem, worauf sie gerichtet sind. Das, was dem Akt Wert gibt, ist seine Richtigkeit, seine Erfüllbarkeit und eventuell sein wirkliches Erfülltsein. Das hindert aber nicht, dass das Schlechte, auf das der Akt gerichtet ist, eben schlecht ist und dass, soweit die Existenz vom Schlechten als Voraussetzung für das Vorhandensein eines berechtigten Abscheus vor diesem Schlechten fungiert, es natürlich besser wäre, wenn das Schlechte gar nicht wäre, und damit auch jener Abscheu nicht wäre. Wenn schon Schlechtes ist, dann ist Abscheu davor das Richtige und hat vermöge seiner Konvenienz Wert. Bei der Wertung eines G efal l ens oder Missfallens am Sc hlec ht en ist Folgendes zu beachten: Der Akt des Gefallens an einem Schlechten ist seiner Natur nach, nämlich als inkonvenienter, unwert, als konvenienter ist andererseits der Akt des Missfallens am Schlechten wertvoll. So hzui werten ist eben richtig werten: Unter Voraussetzung, dass ein Schlechtes ist, unter Voraussetzung, dass ein Schlechtes vorgestellt, als wirklich erkannt ist, ist Trauer darüber das Richtige, Freude darüber das Unrichtige. Natürlich könnte dieser Wert, der der edlen Trauer, nicht realisiert sein, wenn nichts Schlechtes bzw. keine Überzeugung vom Dasein von Schlechtem wäre. Also existenzial betrachtet ist die edle Trauer ein Gut, das ein Übel als existierend voraussetzt. Vor-existenzial betrachtet können wir sagen: Das Gefallen, das reine Werten, richtet sich bloß auf die edle Trauer und gar nicht auf ihre Unterlage, auf das Übel. Stelle ich mir eine edle Trauer (über ein Unglück) vor, so gefällt mir ausschließlich diese Trauer und gar nicht das Unglück. Es gefällt: Freue ich mich über die Trauer? Das doch nicht. Ich finde es richtig, dass da getrauert wird. Die Trauer gehört zum Unglück. Wertheni heißt nicht Sich-Freuen. Ich sympathisiere, ich trauere mit. Über Glück sich freuen: Ich freue mich mit. Das einsichtige Werten ist selbst wert? Das heißt, das richtige Verhalten als solches ist Objekt eines Gefallens, das unrichtige eines Missfallens. Dass jemand sich richtig verhält, dass jemand trauert, wo ein Übel vorliegt, das ist nicht Objekt einer Freude, aber eines gewissen Gefallens, eines gewissen Wertens.
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Wir haben zweierlei: Einmal Trauer über ein Unglück ist ein Wert als konvenientes Verhalten, andererseits ist die Trauer selbst ein Unglück. Dass das Unglück ist und Trauer verbreitet, das ist selbst wieder Unglück. Unter Voraussetzung des Unglücks ist die Trauer 5 ein Wert. Das Unglück ist aber selbst ein Unwert. hMuss ich also,i um solche Werte zu realisieren, möglichst viel Unglück in die Welt setzen?
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Wertintuition und Dingintuition (Wahrnehmung) etc. Gegebenheit des Wertes – Gegebenheit von Wirklichkeit. Die Wahrnehmung nimmt einen Gegenstand wahr. Wahrnehmung ist Bewusstsein eines „Inhalts“, eines Was, des Wahrnehmungsinhalts oder des „Wahrgenommenen als solchen“ oder des Sinnes der Wahrnehmung (Perzeptionale). Dieses Was hat wieder einen „Inhalt“, den bloßen Sinn, der ebenso und identisch bei einer Fiktion sein kann; dieser enthält noch nicht die „Qualität“. Das wahrgenommene Ding ist wirkliches Ding, wahrhaft seiendes. Das wahrgenommene Ding, das an sich in Wahrheit seiende, ob diese Wahrnehmung statthat oder nicht, ist nicht der Wahrnehmungsinhalt; der Wahrnehmungsinhalt gehört der Wahrnehmung zu, auch wenn es kein wirkliches Objekt, das ihr entspricht, gibt. Und die Wahrnehmungsqualität oder vielmehr das den „Inhalt“ Qualifizierende ist ein Charakter, das Ding selbst hat aber keinen Charakter, kein positives Prädikat Existenz oder Wirklichkeit. In der Wahrnehmung, dem Akt, lebend steht der Gegenstand da als Wirklichkeit, das heißt, eine Wahrnehmung mit dem betreffenden Wahrnehmungsinhalt oder mit dem betreffenden Perzeptionale (alles beides zusammen) in der Qualifizierung „wirklich“ ist Erlebnis. Und von Wahrnehmung zu Wahrnehmung in der Kontinuität des Wahrnehmungszusammenhangs übergehend, der zu demselben Ding gehört, „deckt“ und erfüllt sich das Wahrnehmen in sich selbst, es kommt immerfort das Perzeptionale zur sich bestätigenden, näher bestimmenden Deckungseinheit. Die vielen Perzeptionalien gehören zusammen, konstituieren die Einheit des Erfahrungsobjekts. Doch fragt es sich, ob man das so sagen kann von den Perzeptionalien; es ist noch nicht völlig deutlich, wie sich zu ihnen die Abschattungen etc. verhalten. Ich denke doch, dass den Abschattungen als Empfindungs-
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1909. – Zur Dingphänomenologie und Wertphänomenologie.
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inhalten im Wahrnehmungsinhalt (perzeptionalen Inhalt) die Merkmalsabschattung etc. entspricht. Ferner ist bisher gar nicht Rücksicht genommen auf die „Umstände“, „Umgebungen“ und die Frage, inwieweit zur „Bedeutung“ der Wahrnehmung Momente, Bedeutungsmomente gehören, die den Umständen entsprechen. Zum Beispiel ist es klar, dass sich darin Fiktionen (Bilder) von Wahrnehmungen unterscheiden, so dass ein Fiktumsbewusstsein und ein Wahrnehmungsbewusstsein zwar, was den Gegenstand als wahrgenommenen und fingierten an sich anlangt, übereinstimmen können, aber nicht nach ihrer vollen und ganzen Bedeutung. Jedes Wahrgenommene hat seine Umgebung, das ist, Wahrnehmung und Wahrnehmungsbedeutung gehören immer in einen Zusammenhang von Wahrnehmungen und Bedeutungen, und zu diesem Zusammenhang gehören perzeptionale Komponenten. Und es bestehen da hinsichtlich der „Inhalte“ und der Qualifizierung funktionale Abhängigkeiten. Das alles klarzulegen, ist eben die Hauptsache bei der Ding- und dingperzeptionalen Analyse. Wahrnehmungen sind einfältig oder mehrfältig. „Einfältig“, wenn sie der phänomenalen Zeitlichkeit, der Dauer, entsprechend nur in Wahrnehmungen von demselben Perzeptionale zerlegt werden können. „Mehrfältig“, wenn die Perzeptionalien in den Phasen wechseln oder kontinuierlich sich ändern. Dabei kommen freilich wieder die „Umgebungen“ in Frage. Es ist daher wohl notwendig, von vornherein zu unterscheiden: Gesamtwahrnehmung und Wahrnehmung im gewöhnlichen Sinn, die aus einer Umgebung einen Gegenstand perzeptiv heraushebt. Die gewöhnliche Wahrnehmung kann einfältig sein, während die Gesamtwahrnehmung mehrfältig ist. Die bloße Wahrnehmung legt sich auseinander im diskursiven Urteil. Und dabei treten die Urteile „an sich“, die Bedeutungen des Urteilens (Kategorialien) in Beziehung zu den Perzeptionalien. Die Urteile bestätigen, bewähren sich in dem Fortgang der sich vervielfältigenden und den Inhalt des Gegenstandes herausstellenden Wahrnehmungen. Der Inhalt des Gegenstandes in seiner Dauer = die Synthese der zu wirklicher Darstellung gehörigen perzeptionalen Inhalte. Oder auch so: Jede Wahrnehmung ist teils volle Wahrnehmung, teils leere. Der perzeptionale Inhalt enthält teils volle Stücke, teils leere Stücke. Freilich, das Wort Stück ist nicht ganz passend, da sich Volles und Leeres vielfach durchdringen (eigentliche und uneigentliche Erschei-
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nung). Denken wir uns alle möglichen Wahrnehmungen, die zu dem Gegenstand in der betreffenden Dauer gehören, und alle Vollstücke dabei zur Synthese gebracht, so hätten wir den Inhalt des Gegenstandes. Nun kann die Wahrnehmung diese Synthese nicht leisten. Im Wahrnehmungsübergang gewinnen wir schon zeitlich verschiedene Phasen des Gegenstandes, auch beim unveränderten Gegenstand kommen wir nicht über das einheitliche Bewusstsein hinaus, in dem Leeres in Volles übergeht, aber freilich auch wieder Volles in Leeres, das nun bloß in bestimmter leerer Meinung festgehalten sein kann. Den Gegenstand aber arbeitet das Denken heraus, es bestimmt ihn prädikativ und bestimmt ihn von Zeitpunkt zu Zeitpunkt (idealiter gesprochen) durch die aus verschiedenen Wahrnehmungen entnommenen und denkmäßig fixierten und supponierten Merkmale. Den Merkmalen entsprechen die Vollstücke des Inhalts möglicher Wahrnehmungen: Was in der Wahrnehmung Einheit des Vollen vieler wirklicher Erscheinungen ist, das bringt das Denken zur begrifflichen Bestimmung. Vor dem Denken gibt es höchstens ein Abheben, das die Einheit heraussondert, vor begrifflicher Bestimmung. Im Gebiet des „Verstandes“ haben wir Wahrnehmung und Urteil. Im Gebiet des Gemüts „Wertnehmung“ und Entfaltung des Wertes. Zunächst liegt der Wertnehmung zugrunde ein Vorstellen. In sich ist Wertnehmung nicht Wahrnehmung. Die Wertnehmung konstituiert nicht das Objekt, das Wert hat. Bei einem immanenten Werten steht das Objekt als Wert da und der Wert ist da immanent, zum immanenten Objekt gehörig. Aber was das Ding ist, was es ausmacht, was dem Ding in dem dinglichen Zusammenhang zukommt, ist eines, und ein anderes ist, was für Wertprädikate ihm zukommen. Ein Gegenstand erscheint, er wird wahrgenommen, er erscheint bildmäßig oder phantasiemäßig. Damit erscheint noch kein Wert. Ein Wert erscheint, darin liegt: Ein Gegenstand erscheint, und dieser Gegenstand, der ist, was er ist (oder quasi ist, was er ist), ob er in Werterwägung gezogen wird oder nicht, erfährt nun Wertung und erscheint nun in der Wertung als werter und erscheint halsi dies nicht überhaupt, sondern in gewisser Hinsicht, oder erscheint er als Wert, so gehört dazu die vernünftige Frage des Denkens: Was ist an ihm wert, worin liegt hder Werti, was macht den Wert? Ich analysiere auseinanderlegend: Der Gegenstand ist α, β, γ …, und nun an ihm ist
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α das Werte. Der Gegenstand als α-seiend ist werter Gegenstand und α ist sein wertgründendes Prädikat. Die Wertung kann sich rein auf den perzeptionalen Inhalt gründen oder letztlich auf gewisse Komponenten desselben, auf gewisse Merkmalsinhalte, die zum perzeptionalen Inhalt gehören. Zum Beispiel, ein Gegenstand heißt schön, nicht um beliebiger Beschaffenheiten willen; seine atomistische Konstitution, seine physikalischchemischen Eigenschaften sind gleichgültig. Er ist schön um seiner s chönen E rs cheinung wi l l en. Er stellt sich unter gewissen normalen Umständen so und so dar (oder kann sich so darstellen: das Marmorgebilde bei Tage in der und der normalen Entfernung und von der und der Seite), und in dieser „Erscheinung“ „tritt seine Schönheit hervor“. Schön ist nicht nur die volle Erscheinung, das Erscheinungsrelief. Es gehört zur Schönheit, dass ein ganzes Ding sich darstellt. Die Wertung heftet sich an das Perzeptionale solcher Wahrnehmung und haftet offenbar in verschiedener Weise an dem Vollen und am Leeren dieses Perzeptionale. Der Gegenstand ist schön, sofern er in dieser Weise sich vorstellen, in diesem perzeptionalen Gehalt vorgestellt werden kann. Es kommt aber nicht auf das ganze Perzeptionale an. Die „Qualität“ ist gleichgültig. Es ist damit gleichgültig, ob der Gegenstand existiert oder nicht existiert. Ein Mensch ist schön, auch ein Fiktum ist schön, und das Marmorgebilde ist auch schön, wenn es eine stereoskopische Illusion wäre. Darin liegt: Es kommt bloß auf den perzeptionalen Inhalt an und dieser kann auch in sich gewertet werden: Die „Erscheinung“ ist schön. Das Ding aber ist schön „um seiner Erscheinung willen“. Gesetzt, es wäre, so wäre ein Schönes, so käme ihm, dem wirklichen, auch das Prädikat der Schönheit zu, das kein Prädikat seiner „Natur“ ist. Ist es von vornherein als Wirklichkeit gesetzt, nun, so ist es als Natur gesetzt und zugleich hat es das Schönheitsprädikat, eben in dem Sinn: Es gehört zu ihm die schöne Erscheinung, die Erscheinung, die primär schön ist. Die Schönheit aber gehört wieder zu der betreffenden Erscheinung nicht als Erscheinung der jeweiligen faktischen Wahrnehmung, sondern eben zu ihr selbst, zu diesem perzeptionalen Inhalt, der ein ideales Prädikat ist, wie wir wissen. Darum hängt auch die Schönheit nicht an der Wahrnehmung. Auch der reproduktiv-phantastische Inhalt, der ja übereinstimmen kann mit dem perzeptionalen, ist schön. Andererseits aber unterscheidet
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sich der phantastische Inhalt vom perzeptionalen: Was beide gemein haben, ist das int uit ive Wesen,1 also dieses ist es, das wesentlich ist für die Schönheitsprädikation im primären Sinn. Das intuitive Wesen ist ein ideal Gemeinsames: Es ist natürlich nicht ein Allgemeines im generellen Sinn, aber Grundlage für intuitive Generalisation. So unterscheiden sich also Schönhei tswertung und Schönheits w er t von Exis ten zi al werten, bei denen neben dem perzeptionalen oder intuitiven Inhalt die Qualität als setzende eine Rolle spielt. (Kann für das Werten, wenn die Qualität außer Spiel bleibt, auch der Unterschied zwischen perzeptionalem und intuitivem Wert in Frage kommen?) Doch ist das hier Gegebene noch nicht ausreichend, da nicht alle Seiten (nämlich nicht die phanseologischen) in Rücksicht gezogen sind, die ästhetisch gar sehr in Frage kommen. Es ist ja zu beachten, dass für die Schönheit, mindesthensi im ästhetischen Gebiet, überall die Weise der Darstellung von Wichtigkeit, ja entscheidend ist. Die Weise der Darstellung hängt mit dem Vollen und Leeren zusammen, aber die darstellenden Inhalte sind zu unterscheiden von den entsprechenden Momenten der intuitiven Inhalte (Perzeptionalien etc.). Demgemäß kann das Haften der Wertung an der „Erscheinung“ doppelt verstanden werden, je nachdem man unter Erscheinung versteht das, was ich unter den Titeln Perzeptionale, Bedeutungsmäßige2 etc. zu fassen suchte, also Gegenstände, das Gegenständliche so, wie es bestimmt oder unbestimmt, voll und leer dasteht, oder Erscheinung als die aktuellen Empfindungen, besser Empfindungsinhalte, die Darstellungen des Gegenständlichen in ihrer Auffassung, also Erscheinung phanseologisch interpretiert. Es ist da zu erwägen, wie beides in eins zu setzen ist. Spreche ich gegenständlich, so sage ich: Diese Kupferschale steht vor mir in der und der Beleuchtung. Diese inneren Teile (auf die ich den Blick gerichtet habe) sind im Dunkeln, dort (ich richte jetzt mein Auge an der Oberfläche weiterschreitend darauf) ist ein Lichtreflex; da eine breite glänzende Stelle, hier ein leuchtend prächtiges Rot, dort ein stumpfes
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Intuitives Wesen: das müsste objektiv verstanden werden als Intuitionale. „Bedeutungsmäßige“ später gestrichen. Dazu die Bemerkung: „Bedeutungsanalog ist nicht das volle Perzeptionale, sondern nur eine Komponente.“ – Anm. der Hrsg. 2
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mattes Rot mit hellrosa schimmernden Flecken etc.; der Rand scharf, bloß eine abgegrenzte Lichtlinie, dahinten kontrastierendes Schwarz etc. Je nach meiner Stellung zur Aschenschale wandelt sich Licht in Dunkel, leuchtend Rot in stumpfes Rot etc. Blicke ich so gleichsam ästhetisch, so sehe ich Erscheinungsfarben, gewisse in sich bestimmte Abschattungen, die durchaus eine objektive Bedeutung haben. Sie breiten sich über die Oberfläche aus, genauer gesprochen über die „erscheinende Oberfläche“ als solche oder Erscheinungsoberfläche. Nehmen wir der Einfachheit halber an, das Objekt sei unbewegt und der ganze Hintergrund und die Umgebung, die Beleuchtungsumstände unverändert, so habe ich eine ganz bestimmte Gegebenheit. Allerdings merke ich, dass diese Gegebenheit sich herausstellt gegenüber einer Kontinuität von Veränderungen. Ich habe die Augen bewegt und mit dieser Bewegung gingen Erscheinungsveränderungen vor: Nämlich die bei jeder Augenstellung „wirklich gegebenen“ Erscheinungsfarben ändern sich und ebenso die zugehörige, wirklich gegebene Erscheinungsfläche. Das sagt, dass hdasi, was ich vorhin als Erscheinungsfarbe und Erscheinungsfläche bezeichnet habe, ein Identisches ist, das sich zu den Farben und Oberflächenabschattungen bei den verschiedenen Augenstellungen verhält als hwiei Einheiten zu Mannigfaltigkeiten. Die Erscheinungsoberfläche ist dann das Wie der Darstellung der gesehenen Oberfläche des Dinges, der Dingfläche, so weit sie bei fester Körperhaltung gesehen wird, und zwar der Darstellung bei bewegtem Auge. Diese Darstellung bei bewegtem Auge ist ihrerseits Einheit, die sich konstituiert in Erscheinungsphasen, die zu den Augenstellungen gehören. Und das Entsprechende gilt von den Erscheinungsfarben: Sie sind Darstellungen der „wirklichen“ Farben, nämlich derjenigen, die die Oberfläche des Objekts bedecken und ihrerseits Einheiten zu Farbendarstellungen ursprünglicher Art, nämlich denjenen, die zu jeder der wechselnden Augenstellungen gehören und die ihrerseits die entsprechenden Oberflächendarstellungen unterster Stufe „bedecken“. Diese Schichten von Darstellungen, also von Objektitäten, liegen gewissermaßen aufeinander. Denn in dem ursprünglichen Farbenmoment (das zu einer Objektstelle gehört), bei ruhendem Auge in irgendeiner Lage, sehen wir das okulomotorische einheitliche Farbenmoment, das die okulomotorische Oberfläche bedeckt. Und in
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diesem sehen wir das wirkliche Objektmoment. Und ebenso für jede Raumstelle, jedes ursprüngliche Extensionsstück oder okulomotorische Oberflächenstück und wirkliche Oberflächenstück. Eines sehen wir im anderen oder durch das andere. Es sind nur verschiedene „Einstellungen“, die wir vollziehen, oder vielmehr: Verschiedene Apperzeptionen sind aufeinander gebaut und die volle Objektapperzeption ist immer da, ist unvermeidlich vollzogen, die all diese Schichten einschließt. Aber aufmerkend und herausmeinend können wir diese oder jene Schicht herausheben. Achte ich nun aber auf diesen okulomotorischen Glanz oder auf die oder jene dunkle Stelle, so steht er als Glanz am Ding, als dunkle Stelle der Oberfläche des Dinges da. Und ebenso: Fixiere ich einen Punkt und achte auf Seitenteile des „Bildes“, so gehört die oder jene vor-okulomotorische Farbenabschattung zum Ding. Ich sage freilich nicht „Das Ding selbst ist so“, sondern „Das Ding sieht unter den Umständen so aus.“ Jetzt, im indirekten Sehen, habe ich von der Aschenschale eine „Erscheinung“, die kaum beschreiblich ist, etwas ganz Vages etc. Ich sage, dies so nehmend, wie ich es habe, und auf dieses Vage in sich achtend, nicht „Das ist die Aschenschale“, sondern „So sieht die Aschenschale aus, das ist ihre Darstellung, ihre Erscheinung, ihr Bild etc.“ Die Erscheinung, die das Malerauge erfasst, ist offenbar die okulomotorische Erscheinung. Aber ästhetisch wirksam ist nicht bloß sie. Denn die okulomotorische Erscheinung ist ja nicht isoliert gegeben. Sie ist nicht die reine okulomotorische Einheit, sondern eben Erscheinung des Objekts. Wenn wir rein dem Objekt zugewendet sind, steht das Objekt zwar durch sie da (sie hat ihre Einheit), aber sie steht nicht in einem prägnanten Sinn als Erscheinung des Objekts da. Nämlich „Erscheinung des Objekts“ sein (oder „Darstellung“) kann heißen, jenes hObjektsi „bewusst sein“, aber so, dass das Ding Gegenstand (Gemeintes) ist, oder es kann heißen, wir achten auf und meinen die okulomotorische Einheit und haben sie als Darstellung des Objekts. Wir sind in einer Situation, dass wir das Ding in Abhebung haben von seiner Erscheinung und die Erscheinung bezogen haben auf das Ding. Wir sagen: „So sieht das Ding aus“ und „Ich will jetzt achten auf das Aussehen von ihm, auf das Malerische davon“ etc. Offenbar gehört die ästhetische Wertung schon zum rein Okulomotorischen, aber nicht allein, sondern zu ihm als Darstellung der Objektität. Und wieder nicht als Darstellung des bloßen Dinges. Das Ding Büste ist
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weiter nicht ästhetisch, sondern die Büste als Bild. Der okulomotorische Bestand ist für Ding und Bild eventuell einerlei oder ziemlich nah ähnlich (z. B. beim Porträt), aber ästhetisch kommt eventuell in Frage das Bild, schon als solches, aber erst recht das Bild als Bild des Gottes, und nun kommt die geistige Bedeutung mit hinein usw. Was ist aus all dem zu lernen? Wenn man vom Perzeptionale spricht, so meint man das perzipierte Objekt als solches. Zum Beispiel: Das Objekt steht in der Anschauung da und steht als „das und das“ da. Die begriffliche Beschreibung des Objekts, so wie es dasteht, was von ihm eigentlich und uneigentlich angeschaut ist, hat ihr Korrelat in dem erscheinenden, angeschauten Objekt als solchen, und das ist das Perzeptionale. So auch bei der verworrenen, leeren Vorstellung. Das aber darf man nicht verwechseln mit den verschiedenen „Erscheinungen“ oder „Darstellungen“ innerhalb der gesamten Perzeption des Objekts, die für die dingliche Objektität konstitutiv sind. Wie das, was vom Objekt in die Erscheinung fällt bzw. welche Empfindungsinhalte, welche „Bilder“ (okulomotorische Darstellungen) etc. im anschauenden Bewusstsein vom Objekt „enthalten“ (nämlich in ihm konstituiert sind) hsindi als die Medien, durch die sich das Ding selbst als so und so angeschautes konstituiert. Für die ästhetische Wertung kommen nun vom anschaulichen Objekt (das normalerweise aber noch viel mehr ist, auch Träger von darüber hinausgehenden, mehr oder minder deutlichen oder vagen Denkintentionen, auch Gefühlsintentionen etc., was alles ästhetisch wirksam werden kann), ich sage, vom anschaulichen Objekt selbst oder dem im anschaulichen Bewusstsein selbst reell oder intentional vorliegenden kommt ästhetisch nicht nur in Betracht das Perzeptionale, sondern auch die ontisch konstituierten Erscheinungen, und die in besonderem Maße. Demnach ist das vorhin Ausgeführte erheblich zu vertiefen und zu verbessern oder vielmehr nach Seiten der ontischen Erscheinungen, wie es soeben geschehen ist, zu ergänzen. Aber das bleibt überall grundwesentlich: dass die existenziale Wertung, die Wirklichkeitsqualifizierung, für die ästhetische Wertung ausgeschlossen bleibt, nämlich als den ästhetischen Wert selbst nicht begründende. Was diese Qualifizierung anlangt, so hängt sie allen ontischen Darstellungen an, sofern in ihnen ja das „wirkliche“ Objekt erscheint, wenn wir wahrnehmen, und die Wirklichkeitscharakteristik ist ja nicht etwas,
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das neben all diesen Darstellungen liegt, als ob das wirkliche Ding, das da Wahrgenommenes ist, von diesen Darstellungen getrennt läge, statt in ihnen und durch sie zur Erscheinung zu kommen. Und jede solche Darstellung selbst hat ihre Aktualität, sie hat ihren Inhalt und ihre Qualifizierung (in der Weise eines Immanenten), und diese wieder geht in die Dingqualifizierung ein, sofern sie ja zu ihr wesentlich gehört, nämlich als Voraussetzung. Wenn es heißt, dass ein Phantasiegebilde (z. B. eine lebendig anschauliche Gestaltung eines Apollon in der produktiven Phantasie des Künstlers) ästhetisch wertbar ist und Wert oder Unwert hat und genau denselben (ästhetisch!), den das ausgeführte Kunstwerk hat, mit dem einzigen Unterschied, der durch die ästhetischen Vorzüge der empfindungsmäßigen Klarheit hereingebracht wird, so ist es klar, dass die Darstellungsqualifizierung nicht das Wesentliche sein kann. (Doch ist zu fragen, ob eine sinnliche Phantasie wirklich eine solche Klarheitsfülle je haben kann als hwiei eine Wahrnehmung.) Natürlich werden wir in einer allgemeinen Theorie der Konstitution der Werte der Unterscheidung der Gegenstände in immanente und transiente Rechnung tragen müssen bzw. der Unterscheidung der entsprechenden Vorstellungen. Es ist eine durchgehende Scheidung im axiologischen Gebiet, dass die Wertung einmal rein am „Inhalt“ haftet und das andere Mal an der Wirklichkeit des Gegenstandes von dem oder jenem Inhalt. Inhaltswerte, Werte, die rein am Inhalt des Gegenstandes und am Inhalt der ihn konstituierenden Darstellungen haften, können wir dann scheiden: Einmal in bloße Sachschönheiten,1 bei denen entweder Darstellung nicht in Frage ist, weil die Sachen immanente Gegenstände sind, oder bei denen, wenn sie transiente sind, die Darstellung nicht bestimmend ist oder in der betreffenden Wertung nicht bestimmend ist, und andererseits in Schönheit aufgrund der Darstellung. Oder wir können scheiden „Schönheit“ von immanenten Gegenständen (scil. rein aufgrund ihres Inhalts), Schönheiten von transzendenten Gegenständen und in letzter Hinsicht ihre Schönheit aufgrund des gegenständlichen Inhalts (scil., so wie er gegeben ist, perzeptionalen Inhalts) und ihre Schönheiten aufgrund ihrer Dar1 Sachschönheit: Da ist aber manche Frage. Kann ein Ding schlechthin, ein materielles, physikalisches, „schön“ heißen?
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stellung. Wohl zu unterscheiden sind von den Schönheitswerten (bzw. Wertungen) Existenzialwertungen in „bloßer Vorstellung“. Ich versetze mich in der Vorstellung in eine existenziale Stellungnahme, ich assumiere.
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1) Gegenstände sind wert, und sie sind wert um wertbegründen der Pr ädi kate wi l l en. Es besteht ein Wert, das heißt, ein Gegenstand hat irgendwelche Prädikate, die Wert begründen. 2) Sachverhalte heißen wert, wenn sie Wertverhalte sind. Dass S P ist, ist erfreulich, wünschenswert etc. Dass (wirklich) S P ist, ist „gut“, auch „schön“ sagt man. Darauf lege ich wert, und es ist wert. Dass S P ist, ist gut, ist erfreulich. Dass S P sein möge, das ist ein Wünschenswertes. Pr imär bez ieht s ic h das Werten auf das P, a uf die Eigens chaft des S. (Es mag sein, dass mir der Gegenstand gefällt, und ich scheide nicht, was mir daran gefällt. Aber etwas daran muss mir gefallen und bestenfalls alles, was ich daran finde; das ändert nichts.) Und S gefällt, sofern es P ist. Das ist also ein G ru ndverhäl tni s: Eine Eigenschaft ist wert (und zuletzt in sich wert), ein Gegenstand ist wert, sofern er die Eigenschaft hat. Gehört gleich hierher: Ein gegenständlicher Teil (Stück) ist wert – das Gegenstandsganze ist wert, sofern es den Teil hat? Ein Moment des Gegenstandes, eine Eigenschaft kann wert sein, sofern sie hinweist auf eine andere (nicht unmittelbar sichtliche) Eigenschaft des Gegenstandes, die primär wert ist. Dass der Mensch so redet oder tut, ist Anzeige einer gewissen Gesinnung. Der Geruch des Apfels hweist hini auf den Wohlgeschmack. Ein Merkmal kann also wert sein um seiner selbst willen oder um seiner Verbindung mit einem anderen Merkmal willen, als Anzeige (und wie im Beispiel: beides zugleich). Ist dieses „umwillen“, dieses „sofern“ gleichstehend mit dem, wonach der Gegenstand wert ist, sofern er ein wertgründendes Merkmal hat? Immerhin, der Gegenstand wird gewertet, und das Merkmal (wenn ich speziell darauf hinsehe) wird gewertet, ebenso wie das eine und das andere verbundene Merkmal gewertet werden.
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Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg.
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Und der Gegenstand hwird gewerteti, weil das Merkmal hgewertet wirdi, und das Merkmal, das anzeigt, um des Angezeigten willen. Also gehört beides in das „umwillen“. Wie steht es nun mit den Wertverhalten? Ein Wertverhalt ist selbst ein Sachverhalt, in dem die Wertlage logisch gefasst wird. hDeri Ausweis der Gültigkeit des Wertes und der Wertverhältnisse vollzieht sich in Wertaussagen, in Werturteilen. Die Sachverhalte der W er tur tei le könn en Wertverhal te heißen. Wir werten, ohne dass prädikativ geurteilt werden müsste. So in allen Fällen der intuitiven Wertung, der Wertung aufgrund reiner Intuition. Essend schmeckt mir der Apfel, und der Apfel und sein Geschmack stehen als werter da, als Gefallendes und Gefälliges. Sowie wir aber die Rechtsfrage aufwerfen, werfen wir eben eine Frage auf, und damit haben wir schon die logische Fassung und es steht ein Sachverhalt uns vor Augen mit Subjekt, Prädikat etc. Urteilen können wir dann subjektiv: Mir gefällt das, jenes nicht. Ich wünsche das und jenes nicht. Und objektiv: Das ist gefällig und an ihm die und die Eigenschaft. Das ist erwünscht, S möge die Eigenschaft P haben (die gefällig wäre, wenn sie gegeben wäre). Die Frage ist: Können diese objektiv ausgesprochenen Urteile eine wirkliche Objektivität vertreten? Wir urteilen „Das Ding ist rot, ist rau, es tönt etc.“ So steht es in der Wahrnehmung da. Ist die Objektivität dies er U rtei l e zu vertreten? Zunächst scheint die Wahrheit von Umständen abzuhängen. Das Ding erscheint als rot unter den und den Umständen. Lassen sich die Umstände objektiv bestimmen in ihrem Zusammenhang mit dem Prädikat? Und lassen sich die Prädikate der Umstände fest bestimmen? Jedenfalls: J edes objekt iv ers chei nende Prädi kat (auch das Wertprädikat) verlangt seine Ausweisung, und so die Urteile, die darüber ausgesprochen werden. Das ist das Problem. Wir nennen G egenstände wert, natürlich weil sie gewisse E igens c haft en, die eigentlich wertgebende sind, haben und somit hnennen wiri auch Eigenschaften wert. Wir nennen aber auch Sac hver halte wert. Mir gefällt ein Mensch um seiner Liebenswürdigkeit willen. Mir gefällt die Liebenswürdigkeit, mir gefällt aber auch dies: dass der Mensch liebenswürdig ist. Dass das Unterschiede macht, w ir d m an doch ni cht l eugnen können. Andererseits, wie Gegenstände nur wert sein können um weiterer Beschaffenheiten
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willen – wozu die Sachverhalte gehören: Diese Gegenstände sind wert, diese Gegenstände haben die und die angenehmen Beschaffenheiten, die wert sind etc. –, so si nd Sachverhalte nur wert, w enn z uglei ch in i hnen G egenstände-worüber sind, die W er t haben, und Eige nschaften, di e ihnen Wert geben. Wie aber im Fall des existenzialen Sachverhalts und Wertverhalts: Dass A existiert, ist wertvoll (gut, schön)? Antwort: Betrachten wir wertgebende Prädikate, so finden wir, dass ein Wertsein ihnen selbst anhaftet, und zwar dass das Wertsein primär zu ihren immanenten I nhalten gehört (bzw. als zu ihnen gehörig jeweils erscheint). So zum Mindesten hbeii absoluten Wertprädikaten, die Wert in sich selbst haben wollen. Hier nun gilt: Ist ein immanenter Inhalt wert (wie ein immanenter Inhalt es sein kann: hz. B.i „schön“), so ist das Objekt, das die entsprechende Eigenschaft hat dieses Inhalts, ein Schönes und als Seiendes ein Gutes, und zugleich gilt dann, dass die Existenz eines Gegenstandes dieses Inhalts selbst ein Wert, ein Gut ist. Umgekehrt, wenn das Urteil gilt: „Dass A existiert, ist gut“ – wie ist es da? Wie ist es ferner, wenn das Prädikat kein in sich selbst Gefälliges ist? Man wird wohl sagen müssen: Alle primären Werte sind Inhaltswerte. Handelt es sich um Dinggegenstände, so haben ja Dinge, obschon sie sich im Wahrnehmungszusammenhang empirisch konstituieren, doch sich konstituierende Inhalte, und diese sind die primären Wertträger. Freilich, ein Ding ist eine existenziale Einheit, es gehört zu seinem Wesen, eben individuelles Reales zu sein und in einem Dingzusammenhang zu sein, in einem Existenzialzusammenhang. Aber zum Wesen der Dinginhalte und zum Wesen ihrer realen Verkettungen, die kausale und überhaupt existenzial-reale Verkettungen sind, gehören die Wertvermittlungen. Es gehört zum Wesen eines Dingwertes also, dass das Ding Wert hat in sich oder vermöge seiner Verflechtungen mit anderen Dingen. Ist nun ein Ding so geartet seinem Wesen nach und nach dem Zusammenhang, in dem es gedacht ist, dass es Wert hat (ich fingiere etwa ein Ding in einem Zusammenhang), so sagt das: Zum Wesen solcher Dinglichkeit gehört Wert. Diese Wesensbetrachtung gründet aber in Assumtion und kann somit auch hsoi ausgesprochen werden: Gesetzt, es wäre dieses Ding (oder ein so geartetes), dann wäre es
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Gegenstand berechtigter Freude, wäre es erfreulich, wertes. Sich ein Ding phantasieren und es in einem Zusammenhang phantasieren, das ist, es in seiner Identität festhalten, also assumieren (wenn ich recht sehe). Freilich, das „Angenommen, es wäre in der Wirklichkeit (unter den Dingen, die ich als Wirklichkeiten kenne, und darunter denen, die ich jetzt sehe) ein solches Ding“, das ist etwas anderes, das darf nicht verwechselt werden. So dass also das „Gesetzt, es wäre“ doch nicht besagen kann „Gesetzt, es wäre in der bekannten Wirklichkeit“. Nun wie immer, zum Wesen der Dinglichkeit und der Dinglichkeit eines solchen Inhalts (in die das Vorstellungsding sich einordnet) gehören die und die Wertprädikate. Ist das für ein solches Dingwesen der Fall, dann gilt, dass ein solches existiere oder dass dies existiere, wäre gut. Ist A seinem Wesen nach und als Wesen wert, so ist Existenz des Inhalts A wert. Und umgekehrt: Ist es gut, dass ein A existiere, so muss A als Wesen in sich oder in einem mitgenommenen Wesenszusammenhang wert sein.1 Wenn wir einen gewöhnlichen Sachverhalt (nicht Wertsachverhalt) nehmen, so besteht er, das Urteil ist richtig, der Satz ist w ahr , w enn er si ch au swei sen l ässt, und das wieder führt darauf zurück – das ist ja die allzeite Stimme der Logik und Erkenntnistheorie –, dass a priori jedes Urteil dieses Sinnes, wenn wir eben seinem Sinn nachgehen, also den Zusammenhängen, in denen z. B. das empirische Objekt die empirischen Prädikate haben soll, notwendig wahr ist. Das Urteil ist entweder absolut, rein immanent gültig als Wesensurteil, oder es ist Übertragung auf den Einzelfall, und der Fall, das „Dies-da!“, ist das Irrationale; rational aber ist, dass ich das singuläre Urteil aus Wesensgründen zu fällen und mit empirischem Recht zu vertreten berechtigt bin. Überall haben wir den Dies-Faktor und den W es ens fakt or (bzw. Bedeutungsfaktor). Das ist noch nicht klar genug. Aber ich weiß ja, was da gemeint ist. A lles hat in h demi Apri ori sei ne l etzte Quelle, alle Wahrheit; nur die singulären Dies-Setzungen empirischer Art, die Realitätspunkte, sind ausgeschlossen. Sie sind aber Voraussetzungen für jede 1
Sollen Wertprädikate objektiv bestehen, Werturteile objektiv gelten können, so müssen sie Wesen sgrün de haben und bezogen sein auf das „W e s e n t l i c h e“ der wertgebenden Subjekte und Prädikate.
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mögliche Realitätswahrheit. Sie stören auch nicht das Apriori und dies, dass alle Wahrheit für das Dies auf apriorischem Grund ruht, unter apriorischen Prinzipien steht. Sind Werte objektive Prädikate der empirischen Gegenständlichkeiten, so müssen sie durch die Inhalte objektiv vorgezeichnet sein und hdurchi die Zusammenhänge der Inhalte. Werte sind keine konstitutiven und keine empirischen Prädikate (zum Ding als solchen konstitutiv gehörig oder Wirkungsprädikate: „theoretische“ Prädikate), aber sie sind in diesen eigentümlich fundiert: ideale Möglichkeiten des richtigen Wertens. Ein Wertverhalt ist nun ein Sachverhalt, der die Wertlage logisch fasst,1 der sich also darauf bezieht, dass der und der Gegenstand das und das wertgebende Prädikat hat oder dass er werter ist um der und der Prädikate willen oder dass Prädikate des Gegenstandes wert sind, sei es in sich oder um anderer Prädikate willen und dgl. Heißt es „Dass S P ist, ist erfreulich“, „Dass S P sein möge, ist wünschenswert“, so ist damit gesagt, dass dem P-Sein Erfreulichkeitswert zukommt und dem S um des P willen? Dass heute schönes Wetter ist, ist erfreulich, dass der Kaiser sich den Wünschen der Nation gefügt hat, ist erfreulich. Nun wird man doch sagen, es ist eine andere Form, ob ich sage „Ich freue mich über den Kaiser, weil er sich etc.“, oder ob ich objektiv sage „Der Kaiser ist Gegenstand einer berechtigten Freude, sofern …“, oder ob ich sage „Das Sich-den-Wünschen-des-Volkes-Gefügthaben des Kaisers ist erfreulich.“ Ich freue mich am Wohlgeschmack des Apfels; ich freue mich am Apfel, sofern er schmeckt; ich freue mich, dass der Apfel wohl schmeckt. Ich biete den Apfel einem anderen an. Ich freue mich an seinem Wohlgeschmack (den ich selbst nicht empfinde, von dem der andere aber Aussage macht). Den Apfel selbst schätze ich wegen des Wohlgeschmacks, und ich freue mich, dass dem anderen der Apfel wohl schmeckt. Da kommt aber etwas Neues: hIch freue michi an seinem Erleben des Geschmacks. Freude, dass S P i st; Freude am P-Sein des S; aber auch Freude, dass S (das existierende S) ein S ist, das P ist; Freude am S vermöge des Habens des P; Freude am Sein eines wertvollen S. Freude
1 Der folgende Text bis „Erleben des Geschmacks“ (unten, Zeile 31) ist im Manuskript mit einer vertikalen geschlängelten Linie durchgestrichen. – Anm. der Hrsg.
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setzt voraus Wahrnehmung (Gegenwart), Erinnerung (Gewesensein) oder ein Urteil, das in Seinsweise setzt „S ist P“ etc., also ein Wirkliches als wirklich setzt. Die Wahrnehmung berechtigt zur urteilsmäßigen Seinssetzung.
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„Es ist erfreulich, dass S P ist“, „Es ist traurig, dass S P ist“ (zufällig sagen wir nicht: „Es ist freudig, dass …“) histi natürlich etwas anderes als: „Ich freue mich“, „Ich bin traurig“, obschon, wer das hersterei aussagt, damit wohl auch seine Freude und seine Trauer mitkundgeben wird und wird kundgeben wollen.2 Ebenso „Es ist angenehm, schön, dass S P ist.“3 E s is t er f reuens wert, auch das meinen wir oft, wenn wir bloß sagen: Es ist erfreulich, es ist trauernswert, man hat allen Grund sich zu freuen, man muss wahrhaftig darüber trauern … Hier wird nicht bloß das Freudig- und Traurigsein objektiv auf die Sachlage bezogen, sondern es wird die Freude über die Sache bzw. die Trauer über die Sache selbst gewertet, sie wird gebilligt. Ebenso, wenn wir sagen: Es ist erwünscht – es ist wünschenswert, es ist begehrenswert, es ist strebens- (wollens-)wert. Es ist beliebt, geliebt, es ist liebenswert. W as bedeutet dies es „ wert “? Wert der Freude, des Wunsches, der Liebe etc. Etwas ist der Freude wert, etwas ist der Liebe wert. Ein Ziel ist des Willens wert. Heißt das, es ist erfreulich, dass man sich darüber freut, dass man dergleichen wünscht, begehrt? Da kehrt aber die Frage wieder: Soll man sagen, wir haben einmal pr imär e Gem üts akte, hz. B.i ein Geschmack gefällt uns, er ist ein Wohlgeschmack, er ist angenehm, lieblich etc. (objektive Prädikate), eine Tatsache erweckt Freude oder Trauer, oder wir begehren nach etwas (diese Gemütsakte können dabei schon mehr oder minder komplex sein), dann aber gibt es gewisse wertende, billigende Akte? Billigen sei nicht bloßes Gefallen? (Eine Speise, ein Wein gefällt, ein Buch gefällt mir, ein Bild gefällt mir.) Ich kann dieses Gefallen haben, damit billige ich nicht. Bi l l i gen setzt schon Gefallen
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hWohl 1911i. – Durchaus fertig! – Vgl. Ax hsiehe oben, Text VIi. Im Wesentlichen dasselbe: „Es ist erfreuend, hat die Eigenschaft zu erfreuen, es ist betrübend, hat die Eigenschaft zu betrüben.“ 3 Nur dass die Beziehung auf das Subjekt hier zurücktritt, auch hdiei auf unbestimmte Subjekte. 2
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vor aus. Ich missbillige z. B. eine Lust, ich missbillige eine sinnliche, eine „böse“ Lust; sie ist böse, darin liegt schon die Missbilligung. Billigung ist verwandt mit Gefallen; Missbilligung ist verwandt mit Missfallen, aber es ist ein sekundäres G efühl, es geht auf primäre Akte und zunächst auch auf Gefühle, Gemütstätigkeiten, hesi ist auf sie gerichtet bzw. auf ihre Gegenstände als solche. Billigung ist Billigung einer Lust, einer Freude, einer Hoffnung, eines Wunsches etc. oder eines Gefallensobjekts, eines Freudenobjekts, eines Erhofften, Erwünschten, Gewollten als solchen.1 Ich billige oder missbillige ein Ziel, einen Gegenstand, einen Sachverhalt als Gegenstand eines Gemütsverhaltens. Zu beachten ist, dass nicht etwa die Billigung eine zweite Lust ist, die irgendhwiei mit einer ersten vereint ist, sondern dass Billigung ein Gefallen ist, das a uf ei n G em ütsverhalten als Objekt ger ic htet is t, aber so, dass es auf dieses gerichtet ist, sofern es s ic h s einers eit s auf sei n O bj ekt ri chtet. Ich billige eine Lust als Lust an O, ich billige eine Freude als Freude an A, ich billige einen Wunsch als Wunsch über A usw. Ich kann auch sagen: Ich billige, dass der Akt sich auf dieses sein Objekt richtet, also diesen Sachverhalt. Aber es bestehen hier zugehörige Modifikationen: Ich billige auch den Akt, sofern er auf das Objekt sich richtet, und das Objekt, sofern es Objekt dieses Aktes ist. Wir bemerken dabei, dass das Ausgeführte in einer weiteren Sphäre gilt, nicht bloß für Gemütsakte. Auch Ur teile billige ich, s ofer n s ie auf i hre Sa chen gehen, sofern sie von Shacheni aussagen, dass ihnen P zukommt oder nicht zukommt. Auch Fragen billige ich, sofern sie fragen, ob S P ist. (Das „kann“ vielleicht nicht gefragt werden, es ist unvernünftig, so zu fragen.) Auch Vermutungen billige ich usw. Jeder Akt, nach dessen Recht ich fragen kann, untersteht der Billigung oder Missbilligung, und zwar geht die Billigung eben auf „ Ric hti gkei t “, d. h. auf den Akt, sofern er sich auf sein Objekt (seinen Gegenstand, seinen Sachverhalt …) richtet, oder darauf, dass er sich so richtet usw. Die Billigung gehört aber selbst zu den Akten, die ihr Recht oder Unrecht haben, und so gehört sie selbst in diese Reihe.
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Vgl. folgende Seite hab S. 314,18i!
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Was ist das nun für ein Akt „Billigung“? Ist es ein „Verstandesakt“ oder ein Gemütsakt? Nehmen wir U rteile, die wir billigen. Wir billigen U, das heißt zunächst: 1) Wir urteilen, dass das U richtig ist, dass es „stimmt“, dass es begründbar ist. 2) Wir werten im prägnanten Sinn, wir billigen das Urteil um seiner (sub 1 beurteilten) Richtigkeit willen. Wir legen nämlich Wert darauf, dass unsere Urteile überhaupt, und so dieses da, stimmen. Wir haben es auf Wahrheit im Urteilen abgesehen: also Gefallen über die nicht nur vorgestellte, sondern geglaubte und eventuell eingesehene Richtigkeit. Es kann dann a) das Urteil „ausgewertet“ werden. Das Urteil kann evident hseini, und dass es stimmt, kann wieder mit Evidenz konstatiert sein. b) Es kann die Wertung selbst ausgewertet werden, oder sie ist dann ausgewertet. Sie ist vollkommen erfüllte Billigung, und dass sie es ist, kann wieder evident konstatiert werden. Es ist klar: Wird das Urteil evident, so ist auch die Billigung eine „erfüllte“, eine in ihrer Art evidente. Wie verhält es sich dann mit den Billigungen, die sich auf Vermutungen, Fragen, weiter auf Freuden, Wünsche, Wollungen richten? Sich so hzui freuen, so hzui wünschen, hzui wollen ist recht. 1) Hier haben wir nicht ein Urteil über eine Urteilsrichtigkeit, sondern ein Urteil über eine Gemütsrichtigkeit. Die Gemütsrichtigkeit ist ein dem betreffenden Akt als Akt dieses „Inhalts“ zukommendes Prädikat. Wir kennen es alle, wir drücken es eben mit „recht“ aus. (Insbesondere in der Willenssphäre, sonst sagen wir auch „E s gehör t si ch“ oder auch „Es ist recht, sich so zu freuen; so zu wünschen etc., es ist richtig.“) 2) Wir legen auf richtiges Gemütsverhalten wert, wir billigen es in dem zweiten Sinn. Dieses Billigen ist Gefallen über das Rechtsein, Richtigsein. Wir können somit das Resultat so fassen: Das Billigen ist ein Gemüts akt , und zwar ei n G efal l en an der (geglaubten und eventuell erkann ten) Ri chti gkeit eines Aktes. In dem Ur teil über Ric hti gkei t i st di eses G efallen gegründet. W ie ver halt en si ch nun Werten und Billigen? Das Urteil heißt „Für-wahr-Halten“1 (eventuell Anerkennen und Verwerfen), 1
Ich urteile so: Ich halte das für wahr, ich halte das für richtig.
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oft im Sinn von Für-richtig-Halten. Andererseits „für wahr gehalten“ kann im eigentlichen Sinn nur werden ein Urteil, dieses Für-wahrHalten heißt dafür halten, dass das Urteil richtig sei. Wir haben zu unterscheiden: 1) Das Urteilen als sc hl i chtes U rtei l en, als Meinen, Überzeugtsein: S ist P! 2) Das s ekundäre U rtei l der eigentlichen Für-wahr- oder -richtig-Haltung: Das Urteil „S ist P“ ist richtig. Dazu 3) das Anerkennen, Billigen des Urteils (bzw. das Missbilligen), nämlich das Anerkennen aufgrund dieses richtigen Urteils, d. i. hdasi Anerkennen oder Billigen des Urteils als eines richtigen. Ebenso: Jeder Akt i st i m wei testen Sinn ein „ Werten “, ein Wertvermeinen. Er wertet (so in dem Sinn, wie jedes Urteil ein Werten ist, nämlich ein Für-wert-Halten, Für-richtig-Halten; siehe oben).1 Aber ein eigentliches Für-wert-Halten ist das Billigen, das ist, es ist ein Für-richtig-Halten eines Aktes und ein darin fundiertes Gefallen an der Richtigkeit. Man versteht auch, dass „gewertet“ doppelsinnig heißt, entweder: Ein Wert ist intentional, ist „bewusst“, oder: Ein Wert ist gebilligt, das heißt, ei n Objekt als Objekt der und der W er tung erf ährt Bi l l i gung. Hingewiesen wurde dabei schon auf die Verschiebung, die nicht eine bloß verbale ist: Billigung des Objekt s als O bje kts ri chti ger Wertung, des Aktes als z um Objekt s ti mm end, und des Wertverhalts, d ass der Akt z um Objekt st im mt , rechtm äßi g i hm zugehört. Sofern jeder Akt, der den Charakter einer gewissen Meinung (Intention in einem gewissen Sinn) hat (also „bloßes Vorstellen“ gehört dazu nicht), Objekt einer Billigung oder Missbilligung werden kann, heißt es von ihm, dass er „Anspruch auf Billigung“ bzw. Missbilligung erhebe, oder vielmehr – da nur auf Akte, die Billigung verdienen, Wert gelegt werden kann – heißt es von jedem Akt vor aller „Beurteilung“, dass er Anspruch auf positive Billigung erhebe. Von seinem Objekt (gegenständlichen Korrelat) heißt es, dass es Anspruch darauf erhebe, ein Wert zu sein (je nachdem ein positiver oder negativer, je nachdem der Akt den Charakter der Positivität oder Negativität hat). Vom Akt sagen wir auch, dass er Anspruch auf R ic htigkeit (und damit zugleich Billigkeit) erhebe. 1
Dann ist Akt und Werten eben identifiziert, was doch ganz unpraktisch ist.
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Unter „wertschätzender Beurteilung“ verstehen wir den Vollzug eines Urteils, das einer Billigung (Wertschätzung) Ausdruck gibt. Wir „schätzen“ ein Urteil als wahr oder falsch, das ist, wir urteilen darüber und urteilen, es sei richtig oder unrichtig. Wir vollziehen in dies em einen Si nn „Anerkennung“ oder Verwerfung, „Billigung“ oder Missbilligung, was alles dasselbe besagt.1 Andererseits kann das Anerkennen, Billigen, Positiv-Schätzen anderes besagen.2 Ein Urteil hat für mich Wert (es mag auch verworren sein), wenn es zu den Sachen stimmt, wenn es zu bewähren, zu begründen ist; oder, was dasselbe ist, wenn es richtig ist. Wir müssen also scheiden: die Wahrheit, Richtigkeit des Urteils, als seine Eigenschaft zu stimmen, und den W er t, den d as U rtei l al s wahres besitzt, vermöge dieser Eigenschaft besitzt.3 Wir erstreben Wahrheit, das heißt, wir streben danach, dass wir nur Urteile fällen, die stimmen, die Richtigkeit haben. Also in der Wahrheit als Richtigkeit hat dieses Streben sein Ziel. Es sieht darin einen Wert, und einen praktischen Wert. Meinen wir, dass ein Urteil diese Richtigkeit, diesen Wert hat, so billigen wir es (im zweiten Sinn). Die Wahrheit, Richtigkeit, histi ein Gesolltes mit Rücksicht darauf, dass sie ein praktischer Wert und ein wahrhafter praktischer Wert ist. Also, Sol len de r Wahrhei t entspringend aus dem Wahrdenken-W ol len, aus dem Wahrheitsstreben. Das Urteil (als Idee, aber phansisch verstanden) ist richtig, das heißt, im Urteil „erscheint“ ein Sachverhalt, das „S ist P!“. Und das Urteil ist richtig, wenn sein Sachverhalt besteht, wenn ihm Wahrheit im ontischen Sinn entspricht. Ähnliches gilt nun auch von den anderen Akten. In der Frage „erscheint“ ein Fraglichsein, in der Vermutung ein Vermutlichsein (eine Wahrscheinlichkeit) etc. Haben wir nicht auch hier die Möglic hkeit einer Rede von Bi l l i gen, Anerkennen, und zwar in einem analoge n e rsten und zwei ten Sinn? Natürlich! So wie ich ein Urteil beurteilen kann als richtig oder unrichtig, so auch eine Frage oder Vermutung. Die Frage ist richtig, wenn das, was sie
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Erster Sinn von Anerkennung oder Billigung. Zweiter Sinn dieser Begriffe. 3 Hier ist noch genauer zu scheiden. Ge f a l l e n an der Wahrheit (bzw. sattes hGefalleni an dem einsichtigen Besitz der Wahrheit) und E r s t r e b e n der Wahrheit: Gefallenswert und praktischer Wert. 2
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fragt – die Frage im ontischen Sinn (das Fraglichsein) –, besteht; die Vermutung ist richtig, wenn das, was sie vermutet – die Wahrscheinlichkeit –, besteht. Und darauf kann sich das Urteilen beziehen. Wir beurteilen Fragen, Vermutungen usw. hinsichtlich ihrer Richtigkeit und Unrichtigkeit, und korrelativ, wir urteilen, ob Fraglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten bestehen. Zum Beispiel, die und die Kenntnisse vorausgesetzt, ist es eine Frage, ist es offen, ist es in Bezug auf Wahrheit und Falschheit unentschieden, ob S P ist. Die und die Kenntnisse und Unkenntnisse vorausgesetzt, ist es zu vermuten (besteht die Vermutung, ist es eine Wahrscheinlichkeit), dass S P ist. Das Fraglichkeitsurteil, das Wahrscheinlichkeitsurteil, ist dann berechtigt, es stimmt, wenn sich das eben ausweisen lässt. Wir urteilen auch und meinen, dies begründen, einsehen zu können: Das Wissen, dass M ist, schließt die Frage, ob M ist, den Zweifel, ob M ist, und schließt die Vermutung, dass M ist, aus. Das Wissen, dass A nicht ist, schließt die Vermutung, dass A ist, die Frage, ob A ist, den Zweifel, ob es ist, aus. Legen wir überhaupt auf richtige Urteile Wert, so auch auf richtige Urteile über das Recht von Fragen, Vermutungen etc. Wir legen aber auch Wert darauf, richtig zu fragen, richtig zu vermuten, richtig zu zweifeln etc. Wir billigen dergleichen und wir erstreben es. So wie die „Billigung“ der Richtigkeit von Urteilen auf dem Urteil über diese Richtigkeit beruht, so die Billigung der Richtigkeit von Fragen, Vermutungen etc. auf Urteilen über diese Richtigkeit. Dieses Billigen, Anerkennen, Zustimmen unterscheidet sich offenbar von dem anderen, bloß urteilenden. Wir stimmen urteilend zu, das heißt, wir stimmen zu: Ja, das ist fraglich, das ist zu vermuten. Die Frage, die Vermutung hat ihre Richtigkeit. Äquivalent damit: Die Urteile „Das ist fraglich“, „Das ist wahrscheinlich“ sind wahr – äquivalent, aber nicht identisch. Wie ist es bei Wünschen? Ich wünsche, S möge P sein, ich billige den Wunsch im einen Sinn: Ich urteile, der Wunsch ist berechtigt. Ich urteile: Dass S P sei, ist wünschenswert, und ich billige den Wunsch im zweiten Sinn, ich lege auf solches Wünschen, auf richtiges, Wert. Das Urteil weist sich aus, wenn sich die Berechtigung ausweist, wenn sich herausstellt, dass das Wunschobjekt ein gutes sei usw. Der Wunsch bestätigt sich als richtiger. In der „Überlegung“, den Wertmotivationen und ihrer Erfüllung nachgehend, kommt mir seine Richtigkeit zur wirklichen Gegebenheit, und nach dieser Gegebenheit orientiert
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sich das Urteil, das nun ein evidentes und das ursprünglich nicht evidente Urteil ausweisendes ist, seine Urteilsintention (prädikative) erfüllend. Etwas anderes ist dann die Ausweisung des Rechtes der wertenden Billigung, des auf berechtigtes Wünschen Wertlegens bzw. 5 des Wünschens und Strebens. Also überall der eine Hauptsinn von Billigung: Beurteilung einer Richtigkeit, und diese Richtigkeit ist Übereinstimmung der Urteilsmeinung, Vermutungsmeinung, Wunschmeinung etc. mit ihrer „Sache“, mit ihrem Vermeinten. Diese Übereinstimmung ist phan10 seologisch das Deckungsbewusstsein zwischen dem betreffenden Urteilen, Fragen, Vermuten, Wünschen etc. und dem entsprechenden „ or iginär en “ Bewus stsei n, in dem das „S ist P!“, „Ist S P?“, „S dürfte P sein!“ zur Selbst-„Gegebenheit“ kommen, oder, wie wir auch sagen können, hin demi das Wahrhaftsein (Ausrufungszeichen), 15 das „fraglich“, das „möge“ etc. als Wahrsein, Fraglichsein, Seinmögen dieses Bedeutungsgehalts zur Sel bstgegebenheit kommen.
B. INTELLEKT UND GEMÜT. SIND GEMÜTSAKTE OBJEKTIVIERENDE AKTE? – GEMÜTSAKTE UND IHRE BEZIEHUNG AUF OBJEKTE
Nr. 9 h Die verschie denen Bewusstseinssphären und die allgem einen, alle Sphären bet reff enden B ewuss tseinsformeni1
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I. 1) Theoretische (vorstellende) Setzung: schlichter Glaube und theoretische Billigung, Bejahung. 2) Praktische Setzung: schlichtes Wollen, Willensbejahung, Willensbilligung. Theoretische Sphäre: Neigung als Anmutung, überwiegende Vermutung, Frage und Zweifel. Praktische Sphäre: Haupttendenz, überwiegende Tendenz, Willenszweifel, Willensfrage: „Soll ich das oder das?“ Gefühlssphäre. 3) Gefallenssetzung: Schlichtes Gefallen (und Missfallen), Gefallens-Billigung, Bejahung. Neigung zum Gefallen. Eine Melodie möchte mir gefallen, ich fühle ihren Reiz, ich bin geneigt, sie schön zu finden, aber Verschiedenes spricht dagegen. Ich bin auch geneigt, sie abzulehnen. Oder eine Speise schmecke ich: Ich weiß nicht recht, ob ich sie gut oder schlecht finden soll. Einiges berührt mich angenehm, anderes unangenehm, aber schließlich sage ich: Alles in allem ganz gut! Ich freunde mich damit an. Es ist ein Unterschied, gefühlsmäßig zu sagen „in der Hinsicht schön, in der unschön, in der etwas zu süßlich, in der etwas gesucht“ – oder das Ganze zu nehmen, wie es ist, und es als Ganzes zu werten: hübsch, interessant etc. Ich kann Neigung haben, das Ganze gefühlsmäßig anzuerkennen, oder ich kann einfach eine positive Gefallensneigung empfinden und dann übergehen zum wirklichen Gefallen. Ich kann aber auch zwischen entgegengesetzten, auf das Ganze bezogenen Gefallensneigungen schwanken.
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Wohl Oktober/November 1909. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 321 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3
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4) Wunsch. Schlichter Wunsch, Wunschneigung, Entscheidung. II. W ohin gehört d as Begrei fen, das Bedeuten, das mit A us dr üc ken verf loc hten i st? Müssen wir nicht sagen, das ist keine neue Art der „Stellungnahme“, keine neue Art von Akten, sondern eine zu allen Arten derselben gehörige „Weise“, ein Modus, derart, dass es ein vorstellendes Begreifen gibt, ein fühlendes, ein begehrendes und ein wollendes.1 III. E benso Synthe si s al s etwas zu allen Akten Gehöriges, z.B. das kollektive Gefallen, kollektive Wünschen und Wollen. Das Einheitsbewusstsein im Vorstellen, im Gefallen etc. Ebenso das Identitätsbewusstsein.2 IV. Wieder zu allen Akten gehört (mögen sie sonst in welchen Modi ausgestattet sein) der Unterschied zwischen verworren und klar, implizit, explizit. V. Ferner, allgemeine Unterschiede zwischen Impression und Idee und verschiedener Formen des Ideebewusstseins (Phantasie, Bild). VI. Endlich die Unterschiede unterer, schlichter und höherer Apperzeptionen. Zu jedem explizit synthetisch und etwa auch begrifflich fassendem Akt gehört ein vages Gesamtbewusstsein, und das fungiert insofern wie eine schlichte Apperzeption, als „darin“ ein Vorstellen leben kann, das einen Gegenstand entnimmt, ein Meinen, das ihn meint. Auf diesen Gegenstand kann sich ein Akt des Gefallens beziehen, ein Wünschen, ein Wollen. Darin liegt es, dass wir bei jedem Akt, wie beim schlichtesten so bei komplexen, von Apperzeptionen sprechen. Ein vages Hintergrundsbewusstsein kann da sein, es braucht im Akt kein Meinen zu leben etc. Die analytischen Formen des Bewusstseins – inwiefern sie Formen des Meinens sind. Einerlei ist vorstellendes Meinen, Glaube, die repräsentativen Formen (Phantasie, Bild). VII. Neu gestiftete Meinung in hdeni Hintergrund tretend. Neu gestiftete Synthesis: Die Meinung ist nicht mehr lebendige Meinung; sie wird unlebendig, obschon sie impressional bleibt. Dieselbe höhere Apperzeption, aber geändert der Modus der „Lebendigkeit“ (Hintergrund). 1
Also Modi bei allen vier „Klassen“. Mehrheit, eins aus der Mehrheit, Teil im Ganzen, Bestimmtheit am Gegenstand, Sachverhalt, Beziehung. 2
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VIII. Motivation: wieder etwas Allgemeines sei das Umwillen. Ferner die verwandten Zusammenhänge der Begründung, die hdiei Momente eines Aktes haben, sofern sie sich zur Einheit eines Verständnisses zusammenschließen.
Nr. 10 hW unsc h und Wunschverhal t. Wunschaussagen als unm it tel barer Ausdruck von Wünschen. Freude, Lust und Wünschen in ihrem V erhäl tni s z um Werten. Wert und Sollen i1
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Müssen wir nicht sagen, in gewisser Weise sei jeder Akt objektivierend, jeder sei in einem weitesten Sinn Vorstellen-von, Bewusstseinvon?2 Also im Fragen bin ich mir der Frage „Ist S P?“ bewusst, im Vermuten der Vermutung „S dürfte P sein“, im Zweifel des Zweifels, ob S P ist, im Wunschakt des Wunsches „S möge P sein“, im Wollen des Entschlusses „S soll P sein!“. Und all das ist in der Weise „bewusst“, dass es gewissermaßen „erscheint“, bald klar, bald verworren, und, indem es erscheint, gemeint ist. Überall haben wir eine Bedeutung sowohl im phansischen wie im ontischen Sinn. Der Wunsch im phansischen Sinn ist die phansische Einheit des Wünschens bei eventuell wechselndem phansischen Gehalt (z. B. Anschauungswechsel in sinnlicher Beziehung), und die Wunschbedeutung im phansischen Sinn ist die zugehörige Idee solcher Einheit, dasselbe im Wünschen. Wünschend sind wir aber, wie in jedem Akt, ontisch gerichtet. Es erscheint etwas, es steht etwas da: nämlich das „Seinmöge“. Nun können wir im Wechsel der ontischen Wunscherscheinung (die wir jeweils zum Objekt eines Meinens aufmerkender und thematischer Zuwendung machen können, aber hier nicht zu machen haben) das identisch Gemeinte (das „S möge P sein!“) als solches fixieren. Wir gewinnen so den idealen Gegenstand „Wunschverhalt als solchen“, und dieser ontischen Wunschbedeutung – wir könnten sagen: dem ontischen Wunschsatz in einem nicht grammatischen, sondern bedeutungsmäßigen Sinn – entspricht nun oder entspricht nicht der „wirkliche Wunschverhalt“, die entsprechende „Wirklichkeit“; es kann nämlich in Wirklichkeit oder Wahrheit so sein, nämlich, dass S P sein möge, dass dem „S-P-Sein“ das Prädikat des „möge“, des „Es ist zu wünschen“ (wir haben für das objektive Prädikat kein eigenes Wort) zukomme. 1 2
Wohl Oktober/November 1909. – Anm. der Hrsg. Cf. Q 23 ff. h= S. 32,12 ff.i.
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Dabei wäre aber zu beachten, dass das Wünschen kein „Denken“, kein Prädizieren ist. Auch wenn das Wünschen, was nicht immer der Fall ist, sich auf Denken gründet, auf einen gedachten Sachverhalt bezieht, so ist es doch nicht selbst ein Denken. Es ist eben Wünschen. Aber es kann unmittelbar als Unterlage für ein Denken dienen, das das Gewünschte als ein Dies und als ein zu Bestimmendes fasst oder auch von dem Wunschsatz, ihn zum eigenen Denkobjekt machend, aussagt (und begründet), er sei gültig oder ungültig. Aber warum sagen wir hier nicht, der Wunschsatz ist wahr oder falsch (phansisch gesprochen)? Und warum sagen wir vom Wunschverhalt, er bestehe in Wahrheit oder bestehe nicht?1 Man könnte darauf antworten: Während wir hinsichtlich der äußeren Wirklichkeit und der Naturwirklichkeit überhaupt durchaus auf Wahrheit und Falschheit gerichtet sind, während es aus praktischem Interesse sehr darauf ankommt, dass wir das Richtige treffen, um nicht praktisch enttäuscht zu werden, verhält es sich anders im Wunschgebiet. Wir sind da nicht überall darauf aus, im Wunsch das Richtige zu treffen, also das Wünschenswerte, das Wahre im Wunschgebiet. Ebenso wie in Sachen der Wirklichkeit verhält es sich in der mathematischen Sphäre, da ja ursprünglich die Mathematik ausschließlich Instrument des logischen Denkens in der Natursphäre war. So könnte man sich ja die Sachen zurechtlegen. Auch bestehen für die Wunschverhalte nicht so weitreichende komplizierte Verflochtenheiten, die auszuwickeln wir besonders interessiert wären. Natürlich würde sich als Konsequenz dieser Auffassung auch eine ganz andere Stellung zum Problem der Wunschaussagen ergeben. Sie könnten dann als unmittelbare Ausdrücke von Wünschen gelten. Die den Worten anhaftenden Intentionen sind zwar überhaupt und durchaus Denkintentionen, aber sich unmittelbar beziehend wie auf sinnlich Vorgestelltes und Prädikatives so auch auf Optatives. (Doch ist die Rede von Denkintentionen als Ausdrucksintentionen ein Problem. Das ganze „S ist P!“, „S möge P sein!“ etc. ist denkmäßig gefasst und in dieser Fassung ausgedrückt.2) Jedenfalls bedarf es nicht 1
Hat nicht Mart y diese Frage erwogen? Wichtige Bemerkung: Als Unterlage des Urteils als Akt des Begreifens haben wir eine prädikative Synthesis, eine Ist-Synthese. Diese als Ganzes und nach ihrer 2
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eines besonderen Hinblicks auf den Wunsch im Sinn einer phanseologisch gerichteten Wahrnehmung und überhaupt keines besonderen Wahrnehmens in einem noch so weiten Sinn. Das Wünschen selbst ist dieses Wahrnehmen. Dasselbe, was von den Wünschen ausgeführt wurde, wäre nun auszuführen, müsste sich ausführen lassen, von den übrigen Akten.1 Im Werten steht etwas als wert da. Ein Seiendes steht als gut, als Seinswert da, das heißt, ein als seiend Dastehendes, als wirklicher Gegenstand, steht im Werten, das sich auf dem nicht wertenden Objektivieren (Glauben) gründet, zugleich als gut da, als gut Gemeintes. Ein nicht als seiend Gegebenes oder in einer leeren Vorstellung im Glauben Gesetztes kann bloß vorgestellt sein (ohne Glauben); es steht, wenn wir es als seiend ansetzen, annehmen, als unter dieser Annahme Wertes da. Werten kann sich auf Denken gründen. Ich denke einen Sachverhalt und dass es so ist, steht als recht (so ist es recht) da, als wert, so wie Sachverhalte wert sind, natürlich im wertenden Akt, der sich auf den Urteilsakt oder seine Modifikation baut. Natürlich kann das Werten positives und negatives sein. Ferner unmittelbares und mittelbares hWerteni (Endwert, Mittelwert). Werten kann auch Gefallen und Missfallen heißen. Doch2 ist zu unterscheiden. Nämlich wie steht es mit dem SichFreuen und Sich-Betrüben? Im Freuen steht etwas als erfreulich da. Im Lusthaben an einer dastehenden Sache steht sie als lustvoll da. Steckt nicht im Freuen ein Positiv-Werten? Immer? Aber gibt es nicht Freude am Schlechten und Für-schlecht-Gehaltenen? Es muss also heißen: Freude kann gerichtet sein auf positiv Wertes, und nur wenn sie es ist, kann sie selbst Wert haben und kann das Objekt erfreuenswert sein, und das ist, objektiv „erfreulich“. Freude muss Gliederung kommt zum begrifflich fassenden Ausdruck. Urteil ist begrifflich fassender unmodifizierter Ausdruck einer solchen Ist-Synthese, d. i. die dem Urteil zugrunde liegende und in es eingehende „Vorstellung“ in einem Sinn. Ebenso kann sich auf solch eine Ist-Synthese ein „möge“ gründen. Dann wird dieser Komplex begrifflich gefasst und ausgedrückt, und dieser Komplex ist der Wunsch als „Vorstellung“, vor dem begrifflichen Ausdruck. Das kann zunächst ontisch und dann auch phansisch verstanden werden. 1 Tastende Überlegungen. 2 An den Rand dieses Absatzes hat Husserl später ein Fragezeichen gesetzt. – Anm. der Hrsg.
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also beschränkt werden auf Wertes. Wenn sich aber jemand über in sich Gleichgültiges und auch als Mittel Gleichgültiges freut, ist das eine schlechthin wertlose Freude? Ist Freude nicht überhaupt wert, nämlich wofern sie nicht auf Schlechtes geht? Was Lust anlangt, könnte man sagen: Sie gehört nicht hierher. Lust ist kein Bewusstsein, sondern Lust ist etwas, was erst auf das Objekt bezogen wird. Das Objekt steht als angenehm da, lusterregend. Sehe ich darauf hin oder „genieße“ ich es (Essen), so empfinde ich Lust; werde ich unterbrochen im Genießen, so schwindet die Lust. Sie ist etwas als Erregung daran Geknüpftes. Lust sei also nicht Werten. Lust ist selbst etwas, das gewertet wird. Lust als erregt durch Unwertes (oder für unwert Gehaltenes) ist unwert. Lust erregt durch Wertes ist wert. Lust erregt durch Gleichgültiges ist in sich betrachtet wert (oder gleichgültig?). Je werter ein Wert ist, umso besser ist die Lust daran; je unwerter ein Wert ist, umso schlechter ist die Lust daran. Ähnlich mit den Intensitäten. Freude an der Erscheinungsweise. Freude am Vorgestellten, Angeschauten, Gedachten als solchen, so wie es da voll oder leer, anschaulich oder partiell anschaulich etc. gemeint ist. Liegt da ein Werten zugrunde? Beim Schönheitswerten kommt es nicht auf Sein an, nicht auf Sein des Gegenstandes, auch nicht auf Sein der Erscheinung, der Meinung. Der Gegenstand kann darum auch wert sein, weil er solche Erscheinung darbietet oder darbieten kann. Aber dann hat dieser Wert seinen Grund in der reinen Wertung der Erscheinung als solcher, also des idealen Gegenstandes. Auch hier ist die Freude von der Wertung zu unterscheiden. Hochwerten ist nicht Sich-aktivFreuen, die Freude ist berechtigt, aber braucht nicht da zu sein. Es braucht natürlich auch nicht an sie gedacht zu sein. Wertung vom Schönen begründet normalerweise und soll begründen Freude am Schönen, ist aber nicht selbst Freude.1 Führen nicht alle Seinswerte zuletzt auf Wesenswerte? Ein Seinswert in sich, ist das nicht ein Wert, der zuletzt sich an das Wesen des Gegenstandes knüpft? Entspricht mindesthensi nicht jedem Seinswert in sich ein Wesenswert des Gegenstandswesens? Seinswerte sind Werte von Seiendem. Wertung kann sich nicht nur gründen auf Für-Sein-Haltungen, sondern auch auf „Nichtwissen vom Sein“, auf 1
Unklar.
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„Offenbleiben“, ob hesi ist oder nicht ist, oder auch auf Bewusstsein, dass hesi nicht ist. Und zwar, meine ich, als Sollenswertung. Ein gewisses Sollen gehört zu jedem Wert. Das für seiend Gehaltene steht eventuell als Gesolltes da, und zwar als Wertseiendes. (Kann man dann das Wertsein direkt und in sich ein Gesolltsein nennen?) Nämlich das Werte, wenn es nicht existierte, sollte sein. Was liegt darin? Ein als wirklich Vorgestelltes oder Gedachtes erscheint als eigentümlich Wertes, nämlich Gesolltes. Das Sein (nicht das Wirklichsein, das im Glauben als Wirklichkeit dasteht, sondern ein nicht geglaubtes, aber vorgestelltes Sein) steht als gesollt da und in dieser Sollensweise gewertet. Dazu gehört: Wenn das wäre, so wäre ein Wertes. Aber das ist nur ein apriorischer Zusammenhang. Das Gesollte als solches ist ein Letztes. Wie steht es nun mit dem Wünschen? Ich stelle mir vor, ich hätte Geld. Ich habe es nicht. Ich fühle den Mangel, das Nichthaben steht „als mangelhaft da“. Ich fühle weiter Begehren, Danach-Langen; nämlich die Vorstellung vom Haben, der Gedanke an das Haben, erregt Begehren. Oder in der Vorstellung stelle ich mir Haben von Geld vor und darauf „richtet sich“ Begehren. Das Vorgestellte steht da als Gemochtes, als Begehrtes und von mir Begehrtes. Geld haben möchte ich. Es ist „Ziel“ meines Sehnens. Dabei ist zu bemerken: Es hieß soeben, das Vorgestellte, Gedachte, stehe da als Gemochtes. Aber das Vorgestellte ist doch kein Seiendes, und das „Es steht da“ kann auch nicht hbeisagen, es steht gleichsam da. Ein Vorgestelltes, z. B. ein in der Phantasie (also ebenfalls nicht als seiend Gesetztes) Vorschwebendes, „steht da“ als golden. Aus Gold zu sein, ist Merkmal des Vorgestellten, so wie es vorgestellt ist. Aber so steht nicht etwa das Gewünschte da als gemocht. Der ganze Wunschinhalt „S möge P sein“ ist ja nicht ein „Sein in bloßer Vorstellung“. Andererseits ist das Gewünschte ein bloß Vorgestelltes, z. B. das gewünschte Geldhaben bloß vorgestellt, und ich sage von ihm: „Dies ist es, was ich möchte.“ Man wird darauf antworten, ein gedachter „Sachverhalt“ steht ähnlich da als seinsollender, gemochter und dgl., so wie ein solcher Sachverhalt dasteht als gewesen seiender in der Erinnerung oder wie ein Sachverhalt (aus meiner vergegenwärtigten, aber nicht gesehenen Umgebung) dasteht als jetzt seiender wirklicher. Der „Sachverhalt“ „S ist P“ ist das noch nicht qualifizierte „S ist P“, und dieses bezeichne ich auch in
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Bezug auf mich und meine Akte als das Geglaubte („Inhalt“ meines Glaubens), Erwünschte, Gewollte. Haben wir nun zu sagen, dass jedem Wünschen ein Werten zugrunde liegt (ein Sollenswerten), derart, dass dem „Es möge S sein“ zugrunde liegt das „Es soll S sein“? Oder haben wir nicht – so wie oben beim Gefallen (Freuen) und Missfallen – zu sagen: Nicht liegt wirklich überall zugrunde ein eigentliches Werthalten, aber nur wenn das der Fall sein kann in der Art, dass das Werten ein richtiges ist, kann der Wunsch selbst als berechtigter dastehen und selbst als rechter. Das geht ja auch hervor aus dem Zusammenhang von Wunsch und Freude. Man kann auch sagen: Gewiss steht der „Inhalt“ „S ist P“ und dgl. als gewünscht, als erfreuend etc. da und mag seine Gefühlsfärbung hierbei haben (ohne dass an Beziehung zum Ich und dessen Gefühlserregtsein gedacht würde), diese Färbungen lassen aber nur unter gewissen Umständen Erhebung zu objektiven Prädikaten zu. Das sicher. Es fragt sich dabei aber, ob das „möge“ etc. in Bezug auf den bloßen Sachverhalt „S ist P“ als bloßer Inhalt dieselbe Rolle spielt wie in der Urteilssphäre das „wirklich“ (das Korrelat des Glaubensmoments) und ob in der Gemütssphäre überall ein eigenes Werten vermittelt.
Nr. 11 h Das G efa l l en (Freude) als Zustand. Sei ne Err egung durch ei n phantasiertes Objekt ode r ei ne Tatsache. Doxische Pr ädikat e der proposi ti ona len Materie gegenü ber G em ütsprädikaten als Pr ädi katen von Tatsacheni1
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Das Gefallen, der Akt. Gefällig ist das Objekt, es steht „im“ Gefallen als gefällig da. Das Gefallen ist mein Zustand, ich fühle Gefallen. Das Gefallen wird auf das Ich bezogen, subjektiviert als eine Art „Eigenschaft“ (Zustand) des Ich. Der Gegenstand hat Natureigenschaften, er hat auch die Eigenschaft, die ihm im Gefallen zuwächst: Gefälligkeit. Solche Eigenschaften gehören nicht zur „Natur“ des Dinges. Der Gegenstand, der mir gefällt in der Freude, steht als wirklicher vor meinem sinnlichen oder geistigen Auge. Ich kann den Gegenstand und das Gefallen, das selbst objektiviert ist (in der Weise der Subjektivierung), in Beziehung setzen. Ich sage dann „Der Gegenstand erregt mein Gefallen“. Dieses Verhältnis, das in dem Gegenstand und Gefallen als fundiert sich ausgibt, wird naiv interpretiert als Kausalverhältnis zwischen Gegenstand und Ich, das auf den Gegenstand reagiert in der Weise des Gefallens. Habe ich eine Erscheinung, die ich nicht als Wirklichkeit ansetze, z. B. ein Fiktum der Bildlichkeit, so kann ich auch sagen, dieses „Bild“, diese Erscheinung, auch z. B. eine Erscheinung der Phantasie, gefällt mir, sie errege mein Gefallen. Hier ist das Gefallen-„Erregende“ keine dingliche Wirklichkeit. Es ist aber eine Art Gegenstand, ein Dies. Freilich, ist es ein bloß Phantasiertes, eine bloße Phantasieerscheinung, so ist das Gefallen ein Phantasiegefallen, modifiziert, wenn ich mich in die Phantasie hineinfühle. Aber ich habe auch ein aktuelles Gefallen am Phantasierten. (Es ist übrigens zu unterscheiden: sich in eine Phantasiesituation hineinfühlen und gewisse Motivationslagen mitphantasieren, welche ein Gefallen am phantasierten Objekt motivieren, somit ein Gefallen in der Phantasie mit Phantasiemotivation, 1
hWohl Oktober/November 1909.i – Noten. Wichtige Anfänge.
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und direktes Gefallen, das in der Phantasie objektiv, in ihrem Wesen selbst motiviert ist.) Bei Freude und Trauer, bei Gefallen und Missfallen haben wir dieses „Erregen“, auch bei Sachverhalten natürlich: Diese Tatsache1 erfüllt mich mit Freude, erregt meine Freude etc., auch macht mir Freude oder macht schlechthin Freude. Wieder kausale Interpretation. Ein „Sachverhalt“ kann auch in mir eine Frage erregen, wecken. Aber nicht ist er dann das Objekt der Frage „Ist S P?“. Die Tatsache, dass S P ist, erregt nicht die Frage (es steht ja in Frage, ob sie ist), ebenso nicht die Vermutung, den Glauben.2 Das Vermutlichsein ist kein Prädikat eines Gegenstandes oder Sachverhalts bzw. einer Tatsache, so wie das Gefälligsein, das Erfreulichsein, Prädikat des seienden Gegenstandes ist bzw. der Tatsache. Das „fraglich“, das „glaubhaft“ oder vielmehr hdasi „wahr“, das „zweifelhaft“, das sind nicht Prädikate einer Sache, sondern des „Dass S P ist“, das hier nicht den Sinn hat von der (gesetzten) Tatsache. Was ist das nun? Doch nicht die Bedeutung, nicht die propositionale Bedeutung im vollen Sinn, sondern der Satz mit Ausschluss des Wahrheitscharakters, der Wahrheitsmeinung: propositionale Materie. Ganz anders scheint es sich bei der Freude, beim Gefallen überhaupt zu verhalten. Hier sind doch nicht unqualifizierte Bedeutungen, die bloßen Satzinhalte etc., dasjenige, was die Prädikate „erfreulich“ etc. trägt, sondern die Tatsache, das Korrelat des aktuellen Glaubens, das als wirklich seiend Vermeinte. Nicht der Satz, der eine Idee ist. Da ist energisch weiter zu forschen!
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Gesetzte Tatsache. Zu vergleichen: Die Beziehung des Gefallens, der Freude auf das erfreuliche, gefallende Objekt und hdiei Beziehung der Wahrnehmung auf das wahrgenommene Objekt. Das ist d oc h to tal v e r s c h i e d e n. 2
Nr. 12 h I ntel le kti ve und em otionale Akte: Un terschi ede i n der Art der Int enti onal i tät und der Fundierung. Sinnengegenst ände und G efühlsgegenständei1
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1) Ich liebe A, ich habe Freude an A. Ich trauere darüber, dass S nicht P sei. Ich wünsche, dass A sein möge. 2) Ich nehme A wahr, ich stelle A im Bild, in der Phantasie vor. Ich erinnere mich an den Vorgang. Ich denke – ich denke, dass S P ist, ich glaube es, ich finde es wahrscheinlich. Sehen wir uns die beiderseitige Beziehung der Akte (der „theoretischen“ und wertenden) auf die Gegenständlichkeit näher an. I.2 Ich urteile, dass A sei, ich glaube es, das heißt, ich habe das Erlebnis: A ist! S ist P! Dieses Erlebnis ist natürlich nicht das Sein von A selbst, das „S ist P“ (der Sachverhalt) selbst, sondern hesi „bezieht sich“ darauf. Und das wieder besagt, dass dieses Erlebnis sich einordnen lässt in einen begründenden Zusammenhang, in dem ich immerfort das Bewusstsein des „identisch“ habe und sich darin das Identische ausweisen kann, und zwar als seiend oder P-seiend. Was aber den einzelnen Urteilsakt anlangt, so haben wir in ihm einfach das Bewusstsein „A ist!“, „S ist P!“ und nichts weiter. Wir haben nicht zweierlei: Bewusstsein und Objekt, sondern nur eins: das Bewusstsein. Alles Übrige ist indirektes Wissen. Natürlich auch, wenn ich dem Akt einen Bedeutungsgehalt zuschreibe, so geschieht es um gewisser Zusammenhänge willen, in die ich überführen kann und in denen ich ein Identisches vorfinden kann. Andererseits, nehmen wir die Freude „A ist!“. Dann haben wir darin das Bewusstsein „A ist!“, und die Freude ist Freude darüber, dass A ist. Was heißt das? Im einzelnen Akt habe ich nichts weiter als die unbeschreibliche Einheit von dem „A ist!“ und dem Charakter der Freude. Das A kann übergehen in verschiedene Erlebnisse und
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Wohl Oktober/November 1909. Husserl hat am Rand des Textes notiert: „Aus h18i98, wiederholt überarbeitet.“ – Anm. der Hrsg. 2 Erster Versuch.
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hini recht mannigfache, in denen das A sich auseinanderlegt. Die Freude gehört zum Objektsein (oder das Gefallen gehört zum Objekt), das heißt, sie „gehört“ als Charakter zu jeder der Vorstellungen A, welche die Identität des Gegenstandes in seinem Sinn festhält. Die Freude hat diesen „Sinn“. Das ist eine ganz andere Sachlage als vorhin. Habe ich eine „Vorstellung“ (eine Seinssetzung), so habe ich bewusstseinsmäßig nicht zweierlei: Vorstellung und etwas noch, worauf sie sich bezieht, weil, wenn ich das hätte, ich eine zweite Vorstellung hätte. Habe ich aber eine Freude, so habe ich zweierlei: die Freude und das, worauf sie sich bezieht; letzteres in der Weise, wie dergleichen bewusstseinsmäßig zu haben ist, nämlich durch eine unterliegende Vorstellung. Die Freude hat eine „Intention auf ein Objekt“, das ihr durch eine Vorstellung bereitgestellt ist. Von der Vorstellung (mit Seinssetzung) aber kann das natürlich nicht gesagt werden. Der Sinn der „Beziehung-auf“ ist beiderseits ein total verschiedener. In der Vorstellungsmannigfaltigkeit, die durch Identitätsbewusstsein verknüpft ist, mich bewegend, d. i. in reflektierendem Vorstellen und Denken mich bewegend, sage ich: Dasselbe ist durch verschiedene Vorstellungen bewusst, sie alle beziehen sich auf dasselbe Objekt. Das ist hier die einzige Art der „Beziehung-auf“. Bei der Freude aber und sonstigen Gemütsakten finde ich im Erlebnis selbst eine Beziehung vor. Ich freue mich über das schöne Wetter. Da finde ich das schöne Wetter, ich nehme es wahr, es steht als Wirklichkeit da und dessen freue ich mich. Das „Gerichtetsein“ gehört selbst zum Erlebnis. Natürlich bleibt es richtig, was ich gewöhnlich sagte: Die unterliegende Vorstellung gibt die gegenständliche Beziehung, macht, dass der Gegenstand bewusst ist (für das Bewusstsein zunächst überhaupt „da“ ist), und das Gemüt gewinnt durch sie Beziehung, gewinnt durch sie Verbindung mit dieser Vorstellung, seine Beziehung auf eben dieses Objekt. Worauf es hier ankommt, ist, dass die Beziehung, die da Objektivierung heißt, etwas anderes ist als die Beziehung, die im Erlebnis selbst sich bekundet und die z. B. Freude-über heißt. II. So hatte ich die Sache mir ursprünglich zurechtgelegt. Es fragt sich aber, ob all das korrekt ist. Vorstellen und Denken werden hier unter dem Titel Objektivation unterschiedslos in eins genommen. Gilt aber vom Denken nicht, so könnte man fragen, eben dasselbe
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wie von den Gemütsphänomenen (Gefallen, Hoffen, Wünschen etc.), nämlich dass sie in Vorstellungen fundiert sind? Natürlich nicht immer in Anschauungen. Indessen, so richtig es in gewissem Sinn ist, dass das Denken ein fundierter Akt ist, dass das Aussagen in einem Unausgesagten und, als was es ist, Unaussagbaren gründet, dass dem Begrifflich-Fassen ein Etwas zugrunde liegt, das begriffliche Fassung erfährt, und so viele Schwierigkeiten gerade in diesen Verhältnissen liegen, so ist dies doch als sicher herauszustellen, dass diese Beziehung von Denken auf unterliegendes Vorstellen (das nicht Denken ist) etwas total anderes ist als die Fundierung des Gefallens, Wünschens, Wollens.1 Überlegen wir doch: Überall haben wir selbstverständlich, wo wir von Vorstellungen und Denkakten sprechen (wir wissen das auch in analogem Sinn bei allen handereni Akten), zu unterscheiden die „Stellungnahmen“ – das sind die Charaktere, die wir subjektiv bezeichnen als Glauben, Vermuten, Zweifeln etc., und diese sind Charaktere an einem Was – von den bedeutungsgebenden Momenten (obwohl phänomenologisch mit ihnen eins). Das sind die perzeptionalen bzw. kategorialen Momente. Oder deutlicher: Wie wir z. B. beim Urteilen in ontischer Beziehung haben das Urteil als das im Urteilen bewusste Was, und zwar so, dass an dem Urteil unterscheidbar ist in abstracto das Moment „wahr“ (in Anführungszeichen) und der Inhalt, der als wahr dasteht (die zwei Momente im vollen Kategoriale, der vollen Bedeutung), so haben wir beim Urteilen als dem Phänomen (natürlich einheitlich verstanden) zu unterscheiden das Moment des Für-wahr-Haltens und das Moment des urteilenden Bewusstseins, das dem kategorialen Inhalt entspricht. Ebenso natürlich bei der schlichten Vorstellung (Wahrnehmung, Erinnerung). Gehen wir nun zu den Gemütsakten über, so sind sie fundiert in schlichten (sinnlichen) oder hini fundierten nicht-konzeptiven oder in konzeptiven Akten (wie ich besser sage statt kategorial), und was sie neu hinzubringen, das sind die Momente des Gefallens, Sich-Freuens, Wünschens etc.
1 Die Fundierung des Denkens durch zugrunde liegende Vorstellung histi andersartig gegenüber der Fundierung von Gemütsakten durch ihre Vorstellungsunterlage.
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Was ist nun die Funktion der begrifflichen Fassung?1 Sie verwandelt die perzeptionalen Inhalte – ontisch gesprochen (im weiteren Sinn semasiologisch) – in konzeptive, logisch „geformte“ Inhalte, also die Bedeutung modifiziert sich und dementsprechend in phänomenologischer Hinsicht (phanseologisch) die Bewusstseinsmomente. Dabei aber sind immer irgendwelche intellektiven Stellungnahmen da, und nur mittels ihrer in der Einheit des schlichten und konzeptiven Vorstellungszusammenhangs von den und den Bedeutungsinhalten konstituiert sich der einheitliche Gegenstand. Es ist nun evident, dass die „begriffliche Fassung“ – das, was das begreifende Denken gegenüber dem unterliegenden sinnlichen Vorstellen ausmacht – nicht gleichzustellen ist mit den Wunschcharakteren, Gefallenscharakteren etc., die vielmehr gleichstehen mit den intellektiven Stellungnahmen: Für-wahr-Halten, Für-zweifelhafth-Halteni etc. Der Glaubenscharakter ist Bewusstsein von „wahr“ oder „wirklich“, ebenso wie der Wunschcharakter Bewusstsein von „erwünscht“, der Gefallenscharakter Bewusstsein von „gefällig“ ist usw. Es handelt sich also um eine total verschiedene „Fundierung“ bei derjenigen, die wir Konzeption nennen, und bei derjenigen, die wir Emotion oder wie immer nennen. Wir können und müssen auch sagen: Alle Akte, das ist ihr Grundcharakter, sind (intellektive oder emotionale) Stellungnahmen-zu (Qualitäten). Alle Akte sind aber auch Bewusstsein von einem Inhalt, zu dem sie Stellung nehmen. Dabei aber ist das Wort „Stellungnahme“ in einem außerordentlich weiten Sinn gebraucht. Phanseologisch hat jeder Akt außer seiner Aktform (Aktcharakter, Stellungnahme) seine Aktmaterie. Die emotionalen Akte sind nun in intellektiven fundiert: in einer eigentümlichen Weise, die nicht zu vergleichen ist mit derjenigen, in welcher eventuell intellektive auf intellektive gebaut sind, z. B. Urteilsakte (prädikative) auf schlichte Vorstellungsakte. Jedem emotionalen Akt liegt ein Gegenstandsbewusstsein zugrunde, jede emotionale Stellungnahme ist Stellungnahme zu einem als wirklich oder wahr Gesetzten oder hzui einem als das Vorgestellten, oder was dasselbe histi: Jede wertet ein Objekt, einen Sachverhalt. „Inhalt“ ist
1 Cf. 712 und Beilage h= Husserliana XX/2, Beilage LV: Das ausdrückliche Wünschen in der Redeform mit „möge“ und der Ausdruck des Wunsches (S. 428)i.
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nicht etwas, das direkt zu Gefallen etc. in Beziehung treten könnte. Es ist unmöglich, dass der emotionale Aktcharakter sich mit dem Moment des konzeptualen oder perzeptionalen Bedeutens (in Abstraktion vom intellektiven Stellungscharakter) direkt und ausschließlich verbinden könnte. Offenbar ist die Rede von Momenten nicht misszuverstehen. Ein Inhalt (Materie) ist nicht ein Moment und die Stellungnahme ein zweites, daneben liegendes, sondern „Inhalt“ (Materie) ist, was es ist, nur als Moment von intellektiven Akten. Nur im Vergleich, im Wechsel der intellektiven Aktcharaktere finden wir ein ideal Gemeinsames, das sich in keiner Art abtrennen lässt. Der Wunsch, das Gefallen, steht zu diesem „Inhalt“ in ganz anderer Weise als der intellektive Aktcharakter. Der emotionale Akt ist undenkbar ohne Inhalt – in der Weise: undenkbar ohne eine volle intellektive Meinung (volle Bedeutung mit Stellungscharakter, aber meist modifiziertem!). Der bloß perzeptionale Inhalt ist nicht so Bestimmung des emotionalen Charakters wie des intellektiven Charakters. Er gehört zum emotionalen Charakter von vornherein nur dadurch, dass er unmittelbares Bestimmungsmoment eines intellektiven Aktes ist, der seinerseits Bestimmungsmoment – aber selbständiges! – im emotionalen ist. In ontischer Richtung haben wir 1) für den Intellekt selbständige intellektive Bedeutungen (volle und ganze) als Perzeptionalien und Kategorialien. Jeweilig lassen sie in sich unterscheiden die logische Qualität und den Inhalt (logischen Inhalt). 2) In der Sphäre des Gemüts haben wir wieder Bedeutungen, aber das sind komplexe Gebilde. Nämlich jede Gemütsbedeutung schließt eine volle intellektive Bedeutung ein (und durch sie enthält sie auch einen „bloßen“ Inhalt). Was neu hinzutritt, ist ein Moment der Gemütsstellungnahme oder vielmehr, da wir vom Ontischen reden, ein Moment des „gefällig“ etc., natürlich in Anführungszeichen.1 Nach den gegebenen Ausführungen können wir also sagen:2 Die individuellen Gegenstände zerfallen in schlichte und logisch (denk-
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Fortsetzung 55 h= S. 336,32–338,23i. Vgl. die weiteren Ausführungen im übernächsten Blatt (nummeriert 59 ff.) h= Text Nr. 14i. 2 Wichtig.
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mäßig) geformte.1 Alle Gegenstände sind mögliche Gegenständeworüber des Denkens, dadurch konstituieren sich zugleich Gegenstände einer höheren Schicht, die kathegorialeni Gegenstände (Denkgegenstände), die dann wieder in höherer Schicht zu Gegenständenworüber werden und Gegenstände denkmäßiger Art in höherer Formung sind, in dem höheren Denken gegebene oder gedachte.2 Betrachten wir die schlichten (vorlogischen) Gegenstände, so zerfallen sie a) in bloße Sinnengegenstände und b) Gefühlsgegenstände.3 Sie sind zuunterst immanente Gegenstände. Die immanenten Sinnengegenstände sind Empfindungsinhalte oder Empfindungsgegenstände (was hier einerlei), sie sind gegeben („erscheinen“) in Empfindungen. Dann die transzendenten „Dinglichkeiten“ und Dingerscheinungen, gleichgültig, ob physische oder psychische: Dinge selbst, materielle Dinge, geistige Eigenschaften, Zustände etc., seelische Zustände, seelische Akte etc. Das sind Gegenstände höherer Schicht. Aus den sie konstituierenden Erscheinungen können wir entnehmen die einzelnen Erscheinungsphasen oder Dauererscheinungen als immanente Gegenstände (ferner in ihnen als gegeben die „Abschattungen“), ferner aus den Schichten eigentlicher Erscheinung die adäquaten transienten Gegenstände etc. Diesen Gegenständlichkeiten entsprechen Gefühlsgegenständlichkeiten, ihren Erscheinungen vermöge Gefühlsfundierungen hentsprecheni Gefühlserscheinungen (wieder komplex: sinnliche Erscheinungen als Unterlagen von Ge1 Die individuellen Gegenstände als Gegenstände vor der logisch-begrifflichen Fassung zerfallen in Sinnengegenstände (empirische) und Gefühlsgegenstände. 2 Cf. 73 h= Husserliana XX/2, Beilage LV: Das ausdrückliche Wünschen in der Redeform mit „möge“ und der Ausdruck des Wunsches (S. 428)i. 3 Vorher hätte ich allgemeiner zu sagen: Sinnengegenstände sind gegeben in sinnlichen Erscheinungen (und gemeint in sinnlichen Meinungen überhaupt), die Gefühlsgegenstände in Gefühlserscheinungen (Gefühlsmeinungen überhaupt). Die immanenten Gegenstände, die wir immanente Gefühlsgegenstände nennen, sind als die untersten Gegenstände dieser Gattung diejenigen Gegenstände, die mittels immanenter Gefühlserscheinungen, d. i. der so genannten „sinnlichen Gefühle“ (auch Gefühlsempfindungen), erscheinen. Alle sinnlichen Gefühle sind ihrem Wesen nach fundiert in sinnlich-immanenten Erscheinungen, in Empfindungen. Die Empfindung mit dem in ihr fundierten immanenten Gefühl ist das konstituierende Bewusstsein für die immanenten Gefühlsgegenstände. Gehen wir in die höheren Schichten über, so haben wir transzendente Gegenstände, und zwar transzendente sinnliche Gegenstände gegeben in transzendenten Sinnenerscheinungen. Und zwar zunächst in „eigentlichen Erscheinungen“, die nichts von leerer Mitmeinung enthalten, z. B. die okulomotorischen Erscheinungen.
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fühlsakten konstituieren sinnliche Gegenstände mit Gefühlscharakteren, Wertcharakteren). Den sinnlichen Abschattungen entsprechen Gefühlsabschattungen, den sinnlich und eigentlich erscheinenden Gegenständen (den reinen Sinnengegenständen) die reinen Gefühlsgegenstände etc. Natürlich können Gefühle auch als Empfindungen (Auffassungsrepräsentanten) fungieren. Sie können objektiviert werden zu sinnlichen Gegenständen (empirischen, intellektiven), hzui Zuständen von Menschen etc. Dann sind die Gefühle Träger von intellektiv sinnlichen Apperzeptionen, das heißt, hsie sindi sinnlich-einheitliche Bestandstücke von transzendenten sinnlichen Erscheinungen, während sie selbst Erscheinungen sind bzw. Erscheinungen fundieren in Form von Gefühlsapperzeptionen, Gefühlsgegenständlichkeiten zur Erscheinung bringend. Die Gefühlsapperzeption, die für die Gefühlsgegenstände konstitutiv ist, umfasst die fundierende sinnliche Erscheinung, deckt sich also insoweit mit ihr. Ist eine Erscheinung selbst Objekt des Gefallens und nicht das in der Erscheinung Erscheinende, so ist das Gefallen ganz anders fundiert. Die Erscheinung selbst, das ist hier entweder die Abschattung, dann ist die Empfindung von ihr das Fundierende, oder es kann der „reine“ Sinnengegenstand (das eigentlich Erscheinende in sich) gefallen, dann ist das eigentliche Erscheinen für sich fundierend usw. Damit haben wir natürlich nur die untersten Stufen beschrieben.
Nr. 13 h Haben Gef ühl sprädi kate bloß subjektive G elt ung, i ndem di e G efühlsakte objekt ivi ert und dem erscheinenden Gegens ta nd zugedeutet werden?i1
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Gut, schön, schrecklich, gefällig etc. sind Prädikate und müssen somit den Bedingungen der Prädikate überhaupt entsprechen, also unter den logischen Gesetzen stehen. Ihre Objektivität ist damit ausgedrückt. Wenn man von „subjektiv gut“, für mich gut, für mich erwünscht etc. spricht, so hebt das nicht die Objektivität auf. Es besagt bloß, dass die Zuerteilung solcher Prädikate an Gegenstände oft eine okkasionelle Bedeutung hat. Nach den Relativisten ist die Bedeutung der fraglichen Prädikate immer in einem gewissen zu bezeichnenden Sinn okkasionell. Es liegt an der Besonderheit der menschlichen Natur und weiter an der Besonderheit des einzelnen Menschen, so wie er unter gegebenen Entwicklungsbedingungen nun einmal geworden ist, dass ihm hic et nunc gerade das als schön, angenehm, erwünscht etc. gelten muss. Auch „A ist gegenwärtig“, „ist wahrgenommen“ etc. hat okkasionellen Charakter. Natürlich kommt es beim Streit zwischen Subjektivisten und Objektivisten eben darauf an, durch Analyse herauszustellen, ob die genannten Prädikate und in welchem Sinn sie eventuell als okkasionelle und „bloß subjektive“ Geltung haben und ob sie nicht auch als objektive (nicht-okkasionelle) gelten können. Die Frage wird vor allem offenbar die sein: Einen Gegenstand stelle ich vor oder einen Sachverhalt, und er erscheint mir als erwünscht; oder er erscheint mir als gut, erfreulich etc. Kann ich da sagen, ich habe die Erscheinung des Gegenstandes zunächst (er steht in Wahrnehmung oder Phantasie da), und nun tritt hinzu der Wunschakt, der Gefallensakt; dieses eigentümliche Erlebnis, das neue Moment des Wünschens etc., wird dem erscheinenden Gegenstand zugedeutet, das subjektive (oder vorerst subjektive) Erlebnismoment des Wünschens etc. wird objektiviert, wird auf den Gegenstand bezogen? 1
Wohl Oktober/November 1909. – Anm. der Hrsg.
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Nun, dann würde man ebenso sagen können und müsste wohl auch sagen: Wenn ich ein Zeichen auffasse als Zeichen für eine andere Sache, so habe ich, wenn die letztere nicht wirklich erscheint und ich das Zeichen doch verstehe, zunächst bloß oder fürs Erste das bloße Zeichen, und der Akt des Bedeutens tritt als zweites hinzu. Er wird auf das Zeichen bezogen, dies erscheint nun im Charakter des Bedeutens. Aber wie steht für mich da Zeichen in einem Charakter, also in einem Prädikat genannt Bedeuten? Oder bei der transienten Wahrnehmung. Ich habe zunächst oder zuunterst Empfindungsmaterial, und nun wird es apperzipiert im Akt der äußeren Wahrnehmung. Es tritt ein neuer Charakter auf, der auf das sinnliche Material bezogen wird, und der Gegenstand erscheint. Und es ist nur eine höhere Stufe, wenn abermals neue Charaktere auftreten, Gefühlscharaktere, wodurch der erscheinende Gegenstand dann den Charakter des „erwünscht“ erhält etc. Aber macht man sich denn nicht klar, dass es etwas anderes ist, sinnliche Inhalte mit einem sie färbenden Charakter hzui haben und Bewusstsein vom Gegenstand hzui haben? Ich kann die sinnlichen Inhalte zum Objekt machen und wieder, dass sie etwas „bedeuten“, auf ihr Repräsentieren kann ich achten. Aber ich habe in der Wahrnehmung doch das Bewusstsein von dem so und so bestimmten Gegenstand, und dieser Gegenstand ist nicht sinnlicher Inhalt und hat sie nicht und histi nicht das Bedeuten etc. Was heißt das, die Akte werden auf die Inhalte (sinnliche Inhalte) bezogen, dann wieder die Wunschakte auf die schon erscheinenden Gegenstände etc., etc.?
Nr. 14 h Die wes entl ic he Verschi edenheit zwischen Gemüt sakt en u nd obj ekti vi erenden Akten in der Wei se der gegenstän dl i chen Beziehung. Meinen als D oxa und Mei nen als Hinwendungi1
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In den ethischen Vorlesungen führte ich Folgendes aus: Im Bau der „Akte“ finden wir eine wesentliche Verschiedenheit. Ich drückte sie so aus: Bei den Gemütsakten finden wir in ihnen selbst so etwas wie „Beziehung auf“ den Gegenstand, nicht aber bei den „objektivierenden“. Um das phänomenologisch zu fassen, hätten wir auszuführen:2 Die Gemütsakte sind fundierte, und sie sind dabei nicht zusammengesetzte Aktgebilde so etwa wie die kategorialen Synthesen, sondern was der Wunschakt, der Gefallensakt, gegenüber der unterliegenden objektivierenden Erscheinung neu hereinbringt, das ist ein Unselbständiges, der Wunschcharakter etc. Bei den unterliegenden objektivierenden Akten unterscheiden wir den Setzungsmodus und das gesetzte Was, letzteres z. B. der Wahrnehmungsinhalt, beim Urteil der Urteilsinhalt etc. Aber das liegt in ontischer Richtung. In phansischer Richtung haben wir im objektivierenden Akt selbst zu unterscheiden den Modus und die phansische Materie. Wie bauen sich nun der Gefallensakt, der Wunschakt etc. durch Hinzutreten neuer „Aktmomente“ auf dieser Grundlage auf? Und wie baut sich „der Wunsch“ selbst, das „Es möge S sein“, oder das Wertobjekt, der edle Gang des Pferdes, der schöne Mensch etc., hauf dieser Grundlagei auf? Ich meinte nun: Es ist doch etwas ganz anderes, wenn wir von der Beziehung des „Glaubens“ auf das Geglaubte sprechen, als wenn wir von der Beziehung des Wunsches auf das Erwünschte sprechen oder hvoni der Beziehung der Freude auf das wahrhaft Seiende.
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hWohl Oktober/November 1909i – Zweite Ausarbeitung. Die erste lag der Vorlesung über Ethik WS 1908/09 zugrunde hveröffentlicht in Husserliana XXVIII, S. 237– 378i. 2 Rekapitulation, aber etwas anders: nämlich so, wie ich es in der ethischen Vorlesung gedacht hatte.
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Im Wahrnehmen, Vorstellen, Urteilen stehe „einfach etwas da“, in dem oder jenem Seinsmodus. In dem Sich-Freuen, Wünschen etc. haben wir wieder ein solches „Etwas steht da“ in der Weise des bloß Vorgestellten, Seienden, Vermutlichen etc., aber nun darauf gerichtet Freude, Wunsch etc.1 Der Unterschied sei der, dass sich die Beziehung des Moments „Glaube“ oder des Moments „bloße Vorstellung“ auf die geglaubte und vorgestellte Sache erst durch Reflexion konstituiere. Ich muss erst die Sache haben, das ist, ich muss schon den objektivierenden Akt vollziehen, und dann kann ich reflektiv den Modus des Glaubens auf den Sachverhalt beziehen.2 Aber das Urteil, schon so wie es ohne Reflexion ist, heißt Bewusstsein „vom“ seienden Sachverhalt, „Erscheinung“ von ihm und nichts weiter.3 Andererseits, die Freude über ein daseiendes A enthält so etwas wie eine Beziehung-auf, es enthält „die Richtung-auf“ bewusst in sich, sofern der unterliegende Glaubensakt schon ein Seinsbewusstsein, das Bewusstsein vom Sein des A, ist, und nun der Charakter der Freude ein auf diese Tatsache Sich-Richten ist vermöge der Art, wie Freude und objektivierendes Bewusstsein eins sind. Dieser neue Charakter, der Freudencharakter, richtet sich auf die Gegenständlichkeit, aber mit ihm selbst konstituiere sich keine Gegenständlichkeit, so wie das beim objektivierenden Akt der Fall sei.4 Das heißt, der modale Charakter der Objektivation mache „Dasein“ oder „Quasi-Dasein“ des Was, der Materie der Objektivation. Zum Wesen des objektivierenden Aktes gehöre es mit Rücksicht auf diese Seinsmodi, in Zusammenhänge möglicher Bestätigung oder Widerlegung eintreten zu können. Oder, jeder objektivierenden Meinung entspräche die Frage: Ist das oder ist das nicht? Der Gemütscharakter, der sich auf die Gegenständlichkeit, die in der unterliegenden Objektivation erscheint, richtet, wünschend nach ihr langt, wollend sie realisieren will und dgl., gehöre aber in eine andere Dimension. Er objektiviere eben nichts. Zur Konsti-
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Was heißt das? Das Dastehende ist charakterisiert als erfreulich, gesollt. Das ist eine eigenartige Wendung, die zu beachten ist. Bewusstsein von dieser Beziehung habe ich aber erst in der Reflexion. Aber konstituiert sich nicht das „erfreulich“, das „erwünscht“?
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tution der erscheinenden Gegenständlichkeit sei er beziehungslos. Der Gemütscharakter bringt etwas Neues herein, was sich mit der Erscheinung verbindet und was in einer neuen Objektivation zur Erscheinung einer „Beziehung“, z. B. des Freudencharakters zu dem in der unterliegenden Überzeugung gesetzten Sachverhalt, wird.1 Was ist dazu zu sagen? In meinen ursprünglichen Ausführungen – noch mehr als in dem hier Wiedergegebenen – habe ich die verschiedenen phansischen und ontischen Stufen in den Akten nicht deutlich unterschieden. In der Tat liegen ja da besondere Schwierigkeiten. Auch habe ich in Zusammenhang damit nicht gesehen, dass hdasi, was ich immer unter dem Titel „Reflexion“ behandelte, ein „Meinen im spezifischen Sinn“ ist, das herausmeint und sich im Sinn dieses „Meinens“ richtet, und dass dieses Sich-Richten in jedem Akt (als einem wirklich intentionalen Erlebnis) lebt, aber dass jeder durch seinen eigenen Gehalt noch andere mögliche „Richtungen“, „Meinungen“ ermögliche, die wohl nicht erst neue „Auffassungen“ schaffen müssen.2 Also, vollziehe ich eine Wahrnehmung, so meine ich den „wirklichen Gegenstand“, nämlich den vermeinten. Ich meine die Wahrnehmungserscheinung, wenn ich das Merken, Achten, Hinblicken anders orientiere. Die Erscheinung etwa, das reine Sinnending als solches, wird Objekt etc. So3 ist nun auch im Wunschakt das „S möge P sein“ Gemeintes4 und somit nicht Objekt. Das ist es, was ich vor Augen
1 Bis hier Rekapitulation. – Das Folgende ist schief, aber es enthält doch Wichtiges. Vgl. die Anmerkung am Rand der nächsten Seite h= unten, Anm. 4i. 2 Das ist nicht klar. 3 Vor „So“ die Einfügung „Nicht“. Diese Einfügung steht in Verband mit der folgenden Anmerkung. – Anm. der Hrsg. 4 Aber Gemeintes? Da steckt die Schwierigkeit. Ist das dasselbe Meinen wie beim Urteilen oder auch im Wahrnehmen? Vgl. folgende Seite unten hwohl S. 345i. Oder haben wir hier einen Dop pelb e g r i f f v o n Me i n e n, wobei der eine Begriff komplex ist? Nämlich in der δÞξα, dem urteilenden Meinen, eine Komponente „Meinen“, die dieselbe ist im (nicht-ausdrücklichen, nicht-prädikativen) Vollziehen der Synthesis oder im Wahrnehmen (Wahrnehmungs-Meinung eine Komponente bloßer Meinung enthaltend), und wieder dieselbe Komponente käme vor im Wünschen, Wollen etc. Dieses Meinen, ist es das Den-Blick-Richten, „Hinsehen“, von dem weiter die Rede ist? Doch nicht, denn das ist ein setzendes Erfassen im Sinn einer nominalen Setzung, die selbst das Meinen nur als „Komponente“ enthält. Im „S möge P sein“ vollziehe ich keine urteilende Setzung, keine nominale etc.
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habe, nicht das „S ist P“ und dazu irgendein Gefühl, ein Wünschen, sondern das „S möge P sein“. Aber ich kann natürlich „hinsehen“ (im spezifischen Meinen) auf das vorgestellte „S ist P“ und dann das als Träger des „möge“ finden, ich kann daraufhin aussagen: Dass S P ist (oder das P-Sein des S), das ist es, was erwünscht ist. Ich kann auch auf die unterliegende „Vorstellung“, so wie sie da phansisch ist, achten (und die ist natürlich nicht das Gewünschte). Natürlich besteht in dem Bau solcher Gemeintheiten, wie „S möge P sein!“, „schön sein“ etc. (ich stelle das einfach nebeneinander, was noch näher zu erwägen wäre) und der des einfachen S, des schlichten Gegenstandes z. B., ein Unterschied. Aber das ist eben das Fundiertsein, das nicht nur die Akte, sondern die Gegenstände betrifft. Habe ich nicht den Fall schon, wenn ich einen Gegenstand wahrnehme, und zwar als beschneiten Baum, und dann prädikativ urteile „Der Baum ist beschneit“? Das Urteil „richtet“ sich auf den Gegenstand-worüber. Und das „schön“ bezieht sich als fundiertes Prädikat auf den gesetzten Sachverhalt, korrelativ richtet sich das Gefallen, Werten auf diesen Sachverhalt. Das Wunschbewusstsein, das Gefallensbewusstsein, ist auch ohne weiteres Bewusstsein vom „Wunsch“, von dem Wunschinhalt „S möge P sein!“1 oder vom schönen, vom erfreulichen Objekt: Aber freilich, das gehört zum Wesensgehalt bei jedem so fundierten Bewusstsein (bei jedem als Bewusstsein fundierten Bewusstsein), dass ich eine unterliegende Objektivität konstatieren kann als vorstellige oder einen „Inhalt“ dieses Bewusstseins „herausmeinen“ kann und auf diesen dann das ontisch oder phansisch Neue beziehen hkanni.2 Ferner, nicht zusammenmengen darf man die Modi des Glaubens etc. mit den Gefühlsakten etc. Was sind das, Modi des Glaubens? 1) Haben wir nicht einerseits die Charaktere der Impression (der Akt als wirklicher Akt) und ihre Modifikationen? 2) Andererseits Bewusstsein der Richtigkeit, Einstimmigkeit oder Unrichtigkeit, Un-
1 Und zwar „meinendes“, wenn ich dem Wunsch eben zugewendet bin. Das Moment der „Meinung“ ist die Zuwendung, die noch nicht Objektivierung ist. Das Problem ist, ob diese Meinung als Hinwendung möglich ist für sich, und ohne „Akt“, ohne wahrnehmendes Meinen, urteilendes, wünschendes etc. zu sein. Zunächst aber immer „objektivierendes“. 2 Das Herausmeinen wird im Allgemeinen Objektivieren sein.
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stimmigkeit, Fraglichkeit etc. Endlich 3) das Meinen als δÞξα, das spezifische Glauben (das „meinend“ ist, wenn ich dem Geglaubten zugewendet bin, was beim „Einschnappen“, dem „Vollzug“, wohl immer der Fall ist). Es ist ja die Frage: Kann ich nicht Gefallen haben, 5 mich freuen, wünschen, ohne speziell zu meinen im Sinn der δÞξα? Kann ich nicht den Wunsch haben, es möge S P sein, ohne urteilend zu meinen: S möge P sein; ein Meinen, das dann richtig und falsch sein kann? Also Meinen als δÞξα, als Glaubensmodus (im Urteil, in der Wahr10 nehmung etc.), Setzung, und Meinen als Hinwendung auf etwas, das erst einer Setzung (Objektivation) bedarf, damit dieses Was wirklich Objekt wird.
Nr. 15 h Gef ühls charakter und Wertprädikat. E nts pri cht j eder Aktart ei ne bestimmte C har akter is i erung i hrer G egenstände?i1 5
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Wenn ich ein Ding wahrnehme als dieses Ding hier, und es knüpft sich nun ein Gefallen daran oder ein Begehren („etc.“), so „erscheint“ das Objekt („im Lichte dieser Akte“, wie ich mich ausdrückte) mit „ neuen Besti m m thei ten “ beh aftet neben denen, die zu seiner Natur als Ding gehören. Wir könnten dann sagen wollen, es wird mit diesen Bestimmungen „wahrgenommen“. Ich sehe dieses Tintenfass mit Wohlgefallen: Ich sehe ein Wohlgefälliges, es steht ja in der Wahrnehmung da als wohlgefällig, obschon das Wohlgefälligsein kein dem Ding „Wesentliches“ ist. Indessen, diese Rede „Das Ding steht in der Wahrnehmung da als wohlgefälliges“ – fühlt man nicht etwas Unstimmiges in dieser Ausdrucksweise? Die W ahr nehm ung, wird man einwenden, erfasst das Objekt in s einer N atur, das Objekt „selbst“; aber ich nehme nicht nur wahr, es gefällt mir auch, und nun „steht das Objekt auch da“ als wohlgefälliges. Wo also eine sinnliche Wahrnehmung vollzogen ist und in eins mit ihr Gefühlsakte sich einstellen, da erwachsen „gegenständliche Bestimmungen“, die sich an das Wahrgenommene anschließen. Es passt das allerdings so recht nur auf das Gefallen. Nehmen wir das Prädikat „gut“ bei einem Messer, so bezieht es sich auf einen möglichen Gebrauch, und die Art, wie dieses Prädikat sich dem Wahrgenommenen anschließt, ist offenbar eine ganz andere als die etwa eines ästhetischen Gefallens. Das Messer steht zwar auch halsi gefällig da, aber um gewisser Zusammenhänge willen, zu denen andere Gemütsprädikate und Verhältnisse gehören. Also so einfach hinnehmen kann man dergleichen Rede von Gemütsprädikaten nicht. Aber soviel kann man sagen, dass der wahrgenommene Gegenstand bewusstseinsmäßig2 so etwas wie einen G efühlscharakter hat, der
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Ein altes Blatt, wie es scheint Osterferien h18i98 hin einer Überarbeitung wohl von Oktober/November 1909i. – Vgl. 63 ff. aus K (Schluss) h= S. 350,4 ff.i. 2 Bewusstseinsmäßig, also vermeintlich.
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aber nicht die Bedeutung eines Wahrgenommenen am Gegenstand hat, sondern eines ihm gefühl sm äßi g Zugemeinten. Was es bedeutet, kann prädikativ ausgesagt werden, aber nur in besonderen Fällen ist das Prädikat „selbstgegeben“ oder hat das Prädikat den Charakter des „wirklich gegeben“. Hierbei ist aber immer zu scheiden zwischen Charakterisiertsein des Gegenstandes, wonach er, der wahrgenommene, zugleich gefühlsmäßig etwas bedeutet, Träger eines Bedeutungscharakters eigener Art ist, und dem Prädizieren, das ihm – aufgrund dieses Charakterisiertseins – ein Prädikat wie „angenehm“, „schön“ und dgl. eben prädikativ zuspricht. Wir können auch sagen: Die Wahrnehmung mit ihrer Wahrnehmungsapperzeption, vermöge der ein Gegenstand der und der dinglichen Natur als selbstgegenwärtig erscheint und dasteht, ist Fundament für eine weitere Apperzeption, vermöge deren er noch so und so charakterisiert erscheint, wobei das „erscheint“ aber nichts mit Wahrnehmen zu tun hat. So steht ein Signal, das wir wahrnehmen, „charakterisiert“ da als Signal, ein Wortzeichen als Wort. Das überträgt sich auch auf die Erinnerung. Ich erinnere mich eines Mannes, und in der Erinnerung steht er da als liebenswürdig, als achtbar, als Mann von geistiger Bedeutung, von Würde etc. Ja, auch vom bloßen Denken, leer Vorstellen, aber aktuell Setzen des Objekts können wir dasselbe sagen. Mit den Dingapperzeptionen verweben sich, in ihnen gründend, Wertapperzeptionen, und diese ermöglichen neue Prädikate, die in kathegorischeni Urteilen den – sei es „selbstgegebenen“ oder erinnerungsmäßig gegebenen oder sonstwie als wirklich in Gegenwart oder Vergangenheit oder Zukunft gesetzten – Gegenständlichkeiten zugesprochen werden können. In gewisser Weise können auch Wunschprädikate so auftreten. Das Messer sollte scharf sein, es wäre erwünscht, wenn es scharf wäre. Das Messer (dieses da, das ich als Wirklichkeit ansetze und von dem ich Prädikate seiner dinglichen Natur aussagen kann) „steht da“ mit „einem Mangel behaftet“ und damit zugleich als Subjekt eines Andersseinsollens, eines Scharfseinmögens.1 Und schließlich könnte
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So aber auch: Ich sehne mich nach der Geliebten, ich stelle sie mir vor, ich setze sie dabei als Wirklichkeit, wenn auch unbestimmt bleibt, wo sie jetzt ist etc. Ein Bild der Sehnsucht! Das Objekt ist Subjekt eines Gesehen- und im Sehen Genossenseinsollens.
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ich auch sagen, das Schwert da, mit dem ich kämpfen will, steht in eigener Weise charakterisiert da, als Träger eines Willens, als Träger einer durch ihn zu vollziehenden Handlung in der Zukunft. Nun wird man auf die Verwandtschaft mit den Vermögenspr ädikaten hinweisen: Ich sehe einen großen Magnet und ich sehe ihm seine gewaltige Tragkraft an. Ich sehe einen herkulisch gebauten Mann und sehe ihm seine herkulische Stärke an. Gewiss besteht die Verwandtschaft,1 aber hier handelt es sich nicht um Gemütsapperzeption. Würde ich die Stärke, die Tragkraft werten, läge mir etwas daran, würde mir dergleichen Leistung gefallen, würde ich sie bewundern, würde ich sie nützen, so verbänden sich mit den Vermögensprädikaten auch Wertcharaktere. Nehmen wir nun ein bloßes Vorstellen oder ein Quasi-Wünschen in der Phantasie oder ein Quasi-Gefallen etc., so haben wir lauter modifizierte Akte. Wir haben nicht „wirkliche“ Akte, sondern Akteinbildungen, Aktmodifikationen. Die vorgestellten Gegenstände, d. i. die quasi-wahrgenommenen, erscheinen darin nicht wirklich mit Wertcharakteren, sondern nur gleichsam etc. Nehmen wir jetzt wirkliche Akte, Aktimpressionen (Aktualitätsakte). Müssen wir von jedem sagen, dass in ihm ein Gegenständliches in irgendeinem Charakter „erscheint“, nur sei dieser Charakter je nach Art des Aktes ein verschiedener? Man könnte so ausführen: In der sinnlichen Wahrnehmung erscheint mir etwas als gegenwärtig, in der Erinnerung als vergangen, in der Erwartung als künftig, in der Bildvorstellung verbildlicht.2 In all diesen Akten (ebenso in der leeren aktuellen Vorstellung) erscheint etwas als wirklich, in Zweifeln als zweifelhaft, in Vermutungen als vermutlich. Ebenso in synthetischen Akten: Eine Zweiheit, eine Mehrheit, erscheint als wirkliches Zusammen, eine Identität oder Verschiedenheit als wirklich, als seiend, im Gegensatz zu zweifelhaft, unwirklich, vermutlich, fraglich. Im Wunsch erscheint etwas als erwünscht: S möge P sein. Das S-P-Sein erscheint im „möge“ usw.
1 Sofern es beiderseits keine inneren Prädikate sind. Aber die Hauptsache ist, dass Wirkungsprädikate empirische Prädikate der empirischen Objekte sind, also zu ihrem Wesen mitgehörig, während Gemütsprädikate in einer anderen Dimension liegen. 2 Das ist wieder in anderer Linie hliegendi.
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Nun nehmen wir aber dazu das ganz andersartige Erscheinen: Der Gegenstand erscheint als rot, rund etc. Der Sachverhalt als diese oder jene Teile habend, als kathegorischeri, hypothetischer etc.; der Wunsch als sich auf das „S ist P“ beziehend etc.
Nr. 16 h Seinsobj ekti vati on und Wertobjektivation. Gehör en W ert prä di kate zum Wesen des Dinges?i1
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Ich stellte wiederholt gegenüber Seinsobjektivation und Wertobjektivation. Bei der transzendenten Seinsobjektivation konstituiert sich die Natur, die physische und psychische. Logische Akte beziehen sich durch „Erfahrung“, also in Form der Kant’schen „Verstandesakte“, auf physische und psychische Dinglichkeiten in Raum und Zeit. Hier herrscht die sinnliche Motivation (die assoziative).2 Demgegenüber haben wir Wertobjektivationen (mit eigenen Motivationsweisen): Gemütsakte, gebaut auf „Verstandesakte“ (auf sinnliche Vorstellungen bzw. auf sinnlich orientierte Denkakte), beziehen sich auf „Werte“. In einem Sinn heißt es so: Wertende Objektivationen, wertende Akte beziehen sich auf Werte; in einem anderen Sinn: Sie beziehen sich auf Naturobjekte. So ist ein Mensch ein Naturobjekt. Ich liebe den Menschen und sage, das Lieben beziehe sich auf dieses Naturobjekt, auf den Menschen. Ebenso: Ich fürchte den Menschen etc. Natürlich ist die intentionale Beziehung beiderseits eine wesentlich andere: einerseits die der Wahrnehmung (und sonstigen schlichten Erfahrung) des Menschen und die des Urteils über den Menschen; andererseits wieder die der Liebe zum Menschen, die seiner Wertschätzung etc. und die darauf sich gründenden Denkakte. In der schlichten Erfahrung konstituiert sich der Gegenstand als möglicher Gegenstand des Denkens, im Denken wird er bestimmt, im Fortgang des begründenden, sich immerfort nach Erfahrung orientierenden Denkens ist er nicht nur gegeben und immerfort einheitlich in sich einstimmig gegeben, sondern er wird gemäß dieser Gegebenheit theoretisch richtig bestimmt und in seiner richtigen Bestimmung als so und so seiender erkannt. Was er ist, ist er aber nur in der Einheit
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Wohl Oktober/November 1909. – Anm. der Hrsg. Sein = dinglich Reales, also besser Naturobjektivation? Natur und Wert, sind das hsichi ausschließende Gegensätze? 2
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des Erfahrungszusammenhangs und damit als Glied einer räumlichzeitlichen Natur. Er ist, was er ist, nur in Wechselbeziehung mit anderen Seienden, die selbst wieder nur in Relation zu ihm sind, was sie sind. Die denkmäßige, theoretische, wissenschaftliche Bestimmung des Naturobjekts, die seine Natur bestimmt, bestimmt sie daher im Zusammenhang mit der Bestimmung der Natur anderer Dinge. Also, was Dinge „sind“, bestimmt die Naturwissenschaft oder – was dasselbe – was sie sind, weist sich aus im Zusammenhang der Erfahrung und der ausschließlich nach ihr orientierten erfahrungsmäßigen Theorie. Sind aber die Dinge nicht auch schön, gut etc.? „Sind“ Menschen nicht auch böse, tugendhaft etc.? Gewiss sind sie das, nämlich solche Prädikate kommen ihnen wahrhaft zu. Man könnte sagen: Es sei klar, dass hier unterschieden werden muss, nämlich zwischen Prädikaten, die den Dingen wesentlich zukommen als Dingen, und Prädikaten, die ihnen außerwesentlich zukommen. Das soll Folgendes heißen: Zum Wesen eines Dinges überhaupt, zu seiner allgemeinen οσÝα, gehören Bestimmbarkeiten in gewissen Hinsichten: räumliche, zeitliche, materielle (sinnliche) etc. Das macht die Allgemeinheit der οσÝα aus, dass sie in unbestimmter Allgemeinheit die bloße Potenzialität von Bestimmungen ausdrückt (z. B. Ort überhaupt als Stellung im Raum überhaupt, Gestalt und Größe überhaupt etc.), die bei jedem gegebenen Ding als bestimmtem Individuum in voller Bestimmtheit aktualisiert sind.1 Die Größe ist eine ganz bestimmte Größe, ebenso nicht mehr Gestalt überhaupt, sondern die und die ganz bestimmte Gestalt; nicht sinnliche Merkmale überhaupt, sondern die und die bestimmte Farbe, Rauigkeit etc. Jedes Prädikat nun, das in dieser Art die in der οσÝα, in dem allgemeinen Dingwesen als solchen, ausgedrückte Bestimmbarkeit zu fest begrenzter Bestimmtheit bringt, in irgendeiner der offen bleibenden Hinsichten, ist ein wesentliches. Das ist nun ganz gewiss richtig. Andererseits, was befasst, wird man dann wieder fragen, die οσÝα?
1 Auch äußere, relative Bestimmungen empirischer Art gehören so zum Wesen, zur Natur des Dinges.
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Jede Bestimmtheit nun, die in den Rahmen dieser Allgemeinheit fällt, die einem Einzelnen als Einzelnem dieses Wesens zukommt (also das Einzelne zum Einzelnen dieses Allgemeinen näher bestimmend), ist eine wesentliche Bestimmung.1 Also ganz in dem oben ausgeführten Sinn. Jedes bestimmte Prädikat, das eine Art oder Differenz des im Wesen liegenden, dieses konstituierenden unbestimmt allgemeinen Gattungsprädikats ausmacht, ist ein wesentliches. Sprechen wir nun von „Dingen“, so bilden wir die Idee, das Wesen „Ding“ gerade in Korrelation zur Erfahrung. Ding ist Erfahrungsgegebenheit und nur Erfahrungsgegebenheit, das in Erfahrung Gemeinte und Gegebene als solches, also auch das rein auf Erfahrungsgrund Theoretisierte als solches. Natürlich gehört nicht Erfahrung in das Wesen des Dinges hinein. Exemplarisch steht ein hini Erfahrung Gegebenes (oder in Phantasieerfahrung Vorstelliges) uns vor Augen, und in der Erfahrung allein leben wir, nicht aber in etwaigen begleitenden Wertungsakten. Damit also bestimmt sich das „Sein“ eines Dinges, das, was es, nämlich als Ding, ist, dass ihm zukommt das, was es ist, ob es so etwas wie Werten gibt, geben kann oder geben muss oder nicht. Erfahrung ist der das Ding nach seinem Sein, seiner „Natur“, konstituierende Akt oder Aktzusammenhang. Und darin kommt natürlich von Wert nichts vor. Das Wertsein andererseits, das Wertprädikat, konstituiert sich ausschließlich im Werten, so wie es auf Erfahren (oder sonstigen unterliegenden Akten) fundiert ist. Die Beziehung des Wertens auf
1 Was macht den Unterschied der Objektivität solcher Prädikate hausi wie 1) rot, rund, kreisförmig, größer als a, hier, jetzt etc., also irgendwelcher sinnlichen Prädikate zeitlicher Gegenstände, sowie auch von Prädikaten wie hypothetisch, kategorisch etc. von Sätzen, gerade und ungerade, rational und irrational von Zahlen etc. und andererseits 2) hvon Prädikaten wiei wahrhaftseiend, wahrscheinlich, vermutlich, zweifelhaft, fraglich, seinsollend, Wertprädikate in einem weitesten Sinn? Prädikate von Gegenständen, die zu ihrem Inhalt, ihrem „Wesen“ gehören, und überhaupt Prädikate, ohne welche sie essenziell nicht wären, was sie sind, sei es in sich, sei es in dem Zusammenhang, in dem sie stehen: also konstitutive und relative Prädikate. Dahin gehören auch Wirkungsprädikate, subjektive Prädikate wie „Das Objekt erregt meine Lust“ etc. Ein Sachverhalt hat inhaltlich die und die Bestandstücke; sein Dasein, Wahrhaftsein hat die und die Folgen etc. Aber gehören nicht alle Prädikate eines Gegenstandes so zu ihm, dass er nicht wäre, was er ist, wenn sie ihm fehlten? Natürlich. Das ist doch geradezu eine Tautologie. – Vgl. die Beantwortung dieser Fragen 63 ff. h= S. 350,4 ff.i.
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das Erfahrungsobjekt ist nun natürlich eine wesentlich andere als die des Erfahrens auf das Erfahrungsobjekt. Das Erfahren konstituiert das Erfahrungsobjekt. Das Werten, als das Neue gegenüber der Erfahrung, konstituiert nichts vom Erfahrungsinhalt; nur sofern ihm Erfahren zugrunde liegt, tut es das, und in dieser Hinsicht ist das Spezifische des Wertens irrelevant. Warum gehört nicht ein Prädikat wie „schön“, „edel“ etc. in die οσÝα, ins „Wesen“, in die „Natur“ des Dinges hinein? Wir sprechen auch vom Wesen des Raumes, Wesen einer Figur und sagen auch in dieser Hinsicht, Eukl i d lege das Wesen der Raumfigur auseinander und da komme er nie auf die Schönheit von Kreisen (Hume). Wieder sprechen wir von dem Wesen der Zahl, von dem Wesen der analytischen Funktion usw. Natürlich sind auch das Prädikate von analytischen und nicht-analytischen Funktionen, dass die und die Funktionen in der Optik Anwendung finden und jene nicht usw. Aber das sind keine mathematischen, keine „arithmetischen“, keine wesentlichen Eigenschaften der analytischen und sonstigen Funktion. Die Mathematik beschäftigt sich als solche nur mit den wesentlichen Eigenschaften ihrer Gebilde. Hier würde man nun wohl sagen: Wesensbestimmtheiten, das sind die, ohne die keine Zahl als solche, keine Figur als solche etc. anwendbar sein kann, weil sie ohne solche nicht denkbar ist. Physikalische Anwendbarkeit ist zufällig. Kommen wir nicht darauf zurück: Eine Wesensallgemeinheit ist eine in genereller Ideation gegebene Allgemeinheit, gegeben auf dem Grund irgendeiner exemplarischen Intuition? Es hängt also ganz von der Richtung unserer „Abstraktion“, unserer Ideation ab, wie wir Wesen begrenzen. Die Ideen sind darum nicht etwa zufällig. Denn was sich als Wesen in genereller Intuition erschauen lässt, das ist gar nicht zufällig. Und besonders wichtig sind da die „kategorialen“ Wesen in ihren verschiedenen Stufen. Zahl ist ein ganz anderes Wesen wie Figur, wie Raum, Zeit, Natur, wie Ding etc. Andererseits, wenn auch das Werten sich auf den Gegenstand, der gewertet ist, gewissermaßen außerwesentlich „bezieht“, so bezieht es sich doch auf den Wert offenbar in analoger Weise, wie sich das Erfahren auf das Naturobjekt bezieht. Wert bedeutet dabei nicht bloß Wertcharakter, vielmehr das Gewertete als solches, soweit es gewertet ist und in der Wertbestimmtheit, in der es gewertet ist.
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In gewisser Weise, sagte ich, „erscheint“ auch im Gemütsakt, in der Freude, im Wunsch etc. ein Objektives, ein „Objekt“, und zwar im Gemütsakt in concreto, dem also ein gewisser Nicht-Gemütsakt als Fundament zugrunde liegt und einwohnt. Im Werten erscheint der Wert, im Wünschen erscheint der Wunschverhalt. Dabei kann aber auch das so Erscheinende zum psychischen Subjekt in Beziehung gesetzt werden, aber selbstverständlich in einem neuen Akt: Dass S P sein möge, das ist mein Wunsch, das wünsche ich. Aber es kann hier auch das Vorgestellte als solches, die Materie, hier die propositionale Materie (das P-Sein des S), als Objekt des Wunsches vorgestellt und bezeichnet werden: Eine Besserung des Wetters wäre erwünscht usw. Oder beim Gefallen, Freuen etc.: Die Tatsache, dass S P ist, dass das Wetter wieder besser geworden ist, freut mich sehr oder ist erfreulich. In dieser Art kann ich sagen: Dass S P ist, ist wahrhaft so – oder das ist. Dass S P ist, das ist nicht so. Dass S P ist, das ist fraglich, ist erwünscht, auch: ist erfreulich, das ist vermutlich so, das ist möglich. Sind das gleichstehende Behauptungen? Ich sage ja auch, dass S P ist, diese Tatsache ist erfreulich. Ich könnte auch sagen: Dass S P ist, das ist eine Tatsache, und diese Tatsache ist erfreulich. Andererseits sage ich, dass S P sei, ist wünschenswert, ist erwünscht. Dass S P sei, ist zu vermuten. Ob S P sei, ist fraglich, zweifelhaft. Kann also gesagt werden: Das Vorgestellte als solches, die „Materie“ (und in diesem Sinn die ontische Bedeutung), sei das Subjekt, dem das Tatsächlichsein und Nichtsein, das Fraglichsein etc. zukomme? Das s ind Fragen, d i e m i ch vi el i rri tiert haben. Ich kann natürlich diesen „Inhalt“ als Inhalt von Fragen, Wünschen etc. bezeichnen, aber wenn wir erwägen, ob der ontischen Materie die genannten Prädikate „zukommen“, so ist der Gedanke natürlich der, ob sie den Materien primär und wesentlich zukommen – also im vollen und eigentlichen Sinn zukommen. Also kann ich in der Materie, in ihrem Wesen, in dem, was sie als Materie ist, solche Prädikate vorfinden? Natürlich nicht. Bloße Materien können Bedeutungsgehalte sein und identisch zugleich in Fragen, Wünschen etc. hseini, und nur in Fragen kann ich das „fraglich“, nur im Wünschen das „erwünscht“ etc. finden. Also eigentlich1 ist ausgesagt: Ob S P sei, ist fraglich. S ist 1 Von „Also eigentlich“ bis „usw.“ später eingeklammert und mit einem Fragezeichen versehen. – Anm. der Hrsg.
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P? – das ist die Frage. Oder es hat die Frage statt, die Frage besteht: Ist S P? Ebenso: Dass S P sei (sein möge), ist erwünscht. Es besteht der Wunsch: S möge P sein, usw. Die E r fr euli chkeit ist auch kei n ei gentliches, wesentliches Pr ädikat von Tats achen (al s Tatsachen). Vielmehr kann ich nur sagen: Die Tatsache ist „Grund“ der Freude1 oder ist die, über die ich mich freue, oder die Tatsache ist Inhalt, Grund einer rechtmäßigen Freude. Oder auch mit Änderung des Gedankens: Die Freude an dieser Tatsache (die Freude dieses „Inhalts“) besteht, besteht zu Recht. Ontisch: Das Erfreulichsein der Tatsache besteht zu Recht. Inwiefern finden wir nun ein genaues Analogon zwischen der Objektivierung, die im Werten, im Wünschen, Sich-Freuen etc. statthat, mit derjenigen, die im sinnlichen Wahrnehmen und Erfahren statthat? Wie objektiviert die sinnliche Vorstellung, die Erfahrung? Nun, im hsichi entfaltenden, in sich einstimmigen, hsichi erfüllenden Erfahrungszusammenhang: Die „Intention“ der Vorstellung, die Meinung erfüllt sich. Die Meinung als Meinung des und des Inhalts (Sinnes) erfüllt sich, bestimmt sich näher dabei etc. Dem folgt in gewisser Weise das Urteil. Das Urteil findet darin seine Begründung, seine Bewährung, es bestimmt fortgesetzt das Erfahren und die Bestimmungen stimmen logisch zueinander und zu ihm im Fortgang der weiteren Erfahrung. Was die einstimmige Einheit des Erfahrungszusammenhangs anlangt, so ist dieser phanseologisch ein Motivationszusammenhang: empir is che M oti vati on. Jede Wahrnehmung ist sozusagen Forderung, und jede neue Wahrnehmung entspricht den Forderungen der früheren. Urteile über Dinge als Erfahrbarkeiten (seinem Wesen nach ist ja Ding Einheit der Erfahrung – was freilich ein zweideutiger Ausdruck ist) „müssen“ sich nach Erfahrung richten, in einstimmiger Erfahrung sich bewähren. Erfahrungsprinzipien bedürfen keiner Bewährung durch singuläre Erfahrung und haben nicht zu Fundamenten Wahrnehmungsurteile, weil sie in näher zu erörternder Weise Wesensbedingungen der Möglichkeit der Erfahrung aussprechen. Auch hier haben wir Motivationen. Einerseits die Motivationen, die zwischen
1 Natürlich ist da nicht von „Grund“ in dem Sinn der Begründung die Rede, als ob ich aus einer Tatsache eine Freude deduzieren könnte.
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Erfahrungsurteil und Erfahrung laufen.1 Wir können hier sagen, ein Erfahrungsurteil ist „begründet“ (hat Grund), wenn es sich nach Erfahrungen richtet, in Erfahrungen motiviert ist. Jedes Urteil überhaupt muss zureichende Gründe haben: Urteilen als solches muss motiviertes Urteilen sein, und wie es motiviert sein muss, das hängt von seinem „Sinn“ ab. Zum Beispiel, ein rein logisches Urteil kann rein logisch motiviert sein, schließlich in logischen Prinzipien. Diese müssen in logischer Intuition („Evidenz“) motiviert sein etc. Im Besonderen: Erfahrungsurteile, das heißt, Urteilen über Natur muss in Erfahrung motiviert sein, das erfordert der Sinn von dinglichem Urteilen. Wie die Urteilsbegründung, die Motivation von Urteilen durch begründende Akte, zu laufen hat, das ist durch den Sinn der Urteile überhaupt vorgezeichnet. Betrachten wir nun die G em ütsakte. Auch sie haben ihre Richtigkeit und Unrichtigkeit. Die Freude ist berechtigt, der Wunsch und Wille ist berechtigt, das Gefallen und Werten ist berechtigt, so wie wir sagen, das Urteilen ist berechtigt (aber auch das Vermuten, das Fragen, das Zweifeln). Wir sagen nicht, das bloße Vorstellen ist berechtigt, denn die Rede ist nur von unmodifizierten Akten. Wir sagen aber auch nicht, das Wahrnehmen ist berechtigt. Aber wir sprechen von Illusionen. Den Ausdruck Wahrnehmen pflegen wir so zu gebrauchen, dass wir die Richtigkeit schon annehmen – doch sagen wir: Die Wahrnehmung täuscht. Selbstverständlich betrifft das die in der Wahrnehmung mitbeschlossene Stellungnahme des Glaubens. Das Für-wirklich-, Für-selbst-da-Setzen ist Täuschung.2 Sehen wir uns die „Richtigkeit“ der Gemütsakte an. Die Freude ist berechtigt, sie „gehört“ zur erfreulichen Tatsache, bzw. sie gehört zur Überzeugung, dass sie sei, die ihrerseits berechtigt sein kann oder nicht. Und das gibt die doppelte Richtung, in der die Berechtigung der Freude geprüft werden kann und in der von Berechtigung gesprochen werden kann: Die Freude als solche ist vernünftig, sich freuen ist vernünftig, wenn man gewiss oder in der Weise überragender Vermutung überzeugt ist, dass die Tatsache besteht. Die Freude ist
1 Und andererseits, sollte es wohl weiter heißen, Motivationen, die in der Erfahrung laufen etc. 2 An den Rand der beiden vorangehenden Sätze hat Husserl später ein Fragezeichen geschrieben. – Anm. der Hrsg.
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„gegenstandslos“, wenn die Tatsache bloß vermeinte Tatsache ist. Die Tatsächlichkeit der Tatsache weist sich aus in ihrer Weise. Aber auch die Freude und ihre Vernünftigkeit sind zu „begründen“ (Vieldeutigkeit von Begründen: in phansischer und ontischer Hinsicht). Nachzugehen ist hier einem „ausweisenden“ Gemütszusammenhang, in dem die Freude zu motivieren ist, gemäß dem „Sinn“, der der Freude als Freude über diese Tatsache innewohnt bzw. als Freude aufgrund dieses Tatsachenglaubens. In diesem Motivationszusammenhang, der sich als „evidenter“ darstellt, konstituiert sich ein Wert. Die Freude ist zu begründen, und die Tatsache ist „wirklich“ erfreulich, sie ist sozusagen ein Freudenwert: Das sind korrelative Ausdrücke. Doch ist es vielleicht bedenklich, das Wort Wert so weit zu gebrauchen, dass es jedes ontische (objektive) Gemütsprädikat befasst. Ebenso hist es vielleicht bedenklich,i für Gemütsakt überhaupt das activum Werten hzu gebraucheni. Es fehlt hier an einem allgemeinen Prädikat (B r entano sagt Lieben, andere sagen Fühlen). Doch ist es ja ein noch nicht klar gelöstes Problem, inwiefern der Titel „Gemüt“ eine Einheit ist und inwiefern demgegenüber der Titel „Intellekt“ wieder eine geschlossene Einheit von Akten bezeichnet. Lassen wir in diesen Blättern den erweiterten Ausdruck Werten für Gemüts akt überh aupt (bei aller ungeklärten Vagheit) bestehen, und hfüri sein Korrelat hden Ausdrucki Wert im weitesten Sinn. Das Thema fortsetzend können wir dann sagen: Der Wert – in unserem Beispiel die Freude, die „objektive“ Erfreulichkeit – ist nicht ein wesentliches Prädikat der erfreulichen Tatsache in sich. Vielmehr, ähnlich wie die „Tatsächlichkeit“, die „Wirklichkeit“, das Wahrhaftsein der Tatsache kein wesentliches Prädikat der Tatsache ist, sondern das Korrelat davon ist, dass das Tatsachenurteil (S ist P!) vernünftig motivierbar ist, ausweisbar, begründbar, so ist die Erfreulichkeit als „objektives“ Prädikat korrelativer Ausdruck dafür, dass die Freude vernünftig motivierbar, begründbar ist und natürlich in ihrer Weise. Das heißt, Tatsache „S ist P“ ist die Objektivität (Wirklichkeit), die im Urteil „S ist P!“ „vermeint“ ist und die eben Wirklichkeit (wahrhaft seiende) ist, wenn das Urteil ein richtiges ist. Erfreulichkeit „S ist P“ oder Erfreulichkeit der „Tatsache ‚S ist P‘ “ ist die Objektivität, die in der Freude (S ist p!)! (wobei das zweite Ausrufungszeichen den Charakter bezeichnet, in dem hichi in der Freude die vermeinte Tatsache habe) vermeint ist und hdiei, wenn
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die Freude eine richtige ist, in Wahrheit besteht, ihr in Wahrheit entspricht. Diese Objektivität ist eine komplexe, oder besser, fundierte Einheit. Ihrem Wesen nach enthält sie einmal das Wesen „Tatsache ‚S ist P‘ “ und darauf gebaut Erfreulichkeit, wobei Erfreulichkeit nicht in das Wesen der Tatsache, sondern eben in das Wesen des ganzen Komplexes, des vollen und ganzen Freudenwertes gehört. In diesem Sinn sind Werte fundierte Gegenstände und nicht bloß Prädikate anderer Gegenstände. Wir können zwar adjektivisch von dem Wert-Haben, von Erfreulichsein sprechen in Bezug auf das Fundierende. Aber der Sinn dieser außerwesentlichen Prädikate ist bestimmt durch den vollen Gegenstand, hdurchi die volle Wertobjektität. Diese volle Objektität muss ich vor Augen haben und muss ich gleichsam sehen, um gemäß der in ihr vorhandenen Fundierung das Erfreulichsein auf die Tatsache, die erfreulich ist, evident beziehen zu können. Ich muss also in der Gewissheit vom Sein des Objekts leben und muss im Motivationszusammenhang leben, der sich als Entfaltung der Freudeintention, als ihre ausweisende Erfüllung vollzieht. Ich habe da die volle Objektität, den Freudenwert, gegeben und finde da in ihm eben objektiv das „erfreulich“ „am“ Erfreulichen, an „der Tatsache“, nämlich sich darauf „beziehend“ und in dieser Beziehung zu ihm, zur Tatsache gehörig: Die freilich solange bloß vermeinte Tatsache ist, solange nicht auch sie als Tatsache ausgewiesen ist. Der Freudenwert hat eben zwei Stufen in sich, und jede dieser Stufen innerhalb der Wertobjektität bedarf ihrer Feststellung. Wir haben oben von der Objektivität der Natur gesprochen, die sich intuitiv im Erfahrungszusammenhang konstituiert. In der Einheit der Erfahrung (in der kontinuierlichen Vereinigung der Wahrnehmungen, in der abgesetzten Verknüpfung von Wahrnehmungen oder von Wahrnehmungen und Erinnerungen und dgl.) steht das Naturobjekt anschaulich als Eines und Selbes da, in seinem Naturzusammenhang als gegeben. Darauf bezieht und begründet sich das Erfahrungsdenken und die Erfahrungswissenschaft. Das theoretische Erkennen der Natur (das logische): Es erkennt einerseits 1) das allgemeine Wesen der Natur in der Ontologie der Natur, indem Erfahrung überhaupt zwar nicht zum Objekt gemacht, aber als allgemeines und intuitives Wesensbewusstsein von Natur vollzogen hwirdi und in diesem intuitiven Vollzug die Gesetze der Natur überhaupt zu formulieren gestattet. Desgleichen wird 2) bestimmte
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Naturwissenschaft vollzogen, die thetisch erfahrene Natur (und nicht hdiei im allgemeinen Erfahren sozusagen erfasste Idee von Natur überhaupt) wird logisch, denkmäßig und gesetzmäßig bestimmt, mittels der erkannten Gesetzmäßigkeit jedes einzelnen Prädikats des einzeln gegebenen oder erfahrenen Naturobjekts erklärt, aber zugleich mit der Einordnung in eine allgemein exakte Gesetzmäßigkeit zu vollkommenster theoretischer Bestimmung gebracht. Natürlich kann sich logisches Denken (theoretischer Intellekt) auch auf die spezifischen Gemeintheiten und eventuell Gegebenheiten des Denkens selbst richten, auf Begriff, Satz etc., auf wissenschaftliche Theorie, und teils in besonderer, teils in genereller Weise, z. B. in der Naturwissenschaft: dass dieser Satz aus jenem folgt etc. Aber auch generell: reine Grammatik und formale Logik. Aber das ist eine Sache für sich. In der „theoretischen“ Wissenschaft aber kommen nicht bloß begriffliche (ideierende) Akte und Urteilsakte, sondern auch Vermutungen, Fragen, Zweifel in Betracht. Was macht ihre besonders nahe Beziehung zum Urteilen aus? Zu erwägen: Urteilen als Synthesis, im Identitäts-, Unterschiedsbewusstsein etc., andererseits der „Begriff“, das Wortbedeuten. Ebenso Vermuten, Fragen, Zweifeln vor dem Begreifen. Ist also die Funktion des Begriffs, des „ausdrückenden“, erkennenden, bedeutenden Aktes eine ganz eigene, und was macht den innigen Zusammenhang zwischen Urteilen und jenen anderen „Akten“ aus?1 Doch gehen wir nun zu den Objektitäten, die wir Werte (allgemeinst) nannten, so haben wir wieder Einheit und Synthesis von Wertmeinungen und Wertintuitionen, sich „auseinanderlegende“, z. B. wenn ich mich freue oder wünsche, intuitiv immerfort wünschend und mich am Leitfaden der Wunschmotivation sozusagen fortwünschend und mir so ohne jede Reflexion und jedes begriffliche und urteilende Denken den Wert zur immer vollkommeneren intuitiven Gegebenheit bringe: also das Analogon der Erfahrung (gleichsam Erfahrung des Wunschwertes, Freudenwertes). Dann aber in höherer Stufe: Das Denken tritt hinzu, es denkt und erkennt diese neuen Objektitäten, es bestimmt sie theoretisch.
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Cf. 77 ff. h= S. 373,32 ff.i.
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Und wieder kann sich das Denken aufgrund allgemeinen Wertens, des Sich-Einlebens in Wertbewusstsein überhaupt, vollziehen. Allgemeinheitsbewusstsein als allgemeines Wertbewusstsein. Es können Gesetze nach dieser allgemeinen Intuition orientiert werden, 5 die das Wesen von „Wert überhaupt“ auseinanderlegen, oder von Freudenwert überhaupt, Wunschwert überhaupt. Und wieder können bestimmte Werte prätendiert, als gültig und so und so beschaffen bestimmt werden.
Nr. 17 h Di e Rede vo n Färbung bei Gemüts- und Wuns chakt en. Ist di e gegenständliche B ez iehung der G em üts- und Wunschakte keine e chte O bj ek ti vation?i1
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Beachten wir den Unterschied zwischen Impressionen2 und Modifikationen. Impressionen sind Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erwartungen, Urteile, Gemütsakte etc., alle Akte als aktuelle Akte sozusagen gegenüber ihren „Modifikationen“. In der Wahrnehmung haben wir ein aktuelles oder impressionales Bewusstsein vom jetzt seienden Ding, Vorgang etc., in der Erinnerung vom soeben abgelaufenen Vorgang oder „früher“ einmal abgelaufenen, in der Erwartung vom künftig eintretenden. Im Urteil haben wir ein impressionales Bewusstsein vom „So ist es! S ist P.“ Wiederum im Wunsch haben wir ein impressionales Bewusstsein vom „S möge P sein!“ In der aktuellen Freude steht da ein Erfreuliches! Im Akt der Furcht das Fürchterliche! Also überall, wo ein Akt als Impression vollzogen ist, finden wir dieses Selbe: Es steht gewissermaßen etwas da (ich sagte in den Manuskripten immer: es „erscheint“) vor meinem Auge, und zwar wirklich, nicht bloß eingebildet, nicht bloß vorgestellt.3 Eine gegenständliche Beziehung ist „vollzogen“, ein Gegenständliches erscheint oder ist „gedacht“ als gegenwärtig, vergangen, künftig, als fürchterlich, als prächtig, als hässlich, oder ein Sachverhalt ist gesetzt als seiend, als seinsollend, als erfreulich usw. – überall in der Weise der Impression, man möchte sagen, nicht bloß vorgestellt, sondern „gesetzt“, im „Glauben“!4 Dabei ist sorgsam zu unterscheiden zwischen der prädikativen oder attr ibuti ven Bezi ehung (denkmäßigen, konzeptiven Fas-
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Wohl Oktober/November 1909. – Anm. der Hrsg. Der Ausdruck „Impression“ ist unpassend, wenn man an H u m e denkt. 3 Erinnerung aber ist Aktualität. 4 Das wäre missverständlich. Keine eigene Setzung! Denn es handelt sich nicht um Glauben im gewöhnlichen Sinn, was soviel ist wie Urteilsimpression, nicht um Denksetzung! Andererseits, ist das Wort „Glaube“ zu vermeiden? 2
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sung), die ein vorgestelltes Gegenständliches attributiv vorstellt als fürchterlich, als schön etc. und es im Glauben setzt, und der impressionalen Erscheinungsweise oder Bewusstseinsweise des Gegenstandes, des schönen Gegenstandes, des fürchterlichen oder des seinsollenden Sachverhalts, des erfreulichen Sachverhalts, in der nichts von dies er pr ädi kati ven Auffassung vol l zogen ist. Oder will man es bezweifeln, ob nicht doch so etwas wie eine intuitive Auffassung vorliegt? Zum Beispiel der gefällige Gegenstand: Vermöge der Wahrnehmung „steht der Gegenstand gegenwärtig da“, er erscheint wahrnehmungsmäßig und intuitiv, oder, wie wir es nennen wollen, er hat die „ Färbung “ des G efäl l i gen,1 ohne dass eine attributive Gliederung und Beziehung vollzogen wäre, die ja die schlichte Einheit schon voraussetzen würde. Wir „nehmen“ den Gegenstand sozusagen als gefälligen „wahr“, in der „Annehmlichkeitsfarbe“. Freilich, hier liegt ein impressionales sinnliches Erscheinen zugrunde. Wie ist es bei der Freude? Im Wahrnehmungsurteil (darauf möge sich die Freude gründen) steht der Sachverhalt da, das „So ist es“. Die Fr eude is t eine Färbung, aber wovon? Davon, dass der Gegenstand so ist, dass er diese und diese Eigenschaften hat. Auf Sein oder Haben geht es gerade hbeii diesen Eigenschaften. Aber das Sein kann doc h ni cht ei ne Farbe haben, wie ein sinnlicher Gegenstand ein sinnliches Merkmal hat. Und doch hat das Haben so etwas wie eine „Färbung“. Dass S P ist (kann ich darum prädizieren), ist erfreulich.2 Und wenn nun gar kein Sachverhalt gesetzt ist wie im Wunsch? Mag er auch auf Seiendes sich beziehen, der Sachverhalt, der erwünscht ist in Bezug auf dieses Seiende, steht nicht als seiend, vielmehr als nichtseiend da. Da lässt hunsi die Rede von Färbung doch im Stich. Will man etwa sagen: Ob der Sachverhalt gesetzt ist oder nicht, ob die Bedeutung in Seinsweise dasteht, impressional oder modifiziert, sie ist „bewusst“, und die Bedeutung, die hier keine impressionale ist, hat eine impressionale Färbung? Dass S P sei, ist erwünscht, das sollte sein. So drücken wir es prädikativ aus. Was ist aber
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Hat er auch die „Färbung“ des Gegenwärtigen? Aber ist wirklich die Erfreulichkeit eine „objektive Beschaffenheit“ des Sachverhalts? In demselben Sinn wie der Zusammenhang dieses Sachverhalts mit anderen Sachverhalten? 2
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Bedeutung? Die Bedeutung nicht im Sinn des Wesens, sondern des Vorgestellten? Das geht nicht. Auch ist es klar, dass jede Eigenschaft des Vorgestellten wirkliche Eigenschaft ist, wenn das Vorgestellte ist. Aber die Wunschfärbung gehört eben nicht zum seienden Sachverhalt so wie die Erfreulichkeitsfärbung. Also von Färbung kann man in der Tat nicht sprechen, wo der Gegenstand oder Sachverhalt bloß vorgestellter ist. Ich kann wohl sagen „Dass S wäre, wäre schön“, dann versetze ich mich in die Vorstellung, und in der Vorstellung gehört zum Gegenstand die Schönheit (Urteilen in der Vorstellung), aber das ist nicht die Wunschfärbung, sondern die s upponiert e Freud efärbung oder Schönheitsfärbung. Der Wunsch ist also eine Objektivität: S möge P sein, S sollte P sein. Das steht da, so wie „S ist P!“ „dasteht“. Ich urteile nicht, ich sage nichts aus von Sein oder Nichtsein, aber ich habe doch eine Impression: S möge P sein. V er s uch ei nes Ein wandes. Aber man wird es eben unerträglich finden, dass alle Akte objektivieren sollen und wird einzuwenden versuchen: Gewiss, das sind Objektivitäten. Gewiss, es steht vor meinem „Auge“ das „S möge P sein“, das „Ist S P?“ Und ebenso in Fällen, wo ein Vorstellungsgegenstand unmodifiziert zur Grundlage dient, also S ist P (erfreulicherweise), Hoffnung, dass S P ist etc. Aber inwieweit ist dann das Wünschen, Sich-Freuen etc. an diesen Objektivitäten beteiligt, bzw. wann liegen wirklich Objektivitäten vor? Das W ünsc hen o bj ekti vi ert ni cht, die Freude, die Trauer, der Wille, all das objektiviert nicht im echten Sinn. Das kann nur das Vor s tel len, die „ obj ekti vi erenden Akte “. Habe ich ein Objektivieren vollzogen, so kann sich darauf ein Wünschen gründen, und der Wunschcharakter ist dabei in gewisser Weise mit dem erscheinenden Objekt, mit dem Vorgestellten eins. Das ist zweifellos. Er „bezieht sich“ auf den Gegenstand. Das ist aber Einheit mit dem Gegenstand. Und alles, was mit dem Gegenstand eins ist, das unterliegt der Möglichkeit einer Hinzu-Apperzeption durch die Form des Wahrnehmens, des Erinnerns, des Vorstellens überhaupt. Apperzeption ist nur Sache des Vorstellens. Dass sich nun aber die Prädikate, die aus den „Gemütsakten“ erwachsen, in dem Wertesinn objektivieren lassen, das liegt nun an den besonderen Gesetzmäßigkeiten der Gemütssphäre in dem Verhältnis zur Gegenstandssphäre (bzw. Vorstellungssphäre).
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Aber ist das nicht eine leere und unverständliche Ausflucht? Wird denn wirklich etwas hinzuapperzipiert, und was ist das eigentlich „hinzuapperzipieren“? Ist Wünschen nicht das Bewusstsein „S möge P sein“? Und kann ich anderes sagen als: „Das steht da“, und darauf 5 kann ich so gut hinsehen im Denken, es zum Dies-worüber machen, so gut, wie ich auf den Sachverhalt hinsehen, ihn zum Dies machen kann etc.?
Nr. 18 h Die Unt ers chi ede i n der Fu ndierung von pr ädikat iven Akten und von Gemütsakteni1
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Jeder fundierte Akt, jeder prädikative Denkakt z. B. und jeder Gemütsakt, bezieht sich in einem doppelten Sinn auf ein Objekt: 1) Er „bezieht sich“ auf den fundierenden Gegenstand, d. i. den Gegenstand des fundierenden Aktes; 2) auf den fundierten Gegenstand, d. i. den Gegenstand des vollen fundierten Aktes. Der fundierte Gegenstand schließt den fundierenden in einer je nach Art der Fundierung verschiedenen Weise in sich; was er neu hinzubringt, ist bei den Gemütsakten nur das unselbständige und im weiteren Sinn kategoriale (regionale?) Prädikat: „wert“, „erwünscht“, „gefällig“ etc. Die Rede von Beziehung ist beiderseits grundwesentlich verschiedenen Sinnes (im Vergleich der Gemütsakte und der fundierenden Vorstellungsakte). Der fundierende Gegenstand ist derjenige, der „gewertet“ wird, der fundierte ist der Wert, das im Wert dem fundierenden Gegenstand zuwachsende und ihm außerwesentliche Prädikat, das Wertprädikat. Das, was ich da sagte, meinte ich zunächst so, dass ich prädikative und Gemütsakte, da beide fundiert sind, gleichstellen wollte. Aber das geht nicht. Nämlich vom prädikativen Akt kann ich doch nicht sagen, dass er sich in dieser Doppeltheit gemäß der eben gegebenen Beschreibung auf den fundierenden Gegenstand beziehe: nämlich auf den Gegenstand-worüber der unterliegenden Gesamtvorstellung. Der vorgestellte Gegenstand erfährt doch eine gewisse „kategoriale Gliederung und Formung“. Wir haben 1) eine unterliegende Vorstellung, etwa eine Wahrnehmung. 2) Ich kann nun an dem Wahrgenommenen, z. B. dieser Zündholzschachtel, die gelbe Papierfläche beachten. Sie steht da, „auf“ der Schachtel, ein aus ihr Herausgehobenes. Oder ich kann von ihr übergehen zu der Tischplatte und beides zur Einheit bringen oder in dem Aufeinander nehmen, noch ohne Begriff. Jede solche
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Synthesis, die noch keine begriffliche Fassung enthält, ist eine synthetische Einheit (Verknüpfung) des Bewusstseins, die sich auf die Gegenstände, die zur Synthese gebracht sind, „bezieht“ und die zugleich ihren Gesamtgegenstand hat, eben die Synthese der beiden: das Zusammen, das Aufeinander, die Einheit von Ding und ihm eigener Beschaffenheit etc. Da haben wir fundierte Akte und entsprechend fundierte Gegenstände. Dazu kommen nun die „begrifflichen Fixierungen“ – Auffassung als „Schachtel“, als „gelb“ – des prädikativen Verhältnisses als Satz in der Form des Ausdrucks „Die Schachtel hat eine gelbe Papierbeklebung“. Wie steht es mit diesen begrifflich fassenden „Akten“? Zunächst nun ist es evident, dass die Art, wie jene synthetischen und seinssetzenden (und noch nicht begrifflichen) Akte sich auf die Gegenstände der fundierenden Vorstellungen beziehen, eine total andere ist als diejenige Art, in der sich etwa eine Freude auf die Tatsache, haufi das „Objekt“ des unterliegenden Urteilens, Gewissseins, bezieht. Und ebenso, dass die gesamte Objektität hier und dort – hier die Synthesis „a auf b“, dort die Freudenobjektität (Erfreulichkeit der Tatsache) – zur fundierenden Objektität beiderseits total verschieden steht. Die Art der Synthesis ist dabei jeweils eine solche, die gar nicht gebunden ist an die unterliegenden Objekte ihren Gattungen, Kategorien nach. Wir können so gut wie etwa empirische Objekte auch Werte in kollektive, prädikative und sonstige Verbindung oder Beziehung setzen. Das charakterisiert ja das „Kategoriale“. Nicht ebenso die Funktion des Begriffs: Die ausdrückende Funktion gehört in eine andere Dimension und steht allen spontanen Akten gleich gegenüber. Synthese also und Form der „Allgemeinheit“ oder, da das irreführend ist, besser: Form der „Begrifflichkeit“. h…i1 Dann zerfallen die Gegenstände (die schlichten im Gegensatz hier zu synthetischen) in sinnliche Gegenstände und Wertgegenstände: die letzteren in den ersteren fundiert.2 Die ersteren wären Vorstellungsgegenstände, die letzteren Gemütsgegenstände (wobei offen ist, was den letzteren Einheit gibt und wie sie in wesentliche Gruppen zerfallen). 1
In der Husserl’schen Paginierung des Textes fehlen an dieser Stelle zwei Blätter. – Anm. der Hrsg. 2 Cf. 55 h= S. 336,32–338,23i.
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Doch was die Fundierung anlangt, so bestehen hier Bedenken und damit auch Bedenken für die Scheidung der Gegenstände. Man könnte nämlich einwenden: Wenn ich einen Wunsch nehme, so ist der Wunschinhalt nicht fundiert in einem Gegenstand, nämlich der erwünschte „Sachverhalt“ ist doch kein wirklicher Gegenstand, kein wirklicher Sachverhalt. Korrelativ gesprochen: Dem Wünschen liegt nicht zugrunde ein unmodifizierter Akt, eine Impression, sondern eine bloße Vorstellung. Eventuell, wenn ich etwa wünsche, dass der gütige Gott mir beistehen möge in meinem großen Unternehmen, liegen wirkliche Setzungen zugrunde, aber das Ganze, der ganze Sachverhalt, ist nicht gesetzt. Der Gesamtakt also hhati keine unterliegende Setzung.1 (Man könnte die Ansicht vertreten, dass jeder Wunsch irgendwelche Setzung als Grundlage voraussetze.) So ist es doch wie beim Wunsch auch bei der Frage, dem Entschluss etc., auch beim Schönheitswerten: Das Bild (eine Fiktion) ist schön; ein „Phantasiebild“ ist hässlich oder schön. Es fragt sich da, ob wir nicht gegenüber den „wirklichen Gegenständen“ der unmodifizierten Akte (als den von ihnen vermeinten Wirklichkeiten) „vorgestellte Gegenstände als solche“ unterscheiden müssen, die hier die fundierenden wären, und dann genauso bei den konzeptualen (die konzeptualen Wirklichkeiten, die kategorialen Urteilswirklichkeiten: die Sachverhalte und die entsprechenden bloßen Bedeutungen). Was die Bedeutungen (als Gemeintheiten) anlangt: Man könnte auch sagen, das Gemeinte der Vorstellung und das Gemeinte des entsprechenden Glaubens ist genau dasselbe, nur dass im letzteren Fall der Seinsmodus charakterisiert, im anderen Fall der bloße Vorstellungsmodus. (Andere werden hier lieber sagen, auf der einen Seite haben wir das Gemeinte ohne alles Charakterisierende, im anderen Fall haben wir das Gemeinte im Modus des Seins.) Anstelle des Tatsachenmodus habe ich nun nicht Wunschmodus, sondern ich habe Vorstellungmodus und Wunschmodus, bei der Freude Tatsachenmodus und Freudenmodus. Würde man sich dazu verstehen können, den Wunsch als nicht fundiert zu betrachten, so hätten wir anstelle des Vorstellungsmodus 1 Kann man sagen, dass der als wirklich gesetzte Subjektgegenstand des Wunsches Bestandstück ist des Wunschverhalts?
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den Wunschmodus und nur der „Inhalt“ wäre ein und derselbe. Doch scheint sich das, wie ich mich immer wieder zu überzeugen meine, phanseologisch nicht zu bestätigen.
Nr. 19 h I n w elc hem Si nn al l e Akte eine Vorstellung zur G rundl age haben. Sei nswertungen und Gemüts wert ungen. Nochm al i ges Überde nken der Dar s tell ung i n d en Logi schen Untersuchungeni1
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Dem Akt als solchem ist definitorisch eigentümlich die „Beziehung auf ein Obj ekt“. Mein altes Problem: Ob bei allen Akten diese Beziehung, wenn sie nicht von vornherein vorstellende Beziehung ist, vermittelt ist durch ein Vorstellen. In meinen Logischen Untersuchungen suchte ich nachzuweisen, dass diese Beziehung beim Urteil eine unvermittelte ist. Habe ich aber mehr gezeigt, als dass, wenn wir unter Urteil den prädikativen Glauben „S ist P!“ verstehen, dieser Akt nicht fundiert ist in einem „bloßen Vorstellen“ „S ist P“? Ferner: War das ganze Problem nicht mit manchen Unklarheiten behaftet? Muss nicht die ganze Untersuchung mit Rücksicht darauf neu geführt werden, dass erst die Probleme, die hier vorliegen, und die mannigfachen Beziehungen, die ineinander geflochten sind, geschieden werden? Was ist zunächst in der Definition gelegen: Jeder Akt bezieht sich auf ein Objekt? Nicht zur Geltung ist in meinen Logischen Untersuchungen gekommen, was ich schon in den Osterferien h18i98 so deutlich vor Augen hatte, was in den Worten lag: In jedem Akt ist etwas bewusst, in jede m Akt „ erscheint etwas “, oder er ist „Erscheinung von etwas“. Andererseits hatte ich mit Brentano vor Augen: J edes Vors tel l en stel l t ei nen Gegenstand vor, jedes Urteilen urteilt über einen Gegenstand (oder über mehrere Gegenstände) und zugleich, jedes Urteil „setzt“ einen Sachverhalt. Damit glitt ich in das „Erscheinen“ über. Jedes Urteil ist „Erscheinung“ von einem Sachverhalt. Der Sachverhalt ist in ihm in Seinsweise bewusst. Da haben wir aber eine Doppelheit: das bewusste „S ist P!“ und das „S ist P“ als das, was in Seinsweise dasteht und das „gesetzt“ ist.
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Neue Ausarbeitung hwohl von Oktober/November 1909i nach Blättern aus 1908.
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Nun kommt die Frage. Jetzt heißt es wieder, im Fragen „bezieht“ man sich auf ein Gegenständliches-worüber, oder man „bezieht“ sich auf einen fraglichen Sachverhalt. Hier kann wieder geschieden werden die Frage als das Was des Fragens und der „Sachverhalt“, der als fraglich dasteht. Ebenso im Wunsch. Worauf bezieht sich der Wunsch „Es möge schönes Wetter sein!“? Einmal kann ich sagen: Im Wünschen erscheint der Wunsch „Es möge schönes Wetter sein!“. Und wieder kann ich sagen, das Wünschen (bzw. der Wunsch) bezieht sich auf das Sein des schönen Wetters: auf den „Sachverhalt“ usw. Was soll nun der Satz besagen : Jeder Akt i st entweder Vorstellung oder hat eine Vors tel l ung zur U nterlage? Zunächst „Vorstellen“. Was ist das Vorstellen? Da haben wir das sinnliche Wahrnehmen (sinnliche Phantasieren), sinnliche Erinnern, Erwarten und Modifikationen, und da kommt auch schon manches in Betracht. In der Wahrnehmung steht ein Ding da, als gegenwärtig da, als selbstgegenwärtig, unmittelbar gegenwärtig. Nämlich nicht ist ein Vergegenwärtigtes als jetztseiend gesetzt. Wir haben Gegenwart des Objekts oder hdasi Objekt in seiner Gegenwart gegeben, und hdiei Gegenwart des Objekts steht „wirklich“ da. In der Erinnerung ist Vergangenheit des Objekts als wirklich gesetzt etc. Und ebenso hstehti in der Einbildung hein Objekt als fingiert dai. Da wird unterschieden: Objekt, seine Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, gemeint als wirklich oder eingebildet (fingiert), hdiei Weise der Wahrnehmung, der Vergegenwärtigung, der Leervorstellung. Die sinnliche Vorstellung bezieht sich auf das vorgestellte Objekt. Was ist das vorgestellte Objekt? Das gesamte vorgestellte Was, das, was mir im Vorstellen dasteht? Wir haben aber auch ein Was, einen Gegenstand, der einmal als jetzt, als selbstgegenwärtig, das andere Mal als vergangen etc. dasteht. Und wieder haben wir einen gegenwärtigen Gegenstand, der einmal als wirklich, das andere Mal als fingiert dasteht usw. In dieser Hinsicht habe ich ja schon in den Logischen Untersuchungen einiges bemerkt: dass etwa bei der sinnlichen Wahrnehmung nicht ein eigener Akt zugrunde liegt „bloße Vorstellung“, auf den sich Glaube als höherer Akt baut etc. Ich versuchte auch, einen Begriff von „Materie“ einzuführen als dasjenige im Akt, in dem der Gegenstand als so und so bestimmter erscheint, abgesehen von den Setzungscharakteren Für-wirklich-
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Halten, Für-fingierth-Halteni etc., das heißt, es wurden abgeschieden Modi des Glaubens, Glaubensneigung … Das Ergänzende im vollen Akt und zum vollen Akt war die „Auffassung“, und dann gab es in der Auffassung wieder Unterschiede wie Wahrnehmung, Phantasie (was freilich von mir wieder aufgegeben wurde). Nehme ich aber dafür Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung, so hätte ich zu fragen, wie die „Materie“ sich bestimmen soll: bloß nach dem „Inhalt“ des Gegenstandes, nach seinen wesentlichen Prädikaten oder auch nach den Zeitmodi? Und haben wir nicht auch Unterschiede räumlicher Orientierung bei gleichem gemeintem Gegenstand und bei inhaltlich gleich bestimmtem? Und entsprechen dem wieder nicht Unterschiede im Akt?1 Also die Dinge sind sehr viel schwieriger und komplizierter, als ich damals es darstellte; obschon ich die Komplikation schon sah, nur sie nicht recht anzufassen wusste. Kann ich nun überhaupt solchen Fragen wie den hier erwogenen – ob jeder Akt eine Vorstellung zur Grundlage habe – näherkommen, wenn ich nicht phänomenologisch viel weiter fortgeschritten und systematisch alle ontischen Unterschiede und die parallelen phansischen herausgestellt habe? Und das sind Unterschiede, die bei allen Akten zu machen sind. So machen wir den Unterschied zwischen dem, was da gewünscht ist und dem Wunsch selbst. Ich wünsche das P-Sein des S. Ebenso, ich frage nach dem P-Sein des S. Ich zweifle an dem P-Sein des S. Ich wünsche das Sich-Bessern des Wetters, oder deutscher: „eine Besserung des Wetters“. Ich frage nach der Farbe der Lilie. Ich zweifle an der Lösbarkeit dieser algebraischen Gleichung. Ich befehle das Vorfahren des Wagens. Ich will den Garten sprengen (das ist eine Handlung). Ich will, dass von morgen ab der Tisch hier stehe. Überall haben wir, wird man sagen, einen vorstelligen oder „vorgestellten Sachverhalt“ und auf den richtet sich der Wunsch, der Wille, die Frage, die Vermutung etc. Also sind das fundierte Akte? Müssen erst Vorstellungsakte vollzogen sein, die mir die Gegenständlichkeit geben, damit sich auf diese nun vorstellige das Fragen, Wünschen etc. „beziehen“ kann?
1 Nun, wenn alles, abgesehen von den Glaubensmodi, zur Materie gehört, dann sind das eben Unterschiede innerhalb der Materie.
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Und in der Tat: Ich kann mir das Besserwerden des Wetters vorstellen, ohne zu fragen, ob …, ohne zu zweifeln, ohne zu vermuten, ohne zu wünschen, ohne zu wollen, ohne anzuerkennen, zuzustimmen, abzulehnen etc. Ich kann bloß vorstellen, ohne in irgendeiner Weise „Stellung zu nehmen“. Ist das bloße Vorstellen, das man daraufhin geneigt ist als Unterlage anderer Akte und womöglich aller Akte anzunehmen, ein Imaginieren? Und wenn ich Gefallen habe an einem Wahrgenommenen, habe ich da ei ne doppel te Stel l ungnahme: die des Gefallens und zuunterst die des „wahrnehmenden Glaubens“? Und liegt unter dem wahrnehmenden Glauben am Ende ein Imaginieren? Das Letztere wäre doch lächerlich. Beim Wahrnehmen werden wir sicher keine fundatio annehmen in einem darunterliegenden Akt, der das wahrgenommene Objekt (das volle und ganze) erst vorstellig macht. Ebenso wird es sich verhalten beim schlichten Urteilen hinsichtlich des Sachverhalts, was nicht ausschließt, dass dem Urteilen eine Vorstellung (eine sinnliche Wahrnehmung oder sinnliche Vorstellung der gesamten sinnlichen Gegenständlichkeit-worüber, und ebenso, wo das Urteilen nicht auf Sinnliches geht) sonst zugrunde liegt. Ist es ebenso bei der Frage „Ist S P?“? Hat man auch hier keinen Anlass, eine Vorstellung „S ist P“ unterzulegen (wenn auch eine Vorstellung des S als P zugrunde liegen muss)? Bei der Vermutung? Das ist schon schwieriger. Selbstverständlich soll nicht geleugnet werden, dass es fundierte Akte gibt. Jeder synthetische Akt ist fundiert, also jedes prädizierende Urteil. Jede Freude ist fundiert. Die Gegenständlichkeit des fundierten Aktes fordert dann die Fundierung, und eine parallele Fundierung liegt dann in ihr selbst. (Natürlich wird aber diese Gesamtgegenständlichkeit nicht erst vorgestellt und dann gesetzt.) Aber ist die Frage „Ist S P?“ nicht ontisch genommen wirklich fundiert? In der Frage liegt doch das „S ist P“, und das als Inhalt der Fraglichkeit. Ebenso im Wunsch. Es heißt ja auch „sein möge“. Das „möge“ bezieht sich auf das Sein. So komme ich wieder darauf zurück, dass Wünschen, Fragen etc., auch Vermutungen, fundiert sind in „objektivierenden“ Akten.1 Das
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Und das negative Urteil „S ist nicht P“?
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heißt aber nur, eine Gegenständlichkeit ist schon vorstellig, und diese fundiert eine höhere Gegenständlichkeit, eben „die Frage“, den Wunsch etc., die das Was, das „Gegenständliche“ der höheren Akte, ausmacht. Das aber klingt so, als ob es sich um dasselbe handelte wie bei allen fundierten Akten, z. B. synthetischen. Indessen, ist bei fundierten Akten der Art, wie es die Gemütsakte sind, nicht das Eigenartige dies, dass der höhere Akt eine neuartige, neue Stellungnahme oder Quasi-Stellungnahme und nur das hineinbringt? Zuunterst haben wir entweder eine „bloße Vorstellung“ oder eine sinnliche „Wahrnehmung“ oder eine bloß propositionale Vorstellung bzw. ein prädikatives Urteil. (Wir könnten hier sprechen von Stellungnahme oder Quasi-Stellungnahme.) Darauf gründet sich eine neue Stellungnahme und ontisch ein „Wertprädikat“, eine Wertformung des ursprünglichen Gegenstandes. Also Verschiedenheit der Akte mit Verschiedenheit ihrer Beziehung auf „Gegenstände“. Was liegt darin? Phanseolo gisch haben wir, wie ich es in den Logischen Untersuchungen richtig gesehen habe, Aktmaterien zunächst in Form der Vorstellung (Wahrnehmung und ihre Modifikationen). Auf diesem Akt unterster Stufe mit seinen „Aktcharakteren“ (Stellungnahmen) haben wir neue Aktcharaktere gebaut. Eventuell auf der höheren Stufe neue Synthesen und dann wieder Aktcharaktere usw. Dazu auch die „ausdrückenden“ Konzeptionen. O nti sc h hhaben wiri aber Gemeintheiten und gemeinte Gegenstände, und zwar „vorgestellte Gegenstände“ im ontischen Charakter der Wirklichkeit, der Fiktion etc. (ontische Materien in diesen Charakteren). Nehmen wir die Charaktere dazu, so haben wir Gegenstände: Wirklichkeiten, Fiktionen. Dann wieder höhere „Wertcharaktere“: Fraglichkeiten, Erwünschtheiten, SollensGegenstände (Gesolltheiten). Mit Beziehung darauf kann man alle „Stellungnahmen“ als Schätzungen, Wertungen1 bezeichnen und die entsprechenden Objektivitäten halsi „Werte“ in einem weitesten Sinn und die Prädikate halsi „Wertprädikate“. Auf die so weit verstandenen „Werte“ beziehen sich die Normen und normativen Disziplinen, oder sie beziehen sich auf Gemeintheiten (die Materien), die Wertung erfahren bzw. die Wertprädikate erhalten.
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Stellungnahme = Wertung im weitesten Sinn.
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Man kann sagen, dass die so verstandenen Werte1 der niederen Schicht als „Materien“ in der höheren Schicht fungieren, nämlich als das, was Wertung erfährt und Wertprädikat erhält. Die Tatsache, dass S P ist, das ist schon ein „Wert“: Materie „S ist P“ im Wertcharakter der „Tatsache“. Nun wird die Tatsache weiter „gewertet“ als erfreulich. Kann die Erfreulichkeit wieder gewertet werden? Eine „Wahrheitswertung“2 ergibt die Wahrheit: S ist P! Das kann nicht noch ein zweites Mal im selben „Sinn“ (bei derselben Materie) gewertet werden. (Jede Wertung kann begründet werden, aber das ist etwas anderes.) Ebenso schließt sich aus Vorstellung und Urteil, Urteilswertung und Frage, Vermutung hundi Zweifelswertung. Eine Gemütswertung lässt einen Gemütswert dastehen „S möge P sein“ und dgl. Aber es können nicht zwei Gemütswertungen aufeinander gebaut sein: bei gleicher letzter Materie.3 Aber kann ich nicht einen Gegenstand schön finden, den ich mir vorstelle, und zugleich wünschen, dass er sei? „Gegenstand“, wird man antworten, ist nicht dasselbe wie „Sein des Gegenstandes“. Also die Materie histi eine verschiedene. Ein Mensch gefällt mir und ich hasse ihn: Er gefällt mir leiblich, ich hasse ihn wegen dieser oder jener Charaktereigenschaft. So finde ich überall, dass die eigentlichen Materien verschieden sind. Gemütsakte können mannigfach ineinander gegründet sein. Gefallen am Vorgestellten als solchen (am Inhalt) mag begründen einen Wunsch, dass der Gegenstand dieses Inhalts sei, oder den Willen, ihn als Ende einer Handlung zu realisieren. Aber das macht keine Schwierigkeit.4 Es zeigt sich hier also eine Klassenbildung an: Verschiedene Aktcharaktere, die miteinander unverträglich sind in dem Sinn, dass sie bei Erhaltung der Materie nicht aufeinander gebaut sein können, gehören zu einer Klasse. Doch habe ich noch nachzutragen: Nicht schlechthin ist doch Glaube, dass S P ist, und Für-wahrscheinlich-Halten, dass S P ist etc., unverträglich. Wohl unverträglich in „einem Bewusstsein“, d. h. bei
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„Wert“ ist immer im weitesten Sinn als Korrelat der Stellungnahme verstanden. Wahrheitswertung = Setzung, Wahrsetzung. 3 Wertsetzung. 4 Dagegen fragt es sich doch, ob wir nicht Gefallen und Wollen derselben Materie vereinigen können?! Also müssten wir Wunsch und Willen in verschiedene Klassen bringen, falls wirklich in einem Akt beides verträglich wäre. 2
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gleicher Motivationslage. Damit hängt zusammen: Die Begründung der Wahrheit einer Materie (eines Sachgehalts) schließt die Wahrscheinlichkeit etc. aus – auf solche Gründe hin wäre es unvernünftig zu vermuten, zu fragen etc., und ebenso bei Wahrscheinlichkeit hinsichtlich der Wahrheit etc. Dagegen ist eine solche Begründung der unterliegenden Tatsache irrelevant für die Möglichkeit von darauf gebauten Wertprädikaten: Sie fordert sie nicht und schließt sie nicht aus. Dass eine Tatsache erfreulich ist, wird nicht durch die Begründung der Tatsache als solcher geleistet, und diese Begründung als solche schließt gar kein Wertprädikat ein oder aus. Und damit hängt nun zusammen: Die zwei (oder drei?) Wertungsklassen gehören zu zwei grundverschiedenen Motivationen – Seinsmotivation und Wertmotivation –, also zu zwei grundverschiedenen Arten von Begründungen, die nicht ineinanderlaufen. Sein als solches (Seinswert, Wahrheitswert) führt bei der Begründung von Akten zu Akten innerhalb der einen Klasse. Wahrscheinlichkeit begründet sich durch schon festgesetzte Wahrheit. Fragen begründen sich, und ebenso Zweifel, durch das, was man weiß oder nicht weiß. Wünsche, Gefallensakte etc. können für Sein oder Nichtsein nichts begründen. Umgekehrt: Wenn auch Überzeugungen, Wissen, Vermuten, Zweifeln zugrunde liegen können bei Wertungen im engeren Sinn (Gemütswertungen), so können diese doch nicht als solche begründet werden durch Begründung der Unterlagen. (Oder sie können es nur in uneigentlichem Sinn: Besteht die Überzeugung, so ist die und die Freude berechtigt, aber hnuri wenn sie in ihrer Art als Freudenwert auszuweisen ist.) Zu beachten ist übrigens, dass nicht jedes Unterliegen ein Fundieren des spezifisch wertenden Aktes ist: Es kann ein Objekt geglaubt, bezweifelt etc. werden, aber der darauf gebaute Wertungsakt richtet sich etwa auf den bloßen Inhalt und hist nichti fundiert im Geglaubten etc. als solchen. Die zwei großen Klassen von Schätzungen (Wertungen im weitesten Sinn) stehen ferner in der Beziehung, dass die Schätzungen der einen Art in solchen der anderen oder in ihren Modifikationen fundiert sind bei gleicher Materie. Das heißt genauer, jeder wertende Gemütsakt setzt einen seinswertenden (oder Sein bloß vorstellenden, annehmenden etc.) Akt voraus, dessen Materie er sich in gewisser
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Weise zueignet, nämlich so, dass seine neue Stellungnahme durch das Medium der Seinsstellungnahme dieselbe Materie enthält. Man kann zwar sagen, dass hier ein großer Unterschied bestehe – eine Materie muss zunächst immer Materie eines seinsstellenden Aktes (eines vorstellenden) sein –, aber es kann doch der wertende Gemütsakt direkt auf die Materie bezogen sein. Bei der Schönheitswertung ist irgendeine Stellungnahme oder Quasi-Stellungnahme der Phantasie vollzogen, aber sie geht nicht auf Sein. Die Materie oder das „Vorgestellte als solches“ gefällt, ohne dass es im Sein (als Tatsächlichsein oder gar Fiktionsein, Phantasiesein) gefällt. Dagegen der Wunsch geht nicht nur auf den „Inhalt“, auf das Vorgestellte als solches, sondern auf das Sein. Im einen Fall, im letzteren, geht die Gemütswertung auf das Seins obj ekt, im anderen auf den bloßen Inhalt. Das alles wird sich besser ausdrücken hlasseni, wenn ich alle Begriffe (Gegenstand, Kategoriale etc.) bis zur letzten Schärfe und Unterschiedenheit ausgebildet habe und selbst sie ordentlich beherrsche. Es bleibt also ein Recht für die Unterscheidung zwischen „objektivierenden“ und Gemütsakten, nur dass die Bezeichnung „objektivierender Akt“ sich nicht wird halten lassen. Auch habe ich ihm wohl einen viel zu weiten Sinn gegeben. Es handelt sich nicht ohne weiteres um Vorstellung und Urteil. Alle objektivierenden Akte sollen Unterlagen abgeben können für Gemütsakte? Aber nicht alle können es, wie es scheint. Denn wenn ich urteile: „Dass heute ein klarer, schöner Tag ist, ist erfreulich“, so kann ich das nicht wieder erfreulich finden. Oder geht es? „Es ist erfreulich, dass es erfreulich ist, dass heute schönes Wetter ist“? Aber stimmt das?1 Und in gewisser Weise ist jeder Akt „Vorstellung“. Es steht etwa da „herrliches Wetter!“ – und das ist nicht wieder herrlich. Also nicht eine solche Vorstellung ist das, die Unterlage für das Gemüt abgeben kann. Den wertenden Gemütsakten liegen
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Ich freue mich über A. Dann erkenne ich, dass dies, dass A ist, objektiv erfreulich ist. Und nun freue ich mich darüber. Ich freue mich nicht nur der Erkenntnis, dass das so ist, sondern auch über das Sosein selbst, weil etwa mein Sich-Freuen über das A berechtigt ist, sich nämlich als das durch die Begründung herausstellt bzw. das Recht der Freude abhängt von dem Recht des Urteilsinhalts der Erfreulichkeit. So mögen Beziehungen immer wieder möglich sein, aus denen heraus schließlich jeder Sachverhalt erfreulich werden kann, wenn auch nur mittelbar und relativ.
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„objektivierende“ Akte zugrunde als nicht-wertende Akte. Und sind das andere Akte denn Akte der Sinnlichkeit? Das ist zu überlegen.1
1 Nicht Rücksicht genommen ist in diesen Ausführungen überall auf die Möglichkeit, welche ich wiederholt durchgedacht habe – schon seit 1907 oder noch früher –, dass die Anmutung-Vermutungsmodifikationen (mit Zweifel) zu allen Stellungnahmen gehören bzw. dass für objektivierende und Gemütsakte überall die Unterschiede der Entschiedenheit, der Anmutung etc. bestehen. Vergleiche die Bearbeitungen dieses Problems im Januar, Februar 1910 hvgl. die aus diesem Zeitraum stammenden Texte, die in Husserliana XLIII/3 unter dem Titel Neigung, Vermutung, Anmutung, Zweifel im Urteilsgebiet und in der Sphäre des Gemüts (S. 195) veröffentlicht sindi.
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Ganz richtig führte ich also aus: 1) Verstand kann sagen „Objektivation“, ganz gleichgültig, woher das Material kommt, und gleichgültig, welches die Weisen sind, welche die „Materie“, den Auffassungsgehalt, erzeugen. Und diese Objektivation ist zunächst vor-konzeptiv und dann konzeptiv, und das führt unter Zuzug der Synthesen der Identifikation etc. zum logischen Verstand. Zur Objektivation überhaupt gehören Objekte überhaupt, und was für Objekte überhaupt in allgemeinster Allgemeinheit gilt, das erforscht die reine und allgemeine Logik. 2) Verstand im Gegensatz zu Gemüt. Hier ist das erste Material und die Weise der „Auffassung“ das sehr Verschiedene. Auf der einen Seite haben wir Sinnlichkeit (Empfindung und assoziative Motivation, Seinsmotivation, Seinsbegründung), auf der anderen Seite Gefühle (in Empfindungen fundiert) und Gefühlsmotivationen, was neue Auffassungsformen und neue Begründungsweisen, die Wertbegründungen, mit sich führt. Oder genauer: Erstens, auf der einen Seite Zusammenhänge von Erfahrungsintentionen (sinnlichen Intentionen), sich so und so wechselseitig motivierend und in ihrem Motivieren miteinander vereinigt und verschmolzen. Sie sind von vornherein „Vorstellungen“, sinnliche Vorstellungen. Das ist das Feld der sinnlichen Wahrnehmungen und Wahrnehmungszusammenhänge, der zugehörigen Erinnerungen, Erwartungen, Bildvorstellungen, symbolischen Intentionen usw. Fürs Zweite die Gemütsintentionen und ihre Zusammenhänge: von vornherein bis zum untersten Material hin fundiert in Vorstellungen und Vorstellungszusammenhängen (nämlich sinnlichen Akten). Unabhängigkeit der Modi der Gemütsintentionen von der Art der zugrunde liegenden Sinnlichkeiten. Die Gemütsintentionen bringen ihre neuen Motivationen herein: Gefallensmomente an sinnlich Empfundenes geknüpft, Gefallen am sinnlich einheitlichen Gegenstand in sich, Gefallen um eines anderen 1
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willen. Einheit eines Gemütsbewusstseins: ein einheitlicher Gefühls(Wertungs-) Charakter aus wechselseitig sich teils rein steigernden, teils steigernden und hemmenden und sich dabei so und so motivierenden Momenten. 5 Dabei meinte ich früher, dass das erst die Grundlage sei für die Konstitution einer neuen „vorstellenden“ Auffassung, einer solchen, die nicht den Charakter eines Erfahrungsbewusstseins, sondern Wertbewusstseins herstelle.1 Aber so kann ich das nicht mehr verstehen; ich kann nicht verstehen, wie eine neue Auffassung hier Platz finden 10 und was sie über das Gegebene hinaus noch leisten könnte. Beiderseits kann sich nun direkt an das sinnliche oder wertende Bewusstsein Synthesis und Konzeption anschließen, so dass der Verstand als das logische Vermögen eine ausgezeichnete Stellung hat. Er betätigt sich einmal im Feld der Erfahrung (Sinnlichkeit) und das 15 andere Mal im Feld der Wertung und Wollung, in dem des Gemüts.2
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Verstehe ich nicht. Doch nicht klar, aber siehe das Weitere!
Nr. 21 h I ntel lekt und G em üt. D i e Untersch eidung zwis chen ni ederen und höheren B ewus st sei nsstufen. Em pi ri sche Funktion und W ert ungsfunkti on. Das Meinen al s das eig entl i che O bj e ktiviereni1
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Die Ordnung der Vermögen histi eine sehr schwierige Sache! Sollen wir unterscheiden: I. Niederes Bewusstsein, unteres Bewusstsein (entsprechend der Rede von niederen und höheren Erkenntnis- und Gemütsvermögen), und zwar 1) Sinnlichkeit (niedere Sinnlichkeit): niedere Erfahrung, sinnliche Motivation; 2) niederes Gemüt, niedere schlichte Gefühle und Gefühlsauffassungen, Gefühlsmotivation; II. höheres Bewusstsein – Verstand, Vernunft?: 1) verstandene Sinnlichkeit (Verstand im Feld der Sinnlichkeit) – Erfahrungswelt, Natur als Korrelat der Naturwissenschaft; 2) „Welt“ der Werte, Verstand, Vernunft in der Sphäre des Gemüts, der Gemütsauffaussung der Welt? Dazu führe ich aus: Über das Bewusstsein reflektierend und in ihm Umschau haltend finden wir Wahrnehmungen, Erinnerungen, Vermutungen, Fragen, Urteilsakte etc., Wünsche, Begierden, Gefallensakte, Freuden … Und näher besehen finden wir Akte, die von denkmäßiger Auffassung, von Konzeption, begrifflicher Auffassung frei sind, und solche, die als Unterlagen solcher fungieren. Wir haben etwa bloße Wahrnehmung, bloße Phantasie, bloßes Bildbewusstsein etc. und Zusammenhänge solcher Akte, in denen wir leben, ebenso Freuden etc. Und dann tritt etwa Denken hinzu, und es denkt die Gegenständlichkeiten: Wert und Wertbedeutung, und es denkt sie, als was sie sind, in sich und in Beziehung zu anderem. Zusammenfassen, Beziehen mag schon vor dem Denken auftreten, im Denken wird es zum „Aussagen“, zum Prädizieren, zum bestimmenden Denken. Nun finden wir zwei Stufen: die Stufe des sinnlichen Bewusstseins, das wahrnimmt, Wahrnehmung mit Wahrnehmung erfahrungsmäßig verbindet etc., und darauf gegründet ein Neues, das Gemütsbewusst1
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sein. Und diese Gründung ist eine solche, dass im vollen fundierten Bewusstsein (mitsamt der Unterlage genommen) ein Meinen so leben kann, dass die Gegenständlichkeit des fundierten Aktes in einem „Wertcharakter“ dastehe, eine Wertgegenständlichkeit bilde, und man sagen kann, dass das neue Bewusstsein der höheren Stufe, das Werten und Wollen, sich auf die untere Gegenständlichkeit (die vorstellige) bezieht und zugleich voll genommen Bewusstsein von der Wertgegenständlichkeit ist. Sowohl bei dem fundierenden sinnlichen Bewusstsein und seinen Synthesen als auch bei dem Wertbewusstsein und seinen Synthesen kann Ausdruck, verstandesmäßiges Begreifen und Bestimmen hinzutreten und so verstandesmäßig auseinanderlegen, was der Gegenstand, der Naturgegenstand und der Wertgegenstand, ist. Beiderseits kann man normative Gesetze etablieren und ebenso auch normative Gesetze für das Denken selbst, das seinerseits notwendig fundiert ist in einem Nichtdenken, das das „vorstellt“, was das Denken denkt. Dieses Vorstellen ist nicht bloß sinnliches Vorstellen, sondern jedes Bewusstsein, das nicht denkendes ist, und zwar nicht denkendes Meinen ist, kann Unterlage eines verstandesmäßigen Meinens sein. Die normativen Gesetze des Denkens von Gegenständlichkeit überhaupt (Seinsgegenständlichkeit und Wertgegenständlichkeit) sind die formalen Denkgesetze. Speziell haben wir Gesetze, aber nicht bloß für Denken als Urteilen (das universellste Bedeutung hat, weil Urteilen das Bestimmen des „ist“ und „ist nicht“ ist), sondern auch normative Gesetze für Vermutungen, Fragen, Zweifel: für die Klassen von Akten, die wesentlich verwandt mit dem Urteilen sind, sofern sie durch Motivationsbande mit ihnen zusammenhängen. Wieder haben wir Normen für sinnliche Akte als solche, für Erfahrung als solche, und wieder spezielle Normen für Gemütsakte als solche, für jedwede Wertung als solche. Aber nun überlegen wir, was eigentlich den Unterschied der beiden Stufen ausmacht. Unten liegt die Stufe des Intellekts für sich. (Wir unterscheiden Verstand im Gegensatz zu Nicht-Verstand, d. h. das begrifflich denkende und das nicht denkende Bewusstsein. Andererseits aber Verstand im Gegensatz zu Gemüt, und das Letztere haben wir jetzt im Auge.) I. Was charakterisiert diesen Intellekt für sich? Was charakterisiert die Sphäre der „Sinnlichkeit“? Zunächst denkt man an die äußere
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Sinnlichkeit, die ihr letztes Material hat in den physischen Inhalten (den physischen Phänomenen Brentanos), den Empfindungen im gewöhnlichen Sinn. Aber es gibt ja auch eine innere Sinnlichkeit. Und da können wir natürlich keine Erlebnisse ausschließen, nicht Denkakte (Akte des Urteilens, des Fragens, Vermutens etc.), nicht Gemütsakte: Wünschen, Wollen, Sich-Freuen. Es gibt wie äußere, so innere „Wahrnehmungen“. Wahrnehmung ist der gebende Akt der Sinnlichkeit. Die Wahrnehmung gibt mir individuelle Objektität, zeitlich Seiendes. Ich kann einen physischen Inhalt wahrnehmen, ich kann ein beliebiges Erlebnis wahrnehmen, ein Wollen etc., und zwar immanent oder empirisch. Dem Letzteren nach haben wir äußere und innere „Natur“ und die gesamte Natur überhaupt. Zu den Empfindungseinheiten als solchen, als Einheiten, die sich im immanenten Zeitbewusstsein konstituieren, und ebenso zu den Erlebniseinheiten als solchen, Erlebnis „Erinnerung“, Erlebnis „Urteil“, Erlebnis „Wunsch“ etc., die sich nicht minder im immanenten Zeitbewusstsein konstituieren, gehören die sinnlichen Motivationen: Zu der Konstitution dieser Einheiten gehört auch die Eigentümlichkeit (das gehört zum Wesen von Bewusstsein überhaupt, sofern wir es uns nach diesen Einheiten konstituiert denken), dass sie sich „assoziieren“, dass sie aufeinander hinweisen können, dass sie Träger von transienten Intentionen werden, dass sie aufbauen helfen Dingwahrnehmungen, Vorgangswahrnehmungen, Erinnerungen etc., aber auch psychologische Wahrnehmung etc. (Die Intentionen zunächst als dunkle Motivationen, die Erlebnisse sind!) Nun kann sich da das „spezifische Meinen“1 einnisten, und wir haben Wahrnehmung, Erfahrung, synthetische Meinung (Meinung in der Synthese der Erfahrung) und Denkmeinung: Meinung im denkenden (aussagenden) Betrachten und Bestimmen der „Natur“. Was ist nun der Intellekt? Was ist dasjenige intellektive Objektivieren, das fundieren kann für Gemütsobjektivation? Nun all das, was wir beschrieben haben, allenfalls mit der Begrenzung, dass wir uns auf Meinen als erfahrungsmäßiges Meinen, als Erfahren und Erfahrungsdenken, erfahrungsmäßiges Theoretisieren beschränken, und dieses Meinen betätigt sich als Herausmeinen aus dem gesamten
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Feld des Bewusstseins, aber so, dass wir dem Zusammenhang des erfahrenden Bewusstseins, des „sinnlichen“ nachgehen. Wir sehen, der Beg ri ff Intel l ekt ist ein funktioneller B egr iff. Denn jedes Erlebnis kann intellektive Funktion annehmen, sofern es eben zur „Empfindung“, zum „sinnlichen Material“ wird für Wahrnehmen, Erfahren, Erfahrungsdenken, und zwar für meinendes.1 Das Spezifische des Intellekts ist diese Funktion und gar nicht das Material. Alles ist intellektiv, sofern alles Bewusstsein auch Träger von „sinnlichen“ Funktionen ist bzw. sein kann; das heißt, alles ist auch eingeflochten in empirische Motivationen, in Zeitkonstitution und in Konstitution einer Natur. Jedes Erlebnis ist „psychisches“ Erlebnis, es ist empirisch verflochten mit „Leib“ etc., und zwar für das Bewusstsein selbst. Und das kann herausgemeint, es kann jedes Erlebnis sinnlicher Repräsentant sein: nämlich für Zustände des Ich, der Person etc. Auch das Meinen selbst, das Erfahrungsmeinen, das Denkmeinen, macht davon keine Ausnahme und nicht minder das Gemütsmeinen, das Gefallensmeinen etc. Intellektuelle Akte sind nichts anderes als „spezifische Meinungen“, die in intellektuellen, d. i. empirischen Bewusstseinszusammenhängen leben und sie heraussondern (ich kann nicht sagen „herausmeinen“, weil ja die Erlebnisse und Erlebnismotivationen nicht das Gemeinte sind). II. Das Gemüt beruht nun auf dem Intellekt. Es ist nicht selbst Intellekt; das Wort zeigt neue Funktionen der Einheit des Bewusstseins an. Mit anderen Worten: Dass jedes Erlebnis in Erfahrung verflochten ist, in jenen vor allem Meinen und denkendem Meinen statthabenden empirischen Verflochtenheiten (empirischen Intentionen, die aber keine eigentlich meinenden Intentionen sind), das erschöpft nicht die Tatsache des Bewusstseins. Vielmehr, es gibt noch eine andere Verflechtungsweise von Erlebnissen. Es gibt neben den empirischen Funktionen (zu denen ich auch die Zeitkonstitution rechne, wodurch die Erlebnisse schon Titel sind für Einheiten von Mannigfaltigkeiten) auch Wertungsfunktionen. Wie kann es solche geben, da doch alles in empirischer Funktion steht, was irgendwie den Titel Erlebnis tragen kann? Nun, alles ist Einheit des Flusses, und jede Einheit ist,
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Intellekt hier also „Erfahrung“ und Erfahrungsmeinung.
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allgemein zu reden, Träger von assoziativen Intentionen, von empirischen. Andererseits haben wir Gemütsfunktion. Der Bau des Bewusstseins in Hinsicht auf empirische Intentionalität ist ein bestimmter. Wir haben da eine unterste Stufe: Die „primären“ Inhalte (die sinnlichen Empfindungsinhalte) werden durch die sinnlichen Empfindungen konstituiert; also zuunterst sinnliche Empfindungen. Diese tragen die Wahrnehmungsapperzeptionen (abgesehen vom Meinen!) usw. Konstitution von physischer Natur und in Zusammenhang damit Konstitution von psychischer und psychophysischer. Und das bezeichnet einen ganz bestimmten Stufenbau, eine bestimmte Ordnung der empirisch intentionalen Verflechtungen. Damit hängt aber zusammen: zunächst auf niedrigster Stufe die „Gefühlsempfindungen“, die so genannten sinnlichen Gefühle, fundiert in den primären Empfindungen. Mit der Konstitution der empirisch-sinnlichen Gegenstände läuft einigermaßen parallel eine Gemütskonstitution der sich nicht in empirischen Apperzeptionen fundierten, sondern auf empirische Apperzeptionen beziehenden Gemütsakte mit eigenen Motivationen, den Gemütsmotivationen. Neue fundierte Apperzeptionen, die Gemütsapperzeptionen, die neue Objektitäten, fundierte Objektitäten, schaffen und auf Dinge, auf Seelisches, auf Natur bezogene, aber nicht mehr Natur seiende Gemütsobjektitäten konstituieren: die Welt der Werte. Die Rede, Verstand und Gemüt unterscheiden sich „funktionell“, ist zu beanstanden. Kant unterscheidet Affektionen und Funktionen. Der Verstand als nicht-sinnliches Erkenntnisvermögen ist Vermögen zu Funktionen.1 Soviel geht aus unseren Betrachtungen hervor, dass Funktion in doppeltem Sinn verstanden werden kann.2 Wir haben einmal als Unterlage vor dem Meinen, in der Sphäre der „Rezeptivität“, die sinnliche Rezeptivität und die auf ihr ruhenden sinnlichen Apperzeptionen. Dabei ist ad vocem Apperzeption wieder zu sagen, dass Apperzeption in Le i bni z’schem Sinn gerade das Meinen mitbefasst, während es hier ausgeschlossen ist. Ein Gewebe von sinnlichen Vorstellungsstrahlen (assoziativen Linien) liegt als „verworrenes“ Vorstellen sinnlicher Art zugrunde. Das sind die Apperzeptionen:
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 93. Im Wesentlichen Wiederholung von dem auf den vorigen Seiten Ausgeführten.
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Auffassungen vor dem Meinen. Hierbei haben wir als Grundmaterial dieses Gewebes die sinnlichen Empfindungen (die Empfindungen von primären Inhalten als zeitlichen Einheiten). Empfindung ist dadurch Empfindung-von, dass sie in unmodifizierter Weise zeitliche Einheit konstituiert, und diese zeitliche Einheit (die erste und unterste) ist der primäre Inhalt. Weiter haben wir als Grundmaterial die Modifikationen von Empfindungen, die wir Phantasmen nennen, mit ihren Quasi-Inhalten, den quasi-zeitlichen Einheiten. Darauf h(auf die sinnlichen Empfindungen)i bauen sich die eigentlichen empirischen Apperzeptionen, die sinnlichen Apperzeptionen höherer Stufe: Sie machen die sinnliche Anschauung und sinnliche Vorstellung von Natur aus, zunächst als physische Natur. Soweit ist von Gefühl, Begehren, Wollen noch keine Rede. Wir haben aber auch nicht den gesamten Bewusstseinsbestand genommen. Nehmen wir ihn dazu, so ist zu sagen, dass jedes Bewusstsein, jedes „Erlebnis“ insofern sinnlich ist, als es in die Zeitkonstitution eingeht bzw. als Einheit schon Empfindungsinhalt ist, und andererseits, dass sich darauf empirische Apperzeptionen in höherer Stufe bauen. Das alles unbeschadet der besonderen Stellung, welche die hdiei primären Inhalte konstituierenden primären Empfindungen, die sinnlichen im gewöhnlichen Sinn, haben. Und hzui den primären Empfindungen gesellen sich die primären Phantasien, die primären leeren sinnlichen Vorstellungen. Gehen wir nun von diesen primären Sinnlichkeiten aus und ihren Stufengang zur Naturapperzeption empor, aber ohne alles Denken, ohne alles eigentliche Vergegenständlichen, so gibt das eine geschlossene Gruppe von Zusammenhängen. Dann können wir zu den Gefühlen übergehen als den primären Gefühlen, fundiert in den primären Empfindungen (Gefühle als Empfindungen wären dann Gefühlsempfindungen). Zu Gefühlen gehören speziell im Gefühl wurzelnde, zu seinem Wesen gehörige „Apperzeptionen“. Ebenso ihre Phantasiemodifikationen und Leermodifikationen. Es ist dann zu erforschen, ob das Wünschen, Begehren (auch das Sich-Freuen), „auf Sein-Sollendes gehende“ Akte, wie sie sind, eine eigene Gruppe hausimachen, eventuell wieder höher fundiert, nämlich schon fundiert in Gefühlen. (Kann ich Wünsche ausweisen, ohne auf Gefühle zu kommen als „klar vorgestellte“ Gefühle? Es ist zu beachten, dass es wie in der sinnlichen Sphäre so hier auch
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Leergefühle gibt und dass diese zugrunde liegen können.) Wir hätten also Wunsch-, Begehrungsapperzeptionen. Schließlich hderi Wille. Ist das nicht wieder eine höhere Stufe? Auch hier sehen wir von aller Konzeption ab, und sogar von aller Meinung. Das Wollen kann in der Art der Verworrenheit statthaben. Ich gehe etwa willentlich zum Freund, mein Meinen, mein Denken etc. beachtet aber nicht das Gehen: Sowie ich aber darauf reflektiere, finde ich es im Charakter der Willentlichkeit ablaufend. Ebenso, ich experimentiere und meine ganze Aufmerksamkeit ist gerichtet auf das ablaufende Folgeereignis: Ich hantiere aber „unbewusst“ am Apparat, ich trete oder drehe eine Kurbel etc. Ich tue das „mechanisch“. Ich schreibe mechanisch und lebe im Denken an die Sachen. Aber in der Erinnerung darauf reflektierend finde ich die Willentlichkeit mit dabei. Hier haben wir sicher fundierte Apperzeption. Nur fragt es sich nach der Stufenleiter der Fundierung: Ob Gefühlsapperzeptionen oder sogar noch Begehrungs- (Wunsch-)Apperzeptionen unterliegen. Das wäre also alles genauer zu erforschen. Nun ziehen wir das „Meinen“, das eigentliche „Objektivieren“, in Betracht.1 Es ist, wie oben schon implizit gesagt, auch „empfunden“ (so gut wie Fühlen, Begehren, Wollen). Es sei hinzugefügt, dass es als im sinnlichen Perzipieren, Fühlen, Begehren etc. lebendes Meinen auch Grundlage sein kann für Fühlen, Wollen etc. Das Meinen nun hebt einzelne Apperzeptionsgebilde heraus, lebt in ihnen und macht z. B. in der Wahrnehmung den Gegenstand eigentlich erst zum Gegenstand, es ist also zunächst schlicht objektivierend. Auf schlichten Meinungen bauen sich synthetische Meinungen, verflochten mit allgemeinen Meinungen etc., Identifizierungen, Unterscheidungen, und das gibt schöpferisch erwachsene Akte und neue Apperzeptionen: die spezifischen Denkgegenstände, Verstandesapperzeptionen. Kommen wir damit in die Sphäre des Urteils? Nun in der Tat, hier erwächst „S ist (identisch) P!“, „S ist in P!“, „S ist p (grün)!“, „S ist nicht p!“ etc. Erst hier mit dem „Meinen“ haben wir nicht bloß Apperzeption (bloß sinnliche Apperzeption und dgl. Unter-Bewusstsein), vielmehr Akte im eigentlicheren Sinn. Sie sind schöpferisch, sie schaffen neue Gruppen von Apperzeptionen, in und mit den Akten. 1 Vgl. Beilage XXI: Die Vieldeutigkeit des Begriffs Meinung (S. 387). – Anm. der Hrsg.
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Aber nun entsprechen diesen Akten die allgemeinen Modifikationen, die allen Impressionen entsprechen. Aber auch speziell höhere, in die Denksphäre1 gehörige Modifikationen („bloßer Gedanke“ „S ist P“, als „intuitiver“ und leerer Gedanke), z. B. die Form der An5 nahme, und die auf solcher Modifikation sich aufbauenden neuen Urteilsstufen: „Wenn S P, so Q R“ etc. Dann weiter aber Modifikationen, die nicht neue Urteilsglieder ergeben, sondern neue Akte, die den Urteilen parallel gehen: Frage „Ist S P?“, Zweifel, Urteilsneigung, Vermutung. Sie sind alle verwandt und alle Modi der „Meinung“.2 3
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Die sich aufdrängenden Probleme hätten deutlicher getrennt werden müssen. I. 1) Das spe zifi sche M e i n e n a l s O b j e k t i v i e r e n.5 Was ist das? 15 Handelt es sich um die Funktionen der „Synthesis“, die das Wesen des „Urteils“ vor allem Ausdruck ausmachen und die schon in der schlichten Wahrnehmung als Dingerfassung, der Erfassung von Merkmalen an dem Ding etc., ihre Rolle spielen? 2) Wie verhalten sich diese synthetischen Akte zu den begreifenden in 20 dem Sinn der Begriffe bildenden Akte: Begriffe „rot“, „Haus“ etc., „Napoleon“? 3) Wie verhalten sich diese Begriffe bildenden „Akte“ zu den ausdrückenden? Ausgedrückt wird auch das „ist“, „nicht“, das „möge“ etc. II. Ein zweiter Begriff von Meinen: nicht das synthetische Meinen (Seins25 setzung), sondern das in jedem lebendigen „Akt“ liegende „Setzen“, wahr-
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Aber analog auch in anderen Sphären! Zu den Meinungen gehören Ausdrücke. Die Wortapperzeptionen dienen nicht der Konstitution der Natur, weder die Apperzeptionen der Wortlaute (wenigstens im Allgemeinen nicht) noch die Wortapperzeptionen als die von den Worten ausstrahlenden „Intentionen“. Die Frage ist nun, wie verhalten sich diese Wortintentionen zu den ausgedrückten Vorstellungen, hzu deni schlichten und synthetischen Meinungen? Sind es selbst je nachdem Urteilsmeinungen, Wunschmeinungen etc.? 3 Der hier im Manuskript anschließende Text ist in Husserliana XX/2 als Text Nr. 34: Der Sinn der Wunschaussage (S. 417) veröffentlicht. – Anm. der Hrsg. 4 Wohl Oktober/November 1909. – Anm. der Hrsg. 5 Doxa, doxische Setzung. 2
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nehmende und urteilende Setzen, wünschende Setzen, vermutende Setzen etc.: der Vollzug der „Akte“ als Setzungen in einem erweiterten Sinn und die Hinwendung zum Korrelat. III.1 Sind Vollzug einer Setzung und Hinwendung-zu zu trennen? IV. Wie verhält sich der Ausdruck zu allen Akten als Vollzugsfunktionen, Spontaneitäten? Ka nn m a n n u r a u f d e m U m w e g ü b e r U r t e i l s Synthes i s, de r Ist-Setzu n g, a u sd rü ck e n ? V. Wie bezieht sich seinssetzendes „Urteil“ (seins-, ist-setzende Akte, Denken, theoretische Akte etc.) auf alle Akte? Wie kommen wir dazu, bei allen von Korrelaten zu sprechen, sie alle als konstitutiv für Gegenstände, für Sein im weitesten Sinn anzusehen? VI. Bei allen Akten ist zu unterscheiden (als Setzungen in einem erweiterten Sinn) zwischen dem Aktvollzug, Akt-Spontaneität, und dem Zustand, der Passivität, in die der Akt übergeht etc. VII.2 Ferner: Akte im Hintergrund werden doch wohl vollzogen, aber in ihnen lebt nicht ein „Meinen“ im Sinn des primären Hingewendetseins zum Korrelat (Aufmerksamkeit und Analogon der Aufmerksamkeit: letzteres, wenn keine Objektivation). VIII. Jeden Aktvollzug und am Ende auch jeden Aktzustand kann man in gewissem Sinn noch ein Meinen nennen, so dass die Meinung von Meinung eine verteufelt vieldeutige ist.
Beilage XXII hAffektion, blinde Funktion und Spontaneität in Verstand, Gemüt und Willei3 4 Nun ist aber die Sache erst recht in mancher Hinsicht dunkel. In der empirischen Sinnlichkeit steckt schon Verstand: Sie organisiert sich in sinnlichen Apperzeptionen, und diese sind Fundamente für logische Synthesen, in denen sich Natur und Wissenschaft konstituiert. In der empirischen Sinnlichkeit fundiert soll die Gefühlssinnlichkeit sein mit eigenen Apperzeptionen, und 30 nur diese sind fähig der Gemütsspontaneität, so wie die empirischen Apper25
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= VII. = III. 3 Wohl Oktober/November 1909. – Anm. der Hrsg. 4 Beilage ad 88 h= Husserliana XX/2, Beilage XXVII: Synthesis und Konzeption als schöpferische Funktionen der „Meinung“. Funktionen der Rezeptivität und der Spontaneität in Intellekt und Gemüt. Das Problem des Ausdrucks (S. 233)i. 2
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zeptionen nur fähig sind der objektivierenden Spontaneität.1 Andererseits aber soll durch Gemütsspontaneität sich immer neue Objektität konstituieren, nämlich immer neue Arten von Gemütsapperzeptionen, die das Eigene haben, dass sich ein Objektivieren hineinmeinen und daraus Gegenständlichkeiten entnehmen kann. Ist das alles nun wirklich klar? Wir haben eine Sphäre ursprünglicher Rezeptivität: empirische Sinnlichkeit, und eine andere Sphäre ursprünglicher Rezeptivität: die Gemütssinnlichkeit. Die eine ist von vornherein zur Verstandessphäre gehörig, der logischen Verstandessphäre, der objektivierenden, weil sie nur objektivierende Spontaneität in sich aufnehmen kann. Die andere, in ihrer Fundierung durch empirische Sinnlichkeit, kann zunächst nur wertende Spontaneität (Gemütsspontaneität) in sich aufnehmen und dann aber durch das Medium derselben eine objektivierende hin sich aufnehmeni, dadurch nämlich, dass das Gemüt „Apperzeptionen“ erzeugt, aus denen objektivierende Gegenstände entnommen werden können.2 Dabei ist zu beachten, dass empirische Sinnlichkeit doch nicht bloß die „primären Inhalte“ umfassen kann, sondern vermöge der assoziativen Motivationen alles „Bewusstsein“. Wir haben 1) ursprüng l i ch e M a t e ri a l i e n: primäre Inhalte, darin fundiert sinnliche Gefühle (Affektion);3 2) Apperzeptionen der Rezeptivität, assoziative Motivationen (überhaupt alles, was zur Natur gehört); darin fundiert Gefühlsapperzeptionen oder -motivationen, aber solche der Rezeptivität (dunkl e Funkti on). Das ist eine Rezeptivität in einem zweiten Sinn, eine ganz andere als die des Materials. Es sind b l i n d e F u n k t i o n e n, Funktionen, aber keine sehende Spontaneität, nichts von Verstand im prägnanten Sinn. 3) Dann haben wir natürlich eine Rezeptivität im dritten Sinn, die nach der Wirksamkeit der Verstandesfunktionen liegt: all das Dunkle, Verworrene, was von ihnen übrig bleibt, das verworrene Denken, das verworrene Fühlen etc., das man bloß in Klarheit und Deutlichkeit überzuführen braucht, um „darin“ die höheren Funktionen wiederzufinden, sie aus ihnen „herzuholen“ etc., also der Niederschlag der Spontaneität, das wirkungsvolle Ergebnis.
1 Nach „Spontaneität“ hat Husserl später ein Fragezeichen eingefügt; dazu seine Bemerkung: „Das ist zweideutig: Empirische Apperzeption kann nur Denkspontaneität in sich aufnehmen, das sagt aber nicht, dass andere Apperzeptionen nicht auch Denkspontaneität aufnehmen können. Gemütsapperzeption und jede Apperzeption überhaupt kann denkende aufnehmen, aber auch Gemütsspontaneität.“ – Anm. der Hrsg. 2 Was heißt das? Ist Gemütsapperzeption, die in sinnlich-äußerer Erscheinung fundiert ist, nicht selbst Gemüts„erscheinung“ und noch immer rezeptiv, und kann da nicht ein objektivierendes Denken sich direkt einleben? 3 Rezeptivität im ersten Sinn.
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Dabei haben die Funktionen und die hellsehenden Akte, die spontanen, doch viel Gemeinsames. Sie organisieren sich zu Verbindungen, und jede solche Verbindung hat eine „Intentionalität“. Gegen jeden Akt „verhalten wir uns“ aber auch rezeptiv, er tritt in das Geflecht der Naturkonstitution (der Assoziation etc.) wie alles, was Zeiteinheit des Bewusstseins ist. Insofern begründet er empirische Assoziationseinheiten, und diese lassen ihrem Wesen nach eine unmittelbare empirische Objektivation zu als Natur. Bei den Spontaneitäten des Gemüts haben wir eine doppelte Möglichkeit der Objektivation: 1) Sofern sie „Erlebnisse“ sind, Einheiten und in Assoziation stehen etc., erfahren sie empirische Apperzeption und demnach empirische Objektivation: als Natur.1 2) Sofern sie Gemütsfunktionen sind, sind sie in sich selbst Apperzeptionen, und ein objektivierendes Meinen kann in sie hineinsehen und eine konstituierte Objektität entnehmen. Es konstituiert sich die Welt der Idealität und in der Fundierung durch Natur die Welt der Kultur, die „Geistes“welt etc. Das alles ist wohl der Hauptsache nach richtig, aber zufrieden bin ich noch nicht. Wir haben dre ie rle i V e rst a n d e s- o d e r V e r n u n f t f u n k t i o n e n, also dr ei er l ei Arte n de r S p o n t a n e i t ä t. Aber S p o n t a n e i t ä t s e t z t Rez epti vi tät vora us, A f f e k t i o n e n u n d b l i n d e F u n k t i o n e n (Imagination als Bildungskraft). Die Gemütsspontaneität setzt in der Rezeptivität Gefühlsaffektionen voraus, „sinnliche“ Gefühle, und diese wieder setzen zuletzt Nicht-Gefühle voraus. Und zuletzt wohl „primäre Inhalte“, die sinnlichen Empfindungen. Ob der Wille nicht auch seine Unterlage der Rezeptivität voraussetzt, dunkle Triebe und Triebapperzeptionen, das ist die Frage. Der objektivierende Verstand, das logische Meinen (in einem weitesten Sinn: Seinsmeinen), ist allumfassend, sofern er auf dem Grund des Gemüts und Willens Objekte finden, entnehmen und bestimmen kann; also auf dem Grund seiner eigenen wie fremder Spontaneität, und dabei setzt ja jede hSpontaneitäti Rezeptivität voraus, also da überall, auch in der Rezeptivität, kann der objektivierende Verstand sich betätigen, er kann, da alles „Bewusstsein“, alle Erlebnisse auch rezipiert sind, apperzipiert und apperzipierbar sind, empirisch objektivieren etc. Jedenfalls ergibt sich aber eine Sphäre, die der objektivierende Verstand sich zueignen kann, wo keine fremde Domäne beteiligt ist: Gefühlsempfindungen (sinnliche Gefühle) haben schon eine besondere Affinität zum Gemüt. Schließen wir all das aus und halten uns an die primären Inhalte, so ergibt sich ein Begriff von Verstand und Verstandesobjektität, der Gemüt ausschließt und bestimmt ist 1) durch die
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Vgl. aber 94 hwohl S. 392,5–393,27i: Zeichenapperzeption, Bildapperzeption.
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urteilende, logische Spontaneität, 2) durch das ursprüngliche Material, das von allem Gefühl, Gemüt abstrahiert (sowohl von den Gefühlsaffektionen als von allen Gefühlsfunktionen). Ist das nicht der k a n tische Begriff von Verstand? Verstand ist der Schöpfer der „Natur“. 5 Aber ist das ein brauchbarer Begriff, da doch die logische Spontaneität weiter reicht? Gegenständlich können wir gegenüberstellen Natur (Seinswirklichkeit der Erfahrung), darin fundiert die Wertewirklichkeit etc. So könnte man wohl fortgehen. Aber p h ä n o m e n o l o g i s c h h ä t t e n w i r dr ei er l ei (wenn wirklich dreierlei) S p o n t a n e i t ä t e n: objektivierender 10 (seinserfassender etc.) Verstand, wertender und wollender Verstand. Dreierlei Funktionen (ursprüngliche), dreierlei Affektionen (ursprüngliche): Empfindung, Gefühls-Empfindungen, Trieb-Empfindungen.
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Welche Resultate hätten wir zu verzeichnen? 1) Bewusstsein in seine erreichbaren Elemente aufgelöst, führt zu dem, was ich in jungen Jahren schon „primäre Inhalte“ genannt habe: Jetzt sage ich pri m äre Em pfi ndungen (sinnliche im engsten Sinn) und nenne deren Inhalte primäre Inhalte. Es ist von vornherein prinzipiell herausgestellt, dass Bewusstsein sich immer wieder nur in Bewusstsein auflösen kann, und jedes Bewusstseinselement ist selbst also schon Bewusstsein, d. i. Bewusstsein-von. Empfindungen sind die letzten unmodifizierten Erlebnisse. Jedes Bewusstsein ist entweder „Impression“ oder Modifikation: Wobei wir hier offenlassen, ob es eine oder mehrere Modifikationen gibt. Diese letzten Elemente sind fundierende Träger von letzten Gemütselementen. Wir haben also schon im ursprünglichen Material den Unterschied von Letztfundierendem und Fundiertem. Also „sinnliche Gefühle“, und Gefühle sind Gefühle von etwas (das heißt, ihnen entsprechen gewissermaßen Objektivitäten, die fundiert sind in primären Inhalten). Was sonstige Gefühle oder gar Freuden, Wünsche etc. anlangt, so führen sie nicht mehr auf neue Elemente oder nicht auf dieser niedrigsten Stufe; wie allerdings genauer zu analysieren ist. Man wird schon auf höhere Apperzeptionen geführt, von denen noch nicht die Rede war. 2) Parallel damit haben wir (als auf eine Grundtatsache) hingewiesen auf den funktionellen Unterschied: Jedes Erlebnis überhaupt kann als „ Em pfi ndung “ fungieren; und Empfindungsfunktion, das besagt a) jedes Erlebnis ist eine Einheit, die sich im Zeitfluss der Fluenten konstituiert, b) jedes Erlebnis kann Träger von empirischen Apperzeptionen sein. Ich hätte also schon vor 2) wohl von empirischer Apperzeption sprechen können. Doch war dort nur die Rede von primären Emp-
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findungen. Diese nicht nur, sondern alle Erlebnisse (schon gedacht als Einheiten) sind Träger von „assoziativen“ Motivationen, von s innlic h-empir is chen Apperzepti o nen und können damit in jene Anschauungseinheiten eintreten, die wir Anschauungen von Natur nennen. Das gilt also auch von Gefühlen und von allem sonst, auch von den schon irgendwie ins Auge zu fassenden empirischen Apperzeptionen, eben als Erlebnisse. Nun haben Gefühle (sinnliche Gefühle) das Eigene, sowie sie mit primären Empfindungen verwachsen, in ihnen fundiert sind, gegenüber den bloß empirischen apperzeptiven Geeintheiten (Verbindungen zu Bewusstseinsgeeintheiten, die jeweils als ein Bewusstsein herauszuheben sind), andere Verbindungsarten einhzuigehen und neue Weisen des Bewusstseins hzui begründen. Das heißt, es treten in höherer Stufe teils so etwas wie Gefühle als Gefallen, Sich-Freuen auf, teils Wunsch, Wille. Es sind das nicht nur Komplexionen, die überhaupt Gefühle enthalten, sondern so wie empirische Apperzeption1 etwas Neues darstellt gegenüber bloßer Empfindung, so auch hier. Es treten „Gemüts funkt i onen“ auf oder Gemütsapperzeption, wenn wir noch nicht von Funktion sprechen wollen. Oben zu den empirischen Apperzeptionen hätte ich hinzuzufügen die verschiedenen Verwandten, die Bildapperzeption, die Zeichenapperzeption: denn diese machen Neues aus, was nicht Natur konstituiert. Wir haben also, wie es scheint, zwei große Gruppen von Apperzeptionen, die einen können die Vorstel lungsapperzeptionen, die anderen die Gem üts apperzepti onen heißen. Im weiteren Sinn machen beide „Vorstellen“ aus oder die Sphäre der Bewusstseinsrezeptivität.2 3) Die Stufe der Spontaneität: die Funktionen im höheren Sinn, die Funktion des M ei nens, des Herausmeinens aus dem Hintergrund, des Zum-Gegenstand-Machens, des Herausmeines aus Gemeintem, Etwas-an-etwas-Meinen etc., synthetisches Meinen, Identifizieren etc.3 Die spezifischen Akte, die spezifischen Intentionen
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Siehe unten: Vorstellungsapperzeption überhaupt. 1) Affektion, 2) Rezeptivität blinder Funktion. 3 Das wäre urteilend Meinen. Ebenso aber gefallend (wertend), wollend Meinen und auch hier Analoga der Synthesen. 2
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fundiert in dem verworrenen Vorstellen der anderen Stufen, in den „Funktionen“ der Rezeptivität, und neue Apperzeptionen erzeugend. 4) Das Begreifen (Ausdrücken) setzt Meinen voraus und kann sich an allen spontanen Gestaltungen betätigen. In ihm selbst lebt Meinen: Begreifen ist eo ipso Objektivieren.1 Die Objektivationen sind nun je nach der apperzeptiven Unterlage „Verstandes“objektivationen (Natur) und Gemütsobjektivation (Wert). Zu den Objektivationen überhaupt gehört die formallogische Gesetzmäßigkeit. Sie ist eine Gesetzmäßigkeit von Gegenständen, sofern sie sollen nicht überhaupt „gedacht“ werden können (nicht bloß begriffen, das ist für alle Meinung niederer und höherer Stufe möglich), das heißt, sofern sie sollen Gegenstände-worüber in Urteilen als gewissen begreifenden und im Begreifen „erkennenden“ Akten sein können. In richtigen Urteilen: Das führt auf Probleme der „Erfüllung“, Bestätigung, Bewährung. Zu den Objektivationen auf sinnlicher Grundlage, und zwar empirischen Apperzeptionen, zu den Naturobjektivationen, gehören die allgemeinen onthologischeni Gesetze: Bedingungen der Möglichkeit einer wahrhaft seienden Natur. Zu den verschiedenen Gemütsobjektivationen gehören dann mit Beziehung auf die Möglichkeit, ihre Objekte als wahrhaft-seiende Gegenstände durchzuhalten und somit zu erkennen (richtig zu beurteilen), die Gesetzmäßigkeiten der Ontologie der Werte. Also Bedingungen der Möglichkeit der Richtigkeit in der Gemütssphäre, wenn wir die Gesetze auf die Akte beziehen. Man kann dabei Natur und Wert in eins nehmen und Bedingungen der Möglichkeit einer seienden Natur, die zugleich eine Einheit des Wertes haben soll, oder menschlicher Gesellschaft und Bedingungen der Möglichkeit einer seienden und möglichst werten Gesellschaft erforschen etc. Weiter schließen sich an besondere Bedingungen der Möglichkeit: nämlich besondere Naturgesetze und besondere Regeln des Wertens bzw. besondere Gesetze für Werte.
1 Nach „Objektivieren“ später ein Fragezeichen eingefügt und der vorangehende Satz zwischen eckige Klammern gesetzt. – Anm. der Hrsg.
C. ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES FÜHLENS, BEGEHRENS UND WÜNSCHENS
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Eini ge G rundpunkte z ur Lehre vom Gefühl. h Empf indungslust und G efallensapperzeption. D irektes und indirektes Gefalleni1 „Direkte“ Lust, Lust an einem Gegenstand um seiner selbst willen. Lust an ihm = Lustmeinen, Gefallen. a) Lust an einem empfundenen Inhalt, Lustmeinung an ihm, gegründet auf eine „immanente“ Wahrnehmung des empfundenen Inhalts, z. B. Lust am wirklichen Ton, aber rein auf den „Inhalt“ Ton bezogen, abgesehen von der Naturvergegenständlichung. b) Lust an einem Naturobjekt oder an der Bestimmung eines Naturobjekts, Lust an einem transienten Gegenstand fundiert in einer transienten Wahrnehmung, die jeweils und als solche ihre Sphäre „eigentlicher“ und „uneigentlicher“ Wahrnehmung hat, ihre Sphäre lebendiger und bestimmter Mitwahrnehmung und unbestimmter Hintergrundwahrnehmung etc., z. B. ein schöner Teppich, den ich sehe, aber nicht betaste. Er mag auch unvollständig sichtbar sein. Die Farbe und das Muster erwecken mein Gefallen, und das feine, samtweiche Gewebe, das ich „sehe“: Das Samt-Wohlgefühl ist eine Komponente für das Gefallen am Teppich, obschon ich ihn nicht wirklich betaste. Gehe ich zur „allseitigen“ Wahrnehmung oder der in kontinuierlicher Wahrnehmungsmannigfaltigkeit ihn vielseitig darstellenden Wahrnehmung über, so treten immer neue Teile hervor, welche das aktuelle Gefallen erregen. Neu gesehene und früher nicht
1 Abschrift haus Januar 1910i von einigen Blättern aus Ostern 1902. Zugleich Verbesserung.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 395 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3
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mitgesehene Momente erwecken neues Gefallen, andere Bestimmtheiten des Gegenstandes kommen zu erfüllender Wahrnehmung, die früher mitwahrgenommen waren, und damit erfährt auch das zu ihnen gehörige „antizipierende“ Gefallen, z. B. das an der Samt-Weiche (welches Gefallen eine implizierte Komponente oder ein explizites sich abhebendes Bestandstück des Gesamtgefallens war), eine gewisse Modifikation: Es wird aktualisiertes Gefallen, die Gefallensintention sozusagen erfüllend, bekräftigend, einlösend. Im Durchlaufen zeigt sich eventuell (und so in diesem Beispiel) auch ein gewi ss er Rhythm us der G efühle. Die einzelnen Gefühle, Lust- und eventuell auch Unlustgefühle, erfahren Steigerungen und Hemmungen, und hzwari in der Art, wie sie, fundiert in den immer neu zu eigentlicher Wahrnehmung kommenden Momenten, aktualisiert auftreten bzw. von der antizipatorischen Form in aktualisierte übergehen, sich je nach der Änderung der gegenständlichen Darstellung als aktualisierte verstärken oder schwächen, wieder in die antizipatorische Form zurückgehen, dabei mehr im Vordergrund des Bewusstseins noch verbleiben, um dann in den Hintergrund zurückzusinken. Die Art, wie die Aufeinanderfolge und der Koexistenz-Zusammenhang der Gefühle Kontrastwirkungen, oder, sagen wir lieber, Kontr astverhäl tni sse fundiert, Verhältnisse der relativen Steigerung und Minderung, der hebenden Kontrastlust und dgl., das bestimmt für die Gesamtlust am Gegenstand ihre in dieser Rhythmik fundi ert e gesa m te G efühlscharakteristik. Und diese selbst kann vermöge der Erfahrung (die nicht bloß „theoretische“, sondern auch Gefühlserfahrung oder, sagen wir lieber, Gegenstands- und Gegenstandswerterfahrung ist) im Voraus antizipiert sein. Es ist klar, dass das Gefühl hier seine Intentionalität, und zwar s eine Tr ans zendenz oder Transi enz hat, ganz analog wie der Akt der Wahrnehmung. Dabei ist zu beachten, dass nicht alle Gegenstandsteile und -momente Lustfundamente sind, sondern nur gewisse in dem und jenem Zusammenhang, gerade in der Art und Folge Lust begründend oder den Lust-Rhythmus zu einer höheren Lust verschlingend. Manche werden hier von „G estal tqual i täten“ der Lust sprechen, die ihr den einheitlichen Charakter ei ner Lust, fundiert in den und den Lustkomponenten, hgebeni. Doch ist das wenig passend und würde einer sensualistischen Auffassung mehr entsprechen. Indem dies „aus
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Erfahrung bekannt“ ist, wird die augenblickliche Wahrnehmung eine „antizipatorische“ Lust tragen, die auf diese Möglichkeiten des Genießens „hinweist“. Sie ist aber wirkliche Lust (Lustimpression), nur dass sie ihrem Wesen nach Möglichkeiten realisierender, erfüllender, Lust gleichsam in sich trägt (als Potenzialitäten), die im Prozess „ausweisender“ Wahrnehmung zur schrittweisen Aktualisierung kommen. Dieser Prozess der Aktualisation ist ein phänomenologisch eigentümlicher Prozess, der der Erfüllung, in dem die δàναµισ in das νÛργεια kν übergeht, nur ist das kν hier die Gefühlsgegenständlichkeit als solche bzw. der im Prozess mehr oder minder vollkommen ausgewiesene „Wert“, und die δàναµισ ist der vermeinte Wert als solcher. Oder wir haben auf der einen Seite – phansisch – das Werten, das hGeifallen als ein Gefälliges vermeinend, und das ausweisende Werten, das nicht bloß Wert vermeinende, sondern zugleich Wert gebende, vollkommen oder immer vollkommener gebende. Auf der anderen Seite die Werterscheinung und den Wert selbst. Doch liegen hier die Verhältnisse so wie beim empirischen Gegenstand, wenigstens im Allgemeinen sicherlich, wonach nicht etwa sich trennt ein bloß Wert vermeinender und ein den Wert selbst wirklich gebender, voll und ganz gebender Akt, beide Akte in Einheit tretend durch den Übergangsakt der zugleich „vorstellungsmäßigen“ (intellektiven) und hedonischen Identifikation; sondern gebender Akt ist jeder Akt in der Art intuitiven Wertens, und Ausweisung ist nur vollkommeneres Geben, also Zusammenhänge kontinuierlich ineinander übergehender, nur unvollkommen gebender, den Wert nur unvollkommen aktualisierender Akte, wobei der vollkommener aktualisierende in der Kontinuität jener Akte selbst liegt. Das ist die Transienz des Gegenstandswertes, z. B. der Schönheit dieses Teppichs als seiner „ihm zukommenden“ Gefälligkeit. Hierbei ist aber vom Wert in einem absoluten, sehr extendierten, also in einem nicht gewöhnlichen Sinn gesprochen, weshalb es bedenklich ist, das Wort hier anzuwenden. Zunächst denkt man ja bei Wert an Gebrauchswert, ethischen Wert, Güterwert. Hier ist aber von dergleichen, da wir in der Sphäre der axiolhogischeni Gegenständlichkeit des bloßen Gefallens, des bloßen Fühlens (nicht des Begehrens und vor allem Wollens) stehen, keine Rede. Das Wort Schönheit weist aber wieder ins ästhetische Gebiet. Wollen wir das
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Wort Wert in seiner Bedeutung extendieren, so müssten wir hier von Gefallens w ert en sprechen.1 Wir werfen nun die Frage auf: Gehört die Lust zu den primären Inhalten, den Empfhindungsiinhalten, als ein in ihnen fundiertes und vor der Zuwendung der Wahrnehmung mit ihnen geeintes Moment, etwa gar so wie Empfindung mit Empfindung verbunden ist? Und ist die intuitive, aber t ra nsi ente („antizipierte“) Gesamtlust in gewöhnlicher Weise apperzipiert? Wir hätten dann eine doppel te Apperzeption: a) diejenige, in welcher die Empfindungsinhalte zu Merkmalen des Gegenstandes appherzipierti werden; b) diejenige, in welcher die Empfindungslust, die zum Empfindungsinhalt (hdemi primären) primär zugehörige Ur lus t (in einem weiteren Sinn „empfundene“), appherzipiiert wird zur Lust am Gegenstand bzw. in welcher die zur Folge der Empfindungen und ihrer Objektivierung zur dinglichen Einheit gehörige Lustmannigfaltigkeit und Lustverschmelzung „Objektivierung“ erfährt zur einheitlichen Lust am Gegenstand. Es wird dabei auch wesentlich ankommen auf die Urlustgestalten, die „Verschmelzungen“ der primären Lüste, die zu den Empfindungsabschattungen des Gegenstandes, ihren Sukzessionen und Sukzessiv-Verschmelzungen gehören. Die „Bilder“ gehen dann bald stetig, im Einzelnen auch diskontinuierlich ineinander über. Dem mögen entsprechen die Lustverschmelzungen der sekundären Lustmomente, nämlich der „Verschmelzungen“ der Lustneigungen, die innerhalb der einzelnen Abschattungen erfolgen (stetige Übergänge im Empfindungsinhalt, zum Beispiel stetige Lustübergänge und Verschmelzungen begründend, und ebenso Kontraste, Gefühlskontraste fundierend, Gefühlsabhebungen und dabei wieder Gefühlsneigungen).
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Das ist offenbar unklar. Worauf es vor allem ankommt, ist der Unterschied von intersubjektiv sich konstituierenden, auszuweisenden und intersubjektiv zu „bemessenden“ Werten, wie die Werte im nationalökonomischen Sinn, die objektiv realen Werte, analog den „objektiven“ Dingen und Dingbestimmungen, andererseits die im Werten überhaupt (so wie parallel im Wahrnehmen überhaupt) sich konstituierenden und dann nicht immer ohne weiteres auszutauschenden hWertei; daher „subjektive“ Werte, eine Subjektivität, die aber Wahrheit nicht ausschließt.
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Die jeweilige Lust am Gegenstand im betreffenden Moment – kurzweg: Momentanlust am Gegenstand – ist nicht einfach durch die Empfindungslüste der Empfindungsabschattungen fundierte, sondern ist, wie wir oben sahen, Antizipation; die bezöge sich auf die Verschmelzungs-Lüste, die zur Synthesis des Lustzusammenhangs (von Moment zu Moment) gehören, also hinweisend auf die in der kontinuierlichen Folge der Gegenstandsabschattungen sich ergebenden Lustfolgen, auf Lustreihen, Lusthebungen und Kontinuierungen und Vereinheitlichungen in diesen Reihen. Doch sind die Worte „ Anti zi pati on “ und „ Hinweis “ auch missdeutlich, genau so, wie wenn wir diese Worte anwenden würden bei der Wahrnehmung und Wahrnehmungssynthesis, also sagen, die momentane Wahrnehmung sei Antizipation all der in der weiteren Wahrnehmungssynthesis sich einstellenden Empfindungsabschattungen, enthielte Hinweise auf sie, als wäre die Wahrnehmung sensualistisch interpretiert, als wären also die mannigfaltigen Empfindungsdaten schließlich die gemeinten Gegenstände. Die Parallelen aber bestehen in sehr weitgehendem Maße. So wie die momentane Wahrnehmung mehr ist als die „Verschmelzung“ der Empfindungsinhalte zur Einheit des momentanen Empfindungsgehalts (zur Abschattung), so ist die momentane Lust mehr als die Verschmelzung der zu diesem Moment gehörigen Lustmomente. So wie also die eine auffassendes und meinendes Dinggegenstandsbewusstsein ist, so die andere auffassendes und meinendes Wertbewusstsein. Und so wie zum Wesen der ei nen Entfaltungsmöglichkeit gehört als synthetisch kontinuierlich auseinandergehendes Bewusstsein, in welchem als einem Einheitsbewusstsein stetig die Einheit, der Gegenst and als Identisches, in sich entfaltender Weise gegeben ist, und hierbei das Spiel der aktuellen, immer neuen gegenständlichen Bestimmtheiten bzw. der Übergang von leerer zu voller, von minder vollkommener zu vollkommenerer Gegebenheit dieser Momente so wie auch umgekehrt abläuft, so hinsichtlich der Lust. Das Gefallensbewusstsein, das im Gegenstandsbewusstsein fundiert ist, ist E inheits bewuss ts ei n und in analogem Sinn sich entfaltendes, gebendes etc. Auf der einen Seite ist der Empfindungsinhalt „Repräsentant“, er erfährt, ohne dass er selbst immanent wahrgenommen (wahrnehmungsmäßig gemeint) ist, Auffassung („Deutung“). Auf der ande-
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ren Seite ist die zum Empfindungsinhalt gehörige Lust auch nur „Repräsentant“ und erfährt „Auffassung“. I s t hier aber von „ Reprä sentati on “ und „ Auffassung “ beider s eits i n glei chem Si nn di e Rede? Wird die Empfindungslust mit der Empfindung zusammen und so wie sie „gedeutet“, als ob sich durch das Lustmoment die Empfindung nur erweitert und demgemäß die Auffassung etwas modifiziert hätte, ohne aber ihren Charakter zu ändern? Wenn wir aber Lust aufgrund der Empfindung (Empfindungslust) von Empfindung trennen, und ebenso Gefallen am Gegenstand als Gefallensapperzeption von der Gegenstandsapperzeption, so ist das kein bloß terminologischer Unterschied und soll auch nicht bloß andeuten eine gewisse Komplikation bzw. Fundierung. Die „Antizipation“ der Empfindung bzw. die Empfindungsdeutung ist „Vorstellung“, und die Vorstellung erfüllt sich als Vorstellung in einer neuen solchen „Empfindungsdeutung“, wobei eventuell die Empfindungskomponenten der neuen und die der alten in Beziehung treten (das ist der allerdings missverständlich so genannte „Hinweis“), und hwobeii das aufgrund der entsprechenden Momente bewusste „Merkmal“ des Gegenstandes sich als dasselbe, aber einmal in unvollkommener, das andere Mal in vollkommener Weise darstellt usw. Die „Antizipation der Lust“, die Lustdeutung, ist aber nicht „Vorstellung“, sondern Gefühl, und Gefühl erfüllt sich als Gefühl. Die Gefühlsdeutung ist selbst etwas Gefühlsmäßiges, spezifisch zum Gefühl Gehöriges. Freilich ist damit nicht das letzte Wort gesprochen, und der Unterschied hat seine Schwi eri gkei t (wie ich selbst im Originalblatt sage). Ich kann im Gegenstandsbewusstsein als bloßem Sachbewusstsein, das nichts von Gefühl enthält, leben, etwa auf das Ding achten, es nach seinen verschiedenen Bestimmungen betrachten, eventuell beschreiben und dabei also prädikativ fassen. Ich kann aber auch im Gefühlsbewusstsein leben: Der Gegenstand gefällt mir nach den und den Momenten, und ich bin mir dessen „bewusst“, der Gegenstand steht da als gefällig, schön, halsi wert da. Ich kann vom Gefühl auch berührt und stark berührt werden, ohne in dieser Weise im Gefühlsbewusstsein zu leben. Der Gegenstand ist nicht in dem besonderen Sinn als gefälliger bewusst. Das Fühlen als Gefallen hat schon seine Transienz, ist schon das gegenständliche Gefallen, aber es ist nicht speziell „meinendes“ Gefallen.
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Damit haben wir hier also einen ganz analogen Unterschied wie in der Sachsphäre: Der Gegenstand erscheint uns, wir sind ihm aber nicht zugewendet. So haben wir überhaupt und überall zu unters cheiden z w is chen Bewusstsei n i m weiteren Sinn und meinendem B ewuss ts ein (Zuwendung zu ihm). Demnach aber liegt es nahe zu sagen: Für Gefühlsbewusstsein und bloßes Sachbewusstsein liegen allerdings wesentliche Unterschiede vor, es sind aber nur Unterschiede im apperzipierten Grundmaterial, Empfindung einerseits und Gefühl andererseits. Haben wir in der Zuwendung zu einem gefälligen Gegenstand, dem als gefällig, als in diesem Sinn wert dastehenden, nicht ebenso gut eine Wahrnehmung wie im Fall der Zuwendung zur bloßen Sache? Einen gefälligen Gegenstand, einen Gefallenswert in concreto, wahrnehmen ist eben in der Weise des Meinens Gefallen an ihm haben (im Gefallen an ihm leben). Gewiss, intuitives Gefallen ist nicht bloße Sachwahrnehmung (Vorstellen in einem gewissen engen Sinn), sondern ein auf wahrnehmendem Sachbewusstsein fundiertes Gefühlsbewusstsein (ebenso natürlich bei anderen Formen der Intuition und so überhaupt bei Leerakten), und es ist die Weise der „Apperzeption“ insofern eine verschiedene, als sich eine Sache anders konstituiert (und zwar eine transiente Sache) als ein konkreter Wert (Sache in ihrem Wertsein). Letzterer setzt eben, um zur Gegebenheit zu kommen, eine volle Sachvorstellung, etwa eine Sachwahrnehmung voraus. Aber hat man darum zu sagen, es handle sich um prinzipiell verschiedene Apperzeptionen? Ist nicht das gemeinsam, dass beiderseits die Rede von Apperzeption fordert eben „Bewusstsein-von“, und haben wir nicht überall immanentes und transientes Bewusstseinvon?1 Und wieder den Unterschied zwischen dem im Bewusstsein lebenden Meinen und dem außerhalb desselben verbleibenden, oder besser den Unterschied von Bewusstsein, in dem das Meinen lebt, und eines „gleichen“ Bewusstseins, in dem das Meinen nicht lebt? Sowie aber ein Meinen dari n l ebt, haben wir den Hinblick auf den Gegenstand: Das, wovon das Bewusstsein-von ist, wird Gemeintes, und wenn wir vom Bewusstsein vor der Meinung sprechen und ihm
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Vgl. Q, p. 16 h= S. 20,19–21,31i und später.
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zuschreiben, dass es Bewusstsein-von sei, so liegt es an einer in der Reflexion erfassbaren Gemeinsamkeit und an der idealen Möglichkeit, die Umwandlung in das meinende vorzunehmen. Danach wäre das s pezi fi sch O bj ektivierende das Meinen, und im Übrigen setzte jedes Meinen – das, was hier (unpassend) Apperzeption hieß – Bewusstsei n voraus.1 Es gibt verschiedene Bewusstseinsarten, schlichte und fundierte, in niederer und höherer Stufe fundierte, und in verschiedener Weise fundierte etc. Und alle können den Charakter des Meinens annehmen und dadurch objektivieren. Den grundverschiedenen Bewusstseinsarten entsprechen verschiedene Objektitäten: vor allem der Unterschied zwischen Sachen und Werten. Im Übrigen habe ich hier einen möglichst einfachen Typus von transienten Werten nehmen wollen, einen solchen, wo der Wert rein im Inhalt des Gegenstandes gründet. Dahin wird gehören das Gefallen an einer immanenten Tonfolge (das bringt ja schon Transzendenz mit sich) oder an einer zeitlich verlaufenden Farbensymphonie, an einer schönen Blume und dgl. Wir wollten von di re kter Lust sprechen. Aber genau besehen haben wir hier schon Fälle indirekter, der Lust um anderes willen, mitbesprochen. Wenn uns ein Gegenstand gefällt, so kann die Frage gestellt werden: W as gefällt da eigentlich am Gegenstand, und um welcher Teile, Bestimmtheiten hwilleni gefällt er? Wir könnten sagen, wenn uns eine Farbe gefällt, so ist hier der Gegenstand des Gefallens ein unselbständiges Merkmal an einem Ding, und das Gefallen ist ein direktes. Das Gefallensmeinen kann sich aber von der Farbe auch lenken auf den Gegenstand, der farbig ist und sofern er farbig ist: Dann ist das Gefallen ein indirektes (übertragenes). Es impliziert hier in gewisser Weise das direkte Gefallen, es ist in ihm fundiert. Wenn ich intuitives Gefallen habe, wenn ich den Gefallenswert wahrnehme, den Gegenstand als gefällig, so ist, wenn das Wahrnehmen sich auf das Gefälligsein erstreckt, reell eingeschlossen ein Wahrnehmen der gefälligen Farbe, und darin gründet der unselbständige Wahrnehmungscharakter, der sich auf den Gegenstand und sein indirektes
1 Das ist verkehrt. Durch das Meinen mache ich ein eventuell schon konstituiertes Gegenständliches zum Thema.
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Gefallensprädikat bezieht. Natürlich kann der Gegenstand als Sache wahrgenommen werden und als farbengefällig dastehen, ohne dass Letzteres auch zu eigentlicher Wahrnehmung käme. Dann handelt es sich um eine uneigentliche, leere, unerfüllte Gefallensmeinung, deren Erfüllung auf jenes eigentliche Gefallen (eigentliches Wahrnehmen des Gefallenswertes, und zwar als eines fundierten) zurückweist. Natürlich kann die Indirektheit auch noch weitere Vermittlung in sich schließen, also mehr als einen Schritt der Erfüllung eventuell fordern. Es kann mir ein Gegenstand gefallen, weil er einen Teil, ein Stück (Glied etc.) enthält, der mir eigentlicher gefällt, und dieser wieder kann mir gefallen, weil er irgendeine unselbständige Eigenschaft hat, z. B. ein Stück Gestein um eines eingesprengten Kristalls willen und dieses wieder um seiner merkwürdigen Kristallgestalt willen oder zugleich auch um seiner stofflichen Artung willen.1 Handelt es sich um mehrere gesonderte und selbständige Bestimmtheiten, die als Eigenwerte (oder vielmehr Eigenwertsachen) die mittelbaren Werte fundieren, so ist das Gefallen mehrfach fundiert, und zwar haben wir verschiedene Motivationsstrahlen, die ihre „kollektive“ Synthesis haben. Es gibt aber noch ein anderes i ndi rektes Gefallen. Ein Gegenstand gefällt mir nicht an sich, er hat vielleicht überhaupt nichts in sich, was mir gefallen möchte, und das wollen wir jetzt der Einfachheit halber annehmen, sondern er gefällt um seiner Beziehungen zu anderem willen, das mir durch sich selbst gefällt. Zum Beispiel ein gleichgültiger Gegenstand wird mir wert, weil er von der Geliebten berührt worden ist und dgl. Offenbar kann ein Gegenstand aber auch in doppelter Hinsicht gefallen, an sich (Blume) und um heinesi anderen willen (Blume der Geliebten). Wir bräuchten hier eine passende Terminologie. Zunächst wird es gut sein, zu scheiden zwischen „Der Gegenstand hat Wert“ hundi „Der Gegenstand ist ein Wert“. Im ersteren Fall ist die Meinung, der Gegenstand habe ein Wertattribut, eine Wertbeschaffenheit (Wert ist hier etwas Unselbständiges), er ist wertvoll, und wo es nötig ist,
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Das Stück kann ich zum Gegenstand machen, so wie das Moment. Aber obschon es selbständig abtrennbar ist, ist es nicht Gegenstand: Gegenstand für mich ist nur das Gemeinte.
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müssen wir ausdrücklich so sagen. Im anderen Fall ist der Gegenstand in seiner Wertbeschaffenheit genommen, und das ist Wert in concreto oder Wert schlechthin. Ein Gegenstand nun kann durch sich selbst wertvoll sein, dann ist er ein unabhängiger oder Grundwert; oder er ist um eines anderen willen wertvoll, dann ist er ein abhängiger oder Fol gewert.1 Vermöge mehrfacher Vermittlungen versteht es sich, wenn wir von relativ unabhängigen (relativen Grundwerten) und relativen Folgewerten sprechen (z. B. Gold). Die umlaufenden Ausdrücke „Eigenwert“ und „Wirkungswert“ sind völlig unpassend. Es handelt sich nicht um ein Wirken, und andererseits ist das Wertprädikat auch dem Folgewert eigen, kommt ihm zu. Man könnte ja sagen „durch sich selbst wert“ und „um heinesi anderen willen wert“, aber das sind schwerfällige Reden.2 Ferner: Werte können konkrete Gegenstände sein (oder Individuen) und bloße Bestimmungen an konkreten Gegenständen. Wir haben dann eventuell konkrete Grundwerte (Grundwertindividuen) oder attributive Grundwerte. Und konkrete Grundwerte als bloß relative können Folgewerte sein von ihnen einwohnenden attributiven Grundwerten. Natürlich erfüllt sich ein verworrenes und eventuell ganz leeres Grundwerten und Folgewerten in den entsprechenden Akten der Wertwahrnehmung, und dabei stellt sich die Berechtigung der Wertsetzung, die im Werten besteht bzw. hini der im Werten fundierten prädikativen Ansetzung des Sachobjekts als eines wertvollen, heraus oder ihre Unberechtigung. Die Rose entzückt mich, ich drücke sie an die Brust: Die Apperzeption ist die, dass ich sie für eine Rose halte, welche die Geliebte zum Schmuck getragen hat. Es stellt sich heraus, dass das nicht der Fall ist, dass die Beziehung gar nicht besteht: Die Rose ist nun eine gemeine Rose und verliert ihren Folgewert. Ebenso kann ein Gegenstand seinen Wertcharakter verlieren, sowie ich erkenne, dass die ihm selbst eingelegte, wertfundierende Beschaffenheit ihm gar nicht zukommt.
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Ursprünglich sagte ich immer direktes (unmittelbares), indirektes (mittelbares) Gefühl. Vielleicht ist das doch bezeichnender. 2 Wertsache: die das Wertprädikat fundierende Sache.
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Wir haben es hier mit Gefallensakten am Seienden zu tun. Die Wertsachen sind Dinge, Wirklichkeiten. Eine ausgezeichnete Gruppe von Beziehungen zwischen Wirklichkeiten, welche Folgewerte begründen, sind die kausalen Beziehungen. Die Ursache gefällt um 5 ihrer gefälligen Wirkungen willen; oder eine Ursache von Werten ist selbst Wert, und zwar Folgewert. Allgemein gilt auch das Gesetz: Ein Ganzes ist Wert um weiterer Teile willen, oder: Ist W ein Wert, so ist ein Ganzes, das W enthält, sein Folgewert. Dahin gehört auch: Ein Vorgang gefällt um seines schönen Ergebnisses willen und dgl.
Nr. 24 h Sachansc hauli chkei t und Wertanschaulichkeit i1
h§ 1. Das Sich-Sättigen einer mittelbaren in einer unmittelbaren Lusti 5
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Wir haben Lust an irgendwelchen Sachen bzw. Unlust. In dieser Lust lebend steht uns die Sache als ein Gefallenswert oder Missfallenswert da. Wir haben aber auch Lust oder Unlust an Gefühlen über Sac hen, z. B. eine Unlust wie die Reue kann gefallen. Es schmerzt mich, dass ich das und das voreilige Wort gesprochen habe. Andererseits aber gefällt es mir, finde ich es richtig und in Ordnung, dass mich das schmerzt, nämlich dass ich dagegen nicht etwa gleichgültig bin oder mich gar daran freue, dass ich den Anderen verletzt habe. Die Gefühle, die auf Gefühle (auf Gefühlserlebnisse) als ihre Sachen gehen, während diese letzteren wieder Gefühle an deren Sachen sind, können unabhängige oder abhängige Gefühle (Grundgefühle oder Folgegefühle) sein. Die Lust an einem Geschmack ist eine unmittelbare Lust, eine Grundlust. Die Lust aber selbst kann mir gefallen, nämlich das Sein dieses Lusterlebnisses, dass ich diese Lust genieße. Das ist die Freude am Genuss. Hier besteht wohl das Gesetz, dass jede Freude an einer letzten Grundlust, einer wirklich unabhängigen, berechtigt ist; zum Wesen einer unmittelbaren Lust gehört die ideale Möglichkeit einer in ihr sich sättigenden mittelbaren Lust. Und was heißt hier das Sättigen? Nichts anderes hals diesi: Zum Wesen jeder unmittelbaren Lust gehört es, dass sie nach idealer Möglichkeit zum Objekt einer wieder unmittelbaren Lust werden kann. Jede unmittelbare Lust ist berechtigt, es hat keinen Sinn, ihre Berechtigung anzuzweifeln. Jede unmittelbare Lust schließt als solche die Möglichkeit einer unmittelbar auf sie bezogenen Unlust aus. Jedes plus-minus-Gefühl schließt unter Voraussetzung, dass es unmittelbares ist, die Möglichkeit eines auf dasselbe als Sache bezogenen
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Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg.
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unmittelbaren minus-plus-hGefühlsi, also entgegengesetzt gerichteten Gefühls, aus. Sonst schließen sich Lust und Unlust in dieser Beziehung nicht aus, d. h. Lust an einer Unlust als Sache und umgekehrt.
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h§ 2. Die Unterscheidung zwischen urteilender Werterkenntnis und fühlendem Werthalteni Es ist ein Unterschied, einen Wert bzw. Unwert erkennen und ihn „empfinden“, fühlen, eine Wahrnehmung von ihm haben, eine Anschauung, oder eine vage, leere Fühlung. Ich kann einen Unwert z. B. erkennen dadurch, dass ich, sei es anschaulich oder unanschaulich, die unwerte Sache oder den Sachverhalt mir vorstelle und – wenn es sich etwa um den Unwert einer eigenen Betätigung, Fühlung etc. handelt – mir die Sache, diese Betätigung und Fühlung mit ihrer Sache, in der Erinnerung klar oder unklar vergegenwärtige. Ich kann nun wissen, dass das etwas Schlechtes war, ich kann wissen, dass eine sittliche Regel, deren Geltung ich anerkenne, dergleichen überhaupt als Unwertes, Schlechtes brandmarkt. Dann denke ich die Regel der Sittlichkeit (oder Sitte) und subsumiere den gegebenen Fall unter sie und übertrage in dieser Art das Prädikat „schlecht“ auf diesen Fall, wobei ich eben die begriffliche Vorstellung vom Schlechtsein vollziehe. Es genügt dazu, dass ich die verbale Vorstellung „schlecht“ habe und im verbalen Denken subsumiere. Dazu brauche ich gar nichts zu „fühlen“, ich brauche, deutlicher gesprochen, kein aktuelles (impressionales) Werten, Unwerten zu vollziehen. Ich kann mir darum auch mehr oder minder anschaulich die Wertsachlage vorstellen. Würde es sich um unmittelbare Werte handeln, dann freilich wäre mit der Sache auch das wertende Gefühl in der Einstellung, in der ich mit dem Werturteil bin, wirklich da. Aber in der Regel handelt es sich um sehr mittelbare Folgewertungen, und da brauchen wir ja diesen Vermittlungen der Folge bzw. der Gefühlsmotivation nicht nachzugehen. Ebenso steht nichts im Weg, dass beim Gebrauch des Wortes „schlecht“ eine Vorstellung, eventuell heinei klare Phantasie, irgendein Exempel von Schlechtem vor Augen führt. Aber das Gefühl, das hier das anschauliche Bewusstsein von einem Schlechten herstellt (und Grundlage der Begriffsbildung ist), ist kein aktuelles (impressionales) Gefühl,
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sondern ein „Gefühl in der Phantasie“ und bloßes Exempel der Illustrierung der Wortbedeutung, in der Regel ganz andere Sachlichkeiten betreffend. Darum können wir ganz korrekt unter Umständen aussagen: Ich 5 weiß, dass das schlecht ist, ich kann es aber doch nicht bedauern. Das ist ja nicht so viel, wie im scio meliora etc. gesagt ist. Denn da heißt es proboque, und das weist auf ein aktuelles Billigen hin, das mehr ist als ein theoretisches Anerkennen, dass etwas wert sei. Das bloße Denken ist natürlich nicht zu verwechseln mit dem vagen, leeren Werten, das 10 darum doch ein aktuelles ist (ein impressionales), genauso wie ein aktuelles Denken, Identifizieren vage sein kann, leere „Intention“ auf eigentliche, intuitive Identifizierung. Demnach müssen wir scharf zwischen urteilendem Werthalten, d. i. dem Urteil, es sei etwas ein Wert, unterscheiden und ande15 rerseits dem fühl enden Werthal ten, d. i. dem Fühlen selbst, das ein Wertbewusstsein ist, insofern ein Für-wert-Halten, aber eben kein bloßes Denken und denkendes Prädizieren, es sei etwas wert.
h§ 3. Die Sättigungsunterschiede in der emprischen Wahrnehmung und in der Wertnehmungi Ich habe versucht zu unterscheiden Gefallen am Seienden und Gefallen am Vorgestellten. Inwiefern ist diese Scheidung zwischen existenzialem und nicht-existenzialem Gefallen zu halten? Gefallen am Seienden nennen wir Freude, doch mag man scheiden Lust (im engeren Sinn) an der Sache (einem wirklichen Objekt, 25 Vorgang etc., schlicht als wirklich gesetzt: thetisch) und andererseits Freude im spezifischen Sinn als Gefallen an einem Sachverhalt, dass A ist, so ist etc. Natürlich auf Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft bezogen. Bei Lust und Freude unterscheiden wir Lebendigkeit und Sätti30 gung.1 Die Lebendigkeit ist ceteris paribus wohl eine Funktion der 20
1 Ich folgte 1902 in diesem Punkt wohl S c h w a r z. Doch fragt es sich, ob es nach dem Weiteren nötig ist, einen eigenen Begriff von Sättigung einzuführen. hHusserl bezieht sich hier, wie auch in weiteren Texten der vorliegenden Edition, auf die Schriften von Hermann Schwarz (1864–1951)i.
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Anschaulichkeit und Eigentlichkeit in der Vollziehung der Sachvorstellungen und der Gefühle selbst. Satte Freude ist wohl nichts anderes als „wahrnehmende“ Freude, das ist, wenn ich das Analogon der Wahrnehmung hier als Wertnehmung (hinsichtlich des Freudenwertes) bezeichne, eben wertnehmende Freude. Dem gegenüber steht die Freude der Erwartung. Künftiges Sein ist hier die Sache. Sie ist vollanschaulich in der „anschaulichen“ Erwartung, in der primären. Aber diese gibt nicht wirklich das künftige Sein der Sache. Die Erwartung hat eventuell ihre vernünftige Begründung, aber sie kann nicht in Wahrnehmung übergeführt werden; es sei denn so, dass das künftige Sein zur Gegebenheit kommt als Erfüllung der Erwartung, das aber sagt hier, das in der Erwartung als künftig seiend Gesetzte kommt als jetzt Seiendes zur Gegebenheit. „Gegeben“ ist darin ein Jetzt und nicht Sein in der Zukunft. Eine Freude kann gehen auf ein künftiges Sein (in der Weise der Lust oder in der der eigentlichen Freude, dass das und das künftig sein wird); aber sie geht darauf nicht so wie die Erwartung, sondern als Freude, und diese ist hier gerichtet auf den künftigen Gefallenswert. Sie ist ebenfalls keine Freudenwahrnehmung, d. i. keine eigentliche Wertnehmung, sondern ihr korrespondiert als „erfüllend“ heinei Wertnehmung, die aber nicht den künftigen Wert zur Gegebenheit bringt als solchen (was eine Unmöglichkeit ist a priori), sondern ihn zur Gegebenheit bringt eben in der Weise der Wahrnehmung, als jetzt seiend. Das Jetzt ist dann dasjenige, was den im früheren Jetzt gesetzten Zukunftspunkt „realisiert“. Die Setzung ist eben in der Urform die Erwartung. Erwartungsfreude ist, können wir auch sagen, eine (impressionale) Freude, die auf „künftigen ‚Genuss‘ gerichtet ist“, doch ist dann der Sinn geändert. Denn Genuss bedeutet doch das Genießen, und auf das künftige Genießen gerichtet zu sein, ist etwas anderes als auf den künftigen Wert. Natürlich kann Freude auch auf künftiges Genießen gerichtet sein, dann liegt die entsprechende Erfüllung vor in der im Zukunftsjetzt erlebten Freude am Genießen.1
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Der Unterschied hinsichtlich der Lebhaftigkeit, Lebendigkeit ist klar: Über Künftiges kann ich mich aufs Lebhafteste freuen, andererseits im Genießen braucht die Lebhaftigkeit gar nicht so groß zu sein.
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Erwartungsfreude ist also keine satte Freude, d. i. eben keine „Wahrnehmung“, Wertnehmung. Ebenso ist Vergangenheitsfreude nicht „satt“. So wie Erinnerung keine Wahrnehmung ist, so ist Erinnerungsfreude (Freude am Erlebthaben bzw. am früher gegebenen, gewesenen Wert) keine Wahrnehmungsfreude. Sollen wir in solchen Fällen von Sät ti gung sprechen? (Schwarz nachlesen!) Und sind diese Fälle hinreichend innerlich verwandt mit anderen Fällen, wo man gern von Sättigung sprechen wird: Für je wahrscheinlicher das Erwartete im Erwarten gehalten wird – nämlich das Erwartete, dessen künftiges Sein als erfreuliches (künftiger Wert) dasteht –, umso satter ist die Freude? Ebenso hist es beii Wahrscheinlichkeiten in Bezug auf die Vergangenheit. Wir könnten übrigens hinsichtlich der Erwartung selbst, der auf Künftiges gerichteten Vermutung, wie bei jeder Vermutung von Sattheit bzw. Sättigungsgraden sprechen. Der absolute Sättigungsgrad läge dann in der festen Gewissheit. In dieser intellektiven Sphäre wird aber niemand diese Dimension gradueller Unterscheidungen übereins bringen wollen mit dem Unterschied zwischen Anschaulichkeit und Nicht-Anschaulichkeit, wahrnehmender Anschauung und anderer Anschauung bzw. Vorstellung. Wir haben graduelle Unterschiede der Anschaulichkeit. In der Gemütssphäre haben wir dazu heinei Parallele, und die graduellen Unterschiede sind dann abhängig von dem hUnterschiedi der unterliegenden Sachanschauungen. Ist das Gefallen z. B. rein durch den gegenständlichen Inhalt wie bei Tonfolgen bestimmt oder mindestens vorwiegend dadurch bestimmt, ist da das Gefallen nicht im Allgemeinen umso lebendiger?1 Im Allgemeinen, denn es kann viel lebendiger sein in Fällen, wo nichts von Anschaulichkeit vorliegt, aber dann sind hesi freilich Fälle des mittelbaren Gefallens. Und ist nicht bei Inhaltsfreuden, bei Gefallen an Gegenständlichkeiten, die rein in sich selbst erfreulich sind, die Sattheit umso größer, je größer die Anschaulichkeit ist? Aber das alles ist zu wenig konkret. Zum Beispiel, je näher ich der Musik bin, je lebendiger „dieselbe“ Melodie ertönt, umso satter ist die Freude, und ebenso in der Phantasie. Geht mir die Melodie durch den Kopf, die mir wohlgefällt, so ist dieses Wohlgefallen umso satter, je lebendiger ich sie mir zur Anschauung
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Schon oben gesagt.
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bringe. Das ist richtig. Aber was bedeutet hier Sattheit, abgesehen von den graduellen Unterschieden der Anschaulichkeit selbst? Unwillkürlich wird man sagen: Je mehr die Freude etwas zu wünschen übrig lässt, umso weniger satt ist sie (ungesättigt); je weniger, umso satter. Aber wie kommt hier der Wunsch, der doch ein neues Phänomen ist, herein? Haben wir hier etwa nicht reine Phänomene? Zunächst müssen wir, wie schon angedeutet, unterscheiden: die Gr ade der Sachansc haul i chkei t und die Grade der Lustans chaulichkeit. Doch handelt es sich wirklich beiderseits um bloße Grade der Anschaulichkeit? Wenn die Melodie näher tönt und wenn sie ferner ertönt, sofern ich sie überhaupt höre, habe ich Wahrnehmung, und Wahrnehmung als solche hat doch keine Grade. In den Logischen Untersuchungen sprach ich von Realitätsfülle. Jeder Ton ist hier ein empirischer Gegenstand, und wenn hier auch überall ein Gegebenheitsbewusstsein vom Gegenstand besteht (eben eine Wahrnehmung), so ist der Ton selbst, der derselbe ist, in welcher „Entfernung“ er auch erscheinen mag, in welcher er wahrgenommen sein kann, nicht überall mit identisch demselben Inhalt, mit dem er gemeint ist und der seinem Selbst zukommt, wirklich gegeben. Die „Inhaltsfülle“ (das ist eben jene Realitätsfülle) ist eine verschiedene: hier wechselnd nach dem Intensitätsmoment des immanenten Tones. Letztere Intensität kann verschieden sein, während die wahrgenommene und darin gemeinte Intensität dieselbe ist: sofern er z. B. als völlig unveränderter hToni wahrgenommen ist. In anderen Fällen ändert sich sowohl der „repräsentierende“ Inhalt als auch der Inhalt der Fülle, dasjenige vom gemeinten Gegenstand, was zur wirklichen Gegebenheit kommt. Es ändert sich nicht etwa die Wahrnehmung nach dem, was sie meint; aber bei gleicher Meinung (d. i. phanseologisch auch bei gleichem Auffassen) kann von dem Gemeinten mehr oder weniger zu eigentlicher Wahrnehmung, zu eigener perzeptiver Darstellung kommen. Und nachher sind wieder die Unterschiede zu verzeichnen hinsichtlich jedes zu wirklicher Darstellung kommenden Moments des gemeinten gegenständlichen Inhalts, nämlich es kann zu „satter“ oder weniger satter Darstellung kommen. Unterscheiden wir so, dann ist klar, dass zwar im Allgemeinen von einem Mehr oder Weniger hinsichtlich des Bestandes an Reichtum der Darstellung des identisch festgehaltenen Gemeinten gesprochen werden kann, dass hier aber eigentliche graduelle Unterschiede nicht
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vorliegen. Es bliebe dann als Feld wirklich stetig gradueller Unterschiede die Art der Darstellung des vom Gemeinten eben wirklich Dargestellten, „wirklich“ Gegebenen. Die Darstellung kann graduell wechseln, wenn die darstellenden Momente intensiver oder minder intensiv sind – hier etwa hinsichtlich der Tonintensität – oder die Farben gesättigter, minder gesättigt, heller, minder hell etc. hsindi. Die Hauptsache histi, es handelt sich dabei um stetige, und zwar Steigerungsunterschiede: Ihnen entlang fortschreitend nähern wir uns immer hmehri der Darstellung, die den gegenständlichen Inhalt so darstellt, wie er „wirklich ist“. Wobei freilich dieser Inhalt Inhalt des wahrgenommenen und wahrnehmbaren Gegenstandes immer ist und bleibt: Es handelt sich nicht um den wahren Gegenstand im Sinn des denkenden Bestimmens, sondern um Gegenstand und Inhalt des Gegenstandes, so wie er sich rein innerhalb wirklicher und möglicher Wahrnehmung konstituiert. Wir haben noch darauf Rücksicht zu nehmen, dass die gegenständliche Meinung – und das gehört ja zur normalen Wahrnehmung – mancherlei „offen“ lassen kann, dass hier Unbestimmtheiten impliziert sind, die innerhalb der festzuhaltenden Einheit des gegenständlichen Inhalts sich näher bestimmen oder auch anders bestimmen. Wir haben also neben Reichtum der Fülle (als Reichtum an Inhaltsmomenten, die zu wirklicher Darstellung kommen aus der Sphäre des Gemeinten überhaupt) und Sattheit der Fülle, die sich auf die verschiedenen Momente der Fülle verteilt, noch den „offenen Raum“ der Fülle, je nachdem mehr oder weniger offen gelassen oder je nachdem von dem Unbestimmtheitsraum mehr oder weniger mit Fülle bedeckt und er so eingeschränkt wird. Gehen wir nun wieder in die Gefühlssphäre, so haben die ausgeführten Unterscheidungen offenbar für Gefühle, die die sinnlichen Anschauungen fundieren, Bedeutung und zugleich in den fundierten Gefühlen selbst (bzw. in ihren ontischen Korrelaten) ihre Parallelen. Bei transienten Gefühlen, die den Charakter von Gefühlsans chauungen haben und, wie wir annehmen wollen, Inhaltsgefühle, auf den eigenen Inhalt des empirischen Gegenstandes bezogene Wertungen sind, ist Folgendes auszuführen: Indem sie sich auf transiente (empirische) Anschauungen gründen, deckt sich im Allgemeinen der Bereich der Wertmeinung nicht mit dem der empirisch-anschaulichen Meinung. Denken wir uns also den Bestand an Inhaltsmomenten
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des Gegenstandes, welche die Grundwertung erfahren, zusammengenommen, so entspricht ihnen, wie in der empirischen Anschauung so in der Gefühlsanschauung selbst, eine „Darstellung“, und zwar eine vollkommenere und minder vollkommene, reichere und weniger reiche, sattere und weniger satte. Je vollkommener der empirische Gegenstand zur empirischen Gegebenheit kommt – natürlich hinsichtlich der gewerteten Momente –, umso vollkommener kommt er zur wertenden Gegebenheit oder als Wert zur Gegebenheit. Das wertanschauende Bewusstsein, speziell das wertnehmende, hat seine Sphäre der eigentlichen und die der uneigentlichen Wertnehmung. Die erstere kann sich erweitern; es kann mit der Annäherung des Objekts (wirklich oder bildlich verstanden) ein wertgründender Inhalt eine Sachbereicherung erfahren, die zugleich eine Bereicherung in wertlicher Hinsicht bedeutet, so dass der gemeinte Gefallenswert zu reicherer Gegebenheit (nämlich zu reicherer Darstellung) kommt. Es kann dabei auch, wie in sachlicher Hinsicht, so in Hinsicht auf die wertliche Relevanz, das „offen Gebliebene“ sich näher bestimmen und auch in dieser Weise Bereicherung statthaben. Endlich hinsichtlich des schon wirklich und fest (ohne Offenheit) Gegebenen, hinsichtlich der vollständig und bestimmt dargestellten Sachmomente und Wertmomente kann noch „Annäherung“ statthaben, eine Kontinuität in der Weise der Darstellung, der nachgehend wir uns der Grenze entgegen bewegen, an der das gegenständliche Moment (im Sinn der Anschauung) zur Selbstgegebenheit kommt, „so wie es selbst ist“, sei es auch in einem kontinuierlichen Wahrnehmen. So z. B., das Ding nähert sich an, bis ich so nahe bin, dass ich es „am besten“ sehen und, indem ich es etwa drehe, das betreffende Moment (farbige Hexaederfläche) in ungebrochener Einheit und dabei vollkommenster Vollkommenheit haben kann. Dabei gibt es allerdings für empirische Dinge verschiedene Gesichtspunkte bzw. verschiedene Auffassungen, derart, dass bei gewisser Interessenrichtung eine gewisse Ferne für die Konstitution des in ihr gemeinten Gegenstandes erforderlich ist, während für eine andere weitere Annäherung noch mehr ergibt, etwa auch Einzelheiten ergibt, die in die nur in der Ferne zu gewinnende Gesamteinheit synthetisch „eingetragen“ werden. Nun ist das Werten selbst das Interesse, das bestimmt, welche empirische Gegebenheit die relevante ist und den Gegenstand selbst oder das Moment selbst ergibt und vollkommen, so wie es für die
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Wertung relevantes ist. In gewisser Weise ist das empirische Objekt der empirischen Anschauung, insofern es gewertetes Objekt ist, durch das Werten selbst als Gewertetes seinem Sinn nach bestimmt. Es ist also, genau besehen, nicht so, als ob die empirische Anschauung von der Wertung unabhängig sei. Gewertet wird jeweils nicht das empirische Objekt überhaupt, sondern das erscheinende Objekt, und zwar in einer gewissen Art und einer gewissen Stufe der Gegebenheit. Wir haben also nicht zu denken, es komme das betreffende Gegenstandsmoment erst zur Gegebenheit (es sei auch im Sinn des πρhξισi κα©’ατe), und dann richte sich das Werten danach, nämlich mit der Annäherung an diesen Punkt gewinne das Werten seine höchste Sättigung, weil nun das Moment gegeben sei, sondern: Der Wert ist durch die Gegebenheit bestimmt, und heri schreibt von sich aus vor, welche Gegebenheit die wertvollste, d. i. die den gemeinten Wert realisierende ist. Ist das betreffende Moment empirisch-anschaulich gegeben, aber nicht an dieser Grenze, so ist das Werten ein unsattes, d. i., es ist unerfüllte Wertintention, und zwar eine solche, die stetiger Annäherung an die Erfüllungsstelle fähig ist; die Unerfülltheit ist nicht etwas überall Gleiches, sondern etwas Steigerungsfähiges bis zur absoluten Grenze. Diese Steigerungskontinuität läuft in der Erfüllung ab, der Prozess hat den Charakter des Sättigungsprozesses, und jede Stufe ist ein Grad oder hat einen Grad, den Grad der Sättigung. Andererseits haben wir auch ein Mehr-oder-Minder, je nachdem die Fülle der Wertgegebenheit zu- oder abnimmt, nämlich hinsichtlich des „Reichtums“ der Fülle etc. Aber hier haben wir kein Stetiges im Übergang, keine stetigen Stufen, nur eben ein Mehr und Minder. Im weiteren Sinn mag man das unter Sättigung begreifen. Die Unterschiede der Sättigung sind wesentliche und in sich bestimmte Unterschiede der Wertnehmung sowie der empirischen Wahrnehmung.
h§ 4. Die Bedeutung der Sättigung für das Wünschen und Begehreni W elche R o l le spi el t nu n di e Sätti g ung (und auch für die Lebendigkeit kann man das fragen) für das Wünschen und Begeh35 r en? Steckt am Ende mit dem Moment der ungesättigten Fülle schon
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so etwas wie heini Gefühl des Mangels und ein Wunschartiges im Gefallen? Natürlich nicht. Die existenziale Freude ist Freude, die existenziale Lust ist Lust und enthält gar nichts von Wunsch, wenn eben das Bewusstsein vom Sein gegeben ist und das Seiende das im Gefallen ausschließlich Gewertete ist. Man könnte sagen, so wie jede Wahrnehmung in ihrer Art ungesättigt ist, aber darum doch den Charakter des wahrnehmenden Gegebenheitsbewusstseins hat und nichts anderes, so wie sie nicht etwa Erwartung des nicht wirklich Gegebenen, aber Mitgemeinten, in sich schließen muss, so hier.1 Hat die Wahrnehmung den Charakter einer kontinuierlichen Entfaltung, dann schließt sie aber immerfort Erwartung ein: Die Erwartung ist das intellektive Langen. Betrachte ich den Wahrnehmungsgegenstand und komme ich etwa an den Rand und lenke die Aufmerksamkeit auf das Nicht-Dargestellte, im eigentlichen Sinn Nicht-Gegebene und doch als gegeben Mitgesetzte, so habe ich eine „Leer“-Wahrnehmung von diesen Momenten, eine völlig ungesättigte, eine Wahrnehmung und doch im Kontrast gegen die Darstellungsgegebenheit das Bewusstsein der „Leere“. Ebenso habe ich, wenn das Nicht-Dargestellte der Sache Wertsachmomente enthält und ich auf diese achte, das wertnehmende Bewusstsein zwar noch hinsichtlich des ganzen Objekts, z. B. der schönen Statue, aber hhinsichtlich der ersteren habe ichi das Leerbewusstsein des Gefallens, das doch noch wertnehmenden Charakter hat, und im Kontrast gegen die satten Momente der Wertnehmung hhabe ichi das Bewusstsein des Mangels. Das ist ein Gefühlsbewusstsein, und es ist nicht auf die Sache gerichtet und haufi diese sachlichen Momente, insofern diese nach wie vor Objekte des Gefallens sind, sondern es ist Vermissen der Gegebenheit, der eigentlichen Wertnehmung.2 Dem theoretischen Bewusstsein des „Es fehlt“ (nämlich des „Es ist nicht gegeben, hnichti eigentlich gegeben“, das zur Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf das Nicht-Gegebene der Wahrnehmung gehört und zum Kontrast mit der eigentlichen Darstellung) entspricht das
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Wichtige Analogie. Oder vielmehr das Vermissen des Gesetzten nach seinem Modus eigentlicher Gegebenheit! Denn das hat einen ontischen Charakter. Auch in der Sphäre der folgenden Beispiele: Ablaufperspektive. Die Weise, wie das Gegebene aussieht, ist eine Weise an ihm selbst. 2
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Wunschbewusstsein oder Gefühlsbewusstsein des „Es fehlt“, das leidartige Vermissen: natürlich wieder im theoretischen Bewusstsein fundiert. Ferner, hinsichtlich der dargestellten Momente besteht die ideale Möglichkeit, sie in kontinuierlichen (und diskreten) Übergängen zu sättigen oder zu entsättigen. Es kann nun sein, dass ein Kontrast zwischen dem Gemeinten und Dargestellten, so wie es zur Darstellung kommt, eintritt: Es können etwa gedankliche Intentionen auf nicht wirklich dargestellte, aber im Rahmen der Darstellung selbst fehlende, zu ihm gehörige Momente bestehen und eine Abhebung bewirken. Und ebenso bei größeren Abständen im Grad der Sättigung im engsten Sinn. Da kann also überall das Bewusstsein „Es fehlt“ und das Gemütsbewusstsein des Mangels der Gegebenheit (des Gegebenen als solchen) auftreten. Ebenso wenn die Wahrnehmung in Fluss kommt, der Gegenstand sich darin allmählich nach allen und vor allem den Sachwertmomenten zeigt, da decken sich Erwartung und langendes Wünschen oder Begehren, sowie andererseits Wahrnehmung der Sache und Freude an der Sache. Die beiderseitigen Akte haben aber verschiedene Objekte. Ein anderes ist nun die Frage, wie Freude und Wunsch derselben „Materie“, derselben Objektität hzueinanderi stehen: Freude, dass A ist, auch Lust schlechthin an A – Vermissen, dass A nicht ist, Vermissen des A (anders ist das Vermissen, dass A nicht gegeben ist), endlich danach begehren. Ebenso Wahrnehmung, dass A ist (oder auch des A), wahrnehmendes Bewusstsein, dass A ist – Bewusstsein des Fehlens des A, Erwartungsbewusstsein des A in der Zukunft.
Nr. 25 h W il lens werte, di e ni cht durc h bloße Gefal lens wer te besti m m t si nd: Der höhere W ert des W ol l ens des fremden Gutes i1 5
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Ich meine hier Folgendes: Ein Wert kann, und zwar ein absoluter (nur von absoluten wollen wir hier sprechen), in einer Sache selbst liegen. Zum Beispiel eine schöne Erscheinung ist durch das Wesen der Erscheinung bestimmt: Jede solche Erscheinung ist in sich schön. Die Linderung eines Schmerzes ist in sich betrachtet wert: Es ist ganz gleich, in welchem Bewusstsein dieser Schmerz auftritt. Der Wert ist dur ch das W esen besti m m t: einen Hunger stillen, einen Durst löschen etc. Wenn nun ein Wert realisierbar ist, so ist das Wollen und Realisieren des Wertes selbst ein Wert. Aber nun ist ein Unterschied zwischen Realisierung und Erstrebung von Eigenwerten und solchen von Fremdwerten, d. i. von denselben Werten eventuell im fremden Ichbereich und solchen im eigenen.2 Die Linderung eigenen Leides ist in sich „angenehm“, hat einen gewissen Wert in sich, aber die Linderung desselben fremden Leides, obschon sie beim anderen und wie bei jedem von demselben Wert ist, ist doch als meine Tat sehr viel wertvoller (ceteris paribus), als die Linderung meines eigenen gleichen Leides wieder als meine Tat hesi ist. Und so ist schon der Wunsch des Wertes nicht hnuri durch den Wert in sich bestimmt, sondern auch bestimmt dadurch, dass es sich um einen Wert in meinem Ichbereich, meiner Ichsphäre handelt oder in der eines anderen. W ir s ehen da, dass es Wunsch- und Willenswerte gibt, die nicht durc h bl oße G efal l enswerte (durch bloße Schönheiten) best im mt s in d. Wunsch und Wille sind also eigene W er tquellen, oder es ist nicht ohne weiteres gleichgültig, was das „Wesen“ des Wertes individualisiert, der gewollt wird und realisiert werden soll.
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Sehr wichtig. – August 1910. Nächstenliebe (Gutes in der Fremdsphäre und in der Eigensphäre). Ich folge hier hHermanni Schwarz. 2
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Nun könnte man sagen: Dasselbe Gut in meiner und eines anderen Seele steht in anderen Zusammenhängen und das ergibt neue Wertbeziehungen. Indessen, ist es nicht evident, dass von allen Wertbeziehungen abgesehen es ein in sich Besseres ist, dasselbe Gut in der anderen Seele zu realisieren, nämlich ein für mich Besseres, als es in meiner Seele zu realisieren? Wie könnte man sonst der Nächstenliebe gerecht werden? Natürlich kann es darum doch mit Rücksicht auf Zusammenhänge besser sein, dasselbe Gut in mir zu realisieren als in einem anderen oder, was ergänzend zu bemerken ist, ein gleiches Gut in einem anderen statt in mir. Aber klar ist, dass ein Gut des anderen (natürlich ohne Nützlichkeitsrücksichten auf Güter in mir) als Selbstzweck hzui realisieren, ein Gutes ist, das nicht nur bestimmt ist durch das Gut selbst, sondern auch dadurch, dass es Gut in einem anderen (NächstenGut) ist. Und das Letztere bestimmt einen Höherwert oder eine neue Wertkomponente gegenüber dem Wert des Gutes in sich selbst (bzw. gegenüber seiner Wesensallgemeinheit). Dasselbe Gut in einem anderen und in jedem ist seinem Wert nach dasselbe. Aber das Wollen des Fremden ist besser als das Wollen des Eigenen. Hat nicht schon Sc hw ar z dieses Gesetz ausgesprochen? Aber, wenn ich mich hrechti entsinne, mit einer Übertreibung. Die Begrenzung, die im Gesagten liegt, ist zu beachten. Ferner, dass die Wertvergleichung schließlich die Willenswerte, ob sie auf eigenes oder fremdes Gut gehen, wieder in eine Reihe bringt, was andererseits nicht besagt, dass man Werte (von Ausnahmefällen abgesehen) wie Quantitäten behandeln kann. Es gibt aber Einsicht und damit im Wesen gründende, unbedingte Gültigkeit beanspruchende Bevorzugungen.
Nr. 26 h D i e Frage nach der Vors tel lung sgrundl age des Wunsches i1
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Wenn ich einen Wunsch hege (z. B. in diesem Jahr den ersten Band meiner Phänomenologie zum Abschluss zu bringen), so stelle ich das halsi gewünscht vor. Wa s i st das f ür ei ne Vorstellung (besser für ein Vorstellen), die dem Wunsch oder vielmehr hdem i W üns c hen z ugrunde l i egt? Ist es eine Phantasievorstellung? Ist es, da es sich um einen Sachverhalt handelt, ein Quasi-Urteilen? Liegt dann aber das Quasi-Urteilen als solches zugrunde? Und nichts weiter? Es ist mir, als ob hier etwas fehlt. Der Wunsch gehört doch nicht in die Phantasie hinein. Der Wunsch ist Wunsch des und des Sachgehaltes. Wie das Wünschen sich auf ein „Vorstellen“ gründet, oder wie Wünschen als solches Vorstellen „impliziert“, sofern es Wunschbewusstsein von etwas ist, so „impliziert“ der „Wunsch“ eine Vorstellung im onthischeni Sinn. Wenn ich nun frage, wie diese Vorstellung in den Wunsch hineinkommt (ich wünsche, dass Sp sei), so scheint es fast, als ob zwar im Fall des klaren Wunsches eine klare Phantasie zugrundeläge, dass aber das erwünschte „S sei p“ als solches in einem Neuen liegt, im Wünschen selbst, das seine Beziehung auf Gegenständlichkeit in eigener Weise konstituiert und ihre Vorstellung in sich gleichsam hat, obschon sie sie nur gewinnen kann, hzuimindest in Klarheit, auf Grund einer klaren Phantasievorstellung oder auch einer bildlichen Vorstellung (einer illusionären) und dgl. Wie aber beim vagen, „leeren“ Wunsch? Und wie steht die Vorstellungsunterlage des Wunsches zum Sich-Denken? Doch man wird nicht sagen wollen, dass dem Wünschen ein Sich-Denken zugrunde läge. Zu bemerken ist, dass eine Wunscheinbildung, ich phantasiere und phantasiere, dass ich wünsche, eine Phantasie-Modifikation derjenigen „Vorstellung“ in sich fasst, welche der entsprechende wirkliche Wunsch fordern würde. Ist der Wunsch ein klarer, gegründet in einer Phantasievorstellung der erwünschten Sachlage, so ist für den Phantasiewunsch diese Vorstellung eine phantasierte Phantasievorstellung. 1
Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg.
Nr. 27 hDie m it der d i ngl i chen Apperzeption Hand in H and gehende G efühl sapperzeption: E s bedarf ke i ner von den Empfindungen unter sc hiede nen G efühl sempfindungen i1
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Man braucht nicht eigene G efühl sempfindungen.2 Vielmehr kann man die Lehre vom Gefühlston der Empfindungen anders verstehen. Nicht dass sich an eine Empfindung noch eine weitere Gefühlsempfindung anknüpft, sondern jede Empfindung ist selbst Gefühlsempfindung, nämlich jede ist Träger eines möglichen „Gefühlsaktes“ eines Gefallens oder Missfallens, einer gefallenden Zuwendung, einer missfallenden Abwendung. Mit der dinglichen Apperzeption geht dann Hand in Hand eine Gefühlsapperzeption. Während wir vorhin ein rein immanentes Gefühlsverhalten hatten (und damit einen rein immanenten „Wert“ oder Unwert), haben wir jetzt ein tr ansi entes Fü hl en. Denn das Gefühl, indem es sich auf das Ding bezieht, bezieht sich ja auf keinen gegebenen Inhalt, und das Ding konstituiert sich in einer Mannigfaltigkeit und Einheit eines Empfindens und Auffassens, des Wirklichen und „Möglichen“. Und wie das Vorstellen vorgreift und übergreift, transient ist, so auch und in ähnlichem Sinn das Gefühl, darin durch das Vorstellen und seine transienten Intentionen bestimmt. Und weiter auch bestimmt durch den Zusammenhang des Dinges mit anderen Dingen, mit menschlichen Zwecken etc. Die Sachen werden dann kompliziert. Das transiente Gefallen hat sein Korrelat im transienten Wert. Die Gefallensintentionen erfüllen oder enttäuschen sich – sie hängen an Dingapperzeptionen, an den Persönlichkeitsapperzeptionen, an der Organisierung der sozialen Einheit (Welt und Kultur) etc. Aber wie, das ist die Frage. Und der Wille? Wertung und Wollung. Wertung des Willens etc.3
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Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg. Vgl. hHugoi Mün sterb er g, Philosophie der Werte. hGrundzüge einer Weltanschauung, Leipzig 1908, S.i 62 f. 3 Zu unterscheiden und hzui beachten: Bild, Phantasie, Wirklichkeit. 2
Nr. 28 h Das Geni eßen al s Wahrnehmung des Gefall enswer tes. D er U nterschied zwischen dir ekt em und in di rektem G efallen. Mängel der Fülle i n der Fr eude al s Anl ass für Wünsche i1
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W as is t Genießen (als Lust verstanden, also genießende Lust)? Man wird sagen: Es ist natürlich nichts weiter als Wahrnehmung des Gefallenswertes, Wahrnehmung des Gefallenden in seinem Gefallenswert.2 Indessen: Dabei ist zu achten auf den Unterschied des direkten (unmittelbar, unabhängig) und indirekten (vermittelten, abhängigen) Gefallens. Das Gefallende wird im indirekten Gefallen, wenn die Vermittlung vorstellungsmäßig und gefühlsmäßig nicht aktualisiert ist, zwar eventuell wahrgenommen und „erscheint“ als gefällig, aber es wird nicht in seinem Gefallenswert „wahrgenommen“, dieses Erscheinen ist kein wertgebender, sondern indirekt wertannehmender, wertansetzender (nicht hypohthetischeri!) Akt. Den Handschuh der Geliebten betrachte ich mit Genuss, ich genieße die Lust, obschon es eine mittelbare Lust ist. Genieße ich die Lust nur, wenn ich mir die Beziehung zur Geliebten klar vorstelle, wobei ich sie selbst aber doch nicht „genieße“? Oder sollen wir von „Genießen“ nur sprechen bei direkter Lust, und zwar bei direkter und „wahrnehmender“ Lust? Zu betonen ist noch eins: Die immanenten Lustunterschiede, insbesondere die Unterschiede der „Sättigung“ darf man sich nicht, wie es hHermanni Sc hwarz zu tun scheint, konstruieren nach den entsprechenden Wünschen. Es gibt verschiedene Richtungen, nach denen in der Freude „Uneigentlichkeiten“ der Intention enthalten und Erfüllungen möglich sein können. Jede Richtung, in der Mängel der Fülle bestehen, also die Freude an „Fülle“ zunehmen kann, ergibt Möglichkeiten für Wünsche; in all diesen Richtungen nähere ich mich,
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Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg. Nicht zu verwechseln Genuss und Lust am Genuss (Genießen, Freude am Genießen). 2
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könnte man aber sagen, der „Ausweisung“, und das gehört nicht zum Wunsch und steht zu ihm nicht in Parallelismus. Also das ist nicht korrekt. Was gibt die Einheit, wenn man mit Schwarz definiert (wenn ich 5 mich recht entsinne): Satt ist ein Gefallen, das kein Wünschen mehr ermöglicht, unsatt, wenn es für Wünsche Raum lässt?
Nr. 29 h Wor in b esteht der U nterschied zwis chen exi stenzi al en und nic ht- exi stenzi al en G efühlen? i1 5
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Ich hatte zu unterscheiden gesucht: existenziale und nichtexis tenzial e G efühl e. Auf nicht-existenzialer Seite stehen zunächst die Gefühle „in der Phantasie“. Schalten wir aber gemäß der Unterscheidung zwischen Impressionen und Einbildungen die Einbildungsgefühle aus, so kämen unter den impressionalen Gefühlen hier in Betracht alle Gefühle von Art der ästhetischen, wofern sich bei der Analyse nicht etwa herausstellen sollte, dass ihre Gegenstände Wahrgenommenheiten sind. Worüber freue ich mich bei der Lektüre eines Romans, eines Gedichtes, bei der Aufführung eines dramatischen Werkes? Natürlich finden wir hier allerhleii Einbildungsgefühle bzw. Gefühle innerhalb der eigentlichen Bildlichkeit. So unsere Anteilnahme mit dem Helden etc. Aber das ist nicht das ästhetische Gefühl, nämlich z. B. das ästhetische Gefallen am Kunstwerk. Ist es Freude am Rhythmus dieser Gefühle: Ist das das eigentlich Wertgründende? Aber beschäftigen wir uns in der Betrachtung des Kunstwerkes mit unseren Gefühlen, nämlich als unseren Erlebnissen? Nun dann hätte ja die Freude, wie jede Freude im existenzialen Sinn, existenziale Objekte: die psychischen Erlebnisse des ästhetisch Betrachtenden. Oder handelt es sich um Freude an idealen Objekten, die selbst schon Wertobjekte (aber in der „Idee“) sein mögen, und besteht der Unterschied zwischen existenzialen und nicht-existenzialen Gefühlen darin, dass die einen Freude an individuell Seiendem hhabeni (hani Daseiendem, Existierendem im engeren Sinn, das zur Gegebenheit nur kommen kann durch Wahrnehmung, im anderen oder höheren Sinn eventuell auch schon hdurchi Wertnehmung), während die anderen ideale Objekte, und zwar ideale Existenzen haben, somit einer Ideation zur Grundlage bedürfen? Dann würde dahin gehören, die Freude an der Geltung einer Theorie, die Freude an der „Wahrheit“, ebenso die Freude,
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die fundiert ist in Idealitäten jeder Art, Erscheinungen als solchen (Perzeptionalien) etc. In dieser Richtung ist also weiter zu forschen.
Nr. 30 h Die Be st im m ung der G efühlsmodi durch di e M odi des i m pressi onalen Aktesi1
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Lust bzw. Gefallen am Wirklichen. Genauer: Lust mehr gebraucht für Objekte und Bestimmungen von Objekten, die Lust begründende sind, und hinsichtlich der Objekte auch vermöge innerer Bestimmungen, die Lust begründende sind. Dabei kann das Objekt „gegenwärtig“ sein: Die Lust ist fundiert durch eine Wahrnehmung, oder sie ist fundiert durch eine Erinnerung an das auch als jetzt seiend angesetzte Objekt, und zwar schlicht, wie wenn ich den Rohns mir vergegenwärtige; also eine impressionale Vergegenwärtigung als fundierender Akt. Ebenso Lust in der Erwartung, wieder als impressionale Vergegenwärtigung von Künftigem; wieder in der Verbildlichung, halsi setzende Analogisierung von Künftigem, Vergangenem oder Gegenwärtigem (aber nicht Wahrgenommenem); weiter in der leeren Vergegenwärtigung oder Verbildlichung von zeitlich Seiendem. Freude bezogen auf Sac hverha l te, dass A ist oder so beschaffen ist, dass A so beschaffen war etc. Dabei haben wir beiderseits Unterschiede des Gefühls, bestimmt durch den Modus des impressionalen Aktes: a) Modus der Gewissheit: schlichte „Gewissheitssetzung“; Sachverhaltssetzung „gewiss“. Gewissheitsbewusstsein und Gewissheit als Modus des Kategorialen; b) Modus der Vermutung, der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, während doch Gegenanmutungen mitspielen. Hinblick auf das „Übergewicht“ an „Gründen“, Hinblick auf die Gegen-Anmutlichkeiten. Das gibt Unterschiede des Gefühls. Gefühlsgewissheit: reine Lust, reine Freude, fundiert in der intellekthiveni Gewissheit des wertgründenden Sachlichen. Den Modi der Vermutung bzw. Anmutung entsprechen Modi der Lust. Aber was ist das, „reine“ Freude? Es ist hier Freude, der nichts von „Sorge“ (Furcht) beigemengt ist. Und diese Beimengung hat „Grade“, sofern den Wahrscheinlichkeiten entsprechend mehr oder weniger gegen das „Erhoffte“ sprechen kann. Die Freudengewissheit
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hat also eine Art der Minderung, Beeinträchtigung, die durch die Gegeninstanzen hervorgebracht wird, und wir haben dann ein Doppelgefühl, einerseits Hoffnung im Hinblick auf die überwiegenden Chancen für das Sein des Gefälligen und auf der anderen Seite Furcht in Beachtung der Gegeninstanzen. Die Hoffnung richtet sich dann auf das Sein, die Besorgnis auf das Nichtsein. Diese graduellen, obschon nicht gerade stetigen Unterschiede (starke, nicht gerade lebhafte, und schwache Hoffnung und Furcht) sind phänomenologisch nicht einerlei mit den früher beschriebenen Sättigungsunterschieden. Es ist ferner zu beachten, dass die Hoffnung ihre Dimension hat, die sich nach den Chancen orientiert, aber dass sie „klare“ Orientierung (vernünftige Orientierung, könnte hmani schon sagen) nur hat, wenn sie sich auf die deutliche Vergegenwärtigung und Abwägung der Chancen gründet, während im vagen Hoffen eine unbestimmte Vermutung, ein unbestimmtes Für-überwiegendwahrscheinlich-Halten zugrunde liegen mag und die Hoffnung nun eine verworrene Größenmeinung hat. c) Auch an die Modi des Zweifelns, der zwischen Sein und Nichtsein schwankenden Ungewissheit ohne bestimmtes Übergewicht für die eine Seite, ist zu erinnern, und auch sie bestimmen einen Modus der Lust bzw. Freude, oder sagen wir lieber, des Gefühls. So wie wir „theoretisch“ ein „Schwanken“ zwischen schlichter Setzung, Aufhebung, Zustimmung zur früheren Setzung, Wiederaufhebung oder Zustimmung zur Aufhebung haben, so gefühlsmäßig ein Schwanken; und wie dort die Setzung keine wirkliche Setzung ist, sondern Neigung und Aufhebung wieder Modifikation ist, so hier: Schwanken zwischen Hoffnung und Furcht, wobei das Wort Hoffnung freilich eben nicht passt, da das Wort hinweist auf überwiegende Chancen. Aber jeder theoretischen Anmutung entspricht eine Freudenanmutung.
Nr. 31 h Der Unter sc hie d zwi schen Em pfindungsgefühl, I nhal ts gefü hl und G egenstandsgefühli1
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Das Lust-Erregende weckt Gefallen: Die Speise gefällt, weil sie schmeckt (der Wohlgeschmack gefällt und um seinetwillen das Schmeckende). Das Unlust-Erregende weckt Missfallen: Der Nadelstich missfällt, weil er weh tut, das Missfallen richtet sich nach dem Schmerz. Aber auch umgekehrt: Ein unsittliches Verhalten missfällt, und dem Missfallen folgt der Schmerz der Reue. Die Speise schmeckt schön: Die Speise sei etwa wahrgenommen. Phänomenal eigentümlich einig mit ihr im Phänomen ist das Lustgefühl. Die Speise gefällt als Lust tragende oder Lust bringende. Ich betrachte die Speise mit Gefallen, auch wenn ich satt bin, auch wenn ich nicht wirklich esse, auch nicht einmal hungrig bin (danach also hnichti begehre). Eine als schlecht schmeckend apperzipierte Speise stößt ab, missfällt, auch wenn ich sie nicht essen soll, auch wenn ich nicht hungrig bin und mich durch sie hnichti zu sättigen angewiesen bin. Ich betrachte sie mit Widerwillen. Soll man sagen, zwischen Lust und Gefallen sei der Unterschied der zwischen Empfindung und gegenständlicher Beziehung? Die Lustempfindung wird objektiviert, nämlich auf den Gegenstand, dem sie „zugehört“, bezogen? Die Speise im Essen „erregt Lust“, das Essen, die hervortretenden Geschmacksempfindungen fundieren Essenslust. Die Speise – abgesehen vom Essen – erregt vermöge der sonstigen Wahrnehmungen andere Lust: Augenlust und dgl. Die Speise, die nicht gegessen wird, erregt auch eine empirisch mit der vorigen zusammenhängende Lust: Weil die Speise, wenn sie gegessen wird, Lust erweckt, erweckt sie „Augenlust“ im bloßen Anblick. Die Speise gefällt, die Zuwendung zu ihr ist ein Gefallen, und ich habe an ihr ein „Interesse“. Haben wir eine Zuwendung, die selbst gefärbt ist als lustvoll, sie selbst Trägerin einer Lust, oder ist ein eigener „Akt“ des Gefallens da? Die Speise schmeckt schlecht, sie stößt ab. Das Abstoßen ist die „psychische Unlust“, das Missfallen-an.
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Januar 1910 mit Teilen von 1902. – Anm. der Hrsg.
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Weil die Speise einen üblen Geschmack hat, einen unangenehmen Geruch und dgl., stößt sie ab. Aber der üble Geruch kann mich interessieren und insofern stößt er mich, wo dies der Fall ist, nicht ab, sondern zieht mich an. In sich aber stößt er mich ab. Er zieht mich nur an, weil er meine Erkenntnis zu bereichern verspricht. Ebenso missfällt der übel riechende Gegenstand, auch wenn er momentan, während des Anblicks, auf den Geruch gar nicht wirken kann oder faktisch nicht wirkt. Auch hier eine Gefühlsübertragung. Wir unterscheiden also: 1) in sich gefällig und missfällig; 2) durch Übertragung gefällig und missfällig. 1‘) Unmittelbares Gefallen – 2‘) mittelbares Gefallen. Doch da bedarf es größerer Genauigkeit. In s ic h gefällig is t nic ht dassel be wi e unmittelbar gefallend. Um eines anderen willen, um seiner Beziehungen willen gefällig ist nicht dasselbe wie aufgrund unwahrgenommener, appherzeptivi zugedeuteter gegenständlicher Momente und daran geknüpfter Gefühle gefallend. Wir haben zunächst zu unterscheiden: Empfindungslust, Lust am Inhalt, so wie er erlebt ist, und G egenstandslust. Freilich, kann man und darf man so unterscheiden? Was ist Lust am Inhalt? Ist der Inhalt gar nicht objektiviert, so wie er erlebt ist (und muss er denn das immer sein)? Wie steht es dann mit seiner Lust? Ist sie da, mit dem Inhalt irgendhwiei einig und auch nicht objektiviert? Und wenn nun der Inhalt als Repräsentant fungiert? Dann ist doch dieser Inhalt apperzeptiv hineingedeutet in die einheitliche Mannigfaltigkeit der Inhalte und Apperzeptionen. Da hat jeder Inhalt sein Gefühlsmoment. Welches ist das Gegenständliche? Und stören sich die Inhaltsgefühle, die mit dem erlebten Inhalt eins sind, nicht mit den Gegenstandsgefühlen? Nahe liegt es zu sagen: Wi e i n der Kontinuität des Wahrneh mungs zusam men hangs di e In halte ihre Kontinuität haben und di ese Konti nui tät di e gegenständliche Einheit dur ch A pper zepti on i n si ch trägt, so gilt dasselbe von den Gefühls färbungen di eser Inhal te. Jede Eigenschaft des Gegenstandes kommt zur adäquaten Gegebenheit in der Kontinuität ihrer „Erscheinungen“ (wobei gewisse Erscheinungen jeweils bevorzugt sind als die Konstituentien dieser Eigenschaft in vollkommenster Weise gebend). Wir haben, näher überlegt, zu sagen:
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a) Die Gefühlsbestimmtheit ist aktuell gegeben als verknüpft mit dem repräsentierenden Empfindungsinhalt des Gegenstandes. Die Sachempfindung trägt zugleich eine Gefühlsempfindung, beide einig, letztere in der ersteren fundiert, beide apperzipiert, die eine als sachlich konstituierende Empfindung und die andere zur Gefühlsbeschaffenheit. Der Gegenstand erscheint als rot: Ein Rot ist empfunden und ist als Röte des Gegenstandes apperzipiert. Der Gegenstand hat einen angenehmen roten Farbton. Das empfundene Rot ist auch angenehm. Indem die Sachempfindung zur Bestimmtheit des Gegenstandes wird, wird die zur ersteren gehörige erlebte Lust, die Lustempfindung, zur Lust an der Bestimmtheit. Der Gegenstand ist i n si ch gefällig, und zwar vermöge der Bestimmtheit β, zu der das Gefallen speziell gehört. Der ganze Gegens tand heißt gefällig um des Gefallens willen, das zu der inneren Bestimmtheit β gehört. Und in dem jetzigen Fall ist der in sich gefällige Gegenstand wahrgenommen und als gefälliger wahrgenommen, die Lustbestimmtheit fällt selbst in die Wahrnehmung und begründet das Gefallen. (Dass das Gefallen am Gegenstand nicht die unmittelbare Lust ist, cf. im folgenden Punkt.) b) Die Lustbestimmtheit sei dem Gegenstand beigemessen als innerlich fundierte, aber nicht selbst wahrgenommene. Der Gegenstand hat die und die Geschmackseigenschaft, die aber jetzt nicht in die Erscheinung fällt und damit auch nicht der zugehörige Wohlgeschmack. Aber es ist doch zweierlei, dem Gegenstand die Lusteigenschaft des Wohlgeschmacks apperzeptiv hzuizudeuten, eben als eine Eigenschaft, und an ihm gegenwärtig ein aktuelles Gefallen hzui haben um dieser Eigenschaft willen, die jetzt nicht aktualisiert ist. Der Apfel gefällt mir um seines Wohlgeschmacks willen, den ich ihm einlege, aber nicht erlebe und wahrnehme. Und auch wenn ich ihn esse, so steht einerseits der Geschmack und der Wohlgeschmack als seine Eigenschaft da, und andererseits gefällt er mir „um des Wohlgeschmacks willen“. Der Raucher betrachtet seine Havannakiste mit zärtlichem Wohlgefallen, aber etwas anderes ist der Wohlgeschmack und seine Zudeutung, die apperzeptiv vollzogen wird. Der Gegenstand hat in sich bzw. unter gewissen Verhältnissen seines Wirkens Gefühlsbestimmtheiten, die G rundlagen eines Gefallens an ihm sind, um derentwillen er gefällt, und zwar auch, wenn er nicht in diesen Verhältnissen aktuell wirkt. Das Gefallen bezieht sich
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aber darauf und „bestätigt“ sich, wenn sie hergestellt werden, oder enttäuscht sich. Die Gefühlsbeschaffenheit kommt wie die konstitutive Beschaffenheit des Gegenstandes zum adäquaten Bewusstsein in der Kontinuität der mit den konsthitutiveni Beschaffenheitserscheinungen zum Bewusstsein kommenden Gefühlserscheinungen: Es kommen zum wirklichen Gegebensein die zu den repräsentierenden Inhalten gehörigen Gefühle, die aber in ihrem empirischen Zusammenhang eine apperzeptive Einheit haben, also nicht als Inhaltsgefühle, als verstreute Mannigfaltigkeiten von vereinzelten Gefühlen gelten, sondern eben eine Gefühlsbeschaffenheit des Gegenstandes zur Erscheinung bringen.1 Doch wird sich die Gefühlsbeschaffenheit nicht nach den einzelnen sachlichen Beschaffenheiten sondern, trennen, vielmehr können Komplexionen von Beschaffenheiten ein einheitliches Gefühl fundieren, wenn dieses auch in den Gefühlen der einzelnen Beschaffenheiten dann zuunterst fundiert sein wird. Im Übrigen haben wir so, wie hwiri in sachlicher Beziehung von einem Erscheinungsrelief gesprochen hhabeni, auch in h edonischer B ez iehung von ei nem Erschei nungsrelief zu sprechen. So wie die Rückseite im eigentlichen Sinn nicht erscheint und doch im uneigentlichen Sinn als gegenwärtig in der Wahrnehmung apperzipiert wird, also das ganze Objekt „selbst dasteht“, so hat das Objekt eine Gefühlsbeschaffenheit auch hinsichtlich der nicht in hdiei Erscheinung fallenden Gefühle. Das Veilchen gefällt mir; wesentlich gehört zu diesem Gefallen die Geruchslust, die ich aber jetzt, wo ich das Veilchen sehe und nicht zur Nase geführt habe, nicht aktuell erlebe. Sachlich haben wir zu unterscheiden: 1) den Gegenstand für sich und die Phänomene, in denen er sich „konstituiert“; und 2) die mannigfaltigen Beziehungen, in die der Gegenstand empirisch verflochten ist und die ihm seine empirischen Bestimmtheiten verleihen (bzw. die Vorstellungsmannigfaltigkeiten, die für diese relationellen Bestimmtheiten konstitutiv sind). Ebenso kommen dem
1 Gegenständliche Gefühlsapperzeption in Analogie gefasst mit der empirischen Empfindungsapperzeption (Wahrnehmung).
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Gegenstand Gefühlsbestimmtheiten zu, in denen er apperzipiert wird, welche auf seinen Beziehungen zu anderen Gegenständen gründen, auf seinem gefühlswirkenden Verhalten im gegenständlichen Zusammenhang, auf dem, was er an Gefühlen zu erwecken vermag, wenn er mit anderen Gegenständen so und so verknüpft wird oder wenn er so und so verändert wird, dann in die und die Lage zum fühlenden Subjekt gebracht wird usw. Gefallen am Apfel mit Beziehung darauf, dass er die Eignung hat, wenn er gegessen wird, die und die Lust zu erwecken etc. Also c): Ist eine Gegenstandsapperzeption (ein vorstellendes und Gemütsbewusstsein vom Gegenstand) so geartet, dass ihr gemäß der Gegenstand mit „Gefühlsbestimmtheiten“ ausgestattet ist, also bewusst ist als ein solcher, der innere Bestimmtheiten α hat oder Wirkung β übt, die gefühlsbetonte sind, Gefühlscharaktere fundieren, dann begründet dies ein Gefallen an ihm, ein auf ihn bezogenes gegenwärtiges, und, wenn er gesetzt ist, impressionales Gefühl. Und das gilt, ob es sich um Wahrnehmung oder Erinnerung oder um Leervorstellung und Setzung des Gegenstandes handelt. Den „Lustbetonungen“ an den vorgestellten gegenständlichen Bestimmtheiten α entspricht das Gefallen am Gegenstand als dem, der die α hat. Der Apfel hat, wenn er gegessen wird, einen Geschmack, und dieser Geschmack ist angenehm, ich fühle diese Annehmlichkeit im Essen. Stelle ich den Apfel vor als den Geschmack, und zwar den annehmlichen Geschmack habend, so gefällt er, der Apfel, mir. In diesem Sinn ist jedes Gefallen am Gegenstand Gefallen um gewisser Annehmlichkeiten willen, er gefällt um dessentwillen, dass er Bestimmtheiten α hat, die lustvolle sind. Andererseits ist das Gefallen unmittelbares Gefallen, sofern der Gegenstand nicht um der Beziehungen zu anderen Gegenständen und der Gefühle willen, die zu diesen gehören, gefällt. Ich sagte freilich oben, in sich gefällig und unmittelbar gefällig sei nicht einerlei. Aber wenn ich hier das Wort Gefallen ausschließlich auf den ganzen Gegenstand beziehe, dann muss ich so sagen, wie ich soeben gesagt habe. Das „in sich gefällig“ bzw. das Gefallen um innerer gegenständlicher Momente willen ist natürlich ein mittelbares vom Standpunkt des Gefühls; das Gefühl, das sich auf den Gegenstand bezieht, gründet hier in Gefühlen, die sich auf Momente des Gegenstandes unmittelbar beziehen. (In diesem Sinn sagen wir parallel:
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Eine schlichte Wahrnehmung ist als Wahrnehmung schlicht, obschon sie Empfindung voraussetzt und sich darauf baut.) Zu beachten ist hier auch Folgendes: Es ist notwendig, terminologisch zwischen der Lust am Empfindungsinhalt (Gefühlston), Lust am gegenständlichen Merkmal und Lust am Gegenstand selbst zu unterscheiden. Für das erste haben wir den Terminus Gefühlston, doch sagen wir deutlicher Empfindungsgefühl. Hinsichtlich des Gegenstandes haben wir dann Inhaltsgefühle, Gefühle, die zum gegenständlichen Inhalt gehören, und Gefallen als das Gefühl am Gegenstand um der Inhaltsgefühle „willen“. Zu beachten ist, dass das Gefallen am Gegenstand natürlich ein Neues ist gegenüber dem Lustgefühl, das zum betreffenden Inhaltsmoment gehört. Es ist nicht etwa bloß der Gegenstand mit diesem Inhalt und Inhaltsgefühl vorgestellt, sondern er gefällt um dessentwillen selbst. Dabei ist offenbar ein Unterschied, ob wir dem Inhalt zugewendet sind und im Inhaltsgefühl leben oder ob wir dem Gegenstand zugewendet sind und im Gegenstandsgefühl, dem Gefallen an ihm, leben. Im Übrigen haben wir einen Grundfall evidenter Gefühlsmotivation: das Gefallen am Gegenstand, motiviert durch das Lustgefühl, das sich auf den gegenständlichen Inhalt, auf irgendein Bestandstück davon bezieht. Offenbar kann der Gegenstand in einer Hinsicht gefallen, in der anderen missfallen: Hinsichtlich der Gestalt ist er missfällig, hinsichtlich der Farbe „schön“ und dgl.
Nr. 32 h Die Fundier ung ei nes G efal l ens in der Materie der Vors tel l ung. D i e Bestimmung des Char akters des G efallens und B egehrens durch di e Setzungscharaktere i1
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Wir unterscheiden: 1) interesseloses, 2) interessiertes Gefallen und Missfallen, je nachdem eine „Entscheidung“, irgendein Setzungscharakter in Bezug auf Sein und Nichtsein des Vorgestellten für das Gefallen fundierend in Frage kommt. ad 1) hα)i Interesselos kann ein Gefallen insofern sein, als es rein die Weise der Darstellung des Gegenstandes (oder Sachverhalts) in der Vorstellung (oder hini dem Vorstellungszusammenhang) ist, welche das Gefallen am Gegenstand begründet, dessen Existenz oder Nicht-Existenz also gleichgültig ist. So beim ästhetischen Gefallen. Es kommt nicht darauf an, dass der Gegenstand ist, auch nicht, was er ist; also der konstitutive Gehalt des Gegenstandes, der da vorgestellt ist (und der sich in der „Materie“ der Vorstellung phänomenologisch konstituiert), ist nicht als solcher das Gefällige. Derselbe (mit genau denselben Bestimmtheiten vorgestellte) Gegenstand kann sich einmal so und ein anderes Mal anders darstellen, und die Weise der Darstellung bedingt das ästhetische Gefallen. In einer Darstellung wirkt er ästhetisch (die Vorstellung ist eine ästhetisch wirksame), in jeder anderen ästhetisch missfällig oder ästhetisch gleichgültig. ß) Gibt es auch ein uninteressiertes Gefallen, das durch die Materie der Vorstellung, aber nicht wesentlich durch die Darstellung bestimmt ist? Ein Haus gefällt mir: Es ist weiträumig, in jeder Hinsicht zweckmäßig, es ist schön und schön gelegen. Aber die Schönheit besagt hier ein konstitutives Prädikat: Das Haus ist vorgestellt als so gebaut, dass es von einem gewissen Standpunkt einen „schönen Anblick“ bietet. Das Haus gefällt ästhetisch, das Haus gefällt aber auch, weil es, wie den Zwecken der Nützlichkeit, so auch denen eines ästhetischen Genusses gemäß gebaut ist und unter anderen guten Eigenschaften auch mit dieser vorgestellt ist. Und es ist ferner mit der Eigenschaft vorgestellt, dass man von ihm aus einen schönen 1
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Blick auf die Landschaft hat. Ist das Wohlgefallen am Haus ein uninteressiertes? Mir kommt es, indem ich es sehe und all das konstatiere, nicht auf Sein oder Nichtsein an. Stelle ich mir ein solches Haus vor, so ist mit der Vorstellung Gefallen (an dem so und so beschaffenen Gegenstand) verknüpft, unabhängig von Sein oder Nichtsein. Aber denke ich mich nicht in den Besitz hinein? Die Nützlichkeiten sind vorgestellt, sie setzen voraus jemanden, für den sie aktuell nützlich sind. Ich habe Gefallen nicht unter der Hypothese, dass ich Besitzer wäre, sondern der Gegenstand gefällt, weil er geeignet ist, so und so zu nützen. Ein edler Mann: Er gefällt mir durch das, was er ist, und stelle ich mir einen so und so beschaffenen vor, dann habe ich aufgrund der Vorstellung ein Gefallen. Ich kann mich darüber freuen, dass so ein Mensch wirklich existiert, um seiner selbst willen (weil er mir gefällt, freue ich mich, dass er ist) oder um anderer willen; aber das Gefallen an ihm geht dem „Gefallen“ daran (der Freude), dass er existiert, voraus. 2) Somit scheint in der Tat ein Gefallen fundiert zu sein durch die Vorstellung im Sinn der „Materie“,1 in der sich der Inhalt des Gegenstandes konstituiert. Und andererseits kann die Qualität,2 näher der Setzungscharakter, bestimmend sein für ein Gefallen bzw. für das Begehren. Freude, dass A ist (gewiss ist, wahrscheinlicherweise ist, hoffentlich ist), besser: satte Freude, dass A gewiss ist; minder satte: Wahrscheinlichkeit. Verlangende Freude: Hoffnung. Unsattes Verlangen: Wunsch ohne Hoffnungsfreudigkeit. Schmerzliches Verlangen: Wahrscheinlichkeit, dass hAi nicht ist, Gewissheit, dass hAi nicht ist. Satte Unfreude: Hoffnungslosigkeit. Zweifel: Gefühlszweifel – Langen und Bangen. Immer Setzungscharaktere: positive oder negative Gewissheit, Glaubensneigung (Anmutung), mehr oder minder lebhafte Vermutung, bloßes Möglichkeitsbewusstsein, Zweifel. Vollziehe ich die hypothetische Setzung „Gesetzt, es sei A“, dann ist hdasi eine Freude unter Assumtion. Kann man annehmen, dass in jedem Begehren (im weitesten Sinn) entweder eine Freude vorliege
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Aber nicht bloß Bedeutungsmaterie, das Wahrnehmungsmäßige etc. histi mit dabei und hdasi für die Sättigung Bestimmende (die Fülle). 2 Auch der Modus, das erkenntnismäßige Wesen.
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oder eine Freude unter Assumtion eingeschlossen sei? Zum Beispiel, ich weiß, dass ich keine große Hoffnung habe, ein gestelltes Ziel zu erreichen, ich wünsche es; es ist vorgestellt, und darauf, dass es sei, geht der Wunsch.1 Ist die Vorstellung, dass es sei, in Form einer 5 Assumtion gesetzt und nun die Unterlage des Wunsches eine Freude unter Assumtion? Öfter vollziehen wir dies und eben damit unausweichlich die Einfühlung in die Lage der Wunscherfüllung. Aber die Wunschintention schließt nicht die Vorstellung der Wunscherfüllung ein. Das müsste aber sein, wenn die erfüllende Freude vorgestellt 10 oder auch nur assumiert wäre. Vorgestellt ist das A-Sein, dabei aber bewusst: Ungewissheit, ob A ist, Vermutlichkeit, Sicherheit, dass A nicht ist und dgl. (Setzungscharakter). Muss man nicht annehmen, dass zugrunde liegt ein Gefallen an der „Materie“ (und Fülle)? Der Gegenstand, das Ereignis, der gegenständliche Zusammenhang usw., 15 dessen Sein in Frage ist, muss mir (in sich oder um eines anderen willen) gefallen. Dieses Gefallen begründet mit das Wünschen, das Sich-Freuen etc. unter Sukkurs der Seinscharaktere, die wesentlich den Charakter des Begehrens bestimmen.2
1 Der Wunsch geht auf ein Sein, z. B. den Apfel hzui essen. Aber dass das sei, braucht darum nicht vorgestellt zu werden. Die Erfüllung des Wunsches vollzieht sich im Seinsbewusstsein in der betreffenden Setzung, Wahrnehmung, Überzeugung etc. 2 Aber wie? – Sättigungsverhältnisse.
Nr. 33 Voll kom m enhei tsgrade der Sät ti gung ei nes Wunsches und hdie der unterschi edl ichen Höhe des Genus swertes entsprechenden i Gr ade d er erfül l enden Freude1
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hHermanni Schwarz’ Beispiel: Ich habe den Wunsch nach einer Zigarre und rauche eine mäßige Sumatra. Ein andermal verhält es sich ebenso, aber ich rauche eine Havanna. Kann ich nun sagen (das führt wohl alles Sc hwarz selbst aus), die letztere sättigt, sie ist ja „besser“, den Wunsch mehr? Nein. Im einen wie im anderen Fall kann ich vollkommen befriedigt sein: Wofern ich natürlich im ersteren Fall nicht an den edlen und besonderen Genuss einer Havanna gedacht habe, sondern einfach das Bedürfnis hatte, zu rauchen. Andererseits kann es sein, dass ich rauche und bin nicht befriedigt. Die Zigarre finde ich schlecht, nicht „besonders“. Es fehlt etwas. Ebenso beim Essen. Nun ich kriege Essen, der Hunger wird befriedigt, dieser „Mangel“ wird erfüllt, aber das Essen hat „keinen rechten Geschmack“, das Geschmacksbedürfnis ist nicht befriedigt. Je länger ich esse und je mehr der Hunger befriedigt wird (also je geringer noch das Hungerbedürfnis ist), umso stärker tritt der Mangel in der anderen Richtung hervor. Hier haben wir einen komplexen Wunsch, der auf ein einheitliches Objekt mit verschiedenen Seiten geht, also histi auch die Erfüllung eine komplexe. Wenn nach allen Seiten Befriedigung statthat, und zwar volle, so ist der komplex-einheitliche Wunsch erfüllt. Hier haben wir stetige oder schrittweise Befriedigung. Der Hunger ist nur durch einen Vorgang zu befriedigen, durch „Essen“, und jeder Schritt ist partielle Befriedigung. Und jede Unterbrechung ist unlustig. Während des Essens besteht immerfort Wunsch und Befriedigung, jeder Bissen wird verlangt und erfüllt Verlangen, aber die Erfüllung lässt den Wunsch nach neuen Bissen offen. Zum Schluss wird nichts mehr begehrt, reine Befriedigung mit seinem Wohlgefühl ist da. 1
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Aber wenn das Essen auch trefflich schmeckt, würde ein besseres Essen, das noch besser schmeckt, den Wunsch nicht vollkommener erfüllen? Und wenn die Zigarre so gut ist, so gut schmeckt, dass man an eine bessere gar nicht denkt, würde die bessere nicht noch besser das Bedürfnis stillen? Und wäre die Freude nicht eine sattere in der Befriedigung? Wir müssen scheiden: 1 ) D i e Erfül l ung ist eine satte, so wie z u w üns c hen nic hts m ehr übri g bl ei bt. 2 ) Von der Erfüllung is t zu unter sc heiden di e Werthöhe der erfüllenden Lust. Man kann vielleicht sagen: Wenn ich nach Essen begehre, so richtet sich das Begehren nicht auf Essen überhaupt, als ob das Rattenessen, das einem Chinesen passen könnte, auch mir passen könnte, als mitbeschlossen im ganz allgemeinen Begriff des Essens, sondern: Es ist zwar unbestimmt begehrt „ein Essen“, aber ein Essen von einer verschwommen begrenzten, aber immerhin nicht unendlichen Sphäre. In diese Sphäre gehört nicht ein lukhullischesi Diner und ebenso wenig ein Rattenessen. Andererseits gibt es doch auch Güteunterschiede in jener Sphäre, aber diese verschwinden gegen den allgemeinen Wunsch, irgendetwas aus dieser Sphäre zu bekommen. Es kommt auf diese Unterschiede für diesen Wunsch nicht an, er hat es auf keinen dieser Unterschiede besonders abgesehen. Eine Sättigung ist da, sowie dieser Wunsch, der also auf irgendein Essen (ein „annehmbares“ Essen) geht, erfüllt ist. Folglich ist die Sättigung des Wunsches (die Wunscherfüllung) dieselbe, welches Essen immer mir aus dieser Sphäre dargeboten wird. Aber die Lust am Essen ist keineswegs dieselbe, sie ist im einen Fall größer, im anderen kleiner. Das Essen ist mir werter: Der Wert des Essens, sein Genusswert, ist eines (meine Lust, subjektiv gesprochen, ist eines), und ein anderes ist die Erfüllungsfreude des Wunsches. Natürlich ist das Gesamtergebnis, Geschmackslust und Erfüllungsfreude, im einen Fall größer, im anderen kleiner. Ich wünsche „Geld für eine Reise“. Also eine Summe von einigen hundert Mark. Zehntausend wäre mehr und damit könnte ich ja großartigere Reisen machen. Aber soweit geht mein Wunsch, obschon er unbestimmt auf „Geld“ gerichtet ist, nicht. Ich würde mich mit der schöneren Reise mehr freuen, die Weise, wie mein Wunsch sich erfüllte, wenn mir die große Summe zu diesem Zweck zufiele, wäre eine schönere.
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Aber die Erfüllungsfreude als solche wäre vollkommen gesättigt da mit einer jener mäßigen Summen, die eben der Wunsch „meinte“. Andererseits muss man sagen: Die Freude bei der Erfüllung hängt überall ab von der Schönheit des Erfüllenden, mag diese Schönheit 5 mitgewünscht sein oder nicht. Insofern haben wir bei jedem Wunsch eine andere Höhe der Freude der Erfüllung. Aber ist der Wunsch gesättigt, so ist er eben gesättigt, mag es sich um welche Ziele immer handeln. Die Sattheit als solche ist überall dieselbe.
Nr. 34 hUnter sc hiede der Rei nhei t und Unreinheit der Gef ühle. D er Charakter der Gefühle fundi ert i n den G ewi ss heitsmodi und den M odi der Anschaul i chkeit der unter li egenden Vorstel lung. Die W esens bezieh ung von Wunsch und Freudei1
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Wir unterscheiden re i ne Freude, reine Lust, die nichts von Unfreude, nichts von Unlust, nichts von Missfallen mitverschmolzen hat, von unrei ner. Ebenso kann eine Unfreude, eine Unlust, ein Missfallen rein sein. Freude gründet sich auf Vorstellungsimpression (Lust, positive und negative Gefühle überhaupt), und zwar auf schlichte oder synthetische, auf prädikativ gefasste oder nicht hprädikativ gefasstei. In dieser fundierenden Sphäre haben wir die modalen Unterschiede der festen Gewissheit und die Stufenreihe der Vermutungen mit ihren Gegenanmutungen. Damit hängen Unterschiede der Reinheit und Unreinheit zusammen hinsichtlich der Gefühle. Reine Lust, reine Unlust setzen Gewissheit ohne Bewusstsein von Gegeninstanzen voraus. Reine Freude und Wunsch schließen sich aus, ebenso reine Unfreude, reine Unlust. Also in diesem Sinn reine Gefühle sind mit Wunsch unverträglich. Fr eude und W unsc h stehen i n Wesensbeziehung. Wunsch als Vermissen (und dann weiter Langen-nach) der Freude ist auf Freude „gerichtet“, er ist in gewissem Sinn Intention auf Freude. Und diese Intention „erfüllt“ sich in der entsprechenden Freude, er findet in ihr seine Befriedigung, wobei der Prozess der Befriedigung Wunsch in Freude überführt und dabei der letzteren den Charakter der den vorangegangenen Wunsch befriedigenden verleiht. Demnach haben wir aber graduelle Unterschiede in der Wunschbefriedigung. Nämlich die Befriedigung ist eine Modifikation des Wunsches, die schon eintritt hinsichtlich des auf Gewissheit des Nichtseins fundierten Wunsches, wenn statt der reinen Freude eine entsprechende, aber 1
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nicht völlig reine, eintritt, aber die Befriedigung ist dann selbst eine „unreine“, das heißt, es ist dann nicht nur eine unreine Freude, sondern auch ein unreiner Wunsch da. Der Wunsch hat sich nicht in der Befriedigung aufgelöst, so dass er nun kein Wunsch mehr ist (nämlich sofern zu wünschen nichts mehr übrig bleibt), vielmehr besteht die Unvollkommenheit der Befriedigung darin, dass hderi Wunsch noch fortbesteht in Verschmelzung mit unreiner Freude, und zwar so, dass die Komponenten der Unfreude den langenden Wunsch als Vermissen noch tragen. Nun ist freilich die Rede von unreiner Freude nicht so zu verstehen, wie es oben das Wort Lust nahelegt, als ob eine Verbindung von reiner Freude mit reiner Unfreude da wäre, ein bloßes Gemisch. Vielmehr besteht gar keine reine hFreudei und gar keine reine Unfreude. Vielmehr: Während reine Freude in der zweifellosen Seinsgewissheit gründet und selbst einen entsprechenden Charakter sozusagen der Freudengewissheit hat, ist unreine Freude bloße Freudenanmutung, vermischt oder verbunden mit Unfreudenanmutungen, bezogen auf dieselbe Sachlichkeit. Überwiegt dabei die eine Seite, besteht positiv überwiegende Vermutung für eine Seite, so „überwiegt“ auch die Freudenanmutung für diese Seite, und das ganze Phänomen hat den Charakter einer Freude, aber einer unreinen, oder besser: den Charakter einer „Freudenvermutung“, die einen positiven, mit der Freudengewissheit verwandten Charakter hat, mit der aber verbunden sind und verbunden bleiben Unfreudenanmutungen, die ihrerseits mit Unfreude schlechthin qualitative Verwandtschaft haben. Demnach gibt sich das Ganze als „unrein“. Soweit nun Unfreudenanmutungen mitgegeben sind oder gar Unfreude schlechthin, nämlich soweit das Gewissheitsbewusstsein des Nichtseins besteht oder ein Anmutungsbewusstsein von Nichtsein, und zwar von solchem, das einbildungsmäßig als lustvoll, „erfreulich“ und dgl. dasteht, soweit hat der Wunsch noch ein Fundament. Sein Vermissen ist umso satter sozusagen, je mehr auf Nichtsein weisende Komponenten da sind. Aber noch nach einer anderen Richtung bestimmt der Charakter der unterliegenden Vorstellung die darin fundierte Lust und Unlust. Vorhin hatten wir die Modifikationen der Gewissheit in Betracht gezogen, jetzt können wir die Modi der Ansch aulichkeit in Erwägung ziehen. Freude am gegenwärtigen Sein oder vergangenen
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Sein: Die Gegenwart kann wahrnehmungsmäßige Gegenwart sein, und dabei können die Lust fundierenden Wahrnehmungsmomente besser oder minder gut zur Darstellung kommen bzw. die lustvollen Sachmomente gar nicht in die Wahrnehmung fallen. Ebenso: Die „Erinnerung“ kann für die Wahrnehmung eintreten und bezüglich der Vergangenheit die klare Erinnerung oder die dunkle etc. Das bestimmt Unterschiede in der „Vollkommenheit“ der Freude und wieder in der Vollkommenheit der durch sie zu leistenden Wunschbefriedigung. Der Wunsch geht in der Regel auf eine Komplexion. Dann kann vom Erwünschten mehr oder weniger eintreten bzw. sich als seiend (in Gewissheit oder Anmutung) herausstellen. Nehmen wir etwa den Modus der Gewissheit: Dann ist der Wunsch einem Teil nach erfüllt und diesem nach eventuell rein erfüllt, dem anderen Teil hnachi noch unerfüllter Wunsch. Eventuell kann ein Teil eintreten und anstatt eines anderen Teiles oder eines zu ihm gehörigen gefühlsgründenden Moments ein anderes, gar ein Unlust gründendes heintreteni: Wunschbefriedigung und -enttäuschung vermengt. Ist das Erfreuende nicht nach dem Lust-Gründenden reell gegeben – in der Wahrnehmung bzw. der Erinnerung, überhaupt in der wirklichen Gegebenheit, die jeweils gefordert ist –, so ist die Freude ungesättigt, in gewisser Weise leere Antizipation (obschon wirkliche Freude). Erst die wirkliche Gegebenheit der Sachgrundlage (als Gefühlsgrundlage, soweit sie das ist) gibt gesättigte Freude, und es gibt in dieser Hinsicht mögliche Grade der Sättigung, graduelle Unterschiede der Fülle, Grenzfälle auf der einen Seite, Mangel jeder Fülle überhaupt, dann Unterschiede des Umfangs der Fülle und der Intensität. Setzen wir reine Freude voraus, die nichts von Unfreude (von Unlustkomponenten) in sich gemengt hat, kein „Vermissen“ histi. Vergleichen wir zwei reine Freuden, so kann es kommen, dass die eine „größer“, die andere „kleiner“ ist, die eine „reicher“, die andere „ärmer“, die eine lebendiger, intensiver, stürmischer, die andere das Gegenteil. Verglichen werden können nun 1) zwei Freuden, die auf dieselbe Sachlichkeit gehen. Dann kommen die obigen Unterschiede der Sättigung und des Umfangs in Betracht. Verglichen werden können auch 2) Freuden, die auf verschiedene Sachlichkeiten gehen: gleichartige,
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ungleichartige, quantitative Unterschiede, qualitative Unterschiede – „niedere und höhere Lust“. Theoretisches Vergleichen und dieses Vergleichen: Gefühlswertvergleiche und Bevorzugungen, das Vorziehen. Wie verhält sich das 5 Vorziehen zum Wünschen? Das Bessere vermisse ich „mehr“, wenn ich es nicht habe. Was ist das „mehr vermissen“?
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Vergleiche ich Lust und Lust, die einer kontinuierlichen Lustreihe angehören, z. B. hdeni Geschmack einer Havanna A und ähnlichen Geschmack einer anderen Havanna B. Das, was mir daran besonders lieb ist, der spezifische Havannageschmack, ist bei A in höherem Grad ausgeprägt: Sie ist mir lieber. Das Gefallen folgt der intensiveren Lust hinsichtlich seiner Höhe, bzw. der Wertvorzug. Es scheint, dass wir hier von Steigerungsreihen des Gefallens und der Werte sprechen können. Ich habe in einem Bewusstsein Gefallen an A und Gefallen an B und finde hier wahrnehmend und eventuell urteilend, auf Seiten des B ist das Gefallen gesteigert und im Übergang von B zu A gemindert. Nehmen wir jetzt das universelle Gebiet des Geschmacks. Ich nehme etwa Tabakspfeife und Zigarre oder Zigarren, die im Geschmack sehr different sind. Kann ich da auch Steigerungsreihen konstruieren und eventuell sagen, sehr viele Geschmäcke stehen an Lusthöhe gleich, und demgemäß ist das Gefallen an den zugehörigen lustbringenden Gegenständen gleichstehend? Ebenso, wenn ich nehme Geschmack am Rauchen und Geschmack am Essen usw. Dann weiter, wenn Gefallens- und Lustarten aus ganz anderen Gebieten zusammengenommen werden, so genannte sinnliche Lust und höhere, „geistige“ Lust. Sollten da bloß Steigerungen, die in den Lustcharakteren (nicht die Lustmaterie, welche notwendig zu den Lustcharakteren gehört) gründen, vorliegen? Etwas Intensitätsartiges? Aber wenn wir Lust und Schmerz zusammennehmen und nun sagen, Lust sei vorzüglicher als Schmerz überhaupt, zum Beispiel in der sinnlichen Sphäre hseii jede rein sinnliche Lust besser als jeder rein sinnliche Schmerz, da kann man doch nicht von einer bloßen Intensität sprechen, man kann die Lust als solche nicht halsi ein Intensiveres als irgendeinen Schmerz bezeichnen.
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Haben nicht Lüste Intensität und lassen sie sich nicht wenigstens gruppenweise nach Intensität ordnen? Zum Beispiel Lust am Rauchen, intensiver und minder intensiv, „satter“ und minder satt. Ebenso haben dann aber auch Schmerzen Intensität. Und je größer 5 die Intensität des Schmerzes ist, umso schlechter ist der Schmerz. Intensivere Lust ist besser als minder intensive. Aber intensiverer Schmerz ist schlechter als minder intensiver. Und wo Intensität überhaupt allein in Frage ist (z. B. in sinnlicher Sphäre), da ist die Reihe nach der Vorzüglichkeit geordnet eine – ∞ …… 0 ……+ ∞. Dagegen 10 haben wir zwei durch den Nullpunkt verknüpfte Reihen der Intensität und zwei Qualitäten Lust und Schmerz, und zu jeder gehörig eine eigene Intensitätsreihe, nur dass der Nullpunkt der beiden Intensitäten identisch derselbe ist.
Nr. 36 hD as G efal l en des Besseren. Das Vorz iehe n al s G efal l en zweiter Stufe. Sinnl ic he und ästheti sche Werte i1 2 5
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Wie steht es mit den Kontrastverhältnissen zwischen bess er und minder gut? Ich rauche eine Zigarre, sie schmeckt mir, und nun kommt mir eine Kiste mit echten Havannas in die Hand, und auf einmal habe ich ein Begehren nach der besseren Zigarre. Oder ich esse eine Speise mit Lust und man bietet mir eine andere, bessere an. Vergleich des Genusses einer gewöhnlichen Zigarre mit dem Genuss einer „echten“: Diese schmeckt edler. Ich fühle mich sinnlich kannibalisch wohl, und nun wird der Gedanke an einen höheren Genuss, etwa einen Kunstgenuss, irgendhwiei in mir erweckt, und nun genügt mir das „kannibalische Wohlsein“ nicht mehr, ich begehre nach der höheren Lust. Ist das Verhältnis von gut und besser, das offenbar in den Gefühlen gründet, die ihrerseits von den Lustobjekten in der Weise von Gefühlsfärbungen getragen werden, ein inneres Verhältnis? Danach würden sich die Gefühle ordnen in gleich gute, minder und mehr gute. Und das Urteil „Dieses ist besser als jenes“ wäre zwar kein „analytisches“ Urteil hinsichtlich der Objekte, aber hinsichtlich der so und so lustbetonten Objekte. Wären die Lustbetonungen an die Objekte wesentlich gebunden, so hätten wir evidente Vergleichungsurteile. Andererseits sind sie evidente, wenn die Lust und Unlustbetonungen vorausgesetzt sind. Mir schmeckt die Havanna, einem anderen nicht. Aber wenn sie ihm genauso schmeckte, so könnte er nicht anders, als so hzui urteilen wie ich. Aber dieses Urteil richtet sich bald nach dem „intensiver“ bald nach dem „höher“, und da ist es jedenfalls richtiger, dass der Vorziehensakt das „besser“ schafft und somit das mögliche Urteil begründet. Nach diesen Verhältnissen würden sich dann die Bedürfnisse und Wünsche richten. Das Gefallen von Minderem im Vergleich mit Besserem ist minder vorzüglich. Das Gefallen ist selbst ein weni1 2
Wohl 1902. – Anm. der Hrsg. Ad hHermanni Sc hwarz. – Wieder gelesen Januar 1910.
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ger gefälliges. Das minder Vorzügliche, das genossen wird, erregt im Vergleich mit Vorzüglicherem, das als nicht gegeben dasteht, ein Bedürfnis. Das Begehren von Besserem ist selbst besser. Ein Begehren nach Gutem findet eine umso vollkommenere Erfüllung, je besser das Gute ist. Es lässt umso weniger Wünsche offen. Das Wollen (Wählen oder Sich-Entscheiden) des Besseren ist eo ipso bevorzugt. Ich kann nicht anders, als Besseres gegenüber minder Gutem zu bevorzugen: nämlich was ich dafür halte. Aber das scio meliora? Bevorzugen ist dann ein Entscheiden, also das Wollen eines Gliedes aus einer Begehrungsdisjunktion. Und was wäre das Bevorzugen ohne Wollen? Das Lieberwünschen (nicht Lieberwollen), wäre es eine niedere Spezies von derselben Gattung wie das Wollen? Das Bessere, das die bessere Lust trägt, ist als solches in sich charakterisiert. Besser Gefallen wäre ein Gefallen des Besseren. Bevorzugen wäre ein eigentümliches Sich-Zuwenden, ein Vorziehen des Besseren, ein dem B es ser en den Prei s geben, und Hintansetzen hwärei ein Zurücksetzen, ein Abwenden. Man könnte sagen, das Bessere gefällt und nicht nur das, denn an sich kann auch das Schlechtere gefallen, sondern das Gefallen des Besseren gefällt selbst mit einem eigentümlichen Gefallen, während das Gefallen des Minderguten als solchen missfällt. Das Gefallen des Besseren als solchen wird gebilligt. Das Gefallen des Schlechteren als solchen wird missbilligt. Das erstere Gefallen hat gegenüber dem zweiten einen Vorzug (der Billigung). Das zweite gegenüber dem ersten einen Mangel (Missbilligung). Das erstere Gefallen ist selbst besser als das zweite. Aber dem Besseren den Preis geben, es vorziehen, heißt doch nicht soviel wie, das Gefallen des Besseren zum Gegenstand eines Gefallens machen, dieses Gefallen billigen. Vielmehr müsste das neue Gefallen wiederum das Bessere zum Gegenstand haben, es müsste fundiert sein in dem ursprünglichen Gefallen, aber die Intention gerichtet haben auf seinen Gegenstand. Also Vorziehen wäre ein Gefallen zweiter Stufe, gerichtet auf den einen Gegenstand des einen Gefallensaktes, und das Urteil über „besser“ träfe den Gegenstand vermöge dieses vorziehenden Aktes. Da gäbe es also Gesetze, die in der Natur der betreffenden Akte und Inhalte gründeten und insofern evidente Geltung hätten. Andererseits von Normativem nichts zu finden. Die Materie des Fühlens und Wollens bliebe ganz aus dem Spiel und je nach dem zufälli-
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gen Gefühls- und Vorstellungszustand wären die Werturteile und Willensentscheidungen verschieden. Höchstens, dass die nationale und kulturelle Ausgleichung zu durchschnittlich gleichen Wertungen führte. Sinnlic he Wer te. Zunächst immanente, gebunden an die sinnlichen Empfindungen. Eben diese sind nicht bei allen dieselben. Dieselbe sinnliche Empfindung könnte dieselbe Lust wesentlich begründen. Dinglich-phänomenale sinnliche Werte: scheinbare. Dasselbe Objekt kann verschiedene Geschmacksempfindungen erregen: Gehörte der Geschmack zur Objektanschauung und wäre das Objekt für alle gegeben mit diesem Geschmack, so wäre auch die Wertung dieselbe. So wird dasselbe Objekt dem Geschmack nach verschieden gewertet. Ä s thetisc he Wer te. Würden dieselben sinnlichen Inhalte bei allen erregt, bei allen dieselben Apperzeptionen erzeugt, dieselben Gefühle in Folge davon erregt etc., so wären die ästhetischen Wertungen alle dieselben. Ästhetische Werte hwäreni für den, der sie schauen kann, fest in ihren Wertverhältnissen. Vermeinte ästhetische Werte und Unwerte. Beruhen sie auf Assoziationen, auf Analysen und dgl., so wird, wer diese nicht vollziehen gelernt hat, auch die Werte nicht sehen können. Das ästhetische Objekt ist nicht in sich wert, sondern um der Gefühle willen, die es bei den oder jenen Apperzeptionen erweckt. Also kann man zum Ästhetischen erziehen. Ebenso beim Ethischen.
Nr. 37 h Das Vorz ieh en al s ei n i n G efallensakten f undier ter bezi ehend er Akt. Ist das Vorz i ehen ei n G emüt sakt?i1 5
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W üns chen und Vorzi ehen. Vergleich zwischen Lust und Lust: a) Verschiedenheit der Lustobjekte, b) Unterschiede der Intensität der Lust, c) Unterschiede des Vorzuges. α) Ist der Vorzug ein innerer Charakter der Lust so wie die Intensität? Ich vergleiche und finde, diese Lust ist eine niedere, jene eine höhere, diese ist höher als jene. So wie ich bei den Tönen tiefe, mittlere und hohe unterscheide, so gemeine, mittlere und edle Lust. β) Den Vorzug gibt, könnte man sagen, das größere Gefallen. Man könnte dabei, um unabhängig zu werden von der bloßen Intensität der Lust (nicht immer macht ja die Intensität der Lust den Wert aus, die intensivere hLusti kann nur umso schlechter gefallen), sagen: Es sei zu unterscheiden die Lust des Gefallenden und die Lust des (vorziehenden) Gefallens. Ein Lustgefärbtes gefällt. Die Lustfärbung hat verschiedene Qualität, das Gefallen sei aber einartig, wie hHermanni Sc hwarz es will. In jedem Gefallen erscheint ein Vorzug. Die Akte des Gefallens haben ein Verhältnis zueinander, wonach sie als „besser“ und „weniger gefallend“ bezeichnet werden. γ) Das Vorziehen ein beziehender Akt: a gefällt, b gefällt, a hgefällti besser. Ein Akt des Vorziehens fundiert in den Gefallensakten, dieser beziehende Akt ist ungleichseitig. Das Hintansetzen der korrelate Akt. Ist das Vorziehen ein Gemütsakt, ist Vorziehen ein „Lieben“? Wir sagen aber auch „anziehend“. Anziehender ist das eine als das andere. a selbst ist anziehend, Gefallen ist ein Angezogensein. b selbst ist anziehend. Nun werde ich aber von a gegen b angezogen, und in umgekehrter Richtung abgestoßen: nämlich in der Einheit des Gemütsbewusstseins, das a und b verbindet.
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h E igent li che und unei gentl iche Gefühle. Das Vorz ieh en aufgrund uneigentlicher Vors tel lung und Wertung. Vorziehen im Gef all en un d Wünschen. Das Problem der als ri chti g charakteri si erten Liebei1 Es gibt auf dem G ebi et des Vorzi ehens Notwendigkeiten, die doch sicherlich nicht den Charakter eines psychologischen Zwanges haben. Niemand kann ein einzelnes Gut der Summe zweier Güter vorziehen und etwa 200 Taler zugunsten von bloß 100 ausschlagen, wo nicht andere Motive im Spiel sind. Niemand kann eine intensivere, „größere“ (zeitliche länger dauernde) Lust hintansetzen gegenüber einer kleineren. Es gibt überhaupt ap ri ori sche Sätze mit Beziehung auf Gemütserlebnisse, zum Beispiel: Dasselbe kann nicht in derselben Hinsicht zugleich Gefallens- und Missfallensobjekt sein, und zwar für jede Spezies des Gefallens (und Begehrens, die wir zu einer Klasse rechnen). Niemand kann (unmittelbar) wünschen, dass etwas nicht sei, während das Sein dieses Selben ihm gefällig erscheint – unmittelbar, denn andere Motive können es ändern. Niemand kann sich freuen darüber, dass etwas nicht ist, was er wünscht. Dazu die Sätze, die sich auf Verhältnisse von mittelbar und unmittelbar beziehen. Doch bedarf es hier noch genauerer Formulierung und Begrenzung. Eine Sammlung apriorischer Sätze wäre anzulegen. „Niemand kann“, aber doch kommt es vor, dass anders gewählt wird – niemand natürlich, der weiß, dass die beiden Güter eben beides Güter sind, und wiederum, der das nicht nur weiß, sondern sie als Güter fühlt, von ihren Werten „Anschauung“ hat und ebenso von dem Anschauung hat, was bei der Wahl „in Betracht kommt“. Also beim Vergleich von „intensiver“ und „minder intensiver“, von „feiner“ und „gemeiner“, von „schnell sich abstumpfend und übersättigend“ und „längere Zeit sich gleichmäßig erhaltend“ usw., da muss all das zur Anschauung kommen, wenn das Urteil evident und zum Erlebnis 1 Osterferien 1902, zusammenfassende Überlegung. – Wieder aufgenommen 1910 (20.1.).
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kommen, wenn das Gefühl „richtig charakterisiert“ sein soll. Es kommt aber nicht immer zur Anschauung. Das ist die fundam ental e Tatsache, dass Gefühle, die ursprünglich natürlich nur durch erlebte Inhalte und weiterhin hdurchi das anschauliche Apperzipieren erregt werden, auch durch symbolische und mehr oder minder entlegene Indikationen des Vorstellens erregt werden. Die Gefühle beziehen sich auf hdeni vorgestellten Gegenstand, aber eben „indirekt“. Und eben damit haben sie auch einen anderen Charakter und zugleich ein anderes Gewicht. So wie wir anschauliche und symbolische Vorstellung oder, wie wir auch sagen, eigentlic he und uneig entl i che Vorstellungen unterscheiden, so müssen wir auch ei gen tl i che und uneigentliche Gefühle unterscheiden. Gefühle gewissermaßen als Symbole für andere Gefühle. Gefühle, die zwar wirkliche Gefühle sind, dabei aber (wie leere Vorstellungen entsprechend hzui anschaulichen Vorstellungen) zu anderen Gefühlen als „Wertanschauungen“ stehen, in Beziehung auf welche sie den Charakter von bloßen Gefühlsmeinungen (bloß leeren Wertapperzeptionen) haben. Wir ziehen ein geringeres, sagen wir im Sinn der bisherigen Beispiele, ein weniger intensives, weniger lang dauerndes, leichter in Unlust umschlagendes Gefühl der Lust einem in dieser Beziehung begünstigteren hGefühl der Lusti vor. Warum? Es handle sich z. B. um eine sehr intensive Lust des Augenblicks und eine längere und vielleicht nicht minder intensive Lust hini der Zukunft. Ein triviales Beispiel: Es ist eine Stunde vor dem Mittagessen, müde und hungrig komme ich heim und kann mich nicht enthalten zu essen, obschon ich weiß, dass ich mir den Appetit verderbe und es heute ein sehr schmackhaftes Mittagessen gibt. Wie geht das zu? Die Begierde hält mir die nahe Lust mit besonderer Lebhaftigkeit vor. Ich stelle diese Lust besonders deutlich vor. Die Lust des Mittagessens wird wohl auch vorgestellt, aber ich lebe mich nicht in sie hinein, ich antizipiere sie nicht in voller intuitiver Bildlichkeit. Dass ich mir den Appetit verderbe, weiß ich, die Erfahrung bringt mir das ins Gedächtnis, aber eben nur in „unklarer“ Art, und so ist auch die anklingende Lust eine bloß „symbolische“.1
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Und ist es nicht genauso im Vergleich von „niederen“ und „höheren“ Gütern? Wer sie als Güter „erlebt“, d. i. adäquat wertet, kann nicht anders als dem Höheren den Vorzug hzui geben. Aber praktis ch wird er oft anders entscheiden, eben weil er das niedere Gut, das seine Phantasie lebhafter erregt, in „eigentlichem“ Werten wertet, darin also den Wert wirklich intuitiv sich zur Gegebenheit bringt, während das Höhere zumeist eben nur uneigentlich zur Vorstellung kommt und hzui uneigentlicher Wertung. Auch mag es sein, dass beide nicht vollanschaulich vergegenwärtigt werden und dass dann die Gewohnheit, die aus der öfteren falschen Bevorzugung entstandene Neigung, entscheidet. Die Freude am Glas Bier, an dem lustigen Treiben munterer Kumpane steht mit einem leuchtenden Bild vor mir, die Freude an dem hohen Kunstgenuss aber nicht. Sie ist ihrer Natur nach zumeist eine indirekte. Einen erhabenen Kunstgenuss, den ich früher hatte, kann ich mir in der Erinnerung vielleicht vergegenwärtigen, vollanschaulich; handelt es sich aber um ein Neues, so klingt die Lust eben nur symbolisch-uneigentlich an. Das „Bewusstsein“, dass ich das Bessere vernachlässige, ist da, das weist auf frühere intuitive Vergleiche hin, aber dieses Urteilsbewusstsein ist eben nicht das Gefühlsbewusstsein. Die vergegenwärtigte Freude, in die ich mich hineinlebe, wirkt ungleich kräftiger.1 So hist esi auch mit den „Erregungen“ des Gewissens. Indem ich dazu neige, etwas moralisch Tadelhaftes zu begehen oder auch nur eine Unklugheit, regt sich in mir ein gewisser Widerstand. Ein gewisses Gefühl der Abneigung steht als Gefühlssymbol für die im intuitiven Nachleben gewisser, jetzt nur mehr oder minder vage vorgestellter, aufleuchtender negativer Werte da und fällt als ein Gewicht in die entgegengesetzte Waagschale. Aber das Gewicht ist nicht das volle Gewicht, nicht das Gewicht des „eigentlichen“ Gefühls, es ist
nicht den Vorzug schauen und dann doch ihm nicht praktisch, im Wollen nachgeben? Müssen wir nicht den Fall des Wertens und den des Handelns trennen? Dazu die nun folgende Ausführung. 1 Kann man von dem nicht einiges als Phänomenologie der Neigungen, hderi Tendenzen behandeln und Gesetze aussprechen: Ist eine Neigung aufgrund unanschaulicher Vorstellung und Wertung da, so wächst die Neigung notwendig mit der Anschaulichkeit – ceteris paribus, falls nicht neue Motivationen eintreten!
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nicht vollhgeiwichtiges Gold, sondern sein indirekter Ersatz, sein Surrogat, Papiergeld.1 Die Freude am Wissen ist natürlich ein idealer Wert. Aber wer stellt sich dies vollanschaulich vor? Wer denkt in Klarheit an die Seligkeit einer neuen, in glücklichen Stunden gewonnenen Einsicht? Man kann sagen: Es liegt im tierischen Urgrund, aus dem der höhere Mensch erwachsen ist, dass die auf natürliche Bedürfnisse bezogenen sinnlichen Gefühle mit besonderer Kraft und Lebendigkeit aufleben, sowie an der Gefühlsklaviatur sozusagen nur gerührt wird. Kräftige Sinnlichkeit ist der Begleiter körperlicher Kraft und Frische.2 Es entspricht aber der psychischen Ökonomie, dass Gefühle überhaupt, und davon werden auch die sinnlichen betroffen, nicht immer in voller Frische reproduziert werden, genauso wie es der intellektuellen Ökonomie entspricht, dass Gedanken und Gedankenbeziehungen zum großen Teil uneigentlich vollzogen werden. Hier wie dort wird unser Seelenleben zum größten Teil regiert von der Gewohnheit und den aus der Gewohnheit und Abstumpfung entstandenen Surrogaten. Die Naturbedingtheit des Menschen erfordert es aber, dass die sinnliche Seite nicht zu sehr geschwächt wird, und so behalten die sinnlichen Gefühle einen höheren Grad in der Leichtigkeit der Reproduzibilität und der Frische dieser Reproduzibilität. Im Übrigen weiß ich sehr wohl, dass auch „leere“, „uneigentliche“ Gefühle sehr mächtig werden können. Eine Nachricht über eine große Ehrung, die wir empfangen, oder eine große Zurücksetzung, die uns zuteil geworden ist, regt uns mächtig auf, obschon es sich hier um ziemlich unanschauliche Dinge handelt. Uns vergeht der Appetit, die Lust am Essen wird ganz zurückgedrängt und kann nun nicht lebhaft vergegenwärtigt werden, sie kann, selbst wo sie aktuell ist, nicht eigentlich mit Aufmerksamkeit genossen werden. Aber auch da, wo indirekte, „uneigentliche“ Gefühle heftig werden, ist das Gefühl „blind“. Das Gefühl ist nicht eins mit seinem eigentlichen Gegenstand: Nur wer sich die wertfundierenden Sachlagen wirklich „anschaulich“ macht (soweit Wertgegebenheit es fordert) –
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Doch ist hier noch von keiner Norm die Rede, sondern nur von der faktischen Motivationskraft. 2 Diese Ausführungen sind mehr psychologisch als phänomenologisch.
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und wo es sich um individuelle hSachlageni handelt, individuell, wo es sich um allgemeine, unbestimmt allgemeine oder abstrakte handelt, in ihrer Weise anschaulich –, kann das Gefühl auf die Sachen „selbst“ beziehen und das zu ihnen an sich gehörige Gefühlsprädikat erleben oder in der Modifikation der Phantasie „eigentlich“ vorstellen. So erklärt sich also das Scio meliora proboque, deteriora sequor. Es ist immer zu bedenken, dass das bloße Urteil, d. i. die zumeist symbolische Meinung, nichts austrägt und dass das bloße „Wissen“, es wird nicht das Gute gewählt (wofern das Gefühl es nicht aktuell wertet und ihm eine entsprechende Kraft gibt, und ebenso hwenni die gewohnheitsmäßige Neigung, die wohl auch ein Lustgefühl mit sich führt, wenn ihr nachgegeben wird, und der entgegen zu arbeiten mit steigender und schnell sich vergrößernder Unlust empfunden wird, ihm nicht Kraft gibt), keine Kraft im Gefühlsleben ist. Wie schon Spinoz a gesehen hat: Nur Gefühle können auf Gefühle wirken, nur durch Gefühle gestärkt, geschwächt, aufgehoben werden. Und ebenso ist zu beachten, dass die symbolische Vorstellung und das symbolische Urteil nicht di e Gefühle mit sich führen, welche die entsprechende Ans chauung mit sich führt – Anschauung in dem erweiterten kateghorialeni Sinn. Der sinnliche Drang verführt mich und die lebendige Anschauung des Gutes, für das er spricht. Das Gewissen mahnt leise, aber ich folge der großen Lust, die der Augenblick mit sich bringt, oder der großen Lust, die in der Phantasie nachgelebt wird; hesi gefällt das Sinnliche vorzugsweise, es gefällt besser, obschon ich indirekt weiß und fühle, das andere wäre an sich besser. Ist es nicht ähnlich mit dem logischen Irrtum und den logischen Irrtumsmotiven? Ich erinnere an den Urteilsdrang. Wir haben öfter die Neigung, so und so zu urteilen, obschon wir dabei eigentlich noch nicht urteilen. Und dieser Drang bestätigt sich dann vielleicht durch weitere Überlegung und Erwägung. Wir finden kräftige Wahrscheinlichkeitsgründe oder Einsichten, die den Drang bestätigen. Mitunter aber folgen wir dem Drang vorschnell, wir „fühlen“ die Schwierigkeiten, es regt sich unser abmahnendes logisches Gewissen, wir machen aber Schluss und urteilen mit Entschiedenheit, ja mit gefühlsmäßigem Charakter (der gerade dann charakteristischerweise auftritt): So ist es sicherlich! Wir blicken eben nur einseitig auf die
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begünstigenden Gründe, nämlich diese allein sind es, die wir uns mit gestärkter Klarheit vergegenwärtigen, während hdasi, was dagegen spricht, unerwogen, unveranschaulicht, unvereigentlicht bleibt und sich nur anzeigt im „Gefühl“ einer Schwierigkeit. In der Tat ist es ein Gefühl, ein Unbehagen, gerichtet auf unbestimmte und dunkel vorgestellte Schwierigkeiten. Ich habe von Wählen, Vorziehen gesprochen. Doch ist zu unterscheiden: 1) Das Besser-Gefallen, Im-Gefallen-Vorziehen: a freut mich oder auch nicht, b freut mich mehr, oder über b würde ich mich mehr freuen als über a. Wo a auch ein Übel sein kann: Über a würde ich mich weniger freuen, oder: Über a würde ich mich mehr betrüben als über b. Aber ist hier von Vorziehen die Rede? Ist Mehr-, Besser-Gefallen Vorziehen?1 2) Im Wünschen vorziehen. Eins wünsche ich, das andere wünsche ich mehr. A erscheint mir wünschenswert oder erwünscht. Ich stelle A vor, und es erscheint mir als gefällig (dass es sei); der Gedanke, dass es sei, gründet das Gefallen am vorgestellten Sein. Und ich vermisse es, dass es ist; die Voraussetzung, dass es nicht ist, Gefühl des Mangels. Ebenso B für sich. Ist beides zusammen möglich, so wünsche ich beides; ist nur eines von beiden möglich, so ziehe ich das eine vielleicht vor, z. B. A. A würde mir besser gefallen und darum würde ich mehr wünschen, dass A sei, als dass B sei. Ist das nicht wieder ein Verhältnis zwischen den Wunschakten, parallellaufend einem Verhältnis zwischen den Gefallensakten?2 Muss da noch ein eigener Akt Gefühlsakt des Vorziehens spielen? Natürlich gibt das Gefühl den Vorzug, aber nicht als hinzutretendes Gefühl, sondern der Wunsch A ist so charakterisiert gegenüber B, dass ich von einem Mehr-Wünschen spreche.3 Nun kann ich A für sich weniger heiß wünschen als B für sich, außerhalb eines Vergleichs. Ich begehre B
1 Ist es nicht einfach ein Verhältnis zwischen den beiden Gefälligkeiten als Beziehungspunkten oder den Gefallensprädikaten? Das Verhältnis der Prädikate ist das ontische Korrelat, das im Bewusstsein sich konstituiert: Das Bewusstsein des Besserseins ist eben Gefühlsbewusstsein = Vorziehen. 2 Nicht ein Verhältnis zwischen Akten, sondern ein Verhältnis zwischen ihren ontischen Korrelaten, und dieses Verhältnis setzt ein einigendes Gemütsbewusstsein voraus. 3 Der Wunsch ist nicht das Wünschen.
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so heiß wie nur irgendetwas. Aber nachträglich vergleiche ich diesen Wunsch mit einem anderen (der vielleicht nicht so heiß war) und sage: Weniger heiß war der letztere, aber wünschenswerter ist das im ersteren Gewünschte. Ich stelle mir die beiden Sachen vor und gemäß dem Besser-Gefallen vollziehe ich ein Besseres-Wünschen. Der Wunsch hat in diesem Vergleich einen Charakter, in dem mir das „Bessere“ (wünschens)werter erscheint. Aber wi e erscheint dieser größere W er t des W unsc hes? Nicht in der Heftigkeit. In der Angemessenheit des Wunsches an die Sache? Aber „angemessen“ kann jeder Wunsch für sich sein (in sich berechtigt). Ich bewerte den Wunsch der Sache A höher als den der Sache B. Also ist es doch wohl ein neuer Akt (aber ein Akt des Gefallens?),1 der eben dem einen Wunsch den Vorzug gibt vor dem anderen. Dies elbe Bet rac htung passt aber auf das schlichte Gefallen. Denke ich mir ein Gefallen für sich. Es kann eine sehr heiße Liebe sein mit intensivster Lust. Denke ich mir ein zweites Gefallen zu anderer Zeit oder bei einem anderen, dann kann dieses letztere nicht besonders intensiv sein und doch als gefallenswerter erscheinen. Gefallenswert: Wert eines Gefallens, das weist auf neue Akte, auf wertende Akte hin, die auf das Gefallen selbst gerichtet sind (liebenswert, hassenswert, freuenswert). Wenn ich nun sage, A gefällt mir besser, so meint das aber nicht, A sei gefallenswerter, sondern es meint ein Verhältnis der Gefallensobjekte als solche.2 Es meint auch nicht, dass mir der eine Gefallensakt besser gefällt als der andere (was ja nur eine Zurückschiebung wäre), sondern es ist eine Steigerung vorhanden, die in den „Inhalten“ der Akte (in ihrem „Gefallenscharakter“) gründet, ohne dass neue Gefühle ausgelöst werden müssten.3 Und dies ist ja auch vorausgesetzt, um das „liebenswerter“, „gefallens- und wünschenswerter“ zu ermöglichen.
1 Gefallen = Werterscheinen. Erscheinen, dass A ein größerer Wert ist als B, kann das ein bloßer Urteilsakt sein? Oder ist Wertgröße eine „Dimension“ des Gefallensobjekts als solchen? 2 A ist gefälliger. Ich finde A gefälliger, A gefällt mir in der Weise des Besseren. 3 „Gut“ und „besser“ sind Eigenschaften des Gefallenden als solchen (dem ontischen Korrelat der Gefallensbewusstseine). Aber die beiden wertenden Bewusstseine müssen zur Einheit eines Bewusstseins verknüpft sein, und d i e F r a g e i s t , o b d a s nicht ein Einheitsb ewusst s e i n i s t , d a s s e l b s t i n d i e G e m ü t s s p h ä r e g e h ö r t, also ein Analogon der kategorialen Synthesis in der intellektiven Sphäre.
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Die Gefallensakte sind hier Fundamente für neue Gefallensakte, und zwar wertende Akte, von denen der eine ein Höher-Werten ist, ein Besser-Gefallen.1 Natürlich ist es die Beziehung der Gefallensakte zu ihren Gegenständen (Sachverhalten etc.), welche hierbei in Frage kommt. An einem A Gefallen haben ist besser, nämlich ein besseres Gefallen als B-Gefallen (als an einem B Gefallen haben). In der anderen Gefallensschicht heißt es aber: A selbst gefällt besser als B. Was meint aber „A ist besser als B“? Wenn mir A besser gefällt als B, so sage ich normalerweise nicht dieses aus, sondern ich sage dann, A ist besser. So wie ich, wenn ich Gefallen an A habe (ein wertendes Gefallen natürlich), nicht sagen werde oder zumeist nicht sagen werde und jedenfalls nicht sagen muss, dass dem so sei, sondern „A ist gut“. Das Erstere ist ein okkasionelles, auf Personen, Zeit, Umstände bezügliches oder nur dadurch objektiviert zu fassendes Urteil. Soll es in anderer Weise objektiviert, soll es von Personen, Zeit etc. befreit werden, so entsteht ein Urteil über objektiven Wert. Aus dem zufälligen Gefallen, d. i. aus der Zufälligkeit, dass sich an dieses Objekt dieses Gefallen anknüpft (und nicht Missfallen oder gar nichts), wird Notwendigkeit: Zu di esem O bj ekt gehört Gefallen, nämlich es ist gefallenswert, das Gefallen an diesem Objekt ist (wie ein Gefallen an einem so und so gearteten Objekt überhaupt) ein richtiges Gefallen. Ein richtiges Urteil: Wer über diese Sache urteilt, urteilt richtig, wenn er so urteilt (ob er aber urteilt, ist etwas anderes). Und ebenso, ob er richtig urteilt, ist nicht gesetzmäßig bestimmt, sondern nur dass, wenn er urteilt, und zwar so urteilt, dass er dann richtig, sachgemäß urteilt; nämlich dann hat das Urteil als ein Vermeinen, es sei so, ein mögliches Korrelat an einem evidenten Urteil, nämlich an einem Erschauen des Soseins, welches dem Meinen seine Erfüllung
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Im Sinn der Bejahung der vorigen Frage hsiehe die Anmerkung obeni wäre zu sagen: Es ist ein Gemütsbeziehungsbewusstsein durch das Gemüt selbst gestiftet. In diese Form eintretend habe ich nicht bloß Gefallen A verbunden mit Gefallen B, sondern im Übergang, und zwar hini diesem eigenen synthetischen Gemütsübergang von A zu B, erhält das Werten des B den Besser-Charakter. Darin aber läge: Diese Steigerung zwischen Werten kann man nur erleben in einem synthetisch wertenden Bewusstsein und nicht in einem bloßen Zusammenbetrachten aufgrund der Gefallensakte.
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bietet.1 Ebenso gibt es keine psychologische Notwendigkeit, wonach ein Erschauen oder Erleben einer gewissen Sache unmöglich wäre ohne ein daran geknüpftes Gefallen oder überhaupt Gefühl F. Zufällige Disposition, psychische Anomalität etc. mögen das verhindern. Aber das sagt jenes „Normalgesetz“: Wenn sich ein Gefühl F an die Sache knüpft, so bestehen zwei Möglichkeiten. Das Gefühl gehört zu dieser Sache (Konvenientsein nach Brentano) oder es gehört nicht dazu (es gehört gar keins dazu oder ein entgegengesetztes). Soweit auch B r entano. Nun scheint mir Folgendes ganz klar zu sein: Ein Gefühl kann, wie schon ausgeführt, in direkter und eigentlicher und in indirekter, uneigentlicher, symbolischer Weise auf einen Gegenstand bezogen sein. Zum Beispiel, das Gefallen an einer Speise, die ich sehe, symbolisiert sozusagen das Gefallen, das ich von ihr hätte, wenn ich sie äße. Und das Gefallen am Essen selbst ist Gefallen an den lustbetonten Geschmacksempfindungen, die erregt werden. Gehörten die Geschmacksinhalte, und zwar mitsamt ihrer Lust- oder Unlustbetonung, zur Objektivität des Gegenstandes an sich (ließen sie eine Objektivierung zu, die sie von dem empfindenden Subjekt unabhängig machen und die Existenz eines Gegenstandes an sich mit diesen Inhalten als Merkmalen, als wesentlichen Konstituentien zulässig erscheinen lassen würden), dann könnte ich mit Recht und mit Evidenz sagen, dieser Gegenstand ist nach Seiten seiner Geschmacksmerkmale gut. Mit der adäquaten Wahrnehmung des Gegenstandes wäre die Lustbetonung und somit das Gefallen notwendig verknüpft: sofern ich einmal bei jedem schlechthin primären und unvermittelten Gefallen die innere Zusammengehörigkeit von gefühlsbetonten Inhalten und Gefallen erfasse. Es ist natürlich gesetzliche Zusammengehörigkeit. So steht die Sache aber nicht. Der Gegenstand, schon der Gegenstand des empirischen und populären Bewusstseins, wird nicht so objektiviert und kann nicht so objektiviert werden, dass er dieses Geschmacksmerkmal enthielte. Dieselbe Speise schmeckt uns, den Chinesen nicht: dieselbe Speise, d. h. dasselbe, durch andere visuelle, taktuelle etc. Merkmale be-
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stimmte Objekt. Wie steht es mit der Geschmacksbetonung? Wir sagen da, und wie wir glauben nicht ohne Grund: Der Chinese wertet anders im Gefühl, weil er andere Geschmacksbetonung hat, andere Lustempfindungen. Die ursprüngliche Lustbetonung, die wir zum Empfindungsgehalt rechnen, wechselt. Unser Gefallen ist hier aber wesentlich durch diese Gefühlsempfindungen bedingt. Nur mag man hier streiten, wie die Sache psychologisch weiter zu fassen ist. Vielleicht sind die ursprünglichen Lustbetonungen, so ziemlich wenigstens, dieselben oder zumindest nicht mehr different als innerhalb unserer Rasse, aber die Kochkunst ist eine andere. Andere Mischungsverhältnisse der Empfindungen führen zu anderen Verschmelzungen, Geschmacksharmonien, Geschmackssymphonien, und die durch Erziehung gewonnene Fähigkeit der Unterscheidung (der Unterschiedsempfindlichkeit für die in Frage kommenden Gestaltqualitäten) und die dadurch begründeten Gefühlswerte sind verschieden. Dem1 Japaner und Chinesen erscheint unsere Musik wie Katzenmusik und umgekehrt. Hätte der Chinese genau dieselben Empfindungen, Lust- und Unlustbetonungen, dieselben Assoziationen, dieselben Gesamtinhalte mit denselben inneren Abgrenzungen nach Tongestalten und Tonverschlingungen, mit denselben Lustbetonungen und Lustgestalten, dieselben Anregungen zu indirekten Gefühlen (würden in ihm dieselben Stimmungen der Heiterkeit und des frischen Lebensbehagens, der Sehnsucht, des jauchzenden Liebesglücks oder der Entsagung etc. angeregt), so würde er auch genauso ästhetisch werten wie wir. Und wie in der Ästhetik, so auch in der Ethik und wie im Vergleich der Rassen und Nationen, so auch in dem der Individuen. Wie es unzählige Vorstellungen von einem Gegenstand gibt und eine einzige Vorstellung, die ihn selbst trifft nach seinem wahren Sein, die ihn nämlich zu adäquater Anschauung bringt, ihn so, wie er ist, erfasst, so gibt es unzählige Wertungsakte in Bezug auf einen Gegenstand, aber nur einen einzigen, der ihn selbst trifft, den wahren Wert erfasst, der nämlich den Wert zu adäquatem Erleben bringt, ihn so, wie er ist, erfasst.
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Das Sein wird erfasst in der adäquaten Wahrnehmung. Der Wert wird erfasst, adäquat konstituiert, im adäquaten Fühlen oder vielmehr Werten und in dem darauf bezogenen adäquaten Wahrnehmen. Was ist das, adäquat es Fühl en? Es ist dasjenige Fühlen, das sich direkt und unmittelbar an sein Objekt anschließt, dasjenige Fühlen, das durch den Inhalt des Gegenstandes (oder vielmehr korrelativ!) fundiert ist. Dieser Inhalt fundiert eine zu ihm gehörige Gefühlsbetonung (onthischi), und diese ihrerseits bedingt ein notwendiges, korrelatives Gefallen: Nämlich wenn irgendein Wesen überhaupt (Bewusstsein überhaupt) diesen Inhalt erlebt, erlebt es damit zugleich und notwendig die Betonung. Und wenn es sich dem so betonten Inhalt zuwendet, so kann es nicht anders, als ihn in der Weise des Gefallens (im entgegengesetzten Fall: Missfallens) zu werten. Damit ist wohl im Rohen das Probl em der h alsi richtig char akter is ier ten Liebe gelöst so wie in meinen Logischen Untersuchungen das Evi denzprobl em, das hier ja auch selbst mit in Frage kommt, insofern die Evidenz natürlich Erkenntnis von diesen Verhältnissen bietet und die darauf ruhenden Prinzipien als apriorische Einsichten herausstellen muss. Doch sind da noch viele Schwierigkeiten zu ebnen. Vor allem ist es fraglich, wie sich die Lust- und Unlustbetonung zu dem sonstigen Inhalt eines Gegenstandes verhält. Gibt es notwendige Lustbetonung im Sinn der Fundierung? Man wird sagen dürfen: Die sinnlichen Inhalte (worunter wir die Empfindungen befassen, welche nicht Lustbetonungen sind) fundieren zwar notwendig (aber auch das ist nicht sicher) eine Betonung, aber der Ton selbst nach seiner spezifischen Qualität, nach seiner Intensität und somit auch nach seiner Dauer ist nur empirisch an den Inhalt gebunden. Ob jeder Inhalt notwendig lustbetont ist (außer im psychologisch-empirischen Sinn notwendig), können wir dahingestellt sein lassen, aber sicher ist, dass eine Lustbetonung einen anderweitigen Inhalt voraussetzt, den sie eben betont. Dann könnte man den Satz aussprechen: Jede Betonung ist fundiert. Nun ist aber nicht jedes Gefühl unmittelbar an einen Empfindungsinhalt angeschlossen; auch nicht unmittelbar an einen objektiven Gegenstand (äußeren Gegenstand). So bezieht sich auf einen positiv lustbetonten Inhalt ein Gefallen, das sich über den Gegenstand, dem der Inhalt etwa als Merkmal zugedeutet wird, ausbreitet. Hier gibt es schon wesentliche Zusammengehörigkeiten.
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Das Gefallen am Objekt um der Lust willen, die in ihm fundiert ist, ist ein notwendiges Gefallen (Mal ebra nche, Bd. IV der deutschen Übersetzung über Lust und Gefallen).1
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Nicolas Maleb ranc he, Von der Wahrheit oder von der Natur des menschlichen Geistes und dem Gebrauch seiner Fähigkeiten um Irthümer in Wissenschaften zu vermeiden, aus dem Französischen übersetzt und mit Anm. hrsg. von einem Liebhaber der Weltweisheit, Halle a. S., 1776–1780, Band IV: Erlaueterungen und die allgemeinen Gesetze von der Mittheilung der Bewegung. – Anm. der Hrsg.
Nr. 39 h Fr eude a n eig enem un d fremdem Sc hmerz. Neid al s Schm erz über die Freu den ei nes andereni1 5
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Vergnügen an der Peinigung, die der Asket hat: um der ewigen Seligkeit willen oder um des Bewusstseins der Geisteskraft willen, die dem Bösen Widerstand leistet. Machtbewusstsein, Kraftbewusstsein im Widerstand gegen den Schmerz, im Dulden des Leides, das Sichnicht-unterkriegen-Lassen, das mannhafte Ertragen. Hier haben wir Lust in Unlust fundiert. Der Schmerz ist ein Übel, er missfällt, aber der Schmerz kann gesucht werden aus Motiven, die natürlich nicht auf Schmerz direkt gerichtet sind. Die Freude ist nicht Freude am Schmerz als solchem, sondern Freude an der Überwindung des Schmerzes, an dem Kraftbewusstsein etc. Gr aus amkeit als Freude am Leid des anderen. Auch dies ist nac h hTheodor i Li pps Ausfl uss der Freude an der eigenen Über legen hei t und M acht.2 N eid: Schmerz über die Freuden und Erfolge eines anderen, weil diese Freuden mir versagt sind; was der andere hat und woran er sich freut, das fehlt mir. Ich fühle den Schmerz dieses Mangels und doppelt im Kontrast mit der Freude, die der andere in der Erfüllung eines gleichen Begehrens oder in der Freude an demselben (was mein Begehren erfüllen würde) hat. Diese Unlust überträgt der Neidische auf den anderen als Glücklicheren. Würde er sich lebendig in die Lage des anderen versetzen und von sich abstrahieren, so würde er das Berechtigte der Freude des anderen einsehen. Freude zu genießen, Wünsche erfüllt hzui sehen (wenn es gute Wünsche sind) ist an sich schön, unabhängig von der Person. Wer, um seinem Machtgefühl zu frönen, andere peinigt, der hat das Machtgefühl, er erlebt es selbst; die Schmerzen anderer stellt er vor, er fühlt sie nicht selbst.
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Wohl 1902. – Anm. der Hrsg. Ich freue mich an meiner Übermacht; der äußerste Gegenwille des anderen, wie er durch seinen Schmerz lebhaft geweckt wird, vermag nichts gegen meinen Willen. 2
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R achegefühl: Der Beleidiger (als Urheber eines mir zugefügten Leides) wird gehasst, und der Hass erweckt ein Begehren nach dem Leid des anderen. Verständlich ist der Wunsch nach Vernichtung des anderen. Der Hass eines Gegners: Wunsch seines Nichtseins. Solange 5 er ist, wird er als Beleidiger gehasst, also tötet ihn. Wie aber die Lust nicht bloß hLust isti an der Beseitigung, sondern am Leiden des anderen. Der Leidensverursacher wird als Leidensträger vorgestellt, der Leidensgeber als Leidensdulder, wieviel Leid gegeben, soviel empfangen, wieviel Freude gegeben, soviel empfangen.
Nr. 40 h D as G efa l l en i n der Phantasie und unter Ass umt i on. D as ästheti sche Gefallen i1
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Ich schlage folgende Unterscheidungen vor: 1) Ein imaginativ vorgestelltes Ereignis, ein Ding und dgl. gefällt, es gefällt in der (auf grund) bl oßer Vorstellung, es gefällt im Bild, es gefällt ästhetisch in einem weitesten Sinn. 2) Ein imaginativ Vorgestelltes erscheint als eventuell gefallend, das heißt, wir haben das Bewusstsein: Wenn das wäre, wie wäre das schön, „das möchte mir gefallen“, hätte ich das, so hätte ich Freude daran. Gefallen wird in beiden Fällen erlebt. Im ersten Fall genießen wir die Lust, es ist Lust „in“ der bloßen Vorstellung, aufgrund der bloßen Vorstellung (des bloßen Vorstellens, heißt das hier), oder Lust am Bild (aufgrund bloß bildlichen Vorstellens). Das Vorgestellte erscheint als gefällig, es ist mit einem rosigen Schimmer übergossen etc. Im zweiten Fall ist das Vorgestellte als lustvoll Vorgestelltes, aber wie das Objekt, so ist die Lust bloß vorgestellte, nicht genossene Lust. Wenn das wäre, so würde es für mich eine Freude sein: Die Freude ist nicht eine wirkliche Freude, sondern eine Freude, die bestände, eben wenn das wäre. Doch überlegen wir die Sache noch einmal näher: Die anschauliche Vorstellung einer Tatsache begründet ein Gefallen. Wir nehmen an, dass keine Assumtion, keine Beziehung auf Sein oder Nichtsein vorliegt. Also setze hichi eben weder das Sein oder Nichtsein, noch vermute ich es, noch assumiere ich es. Es kann aber auch irgendwelche Seinssetzung vorliegen, nur darf sie nicht für das Gemütsverhalten in Frage kommen. In dieser Weise erfüllt mich mit Wohlgefallen die Vorstellung eines heldenhaften Benehmens, die der Bekundung einer tapferen Gesinnung, die Vorstellung eines schönen Mädchens, eines Paradieses etc. In der Anschauung stehen phantasiemäßig – und nur phantasiemäßig – Personen, ihre Gesinnungen, Handlungen, oder Landschaften, historische Ereignisse da. (Im letzteren Beispiel mag
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Abschrift (1910 Januar) alter Blätter von 1901 oder 1902.
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ich wissen, dass es sich um Historisches handelt: Ich male mir es anschaulich aus, und das Gefallen an der Situation gründet nicht – wie andere Arten von Gemütsverhalten – mit in der Setzung bzw. im gesetzten Sein als solchen.) Tritt Assumtion hinzu, lebe ich nicht in der bloßen Vorstellung, sondern in der Annahme (gesetzt, es sei A), so wird das auf das bloß Phantasierte (den bloß phantasierten Zentaurenkampf) bezogene Gefallen zum Gefallen unter Assumtion. Das gilt für jederlei Gefallen. Zum Beispiel, ich freue mich an einer wohlriechenden schönen Rose, die ich wahrnehme. Ich phantasiere mir eine solche Rose und lebe ganz in der Phantasie. Ich freue mich dann „in der Phantasie“. Sie steht gleichsam vor mir (der ich selbst in der Phantasiewelt weile), sie ist gleichsam Wirklichkeit, und das Gefühl ist ein entsprechendes. Nun setze ich an: Gesetzt, das wäre wirklich, dann würde ich mich freuen. Nun habe ich eine Freude unter Assumtion. Hängt die Freude an der Erscheinung (an der gegenständlichen Darstellung), so habe ich die Phantasiemodifikation, in der der Gegenstand sich quasi darstellt, aber anschaulich, das Gefallen in der Phantasie, Quasi-Freude als Phantasiefreude. Es ist freilich – wenigstens primär – Freude an der Darstellung. Habe ich Wirklichkeit, so habe ich „wirkliche“ Freude, die Darstellung ist jetzt-seiende Darstellung (in der Weise, wie Darstellungen sind). Es könnte ganz wohl eine Halluzination sein: Für diese „Freude“ käme nichts darauf an. Und ebenso wieder unter Assumtion, die jetzt besagte: Gesetzt, diese Erscheinung wäre „Wirklichkeit“ (impressional), so hätte ich meine (wirkliche) Freude daran. In jedem Fall dieser Gemütsvorkommnisse aufgrund der Phantasie – sei es, dass ich unter Assumtion mich freue oder in der Phantasie lebend mich freue – wäre es irreführend zu sagen: Das Gefallen, der betreffende Gemütsakt sei ein bloß vorgestellter. Etwa gar, es sei bloß vorgestellt, dass, wenn A wäre, ich mich freuen würde, oder A sei vorgestellt und die Freude daran sei vorgestellt. Denn Vorstellen kann auch sagen „Sich-Denken“, und denken kann ich mir alles und jedes. Ich kann mir denken, dass ich wie ein Chinese eine Ratte mit Wollust verspeiste (während die Vorstellung – als Phantasie –, ich verspeiste die Ratte, mich mit Ekel durchschauert). Nein, diese Gemütsakte sind in gewisser Weise ganz innerliche und wirkliche Gemütsakte: Die Anschauung einer Sachlage ist wirklich verbunden
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mit einem Gefühl, und eventuell gehört das Gefühl „evident“ zu ihr vermöge ihres in der Phantasieanschauung „gegebenen“ Inhalts. Und ebenso hat es seine Evidenz, ist es keine „bloße Vorstellung“, sondern ein ganz evidentes Urteil, wenn ich dann sage: Gesetzt, das wäre, dann würde ich mich „wirklich“ freuen. Das „wirklich“ ist zweideutig. Auch die Freude in der Phantasie ist eine „wirkliche“ Freude und doch wieder keine wirkliche in dem Sinn, wie es die Freude an der entsprechenden Wahrnehmungsgegebenheit ist. Im symbolischen Denken kann ich zu einer anschaulich phantasierten Sachlage hinzudenken eine auf sie bezogene Freude: Aber „wirklich“ hängt an dieser Phantasiesachlage nicht diese gedachte, sondern eine mit ihr evident streitende Unfreude. Einen Kreis in der Phantasie kann ich mir ja auch viereckig denken, einen roten Kreis blau denken; er bleibt darum doch, obschon er bloß phantasierter ist, rot und gleichmäßig gekrümmt, wie es einem ehrlichen Kreis geziemt. Also das Gefallen ist wirklich da, ist wirklich in der bloßen Phantasie der betreffenden Sache gegründet und auf sie in der Phantasie bezogen. Andererseits ist es wirkliches Gefallen in dem Sinne, wie das Rot-Vorstellen der Phantasie wirkliches Vorstellen ist. Es steht also analog zum Gefallen aufgrund des entsprechenden impressionalen Aktes (der Wahrnehmung) wie das Phantasievorstellen eines Rot zum Wahrnehmen eines Rot. Und wenn wir dem Gefallen entsprechend von einem Wertprädikat sprechen, so ist dieses Prädikat, der Wert, in demselben Sinn bloß vorgestellt und doch in gewisser Weise gegeben (nämlich quasi-gegeben), wie das Rot vorgestellt, in der Phantasie „gegeben“, aber eben quasi-gegeben ist. Das Gefallen ist ein wirklicher Gemütsakt und in seiner Zugehörigkeit zum anschaulichen Vorstellen nicht willkürlich, vielmehr evident zugehörig. (Vielmehr objektiv: Das „gefällig“, „schön“ etc. gehört evident zu dem Phantasierten.) Dasselbe gilt von der assumtiven Freude, vom assumtiven Gefallen. Wenn wir dabei sagen: Gesetzt, das wäre, so wäre es eine Freude und dgl., so ist das nicht bloßer Gedanke, nicht bloßes Urteil, welches ein Faktum ausspricht, dass, wenn das und das wäre, ich mich freute oder ein Recht bestände, sich zu freuen und dgl. Vielmehr ist die Freude unter Assumtion eine Gemütstätigkeit und verhält sich zur Freude schlechthin (der nicht assumtiven) ganz ähnlich wie ein Urteil unter Assumtion (bzw. eine Nachsatzsetzung) zum entsprechenden
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Urteil schlechthin (assertorischen). Und natürlich auch hier ist das assumtive Urteil ein Akt der Urteilstätigkeit. Die Sachlage kann dabei die sein, dass die Freude zu der Assumtion „gehört“ und so mit ihr eins ist, dass wir daraufhin mit Evidenz urteilen können: Gesetzt, ein solcher Sachverhalt wäre, dann wäre er ein gefälliger, werter etc. Andererseits, wenn wir nicht assumtiv, sondern in der Phantasie werten, so kann sich das evidente Urteil ergeben eben aufgrund eines Zusammenhangs zwischen Phantasieintuition und Phantasiewertung, der den Wertcharakter als wesentlich zu dem Phantasierten als solchen gehörig erscheinen lässt: Zu einem solchen Objekt gehört der Wert. Und das heißt hier: Zu diesem „Inhalt“, zu dieser Idee gehört wesentlich der Wert. Also ein idealer Zusammenhang. Wenn in diesen Ausführungen das Gefallen in der Phantasie als Phantasiegefallen behandelt ist, so kann damit nicht gemeint sein, dass z. B. das ästhetische Gefallen, das wir im Lesen eines Romans, eines Dichtwerkes überhaupt und ebenso in der Betrachtung eines Gemäldes hhabeni, wobei wir dem Bild zugewendet sind, keine aktuelle Freude sei. Ist die „Freude“, ist das Gefallen und überhaupt das Gefühlsverhalten, das wir gegenüber den Phantasieobjekten, Phantasievorgängen vollziehen (und als Phantasieakte vollziehen) das ästhetische Gefühl? Beim Theater, beim Roman etc. ist es klar. Wir leben in der Phantasie, wir sympathisieren mit den oder jenen Gestalten der Dichtung, wir werden in Liebe und Hass, in Billigung und Missbilligung hin und her geworfen: Diese Gefühle, die wir den Sachen zuwenden, sind nicht die ästhetischen Gefühle. Es kann auch sein, dass die Art der Dichtung es verlangt, dass wir die Sujets in einer gewissen Verworrenheit vorstellen und Gefühle auch nur in „symbolisch“ verworrener Weise als leise Gefühlsregungen geweckt werden. Aber all dem steht gegenüber das ästhetische Gefallen, das in höherer Stufe durch diese Vorstellungen und Gefühle in ihrer Einheit, in der Art ihres Rhythmus, durch die Art auch, wie sie erregt, wie sie ausgedrückt werden etc., fundiert ist. Was mir da gefällt (und eventuell missfällt), ist nicht das Sujet des Kunstwerkes, sondern die Dichtung, das Kunstwerk als solches, und das ist, eigentlich zu reden, eine Idee. Ist z. B. das Gefallen an einem Bildsujet „als solchen“, unabhängig von Existenz oder Nicht-Existenz und „so, wie es da erscheint“, also die Lust am „Perzeptionale“, nicht eine ästhe-
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tische Lust? Ein Perzeptionale ist eine Idee, und diese Idee ist Träger eines aktuellen Gefühls. Aber freilich gehört zu diesem Perzeptionale auch ein Gefühlscharakter (eine Gefühlsharmonie, Konkordanz), und zwar im selben Sinn als Idee und beide zusammen als eine Idee.
Nr. 41 hW ir kli che G em ütserl ebni sse in der Phantasie. Fr eude an der Ph antasi e. Phantasiewirklichkeit als E inheit der Konsequenz von Verstandes- und Gemüts apperzepti onen i n der Phantasie i1
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Schw elgen i n der Phantasi e. In der Phantasie leben und in ihr ein aktuelles Wohlgefallen empfinden. Es geht mir soeben eine Melodie durch den Kopf, die ich frei erfunden habe, sie ist mir neu, sie ist da, ich weiß nicht wie, und sie gefällt mir. Oder ich schwelge in der Einbildung unerhörter Reichtümer, die mir zufallen, herrlicher Entdeckungen, die ich mache und dgl. Ich denke dabei nicht an etwas Hypothetisches, daran, dass ich mich freuen würde, gesetzt, dass das wahr wäre. Ich lebe ganz in der Phantasie. Die armselige Gegenwart ist zurückgedrängt oder zeitweise vergessen. Ich freue mich an den Phantasievorkommnissen wirklich: lebhaftest – ich schwelge. Wir haben aber nicht nur Gefühle jeder Art „wirklich“ in der Phantasie, wir haben auch in ihr wirklich heiße und laue Wünsche, Begehrungen und vollziehen in ihr wirklich Handlungen. Wir entschließen uns unter den gegebenen Verhältnissen wirklich, überlegen unsere Pläne, wägen die Mittel ab und führen die Handlungen aus: soweit es uns gefallen mag, in der Phantasie fortzuleben. Natürlich entsprechen alle diese Gemütsakte in der Phantasie genau anderen Akten in ihr: Wir empfinden und wir nehmen in der Phantasie w ir klic h wahr, wir haben wirklich die und die Gedanken, wir fragen, vermuten, zweifeln, schließen wirklich. Zu unterscheiden davon ist die Lust, das Gefallen, das hichi in der Aktualitätssphäre (der Sphäre der Impression) lebend an solchem Spiel der Phantasie hhabei, am Spiel der Phantasieakte des Intellekts und der Phantasieakte des Gemüts und insbesondere etwa an dem Spiel des Phantasieschwelgens der mannigfachen Lüste etc., die wir uns vormalen mögen. Die Freude an den Phantasiebetätigungen und insbesondere an dem Phantasieren von wirklichen Freuden oder am
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20.1.1910. – Wichtig.
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Rhythmus von allerlei Gefühlen, Begehrungen etc. in der Phantasie ist eine impressionale Freude, eine wirkliche Freude in der Impression. Wie sind solche Unterschiede zu verstehen: wirkliche Freude, w ir klic he Gemüts- und Verstandesakte i n der Impression (und als Impressionen) und wi rkl i che Gemüts- und Verstandesakte in der Phantas ie (und als Phantasien)? Was ist die entsprechende Unwirklichkeit? Zunächst sieht man schon aus dem Gesagten, dass die Wirklichkeit der Gefühle, die wir z. B. Schwelgen in der Phantasie nennen (es sei darunter nicht verstanden die Lust, die wir impressional empfinden an lebhaften, großen, herrlichen Freuden in der Phantasie, sondern diese Freuden selbst), nicht Wirklichkeit im Sinn von Impression bedeutet. Diese Freuden und ebenso die eventuell sehr heißen Begehrungen in der Phantasie (und ebenso in der Bildlichkeit, im Theater – im Bewusstsein, in dem wir Mitleid, Mitfreude, Wünsche etc. aufs Lebhafteste empfinden, in der Welt des Schauspiels mitlebend) und dgl. stehen zu impressionalen Freuden genau so wie Phantasieempfindungen, d. i. Rotphantasmen etc., zu wirklichen Empfindungen (impressionalen), wie Phantasiewahrnehmungen zu wirklichen Wahrnehmungen, Wahrnehmungen schlechthin etc. Andererseits lassen wir aber innerhalb der Phantasie Unterschiede der „Wirklichkeit“ und „Unwirklichkeit“ zu, genau so wie innerhalb der Sphäre der Impression, und das muss erörtert werden. Wie kommt „Unwirklichkeit“, Bewusstsein von nicht wirklichem Sein, von Unwahrheit, von bloßer Fiktion (in einem wertenden Sinn) – denn um dergleichen handelt es sich – in die Sphäre der Aktualität, der Impression hinein? Ich sehe z. B. eine Rose, ich habe eine „normale Wahrnehmung“, eine Impression. Ich kann mir nun vorstellen und tue so, dass sie wie Käse riecht, dass ich sie esse und sie wie fauliger Käse schmeckt und mir dabei äußerst widerwärtig ist. Ich kann mir es zu anschaulicher Vorstellung bringen, es ausmalen. Ich kann es, und doch habe ich ein Unwirklichkeitsbewusstsein, ein impressionales Bewusstsein der Nichtigkeit. Eine Rose, die wie Käse riecht, schmeckt und gegessen werden kann, ist keine Rose. War das der Anfang, die Rose wahrzunehmen, und bleibe ich dabei, diese Rose als Rose wahrzunehmen, so streitet die Käse-Auffassung mit der Rose-Auffassung; dieser Streit hindert aber
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nicht den Vollzug einer zusammenhängenden Phantasie beschriebenen Inhalts. Im Rose-Wahrnehmen ist eine Rose-Apperzeption der Empfindungsimpressionen vollzogen, und nicht nur das, es ist Wahrnehmen im vollen Sinn, Seinsmeinung, Seinssetzung des Apperzipierten. Es hindert nichts, den Empfindungsgehalt der bloß gesehenen Rose anders zu apperzipieren, im Sinn nämlich der Käse-Auffassung, „phantasiemäßig“ einen Käsegeruch mit ihr zu verbinden, weiter phantasierend einen Vorgang des Essens einzubilden, wo sie käseähnlich schmeckt. Andererseits: Die Rose-Apperzeption besteht fort, und diese Apperzeption ist Materie einer Wahrnehmungssetzung und bleibt es. Damit streitet die fingierende Apperzeption, und so steht die Gesamtvorstellung der wie Käse schmeckenden etc. Rose als Fiktion, als nichtig da, als unwirklich. Genauso im modifizierenden Bewusstsein der Inaktualität (Phantasie). Jetzt haben wir keine Rose aktuell gegeben, also „in der Tat“ wahrgenommen, vielmehr schwebt uns eine solche in der Phantasie vor. Eine Rose phantasieren und in diesem Phantasiebewusstsein leben, das ist, eine Rose „gleichsam wahrnehmen“. Fange ich aber an und bleibe ich dabei, die Rose „wahrzunehmen“, sie als Rose mit sich identisch festzuhalten, fahre ich dann aber fort zu phantasieren, dass sie wie Käse rieche, schmecke etc., so „geht das nicht an“. Eine Rose riecht wie eine Rose und nicht wie Käse. Dieses Im-Inaktualitätsbewusstsein-in-Identität-mit-sich-Festhalten, dieses Erhalten der Konsequenz des appherzeptiveni Bewusstseins in der Phantasie ist es, was ich öfter in den Vorlesungen als „Assumtion“ bezeichnet habe:1 leider sehr unpassend und irreführend, denn es handelt sich nicht um ein Assumieren im Sinne eines Annehmens, was vielmehr ein neuer Akt ist, der schon solches Festhalten, solchen konsequenten Aktvollzug und Identifikation mit sich selbst voraussetzt. Halte ich also die Phantasiewahrnehmungen und die sonstigen Phantasieakte, die mir die Phantasieobjektität geben, durch – und nur vermöge solchen Durchhaltens habe ich eine Phantasieobjektität und eine Phantasiewelt, in der als einer standhaltenden ich mich bewegen, 1
Der wahre Sinn dessen, was ich unter dem Titel „Assumtion“ in den Vorlesungen vor Augen hatte hgemeint ist wohl die Ethik-Vorlesung von 1908/09, vgl. Husserliana XXVIIIi.
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in der ich urteilen, fühlen, begehren, wollen kann –, dann entspricht natürlich dieser Welt als der durchgehaltenen („assumierten“) Phantasiewirklichkeit eine mannigfache Unwirklichkeit, nämlich vermöge der hinzugebrachten oder hinzuzubringenden Phantasien, Gedanken, Leersetzungen, Urteile etc., welche diese Konsequenz stören, welche gegen die identische Einheit dieser quasi-wahrgenommenen, d. i. phantasiemäßig gesetzten und auch in phantasiemäßigem Urteilen gesetzten Welt streiten und durch sie „aufgehoben“, als nichtig, unwirklich herausgestellt werden. Man möchte sagen: Es ist klar, dass es die Leistung des Glaubens, der intellektiven „Setzung“, wie sie in jeder Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung, aber auch in jedem Urteil vorliegt, histi, diese Konsequenz zu ermöglichen und zu begründen. Was in dieser Hinsicht der aktuelle Glaube für die Sphäre der Aktualität (Impression) leistet, das leistet der inaktuelle Glaube (der „Phantasie“glaube) hfür die Sphäre der Phantasiei. Indessen, obschon das in gewisser Weise richtig ist, so muss man doch vorsichtig sein. Impressional kann mannigfaltiger Glaube mit dem oder jenem Glaubensinhalt (apperzeptiver Materie) Erlebnis sein, kommen und gehen, und es könnte das so statthaben – denkbar ist das offenbar –, dass jeder Glaube alsbald wieder dahingegeben, statt in Konsequenz festgehalten ist und dass somit im Fortgang der intellektiven Erlebnisse und speziell der Glaubenserlebnisse gar kein einheitliches Wirklichkeitsniveau gegeben wäre als eine Einheit der die mannigfachen Glaubensakte durchhaltenden Konsequenz. Also nicht der Glaube allein macht es, sondern die Einheit, und zwar die Einstimmigkeit in der Mannigfaltigkeit der Glaubensakte, welche die Funktion haben, die Einheit eines Wirklichkeitsniveaus zu konstituieren und eine feste Wirklichkeitsmauer gewissermaßen aufzurichten, gegen die eine umgrenzte, aber gleichwohl offene, unbestimmte Mannigfaltigkeit von Unwirklichkeiten vergebens ankämpft, hdiei sich durch Widerstreit gegen jene aufheben kann. Deutlicher gesprochen: Widerstreit gegen das gegebene Wirklichkeitsniveau definiert Unwirklichkeit, und mit der Gegebenheit eines solchen Niveaus ist die Unwelt der Scheinwirklichkeit und der fingierten und denkmäßig gesetzten Unwirklichkeit dem Allgemeinsten nach bestimmt. Aller Wechsel des Glaubens muss also in der Weise statthaben können und statthaben, dass eine einheitliche „wirkliche“ Welt als
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durchgehende für das setzende Bewusstsein erhalten bleibt. Dies aber besagt wieder: Ein fester Grundstock von zusammenhängenden Wahrnehmungen und auf die Wahrnehmungsgegebenheiten bezogenen sonstigen Glaubensakten muss im stetigen Bewusstseinsverlauf eine beständige und stetige Einheit der Konsequenz bilden, eine in gewisser Weise kohärente, wenn auch nach dem Bestand immerfort veränderliche Einheit. Durch sie immerfort hindurchgehend eine Gesamteinheit der Auffassung mit einer Gesamteinheit des Glaubens; aus ihr sich heraushebend teils die, teils jene artikulierten Akte herausmeinenden und verknüpfenden Wahrnehmens, Erinnerns, Urteilens usw., wobei jeder solche Sonderakt seinen umfassenden Hintergrund hat, der in vager, nicht explizierter Weise glaubensmäßig umschließt, was in eventuell nachkommenden Explikationen oder Näherbestimmungen als Mitgegebenes, Mitgültiges, Mitseiendes darin bewusst war. Diese ausgezeichnete Einheit des Glaubensbewusstseins ist eine stetige im Bewusstseinslauf und hat als stetiges Korrelat die identisch in der Zeit dauernde, hier ruhende, dort sich verändernde Welt. Jeder neue Einzelakt, von dem sie konstituierenden Gesamtbewusstsein sich abhebend, bezieht sich auf sie, teils es explizierend, also Gegebenes der Welt sonderbetrachtend, teils es näher bestimmend, sei es richtig oder unrichtig, wie sich im Fortgang des in diesen selben Zusammenhang gehörigen Erkennens herausstellen mag. Das gilt nun auch von der Phantasie, sofern hsiei in einem QuasiEinheitsbewusstsein eine Quasi-Welt als Niveau einer Phantasiewirklichkeit setzt. Und dasselbe gilt nun auch, wenn wir das Gemüt hinzuziehen, das fühlende, begehrende, wollende Verhalten zur Wirklichkeit, und wenn wir das hinsigesamt auch übertragen auf die Mannigfaltigkeit von Gemütsapperzeptionen, sofern sie Einheit der Konsequenz – so verstanden, wie es eben die Eigenheit des Gemüts erfordert – zu bilden, durchzuhalten geeignet sind. Natürlich muss beachtet werden, was ich schon vorher hätte sagen müssen, dass wir nicht e i ne Phantasiewelt haben wie eine aktuelle (wirklich wirkliche) Welt. Phantasiere ich mich ins Zentaurenland hinein, so habe ich in dieser Phantasie ein Phantasieniveau, phantasiere ich mich ein anderes Mal in G ul l i vers Welt hinein, so habe ich eine ganz andere Welt, und die eine und die andere haben miteinander nichts zu tun. Und so überhaupt von geschlossener Phantasie zu Phantasie.
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In einer Phantasiewelt nun nicht nur intellektuell, sondern auch emotionell lebend, haben wir neben den zum sachlichen Weltniveau gehörigen, diese Welt konstituierenden Empfindungen, Wahrnehmungen etc. auch zugehörige Empfindungsgefühle, darin in Gefallensapperzeptionen sich herausbildende Gefallensakte bezogen auf „wahrgenommene“ Gegenstände, weiter haben wir allerlei Motivationszusammenhänge zwischen den Gefühlen und sonstigen Gemütsakten, andererseits auch hZusammenhängei mit den sie bestimmenden und fundierenden intellektiven Akten. Natürlich freue ich mich, werte ich, begehre und will ich genau so, wie es meinem Charakter, meiner Sinnesart gemäß ist, löblich und tadelhaft, gut und schlecht, ganz so wie in der Aktualität. Ich bin ja mit dabei, und die Ichapperzeption und Ichsetzung ist hier die Setzung innerhalb der Phantasie und eingeordnet in den einheitlichen Zusammenhang der Phantasiewelt. Alles stimmt da zusammen, sowohl intellektuell wie emotionell, bzw. muss zusammenstimmen, sonst wird es durch diese Welt, diese phantasievermeinte, aufgehoben. Das heißt, vollziehe ich eine Gemütsapperzeption, die zu dem Belauf und der Einheit von sonstigen theoretischen und emotionellen Apperzeptionen in Widerstreit tritt, sind etwa durch die lebendigen Phantasiemotivationen gewisse Gefühle oder Begehrungen gefordert und gegeben, d. h. als zu diesen Motivationen gehörig erlebt, und „fingiere“ ich ein anderes Gefühl und dann natürlich andere Motivationen, dann ist vermöge der Konsequenz der Niveausetzung, die jetzt auch ein Gemütsverhalten mitsetzt, die Fiktion eben als Fiktion, als unstimmig charakterisiert. Das ist also in der Phantasie „wirklich“ Fühlen, wirklich Begehren, und dahin gehört auch, genau besehen, das Sichwirklich-Entschließen, ja sogar Handeln: alles ohne ein hypothetisches Verhalten. Freilich bin ich etwas zu leicht hinweggegangen über die besondere Natur der Fes thal tung und Konsequenz hinsichtlich der Schicht der emothionelleni Akte. Handelt es sich wieder um Glaubenssetzung? Ist das nicht etwas „Theoretisches“, „Intellektives“, und setzt es nicht hier den Gemütsakt und die in ihm selbst liegende Einheit und Konsequenz voraus?
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Schw ar z, Psychologie des Willens2, hS.i 110 f. „Nur solches ungesättigtes Gefallen ruft ein Wünschen hervor, das gegen satteres kontrastiert, das wir früher erlebten.“3 Erstes Beispiel: Ein Wohlgeruch, den uns der Wind zuführt, alsbald wieder verwehend. Der Wohlgeruch gefällt. Nachdem er verflogen ist, ist das Gefallen, sagt Sc hwarz, noch lebendig geblieben. Das Gefallen ist dasselbe, „der Wohlgeruch gefällt uns nach wie vor gleich gut“, aber der Sättigungsgrad hat abgenommen. Früher inneres Genügen an dem daseienden Gegenstand, jetzt mangelt er, und der Mangel wird erlebt als ein ungesättigtes Gefallen, das gegen das frühere kontrastiert. Trotzdem derselbe Gegenstand uns noch ebenso sehr gefällt, fehlt uns etwas zum vollen Genügen und damit übermannt uns der Wunsch. Dieses Wünschen, Drängen, Treiben ist da, ehe wir uns klar vergegenwärtigen können, das, was fehle, sei die Anwesenheit des Duftes. Dieser Gedanke hinkt bestenfalls nach. Nicht weil wir erst in die Zukunft blickend uns vorstellen, der Duft wird von neuem anwesend sein, wünschen wir, sondern darum wünschen wir, weil uns jetzt etwas fehlt. Über legung: Ist es richtig, dass, wenn der Wohlgeruch dahin ist, noch ein Gefallen und dasselbe Gefallen zurückbleibt? Ist es nicht einfacher zu sagen: Der daseiende Gegenstand, der wahrgenommene, ist Glied des Wahrnehmungszusammenhanges. Indem der Gegenstand verschwindet, bleibt die Vorstellung zurück, die mit dem Wahrnehmungszusammenhang kontrastiert und uns das Erleben des Verschwindens, des Nichtmehrdaseins gibt, und zwar des Nichtmehrdaseins des Besseren gegenüber dem aktuellen Lusterlebnis (eventuell neutralhen Erlebnisi)? Aber auch einfache Abnahme der Lust 1
Wohl 1902. – Anm. der Hrsg. Hermann Sch warz, Psychologie des Willens. Zur Grundlegung der Ethik, Leipzig 1900. – Anm. der Hrsg. 3 Das „früher erlebt“ ist unpassend. Es kommt darauf an, dass genossene Lust, Freude, verbunden ist mit dem Bewusstsein einer höheren, aber nicht aktuellen Lust. 2
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erweckt ein Bedauern, es sei denn, dass sie ganz stetig verläuft und nicht mit zu großem Gefälle, so dass sie unmerklich wird. Der Gegenstand war Lustgegenstand, und die Lust begründete das Gefallen. Die Lust ist mit dem Gegenstand dahin, sie verwandelt sich, ähnlich abklingend wie der sonstige Empfindungsinhalt, in Vorstellung von Lust und wird nun auf den Gegenstand als gewesene, verschwundene Lust bezogen. Das Lustobjekt, der Wohlgeruch, ist dahin, er fehlt. Es erwächst ein Unlustgefühl des Mangels und daraufhin der Wunsch nach dem Wohlgeruch. Was ist das für ein „Gefühl“? Zweites Beispiel: Neugierde, Begehren nach Wahrheit, Begehren der Tat. Wir müssen einmal gelobt worden sein und das muss uns gefallen haben. Dann kann in uns später das Begehren erwachen. Wir müssen früher einmal Neues vorgestellt haben und Gefallen daran gefunden haben, um wieder nach Neuem zu wünschen. Erinnern wir uns an den Gegenstand, so taucht das Gefallen wieder auf. Aber der Gegenstand wird nicht mehr gehabt, und so ist das w ieder aufl ebende G efal l en ungesättigt. Uns fehlt etwas, was wir früher im satten Gefallen erlebt hatten und das macht uns wünschen. Überlegung. Im Allgemeinen werden wir dergleichen früher erlebt, dieselbe oder ähnliche Lust genossen und daran Gefallen gefunden haben. Aber j etzt kom m t es nicht darauf an, dass w ir uns daran eri nnern, sondern daran, dass uns ein Objekt als Lus tobjekt i n de r Vorstel l ung erscheint (und „in der Vorstellung“ wirklich gefällt!) und dass uns im Geda nken an das Nic hts ein dies es O bj ekts der Mangel, das Nichtgenießen des Lustobjekts, das Nichterleben des Gefallenden zum Bewusstsein kommt, und zwar als eines höher Gefallenden, Höherwertigen gegenüber dem, was im jetzigen aktuellen Erlebnis als hedonischer Sachverhalt vorliegt. Man kann nicht sagen, dass ein gegenwärtiges Gefallen gegen ein vorangegangenes „sattes“ kontrastiert. Von Kontrast kann doch nur die Rede sein, wo beides im Bewusstsein gegeben ist. Erinnern wir uns faktisch an ein bestimmtes Lusterlebnis (an ein früheres sattes Gefallen), so kontrastiert nicht das frühere satte Gefallen gegen ein gegenwärtiges unsattes, sondern die Vorstellung des Lusterlebnisses kontrastiert mit dem in der Wahrnehmung Gegebenen: Es ist nicht wirkliches Lusterlebnis. Es muss nicht das negative Urteil
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ausgesprochen werden, die intuitive Sachlage berechtigt zum negativen Urteil. Das Lusterlebnis, das phantasiemäßig oder im Bild vorschwebt, ist selbst nicht erlebt, es fehlt uns etwas, und gerade das Sein dieses Lusterlebnisses, und darauf richtet sich dann das Begehren, Sehnen. (Das ist noch nicht ganz korrekt: Wir versetzen uns „in die Vorstellung der betreffenden Lust“, nämlich wir stellen nicht bloß die Lust vor, sondern das Gefallen an der Sache, gesetzt, dass sie wäre. Das Gefühl des Mangels erwächst, wenn dieses Gefallen kontrastiert mit dem geringeren Lustzustand, den wir erleben.) Ad hS.i 111. Junges Mädchen, das noch nie einen Ball erlebt hat, wünscht den ersten Ball brennend. Auch hier, meint Schwarz, besteht ein Kontrast zwischen einem vorgängigen satten Gefallen und einem nachkommenden weniger satten. Das junge Mädchen weiß, dass Genossenes, Gefälliges anders anmutet als bloß Vorgestelltes. Es phantasiert sich in den Genuss des Balles hinein und erlebt dabei jetzt schon ein gesättigtes Gefallen; sowie der Gedanke der Wirklichkeit sich einmischt, verschwindet es, und es bliebe das frühere „nüchterne Gefallen übrig“, das dem „bloßen Gedanken“ des Gegenstandes entspricht. Und nun fehlt etwas darin: Das Mädchen erführe, dass es bloß ungesättigtes Gefallen sei. Antwort: Aber dann wäre es ja befriedigt, wenn es vom bloßen Gedanken zur lebendigen Intuition überginge, wenn es also sich in den Ball hineinphantasierte. Die lebendigste Phantasie aber befriedigt nicht, weil sie eben Phantasie ist. Sie befriedigt ästhetisch, aber nicht real. Das Mädchen mochte auch von vornherein sehr lebendig sich den Ball vergegenwärtigt haben, wogegen bestand dann der Kontrast? Der Gedanke des Nichtseins entwertet das ästhetische Gefallen. Jedenfalls, mag auch die lebendigste Phantasie bestehen und bestehen bleiben, hdas Mädcheni mag nicht bloß ästhetische Freude, sondern reale Freude. Also hilft die ganze Unterscheidung nicht, und die ganze Darstellung Schwarzens ist falsch. Das ist richtig, dass die vorgestellte Lust ebenso wenig genossene Lust ist, wie der vorgestellte Ball wirklicher Ball ist. Das Nichtsein der vorgestellten Lust bedingt, sowie es zum Bewusstsein kommt, wofern nicht anderes im Weg steht, das Gefühl des Mangels und heini Sehnen nach Realisierung. So scharf kann man hier kein Gesetz aussprechen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass ich mich auf dem Ball großartig unterhalte, und doch braucht kein Wunsch
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danach zu entstehen. Ich habe eben jetzt höhere Güter, die mich mehr befriedigen und die den Wunsch unterbinden, auch ohne dass ich an sie ausdrücklich denke.
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Wunsch geht auf Sein. Bezieht sich der Wunsch auf ein Sein in der Art, dass nur Seiendes gesetzt wird, das mit aktuell Seiendem in irgendwelcher Beziehung steht? Zum Beispiel, ist das im Wunsch Seinsollende immer ein solches, das in der wirklichen Welt mit meinem Ich sein soll? Ach, gäbe es doch Zentauren: Wie schön wäre es, wenn es in der Welt (dieser wirklichen) dergleichen gäbe! Ach, käme doch ein Goldenes Zeitalter, also eine goldene Zukunft zur aktuellen Gegenwart. Aber kann ich mich nicht in eine reine Phantasiewelt hineinversetzen? Derart, dass ich gar keine Beziehung mehr übrig behalte zur aktuellen Welt, mit dem aktuellen Jetzt und der aktuellen Person? Sollte es undenkbar sein, dass mir eine reine Phantasiewirklichkeit wünschenswert erscheint, in der nicht einmal ich mit dabei wäre? Ein rein selbstloser Wunsch, über alle Wirklichkeit erhaben.2 Warum sollte man da Nein sagen? Ich sehe es nicht ein. Wunsch geht auf Sein in der Weise des wünschenden Seinsollens. Das, was ich da wünsche, steht aufgrund bloßer Vorstellung als gefällig da. Ich habe daran wirklich Gefallen. Expliziert hieße das: Gesetzt, das wäre, so wäre ein nach meiner Meinung wirklich Gefälliges, es würde mir wirklich gefallen, und es gefällt mir jetzt, wo ich in der Vorstellung lebe, auch wirklich. Unterscheiden wir zwischen unanschaulichem (leerem) und anschaulichem (klar entfaltetem) Wunsch. Beim unanschaulichen (verworrenen, wie wir auch sagen könnten) haben wir keine anschauliche Vorstellung vom Erwünschten und damit auch kein „klares“ Gefallen. Dagegen beim anschaulichen hWunschi verhält es sich umgekehrt. Ich stelle mir die Vollendung meines heiß erwünschten Werkes vor: das rein geschriebene Manuskript mit den verschiedenen
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Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg. In welchem Sinn jeder Wunsch die Aktualität voraussetzt (nämlich hinsichtlich der Lustsachlage, des relativen Niveaus), darüber vgl. die Blätter S, p. 6 h= Text Nr. 44: Triebgefühl, Gefühl des Mangels, Begehren und Wunsch (und hier ab S. 489,7)i. 2
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Kapiteln, alle Probleme geordnet und in sicheren Untersuchungen formuliert und durchforscht, rein ausgearbeitet. Ja, das wäre schön! Ich habe eine assumtive Vorstellung und in ihr gründet ein aktuelles, aber assumtives Gefallen.1 Gründet sich nun darauf erst das Wünschen, dass das assumtiv Gefallende sein soll? Gründet sich das Wünschen auf ein Assumieren und haufi ein auf das Assumierte als solches bezogenes und entsprechend charakterisiertes Gefallen? (Dass dieses selbst nicht das Wünschen ist, das ist ja klar.) Das ist nun freilich evident, dass, wenn ich wünsche, dazu wesentlich gehört die Möglichkeit zu sagen: Gesetzt, das träte ein, oder gesetzt, das stellte sich als wirklich ein, wie schön wäre das, wie glücklich würde ich sein; der Wunsch wäre dann befriedigt. Wieder ist klar, dass Befriedigung des Wunsches nicht vorgestellt sein kann in und mit jedem Wunsch. Man könnte sagen, das Assumierte und das assumierte Gefallen sind nicht das, was im Anschluss an den Wunsch als dessen Befriedigung vorgestellt werden kann. Etwas anderes ist Assumtion, es sei das Werk fertig, mit zugehörigem assumiertem Gefallen und etwas anderes dann assumieren, es stelle sich nun heraus, es sei wirklich fertig und es trete die Wunschbefriedigung ein. Das ist eine neue Assumtion, die des Sich-Herausstellens und des Übergangs des assumierten Gefallens in wirkliches Gefallen und zugleich der Sättigung des Wunsches, seiner Erfüllung durch dieses wirkliche Gefallen, wobei mit diesem die Freude der Erfüllung sich eint. Das ist zweifellos. Es ist nun die Frage, ob in jedem Wunsch jenes assumtive Gefallen „stecke“, im klaren als notwendig reeller Bestandteil, im verworrenen als verworrene Implikation. Jenes Assumieren und assumtive Gefallen kann ohne allen Wunsch sein. Ich phantasiere und lebe in der Phantasie. Ich vollziehe also ein Quasi-Wahrnehmen, ich lebe in einer Phantasiewelt als einer Quasi-Welt, und das darin so und so Erscheinende gefällt mir. Freilich wird man fragen: Soll man das „Assumieren“ nennen, dieses bloße Phantasieren, dieses Quasi-Wahrnehmen, ebenso auch Quasi-Urteilen über das Erscheinende etc.?2 Es ist eben Phantasieren, Phantasiegefühle haben etc. Wir haben Phantasieeinstellung, und 1 2
Cf. (A!) hwohl ein nicht näher bestimmter Text zum Thema „Assumtion“i. Cf. (A).
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diese haben wir bei all den Akten, die sich in ihr vollziehen und die selbst die Phantasiemodifikation haben. Ich glaube wirklich, dass die Rede von Assumieren unnütz und missverständlich ist. Freilich machen Schwierigkeiten die wirklichen Gefühle, das wirkliche Gefallen, das ich am Phantasierten haben kann, gegenüber einem bloß eingebildeten Gefallen in der Phantasie. Und wieder hgegenüberi einem Phantasiegefallen, das ich jetzt nicht teile. Was wäre hier zu sagen? Fürs Erste, wir müssen scheiden schlichte Phantasie und Phantasie in der Phantasie. Fürs Zweite: Wenn ich in der Phantasie eine Sachlage vorstelle mit einer Motivation, die ein Urteil z. B. rechtfertigen, ausreichend jedenfalls motivieren würde, so gehört das Urteil zu dieser Sachlage. Und gehe ich zu einer wirklichen Assumtion über, so würde ich urteilen und wirklich urteilen: Unter den Umständen gilt das. Ebenso beim Gefühl. Mit der Motivationsunterlage kann das Gefühl motiviert sein: Die Phantasierung der Unterlage motiviert das Gefühl in der Phantasie. Ich stelle mir einen als schlecht erkannten Menschen in der Phantasie vor, aber in geänderter Interpretation seines Charakters, dass ich ihn für einen Ehrenmann ansehe. Nun dann stelle ich mir Gefühle der Achtung etc. auf ihn bezogen mit vor. Natürlich teile ich das Gefühl der Phantasie in Wirklichkeit nicht. So ungefähr wäre zu antworten. Doch ist das noch tiefer zu untersuchen. So liegt also bloße Phantasie und in ihr irgend heini wirklich motiviertes, nicht bloß gedanklich zugedachtes Gefallen am Phantasierten zugrunde. Setze ich jetzt in wirklicher Assumtion, es sei, es stellt sich heraus, dass es eintrete oder wahrscheinlich wirklich bestehe, dann tritt ein Bewusstsein einer gewissen Steigerung ein: im vorgestellten Übergang in wirkliches Gefallen. Damit kommt aber ein Mangel zum Bewusstsein: Bedauern, dass es nicht als wirklich dastehe, dass hdasi Gefallen kein wirkliches sei. Und wieder der Wunsch, es möge sein. Was gehört zum Wunsch aber notwendig und reell? All das? Aus den Sc hwarz-Exzerpten ersehe ich, dass Schwarz das „wirkliche Gefallen in der Phantasie“ als Gefallen, aktuelles Gefallen schlechthin, nimmt und es im Vergleich mit sonstigem, aber aktuellem Gefallen desselben Inhalts als satteres ansieht. Das „wiederauflebende Gefallen“ ist „ungesättigt“. Aber ist eine wiederauflebende Farbe Rot dasselbe Rot nur „ungesättigt“? Ist es nicht dasselbe Verhältnis beiderseits? In derselben Weise wie ich, in der Phantasie lebend und
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ein rotes Haus quasi sehend, in der Phantasie „wirklich urteilen“ kann und in Wahrheit „Dies ist ein Haus und ist rot“ oder „Diese (Phantasie-)Farbe ist rot“, genauso kann ich im Phantasiegefallen lebend urteilen „Dies ist gefällig“, und die Bedingungen der Wahrheit 5 dieser Prädikation sind dieselben wie die sonstigen Bedingungen der Wahrheit von Phantasieprädikationen. Es fragt sich also nur, was die „Zugehörigkeit“ des „gefällig“ zum Subjekt fordert und inwiefern das in der Phantasie „wirklich gegeben“ (obschon phantasiemäßig) ist etc.
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Was das mit tel bare Wol l en anbelangt (von dem Schwarz leugnet, dass es ein Vorstellen des Zieles notwendig enthalten muss), so ist darin sicher gewollt eben das Mittel. Also das Gewollte (das im Mittelwollen direkt Gewollte in erster Linie, und das ist eben das Mittel) ist vorgestellt. Wir „wissen“ aber, dass es ein Mittel ist. Wir haben ein gewisses „Bewusstsein“ davon. Das Wollen ist anders charakterisiert als ein Endzweck-Wollen und in ihm lebt sicherlich etwas vom Endzweck-Wollen als eine durchgehende Tendenz. Hierbei wird der Endzweck in uneigentlicher, vager und ziemlich unbestimmter Weise vorgestellt. Schwarz selbst sagt: Wir wissen, dass uns das Mittel „irgendwie wichtig“ ist. Wir erleben eine über das Vorstellen des Mittels hinausreichende vage „Vorstellungsintention“ (sozusagen Vorstellungstendenz). Ich erinnere hier an die Art, wie J ames die „Intention, etwas zu sagen“ beschreibt in Fällen, wo wir zu sprechen anfangen und uns sicher keine vollkommen klare oder auch nur deutliche Vorstellung des zu Sagenden vor Augen steht.2 Aber ein Vorstellen ist das auch. Die Intention (die zugleich Willensintention ist) bestätigt sich in gewisser Weise, oder besser, identifiziert sich mit dem dann Ausgesagten, und zwar als vorschwebende Meinung und nicht bloß als Willensintention. Was ich nachher sagte, ist evidenterweise eben das, was ich meinte: in der Hauptsache, nicht nach den einzelnen Worten und dgl. Wie steht es nun mit der Intenti on al i tät des dunklen Begehr ens, mit dem „Mir fehlt etwas, ich weiß nicht was“, „Ich sehne mich nach ‚etwas‘, ich bin unbefriedigt“, während ich nichts Bestimmtes vor Augen habe? Ich würde in folgender Weise versuchen: Wir können zurückgehen auf Gefühle des Mangels, und zwar auf ursprüngliche (auch in der psychischen Entwicklung ursprüngliche), die noch 1
1910. – Bloße Abschrift des zweiten Blattes eines wohl 1901 geschriebenen (außerordentlich eng geschriebenen) Blattes der Auseinandersetzung mit hHermanni Schwarz. 2 Vgl. etwa William J ames, The Principles of Psychology, vol. I, London 1890, S. 251. – Anm. der Hrsg.
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nichts von der bewussten Beziehung auf Nichtseiendes implizieren, die wir beim gewöhnlichen Wortsinn von „Mangel“ mitzudenken pflegen. Der Hunger z. B. ist ein Gefühl eines Nahrungsmangels. Die Beziehung auf die nichtseiende Nahrung können wir abschneiden und das Gefühl so nehmen, wie es ohne Verflechtung mit dieser Vorstellung gegeben sein kann. Wenn ich jetzt während der Arbeit fortgesetzt das Gefühl eines „knurrenden“, „leeren Magens“ habe, so zeigt mir die Zuwendung auf dieses Gefühl und die Analyse desselben, so wie es soeben gegeben war, nichts von der Bewusstseinsbeziehung auf Nichtseiendes, die vielmehr jetzt erst auftritt, indem ich sage: Mir mangelt Essen. Entwicklungspsychologisch kann man sich die Sachen so zurechtlegen: Ursprünglich bestand ein Gefühl der Unlust von der Art jenes Mangelgefühls ohne Bewusstsein eines Nichtseins. Nun tritt lustvolle Beseitigung des Mangels ein, und das ist der Weg für die Entwicklung des Mangelbewusstseins im engeren Sinn und des Begehrens. Aber uns geht die Psychologie nichts an. Betrachten wir die Beseitigung der Unlust in Form der „Sättigung“, die etwas spezifisch zu solchen Unlustgefühlen Gehöriges darstellt. Es handelt sich hier nicht um beliebige Unlustgefühle, sondern um solche einer scharf umgrenzten Gruppe, und zu diesen gehört die Möglichkeit der Sättigung. (So kommt es, dass, nachdem die entsprechenden Erfahrungen gegeben waren, derartige Gefühle empirisch die unbestimmte Vorstellung von irgendetwas sie Aufhebendem, und zwar sie in der charakteristischen Weise „Sättigendem“, mit sich führen und im Zusammenhang damit in der Regel ein Begehren mit einer unbestimmten Vorstellung von „etwas“, das begehrt wird.) Überlegen wir. Nicht jeder Schmerz, nicht jede Unlust hat den Charakter eines solchen „Mangels“,1 sicherlich nicht der Schmerz des Sich-Brennens, -Schneidens etc. Der Hunger ist eine Unlust. Das Essen beseitigt diese Unlust. Es ist aber nicht bloß Beseitigung, sondern es wird stetig eine positive Lust erzeugt, die sozusagen die Unlustleere des Hungers, den Unlustraum mit wachsender Dichte ausfüllt, überdeckt. So findet eine charakteristische Ausgleichung, Ausfül1
Oder deutlicher: hNicht jeder Schmerz, nicht jede Unlusti hat den Charakter solcher Gefühle, wie es das Hungergefühl, die Pein der unbefriedigten Geschlechtlichkeit und dgl. haben.
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lung, eben Sättigung statt, vermöge der in eigentümlicher Weise sich mit der Unlust deckenden und sie „aufhebenden“ (wie plus-minus sich ausgleicht oder wie zwei Kräfte) positiven Lust, und zwar in einem stetigen oder schrittweisen Prozess. Ebenso verhält sich die „unbefriedigte Geschlechtslust“ oder vielmehr das Unlustgefühl des Mangels und die Sättigung dieses „Triebes“. Oder besser noch: das Unlustgefühl des lebhaften Juckens, andererseits das Kratzen. Offenbar betrifft dieses eigentümliche Vorkommnis der Sättigung nicht jede beliebige Unlust, jeden beliebigen Schmerz, der da kommt und zur Beseitigung kommt. Zum Beispiel, ich empfinde einen Zahnschmerz, und ein Anästhetikum beseitigt mir den Schmerz. Schmerzhafter körperlicher Druck und Beseitigung, sei es allmählich oder plötzlich. Ein Wohlbehagen der Beseitigung und ein stetig wachsendes, bei stetiger Beseitigung, tritt allerdings ein – aber das ist keine Sättigung. Es ist stetige Unlustabnahme (stetiges Nachlassen der Unlustspannung, der Unlustintensität sozusagen), aber nicht Abnahme durch positive Lustfüllung einer korrelativen Unlust-Leere – und das ist das Eigentümliche und hier Wesentliche (für die Charakteristik dieser „Triebgefühle“). Freilich, ob man die spezifische Unlustqualität und die Qualitäten der „ausfüllenden“ Lust in wesentliche Beziehung bringen muss, ist die Frage, und ob nicht vielmehr das ganze Verhältnis ein empirisches ist: nämlich empirisch verbunden stetiges Nachlassen der Unlust mit stetiger Erzeugung von Lust. Und empirisch stehen die Speise und das Essen als Unlust beseitigend und zugleich Genuss bereitend da: nämlich Wohlgeschmack gebend und zugleich verschmolzen mit diesem die in dieser Verschmelzung gesteigerte (oder wechselseitige Steigerung) Freude an der stetigen Beseitigung der Unlust. Stetige Aneinanderreihung von Lustempfindungen, sich deckend mit stetiger Abnahme der Unlust, zeitlich und empirisch-sachlich, und stetige Befriedigung in der Abnahme der Unlust. Alles verschmolzen und im positiven Lustcharakter sich steigernd. Genauere Beobachtung lehrt mich (soeben habe ich mit großem Hunger mein Frühstück verzehrt), dass die Sache komplizierter ist und dass meine Bemerkung im Originalblatt,1 dass die füllende Lust
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Vgl. oben, S. 482, Anm. 1. – Anm. der Hrsg.
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und die Leere jener Unlust qualitativ wesentlich aufeinander bezogen sind, in der Hauptsache doch richtig ist. Nämlich wir müssen wohl unterscheiden: 1) die Schmecklust, 2) die Magenlust. Das Zusammengehörige ist hier der Hunger (natürlich nicht als Begehren nach Speise) als Gefühl „des leeren Magens“ und das Sättigungsgefühl im „Magen“, wenn ich mir nun etwa Löffel für Löffel meine Suppe zuführe. Und dazu kommt nun noch als parallele, sich empirisch verbindende und deckende Reihe die der Geschmackslüste, die qualitativ in keiner Beziehung zur „Leere im Magen“ stehen und nicht zur eigentlichen Sättigung gehören.1 Die eigentliche Sättigung ist also ein in den Gattungen der betreffenden Qualitäten wesentlich (a priori) gründendes Verhältnis. Ist der Hunger zur Begierde geworden, so ist offenbar zu scheiden zwischen der Sättigung als Aufhebung der Magenleere etc. und der Befriedigung der Begierde. (Ich notiere noch: Beim Essen haben wir nicht stetige Befriedigung bzw. Sättigung, vielmehr essen wir in Bissen, und nun wäre zu beschreiben der Rhythmus in dem Sättigen, dann Leere und heftiger Drang, dann wieder Sättigung, dann Leere und wieder, etwas weniger heftiger, Drang usw.) Diese Gefühle der Unlust, welche oben als ursprünglicher, blind triebartiger Mangel, aber sozusagen blinder, noch auf kein Nichtsein bezogener Mangel beschrieben worden sind, oder jene eigenartigen immanenten Gefühle (immanent, sofern sie kein transientes, sondern immanentes Objekt haben), welche ihrem Wesen nach „Sättigung“ zulassen, nenne ich nun in dem Originalblatt Triebgefühle. Aus diesen Triebgefühlen entspringt (nach den psychologischen Ausführungen des Blattes) zuerst in der psychologischen Entwicklung das Begehren.2 An sich ist Hunger als blinder Trieb noch kein Begehren nach Speise. Er ist ursprünglich nicht mit einer noch so vagen Vorstellung eines Hungerstillenden verbunden. Öftere Erfahrungen der Stillung eines „Triebes“ durch Wollust (oder schon die der Linderung eines Schmerzes, seiner einfachen Besänftigung) bedingen im Erlebnis eines unlustvollen Triebes (und 1
Die beiden Momente Sättigungslust und Geschmackslust sind auch trennbar. Sowie ich völlig satt bin, habe ich die erstere Lust nicht mehr, dagegen habe ich noch die Geschmackslust. 2 Dasselbe entspringt aber auch aus anderen Fällen: Linderung einer beliebigen Unlust, dann auch Entstehung von Lust und Steigerung andersartiger Lust.
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ebenso eines Schmerzes überhaupt) eine gewisse Modifikation: Es erwächst das Gefühl des eigentlichen Mangels, der mit der Vorstellung eines den Trieb positiv Sättigenden (oder den Schmerz Beseitigenden) verbunden ist. Es ist die Frage: Bedingt Erinnerung an eine frühere Lust oder auch nur die zufällige Vorstellung einer Lust durch den Kontrast mit dem jetzigen niedrigen Luststand oder mit der jetzt erlebten Unlust nicht auch schon das Gefühl eines Mangels? Dazu Schwarz‘ Beispiel der entschwebenden Geruchslust.1 Genügt nicht eine beliebige Vorstellung eines, kurzweg gesagt, besseren Lustzustandes, als wie er jetzt Erlebnis ist, um ein Gefühl des Mangels zu wecken? Doch gehört diese Frage in die Phänomenologie? Das Gefühl der „Leere“, das bloße Triebgefühl, ist noch nicht Begehren. Auch die hinzutretende Vorstellung der Ausfüllung, der stetigen oder schrittweisen Füllung der Leere macht es nicht dazu. Diese Vorstellung führt mit sich Lust. Genauer gesprochen: Die Ausfüllung der Leere ist ja eine lustvolle Ausfüllung; indem ich in dieser Vorstellung lebe, vollziehe ich ein Phantasievorstellen und Phantasiefühlen, und dieses Phantasiefühlen ist kein leeres Denken an Gefühle. Aber das reicht noch nicht zum Begehren hin. Ganz mich einlebend in die Vorstellung und Fühlung würde ich reine Einfühlungsfreude erleben an dem sich sättigenden Genuss. Jetzt, wo ich satt bin, kann ich mich in meinen Wolfshunger von vorhin einleben und in das Vergnügen der Sättigung. Obschon ich jetzt keinerlei besondere Lust empfinde oder Unlust, bleibt es bei dieser Einfühlung. Anders, wenn ich jetzt den Mangel empfinde, wenn ich jetzt hungrig bin und mir die Sättigung und auch nur irgendeine Sättigung eines Hungers vorstelle. Ich empfinde dabei nicht nur den Kontrast zwischen der unlustigen „Leere“, dem ungestillten Hungergefühl, und dem Sättigungsgefühl der Lust, die ich in hderi Vorstellung habe. Das Neue ist eben das Spezifische des Begehrens, das Langen nach dem Vorgestellten, in dem Hungerbeispiel nach einem diesen Hunger Sättigenden, und allgemeiner das Langen nach einem die Unlust Beseitigenden oder die vorhandene Lust von niederem Stand Erhöhenden.
1 Vgl. Hermann Sc hwarz, Psychologie des Willens. Zur Grundlegung der Ethik, Leipzig 1900, S. 109. – Anm. der Hrsg.
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Ich habe vorhin von Triebgefühlen gesprochen. Die Idee des Mangels gehört nicht nur zu den ursprünglichen Triebgefühlen (die allerdings in der psychischen Entwicklung wohl die ersten Begehrungen und Mangelgefühle stiften). Ich habe schon vorhin die Phänomene der Abnahme der Unlust und der Lust an der Abnahme der Unlust, also das Wohlgefühl der Linderung einer Unlust, erwähnt. Verbindet sich dieses empirisch mit der Vorstellung eines hinzutretenden Ereignisses (zu dem Unlust tragenden), dessen Ablauf die Abnahme der Unlust empirisch motiviert, so wird dieses bzw. das wirkende Ding dabei in Übertragung als lustvoll (nämlich als Unlust beseitigend und dadurch lustvoll) charakterisiert. Ebenso gehören hierher die Phänomene der allmählichen Lustentstehung (aus dem Stand der Gleichgültigkeit), der Luststeigerung und die entsprechenden Übertragungen auf lusterzeugende, luststeigernde Gegenstände und Vorkommnisse (unter gegebenen Umständen und Beziehungen). Die Vorstellung einer verwandten Luststeigerung weckt die Vorstellung der auf die vorhandene Lust bezogenen Steigerung, etwa hervorgerufen durch ein bei ihm diese Steigerung hervorrufendes Objekt. In dieser Beziehung auf das wahrnehmungsmäßig oder sonstwie urteilsmäßig Gesetzte mit seiner (niedrigen) Lust erwächst das Bewusstsein des Nichtseins der vorgestellten höheren, auf dieses Objekt bezogenen Lust bzw. das Bewusstsein des Nichtseins der betreffenden gegenständlichen Änderungen etc. in und mit ihrer Luststeigerung. Und darin fundiert nun das neue Gefühl des Mangels: „Das ist leider nicht so“, das Lustbringende ist „leider nicht da“, tritt leider nicht ein, es „fehlt“, und dieses Gefühl des Mangels kann übergehen in das Langen, in das „Möge es so sein!“1 Bedauern und Wünschen sind ja nicht dasselbe, obschon miteinander wesentlich zusammenhängend und oft ineinander übergehend, ineinander umschlagend. Bedauern und Begehren sind sicher intentional, das letztere im ersteren (im Mangelgefühl) fundiert. Wie ist es, wenn das Begehrte eintritt? Das Gefühl des Mangels gehört zu den Gefühlen, die ihr Korrelat in möglicher Sättigung ha-
1 Also Mangel ist auf Gegenstände bezogen; es ist Missfallen am Nichtsein von gefälligen oder Gefallen bringenden, lustbringenden etc. Gegenständen.
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ben.1 In der Wunscherfüllung erfährt dieses dem Wunsch immanente Gefühl nicht nur sättigende Ausgleichung, sondern es erfüllt sich auch das Spezifische des Begehrens, das Langen, es „entspannt“ sich. Ist es richtig, dass dem Wunsch ein Gefühl des Mangels (bezogen auf das Nichtsein des Gewünschten) einwohnt? Ich kann Mangel haben ohne Wünschen, nicht aber Wünschen, ohne den Mangel zu fühlen? Gewiss. Nur ist es ein anderes, in dem Mangelbewusstsein hzui leben und im Wünschen, das in ihm fundiert ist, hzui leben. Es ist auch zu sagen, dass wir nicht in wirklicher Vorstellung haben müssen: „Das ist nicht, und es fehlt mir.“ Indem die Vorstellung eines luststeigernden Vorgangs erwächst, der die aktuell apperzipierte Gefühlssachlage im positiven Sinn bessert, indem etwa die Vorstellung eines Andersseins und Besserseins des gegebenen Objekts in der oder jener Hinsicht (mit verbesserter Lustpotenz) erwächst, steht das vorgestellte Bessernde als nichtig da, aber nicht in einem theoretisch bestimmenden Denken. Es genügt das bloß anschauliche Vorstellen und Fiktionsbewusstsein für das Gefühl des Mangels. Und ebenso weiter für das Begehren, das in diesem wurzelt. Ich trauere sozusagen nicht bloß, ich bedauere nicht bloß, ich „strebe“, wozu ich aber das Bedauern als Unterlage brauche. Wenn es sich um solche Fälle handelt wie das Begehren nach Stillung des Hungers, so haben wir zu unterscheiden: h1.)i die Sättigung des Hungers als solchen hinsichtlich der Triebgefühle, das angenehme spezifische Sättigungsgefühl „im Magen“ und was sich damit noch verbindet, vor dem Bewusstsein des Nichtseins und vor dem Wunsch (Geschmackslust etc.). h2.)i Weiter die Sättigung des Gefühls des Mangels, d. i. des Gefühlsbewusstseins von mangelndem Essen: Die stetige oder bissenweise Zuführung des Essens beseitigt diesen Mangel und füllt seine Leere aus mit der wachsenden Lust der Magensättigung etc., denn der Mangel ist Mangel am Nichtsein
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Das ist in dieser Allgemeinheit nicht richtig, wofern wir unter Sättigung stetig sich vollziehendes Sättigen verstehen. Andererseits das Unlustgefühl, Missfallen am Nichtsein, ist ein Gefühl der Leere, das seine entsprechende „Fülle“ hat, und insofern ist das wieder richtig. Die Fülle bringt das Eintreten oder das als wirklich Sich-Herausstellen des Seins, sofern es ja lustbringendes ist, durch die Realisierung eben dieser Lust. Und über den Eintritt des Lustbringenden und dadurch die Leere Füllenden freue ich mich dann. Das ist hier die Freude der „Sättigung“.
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der Nahrung als dieses Wohlgefühl versprechender. h3.)i Endlich die Wunschbefriedigung: die Freude, dass gerade eintritt, was erwünscht war, die Entspannung des Langens, des Hinstrebens nach dem Begehrten. Also die Verbindung von Gefühlen mit Vorstellungen und Urteilen macht erst die neuen Akte aus. Es sind Komplexionen, aber mit ihnen fundieren sich neue Akte der Gemütssphäre. Von großer Wichtigkeit ist noch eines. Der Wunsch setzt vor aus eine Beziehun g auf di e G em ütsaktualität, nämlich auf das aktuel le f ühle nde Ich und seine jeweilige aktuelle Gefühls lage1 (also hist eri in der Regel auch intentional bezogen auf wirklich gesetzte, angeschaute, geglaubte Gegenständlichkeit, irgendwie hbezogeni auf die Welt, in der sich das Ich gegebenenfalls befindet). Mich als aktuelles Ich in der aktuellen Welt ganz vergessend kann ich nicht aktuell wünschen. Lebe ich mich ganz in die Welt purer Phantasien ein, so kann ich nur wünschen als Phantasie-Ich, und dann habe ich alles nur modifiziert in die Phantasiewelt übertragen, was sonst auszuführen wäre vom aktuellen Ich. Die Gefühle sind dann Phantasiegefühle und die Wünsche Phantasiewünsche (sie mögen darum den Charakter „brennender Begehrungen“ haben). Ich kann nicht wünschen, dass ich das Goldene Zeitalter erlebte, wenn ich nicht vor Augen hätte dieses Eiserne Zeitalter, in dem ich wirklich lebe. Aber könnte ich nicht wünschen, dass auf dem Mars edle Seelen wohnen, selbst wenn ich ein Glied einer Über-Erde wäre, wo nichts als Edelsinn herrschte? Nun, stelle ich mir die wirkliche irdische Welt mit den edlen Seelen vor und bilde die Vorstellung einer hinzukommenden Marswelt mit neuen edlen Seelen, so haben wir wieder Bewusstsein des Nichtseins eines höheren Gutes (nämlich der Güterbereicherung durch die neue Welt in Addition zur gegebenen Welt), also Bewusstsein des Mangels und somit Möglichkeit eines darin fundierten Wunsches. In jedem Fall aber setzt der Wunsch Beziehung zu einer Lustaktualität als Beziehungspunkt voraus und nicht bloß Kontrast des vorgestellten Höheren gegenüber dem Gegebenen, sondern Bewusstsein des Nichtseins des Höheren in Relation zum Gegebenen und so Gefühlsbewusstsein des Mangels.
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Cf. WB 3 h= S. 494,11–496,7i.
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Wünsche sind existenzial orientierte Gemütsakte, und sie setzen unter dem Titel Lustsachlage als Beziehungspunkt wieder existenzial orientierte Gefühle (keine Begehrungen) voraus. Inwiefern es überhaupt nicht-existenzial orientierte Gefühle gibt, das ist hier nicht 5 erwogen. Nota. Kann man nicht sagen: Blicke ich auf das Bessere hin, so wünsche ich; blicke ich auf das aktuell Gegebene hin, so bin ich unbefriedigt, entbehre ich? Nämlich jeder Wunsch setzt voraus ein aktuelles hedonisches Bewusstsein mit bestimmtem hedonischem 10 Niveau und das Bewusstsein (in eins damit) eines nicht gegebenen Besseren; somit setzt er „Werten“ und Höherwerten voraus. Und darauf bezieht sich der angeführte Satz: Ob ich „entbehre“ oder „wünsche“, das hängt von der Richtung des Übergangs im Gemüt von Gegebenem zu Nicht-Gegebenem etc. ab.
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h§ 1. Die notwendigen Zusammenhänge zwischen intellektiven Stellungnahmen, Gemütsakten und dem Wünscheni Wünschen kann ich nur, was ich nicht habe, was ich nicht für gewiss seiend halte. Aber nicht in bloßer Privation: Ich muss entweder ein Bewusstsein geradezu der Unwirklichkeit, des Nichtseins haben, oder ich muss es etwa vermuten oder bezweifeln, oder ich habe ein bloßes Bewusstsein der Ungewissheit. Bemerkenswert ist, dass ich wünschen und begehren auch kann, wo ich fest überzeugt bin, dass das Erwünschte mir zuteil werden wird, wenn ich es mit sicherer Gewissheit erwarte. Solange das Glück nicht wirklich da ist, begehre ich es, und umso heißer sogar, je näher ich daran bin: z. B. die Zusammenkunft mit der Geliebten. Wie ist es nun, verträgt sich darum etwa Freude und Wunsch? Ich freue mich, dass A eintreten wird und wünsche, begehre zugleich, dass A sei. Indessen ist hier offenbar die Materie eine verschiedene. Ich begehre nicht das zukünftige Eintreten von A, sondern das gegenwärtige Dasein von A. In Bezug auf dieselben „Inhalte“ schließen sich Freude und Wunsch aus. Diese Inhalte, die Objekte in gewissem Sinn, sind beiderseits Sachverhalte. Die Freude ist Freude darüber, dass etwas war oder sein wird, der Wunsch Wunsch dahingehend, dass etwas jetzt oder künftig oder in der Vergangenheit sein, künftig sein, gewesen sein möge. Es ist nun die Aufgabe, die fundierenden Akte des Wunsches herauszuanalysieren, zunächst die Vorstellungsunterlage, die intellektive Unterlage. Wünsche ich, dass A sein möge, so stelle ich das vor und habe dabei irgendeine Stellungnahme, welche aber die Gewissheit, dass
1 Zunächst nach Hallenser Blättern hvor 1900i. – Die weiteren Ausführungen fundamental. 20.1.1910.
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A sei, ausschließt.1 Weiter: Wie steht es mit der Fundierung durch Gemütsakte, und was kommt da in Betracht? Ich kann offenbar nicht irgendetwas wünschen, wenn es mich nicht – gesetzt, dass es wäre – erfreute. Also vorausgesetzt ist: „Ich würde mich freuen, wenn es wäre.“ Natürlich nicht in dem Sinn, dass ich mich dann faktisch freuen würde. Das braucht nicht der Fall zu sein. Aber so, dass hichi, wenn ich wünsche, sicher und vernünftigerweise sagen kann: „Wäre das so, würde ich mich freuen“ – und auch einsehen kann, dass, wenn ich das nicht sagen dürfte, ich auch nicht wünschen könnte. Ebenso: Ich kann nicht wünschen, dass S P sei, wenn ich es nicht bedauern oder vermissen würde, dass es nicht sei. Müssen wir darum etwa sagen, das „Ich wünsche A“ impliziert, schließt ein die Überzeugung: Ich würde mich freuen, wenn es wäre, ich würde es bedauern, wenn es nicht wäre?2 Wie steht es nun mit dieser Implikation? Sie ist offenbar keine aktuelle. Danach müsste ich ja wünschend 1) mir vorstellen, dass A sei – diese Vorstellung ist aber Bestandstück des folgenden Aktes: 2) unter Assumtion, dass A sei, Freude haben, also einen durch Assumtion modifizierten Akt der Freude vollziehen. hDes Weiteren müsste ich wünschend 3) mir vorstellen, dass A nicht sei. Diese Vorstellung ist aber Bestandstück des folgenden Aktes: 4)i unter Assumtion, dass A nicht sei, oder aufgrund der Überzeugung oder Ungewissheit, dass A nicht sei, Unfreude empfinden. Nun sieht man aber leicht, dass das hLetzterei eine überflüssige Implikation ist. Schon aus dem Grund, weil hier ja Wesenszusammenhänge bestehen, und somit, wenn eines impliziert ist – irgendein Gefühl, irgendeine Gefühlslage – durch Heranbringung neuer Assumtionen, die mit den gegebenen zusammenhängen, die assumtiven Gefühle notwendig (in der Einheit des Bewusstseins) die korrelaten geänderten Gefühle begründen. So gehört zum Wesen einer posi-
1 Auf dem Originalblatt habe ich mir noch Sorgen gemacht, ob es denn richtig sei zu sagen, dass ich wünschen kann, wenn ich absolut überzeugt bin, das zu Wünschende sei nicht. Kann ich ernstlich wünschen, dass auf dem Mars Menschen wohnen mögen, wenn es mir zweifellos wird, dass dergleichen unmöglich sei? Kann ich wünschen, hder Satz desi Pythagoras möge nicht gelten? Aber warum nicht? Sehnend breite ich meine Arme nach dem teuren Schattenbild. Das alles ist doch selbstverständlich. 2 Die weitere Betrachtung wäre zu verbessern und die nähere Überlegung dieser vernünftigen Implikation im Verhältnis zur reellen vorher zu erörtern.
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tiven Freudensachlage Folgendes: Fundiert die Überzeugung, dass A sei, die Freude daran, dass A sei, so wandelt sich notwendig die Freude in Trauer, wenn die Überzeugung, es sei A, sich verwandelt in die Überzeugung, es sei A nicht. Doch von Trauer sprechen wir bei einem dauernden Zustand, sonst sprechen wir von „Leidtun“, „es schmerzt mich, dass …“, und vor allem von „B edauern“. So sprechen wir nicht, wenn, was auch heranzuziehen ist, ferner die Gewissheit sich in Ungewissheit verwandelt. Wird es zweifelhaft und völlig unentschieden, ob A sei, so schwanken wir zwischen Hoffnung und Furcht. Wird es wahrscheinlicher, dass A nicht sei, so fürchten wir, dass es nicht sei, wir „besorgen“ es. Dass A sei, ist nun leise Hoffnung; umgekehrt im Fall, dass wahrscheinlicher ist, dass A sei, freudige Hoffnung – leise Befürchtung. Natürlich überträgt sich das auf die Gefühle unter entsprechenden Assumtionen. Dabei ist phänomenologisch zu sagen, dass nicht etwa, wenn ich mich gefreut habe darüber, dass A sei (also Gewissheit zugrunde liegt), und nachher die Urteilsunterlage eine andere ist, wirklich das entsprechend modifizierte Gefühl eintreten muss. Aber wohl, wenn ich das frühere Gemütsverhalten noch durchhalte, mich seiner nicht bloß erinnere, oder besser, es in der Erinnerungsmodifikation vollziehe, sondern es noch festhalte, sofern ich „auf seinem Boden bleibe“.1 Ontisch gewendet: An der Erfreulichkeit des Sachverhalts hat sich für mich nichts geändert, nur glaube ich nicht mehr wie vorhin an die Wirklichkeit des Sachverhalts. Blicke ich zurück und lebe ich mich erinnerungsmäßig in das Glauben an den Sachverhalt wieder ein, so steht er nicht nur als erfreulich erschienener da, sondern er steht auch jetzt noch als erfreulich da. Ich kann mich an eine Freude erinnern, also erinnern, dass ich aufgrund einer Gewissheit, dass A sei, mich darüber freute, und kann jetzt dergleichen gar nicht erfreulich finden. Nun ja, ich bin jetzt ein anderer, habe viele Erfahrungen gemacht, die ich damals noch nicht gemacht hatte, weiß schlimme Folgen, von denen ich damals nicht wusste etc. Es kann also sein, dass ich jetzt, in die Vorstellung, dass A sei, mich einlebend, mich auf den Boden, es sei A, stellend, andere Gefühlsmotivationen gegeben habe
1 Allgemeiner Exkurs: Das „Durchhalten“ einer Wertung, sich auf den Boden wie einer Sachlage so einer Gemütslage stellen und diesen Boden „festhalten“.
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und demgemäß anders werte. Es kann aber auch sein, dass das nicht der Fall ist und die Motivationslage eine unveränderte ist. So kann es nun sein, dass ich soeben noch etwas als erfreulich ansah (aufgrund der vorhandenen Gemütsmotivation bzw. Gemütsapperzeption) und inzwischen hat sich darin einiges geändert und ich sehe es nicht mehr so an. Hat sich die Überzeugung vom Sein des A geändert, so braucht sich in Hinsicht auf die Apperzeption des Gemüts selbst nichts geändert zu haben, und zurückblickend mich auf den Boden der Überzeugung stellend, d. i. mir vorstellend, es sei A, kann ich genauso gefühlsmäßig apperzipieren wie vorhin. Dieses hSichi-auf-den-Boden-einer-Sachlage-Stellen das ist sie vorstellen (etwa in einer Urteilsmodifikation) und sie festhalten. Solange ich die Vorstellung desselben Inhalts vollziehe, habe ich selbstverständlich in dem modifizierten Einheitsbewusstsein einen Boden. Aber es kann sein, dass ich wiederholt vorstelle und die Vorstellung dabei nicht vollziehe in der Weise, dass ich zurückblickend auf die frühere Vorstellung sagen kann, es sei vorgestellt genau dasselbe. Zum Festhalten des Bodens, zum Festhalten einer Sachlage in der Vorstellung gehört, dass ich sie immerfort als dieselbe vorstelle bzw. so vorstelle, dass rein aufgrund der Vorstellung das Bewusstsein der Identität der Sachlage fundierbar ist. Ebenso stelle ich mich auf den Boden nicht nur der Sachlage, sondern der auf sie bezogenen Gemütslage, wenn ich die gesamte Gemütsapperzeption in derselben Weise vollziehe, nämlich dass sie als Boden den identischen Freudenverhalt, Begehrungsverhalt etc. ergibt. Ändern wir nun einen identischen Gemütsverhalt in der Art, dass wir das A-Sein in A-Nichtsein verwandeln, dann verwandelt sich notwendig und a priori die Freude in Bedauern (Leid); verwandeln wir A-Sein in Zweifelhaftsein, so haben wir weitere Veränderungen, ebenso hbei Verwandlungi in Vermutlichsein, VorwiegendWahrscheinlichsein, Negativ-Wahrscheinlichsein etc. Das ist ontisch ausgedrückt; phansisch aber entspricht dem ein notwendiger Zusammenhang der Bewusstseinsarten.
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h§ 2. Die Bezogenheit des Wunsches auf eine aktuelle Glückslagei
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Solche notwendigen Zusammenhänge liegen nun zwischen Wunsch, Freude, Bedauern usw. bei entsprechender Materie offenbar vor. Die Frage ist nun aber: Was enthält der Wunsch notwendig und in jedem Fall? Was für Bewusstsein kann mit einem Wunsch eines und desselben Wunschverhalts bzw. einer und derselben Wunschbedeutung in verträglicher Weise verbunden sein? Und was ist immer und notwendig Bestandstück? In Einheit verträglich sind z. B. Wunsch, dass A sei, und Furcht, dass A nicht sei, und das weist auf eine gewisse intellektive Unterlage hin. Ebenso Wunsch, dass A sei, und Bedauern, dass A nicht sei – das weist auf eine andere intellektive Unterlage hin, denn alles drei ist nicht verträglich (Bedauern und Furcht nicht). Wir brauchen also irgendeine intellektive Unterlage, die nur so geartet ist, dass sie heinerseitsi kein Bewusstsein von der Gewissheit des Seins des Erwünschten darstellt, andererseits auf A-Sein in der Weise der Ungewissheit, des Zweifels etc. bezogen ist. Ferner: Nehmen wir nicht völlig vage Wünsche, die sich erst in deutlichen und eventuell klaren zu explizieren haben, genügt nicht da für das Wünschen auch eine bloße Vorstellung? Nämlich: Wenn ich bloß vorstelle, bin ich in diesem Bewusstsein sicherlich nicht gewiss, dass das Vorgestellte sei, obschon ich sonst keine Stellung dazu habe, weder Ungewissheit (ein positiver Zustand) hnochi Zweifel, Vermutung etc. Und diese Frage hängt zusammen mit der, ob im Wunsch eine unablösliche Beziehung auf die Aktualität, auf die aktuelle Welt des Wollenden, auf sein Ich und dgl. liege.1 Es scheint, dass wir das sagen müssen. Handelt es sich um eine reine Phantasiewelt, so kommen nur Phantasiewünsche in Frage, und bei diesen bestehen, näher besehen, dieselben Verhältnisse wie für aktuelle Wünsche, nur dass sie alle in die Phantasiewirklichkeit und die ihr korrelate, gegenüberstehende Unwirklichkeit hinübergeschoben sind. Wünsche ich, dass mein Gerhart sich gut entwickle, dass er ein schönes Doktorat mache etc., so ist er der Aktualitätspunkt. Er, der
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Cf. S6 h= S. 488,22–490,14i.
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jetzige Gerhart, ist der Ausgangspunkt, und das auf ihn bezogene künftige Doktorsein kommt in Frage als möglicher, aber unentschiedener, vermutlicher etc. Gedanke. Also nicht die bloße Vorstellung des A-Seins habe ich, sondern auch das Bewusstsein, dass A nicht sei oder A vielleicht nicht sei, wahrscheinlich nicht sei etc. Eine intellektive Stellungnahme, die die Gewissheit des A-Seins ausschließt, liegt zugrunde. Freilich, ist mit der Beziehung auf Aktualität schon gesagt, dass das Vorgestellte notwendig irgendeinen Stellungscharakter haben muss, zumindest den einer leeren Möglichkeit, einer Ungewissheit? Doch wohl. Wie ist es ferner in Fällen der Mathematik? Ich wünsche, dass sich die Wahrheit eines Satzes herausstellen möge. Das kann rein in der Mathematik liegende Gründe haben: Wenn er gelten würde, so würde sich eine Theorie etwa sehr „schön“ zusammenschließen, es würde dann eine „schöne Theorie“ gelten und dgl. Dann ist die Sphäre der Aktualität die der bereits begründeten mathematischen Wahrheiten, und die Gemütsaktualität (Wertaktualität) liegt in der Freude an der Schönheit dieses Mathematischen. Zu betonen ist, dass keinerlei Prädikation, keinerlei begriffliche Fassung der Vorstellung bzw. der betreffenden intellektiven Stellungnahme mit ihrem Gehalt vorgenommen sein muss. Weiter: Das vorgestellte A-Sein muss als etwas „Schönes“ dastehen. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich das Bewusstsein habe: Wenn A wäre, so wäre etwas Schönes, oder wenn A wäre, würde ich mich freuen etc. Solche hypothetischen Gedanken sind ganz überflüssig und gehören sicher nicht zum Bestand des Wunsches. Das A-Sein, mag es nun als nichtig oder zweifelhaft etc. charakterisiert sein, steht da als eine „schöne Sache“, obschon natürlich nicht „in Wirklichkeit“. Wie das? Und was soll das besagen „eine schöne Sache“? Überlegen wir ein Beispiel, und ein solches, wo Bewusstsein der Nichtigkeit besteht. Eine trauernde Mutter wünscht, dass das ihr entrissene Kind wieder in ihren Armen sei. Sie hat das Bewusstsein des gewissen Nichtseins, und doch lebt sie in der Phantasie, und in ihr steht das Im-Arm-Halten des geliebten Kindes als etwas Herrliches da. Wir haben einen Doppelakt. Wir haben aufgrund der gleichen „Materie“ eine Vorstellung des A, und diese ist Quasi-Dasein des A. Es ist eine Wahrnehmungsmodifikation, in der das A, bzw. es ist eine Modifi-
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kation einer prädikativen Synthesis, in der das „A in den Armen seiend“ bewusst ist und zugleich ein dagegen gerichtetes „nicht“, ein Nichtigkeitsbewusstsein, welches also nicht nur das Sein des A vernichtet, sondern auch die darauf bezogene Erfreulichkeit: in dem Sinn nämlich, dass damit die aktuelle Erfreulichkeit aufgehoben ist. Wir dürfen so vielleicht sagen: Der Freudenverhalt als solcher steht als nichtig da. Mit Rücksicht auf das gewählte Beispiel könnte man nun sagen: Die Mutter, in die Vorstellung des daseienden Kindes sich einlebend, fühlt positives Glück. Es ist eine hohe Freude, ein positiver Gefühlszustand. Zum Bewusstsein aber des Nichtseins eines positiven Glückes, eines positiven Freudenverhalts gehört a priori Bedauern des Nichtseins. Sowie ein Freudenverhalt als nichtseiend dasteht, begründet dieses Dastehen, dieses Bewusstsein, Bedauern. Bedauern gehört also in Fällen, wie dieses Beispiel sie illustriert, wohl wesentlich zum Wunsch, wenn der Wunsch notwendig jenes Bewusstsein des Nichtseins des Freudenverhalts einschließt. Man könnte dann fortfahren: Wunsch ist aber Langen oder Begehren.1 Muss dieses immer mit dem Bedauern gegeben sein? Offenbar nicht. Wenn z. B. ein kleines Opfer zugunsten eines sicheren großen Gewinnes preisgegeben wird? Werde ich das Dahingegebene noch begehren, wenn ich den großen Gewinn habe? Ich bin etwa ein sparsamer Mann und finde Gelegenheit, mit einem geringen Betrag ein mir als Bücherliebhaber köstlich erscheinendes Werk einzuhandeln. Stelle ich mir die Hingabe des Geldes wieder vor und seinen Wert. Es regt sich Bedauern. Aber notwendig auch Wunsch? Oder, ich hätte ein mir sonst ganz liebes Buch für das köstliche Werk eingetauscht. Ich bedauere die Hingabe. Aber muss ich es wünschen? Allerdings wird man vielleicht einwenden: In solchen Fällen wird es auch zum Bedauern kaum kommen. Man sagt ja oft: Das habe ich hingegeben, aber ich bedauere es gar nicht, da ich so Schönes eingetauscht habe. Darauf antwortet man etwa: Es verliert neben dem so viel Besseren seinen Wert, es gefällt mir nicht mehr. Gefällt es mir aber, so werde ich, in der Phantasie diesem Gefallen nachlebend, alsbald im Bewusstsein des Nichtseins Bedauern empfinden, vielleicht allerdings auch Wunsch, 1
Gemäß den folgenden Blättern ist die Darstellung besser zu gestalten: Von vornherein muss fühlbar werden, dass Wünschen nicht immer auf positiv Erfreuliches gerichtet ist.
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wenn ich nämlich das höher Gefallende ganz ausschalte. Sowie ich es einschalte, werde ich nicht wünschen; sofort erwacht aber wieder der Wunsch, wenn ich die Möglichkeit erwäge, beides zugleich zu genießen, wofern sie sich nicht offenbar im Genuss ausschließen. Was gehört nun notwendig dazu, dass das Leidtun im Bewusstsein des Nichtseins – wie es die Einfühlung in eine positive Freudenlage, die zugleich als nichtseiend charakterisiert ist, mit sich bringt (das Bedauern, das „Mir ist leid, dass das nicht ist“) – auch Wunsch sei, dass das A sein möge? Man wird etwa sagen: Es kann mir leidtun, dass etwas nicht ist, ich kann es bedauern, ohne dass mir, dass es ist, fehlt. Und es fehlt mir, ich habe das Gefühl des Mangels, wenn die Freude am A-Sein, die Lust daran, mir höher erscheint als der Lustzustand (das Lust-, „Glücks“-Niveau), auf dem ich jetzt stehe. hDie Frage isti nicht, ob das Hinzutreten von A mir einen Zuwachs schafft, sondern ob das Sein von A etwas Schöneres ist, als was in meiner Freudenoder „Glückslage“ wirklich ist. Natürlich kann ich auch den Zuwachs selbst wünschen und eventuell ein A wünschen um des Zuwachses willen (also mittelbar), den es schafft. Zum Beispiel, ich wünsche ein Geldstück, um reicher zu werden, mein Streben geht auf Wachstum im Besitz. Dann steht mir nicht das einzelne Geldstück im Wert höher als mein Besitz und halsi die Freude an ihm selbst als die Freude an dem, was ich habe (anstatt Freude eventuell potenzielle Freude und „Wert“), aber der größere Besitz, den ich durch den Zuwachs gewinne, steht mir höher als der frühere und kleinere. Also in dem Bewusstsein des Vorzugs des bedauerlicherweise1 Nichtseienden, das vorgestellt ist gegenüber dem aktuellen „Glückszustand“, ist der Wunsch fundiert; er ist immer Wunsch eines Besseren, Erfreulicheren. Ein Bevorzugen als Bessergefallen einer nichtseienden Freudenlage gegenüber dem seienden Freudenverhalt liegt notwendig vor in jedem Wunsch. Entsprechend dem Umstand, dass das Als-vorzüglicher-Erscheinen sich innerhalb der plus-minus Wertlinien bewegt, kann die Niveaudifferenz der Glückslage darin bestehen, dass die aktuelle Glückslage Unglück, positives Leid, die vorzüglichere Glückslage geringeres Leid oder Neutralität ist. Das aber erfordert eine Korr ektur bzw. Ergänzung.
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Siehe folgende Seite hab S. 499,11i.
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Ich habe oben alles so dargestellt, als ob wir nur wünschen könnten, was uns positiv gefällt, was uns freuen würde, wenn wir es hätten. Und das ist nicht relativ, sondern positiv und absolut verstanden. Das ist unrichtig. Wir müssen ni cht sagen, in jedem Wunsch liegt zugrunde die Vorstellung eines Erfreulichen als solchen im positiven Sinn, sonder n d i e Vorstel l ung einer „ Glückslage “ s chlec hthin, das heißt, nicht eine beliebige Vorstellung liegt zugrunde und nicht ein beliebig Vorgestelltes als solches steht vor Augen, vielmehr eine in der Vorstellung dastehende Sachlage ist in der Vorstellung gewertet, sie steht als Freudenlage, Glücksverhalt, s ei es pos i ti v oder n egati v, da. Und diese Glückslage in der Vorstellung steht als vorzüglicher da als die Glückslage, die für uns im Moment des Wünschens aktuell gegeben, und das heißt, im Wertbewusstsein gegeben ist. Demnach ist das Bedauern des Nichtseins der vorgestellten Glückslage nicht etwas notwendig dem Bevorzugen Vorausgehendes, oder vielmehr, das Bedauern, das zum Wunsch als solchem zu rechnen ist, in ihm impliziert ist, darf nicht vermengt werden mit dem Bedauern des Nichtseins der vorgestellten Freudenlage, das zu dieser eventuell, wenn sie absolut genommen ist (also außer der Relation zur aktuell gegebenen Glückslage), gehört. Im Wunschbewusstsein als solchem erfährt, auch wenn ein positiv Erfreuliches am Ziel vor Augen steht, das Ziel keine absolute, sondern nur eine auf die aktuelle Glückslage bezogene relative Wertung; nur diese relative ist ihm wesentlich. Wenn etwa gar im Ziel ein Negativum steht, ein in sich Unangenehmes, ein solches, dessen Sein in sich unerfreulich ist? Nun wird man vielleicht sagen: Kann ich das wünschen und kann ich auch nur Gleichgültiges wünschen? Wünsche kosten doch nichts. Warum nicht gleich goldene Berge wünschen? Indessen ist es doch keine Frage, dass wir oft genug eben nicht goldene Berge, sondern geringe Güter und selbst Unannehmlichkeiten wünschen. Wer von großem Unglück betroffen ist, blickt etwa auf seinen Nachbarn, der auch nicht gerade auf Rosen gebettet ist oder hderi gerade in unangenehmer Lage ist, hin und wünscht, mit ihm zu tauschen. Wünsche gehen entweder auf summatorische Vergrößerung der gegebenen Glückslage, wenn sie eine positive ist, oder auf partielle Erhaltung, partielle Veränderung der gegebenen Glückslage, wenn sie zum Teil eine positive (eventuell auch ganz eine positive) ist, aber
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nach einem Teil eine Erhöhung als Vorstellung im Auge steht, oder auf eine Dahingabe der gegebenen Glückslage. Ist sie eine negative, hgeht der Wunschi auf ihr Nichtsein, wenn das Nichtsein vorgestellt wird, wobei aber schon eine andere unbestimmt vorgestellt ist, die 5 besser ist; ist sie eine positive, hgeht eri auf eine andere positive, die mit ihr unverträglich ist, wenn diese als bessere das Begehren reizt. Ist damit das Verhältnis des Wünschens und Bedauerns, und ist damit überhaupt der analytische Bestand des vollen Wunschphänomens 10 völlig geklärt?
h§ 3. Wünschen als Vermissen und als Begehreni
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In jedem Wunsch haben wir einen aktualen Glücksverhalt und einen vorzüglicheren, höheren, aber nichtseienden vor Augen. Ich wünsche das Vorzüglichere. Bedauere ich zugleich sein Nichtsein? Und kann ich sein Nichtsein nicht bedauern, ohne zu wünschen? Und der gegebene Glücksverhalt steht als minder vorzüglicher da als der vorgestellte, er steht als mangelhaft da. Gehört zum Wünschen also ein auf das Gegebene bezogenes Gefühl der Mangelhaftigkeit? Haben wir alles in allem in Hinsicht auf die gesamte Gemütslage des Wunsches folgende Implikation: 1) die auf das Gegebene G bezogene Wertung sowie die auf das Ziel Z bezogene Wertung; 2) die „Bevorzugung“, das Bewusstsein des Besserseins des Z gegenüber dem G; 3) das Gefühl der Mangelhaftigkeit des G; 4) das Gefühl des Bedauerns, dass Z nicht sei, eventuell in der implizierteren Form: Bedauern, dass Z nicht ist und nur G ist;1 5) das Spezifische des Wunsches als langendes Gerichtetsein auf Z? Ich denke nicht. Ich versuche, das wirklich Vorliegende etwa so herauszuarbeiten: 1) bleibt natürlich bestehen. Setzen wir also mit dem Punkt 2) an.
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Z kann auch ungewiss sein etc.
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„Bevorzugung“ kann verstanden werden als ein synthetisch meinendes Gemütsbewusstsein (und so auch in jeder weiteren Sphäre, wo wir von Bevorzugung sprechen). Meinend sind wir auf G und Z gerichtet, so etwa wie bei einer Wahl. Ich blicke „vergleichend“ auf G und wieder auf Z hin und „gebe dem Z den Vorzug“. Das liegt hier sicher nicht vor. Ich vollziehe keine Wertvergleichung, keine vergleichende Wertschätzung, kein Vorziehen im eigentlichen Sinn. Wir mögen dabei das Wort Vergleichung im komplizierteren oder laxeren Sinn nehmen. Ich kann es abgesehen haben auf Herausstellung einer Wertrelation, auf Feststellung, wo der Vorzug liegt, auf Abwägung aller in Frage kommenden Motive; ich kann aber auch hinblickend auf G und dann auf Z ohne weiteres vorziehen und Z den „Vorzug geben“. Im Vorziehen „erscheint“ mir ein Vorzug, ein Steigerungsverhältnis zwischen „besser und minder gut“. Wir haben nun auch sonst Bewusstsein von Steigerungsverhältnissen. Ein allgemeines Geräusch, das ich soeben empfinde, wird, wenn in der Erinnerung ein großer Lärm vorstellig wird, als relative Ruhe bewusst und merklich werden, auch wenn keine Vergleichung, kein meinendes Hinsehen auf das eine und andere gerichtet wird, kein meinendes „Wahrnehmen“ des Leiserseins auf der einen Seite im Vergleich mit dem Lauten auf der anderen oder des Lauten als lauter in Relation zum Leisen auf der anderen Seite. Es kommt also eine allgemeine phänomenologische Tatsache in Betracht, wonach es nicht bloß ein abgrenzendes, meinendes synthetisches Steigerungsbewusstsein gibt, vielmehr auch ein implizites, derart, dass auch ohne meinendes Zusammenhalten die betreffenden Gegenstände in heinemi Steigerungsverhältnis stehen, oder vielmehr hderart, dassi die betreffenden Bewusstseine, die ihrem Wesen nach Steigerungsbewusstsein synthetischer Art begründen, wenn sie eben die Modifikation erfahren, die wir Meinen, Zusammenfassen im Einheitsmeinen nennen, auch schon vorher ihren Gegenständen verschiedene Charaktere aufprägen. Wir können es nicht gut ausdrücken: Wenn wir sagen „relativ leise – relativ laut“ oder in unserem Fall „relativ unwertig und relativ hochwertig“, „relativ mangelhaft, relativ schön“, so ist das missdeutlich. Denn diese Charaktere werden merklich am einen, ohne dass wir auf das andere vergleichend hinsehen, sie werden merklich in der Weise absoluter Prädikate und nicht in der Weise relativer. Es sind, könnten wir auch sagen, Kontrast-
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prädikate, nicht Relationsprädikate, bzw. Kontrastcharaktere und nicht relative Gegenstandsbestimmtheiten: Wie dann, was wir hier auseinandergesetzt haben, in das allgemeine Gebiet des (phänomenologischen) Kontrastes gehört, nur dass nicht jeder Kontrast ein Steigerungskontrast ist. Dies also kommt für unser Problem in Betracht. Ad 2) sagen wir also, dass keine besondere Bevorzugung vollzogen wird, vielmehr haben wir 2) und 3) zusammennehmend zu erklären, dass im Hinblick auf das vorgestellte Z Kontrastgefälligkeit, Kontrast„Schönheit“ erlebt bzw. gegeben wird, während das G, auf das wir nicht besonders hinsehen (oder nur gelegentlich zurücksehen), den Charakter der Kontrastunwertigkeit hat, und wenn hwiri darauf hinsehen, in diesem Charakter dasteht. Diese Kontrastunwertigkeit ist nichts anderes als der Charakter der „Mangelhaftigkeit“. Was den vierten Punkt anlangt, so ist mit dem Urteilscharakter (Nichtsein, Vermutlichsein, Ungewisssein) ein Gefühlscharakter zusammenhängend, durch ihn mitfundiert. Das Kontrastgut hat einen positiven Gefallenscharakter in der „Phantasie“; vermöge jener intellektiven Stellungnahme ist motiviert ein aktuelles Gefühl, das des Fehlens, das Kontrastgut wird „vermisst“. Ein Bewusstsein des Nichtseins eines positiven Gutes für sich mag Bedauern fundieren, dass das Gut nicht sei. Aber Bedauern ist nicht Vermissen. Ein Bewusstsein des Wahrscheinlichseins eines Gutes wird kein Bedauern fundieren, es kann sogar die Freude am vermutlichen Eintreten fundieren. Das geschieht z. B., wenn das Bewusstsein des Nichtseins des Gutes (die Überzeugung, es sei nicht) in das Wahrscheinlichkeitsbewusstsein, es sei zu erwarten, übergeht. Dann geht Bedauern in Freude (und eventuell die Freude wieder in Hoffnung) über. Wir sehen, die Änderung der Urteilscharaktere und die Art, wie die Phänomene die Urteilscharaktere ändern, bestimmt die Weise der Änderung der Gemütscharaktere wesentlich, und wir sehen auch, dass die intellektive Unterlage für sich und dieselbe in einem Zusammenhang eine andere fundierende Bedeutung hat: Vorgängige Gemütsfundierung (Fundiertsein von Gemütscharakteren) bestimmt a priori, wie nachher die auf dieselben Sachen bezogenen neuen intellektiven Stellungnahmen Gemütscharaktere fundieren werden. In unserem Fall nun hängt die Fundierung des Gefühls durch die intellektive Unterlage des Z ab von der Fundierung der intellektiven Unterlage des G und von der relativen oder vielmehr
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kontrastlichen Gefühlscharakteristik, die das G hat. Also unter diesen Umständen ist notwendig fundiert nicht das Bedauern, auch nicht, wenn das Z als nichtseiend bewusst ist, sondern das Vermissen! Ist das Vermissen schon das Wünschen? Vielleicht kann man (versuchsweise) sagen: Es gibt ein passives „ W üns chen “ und ein akti ves Begehren?1 Das erstere ist das Ver mis s en und das hhati seine intensitätsartige Dimension, ein Stärker-(Mehr-)Vermissen und ein Weniger-Vermissen, abhängig von der Größe des bewusstseinsmäßigen Gefühlskontrastes. Das „aktive“ Begehren ist das eigentliche Langen, ein Dahingetriebenwerden. Tr iebgefühl e, wie Hungergefühle, habe ich schon analysiert. Sie haben Unlustcharakter und haben das Eigene, dass ihnen eine gewisse korrelate „Sättigung“ zugehört. Das heißt, es gehört zu einem so gearteten Unlustcharakter dieses, dass nicht nur wie bei Unlust sonst hdiei ideale Möglichkeit der Aufhebung besteht, sei es auch stetiger, sondern eine artmäßig zugehörige Aufhebung durch positive Sättigung. Genauer: Den Triebgefühlen entsprechend gibt es korrelate Sattheitsgefühle (die Leere hat eine entsprechende Fülle), und „Sättigung“ ist der Prozess, in dem in eigentümlicher Weise des Übergangs und der Einigung das Leere sich stetig füllt, das Triebgefühl sich sättigt, bis reine Sattheit da ist und nichts mehr von Trieb. Aber die Sattheit hat den Charakter der sozusagen sättigenden Sattheit, der befriedigenden. Das hängt aber damit zusammen, dass, sowie ein Triebgefühl in Sättigung übergeht, das Bewusstsein sofort den Charakter eines Entgegendrängens, eines nach weiterer Sättigung Langens annimmt. Dies ist ein Spezialfall eines al l gemeinen Gesetzes: Wenn ein Unlustzustand sich stetig zu vermindern beginnt, so tritt nicht nur Erleichterung, sondern ein nach stetiger weiterer Erleichterung Langen ein. Es scheint nun, dass wir auch sagen dürfen: Zum Wesen der Triebgefühle gehört es, dass die Vorstellung ihrer entsprechenden Sättigung, des befriedigenden Übergangs in entsprechende sich steigernde Sattheiten, notwendig den Charakter des Treibens (Trieb), des Langens hat, des Langens nach Sättigung. Darin würde liegen: Mit der
1 Das ontische Korrelat des Vermissens, dass S sei, wäre dann: S mangelt, fehlt. Weist das ontische „S soll sein“ auf Begehren hin oder auf Vermissen?
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Vorstellung des nichtseienden positiven Gefühls der Sättigung hätte sonst nach Maßgabe der anderen Fälle ein „Vermissen“ einzutreten. Hier handelt es sich um einen eigentümlichen Gegenstand des Vermissens. Es ist eine Sättigung, die den Charakter einer fortlaufenden Befriedigung hat, fortlaufende Lust mit vorwärts gerichtetem Langen. Diese ganze Sättigung ist das „Schöne“. Das wird aber nicht bloß vermisst, sondern es tritt Langen danach, nach Eintritt und Ablauf dieses Prozesses, auf, und zwar notwendig. Nun könnte man Anwendung davon machen: Jedes Vermissen hat selbst den Charakter eines Triebgefühls. Seine Sättigung ist der Prozess der Wunschbefriedigung. Tritt mit dem Wunsch (als Vermissen, als Triebgefühl) die Vorstellung entsprechender Wunscherfüllung ein (assoziativ, da solche Triebgefühle sich ja häufig befriedigt haben), so erwächst natürlich ein neuer Wunsch. Aber jetzt erwächst, da es sich um einen Wunsch hhandelti, der auf Sättigung eines Triebgefühls gerichtet ist, nicht bloß ein neueres Vermissen, sondern ein Begehren, Langen. Ich wünsche Geld, nämlich 1) es fehlt mir an Geld, ich vermisse es, ich wünsche es passiv. 2) Ich stelle mir irgendeinen Vorgang vor, der diesen Wunsch erfüllt. Der Briefträger bringt einen Geldbrief. Ich mache einen Lotteriegewinn, ich verdiene mir Geld: Nun habe ich lauter Begehrungen. Ich begehre nicht nach Geld schlechthin, nach Sein von Geld in meinem Portemonnaie, hnachi Haben von Geld, sondern nach Gewinnen, nach Geldverdienen etc. Nun könnte man fragen: Führt nicht alles darauf zurück, dass ein Unterschied zu machen ist zwischen Wünschen, das auf Sein, und Wünschen, das auf Werden geht? Nein. Wünschen eines Vorgangs kann ein bloßes Vermissen sein, z. B. ich wünsche Regen (verstanden als: Ich vermisse Regen, es fehlt Regen). Dagegen wünsche ich, dass irgendetwas sei (da sei, eintrete), und stelle ich mir dann das Werden, Eintreten, Anfangen-zu-Sein des Erwünschten vor, so habe ich alsbald ein Begehren. Denn eben damit stellen wir eo ipso einen Prozess der Wunscherfüllung vor. Ich wünsche, Geld zu haben: Ich vermisse es. Ich stelle mir nun das Eintreten des Geldhabens vor; natürlich so, dass es mir irgendwie zukommt: Der Briefträger bringt es etc. Und stelle ich das vor, so nimmt es alsbald den Charakter der Wunscherfüllung an, denn das wünsche ich ja, in der Vorstellung bin ich mit dabei mit meinem Wünschen.
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Vermisse ich Rauchen, eine Wagenfahrt und dgl., fehlt mir das, und stelle ich mir vor, während ich es vermisse, dass ich rauche, dass ich auf eine Wagenfahrt eingeladen werde und fahre und dgl., so habe ich alsbald nicht nur das „Fehlen“, sondern das Begehren. Das Begehren 5 als Langen, Entgegentreiben etc. ist immer auf einen Vorgang, auf Eintreten eines Ereignisses gerichtet, das meinen „Wunsch“ im Sinn des bloßen Fehlens erfüllt oder das ein Vermisstes, mir Fehlendes realisiert. Begehren geht auf Realisierung von Wünschen: in diesem Sinn. Denn die Rede von Wunsch wird oft so gebraucht, dass sie 10 gleichbedeutend ist mit der Rede von Begehren. Offenbar hat ein Wunsch eine andere Intensitätsweise als Begehren.
D. SCHÖNWERT UND GUTWERT. WERTKONSTITUTION UND GEFÜHL
Nr. 46 hDas Sic h-Verlieben als innere Entscheidung aus den Tiefen des Ic h. Aktives Gef allen und Wertapperz eption. Die Ent scheidung für einen Vernunftwerti1
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1) Sich Vergaffen in ein Schmuckstück, in eine Geige. Habituell: die Liebhaberei. Eventuell ein bis zur „Besinnungslosigkeit“ Fortgerissenwerden, einer „Neigung“ hemmungslos, unfrei nachgeben. 2) Demgegenüber das Werten als frei sich für den Wert entscheiden, den Wert „anerkennen“. Werturteil und wertender Akt im Gemüt. Nicht bloß ausdrücken, während wir im Genuss, im Gefühl leben, hingegeben sind. Sich für den Genuss entscheiden, auf ihn gerichtet sein, nicht in Passivität nachgeben, hingerissen werden, sondern inhibieren und frei sich entscheiden. Die Frage, was ein Mensch ist, halsi Frage danach, was er liebt und hasst, woran er sich zu freuen, worüber er sich zu betrüben, zu ärgern pflegt, was seine Leidenschaften sind, was für Ziele er sich stellt, die er beharrlich verfolgt. Die Frage geht auf die herrschenden Richtungen seines Wertens und sich praktisch Entscheidens, nach hdeni herrschenden Wünschen, Begierden, Willensrichtungen. Was für Freunde, was für eine Frau hat er sich erwählt? Was für Liebhabereien hat er, was für heineni Beruf, und unter welcher Motivation hbeitreibt er ihn? a) Es kommt wenig an auf momentane Regungen, auf Wollungen, die nur „oberflächlich“ sind, die nicht „aus der Tiefe des Ich“ kommen, nicht auf momentan erregte Interessen, auch nicht auf eine 1
Wohl Ende 1916. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 507 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-II, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35926-3
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flüchtige Liebe, die zwar schon in Ketten von Akten sich betätigen und flüchtige Dispositionen begründen wird. Das bloß Habituelle macht es offenbar nicht. Es kommt auf „tiefe“ Gefühle, auf ein tiefes Ergriffensein an. „Das trifft mich tief und schwer“ heißt es manchmal. Ich bin tief ergriffen (was freilich zur gesellschaftlichen Phrase wird). Also in Frage käme zunächst der Unterschied der flüchtigen, momentan erregten Gefühle und der eingewurzelten, das kann heißen, hderi habituellen, und das gibt den Gefühlen selbst einen Charakter. Ein Akt der Liebe z. B. ist nicht ein bloß momentanes, wenn auch starkes Gefallen an der Person; der einzelne Akt trägt den Stempel der Beständigkeit, nämlich als Besonderung eines allgemeinen, immer wieder geübt gewesenen und geübten, eines bleibenden und festgerichteten Gefallens. Nun ist es aber klar, dass das nicht ausreicht. Was heißt das „Ich verliebe mich“? Verlieben kann ich mich in Personen, aber auch in Sachen. Man kann sich in eine Tabaksorte verlieben, kann dann der Sorte „treu“ bleiben oder untreu, ihr treu bleiben, nachdem das erste Entzücken, das das Verlieben einleitet, verschwunden ist. Ich kann mich zur Liebe fortgerissen fühlen; es kann sein, dass im Hintergrund eine „Stimme“ mir sagt: Dein Gefühl ist nicht echt, es ist hier etwas, was dich besticht, was einen Umschlag des Gefühls von vornherein möglich machen könnte, so dass dir widerwärtig werden könnte, was dir jetzt entzückend erscheint, so bei dinglichen festen Gefühlshaltungen, Liebe für Tabak, Wein usw. als hauch bei festen Gefühlshaltungeni für Personen. Das ernste Sich-Verlieben, eine ernste Liebe fassen, das ist nicht nur ein habituelles Gefallen begründen durch ein „lebhaftes“ Gefühl, sondern sich aus den Tiefen her für die Person entscheiden, aus eigenen innersten Tiefen in ihre Tiefen dringen, und zwar mit den aus eigenen Tiefen des Ich entsprungenen Gefühlen in ihre Tiefen dringen und ebensolche Gefühle in ihr zu wecken suchen, ihre Innerlichkeit treffen und umfangen. Eigene und fremde Innerlichkeit werden eins, eins im Umfangen und günstigstenfalls (ersehnt) im Wechsellieben sich eins und verschmolzen fühlen. Darin liegt nun in der Urstiftung ein aus den Tiefen des Ich her Sich-Entscheidenfür. Ein inneres Entscheiden-für liegt in jedem Fall eines auch nicht „ernstlichen“ Sich-Verliebens vor, z. B. in eine Zigarrensorte. Eine
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Zigarre (neuer Sorte) rauchend genieße ich, ich gebe mich passiv der Lust hin, ein passives Reagieren, „Lust empfinden“. Etwas anderes ist hesi, den Wert einer Zigarre hzui schätzen, in Aktivität wertend zu ihr Stellung nehmen, ihr mit Beziehung auf die Erregung dieser Lustqualität Wert zusprechen (ganz nett, fein, famos – das weist auf Gradualitäten und Schätzungen der Größe in einer Größenordnung oder auch hin eineri Stufenordnung, die selbst wieder größenartig arrangiert ist). Ich lehne sie ab oder entscheide mich für sie, sei es in einer Wahl zwischen mehreren Sorten, wobei sie selbst als einzelne ihrer Sorte apperzipiert ist, sei es ohne Wertvergleichung dieser Art und auch ohne die einzelnen in ihrer Art zu fassen. Es kann zunächst einfach so sein, dass ich aus dem passiven Genuss übergehe in die Einstellung der Beurteilung, in der ich sozusagen den sinnlichen Wert mir gegenübersetze, „betrachte“ und dazu billigend, anerkennend, schätzend Stellung nehme: in der Gefühlszustimmung, Billigung, συγκhατÀ©εσισi, und zwar im Gemüt, und nachher eventuell doxisch urteilend. Hier haben wir: 1) das aktive Gefallen an dem Objekt als lustbringendem (diese Lustqualität mir lieferndem); dieses Gefallen ist Korrelat-von oder weist zurück auf die Lustaffektion des Objekts. Ich bin nun nicht passiv hingegeben, verloren an das Lustobjekt und seine Lust, sondern ich habe mich hingegeben. 2) Ich werte – was kann das nun noch heißen? Das kann nun Rang und Größe und in Zusammenhang damit praktischen Wert, praktisches Genügen und Nicht-Genügen, praktische Vorzüglichkeit oder Mangelhaftigkeit, eventuell Vortrefflichkeit in der Wahl etc. betreffen. Oder soll anderes gemeint sein: ein antizipierendes Gefallen oder ein Antizipieren eines Gefallens (im Gemüt und dann im Urteil), dass seine antizipierende Motivation, seine Seinsvoraussetzungen hat, eine Wertapperzeption, ein Für-wert-Halten, das sich zu bewähren hat. Wie jedes Vermeinen kann auch jedes Wertvermeinen in die Modalität des Infragestellens gebracht, kann aus der Wertseinsgewissheit in die der Zweifelhaftigkeit etc. übergehen. Die Frage kann beantwortet (entschieden) und die Antwort kann begründet werden, die Entscheidung kann einsichtige, vernünftige Entscheidung sein. Ursprüngliche Wertapperzeption, Maß für alle Entscheidungen die „erfahrende“. So wie das Wahrsein nicht eigentlich erfahren, sondern
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in der Kritik gewonnen ist durch einsichtige Entscheidung, so der wahre Wert, der vernünftig ausgewiesene. 3) Das ver nünft ige Subj ekt „ erfährt “ nicht den Wert, s onder n „ ent sc heide t “ si ch für i hn. Oder auch: Ich bin nicht bloß affiziert und „folge“ der momentanen oder gewohnheitsmäßigen „Neigung“, sondern ich betätige mich als „freies“ Subjekt, und dieses Sich-frei-Betätigen, diese Aktivität, hat seine „Quelle“ in der Innerlichkeit des Ich und gehört zu, entspringt aus seinem bleibenden Sein. Jede solche Entscheidung hat den „Sinn“ einer bleibenden Entscheidung, als Entscheidung vermeint sie, ein Bleibendes zu sein; das „ein für allemal“ gehört sinngemäß dazu, auch wenn nicht an andere Fälle gedacht wird. Geschieht es, so ist es evident, dass ich bei dem, wofür ich mich entschieden, zu bleiben habe. Aber natürlich ist das „Meinung“, und ich kann mich in der Meinung täuschen, und das darum, weil eben auch auf die Unterschiede der „Eigentlichkeit“ und „Uneigentlichkeit“, der Erfülltheit oder Unerfülltheit der Intention (der eventuell mehrfältigen impliziten Intentionen) Rücksicht zu nehmen ist. 4) Das Subjekt selbst gewinnt Wert aus der sich betätigenden Vernunft. Passivität ist an sich wertlos und ist unwert, sofern sie der Aktivität im Wege steht, mittelbarer Wert, sofern sie künftige Aktivität real ermöglicht (das Ausruhen und Sich-gehen-Lassen zur „Erholung“). Wert gewinnt das Subjekt nur durch Aktivität und näher nur durch Vernunft im vollen Sinn. Die echten Vernunftakte (Evidenz im logischen und parallelen Sinn) haben „Werte in sich“, nämlich sie haben als Korrelate Werte im erweiterten Sinn: wahrhaftes Sein, wahrhaftes Wert- und Gutsein. Sie selbst sind wertvoll, sie sind selbst Werte, und endlich, das sie vollziehende Subjekt ist wertvoll, und vielleicht ist das der in dieser Reihe höchste Wert (wenn nicht auf der Korrelatseite schon Subjekte stehen). 5) Vernunft ist ein „systematisches Vermögen“. Vernunftakte können vereinzelt auftreten, aber sie organisieren sich auch zu höheren Verbänden. Ein logisches oder mathematisches Axiom ist „selbstverständlich“ und keine große Erleuchtung, aber handersi die logische Theorie, die geometrische Theorie, das System der Theorien etc. Ebenso in den parallelen Sphären: die Mannigfaltigkeit ästhetischer Werte in der Einheit eines Kunstwerks, deshseni Schönheit in vollkommener Vernunft sich konstituiert durch viele sich
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organisierende, sich aufeinanderbauende und sich dabei hebende und erhöhende axiologische Thesen. Vages Verstehen und Genießen macht es nicht; die sekundäre Sinnlichkeit muss in die systematische Spontaneität umgewandelt und aus den Tiefen das noch nicht voll zur Geltung Gekommene herausgehoben und prädiziert werden. So hat auch nicht das Subjekt als Subjekt einzelner Vernunftakte schon erheblichen Wert, sondern das Subjekt, das sich aktiv bezieht auf den unendlichen Vernunfthorizont, auf die Produktion der immer höheren systematischen Werte, auf Wissenschaft, Kunst, soziale Wertgestaltung etc. Zuhöchst das Subjekt als Willenssubjekt, als Subjekt von Willensentscheidungen und das Subjekt, das „sich“ entscheidet für ein Leben im Geist und der Wahrheit, für ein Leben, das nicht hingegeben ist an Genuss, sondern hingegeben oder vielmehr tätig hingerichtet ist auf die großen Vernunftwerte in freier Produktion: Nur das produktive Ich hat Wert. Das alles ist gut, aber bin ich frei, wenn ich mich für eine Lusthingabe entscheide und wenn ich ein Erfahrungsobjekt „expliziere“? Und ist nicht Affektion notwendig für Produktion? Natürlich, überall, wo ich Daseinsthese habe und Wirklichkeit, Weltwirklichkeit, Weltwertwirklichkeit habe. „Reine“ Vernunft, die ideale Möglichkeiten erforscht, sich in idealen Wertmöglichkeiten bewegt: formal, mögliche Affektion offenlassend, unbestimmt. Vorgegebenheit Grund für produktive Gestaltung: das wahre Sein konstruieren, das An-Sich. Nach Werten und Wertgestalten, Wertideen, Ziele gestalten und Wertwirklichkeit gestalten: praktische Vernunft. 6) Ich entscheide mich für eine Zigarre, ich entscheide mich für wissenschaftliche Forschung. Beiderseits kann es sich um eine Entscheidung handeln, die künftige Folgen von Akten, Aktketten motiviert. Insbesondere Entscheidung für wissenschaftliche Forschung oder auch nur für Vollzug eines Beweises ist eo ipso von dieser Art. Aber ein Unterschied beiderseits ist, dass ich einmal mich entscheide für eine Hingabe an einen Genuss, für eine „Lust“, für eine Passivität, und das andere Mal für eine actio, für Betätigungen der Vernunft. Das Letztere erweist bzw. erhöht den Wert meiner Person, das andere nicht.
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Jede Entscheidung für einen Vernunftwert erhöht meinen Wert, weil im Werterfassen (näher im originären) der Wert mir zugeeignet, zu meinem Besitz, meiner Habe wird. Doch besser: Das gilt nur, wenn ich einen Wert zuerst mir zueigne; nachher dient es bloß hdazui, mich des Wertes zu versichern, und auch das ist ein Zuwachs. In der sekundären Passivität, in der Zustimmung zur Vorgegebenheit oder Übernahme der Wertexistenz als Vorgegebenheit haben wir ein uneigentliches, symbolisches Werthaben, einen uneigentlichen Wertbesitz. Jede Erneuerung des originären Habens ist ein Wiederzueignen des Wertes und hat einen Wert, nur kommt dann die Wertrelation in Betracht: Die Überzeugung (die symbolische) des Besitzes, des verfügbaren, des beliebig wiederzuerzeugenden und darum rechtmäßig zu verwendenden, berechtigt die Erneuerung dieses Wertes im Ursprung gebenden Bewusstsein hintanzusetzen hinter hdiei Produktion höherer Werte und auch neuerer Werte, zugleich hderi Mittel für solche Werte etc. Wahl. Die Bevorzugung eines Vernunftwertes gegenüber einem sinnlichen (einer sinnlichen Passivität, der ich mich genießend hingebe) erweist meinen persönlichen Wert und ist selbst von besonderer Wertdignität. Ebenso die richtige Bevorzugung jeder Art in der höheren Sphäre. Ein niederer Wert kann als solcher bewusst und gewusst sein, während ich doch durch ihn bestochen bin, während ich doch m. a. W. für ihn eine blinde Neigung habe und dieser Neigung folge. Aber nicht der Neigung folgen, lautet die Regel: nicht einer beliebigen Neigung folgen, selbst nicht ohne weiteres der Neigung zu einem Guten folgen, sondern der „Einsicht“ folgen, das Bessere vollbewusst bevorzugen. Aber von hohem Wert und eventuell höherem ist die Entscheidung für das Bessere aufgrund einer „Neigung“, prinzipiell das Bessere zu bevorzugen, prinzipiell aus der Einsicht das Wissen des Besseren hzui schöpfen und dafür mich zu entscheiden. Das fordert aber nicht in jedem Fall Einsicht, vielmehr hfordert esi, für jede Klasse von Fällen nach Einsicht entschieden zu haben und jeden Fall der Klasse hzui appherzipiereni, als vernünftig so und so zu behandeln.
Nr. 47 h Genus s und H abe. Sinnlich e und geis ti ge Werte und Güter i1
h§ 1. Sinnliche Lust und Genuss an lustbringenden Gegenständen. Die Verfügungsfreiheit über einen Gegenstand hinsichtlich der Realisierung seiner Lusteigenschaft. Gemeingüteri
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Umwendung von der Habsucht und der Sucht nach einem Leben im Genuss einer Habe. 1) Genuss schlechthin, Leben im Sich-Wohlfühlen aufgrund sich fortdauernd realisierender Lustreize. Passive Hingabe des Subjekts als Lust an etwas, das Lust Bringende, im Ich Lust Erregende, das Ich unmittelbar zum Lustigsein, Lustbefriedigtsein Bestimmende. Das Subjekt ist irgendeinem Gegenstand (Inhalt) passiv hingegeben, bei dem Gegenstand dabei, aber nicht nur als hdemi Gegenstand der und der Merkmale (empfindungsmäßig affiziert), sondern vermöge seiner „Lustempfindung“. Er hat in gewisser hWeisei Beziehung zum Subjekt, in gewisser Weise den Leib, ein Leibesorgan berührend etc., ein besonderes Empfindnis der Lustempfindung herregendi, und dem entspricht in der Hingegebenheit des Subjekts die Lust selbst als eine Art Passivität oder Affektivität. Also eine zweifache Affektivität: die der bloßen Empfindung (der lust- und schmerzfreien) und die der Lust oder Unlust. 1a) Lust an einem immanenten Datum. Lust an einem transzendent Objektivierten. Lustcharakter transzendent objektiviert, Lustwert für das Subjekt. 2) Genuss kann ich nicht nur haben an unmittelbar selbst lustbringenden Gegenständen, Speisen zum Beispiel. Auch die Möglichkeit, unter gewissen, in der Freiheit des Ich einigermaßen liegenden Umständen, Lust erzeugen zu können, kann Gegenstand des Genusses und der Wertung sein. Der Umstand, dass Speise einen gewissen
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lust-objektiven Charakter haben würde, wenn ich sie im Fall des Hungers, der periodisch wiederkehrt, genösse, gibt der Speise eine bleibende subjektiv-kausale Lusteigenschaft. Neben Dingeigenschaften hat sie subjektiv-kausale Eigenschaften, bleibende Eigenschaften, hz. B.i Hungerbedürfnis lustvoll stillen zu können. Diese Eigenschaft kann ich werten, der Gegenstand um dieser Eigenschaft willen kann hini mir eine Lust neuer Ordnung erregen (Lust in möglicher Lust fundiert), wofern der Gegenstand zu meiner freien Verfügung steht und ich nicht nur weiß, dass er irgendwo gegenwärtig ist und mir überhaupt, wenn ich bei ihm wäre und zur „Lustwahrnehmung“ käme, Lust gewähren würde, sondern wenn ich dessen sicher bin, dass ich die Freiheit der Wahrnehmung und der „Lustwahrnehmung“, der Realisierung der Lusteigenschaft habe. Ich habe über ihn Verfügung, ich besitze ihn; ich eigne mir ihn zu, mache ihn zu meiner bewussten Habe: Ich bestimme ihn dazu, „gegebenenfalls“ meiner Lust zu dienen. Ich kann mich dann auch an dieser Habe freuen. „Freuen, etwas zu haben“, das ist, sich an einem Daseienden hzui freuen – eventuell auch an einem künftig wahrscheinlich oder sicher Seinwerdenden hsich zui freuen –, als einem solchen, das mir Lust bringen würde und hdasi dieser Lusteigenschaft nach von mir frei realisierbar ist oder sein wird. Sozial: meine Habe gegenüber eines anderen Habe, was zu meiner Verfügung steht und mein Eigen ist und nicht eines anderen. Rechtliche Sicherheit der Eigentumssphäre. Subjektive, individuelle Wertungen und Werte. Objektive, soziale Werte. Werteigenschaften für jedermann oder jedermann aus einer sozialen Schicht – aber nicht Besitz jedermanns, sondern jederzeit nur eines einzigen. Möglichkeit, aus den Besitz- und Eigentumssphären des einen in die eines anderen überzugehen und aus einem Begehrungsthema in eine Habe sich zu verwandeln. Doch da sind eine Reihe fundamentaler Begriffsbildungen in Bezug auf Lust, Begehren, Werten etc. notwendig! Wissenschaft (wissenschaftliche Theorien als Werke): frei verfügbare Habe für jedermann. Kunstwerke als Habe, als Eigentum. Wirtschaftliche Habe. Wissenschaft und Kunst als Titel für wirtschaftliche Güter. Begriff der Wirtschaft. Soziale Habe, Erzeugung sozialer Habe (sozialer Güter), Austausch von Gütern, Leben eingestellt auf An-
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sammlung, Steigerung, immer neue Erzeugung, unendliche Häufung des Erzeugten. Habsucht. Erzeugung wissenschaftlicher und künstlerischer „Güter“, unendlich angesammelt, schrankenlos erzeugt und vertrieben. Güter, die als ideell betrachtet werden, Gemeingüter der Menschheit, die wie wissenschaftliche Theorien oder wie die der Kunst und Literatur nicht als individueller Besitz, nicht als rechtliches Eigentum, sondern als jedermanns Habe, aber halsi Habe, betrachtet werden. Jeder müsste nur die geistigen Tätigkeiten lernen, fähig werden, sie zu vollziehen, die nötig sind, das Gemeingut in ein individuell Erfreuendes und ein Mittel für neue Erzeugungen und Freuden zu verwandeln. Habsucht (Geiz), Ansammlung von Gütern (für möglichen Gebrauch) ohne Rücksicht auf den aktuellen Gebrauch und die Aktualisierung höchstmöglicher individueller und sozialer „Eudaimonie“. Lust als Art passive Affektion. Ursprüngliche Lustaffektion sinnliche Lust. Das tätige Gefallen, das tätige Bewerten, Bevorzugen, Verknüpfen. Konstituieren von synthetischen „Werten“, in Wirklichkeit oder Möglichkeit. Sinnliche Wertverhalte, sinnliche Güter und Gütermaxima, gehört das schon in die unsinnlichen Güter? Was sind „unsinnliche“ Güter? Das Schöne, das Wahre, das praktisch Vernünftige, Wahre. Das ästhetisch Vernünftige, ästhetisch Wahre, das wissenschaftlich Wahre (theoretische), das praktisch Wahre (Streben, Handeln). Das theoretische, vernünftige Erkennen gerichtet auf Ideen. Idee des wahrhaften Seins: der „sinnlichen“ Natur. Jedes Ding ist wahrhaft seiend, und was es als das ist, das ist Aufgabe, Ziel, Idee. Die Natur, die Natur-Verhalte, der Logos der Natur, die Idee des Begriffs der Natur, des adäquaten Begreifens bzw. der begreifenden Erkenntnis in unendlicher Approximation. Die doxische Thesis als Intention, Meinung? Das Sein und der Logos: das begrifflich unbestimmte Sein, das vorstellungsmäßige, die ideale Einheit des Vorgestellten, formale Idee eines durch sachhaltige Ideen, durch Begriffe zu Bestimmenden; das begrifflich bestimmte Sein, das Sein der Urteilswahrheit.
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schönwert und gutwert h§ 2. Die kallistische Apperzeption. Die Eröffnung einer Region von Sonderschönheiten durch ein künstlerisches Problem. Das Verlangen nach neuen Problemen und neuen Typen von Schönheit. Schönheit als eine Idee ist eine Sphäre der Vernunft und des schöpferischen Handelnsi
Das Schöne konstituiert in der reinen Kontemplation. Das sinnlich Schöne, das geistig Schöne, das eine Schönheit durch geistige Bedeutung hat. Das wahrhaft Schöne und die kallistische Vernunft. Gegenüber der doxischen Thesis hier die kallistische Thesis? Nein, dort wie hier Doxa. Aber dort konstituiert sich in der „sinnlichen Apperzeption“ erscheinende objektive Natur (Naturrealität), hier konstituiert sich in der „kallistischen Apperzeption“ das Schöne. Aber es bedarf der Scheidung: Wie dort das Empfindungsdatum ist, aber bloß subjektiv, nichts Objektives, nichts Reales, keine unendliche Idee ist, so hier das sinnlich subjektiv Schöne, das schöne Farbendatum. Aber auch das schöne Sinnending? Gewiss. Die Schönheit liegt im Endlichen, im immanenten Subjektiven. Das Schöne als Maximum des sinnlich lustvollen Eindrucks aus der Mannigfaltigkeit lustvoller oder minder lustvoller Erscheinungen, aufgefasst im „Geschmack“, der die Auszeichnung der ausgewählten Erscheinung nachversteht und als vorzüglich nachfühlt. Das Schöne und das Geistige. Die Ahnung geistiger Bedeutsamkeit und geistiger Werte, von denen die Seele sehnsüchtig berührt wird. Diese Berührung und diese Sehnsucht zum „Bild“, zum Gehalt der Neutralität gehörig, und dieser Gehalt ist Substrat des Als-schönFühlens, dessen Korrelat das Schöne ist in der kallistischen Apperzeption. Soll ich sagen, diese kallistische Apperzeption ist das bloße Neutralitätsbewusstsein, das mir ein „Bild“ gibt, oder ist es nicht dieses Bildbewusstsein ineins mit der „Schönheitswertung“, dem Als-schön-Gefallen (oder hdemi Als-gleichgültig-, Als-hässlich-, Alsunterwertig-schön-hEmpfindeni)? Jedenfalls, ich habe nicht nur hdiei Einstellung des Fühlens, sondern, indem das Bild da als schön gefällt und ich ihm gefallend entgegenlebe, steht das Bild auch als schön da, und ich nehme es als das. Es hat den Schönheitscharakter, und ich sehe ihn in diesem Charakter. Ich vollziehe eine Schönheitswahrnehmung, -gewahrung. Dabei aber weist das „Schöne“ auf die Entwicklung des Ge-
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schmacks hin, in dessen Folge durch aktive Vergleichung oder passive Nachwirkung und Quasi-Vergleichung das Schönere das „entsprechend“ minder Schöne entwertet; das minder Schöne lässt mich, nachdem ich das Schönere genossen, einen Mangel, seine Unterwertigkeit empfinden. Wo ich die Wahl hatte, bin ich nun unbefriedigt. Insbesondere das künstlerisch Schöne ist Gebilde aufgrund einer Wahl oder Abwägung von möglichem Besseren, und der Künstler histi geleitet von einer Idee des Besten – zugehörig zu einem Rahmen, einem Thema, einer künstlerischen Aufgabe. Außerhalb dieses begrenzenden (und dem Sinn nach näher zu bestimmenden) „Rahmens“ gibt es keine Scheidung, kein besser und schlechter (Roman, Drama, lyrisches Gedicht), obschon doch die ganze „Gattung“ hier und dort eine Wertvergleichung zulässt, deren Quelle aber erst zu bestimmen wäre. Sonderschönheiten gleicher Stufe, verschiedene gleich vollendete lyrische Gedichte etc. Jedes, indem es schlechthin als schön aufgefasst wird, ist aufgefasst als ein Optimum, das kein Manko empfindlich sein lässt, also auf kein Höheres hinweist, das ihm gegenüber das wahrhaft Schöne wäre. Fortschritt der Kunst: neue Probleme. Eine gewisse Entwertung des rein Schönen durch Trivialisierung dadurch, dass im Wesen derselbe Typus von Schönheit in immer neuen Exemplaren, aber nicht „individuell identisch“ (Reproduktion) realisiert werden kann. Ähnlich wie in der Mathematik eine allgemeine Problemlösung unendlich viele Sonderprobleme für sich lösbar umspannt, deren spezielle Lösung kein Verdienst mehr ist: Aber hier in der Kunst gibt es kein allgemeines Problem mit zugehöriger allgemeiner Lösung, aber es gibt die Möglichkeit, an einem besonderen Schönheitsfall den Typus des Problems und den Typus von unzähligen besonderen Schönheiten und von Besonderungen „desselben“ Problems zu erschauen. So bricht ein großer Künstler die Bahn, eröffnet eine Region von Sonderschönheiten, an denen man sich aber satt sieht. Man verlangt nach neuen Problemen, nach neuen Typen der Schönheit, die man wieder urkräftig-lebendig nachverstehen und in Freuden „genießen“ kann. Unendlichkeit der künstlerischen Probleme und der Welt der Schönheit. Historische Wertung. Freude in der ästhetischen Erkenntnis, in der Zurückversetzung an den Ursprung der verschiedenen ästhetischen Probleme und Lösungen, in das ursprünglich lebendige Nachverste-
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hen und Nachfühlen und ästhetische Neugenießen des Alten. Der Kunstfreund und Kunstbetrachter in seiner Zeit und der Kunst seiner Zeit. Der Kunstkenner als Kunsthistoriker, der keinen zeitlich fixierten Geschmack hat, sondern in sich nicht nur Kenntnis der Geschichte, so etwas wie Wortwissen und Sachwissen, hat, sondern als wahrer Kenner der Geschichte der Kunst darin beschlossen (als notwendige Voraussetzung) in Form des intuitiven Nachverstehens den Geschmack aller Zeitalter und die Kunstwertungen aller Zeitalter hat und in sich nachgebildet hhati die Entwicklung der Stufenfolge der Geschmacksgestalten. Er versteht jeden Geschmack, wie jedes einzelne Werk einer Zeit, in dem heri ihn in sich nachlebt, ihn in sich nachgebildet, nachentwickelt hat, er versteht ihn aus der Entwicklung, die er in sich selbst und seinem Geschmack nachentwickelt haben muss usw. Schönheit also objektiv als Idee. Nur darum ist von Problemen und Lösungen die Rede. Sie ist eine Sphäre der Vernunft, der Aktivität, des schöpferischen Handelns, gerichtet auf Realisierung von Ideen – wie die wissenschaftliche Erkenntnis, zunächst wie die Erkenntnis der Natur, dann aber auch die Erkenntnis des Schönen als kallistische Wissenschaft. Die Kunst gestaltet „Bilder“, „Phantasiegestalten“, aber nicht zu dem Ende, mögliche Wirklichkeiten zu gestalten, die als solche gefallen würden, die „gut“ wären. Nur sofern die Kunst Dinge erzeugt, die geeignet sind, „Bildvorstellungen“ zu erregen, erzeugt sie auch Güter. Das Kunstwerkding ist ein Gut, aber es selbst ist nicht das Schöne, sondern schön ist das Bild, das ein überzeitliches Sein ist, mag es auch Bild eines Zeitlichen sein (daher ist die Novelle nur einmal, und sie wird nur wiederholt gelesen). Auch die Gebilde der Wissenschaft sind überzeitlich. Güter sind die Bücher, aber nicht die Theorien. Sie hsindi Erzeugnisse der Erkenntnis, aber unzeitliche Erzeugnisse. Sie sind Wahrheiten (bzw. Falschheiten). Schönheiten sind intentionale Korrelate ästhetischer Intentionen, in rein einstimmiger Erfüllung derselben ursprünglich konstituiert. Ich spreche auch von ästhetischen Apperzeptionen, ästhetischen Wahrnehmungen, sofern wesentlich dazu gehört, dass ein Bestand von ästhetisch fungierenden Daten mit ästhetischen Intentionen behaftet ist, und, wie bei der äußeren Dingwahrnehmung, ein Durchlaufen von mannigfaltigen „Wahrnehmungen“ nötig ist, in deren
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Bewusstseinseinheit sich einstimmig dasselbe ästhetische Gebilde darbietet: dasselbe Ding nicht nur oder dieselbe momentane Erscheinung, sondern dieselbe Gefallenseinheit, sich in dem Durchlaufen ausweisend, herausstellend, gebend. Freilich ergibt das zunächst 5 nur die objektive Einheit eines Schönen im Sinn des identischen Gefälligen, mit seinen sinnlichen oder unsinnlichen Charakteren in immerfort identischer Weise das Subjekt im Fühlen, Gefallen bestimmend oder hes ergibti dasselbe, in den zugehörigen Momenten fest fundierte, gleich gefällig Erhebende. Das ästhetisch Schöne weist 10 aber auf die Idee eines Besten hin. (Genau ebenso haben wir in der Gütersphäre das Vollkommene, das nicht nur Gute, sondern Beste.)
Nr. 48 h Sc hönheit al s der al l gem ei ne Wertbegriff. W ahr hei t als ei ne Sphäre von Schönheiten. Das von der W is sens freude gel ei tete Vernunftstreben gegenüber der b l oßen Tendenz auf Erfüllung i1
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Die reine Wissensfreude, das reine Wissensstreben, Streben rein darauf gerichtet, was und wie die Dinge sind, und als einziges „Motiv“, das unmittelbare, die unmittelbare und reine (in sich voll befriedigte) Freude an der Wahrheit. Diese reine Wissensfreude, Wissensliebe ordnet sich aber der Schönheitsliebe unter. Die reine Freude am schönen Gebilde ist freilich etwas Nebengeordnetes der reinen Wissensfreude. Aber Wissen ist im weiteren Sinn auch ein um seiner selbst willen „Schönes“; es ist Objekt eines in sich gesättigten Gefallens in der „bloßen Vorstellung“, in reiner Wesenseinstellung, in der jede Beziehung des Gefühls auf wirkliche oder auch nur hypothetische Existenz außer Spiel bleibt. Auf das Schöne geht der reine ρωσ; er umspannt also alle reinen Werte, die Schönheit des Wissens, dessen praktisches Korrelat die Wissenschaft ist. Auch die Schönheit, deren Korrelat die edle Kunst ist, aber auch Menschen können in der entsprechenden Einstellung leibliche und geistige Schönheiten sein (reine Pädagogik, rein gerichtete Menschenkultur); auch menschliche Gemeinschaften, Staaten, Völker, Völkerentwicklungen, Völker und Staatenzusammenhänge, Kämpfe, kriegerische Spannungen und Lösungen etc. Endlich auch die ganze Sphäre der Praxis, des Handelns und Schaffens ist selbst ein Gebiet möglicher Schönheiten und kann Objekt des ρωσ sein und kann selbst wieder reine Praxis höherer Stufe bestimmen.2 Wo das Schöne zum praktischen Ziel wird als Schönes, ist es ein Gutes. Was hier im weitesten Sinn Schönheit heißt, ist doch nichts anders als Wertheit, und ein eigener Wert ist das Guttun und das Gute nicht, es ist eben nur ein Wert einer höheren Sphäre und ordnet
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Wohl um 1920. – Anm. der Hrsg. Der ρωσ, die sehnende Liebe nach der reinen Schönheit, umspannt jedwedes καλÞν, deckt sich also mit der φιλοκαλÝα (habituell gefasst), der sich die φιλοσοφÝα, die Liebe zur Weisheit (als einem reinen Schönen), unterordnet. 2
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sich dem allgemeinen Wertbegriff, dem der Schönheit, unter, und diesem ordnet sich auch der Wert der Wahrheit unter und der des reinen Wahrheitsstrebens: Die Wahrheit ist nicht Wert (Wahrsein nicht Wertsein), aber hsie isti ein Wert; Wahrheit ist eine Sphäre von Schönheiten. Das Urteilen als „intentionales Erlebnis“ ist eine Grundart von Intention – im weitesten Wortsinn. Es mag sein, und ich halte das für richtig, dass jedes intentionale Erlebnis sich als Tendenz abspielt, ein Moment des Strebens, eine Dimension sozusagen des Strebens in sich birgt, und diese Tendenz geht auf das „intentional Gegenständliche“, also läuft in die Richtung der Erfüllung. Aber dieses Tendieren ist nicht zu verwechseln mit dem „Vernunftstreben“, mit dem Bemerken, das sich vom Wert der Wahrheit, korrelativ gesprochen von der reinen Freude an dem Wissen, dass es so ist, wie es im erfüllenden Bewusstsein gegeben ist, leiten lässt. Hier strebe ich, aktiv, von dem „Vernunftmotiv“ „geleitet“ – dort strebe ich gar nicht, sondern es läuft das Urteil in seiner „tendenziösen“ Art ab. Die dem Urteil immanente Richtung auf Wahrheit, auch wenn sie als tendenziös gefasst wird, ist also nicht die dem wissenschaftlichen Forschen, dem in der Weise wissenschaftlicher Forschung vollzogenen Urteil zugehörige Richtung auf die Schönheit des Wissens (der Einsicht, des Habens der Wahrheit), die eine Richtung wertender und praktischer Vernunft ist. So natürlich überall.
Nr. 49 hDas w ert ende G efal l en al s Wertapperzeption gegenüber der durch den gewerteten Gegenst and erregten si nnlichen Lust und i hre r si nnl i chen Resonanz i1
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Mit dem Gefallen (als wertendem Akt, den Wert im Gefühl apperzipierenden) ist eine sinnliche Lust verflochten, und diese ist selbst ein Gehalt für ein inneres Werten (im inneren Bewusstsein). Wenn wir reflektieren, uns der erregten Lust im wertenden Gefallen zuwenden, so finden wir diese Lust nicht nur, sondern auch ihre Annehmlichkeit. Verwechslung dieses Gefallens an der Lust mit dem wertenden Gefallen und des Wertes mit der Lust, die da sekundär erregt worden ist. Auf die Frage „Warum gefällt die Musik?“ antworten wir: „Weil sie Vergnügen macht.“ Die sinnliche Lust wird durch den gewerteten Gegenstand als gewerteten und in der Freude genossenen „erregt“. Es ist eine Lust infolge der Betrachtung des Gegenstandes, es ist eine passiv kausierte (motivierte) Lust. In Wahrheit gehört zum betrachteten Gegenstand sein gefühlter Wert und zum fühlenden Erleben eine sinnliche Lust, die sich dann weiter eine Resonanz schafft, sich ausbreitet als sinnlich lustvolles Gemeingefühl, das seinerseits in dieser Ausbreitung passiv kausiert erscheint durch wesentlich zum Gefallen selbst unmittelbar gehörige Folgelust. Das Herz schlägt höher (in sinnlich wohltuender Weise) im Gedanken an ein Heldentum, infolge der aktuellen Wertung des Heldentums. Am Heldentum finde ich, auf es gerichtet und im Werten lebend, keine sachliche Bestimmung „Wert“, aber ich finde, als dadurch erweckt, sinnliche Lustempfindungen, ein Gewoge von Empfindungen in starken und vielfältig verteilten Lusttönungen, eine selige oder selig-traurige Stimmung, und das Ganze wird nun selbst gewertet. Diese sinnliche „Beseligung“ ist ein nicht wesentlich Verschiedenes, was immer die Objekte sind, die da als Wertobjekte bewusst sind und die in mittelbarer Motivationsbeziehung zu dem sinnlichen Gefühl stehen. Das sinnliche Gefühl hat seine Fortdauer als fröhliche 1
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Stimmung, auch wenn das Werten vorüber ist; hesi hat aber eine intentionale Hindeutung darauf zurück. Das Werten, die wertnehmende Freude (Gefallen), ist also verschieden von dieser sinnlichen Resonanz. Die sinnliche Lust ist kein eigentlicher Vernunftakt. So wie bei einer sinnlichen Empfindung von keiner Vernunft die Rede ist, sondern erst, wo ein Objektbewusstsein und darauf gegründetes Denken in Frage ist, so ist das Entsprechende der Empfindung, die sinnliche Lust, noch kein Vernunftakt, sondern erst das Werten, das apperzipierende Fühlen, das Einen„objektiven“-Wert-Konstituieren. Doch das ist nicht ganz korrekt. Fürs Erste kann auch auf dem Grund bloßen Empfindens und Vorstellens sinnlicher Daten sich ein Denken etablieren (Akte, die jene als das setzen). Ferner, Apperzeption ist selbst erworbene Sinnlichkeit höherer Stufe, mögen auch Akte ursprünglich mitgewirkt haben. Denn Apperzeption ist ein Gebilde der niederen passiven Kausalität der Motivation. So ist auch eine Wertapperzeption ein Gebilde aus sinnlicher Gefühlsmotivation, und der „objektive“ Wert, der so „erscheint“, ist sinnlich konstituiert. Aber die Sinnlichkeit ist ein „verworrenes Denken“, allgemeiner ein „verworrenes Setzen“, das aber sagt, es ist potenzielle Vernunft, ein Medium, in dem sich wesensmäßig Vernunft etablieren kann, eine sinnliche Åλη, in dem Sinn, dass sie in Akten der „Explikation“ und überhaupt in entsprechenden sachlichen und wertenden Akten zu enthüllen ist. Diese Akte sind schon aktuelle Vernunft. Es ist noch zur Verdeutlichung beizufügen: Sinnlichkeit finden wir an zwei Stellen: Einmal, wenn wir werten und eventuell wertnehmen auf Seiten der sinnlichen Wertapperzeption, die da vorausgesetzt histi und zugrunde liegt. Ferner etwa in der Wertnehmung als Erfüllung jene sinnliche Beseligung, die hinterher wieder sinnlich motiviert ist.
Nr. 50 hDer doppelt e Si nn, i n dem G egenstand Wert hat: als W ert i n si ch habend und al s mittelbaren Wert habend wegen d er m ögl i chen Realisierung der w ert gründend en Mom ente. Gut und Werti1
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Die Lust ist Korrelat der sinnlichen Freude (bzw. in der unerfüllten Form des sinnlichen Begehrens), wie das Empfindungsdatum Korrelat ist des sinnlichen Empfindens (bzw. in der unerfüllten Form des antizipierenden Erwartens etc.). Die sinnliche Freude, der sinnliche Genuss, ist fundiert durch eine Empfindungssinnlichkeit. Bei geistigen Freuden – z. B. Freude am Schönen, an der Einsicht – haben wir die geistige „Lust“, die das Schöne für das Gemüt schönfärbt. Ein Gegenstand ist wert, der, etwa durch heinei gewisse Erscheinungsweise, die Lust fundiert, wohlgefällt und die bleibende Eigenschaft hat, eine solche Erscheinungsweise zu haben, und damit dauernd die Eigenschaft, für das Gemüt erfreulich zu sein (wann immer das Subjekt es betrachten und dann diese Lust genießen mag). Wert ist nicht die momentane Lust, so wenig wie der Gegenstand die momentane Wahrnehmungsgegebenheit ist oder seine gegenständliche Farbe das momentane Empfindungsdatum ist. Wo mannigfaltige Erscheinungsweisen ineinander überführt werden müssen, damit die Lustmomente zur Einheit einer harmonischen Lust zusammengehen sollen, da konstituiert sich unter dem Titel Wert eine synthetische Einheit, und schon die harmonische Lust ist eine Einheit, die im wiederholten Durchlaufen „derselben“ Erscheinungssynthese identifiziert wird. Es konstituiert sich eine Identitätseinheit für das Gefühl. Im Wiederholen habe ich zwar immer „neue“ Freude und doch eine Wiederholung derselben Freude, nämlich der Freude am Selben, das Freudenkorrelat ist dasselbe. Der Dinggegenstand trägt den Wert in sich („hat“ Wert) im einen Sinn. Andererseits überträgt sich auf ihn als Wert in sich habend der Wert: Auch wenn der Wert nicht genossen wird, hat er ihn in sich als eine W er tei gensc haft.
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Für das Gem üt ist die Sachlage die, dass im Bewusstsein praktisch möglicher Realisierung der wertgründenden Momente, also um der Möglichkeit willen, sie zu realisieren, der Gegenstand selbst einen Lustcharakter erhält und mit freundlichen Augen angesehen wird – ich habe um dessentwillen an ihm Freude. Er hat also als Gegenstand mit solchen Möglichkeiten selbst einen Wert, einen mittelbaren W er t. Er hat also in doppeltem Sinn Wert, und diesem doppelten Wert entspricht ein doppelter unterschiedener Genuss. Gehe ich in Erkenntniseinstellung über, so spreche ich dem Gegenstand Wert im Sinn einer Eigenschaft zu, die Beziehung auf ein wertendes Ich (auf mich selbst, eventuell auf jedermann) hat, aber nicht zwei Werteigenschaften: Er hat, sage ich, (für mich oder für jedermann) Wert, und der Wert ist die in der Gemütssynthese konstituierte Einheit.1 Weitere Unterschiede: Gegenstände können Wert haben, aber nicht zu meiner freien Verfügung sein, so dass ich ihren Wert genieße. Ich muss sie „besitzen“. Und nur solche wertvollen Gegenstände heißen normalerweise Güter, die zum Besitz werden können, und dann weiter Gegenstände, die Mittel sind, um Güter herbeizuschaffen, zur Verfügung zu bringen – auch Arbeit ist ein Mittel etc. –, und das sind dann Güter und Werte zweiter Stufe. Ein Gegenstand, der geeignet wäre, Lust zu erregen, der dauernd eine Lusteigenschaft in sich hat, aber nicht zu meiner Verfügung hstehti, ist für mich kein Gegenstand der mittelbaren wirklichen Freude, sondern einer hypothetischen. Güter sind also hypothetische oder wirkliche Güter, und sie heißen für die Gemeinschaft hypothetisch-wirkliche Güter, wenn sie für Glieder derselben in realer Möglichkeit verfügbar sind. Es gibt da also noch Komplikationen. Gut und Wert. Ein Objekt, das jemand als geeignet findet (unmittelbar oder durch vermittelnde Tätigkeiten), irgendwelche seiner aktuellen oder zu erwartenden Bedürfnisse zu befriedigen, ist für ihn ein Gut, und er besitzt es, wenn er darüber freie Verfügung hat, humi die ihn davon betreffenden jetzigen oder künftigen Bedürfnisse zu befriedigen. Ist ein Gut nicht zu seiner freien Verfügung, so moti-
1 Aber nicht bloß das: Es ist auf Rang- und Größenordnung der „Werte“ Rücksicht zu nehmen, und der eigentliche Wertbegriff ist ein „Normbegriff“. Schätzung der Größe innerhalb einer Wertordnung, und nun die Fragen der Entscheidung, der Billigung unter praktischem Gesichtspunkt.
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schönwert und gutwert
viert diese Erkenntnis, dass er nach dieser Verfügung begehrt. Man verschafft sich freie Verfügung entweder durch Arbeit des Heranbringens, auch des entsprechenden Bearbeitens. Der Baum ist ein Gut als Holz, zu Zwecken der Feuerung. Verfügbar wird er für mich 5 durch Heranbringen, vorher durch Fällen, Zerkleinern etc. Hat ein anderer die Verfügung, die die meine aufhebt, so kann ich mich mit ihm verständigen, das Gut für andere Güter tauschen etc. Er überlässt mir die Verfügung bzw. das für ihn verfügbare Gut wird zu meinem verfügbaren, mein Eigen. Soziale Güter: Durch intersubjek10 tiven Austausch für jeden eventuell unter möglichen Bedingungen bereitzustellende und verfügbar zu machende Güter etc. – Wert weist hin auf Gütervergleichung und -messung.
Nr. 51 hW ert en, Fühl en und Begehren. Schönwert en und G utwerten. Gutwerten, ohne s i ch am G ut zu freueni1 5
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Fr eude al s Begehr en i m Zustand der Sättigung. Das Bild beschauend freue ich mich normalerweise. Ich „begehre“ danach und habe es. Was is t da s „ Werten “? Ist es ein rein am Erscheinungsgehalt oder, sagen wir besser, rein an einem Wesen (intuitiven Wesen) haftendes Fühlen und nicht etwa ein Fühlen, das das Sein dieses Inhalts betrifft? Fundierend kann also für ein Gefühl sein der seiende Gegenstand, der bestehende Sachverhalt, andererseits aber auch ein „Inhalt“, ein „Sachverhalt“ unter Ausschluss des doxischen Charakters. Die Schönheit der Madonna ist dieselbe, ob sie „existiert oder nicht“. Das Erscheinende als solches, das in diesem Aspekt Erscheinende. Aber ist nicht der Aspekt wirklich? Und dient die Bildlichkeit nicht bloß dazu, die Freude an der Existenz eines so sich darstellenden Dinges auszuschalten? Wie, wenn ich aber in einer anschaulichen Erinnerung werte: Bedarf diese Wertung der „Wahrnehmung“, um sich einmal zu bestätigen?2 Die ästhetische Freude ist größer in der Wahrnehmung als in der Reproduktion, sie sättigt sich. Aber das ästhetische Werten nicht. Ist das der richtige Ausdruck? Müssen wir eben nicht sagen „Schönwerten“? Natürlich. Und das Gutwerten? (Freudenwert, Begehrungswert.) Freude an der Tatsache. Aber i ch kann wieder sehen, das s das gut i st , und doch m i ch ni cht richtig freuen können; die Fr eude kann z unehm en an „ Stä rke “ oder schwächer s ein und so das Begehren, wenn ich es nicht habe, leidenschaftlicher und minder leidenschaftlich. Mancher wird sagen, das sei der Gefühlsbestandteil, stärkere und schwächere Lust und Unlust. Aber habe ich nur eine klare Vorstellung der Sache in ihrer Existenz, so erfasse ich den Gutwert eben im Gutwerten. Aber die gute Sache,
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1920–25. – Anm. der Hrsg. Und die bloße Phantasie? Und bei einer Novelle?
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schönwert und gutwert
der gute Sachverhalt, ist gegeben, wenn die Sache gegeben ist in ihrer Güte, gegeben als existierend. Und dann befriedigt sie notwendig das Begehren. Den Wert erschaue ich aber auch, wenn das Gut nicht existierend gegeben ist. Dann bestände der Unterschied gegenüber hdemi Schönwerten nicht?1 Aber überlegen wir: Ein Schönes existiert in seiner Schönheit, z. B. eine schöne Landschaft. Die Schönheit kommt dabei der Landschaft in ihrer Erscheinungsweise zu. Nicht ist der Schönwert mitanhaftend dem Dasein. Die Güte kommt dem Ackerfeld zu, als fruchtbarer Boden. Die Güte kommt andererseits auch der Landschaft zu, der existierenden, um der Schönheit willen. Sie ist eben darum auch ein Gut. Hier wird sie gewertet in der Einstellung des „Begehrens“. Existiert das oder nicht? Hypothetisch: Da habe ich Begehren-als-ob oder „Würde das sein, so würde ich2 mich freuen“ etc. Wie steht es aber mit dem „Ich sehe, dass das gut ist, aber ich kann mich daran nicht freuen“? Ich weiß, dass das gut wäre, ich kann aber nicht danach begehren, „es bewegt nicht mein Gefühl“, ich bin ganz stumpf. Vieles umgibt mich, das ich für gut halte, ich bin reich und habe einen großen Besitz an Gütern und halte sie auch dafür. Aber ich freue mich nicht mehr an ihnen, selbst wenn ich mir im Einzelnen den Gutwert deutlich mache. Wahrheit: Erfüllung in der Wahrnehmung, das In-Frage-Kommen, Fraglich-Werden im Widerstreit, Meinung, die zweifelhaft geworden histi; das „So ist es“ der Bestätigung. Schönheit: Bestätigung im aktuellen Wertnehmen. Heißt das also Gütebestätigung im aktuellen Begehren oder in der aktuellen QuasiFreude auf ihrem intuitiven Grund? Mache ich mir den Gutwert dieses Tisches wirklich klar, so heißt das, ich vollziehe entweder eine Freude oder eine Quasi-Freude gewisser wertnehmender Art, und dann allein erfasse ich das „Es gehört sich, sich darüber zu freuen“, das „erfreulich“ gehört dazu. Nur muss ich mich nicht wirklich freuen, ich habe eben jetzt kein Bedürfnis. Aber stelle ich mir die Bedürftigkeit vor – also einen Zweck, für den ich ihn bräuchte, und ich hätte
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Da es doch heißt, das Schönwerten hat kein Interesse am Dasein. Ich? Auf mich kommt es doch nicht an.
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ihn nicht etc. als das Bedürfnis Befriedigende –, es kommt nicht auf die Aktualität an, auch hnichti beim Schönen.1
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Ist also nicht Werten, Werthalten, ein Objektivieren? An einen Wesensgehalt oder intersubjektiven empirischen Sachgehalt und empirisch intersubjektive Umstände knüpft sich ein „erfreulich“, „schön“ etc.
Nr. 52 h W ert erf ass ung trotz H em m ung des Gefühlsi1
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Jemand sieht oder sieht schon ein, dass S p ist, aber innerlich gehemmt, kann er nicht daran glauben (wir sagen auch „Er will nicht daran glauben“). Jemand sieht, dass etwas schön ist, er wertet es als schön, aber innerlich gehemmt, hat er keine ästhetische Freude daran, es entzündet sich nicht die ästhetische Hingabe im Entzücken etc. (in größerem oder geringerem Maß). Jemand erkennt schon, dass etwas gut ist, er weiß es oder sieht es gar, aber innerlich gehemmt, begehrt er nicht danach, oder, wenn es für ihn bereit liegt und sein „Eigen“ ist, freut er sich nicht daran. Man könnte auch Folgendes heranziehen wollen: So wie ich mich willkürlich eines Urteils, das ich „habe“, das meine Überzeugung ist und selbst eine Einsicht histi, enthalten kann, es willkürlich außer Aktion setzen kann, so kann eine unwillkürliche Urteilsenthaltung statthaben, kann ein Urteil „außer Aktion“ sein oder nicht zur Aktion kommen, das doch in gewisser Weise da ist, aber freilich nicht meine Überzeugung ist. Vielleicht war sie es bisher, aber sie wird durch Gegentendenzen inhibiert und hat dann den Charakter der inhibierten, der fraglich, inaktiv gewordenen Überzeugung. Aber genau besehen ist das doch ein anderer Fall. Denn da besteht die Gegentendenz in einem Bestreiten und darin, dass ich nun die Überzeugung nicht mehr „ohne weiteres teile“, nicht auf ihrem Boden stehe, wenn ich auch sie nicht durch die Gegenüberzeugung ablösen lasse, sie aufhebe im Sinn der Durchstreichung. Im obigen an die Spitze gestellten Fall sehe ich schon ein, ich habe den Sachverhalt originär gegeben, aber ich fasse nicht zu, ich vollziehe nicht das Urteil, das „So ist es“. Die Gegentendenz wird eine anders gerichtete Überzeugung sein oder die Tendenz hseini, einem anders gerichteten Urteil einer Autorität zuzustimmen. Ist dazu eine Parallele der Fall des Wissens, dass mir ein Gutes zugefallen ist, ohne dass ich dazu übergehe, mich wirklich zu freuen? Oder des Erschauens, dass dieses Gemälde schön ist, ohne dass ich
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ästhetisch genießend mich „freue“, mich dem Schönen genießend hingebe? Die Hemmung liegt darin, dass ich müde oder in trauriger Stimmung bin, die keine Freude aufkommen lässt, weil sie eben ihre Traurigkeit über alles ergießt oder dass mich eine Trauer über A so ganz erfüllt, dass mir jedes A’ „gleichgültig wird“, weil es von sich aus mich nicht neu traurig machen kann. Ich bin jetzt eingestellt auf Trauer über A und auf weiter nichts. Ich kann verstehen, dass man sich über B aufregt, ich kann es nicht nur wissen, sondern mir es klar vorstellen, ich kann mich selbst als B betrauernd vorstellen und finden, dass zu dem B Trauer gehört, in diesem Gehalt wesentlich verwurzelt ist. Aber wirklich trauern kann ich nicht. So wird im Leben tausendm al ge sa gt, es i st traurig, es is t schön usw., s ogar A ntei lnahm e a usgesprochen, wo der innere Anteil, der A kt s elbs t i nhib i ert i st. Es kommt vielleicht zum Ansatz von Trauer etc. (auch beim Urteil), aber nicht zur Entfaltung, nicht dazu, dass das Ich im Urteilen, im Trauern lebt, davon ausgefüllt ist, höchstens neutralisiert quasi darin lebt oder flüchtig davon berührt ist und die Affektion gegen eine Trauer hin erlebt. Zum Werterfassen, Erfassen eines Schönwertes, aber auch eines Gutwertes gehört ni cht ei n aktuel l es Genießen, ein aktuelles Sic h-Fr euen, Beg ehren usw. Um zu erkennen, dass dieser Tisch gut ist, dass eine Wahrheit, diese da, gut ist, dieses Gemälde schön ist und ein Gutwert der Schönheit ist, dazu brauche ich nicht Wahrnehmung des Wertgegenstandes und ein aktuell darauf bez ogenes wer tendes G efühl. Damit hängt ja zusammen, dass ich einen anderen als Subjekt des Wertens ansetzen kann und die ganze Sache in die Möglichkeit, in eine Phantasie hineinversetzen kann etc.
Nr. 53 h Di e ori gina l e Konsti tuti on des Wertes im or igi nal en Akt des Wertnehmens. Or igi nalb ewusstsei n und Evidenz. Die Vergeg enwärti gungsmodifikation der Wer t i m pressi on al s originaler G rund für di e Erfassung der M ögli chkei t ei nes konkreten Wertes i1
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„Werten“, Für-wert-Halten von etwas, das man nicht schon hat, nicht genießt, setzt voraus ein „Wertnehmen in der Vorstellung“, ist aber nicht selbst schon ein solches. Im Wertnehmen ist das Gewertete als Wert „wahrgenommen“, wahrnehmungsbereit, das ist, das Wertnehmen ist ein originaler Akt, der Wert ist original konstituiert und ist somit erfassbar, ähnlich wie eine sachliche Bestimmtheit am Gegenstand. Sie ist am Gegenstand vorfindlich, gewahrbar und in diesem eigentlichen Sinn wahrnehmbar. Allem „Wahrnehmen“ geht an sich vorher ein originaler Akt, besser ein originales Bewussthaben, so beim Dingwahrnehmen, das das Ding leibhaft hat. Jede Evidenz setzt ein Originalbewusstsein voraus, wenn wir das originale Bewusstsein nicht selbst Evidenz nennen: Evidenz aber meint doch ein Erkenntnisbewusstsein, also einen doxischen Akt, und das ist ein Akt, ein Setzen, Begreifen als seiend, Bestimmen etc., der evident ist, wenn er aus Originalem schöpft. Relative Evidenz steht unter Prinzipien, die selbst absolut evident sind und die es vergewissern, dass alles relativ Evidente absolut evident werden kann, was aber nicht besagt, in einem Schritt evident.2 Wir müssen scheiden wirklich evident (absolut evident) und relativ evident. Ein Beweis, der frühere Lehrsätze voraussetzt, die jetzt nicht in Evidenz gegeben sind, beweist relativ evident (wirklich evident ist der hypothetische Zusammenhang als solcher). Jeder Beweis aus faktisch eingesehenen Axiomen ist absolut evident und beweist absolut evident, obschon das Erwiesene mittelbar erwiesen ist. Aber zurück zum Werten. 1
Wohl 1920. – Anm. der Hrsg. Logische Evidenz ist selbst ein Originalbewusstsein: Wir entnehmen da das Verhältnis zwischen Satz und seinem Sachverhalt etc., Ausdruck und Ausgedrücktem etc. 2
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So wie das sonst wie Wahrgenommene oder im Original Bewusste (impressional) in der Vergegenwärtigungsmodifikation zum quasiwahrgenommenen, quasi-impressionalen wird, so auch im Fall des Wertnehmens und der Wertimpression bzw. des impressionalen Wertbewusstseins. So wie nun aber jedes neutrale Vergegenwärtigen, das anschauliche, das eben eine neutrale Vergegenwärtigung der Impression ist, eine Impression von Möglichkeit ist, so hier. Es fragt sich, ob hier von neutral zu reden ist.1 Es kommt darauf doch nur an, dass jede bloße Vergegenwärtigung Modifikation von Impression, jede bloße „Idee“ selbst den Charakter einer Impression hat, nämlich dass sie der originale Grund für das Erfassen von Möglichkeiten ist. So auch im Fall der Wertung. Das Idee-Bewusstsein ist hier das Bewusstsein, aus dem ich in einem evidenten Akt nicht nur die Möglichkeit der Sache, sondern der werten Sache entnehme. Und wenn ich nun überhaupt in der Sphäre der Möglichkeiten Notwendigkeiten erkenne, so auch hier. Ist die Möglichkeit, dass A positivwertig ist, das, was ich erfasse? Nein. Ich erfasse die Möglichkeit des konkreten Wertes Aw+, wie ich die Möglichkeit eines roten Hauses erfasse, was noch nicht heißt oder hnichti bloß heißt, die Möglichkeit, dass ein Haus rot ist.
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Ist die ganze Lehre von der Neutralität nicht umzuarbeiten?
Nr. 54 h Das Schöne al s i deal i denti scher „ Schein “ in I mpres si on un d Phantasi e. D ie realisierende Obj ekti vier ung des Schönen macht es zu einem gei sti g bedeutsamen Realen i1
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Schönwerte und Gutwerte. Was ist das Schöne? Der „Gegenstand in der Erscheinungsweise, in der Gegebenheitsweise“, also ein Noema. Aber worin besteht dann seine Objektivität? Ein Noema ist an sich bloß subjektiv. Es kann aber auch objektiviert werden. So kann jedes normalsinnige Menschen-Ich denselben Berg unter Umständen sehen, in denen er den schönen Anblick gibt; und ebenso kann ich (solange ich meine normale Sinnlichkeit behalte und die äußere Welt mit dem Berg eine gewisse normale Stabilität behält) denselben Berg wiederholt so sehen, dass er denselben Anblick bietet. Der „Berg in seiner Erscheinungsweise“ oder als Einheit eines gewissen Systems von Erscheinungsweisen (herausgegriffen aus dem All seiner Erscheinungsweisen überhaupt) ist dann immer wieder derselbe, oder der Berganblick ist derselbe. Was ist das für eine Identität? Es ist die Identität eines Idealen, aber keine Spezies. Jedes „reale“ Icherleben, das denselben Anblick bietet, trägt dieses Ideale in sich, aber eben als Ideales. Und nicht nur das Erleben eines Ich, sondern verschiedener Ich. Andererseits würde jedes mögliche Ich und Icherleben von entsprechender noetischer Struktur dasselbe enthalten. Aber wie ist es nun bei der Objektivierung im Bild? Wie bei der Phantasie? Identifiziere ich nicht auch den Anblick, den schönen „Schein“, indem ich von Phantasie zu Phantasie übergehe? Ist nicht der ideale „Anblick“ identisch dasselbe Korrelat in Impression und Phantasie? Also muss man doch wohl sagen, das Ideale ist eben insofern nicht bloß subjektiv, als es ideal Identisches in mannigfaltigen Impressionen und Phantasien eines und desselben oder verschiedener Ich sein kann. Andererseits hist esi bloß subjektiv, sofern als wir hierbei Gehalte, sinnliche Daten als den Ich zugängliche voraussetzen, die a prihorii Kontingenzen sind. 1
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Insofern es sich um Ideales handelt, das als Identisches identifizierbar ist in möglichen und wirklichen Ich und Ichakten, haben wir für das Schöne einen Gegenstand. Andererseits wird in der Realisierung, der realisierenden Objektivierung, das Schöne real verankert; es wird 5 ein geistig bedeutsames Objekt, ein geistig bedeutsames Reales, ein Gedicht, ein Roman, ein schönes Bild konstituiert, etwas, das man lesen kann, etwas, das man sich wiederholt ansehen kann etc., das in der objektiven gemeinmenschlichen Welt an sich ist, ob es gesehen wird oder nicht.
Nr. 55 h Freude i n i hrem Verhältnis zu Wuns ch und Wi l l e. D i e Frage nach den Akt kl assen und i hrer Einheiti1 5
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Wenn das Streben in der Handlung seine Erfüllung findet, so ist das Streben selbst und als solches „aufgehoben“: Das Wollen geht aus dem Modus der Intention in den der Erfüllung über. In der doxischen Sphäre ist die Erfüllung die „Anschauung“, Erfahrung, Wahrnehmung (der Erfüllungsübergang Identifizierung), in der axiologischen Sphäre haben wir als Erfüllung das Erfühlen, das Wertnehmen, das zugleich doxisch zur Anschauung vom Wert wird. In der Willenssphäre haben wir Erfüllung in der realisierten Güte, im erworbenen Besitz des Guten selbst.2 Die Dreigliederung ist aber zweifelhaft. Ich habe Wahrnehmen etc. als originär gebendes Bewusstsein (darunter solches von Vergangenem als anschauliche Erinnerung). Ich habe Wertnehmen als I mpr es s ion vom Wert, ori gi när „ fühlendes “ Bewusstsein, d. i. doch wohl Fr eude am sei enden Wert. Das ist aber, könnte man sagen, ein Wi ll e ns m odus, und der entsprechende Modus der Intention,3 der Willensintention, ist das, was wir Wollen schlechthin nennen. Die Erfüllung geht genetisch der Intention voran und geht in sie „vorstellungsmäßig“ ein, ebenso wie die Wahrnehmung der bloßen Vorstellung vorhergeht und in sie selbst eingeht; diese ist ja „Modus“ der Wahrnehmung, birgt in sich ein Quasi-Wahrnehmen. So liegt in der Willensintention die Freude modifiziert beschlossen.4 Aber es gibt ja auch Wunschintentionen: Für sie gilt dasselbe. Aber im Willen liegt das Können, nicht aber im Wünschen. Wie ist es dann aber, wenn ich bloß werte, ohne zu wünschen? Ich halte Erkenntnis für wert. Was sagt das? Entweder ich habe sie und freue mich ihrer, oder ich habe eine unbestimmte Vorstellung von einer Erkenntnis
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Wohl 1920. – Anm. der Hrsg. Versuch, die Freude als W i l l e n s m o d u s anzusehen. 3 Widerlegt folgende Seite! 4 Parallelisierung des Verhältnisses von 1) Wahrnehmung und vergegenwärtigender Vorstellung, 2) Freude und Wollen; ebenso für 2’) Freude und Wunsch. 2
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(die irgendjemand hat, oder die ich haben könnte) und ich werte sie. Dann versetze ich mich damit in ein Haben, ich habe die Vorstellung eines Habens und damit die Quasi-Freude daran. Das ist noch kein Wünschen, es bestimmt dann weiter ein solches und eventuell ein Wollen. Eventuell kann man sagen: Zur Freude gehört es, dass jede Minderung den Wunsch nach Erhaltung und Wiedermehrung mit sich führt, dass jede Ablenkung eine Zurücklenkung motiviert nach Wunsch und eventuell Willen. Aber Freu de i st nicht selbst Erfüllungsmodus des Wuns ches und Wi l l ens, sondern das Was der Erfüllung, das Erfüllende, Inhaltliche.1 Zur Erfüllung als solcher, ihrem eigenen Wesen nach, gehört, dass das Erfüllende eben erfüllende Freude sei, und zur Willensintention gehört, dass das Streben nicht nur auf Freude, sondern auf erfül l end e Freude gerichtet ist und sie modal in sich birgt. Ich muss also jedenfalls doch scheiden: Werten (Gefallenhaben), Wünschen, Wollen, Handeln. Was macht hier Klasseneinheit oder Klassenunterschiede aus? Wodurch bestimmen wir Klasseneinheit etc. überhaupt? All e Akte e i ner Kl asse sind bezogen auf eine eigene ges chlos sene G attung von Impressionen. Die Modalitäten, die jede Impression zulässt in gleicher Art in jeder Gattung, sind selbstverständlich dann mitgeeinigt,2 also: Neutralitätsmodifikation, Unterschied von Intention und Erfüllung, ferner, jede Art Impression hat ihre thetischen Modalitäten, doxische Modalitäten zum Beispiel; sie haben ihre Parallelen überall. Kann man den Willen eine Modalität des Wunsches nennen?
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Deutlicher: Zur Erfüllungsphase eines Wunsches oder Willens gehört, dass sie nicht nur Freude ist, sondern willenserfüllende Freude ist. 2 Auch das Ausdrücken ist etwas Analoges wie eine durchgehende Modalisierung.
Nr. 56 Z u den Äqui vokati onen des Wortes Wert1
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Sprechen wir von liebenswert, begehrenswert, schätzenswert, so drückt wohl das „wert“ die Richtigkeit, das Normgerechte, aus, wobei wir den Begriff der Norm ändern gegenüber dem leider üblich gewordenen: Nicht ein allgemeines Normgesetz, eine normative Regel soll darunter verstanden werden, sondern die „Wahrheit“ selbst, im verallgemeinerten Sinn, als die jeweilige Norm, als der „Maßstab“. Normieren als Nachmessen, nicht nach einer allgemeinen Regel als einem allgemeinen Satz, sondern nach einem in jedem einzelnen Fall bestimmten und in anderer Weise allgemeinen Maß. Jede bestimmte Wahrheit ist das Maß aller Urteile, die auf sie gerichtet sind, in der Weise, wie ein richtiges oder unrichtiges Urteil es ist; auch ein unrichtiges Urteil ist, indem es falsch gerichtet ist, auf Wahrheit gerichtet, aber die Wahrheit, zu der wir kommen, ist nicht die prätendierte, welche vielmehr mit dieser streitet. Verstehen wir das Wörtchen „wert“ so, dann heißt Werten Auswerten, das Tun, das Handeln, das auf Norm gerichtet hist, dasi auf Begründung, auf Ausweisung von Akten abzielt. Dann fehlt uns aber ein Wort für das fühlende „Werten“, für das Für-schön-und-gut-Halten. In den Ausdrücken „wertens-wert“, „schönwertens-wert“ kommt der Doppelsinn zum Ausdruck, im ersten und zweiten Wortteil hat das „wert“ einen anderen Sinn. Nun sind wir auch in der üblen Lage, dass „schön“ und „gut“ eigentlich schon die Norm ausdrücken so wie wahr (und zwar onthischi in Verbindungen wie: wahre Freundschaft, ein wahrer Mann etc.) oder wirklich, wirklich seiend. Wir sagen Wahrnehmen, aber auch Sehen, Hören etc., wir sagen Glauben, Urteilen, Meinen, aber auch Für-wahr-Halten, Fürwirklich-Halten. Hier ist das Normwort hineingezogen. Ebenso sagen wir: Gefallen, Missfallen, auch Würdigen, Schätzen, aber auch Fürschön-Halten, Für-gut-Halten. Für-schätzenswert-Halten, Schätzen werden ähnlich gebraucht wie Werten im Sinn von Normieren. Sagen wir aber „schätzenswert“, so meint das Schätzen das fühlende
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Verhalten (Werten im anderen Sinn) und das „wert“ drückt die Richtigkeit aus. Natürlich gefällt das Normgerechte, und das Urteilswerte, das Gefallenswerte, das Willenswerte ist auch wert im Sinn von gefällig. Spricht man vom Reich der Werte, so kann also 5 gemeint sein: das Reich der Wahrheiten und korrelativ das Reich der wahrheitsgemäßen, normgerechten Akte, aber auch das Reich aller Gegenständlichkeiten, die schöne oder gute sind.
Nr. 57 h G efühl und Wertkonstitution. Das Probl em der G efühl squalitäten i1
h§ 1. Das Genießen als originäre Wertgegebenheit und seine Modalitäten. Antizipationen des Gefühls: das Fühlen als Bewusstsein-von. Ist der konkrete Wert ein reines Vorstellungsgebilde und ist das Ich nur als gewahrendes aktiv?i
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Das Begehrenswerte und das Gute. Das „Begehren“ als das „Gefühl“, das am Sein interessiert ist, in der Doxa fundiert ist. Modalitäten: 1) das Genießen (Freude), 2) das Entbehren, Vermissen etc.: a) dessen, was noch nie genossen war, individuell oder generell, der ganzen Art nach, aber doch irgendwie analog ist einem schon Genossenen, b) dessen, was schon genossen war. Im letzteren Fall reden wir von Entbehren, Vermissen (noch nicht: Sich-Sehnen!). hUndi im ersteren Fall? hVoni Bedauern (dass etwas nicht sei) – doch das sagen wir auch statt Vermissen. Aber es ist hdasi der allgemeinere Ausdruck, auch Trauern, das sich wieder fast ausschließlich auf einen Verlust bezieht. Andererseits aber haben wir Bedauern, dass etwas ist, weil dadurch ein anderes nicht ist, wozu wesensgesetzlich gehört, dass es, wenn es wäre, das entsprechende positive Gefühl begründen würde. Nun haben wir aber auch den Unterschied, dass etwas ist, aber nur genießbar ist, nicht genossen ist. Seiendes kann eventuell nur genossen werden in einer gewissen Gegebenheitsweise. Andererseits, ist diese Gegebenheitsweise für uns frei verfügbar, so ist doch ein Gefühl der positiven Art fundiert. Wir haben also ei n p osi ti ves G efühl, das an Sein interess ier t is t, und ein nega ti ves G efühl. Und auf jeder Seite nicht ein Gefühl, sondern eine Gruppe. Was die positive Gruppe anbelangt, so haben wir hier als das originäre und ori gi näre Wertgegebenheit darstellende Gefühl das G eni eßen, auf welches alles andere Gefühl 1
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ähnlich zurückbezogen ist wie auf das Wahrnehmen alles andere Erkennen.1 Es müssten dann alle Modalitäten, die positiv von da auslaufen und dann negativ, dargestellt werden und insbesondere auch die Modalitäten, die mit den doxischen Modalitäten der fundierenden Unterlage und dann mit den Vergegenwärtigungsmodalitäten (korrelativ: Zeit in der zeitlichen Orientierung, als gegenüber der originären die vergegenwärtigte Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) zusammenhängen. Aber auch die Modalitäten der Einfühlung gehören unter diese Vergegenwärtigungsmodalitäten. Was die negat iven Modal i täten, die natürlich hierbei schon eine Rolle spielen werden, speziell anbelangt, so ergeben sich hier bedeutende Fragen: Wir haben hier, scheint es, ein in gewissem Sinn negatives Genießen, das Lei den am Sein, das nicht Trauer über N ic hts ein is t. Hierher gehört jeder sinnliche Schmerz. Wir haben hier im Gefühl eine Positivität und eine Negativität, ein plus-minus, ein originäres Fühlen, das dem Gegenstand hingegeben ist, angezogen und bei ihm ist und von ihm abgestoßen, widerwärtig betroffen und doch „leider“ bei ihm. Dazu, entsprechend der Gradualität des Gefühls, ein adiaphoron. Das zeigt , dass das Anal ogon des Fühlens nicht im E mpfinden li egen kann – oder sollten wir das Verhältnis von Schwarz und Weiß heranziehen bzw. Schwarzempfinden und Weißempfinden oder Rotempfinden und Grünempfinden, aber wo wäre da der Übergang? Auch handelt es sich bei Schwarz-Weiß und bei anderen solchen Kontinua um Mischungsverhältnisse. Derartiges gibt es wohl auch in der Gefühlssphäre. Aber haben wir so etwas wie ein Gefühlskontinuum analog dem Farbkontinuum und darin hervortretend als Ideen (analog der Idee des reinen Weiß, reinen Rot etc.) „reine Qualitäten“? Es wäre dann auch zu fragen, ob in der Empfindungssphäre hinsichtlich der reinen Qualitäten, der Ecken des Farbenkörpers, als Urunterschied sich sondern lassen: reine Positivitäten und reine Negativitäten: Weiß eine reine Positivität. Aber geht das etwa auch bei den bunten Qualitäten?
1 Wie wird Rücksicht genommen auf den Unterschied des „Genießens“ unmittelbarer und mittelbarer Werte?
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Beim Wahrnehmen haben wir die Phänomene der Erfüllung der „Intention“, und diese Intention ist hier das Über-sich-hinaus-Meinen der abschattenden Vorstellung oder der äußerlichen Vorverweisung, beides sich beständig mischend. Diese Erfüllung ist die Positivität, und die „Enttäuschung“ die Negativität. Aber Enttäuschung setzt hier immer auch Erfüllung voraus.1 Gehen wir nun wieder in die Gefühlssphäre über. Wir haben Antizipationen in der Funktion der ursprünglichsten Gegenstandsfunktion, Empfindung, sinnliche Wahrnehmung, und zur Antizipation gehörte da eine Positivität und Negativität als Bestätigung oder Durchstreichung der Antizipation. Wir haben auch Antiz ipationen des Gef ühl s. Das Gefühl ist selbst als Gegenständlichkeit konstituiert, und es kann erwartet werden, es wird wahrgenommen, es wird vergegenwärtigt; es konstituieren sich auch durch Antizipation Gefühlsgegenstände als Gegenstände der „Erfahrung“. Aber muss man nicht sagen, dass das G efühl selbst antizipiert? So wie das Vorstellen ein „Bewusstsein“ ist (zunächst eine vorstellende Passivität, dann ein Vorstellen, in das sich das Ich hineinlebt und dann aktiv wahrnimmt, denkt, begreift usw.), so ist das Fühlen ein Bewusstsein und zunächst passives Fühlen, dann aktives Fühlen. In der Erkenntnissphäre „konstituiert“ jede Stufe neue Gegenständlichkeiten. Das Bewusstsein leistet, das Konstituierte ist ein antizipatorisch Vermeintes und kann dann als Gegenstand erfasst werden, es affiziert und wird Thema. Vorgegebener, vorgegenständlicher, vortheoretischer Gegenstand ist das Bewusstsein selbst und jede seiner neuen Stufen im aktuellen Leben und speziell auch himi Ich-Tun. Vorgegeben ist dann auch der sich allmählich, schrittweise „aufbauende“, konstituierende Gegenstand. I s t er fer ti g, s o i st er „ bewusst “, aber nicht erfasst; er wird nachher erst gegenständlich erfasst, er ist erfassungsbereit vor der Erfassung. Es unterscheiden sich also die lebendigen gegenstandskonstituierenden Funktionen in ihrer Fortentfaltung von den
1 Es ist gegenüber dem oben Gesagten aber zu bedenken, dass auch im Empfinden, sofern sich eben darin gegenständlich ein Datum konstituiert, ähnliche Verhältnisse walten, nur dass das Datum, das empfunden ist, nicht durchstreichbar ist, soweit die Empfundenheit reicht, und hdass dasi nur möglich ist bezüglich der Erwartungsstrecke.
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eigentlichen Akten des Gegenstandsbewusstseins, den erfassenden Akten, dann den bestimmenden. Das Fühlen ist Bewusstsein-von und ist wie jedes Bewusstsein ein Leisten, ein Konstituieren; es selbst als Bewusstsein antizipiert. Das vorstellende Bewusstsein antizipiert in Form vorgreifender Doxa mit einem Sinnesgehalt; das Gefühl antizipiert in Form eben vorgreifenden Stellungnehmens in Lust oder Unlust. Aber ist der konkr ete Wert, der sich in eins mit der „Bewertung“ eines konkreten wohlgefälligen Gegenstandes konstituiert, nicht ein reines Vorstellungsgebilde, nur konstituiert mit den Elementen des Gefühls, die sich in der Originarität den Empfindungselementen auflagern? Und wie sich die Empfindungselemente in Abschattungen verwandeln, so die Gefühlselemente in Gefühlsabschattungen. Die abgeschattete Einheit, das Rot der Hexaederfläche, ist Einheit von Rotabschattungen, die Schönheit dieser Merkmalsfarbe ist Einheit, die sich in den entsprechenden Gefühlsfärbungen jener abschattenden Empfindungen abschattet. Wir haben eine Einheit der Empfindungsapperzeption und darauf geschichtet eine Einheit der Gefühlsapperzeption, und es ist Apperzeption, es ist eine Gegenstandskonstitution. Wie kämen wir aber zurecht mit dem Fühlen als Ichakt: Ich liebe, ich freue mich, ich habe Gefallen an, Missfallen an? Nach der fraglichen Anschauung hätte ich nur ein doppelschichtig konstituiertes Gegenständliches, also doppelschichtige objektivierende Intentionen, die rein doxische Intentionen wären und sich als solche ausweisen würden, und das in beiden Schichten. Was wir gewöhnlich sinnliche Empfindungen nennen können, wäre nur eine Art von Empfindungen; sinnliche Empfindungsdaten wären nur eine Sorte von „ichfremden“ Daten, in transzendierender Objektivierung die sinnlichen Eigenschaften der Sehdinge etc. abschattend. Es gäbe dann eine transzendierende Objektivierung, die in den hini sinnlichen Empfindungsdaten fundierten Gefühlsdaten ihre Abschattungen hätte. Diese Daten wären ichfremd im selben Sinn, allenfalls von einer eigenen Gattung, nur darin eigentümlich, dass sie in gewissen Fundierungsverhältnissen zu den anderen Gattungen ständen und dass ihre Objektivierung sich in einer anderen Art vollzöge, dass eine „Wertobjektivierung“ schon eine Dingobjektivierung voraussetzte und ihre besonderen Entwicklungsgesetze hätte. Aber dann
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gäbe es nichts anderes als Gegenstandskonstitution, als „Ich nehme ein Hexaeder wahr und ich gewahre es aktiv“ und „Ich nehme ein mit Gefühlsbestimmtheiten (Werteigenschaften) wahrgenommenes Hexaeder hwahri und ich gewahre es.“ Das Ich wäre nur als ge5 wahrendes, als doxisches aktiv. Aber ist das „Ich freue mich“, „Ich übe einen Gefallens-, Liebesakt“ soviel wie „Ich nehme wahr“, „Ich erinnere mich“ etc.? Ist das Gefühl ein perzipierendes Erfassen eines sinnlichen Datums oder einer sinnlichen Beschaffenheit, in der Weise hwiei transzendierende Objektivierung konstituiert, ein Perzipieren, 10 ein Tätigsein nur in der Art, wie der Wahrnehmende, der Erfahrende rezipierend tätig ist?
h§ 2. Die Frage nach den Gefühlsqualitäteni
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Es ist eigens zu erwähnen, inwiefern vielerlei und eventuell stetig ineinander übergehende Fühlungen zur Einheit eines Gefühls zusammengehen und inwiefern Einheit der Konstituierung einer Wertbeschaffenheit ähnlich statthaben kann wie Einheit der Konstituierung einer gegenständlichen (rein sachlichen) Eigenschaft. Das Schwierige ist sicher, dass das „Ich nehme fühlend Stellung“ etwas anderes sein soll wie „Ich nehme wahr“, „Ich erfahre“, „Ich erfasse“, dann auch „Ich identifiziere“, „Ich urteile“; dass es schon als Gefühlsaffektion eine Parallele sein soll zur doxischen Affektion (wobei noch vieles zu klären ist); andererseits, dass das Fühlen einen eigenen Gehalt beibringen soll, der es eben ist, der immer wieder mit den Empfindungsdaten vermengt wird. Aber da ist es wieder fraglich, was dann diese Lehre von den mannigfaltigen Gefühlsqualitäten für ein Recht und einen Sinn hat. So wie Einheit einer Wahrnehmung, einer anschaulichen und sonstigen Vorstellung, nicht bloß Einheit einer Doxa ist (als blinde Affektion oder als vom Ich ausgehende tätige Erfassung), sondern eine Einheit einer Doxa mit dem mannigfaltigen affektiven sinnlichen Gehalt oder vielmehr Einheit einer „Intention“ im Modus doxischer Gewissheit mit den ihr zugehörigen sinnlichen Kernen, so ist die Einheit eines Gefühls nicht eine leere Gefühlsstellungnahme, sondern wir haben unterliegend einen Vorstellungsgehalt – im Fall sinnlichen Fühlens eine passiv konstituierte Einheit sinnlicher Art, eine Einheit
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eines Wahrnehmungsbildes, eines Geschmacks etc. Nach gewissen durchgehenden Momenten, Schichten fundiert diese Einheit eine Einheit der Gefühlsaffektion, die aber nichts für sich ist, sondern mit der Unterlage konkret eins ist. Das käme einer Leugnung der Gefühlsqualitäten gleich und würde besagen, dass es ebenso wie hesi keine qualitativen Unterschiede der Erfahrungen als Erfahrungen gibt (Wahrnehmungsgewissheiten), so keine qualitativen hUnterschiedei zwischen Fühlungen als Fühlungen. Es fragt sich dann aber, ob das Fühlen in der Weise der Ichaffektion und der Ichaktivität seine qualitativen Besonderheiten hat, so z. B. der Unterschied edler und gemeiner Gefühle, ob nicht das, was Vorzugsverhältnisse fundiert, solche Qualitäten sind. Natürlich, Unterschiede des Wesens (und das wäre ein echter Qualitätsbegriff) gibt es zwischen Vorstellungen und Vorstellungen, alle phänomenologischen Beschreibungen sind voll von ihnen und nicht nur Unterschiede, die mit den verschmolzenen Vorstellungskomponenten gegeben sind, sondern Sinnes- und noematische Unterschiede, Unterschiede des Leeren und Vollen usw. Ein eigener Unterschied in der Gefühlssphäre wäre jener Unterschied des Edlen und Gemeinen, alles, was Rangunterschiede begründet. Analoga in der doxischen Sphäre wären Unterschiede der doxischen „Modalitäten“ der Gewissheit und die Rangverhältnisse, die z. B. dadurch in der Wahrscheinlichkeitslehre gestiftet sind. Die Psychologen der empiristischen Tradition kennen keine eigenen Gefühlsakte, freilich auch keine doxischen Akte. Es muss eingehend gezeigt werden, dass es verschiedene Akte sind, und was sie beide in Parallele stellen lässt. Vor allem ist da letzte Klarheit über die Ichaktion in der Form der Doxa nötig (schon diese Rede ist bedenklich), also besser: Erfassen eines Gegenstandes, ihn anschauen in seiner Einheit mit sich selbst, ihn diskret identifizieren; Urteilen als etwas, das man mit „unterliegenden Vorstellungen“ tun und wodurch man sie selbst in neue Bewusstseinsgestalt bringen kann, denn sie bleiben dabei nicht ungeändert wie Dinge. Der Titel Vorstellen wird in der Tat vom Titel Urteilen getrennt werden müssen, obschon nicht umgekehrt. Weiter: Aktivität des Fühlens (Wertens), die ihre Positivität und Negativität hat. Wie steht dies zu Bejahung und Verneinung etc.? „Qualität“ der Gefühle, für die schon Hume eintritt. Es fragt sich, ob man in einem echten Sinn davon sprechen kann. Man spricht
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von einer Qualität der Gegenstände, hderi Dinggegenstände; und jede Qualität ist eine Einheit in der Mannigfaltigkeit von Erscheinungen. Die Qualität ist das Was des Gegenstandes; im Übrigen hat sie den Setzungscharakter seiend oder nichtseiend und eventuell modalisiert.1 Betrachten wir den Wertgegenstand, das konkrete Wertobjekt, so hat es Werteigenschaften, natürlich mannigfaltige Wertqualitäten. Diese konstituieren sich in ihrer Weise. Kann man aber auch hier sagen, dass diesem qualitativen Was nun zugehört der Charakter des Schön oder Hässlich als Analogon des wahrhaft Seiend oder Nichtseiend? Die Sachlage kann nicht so einfach sein, sie bietet doch der Analyse Schwierigkeiten, vielleicht weil man nicht genug von allen Vorurteilen sich frei macht. Beim Ding habe ich auch nicht einen Gehalt für sich und irgendein Belieben, denselben Gehalt im Seiend und Nichtseiend bewusst haben zu können. Vielmehr, ist der Gehalt lebhaft und durchaus einstimmig gegeben, so ist er eo ipso als seiend gegeben, und nur wenn ich partielle Einstimmigkeit habe und darüber hinaus schließlich das Ganze ergreifend Unstimmigkeit, habe ich das Nichtseiend eben als Durchstreichung des Seiend. So habe ich auch das Wertobjekt durch Lust gegeben als Einheit einer Mannigfaltigkeit von Lüsten, um es einmal kurz auszudrücken. Und dann kommt der axhiologischei Widerstreit und die „Entwertung“. Das Ganze ist dann als „unwertig“ charakterisiert, auch wenn im Einzelnen positiv-wertige Momente und Zusammenhänge statthaben.2
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Und Zeitmodalitäten, wenn man nicht alle „Eigenschaften“, Beschaffenheiten zusammennimmt als Qualitäten. 2 Eventuell entspringt ein Unwert so. Aber ein Ekel?
Nr. 58 h Die W ert apperzepti on al s Konstitution des vor gegebenen Wertg egenstandes. Das V erhäl tni s vo n Akti vi tät und Passivität bei der Wer tkon sti tuti on. U nterschiedliche W er ts chic hten. D as Auswerten als Leistung des I ntellekts gegenü ber den G efühlsbegründungeni1
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Apperzeption: das ursprüngliche konstituierende Gegenstandsbewusstsein, wodurch Gegenstände ursprünglich „gegeben“ sind – vor aller aktiven Stellungnahme und allem abwägenden, bejahenden, verneinenden, beziehenden, verknüpfenden Verhalten, vor allem Denken. Hier steht freilich Verschiedenes unter dem Titel Denken: einerseits die Lehren der Modalitäten, des Abwägens der Wahrheit (Gewissheit), der Möglichkeit, der Wahrscheinlichkeit usw., andererseits das Prädikative, das Explizieren, das Beziehen, das Kolligieren und Disjungieren usw., und da deckt nicht alles der Titel „Stellungnahme“ und andererseits nicht der Titel „Urteil“, intellektive Betätigung. In diesen Beziehungen bedürfte es also zuallererst der Klarheit. Gegenstände sind dem Denken (und zwar der beziehenden, Sachverhalte konstituierenden Aktivität und der Aktivität der Bejahung, Verneinung, der Abwägung, Prüfung von Wahrheit und Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit) vorgegeben durch Apperzeption – eine Passivität vom Ich aus gesehen (Rezeptivität) –, die Apperzeption kann „vor s tel lende“ sein, bloße Sachen vorgebende sein, was natürlich ein eigener Begriff von „Vorstellung“ ist. Die Apperzeption kann aber auch W ert apperzepti on sein, im passiven Gefühl (dem „sinnlichen Gefühl“) oder durch dasselbe konstituierend. Dann ist der W er t vor gegeben. Z u den konst it uier ten Sachen, aber auch Werten, ist nun eine intellekt ive Stel l ungnahm e m öglich und ein denkendes V erhalten j eder Art. Dann werden die Sachen und Werte zu logischen Gegenständen, zu Subjekten der Bestimmung, zu Gliedern von Verknüpfungen und Beziehungen logischer Art. Andererseits können sie zu Objekten eines aktiven wertenden und praktischen 1
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Verhaltens werden. Di e Schwi eri gkei t ist hier die, überall das V er häl tni s von Akti vi tät und Passivität zu verstehen. Das Bewusstsein ist kein Raum, wo Dinge „einfach sind“, sondern Bewusstsein ist immerfort Bewusstsein-von, und was im Bewusstsein ist, hat den Charakter des „ist“ als Bewusstes, näher durch den Charakter der Doxa. Und da haben wir eben den Unterschied der vor gebenden, r ezipi erende n und der präd ikativ setzenden Doxa, die das Quellglied logischer Akte ist. Sicher, parallel läuft der Doxa das Gefühl als wertendes Bewusstsein, wo wir wieder den Unterschied der Passivität und Aktivität haben. Aber nun ist die Schwierigkeit, dass wir in der Vorstellungssphäre einen doppelten Unterschied von Materie und Form (und damit von Sinnlichkeit) haben: Gegenüber der Doxa haben wir die doxische Materie. Andererseits, in der doxischen Materie haben wir die ganze Apperzeption als Sinngebung und darin wieder den Unterschied zwischen Empfindungsmaterial und Auffassungscharakter. Hier ist das Empfindungsmaterial das „sinnliche“. Es ist natürlich auch passiv vorgegeben und hat seine Doxa. (Ohne Auffassung? Da liegen wieder Schwierigkeiten.) Wie bei den vor g eb enden Wertungen? Was ist Wertapper zeption? Haben wir hier auch eine Sinnlichkeit im zweiten Sinn, oder ist das Neue eben bloß dies, dass sich an sinnliche Vorstellungsdaten und an sinnlich vorstellige Gegenständlichkeiten „Wertakte“ knüpfen, fundiert in den Vorstellungsapperzeptionen, näher in den oder jenen konstitutiven Schichten. Es ist auch Folgendes zu beachten: Wenn sich durch Vorstellungen Gegenstände bewusstseinsmäßig konstituieren, so ist die pure Vorstellung eigentlich eine Abstraktion, insofern als bewusstseinsmäßig in der Regel nicht der bloß wahrgenommene Gegenstand da ist, sondern der Gegenstand vielerlei „Färbungen“ an sich tragen wird, also die Vorstellung noch verschmolzen sein wird mit mancherlei vagen „Fransen“, die auf Bewusstseinszusammenhänge zurückweisen, die nicht für solche Gegenstände konstitutiv sind: Der Gegenstand erinnert an dies oder jenes, das seinerseits in den oder jenen Zusammenhängen mit Angenehmem oder Unangenehmem verflochten war, oder er hat sonst Beziehungen zu wertbaren, und zwar praktischen Zusammenhängen. So haben wir einerseits Gefühlsreaktionen (und damit eine vorgegebene Gefühlsschicht oder Wertschicht), die 1) der
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erfahrene Gegenstand an sich selbst erregt; eine Wertschicht, die auf die und jene Teile und Schichten des konstituierten Gegenstandes so und so bezogen ist, andererseits 2) eine zunächst davon nicht klar abgehobene Wertschicht, die auf jene Zusammenhänge geht. Und zwar: Gerade so, wie der Gegenstand jetzt bewusst ist, gerade so, wie das mehr oder minder verworrene Medium von Meinungen von Zusammenhängen ihn für mich umfließt und ihm einen verworrenen Schein, einen Habitus verleiht (Gefühl in einem anderen Sinn), genauso ist er Substrat eines Wertcharakters so und so komplexer und selbst verworrener Art. Die Gefühle sind dabei, abgesehen von der einen Dimension von Unterschieden (plus-minus etc.), noch sehr verschieden, in unzähligen Schattierungen und Besonderungen, fundiert und nicht fundiert etc. Das gibt also eine Materie für die Wertapperzeption, für die Konstitution des einen Wertgegenstandes, als eventuell tausendfältig wertvermeinten und doch wertlich einheitlich gemeinten. Was nun die Auswer tung anlangt, so ist es doch ein Gegenstand, hdieseri hat jetzt eine Schicht neuer gegenständlicher Momente, also ist es insofern der „Intellekt“, der auswertet, der eben zu den Erfüllungen und Enttäuschungen fortschreitet. Und andererseits ist es das W er ten, das i n si ch se l bst sei ne Echtheit und Wahrheit hat bzw. bezeugt oder deren Gegenteil. Es handelt sich nicht um das bloße Faktum, dass der Gegenstand in der Wahrnehmung oder sonstwie gegeben und verworren vorgestellt die und die Gefühle „in mir erregt“, sondern darum, dass zum Gegenstand – sei es für sich, sei es, wenn er als der oder jener gemeint ist, von ihm das und jenes bekannt ist – die und die Werte „gehören“. Es gibt ein Wertvermeinen und Wertsein, es gibt Gefühls best ät i gungen und G efühlsenttäuschungen, gefühlsmäßige und objektiv entwertende Abweisungen, Gefühlsbegründungen und -gründe etc.
Nr. 59 h Sachli che und axi ol ogi sche Eigenschafteni1
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Das Substrat der Wertprädikate, z. B. des Prädikats Schönheit. Aber demgegenüber die das Wertprädikat bestimmenden Momente des Substratgegenstandes. Also Scheidung: die Sache selbst, die wert ist; die Sache hat sachliche Eigenschaften; nicht alle sachlichen Eigenschaften sind Werteigenschaften. D oppelsinn von Werteigens chaft: 1) Eigenschaften des werten Objekts, 2) spezifische Werteigenschaften, die den Wert bestimmenden. Genau besehen scheiden wir dabei a) die Sacheigenschaften, die solche sind, „um dessen Willen“ die Sache eine Wertsache ist, und b) die Wertmomente, die ihnen anhaften; c) die Sacheigenschaften ineins mit diesen Wertmomenten. Wir brauchen also verschiedene Begriffe. Sachliche Eigenschaften und Beschaffenheiten und näher als „wertbestimmende“. Wertbesti m m end ist eine Eigenschaft, insofern sie zum Wert der Sache beiträgt, in dem Sinn nämlich, dass sie ein Wertmoment trägt, das seinerseits neben anderen den Wert der Sache fundiert. Nehmen wir irrelative Eigenwerte, Werte der Sache in sich selbst (Eigenwerte der Sache, aber außer Betracht ihrer Relationen), so haben wir folgende Schichtung: 1) die Sache und ihre Eigenschaften, 2) der Sachwert (Wert der Sache selbst) und die Eigenschaften des Sachwertes als hdesi Wertes: die spezifisch axiologischen Eigenschaften, die Wertschaften. Dem Sachwert liegt die Sache zugrunde als Substrat; den „Wertschaften“ der Sache liegen entsprechende Eigenschaften zugrunde, gewisse unter den Eigenschaften, eben die beitragenden. Die übrigen sind wertlich nur Lückenbüßer, Mitträger, κατa συµβhεβηκÞσi, und nur unvermeidlich mit dabei, weil die beitragenden Eigenschaften für sich allein nicht sind und nicht sein können. Keine Rücksicht ist dabei auf die Modalitäten des Seins und des Wertes genommen.
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Nr. 60 h W er tpr ädikat e al s ni cht-rel ati onelle Prädikate. Der U nter schi ed der Wertprädikate von den doxi schen Modalitäten i1 5
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Was unterscheidet das Prädikat „wert“ von anderen, dem Gegenstand an sich selbst zukommenden Prädikaten und von relationellen Prädikaten? Der Gegenstand konstituiert sich in einem originalen Akt (Impression), und durch Explikation des schon Konstituierten werden die Eigenschaften „herausgehoben“ und als ihm zukommend vorgefunden. Der Wert konstituiert sich in höherer Stufe als „subjektiver Charakter“, als ihm vom Subjekt her hzuikommender, aber nicht als Relation, da nicht wie bei Relationen ein Gegenstand mit einem anderen verglichen, einer auf den anderen bezogen hwirdi, das ist, ein Gegenstand mit einem anderen zusammenbetrachtet, in einem doppelten Gegenstandsbewusstsein „gegenständlich“ gesetzt und nun ein Relat ausgesagt wird. Indem ich einen Gegenstand schön nenne, weiß zwar jeder, dass ich ihn als schön fühle, aber indem ich ihn schön finde und als schön beurteile, urteile ich nicht über mich, sondern über den Charakter, den ich im Schönfühlen am Gegenstand finde. Es ist hier doch analog, wie wenn ich fragend etwas als fraglich finde, wobei dem Ich in besonderer Weise der Gegenstand, der Sachverhalt, Satz (einem Identifizierbaren, aber nicht als wirklich Gesetzten) bewusst ist und in diesem Bewusstsein den Charakter des „fraglich“ hat, ebenso hdesi „zweifelhaft“, „vermutlich“, „möglich“, „gewiss seiend“. Das letztere ist das Korrelat des Gewissheitsbewusstseins (hervortretend im Kontrast gegen die Modalisierungen), und hesi tritt auf als „Prädikat“ am „Gegenstand“, d. i. am „Inhalt“, am X, das identisch sein kann durch verschiedene Modalitäten. Andererseits ist aber der Wert ein Charakter, der dem Gegenstand schlechthin wie ein anderes Prädikat zukommt, während jene Prädikate nur den Gegenstand in Anführungszeichen betreffen.
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