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German Pages XVIII, 536 [544] Year 2020
EDMUND HUSSERL
STUDIEN ZUR STRUKTUR DES BEWUSSTSEINS TEILBAND III WILLE UND HANDLUNG TEXTE AUS DEM NACHLASS (1902-1934)
HERAUSGEGEBEN VON
ULLRICH MELLE UND
THOMAS VONGEHR
STUDIEN ZUR STRUKTUR DES BEWUSSTSEINS TEILBAND III WILLE UND HANDLUNG
HUSSERLIANA EDMUND HUSSERL GESAMMELTE WERKE
BAND XLIII/3
STUDIEN ZUR STRUKTUR DES BEWUSSTSEINS TEILBAND III WILLE UND HANDLUNG
Texte aus dem Nachlass (1902–1934)
AUF GRUND DES NACHLASSES VERÖFFENTLICHT VOM HUSSERL-ARCHIV (LEUVEN) UNTER LEITUNG VON
ULLRICH MELLE
EDMUND HUSSERL STUDIEN ZUR STRUKTUR DES BEWUSSTSEINS TEILBAND III WILLE UND HANDLUNG
Texte aus dem Nachlass (1902–1934)
HERAUSGEGEBEN VON
ULLRICH MELLE UND THOMAS VONGEHR
123
Edmund Husserl† Hrsg. Ullrich Melle Husserl Archives Leuven, Belgien
Thomas Vongehr Husserl Archives Leuven, Belgien
Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke ISBN 978-3-030-35927-0 ISBN 978-3-030-35928-7 https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7
(eBook)
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INHALT
i die handlung als willentlicher vorgang § 1. § 2. § 3. § 4. § 5.
Die Phasen der Handlung: schöpferische Willenshandlung und physischer Folgeablauf . . . . . . . . . . . . . . . Einheit und Vielheit des Willens: Ziel und Weg. Mechanische und „achtsame“ Handlungen. Entschluss und Handlung Ist das setzende fiat in einer anschaulichen Vorstellung des gewollten Vorgangs fundiert? . . . . . . . . . . . . . . Die anschauliche Erwartung von Vorgängen. Allgemeine Analyse des Erinnerungs- und Erwartungsbewusstsein . . Empirisch und willentlich motivierte Erwartungen . . . .
1 5 13 15 20
ii das wesen des schlichten handelns § 1.
§ 2.
Das in Wahrnehmung fundierte Wollen als Handeln und das Wollen als fiat. Die Willenskontinuität in jeder Phase der Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voluntäre Form und Materie. Die stetige Erfüllung der leeren Willensintention durch das kreative Wollen . . . . . .
23 27
iii unterschiede in der willensmeinung § 1. § 2. § 3.
Der Wille im Vorsatz, im Entschluss und im handelnden Tun Einfache und zusammengesetzte Handlungen. Weg und Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittel und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33 38 43
inhalt
vi
iv willenskausation und physische kausation § 1. § 2. § 3.
§ 4.
Wille und Handlung. Handlung und Hemmung . . . . . . Das Wollen als Ablauf in der immanenten Sphäre ist kein Naturvorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Abhängigkeit der Bewusstseinsinhalte vom Leib. Mechanische Naturkausalität und funktionale psychophysische Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inwieweit ist das Hervorgehen der Tat aus dem Willen als ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Tatsachen zu bestimmen?
47 48
50 54
v naturkausalität und willenskausalität. zur analyse der primären schöpferischen handlung
59
vi passivität und spontaneität im doxischen gebiet und im willensgebiet § 1. § 2. § 3.
§ 4.
Wollen, Trieb, Tendenz, ichliche Zuwendung und die Parallelen im Urteilsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung des Zeithorizontes für die Handlung . . . Ob alles spezifisch Logische aus der Sphäre der Spontaneität stammt. Tendenzen, die vor aller willentlichen Zuwendung des Ich liegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trieb als Wille einer tieferen Stufe . . . . . . . . . . .
67 72
75 80
inhalt
vii
vii praktische möglichkeiten und praktischer bereich. die modi willentlichen geschehens § 1.
§ 2.
Praktische Möglichkeiten als reine und als reale. Die Begrenzung meines Tunkönnens in einem empirischen Möglichkeitsbereich. Das personale Ichliche und der seelische Naturuntergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage nach der Freiheit kinästhetischer Verläufe. Das bloß außerwillentliche, sachliche Geschehen gegenüber dem willentlichen Geschehen. Im willentlichen Bereich die Scheidung des willkürlichen vom unwillkürlichen Tun . . . . .
87
92
viii das bewusstsein des „ich kann“ als voraussetzung jeder willensthesis. die konstitution von willenswegen und tätigkeitsfeldern aus unwillkürlichen ichtätigkeiten
99
ix die entwicklung „praktischer apperzeptionen“ (des willens). doxische und praktische affektion § 1.
§ 2.
§ 3.
§ 4.
Attentionale Affektion als Trieb zur Zuwendung und praktische Affektion. Die Auswirkung der praktischen Affektion als praktische Rezeptivität . . . . . . . . . . . . . . . Praktische gegenüber theoretischer Möglichkeit. Das „Ich tue“ als Urmodus des Willens. Das „Ich kann“ als eine Modalität des „Ich will“ . . . . . . . . . . . . . . . . Die Affektion in der doxischen Sphäre und ihre Parallele in der Praxis. Die Frage nach dem Verhältnis des NichtPrimitiven zum Primitiven in der praktischen Sphäre . . . Zuwendung als Übergang in ein cogito in allen Aktsphären. Tendenz und Ichstreben als Modi jeden Bewusstseins. Die assoziativ-praktische Antizipation, ichloses Tun und das Urwollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
112
114
116
inhalt
viii
x zur willensanalyse: das wirken des ich als inneres und äusseres tun und erzeugen. die aus dem vollzug von stellungnahmen erwachsenden idealen bestimmungen des ich § 1.
§ 2.
§ 3.
§ 4. § 5.
§ 6.
§ 7.
Bleibende Hexis als ideale Eigenheit des Ich. Veränderung des Ich durch Veränderung seiner Überzeugungen. Das Sichselbst-treu-Bleiben. Das Ich in beständiger Entwicklung durch Vollzug neuer Stellungnahmen . . . . . . . . . . Weltapperzeption als Habitus. Affektion und Zuwendung. Ich-Tendenz als Hingerissenwerden des Ich und das sich im realisierenden Tun erfüllende Ich-Streben. Jeder Gegenstand als habitueller Besitz aus „Erzeugung“ . . . . . . . Das äußere Erzeugen von Werken. Das Werk als bleibendes Sein einer bleibenden Absicht. Der erledigte und der preisgegebene Wille. Willensgesinnung und wertende Gesinnung. Der auf eine Idee und ihre realisierende Selbstgebung gerichtete Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntniswerte und -werke. Das theoretische Interesse als Interesse am Optimum der Fülle . . . . . . . . . . . . Passivität des Ich – „mechanisch“ hingezogen von Reizen, „mechanisch“ genießend – gegenüber freier Stellungnahme im aktiven Glauben, Werten und Tun. Urteilswahrheit, Wertewahrheit und Willenswahrheit . . . . . . . . . . . . Freie Ich-Akte als Aktualisierungen und Stiftungen von Gesinnungen. Aktives Streben als Vernunftstreben auf Evidenz der Wahrheit im weitesten Sinn gerichtet. Jeder Akt des Ich als seine bleibende Bestimmung, solange er nicht durch neue Akte entwurzelt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wirken des Ich auf andere Subjekte durch soziale Akte. Die Person als ein Ich, das mit anderen Ich in Willensgemeinschaft steht. Personale Liebe . . . . . . . . . . . .
121
125
129 133
135
138
140
inhalt
ix
xi vorstellen, denken und handeln § 1.
§ 2.
Willentliche Erzeugung von Vergegenwärtigungen und von Gedanken. Mechanisches Rechnen. Das auf reales Dasein gerichtete Realisieren gegenüber dem Erzeugen von Urbildern. Die Erzeugung im Kenntnis nehmenden Erfahren eines äußeren Gegenstandes gegenüber dem Erzeugen des darstellenden Erlebnisses . . . . . . . . . . . . . . . Das Denken als Handeln mit dem praktischen Ziel der Wahrheit. Das Streben nach Evidenz. Die Logik als Wissenschaft von der praktischen Vernunft im Erkenntnishandeln . . .
145
151
xii das allgemeine des strebens und seine verschiedenen richtungen § 1.
§ 2.
Das wertende Verhalten in der Erkenntnis und das wertende Verhalten im Begehren. Sind objektivierendes und wertendes Bewusstsein gegensätzliche Aktklassen? . . . . . . . Affektion durch den Wert. Das theoretische Interesse und der Eigenwert der Erkenntnis. Die zwei Strebenssysteme. Streben nach Erkenntnis und Streben nach Realisierung des Gegenstandes um seines Wertes willen . . . . . . . . .
157
161
xiii zur lehre von der intentionalität im hinblick auf die genesis der weltkonstitution. der strebenscharakter des aktlebens § 1.
§ 2.
Das nicht durch einen Glauben motivierte, uninteressierte Gefallen am Schönen gegenüber dem Gefallen am Wesen als Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werte als im fühlend-wertenden Bewusstsein konstituierte Einheiten. Der Wert als Seinsthema . . . . . . . . . . .
173 177
inhalt
x § 3.
Stellungnehmende Akte als eigentliche Ichakte und ihre passiven Vorformen. Das erfahrend Gerichtetsein als eine Strebenstendenz gerichtet auf die Realisierung des Seienden in seinem Seinsgehalt. Der Willensmodus des Urteilens . .
181
Beilage I. Seiendes als erworbene Habe und Korrelat einer habituellen Zugangspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
Beilage II. Wahres Sein und wahrer Wert. Wert und Stimmung. Die auf die ganze Lebenszukunft bezogene Stimmung: Lebensgefühl und Lebenssorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186
Beilage III. Die Vorfreude als eine Gefühlsantizipation und ihre Erfüllung im Genuss. Der im Genuss selbsterfühlte Wert . . . . .
190
ERGÄNZENDE TEXTE
a neigung, vermutung, anmutung, zweifel im urteilsgebiet und in der sphäre des gemüts Nr. 1. Vernunft und Neigung. Urteilsneigung . . . . . . . . .
195
Nr. 2. Anmutung als Neigung zu Vermutung oder Glaube. Urteilsneigung und Urteilshandlung . . . . . . . . . . . .
200
Nr. 3. Anmutung und Vermutung. Blinde und durch Gewicht verleihende Motive begründete Annahmen . . . . . . . . .
203
Nr. 4. Urteilsneigung und Vermutung, Frage, Zweifel . . . . .
213
Nr. 5. Begründung in der Sphäre der emotionalen Akte. Schwanken und Entscheidung. Die mit dem Urteil verbundene Wertintention und ihre Erfüllung durch die Einsicht . . . . . .
221
Nr. 6. Aktmotivation, Neigung und Tendenz. Das Willentliche in allen Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
226
inhalt Nr. 7. Die Willensrichtung auf Wahrheit. Denken als eine Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
xi
240
b zur phänomenologie des wollens und der handlung Nr. 8. Analysen zur Triebhandlung, zu unterschiedlichen Fällen des einem Trieb Folgeleistens sowie zum freien und unfreien Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
245
Nr. 9. Zusammenstellung der Unterscheidungen bei der Analyse der Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
Nr. 10. Das Gefallen aufgrund der Vorstellung als Grundlage des Wunsches. Das Verhältnis von Wunsch und Wille . . .
253
Nr. 11. Die parallele Unterscheidung zwischen Anmutung, Urteilsneigung und Urteilsentscheidung einerseits sowie Wunsch, Willensneigung und Willensentscheidung andererseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
256
Nr. 12. Inwieweit das fiat die Vorstellung der Handlung voraussetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
262
Nr. 13. Das fiat als praktische Zustimmung und das Willensmoment in der Ansatzphase der Handlung . . . . . . . . . .
264
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
266
Nr. 15. Aufmerksamkeit und Wille, theoretisches und praktisches Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
268
Nr. 16. Willensintention und ihre Erfüllung als Realisierung. Verworrenheit und Klarheit im Wollen . . . . . . . . . .
271
Nr. 17. Der Unterschied zwischen Gefühlsprädikaten und dem Charakter der Willentlichkeit . . . . . . . . . . . . . .
273
Nr. 14. Fiat und Vorsatz
xii
inhalt
Nr. 18. Das Willensvorkommnis des Widerstandes und seiner Überwindung. Geht der Wille bei der Leibesbewegung nicht primär auf die Schicht der subjektiven Empfindungen? . . .
278
Nr. 19. Empirische Motivation und Willensmotivation. Erwartung als Komponente des Willens . . . . . . . . . . . . .
281
Beilage IV. Gibt es eigene Erwartungsphänomene in der Gemütsund Willenssphäre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
Nr. 20. Analogien zwischen Urteil und Wille . . . . . . . . . § 1. Der vielfache Sinn der hypothetischen Rede und der hypothetische Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Affirmation und Negation beim Urteil und beim Willen . .
287 287 291
c zur lehre von der tendenz und ihrer auswirkung: die spannung der erwartung und aufmerksamkeit, theoretisches interesse, tendenz und erfüllung, tendenz und wille Nr. 21. Der unterschiedliche Charakter der Erscheinungsweisen bei gegebenen Dingen und bei der Erzeugung einer Objektveränderung. Aufmerksamkeit auf das Erscheinende und Vollzug der Stellungnahme. Der Seinscharakter vor der Aktualisierung der Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . .
297
Nr. 22. Zur Abgrenzung von Tendenz und Wille. Ist das Tendieren ein Willensmodus? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304
Nr. 23. Tendenz als „Form“ der Akte. Die Doppelseitigkeit der Intentionalität: Tendenz und Bewusstsein-von. Die zum inneren Bewusstsein gehörende Tendenz gegenüber dem Begehren und Wollen als Tendieren auf eine Freude . . . . . . .
308
Nr. 24. Tendenz und Aufmerksamkeit. Im Akt leben. Das Interesse. Vollzug intentionaler Erlebnisse . . . . . . . . . .
312
inhalt
xiii
Nr. 25. Ist Glauben in analogem Sinn Intention wie Tendenz und Begehren? Das Verhältnis von Bekräftigung und Erfüllung. Intention als Stellungnahme und als Tendenz . . . . . . .
315
Nr. 26. Die Spannung der Erwartung gegenüber der Spannung der Aufmerksamkeit. Die zur Aufmerksamkeit gehörenden Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319
Beilage V. Attentionale Wandlungen . . . . . . . . . . . . . .
327
Beilage VI. Zur Spannung und Entspannung bei Erwartung und Aufmerksamkeit. Die Erwartung als vorerinnernde Aufmerksamkeit. Quasi-Erwartung und Quasi-Aufmerksamkeit in der Phantasie .
328
Beilage VII. Die Intensität der Aufmerksamkeit . . . . . . . . .
331
Nr. 27. Die Erfüllung von Intentionen gegenüber der Entspannung von Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333
Nr. 28. Aufmerksamkeit als Zuwendung und als Tendenz. Die vom Gegenstand ausgehenden Tendenzen zur Betrachtung und Tendenzen auf Explikation und synthetische Setzung
335
Nr. 29. Theoretisches Interesse als Tendenz zur Betrachtung. Ist Interesse am Gegenstand ein Gefühl? . . . . . . . . . .
338
Nr. 30. Passivität und Aktivität im Begehren und Wollen. Die zum Begehren und Wollen gehörenden Tendenzen . . . . . . .
341
Nr. 31. Der Trieb als ursprüngliches Willensphänomen. Der Widerstand gegen den Trieb als Willensenttäuschung . . . .
346
Nr. 32. Wille und Trieb. Triebe als sich von innen her auswirkende Kräfte gegenüber Wunsch- und Begehrungsintentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
347
Nr. 33. Die Tendenz auf Vollzug eines Aktes und ihre Auswirkung in der Sättigung gegenüber dem Begehren . . . . . .
349
xiv
inhalt
Nr. 34. Implikation der Doxa. Die Vorzugsstellung der objektivierenden Akte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
Nr. 35. Verschiedene Begriffe von Aufmerksamkeit und Meinung. Tendenz, in ein Meinen überzugehen, und Tendenz im Meinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
360
Nr. 36. Zuwendung zum Gegenstand um seiner selbst willen und um des Gefühls willen. Das willkürliche Verfolgen eines theoretischen Interesses um seiner selbst willen und als Mittel. Das durch die „Lust am Bemerken“ motivierte theoretische Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
362
Beilage VIII. Freude an der Forschung, Freude an der Erkenntnis. Aufmerksamkeit und theoretisches Interesse . . . . . . . . .
369
Beilage IX. Doppelsinn des cogito. Das Im-Griff-Behalten während der Ablenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
372
Nr. 37. Bejahung in der Willenssphäre und in allen Aktsphären
374
Nr. 38. Tendenz und cogito. Aufmerksamkeit als Spannung . . .
376
Nr. 39. Tendenzen auf Klärung und auf Berechtigung . . . . .
378
Nr. 40. Tendenzen und tätige Verläufe in der ichlosen Wahrnehmung und im „Ich tue“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
383
Nr. 41. Intention und Erfüllung. Die Erwartung und ihre Gefühlsspannung. Der Unterschied zwischen statischen und kinetischen Intentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
387
d phänomenologie der willensaffirmation und -negation, modalitäten des wollens Nr. 42. Die Schwierigkeiten der Willensanalyse. Passivität, Rezeptivität und Spontaneität in der doxischen Sphäre. Reiz und Zuwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
391
inhalt
xv
Nr. 43. Sollensbewusstsein in der Willenssphäre. Gibt es ein eigenes Sollensbewusstsein in der Urteilssphäre? . . . . . .
397
Nr. 44. Auf Vergangenes gerichtete Wünsche. Das Verhältnis von Begehren und Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
Nr. 45. Willensanmutung gegenüber dem Bewusstsein praktischer Möglichkeit. Die Erfassung von Handlungen. Das aus dem Wollen entquellende Gewiss-Sein . . . . . . . . .
401
Beilage X. Wie steht eine Handlung als praktische Möglichkeit vor Augen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
406
Nr. 46. Das willkürliche Eingreifen in ein von selbst ablaufendes triebmäßiges Geschehen am Beispiel des Atmens: Hemmung, Beschleunigung und Verlangsamung. Die Frage nach dem Verhältnis von Wille und Tendenz . . . . . . . . . .
408
Nr. 47. Unbestimmter, zielloser gegenüber zielgerichtetem Trieb. Triebbetätigung gegenüber Willkürtätigkeit. Das Verhältnis des Begehrens zur Schicht der tätigen Impulse in der Kontinuität des Tuns . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
Nr. 48. Schlichtes Wollen und Entschluss. Triebwille und triebhaftes Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
419
Nr. 49. Liegt in jedem eigentlichen Wollen ein Werten? Tendenzen und Gegentendenzen: das passive Folgen gegenüber dem wollenden Bevorzugen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
422
Nr. 50. Die Frage nach dem Wert des blinden, aber richtigen Urteilens. Die Idee göttlicher Erkenntnis. Der Unterschied zwischen Erfüllung und Berechtigung in der Glaubens- und Willenssphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
424
Nr. 51. Die Bewertung des Urteilens im Hinblick auf seine durch prinzipielle Einsicht ausgewiesene Richtigkeit. Das Werten gegenüber dem existenzial interessierten Gemütsverhalten. Die Stiftung des ethischen Gewissens und Charakters durch den ethischen Grundwillen . . . . . . . . . . . . . . . .
430
xvi
inhalt
Nr. 52. Der ursprüngliche Wille in Hemmung und Förderung von kinästhetischen Verläufen . . . . . . . . . . . . . . . .
437
Nr. 53. Unmittelbares Tun gegenüber willkürlichem Tun als sekundärem Tun, dem eine als Reiz fungierende Vorstellung vorausgeht. Die Erfahrung der Hemmung als Vernunftmotiv für eine Willensverneinung . . . . . . . . . . . . . . . .
440
Beilage XI. Wie geht der Wille auf die Handlung? . . . . . . . .
442
Nr. 54. Die Objektivität der Natur und die Voraus-Bestimmtheit des Erfahrungsverlaufs. Die apriorischen Voraussetzungen einer Willensthesis. Die Auszeichnung von idealen Möglichkeiten des Wollens als praktische Möglichkeiten nach bestimmten Erfahrungsthesen . . . . . . . . . . . . . . . .
444
e modi des strebens, formen der affektion und freie ichakte. hemmung und modalisierung Nr. 55. Die Erfüllungsgestalten des positiven und negativen Strebens. Spannungszustände und ihre Lösung. Prozesse der Lustabnahme, Lusterhaltung und Luststeigerung und das damit verbundene positive und negative Streben . . . . . . . .
451
Nr. 56. Der Trieb und seine Modi. Die Realisierung als Triebmodus ist keine Stellungnahme. Der Entschluss als praktisches Ja oder Nein zu einem praktischen Anschlag als das eigentliche fiat. Entschluss und eigentliche Handlung . . . . . .
456
Nr. 57. Überlegung. Zum Unterschied zwischen Triebgefühlen und Wertgefühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
459
Nr. 58. Rationales Handeln gegenüber Handeln aus Neigung. Rationale wertnehmende Liebe und ihre Kraft. Willensschwäche: das für das Gute gelähmte Willens-Ich . . . . .
460
Nr. 59. Das Streben nach Lust. Das Haben und das Genießen der Lust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
462
inhalt
xvii
Nr. 60. Die Wesenstypen des dumpfen und wachen Lebens. Instinktive und freie Akte. Leben als unaufhörliches Streben. Hinund Wegstreben – die Fülleformen der Lust und Unlust . .
464
Nr. 61. Der Trieb in der Gestalt des Ichstrebens gegenüber „mechanisch“ ablaufenden tendenziösen Verläufen. Die Hemmung eines Strebensverlaufs durch einen Widerstand. Die Frage nach der Bedeutung der Widerstandserfahrung für die Konstitution einer Dingwelt . . . . . . . . . . . . . . . .
467
Nr. 62. Das Streben nach Selbsterhaltung als Streben nach Lust. Positives Hin- und negatives Wegstreben. Konkurrenz der Strebungen. Spontanes und affektives Tun . . . . . . .
473
Nr. 63. Die Neugier als Trieb zur Kenntnisnahme gegenüber dem allgemeinen Trieb zur Zuwendung. Die Neugier im Verhältnis zu anderen Gefühlen und ihrer Motivkraft. Phänomenologische Unterschiede zwischen Neuem und Bekanntem . . . .
476
Nr. 64. Erkennen als zielgerichtete Tätigkeit. Das durch das vermeinende Werten im Gefühl hindurchgehende Streben. Ein Ding als Gut in Bezug auf die Möglichkeit des Besitzes und der genießenden Wertrealisierung. Die Verflechtung der Bewusstseinsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
482
Nr. 65. Freiheit und „Ichakt“. Freie Entscheidung aufgrund freier Überlegung. Entscheidungen unter Zwang. Die Freiheit der Vernunft: Entscheidung auf Grund einer Überlegung, die auf Wahrheit abzielt . . . . . . . . . . . . . . .
487
Beilage XII. Der zur Rezeptivität gehörende Streit der Apperzeptionen. Das aktive Annehmen und das aktive Wahrnehmen als Ich-Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
490
Nr. 66. Die Freude an der Erkenntnis. Das unendliche Reich der mathematischen Erkenntnis als eine eigene praktische Güterwelt. Deren methodische Beherrschbarkeit als eine eigene praktische Vernunft und ein erstes Bild eines rationalen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
493
xviii
inhalt
Nr. 67. Affektion und Attention als Modi des Gegenstandsbewusstseins. Streben als allgemeine Modalität des Bewusstseins. Hintergrundaffektion und attentionale Affektion: vorattentionales und attentionales Streben . . . . . . . . . .
499
. . . . . . . . . . . . . . . . .
505
Nr. 69. Der Gegenstand in der Hingabe und im Interesse. Freie Stellungnahme und Entscheidung. Das Streben nach Einstimmigkeit durch Überwindung der Hemmungen. Die Modi des Strebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
511
Nr. 70. Das „Ich kann“. Hemmung als praktische Negation. Die Durchstreichung des fiat bei einer unüberwindlichen Hemmung. Die Modalisierung des Tuns und Könnens bei einer vorübergehenden Hemmung . . . . . . . . . . . . . . . .
517
Nr. 71. Erfahrung als kontinuierliche Identifikation im aktiven Streben. Das wiederholende Durchlaufen im „Ich kann“. Die Modalisierung der Geltung. Der Erkenntniswille . . . . .
520
Nr. 72. Das strebende Gerichtetsein des Ich auf bleibende Stellungnahmen. Geltungsmodalisierungen als Hemmungen des Ich und Störungen in seinem habituellen Sein . . . . . . .
524
Nr. 73. Freier Wille, freies Können und Willenshemmung. Phantasieabwandlungen von Willensmöglichkeiten in Bezug auf die wirkliche Situation unter Einschluss meiner geltenden Motive und Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
529
Nr. 74. Wahrnehmungsanalyse der Handlung . . . . . . . . .
533
Nr. 68. Praktische Affektion
I. DIE HANDLUNG ALS WILLENTLICHER VORGANG1
h§ 1. Die Phasen der Handlung: schöpferische Willenshandlung und physischer Folgeablaufi 5
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„Im ‚Ich will‘ liegt das ‚Ich kann‘ beschlossen.“ Heißt das, ich habe die voraufgehende Überzeugung, dass in ka u sa l er Folge meines fiat das Ereignis, das ich nachher „meine Tat“ nenne, eintreten werde, und ist gemeint, dass ich erst aufgrund dieser Überzeugung mein fiat vollziehe bzw. vorher meinen Entschluss fasse? Da hätten wir uns aufgrund anschaulich klarer Vergegenwärtigung einschlägiger Fälle das Bewusstsein des „Ich kann“, das im Entschluss vorausgesetzt ist, anzusehen und ebenso das Bewusstsein des „Ich kann nicht“, das den Entschluss verhindert oder den schon gefassten aufhebt, wofern es sich nachträglich einstellt. Ich stelle mir eine Handlung vor, indem ich mich in das einsetzende fiat und die ganze Kontinuität des Handelns einlebe (hineinphantasiere). Diese Vorstellung der Handlung enthält vorstellungsmäßig modifiziert das Wollen, also kein aktuelles Wollen, und henthälti ebenso korrelativ bei der vorgestellten Handlung das ontisch Willentliche, das die Handlung als solche charakterisiert, gleichfalls modifiziert. Nun stelle ich die Handlung nicht bloß vor, sondern ich nehme auch an, dass ich handle, dass ich das fiat vollziehe, damit die Handlung einsetze. (Diese hypothetische Annahme, dass ich handle, ist natürlich etwas anderes als ein aktuelles Wollen „unter Hypothese“, z. B. ich „entschließe mich“, eine gewisse Handlung zu vollziehen unter Voraussetzung, dass das und das eintrifft. Es ist hier ein großer Unterschied zwischen Wollen in Form aktuellen Handelns und Wollen in Form des Entschlusses. Nur das letztere Wollen kann
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Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 1 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_1
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in diesem Sinn Wollen, aber unter Hypothese sein. Wir müssen eben Entschließen und Tun, Handeln im eigentlichen Sinn, von vornherein scharf unterscheiden und phänomenologisch für sich studieren.) Ich kann mir nun vorstellen, dass auf der Vollmondscheibe ein grünes Kreuz erscheint, und zwar sogar anschaulich. Ich kann mir vorstellen, anschaulich, dass in meinem eben erst angelegten Garten eine uralte Linde dasteht, dass ich plötzlich frei in der Luft schwebe etc.1 Das alles kann ich auch hypothetisch annehmen, dass es so sei. Ich stoße jedenfalls auf einen Widerstand, auf die widerstrebende Erfahrung. Das Vorgestellte und Angenommene „kann so nicht sein“, es ist eine mit der Erfahrung streitende Einbildung. So auch beim unanschaulichen Vorstellen und Annehmen. Es liegt vor ein Wissen oder Vermuten, ein anschauliches oder unanschauliches, eine Glaubensneigung, die für das und das spricht, und dagegen streitet die Phantasievorstellung oder sonstige Einbildung nach dem oder jenem Bestandstück. Das Kreuz auf der Vollmondscheibe trägt den „Charakter der Nichtigkeit“. Nun nehme ich ein Beispiel aus der Sphä re des Handelns. Ich kann mir vorstellen, dass ich mein Haus mit einem Stoß meiner Hand umwerfe. Ich habe also die Vorstellung der Handlung mit allem, was zu einer solchen gehört. Was ich so vorstelle, kann ich wieder nicht glauben, es ist eine bloße Einbildung, sie hat den Charakter der Nichtigkeit: Es sind entgegengesetzt gerichtete Überzeugungen, entgegengesetzt gerichtete Glaubenstendenzen der Erfahrung da. Wir haben phänomenologisch die empirischen Motivationszusammenhänge zu beachten, welche die Möglichkeit einheitlicher Handlung umschränken. Im Zusammenhang einer Handlung streitet der mit der Stoßkraft der Hand erfahrungsmäßig nicht in Proportion stehende und angenommene Erfolg. Die stoßende Hand kann das Tintenfass umwerfen, aber nicht ein Haus. Im ersteren Fall ist der
1 Für das Folgende noch ein passenderes Vergleichsbeispiel: Ich stelle mir vor, ein Stein fliegt gegen das Haus und es fällt um. Ich „fühle“ da die Nichtigkeit dieses vorgestellten Vorgangs. Ein fliegender Stein wirkt erfahrungsmäßig so nicht. Ich stelle einen solchen vor, aber als einen fliegenden Stein bekannter Art. Ich vollziehe damit eine hypothetische Erfahrungssetzung, die selbst etwas von Erfahrung enthält, und mit diesem Ansatz stimmt nicht der Fortgang: Die Folge ist nichtig, erfahrungsmäßig aufgehoben.
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physische Erfolg motiviert durch den Stoß, er stimmt zu ihm als „Ursache“. Nehme ich einen solchen Stoß an unter den und den Umständen, so „wird“ und muss der Erfolg eintreten. Diese Zusammenhänge gehören zur Handlung, weil sie zur Einheit des empirischen Vorgangs gehören. Jeder physische Vorgang gehört in solche Einheiten der Werdensmotivation, und jede Handlung ist auch physischer Vorgang und untersteht den Gesetzen und Eigentümlichkeiten physischer Vorgänge. Andererseits ist der Vorgang Handlung, er ist willentlicher Ablauf. Sprechen wir so, wie sich uns in schlichter Betrachtung die Sachen darbieten, dann müssen wir sagen: In die Mannigfaltigkeiten der bloßen Naturvorgänge greift der Wille ein; durch die Impulse, die er vollzieht, inszeniert er Naturvorgänge oder ändert vorhandene Vorgänge. Ich will, und die Hand bewegt sich; die durch äußeren Anstoß bewegte Hand regiere ich willkürlich, ich halte sie in einer Lage dauernd fest oder gebe ihr eine neue Richtung etc. und damit treten Handlungen im Naturzusammenhang auf. Der W ille set zt ei n al s Im pul s. Ich stoße dieses Messer an, alles Weitere ist physischer Erfolg. Macht das also eine Handlung, zunächst hier eine physische Handlung, aus? Bloßes fiat, bloßer Impuls und daran sich knüpfend ein physisch ablaufender Vorgang? Da bedarf es genauerer Beschreibungen. In unserem Beispiel habe ich, näher besehen, nicht bloßen Impuls und dann bloßen physischen Ablauf, vielmehr habe ich eine willkürliche Bewegung des Anstoßens und dann einen physischen Erfolg, der weiter abläuft, ob nun Wille vorangegangen wäre oder nicht, in völlig gleicher Weise. In jener willkürlichen Bewegung habe ich einen Einsatzpunkt, mit der diese Handlung beginnt, aber die ganze Bewegung ist nicht bloß „aus einem Willen hervorgegangene“, sondern sie ist in ihrem ganzen Verlauf willentliche, in jeder Phase als willentliche charakterisiert. Was immer dieses „willentlich“ besagen mag, es ist ein phänomenologisches Charakteristikum der ganzen Bewegung, die im „Stoß“ terminiert. (Solche Willentlichkeiten wie diese willkürliche Bewegung oder solche Handlungen erfordern eine besondere phänomenologische Untersuchung.) An den Stoß knüpft sich aber nicht bloß der physische Erfolg, wenigstens im Allgemeinen nicht. Es kann sein, dass ich ni cht mehr gewollt habe als diesen Stoß, ohne dass ich mein Absehen auf den zu erwartenden Erfolg richte. Natürlich, irgendein Erfolg gehört, wie ich weiß,
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zum Stoß, aber er ist mir „willentlich“ gleichgültig. Er ist nicht in mein Wollen einbezogen. Dann der entgegengesetzte Fall: Das Absehen, und zwar das willentliche Absehen, geht gerade auf den an den Stoß sich knüpfenden physischen Erfolg. Ich stoße, um im Ballspiel der Kugel eine gewisse Richtung zu geben, und weiter, um das Spiel zu gewinnen. Sehen wir hier von allen physischen Erfolgen ab und nehmen wir den einfachsten Fall einer zweiten Bewegung oder eines zweiten Vorgangs, dessen Ablauf und Ablaufsende als Ziel gewollt ist: Die Willentlichkeit der willkürlichen Bewegung, die den ersten Abschnitt der gesamten „Handlung“ ausmacht, ist dann eine wesentlich andere als die des zweiten Abschnitts, in dem der natürliche Erfolg jener Bewegung abläuft und nun willentlich abläuft. Vom Gesamtvorgang mit beiden Abschnitten gilt jetzt, dass er den Charakter der Handlung hat, da nicht nur ein Vorgang überhaupt vorliegt, sondern ein als willentlich in all seinem Ablauf charakterisierter Vorgang. Nur ist die Art des „willentlich“ beiderseits doch eine wesentlich andere. Ich kann ja meine Willkürbewegung in jeder Phase beliebig dirigieren, wenigstens innerhalb gewisser Grenzen. Ein Stück, ein Einsatz der willkürlichen Bewegung bedingt noch nicht eindeutig das Weitere: Das Weitere ist nicht rein natürlicher Ablauf des Anfangs, als ob der Wille nichts mehr ändern könnte. Er ist das immerfort sozusagen s chöpfer is ch Beseel ende der Handlung, während im zweiten Abschnitt einfach abläuft, was inszeniert ist, und unmittelbar kann der Wille nichts mehr daran ändern; er kann eingreifen höchstens in der Weise einer neuen willkürlichen Bewegung, deren mechanischer Erfolg mit dem schon Ablaufenden eine Resultante ergibt. Offenbar liegt hier ein phänomenologischer Unterschied in der Weise der Charakteristik der beiderlei Abschnitte selbst vor. Freilich ist zu beachten: Wenn ich die Feder in der Hand halte und sie willkürlich bewege, so ist jede Bewegung als schöpferisch sozusagen charakterisiert, so, als ob ich den Finger und die Hand allein bewegte. Ebenso, wenn ich sonst mit einem Werkzeug operiere, es wird sozusagen Glied meines Körpers. Aber bleibt darum nicht der Unterschied bestehen? U nd setzt nicht jede Handlung notw endig ei n Anfan gsstück voraus, das den Charakter der s ch öpf eri sc hen H andl ung, der Urhandlung, in sich tr ägt?
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Jede physische Handlung histi eine anstoßende und inszenierende „willkürliche Bewegung“, und jede „geistige“ Handlung histi eine schöpferisch-geistige willkürliche Bewegung sozusagen, eine meinende Zuwendung und was es sonst irgend sein mag. (Die Elektion der Meinung und das Vollziehen von Modi der Meinung wie Synthese, Kollektion und dgl. dürfte wohl das Wesentlichste in der Verstandessphäre sein. Dazu das willkürliche Nachgeben oder Widerstehen bei Gefühlsneigungen, aber auch hbeii Urteilsneigungen, Urteilssuspension etc.) Das „Wenn ich will, so kann ich“ betrifft die Handlung nach beiderlei schöpferischen und sekundären Abschnitten. Wenn ich will, so kann ich die Hand heben, einen Ton singen etc., aber auch den Mann dort (durch meinen Anruf) zum Stehen bringen und sonstige mittelbare Erfolge. Und wie steht es da mit der „Kausation“? Wenn ich den Anruf vollziehe, so tritt sekundär der Erfolg ein; wenn ich den Queue so und so stoße, dann fliegt die Kugel in die Ecke des Billards etc. Das sind empirisch notwendige Erfolge, nämlich rein als Naturfolgen (empirische Folgen in der Natur) durch den Stoß etc. bedingt. Was aber die pri m äre Handlung anlangt, die „schöpferische“, so mag sie naturnotwendig wie immer bedingt oder nicht bedingt sein, phän om enol ogi sch steht sie nicht als ein bloß phys is cher Erf ol g ei nes anderen Vorgangs da. Andererseits, sie ist schöpferisch-willentlich. Was ist hier noch Charakterisierendes zu sagen?
h§ 2. Einheit und Vielheit des Willens: Ziel und Weg. Mechanische und „achtsame“ Handlungen. Entschluss und Handlungi
Der schöpferische Wille kann einfach oder mannigfach sein. Ich will die Hand in einer Rundung bewegen, und ich tue es. Oder ich 30 bewege sie, wie vorgefasst, in einer Rundung, dann will ich wieder eine neue Rundung, oder ich ändere den Willen und während der Rundung, die gemäß dem ersten Willen verläuft, ändere ich und vollziehe eine Reihe von Halbkreisen etc. Jedenfalls kann nicht zu jeder Phase ein neuer Wille gehören. Ich habe dann innerhalb der Handlung, 35 die durchaus den primären schöpferischen Charakter hat, diskrete
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Teilungen, derart, dass zu jedem Abschnitt ein neu einsetzendes fiat, ein neuer I mpul s gehört. Kann es nicht auch stetige Änderungen geben, derart, dass auch der Wille (und demgemäß das Willentliche an der Handlung) sich stetig verändert? Zum Beispiel, ich mache spielerisch einen Zug auf dem Papier und, während ich eine Wendung mit dem Stift mache, ändere ich sie stetig, wie es mir gerade gefällt, bald so, bald so. Ich habe dann einen „unbestimmt allgemeinen Willen“, den des spielerischen Zeichnens überhaupt. Dann aber habe ich zunächst einen Zug in der Absicht, den ich ausführe, und dann tritt ein neuer Wille auf Änderung des Zuges gemäß dem und dem Schwung ein, dann wieder usw. Es treten hier also, absetzend, neue Willensakte innerhalb der Kontinuität ein. Während der eine Willensakt sich in der Ausführung noch auslebt, tritt schon ein neuer auf, der stetig ändernd in die Bewegung „eingreift“ und nun einen neuen Handlungsabschnitt, der aber stetig aus dem vorigen herauswächst und nicht in diskret sich abhebendem Punkt an ihn sich anfügt, einleitet. Natürlich muss man unterscheiden eine Mehrheit von aneinander gefügt en s elbs tändi gen H andl ungen und eine Handlung (näher eine Einheit schöpferischer Handlung), in der sich Teilhandlungen in der beschriebenen Weise absetzen oder homogen ineinander übergehen. W as macht die Ein hei t ei ner H an dlung aus? Sie liegt, wird man sagen, in der Ei nhei t des Wi l l ens; „ein“ Wille geht durch alle Willensphasen der einen Handlung hindurch, und diese Einheit muss beschrieben werden. Sie schließt nach dem, was wir soeben gesehen, nicht aus eine Willensvielheit, nicht nur eine unendliche Willensmannigfaltigkeit insofern, als zu jeder Phase der Handlung eine Willensphase gehört, sondern auch insofern, als die Handlung in Teile zerfällt, die den Charakter von Handlungen haben. Eine Handlungsphase ist keine Handlung. Ein beliebiges, ideell herauszudenkendes Stück einer Handlung ist abermals nicht eine Handlung: Sie ist nicht aus den beliebig ideellen Stücken, die wir sich überkreuzend ausgeschieden denken können, zusammengesetzt. Aber wohl haben wir eine Zusammensetzung, wo in der Einheit einer Handlung mehrfach ein eigenes fiat, ein eigener Impuls, ein eigener Handlungswille, wie wir sagen können, einsetzt. Und dieser „Impuls“ ist nicht ein leerer
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Anstoß, sondern ein Wille, der etwas will, nämlich das, was in dem zugehörigen Handlungsabschnitt sich „realisiert“, er will die und die Bewegung. Hierbei haben wir aber zu unterscheiden: Ein Wille geht auf ein Z iel auf dem und dem We g, oder ein Wille geht auf eine Veränderung, auf eine Bewegung, in der Ziel und Weg nicht zu unterscheiden sind (als exklusives Stück der einheitlichen Willenshandlung). Ich will die Hand heben, ich will jetzt, während ich die Feder über dem Papier oder schon auf dem Papier halte, von dem Punkt aus, den ich habe, einen kreisförmigen Zug ziehen. Wenn ich die bloße Bewegung will, das Handheben – ich will mit dem Finger in der Luft herumfahren –, da haben wir keine Unterscheidung zwischen Willensziel und -weg. Hier haben wir auch kein „Werk“, das ja immer ein Ziel ist bzw. ein Sein, das als realisiertes Ziel eines früheren Wollens charakterisiert ist. Ziehe ich einen kreisförmigen Zug auf dem Papier, so ist diese nun auf dem Papier dastehende Zeichnung Werk, wenn es auf diese Zeichnung abgesehen war. Ging aber der Wille bloß auf die Bewegung, so ist die Zeichnung zwar empirisch notwendiger Erfolg des Willens, aber nicht Werk und in gewissem Sinn Ziel. In diesem Beispiel, wo die Bewegung das Gewollte ist, ist jede Bewegungsphase zugleich Ziel und Weg, wie wir sagen könnten. Sie ist in sich Ziel, und sie ist zugleich Weg, sofern der Wille auf die stetig neuen Bewegungsphasen geht. Sie ist aber doch wieder nicht volles Ziel, sofern die Einheit der Bewegung das Ziel ist, sie ist also zum Ziel als Moment, als aufbauende Phase gehörig, und sofern das gesamte Ziel stetig sich aufbauendes ist, ist es und ist jedes seiner Momente aufbauendes Mittel, die Phase konstituierende Bedingung für das konstituierende Ganze. Eigentlich können wir hier also nicht sondernd zwischen Ziel und Weg unterscheiden, wie wir denn auch gewöhnlich nur Fälle im Auge haben, wo der „Weg“, das „Mittel“, nichts vom Ziel in sich hat und umgekehrt. Wenn ich das Pendel der Uhr in Bewegung setze, so ist dieses Inbewegungsetzen das Ziel und meine Handbewegung bis zum Moment des Anstoßes der „Weg“ dazu. Wenn ich mir das Ziel setze, auf dem Rohns1 Kaffee zu trinken, so ist mein Gehen dahin 1 „Der Rohns“ war ein beliebter Gasthof auf dem Hainberg bei Göttingen. – Anm. der Hrsg.
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das „Mittel“, oder wenn ich mir das Ziel setze, dort an der Stelle zu sein, zu stehen. Wenn es meine „Aufgabe“ ist, einen Kreis zu ziehen, so haben wir wieder das Ineinander von Ziel und Weg. Jeder Punkt, der da zur Zeichnung kommt, gehört zum Ziel, zu dem, worauf es „abgesehen“ ist, als „Zweck“, und als Handlung betrachtet ist die realisierende Willenssetzung jedes Punktes Mittel für die Willenssetzung des Ganzen, nicht sofern es Mittel ist für die Setzung der neuen und immer neuen Punkte, sondern für die Setzung der Einheit als solcher. Es gibt also, wie man sieht, wesentlich verschiedene Typen von Handlungen, denen man nachgehen muss. Der Zusammenhang zwischen der ursprünglichen Handlung (der eigentlich schöpferischen) und der Folgehandlung ist ein empirisch kausaler. Ist auch der Zusammenhang zwischen Willensimpuls und der „aus ihm hervorquellenden Handlung“ ein empirisch kausaler? Wir sprechen natürlich phänomenologisch, und da ist es klar, dass das Verhältnis beiderseits ein total anderes ist. Infolge der Entzündung des Pulvers – infolge des Willens, das bedeutet beiderseits uns etwas Verschiedenes. Allerdings ursprünglich, in animistischer Auffassung ist ja jeder physische Erfolg überhaupt ein Willenserfolg und jeder Vorgang eine Handlung. Im Fall der empirischen Kausalität haben wir zwei Vorgänge: das Ablaufen des einen das des anderen in zeitlicher Kontinuität (Berührung) motivierend. Hier aber haben wir unter dem Titel Willensimpuls nicht einen eigenen Vorgang und als Zweites die Handlung. Der Willensimpuls ist vielmehr selbst zur Handlung gehörig als ihr Einsatzpunkt. Etwas ganz anderes ist ja der Willensimpuls, der die Handlung einleitet, und ein Entschluss, der ihr vorhergeht. Ein Entschluss ist ein Selbständiges für sich. Auch ein Willensimpuls: Auch er kann doch auftreten und die Handlung erfolgt nicht. Überlegen wir: Ich will den Schrank heben und „es geht nicht“. Hier haben wir aber eine volle ursprüngliche Handlung (das Anfassen und Muskelanspannen, Sich-„Anstrengen“), und nur die Folgehandlung (die sekundäre, der natürlich motivierte, aber mitgewollte Erfolg) bleibt aus. Ein anderes Beispiel: Ich vergesse, dass ich gelähmt bin, und will den Fuß heben. Die Bewegung unterbleibt. Oder im Traum: Ich habe Albdrücken und bin „gelähmt“, ich kann mich nicht rühren, ich will und kann nicht. Was ist da mit dem „Ich will“? Wir müssen zugestehen, dass ein Akt vollzogen ist. Haben wir da mehreres zu unterscheiden: die „Anstrengung“, „Anspannung“ hundi
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vorher: den Impuls, hdeni geistigen Anstoß, der „Hemmung“ erfährt, und die Willensbejahung, Willensentscheidung, das eigentliche fiat? Also es ist nicht zu leugnen, da ist etwas, was als das „Ich will“ der Handlung vorhergeht und auch sein kann, wenn die Handlung unterbleibt. Andererseits, wie steht es mit der Sel bständigkeit der Handlung gegenüber dem fiat, die hSelbständigkeit, diei offenbar dem Entschluss gegenüber durchaus besteht? Kann eine Handlung sein ohne ein „inszenierendes“ fiat?1 Natürlich müssen wir uns von terminologischen Fragen fernhalten. Es könnte sein, dass von Handlung nur die Rede ist, wo ein fiat vorangegangen ist, und dass derselbe, genau gleich charakterisierte Vorgang auch ohne solches vorausliegende fiat möglich wäre. Allgemeine Unterscheidung der Vorgänge überhaupt: Phänomenologis ch haben wir innerhalb der bloßen Anschauung zu unterscheiden: unm oti vier te Bewegungen (als erscheinende), wie wenn z. B. eine Sternschnuppe ihren glänzenden Bogen am Himmel beschreibt, und mot i vi erte Veränderungen, sagen wir: überhaupt Vorgänge. Zum Beispiel, der Stein fliegt und infolge davon geht das getroffene Fenster entzwei. Und der Stein fliegt, weil er gestoßen worden ist etc. Phänomenologisch ausgezeichnet sind gegenüber allen Naturvorgängen die lei bli chen Vorgänge, und zwar, wenn wir die Einfühlung ausschließen, die eigenen, meine. Und darin wiederum unmotivierte (freie), z. B. meine Atembewegungen, und motivierte.2 Soeben juckt’s mich an der Nase. Ohne im mindesten darauf zu achten, greife ich hin und reibe die juckende Stelle. Reflektiere ich, so heißt es: Ich reibe die Nase, weil ich hier das Jucken empfinde. Oder ich zünde mir meine Pfeife an. Weiter kümmere ich mich darum nicht. Ich arbeite. Und nun sauge ich den Rauch heini und stoße ihn aus, bewege den Kopf, die Spitze suchend etc. Alle diese Leibesbewegungen, wenn ich auf die Art ihrer Erscheinung achte, haben den Charakter der Frei-
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Nein (cf. das Weitere). Wir sehen ab von den naturhaft motivierten Bewegungen meines Leibes: Ich werde getragen, gestoßen etc., ich oder meine Hand fällt. Dann treten hier auf Leibesbewegungen mit eigener Motivation: der Willensmotivation. Willkürliche Bewegungen als die ursprünglichen physischen Handlungen. 2
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heit, sofern sie nicht empirisch motiviert sind; andererseits, sind sie wirklich ganz unmotiviert? Nein, sie laufen „im Sinn“ des einleitenden Rauchen-Wollens habi. Oder ich will einen Besuch machen und gehe. Während des Gehens denke ich an alle möglichen Dinge, nur nicht an den Besuch. Dann, mich des Besuches erinnernd und auf das Gehen nach seinem Gegebenheitscharakter reflektierend, finde ich, dass es den Charakter des „Besuchmachens“ hat. Und wenn ich nun dem gegenüberstelle Fälle wie die, wo ich einen Kreis ziehen will und wollend die Handlung auch ausführe und dabei mit meiner ganzen „Aufmerksamkeit“ der Handlung zugewendet bin? Hier wie in den anderen Fällen steckt in den Phasen der Bewegung ein Willensmoment. Aber in anderer Weise. Ich lebe hier im Wollen (wie ich mich früher auszudrücken pflegte), ich bin dem Gewollten als solchen zugewendet, ich vollziehe eine Willensmeinung in besonderem Sinn, abgesehen davon, dass jedes Element, jede Phase ein Zielmoment in sich fasst: Das ist auch beim Rauchen der Fall, während es nicht der Fall ist im Besuchsfall. Das alles sind also willkürliche Bewegungen, aber die Willkür (ontisch: die Willentlichkeit) ist dabei verschiedenen Charakters. Macht den Unterschied bloß die „Aufmerksamkeit“? Und zwar hsindi immer schöpferische Handlungen beachtet. (Bei den weiteren nicht schöpferischen Handlungsabschnitten kann natürlich auch Aufmerksamkeit, Unaufmerksamkeit wechseln: wie wenn ich das Rad einer Maschine unaufmerksam drehe, um einen Effekt dauernd zu erzielen, aber zeitweise auf den Effekt auch gar nicht achte.) Liegt nicht ein Unterschied im schöpferischen Moment? Eine Bewegung läuft willentlich ab, aber „gleichsam mechanisch“ wie beim Rauchen oder Besuchmachen oder wie die Bewegung der Hände beim Klavierspielen etc. Andererseits ist die Motivation keine phänomenologisch-kausale, nämlich im gewöhnlichen empirischen Sinn, wie äußere Dingvorgänge Dingvorgänge erscheinungsmäßig motivieren. Ich kann doch auch auf die Handlung achten, auf die Bewegung der Finger beim Spielen und dgl., während die Bewegung diesen gleichsam mechanischen Charakter nicht verliert. Es läuft eben weiter. Ich übersehe nicht: Da ist ein Unterschied. Ich achte auf die bloße Art und Form der Bewegung, z. B. auch hdaraufi, ob meine Handhaltung die vorgeschriebene ist und dgl., eventuell aber, um die Art der Handhaltung und -bewegung an sich zu beachten. Andererseits: Ich
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achte auf die Handlung als solche mit ihrem Willenscharakter. Auf das Letztere kommt es jetzt an. Und was wären die anderen Fälle? – Wenn ich den Kreis ziehe. Aber da (wird man sagen) liegt der Unterschied doch darin, dass ich die Bewegung und Leistung als solche zielmäßig will. Indessen, wir können auch andere Beispiele leicht finden, in denen Weg und Ziel sich sondern und trotzdem jeder Punkt der Willenshandlung, also jeder Punkt des Weges, durch eine besondere Willentlichkeit ausgezeichnet ist, und dabei nicht bloß ausgezeichnet histi in Form der Aufmerksamkeit im gewöhnlichen Sinn. Nehmen wir Fälle, wo ich nicht nur auf den Weg achte, sondern auf ihn achten mus s, gegenüber den Fällen, wo das Achten gleichgültig ist und der Ablauf der Handlung den Charakter des „ von selbst “ A blaufens hat. Ich gehe einen schwankenden Steg, einen Balken über den Bach: Hier „muss“ ich auf den Weg beständig achten, und jeder Schritt ist in besonderer Weise willentlich. Es kann sein, dass ich sehr langsam gehe und für jeden Schritt ein besonderes fiat vollziehe, dann habe ich eine zusammengesetzte Handlung. Es kann aber auch sein, dass ich schnell, in einem Zug, aber mit „größter Achtsamkeit“ gehe. Andererseits, wenn ich meinen Namen in einem Zug auf das Papier schreibe und diese Handlung mit größter Achtsamkeit (Aufmerksamkeit) vollziehe, ist die Sachlage in willentlicher Beziehung doch eine ganz andere. Jene Achtsamkeit ist offenbar im vorigen Beispiel nicht bloß Aufmerksamkeit auf die Handlung, sondern ein Charakter der Aktivität im Willen. Das „Sei aufmerksam!“, „Sei achtsam!“, das der Lehrer zum Schüler sagt, betrifft nicht die bloße Aufmerksamkeit, sondern auch die aktive Weise des Willensvollzugs im Nachdenken, im Tun überhaupt. Ebenso, wenn der Meister dem Gesellen zuruft: „Aufgepasst!“ Die Handlung soll nicht wie im Schlaf mechanisch vonstatten gehen, sondern der Willensablauf soll anders charakterisiert sein. Man kann vielleicht sagen: Allerdings kommt es nicht darauf an, dass die einheitliche Handlung in der Form der „Achtsamkeit“ als zusammengesetzte Handlung vollzogen sei, jeder einzelne Schritt versehen mit einem besonderen, für sich abgesetzten fiat – nicht jede Handlung hat ja „Schritte“. Andererseits ist doch etwas Richtiges gemeint. Wir haben i n j edem Fal l einer Handlung das eins etzende f iat. Solche „achtsamen“ Handlungen sind aber sozu-
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sagen in jedem Punkt ein fiat; das fiat geht als solches kontinuierlich durch die Handlung durch, eventuell mit diskreten Teilungen, derart, dass jeder Teil der einen zusammengesetzten Handlung neu einsetzt mit einem neuen Impuls und Einsatz-fiat. In jedem Punkt, in jeder Phase der Handlung lebt ein eigenes Moment des aktiven Schaffens, Machens. Wo aber die Handlung „von selbst“ weitergeht, „gleichsam mechanisch“ abläuft, da verläuft sie „im Sinn“ des Willens (das tut aber auch der natürliche und gewollte Erfolg der primären Handlung). Sie hat ferner insofern einen schöpferischen Charakter, als sie überall primär „aus dem fiat Hervorgegangenes“ ist und nicht bloß sekundär naturhaft Erfolgendes histi. Überhaupt ist das, was in der primären Handlung geschieht, nicht bloß Geschehen, sondern Schöpfung des Willens. Aber nun besteht darin der große Unterschied, dass die Handlung entweder einmalige oder beständige, kontinuierliche Schöpfung ist, dass die praktische Setzung des fiat, die willentliche Thesis, entweder nur an einem Punkt steht, im Einsatzpunkt, und aus ihr sozusagen die ganze primäre Handlung hervorquillt (bei zusammengesetzten Handlungen so vielfach, als wir einfache Teilhandlungen primärer Art finden), oder dass die Thesis eine kontinuierliche ist, sozusagen die ganze Handlung in jeder Phase deckend. Das ist also ein wesentlicher Punkt. Ich sagte oben, jede Handlung hat ein einsetzendes fiat. Ist das eine apriorische Notwendigkeit? Hat überhaupt jede Handlung einen Anfang? Hat sie einen Anfang, dann ist es, meine ich, evident, dass sie mit einem schöpferischen fiat einsetzen muss, mag dieses sich übrigens über die ganze Handlung dehnen oder bloß Impuls sein. Andererseits kann man das als Evidenz in Anspruch nehmen, dass jede Handlung einen Anfang haben muss? Ich gebe darauf keine Antwort. „Es ist unmöglich zu wollen, ohne Überzeugung, dass das zu Wollende durch den Willen ausführbar sei.“ So sagt man allgemein. Wie ist das phänomenologisch zu verstehen? Ich kann mir vorstellen, dass ich den Mond bewege, dass ich mit meiner Hand ein Haus umwerfe etc., ich „kann“ aber das fiat des Entschlusses dazu nicht vollziehen, und ich kann das einleitende fiat der Handlung, die Handlung selbst und in Wirklichkeit nicht vollziehen. Zum Wesen der Handlung gehört hesi, dieses so geartete Ganze zu sein: fiat und schöpferische Handlung, d. h. ein aus dem fiat Ent-
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quellendes, und weiter in seiner Erscheinung von einem gewissen willentlichen Moment des Entquellens und im Sinn des Willensverlaufs getragen zu sein, oder eventuell von einem beständigen fiat regiert zu sein, wobei der Vorgang immerfort als schöpferischer charakterisiert ist. Und daran kann sich Handlung im weiteren Sinn als ein mitgewollter Erfolg der schöpferischen Handlung knüpfen: wobei das „mitgewollt“ einen gewissen modifizierten Setzungscharakter bedeutet. Was ist das unbedingt Allgemeine einer Handlung? Was macht ihr allgemeinstes Wesen aus, abgesehen von solchen noch zu besondernden Unterscheidungen? Nun, dass es ein Vorgang ist, der willentlicher Vorgang ist. Nicht: mein Wille oder irgendjemandes Wille als Zustand genommen und andererseits ein Vorgang der äußeren Natur oder ein zweiter Vorgang der inneren Natur, und beides, mein Zustand oder mein psychischer Willensvorgang, eine „Ursache“ im natürlichen Sinn, die das Eintreten des anderen Vorgangs empirisch motiviert. Das ist ein völlig neuer Gedanke. Vielmehr: Vorgang mit dem ontischen Charakter der Willenssetzung, der praktischen, schöpferischen. Und dieser Charakter geht durch und durch, obschon wir einen ausgezeichneten Anfangspunkt haben, den Einsatzpunkt etc. Das gehört zum Wesen der Handlung. Darin liegt: Stelle ich mir eine Handlung vor, so muss ich all das vorstellen.
h§ 3. Ist das setzende fiat in einer anschaulichen Vorstellung des gewollten Vorgangs fundiert?i Aber noch eines fehlt. Die schöpferische Setzung des fiat zu Anfang ist bei der einfachen Handlung eine solche, dass im Voraus der Vorgang als seinwerdender und praktisch seinsollender (praktisch zu realisierender) gesetzt ist. Die Willenssetzung, die praktische des fiat, ist notwendig gegründet (fundiert) in einer Seinssetzung, und zwar 30 einer Setzung von künftigem Sein, von Sein-Werden. Aber das reicht noch gar nicht als Beschreibung aus. Überlegen wir. Das „Ich will“ zu Anfang ist offenbar auf den ganzen Vorgang gerichtet. Er ist vorgestellt. Ist er anschaulich vorgestellt? Die anschauliche Vorstellung eines Vorgangs, die selbstverständlich hier 35 keine Wahrnehmung sein kann (da Wahrnehmung, dass hdas i sei, 25
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und Wille, das s h das i sei n sol l, sich ausschließen, und darin eben das Wesen des Willens besteht, dass er auf Nicht-Seiendes, aber SeinWerdendes als willentlich Sein-Sollendes gerichtet ist), braucht immerhin ebenso gut wie die Wahrnehmung eine Zeit. Die Zeit nehmen wir als phänomenologische Zeit. Es ist ein bestimmt extendierter Fluss des Vorstellens, in dem der Vorgang als quasi-gegebener abläuft. Setzte der Willensimpuls das voraus, kann man dann sagen, wir hätten demnach bei jeder Handlung zu scheiden Entschlusswillen und ausführenden, realisierenden Willen, d. i. eigentliche Handlung? Nein, wird man sagen: Setzt der Wille überhaupt Vorstellung des gewollten Vorgangs voraus und die Vorstellung wieder eine bestimmte Zeitextension voraus, so kann er nicht angehen, bevor diese Extension abgelaufen ist. Wir hätten also zunächst die anschauliche Vorstellung, dann das fiat, und dieses lässt nun die Handlung aus sich entquellen. Aber da erwachsen merkwürdige Schwierigkeiten. Die anschauliche Vorstellung des Vorgangs läuft also ab. In dem Moment, wo sie abgelaufen ist, was habe ich da? Sagt man, eine frische Erinnerung, so ist das doch nicht wieder eine anschauliche Vorstellung, da sie ja sonst zeitliche Extension haben müsste. Eine anschauliche Vorstellung kann also nicht das direkte Fundament des fiat sein. Solange sie nur anfängt und weiterläuft, habe ich noch keine Vorstellung des Vorgangs (des Ganzen, auf das es ankommt). Ich könnte ja im Voraus eine Art Vorstellung von ihm haben: Dann müsste es eine Leervorstellung sein, mag sich auch an sie eine anschauliche als Veranschaulichung eben knüpfen. Ferner: Die Willensintention, das fiat, das aber doch zugleich ein Absehen auf einen so und so fortlaufenden seinsollenden Vorgang ist, muss doch sein praktisches „Werde!“ an die Folge der Phasen des Vorgangs richten. Der Vorgang soll von Anfang bis Ende ablaufen. Wäre ich anschaulich vorstellend am Ende (oder sonst wie eigentlich vorstellend, d. i. explizit, der Reihe nach, kontinuierlich durchvorstellend am Ende), so müsste ich, könnte man sagen, doch den Blick wieder zurückwenden zum Anfang und wieder eine Vorstellung haben, die ihre Richtung vom Anfang zum Ende hat. Indessen: Anschauliche Vorstellung des Vorgangs ist, so wird man antworten, nicht anschauliche Vorstellung jeder der Jetztphasen, als ob am Schluss nur eine Vorstellung der letzten Phase vorhanden wäre und ich nun wieder von vorne anfangen müsste. Ich meine immerfort den Vorgang, der
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da abläuft, d. i., die Einheit der Meinung hält das nicht mehr im Jetzt „Gegebene“ fest. Überlegen wir ein Beispiel. Ich will meine Uhr heben. Ich kann mir zu diesem Zweck zunächst eine anschauliche Vorstellung vom Vorgang des Hebens bilden. Ich sage dann mein 5 praktisches fiat. Die anschauliche Vorstellung ist nicht mehr da: als konstituierende Vorstellung. Aber ich habe eine Vorstellung, die auf den Vorgang geht, in dem Moment, wo jene abgelaufen ist. Ich habe die Einheit der Meinung, die auf den eben quasi-abgelaufenen Vorgang gerichtet ist. Ich meine aber nicht den quasi-individuellen und 10 -abgelaufenen, ich stelle damit nur einen solchen Vorgang vor. Und den (einen Vorgang solchen Inhalts) „versetze ich in die Zukunft“, ich setze ihn im fiat praktisch als seinwerdenden.
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h§ 4. Die anschauliche Erwartung von Vorgängen. Allgemeine Analyse des Erinnerungs- und Erwartungsbewusstseini Die Frage ist hier zunächst: Wie stelle ich überhaupt einen seinwerdenden Vorgang vor? Kann ich da anderes sagen halsi: entweder anschaulich hoder unanschaulich, und wenn anschaulichi, dann so, dass ich eine Vorgangsanschauung vollziehe, aber in der Phantasie, und diese als Grundlage einer Erwartung denke? Eine aktuelle anschauliche Setzung von Künftigem (das, was der Wahrnehmung des Gegenwärtigen entspricht) ist doch in erster Linie nichts anderes als Erwartung, und zwar in beschriebener Weise. Aber ist durch die eigentlich konstituierende Vorgangsphantasie nicht die Quasi-Gegenwart des Ablaufs konstituiert und im Anschluss daran die Phantasie des soeben gewesenen Vorgangs? Das histi unvermeidlich. Ich meine aber nicht ein eben Gewesenes, sondern ich setze den Vorgang erwartungsmäßig „in die Zukunft“. Ich setze also nicht den gewesenen hVorgangi als solchen, ebenso wenig wie den gegenwärtigen als solchen während der Konstituierung. Die Gegenwart des Vorgangs ist Phantasiegegenwart und die Vergangenheit Phantasievergangenheit, die ihren Beziehungspunkt hat in einem Quasi-Jetzt und nicht im aktuellen Jetzt. Muss ich nicht sagen, dass die Vorstellung als Vergangenheit voraussetzt die Assumtion eines Phantasie-Jetzt als maßgebendes Jetzt und die Assumtion ei-
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ner Phantasiezeit als der Quasi-Zeit? Wenn ich aber einen Vorgang in der bloßen Phantasievorstellung vorstelle, so hat er zwar seine phänomenale Dauer und Ablaufweise, aber er hat keine wirkliche Stellung in einer Zeit. Ich meine ihn weder in der wirklichen Zeit noch in einer Phantasiezeit. Er hat eine unbestimmte und frei bestimmbare phantasiezeitliche Umgebung. Ich kann demnach denselben Vorgang wiederholt vorstellen dadurch, dass ich diese frei bestimmbare, d. i. frei zu assumierende Zeitumgebung im Sinn individueller Identität assumiere, so wie ich etwa ein erinnertes Ereignis in wiederholter Erinnerung als dasselbe vorstelle, sofern ich es nicht bloß seinem Inhalt nach wiederholt in der Erinnerungsweise setze, sondern eben als dasselbe setze, worin liegt, dass der unbestimmte Zeithintergrund im Identitätssinn gesetzt ist, also wenn er nähere Bestimmung erhält, beiderseits dieselbe erhält und erhalten muss. So kann ich also auch einen Vorgang, den ich phantasiemäßig vorstelle, dauernd, kontinuierlich als denselben meinen; zunächst mag ich ihn in eigentlich konstituierender Phantasie ablaufen „sehen“, dann ihn immerfort als denselben festhalten, womit ich einen Zeithintergrund mit festhalte als denselben, also mit Beziehung auf ein identisch assumiertes Jetzt, das wäre ein Identisches assumierter Erinnerung mit seiner identischen Umgebung. W ie vers etz e ic h nun sol ch ei nen vorgestellten und als mit s ich i denti sc h gesetzten Vorgang in die Zukunft? Der ursprüngliche Akt der Zukunftsetzung ist Erwartung (in einem gewissen weiten Sinn). Genauer gesprochen: Jede Wahrnehmung führt ihre „ursprüngliche Erinnerung“ und ebenso ihre ursprüngliche Erwartung mit sich und schließt sie, konkret gesprochen, ein. Und jede Phase einer Wahrnehmung ist Bewusstsein eines Jetzt mit einer Umgebung von Soeben-Gewesenem und einer Umgebung mehr oder minder bestimmter, aber nie völlig unbestimmter Erwartung. Und im Fluss von Wahrnehmungsphase zu Wahrnehmungsphase füllt sich die Erwartung, sie „wandelt“ sich in Gegenwärtigung und unmittelbare Erinnerung, und in diesem Prozess ursprünglichen Bewusstseinsflusses gehört zu jedem Erinnerungspunkt eine Sphäre „erinnerter“ Erwartung wie erinnerter Erinnerung usw. Das alles genau zu beschreiben und zu klären ist Sache der ursprünglichen Zeitanalyse.
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Nun haben wir aber zu unterscheiden die „Erinnerungsmomente“ und „Erwartungsmomente“, die zur Konstitution jeder Wahrnehmung nach allen ihren Phasen gehören und somit auch zu jeder konkreten Erinnerung und modifiziert zu jeder konkreten Phantasie gehören, und andererseits konkrete Erinnerung selbst und konkrete Erwartung selbst. Die konkrete Erinnerung ist Wiedererinnerung und ist ein konkreter Ablauf von Quasi-Jetzt mit Quasi-soeben-Vergangen und hQuasiisoeben-Sein-Werden, und dieses Ganze hat den Charakter von Erinnerung. Ist diese Rede von Erinnerung überhaupt dieselbe wie die von jenen „Erinnerungsmomenten“? Was gehört zu dieser „Wiedererinnerung“? Nehmen wir den besten Fall. Von Anfang an hat sie, wenn wir sie in eigentlicher Konstitution ablaufend denken, einen Zeithintergrund (ein unbestimmtes Vorher) und einen Zeitvordergrund (ein mehr oder minder unbestimmtes zeitliches Nachher): genauso wie die aktuelle Wahrnehmung, aber in einer bestimmten Modifikation, die eben den Charakter der Wiedererinnerung durch und durch ausmacht. Weiter gehört dazu, dass im Ablauf der Wiedererinnerung das Vorher in ein bestimmtes Jetzt mit einem neuen Vorher, dieses wieder in ein Jetzt etc. sich wandelt, so wie umgekehrt das jeweilige Jetzt in ein Vorher, und das alles im Charakter der Wiedererinnerung. Und ist der Vorgang abgelaufen, so reihen sich neue Vorgänge an, für die dasselbe gilt, und in ständiger Wiedererinnerung durchlaufen wir eine Wiedererinnerungssphäre bis zum aktuellen Jetzt, und in dieser kommt erfüllte wiedererinnerte Zeit zur Gegebenheit in ihrer Identitätsbeziehung zur Wahrnehmungszeit, d. i. zu der „unbestimmten“ VorherIntention, die dem aktuellen Wahrnehmen anhängt. Das Durchlaufen der Wiedererinnerung kann dabei ein mehr oder minder „explizites“, vollkommenes, völlig klares sein oder halb klares etc. Es gibt also ein explizites Durchlaufen und ein Durchlaufen mit Sprüngen, intermittierenden Leerstrecken etc., was alles seine Beschreibung erfordert nach Art der vermittelnden Erinnerungen. Und wiederholt können wir dieses Durchlaufen üben, zur Ausgangswiedererinnerung zurückkehren, ohne sie eventuell völlig zu konstituieren, eventuell genügt eine schlichte Vorstellung ohne Ablauf, ein Punkt anschaulicher, aber doch wieder der Hauptsache nach leerer Intention, und ebenso im Durchlaufen der weiteren Strecken. Diese ganze Reihe
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ist eine Objektität, sich immer wieder identifizierend, und sie wird „durchlaufen“, so wie eine Reihe in der Konstanz, eine Dingreihe durchlaufen wird. Ebenso können wir von dem betreffenden Ausgangsereignis zurückgehen in die Vergangenheit, d. i., auch vor ihm liegt solch eine feste Objektität. Der Blick richtet sich auf eine Tatsache, die in anderer Wiedererinnerung gegeben ist, und diese führt in einem Prozess des Vorwärtsschreitens der Erwartungsintention entsprechend zu dem gegebenen Ereignis und so bis zum Jetzt. So ordnet sich jedes erinnerte Ereignis in bestimmter Weise in die Zeit, in die Reihe der wirklichen Ereignisse ein. Im Jetzt stehend kann ich nun ein Ereignis erwarten: ein volles und ganzes Ereignis, das ich mir anschaulich vorstelle. Zunächst: Zu jeder Wahrnehmung gehört, sagte ich, ein Zukunftshorizont. Dieser kann natürlich nicht anschauliche, wirklich konstituierende Vorstellung sein (was auf heineni unendlichen Regress führen würde). Sie ist nicht nur die Intention, die im Jetzt auf ein nächst angrenzendes Jetzt geht (was ja ein bloßer Punkt wäre), sondern haufi einen ganzen Horizont, wie ich es ausdrückte. Ohne dies keine Einheit der Zeitkonstitution, keine Verknüpfung der aufeinanderfolgenden Wahrnehmungen zu einer Wahrnehmungsreihe, in welcher sich ein objektives Nacheinander konstituieren kann und muss. Die Erwartungsintention im Jetzt, also in der aktuell voll umfassenden Wahrnehmung und herausgehobenen Wahrnehmung, kann bestimmt sein: Die Katze duckt sich, ich erwarte den Sprung. Es kann nun eine anschauliche Vorstellung, einen „Sprung“ wirklich konstituierend, auftreten. Sie hat nicht den Charakter einer Erinnerung und nicht den Charakter bloßer Phantasie. Sie soll den Charakter der Erwartung haben: Was besagt das? Was besagt es gegenüber der „Zukunftsintention“, die unanschaulich und doch aktuell der Wahrnehmung der Gegenwart anhängt? Diese anschauliche Erwartung ist nicht anschauliche Vorgangsvorstellung mit irgendeinem eigentümlichen Setzungscharakter, genannt Erwartung, derart, dass der gegenwärtigen Wahrnehmung derselbe Charakter oder eine Leervorstellung mit demselben Modus anhinge. Vielmehr hat diese anschauliche Vorstellung in ihrer Charakterisierung eine Einheitsbeziehung zur Wahrnehmung: Die Erwartungsintention an der Wahrnehmung findet durch diesen Akt der Anschauung eine
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„antizipatorische“ Erfüllung. Und das heißt wohl nichts anderes, als dass nach dem Auftreten dieser Vorstellung die Wahrnehmung mit ihrer Erwartungsintention nicht eines und diese Anschauung ein Zweites ist – jedes mit einem besonderen Erwartungscharakter –, vielmehr haben wir nur einen, den an der Wahrnehmung, und diese Erwartungsintention hat Fülle der Anschauung angenommen. So, wenn ich eben Wahrnehmung habe und in der nächsten Zeitstrecke, im wirklichen unmittelbaren Horizont, etwas erwarte und es nun anschaulich wird, ehe es noch wirklich eintritt. Wir können auch von einem näheren und ferneren Horizont sprechen. Sowie wir uns etwas Bestimmtes als eintretend vorstellen und es erwarten, hat dieses selbst wieder seinen mitgesetzten Zukunftshorizont usw. Natürlich, auch wenn ich ein vergangenes Ereignis vorstelle, hat es seinen Zukunftshorizont, und das ist ein Horizont bestimmter Erinnerungs-Erwartung sozusagen. Doch haben wir hier keinen rechten Namen. Einerseits gehört zur Erinnerung jeder Phase irgendeines erinnerten Ereignisses ein Erwartungshorizont, wie er eben „wirklich erwartet war“, und enttäuscht sich die Erwartung, kommt es anders, als vorausgesetzt war, so gehört auch das zur Erinnerung. Andererseits, nachdem der Ablauf stattgehabt hat, wie er statthatte, hat jede Erinnerungsphase eine bestimmte Beziehung auf jede folgende. Wir haben also eine Reihe von Erinnerungsintentionen, die auf die Zukunft gerichtet sind, die aber nicht zusammenfallen mit den erinnerungsmäßig wiedergegebenen Erwartungsintentionen, Zukunftsintentionen, die zu den Erinnerungsphasen als Wiedervergegenwärtigung von Wahrnehmungsphasen gehören. Da sind noch manche Schwierigkeiten zu erledigen! Die zu den Jetztpunkten, also zu den Wahrnehmungen gehörigen Erwartungen finden ihre Erfüllung, aber auch Berichtigung und Umwertung, durch die immer neuen Wahrnehmungen, und diese Zusammenhänge, die Erwartung in der alten Wahrnehmung und Gegenwartssetzung in der neuen Wahrnehmung zur Einheit bringen, konstituieren die verbundene Reihe der Jetzt als eine einheitliche zeitliche Objektität, an der der Blick entlang gleitet. Es ist keine Erwartung in der Erinnerung, die von einem Jetzt aus bestimmte künftige Jetzt setzt und fordert, sondern zur Erinnerung gehört, dass sie in jeder Phase einen Horizont eigener Art hat: den Horizont der in bewährten und berechtigten Erwartungen gesetzten künfti-
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gen Zeitpunkte. Jeder erinnerte Punkt ist selbst ein Punkt erfüllter Erwartung: Das gehört zum Wesen des aktuellen Jetzt. Es ist die Fülle des im vorigen Jetzt Erwarteten, des Sein-Werdenden, das zum Seienden geworden ist. Und in jedem Jetztpunkt ist eine Zukunft 5 gesetzt als eine bestimmte, schon erfüllte Zukunft, als eine erledigte Wirklichkeit, die nur wiedererinnert ist. Zum Wesen der Erwartung gehört: Erfüllt sie sich, so ist in aktueller Wahrnehmung gegeben das Ereignis, und die Erwartung des Ereignisses ist Vergangenheit usw.
h§ 5. Empirisch und willentlich motivierte Erwartungeni 10
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Ob nun, wie gewöhnlich, die Vorstellung des Künftigen Leervorstellung ist oder ob eine anschauliche hVorstellungi vermittelt: Die Erwartung des Künftigen kann den Charakter der praktischen haben, das heißt, das als künftig Gesetzte ist praktisch, ist willentlich als das gesetzt; die Zukunftssetzung ist nicht bloß „theoretisch“, nicht rein zur Wahrnehmung gehörig oder zur weiteren Erfahrung. Da ist die Erwartungsmotivation eine empirische und überhaupt eine theoretische. Anstatt empirisch motiviert kann die Erwartung auch volunthäri motiviert sein, das heißt, ich nehme etwa wahr: „Ich stehe in der und der Umgebung.“ Dadurch ist ein bestimmter Erfahrungshorizont hinsichtlich der Zukunft vorgezeichnet. Und nun will ich diesen Stein da verschieben, da und dahin: Ich will, ich spreche mein fiat und verschiebe. Nun habe ich, abgesehen von dem übrigen empirischen (empirisch motivierten) Zukunftshorizont, einen neuen hHorizonti: In jeder Phase der Handlung bin ich vorwärts gerichtet und sehe ich dem neuen Sein entgegen. Aber diese Setzung ist nicht passive Erwartung, sondern aktive. Es geschieht, weil ich es will, es läuft gemäß dem Willen, aus ihm herausquellend, durch ihn motiviert. Natürlich können sich nach dem früher Dargelegten auch innerhalb einer Handlung empirische und willentliche Motivation verflechten. Das gilt ja hinsichtlich aller sekundären Handlungen, in denen an die primären, z. B. an die willkürlichen und primären Leibesbewegungen, sich empirisch-kausale Folgen anknüpfen und dabei mitgewollte. Aber das ist ein radikaler phänomenologischer Unterschied, der eben die primäre Handlung charakterisiert, dass hier schöpferisches Werden, durch Willen gesetztes, auftritt. Wir können auch so sagen:
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Jede Gegenwart hat ihre Zukunftsumgebung wie ihre Vergangenheitsumgebung. Innerhalb dieser allgemein zeitlichen Zukunftsmotivation, innerhalb der allgemeinen „Erwartung“ eines sich an das Jetzt mit seinem bestimmten Inhalt anschließenden Zukünftigen mit einem „gewissen“ Inhalt ist zu unterscheiden: 1) Die „ natür li ch “ m oti vi erte Erwartung. Das Wahrgenommene als Natur steht unter empirischen Gesetzen des Werdens, und rein intuitiv knüpfen sich an die Wahrnehmungsgegebenheiten empirische Motivationen, gerichtet auf Zukunft, nämlich auf Unveränderung oder Veränderung des Gegebenen bzw. auf Auftreten von neuen Gegebenheiten in Zusammenhang mit Veränderung und Unveränderung. 2) Die w il lent li ch m oti vi erte Erwartung. In den natürlichen Zusammenhang „greift der Wille ein“, das heißt, er ist nicht als Natur gesetzt, sondern Vorgänge sind als primäre Willensvorgänge gesetzt, sie treten „vermöge“ des Willens auf in einem Charakter der Willentlichkeit, der ihr Sein und Sein-Werden in eigener Weise motiviert und die allgemeine Erwartung eines Künftigen überhaupt in besonderer Weise determiniert. An den Willen als psychischen Akt ist dabei gar nicht gedacht, und selbst wenn daran gedacht ist, so ist der Wille kein dinglicher Vorgang, der das Gewollte als dinglichen Vorgang empirisch nach sich zöge. Trägt man den Gedanken empirischer Kausalität herein, so ist es ein der Sache fremder und nicht aus dem phänomenologisch Gegebenen direkt geschöpfter. Vor allem darf man nicht verwechseln die Willensmotivation der primären Handlung und die empirische Motivation, die zum Bestand der sekundären gehört. Als Neues tritt bei dieser auf: „B tritt natürlich ein, aber auch zugleich infolge des Willens ein, sofern infolge des Willens A gesetzt ist, woran sich B natürlich anknüpft.“ Warum geschieht A? Ich tue. (Oder in der Einfühlung: Der oder jener tut, handelt. Es ist Handlung.) Ein Wille bzw. ein wollender Mensch macht es, schöpferisch entsteht es und läuft es ab. Im anderen Fall: Warum geschieht das? Weil jenes andere geschehen ist, ganz „natürlich“. Und dazu gehört die jederzeit abstrahierbare Regel: Unter solchen Umständen muss, wenn A geschieht, B geschehen, es gehört zu diesen so gearteten Umständen das Gesetz etc. Das hindert nicht die Täuschung oder die unvollkommene Bestimmung der „Umstände“.
II. DAS WESEN DES SCHLICHTEN HANDELNS1
h§ 1. Das in Wahrnehmung fundierte Wollen als Handeln und das Wollen als fiat. Die Willenskontinuität in jeder Phase der Handlungi 5
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So wie es ein Urteilen (eine Urteilsart) gibt, das nicht zustimmendes, anerkennendes Urteilen ist, so gibt es ein Wollen, das nicht praktisch zustimmendes, anerkennendes, sich für ein vorgestelltes Wollen (Handeln) entscheidendes Wollen ist. Und das entscheidende Wollen kann natürlich auch solches Wollen höherer Stufe sein: Ich entscheide mich für ein erwogenes Entscheiden usw. Ebenso wie beim Urteilen: Ich erwäge ein mögliches Urteil, ich erwäge eine mögliche Entscheidung für ein Urteil usf. Wenn wir so unterscheiden zwischen schlichtem Wollen bzw. Handeln und zustimmendem, sich entscheidendem Wollen erster oder höherer Stufe, so können wir die Notwendigkeit eines schlichten hWollensi wohl auch so zur Einsicht bringen: Entscheidung ist Entscheidung für ein Handeln, das vorstellungsmäßig (modifiziert) vorschwebt. Dieses ist entweder vorgestellt als ein Entscheiden, dann steht hier eine Vorstellung zweiter Stufe, denn dieses Entscheiden ist ja Entscheiden für eine andere vorgestellte Handlung usw. Das kann nicht ins Unendliche fortgehen. Ich muss schließlich, wenn ich mir die Idee des betreffenden Wollens auseinanderlege, zu einem letzten Wollen und Handeln kommen, das vorgestellt ist als ein schlichtes. Das Wesen des Handelns fordert es also, dass es in der Idee als ideale Möglichkeit ein schlichtes Handeln gibt, und ideal gesprochen ist das die Bedingung der Möglichkeit für die Ideen von sich entscheidendem Handeln.
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Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 23 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_2
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Gegen diesen Gedankengang scheint kein Einwand denkbar zu sein. Es fragt sich nun, wie sieht das schlichte Wollen und Handeln aus? Warum unterscheide ich hier immer Wollen und Handeln? Jedes Handeln ist Wollen. Freilich wird man sagen: Handeln ist ein Vorgang und dieser Vorgang erscheint wahrnehmungsmäßig. Dieses wahrnehmungsmäßige Erscheinen könnte da sein ohne Wollen. Somit müssen wir immer Wollen und Handeln unterscheiden. Indessen ist hier zu sagen: Der Vorgang mag sein ohne Wollen, und ebenso die Vorgangswahrnehmung. Andererseits, der Wille kann – nota bene als der die Handlung beseelende, hsiei tragende – nicht sein ohne die Vorgangswahrnehmung oder eventuell, was noch zu untersuchen ist, ohne eine fundierende Vorstellung, die dann ihm gegenüber dieselbe Selbständigkeit hätte. Wille ist etwas gegenüber dem fundierenden Wahrnehmen oder sonstigem, als Ersatz für es fungierendem „Vorstellen“ Unselbständiges. Es besteht das Brentano’sche Verhältnis der einseitigen Ablösbarkeit. Der Vorgang heißt aber Handlung nur insofern, als er charakterisiert ist als Willensvorgang, und zwar ist er in und mit diesem Willenscharakter (schöpferischen Charakter) Handlung. Jedes Handeln ist also eo ipso ein Wollen, und zwar ein konkretes Wollen, nicht das Wollen an sich, das ein Unselbständiges, Abstraktes nach dem eben Ausgeführten ist, sondern das Wollen mit der die Konkretion herstellenden Unterlage. Die Frage ist dann natürlich die, was das Handeln gegenüber ander em W oll en unte rschei det. Zum Wesen des Handelns gehört offenbar die Fundi erung des Wollens durch ein Wahrnehmen: eben Wahrnehmen des Handlungsvorgangs. Zum Wesen des Wollens als bloßes Sich-Vorsetzen (Korrelat: Vorsatz) gehört es also, eine andere Fundierung zu haben. Es wird nachher erwogen werden müssen, was dabei vorliegt. Bleiben wir bei der Handlung stehen und betrachten wir zunächst eine schlichte Handlung. Wir notieren gleich das Problem: Ist schlichte Handlung gleich Wahrnehmung von der Handlung? Und wie unterscheiden sich beide? Wir stellen das zurück. Zum Wesen der schlichten Handlung gehört ein Anfang, und dieser Anfang ist jedenfalls Willensanfang. Wie steht es mit diesem? Er ist, wie jeder Wille, fundiert. Ist er schon in einer Wahrnehmung fundiert? Handlung ist ein phänomenologisch-zeitlich ablaufender Vorgang. Daran unterscheiden wir einen Wollensverlauf in phanseo-
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logischer Zeit ablaufend, und dieser ist, als Ganzes der phanseologischen Zeit genommen, durch einen Wahrnehmungsverlauf fundiert. Was wir hier offen lassen und zur Entscheidung bringen wollen, ist dies, ob diese Wahrnehmungskontinuität sich mit der Wollenskontinuität durchaus deckt oder nicht. Genauer gesprochen: Soweit die eigentliche Handlung, das schöpferische Werden reicht, soweit besteht Deckung; jede Wollensphase histi durch eine Wahrnehmungsphase fundiert. Aber es besteht ein Zweifel darüber, ob nicht ein Willenspunkt als Ansatz oder Einsatz des Wollens, als schöpferisches fiat, vorangeht oder eine, wenn auch noch so kleine Zeitstrecke des Wollens vorangeht, in der eigentlich noch keine Handlung da ist, sofern dieses Willensmoment noch nicht fundiert ist durch Wahrnehmung (durch welche heini anfangender objektiver Vorgang der Handlung dasteht), sondern durch eine bloße Vorstellung. Man könnte nämlich sagen: Jede Handlung kommt so zustande (oder das gehört zu ihrem Wesen), dass ein fiat einsetzt, gerichtet auf den seinsollenden Verlauf des Geschehens, und nun geht dieses fiat in das Wollen mit zugrunde liegender Wahrnehmung über. Wir hätten also einen doppelten Einsatz zu unterscheiden, das fiat und den Anfang der Ausführung, die Anfänge der eigentlichen Handlung. Es ist sehr schwer, hierüber etwas zu sagen, da, sowie wir experimentieren, wir nicht mehr schlichte Handlungen, sondern Entschlusshandlungen vollziehen. Wir stellen uns dann schon Handlung vor und vollziehen sie im Wege des Entschlusses. Nur die Reflexion auf Handlungen, die wir vor aller Absicht getan haben, kann helfen. Aber die Erinnerung ist dabei trügerisch, bzw. wir können die Phantasievorstellung von solchen hHandlungeni nur auf dem Wege von Erinnerungen erzeugen. Denn in der Phantasie selbst sind wir experimentierend genau in derselben Situation wie in der aktuellen Wollung. Alles wohl erwogen, wird man sagen können: Voran geht eine Vorstellung des betreffenden Vorgangs, aber noch nicht als Handlung vorgestellt. Wir entscheiden uns ja nicht. Das fiat, das schöpferische „Werde!“, setzt nun ein, und dasselbe trennt sich nicht von einem neuen Ansatz – dem, wo die Handlung beginnt –, sondern mit dem fiat beginnt eben die Handlung, indem aus dem schöpferischen fiat die Wahrnehmung ohne unterscheidbares Zwischen „unmittelbar“ hervorgeht (phanseologisch gesprochen) bzw. aus dem ontischen Soll
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die Handlung, derart, dass die Handlung mit dem schöpferischen Soll unmittelbar anhebt.1 Nur dass wir sagen müssen: Der Willensakt des fiat geht seinem Wesen nach der Handlungswahrnehmung und das objektive Soll seinem Wesen nach der Handlung vorher. Mehr können wir wohl nicht sagen. Das Soll kontinuiert sich nun in den Handlungswillen, der immerfort diesen Charakter des willentlichen Sollens (schöpferisches Sollen) hat, wobei in jeder Phase das Vorstellungsbewusstsein vorgerichtet ist auf den weiteren Verlauf, aber natürlich nicht als anschauliches, etwa Phantasiebewusstsein, ebenso wie das Willensbewusstsein nic ht nur in j eder Phase fundiert ist durch die W ahr nehmung des Punktes, sondern durch die vorblic kende E r w art ungsi ntenti on des Künftigen. In jedem Punkt selbst ist also der Wille eine ausgebrei tete Kontinu ität, so dass das ganze Willensbewusstsein nicht nur eine schlichte Kontinuität, sondern eine Konti nuit ät von Konti nuitäten ist. Was die Vorstellung des Vorgangs anlangt, so ist sie bei der ursprünglichen (primären, echt schöpferischen) Handlung in bestimmter Weise ausgezeichnet. Nämlich negativ können wir sagen: Der Vorgang darf phänomenologisch nicht charakterisiert sein als ein naturhaft gebundener, ein naturhaft durch die sonst erscheinenden oder gesetzten Vorgänge gebundener. Er muss ein „frei verfügbarer“ sein. Das ist eben, er darf der naturhaften Bindung nicht unterliegen. Wille setzt Freiheit in dem Sinn voraus, dass er objektiv empirische Indetermination im phänomenologischen Sinn, also bewusstseinsmäßig, voraussetzt. Inwiefern die Vorstellung des zu realisierenden Vorgangs (der immerfort als wi l l entl i ch gesollt dasteht und im Moment der Realisation als geschaffener: vorher aber als bloß gesollter, aber noch nicht geschaffener) noch weitere Charaktere fordert, Gemütscharaktere der oder jener Art, das ist dann die weitere Frage. Nota bene. Was ich so nebenbei in der Klammer gesagt habe, muss besonders als wichtiger Punkt hervorgehoben werden. Im Hand-
1 Bei dieser Auszeichnung des fiat gegenüber dem Willensmoment der übrigen Handlung (als des Handelns) geht es wohl an, zwischen Wollen und eigentlichem Handeln (Ausführung) auch bei der schlichten Handlung zu unterscheiden, nur dass eben das Wollen als fiat stetig übergeht in das Wollen als Tun und von ihm gar nicht, es sei denn abstraktiv, zu trennen ist.
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lungsbewusstsein lebend geht der Blick der Willensmeinung durch die Handlungsphase, die den Charakter der schöpferisch realisierten Gegenwart hat, hindurch auf die „zu realisierende“ Zukunft des Vorgangs. Ich sagte oben, in jeder Phase des Handelns haben wir eine ausgebreitete Willenskontinuität, nämlich ausgebreitet über die Erwartungsstrecke, über die vorliegende und mehr oder minder klar vorgestellte Zukunftsstrecke der Handlungsmaterie. Es kann auch während des Handelns, während einer gerade lebendig sich kontinuierenden Handlungsgegenwart, eine „eigene“ Vorstellung des künftigen Verlaufs hstattihaben; es kann neben der Einheit der Wahrnehmung mit ihrer wie bei jeder Vorgangswahrnehmung schlicht und homogen nach vorwärts gerichteten Erwartungsstrecke noch eine eigene Vorstellung auftreten. Zum Beispiel, ich mache einen Weg und während die unmittelbare Erwartungsstrecke bald ins „Unbestimmte“ verläuft (leer), kann ein Gedanke, eine anschauliche Vorstellung auch, vom Endstück, vom Besuch etc. auftreten. Natürlich ist diese Vorstellung in gewisser Weise einig mit der lebendigen Handlung im Ablauf und ihrer Vorstellungsgrundlage: Es ist Endstück der Handlung, die ich eben vorhabe und die soeben im Anfangs- oder Mittelstück abläuft. All das so oder so Vorgestellte und erwartungsmäßig Gesetzte hat aber auch seine Willenssetzung, die des Gesollten im willentlichen Sinn. Das Sich-Realisierende hat den Charakter der Tat, der präsenten Tat, als Handlungsgegenwart verstanden, das Noch-nichtRealisierte den Charakter der Handlungszukunft: der Absicht (future). Wendet sich der Blick in die Vergangenheit zurück, so haben wir eine willentliche Vergangenheit als die perfekte, die vollbrachte Tat. Zwischen vollbrachter Tat und Absicht vermittelt der fließende Punkt der Tat als Gegenwart, der Tat im stetigen status nascendi.
h§ 2. Voluntäre Form und Materie. Die stetige Erfüllung der leeren Willensintention durch das kreative Wolleni
Ich gebe noch einige nähere Ausführungen (zum Teil allerdings Wiederholungen). Das Tun, das Handeln, ist stetig durch die phansische Zeit sich hindurcherstreckende Willensintention, und die Rede 35 von Intention entspricht hier ursprünglich phänomenologischen Ei-
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gentümlichkeiten des Wollens, der voluntären Form, wie wir sagen können. Es wird überhaupt gut sein, bei jeder Handlung zu unterscheiden die voluntäre Form, d. i. das Willensmoment, und die voluntäre Materie, d. i. der objektive Vorgang, das Ereignis, das zur Schöpfung kommt. Natürlich können diese Begriffe im phansischen und ontischen Sinn verstanden werden, also voluntäre Form und Materie der Tat und voluntäre Form und Materie des Tuns (anstatt „voluntäre Form“ sagen wir auch einfach das „Voluntäre“). Es wird dann auch gut sein, einen Namen zu haben für das jeweilige Willensjetzt, und zwar nicht das Ganze der voluntären Form in diesem Moment (also die voluntäre Phase), sondern dasjenige der voluntären Phase, das sich rein auf die Phase der Materie bezieht und ihr den schöpferischen Charakter verleiht. (So unterscheiden wir ja auch bei jeder Wahrnehmung von dem gesamten Wahrnehmungsbewusstsein der jeweiligen Phase dasjenige, natürlich unselbständige Moment dieses selbst unselbständigen Bewusstseins, in dem das wahrgenommene Jetzt als selbstgegenwärtiges zur Setzung kommt.) Das betreffende Willensmoment nennen wir das kreative Moment,1 so dass also zur E inheit der ges amt en vol untären Form gehört ei ne stetige E inheit von kr eati ven Mom enten, aber natürlich ohne die gesamte voluntäre Form zu erschöpfen. Jedes kreative Moment ist ja umgeben von stetigen Abschattungen: die „Nachklänge“ der vergangenen kreativen Momente, durch die die abgelaufene Handlung als perfekte Tat dasteht, hundi die auf das Künftige der Handlungsmaterie gerichteten Willensmomente im Jetzt, die ihr den Charakter der zu realisierenden geben. Unter den kreativen Momenten ist ausgezeichnet das fiat oder der Springpunkt des Willens (der kreative Springpunkt) und andererseits der kreative Endpunkt: der Charakter der vollbrachten Absicht, des erreichten Zieles. Jeder kreative Punkt ist verbunden mit dem Charakter der Willensintention, und zwar der willensmäßig oder „praktisch“ setzenden und durch das Gesetzte hindurch gerichteten. Genauer gesprochen: Das Tun ist in jedem Moment (in jeder Phase des Tuns) in gewisser Weise auf die entsprechende Handlungsphase gerichtet. Im kreativen Moment, in der praktischen Setzung wird
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Nicht besser: praktisch? Oder: Mo m e n t d e r p r a k t i s c h e n S e t z u n g.
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dieses Moment gesetzt. Aber das Wollen geht durch diese Setzung hindurch, und sofern es hindurchgeht, ist sie gerichtet, vorwärts gerichtet auf die weiteren Setzungen und durch sie weiter hindurch auf das Ende. Und diese Richtung konstituiert sich eben dadurch, dass das praktisch-setzende kreative Moment Randphase einer Kontinuität von Willensmomenten ist (eines ausgedehnten Willens, der fundiert ist durch das vorblickende Erwarten). So ist das volle voluntäre Moment nach seiner in die Zukunft gerichteten Hälfte Willensintention und ist es immer wieder in jedem stetig neuen Moment. Und im stetigen Übergang der voluntären Formen treten sie in eine bestimmte Einheit: Stetig verwandelt sich präsente Tat in perfekte und Absicht in präsente Tat, der Stetigkeit der Ereignispunkte entsprechend, welche die Erwartungsmaterie der voluntären Form ausmachen. Das Übergangsphänomen, in dem stetig die Strecke der Willensintention in kreative Form übergeht, Punkt für Punkt, nennen wir Willenserfüllung oder Willensbefriedigung. Genau besehen wandelt sich stetig das an das kreative Moment im Jetzt grenzende Differenzial leerer Intention im nächsten Zeitdifferenzial in ein kreatives Moment (oder vielmehr hin eini Differenzial der kreativen Reihe), während die übrigen Differenziale der Leerintention zunächst in Leerintention solchen Inhalts übergehen. Das leere Wollen wird zum vollen, d. i. praktisch-schöpferischen, das Abgesehene zum Tätig-Seienden und weiter zum Getanen (Getan-Seienden). Das Wollen ist in jedem Moment des Tuns Willensintention. Dasselbe sagt das Wort Streben. Das Streben ist die leere Willensintention, das kreative Wollen, das praktisch-schöpferisch setzende ist das volle hWolleni. Und das volle ist inmitten der Willens- und TunBewegung Erfüllung, Befriedigung des leeren hWollensi, der bloßen Intention im stetig vorangehenden Moment und der stetig vorangehenden voluntären Form überhaupt. Die Willensintention erhält sich stetig (soweit sie unrealisiert bleibt) als Intention und erhält zugleich stetig Fülle der Befriedigung im stetig kreativen Setzen. Im fiat haben wir durchaus leere Willensintention, bloßes Streben, aber als bloße Grenze, als Ansatz, alsbald in stetige Erfüllung übergehend. Das Leere, soweit es in der weiteren Handelnsstrecke leer bleibt, bleibt immerfort mit sich in Deckung, in stetiger Deckung: Es ist immerfort „dasselbe Streben“, immerfort Streben und immerfort seinem intentionalen Inhalt nach Streben
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derselben Materie. Hinsichtlich der vollen Teile ist aber jeweils zu sagen: Der Form nach finden wir überall Wollen und der Materie nach überall Gewolltes; insoweit bleibt in der ganzen Kontinuität des Wollens, des Handlungswollens, immerfort volle Deckung. (Wir nehmen an, dass der Willen eben „derselbe“ Wille bleibt und nicht etwa seinen Sinn ändert: wie wenn ich plötzlich davon absehe, die Handlung zu Ende zu führen oder ihre Richtung, ihren Sinn ändere.) Ist dem stetig so, so haben wir in jeder Handlung einen Sinn und in der einheitlichen Handlung in jedem Moment denselben Sinn, dieselbe „intentionale Materie“ (bedeutungsmäßiges Wesen). Aber bei identischer Erhaltung des Sinnes ändert sich von Moment zu Moment das praktischkreative Wesen (das Analogon des erkenntnismäßigen Wesens der Logischen Untersuchungen in der Erkenntnis). Das Volitional im vollen Verstand ist immer wieder ein anderes und doch das „Gewollte als solches“ immerfort dasselbe. Lauter Analogien mit der Erkenntnis! Erkenntnis entspricht der Realisierung, nämlich Erkenntnis im Sinne des Einsichtigwerdens, der Bestätigung der Ausweisung. Aber freilich zum Wesen des Handelns, der Realisierung in schlichtem Tun, gehört es, dass sie ein zeitlicher Prozess ist, nämlich stetiger Befriedigung des Strebens im Schaffen. Es ist a priori undenkbar, dass ein schöpferisches fiat alsbald in Tat umschlägt, statt die Tat stetig zu realisieren. Doch ist das erst näher zu überlegen und eventuell auszuweisen. Äußeres Handeln setzt Wahrnehmung voraus, sie geht auf einen Vorgang der äußeren Natur. Gehört es a priori zum Handeln in der Natur, dass es auf eine Veränderung geht und nicht auf ein Sein, nämlich nicht auf Schöpfung eines Dinges? Ist ein fiat undenkbar, das überginge in eine ruhende neue Dingwahrnehmung? Natürlich, die Frage ist nicht, ob das physisch möglich ist, nämlich ob die Naturwissenschaft das nicht ausschließt – bzw. die Natur im Sinne der Naturwissenschaft und das zu ihr gehörige Prinzip der Energie –, vielmehr, ob es denkbar ist. Entscheidet über die Denkbarkeit die anschauliche Vorstellbarkeit und phänomenologisch also die Denkbarkeit eines fiat, hdasi in eine Dauerwahrnehmung übergeht, so wüßt‘ ich nicht, was sich dagegen sagen ließe. Zumal ja empirisch unmotiviertes Sein – in der anschaulichen Sphäre – genug auftritt, bei dem von einem stetigen Werden nichts zu finden ist. Inwiefern „logische“ (ontolo-
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gische) Gründe, die über die Sphäre bloßer Intuition als schlichter Anschauung hinausliegen, sonst dagegen sprechen, darüber ist hier nichts auszumachen. Noch eine Ausführung: Die Willensintention jedes Moments erfüllt sich stetig durchgehend von Phase zu Phase und ist durch alle Phasen hindurch gerichtet auf das Ende (Ziel). Das darf aber nicht missdeutet werden, als ob das Willensmoment, die Willensintention jedes Moments, gerichtet wäre auf die Willensintentionen der übrigen Momente und zuletzt auf das Wollen des Zieles: als ob die späteren Wollensphasen in jeder früheren vorgestellt und im fiat etc. gewollt wären. Jedes voluntäre Moment geht auf das Ziel und geht auf das Ziel durch den ganzen Weg hindurch, der von vornherein als Willensweg in gewisser Weise dasteht, als Erstrebtes, Intendiertes. Aber die erfüllenden Wollungen sind nicht gewollte Wollungen. Es ist so, wie die Meinung auf die Sache geht und die Sache gegeben ist in der „erfüllenden“ Wahrnehmung. Aber in der Meinung gemeint ist die Sache und nicht die Wahrnehmung der Sache. Die Meinung ist Modifikation der Wahrnehmung, aber nicht Vorstellung der Wahrnehmung. Täuschend könnte es wirken, dass man das Handeln auch nennen kann ein tuendes Wollen, also ein Tunwollen, was wieder so aussieht, als wäre der Wille als Streben gerichtet auf das künftige Tun, also auf den künftigen Vorgang nicht nur, sondern auf das künftige Wollen des Vorgangs. Das ist nicht nur falsch, sondern unausdenkbar vermöge einer unendlichen Stetigkeit von Unendlichkeiten, die dazu gefordert wäre. Denken wir uns die stetige Reihe der Willensphasen vom fiat bis zum Zielwollen (Endwillensphase), so ginge jedes in der Reihe der W W’ W” … auf das nächste hundi alle weiteren, und zwar stetig. Vielmehr ist die Sachlage eben die, dass eine stetige Willenskontinuität vorliegt, die sich über das Kontinuum der Handlungsmaterie A–Z erstreckt: Jede W-Phase meint ihre Materie, d. i. die betreffende Phase der Handlungsmaterie, aber jede meint sie in der Weise der praktischschöpferischen Setzung und hmeinti kontinuierlich über sie hinaus in der Weise des stetig extendierten Strebens die Phasen der übrigen Handlungsmaterie, der in der betreffenden Erwartungskontinuität vorgestellten Ereignisstufen als solchen, zuletzt das Ende. Zu bemerken ist noch ein gradueller Unterschied, ein Steigerungsmoment im Streben. In jedem Moment haben wir eine Willensim-
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manenz, eine immanente „Willensgegebenheit“, d. i. die gegebene schöpferische Gegenwart. In jedem Moment haben wir auch eine Willenstranszendenz, eine Linie der Strebung. Diese erfüllt sich stetig in der beschriebenen Weise und dabei findet stetige „Annäherung“ 5 an das Ziel statt, Willensannäherung, das ist, je „näher“ wir dem Ziel kommen, umso mehr steigert sich ein graduelles Moment des Strebens, das der Willensnähe oder besser Zielnähe. Die „Befriedigung“ ist zwar im eigentlichen Sinn erst da in der schöpferischen Setzung, aber schon vor dieser erfüllenden Befriedigung haben wir ein gradu10 elles Moment von Befriedigung, eben die relative der Annäherung an die erfüllende Befriedigung.
III. UNTERSCHIEDE IN DER WILLENSMEINUNG1
h§ 1. Der Wille im Vorsatz, im Entschluss und im handelnden Tuni
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Vorsat z und Ha nd l u ng.2 Phansisch: Sich-Vorsetzen – Tun, Handeln. Onthischi: Vorsatz – Handlung und Tat. Tat: die abgeschlossene, perfekte Handlung, insbesondere das erreichte Ziel als solches. Die Handlung: der Prozess der Perfektion. Vorsatz u nd E nt sc hl us s. Von Entschluss ist die Rede bei einer Wahl; man entscheidet sich, und die Entscheidung ist Willensbejahung, Setzung des einen der Glieder, zwischen denen die Wahl schwebt. Die Wahl setzt sozusagen die Willensfrage voraus. Das wählende Erwägen entspricht dem urteilenden Abwägen der Urteilsmotive: Es ist Erwägen der Willensmotive. Der Urteilsentscheidung zwischen mehreren erwogenen Urteils-„Möglichkeiten“ entspricht die Willensentscheidung zwischen mehreren (hier nach den praktisch erlebten Motiven erwogenen) Willensmöglichkeiten. Nicht jedes Urteil ist Entscheidung und Anerkennung, Zustimmung oder Verwerfung. Nicht jeder Wille ist Willensentscheidung aufgrund einer Wahl, Ende einer Wahl. Das Ende kann entweder unmittelbare Handlung sein, oder es kann bloßer Vorsatz sein. Was unterscheidet den Vo rs at zwi l le n (Sich-Vorsetzen) und den H a n d l u n g sw i l l e n, zumal den Handlungswillen des Anfangs, also das fiat, mit dem das Tun anhebt? Das Vorsetzen ist, wird man zunächst sagen, eine Willensmeinung (Vorsatz: Willensmeinung im ontischen Sinn) so gut wie das fiat. Freilich, was die „Meinung“ anlangt, so müssen wir beiderseits auf den Unterschied achten in der Weise, wie die „Intention“ vollzogen 1
Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg. Später: einfache und zusammengesetzte, unmittelbare, mittelbare Handlungen und Entschlüsse. Zweck und Mittel, Weg. 2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 33 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_3
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ist. Es kann sich um einen formulierten Vorsatz handeln, ich drücke ihn aus und lebe im Vorsetzen, und andererseits, ich drücke nicht aus und lebe im Vorsetzen, und endlich, es kann das Vorsetzen ohne solche Bevorzugung und auch ohne den auszeichnenden sprachlichen Ausdruck sich im Hintergrund vollziehen. Freilich ist da die Frage, ob, was sich da vollzieht, schon ein voller Vorsatz ist und nicht vielmehr eine „Regung“. Wir sagen öfter, wir seien im Grunde schon entschlossen gewesen, ehe wir voll bewusst den Entschluss fassten. Ich spreche mit jemandem und während er spricht (aufgrund der Motive, die das, was er aussagt, erregen), erwächst in mir ein Vorsatz, während ich primär der Rede und nicht den Motiven und Vorsätzen zugewendet bin. Solche Unterschiede müssen noch näher erwogen werden. Sagen wir also „Willensmeinung“ und wieder „Willensintention“, so ist das zu differenzieren. Willensintention ist Streben, Willensmeinung ist „voll bewusstes“ Streben, ein Streben, in dem ein Meinen, ein bewusstes Absehen lebt – das, was der Leibniz’sche Begriff der Apperzeption besagt: Es gibt wie eine bloß theoretische so eine praktische Apperzeption, ein praktisches Abgesehenhaben und Absehen, wobei freilich wieder das Problem ist, ob es sich um eine bloße Analogie handelt oder um ein gemeinsames Moment, das sich beiderseits mit Verschiedenem verbindet. Vorsatz ist ganz unerfüllte Willensintention, ist bloßes „Streben“,1 ich sage deutlicher vielleicht „Willensstreben“, da es gebräuchlich geworden ist in neuerer Zeit, das Wort „Streben“ auf jederlei Wünschen, Begehren auszudehnen. Wir müssen überhaupt offen lassen, ob die Begriffe „Streben“, „Tendenz“ zu verallgemeinern sind. Der Vorsatz unterscheidet sich von der Handlung, das Vorsetzen vom Handeln dadurch, dass im letzteren in jeder Phase mit dem Streben ein schöpferisches Realisieren, ein Kreieren verbunden ist bzw. umgekehrt mit dem Kreieren jedes Moments ein in der Zielrichtung fortgehendes Streben. Das fiat der Handlung ist allerdings auch Vorsatz, aber ein solcher, der unmittelbar in Kreation übergeht. Beiderseits kann man in gewissem Sinn sagen, dass der Vorsatz auf künftige Handlung gerichtet ist.
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Das ist Streben in dem Sinn des Wortes „Wer immer strebend sich bemüht …“.
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Beim fiat, haben wir gesehen, kann das nicht so verstanden werden, als ob das Wollen auf das künftige kreative Wollen gerichtet ist, und ebenso beim Wollen, in jeder Handlungsphase mit Rücksicht auf künftige Kreationen und Wollungen überhaupt. Wie steht es in dieser Hinsicht beim Vorsatz? Es sei z. B. dies der Vorsatz: Morgen will ich nach Berlin fahren. Oder besser: „Ich will: Morgen nach Berlin fahren.“ Der erstere Ausdruck legt nahe, das so aufzufassen: Ich will nicht heute, ich will morgen. Aber es handelt sich doch nicht um das Urteil: Morgen wird in mir der Wille des Fahrens auftreten. Ich will, indem ich den Vorsatz habe, jetzt, soeben; das Vorsetzen ist Wollen. Worauf ist es gerichtet? Nun, auf das morgige Fahren, das ist ein Handeln, und Handeln ist selbst Wollen mit eigenem phänomenologischem Gehalt. Also ist der heutige Wille auf den morgigen gerichtet, der morgige Wille ist heute vorgestellt und ist gewollter Wille. Aber ist das richtig? Ist mein Vorsatz, morgen nach Berlin zu fahren, identisch mit dem Vorsatz, morgen nach Berlin fahren zu wollen? Ein Wollen kann sich ja wirklich auf ein künftiges Wollen richten, es selbst wollen, aber das findet nur ausnahmsweise statt. Zum Beispiel, ich überlege heute, ob ich fahren soll, und kann mich nicht entscheiden. Ich entschließe mich nun, mich morgen in dieser Hinsicht zu entschließen. Und kann ich nicht geradezu heute wollen, dass ich morgen fahren will? Denkbar ist es jedenfalls. Andererseits kann es nicht das Wesen jedes Vorsatzes sein, auf ein künftiges Wollen gerichtet zu sein. Wäre dies notwendig wieder ein Vorsatz, so kämen wir auf einen unendlichen Regress von Vorsätzen. Soll dies aber ein fiat als Ansatz einer Handlung sein, so ist zu bedenken, dass das fiat seinem Wesen nach sich vom Vorsatz nur unterscheidet durch den unmittelbaren Übergang in Kreation und dass die Notwendigkeit der Richtung auf das Wollen auch von diesem fordern würde die Richtung auf das Wollen usw. Das ist offenbar unmöglich. Und phänomenologisch ist es ja auch klar, dass das fiat auf das Objektive gerichtet ist, auf das Seinsollende als solches. Und so ist auch der Entschluss nicht gerichtet auf das künftige fiat-Wollen, sondern auf die Handlung (und Handlung ist nicht Handeln), auf ihren Anfang und Fortgang, wie es eben zu ihr gehört als diese Handlung. Aber wie richtet sich das fiat auf die aus ihm entquellende Handlung und wie richtet sich der Vorsatz auf die künftige Handlung?
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Ist, was wir gesagt haben, wie es der Wortlaut zu fordern scheint, so zu verstehen, als ob die künftige Handlung wirklich als Handlung jetzt beim Vorsatz vorgestellt werden müsste? Wie wird eine Handlung vorgestellt? Ein Handeln wird wahrgenommen, und zwar direkt (nicht durch Einfühlung) und eigentlich wahrgenommen von mir, wenn ich eben handle. Ist Wahrnehmung der Handlung (nicht des Handelns) etwas anderes? Und wie wird also eine Handlung vorgestellt? Die Vorstellung ist die Phantasiemodifikation der Handlung selbst. Muss ich also, wenn ich einen Entschluss, einen Vorsatz für die Zukunft fasse, mich „in der Phantasie“ in das entsprechende Handeln, in das Tun der betreffenden Sachen hineindenken? Ich glaube nicht. Beim Wollen im Handeln ist es klar, dass das in jedem Moment zunächst im fiat gegebene Streben (das den Charakter der auf Künftiges gerichteten praktischen Setzung hat, so wie der Vorsatz) nicht etwa Hineinphantasierung in die künftige Handlungsstrecke, die noch nicht realisierte, zu vollziehen hat und auch nicht vollziehen kann. Im Fall des Vorsatzes kann ich freilich die künftige Handlung vorstellen, die Handlung im vollen Sinn, aber es ist hier zum Mindesten nicht nötig. Den künftigen Vorgang kann ich und muss ich vorstellen, aber der Vorgang ist nicht die Handlung. Danach wäre im schlichtesten Fall der Vorsatz in seiner Fundierung durch Vorstellung und in seiner Richtung auf die künftige „Handlung“ als ein Künftig-sein-Sollendes völlig gleich gebaut mit dem fiat-Willen. Ich hätte einmal Vorsatz (→ Z), das andere Mal fiat-Wille (→ Z). Beiderseits haben wir ein Willensmoment des „Es sei!“, des willentlichen „Es sei!“, der praktischen Setzung, die auf das betreffende Sein und Werden gerichtet ist, dieses durch das unterliegende Vorstellen vorstellt und durch die überziehende praktische Setzung mit dem Charakter des praktisch Gesetzten, des in der Weise des willentlichen Sollens Gesetzten, versieht. Der Unterschied ist nur der, dass der Vorsatz dauernd in dieser Konstitution verbleibt, während das fiat nur ein Differenzial ist oder eine geringfügige Anfangsstrecke und alsbald sich modifiziert in kreatives Wollen bzw. Werden. Im komplizierten Fall, wo der Vorsatz verbunden ist mit einer Vorstellung der Handlung im volleren und eigentlicheren Sinn, da hat der Vorsatzwille zugleich den Charakter des zustimmenden, des bejahenden. Von der schlichten Willenssetzung unterscheiden
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wir ja Willensbejahung, genau so, wie wir von der schlichten Urteilssetzung unterscheiden das bejahende, anerkennende Urteilen. Wir stellen den Sachverhalt erst vor, d. i., wir vollziehen zuerst die volle propositionale Vorstellung, welches nichts anderes ist als Hineinphantasieren in ein Urteil, und dann entscheiden wir uns dafür, wir stimmen zu, wir bejahen. (Zustimmen kann man einem Urteil, zustimmen kann man auch einem Quasi-Urteil, in das man sich einlebt; ebenso beim Willen und der willentlichen Zustimmung.) Aus der Vergleichung, die wir beständig zwischen Willen in seinen verschiedenen Modi, die in der Handlung als konstitutive fungieren, und dem Willen in Form des Vorsatzes vollzogen haben, geht schon hervor, dass d er Vorsatz al s „ leeres “, unerfülltes W illens s tr eben charakteri si ert i st, demgegenüber die Handlung di e ents pre chende Erfül l ung darstellt, die Realisierung der bloßen Vorsatzintention als bloßer Willensintention. Und diese Realisierung ist natürlich eine stetige, am Ende der Handlung ist der Vorsatz vollkommen erfüllt. Dass die Handlung nicht den Charakter des gewollten Zieles hat, zeigt sich auch darin, dass keine Handlung da ist und denkbar ist, die zwischen Vorsatz und entsprechendem Handeln vermittelte und dieses ihrerseits zur Realisierung brächte. Die Handlung bei der Realisierung des Vorsatzes hat nun selbst den Charakter der erfüllenden Handlung. Im realisierenden Tun sind wir des früheren Vorsatzes nicht unbewusst. Vielmehr ist das Charakteristische dies, dass eine Wiedererinnerung des Vorsatzes der Anfang der realisierenden Handlung ist hundi in das fiat und die Handlung dann selbst übergeht, die dabei immerfort den Charakter nicht nur der Realisierung des fiat, sondern der des früheren Entschlusses besitzt. Mit anderen Worten, die schlichte selbständige Handlung und die Handlung als Ausführung eines Entschlusses sind verschieden charakterisiert. Oder vielmehr: Der Charakter der Ausführung ist ein neuer, in einer ständigen Wiedererinnerung fundierter und hsiei implizierender Charakter. Der wiedererinnerte Wille (als Vorsatz) erfährt „erfüllende“ Identifizierung durch den neu gesetzten und mit seinem identischen Sinn gesetzten schöpferischen Willen. Die A nalogi e mi t i ntel l ekti ven Intentionen und Erfüllungen dr ängt si ch wi eder auf. Das schlichte Urteil, das leere oder unvollkommen volle, ist Urteilsintention, es ist setzende, theo-
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retisch setzende Intention und normalerweise setzende Meinung. Es sagt: Es ist so! Andererseits, das entsprechende einsehende Urteil sagt: Es ist wirklich so! Und so sagt es, es ist „wirklich“, nur wenn es als Bestätigung der ursprünglich leeren Intention auftritt; steht es isoliert, so heißt es wieder nur: Es ist so! So wie die pure Handlung in sich nicht den Charakter der Ausführung hat, sondern nur aufgrund der Wiedererinnerung eines entsprechenden Vorsatzes, der in das fiat erfüllungsmäßig übergeht. Allerdings darin besteht ein Unterschied, dass schon die Handlung stetige Erfüllung von Willensintentionen ist, die dem Handeln einwohnen. Damit analog steht das sich entfaltende Wahrnehmen, in dem der Gegenstand sich stetig von allen Seiten zeigt. Das schlichte Wahrnehmen der Unveränderung (wobei keine Entfaltung statthaben soll) hätte sein Analogon in einem schöpferischen Setzen eines ruhenden Dinges, einem dauernden Schaffen, das sein Korrelat in einem schlichten dauernden Sein hätte. Danach hätten wir als ontische Analoga: für das Urteil den Sachverhalt, für den Willen die Tat. Für den Willen kommt hier übrigens auch in Betracht der Befehlswille, der ein Entschluss ist nicht für eigenes, sondern fremdes, in näher zu beschreibender Weise mit meinem Willen verbundenes Tun. Die Befehlsobjektivität als solche (also die Tat) ist wirklich, sobald sie Realisierung findet, wie überhaupt jede Willensobjektität als gesetzte ihre entsprechende Wirklichkeit hat in der Handlung, die ihre Stelle hat in der Zeit, und zwar der erscheinenden oder sonst wie bewusstseinsmäßig gesetzten Zeit: gesetzt in „meinem“ Bewusstsein, und als dieselbe eventuell gesetzt im Bewusstsein des Anbefohlenen.
h§ 2. Einfache und zusammengesetzte Handlungen. Weg und Zieli Bei all diesen Ausführungen hatte ich eigentlich nur einfache und pr imär e Handlungen im Auge. Wir unterscheiden unmittelbare und mittelbar e und in Zusammenhang damit einfache und z us ammenges etz te Handlungen. Eine Handlung ist eine unmittelbare, wenn sie nicht mittelbar ist, und mittelbar ist eine Handlung, 35 wenn sie in sich Unterschiede besitzt zwischen Mittel und Zweck. 30
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Das sind Unterschiede der Willensobjektive, des gewollten Was, andererseits auch Unterschiede (korrelative) des Wollens selbst. Jeder Wille will etwas. Er setzt etwas in seiner praktischen Weise als seinsollend. Wir unterscheiden nun beim Willen das gesamte Gewollte und das in einem speziellen Sinn willentlich Gemeinte, das, worauf überhaupt die Willensmeinung geht, und das, worauf sie „eigentlich“ geht, was ich eigentlich will, gegenüber dem, was ich zwar will, während ich es doch nicht darauf eigentlich „abgesehen“ habe. Es kommt mir darauf an, darauf habe ich es abgesehen, um 10 Uhr mit dem und jenem zu sprechen. Das will ich. Das Sein kann ich aber nur wollen als Ende eines Werdens. Ich will, dass mein Tintenfass an dieser Stelle postiert sei. Ist es nicht dort, so kann hichi es nur wollen, indem ich es dahin bringe, das Sein muss sich anschließen als Ende eines Sein-Werdens, es kann Gewolltes und schöpferisch Gewolltes nur sein als Ende einer Handlung. Nun sind wir freilich hier zu weit gegangen. Von diesem „Wenn ich das A will, so muss ich B wollen“, von diesem Muss der Motivation haben wir hier nicht zu sprechen. Aber die Beispiele zeigen, dass sich dabei – mindestens wenn es an das ausführende Wollen geht, in der Regel aber schon beim Entschlusswollen – zwei Willensabschnitte sondern, die phänomenologisch unterschieden sind. Das, was ich „eigentlich“ will, das, worauf es mir willentlich ankommt, worauf das willentliche Absehen geht, ist der Zweck, das Ziel, und das Übrige der Handlung bzw. ihrer Wollung ist Mittel oder Weg zum Ziel oder Zweck: von Seiten des Wollens das Mittelwollen, Wollen des Weges. Es bedarf aber feinerer Unterscheidungen: 1) Jede Handlung hat ei n Zi el , ei ne Absicht, etwas, was s ie w ill, und zwar s o e i gentl i ch wi l l, dass demgegenüber mindes t h ens i ni chts da i st, was, h auch wenn esi zwar noch gew ollt is t, das spez i el l Abgesehene ist. Jede Handlung geht auf ein Sein, das wird, das nur durch Werden oder im Werden z ur R ealis ierung kommt. Das Entsprechende gilt auch von jedem V or s atz. Jeder Vorsatz hat sein Ziel, seine Absicht, und jeder geht wirklich oder potenziell auf ein Werden, nämlich auf das Werden des Zieles in der entsprechenden Handlung, mag sie nun voll bestimmt oder mehr oder minder unbestimmt vorgestellt und
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willentlich gesetzt sein. Das Potenzielle bezieht sich teils auf die oft völlig offen bleibende Art der Ausführung, es kann sich aber auch darauf beziehen, dass eventuell Wollungen als Im-Voraus-Setzungen denkbar sind, die auf Sein gehen, ohne jeden Gedanken an eine Ausführung. – Der Gedanke müsste freilich sofort gefasst und der Vorsatz dadurch in modifizierender Weise ergänzt werden, sowie die Vernunftfrage nach der Ausführung auftaucht und die Ausführung inszeniert werden soll. Das Inszenieren ist vor allem das Erdenken eines ausführenden Werdens ihres Zieles, ihres Abgesehenen. 2) Indem wir so Ziel des Absehens (Absicht) und Werden des Z ieles oder W eg z um Zi el unterschieden haben (begrifflich), müssen wir gleich beifügen, dass es ei nfache Handlungen gibt, in denen beides unbe schadet der begrifflichen Trennung eins is t, nämlich dann, wenn in einem schlichten Werden das Ziel selbst liegt. Zum Beispiel, ich will mit der Hand durch die Luft fahren und tue es. Das Ziel erwächst im Handeln nicht als Ende, als terminus ad quem, der Endphase und Enddauer des Handelns ist und im Übrigen außer ihm histi, so dass wir ein Handeln, das nichts vom Ziel realisiert, und ein Handeln, das es realisiert, unterscheiden könnten; vielmehr ist jede schöpferische Phase der Handlung selbst eine Phase des Zieles, das eben selbst in dem schöpferischen Werden besteht. Demgegenüber haben wir bei einfachen Handlungen den Fall, wo das Ziel gewissermaßen außerhhalbi der Handlung ist, sei es als ihre Endphase oder End-Dauerstrecke des Gewordenseins. Zum Beispiel, ich will, dass meine Hand auf jenem Papier liege. Ich bewege sie dahin und als Endphase und Dauererfolg haben wir das Dortsein. Oder ich will dieses Ding da wegstoßen: Ich vollziehe den Stoß und das Ding wird als Erfolg, ohne dass ich weiter etwas zu tun hätte, weggestoßen. In diesen Fällen unterscheiden wir bei der Handlung eine Strecke primären Handelns, wirklich schöpferischen, die aber gerade das nicht enthält, was „eigentlich gewollt“ ist, und eine weitere Strecke des Geschehens, das noch immer Gewolltes, also Gehandeltes im weiteren Sinn ist, die das Ereignis enthält, worauf es abgesehen ist. Wir nennen also das „eigentlich Abgesehene“, das Gehandelte oder Vorgesetzte der spezifischen Willensmeinung, Ziel; das Gehandelte (das vorgesetzte oder wirkliche Was der Handlung), das
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realisierende Werden, W eg zum Zi el, müssen dann aber sagen, es gibt Fälle, wo Ziel und Weg zum Ziel insofern zusammenfallen, als das Ziel im Weg selbst liegt und sich in ihm also realisiert. 3) Wenn wir so die Begriffe Zi el (Absicht) und Weg unterscheiden, s o ident if iz i eren wi r si e ni cht mit den Begriffen Z w ec k und Mi tt el. Diese Begriffe haben ausschließlich Beziehung auf zusammengesetzte Vorsätze und Handlungen. Eine Handlung ist zusammengesetzt, wenn sie als Handlung und somit aus Handlungen zusammengesetzt ist. Wir unterscheiden bei Handlungen Teile in verschiedenem Sinn. Jede Handlung als phänomenologische Einheit hat ihre Zeitphasen: Phasen einer Handlung als unselbständige „Punkte“ sind keine Teile im engeren Sinn, worunter wir konkrete Teile verstehen. Weiter können wir in einer Handlung Strecken unterscheiden. Sie haben insofern Konkretion, als sie schon mehr als Punkte sind, als sie erfüllte Dauern sind. Andererseits aber haben sie im Allgemeinen noch immer Unselbständigkeit. Wenn ich meine Hand in einem Zug bewege, so hat die Bewegung phänomenologisch ihre unteilbare Einheit und ebenso die voluntäre Form ihre ungeteilte und unteilbare Einheit. Es ist ein ungebrochener stetiger Wille, der sich über die Bewegung erstreckt. Nur ideell können wir Teilungen vollziehen: etwa dadurch, dass wir Strecken der Handlung ideell herausheben. Ein ideell herausgehobenes, herausgemeintes Stück kann, so wie es da ist, in keiner Weise selbständige Handlung sein (so wenig – phänomenologisch genommen – ein Stück einer phänomenalen Bewegung für sich Bewegung sein könnte), es fehlt ja das charakteristische fiat, ohne das keine Handlung möglich ist. Es ist nun eine Handlung zusammengesetzt, wenn sie aus relativ selbständigen Handlungen zusammengesetzt ist, das heißt, wenn aus ihr volle Handlungen abzustücken sind, die nur insofern an Selbständigkeit einbüßen, als sie durch den übergreifenden Zusammenhang, den das Wollen stiftet, in ein Ganzes gestellt sind. So viele Teile eine zusammengesetzte Handlung hat, so viele besondere fiatMomente sind also da, nämlich zu jeder Teilhandlung ein eigenes fiat. Ferner gehört nach dem, was wir sub 1) und 2) erörtert haben, zu jeder Handlung Ziel und Weg; so haben wir so viele Ziele und Wege, als wir Teilhandlungen haben. Wieder sofern die zusammengesetzte
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Handlung eine Handlung ist, hat sie ihr fiat, ihr Ziel und ihren Weg.1 Zum Beispiel ich will folgenden Spaziergang machen: Ich gehe vom Haus zum Hainholzhof, von da zum Hainberg-Gasthof und weiter den Feldscheideweg nach Hause zurück. Hier haben wir drei Handlungen zur Einheit einer Handlung verbunden. Es ist ein Vorsatzwille, der auf diesen Gesamtweg gerichtet ist, aber es ist klar, dass hdasi, was wir von den Handlungen selbst gesagt haben, sich auf die Zusammensetzung der Vorsätze überträgt. In dem gegebenen Beispiel ist es klar, dass bei zusammengesetzten Handlungen Ziel und Weg in demselben Sinn zusammenfallen können, wie wir es bei den einfachen erörtert haben. Es ist auch von vornherein klar, dass in jedem Fall der Gesamtweg sich zusammensetzen wird aus den Wegen der einzelnen Handlungen. Aber nur in Fällen, wie sie das Beispiel illustriert, setzt sich das Gesamtziel, sofern es im Weg selbst liegt, aus den Teilzielen zusammen. Eine ebensolche Zusammensetzung ist möglich, ohne dass Ziel und Weg zusammenfallen. Wir ändern passend das Beispiel: Ich mache genau denselben Weg, aber nicht als Spaziergang, wo jeder Weg selbst Ziel ist, sondern ich will eben, das ist einzig und allein mein Absehen, zuerst im Hainholzhof sein, dann auf dem Hainberg sein und zuletzt wieder zu Hause. Ich will all das zumal, das eine und andere. Jede der Handlungen ist eine einfache und in jeder scheidet sich Ziel und Weg, und das Gesamtziel der zusammengesetzten Handlung ist das Kollektivum der Ziele der Teilhandlungen. Jedem neuen Typus entspricht offenbar ein neuer phansischer Typus in der konstituierenden Einheit des Phänomens, vor allem in der voluntären Form. Was uns hier auffällt, ist eine Form der Synthesis: die kollektive Synthesis, die Einheit eines Wollens, das die Form hat: Ich will A und will B und will C. Wir können auch sagen: Ich will (A und B und C). Aber es ist evident, dass beides nicht identisch dasselbe, sondern nur, und zwar in voluntärem Sinn, äquivalent ist. Im einen Fall haben wir ein Wollen, dem eine kollektiv vorstellende Setzung zu-
1 Damit ist auch gesagt, dass jede der Teilhandlungen ebenso wie die Gesamthandlung ein Ende hat, ebenso gut wie einen Anfang, ein fiat. Jedes Ende hat im Fall der Handlung sein Bewusstsein „Es ist erreicht“, nämlich die Willensabsicht des zugehörigen fiat.
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grunde liegt. Dieses Wollen ist eins und birgt in sich einen dreifachen verschmolzenen Willensstrahl, der auf jedes im Kollektivum gerichtet ist. Im anderen Fall haben wir drei gesonderte Willensakte, die aber in einem kollektiven Wollen (willentliches Und) zur Synthesis gebracht 5 sind. Das sind genaue Parallelen zur intellektiven Sphäre, wo ja auch beide Fälle vorkommen.
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In den bisherigen Beispielen haben wir beständig von Ziel und Weg, aber nicht von Zweck und Mi ttel gesprochen. Unter Mittel verstehen wir vermittelnde Ziele. Natürlich ist in jeder zusammengesetzten Handlung, sofern ihre voluntäre Gesamtmaterie eine Einheit des Werdens ist, das in jeder Teilhandlung vorliegende Ziel als vermittelndes zu bezeichnen. Es vermittelt ja faktisch hinsichtlich der späteren Ziele. Aber nicht jedes im wörtlichen Sinn vermittelnde Ziel ist „Mittel“ und jedes spätere Ziel Zweck, wie denn nicht bei jeder, auch nicht hbeii jeder zusammengesetzten Handlung von Mittel und Zweck gesprochen werden kann. Ich will A als Mittel zu einem anderen B, oder ich will A um des B willen. Ich will A, weil über A der Weg zu B führt. Wir können hier phänomenologisch verschiedene Fälle unterscheiden, je nachdem in das willentliche Verhalten des Vorsatzes und Handelns Vernunfterwägungen, Vernunftmotive überhaupt hineinspielen oder nicht. Ein Ziel Z realisieren (eine „Absicht“), d. i., eine Handlung vollziehen, die Z realisiert. Ist Z selbst ein Werden, so ist entweder die Realisierung von Z das Handeln (ich meine, es ist das Sich-Realisieren des Z vom Anfangspunkt bis Endpunkt dieses Werdens), oder es ist Z ein natürlicher Werdenserfolg, der sich an das eigentliche Handeln anschließt. Ist Letzteres der Fall – und ist es so, dass die „eigentliche“ Absicht nur in Z liegt –, so ist das vorgängige Handeln ein bloßes Wollen und Tun um des Z willen. Oder besser gesprochen: Schon in so einfachen Fällen sehen wir, dass in der Weise des handelnden Wollens Unterschiede auftreten können, modale Unterschiede des Wollens, Unterschiede in seinem Charakter und in der Weise, wie er das Gewollte will. Im weiteren Sinn ist alles Gewollte Absicht. Im engeren Sinn, den wir in der Regel
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unter dem Begriff Absicht verstehen werden, ist nur ein Bestandstück des Gewollten das, worauf es „abgesehen“ ist, das, was wir eigentlich wollen, auf das es uns allein ankommt, was unser praktisches Interesse ist. Das so Charakterisierte ist als „Zweck“ bezeichnet und das nicht so Charakterisierte ist mit einem korrelaten und auf die Zwecksetzung bezogenen Charakter ausgestattet, mit dem Charakter „um des Zweckes willen“. Ontisch hat das als Zweck Gewollte eben den Charakter „Zweck“ und das andere den Charakter des Mittels, d. i. des „um des Zweckes willen“. Und natürlich entsprechen dem Unterschiede der phansischen Momente, und zwar der voluntären Formen. Die Bevorzugung, die wir in dieser Art in einfachen und zusammengesetzten Wollungen bzw. Handlungen vorfinden, ist nicht zu verwechseln mit bloßen Unterschieden der Aufmerksamkeit, als ob dem Vorgestellten bloß ein bevorzugendes Bemerken oder Aufmerken zugewendet wäre. Vielmehr liegt ein Vorzug innerhalb der gesamten Willensmeinung. Aus dem Gewollten ist Gewisses in einem bevorzugenden Sinn willentlich gemeint, es ist in einem besonderen Sinn Gegenstand der Absicht, während das übrige Gewollte nicht das „eigentlich“ Gewollte, Abgesehene ist. Dieser Unterschied kommt nun in Betracht in der Art, dass 1) entweder von vornherein ein Ziel, dem das „praktische Interesse“, diese Willensmeinung im speziellen Sinn, zugehört, als Ende eines Weges (eines Werdensprozesses) vorstellig und praktisch gesetzt ist, welcher von einem praktisch Gegebenen (schon Seienden und nicht erst zu Realisierenden) zum Objekt des praktischen Interesses hinführt. Der Weg ist dann zwar gewollt, aber als bloßes Mittel gewollt, d.i., eben nicht in der Weise des „eigentlich“ Gewollten gewollt. 2) Der Weg kann aber auch Zwischenziele enthalten. Es stellt sich das im Gesamtwollen eigentlich Gewollte, der Endzweck, als Ende eines Weges dar, der sich in Stationen zerfällt. Vom gegebenen Ohbjekti führt ein Weg zunächst zu einem ersten Ziel A, ist dieses erreicht und somit gegeben, so wird es zum Ausgangspunkt für den Weg zum Ziel B usw. bis Z. Zuletzt haben wir einen Weg, der in Z terminiert, das sich eventuell im Weg selbst aufbaut. Ebenso natürlich im Vorsatz, eventuell stellt sich diese ganze Stufenfolge in der Vorsatzüberlegung anschaulich dar. Es wird ein Werdensgang mit seinen Stationen vor-
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gestellt, die alle den Charakter der Freiheit haben, oder es wird schon die volle Handlung mit den Wollenscharakteren vorgestellt. Dabei braucht gar keine Vernunfterwägung stattzuhaben. Es führen nun viele Wege, gerade und ungerade, „vernünftige“ und „unvernünftige“ nach Rom. Es mögen sich aus Gründen des Instinkts, der Gewohnheit etc. von selbst durchschnittlich vernünftige, „praktische“ Wege einstellen. Im Fall vernünftiger Überlegung aber wird erwogen: Was ist „notwendig“, um den (End-)Zweck Z zu erreichen? Kann ich Z direkt erreichen, in einem schlichten, einfachen Weg, welche Art von Wegen stehen überhaupt zu Gebote und welches sind die praktisch besten? In dieser Hinsicht heißt nun vom Standpunkt der praktischen Vernunft ein Ziel, zu dessen Erreichung es eines Weges bedarf, der von ihm selbst verschieden ist, ein Zweck, und dieser Weg selbst heißt das oder ein vernünftiges Mi ttel zu diesem Zweck. Insbesondere heißen in der Regel im Fall zusammengesetzter Wege die Stationen, die Zwischenzwecke, Mittel zu jenem eigentlich abgesehenen Zweck, der nun Endzweck heißt. Die Sachlage ist dann die, dass, um Z zu realisieren, etwa m1 realisiert werden muss, um m1 zu realisieren, m2 realisiert werden muss usw., bis ein mn vorliegt, das unmittelbar in einer schlichten Handlung realisiert werden kann. In der Vorstellung des Gesamtweges zum Z steht dann an erster Stelle der Weg, der in mn mündet, daran angeschlossen der zu mn-1 … bis zu m1, und zuletzt der Weg von m1 bis zu Z. Natürlich haben wir aber zu unterscheiden die „wirkliche“, „objektive“ Vernünftigkeit dieser Anordnung und dieser Wege und Mittel, und die vernünftige Meinung, die Prätention der Vernünftigkeit. In gewöhnlichen Fällen stehen solche Anordnungen in der Meinung da, es sei, so zu handeln, das Vernünftige, „Natürliche“, „Selbstverständliche“. Solchen Endzweck zu erreichen, gehe man so und so zu Werke, durch die und die Mittel hindurch, und das sei natürlich vernünftig. Indessen braucht über Vernünftigkeit nicht weiter reflektiert zu sein. Um nach Rom zu reisen, fahre ich erst nach Basel, von da über den Gotthard nach Mailand usw. Das Wollen des Z ist dabei ausgezeichnet als die eigentliche Absicht, alles andere hat eine korrelate Auszeichnung des Mittels (durch das „hindurch“), des Weges, über den entlang es fortgehen muss, des Wollens und Realisierens um
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des Endzweckes willen. Innerhalb des Weges haben wir dann wieder ähnliche Unterschiede zu machen, und vor allem Unterschiede der Stufen. Zwar ist das ganze Willensinteresse ein sekundäres, charakterisiert als Umwillen, aber es stuft sich ab. Das Interesse des m1 ist charakterisiert als Interesse unmittelbar um des Z willen. Und es ist zugleich charakterisiert als Zweck in Relation zu seinem Weg. Das Interesse an m2 ist charakterisiert als unmittelbar um des m1 willen und mittelbar um des Z willen usw. Die unterste hStufei ist die des mn. Indem die Stufen steigen, indem die Willensziele der Reihe nach erreicht werden, findet immer höhere Befriedigung statt, und die Befriedigungen des Willens, die in der Reihe der Stufen – der stetigen – stehen, bilden selbst einen Stufenbau aufeinander bezogener Befriedigungen. Der dienende Wille ist befriedigt, aber durch ihn hindurch, der charakterisiert ist als dienender, geht die Willensintention höher hinauf bis zum Endzweck. Auch im schlichtesten Weg haben wir schon eine gewisse Gradation der Willensintention, nämlich der Annäherung an die Befriedigung der Zielerreichung. Im Fall zusammengesetzter Handlungen haben wir dasselbe in allen schlichten Wegstrecken. Dazu haben wir aber eine Gradation der Befriedigungen, aber jetzt eine diskrete: eine Höhenordnung der Befriedigungen. Jeder schlichte Weg endet in einer wirklichen Befriedigung, aber nur in einer vorläufigen statt der endgültigen. Mit jeder neuen Stufe sind wir dem Ziel näher, die Befriedigung ist eine sattere. Aber es ist das immer eine Gradation der Annäherung und nicht der eigentlichen Sättigung des durch den ganzen Prozess hindurchgehenden und vom fiat schon anhebenden Zweckwillens: Denn diese Sättigung beginnt erst in dem Moment, wo etwas von diesem selbst zur Realisierung kommt, also im realisierenden Prozess des Endzweckes selbst, der auf das letzte Mittel folgt. So ist in der Willenskonstitution eine ziemliche Komplikation möglich. Jedes Mittel histi Zweck für sich, zu jedem sein fiat und sein Weg, seine Erfüllung gehörig, zu jedem sein Interessenkreis. Und dann die Stufenordnung, die Komplikation an jedem Punkt sozusagen bedeutet. Denn im Ausgangs-fiat liegt als Komponente das fiat des mn und das Allgemeine der Willensintention, die durch mn hindurch auf mn-1 und so immerfort geht.
IV. WILLENSKAUSATION UND PHYSISCHE KAUSATION12
h§ 1.i Wille und Handlung. Handlung und Hemmung
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Sind Wi l le un d Ha ndl ung ü be rh a up t an d e rs d e n n ab strak tiv z u tre nnen ?3 Ich will den Fuß bewegen, aber er ist „eingeschlafen“. Ich will mit der Hand anfassen, sie ist aber plötzlich „gelähmt“. Aber wenn der Wille überhaupt da ist, ist nicht ein Ansatz von unmittelbarer Handlung da? Die Handbewegung ist doch noch immer nicht das Erste. Ist da mit dem fiat nicht schon ein Anfang des Handelns vollzogen, an den sich nur nichts weiter fügt: „Innervation“, Anspannung der oder jener Muskelgruppen etc.? Würde alles fortbleiben, dann würde auch kein „Ich will“ mehr da sein, könnte man sagen. Ist der Wille „ohne Erfolg“, so ist er im Unmittelbaren gehemmt. „Es geht nicht.“ Das ist ein eigener phänomenologischer Befund: freier Ablauf, Handlung – Widerstand, Hemmung. Doch ist es sehr fraglich, ob wir den Anfang, das fiat, schon als Handlung (oder als etwas prinzipiell Gleichartiges) wirklich ansehen dürfen, denn die Anspannung etc., der Abfluss auf Nervenbewegungen, das gehört doch nicht zur Handlung als solcher. Nur das wird man nach dem eben Ausgeführten sagen dürfen: D as fi at i st n i e et w a s fü r si c h , e s is t e nt we de r A ns at zp un kt ei ne r H an d l u n g o d e r e in er H em m u n g ( e i ne r Han dl un g ). Wir haben zweierlei ferner zu unterscheiden: 1) das Phänomenologische, das fiat und der phänomenologische Ablauf des Wollens mit seinen phänomenologischen Unterlagen, die 1
Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg. Endet im Metaphysischen. 3 Zunächst mittelbare Handlungen. Ich will den Kasten heben, aber er rückt nicht von der Stelle. Aber da habe ich mit dem Willen eine unmittelbare Handlung, mit Händen anfassen etc., an die sich ein weiterer physischer Erfolg nicht anknüpft, auf den ich es „abgesehen“ hatte. 2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 47 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_4
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Richtung auf das Abfließende, die Vorstellung und Erwartung des Kommenden. Lebe ich im Wollen (Handeln), so erscheint 2) die Handlung. Nicht nur ein Ereignis läuft ab, es ist Handlung. Die Handlung ist 5 unmittelbare Handlung oder m i ttel bare, einfache oder zusammengesetzte. Einfache Handlung: eine einfache Handbewegung zum Beispiel. Zusammengesetzte Handlung: erst H1, nachdem sie abgeflossen ist, knüpft sich daran H2 usw. Aber eine zusammengesetzte Handlung ist dabei doch ei ne Handlung, der eine Wille geht durch 10 die Teilwollungen hindurch. Eine Art Mittelbarkeit ist das: Ich will A. A ist aber etwas, das sich an einen unmittelbaren Handlungserfolg als empirisch dingliche Folge anknüpft. Und dementsprechend dann Zusammensetzungen. Dazu gehören dann die Komplikationen von Zweck und Mittel.
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h§ 2. Das Wollen als Ablauf in der immanenten Sphäre ist kein Naturvorgangi Im Fall einer em pir is c hen Kausati on haben wir (vor der Wissenschaft): A tritt ein, also muss B eintreten – das erscheint mir – oder, also dürfte B eintreten. Es erscheint eine empirische Notwendigkeit als Abhängigkeit eines dinglichen Geschehens von einem anderen, als „eintreten müssen, da jenes andere eingetreten ist“. A nder s im Fall der H andl ung. Handelnd will ich und es läuft die Handlung ab. Die Handlung erscheint. In ihr „objektiviert sich der Wille“, aber nicht so, als ob ein empirisches Verhältnis zwischen Wille und Geschehen nach Art jener empirischen Notwendigkeit erschiene. Der Stein fliegt gegen die Scheibe – sie wird brechen, sie muss, durch seine Kraft bricht sie. In der Handlung lebt aber beständig der Wille. Er ist nicht ein gegenständlich aufgefasstes Ereignis, auf das ein anderes empirisch notwendig folgt. Mit dem fiat setzt die Handlung ein und in seinem Sinn läuft sie ab, immerfort von dem sich forterstreckenden und erfüllenden Willen getragen. Aber erscheint der Wille als dasjenige, was das objektive Geschehen objektiv bedingt? Ist es selbst etwas Objektives, das das andere Objektive nach sich zieht? Der Erfolg ist da, weil so gehandelt worden ist, und jede Phase der Handlung hbeiwirkt die spätere, aber abgesehen vom Willen.
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Das Buch ist nun da, weil es hergelegt worden ist, aber wenn die Handbewegung willenloser Vorgang wäre, wäre das Resultat dasselbe. Nun wird man sagen: Allüberall spricht man doch davon, dass der Wille wirkt. Ich will, also geschieht das, was ich will; weil ich es wollte, ist es eingetreten. Mein Wollen ist vorausgegangen und der Erfolg kam dann, aber nicht bloß das: „Weil …“. Ich kann also auf den Willen hinblicken und ihn in Bezug zum Erfolg setzen, nämlich das Eintreten des Wollens macht das Eintreten des Erfolgs auf dem Weg der Handlung notwendig (empirisch notwendig), und ich sage ja auch in Bezug auf andere: X hat sich so und so entschlossen, also ist demnächst der und der Erfolg zu erwarten. Also die Person tut das und das; Ereignisse der Natur etwa (aber auch „innere“ Ereignisse) sind „Wirkungen“, die die Person als handelnde, als wollende übt. Da wird also der Wille als Wirklichkeit, und zwar als Akt einer Person, objektiviert, und nun werden die Handlungen und ihre weiteren Erfolge zu Wirkungen der Person, und zwar vermöge ihres Willens. Das Wollen (als Auftreten des Aktes in der Person) wirkt das und das. Andererseits physisch: Die physischen Vorgänge in dem Menschen (seinem Leib nach) haben physische Wirkungen (die da als gewollte „Handlungen“ und „Handlungserfolge“ heißen). Das ist also eine durchaus gewöhnliche, also wohl mögliche Apperzeption. Hier haben wir wirklich eine kausale Auffassung. Wir fassen den Menschen als Ding, das neben physischen auch psychische Veränderung erfährt und darunter Wollungen. An diese knüpfen sich natürliche Folgen in empirischer Notwendigkeit. Und doch ist die Sache nicht so ganz einfach. An die Handlungen der Personen knüpfen sich Folgen. Aber die Wollungen sind doch nicht in der Person eins und die äußeren Vorgänge, die da „Handlungen“ sind, ein davon getrenntes Anderes; so, wie wenn ein Ding Veränderungen erfährt und diese ihre Wirkungen auf andere Dinge entfalten. Zunächst genauer: Die Person will – da haben wir das fiat und den Ablauf der vom Willen beseelten Empfindungen, Vorstellungen, Auffassungen, Erwartungen der Person. Der Wille tritt nicht in einem leeren Raum auf, sondern Wille ist Tun, und das Tun ist für den Tuenden ein solcher und solcher Erscheinungs-, Glaubens-, Willensverlauf. Das alles gehört in eins. Nun könnte man fragen: Achte ich auf meine Phänomene, so geht das fiat vorher und dann kommt
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die (in meiner momentanen Situation) bestimmte und motivierte Erscheinungsfolge. Ist der Wille da zunächst Ursache für diese phänomenologische oder psychische Reihe und dann für die außerhalb meiner Erscheinungen statthabenden wirklichen physischen Erfolge? Setzt der Wille Erfolge in der eigenen reellen Erscheinungsmannigfaltigkeit, während mit dieser gesetzmäßig zusammenhängen die möglichen Erscheinungen, in denen sich die Wirklichkeit der Natur konstituiert? Überlegen wir. Wollen, das gehört zur immanenten, absoluten Sphäre, und Wollen als unmittelbares Tun ist ein Ablauf in der immanenten Sphäre, ein Ablauf von Erscheinungen, in denen eine Handlung sich konstituiert. Es sei eine äußere Handlung. Dann haben wir einen äußeren Vorgang erscheinend und gesetzt, der ein „wirklicher“, also durch mögliche Erfahrung zu bewähren ist, von anderen in ihrer Weise wahrgenommen werden könnte in korrelaten Erscheinungen und Urteilsreihen etc. Das Wollen ist nicht selbst ein Vorgang der dinglichen Natur, sondern gehört in die Schicht der konstituierenden Erscheinungen, mit ihnen in seiner Weise zusammenhängend. So wenig Erscheinungen „wirken“ (im Sinn der Naturkausalität), so wenig „wirkt“ der Wille. Alle Vorgänge der Natur stehen im Zusammenhang der Naturkausalität. Vorgänge verlangen nach empirischer Notwendigkeit andere Vorgänge, und gehe ich dem erfahrungslogisch nach, so dringe ich zur Erkenntnis dieser Naturkausalität durch. Das gilt von allen Naturvorgängen, und zur Natur gehören die „leblosen“ Dinge ebenso wie die lebendigen und beseelten. Und die psychischen „Erlebnisse“ der Menschen usw. sind keine Naturvorgänge, keine physischen, sie sind also wirkungslos, weder Ursachen noch Wirkungen.
h§ 3. Die Abhängigkeit der Bewusstseinsinhalte vom Leib. Mechanische Naturkausalität und funktionale psychophysische Beziehungeni
Die Natur ist für mich da und in ihr bewege ich mich als Naturbetrachter und Naturforscher, wenn ich dem Zusammenhang der erscheinenden Dinge nachgehe, der erscheinenden Vorgänge und 35 Abhängigkeiten der Vorgänge. Ob die Dinge „Erlebnisse“ haben
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oder nicht, ist dabei ganz gleich. Und „mich“ selbst betrachte ich als Naturbetrachter, wenn ich „meinen“ Leib, meine Hände etc. betrachte wie ein anderes Ding und eben als Ding. Da lebe ich in den Wahrnehmungen, Erinnerungen, Urteilen über das Wahrgenommene und Erinnerte usw., und das gibt einen einzigen Zusammenhang. Da existiert kein Gefallen und Missfallen für mich, kein Schätzen, kein Wollen und Fliehen. Ich bin „teilnahmsloser“ Dingbetrachter. Das heißt, hier kommen eben keine Unterschiede der Teilnahme in Betracht, ob ich schätze oder abschätze, ob ich Gefallen oder Missfallen empfinde, das kommt nicht in Frage, ich lebe rein im Wahrnehmen und wahrnehmenden Identifizieren, im Erinnern, im Voraussehen, im Urteilen, Schließen usw., in den intellektiven Akten, die sich auf das dinglich Erscheinende beziehen. Aber die Teilnahmslosigkeit in diesem Sinn ist nicht das Wesentliche. Ich lebe in den intellektiven, auf die erscheinenden Dinge bezogenen Akten. Ich erlebe dabei nicht nur Aktgefühle, eventuell Wollungen und vollziehe Handlungen (z. B. ich schreibe), ich erlebe ja all die „Phänomene“, die intellektiven Akte selbst. Ich erlebe sie. Sie sind für mich keine Objekte der Betrachtung. Ich „sehe“ nun auch andere Personen, ich fühle mich in ihre Leiber ein (ich vollziehe eine eigentümliche Apperzeption), in ihre Wahrnehmungen, Urteile etc., und ich lasse ihre Intellektionen gelten (wenn ich sie nicht bestreite, was Gemeinsamkeit wieder voraussetzen würde) und vereinige ihre Gegebenheiten und meine, und die „Wirklichkeit“ bestimmt sich als Wirklichkeit, die wir als eine und selbe alle zugleich gegeben haben und von verschiedenen Seiten sehen, von verschiedenen Seiten bestimmen usw. So forsche ich weiter über Dinge, über die mir und anderen bekannten und zu erkennenden Dinge der einen Welt. Nun kann ich aber auch, statt in den Intellektionen hzui leben, auch sie selbst betrachten. Ich betrachte ferner meine Wahrnehmungen, meine Urteile etc., und andere tun das auch, wir beschreiben sie, verständigen uns über allgemeine Eigenschaften dieser „inneren“ Gebilde etc., und so für alles Immanente, für Gefallen, Wunsch, Willen. Sind die Dinge Dinge für alle (nur jedem von verschiedenen Seiten sich darstellend und in verschiedenen Wahrnehmungserscheinungen, Urteilen etc. gegeben), also jeder Leib auch ein solches Ding, so gehören zu jedem Leib als objektivem Ding verschiedene „innere“
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Erscheinungen, das heißt, die aktuellen Erscheinungen, Bewusstseinsinhalte überhaupt verteilen sich auf verschiedene Leiber und Personen, zu denen sie in Beziehung des Erlebtseins stehen. Oder: Der Fluss absoluter Bewusstseinsinhalte gehört zu „seinem“ Leib (aus näher zu erörternden Gründen). Auszeichnung des Leibes als eigener etc. und dabei als intersubjektives Ding. Und nun die schwierigen Beziehungen zwischen Leib und Seele, Ich. Vom Leib hängen die Erscheinungen und sonstigen Bewusstseinsinhalte (Erlebnisse) ab. Halte ich die Augen zu, so sehe ich die Dinge nicht, habe ich keine Erscheinungen, keine Wahrnehmungen. Verbrenne ich mich, so habe ich geänderte Tastempfindungen, ein Schlag und ich empfinde Schmerz etc., und so der andere, wie ich aus seinen Aussagen verstehe. Der Wille wirkt umgekehrt auf den Leib, ich bewege meine Glieder, ich bewirke mittels der Bewegung meiner Glieder etwas in der Außenwelt, ich spreche und ein anderer tut etwas meinem Willen gemäß oder ihm zuwider etc. Beziehung der Bewusstseinsinhalte auf den Leib: Der Leib selbst erscheint visuell, taktuell etc. in meinen Erscheinungen und ebenso in anderen Erscheinungen, und die Leiber der anderen erscheinen mir und erscheinen wechselseitig, und ohne diese Erscheinungen könnten sie nicht gesetzt und könnte die Apperzeption Nebenmensch nicht vollzogen werden. Und erschiene mir mein Leib nicht, so wäre er für mich nicht da. Dinge, Leiber, Einheiten von Bewusstseinsmannigfaltigkeiten. Jeder aktuelle Bewusstseinsinhalt aber wieder „abhängig“ gemacht von einem Ding, von einem Leib, und andererseits in der psychophysisch weiteren Beziehung abhängig gemacht von der außerleiblichen Außenwelt: Die Dinge wirken auf den Leib und der Leib hat ein Zhentralnervensystemi, dessen Erregung bestimmter Art die Bedingung für das Erlebtsein der betreffenden Erscheinungen ist von Seiten des zu dem Leib gehörigen Ich. Das sind also komplizierte funktionale Beziehungen. Dinge sind wirklich, das ist (in menschlicher Erfahrung), es sind Erscheinungen gegeben und diese begründen die Möglichkeit von wissenschaftlichen Urteilen und Möglichkeiten von weiteren Erscheinungszusammenhängen, die solchen Urteilen Evidenz, Berechtigung verleihen würden. Freilich nicht jede beliebige Erscheinungsgruppe, nicht jeder beliebige Bewusstseinsfluss begründet solche Möglichkeiten, z. B. hnichti ein Quallenbewusstsein, aber
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wohl das menschliche Kulturbewusstsein: Die naive Erscheinungswelt, die sich erscheinungsmäßig dargestellt hat, gab Anlass zu Beobachtungen, Urteilen, Erkenntnissen, die zu einer Naturwissenschaft führten, und diese sagt uns, dass die Annahme einer Natur berechtigt ist, einer Natur, der auch die Qualle angehört. Und darin liegt, dass hzusätzlichi zu den Dingerscheinungen andere Erscheinungsgruppen „möglich“ sind und real möglich waren, die ein Beobachter hätte haben können etc. Und wenn ein Beobachter künftig so und so orientiert sein wird und die und die Erscheinungen hat, dann werden sich die weiteren Erscheinungen so und so abspielen und die empirischen Urteile Erfüllung finden. hDas sindi motivierte Möglichkeiten. Dinge wirken auf den Leib und durch den Leib bedingen sie Erscheinungen, d. i. wirkliche Erscheinungen, und durch sie motivierte Erscheinungsmöglichkeiten stehen in gewissen zu begründenden Zusammenhängen, und wir haben verschiedenerlei Zusammenhänge: die der Naturkausalität als mechanischer Kausalität und diejenigen der funktionalen Zusammenhänge zwischen Natur und „Geist“. An Energie hier zu denken und dgl., dazu ist gar kein Anlass. Es hat gar nichts besonders Anstößiges, Natur als geschlossene mechanische Kausalität zu denken und trotzdem psychophysische Beziehungen anzunehmen, wie man sie ja annehmen muss. Das Naturwirken, sich beziehend auf Zusammenhänge dinglicher Veränderungen, steht unter Naturgesetzen als Energiegesetzen. Das hat zu tun mit gewissen, zu den Dingen gehörigen Invarianten, Raum, Zeit, Maß etc., und mittels dieser kann man die empirischen Dinge und dinglichen Zusammenhänge, dinglichen Vorgänge, nach ihren qualitativen und quantitativen Vorkommnissen „erklären“, zum Teil unter Sukkurs der psychophysischen Beziehungen als Ergänzungen. Die funktionalen Beziehungen zwischen Dingen und psychischen Vorgängen stehen unter psychologischen bzw. psychophysischen Gesetzen, die der Exaktheit entbehren. Diese gehören in eine ganz andere Linie; will man hier von Kausalität sprechen, so hat sie eine ganz andere Bedeutung. Übersieht man das, so kommt man zu schiefen Problemen.
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willenskausation und physische kausation h§ 4. Inwieweit ist das Hervorgehen der Tat aus dem Willen als ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Tatsachen zu bestimmen?i
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Und wie nun für den Willen? Besteht da nicht eine größere Schwierigkeit? Der Wille „greift“ doch in die Welt ein, er schafft Veränderungen, teils innerhalb der psychologischen Sphäre, teils in der physischen.1 Der Wille greift ein in den Lauf des Psychischen, z. B. in die Regelung des Gedankenverlaufs, in die willkürliche Wiederholung einer Erinnerung; etwa ich höre einen Ton und „wiederhole ihn“ willkürlich zwei-, dreimal. Der Wille greift auch als äußeres Handeln ein in den Lauf der äußeren Erscheinungen und der objektiv gültigen, in den Lauf also der Natur. Das sind wieder Abhängigkeiten. Der Wille auf Wiederholung gerichtet und der Ablauf der Wiederholung: Sie findet statt „infolge“ des Willens. Da sieht man, dass ein vorgängiger Wille wirklich ohne Handlung sein kann. Es kann ja auch eine plötzliche Ablenkung der Aufmerksamkeit erfolgen, bevor die Wiederholung statthat etc. Ich brauche hier nicht zu erwägen, ob Wollen im „zugleich“ Ansatz von Handlung ist (Innervhationi).2 Im Übrigen hier wie bei der äußeren Handlung: Die Wiederholung ist Handlung, charakterisiert wie jede andere. Im Allgemeinen wird, wenn ein Wille sich auf solche Wiederholung richtet, diese auch eintreten. Sie ist charakterisiert als gewollte, und zugleich ist sie als infolge des Einsatzwillens eintretende anzusehen. Ich will nachdenken, ich strebe nach Klarheit etc. Abgesehen von aller empirischen Ichauffassung und Weltauffassung richtet sich das Wollen auf das Gewollte, und dieses 1 Innerhalb der psychologischen Sphäre nach Vielen das einzig wirkende Prinzip. Näher auszuführen histi, damit ich es nicht vergesse, dass alles andere psychische „Wirken“ sich entweder auf Wesenszusammenhänge reduziert oder auf gewisse empirische Regelmäßigkeiten, die man psychophysisch erklärt. Dass das so sein muss, ist freilich nicht zu beweisen. Jedes Werden, sagt das Kausalgesetz, muss seine Ursache haben. hUnd so auchi jede reale Veränderung, also auch jede im realen Ich – freilich, wenn das Ich als Identisches der Veränderung soll gelten können. An und für sich ist es mit der „Apriorität“ des Kausalgesetzes eine eigene Sache. Erst muss ich doch wissen, in welchem Sinn die Kausalität zu nehmen ist und welchen Umfang dieser Sinn vorschreibt. Aber es wird doch wohl in der Sphäre des Psychischen auch alles seinen Grund haben. Fragt sich nur, wie das zu verstehen ist. 2 Cf. die unzureichenden Ausführungen also auf den früheren Blättern.
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tritt ein im phänomenologischen Fluss als infolge des Willens. Dabei aber im Unterschied gegenüber der empirisch-anschaulichen Folge (und des „also muss eintreten, was dort statthat“) ist zu beachten, dass uns nicht diese Sachlage vor Augen steht, die wir mit der empirischkausalen Folge auf äußerem Gebiet parallelisieren. Vielmehr ist es ein Unterschied, ob wir auf das Wollen achten oder auf das Gewollte. Ich will die Wiederholung. Wenn ich das will, so steht mir die Wiederholung als gesollte, als willensgesollte sozusagen, vor Augen, nicht das Wollen. Und wenn die Wiederholung sich dann vollzieht, so habe ich die Tat vor Augen, den Ablauf der wiederholten und wie gewollt so wirklich ablaufenden Erinnerungen und dgl. Sie hat den Tatcharakter. In der Reflexion erfasse ich das Tun. Die Tat ist aber nur charakterisiert als Tat und nicht als empirische Folge aus dem Impuls des Willens, der auf sie zielt. Wir können sagen: Es ist möglich, einen Blick intellektiver Reflexion und Seinssetzung (und sei es auch phänomenologischer) zu vollziehen und in ihm den Willen zu setzen, mindestens in der Erinnerung, in der theoretischen Erwägung von Möglichkeiten, und dann intellektiv zu sagen, das Eintreten des Willens motiviert, bedingt tatsächlich das Eintreten des Gewollten. Aber das ist nicht die Stellungnahme im Wollen und im Erzeugen der Tat. Das wird für andere Zwecke wichtig sein, aber „theoretisch“ bleibt es doch bei der „Kausation“ in dem Sinn, dass bei gewissen Willensakten mindestens (natürlich nicht bei allen) gesagt werden kann von vornherein, dass sie sich in der Regel hemmungslos erfüllen. Das setzt offenbar voraus eine vergleichende Reflexion, ein Zurückblicken auf die Erfahrung, und aus ihr geht hervor die Erfahrungsmotivation: wie denn überhaupt, wenn ich öfters erfahrungsmäßig (also theoretisch) finde, dass, wenn A eintritt, dann B eingetreten ist, dass ich dann sagen kann, A führt B mit sich; A annehmend, muss ich auch annehmen, dass B eintreten wird. Nur freilich das Bedenken, dass bei jedem regelmäßigen Ablauf dasselbe zu sagen wäre; also beim Zeitfluss, das Jetzt zieht das Soeben nach sich usw. Im Wollen ist uns das „Hervorgehen“ des Gewollten aus dem Willen unmittelbar verständlich und wird nicht verstanden als ein Abhängigkeitsverhältnis von Tatsachen. Die Tat ist eben Tat des Willens, und in der Handlung geht sie willentlich hervor. Und ebenso ist es verständlich, dass Wollen sich an Hemmungen bricht oder dass
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die Handlung eine Tat ergibt, die in ihren weiteren Folgen oder in sich nicht das oder genau hdas nichti realisiert, was gewollt wurde usw. In sich hat willentliches Werden und Kausiertsein nichts miteinander zu tun, und Determinismus hebt das Hervorgehen der Tat aus dem Willen und nur aus ihm in keiner Weise auf. Geht bei der äußeren Handlung aus dem Willen ein phänomenaler Erfolg hervor (und aller unmittelbare Erfolg muss phänomenal sein), so liegt in dem Verhältnis zunächst nichts von einer Kausation des Willens, sei es hin Bezugi auf den Ablauf der betreffenden aktuellen Vorgangserscheinungen, sei es hin Bezugi auf den wirklichen Vorgang selbst (der in diesen Erscheinungen erscheint). Der äußere Vorgang ist Handlung, er ist gewollt und verläuft im Wollen. Im Wollen verläuft der Vorgang in seiner Erscheinung, und diese Erscheinungsreihe mit ihrer Seinssetzung und ihrem Getragensein vom Handlungswillen, das ist eine Einheit und ist die Einheit der Tathandlung. Der Vorgang, der da Handlung ist vermöge dieser phänomenalen Artung, ist aber wirklicher Vorgang, der theoretisch als Wirklichkeit bestimmbar, von anderen auffassbar und für existierend setzbar ist. So kann ich vom wahrgenommenen und theoretisch gesetzten Vorgang sagen: Der ist von dem und jenem gewollter und gehandelter, er ist seine Tat. Und so auch in Bezug auf mich selbst und meine Tat. Dann aber: Dieser Vorgang läuft ab und ist Wirklichkeit, weil er ihn gewollt hat. Hätte jener ihn nicht gewollt und getan, so wäre er nicht vonstatten gegangen. Ebenso im inneren Wollen: Hätte ich nicht willkürlich meine Gedanken auf die und die Tatsachen gelenkt, so wäre mir das und jenes nicht eingefallen, der neue Gedanke wäre nicht eingetreten usw. So wie die Einwirkungen der Dinge auf den Leib physikalische Folgen haben, an die sich wieder psychische Folgen knüpfen, Empfindungen etc., so hat der Wille physikalische und dann weiter leibliche und außerleibliche Folgen; auch geistige Folgen in anderen: Ich will den anderen so und so bestimmen, ich fordere es von ihm, und sein Denken und Handeln ist meine Einwirkung, meine Tat, obschon mittelbar. Dass wir in Wechselverkehr miteinander sind und in beständigen geistigen Kausationen, ist so zweifellos, wie dass die Dinge aufeinander Wirkung üben. Mag sein, dass, wenn ich spreche und sprechend wirke, wenn ich von einem Autor Wirkungen erfahre, dass da Physikalisches auch seine Rolle spielt. Ich spreche,
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der andere hört mich und versteht mich und wird als solcher von mir aufgefasst, und in sein mir in der Einfühlungsweise vor „Augen“ stehendes Seelenleben wirke ich hinein. Es geschieht darin infolge meines Willens, was sonst darin nicht geschehen wäre. Das vollzieht 5 sich im Wechselverkehr, wobei eben dieselben Dinge und Vorgänge, die mir erscheinen (z. B. mein Sprechen), auch dem anderen erscheinen, und dass hdasi Erscheinen in Kausalzusammenhang steht mit hdemi Nervensystem, ist eine Sache für sich. Zunächst ist das Wirken hier eine Sache wie das Wirken der Dinge untereinander in der 10 erscheinenden Dinglichkeit. Dann freilich kommt die Erforschung der tieferen Zusammenhänge, also Erscheinungen in Zusammenhang mit Nervensystem und Sinnesorganen, vielleicht das ganze psychische Leben in parallelen Zusammenhängen.
V. NATURKAUSALITÄT UND WILLENSKAUSALITÄT. ZUR ANALYSE DER PRIMÄREN SCHÖPFERISCHEN HANDLUNG1
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Der Wille bewegt die Hand: Ich will die Hand ausstrecken und das Objekt Tintenfass ergreifen; ich will eine Wirkung in der äußeren Natur ausüben: a) Handbewegung etc.; b) die durch die Hand als Ding bewirkte physische Veränderung in der Natur mit ihren natürlichen weiteren Folgen. Handbewegung: 1) Die Hand als Na t uro bj e k t erscheinend: Sie wird gesehen und verändert bei Änderung der kinästhetischen Umstände ihre Erscheinungsweise. Sie wird getastet etc. E rst e Gru p p e: die Gruppe „Dinghand“. 2) Die Hand als Leibesglied – eine mitverflochtene Gruppe von neuen Erlebnissen. Die sich bewegende Hand „hat“ Druck- und Zugempfindungen, Wärmeempfindungen etc., die eine fremde Hand, eine Hand als bloßes Naturobjekt, nicht zeigt. Zweit e G rup p e. Indem das fiat statthat, das „Ich will“, findet der Ablauf innerhalb beider Gruppen statt, und beide gehören zum Sinn der Erfüllung des Wollens. Und zwar findet jeweils je nach „meiner Stellung“ ein bestimmter Ablauf aus beiden Gruppen statt, je nach meiner Stellung in der Umgebung, je nach Art der mich umgebenden Objektwelt etc. (Es ist allerdings zu fragen, ob nicht noch anderes zum Willensablauf gehört.) Ist ein Wille denkbar, der eine Hand bewegt, ohne diesen bestimmten doppelten Zusammenhang, wobei die Bestimmtheit sich auf zwei Linien von miteinander verflochtenen Phänomenen bezieht? (Nicht jede in der Hand „lokalisierte“ Empfindung gehört natürlich in gleich wesentlicher Weise hierher, z. B. nicht die Wärmeempfindungen oder Kälteempfindungen gehören in gleicher Wesentlichkeit hierher wie die „Bewegungsempfindungen“, die Empfindung der Anspannung der Muskeln und Gelenke etc.) Und wenn die Hand
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Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 59 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_5
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etwas wirken soll auf andere Objekte der Natur (oder der Wille durch sie), so wird im Allgemeinen die Hand noch weitere subjektiv lokalisierte Empfindungen erlangen müssen: das Fassen des Steines, der geworfen werden soll, das Schieben oder Stoßen etc. Doch könnte sie ja, denkbar wäre es, „magnetisch“ sein und Abstoßung üben oder besser, um Fiktionen zu vermeiden, elektrisch sein und dann elektrische Wirkungen üben, ohne dass sie dergleichen selbst „spüren“ müsste. „Was ich will, muss ich auch können, bzw. ich kann nicht wollen, wenn ich nicht sicher bin, oder mehr oder minder fest überzeugt bin, dass ich es kann.“ Ich überlege: Kann ich das? Ich stelle mir das fiat nicht mit dem Enderfolg, sondern mit dem Willensablauf vor. Dieser muss nicht gerade vollkommen anschaulich vorgestellt sein, es kann sein, dass ich hihni mir bloß vage, symbolisch vorstelle und sofort sicher bin. Klarheit habe ich in klarer Vorstellung. Aber bloße Vorstellung tut es nicht. Was heißt hier Vorstellung? Ich stelle mir vor, dass ich einen großen Baum anfasse und hebe, dass ich es „kann“. Oder auch, ich bin gelähmt und stelle mir vor, dass ich meine Hand bewegen kann. Ich stelle dabei vor, dass ich sie bewege. Aber nicht bloß das. Ich versetze mich hinein, denke mir, nehme an, dass ich will, dass es sei! Und unter dieser Annahme glaube ich auch, dass es eintreten muss oder wahrscheinlich eintreten würde.1 Ich nehme an, ich setze hypothetisch nicht einen beliebigen Willen, sondern „meinen“ Willen. Ich denke mir, dass ich wollte, und sehe dann, dass es geschehen würde als mein Gewolltes, und so sage ich: Ich vermag das. Das gehört also auch wesentlich dazu. Wie steht es nun mit der Kausat ion? Setzen wir als bekannt und gesichert voraus, dass in der physischen Natur geschlossene Naturkausalität herrscht. Jede physische Veränderung fordert eine physische Ursache. Also auch die physische Arbeitsleistung der Hand, die Bewegung der Hand als physisches Ding,
1 Intuitiv: Ich versetze mich annehmend in den fiat-Willen hinein, und die Handlung fließt ab, „notwendig“, nämlich motiviert. Dabei erstreckt sich dies auf die mittelbare ebenso wie hauf diei unmittelbare Handlung. Was der Stoß der Hand weiter wirkt und was der gewollte Erfolg ist, das fließt eben auch ab. Der Wille geht über in die unmittelbare Handlung, breitet sich in ihr aus, und diese Erscheinung geht über in der Einheit der empirischen Motivation in den weiteren Erfolg.
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hat ihre physischen Ursachen. Infolge des Willens tritt sie ein: Tritt der Wille auf in meinem Bewusstsein, will ich, so erfolgt die Bewegung der Hand. Die Erfahrung lehrt, dass ihre physischen Ursachen in meinem Leib, zuletzt im Zentralnervensystem liegen. Und zwar müssen da, müssen in der Natur, ausreichende Ursachen liegen. Also der W ille w ir kt nic ht i m Si nn ei ner physischen Ursache. Wie ist nun aber die unzweifelhafte „Kausation“, Bewirkung des Willens, zu verstehen? Was die phys is che Kaus ati on anlangt, so handelt es sich da um Naturobjekte (Objekte der Naturwissenschaft) und Naturvorgänge. Wann immer ein Naturobjekt sich verändert, wann immer in der Natur (in der einen allumfassenden) eine Veränderung statthat, so weist diese auf andere vorgängige Veränderungen zurück nach Naturgesetzen. Die Natur ist auch hinsichtlich aller Veränderungen eine Einheit, sie übt Selbsterhaltung, sie ist die alte in jeder neuen Form, alles Neue liegt nach Gesetzen fest beschlossen im Alten. Die Natur mit ihren naturwissenschaftlichen Dingen konstituiert sich aufgrund der Erscheinungsdinge und Erscheinungsvorgänge durch logisch naturwissenschaftliche Bestimmung. In der Wahrnehmung und gemeinen Erfahrung erscheinen uns und werden von uns als Gegenstände der gemeinen Erfahrungsurteile erfahren die Erscheinungsdinge, die sich als Einheiten von Erscheinungsmannigfaltigkeiten konstituieren. Diese Dinge bewegen und verändern sich erscheinungsmäßig, und unter gegebenen Erscheinungsumständen motiviert die Wahrnehmung der Veränderung des einen hdie Wahrnehmungi gewisser weiterer Veränderungen an ihm oder an anderen, und dem entspricht ein objektives Verhältnis der Notwendigkeit bzw. der notwendigen Folge. Tritt α ein, so „muss“ β eintreten. Wir erwarten β, weil α eingetreten ist. Ein Stoß gegen das Glas mit dem Stein, es muss zerbrechen. Das Rollen des Glases über die Tischplatte – es muss fallen. Durch animistische Einfühlung legen wir hier ein willentliches Wirken unter. Der Stein tut etwas, er handelt, er tut zerbrechen. Wir unterlegen die Willenskausalität nicht der naturwissenschaftlichen Kausalität, die eine exakte Gesetzlichkeit im Zusammenhang aller dinglichen Veränderungen besagt, und zwar der mathematisch-mechanischen, die den erscheinenden Veränderungen unterlegt werden – denn von all dem wissen wir außerhalb der Naturwissenschaft und vor allem in der Sphäre bloßer Erschei-
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nung und natürlicher Erfahrung nichts –, sondern wir unterlegen die Willenskausalität den erscheinenden Dingen, den erscheinenden Vorgängen, den erscheinenden Abhängigkeiten, notwendigen Folgen. So wie sich erscheinende Merkmale zu den naturwissenschaftlichen Bestimmtheiten des Naturobjekts verhalten, erscheinende Relationen der Dinge zu ihren „wirklichen“ Relationen nach Raum und Zeit, so auch erscheinende Abhängigkeiten zu den naturwissenschaftlichen Abhängigkeiten: also empirisch erscheinende Folge zu der naturgesetzlichen Folge. Die erscheinende Farbe „Anzeichen“ für Ätherschwingung (die „wirkliche“ Farbe des Objekts, die keine Farbe ist), die erscheinende Ausdehnung für die objektive, nach Maß und Zahl bestimmte etc. So bei „Folge“. Dabei hier und dort öfter bloßer Schein. Die erscheinende Farbe ist oft bloß subjektiver Schein, vielleicht sind meine Augen krank, vielleicht habe ich eine farbige Brille auf etc., ebenso die erscheinende Form, Lage etc., auch „Kausation“. Das brauchen wir hier nicht weiter zu verfolgen. Wie steht es nun mit dem wi l l entl i chen Wirken? Ist es auch bloße Erscheinung und eventuell bloßer Schein? Zunächst könnte man sagen: Jede Erscheinung (Wahrnehmungserscheinung) hat ihr Recht, aber freilich kann sie durch andere Erscheinungen widerlegt werden und insofern kann das Erscheinende bloßer Schein sein. Aber freilich: Gehe ich dem wissenschaftlich nach, so komme ich zur naturwissenschaftlichen Bestimmung und zur ergänzenden Psychologie. Innerhalb der Naturwissenschaft habe ich exakten Raum, objektive Zeit, mechanische Vorgänge, Energie, mechanische Kausalität; innerhalb der Psychologie ergänzende Abhängigkeiten, an die und die Nervenvorgänge knüpfen sich Farbe, Ton etc. als Empfindungen. Freilich bleibt da immer eine Schwierigkeit. Naturwissenschaftlichexakt (physikalisch) ist das Nervensystem ein mechanisch exaktes System. Jedes Atom darin und jeder physikalische Zustand ist von Moment zu Moment in der absoluten Zeit bestimmt. Daran knüpft sich das Psychische. Wie soll ein exakt nicht Fassbares in eindeutiger Beziehung zum exakt Bestimmten sein? Soll man sagen, das Entscheidende ist die Form? Ein gewisser Strom naturwissenschaftlichen Werdens (mechanischen) erhält im „Stoffwechsel“ und beständigen Energieumsatz seine bestimmte „Form“ und daran knüpft sich, an die oder jene Teilform, die und die Empfindung, Wahrnehmung etc. Aber solange das Ganze rein physikalisch bestimmt ist, ist jede Form
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und Teilform wieder physikalisch auszudrücken und ist wieder etwas Exaktes. Das Psychische ist aber nichts Exaktes. Die Form muss also allgemeiner gefasst werden, derart, dass sie ihre Exaktheit verliert. Die mathematische Funktion ist auch ein Allgemeines, das eine Form, etwas Morphologisches, darstellt, und trotz der Exaktheit. Bleiben die Konstanten unbestimmt, so haben wir ein Allgemeines der Form, das eine Festigkeit begrifflicher Bestimmung hat – und in dieser Hinsicht eine Exaktheit –, aber an Bestimmtheit verliert. So könnte es auch hier sein. Die Exaktheit braucht nicht verloren zu gehen, oder nur in dem Sinn, dass die volle Bestimmtheit verloren geht. Es kommt nicht auf die absolute Zahl der Atome an, auf die absolute Größe der Energien etc. Aber die gesamte morphologische Form, ausdrückbar in einem Zusammenhang mathematischer Funktionen mit unbestimmten Konstanten etc., bleibt erhalten. Und daran knüpft sich das Psychische. Aber reicht das wieder hin? Die Grade der Helligkeit, der Intensität, die Abstufungen der Qualitäten etc., all das ist dann nur seiner morphologisch-psychologischen Form nach bestimmt, etwa die und die nervösen Umstände von der und der Form bestimmten einen Helligkeitswechsel, eine Helligkeitszunahme, ein Schwanken der Qualität, ein Ansteigen von weißlichem Rot zu reinem Rot etc., aber nicht in absoluter Bestimmtheit. Denn wie sollte sie ihre psychophysische Begründung erfahren? Wie kann das begrifflich Feste ein Fließendes exakt zugeordnet erhalten? Andererseits ermöglicht die Zuordnung der morphologisch-physikalischen Form zu dem psychischen Leben nach den Gattungen und Arten seiner vagen fließenden Momente und Formen eine Wissenschaft vom Psychischen. Die Vagheit und das Fließende des psychischen Gehalts hindert nicht das Sich-Konstituieren der Dinge, das Erkennen desselben Dinges im Wechsel seiner Bewegungen und Veränderungen, es hindert nicht das Sich-Konstituieren von Ich und Nicht-Ich, von Nervensystemen etc. Und nun die Erkenntnis: Unter den Umständen muss Farbe empfunden werden, unter den Umständen wird Zeit so und so überschätzt, werden Größen für gleich gehalten etc. Es liegen Regelmäßigkeiten vor und Allgemeinheiten, die sich durch die vagen Begriffe ausdrücken, aber immerhin ihre begriffliche Umgrenzung haben, mag diese eben auch nur eine vage sein. In der Natur ist die Sphäre der Exaktheit: Die Natur ist ein ideales Konstruktionsgebilde, und hier ist die Idealisierung logisch ge-
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fordert und möglich. Je genauer die Instrumente, umso besser stimmt es, oder neue Konstruktionen sind möglich, die Einstimmigkeit und feste Bestimmung innerhalb der Grenzen der Beobachtungsfehler ermöglichen (freilich ein ideales Beobachtungssubjekt wieder vorausgesetzt). Exakt bestimmen kann man physikalische Tatsachen, nicht aber psychologische. Man kann sie eben nicht wiegen und messen. Alle Mathematisierung führt in die Transzendenz. Will man aber das Phänomen selbst ausdrücken und darüber wissenschaftliche Aussagen machen, so kann man nicht Mathematisierung fordern und anstreben, da sie eben dem Fließenden, das man hat und behalten will, ein anderes substruieren würde. (Natürlich ist auf Fundierungsverhältnisse Rücksicht zu nehmen. Die Wesensgesetze bilden eine feste Form, an die alles gebunden ist. Wofür notwendige Fundierung aufkommt, dafür bedarf es keines besonderen psychophysischen Substrats.) Was vom „Psychischen“ überhaupt gilt, gilt auch vom Willen. Also er ist in der angegebenen Weise funktional abhängig vom Gebilde des Nervensystems. Wie wirkt er nun? Wir wissen dabei, der Wille ist kein Naturobjekt und kein Naturvorgang, also übt er nicht Kausalität im Sinne der Naturkausalität. Ich will, ich handle z. B. meine Hand bewegend. Infolge meines Wollens bewegt sich die Hand. Ein fiat leitet ein, gerichtet auf die Handbewegung, die aber eine tätige ist und als solche in jeder Phase Wollen ist: realisierendes Wollen. Das „infolge“ bezieht sich also nicht auf das Wollen der Phase. Die Bewegungsphase als Handlungsphase ist ausführendes Wollen infolge des einleitenden Wollens. Jedenfalls, dieses „infolge“ ist etwas ganz anderes als das „infolge“ beim Nervensystem. (Und das zugehörige Funktional-Psychische ist natürlich auch kein Kausiertes im naturwissenschaftlichen Sinn, und nicht einmal eine zeitliche Folge liegt hier vor, sei es auch eine notwendige zeitliche Folge: Das Nervensystem bewirkt nichts im Psychischen und hat darin keine notwendigen Konsequenzen. Es gehört nur zu seinem „Zustand“ ein psychischer Zustand.) Das „infolge“ beim Willen, das Tun, Handeln im Willen und als „Erfolg“ des fiat, ist ein Wahrnehmbares, und zwar ich sehe, dass sich nicht nur überhaupt die Hand bewegt, sondern dass es Handlung ist, dass sie sich „d urch“ meinen Willen bewegt. Kausation nehme ich nicht wahr, freilich aber das Geschehen in der
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Erscheinung. W eil etwas anderes geschieht, nehme ich auch wahr: Es erscheint. Freilich, inwiefern man hier von „Wahrnehmen“ und „Erscheinen“ in demselben Sinn wie bei Dingen und Vorgängen sprechen kann, ist Sache näherer Untersuchung. Es kann sein, dass die Bewegung der Hand Schein ist, Halluzination. Das ändert nichts daran, dass sie Handlung ist, dass sie erscheinungsmäßig sich bewegt, weil ich will. Zum Beispiel im Fieberdelirium: Ich will das und das, und ich tue es vermeintlich. Aber da ist es klar, dass in der Willenskausation nichts von „notwendiger Folge“ liegt. Ich will, und es geschieht doch nichts. Meine Hand ist vielleicht gelähmt. Ein Gesetz verbindet nicht das „Ich will“ mit der Handbewegung, sei es auch als Handelnder.1 Und natürlich ist auch in der Handlung keine Phase notwendiger Grund für die folgenden (die Hand könnte während der Bewegung Lähmung erfahren). Überall steckt trotzdem das „infolge“. Phänomenologisch sagen kann man noch dies: Die Phase mit ihrem „infolge“ ist undenkbar ohne vorangegangenen Willen zum Ziel. Das Eintreten des A im Sinne des Willens (dieses eigentümlich phänomenologischen Charakters) ist undenkbar ohne wirklich vorangegangenen Willen (Erinnerung); aber freilich nützt das hier nichts. Ich glaube, dass, wenn ich will, geschieht, was ich will, so wie ich glaube, dass, wenn der Stein gegen das Fenster fliegt etc. Freilich vollziehe ich normalerweise keine theoretische Erwägung, hier so wenig wie dort. Fragen könnte man: Ist nicht jeder volle, eigentliche Wille schon eine Handlung? Und führt die entsprechende volle, eigentliche Vorstellung die Evidenz der Ausführbarkeit mit sich? Die Ausführung tritt einfach infolge des Willens ein, notwendig, wenn nicht Hemmungen gegenübertreten, Widerstände, und das sind selbst Willensphänomene (in der unmittelbaren Sphäre). Der Wille wirkt, oder wirkend erfährt er Widerstände, Hemmungen. Frei wirkend erzeugt er, schafft er. Dinge wirken eigentlich nicht, Dinge erfahren im eigentlichen Sinn keine Hemmungen. Sie stehen einfach unter Gesetzen. (Freilich in der intuitiven Sphäre: Wenn „infolge“ eines dinglichen Vorgangs ein anderer eintritt, so verläuft alles „frei“; 1
Der Wille geht auf die Bewegung des Leibgliedes, nicht auf seine Erscheinung. Ob ich den Kopf so oder so halte, Augen offen oder geschlossen habe, der Wille ist genau der gleiche (phänomenologisch), aber die Erscheinungen sind immer wieder andere.
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wenn trotz der Motivation es nicht eintritt, so haben wir ein genaues Analogon der „Hemmung“, das aufgehobene „infolge“, Stauung, Störung des freien Abflusses der motivierten Erwartung.)
VI. PASSIVITÄT UND SPONTANEITÄT IM DOXISCHEN GEBIET UND IM WILLENSGEBIET1
h§ 1. Wollen, Trieb, Tendenz, ichliche Zuwendung und die Parallelen im Urteilsgebieti 5
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Tendenz vom Zeichen auf das Bezeichnete (Zeichenbewusstsein – Bedeutungsbewusstsein). Tendenz vom Anzeichen auf das Angezeigte, von dem, was an etwas erinnert, an das, woran es erinnert. Freies Abfließen von Tendenzen. Hemmung von Tendenzen. Spannungscharaktere. Al l e s ohn e Mi t be te i l i g un g d e s Ic h. Das Ich - St re be n. Die in der Objektsphäre auftretenden Tendenzen und Gegentendenzen bestimmend für das Ich: Das Ich folgt ihnen oder widersteht ihnen. Ich folge der Tendenz auf das Bezeichnete oder folge nicht. Das Zeichen „reizt“ mich für sich und nicht das Bezeichnete. Reize bezogen auf das Ich, bestimmend ein Zuwenden des Ich. Verschiedenartigkeit der Zuwendungen: Verhältnis zwischen Ich und Objekt, das da mich reizt. Verhältnis zwischen Ich und Akt, den ich „vollziehe“. Zuwendung als Zuwendung im Vorstellen, Vorstellen der Phantasie, Wahrnehmen, Erinnern. Zuwendung als Zuwendung im Urteilen. Das Ich wendet sich Vorgestelltem zu und verhält sich glaubend (anerkennend), verneinend, vermutend, prädizierend (begreifend). Ich habe Gefallen und Missfallen, ich wünsche, ich begehre, ich will oder ich strebe.2 1
Wohl Juli 1914. – Anm. der Hrsg. Im Hintergrund: ein Widerstreit. Ich werde aufmerksam: Die Unstimmigkeit tritt in den Vordergrund, ich vollziehe das Unstimmigkeitsbewusstsein, gehe in die eine und andere Auffassung und vollziehe die Anmutungen für die eine und andere. – Ich berücksichtige eben immer das „Unbewusste“ gegenüber dem „Bewussten“, die Hintergründe gegenüber den Vollzügen, durch die verschiedene Stufen von Vordergründen sind. 2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 67 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_6
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Ich achte schon auf ein indirekt gesehenes Objekt, und es „reizt mich zur Fixation“, zum direkten „Ansehen“,1 und ich folge dem Reiz „unwillkürlich“, ich lasse mich einfach ziehen. Oder ich spüre den Zug, aber ich sage „Nein, ich will nicht“. Ich fasse den Vorsatz zu widerstehen, eventuell tritt trotzdem das Hinsehen ein. Ich konnte nicht widerstehen. Oder ich fasse nach einer Weile den Vorsatz: Nun will ich hingehen, ich will dem Zug folgen. Ich nehme mir vor, ich vollziehe die Willensthesis, ich tue. Nun kann „die Tendenz wirksam werden“. Aber nicht bloß das: Ich vollziehe einen Willen, das Wirksamwerden ist gemäß dem Willen. Kann ein Wollen auftreten ohne Streben? Wenn ein Wollen sich gegen ein Streben entscheidet, ist dann ein anderes Streben da, ein Gegenstreben? Streben: Das Objekt übt den Reiz, den Zug. Das Ich folgt „blind“. Einsatzpunkt des Folgens. Der Quellpunkt im Ich. Das strebende Tun. Passivität des Strebens und strebenden Tuns. W ahr nehmen. Pas si vi tät des Wahrnehmens. Ich sehe hin, ich betrachte, ich durchlaufe. Spontaneität des Identifizierens, Unterscheidens, Vergleichens, des Zusammennehmens in eigentlicher Kollektion, des Bejahens, des Verneinens, des Als-Subjekt-Setzens-unddaraufhin-ein-Prädikat-Setzens, des Voraussetzens-und-daraufhineine-Folge-Setzens usw. Sekundäre Pas si vi tät. Das Wiederkehren von Urteilen in der Verworrenheit. Eventuell das Kommen von „Gedanken“, die sofort, etwa während einer Diskussion, übernommen werden, so etwa wie eine Erinnerung hingenommen wird oder eine Wahrnehmung. Tr iebmäßi ges Ur te i l en. Der Urteilsneigung (der Anmutung) nachgeben, bei „hinreichender Stärke“. Das unfreie Urteilen. Das Willkürlich-sich-des-Urteils-Enthalten. Freilich, willkürlich kann ich nicht Beliebiges bejahen oder verneinen, aber willkürlich kann ich dem Urteilstrieb widerstreben oder ihm nachgeben. Wo keine spezifische Urteilsneigung oder Gegenneigung hda isti, kann ich nicht bejahen oder verneinen. Ist das nachgebende Urteilen nicht ein Urteilen, ein Glauben? Oder ist nicht zu scheiden zwischen Glauben
1 a) Ich werde aufmerksam. b) Nachdem ich schon bei ihm bin, reizt es mich zur Fixation.
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(und selbst prädikativem Glauben) und dem Sich-auf-„Gründe“-hin„frei-Entscheiden“? Ist das aber eine grundwesentlich neue Aktart? W ie is t das Wol le n auf das Trei ben bezogen? Ich kann einem Trieb widerstehen. Ich kann statt mit der Neigung gegen sie wollen. W ollen aus Nei gung – Wol l en aus Pflicht. Ich will das Zimmer verlassen, weil es kalt ist. Neigung, im Zimmer zu verbleiben, es ziehen mich die schönen Bilder an etc. Es ist „aber“ kalt. Die Kälte könnte eine Erkältung zur Folge haben, diese fürchte ich. Neigung, das Zimmer zu verlassen. Ich will das Zimmer verlassen. Kampf der beiden Neigungen. Überwiegende Lust und Neigung zu bleiben. Ich gebe nach, und die andere Neigung ist noch da, noch in Spannung.1 Ich will bleiben, ich entscheide mich dafür in Erkenntnis des hohen Wertes etc. Ich streiche willentlich die andere Neigung durch. Ich könnte sagen: Die Willensanmutung für diese Seite wird „außer Wirksamkeit“ gesetzt, sie wird durch Ablehnung „aufgehoben“. Ich unterscheide also: 1) den Fall, wo ich einer Neigung nachgebe, ohne mich in ihrem Sinn wollend zu entscheiden, bzw. im Streit mehrerer Neigungen einer nachzugeben, ohne im Willen die Gegenneigung „aufzuheben“, durchzustreichen; 2) den Gegenfall: Ich will, ich nehme frei und entschieden Stellung – und nehme Gegenstellung. Das eine steht als praktisch gesollt da, das andere als nicht gesollt. (Obschon hesi nicht beurteilt histi als richtig; hes isti nicht das Urteilsbewusstsein „Das ist das praktisch Richtige“, sondern das Wollensbewusstsein, in dem das Gewollte als praktisch Zugestimmtes und somit vermeintlich praktisch Seinsollendes dasteht.) (Wenn das korrekt ist?) W as is t di e Par all el e i n der U rtei l ssphäre? – Ich lasse mich im Glauben treiben. Was ist die höhere Stufe? Ich dringe urteilend tiefer ein. Ich urteile frei aus Gründen. Ich vollziehe Urteile der
1 Hier ist nur auf Folgendes nicht Rücksicht genommen: 1) Es kann sein, dass ich mit dem Willen für eine Neigung Entscheidung treffe und die Gegenneigung durchstreiche. 2) Es kann sein, dass ich das Letztere nicht tue. Aber nun ist es wichtig zu ergänzen: Ist dann nicht das Entscheiden für die eine Neigung „eo ipso“ Entscheiden gegen die andere, heini sie Durchstreichen? Das heißt, sie ist vernunftgemäß durchstrichen. Und ist sie nicht ohne aktuelle Durchstreichung schon betroffen, schon außer Aktion, ohne dass es einer eigenen Durchstreichung bedürfte? Da ist eine Frage. Ist eigene Durchstreichung nötig, gut, um den Zug aufzuheben?
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Vernunftstufe. Eventuell lasse ich mich von Urteilstendenzen treiben (bzw. von Reizen, „Ursachen“), denen andere Tendenzen gegenüberstehen, die ich nicht „zu Wort kommen“ lasse, die nur eben „schwächer“ sind. Ich lasse eigentlich „nichts zu Wort kommen“, ich prüfe nichts etc. Ich folge dem Zug des Stärkeren – getrieben. Aber ich glaube, wenn auch mit schlechtem Gewissen wegen der Gegentendenzen, die fortwährend nach der anderen Seite ziehen. Nun kann dazu auch gehören: das „Entschieden-Partei-Ergreifen“ und das „Entschieden-Gegenpartei-Ergreifen“, z. B. in politischem Streit. Ich ergreife Partei für eine Parteiphrase, „ich übertöne die Stimme der Vernunft“, ich höre nicht auf die dunklen Warnungen des logischen Gewissens. Also Glauben überhaupt, aus heterologischen Motiven statt aus logischen, aus echten Glaubensgründen, glaubend blind getrieben sein statt sehend glauben, oder Glauben aus logischen Gründen, einen Vernunftakt des Glaubens vollziehen – keine Passivität, sondern eine Spontaneität, einen Akt der „Freiheit“. Ja, da ist eben die Schwierigkeit. Falsches theoretisches Urteilen ist doch ein freier Akt und nicht bloßes Getriebensein – oder hist esi ein Gemisch? Was ist der Unterschied zwischen bloßem Trieb und theoretischer Stellungnahme? Und hwas isti in der Gemüts- und Willenssphäre das Wollen als Vernunftwollen, das Wollen, das den Sachverhalten, den Werten, den Normen nachgeht und sich „frei“ ihnen gemäß und den blinden Neigungen zum Trotz entscheidet, das nicht bloß triebartiges Tun ist und auch nicht Entscheiden für ein Triebartiges „ohne Vernunft“? Es ist also noch nicht geklärt, was hier für Unterschiede eigentlich vorliegen. Unterschiede der ursprünglichen Rezeptivität in der Glaubenssphäre (die Vorstellung). Unterschiede in der ursprünglichen Passivität in der Willenssphäre (der Trieb und das triebmäßige Tun). In der ersteren Sphäre: die Doxa in der Rezeptivität. Und hdiei Frage, was wir wirklich als ursprüngliche Rezeptivität in Anspruch nehmen dürfen (Empfindung, Wahrnehmung); dann aber, was die Spontaneität, die „geistigen Akte“ (wie Pfände r sagt) fordern. Durchgang durch Fragen? Durchgang durch Inhibieren der „Zustimmung“? Ist hier jeder Akt Zustimmung? Bejahung und Verneinung. Also das Studium des Aufbaus der höheren Akte und Bestimmung ihres Wesens. Ebenso in der Willenssphäre. Das Vertrackte aber ist, dass Tendenzen
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in der Vorstellungssphäre schon eine so große Rolle spielen. Und wie steht Tendenz zu Trieb, dann Trieb zu Wille? Tendenzen des Übergangs von Vorstellung zu Vorstellung, Tendenzen im Abfluss der Vorstellungen von Zeichen zu Bezeichnetem (von Zeichenbewusstsein zu Bedeutungsbewusstsein). Tendenzen in Assoziationsreihen. Al l es vor der Zuwendung. Unterbindung von Tendenzen. Tendenzen, die frei abfließen oder bis zu einem gewissen Grad abfließen, und solche, die Hemmung erfahren. Beispiele; Darstellungen aus der reflektierenden und erhaschenden Reflexion, die zeigen, dass es hier all dergleichen geben kann, dass wir hier Wesenstypen, sei es auch unvollkommen, fixieren können. Hier ist von keinen Reizen die Rede. Aber Reize für die Zuwendung des Ich?! Und können wir da vermeiden, wieder von Tendenz zu sprechen? Aber ein wesentlicher Unterschied: Einmal Tendenz des Über gangs von Vorstellung zu Vorstellung; im Korrelat: ein Verhältnis der vorgestellten Objekte als solcher, eins weckt das andere, weist darauf hin, zieht es ins Bewusstsein etc. Das andere Mal Tendenz der Zuwend ung. Eine Tendenz der Verwandlung der Vorstellung zur attentionalen Modifikation, wodurch sie (das Vorgestellte) aber zum reinen Ich in Beziehung tritt. Das Ich ist dabei nicht Objekt. Aber eine Reflexion ist möglich, die das Ich selbst setzt, aber doch wieder nicht durch eine Erscheinung hindurch erfasst, nicht als so etwas wie einen „Inhalt“ erfasst etc. Also unter dem Gesichtspunkt des Übergangs von Vorstellung zu Vorstellung in der Form des cogito: Das Ich ist zugewendet – das Ich ist nicht zugewendet, ist aufmerksam – nicht aufmerksam. Es fragt sich aber, ob man beides in eins nehmen kann. Hier schon, wenn wir das empirische Ich und das Bewusstsein von ihm nehmen. Es tritt dieses Bewusstsein in eine Beziehung zum anderen Bewusstsein, und zwar in eine eigenartige, nämlich in die: Das Ich ist zugewendet. Schon das ist ziemlich schwierig. Ebenso Willenszuwendung. I s t es r icht ig, das s bei j edem ei gentlichen „ Ich will “ das I ch s elbs t Obj ekt se i n m uss, ei n ei gentliches „ Selbstbew us s ts ein “ vol lz ogen sei n m uss (wi e Pfänder sagt)? Ich will eine Reise machen. Ich bin dabei freilich mitvorgestellt. Ich kann mich darin finden. Aber muss ich mich setzen? Versenken wir uns in einen Willensentschluss: Ich gehe auf die Bahn, ich besteige den Wagen. Ich mache die und die Bewegungen. Ich, das Subjekt,
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vollziehe in der Leibessphäre die und die Vorgänge, dadurch weiter tue ich durch sie das und das. Der Leib ist vorgestellt in gewisser Weise, nämlich die leibliche Aktionssphäre. Aber das Subjekt der Bewegungen usw. ist nicht zum Objekt geworden. Ich brauche nicht mich Menschen zum Objekt zu machen, wie ich andere Menschen zu Objekten mache. Ich kann wollen, so wie ich urteilen kann, ohne das Ich thematisch zu „objektivieren“: Ich tue es aber, wenn ich es aussage, zunächst etwa hesi zu anderen sage (wie ich dann im Verkehr für mich gegenständlich gesetzt bin) oder zu mir selbst sagend. Doch kann ich auch auf das reine Ich reflektieren und es als leeren Identitätspunkt der Akte der Form cogito finden. Ich kann also Pfänder nicht beistimmen in diesem Punkt, obschon er hinsichtlich der zentripetalen und zentrifugalen Strömungen Richtiges gesehen. Das Eigentümliche des Wollens liegt natürlich an der Ich-Hereingezogenheit. Aber zunächst ist das ein Gemeinsames gegenüber allen „Akten“ im prägnanten Sinn. Der geistige „Schlag“ tritt überall in gewisser analoger Weise auf. Ich bejahe, ich verneine, ich liebe, ich hasse, ich hoffe, ich fürchte, ich will, ich will nicht. Ich habe verschiedenerlei „Setzungen“ und „Sätze“. Und überall habe ich Grundthesen und Modalisierungen von Grundthesen. Und die „Materien“ dieser Setzungen? I c h ur teile nic ht, wenn i ch passi v wahrnehme oder eine Doxa in der Weise der Rezeptivität hinnehme. Aber ich stelle die Sachlage „in Frage“, ich lege auseinander, was da gemeint ist, gehe zur Ausweisung über und behandle die ursprüngliche Doxa als eine bloße Zumutung, der ich nun aus Vernunftmotiven (-gründen) zustimme oder gegen die ich Stellung nehme.
h§ 2. Die Bedeutung des Zeithorizontes für die Handlungi Die Tendenz von Vorgestelltem zu Vorgestelltem, von Geurteiltem zu Geurteiltem, von Gefallendem zu Gefallendem, von Gewolltem zu Gewolltem bzw. die korrelativen Zusammenhänge, der Zug von Vorstelligem zu Vorstelligem, von Vorstellen zum Urteilen, zum Werten, und von Werten zu neuem Werten, zum Begehren, und von Begehren 35 zu Wollen etc. Eingehende Beispielsanalysen hsind nötigi. 30
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Ich und hdiei Reize auf das Ich. Das „Unbewusste“ und die von ihm ausgehenden Reize. Schon „Bewusstsein“ und neue Reize. Wie das Ich selbst zum Objekt wird in Akten. Akte, die ein „Selbstbewusstsein“ einschließen. Ist es richtig, dass in jedem eigentlichen „Ich will“ das Ich selbst Objekt werden muss? Streben, Trieb auf ein künftiges Tun gerichtet. „Eigentlicher Wille“ auf ein künftiges Tun gerichtet. Welche Rolle spielt die Gegenwart, das Jetzt, und die Strecke vom Jetztsein bis auf den Anfangspunkt des künftig strebenden Tuns oder willentlichen Handelns? Wie setzt der Trieb ein? Wir müssen doch unterscheiden den triebmäßigen Zug und das Dem-Trieb-„Folge-Leisten“. Wie ist das charakterisiert, insbesondere wenn es sich um ein Künftiges handelt? Gehört dazu ein Einsatzpunkt des „Folgens“, der Punkt der Auslösung, und ein Charakter des Folgens für die Vergegenwärtigung des ganzen künftigen Tuns in seiner Kontinuität? Und wie kann der ganze Prozess dabei aussehen? Zum Beispiel ich bin müde. Der Gedanke einer Erholungsreise, ja auch nur der Gedanke an die Schweiz taucht auf, und schon folge ich. Die Schweiz – eine praktische Anmutung, der ich ohne weiteres nachgebe. Aber scheiden muss ich doch die Anmutung, Zumutung und das Folgen, gewissermaßen Ja-Sagen. Und nun erst taucht in steigernder Klarheit (sagen wir, es sei im Allgemeinen vorgestellt nur das Wort „Schweiz“ oder aber „Enghadini“ etc.) ein Ort oder ein Gebirge auf, dieses als Endpunkt einer „Reise“, wobei dieses Endpunkt-Sein selbst noch unklar vorstellig ist. Es kommt zur Klarheit: Strecke einer Reise dahin, Ankommen von einer Reise, Stück einer Reise selbst, die darin terminiert, dann wieder ein Stück. Endlich Ausgang von dem Hier, aber in einer unbestimmten Zukunft etc. Und das alles hat den Charakter des Ja. Das alles hhati den Charakter: „So soll es werden, so oder so ungefähr mache ich es, tue ich es (in Zukunft)“. Eventuell Unbestimmtheiten, sei es in der Weise der Ausführung, sei es im Zeitpunkt. Aber es ist eine Gesetztheit darin, die sich näher zu bestimmen hat hinsichtlich eben dieser Ausführung etc. Habe ich da nicht zu reden von einem „Vorsatz“, obschon von einem Vorsatz, dem ich triebmäßig, ohne vernünftige Überlegung, ohne Erwägung einfach „nachgebe“ vermöge der ihm zugehörigen „Anmutung“ (der Neigung folgen)? Wie aber, wenn ich nicht dabei bezogen bin auf eine „Zukunft“? Im Tun bin ich zwar in gewisser
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Weise immer auf eine Zukunft bezogen, aber es ist doch ein großer Unterschied zu berücksichtigen: 1) der protentionale Horizont, der sich an das Jetzt anschließt und in ein unbestimmtes Dunkel sich verliert; 2) der repr odukti ve Zukunftshorizont. Der Reiz kann in dem einen oder anderen liegen. Nur in dem ersteren ist ein unmittelbares Zugreifen, ein unmittelbar realisierendes Nachgeben, Folgeleisten möglich. Denn nur in dem ersteren liegt das aktuelle Jetzt und Hier-Jetzt, in dem es „losgehen“ kann. Was wir „Gegenwart“ nennen, das umfasst eigentlich den ganzen ersten Horizont. Wenn wir sagen, ich will künftig etwas tun, wenn ich von der „Zukunft“ schlechthin spreche, so ist das Wort auf einen reproduktiven Horizont bezogen; es ist nicht ein protentional, sondern reproduktiv Bewusstes, also befassend eine reproduktive Gegenwart, ein „Jetzt“ mit einem reproduktiven protentionalen Horizont. Ist nun ein „Vorsatz“ gefasst (ein Wort, das von vornherein bezogen zu sein pflegt auf eine reproduktive Zukunft), so kann nach dem Obigen sehr Verschiedenes klar vorstellig und bestimmt sein: das Ziel und eventuell hdiei Strecken zum Ziel. In jedem Fall gehört aber zum Vorsatz ein Anfang des Vorgesetzten, ein Ende, das Ziel und der verbindende Weg. Der Anfang kann unbestimmt sein und kann entweder selbst in der Zukunft liegen oder im sich stetig verschiebenden protentionalen Horizont. Die Setzung der Zukunft und ihre Vorstellung impliziert intentional die Setzung der Gegenwart und ihres Horizonts, in eigentümlicher, näher zu beschreibender Weise. Intentional befasst also die Setzung des auf die Zukunft gerichteten, vorsätzlichen „Das soll geschehen“ die Setzung eines Anfangs des Geschehens, eventuell im gegenwärtigen Gebiet. Das ist eine intentionale Implikation, nicht eine reale. Ich kann der Meinung nachgehen, die Meinung erfüllen und in der Erfüllung es finden als notwendig mitbeschlossen. Das alles muss näher ausgeführt werden. Also eine Zukunftsthesis setzen, das ist, auf eine künftige Gegenwartsthesis vorweisen, diese implicite setzen. Diese Gegenwartsthesis setzen ist eine Selbstbestimmung für die Zukunft, die den Prozess der künftigen Handlung von Anfang bis Ende inszenieren soll. Außerwesentlich ist es dabei, ob das Subjekt sich selbst als Ich und gar als Menschen-Ich setzt (bzw. vorstellt). Das für die Zukunft gesetzte „Ich werde“ schließt aber nicht aus, dass das „Ich werde“ nicht eintritt.
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Jedes „Ich werde“ kann durchgestrichen werden durch ein künftiges Inhibieren, durch ein Durchstreichen im Willen. Aber auch anders: Evident ist, dass das im Jetzt vollzogene „Ich werde“ = „Ich will künftig in dem betreffenden Jetzt inszenieren die und die Handlung“ 5 einschließt: „Ich werde in demselben Jetzt wollen, ich werde in dem Jetzt der Zukunft das Tun auslösen, und zwar ‚im Sinn‘ des jetzt gefassten Vorsetzens“; und evident ist, dass aber der Prozess vom Jetzt aus so laufen kann, dass die Willensschicht abbricht, fortfällt oder nicht aktuell fungiert. Es kommt dann nicht zum künftigen Wollen, 10 bzw. nicht als Ausführen. Also ein eigentümlicher Bau ist intentional vorgezeichnet für den künftigen Bewusstseinsgang, ein solcher, der zwischen Zukunft und Gegenwart neben der intentionalen Einheit des Zeitbewusstseins auch eine Einheit für das Willensbewusstsein herstellt – und das muss genau beschrieben werden. Wir haben also 15 merkwürdige offene Horizonte als Möglichkeiten, die Willenshorizonte sind, Willensmöglichkeiten darstellen etc.
h§ 3. Ob alles spezifisch Logische aus der Sphäre der Spontaneität stammt. Tendenzen, die vor aller willentlichen Zuwendung des Ich liegeni Das Objekt „lenkt die Aufmerksamkeit auf sich“, es reizt mich zur Zuwendung, dann am Objekt die Farbe, die Gestalt etc. Das schon Erfasste mag mich festhalten, so gut es kann, und so mögen sich die Akte in gewisser Weise decken bzw. ihre Korrelate. Ist es aber nicht ein Neues, dass ich spontan den Gegenstand als Subjekt 25 setze und in synthetischer Einheit setze: Der Gegenstand ist rot, rund etc.? Oder dass ich, zwar zunächst den Reizen folgend, mich dem A und B zuwende, aber „tätig“ A und B als kollektive Einheit setze und nun plural ein Prädikat darauf beziehe? Oder der Gegenstand mutet sich als bekannt an und führt mich in seiner Auffassung zurück 30 auf einen Erinnerungszusammenhang, es deckt sich das jetzige Erscheinungsgegebene mit dem Erinnerten. Aber ist es nicht ein Neues, das „Dies ist ja dasselbe wie hier X!“? Oder „Dies ist rot“, und Rot erfasse ich als identische ideale Einheit, die ich nur in einer originären spontanen Setzung setzen und erfassen kann. Stammt nicht 35 alles spezifisch „Logische“ aus der Sphäre der „Spontaneität“, aus 20
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„freien“ Akten, aus der „Vernunftsphäre“? Schon Lei bniz: Die „Tätigkeit“ am „Klaren und Deutlichen“. Was ist das für eine „Tätigkeit“, „Spontaneität“? Erzeugt das Ich schöpferisch die Menge, den Sachverhalt, die Beziehung, das Attribut, die Idee, das Wesen etc.? Es gibt eine „Rezeptivität“, ein doxisches Verhalten, das hinnimmt, was passiv vorgegeben ist, und im Übernehmen nur zugreift. Deutlicher: Ein Gegenstand drängt sich mir auf, er steht aufgedrängt da, ich bin bei ihm. Das eigentliche Erfassen, Zugreifen, als Gegenstand Setzen ist schon eine Spontaneität. Gegenstände können für mich aber durch Spontaneitäten überhaupt erst konstituiert sein. Es bedarf der Spontaneitäten, damit sie überhaupt gegeben sind und damit ich sie ergreifen und ihrerseits wieder setzen kann. Und dieselben Gegenstände können einmal in Spontaneitäten, das andere Mal in Rezeptivitäten bewusst sein – schon der schlichte sinnliche Gegenstand als aufgedrängter und als gesetzter Gegenstand. Aber noch anders: Ein Sachverhalt als verworren sich aufdrängend und hingenommen in bloßem Zugewendetsein und derselbe Sachverhalt nicht nur erfasst, sondern ursprünglich konstituiert im Vollzug der ihn gebenden (seine Gegebenheit konstituierenden) spontanen Akte. Demgemäß scheide ich die ursprüngliche und s ekundär e Rezepti vi tät. Und die letztere ist die Sphäre der eigentlichen Unvernunft, der verworrenen Vernunftakte, die eventuell, wenn sie expliziert und in die eigentliche Spontaneität übergeführt werden, „explodieren“. Doch bedarf es hier noch der Weiterführung, um die eigentümliche Sphäre der „Erfahrung“ in richtiger Weise zu charakterisieren. Das transzendente Meinen, Anschauen, das sich bestätigen kann, aber auch offen lässt das „Anderssein“: Das sind nicht Vernunftakte, Vernunftprätentionen, aber nach ihnen „richtet“ sich das vernünftige Urteilen. In ihnen gründen Möglichkeiten der Explikation etc., der „logischen Fassung“, und die Wahrheit der Urteile hängt ab von den faktischen Ausweisungen, die sie erfahren, oder auch Abweisungen und von den onthologischeni Gesetzen, welche die Wahrheitslogik der Erfahrungssphäre bestimmen. Doch auch immanente Gegebenheiten erfahren Explikation, sind Substrate für logische Akte etc. Dann wieder die schon logischen Gegebenheiten, endlich die Gegebenheiten niederer Vernunftsphären. (Das Subjekt der Vernunftakte ist das reine Ich. Es vollzieht sie spontan, tätig, und vernünftig verfährt
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es, wo es nicht der „blinden Neigung“ folgt, sondern in seinen Thesen „auf Gründe hin“ urteilt, und zwar sehend bzw. einsehend.) Was besagt hier die Spontaneität? Das „tätige“ Verfahren des vernünftigen Denkens? Zunächst ein Unterschied: Das Ich ist nicht bloß dabei wie in einer puren „Affektion“ (Rezeptivität), es gibt von sich aus sein Votum. Es „denkt“, aus ihm selbst geht die Entscheidung hervor. So in jeder „spontanen“ Stellungnahme, sie ist etwas aus dem Ich Entquellendes. Das ist ein Unterschied, und es gibt vielerlei „Akte“, die in besonderem Sinn Ichakte sind, entquellend aus dem Ich. Es gibt Rezeptivität, es gibt Erlebnisse, die Potenzialitäten von Akten in sich bergen, aber nicht „Akte“ sind, und die ursprüngliche Rezeptivitäten sind, sofern sie nicht sekundäre sind, aus Spontaneitäten, aus Akten entsprungene Rezeptivitäten.1 Bei beiden hat die Rede von Erfüllung einen verschiedenen Sinn. Das ist ein großes und schwieriges Thema. Ferner: Das reine Ich „vollzieht“ den Akt. Akte werden nicht nur überhaupt vollzogen, s ie „ ri chten “ si ch nach etwas; das Ich r ic htet s ic h. Aber da ist ein großer Unterschied. Das Ich lässt s ic h tr eiben, lässt sich bestimmen durch etwas ihm „Fremdes“ oder ein ihm „Eigenes“. Lässt es sich sehend bestimmen, und nur sehend, so ist es durch ein ihm Eigenes (als Korrelat seines Aktes Zugeeignetes) bestimmt; lässt es sich blind bestimmen, so nicht. Aber freilich ist das eine bedenkliche Rede. Sich durch wirklich Gegebenes, wirklich Gesehenes bestimmen lassen: Das vom Ich spontan vollzogene Denken „richtet sich“ in getreuer „Deckung“ nach den gegebenen, gesehenen Sachen. Die Ich-Thesis hat den Charakter der Vernünftigkeit: Sie „v erni m m t“, was die Sache selbst, die gegebene Sache spricht. Gegeben ist die Sache im „Sehen“. Das Sehen ist ein schon aktives Sehen: nicht bloß ein Herankommenlassen, sondern Erfassen, und ein Erfassen, das ein in das wirklich und eigentlich Gesehene Hineinvertiefen und Explizieren ist, wonach sich dann das höhere „Denken“ richtet. Das ist die Freiheit des einsichtigen Denkens. Die Unfreiheit ist eben das Gleichnis der Kettung durch
1 Der Unterschied aber ist schwierig. Es scheint doch, dass wir auf der einen Seite nur auf die Empfindung kommen. Das muss doch noch anders geordnet werden.
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dunkle Bestimmung, durch blinde Neigung. Wenn wir Freiheit in der Willenssphäre schon aufgeklärt hätten, so könnten wir sagen: Das Urteil will gleichsam einsichtig sein, es will den Sachen folgen, der Urteilswille ist ein freier, wenn er das tut. Das ist seine innerste Tendenz. Sonst ist er unfrei, er verfehlt sein Ziel. Am besten lässt man zunächst die Rede von Freiheit und hält sich an die betonten Unterschiede der Stellungnahme, die aus dem Ich hervorgeht und hdiei sich an die Sachen wendet und hani die Vorgegebenheit der Sachen oder die vermeinten Sachen und an den Unterschied des aktiven Sehens und Explizierens und des sich danach richtenden Denkens; und wieder Unterschiede der Vernunft und Unvernunft. Wie steht es da mit der Analogie im Willensgebiet? 1) Vor aller willentlichen Zuwendung des Ich und aller Zuwendung überhaupt haben wir da die Tendenzen, Triebe und haben auch schon ein triebmäßiges Tun. Reize erregen Tendenzen und den Reizen wird nachgegeben, die Tendenzen kommen zur Auslösung. Aber das reine Ich ist nicht dabei, es vollzieht nichts, nicht einmal ein Sehen; also das Analoge ist das im Hintergrund statthabende „Sehen“ oder sich als seiend Anmuten, oder sich herandrängende, aus früherem Urteilen stammende Gedanken, Vermutungen, Urteile etc. Alles ohne Ichvollzüge. 2) Ich wende mich zu, ich folge den Tendenzen, ich gehe mit ihnen und lasse mich treiben. Oder ich sehe ihrem Treiben zu, selbst getrieben. Ich blicke auf den mich anziehenden Namen, ich folge dem Reiz, er weist mich in das Bedeuten hinein, ich folge dem Reiz. Es ist ein Denken, ich folge dem Reiz, das Denken zu vollziehen, ich bin jetzt spontan, ich vollziehe einen Akt, einer Tendenz folgend. Und so kann es von Akt zu Akt weitergehen: Tendenzen führen von den einen zu anderen hin. In den Akten bin ich der Vollziehende. Aber im Fortgang von Akt zu Akt bin ich nicht wollend und handelnd im eigentlichen Sinn, so wenig ich es bin, wenn ich einer ablaufenden Assoziationskette nachgehe, Schritt für Schritt zusehend, was sie bringt. Wollend verhalte ich mich, wenn ich eben nicht passiv nachgebe, sondern aktiv entweder widerstehe oder der treibenden Anmutung mein „freies“ Ja sage, das „Ich will“. Dieses „frei“ sagt ebenso viel wie „Ich will“, das ein Eigenes ist gegenüber hderi Einlösung des
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Triebes. Nun fragt es sich, was für Arten von Willensreizen es gibt, bzw. wonach das Willenssetzen und -ablehnen, das den Akt des Wollens macht, sich „richtet“, und was hier das Analogon des „Sehens“ macht und inwiefern ein wirkliches „Sehen“ dabei heinei Rolle spielt. Was entspricht dem schlichten Erfahren, dem Wahrnehmen, dann dem Erinnern, dem sicheren oder sich anmutenden Erinnern, dem Illusionsbewusstsein etc.? Was den sich verworren aufdrängenden Gedanken, den sich aufdrängenden und unartikulierten Urteilen, Vermutungen etc.? Das Merkwürdige ist, dass man zu sagen geneigt ist: Ich richte mich in der schlichtesten Weise nach Wertgewissheiten, aber nach solchen, die sich auf Nichtseiendes beziehen. Ein Künftiges steht als möglich da und als gewisser Wert. Ich will. Aber das ist ein ganz anderes Sich-Richten. Korrekt war doch in meinen alten Gedanken die Idee vom Vollz iehen der Wahr nehm ungen. Ich erwecke sie zum Leben, wenn ich expliziere, wenn ich „analysiere“. Diese analytische Synthesis löst auf, was verborgene synthetische Synthesis war. Was sich uns als vorgegeben darstellt, ist sekundäre Spontaneität, die eben zu Rezeptivität geworden ist. Das Analogon würde das Beispiel vom Klavierspielen belegen. Das „mechanisierte“ Wollen bzw. das passive Verlaufen von „Handlungen“, die ich aktivieren kann: Ich vollziehe hsiei Schritt für Schritt in Einzelwollungen. Oder ich erneuere den Vorsatz, der auf Einzelheiten gerichtet ist? Das „mechanisch“ nach dem Glas Greifen, „um“ zu trinken, das mechanisch die Zigarette Anzünden, sie zum Mund führen etc. Das weist auf „ursprüngliche Wollungen“ hin. Was sind aber „ursprünglichste Wollungen“? Was liegt voran? Tendenzen, sich „von selbst“ lösend, in tendenziösen Betätigungen verlaufend: Zuwendung des Ich – Eingreifen des Ich; fortschreitend und dabei „bejahend“, hemmend – verneinend. Darauf wird man doch schließlich zurückgeführt.1 Das Dem-Vorgang-Zusehen, das Sich-Einleben des Ich als „Mittun“, als Tuend-dem-Zug-Folgen, das wäre das Aktualisieren, in den lebendigen Akt Verwandeln. Verwebung von primären und sekundären, mitverwobenen Tendenzen. Tendenz zu atmen, aber auch Gegentendenz: Bei stärkerem Atmen empfinde ich
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Psychologische Literatur ansehen: Me u m a n n, E b b i n g h a u s, D ü r r etc., M e s s e r.
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etwa ein schmerzliches Gefühl, ein Widerstreben tritt dem strebenden Fortgehen entgegen. Aktualisierung: Ich will nicht weiter, ich hemme. Bei der Hemmung eine Umkehrung der Tendenz ins „Zurück“, ich will dem folgen. Wir haben eine Sphäre der Tendenz, die eine Sphäre der Passivität ist – eine im Allgemeinen „unbewusste“, eine außerhalb des reinen Ich und seiner ihm entquellenden Akte gelegene –, und eine Sphäre der Ichakte, speziell der Ichwollungen. So weit die Tendenzen reichen und die entsprechenden Verflechtungen positiver und negativer Tendenzen und die Vorkommnisse der Selbstauslösung, Selbstentladung der Tendenzen, so weit reicht die Sphäre möglicher Willensakte. Kann man sagen, dass Tendenzen zu allen Sinnesfeldern und ihren Inhalten hinlaufen und dass die besonders abgehobenen ihre besonderen Tendenzen haben, gerichtet auf Näherbringung etc.? Ich kann doch mir die oder jene Leibesteile etc. vorstellen und willentlich mit ihnen das oder jenes tun. Ich denke mir die Hand erhoben etc. Birgt jede solche Vorstellung schon eine Tendenz dahin und demgemäß einen Willen? Ursprünglich war jede Handbewegung Bewegung im Sinn einer abfließenden, sich auslösenden Tendenz. Sowie ich sie mehr oder minder lebhaft vorstelle, wird auch die Tendenz erregt. Und diese löst sich von selbst aus, wenn ihr nicht durch Gegentendenzen die Waage gehalten wird etc. Es kann aber auch sein, dass ich will, aus Gründen, die nicht in dieser Tendenz selbst liegen. Ich habe eben eine Anmutung, die zusammenhängt mit etwas, was sich an die Vollführung dieser Tendenz knüpft, sei es auch nur, um mein „Ich kann“ zu erweisen. Was freilich seinem Sinn nach zu überlegen wäre. Ich sage also zu der vorgestellten Bewegung ja, nicht in der Vorstellung mir das Ja vorstellend, sondern im Jetzt erwacht eine aktuelle Tendenz auf eine solche Bewegung, und dieser gebe ich entweder nach, wie es oft statthat, wenn ich lebhaft vorstelle, oder ich nehme das als Anmutung und Anreiz für das „Ich will“.
h§ 4.i Trieb als Wille einer tieferen Stufe Determination des Triebes, determinierende Tendenzen, seine Gerichtetheit. Ursprüngliche Leibesbewegungen als Triebbewegungen. 35 Der Trieb setzt voraus dunkle Vorstellungen. In der Erfüllung der
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Triebtendenzen erfüllen sich diese Vorstellungen, sie werden klar und wandeln sich in originär gebende Vorstellungen von demselben. Welche Rolle spielen dabei „Wertungen“? Die Erfüllung zeigt eine „Annehmlichkeit“ des Erfüllenden bzw. eine Abnahme der Unannehmlichkeit im Fall der Erfüllung von negativen Trieben. Das Problem der Intentionalität der ursprünglichen Triebe: Ob es notwendig ist zu sagen, dass die Triebintention Vorstellung und Wertung einschließt, obschon in der Weise „dunkler Intention“. Höhere Stufe: antizipierende Vorstellungen, und das Vorgestellte steht als wertig da, bezogen auf Zukünftiges. Vorsatz. Bejahung (Willensbejahung) oder Verneinung. Dieser geht vorher – oder kann vorhergehen – die Anmutung, der das Ja oder Nein (als das fiat) zugehört. Auch der Trieb kann unerfüllter oder sich auslösender und erfüllender sein. Geht jeder Auslösung nicht voraus eine Strecke „bloßer Intention“? Aber ist das bloße Anmutung? Oder entspricht es (würde es entsprechen) dem Vorsatz? Nein, hier ist Vorsatz und Tun einerlei. Es könnte nur entsprechen dem Anmuten. Anmutung ist ja „Neigung“. Die Ichbeteiligung oder -nichtbeteiligung. Das Zusehen: Der Trieb löst sich aus, z. B. im Essen, Klavierspielen etc. Ich sehe zu. Was liegt da vor? Ich habe vor mir das Notenblatt, ich folge mit den Augen, ich vollziehe die betreffenden Bewegungen. Mit meinen Gedanken bin ich ganz woanders. Nun achte ich auf die Noten und beobachte, sehe zu diesem Hingezogensein von Note zu Note, diesem mechanischen Ablauf der Fingerbewegungen als einem Tun und nicht bloß Geschehen, als einem „dem Zug passiv folgen“. Ein anderes ist das Neue-Willensimpulse-Hineinsenden-und-tätigEingreifen. Das ist eine ganz andere Einstellung. Zum Beispiel, ich folge spielend passiv dem Zug. Es kommt aber ein „Fehler“, nun erwächst ein Neues: Das Missbehagen über diesen Fehler und eine Tendenz auf Korrektur. Ihr folge ich, aber hier lebe ich im Folgen, im Vollziehen des neuen Schrittes, und nun bin ich vielleicht ein Stück mit dem Willen dabei, ich bin aufmerksam, aber nicht bloß zusehend, sondern im Willen erzeugend. Auch hier kann ich zusehen. Aber jetzt sage ich nicht: „Das läuft mechanisch ab“, sondern ich will es; ich „regiere“ es mit meinem Wollen. Auch da habe ich eine Änderung der Einstellung. Ich tue nicht nur, das Geschehen ist nicht nur zentral erzeugt vom Ich aus, sondern vom Ich aus geht zugleich
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ein reflektierender Blick, der das Erzeugen selbst in seinem eigenen Charakter nicht aufhebt. Die Frage ist nun die: Ist das bewusste fiat (der echte Willensimpuls) sozusagen Reaktivierung, und ist die bloße „Auslösung“ eines dunklen Triebes „Modifikation“, die zurückweist auf ein echtes fiat? Obschon natürlich nicht historisch. Es ist die analoge Frage wie bei der vollziehenden Wahrnehmung. Sie ist Reaktivierung einer unvollzogenen, vorgebenden Wahrnehmung. Aber die Hintergrundwahrnehmung ist selbst „Modifikation“ einer vollzogenen Wahrnehmung. Das weist zurück auf Prozesse der ursprünglichen Konstitution, in der die Wahrnehmungsgegebenheit originär erwächst und in denen also erst das ursprünglich wird, was wir Wahrnehmung von einem Ding nennen. So nämlich bei der Dingwahrnehmung. Und damit ist gesagt, dass jede aktuelle Wahrnehmung selbst „zurückweist“ auf Prozesse originärer Konstitution, mit denen solche Wahrnehmung überhaupt erst erwächst. Das ist nun schwer auszudrücken. Originär gebend in gewissem Sinn – und in natürlichem und gutem – ist natürlich jede Dingwahrnehmung. Aber sie hat ja Horizonte der Nichtgegebenheit, und auch nach dem, was sie gibt, gibt sie „einseitig“, und auch darin liegen Verweisungen. Damit hängt zusammen die Beziehung der Wahrnehmung auf Wahrnehmungszusammenhänge. Aber wir haben hier auch Rückweise auf eine originäre Genesis der Wahrnehmung. Wo liegen diese Rückweise? Wir finden sie im Rückblick auf die Zusammenhänge der „Motivation“: Augenbewegungen, „wenn-so“, Empfindungsdata, Stufen der Konstitution etc. Muss man dann nicht sagen: Zum Wesen gewisser Motivationszusammenhänge gehören Einordnungen in „mögliche“ Zusammenhänge nach Reihenordnungen, und zum Wesen des Bewusstseins überhaupt gehört es, dass – wenn frei ablaufende und verfügbare Reihen mit nicht frei ablaufenden Reihen zusammengehen, wie Bewegungsempfindungen mit visuellen Daten – sich notwendig die Wenn-so-Motivation bildet und dann eine Auffassung ursprünglich möglich wird und originär entspringt, derart, wie es die Auffassung der Transzendenz ist (Phantome etc.)? Was so entsprungen ist, weist auf seinen Ursprung zurück. Haben w ir auc h i n der Wi l l enssphäre Analoga und Par allelen? Das Komplizierte ist hier, dass zur Konstitution jedes Wahrnehmungsgegebenen, zum Ursprung der transienten Wahrnehmung und wohl der Wahrnehmung überhaupt (da doch eine ge-
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wisse Einheitskonstitution überall statthat), schon Tendenzen, Triebe, Auslösungen von Trieben (Folge leisten) etc. gehören. Die in der ursprünglichen Bewährung der Wahrnehmung und im Vollzug des Wahrnehmens selbst wirksamen Tendenzen sind Tendenzen wie andere, hsiei können in aktuelle Wollungen verwandelt werden, bzw. sie sind (das wäre für sie die entsprechende Frage) aus originären Wollungen entsprungen, Wollungen einer untersten Stufe. Aber da liegen eben die Probleme. Wie können wir uns ein „U rsprungsbewusstsein“ vorstellen? Und können wir uns es überhaupt vorstellen? Das müssen wir doch, um kl are Wesensm ögl i chkeiten zu gewinnen! Ein Gesichtsfeld etwa und „Augenbewegungen“. Wie sind dies „freie Bewegungen“? Die Probleme der ur sprüngl i chen G enesi s. Ist im Trieb anzuerkennen ein ursprüngliches Wollen? Es gibt ursprünglichen Trieb wie z. B. die Aufmerksamkeit. Ist das als ein Wollen anzusehen? Gibt es einen ursprünglichen Bewegungstrieb? Ursprüngliche Reize dafür, die ursprünglich zugehörige, wenn auch wenig differenzierte Bewegungen auslösen? Haben wir nicht hiermit große Felder ursprünglicher Verhältnisse von Rei z und Auslösung durch Reiz und damit Felder von Triebbetätigungen: einerseits die Sphären der Aufmerksamkeit, der inneren Triebe und Abläufe von Tendenzen, z. B. die gewohnheitsmäßigen Zusammenhänge der Akte und der Reizbarkeit in dieser Hinsicht, andererseits die Bewegungsfelder, die Felder ästhesiologischer Freiheit? So weit die „Erfahrung“ von Triebbetätigungen reicht, von Reizen und ihnen folgenden Betätigungen, so weit reicht eine Sphäre ursprünglicher Wollungen als Bejahungen und Verneinungen; die wol l ende Spontaneität weist, zeigt auf eine Sphäre der prakt is chen Rezepti vität. „Assoziationen“ der Sinnesfelder mit dem ursprünglich konstituierten Feld der Freiheit, dem der „Bewegungen“. Konstitution der Systeme von „Wahrnehmungen“ eines und desselben Gegenstandes als ein Feld der Freiheit: Freiheit der Betrachtung desselben Gegenstandes von verschiedenen Seiten etc. Konstitution des Systems der „Wirkungen“ meines Leibes auf die Dinge. Bewegungen nicht als Adaptionsbetätigungen, sondern als Bewegungen des Drückens und Stoßens, des Hebens, Legens etc., des Ausweichens einem vom Ding ausgehenden „Stoß“ etc. Das Bearbeiten, Gestalten, Teilen,
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Verwenden von Dingen; die Mittelbarkeiten der Wirkungen auf die äußere Natur. Die gegebene Natur und die kultivierte Natur. Die Natur als Feld der Praxis. Die animalische Welt als Feld der Praxis. Konstitution der geistigen Gegenständlichkeiten. Fremde Menschen in der räumlich-zeitlichen Natur. Reiz und Reaktion auf Reize in Bezug auf Nebenmenschen und sonstige Animalien. Das Wollen und Tun als Einwirken auf andere, auf ihre Einwirkungen reagieren, sie bestimmen, an sie Befehle richten, ihnen gehorchen, ihnen Versprechungen geben und Versprechen empfangen etc. Das mechanisierte Wollen, sein Verwandeln in sekundäre Triebe und Auslösungen von Trieben. Das Denken und das Wollen. Das willkürliche Denken, das Denken will ich. Ich will denken, ich will beschreiben, ich will einen Beweis finden etc. Lebt in jedem eigentlichen Denken ein Wollen? Lebt in jedem eigentlichen Werten ein Wollen? Die Intentionalität. Im Denken leben Tendenzen. Nicht alles Denken ist eine willkürliche Tätigkeit. Es kann es nie sein. Das echte Wollen. Vernunft im Wollen bestimmt durch Vernunft im unterliegenden Denken. Wollen, das von Einsicht getragen ist. Einsicht, dass das Wollen richtig ist. Einsicht, dass die den Willen bestimmenden Werte echte Werte sind. Anknüpfung an allgemeine Einsichten und Einsichten in die allgemeine Geltung so gearteter Werte; an allgemeine Willensnormen, unter die das gegebene Wollen sich ordnet und aus denen es letzte Vernünftigkeit und höchsten Wert schöpft. Bewerten des Wollens. Bewerten des Denkens. Bewerten des Bewertens. Denkende Einsicht in die Werte des Wollens und die Normen des Wollens. Theoretische Einsicht in die möglichen Werte überhaupt, die Prinzipien der Werte, die Normen des Wertens. Theoretische Einsicht in die möglichen Einsichten überhaupt, in die Prinzipien der Logik, in die Normen des Denkens. Das Denken, das sich motivieren lässt; das Werten und das Wollen, die sich motivieren lassen. Das Denken auf Gründe hin. Das einsichtige Denken und seine einsichtigen Gründe. Einsichtigkeit der Begründungen. Das Werten auf Gründe hin. Das „einsichtige“ Werten, das einsichtige Wertbegründen. Gehört dazu notwendig theoretische Einsicht? Gehört dazu notwendig ein Denken über Werte? Das Wollen auf Gründe hin. Einsichtiges Wollen, vernünftiges und seiner Vernünftigkeit bewusstes Wollen. Inwiefern setzt das „theoretische“, denkmäßige Klarheit über Werte, Wertprinzipien voraus und theo-
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retische Klarheit über Prinzipien der Willensrichtigkeit? Wie ist bei der nahen Verflechtung aller Akte und Vernunftarten die richtige Beschreibung und die Beschreibung der richtigen Ordnung zu leisten? Haben wir zuoberst zu stellen das Werten? Im wissenschaftlichen Denken: Ich lebe im Denken, ich strebe aber nach Einsicht und Begründung, nach dem einsichtigen „Besitz“ von Wahrheiten, nach ihrer Zueignung. Ich werte also Wahrheit positiv, Falschheit negativ. Ich finde „unvollkommene“ Beweise eben unvollkommen, ich werte also. Die praktische Noetik (Kunstlehre vom Denken und speziell die apriorische Lehre) histi also eingeordnet der Wissenschaft von der apriorischen Praxis überhaupt. Wissenschaften – wann sind sie wertvolle, echte Wissenschaften? Wesensbetrachtung des Denkens und Gedachten, abgesehen von allen Wertfragen und praktischen Fragen. Wesensunterschiede: Klarheit und Unklarheit, Deutlichkeit und Undeutlichkeit. Evidenz und ihre Stufen. Denken und Gedachtes, noematische Strukturen. Intention und Erfüllung. Bedingungen der Möglichkeit der Einsicht. Gesetze für Wahrheit überhaupt und Falschheit überhaupt. Gesetze der Bedeutungsgeltung (der Wahrheit der Sätze), Wesensgesetze der Einsichtigkeit etc. Das Gebiet der W erte. Das Werten ist selbst etwas unter Bewertung Stehendes. Gutes Werten und schlecht Werten. Sich im Werten richtig und unrichtig verhalten. Das ist also lobenswert und tadelnswert als Tätigkeit von Personen. Es ist auch in sich, abgesehen von allen Personen, die sich dabei tätig zeigen, zu bewerten. Ähnlich wie das Denken. Freilich, Denken ist Denken eines Ich, Werten Werten eines Ich. Und so tritt auch das Ich mit ein: Das Ich, sofern es gut wertet, hat damit selbst einen Wert; das Ich, das gut denkt, hat selbst damit einen Wert. Im Übrigen genau dasselbe wie oben bei den Urteilen. Wir können eine Wesenslehre vom Werten und von den Werten bzw. den Wertsätzen, den Wertgegenständen, Wertverhalten entwerfen, allgemeine Gesetze für Werte (Onthologiei der Werte), Formenlehre der Wertsätze, mögliche Gattungen von Werten und Wertverhalten, Ordnungslehre der Werte, höchste und niederste Werte etc. Ebenso das Wertbewusstsein als Wertnehmen, das originäre wertkonstituierende Bewusstsein, höhere Stufen „einsichtigen“ = originär konstituierenden Bewusstseins etc., alles nach Wesensgesetzen.
VII. PRAKTISCHE MÖGLICHKEITEN UND PRAKTISCHER BEREICH. DIE MODI WILLENTLICHEN GESCHEHENS1
h§ 1. Praktische Möglichkeiten als reine und als reale. Die Begrenzung meines Tunkönnens in einem empirischen Möglichkeitsbereich. Das personale Ichliche und der seelische Naturuntergrundi
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Kann man ein „etwas können“, „etwas vermögen“ w a h rn e hmen? Natürlich nicht wie eine Farbe oder wie ein „Ich wünsche“, „Ich urteile“ etc. Aber es ist doch auch ursp r ün g l i ch e rf a h rb a r. Rein ideale Möglichkeiten, reine oder Wesensverträglichkeiten (d. i. heini Einzelfall von eidetischen Verbundenheiten, deren Gesetze die Besonderungen offen lassen, das Nicht-Unmögliche, Zufällige, innerhalb eines Gesetzes der Notwendigkeit) werden wahrgenommen aufgrund einer Phantasie; dass diese Möglichkeit der Phantasierbarkeit gleichsteht, ist leicht zu sehen. Doch eigentlich gehört dazu mehr. Wie steht es mit dem „Ich kann aufstehen, mich wieder setzen, tanzen, Klavier spielen etc.“, „Ich kann den Satz von der Winkelsumme beweisen, ich kann überhaupt Beweise führen, vernünftig nachdenken“ usw.? Phantasiere ich voll anschaulich in reiner Phantasie die Ausführung eines Beweises oder das „Ich spiele Klavier“, „Ich tanze“, „Ich versetze Berge“ usw., so erfasse ich darin reine praktische Möglichkeiten. Es ist möglich, dass ein Ich so tut, und man mag dann dazusetzen: Es ist möglich, dass ein Ich so kann. Aber dann ist hierbei für das faktische Ich nichts Entsprechendes gesagt, nämlich hnicht gesagt,i dass ich, dieses wirkliche Subjekt, diese praktische Möglichkeit habe, dass ich so kann. Warum nicht?
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August 1918, Bernau.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 87 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_7
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Und dazu kann man sagen: Phantasiere ich in reiner Phantasie die Führung eines Beweises, so kann ich sogleich dazu übergehen zu sagen, ich, dieses faktische Ich, kann einen Beweis und diesen Beweis führen. Das „In meiner Phantasie wurde von mir oder irgendjemandem der Beweis geführt“ histi gleichwertig hmiti „Ich habe ihn geführt“. Dagegen nicht, wenn es sich um die Phantasie handelt „Ich versetze Berge“ usw. Im letzteren Beispiel kommt der Unterschied daher, dass ich, der faktisch leiblich-seelische Mensch, bezogen auf die faktische Natur, so gemeint, so apperzipiert bin, dass meine leiblichen Kräfte zu den empirisch bekannten Massen der Natur in bestimmter Proportion stehen. Unter „Bergen“ verstehe ich „gewaltige Massen“, deren Verschiebung, Hebung etc. weit über meine Kräfte gehen. „Anschaulich“ vorstellen kann ich mir zwar in gewisser Weise Kräftesteigerungen, die ich nie wirklich erfahren habe, aber der Ansatz solcher Steigerungen streitet mit der empirischen Apperzeption, in der ich mich als Subjekt dieses faktischen Leibes setze. Einen Beweis führen in der Phantasie: Zum Wesen eines solchen logischen Zusammenhangs gehört die Möglichkeit, Phantasie in Wirklichkeit zu verwandeln. Erwäge ich Möglichkeiten, so habe ich in der Regel unanschaulich oder unvollkommen anschaulich und auch meist oder oft begrifflich allgemein vorgestellte Möglichkeiten – „einen“ Beweis, „ein“ Klavierspielen usw. –, wobei diese Einzelheiten der Allgemeinheiten unanschaulich vorstellig bleiben oder nur partiell anschaulich. Bin ich nicht sicher, ob ich ein Klavierstück spielen kann, so setze ich mich hin und spiele es, und damit „sehe“ ich, dass ich es kann. Es geht, es läuft das Tun ungestört ab. Bleibe ich stecken, mache ich gegen meine Absicht Fehlgriffe, so „kann ich es nicht“ und erfahre so das NichtKönnen. So auch beim Beweis, falls ich, die Möglichkeit ihn zu führen bezweifelnd, ihn nicht in der Phantasie explizit führe, also keine volle Anschauung von ihm habe. Aber man sieht, dass es sich hier um reale Möglichkeiten handelt und dass das Verbleiben in der puren Phantasie ähnliche Möglichkeiten für Reales (Vorstellbarkeiten, dass ein Reales so und so sich verhalte) ergibt wie etwa in der Domäne des physisch Realen. Physisch Reales überhaupt in rein idealer Erwägung, das ist Naturreales im Zusammenhang einer Natur überhaupt. „Ein“ Reales oder dieses Reale im Zusammenhang der gegebenen faktischen Na-
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tur ergibt aber in der Bindung an diese faktische Natur besondere Möglichkeit. Im vorigen Fall ist ja Natur selbst ein Variables, eine Unendlichkeit von Möglichkeiten, während jetzt Natur fixiert ist. Aber freilich fixiert ist sie durch die aktuelle Erfahrung, die ihre offenen und mehr oder minder unbestimmten Horizonte hat und demgemäß „Möglichkeiten“, die nicht freie Möglichkeiten sind, sondern in Erfahrungen verankerte, Erfahrungsthesen enthaltende sind. Der Fortgang aktueller Erfahrung scheidet immer neue Gebiete aus dem Spielraum dieser Möglichkeiten aus, aber unendliche Spielräume bleiben immer, eine absolut abschließende Naturerkenntnis gibt es nicht, für sie gäbe es keine Möglichkeiten. In meiner Erfahrungswelt habe ich bekannte Dinge und Zusammenhänge, obwohl auch diese mit unbekannten Seiten, unbekannten und noch näher zu erkennenden Bestimmungen. Ich habe ferner Systeme von Motivationen, die in das Reich völlig unbekannter Dinge hineinstrahlen, wohin auch gehört, dass ich immerfort die Welt weiter reichen lasse, als ich „sie“ erkenne. Innerhalb des allgemeinen kategorialen Typus Ding und Dingliches hält sich alles Unbekannte, und es muss sich der Einheit einer Dingwelt mit zugehörigen Gesetzen fügen. Innerhalb dieses Rahmens kann ich dann frei fingieren, aber diese Fiktionen mit dem Ansatz der Einordnung in die gegebene Natur und ihren unbekannten Horizont sind solche, für deren Inhalt (abgesehen von der Form „mögliches Ding überhaupt“) nichts spricht; so z. B., dass in der Weenderstraße Nixen schweben, ist real möglich, aber es spricht nichts dafür. Es ist also nicht in dem besonderen Sinn real möglich, der auf dem Untergrund der erweiterten Möglichkeit in der Wahrscheinlichkeitslehre erwogen wird. Jene weite reale Möglichkeit ist dort bloß Untergrund, aus dem wieder ein Gesamtspielraum von solchem abgehoben ist, für dessen Möglichkeiten etwas Positives unter dem allgemeinen Gesichtspunkt A spricht, und darin wieder klassifiziert man und quantifiziert man gleich- und ungleichwertige Möglichkeiten als partiale Spielräume. Das „Ich kann“, d. i. hdasi „Ich kann dieses oder jenes tun“, betrifft in all den gegebenen Beispielen reale Möglichkeiten des Tuns für mich, das reale Subjekt im Zusammenhang seiner „Welt“, in dem Zusammenhang eben, auf den eben diese Realität Ich bezogen ist: Denn Reales ist, was es ist, überhaupt nur in Bezug auf „Umstände“ seines
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Verhaltens. Ich finde mich empirisch abhängig von der „äußeren“ Dingwelt, in besonderer Weise von meinem Leib, dem Vermittler äußerer Einwirkungen, von meinem seelischen Untergrund, meinem Gedächtnis, meinen faktisch gewordenen Assoziationen usw.; dann aber auch von anderen Menschen, von dem geltenden Recht, von der Kirche usw. Ich apperzipiere mich jeweils mit einem offenen Abhängigkeitshorizont, der sich im Fortgang meines Lebens, in dem das Vergangene das Künftige geregelt beeinflusst, immerfort auch wandelt. Ich finde mich abhängig: Das ist nämlich, ich als tätiges (als mögliches tätiges und Willenssubjekt) finde mich abhängig, ich kann nicht alles, mein Tunkönnen ist begrenzt in einem Möglichkeitsbereich, der ein empirischer ist. Demgemäß auch mein Handeln-Können. Das praktische Subjekt hat seine praktischen Vermögen. Mein Erlebnis im Erlebnisstrom ist gebunden, steht unter Regeln. Dass ich gerade dieses Erlebnis habe, diese Erinnerung oder Erwartung, dass ich jetzt gerade so apperzipiere, gerade diesen Phantasieeinfall habe, gerade dieser Wunsch sich regt, gerade dieser Gedanke über mich kommt, das ist geregelte Folge gewisser Umstände. Gehört nicht hierher: Als tätiges Ich bin ich abhängig 1) in dem Sinn, ich bin einerseits motiviert in meinem Tun und Wollen, 2) andererseits, das wollende Tun läuft bald der Absicht gemäß ab, oder es läuft wider die Absicht, es geschieht ein Geschehen, das wider die Willensabsicht ist?1 Mache ich in dieser Hinsicht Erfahrungen, so ergibt das Motivänderungen, Einflüsse auf meine Willensmotive. Ich lerne die Abhängigkeiten des willentlich subjektiven Geschehens von empirischen Verhältnissen kennen und richte mich danach. Es ist Rücksicht zu nehmen auf den allgemeinen Unterschied des im besonderen Sinn Ichlichen als dem vom Ich ausgehenden, ihm entquellenden Subjektiven gegenüber dem, was von selbst abläuft und subjektiv nur ist, sofern es auf das Ich als „Aktsubjekt“ Reiz übt. Das Ich hat seinen subjektiven Untergrund der Natur und darüber hinaus eine Eigenart als Subjekt, einen Charakter. Eventuell hat es
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Für das bloße Tun ähnlich: Es läuft in seinem „intentionalen“ Zusammenhang der durchgehenden intentionalen Tendenz gemäß ab, oder es läuft gegen ein Hindernis an, stockt etc.
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als Vernunftsubjekt einen Vernunftcharakter. Das Subjekt ist Subjekt einer Psyche. Es hat eine psychische Natur; es hat im Psychischen im weitesten Sinn (zu dem es selbst gehört als sein Ichpol) aber auch eine personale Geistigkeit, die den psychischen Untergrund voraussetzt, aber auf ihm eine eigene Einheit ist. Jeder Ichakt erzeugt ein Geschehnis, das in den Bereich des unteren Psychischen eintritt, da den Gesetzen desselben sich unterwirft, nämlich darin so wirkt wie ein in der unteren Sphäre Entsprossenes. Aber im natürlich Psychischen, nach dessen Gesetzen, erwächst nie ein Personales. Das personale Ich ist auf Natur bezogen, aber nicht selbst Natur. Das Ich kann ein Ichverhalten, ein Stellungnehmen, ein Sich-für-und-gegen-etwas-Entscheiden, ein Beziehen, Verknüpfen usw. nur vollziehen, wenn ihm etwas vorgegeben ist, wozu es sich verhält. Das Vorgegebene kann schon ichentsprungen sein, und jedes so Entsprungene ist etwas psychisch Fortdauerndes, aber hes isti in dieser Dauer des nachbleibenden Seins aus dem Ich schon entlassen und nun ihm vorgegeben, für es da als ein es Mitbestimmendes wie als ein im Zeitstrom der Gewordenheiten, der Erlebnisse, naturhaft Fortwirkendes. Es wird so zugeeignet als sekundäre Rezeptivität dem Reich der Rezeptivität überhaupt, dem ursprünglich Sinnlichen und ursprünglich Rezeptiven als dem der außerichlichen seelischen Natur, die wieder innig verflochten ist mit der Natur überhaupt. Denn physische Natur bedeutet ja eine Regel der Rezeptivität für jedes auf sie „bezogene“ Ichsubjekt wie auf jede auf sie bezogene Menschenseele (mag darin das Ich wachend oder schlafend sein). Die menschliche Seele umspannt weitgefasst das gesamte Psychische eines Menschen, die Gesamtinnerlichkeit, das gesamte einem Leib Einfühlbare, das gesamte Subjektive, das ich vorfinden und setzen muss unter Ausschluss aller mir gegebenen äußeren Natur und äußeren Menschlichkeit. Alle Akte sind Tätigkeitsverläufe des personalen, des tätigen Ich (die „lebendigen“, vollzogenen Akte natürlich). Vom Unterschied des passiv tätigen, des fortgezogenen, des nachgebenden (auf Reize im Nachgeben reagierenden) Subjekts und des im höheren Sinn aktiven, des tätigen, frei entscheidenden, souveränen Subjekts haben wir schon gesprochen. Liegt hier das alleinige Gebiet ursprünglichster Freiheit bzw. als Tat, als „Ich tue etc.“ charakterisierter Verlauf? Muss aber der gegliederte Zusammenhang oder die kontinuierliche Einheit des tuenden Geschehens sich nicht empirisch konstituiert
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haben, damit am Anfang eine intentio auf den Fortgang und damit vor dem Anfang aufgrund eines „Reizes“ die Vorstellung eines oder mehrerer möglicher Ichverläufe und Willensbewegung gegen das Ziel hin eintreten kann?1
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h§ 2. Die Frage nach der Freiheit kinästhetischer Verläufe. Das bloß außerwillentliche, sachliche Geschehen gegenüber dem willentlichen Geschehen. Im willentlichen Bereich die Scheidung des willkürlichen vom unwillkürlichen Tuni
Ich durchlaufe eine vorgegebene Reihe mit der Aufmerksamkeit, die Glieder der Reihe nach einzeln betrachtend und erfassend; ich verknüpfe frei zu Kollektionen Gegenstände, die mir in irgendeiner Weise in einem Bewusstseinshorizont vorgegeben sind. Ich beziehe, ich nehme frei a oder b als Subjekt bzw. als Objekt. Ich expliziere etc. 15 Wie steht es mit den freien „Bewegungen“, dem kinästhetischen „ I c h bew ege “, welches in der Raumkonstitution eine so wesentliche Rolle spielt und zugleich apperzipiert wird als „Ich erwirke eine räumliche Bewegung des Dinges (bzw. des Tastorgans) Hand oder des Dinges Auge usw.“? 20 Da könnte gegen meine Ansicht ursprünglich freier kinästhetischer Systeme eingewendet werden: 1) Es ist kein Grund abzusehen, warum kinästhetische Verläufe als Verläufe einer gewissen Sorte von Empfindungsdaten einen besonderen Vorzug darin haben sollten, dass sie, und nur sie, ursprünglich freie sein wollten. Die Eigentüm25 lichkeit, dass sie jederzeit „zu meiner Verfügung“ stehen, dass sie als „Ich bewege“ charakterisiert sind, kann ihnen nicht ursprünglich 10
1 1) Ursprünglich aus dem Ich hervorgehende Zuwendungen, Erfassungen, Festhaltung des einen, Miterfassung eines anderen etc., 2) Vorstellungen in solcher Betätigung erwachsener Gebilde mit den sie konstituierenden Ichwegen: Willensbejahung oder -verneinung. Immer ist zu unterscheiden die Urkonstitution von Tätigkeitsgebilden und dann die von voreilenden Vorstellungen in ähnlichen Fällen. Diese können dann tätig in Vollzug gesetzt werden, das Vorgestellte wird hier zur im Voraus vorgestellten Absicht oder hzumi Ziel, und der Akt ist Wille, er geht durch den Weg zum Ende, eventuell Willensdurchstreichung, Willenszweifel etc.
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zukommen. Aber wie soll das eigentlich statthaben? 2) Etwa so, dass ein in sich als Tun charakterisierter Verlauf empirisch verschmilzt mit einem Verlauf in der Rezeptivität? Aber wie? Oder soll man sagen: An sich kann jede Vorstellung zur Unterlage eines Willens werden; erst die Erfahrung lehrt, was ausführbar ist? Aber das ist verkehrt. Zum Wesen eines Wollens gehört ein Weg, dessen Anfang durch eine schlichte Willenssetzung realisiert ist, z. B. direkthesi Erfassen, Aufmerken, Festhalten im Übergang, Übergang selbst von einem primär Beachteten zu einem sekundär Beachteten. Im kinethischeni Gebiet: Haben wir da eben nicht den Fall, so wie 2) es fordert, dass hdasi, was im Kinästhetischen empfindungsmäßig ist, eben nicht subjektiv, sondern nur assoziiert ist, während das Freie dann eben das spezifisch Gemeinsame aller „Bewegungsempfindungen“ ist? Es wird wohl dabei bleiben: Empfindungen sind ichfremd. Aber in allem Kinästhetischen ist eine Komponente, die ichentsprungen ist. Da bedarf es natürlich tiefer dringender phänomenologischer Analyse. Im Reich des Subjektiven gibt es freie Abläufe und gebundene, unfreie Abläufe. Die Empfindungsdaten des Gesichtsfeldes bei kinästhetischer Ruhe kommen und gehen in Unfreiheit. Sie sind von selbst da und gehen von selbst, ihr Sein und Sosein, ihr Auftreten und Verschwinden ist ihre Sache, nicht meine Sache – oder nicht rein meine Sache, nämlich sie kommen und gehen auch ohne mein Zutun, obschon, wie noch zu studieren ist, es eventuell sein kann, dass an demselben mein Tun mitbeteiligt ist. Nie aber ist das Kommen und Gehen von Empfindungen unm i ttelb ar, also rein ein tuendgeschehendes, ein im Tun dem Ich entquellendes. Es ist ein Ansich, ein sachliches, ein ichfremdes Sein, sofern eben im Gegenteil das freie Ablaufen ein im besonderen Sinn subjektives, ichzugehöriges ist: Bereich der wollenden Subjektivität, Bereich ihres praktischen „Ich kann“, ich habe hier Vermögen, Macht, Einflüsse, oder es geschieht der oder jener Verlauf von mir aus, aus dem Ich heraus, aus meiner Freiheit.1
1 Das Ichfremde der subjektiven Sphäre ist f ü r das Ich da, nicht a u s dem Ich da. Alles eigentliche Ichleben, in dem sich das Ichsein ausströmt, ist ein aus dem Ich eben Seiendes, es ist jenes agere, wodurch L e i b n i z die Monade charakterisiert (quod non agit non existit). Was aber ausgeströmt ist, ist nachher für das Ich da als sekundäre Sinnlichkeit.
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Dabei ist Folgendes zu beachten: Ein körperliches Unbehagen, ein (aus krankhafter Leiblichkeit stammender) Schmerz ist in diesem Sinn eventuell schlechthin außerhalb meiner Freiheit, ich kann nichts dawider tun; alles Tun, soweit mein „Ich kann“ reicht, ändert daran nichts. Würde ich entsprechend auf meinen Leib passend einwirken können (also zum Arzt gehen, die verschiedenen Medizinen nehmen und infolge davon gesund werden), stände das in meinem praktischen Bereich, so wäre es ein mittelbar, durch empirische Anknüpfung an Praktisches, an etwas, das ich kann – ein „Ich kann infolge“, als Mitfolge eines ursprünglichen Könnens –, in meinen freien Bereich Hineingehöriges bzw. mittels der Erkenntnis der Zusammenhänge mit ursprünglicheren praktischen Möglichkeiten in den Bereich Eintretendes. Tun und sachliches Sein und Geschehen sind so vielfältig miteinander verbunden; Freiheit und Natur (in einem weiteren Sinn), bloße Sache. Aber die Sache kann überall zur eigentlichen „Tatsache“ werden, zu einem Geschehnis aus einem Tun und Können. Oder: Bloßes Geschehen kann in ein praktisches Geschehen sich wandeln, es tritt in unsere praktische Möglichkeit und dann Wirklichkeit. Sachliches wird zum praktischen Material und aus praktischem Material wird ein praktisches Gebilde.1 Wir scheiden nun das außerwillentliche, nicht dem Ich entsprungene, inaktive Geschehen, das bloß sachliche Geschehen, und das aktive, im weitesten Sinn willentliche, das ichliche Geschehen, und wir unterscheiden dabei weiter das außerwillentliche, inaktive und unwillkürliche vom willentlichen, aktiven und willkürlichen. Nämlich im Bereich des Willentlichen, des ago, scheiden wir das Willkürliche (Gewollte im prägnanten Sinn) und das Unwillkürliche. Das 1 Aus einem ichfremden Material kann ein ichfremdes Werkgebilde werden durch das Ichtun und zweckmäßige Icherwirken. Wie steht es bei geistigen Werken? Ist es nicht analog? Es gibt Ichfremdes derart wie Empfindung und dann materielles Ding. Das ist individuelles außerichliches Sein. Das aus dem Ich im Ausströmen werdende Leben ist auch individuelles, immanent zeitliches Sein. Aber im Ichtun konstituiert sich intentional auch ideales Sein: Es kann nicht wie ein Empfindungsdatum da sein ohne jedes Ichzutun, und es kann nicht werden. Vielmehr ist es für das Subjekt nur da durch sein Zutun, und sofern ist es wesentlich ichbezogen und als sein Gebilde anzusehen; andererseits ist es aber nicht Ichleben, nicht individuelles, vielmehr ein Ansich, und in individuell verschiedenen Akten kann es als identisch dasselbe ursprünglich erzeugend gegeben sein.
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Unwillkürliche geschieht ohne Ziel und Weg setzendes, auf ein Ziel strebendes, hohnei einen Weg und eventuell durch einen Weg ein Ziel, Mittel und Zweck realisierendes, im Realisieren sich ausströmendes Wollen. Es geschieht, ohne dass das Ich dabei „verwirklichendes“ = handelndes Ich, handelnd tätiges Ich ist, und doch geschieht es nicht rein von sich aus halsi ein Geschehen, das für das Ich nur da ist und wird und als das dann eo ipso als Reiz affiziert, als bloße „Affektion“ eines Ich auftretend. Das Ich ist nicht im Unwillkürlichen schlechthin passiv, in jedem Sinn untätig, vielmehr entquillt es dem Ich, dem Ur-Ich (nicht dem Ich-Menschen hundi Du-Menschen). Es ist im „Ich tue“ Geschehendes, aus dem tätigen Ich heraus Geschehendes und eben damit nicht aus sich selbst heraus geschehend (bzw. da verbleibend, ruhend usw.). Es ist – da hesi das Wesen des Subjekt-Ich ist, tätiges Ich zu sein – wesentlich ichlich, während das Sachliche ichfremd ist, nicht ichentsprungen. Wenn meine Augen unwillkürlich (z. B. während ich nachdenke mit geschlossenen Augen) hin und her wandern, wenn die kinästhetischen Abläufe (was immer dabei in den Komplexen geschieden werden mag) vonstatten gehen, so „bewege“ ich, und die Bewegung ist ein aus meinem bewegenden Tun Hervorquellendes. Dieses unwillkürlich Ichliche muss als ein fundamentaler Modus des Willentlichen gelten und liegt als solcher allem Wollen im Sinn des willkürlichen Tuns zugrunde. Das Sachliche tritt in den Bereich des Willentlichen, des unwillkürlichen oder willkürlichen, durch empirische Verflechtung mit ursprünglich Willentlichem; es bekommt in dieser Verflechtung Zusammenhangscharakter des „infolge“ willentlichen Geschehens Eintretenden oder auch möglicherweise Eintretenden und demgemäß den Charakter des mittelbar Willentlichen, des dem Willensbereich Akquirierten, durch das Mittel ursprünglichen Tuns unwillkürlich Geschehenden oder als willkürliches Ziel zu Realisierenden bzw. Realisierten. Das Studium der Willensmodi in ihrem Aufbau ist natürlich eine große phänomenologische Angelegenheit. Die Frage ist da vor allem, ob und wann das unwillkürlich freie Geschehen, in dem das Subjekt nicht aufmerkend „lebt“, während wir doch sagen müssen, dass es in ihm „unbewusst“ tätig ist, seinen ins Spiel setzenden Ansatzpunkt und hemmenden oder sonst wie charakterisierten Abschlusspunkt hat, während die Zwischenmodi willentliche Modi, aber
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anderen Charakters, sind: Das Ansatzwollen „erstreckt sich durch sie hindurch“ bis an das Ende, das Hemmung des durchgehenden Willens ist (sozusagen Negation, Durchstreichung) oder Totlaufen, Versanden ist, oder auch statt des Ausgehens der tätigen Kraft eine andersartige Hemmung, die des Nichtweiterkönnens, des „Es geht nicht weiter“ in einem Gehemmtwerden. Dabei kann eine Steigerung der „Willensanstrengung“ eintreten und mit ihr ein Weitergehen oder auch ein Nichtweitergehen trotz der Anstrengung. Weitere, nun sehr wichtige Phänomene bietet das Analogon der A ufmer ks am keit. Das unwillkürliche Tun kann als Erlebnis im inneren Bewusstsein, als einem „wahrnehmenden“ Medium sozusagen, hGegenstandi eines Aufmerkens werden, was aber ein Gleichnis ist: Es geht in den attentionalen Modus des Aufmerkens auf das Wahrgenommene über, in unserem Fall also betrachten, eventuell beobachten wir den unwillkürlichen Verlauf, ohne willkürlich einzugreifen. Eben dieses willkürliche Eingreifen, jeder Fall willkürlichen Tuns (im prägnanten Sinn)1 ist ein Fall des Analogons der Aufmerksamkeit, des Wollens, in das sich als Wollen das Subjekt als waches und „souveränes“ so einlebt, wie es aufmerkend-wahrnehmend wach wird und sich in das Wahrnehmen einlebt. Ich werde so zu dem in einem prägnanten Sinn freien oder Willenssubjekt, das Tun wird willkürlich, wird im besonderen Sinn von mir frei getanes, möge das Geschehen sonst gleich bleiben. Das unwillkürliche Atmen wird zum willkürlichen, das unwillkürliche Anhalten des Atmens, das unwillkürliche Gehen und Stehen wird zum willkürlichen, zu meiner Handlung.2 Aber wie ist das näher zu verstehen? Es kommt hier alles darauf an, das unwillkürliche subjektive Tun zu verstehen, und zwar so, dass dabei zunächst alle aus Assoziationen und Apperzeptionen stam1
Siehe folgende Anmerkung. Wichtige Unterscheidung: Es ist klar, dass wir eine ursprüngliche Unwillkür haben, in der es noch kein einsetzendes und intentional durch einen Weg sich erstreckendes fiat und kein Handeln im Fortgang gibt, und weiter ist klar, dass bisher e i n fundamentaler Do pp elsin n i n d e r R e d e v o n W i l l k ü r u n d U n w i l l k ü r von mir nicht beachtet worden ist. Nämlich 1) die Unwillkür im Sinn des ago ohne eine bewusstseinsmäßig durch einen Weg sich erstreckende Intention: die ursprünglichste Unwillkür gegenüber der Willkür als dem Gegensatz; 2) das unwillkürliche ago in dem Sinn des volo, aber des unbewussten „Ich lebe nicht darin“: „Unwillkürlich zünde ich mir eine Zigarre an“. 2
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menden intentionalen Komponenten ausgeschieden bleiben. Also werden wir sagen müssen: „Ursprünglich“ treten Abläufe auf im Charakter des tätigen Ablaufs, in denen noch keine durchgehende „Intention“ als Willensintention lebendig war; also ursprünglich war 5 der Ansatzpunkt kein intentional (willensintentional) auf den weiteren Verlauf Gerichtetsein und keine intentionale Thesis.1 Auch die Hemmung als Durchstreichung der dabei vorhandenen Willensthese konnte nicht auftreten. Im Ablaufen und wiederholten Ablaufen erwachsen assoziative Verflechtungen, wobei das Bewusstsein eine Ein10 heit der Tendenz, aber einer passiven Tendenz, eines Sich-Betätigens, aber Sich-darin-Gehenlassens, gewänne, obschon kein Bewusstsein im prägnanten Sinn.2
1 Noch ein Unterschied: 1) Im Ablauf eines unwillkürlichen ago kann schon das System der Verlaufsmöglichkeiten empirisch einheitlich in empirisch vorstellungsmäßiger Apperzeption konstituiert sein, und im Fortgehen des unwillkürlichen ago habe ich daher einen Horizont und, stückweise wenigstens, vor mir einen Weg; ich sehe voraus, wohin es läuft. Aber darum brauche ich nicht zu wollen, in diese Richtung, diesen Weg hentilang gehen hzui wollen. Gehe ich aus der Ruhelage (Nullpunkt eines ago) in ein „Ich bewege“ über, so hat das fiat nicht den Charakter eines auf ein Ziel, in einen Weg Hinstrebens. Es ist bloßer Ansatzpunkt und kein eigentliches fiat. 2) Ein Neues ist es, wenn ein Weg oder Ende eines Weges, dessen ich vorstellungsmäßig bewusst bin, mein Begehren erregt und nun das echte fiat als auf diesen Weg, d. i. diese Kontinuität eines gerichteten ago, und dadurch eventuell auf sein Ende gerichtete „Willensbejahung“ eintritt. 3) Geht ohnehin die Reise dahin, so bejahe ich und wähle nicht, ich lasse mich forttragen. Sonst greife ich wählend aus den Möglichkeiten heraus. 2 Tendenz als Problem!
VIII. DAS BEWUSSTSEIN DES „ICH KANN“ ALS VORAUSSETZUNG JEDER WILLENSTHESIS. DIE KONSTITUTION VON WILLENSWEGEN UND TÄTIGKEITSFELDERN AUS UNWILLKÜRLICHEN ICHTÄTIGKEITEN1
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Ein Reales, zunächst ein reales Raumding setzen, wahrnehmend oder in sonstiger Erfahrung, heißt ein Substrat realer Möglichkeiten setzen. Ebenso das Ich, mein faktisches Ich, hat seinen empirischen Spielraum praktischer Möglichkeiten und seine faktischen Neigungen, seinen Horizont faktisch möglicher Reize, seine faktisch möglichen Freuden, Leiden, Wünsche usw., die sich in der hypothetischen Phantasie zeigen: Versetze ich mich in solche Umstände, so würde ich wirklich solche Freuden erleben oder würde Schmerz empfinden, es würde ein Begehren des und des Inhalts in mir erregt werden usw. Ein andersartiges Verhalten kann ich mir vielleicht anschaulich vorstellen, aber es wäre im Widerspruch mit meinem faktischen Ich, wie ich es selbst vorfinde, empirisch setze. Sowie ich das tue (ähnlich, wie wenn ich Dinge empirisch so und so setze, wonach sie mir als das und das gelten), mich so und so also nicht nur fingiere, sondern als Wirklichkeit setze, habe ich damit einen Spielraum dazu stimmender praktischer Möglichkeiten, und diese sind durch zugehörige Umstände empirisch bestimmt geforderte. Nun aber wesentliche Unterschiede. Das „Ich kann“ drückt nicht eine beliebige reale Ichmöglichkeit, Möglichkeit des Icherlebens, des empirischen Verhaltens aus, nach Analogie mit realen Möglichkeiten, darunter Möglichkeiten realen Verhaltens bei Dingen.2 1
Bernau. Sommer 1918, August. Nämlich „Ich“ ist ein unklarer Begriff, es kann besagen: 1) Ich, der Mensch, und es kann dabei Leib und Seele in eins genommen hwerdeni. 2) Auf Seiten der Seele kann die gesamte außerphysische Innerlichkeit des Menschen genommen werden. Ich kann krank werden, in ein Loch fallen, ich kann einen Einfall haben, kann Farben und Töne empfinden etc. Aber auch 3): Ich kann frei tätig sein etc., halsi das Ich der actio. Daher Vieldeutigkeiten der Begriffe Fähigkeit, Vermögen: Empfindungsvermögen, Vermö2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 99 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_8
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Nehmen wir die subjektiven Verläufe (Ichbewegungen) in einem unserer kinästhetischen Systeme. Optischen Reizen folgend laufen unwillkürliche Augenbewegungen ab. In das denke ich mich in der Phantasie hinein und habe nun das Bewusstsein: Wenn ich wollte, würde ich so und so die Augen laufen lassen. Es sind das Bewegungen, die – unabhängig von den Reizen – meiner Willkür unterliegen. Mache ich die Erfahrung von Hemmungen in der oder jener Bewegungsrichtung, so ändert sich meine Auffassung und ich sage: Früher konnte ich das frei, jetzt bin ich gehemmt, ich kann die Bewegungen nicht frei willkürlich durchlaufen. Ich kann mir nun auch nicht mehr ansetzen, dass sie unwillkürlich als subjektive Bewegungen verlaufen würden. Sie sind nicht mehr ein System von möglichen Ichbewegungen und somit kein System, das meiner Willkür zu freier Verfügung steht. Es handelt sich hier um „eingeübte“ subjektive Abläufe, „gewohnheitsmäßig“ in Reihen, in Systemen zusammenhängend, nur in solchen zeitlichen Reihen können sie subjektiv entspringen. In vertrauter Weise verlaufend, weist jede Phase auf die zusammenhängenden Phasen hin. Jeweils verlaufen sie wirklich nur bis zu einer Stelle, da findet eine Hemmung, eine Fixierung statt „durch“ empirische Bezogenheit auf „Reiz“; die Annäherung an einen optimalen Reiz, der in eins mit dem „Ich bewege“ statthat und der verloren gehen würde, wenn die Bewegung noch weiter liefe, motiviert ein „Stopp!“. Das ist eine freie Hemmung und gehört in das Reich der Willensphänomene. Wenn ein optischer Reiz auftritt, der hinweist auf eine optische Reihe, die in einem Optimum kulminiert und die „assoziiert“ ist mit einer kinästhetischen Reihe, so tritt (wenn nicht Gegenmotive hemmen) das korrelative Phänomen auf: das „InsSpiel-Setzen“ der Ichbewegungsreihe und „durch“ sie der optischen Reihe. Bin ich „am Ziel“, so erfolgt das Stopp, das Außer-SpielSetzen des Fortgangs. Andere hierhergehörige Phänomene: das SichÜberlassen dem Ablaufen kinästhetischer Daten, so wie sie „von selbst“ ablaufen. Eine bestimmte feste Lage erwächst nur durch Festhalten, Hemmen, Stehenbleiben, das offenbar im Außer-Spiel-Setzen eines schon gerichteten Fortlaufens über das Ziel hinaus enthalten ist. gen der Assoziation und Reproduktion. Dagegen: Ich kann meine Augen bewegen, ich kann einen Beweis führen, Gruppenbildungen vollziehen etc.
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Es handelt sich hier also um primitive Formen von Apperzeptionen, an denen wesentlich willentliche Urphänomene beteiligt sind und die noch viel näher systematisch erforscht werden müssen.1 Wie steht es nun mit dem „Ich kann“? Ist es etwa bloße Erinnerung, dass ich solche Bewegungen in Richtung auf ein Ziel vollzogen habe, hdass ichi solche und solche Fixierungen am Ziel oder AußerSpiel-Setzungen eines freien Verlaufs (etwa, um anderes zu tun, das ich „lieber will“) vollzogen habe? Natürlich nicht. Sagt es, dass ich mir einen solchen subjektiven Vorgang mit solchen Willensansetzungen und -absetzungen etc. mehr oder minder anschaulich vorstelle und das empirische Bewusstsein habe, dass, wenn ich will, der betreffende Verlauf und hdasi, was dazugehört, statthat? Es ist dabei nicht zu übersehen, dass es sich um kinästhetische Systeme handelt, die ich nicht nur in der Phantasie vorstelle, sondern die reell „da“ sind. Das System der Augenbewegungen und dgl. ist nicht bloß Erinnerung oder Phantasie, sondern es ist da. Aus dem System sind irgendwelche Bewegungen oder Haltepunkte immerfort realisiert und sind dabei umgeben von dem intentionalen Horizont des ganzen Systems von Bewegungsmöglichkeiten, und auf dieses bezieht sich, als ein vom Wahrnehmungsbestand aus dem System (dem realisierten) als Aus-
1 Stufen: 1) Ein kontinuierlicher ursprünglicher Ichverlauf oder ein gegliederter Zusammenhang von kontinuierlichen Schritten. 2) Die reproduktive Vorstellung der Einheit eines solchen Verlaufs in Verbindung mit dem nicht bloß vorgestellten, sondern originär gegebenen Anfang, z. B. ein möglicher Bewegungsverlauf des Auges von der gegebenen Augenlage oder Augenbewegung aus. 3) Das genügt nicht. Kontinuierliche Verläufe und überhaupt subjektive Zusammenhänge, die ihre feste Struktur haben, die nach Phasen und Gliedern (mit zugehörigen Charakteren) nur in gewisser Ordnung möglich, in sich systematisch sind. Das System existiert. Habe ich die Nullstellung der Augen, so kann ich jede andere Stellung nur in einer der systematisch kontinuierlichen Vermittlungen im zeitlichen Nacheinander erfahrend erleben. Einen Satz im Charakter notwendiger Folge aus den und hdeni Gründen kann ich nur in der bestimmten Aufeinanderfolge des Beweisens originär gegeben haben. 4) Zum Wesen eines systematischen Ichverlaufs gehört es, dass, wenn der Anfang gegeben ist und die bestimmte Vorstellung des möglichen Verlaufs, die ideale Möglichkeit besteht, dass das Ich praktisch Ja sagt, eine Willensbejahung vollzieht, die durch den Verlauf hindurchgeht und ihn damit realisiert. Ebenso das praktische Nein. In jedem „Ich kann“ liegt die Erkenntnis der Möglichkeit, dieses Ja in Beziehung auf ein vorstellungsmäßig Gegebenes als nicht bloß eingebildet hzu setzeni, sondern halsi empirisch vorhanden charakterisiertes, freies System, das damit verfügbar ist.
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gangspunkt frei und „willkürlich“ zu Realisierendes, das Bewusstsein des „Ich kann“; es ist ein Bereich meines praktischen Vermögens.1 Es liegt hier nicht etwa bloß empirische Assoziation und apperzeptive Erfahrungsauffassung vor, die das „Ich will“, das einsetzt, und das „Ich halte still, ich mache halt“, das abschließt, mit kinästhetischen Reihen verknüpft hätte, sei es damit allein, sei es unter Zuzug von anderen empirischen Umständen. Das „Ich will“ ist doch nichts für sich Auftretendes, gewissermaßen im assoziativen Bereich Herumliegendes und daher bereit, wie Empfindungsdaten, wie kinästhetische Subjektivitäten und Assoziate aus solchen und anderen Reihen (dann daraus erwachsenden Apperzeptionen) in Assozhiationeni einzugehen. Setzt nicht das Wollen schon ein Bewusstsein des Könnens voraus? Dieser Einwand liegt nahe. Andererseits könnte man den Gegeneinwand machen: Im „Ich kann“ liegt der Wille schon als möglicher Wille enthalten. Wie ist da also herauszuhelfen? Die Antwort lautet: Jedes Wollen im eigentlichen Sinn ist Willensentschließung, sich für etwas entschließen, eine „bejahende“ Willensthese vollziehen. Das kann in verschiedenen Modi geschehen, allem voran setzt aber die Entscheidung ein Was der Entscheidung voraus, und das ist nicht eine bloße „ V or s tellung “, sond ern sel bst schon ein Willentliches, dem W illensgebi et u rsprüngl i ch ei gentümlich Zugehöriges.2 Wir können uns das Wort zu eigen machen „Wo ein Wille ist, da ist ein Weg“, freilich in bestimmtem Sinn: Jeder Wille als sich entschließender, bejahender eigentlicher Wille bezieht sich auf einen Willensweg, der in eins mit dem Willen vorstellig ist.3 Aber allgemein ist ein Willensweg nicht ein beliebiges Ereignis, das möglich ist, und ein beliebiger Wille histi nicht möglich in Verbindung hmiti einer beliebigen Vorstellung eines möglichen Ereignisses als möglichen.
1 Vielleicht ist das auch bedeutsam: Erfahrungsmäßig, wenn ein „seitlicher Reiz“ wirkt, wendet sich das Auge unwillkürlich dahin und so „weiß ich“, dass je nach Reizen unwillkürliche Bewegungen nach allen Seiten vorgekommen sind und noch empirisch möglich sind. Es ist also ein System möglicher unwillkürlicher Verläufe. Das „reell da“ besagt also eine reale Möglichkeit, bezogen auf mein faktisches Ich. 2 „Willensthesis“ und „Willensthema“. 3 Willensweg.
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Vielmehr, das Ereignis muss nicht nur als Ereignis überhaupt und halsi mögliches Ereignis bewusst hseini, es muss auch (was nicht für jedes gilt und möglich ist) als willensmäßig „gangbarer Weg“ bewusst sein. Ein gangbarer Weg weist aber zurück auf gleiche oder ähnliche begangene Wege, und da der Wille als solcher das schon voraussetzt, so werden wir (unendlichen Regress werden wir ja nicht annehmen) von vornherein zurückgewiesen auf begangene Wege, die noch nicht Wege für ein (sich entschließendes) Wollen waren, bzw. auf eine Vorstellung von Gangbarkeit, die nicht schon die Vorstellung eines Willensganges einschließt. Wir werden von willkürlichen Geschehnissen als Handlungen zurückgewiesen auf unwillkürliche Geschehnisse, die also keine Handlungen, aber darum doch im weiteren Sinn willentliche Geschehnisse, nämlich aus dem Ich als sein unwillkürliches Tun hervorquellende Geschehnisse sind.1 Unwillkürliche Ichtätigkeiten gehen nun apperzeptive Verschmelzungen ein; es konstituieren sich in eigentümlicher empirischer Apperzeption systematische Einheiten, die wir als gegebene Wege unwillkürlicher Ichtätigkeiten, möglicher unwillkürlicher Betätigung erfahren. Das sind also eigentümliche, zur Tätigkeitssphäre oder Willenssphäre im weitesten Sinn gehörige Gegenständlichkeiten, die ihre eigentümliche, sie konstituierende Erfahrung, ihre eigentümliche Erscheinungsweise, ihre eigentümliche These haben, demgemäß eigentümliche reproduktive Vorstellungen etc.2 1) An die Spitze setzen wir Ichakte, in denen ein Tun zwar schon vorliegt, aber niederster Stufe, noch nicht bezogen auf ein Tätigkeitsfeld. 2) Auf höherer Stufe haben sich Tätigkeitsfelder konstituiert, und allgemein zu reden ist jedes „Ich tue“ einem Horizont von Tunsmöglichkeiten, und zwar, wie wir jetzt festhalten, von unwillkürlichen Tätigkeiten eingeordnet. Und man wird wohl sagen können, dass das entwickelte Ich all sein wirkliches Tun eingeordnet findet in einen
1 Es hat sein Bedenken, das dem Ich entquellende Willentliche, also das Tätigsein, als Wollen zu bezeichnen. 2 Vorgezeichnete Ordnungsformen für mögliche unwillkürliche Tätigkeiten: Es handelt sich um Typen realer Möglichkeiten. Die Ordnungen können sich zusammenschließen in ein mehrdimensionales Ordnungssystem, wie in der kinästhetischen Sphäre ein Tätigkeitsfeld gebaut aus möglichen Linien.
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Horizont möglichen Tuns überhaupt, der seine systematische Organisation hat, vermöge deren jedes Tun noch sein besonderes mögliches System hat, seinen entsprechenden besonderen Horizont. Und das Systematische besteht überall darin, dass mindestens der Hauptsache nach, d. i. begrenzte Gruppen des Tuns ausgenommen, jedes unw illkür lic he Tun ei ner gattungsmäßigen Sphäre nur in geor dneten W eis en von dem Ansatzpunkt wirklichen Tuns unw illkür lic h in Verl äufe des Tuns übergehen kann, an gewisse Ordnungen also gebunden histi. (So Augenbewegungen, so Beweisen etc. – doch wird das näher zu überlegen sein.) Erfahren ist von mir ein Tätigkeitsfeld, wenn ein Punkt desselben aktualisiert und in eins damit die empirische Apperzeption als Bewusstsein der Gegebenheit des Feldes bewusst ist. Im systematischen Übergang des unwillkürlichen Tuns ist dann in jedem Moment ein neuer Feldpunkt reell und dabei Deckung in empirischer Erfüllung: Die Erfahrung bestätigt sich.1 (Zu überlegen wird dabei noch sein, wie es mit dem Nullpunkt der Augenbewegungen und sonstigen kinästhetischen Systemen, die für mich immer noch ein besonderes Interesse haben müssen, steht.) Jedes Feld ist als Tätigkeitsfeld, wesensmäßig, ja analytisch gesprochen, ei n „ gangbarer “ Bereich, das unwillkürliche Tun ist in dieser Apperzeption ein Begehen des Feldes. 3) Jedes Tätigkeitsfeld ist aber zugleich und wesensmäßig praktis ches Feld.2 Zum Wesen eines Feldes der Unwillkür gehört es, dass es Feld der Willkür werden kann, jeder Möglichkeit unwillkürlichen Begehens entspricht eine Möglichkeit willkürlichen Begehens. Im Allgemeinen sind die Tätigkeitsfelder vieldimensional; jede kontinuierliche Linie daraus, wenn das Tätigkeitsfeld kontinuierlich ist, jede systematische einheitliche Linie daraus, die vorstellungsmäßig herausgegriffen werden kann, ist nicht bloß Vorstellung eines Geschehens, sondern einer Tätigkeitslinie, ist Vorstellung eines mögli-
1 Das wäre der St il d es Ic h l e b e n s, das Analogon der Raumform, soweit Apriorisches dabei ist; das Analogon der empirisch typischen Form eben eines Stils. Das empirische Ich als das Ich, das im ganzen bisherigen Leben einen Stil durchgehalten, eventuell stufenweise entwickelt hat, ist nicht reines Ich, sondern eben dadurch empirisches Ich. 2 Praktisches Feld, Feld möglicher Willensthemata.
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chen Weges der Unwillkür und der Willkür.1 Somit haben wir ein phänomenologisches Verständnis des „Weges“ gewonnen, den jeder Wille bewusstseinsmäßig voraussetzt – ursprünglich voraussetzt. Denn auf einer höheren Stufe konstituieren sich praktische Wege als mögliche Willenswege, die selbst schon in sich, als Wege schon, mögliche Willensentschlüsse in sich fassen. Ich sprach oben von Willensentschließung, willentlicher Bejahung. Es fragt sich, ob die Bezeichnung wirklich gut ist (halsi Analogon der Bejahung des Glaubensgebiets). Ich kann mich aber auch in ein Wollen hinsichtlich eines Weges hineindenken und, wenn der Weg aktuell gegebener, als wirklich bewusster ist, mich für das Wollen bejahend entscheiden. Und ich kann mich in eine Kette von Wollungen mit einer entsprechenden Kette von Wegen hineindenken; es kann dabei der erste Weg gegeben sein und dann weiter, wenn der erste durchlaufen und zum realisierten geworden ist, kann der zweite als Folge davon gegebener, nämlich willensgangbarer sein usw. Ich kann nun auf diese ganze Einheit von möglichen Willensakten mit ihren Wegen eine Einheit der Willens-„bejahung“ (der Ausführung) beziehen. Für diesen einheitlichen Akt der praktisch ausführenden These, des fiat, ist dann das Ganze möglicher Wollungen von angegebener Struktur hinsichtlich der Wege ei n Weg. Wir haben eben zu beachten, dass auch jedes „Ich will“ ein subjektentsprossenes ist, also in Verbindung mit dem Weg der Unwillkür selbst wieder einen Weg ergibt und selbst relativ zu einem möglichen aktuellen Willen ein praktisch Mögliches ist usw. Letztlich führt aber jeder mögliche Weg auf Wegstrecken der Unwillkür zurück.2 Im Übrigen haben wir, wie oben schon gesagt, verschiedene Willensmodi. Der Wille kann seine Absicht im Weg selbst haben, er kann aber den Weg nur als Weg zum Ziel gebrauchen; dann ist der Weg bloß vermittelnder Weg. Und dann weiter kann ein Zielwille selbst wieder nur vermittelnder (Mittel-Wille) sein und eben zu einem bloß vermittelnden Weg zu einem Endziel gehören als letztem Ziel einer Kette von Zielen, die durch Wege verbunden sind.
1
Nur „Linien“ können „Wege“ sein, da Tätigkeiten in der Form der Zeit verlaufen. „Mechanisierung“ des Handelns. „Auslösung“ unwillkürlicher Verläufe, die früher willkürliche waren. Ist das bloßes Tun? Nicht jeder Wille hat also eine Zielvorstellung. 2
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Was besagt also, um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren, das „Ich kann“, „Ich habe das praktische Vermögen“? Ist da alles schon voll geklärt? Jeder Wille setzt einen Weg voraus = ein Wille ist unmöglich ohne das Bewusstsein eines „Ich kann“. Der Weg (der mögliche Weg) ist eine Linie heinesi möglichen „Ich tue“ (eines möglichen ago im weitesten Sinn, das auch mögliche Wollungen, auch höherer Stufe, als eingeordnet dem Tun zulässt). Ich kann etwas, hdasi besagt hier, ich habe vor mir eine Linie möglichen Tuns und setze sie als Linie meines möglichen Tuns. In der Regel ist dabei schon die Beziehung auf ein mögliches fiat bestimmend. Was ist das für eine Setzung? Was für eine Möglichkeit ist gesetzt? 1) Habe ich „vermöge früheren Tuns“ gegenwärtig die Vorstellung einer Tätigkeit von bestimmtem Gehalt, die sich in dieser Bestimmtheit einordnen kann meinem gegenwärtigen aktuellen Leben, das selbst ein Tun ist und seinen untätigen Hintergrund hat, so kann sich auf diesen Weg ein „Ich will“ gründen. Das sagt zunächst nur, ich kann mir diesen möglicherweise von dem hic et nunc meines Lebenspunktes auslaufenden Weg als Willensweg vorstellen. Aber „lockt mich“ dieser Weg, locken mich nicht andere mehr, die ebenfalls vor meinen Augen stehen, oder wird der Wunsch nicht überwogen durch begleitende zu erwartende Mühen, unannehmliche Folgen etc., so folge ich dem Zug, der Wille tritt ein, er ist hinreichend motiviert. Vorbedingung ist nur, dass der vorgestellte Weg „unmittelbar zugänglich“ ist, dass er eine von dem Jetzt möglicherweise auslaufende Tätigkeitsreihe ist. Freilich hebt er notwendig andere Tätigkeitsreihen, die sonst auslaufen würden, auf und modifiziert jedenfalls den Gang meines weiteren ichtuenden Lebens. Aber von den reinen oder empirischen Notwendigkeiten, die hier bestehen, brauche ich nichts zu wissen; reine kommen nicht in Frage, da ich ja die Tätigkeitsreihe anschaulich, wenn auch nicht klar, vorstelle, wie wir hier annehmen. Und empirische Unzuträglichkeiten sind dadurch ausgeschlossen, dass ich nicht rein fingiere, sondern anschaulich mich als Subjekt der actio vorstellen kann und vorstelle. Mehr gehört also zu diesem „Ich kann“, das unter allen Umständen und ohne Rücksicht auf die Willensmotivationen (Ichmotivationen) hgegeben isti, nicht. Es bedeutet die Möglichkeit, dass ich (das Subjekt meines jetzigen Lebens und in diesem Lebenspunkt des aktuellen beweglichen Jetzt) mich als
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Subjekt einer Fortführung des Lebens vorstellen kann, in der an das Jetzt sich der betreffende „Willensweg“, diese actio, und zwar als vom fiat inszeniert, anschließt. Damit ist über die Motivationslage nichts gesagt. Wesensmäßig setzt das „Ich will“ eine Motivation voraus, und die Rede von „Ich kann“ kann schon mehr einschließen, so insbesondere, dass eine positive Motivation für den möglichen Weg spricht, und das „Ich muss“, „Ich kann nicht anders“ sagt, dass gegenüber anderen Wegen, die zur Wahl stehen (oder die mir von anderen gemäß ihren Wertungen angemutet werden), dieser den Vorzug des alle überwiegenden, des entscheidenden Motivs hat.1 Die Rede von „Ich kann“ bezieht sich aber auch oft und sehr gewöhnlich auf Widerstände, so wie auch die Reden von Vermögen, Kraft. Es treten, wenn ich einen Willensweg, der mir im Voraus als praktisch möglicher vor Augen stand, betrete, mitunter Hemmungen auf, die Tätigkeit stockt, läuft nicht die vorgesehene empirische Bahn. Die Intention auf Realisierung, der Wille, kann verbleiben und durch „Kraftanstrengung“ durchgesetzt werden. Ist da die Anstrengung ein eingeschobenes Stück Weg, das erfahrungsmäßig die Fortführung mit sich bringt? Ist Anstrengung ein allgemeines Mittel, das mindestens oft den Erfolg mit sich führt und zum Weg nicht gerechnet wird, weil es bei heterogenen Wegen eingeschoben werden kann, wo die Willensintention Enttäuschung erfährt in der Form der Hemmung, des Stockens? O der hat der Wi l l e unter dem Titel „ Energie “ eine I ntens it ä t? Leibliche Anstrengung – Energie leiblicher Handlungen – geistige Anstrengung, geistige Energie, Energie geistig gerichteten Wollens. Gehö rt Energi e schon zur vorwillentlichen Tätigkeit? Zum Beispiel vorwillentliche Aufmerksamkeit, aber intensive Aufmerksamkeit. Ist das eine Intensität der Aktion als Aktion?2 Aber was sollte das sagen? Es könnte dann doch nur dem Inhalt zukommen. Dagegen, das fiat ist ein Neues, nur sein Inhalt könnte in
1 Das „Ich kann nicht“ sagt daher oft „Es liegt mir nicht bequem“, ich habe anderes, das mir lieber ist, ich würde Besseres schädigen. Zu berücksichtigen ist auch, dass scheinbar (und in gewissem guten Sinn) Wege von einem künftigen Jetzt auslaufen, und zwar Willenswege hinsichtlich eines jetzt vollzogenen fiat. Aber dann ist die Lebensstrecke bis zu jenem Jetzt, dem Morgen etwa, irgendhwiei hzuimindest typisch festgelegt, etwa schon durch andere Wollungen, und gehört als V o r f e l d eigentlich zu dem Gesamtweg. Jedenfalls ist das Vorfeld mitbestimmt etc. 2 Sagt das, es sei das eine Intensität des fiat?
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sich Energie haben. Die Phänomenologie der Hemmungen (eventuell auch Motivationshemmungen, Eintreten neuer Motive, Umwertung der alten etc.) histi ein eigenes Thema. Das „Ich kann“ umspannt auf Seiten des Was (d. i. des Weges 5 und Zieles) auch das Wollen; ich kann gehen, nachdenken, ich kann auch wollen. Wollen ist selbst Tun und hinsichtlich eines möglichen Wollens zweiter Stufe „unwillkürlich“; eventuell aber, da es wie alles Tun zum Thema eines Wollens werden kann (bei passenden Motiven), im Voraus also vorstellbar als ein jetzt mögliches Thema, halsi Was 10 eines Wollens, so gehört es dann in ein „Ich kann“, z. B. „Ich kann wollen, das Gute wollend zu bevorzugen“ etc.1
1
Nicht in den Beschreibungen Rücksicht genommen habe ich auf die Verhältnisse der Allgemeinheit und Besonderheit, Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Klarheit etc. im Wollen. Das ist nachzutragen.
IX. DIE ENTWICKLUNG „PRAKTISCHER APPERZEPTIONEN“ (DES WILLENS). DOXISCHE UND PRAKTISCHE AFFEKTION1
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h§ 1. Attentionale Affektion als Trieb zur Zuwendung und praktische Affektion. Die Auswirkung der praktischen Affektion als praktische Rezeptivitäti Man kann fragen, wie kommt es zur Entwicklung „einfacher“ praktischer Apperzeptionen? Gehen wir aus von einem S p i e l ursprün glich e r , u nwi l l k ür l i che r Le i be sbe w e g u n g e n, die ursprünglich charakterisiert sind als „subjektive“ Bewegungen, z. B. Handbewegungen, Stirnrunzeln etc. Sie laufen ab in ihrem subjektiven Charakter. Natürlich kommt es hier nicht in Betracht, dass es ein objektives Ding Hand ist und dgl., wie dann weder die dingliche Objektivität noch die Objektivität eines leiblichen Organs hier vorweggenommen sein darf; letztere setzt schon praktische Apperzeption voraus. Und selbst wo diese schon entwickelt ist, kommt es nur auf die „innere Ansicht“ dieser Gegenständlichkeiten an, also auf die Kontinuität der subjektiven Affekte und die Einheit der durch sie hindurchgehenden Wandlung des „Bewegens“ (Bewegungsvorgang von innen gesehen). Also: Wir haben einen phänomenalen Empfindungsablauf in subjektivem Charakter. Aber es fehlt noch durchaus die Bestimmtheit der Direktion auf ein Ziel hin und auf einen Weg dahin durch stetige Vermittlung, durch die ein „Ich bewege“ hindurchstrebt. Ist eine solche unwillkürliche subjektive Bewegung aber reproduktiv vergegenwärtigt (in verschiedenen Graden der Bestimmtheit, Deutlichkeit, inneren Differenziertheit), so übt sie oder vermag sie zu üben: 1 1919/20. – Das unpassende Wort „Apperzeption“ wird später aufgegeben. Ungeklärt und neu zu überlegen.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 109 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_9
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1) eine attentionale Affektion, einen Trieb zur Zuwendung, hzui ihrer aufmerkenden Betrachtung, das ist, da es sich um einen Vorgang handelt, hzui ihrer reproduktiven „Wiederholung“ im Modus der aufmerkenden wiedererlebenden Durchlaufung. Entspannt, erfüllt, entlädt sich dieser Trieb, so geht die Affektion über in den betreffenden subjektiven reproduktiven Vorgang. Hier haben wir also eine Direktion, ein Ziel: Der in der Affektion nur retendierte, nur in der Form der Retention vergegenwärtigte Vorgang, ist der abgesehene; abgesehen ist es auf den im Modus der Eigentlichkeit vergegenwärtigten Vorgang, der als solcher sich gibt auf dem „Weg“ der stetigen Reproduktion mit den Abschnitten des eben schon Erledigten, des eben jetzt Wiedererlebens (Reproduktion des Jetzt) und des noch Heranzubringenden. 2) Pr aktisc he, r eal i si erende Affektion. Nicht auf das Wiederanschauen, also Wiedererleben des Vergangenen im Sinn einer Reproduktion geht es jetzt. Affiziert wird nicht das „rezeptive“ Ich, sondern das aktive, das Vorgestelltes realisierende Ich. Nicht das Vergangene wird realisiert (das ist ja widersinnig). Vielmehr liegt dieser Affektion zugrunde nicht eine bloße Zurückversetzung in die Vergangenheit, sondern eine Transposition eines Moments der Vergangenheit, eines damaligen Vorgangs unter damaligen Umständen, auf die gegenwärtige impressionale Sachlage. Indem die „Assoziation“ wirkt, indem eine gegenwärtige Erlebnislage, die parallel mit einer früheren sich „deckt“, ein Moment, einen Vorgang, der jetzt fehlt oder anders ist, zur Abhebung bringt in Kontrast mit dem früheren, und indem dieses sachlich Fehlende im Gemüt halsi „fehlt“, „vermisst“ erscheint, erwächst eine praktische Tendenz, ein praktischer Trieb. Hier wirkt die „protentionale“ Assoziation: Etwas ist „erwartungsmäßig“ in der Gegenwart vorgezeichnet, was „nicht da ist“; das Vermisste („leider“ Nichtseiende) wird zum praktisch Seinsollenden. Durch die reproduktive Vorstellung geht nicht nur die Tendenz der attentionalen Zuwendung, oder sie affiziert nicht nur attentional, sondern auch praktisch. Nur ein subjektiver Vorgang kann, reproduktiv auftauchend, praktisch affizieren, und er kann es in doppelter Weise. Entweder das Vermissen betrifft den ganzen Vorgang oder sein Ende, das ruhende Ergebnis.1 1
Es ist nicht bloß reproduktive Assoziation, sondern protentionale Assoziation.
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Der praktischen Affektion entspricht ihre ungehemmte Auswirkung als pr akti sc he Rezepti vi tät, als passives Erwirken, Realisieren des praktisch Apperzipierten, des nicht nur Vorgestellten, sondern im Modus des Seinsollenden Bewussten. Das Realisieren ist die Erfüllung der praktischen Intention. Das praktisch affizierte Ich wird praktisch-rezeptiv bestimmt, hereingezogen und immer weiter hereingezogen. Es wird affiziert, das ist, es vollzieht hemmungslos, passiv die Zumutung praktischer Setzung (als praktisch seinsollende), und die praktische Intention in kontinuierlicher Erfüllung der setzenden Intention durch den intendierten Inhalt verläuft im vorgezeichneten Stil. Die pr akti sche Intenti on is t also die Parallele der doxis chen Int enti on i n ei ner doxischen Zuwendung, in der hemmungslosen Erfüllung einer doxischen Intention als Setzung eines Inhalts, der in der „Zuwendung“ stetig zur Gegebenheit (nach allen intentionalen, stetig zu erreichenden Momenten) oder zur reproduktiven Wiedergegebenheit kommt.1 In der doxischen Sphäre haben wir gegenüber dem Sich-stetigErfüllen das Erlebnis des „anders“; ebenso haben wir in der praktischen Sphäre das Erlebnis des praktischen Andersseins, des „Missratens“, des Geratens wider die Intention. Ich erziele erkennend – ich erziele realisierend praktisch. Ich verfehle erkennend, es ist anders, ist nichts. Ich verfehle praktisch, ich erziele nicht, ich erreiche es nicht. Ja, ich erstrebte (wollte), es geschieht aber gar nichts. Affiziertsein ist nicht schon einer Affektion folgen. Es können Affektionen sich durchkreuzen, wie Kräfte sich die Waage halten. Das Ich kann, einer doxischen Affektion nachgebend, also sich zuwendend, mit wechselnder Kraft in der Erfüllung leben und darin stecken bleiben. Es kann dann das Fehlende vermissen und nun praktisch auf das Erfüllungsziel gerichtet sein. Praktisch kann das Ich affiziert sein, sich vorstellend zuwenden dem oder jenem praktisch Affizierenden. Es ist aber bloß affiziert, es empfindet nur die Zumutung praktisch zu sein und ist noch nicht praktisch, dann aber gibt es nach, sagt „rezeptiv“ sein fiat.
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Da müssen wir gegenüberstellen doxische Antizipation (Protention) und praktische Antizipation, die sich praktisch erfüllt. Das Ursprüngliche ist beiderseits das „Instinktive“.
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die entwicklung „praktischer apperzeptionen“ h§ 2. Praktische gegenüber theoretischer Möglichkeit. Das „Ich tue“ als Urmodus des Willens. Das „Ich kann“ als eine Modalität des „Ich will“i
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W as s agt das prakt i sche „ Ich kann so “? Es ist die praktis che Möglic hkeit gegenüber der theoretischen Möglichkeit. Jede theoretische Anmutung ergibt eine theoretische (doxische) Möglichkeit, jede praktische Zumutung eine praktische Möglichkeit, eventuell in einer Disjunktion von dort theoretischen, hier praktischen Möglichkeiten. Zu scheiden sind solche „wi rkl ichen Möglichkeiten“ gegenüber den Phantas i em ögl i chkei ten (den logischen Möglichkeiten, des „Es ist ohne Widerspruch vorstellbar, möglich“. Das Parallele wäre: „Es ist eine praktische Denkbarkeit“; zum Beispiel, ich phantasiere mich in einen Baum ein als meinen Leib, die Zweige seien meine Leibesglieder, ich schüttle mich, ich „kann“ das etc. Undenkbar aber ist, das ist ein praktischer Widersinn, dass ich die Sonne aus ihrer Bahn bewegte oder dass sie mein Leibesglied wäre etc.). Ich kann mich in eine neue Lage hineinphantasieren als Ich, der ich bin, und erproben, was ich da könnte, dann haben wir es zu tun mit einer Möglichkeit aufgrund eines hypothetischen Ansatzes: Ich übertrage einen Typ meines früheren Tuns als ein „Ich kann“ auf die neuen, hdeni früheren analogen Umstände.1 Jedes frühere subjektive Tun, übertragen auf analoge Verhältnisse, ergibt ein „Ich könnte“ oder „Ich kann“. Nun ist das eine bedenkliche Rede, diese vom „Übertragen“. Es handelt sich nicht um einen Akt des Übertragens, sondern um eine „ A pperz epti on “. So wie in der doxischen Sphäre Ähnliches in ähnlichem Sinn aufgefasst, unter ähnlichen Umständen Ähnliches erwartet wird, insbesonders wenn einmal eine Mannigfaltigkeit als Darstellung, Bekundung einer Einheit fungiert hat, jede ähnliche Mannigfaltigkeit ablaufend zur Bekundung einer gleichsinnnigen Einheit wird, so hier: Ich „stelle“ es nicht nur vor als ein mögliches subjektives Ablaufen, was ich natürlich auch tun kann und tue, sondern ich kann es (oder könnte es, unter Annahme, es bestehen die und die Bedingungen).
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Also „protentionale“ Assoziation.
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Ist die subjektive Lage als doxisch seiende gegeben (analog, wie wenn ich doxische Bedingungen der Erfahrung gegeben habe, ich dann ein zugehöriges Kommendes erwarte), so kann ich. Sind solche nicht gegeben, so mag ich „in der Phantasie“ sie als gleichsam gegeben bewusst haben und ansetzen, und ich habe dann als zugehörig das Bewusstsein des „Ich kann“ im Modus der Phantasie, aber eben als zugehörig (so wie ich, wenn ich mich in eine Erfahrungslage hineinphantasiere, etwa mir fingiere, es wird ein Glas hingeworfen, ich in der Phantasie erwarte, dass es falle), ebenso wenn ich die Hypothese mache, die Annahme, es sei so (aufgrund gegebener Wirklichkeit), ich dann entsprechend als hypothetische Folge das Erwartete setze bzw. hier in der praktischen Sphäre setze das „Ich könnte dann“.1 Was besagt das „Ich kann“ und wie steht es zum „Ich will“? Viel kann ich da wohl nicht sagen. Eben nur dies: Ein vorgestelltes Bewegen subjektiver Art (subjektives Geschehen überhaupt) wirkt als praktischer Reiz, affizierend, und diesem Reiz wird, wo nicht Gegenreize vorliegen, nachgegeben, und so entspringt verständlich das passiv nachgebende fiat, der Endwille.2 Dieser Endwille setzt kein besonderes „Ich kann“ voraus, das „Ich kann“ ist hier identisch mit dem „Ich will“ oder vielmehr „Ich tue“, mit dem praktischen „Es sei“. Oder besser sagen wir: Ein pr aktis c hes „ Ic h kann “ i st ni cht vom ursprünglichen „ Ich tue “ vor aus geset zt, so wenig hwiei ein doxisches Möglich vom doxischen Wirklich (vom Ich her ein doxisches Für-möglich-Halten von einem doxischen Für-gewiss-Halten) vorausgesetzt ist, obschon logisch niemand etwas für gewiss halten kann, was er nicht auch für möglich hält (nämlich für möglich halten kann), so wie das Für-gewissHalten der Urmodus der Doxa ist, so das „Ich tue“ der Urmodus des W illens. Doch genauer: In der doxischen Sphäre haben wir die Erwartung des Künftigen, Ursprung des Kommenden, unter gegebenen Gegenwärtigkeiten Eintretenden (kontinuierliche Protention). Hier 1 Also nicht nur als in der Phantasie Lebender und in der Phantasie Erwartender und Könnender, sondern als aktuelles Ich mache ich den Ansatz, Ansatz eines praktischen Falles, und dann sage ich „Ich könnte“. 2 Hier müsste aber gesagt werden, dass der Urfall der ist, wie ein passives subjektives Geschehen aktiviert wird (wie das Atmen), wobei der Erwartungshorizont die wesentliche Wandlung in einen Horizont praktischer Antizipation erhält.
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das Werden im „Ich tue es“ oder im subjektiven fiat „Es wird!“, „Es soll werden!“ (kontinuierlich praktisches „Es wird“ im primitiven „Ich tue“). Auf der einen Seite das schlichte Vollziehen, Nachgehen den von den Umständen ausgehenden Erwartungsmotiven (Tenden5 zen auf das Kommende); auf der anderen das schlichte Vollziehen der von den Umständen ausgehenden Begehrungstendenzen, praktischen Tendenzen. Wenn keine Hemmung im Spiel ist, haben wir im primitivsten Fall (Analogon der Patentmachung der Protention) auch kein fiat im Sinn einer Willensbejahung. Insofern das Wollen nur auf 10 kommendes subjektives Geschehen geht, ist es also keine allgemeine Parallele zur Doxa. (Aber alle seinserfassende Intention geht doch der künftigen Erfüllung entgegen.) Das echte „Ich kann“ ist also eine Modalität des „Ich will“, etwa wenn der Wille in Schwebe ist (also kein „entschiedener“ Wille da ist) 15 zwischen „zwei praktischen“ Möglichkeiten. Jede ist nicht eine bloße Vorstellung, sondern eine Willensmodalität, so wie, wenn das Urteil schwebt zwischen zwei Urteilsmöglichkeiten, jede eine Modalität des Urteilens histi.
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h§ 3. Die Affektion in der doxischen Sphäre und ihre Parallele in der Praxis. Die Frage nach dem Verhältnis des Nicht-Primitiven zum Primitiven in der praktischen Sphärei
Fr aglic h is t es , ob i ch von prakti schen Apperzeptionen s pr ec hen s ol l, denn da denkt man an die Unterscheidung zwischen 25 Perzeption und Apperzeption. In der doxischen Sphäre unterscheide ich Thesis und „Materie“ (Vorstellungsgehalt), noematisch den Charakter des Seins in seinen Modalitäten und den Vorstellungssinn, noetisch im Erlebnis das Identische bei verschiedenen modalisierten Thesen: die Vorstellung, das wird man doch nicht Apperzeption 30 nennen wollen? Wie in der Willenssphäre? Da haben wir auch ein Identisches der verschiedenen Willensmodalitäten. Es enthält neben einer Schicht unterliegenden doxischen Sinnes einen praktischen Sinn? Der Sinn ist das „Thema“. Ist das praktische Thema nicht einerlei mit dem 35 doxischen? Hier ist noch Unklarheit.
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Wenn ich den Willen auf Affekti on bezog, parallelisierte ich diese Affektion mit der Affektion in doxischer Sphäre. Da habe ich „Hintergrundphänomene“, aber sagte ich in den Ideen nicht, dass diesen schon die Doxa zugehöre? Und ist das zu halten? Im Hintergrund taucht etwa eine Erinnerung auf, oder im Hintergrund heben sich Empfindungsdaten ab und werden „aufgefasst als Dinge“ (Apperzeption im eigentlicheren Sinn). Können wir anders als sagen, dass jedes solche Hintergrundphänomen sozusagen eine Vorstufe ist für das entsprechende Vordergrundphänomen, derart, dass das auch die Thesen und alles betrifft und hdassi Entsprechendes in Entsprechendes, in einer gewissen Modifikation und dabei wohl immer auch hmiti einer inneren Sinnesbereicherung, übergeht?1 Das ist doch unzweifelhaft. Wie steht es dann mit der Analogie der „Affektion“ in der Praxis? Indessen haben wir noch zu überlegen: Ich vollziehe eine entwickelte Doxa erst in der „Zuwendung“, da ist sie erst wirkliche, wirkliches Daseinsphänomen des und des Gehalts. Wie in der angeblichen Parallele? Auch da ist das „Affizierende“, wenn wir davon sprechen wollen, eine praktische Anmutung, der ich in einer „praktischen Zuwendung“ nachgebe. Nicht ist die reproduktive Gegebenheit eines subjektiven Geschehens die Anmutung, sondern das Anmutende, der Inhalt der Anmutung. Es ist schon ein Vorstadium des Willens gegeben.2 Doxisch haben wir die primitivsten Erlebnisse als Empfindungserlebnisse: In der Zuwendung sind sie Gewissheiten. Erst bei den Apperzeptionen gibt es Modalitäten und schon bei den Erinnerungen und Erwartungen. Erst Assoziation schafft Modalität. Praktisch sind das Primitive die Lei besbewegungen (mögen sie auch nicht als das doxisch aufgefasst sein), und ebenso primitiv hsindi innere tendenziöse Vorgänge. Wie steht das „Nicht-Primitive“ zum Primitiven in der praktischen Sphäre? Die praktische Form (ich meine die vorgängige Anmutung und die These in ihren eigentlichen Modalitäten) folgt der doxischen 1 Aber Apperzeption histi allgemeiner zu fassen als das, was durch protentionale Assoziation „mitgefordert“ und je nachdem als mitzugehörig gesetzt ist, in der Gegenwart oder als zu erwarten, eventuell als nicht da oder nicht eintretend, enttäuschend etc. 2 Hier ist Anmutung keine Modalität des Wollens als Willensgewissheit.
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Form, der doxischen „Qualität“ (Anmutung und doxische Thesis). Dabei aber ist die praktische Form abhängig ihrem Wesen nach von gewissen Sinnesgestalten: Denn nur auf das Künftige und nur auf subjektives Werden kann sie gehen. 5 Das bleibt in Unklarheit stecken. Die Assoziation schafft die Antizipationen verschiedener Form und dadurch Modalität der Doxa. Die Assoziation kommt aber auch als praktische in Frage, sie schafft praktische Antizipation. Was ist das? Doch nichts anderes als die Übertragung des früheren Tuns, das glatt Annehmliches realisierte, 10 auf die gegenwärtige analoge Lage, und nicht als bloße Vorstellung früheren Tuns, sondern als ohne weiteres „Wollen“ (praktische Antizipation) und ohne weiteres in Realisierung Übergehen. Schon in der Passivität. Andererseits Affektion halsi eine passive Tendenz, in Aktivität überzugehen.
h§ 4. Zuwendung als Übergang in ein cogito in allen Aktsphären. Tendenz und Ichstreben als Modi jeden Bewusstseins. Die assoziativ-praktische Antizipation, ichloses Tun und das Urwolleni
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Die doxische Affektion: Ein Pfiff, ein Aufleuchten, ein sich abhebendes „intensives“ Empfindungsdatum affiziert. Es findet das subjektive Geschehen der „Zuwe ndung“ statt; ein Erfassen, das Ich berührt, ergreift es, das Daseiende oder im Fall einer Erinnerung, einer Phantasie, das Gegenwärtig-„Gewesene“, das Quasi-Daseiende. Kenntnisnahme.1 25 Diese „Zumutung“, sich hinzuwenden, ist nicht zu verwechseln mit der Zumutung, hetwasi als wirklich zu setzen. Die Affektion bezieht sich auf das Vorstellige in seinem jeweiligen doxischen Modus. Etwas ganz anderes ist etwa die Neigung der Bejahung, wenn ich vermute (wo ich in entsprechendem Sinn von Anmutung gegenüber 30 der Vermutung sprach, hatte ich das sich bevorzugende Sich-Wenden gegen eine Seite im Auge, eine überwiegende Neigung oder eine Neigung, die gegen eine Gegenneigung sich wendet). 20
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„Anmutung“, Zumutung als Affektion und als Modalität.
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Ist also beim willentlichen Sich-Zuwenden die Sachlage die, dass als Willensanmutung ein Begehren da ist (eine Willensmodalität) und ich dann dieser Willensneigung nachgebend eben will? Als Willensbejahung? Aber das Begehren kann auch sich regen und im Hintergrund auftauchen vor der Zuwendung, in der das Begehren dann vom Ich vollzogenes wird. Also ist zu beachten, dass Zuwendung etwas der doxischen und der praktisch-orektischen Sphäre Gemeinsames ist, und so jedem „Bewusstsein“. Ein subjektives Geschehen eigener Art, sollen wir es schon Trieb nennen? Aber supponieren wir dann nicht selbst wieder ein Begehren und ein dem Begehren eventuell Folge Leisten? Das aber setzt schon das subjektive Geschehen vor dem Begehren entwicklungsmäßig voraus. Was ist Zuwendung in ursprünglicher Form? Das „Ursprüngliche“ ist ein eigentümliches Geschehen, das Hintergrund in Vordergrund oder Bewusstsein vor dem vom Ich ausgehenden aktuellen, sich zuwendenden Bewusstsein hin zuwendendesi überführt, und es ist ein tendenziöser processus mit eigentümlicher Steigerung der Annehmlichkeit. Das Ende kann assoziativ vorgrifflich zu einem Begehrten werden, zum Ziel eines Begehrens, einer Willensneigung (da es Ende eines subjektiven Geschehens ist). So kommen wi r al so da zu, j ede Affektion als Tendenz auf Z uw endung i m Bege hrungssi nn anzusehen, was wir aber ur s pr ünglich doch ni cht ohne wei teres dürfen. Es ist also eine f als che Nebenei nanderstellung, Affektion zur Zuwendung und „Affektion“ als Willensbejahung, es ist das eine und andere eine ganz verschiedene „Affektion“ mit phänomenologisch verschiedenem Sinn. In Wahrhei t haben wir Zuwendung, Über gang in ein cogi t o i n al l en Aktsphären. Das Schwierige ist, die wahren Parallelen zu finden und zu verstehen. Doxisch: ein ganz Ursprüngliches ist das Urwahrnehmen, das wir Empfinden nennen; schon in der ichlosen Passivität. Das Empfindungsdatum konstituiert sich, darin liegt, es ist beständig eine intentionale Einheit, in Gewissheit seiend, mit einer Strecke des soeben Gewesenen und einem protentionalen Horizont. Dazu kommt das vor allem Ich-beteiligt-Sein sich abspielende Walten der Assoziation, damit die Bildung von Apperzeptionen im weitesten Sinn: durchaus Zusammenbildung von Antizipationen auf dem Grund der reproduktiven Assoziation.
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Praktisch: die Parallele der Empfindung das tendenziöse Geschehen der „subjektiven“ Verläufe, wie z. B. die kinästhetischen Verläufe vor aller Ichbeteiligung. Tendenz zur Zuwendung (affektive Tendenz), das Ich in den Vollzug der Doxa übergehend, Auswirkung in Kenntnis und Erkenntnis; ebenso praktischer Vollzug, das ichlos passiv verlaufende Realisieren wird zum ichlichen Tun. Aber die attentionale Affektion und der Vollzug sind doch selbst Hintergrundund Vordergrundtätigkeiten. Also kann das nicht eine wirkliche Parallele sein. Tendenz und Ichstreben sind Modi des Bewusstseins, eines jeden Bewusstseins. Zuwendungen auf Reize hin sind subjektive Prozesse, kinästhetische Verläufe sind andere subjektive Prozesse. Wie gewinnen subjektive Prozesse die Form „Ich tue“? Spielt da nicht die Lust, die axiologische Affektion die wesentliche Rolle? Die Lust an der Bewegung, aber bald abnehmend, bald zunehmend; Reiz der Lust – Reiz, sie genießend festzuhalten, zu erhöhen etc., Reiz zur Aktivität. Aber für die attentionale Aktivität ist ursprünglich nicht die Lust leitend. Ist für die tuende Aktivität sonst Lust notwendig und ursprünglich leitend? Assoziation und Praxis. Eine Leibbewegung in sich angenehm oder von einer angenehmen Folge begleitet. In einem neuen Fall, ähnliche Lage, die Erinnerung an die frühere Leibbewegung geweckt mit ihrer annehmlichen Folge. Aber nicht die bloße Erinnerung bzw. eine bloße Erwartung, dass jetzt die ähnliche Leibbewegung eintreten wird. Vielmehr Tendenz des Eintretens der subjektiven Bewegung selbst – es gibt so etwas wie ursprünglich praktische Antizipation. Sind nicht andere solche Antizipationen in Konkurrenz (ähnlich wie bei der doxischen Erwartung), so ist sie primitiver Wille (im Urmodus der Willensgewissheit), hundi das schon vor der Ichbeteiligung. Danach wäre jedes subjektive Bewegen schon ichlos ein Tun und ebenso jede assoziativ-praktische Antizipation. Im Verlauf des subjektiven Bewegens hätten wir, der Retention parallel, das praktisch Erledigte, der Urimpression parallel den Erfüllungspunkt der „Handlung“, der Protention entsprechend den antizipierenden unerfüllten Tätigkeitswillen, der kommenden Lust entgegenstrebend, entgegenwollend. Die Lust motiviert das Streben, sofern wir unter Streben das Entgegen-Wollen, das antizipierende, verstehen. Was „motiviert“ die „Zuwendung“, den Ich-Vollzug? Tendenz
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zum patent Machen, Tendenz zum bewussten Wollen und Genießen, ebenso Tendenz zum bewussten Vorstellen, Glauben, Kenntnisnehmen etc. In jedem Tun als einem Prozess steckt eine Strecke des Unerfüllten, und somit ein Streben. Aber das ist kein gehemmtes, sondern sich entspannendes in der Erfüllung; ein Wunsch aber ist ein gehemmtes, in keiner Auswirkung, keiner Erfüllung begriffenes Begehren.1 Es geht ein solches aber doch nicht vorher, wenn eine Leibesbewegung ursprünglicher Art zu vollziehen ist. Wir können so sagen: Sowie ein subjektiver Vorgang mit einem annehmlichen Ende (ohne Gegenmotive2) bewusst wird (scil. ursprünglich als mein Geschehen), löst es schon in der Passivität, vor der Zuwendung, ein Streben aus, aber ein hemmungsloses, sich ohne weiteres entspannendes. Das ist also ein, wie passiv, so in der Zuwendung aktiv, sich auswirkendes Urwollen, das beständig in sich sein fiat hat, aber nicht ein fiat, das den Charakter einer „Bejahung“, d. i. einer Entscheidung hat, wie dergleichen etwa statt hat, wenn ein gehemmtes Wollen erlebt ist und Wege der möglichen Erfüllung mitvorstellig sind, einer bevorzugt hwirdi, Gegenwünsche zurückgesetzt werden etc. Also Entscheidung für das eine Glied des Willenszieles. Also haben wir nicht die Schwierigkeit, nicht einen Durchbruch der Parallele, dass der Urmodus des praktischen Gebiets nicht der tuende Wille sei, sondern der Wunsch. Das Ursprüngliche ist, dass ein subjektives Geschehen mit annehmlichem Charakter und seinem annehmlichen Ende nicht etwa in der Vorstellung erst vorschwebt und eine „Affektion“, einen Reiz auf den Willen übt, sondern ohne weiteres tue ich, realisiere ich, so in der Passivität und wieder in der Zuwendung. Die Affektion, die in der Zuwendung sich erfüllt, ist aber ein Gleiches für doxische und praktische Affektion und Zuwendung – ja, wenn nicht „Gegenmotive“ da sind. Was ist das aber? Das schlichte doxische Antizipieren kann Modalisierung erfahren, ebenso das schlichte praktische Antizipieren als das Urwollen. Dann
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Wunsch? Nein, eben gehemmtes Wollen. „Gegenmotive“ sind hemmende Faktoren, mit ihnen ist Willensspaltung, Zweifel gegeben. 2
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kommt ein Neues, eine andersartige Affektion, der Trieb sich zu entscheiden, und es tritt neu auf die Willensbejahung, -verneinung etc.
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X. ZUR WILLENSANALYSE: DAS WIRKEN DES ICH ALS INNERES UND ÄUSSERES TUN UND ERZEUGEN. DIE AUS DEM VOLLZUG VON STELLUNGNAHMEN ERWACHSENDEN IDEALEN BESTIMMUNGEN DES ICH1
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h§ 1. Bleibende Hexis als ideale Eigenheit des Ich. Veränderung des Ich durch Veränderung seiner Überzeugungen. Das Sich-selbst-treu-Bleiben. Das Ich in beständiger Entwicklung durch Vollzug neuer Stellungnahmeni
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Hexis: „Aus ihr gehen Akte hervor“. Wie ist da die phänomenologische Sachlage? Zunächst Folgendes: Ich vollziehe eine Wahrnehmung, „dann“ erinnere ich mich. Woher weiß ich das? Aus der Erinnerung heraus. Jetzt habe ich eine Erinnerung. Wie sage ich nicht nur „Jetzt erinnere ich mich des A“, sondern „Ich habe wahrgenommen und jetzt erinnere ich mich; auf die Wahrnehmung folgte die Erinnerung!“? Ich habe nicht nur jetzt die Erinnerung an A, sondern ich habe das A in der Erinnerung an eine Wahrnehmung von A, und ich habe die Erinnerung auch an das Abklingen der Wahrnehmung, an eine weitere immanente Folge von Erlebnissen, etwa ein gleichzeitiges Erklingen eines Tones in der Wahrnehmung, und dann an das Auftauchen der Wiedererinnerung von A, die jetzt noch fortdauert und an die sich in ihrem Anfang der fortlaufende Erinnerungsprozess, der beschrieben wurde, anschloss oder anschließen konnte. Denn im Allgemeinen werde ich einmal in der Erinnerung lebend sagen „Ich habe A wahrgenommen“ und dann auf mein gegenwärtiges Erinnern reflektieren, oder ich werde etwa auf mein gegenwärtiges Wahrnehmungsgebiet hinblickend sagen „Ich nehme jetzt wahr“, und
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November 1921.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 121 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_10
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zugleich in die Vergangenheit übergehend sagen „Ich erinnere mich“, und zwar gleichzeitig mit dem Wahrnehmen. Also da ist eine erste Reihe schwieriger Beschreibungen. In wiederholter Erinnerung habe ich verschiedene Erlebnisse in der immanenten Zeit, aber mein „Glaube“, meine Überzeugung an das vergangene Sein des A oder an das Sein des A an seiner im Modus wechselnder Vergangenheitsferne identischen Zeitstelle histi dieselbe. Ich hatte über das A auch geurteilt, ich hatte es gewertet – ich erinnere mich jetzt, aber ich habe noch dasselbe Urteil und dieselbe Wertüberzeugung. Ich könnte auch die Erinnerung haben und den Glauben nicht wieder haben, die Urteilsüberzeugung nicht wieder haben und mich nur des vergangenen Glaubens entsinnen. Ist aber die Überzeugung nicht geändert, so ist sie die „fortdauernd“ identische Überzeugung. Der Gegenstand, der Sachverhalt, der Wertverhalt ist dieser Selbe, aber dieser Selbe nicht nur als Sinn, hsonderni als dasselbe „Seiende“: derselbe Sinn in derselben Überzeugung, in demselben gesetzten Sein. Ich erfahre A und A erfahrend habe ich nicht bloß das momentan vorübergehende Erlebnis, sondern ich habe Kenntnis von A genommen und „habe“ damit Kenntnis schlechthin. Sie ist meine bleibende, fortdauernde Kenntnis, mein Erwerb und frei zu meiner Verfügung. Die Kenntnis liegt in mir (eine immanente bedarf nur der ursprünglichen Zueignung und dann der Wiederaktualisierung, der normalen „Wiedererinnerung“, die die Kenntnis wieder aufleben lässt). Ich, das eine Ich, erfasse dasselbe Seiende, ich rezipiere es wiederholt, und darin liegt, ich als dieses Ich, nachdem ich einmal Kenntnis genommen habe, habe eben diese Kenntnis in mir selbst. Nicht in meinem Bewusstseinsstrom ist sie, da sind „wiederholte“ Reproduktionen, aber das sind Ketten verschiedener Erlebnisse, mit verschiedenen doxischen Gewissheitsmomenten – aber ich habe in ihnen dasselbe Objekt und dieselbe Gewissheit. Schon in der Rezeptivität liegt also ein Gesetz der Habitualität; jede Erfahrung (aktive Kenntnisnahme) modifiziert das Ich, prägt ihm eine eigene Hexis ein. Wie steht es aber mit meinem Wissen um diese bleibende Hexis? Wenn ich mich wiedererinnere in einem bestimmten Fall, so kann ich evident sagen, ich glaube nicht bloß ein zweites Mal, sondern ich glaube noch, oder dies, das Seiende, ist dasselbe, ich komme nur darauf im Wiederholen zurück. Ich kann für die Zukunft auch mit
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Evidenz sagen: Es kann eine neue Wiedererinnerung auftreten, und wann immer sie auftritt, ich werde, wenn nicht neue Motive auftreten, denen gemäß ich sagen muss, es war eine Täuschung, dieselbe Kenntnis nur erneuern. Andernfalls werde ich die durchstrichene Kenntnis, die alte Überzeugung in der Form des „nichtig“, oder das alte Seiende in der Form des „nichtseiend“ immerfort gegeben haben. Ich kann, sei es frei erzeugte Wiedererinnerungen desselben Gehalts ablaufen lassen, sei es mir wiederholte Einfälle dieses selben Gehalts aneinandergereiht denken; ich kann mir denken, dass der Glaubensmodus in einer solchen Reihe als aktueller hindurchgehe (also den reproduzierten Glauben der reproduzierten Urwahrnehmung bekräftige, aber auch, dass Zweifel, Negation eintrete). Aber das Letztere setzt gewisse Strukturen voraus und unter widerstreitender Materie einen Gegenglauben, der ursprünglich gestiftet ist. Kehrt rein die gleiche Reproduktion wieder, ohne Überschiebung mit einer anderen, dann muss der reproduzierte Glaube auch zu jetziger Aktualisierung kommen: Ich muss meinem Glauben treu bleiben, ich, der ihn geglaubt habe, muss dabei bleiben; was mir zur Kenntnis kam, das bleibt meine Kenntnis. Solange ich derselbe bin, ist mein Glaube auch derselbe. Ändert sich mein Glaube, so ändere ich selbst mich. „Ich bleibe derselbe“ heißt dann, ich bleibe das unveränderte Ich, und die ei nzi gen Ände rungen, die ich als Ich er fahr en kann, si nd Änd erungen solcher Überzeugungen; mit jeder geänderten ändert sich etwas in mir selbst. Ich bin ursprünglich derselbe in Bezug auf meinen immanenten Erlebnisstrom. Jede Phase stiftet passiv einen immanenten Gehalt als von nun an immerfort identifizierbaren. Ich brauche aber davon nicht Kenntnis zu nehmen. Tue ich es, so kann ich mich eventuell doch täuschen. Ich nehme Kenntnis und muss nachher in Streit mit „mir selbst“ kommen. Ich kann nur sicher sein, mir nur in der Herstellung vollkommener Evidenz immerfort treu bleiben zu können, oder nur ein durch Evidenz, durch einstimmige Herstellung des ganzen Erinnerungszusammenhanges ursprünglich motivierter Erinnerungsglaube kann standhalten und mich als Ich der Kenntnisnahme „ungeändert“ erhalten. Diese Änderung, die Untreue gegen sich selbst, ist natürlich eine Änderung innerhalb der Identität des Ich und eine Änderung ganz besonderer Art. Das Ich als Ich erhält seinen „Habitus“, seine Ei-
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genheit, gibt sie nicht preis. Es muss sie in Fällen des Widerstreits preisgeben, wo das Ich in die Wahl kommt, sich entweder als A glaubend oder als Nicht-A glaubend treu zu bleiben; es kann nicht im Widerstreitglauben sich identisch erhalten. Hält es am Nicht-AGlauben fest, so kann es nicht bei dem Glauben A bleiben (wobei die Rede immer vom bleibenden Habitus ist). Es hat keine Wahl, keine Möglichkeit, die Entscheidung aufzuschieben, es muss sich entscheiden, wenn einstimmige Evidenz nur für A spricht und gegen Nicht-A oder vielmehr den Gegenstand A als seiend ursprünglich gibt. Aber was hier von einem Fall gesagt ist, das ist ein exemplarisch und als exemplarisch evidenter Fall, d. h. im Einzelfall erschauen wir in eidetischer Einstellung und Ideation, dass es notwendig und allgemein gilt. Gibt es nun eine andere Art, sich vom Dasein einer Hexis und von einer solcher Eigenschaft oder Eigenheit des Ich als Ich zu überzeugen, den Sinn der Rede von einer solchen bleibenden Hexis zur letzten Klarheit zu bringen? Das Ich (der Pol der Akte) ist kein Reales, das durch die Zeit hindurch als eine Art res extensa, nämlich als zeitlich Ausgedehntes und durch Zeitstellen sich Individualisierendes angesehen werden könnte. Daher kann es auch keine Eigenschaften haben wie ein Reales. Als Identisches in der Mannigfaltigkeit von Akten, als ein gegenüber der Realität aller seiner Erlebnisse „Ideales“ kann es nur ideale Eigenheiten haben, und da es ist, was es ist, nur als in seinem Aktleben „lebendes“, dadurch auf seine „Umwelt“ bezogen – in sie „hineinlebend“ –, so kann es ideale Eigenheiten nur haben, die sich in diesen Beziehungen gleichsam als realisierende Vereinzelungen von Akten bekunden. Dass es sich nicht um Allgemeinheit eines Eidos handelt, wissen wir. Also, was vorliegt, ist, dass das Ich einen Akt vollziehend damit als Ich eine Stellung nimmt, die ihm „verbleibt“, in ihm nicht im eigentlichen Sinn dauert, da hier von einer Dauer (als Extension) keine Rede sein kann, die sich als bleibende eben in den obigen Wesenstatsachen bekundet. Wonach das Ich hdiei einmal angenommene Stellung festhält in der Weise, dass es evidenterweise in neuen Fällen nicht nur die gleiche Stellung annimmt, sondern hdassi die Identität seiner Ich-Stellung, deren Korrelat Seiendes, Wert etc. ist, darin gesehen werden kann. Wir haben bisher nur von Kenntnisnahmen gesprochen. In höherem Maß gilt das Gesagte aber von Denkakten und Erkenntnissen
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im höheren Sinn, von wertnehmenden Akten natürlich auch, und von polythetischen Wertungen und Werterkenntnissen, von Willensakten und von allen vom Ich ausgehenden oder das Ich zu sich hinüberziehenden Strebungen. D as Ich i st i n beständiger Entwicklung, s ofer n es i mm er neue Stel l ungnahmen vollz ieht, einfache und aufeinandergebaute, in denen sich dann auch neue seiende Gegenstände konstituieren. Indem das Ich ein prädikatives Urteil zum ersten Mal aus einer bestimmten Motivation her vollzieht, ist eine polythetische Einheit der urteilenden Stellungnahme vollzogen, für das Ich eine bleibende Eigenheit der Art der Urteilsüberzeugung. Eine Behauptung, zu deren Wesen Ausdruck und zwar mitteilender gehört, wendet sich an andere, ist Geltend-Machen der Überzeugung. Es ist dann die Überzeugung in eine zeitliche Funktion getreten: Hier und jetzt, diese Person will ich überzeugen durch Mitteilung meiner Überzeugung und ihrer Geltend-Machung durch Autorität (die etwa suggestiv wirken soll) oder durch mitgeteilte Begründung, die auf den anderen wirken soll. Meine Überzeugung ist ein Bleibendes und Überzeitliches, meine Behauptung (mein Behaupten) aber ein Zeitliches, das jetzt wirken und in anderen eine überzeitliche Überzeugung erwirken soll. Zeitlichkeit hat allerdings auch die Überzeugung, sofern sie ihren Stiftungspunkt hat und von da an eine Zeitstrecke, in der sie nicht im wahren Sinn extendiert ist (als Irreales), aber für sie beständig gilt.1 Jede habituelle Überzeugung kann in jedem Punkt ihres Geltungshorizontes in die „Erscheinung treten“, aktualisiert werden in einem zeitlichen Akt und durch ihn reale Wirksamkeit gewinnen.
h§ 2. Weltapperzeption als Habitus. Affektion und Zuwendung. Ich-Tendenz als Hingerissenwerden des Ich und das sich im realisierenden Tun erfüllende Ich-Streben. Jeder Gegenstand als habitueller Besitz aus „Erzeugung“i So wirkt das Ich als Ich in doppelter Weise in der Zeitlichkeit, und in doppelter hWeisei erfährt es Wirkungen. Das Ich wirkt: Was 1 Da ist die Rede von der immanenten Zeitlichkeit. Die Frage der mundanen Zeitlichkeit muss besonders erwogen werden.
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kann das überhaupt besagen? Und hwas besagti: Das Ich erfährt Wirkungen? Das Ich wird von einem Immanenten affiziert, z. B. von einem Tondatum. Es wird ein Trieb zur Zuwendung erregt, und ihm folgend erfasst das Ich das Datum. Wir können also sagen, das Ich erfährt hier Wirkungen. In der Erfassung wird ein bleibender Glaube gestiftet. In den bekannten Abläufen der Empfindungsdaten unter Kinästhesen erwachsen unter Wirkungsweisen der unteren Sphäre Tendenzen auf Opthimai, und es werden Raumgegenstände konstitutiert, also neues, bleibendes Sein gestiftet, und eine äußere Umwelt ist da. Wir haben also ein gesetzmäßiges Geschehen oder ein Wirken in der unterichlichen Sphäre und von ihr ausgehendes Wirken auf das Ich und in weiterer Folge ein Reagieren des Ich, ein „Wirken“ desselben in Form von Ichakten, von Kenntnisnahmen und Wertnahmen als primitivsten Tätigkeiten, von äußeren Wahrnehmungstätigkeiten; dabei treten primitive „innere“ und „äußere“ Handlungen auf. Der Trieb und Wille, dunkel Auftauchendes der Erinnerung in klare Selbstgebung zu verwandeln bzw. zum Selbst vorzudringen, die früheren Koexistenz- und Sukzessionszusammenhänge schrittweise wiederherzustellen oder ein indirekt gesehenes Ding direkt und möglichst optimal zu sehen, die unsichtige Rückseite eines Dinges kennenzulernen, die Vorderseite näher, besser zur Kenntnis zu bringen, die Erwartung, ein durch eine Anzeige Angezeigtes durch eine Leibesbewegung, durch Fortschreiten im indizierten raum-dinglichen Zusammenhang zur Erfüllung, das Angezeigte zur Wahrnehmung zu bringen oder einen Schub oder Stoß zu vollziehen, um ein Ding von der Stelle zu rücken, ihm eine bestimmt gerichtete Bewegung zu erteilen etc. Das I ch, bes ti mm t durch Systeme der Wirkung der unter ichlichen ps ychi schen Sphäre, entwickelt in sich („bestimmt“, sagte ich, nämlich zu gewissen Trieben und reaktiven Akten) di e r aum- di ngl i che Apperzeption aus, einen allgemeinen H abit us , der si ch i n besonderen Apperzeptionen immer wieder b ekundet, in besonderen Wahrnehmungen usw., mit denen ein besonderes Dasein für das Ich zur Stiftung kommt, eine besondere habituelle Stiftung. In der Subjektivität, zu der wesentlich Ich und „Bewusstseinsstrom“ gehören, konstituiert „sich“ die bleibende Welt für das Ich, aber das Ich, so sehr es in seiner Tätigkeit an dieser Konstitution beteiligt ist, schafft sie nicht, erzeugt
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sie nicht im gewöhnlichen Sinn, ebenso wenig wie es sein vergangenes Leben erzeugt, seinen Strom ursprünglicher Sinnlichkeit erzeugt, obschon seine ganze Erlebnisvergangenheit ein Daseiendes für das Ich nur ist durch des Ich Kenntnis nehmendes Erfassen, durch seine tätige Identifikation.1 Das Ich strebt, es ist getrieben, es wird affiziert – darin liegt keine „Setzung“, keine Stellungnahme. Eine solche liegt erst vor, wenn ein antizipierender Glaube vollzogen ist, eine „Apperzeption“, eine „Appräsentation“, und der Trieb von dem Ich her Richtung bekommt auf das Antizipierte, oder vielmehr Strebensrichtung. Denn wir müssen da scheiden: das Spi el von Affektion und Zuwendung, und das Spiel des dur ch ei ne Anti zi pation hindurchgehenden „ Tr iebes “ zu d em „ Sel bst “ des Antizipierten und der er füllend- real is i eren den Erfassung des Selbst, der Z ueignung des Sel bst. Werde ich von einem Pfiff affiziert und werde ich zu ihm hingerissen, so wird auf das Ich ein Zug ausgeübt und im Ich eine Ich-Tendenz, ein Hintendieren des Ich geweckt und ist darin eventuell sich haltend und steigernd vorhanden, bis der Tendenz vom Ich her nachgegeben hwirdi, der „Trieb“ in realisierende Entspannung übergegangen ist. Aber wir müssen diesen „Trieb“ unterscheiden von dem ganz anderen Trieb des erfahrenden Strebens, in dem das Ich innerhalb der Zuwendung, also gerichtet auf einen Gegenstand, „fortgetrieben“ wird zu einem zweiten sich darin darstellenden und anzeigenden Gegenstand, der also selbst in die Zuwendung tritt; die Aufmerksamkeit geht (das Ich wird getrieben im ersten Sinn) von dem einen zum anderen über. Aber der zweite Gegenstand ist nur aufgemerkter als dargestellt, angezeigt, und nun entspannt sich der zweite Trieb in der Realisierung, einer Zuwendung in einem anderen Sinn, einer Ich-Tätigkeit, die das Selbst heranbringt oder sich zum Selbst hin bewegt und es in den Griff bekommt. Dieser zweite Trieb ist das Ic h-Streben, und seine Erfüllung ist das r ealis ier ende Tun de s Ich. Die Realisierung im bloßen Trieb ist kein Tun. Tätig ist das Ich, das „bewusst“ auf sein „Ziel“ gerichtet
1 Und gleichwohl: Die ursprüngliche Konstitution ist der Prozess, in dem das Ich es lernt, eine ideale Einheit, genannt reales Selbst, zu erzeugen, und jede Wahrnehmung ist eine Anweisung zu einer der Möglichkeit nach gesicherten Erzeugung eines realen Selbst.
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ist. Wir sprechen freilich auch von Trieb da, wo das Ich bewusst sich hin „getrieben“ weiß, wo sein Triebziel ihm vor Augen steht, sei es auch noch so unklar, leer. Das I c h w ir kt, i ndem es strebend sich verhält, und zwar das E r s tr ebt e r eali si ert. Mit einem Wort, das Ich wirkt im Tun (Handeln im weitesten Sinn). Das Tun kann also ein inneres sein, z. B. in der Klärung einer Wiedererinnerung, in der klaren Vergegenwärtigung einer Anzeige, in der Klärung einer Wortbedeutung, auch im Suchen des passenden Wortes selbst und komplexen Ausdrucks für einen Gedanken. Doch das war nicht ganz korrekt. Denn hier geraten wir schon in das Tun hinein, in dem ideale Gegenständlichkeiten gesucht und erzeugt werden, gemäß Antizipationen, die auf Ideales gerichtet sind. Das Tun kann auch auf äußere Gegenständlichkeiten gerichtet sein, auf Leibesbewegung, auf ein Stoßen, auf äußere Vorgänge die ich in meiner Macht habe, die ich erstrebe und realisiere. Es kann auch gerichtet sein auf das Erscheinende, Dargestellte, nämlich auf die Erzielung seines „Selbst-Da“ nach den und den Seiten, die bloß mitwahrgenommen, aber nicht selbst wahrgenommen sind. Ich fasse die dingliche Realität selbst als ein Erzeugnis bzw. frei erzeugbares ideales Sein eines besonderen Typus. Jeder „Gegenstand“ ist in diesem Sinn Erzeugbares. Aber es heißt, der Gegenstand ist da, und ich erfasse ihn nur und bringe mir ihn zur fortschreitenden Selbstgegebenheit. Nehme ich ihn wahr, so ist er für mich eine bereitliegende, mir zur freien Verfügung stehende Idee, die ich fortschreitend in Freiheit erzeugend mir realisieren kann. Ist er als mitdaseiend gesetzt, so kann ich von meinen Wahrnehmungen anderer Gegenstände aus ihm zustreben und ihn wahrnehmen, also selbst erzeugen. Jeder Gegenst and, ei nm al gesetzt, ist gesetzt in einer habituellen Setz ung, er i st ei n fester idealer Satz.1 Mein momentanes Tun ist vorübergehend, und das Erzeugte selbst ist momentan Realisiertes. Aber jede neue Erzeugung erzeugt dann das schon Vorhandene, das heißt, bringt dasselbe ein für allemal für mich als Satz Bleibende zur erneuten „Gegebenheit“. Für reale Gegenstände heißt das, der einmal in seiner jeweiligen Zeitlichkeit, zugehörig zu der des
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Jeder Gegenstand histi ein habitueller Besitz aus „Erzeugung“.
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Wahrnehmens, erzeugte hGegenstandi ist wiedererzeugbar, aber sei es in der Erinnerung mit derselben Zeitlichkeit oder in neuer Wahrnehmung in einer neuen Zeitlichkeit und in einem entsprechenden Seinsgehalt für sie (er, derselbe); was im Sinn angelegt, im Horizont 5 der Setzung beschlossen ist.
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h§ 3. Das äußere Erzeugen von Werken. Das Werk als bleibendes Sein einer bleibenden Absicht. Der erledigte und der preisgegebene Wille. Willensgesinnung und wertende Gesinnung. Der auf eine Idee und ihre realisierende Selbstgebung gerichtete Willei Nun kann das Reale ein Sich-Änderndes sein, andererseits kann ich auch frei tätig, statt das Sich-Verändernde wahrnehmend hzui verfolgen und so sein immer neu bestimmtes, aber in den Wandlungen identisches Selbst zu realisieren, selbst eine Veränderung oder eine Änderung der Veränderungsverläufe erwirken und so den Gegenstand bzw. den Vorgang umgestalten, z. B. indem ich den Gegenstand anstoße oder während einer Bewegung ihm ein ablenkendes Hindernis in den Weg lege. Oder ich kann die Gestalt und sonstige Bestimmtheiten des Gegenstandes, seine Qualitäten verändern, also einen abgeänderten, wir sagen dann auch einen neuen Gegenstand erzeugen. Er ist mein Werk, und ich erkenne hihni auch wieder als ein von mir Erwirktes, ein von mir durch Eingreifen in den Verlauf des Werdens (des Von-sich-aus-Werdens) frei Erzeugtes, unter Umgestaltung von „Gegebenem“. Ein Werk sieht im Allgemeinen anders aus als ein Selbstgewordenes. So kann ich an seiner Gestalt etc. den Gegenstand unter anderen Gegenständen wiedererkennen, nicht nur als dieses Individuum, sondern als mein Werk. Und wieder kann ich so Gegenstände in Gemeinschaftszusammenhängen als Werke (die ich nicht selbst erzeugt habe), aber halsi Werke anderer wiedererkennen. Ich kann es wollen, dass etwas, das so ist, anders sei. Das kann ein vorübergehender Wille sein. Mich stört momentan ein vorstehender Baumast, ich reiße ihn ab; nachher habe ich kein Interesse daran. Ein Werk ist etwas, das ich als ein dauerndes Sein erstrebe und realisiere, und nicht erstrebe ich dabei bloß eine Änderung eines Daseienden,
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sondern wenn ich auch durch Veränderung am Daseienden das Werk erzeuge, so will ich das Gewordene als so Geartetes und bleibend so Fortdauerndes, und am vorangegangenen Material habe ich kein Interesse mehr. Ich kann später das Werk zerstören, weil es mir nicht mehr wert erscheint, oder es umarbeiten, dann verändere ich es als Werk, als schlichte Realisierung meiner eigentlichen Absicht. Zu einem Werk gehört eine vorangegangene Absicht, deren Verwirklichung das realisierende Streben gilt. Ist sie verwirklicht, so ist das Werk nicht nur bleibendes Sein, sondern bleibende Verwirklichung meiner bleibenden Absicht, hdiei selbst also auf bleibendes Sosein gerichtet ist. Eine momentane Absicht kann eine momentane Realisierung finden, und dann ist das momentane Werk da und schon vernichtet als Werk, da es nicht als bleibendes beabsichtigt ist. Ein momentaner Behelf ist kein Werkzeug, das geschaffen ist als bleibendes, um beliebig oft dienen zu können. Ein momentanes Bild im Sand ist kein Werk wie eine künstlerische Zeichnung, die geschaffen ist, um immer wieder geschaut zu werden, oder wie ein Haus, das geschaffen ist, dauernd bewohnt zu werden und dauernd in würdiger Weise (in beliebig wiederholtem Anschauen) der Idee eines behaglichen Landhauses oder einer Kaserne Ausdruck zu geben. Ein zielgerichtetes Streben ist Begehren, wo noch kein möglicher Wille und Weg frei liegt. Begehren ist nicht bloß Wünschen, wobei ein Wollen nicht in Frage ist, wo „ich nichts dazu tun kann“. Das Begehren ist immer bereit, darauf los zu springen, wenn sich ein möglicher Willensweg, eine mögliche Handlung eröffnet. Dem Begehren geht Wollen, und zwar Handeln vorher, nämlich in Form von erwogenen Möglichkeiten, deren einige untunlich sein mögen, deren Fülle aber noch nicht erschöpft ist. Beim Wünschen braucht noch gar keine praktische Frage aufgetaucht hzui sein; es genügt, dass ich ein Gut vermisse und ich in Folge davon danach „strebe“, es wünsche. Handelnder Wille ist praktische Setzung, die einen Willensweg einleitet; die realisierende Entspannung des Strebens (und aller Wille ist auch Streben) im Durchlaufen des Weges und das Terminieren im Erzielten charakterisiert die Wegdurchlaufung und seinen kontinuierlichen Willens-(Handlungs)modus: wenn der Wille eben in einem „Ende“ sein Ziel, sein Werk haben soll. Gewollt kann aber auch eine unmittelbare Handlung selbst, ein Bewegen meiner Hand etc., sein. Dann ist sie selbst Weg und Ziel in Deckung von
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Phase zu Phase. Liegt ein Ziel am Ende des Weges, so kann es wieder sein ein ruhendes, ein Werk, oder ein Vorgang, und dieser Vorgang kann selbst ein unmittelbarer subjektiver Willensvorgang sein. Der entspannte, erfüllte Wille ist nicht notwendig „erledigter“, in Form der Erledigung aufgehobener Wille. Geht der Wille auf ein Bleibendes, so ist das Eintreten und weitere Verharren des Bleibenden ein willentliches, und das Werk ist fortdauernd Werk, es hat an sich den Charakter des „willensgemäß Gewordenen und Seienden“ an sich: auch wenn es nicht aktuell erfahren ist. Tritt es wieder in die Erfahrung, so tritt es mit diesem Charakter auf. Ist der Wille erledigter, dann tritt er mit dem Charakter des erstrebt und gewollt Gewesenen und Erledigten auf. Der Wille, nicht der Willensakt, sondern der bleibende Willenssatz (die Willensges innung, wie man vielleicht auch sagen kann) ist noch bei der Sache, gehört ihr zu. Sie dauert noch fort als willensgemäß. Der Wille kann aber auch preisgegeben und, trotzdem er schon realisiert ist, aufgegeben sein. Die Sache war mir als werte, liebsame im Vorsatz vorgesetzte; in der Erfüllung war das Werte realisiert oder das als wertvoll Geltende realisiert. Stellt sich mir der Unwert heraus, habe ich mich im Wert getäuscht, oder stellen sich Unwerte aus neuen Relationen neu heraus, so will ich das nicht mehr, sein Dasein ist mir nicht nur unlieb, sondern es ist zwar gemäß meinem früheren, auf dauerndes Sein gerichteten Willen da und diesem Willen gemäß, aber dieser Wille ist nicht mehr mein Wille (meine Willensgesinnung). So ist auch ein Werten, ein Schönwerten, an einer Sache Gefallen haben, nicht nur ein momentaner Akt, sondern eine bleibende Gesinnung, und ist sie ein dauerndes Sein, so ist dies nachher dauernd „gefällig“, wert. Der Wille geht auf die Zeitlichkeit, sofern er auf künftiges Dasein geht, und er geht auf die Zeitlichkeit auch insofern, als er auf die Dauer des künftig Seienden geht: gemäß der wertenden Gesinnung. Werte ich etwas nur momentan und für Momentanes (momentan geniert mich ein Zweig und hindert mich, eine Aussicht zu genießen, um dessen willen ist er mir momentan unwert), so ist auch die Willensgesinnung beschränkt. Umgekehrt kann mir ein Baum da im Bild wert sein, weil er die Aussicht als Bild hübsch umgrenzt. Ich habe flüchtige Werte und flüchtige Mittelwerte und Dauerwerte, dauernde Mittelwerte.
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Ich habe auch allgemeine Werte, allgemeine Zwecke und Gegenstände, die geeignet sind, als Mittel für Zwecke einer allgemeinen Art und Form zu fungieren. Ich erzeuge Werke, die ihren Sinn haben als „Werkzeuge“, und ihnen haftet für mich ihr Dauercharakter als Werkzeuge, als Hammer, Feilen, Waffen, als Waagen, Leitern etc. an. Sie können „unbrauchbar“ werden, dann sind sie nicht mehr wirkliche Hämmer etc., sondern gewesene, und sie verlieren ihren Charakter aus der nun aufgehobenen Willensgesinnung. (Zunächst sprechen wir da von solchen Dingen in solipsistischer Beziehung, erst dann in intersubjektiver.) Erzeuge ich einen Vorgang, so ist er, solange er verläuft, willentlich von mir her erwirkt und meiner Willensintention gemäß. Ist er abgelaufen, so ist der Wille (bzw. die durch die Willenskontinuität hindurchgehende Willensgesinnung) erledigt. Erzeuge ich einen Vorgang, in dem sich eine Idee realisiert, wie ein musikalischer Vorgang, so kann der Wille auf diese Idee und ihre konkret realisierende Selbstgebung gerichtet sein. Gelingt mir die Herstellung des Vorganges bzw. diese Realisierung unvollkommen, so kann ich auf Vollkommenheit gerichtet hseini; ich kann einen Willen haben, Macht über solche Vorgänge durch Übung zu gewinnen. Ich habe dann vor Augen Reihen solcher Vorgänge, in denen die Idee je nach dem Gelingen unvollkommen oder vollkommen, ohne oder mit Fehlern realisiert ist und mit dem Ergebnis, dass ich in Freiheit (eingeübt) jederzeit die Idee wieder realisieren kann und immer in vollkommenerer Weise. Nun liegt diese Idee in meinem praktischen Feld, sie bildet für mich eine Art Besitz, ich „habe“ sie als Musik in meinem Repertoire. Die objektive Existenz des musikalischen Werkes ist nichts anderes als diese praktische Existenz, nämlich dass jeder Begabte auf dem Weg der Einübung dieses Werk immer wieder spielen kann. Und der Künstler schafft das Werk als seine Idee, aber auch mit der Absicht, dass die Menschen es spielen und andere Menschen, was ich hinzufüge, es danach hören und immer wieder als „edel“ erschauen und genießen können. Im Ich-Wirken (Streben, Wollen) konstituiert sich für mich eine an sich seiende Natur, eine sich von sich aus verändernde oder unverändert verharrende. Im Ich-Wirken als Werten konstituiert sich das Reich der Naturschönheit und der Naturwerte überhaupt, mittels des Willens das Reich der Nützlichkeiten, der als „Rohmaterial“ für
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Werke und für praktische Zwecke jeder Art nützlichen Dinge, ferner das Reich der Werke, auch der Werke, die einen geistigen, idealen Sinn haben.
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h§ 4. Erkenntniswerte und -werke. Das theoretische Interesse als Interesse am Optimum der Füllei Auf die Welt und alle Gegenstände überhaupt beziehen sich die Erkenntniswerte und -werke, die in Bezug auf Gegenstände durch Tätigkeiten des Ich konstituiert werden als ideale Gegenstände oder als ideale Gebilde, die ihrerseits wieder zu schlichten Gegenständen (durch Identifizierung) werden und frei verfügbar sind als Substrate eventuell neuer Bildungen des Ich. Die Erkenntnisgegenstände sind die logischen Gegenstände und unterstehen ihrer Form nach den logischen Gesetzen. Ihre fundierte Bildung bringt es mit sich, dass sie konstituiert werden können aufgrund von unklar oder leer gesetzten Gegenständen oder von selbstgegebenen, und dass so verschiedene Möglichkeiten der „uneigentlichen und eigentlichen“ Gegebenheit unterscheidbar sind. Die wahren logischen Gegenstände (die wahren Sätze) sind das „Selbst“ der logischen Gebilde als Ziel, als Zielideen. Das s elbs tgebe nde Bewuss tsein ist das das Selbst er zielende; das logische Evidenzbewusstsein ist das aus der Selbstgebung der Gegenstände-worüber in ursprünglich tätiger Erzeugung die logischen Gebilde erzeugende Tun. Das leere oder unklare Bewusstsein gibt auch „Gegenstände“, die sich identifizieren lassen und Substrate für logische Aktionen (Gebilde und Handlungen) werden können. Aber jedes unklare hBewusstseini lässt sich in ein klares, jedes auf ein Selbst und ebenso hlässt sichi jedes völlig dunkle, leere hBewusstseini auf ein Selbst hinleiten, und das Selbst ist das „Optimum“; das ihm zugehörige „sachliche Interesse“, der Wert der Sache selbst als Sache selbst, bestimmt die Erkenntnisbewegung. D i e „ Intentio nalität “ ist eine mehr deuti ge Rede. Im Unklaren einer Klarheitsreihe gegen ein Selbst stellt sich immerfort dasselbe vor; es geht durch die Kontinuität des Ablaufes eine Einheit der „Deckung“ hindurch, und so können auch gesonderte solcher unklaren Gegebenheiten in Deckungseinheit treten;
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und diese Möglichkeit gehört zu ihrem Wesen. Sind aber Unklarheiten in Übergangssynthese mit Selbstgegebenheiten getreten, so heißt diese Synthese darum Synthese der Erfüllung, weil das Leere der Unklarheit seine steigernde Fülle erhält und die Steigerung hin zum Limes führt.1 Andererseits gehört zur Fülle des Selbst das „theoretische Interesse“, das I nter ess e des O pti m um s, des Limes der Interess ens teiger ung. Und so versteht sich das Erwachen eines Strebens, wo immer das Interesse am Gegenstand geweckt und bestimmend ist, eines Strebens, das auf das Optimum, auf das Selbst, die Sache selbst geht und auf seine mögliche Erzielung. Wir haben also die Intentionalität des Strebens hhinidurchgehend durch die Intentionalitäten in dem anderen Sinn, durch das aufmerkende, erfassende Bewusstsein, in dem der Gegenstand eventuell in wechselnden Klarheitsstufen als das bewusste Etwas und als Deckungseinheit bewusst ist. Durch die praktische Erkenntnisintentionalität, die ihr Ziel im Selbst hat (noetisch: ihren Terminus in der Evidenz), bekommt der Gegenstand, das Identische, den Charakter des Themas und in der Erzielungsform den des Selbst, des wahren Seins, des wahrhaft seienden Gegenstandes, in dem das Erkennen sein Ziel erreicht und das daher hier Kenntnis und Erkenntnis im gegenständlichen Sinn heißt. Von E rkennt nis sprechen wir für die logischen Gegenstände in ihrem Modus des Selbst, onthischi ist die logische Erkenntnis der Logos selbst oder die Wahrheit, aber eben als erkennend erzielte. Das Verstehen von Zeichen, das lesende und deutliche Verstehen: Man ist dabei zumeist und normalerweise eingestellt eben nur auf das deutliche Verstehen; beim Lesen klingt eventuell zunächst nur der Gedanke an, wir stocken und lesen langsamer noch einmal, bis sich der gegliederte „Gedanke“ mit allen deutlich unterschiedenen Gliedern und in der deutlich erfassten Gesamteinheit einstellt bzw. zur synthetischen Erzeugung kommt. Dabei stellt sich bald ohne weiteres der Gedanke im doxischen Modus der Überzeugung ein, bald stocken wir in dieser Hinsicht, wir haben ihn als eine Zumutung, die uns zweifelhaft ist oder die wir aus dunklen inneren Motiven ablehnen. Das genügt für unser Interesse. Man wird sagen, dass hier
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Nein, weil die Erkenntnisintention sich auf das Selbst richtet.
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doch geschieden werden muss theoretisches Interesse und letztausweisendes normatives Interesse: Das Interesse, das oben als theoretisch beschrieben wurde, ist, wird man sagen, das normative, das an dem Erwerb der Sachen „selbst“.1
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h§ 5. Passivität des Ich – „mechanisch“ hingezogen von Reizen, „mechanisch“ genießend – gegenüber freier Stellungnahme im aktiven Glauben, Werten und Tun. Urteilswahrheit, Wertewahrheit und Willenswahrheiti 1) Das Ich wird affiziert, es erfährt einen Reiz zur Zuwendung, es wird „mechanisch“ hingezogen, und bei einer gewissen, andere Erzeugungen von Reizen überwiegenden Kraft wird die Zuwendung „ausgelöst“. Empfindungskomponente und Gefühlskomponente (allgemeiner: Sachkomponente und Gefühlskomponente). Passivität des Ich im Zugewendetsein, das Ich ist passiv motiviert durch das Gefühl; es genießt, es haftet an der Sache, sofern sie Sache des Gefühls ist. Neue Reize, die von verborgenen oder inexpliziten Momenten der Sache ausgehen, führen zum Durchlaufen der Sache, zu ihrem Explizieren, zu ihrem Herausstellen nach den selbst nicht gegebenen Momenten (äußere Gegenstände) und entsprechendem Genießen. Der ichferne Gefühlsreiz wird zum „Ich fühle“, „Ich genieße“: Passivität des Ich. Positiv: Wollust, negativ: Schmerz, Leiden. In der Passivität des Leides wird das Schmerzliche „genossen“. 2) Freie Stellungnahme. Die Wahl. Ich werde von Reizen hin und her gezogen, „mechanisch“. Am Einzelnen hafte ich, „mechanisch“ genießend. Der Gegenstand des Genusses kann aber auch ein Gefallen, ein Lieben in mir erregen; statt unfrei an ihm zu hängen, kann ich mich ihm frei hingeben und ihn „ täti g “ werten. Auch negativ werten. Ich kann den einen vor dem anderen wertend bevorzugen und die Intensität des Reizes und die passive Genussintensität unterscheiden von der Höhe des Wertes oder der Vorzüglichkeit des Wertes. Das Werten geht von mir aus (strömt aus), ebenso wie das aktive „Ich
1 Interesse an der Bildung und einstimmigen Fortführung logischer Gedanken, theoretischer Überzeugungen – Interesse an ihrer letzten normativen Ausweisung.
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glaube“, „Ich urteile“ im Vergleich mit der passiven Betrachtung des Gegenstandes und seiner Einheit, die keine „Stellungnahme“ ist. Ebenso beim Streben. Ich stelle etwas vor, das mich „in der Vorstellung“ durch ein Lustmoment anzieht. Ein realisierender Weg dahin ist offen, passiv gebe ich nach und werde hingezogen, die Realisierung läuft ab. Demgegenüber: Ich strebe frei wollend dahin, ich entscheide mich für den Wert praktisch; frei nehme ich wertend Stellung und frei entschließe ich mich, entscheide ich mich; praktisch und frei ist die Handlung als ein „Ich tue“ und nicht „Ich lasse mich dahin treiben, bin bloß Stelle der passiven Auslösung“. Im aktiven Gl auben konstituiert sich das Sein und Sosein; hdiesesi kann selbst ein Interesse erwecken und aktiv gesetzt identifiziert werden als fundiertes. Im akti ven Werten konstituiert sich der Wert, der selbst ein „theoretisches“ Interesse erregen und als gegenständlich seiend gesetzt werden kann. Im aktiven Tun (Handeln) hkonstituiert sichi die Handlung, die Tat, die, wenn sie ein Dauerndes, Verbleibendes ist, „Werk“ (physisches und geistiges Werk) heißt. Der wahrhaft seiende Wert weist zurück auf ein Wertnehmen als ursprünglich freies Wertsetzen und zurück auf den Unterschied von antizipierendem Werten und evidentem, erfüllendem Werten. Aufgrund leerer Vorstellung und hvoni in leerer Vorstellung vergegenwärtigtem Wertmotiv (einem Gefühl) nehme ich wertend Stellung; so wie in der Passivität das unklar vorstellige Gefühl ein passives Streben und Realisieren motivieren bzw. auslösen kann, das dahin tendiert und führt, den Gegenstand zur Gegebenheit zu bringen und damit das Gefühl in die originäre Gestalt zu verwandeln, in der das Ich es genießen kann; oder wie wir auch sagen können: So wie ein in der Vorstellung auftauchender Gegenstand und die Vorstellung des Genusses, des Gefühls an diesem Gegenstand, ein Streben motivieren kann, in eins den Gegenstand selbst und den Genuss herzustellen, so kann dasselbe auch hinsichtlich des in der Vorstellungsmodifikation auftretenden aktiven Wertens statthaben. Statt Vorstellungsmodifikation sage ich besser „Antizipation“. Das antizipierende Bewusstsein und das selbstgebende sind Bewusstsein vom Selben. Der Satz, das Gesetzte (sowie die Setzung des Ich als Setzung dieses Sinngehaltes) ist ein und dasselbe, aber einmal ist das Gesetzte selbstgegeben, bewusst im Modus der Selbstgegebenheit, und das andere Mal durch Unklarheit hindurch vermeint. So im
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Glauben, so im Werten, das in sich selbst die Modi der Leere, der Unklarheit hat und von ihrer Vorstellungsunterlage übernimmt, und so das Streben und Wollen in seiner noch höheren Fundierung. Durch diese Steigerungen der Bewusstseinserfüllung geht aber, sofern diese Steigerung selbst das Gefühl, und zwar lustvoll bestimmt, ein Streben. Die evidente Gegebenheit ist selbst ein Wert, und die Wertung ist selbst eine Endwertung, eine Wertung, die kein bloßes Wertvermeinen ist. Ebenso ist das freie Streben, das auf evidente Gegebenheit gerichtete Wollen, ein erfülltes Wollen und hat nichts von Antizipation. Das Selbst bzw. der Selbstwert des Selbst motiviert den freien Willen, motiviert das Ich zum realisierenden Streben und eventuell vorher zum bleibenden Entschluss, dergleichen überhaupt anzustreben. Muss dabei der Wert und seine Realisierung gegenständlich sein? Muss sich seine Seinssetzung vollziehen und dann die Seinssetzung im Modus des „selbst“ gewertet erstrebt werden? Aber kommen wir damit nicht auf einen unendlichen Regress? Wo immer ich ein Tun vollziehe, bestimmt mich (motiviert mich) eine wertende Stellungnahme, aber nicht ein gegenständlich gewordenes Wertsein, das nur immerfort vorgegeben ist, vor-konstituiert, aber nicht schon als gegenständliches Sein im Glauben gesetzt. Wir haben also eine U rtei l swahrhei t bzw. ein wahres Sein. Wir haben eine We rt ewahrhei t: wahre Werte und Wertgebilde, – wir haben eine Wi ll enswa hrhei t: wahre Handlungen, Taten, Werke. Wir nehmen dabei die vollen Konkretionen, so dass hdasi Selbst des wahren Wertes das wahre Sein der fundierenden Glaubenssetzungen einschließt, während sonst der Wert nur als „hypothetischer“ Wert Geltung hat und selbstgegeben sein kann. Zum Beispiel die Freude an einem (berechtigten) Ereignis als Wertung und Wertgesinnung: Es kann ein wahrer Wert sein und als das eingesehen sein, aber die Freude am Sein ist nur berechtigt, wenn das Ereignis ausweisbar ist als wahre Wirklichkeit. Ebenso der gute Wille, die gute Tat etc. Der Entschluss ist ein richtiger, wenn seine Wertvoraussetzungen wahre Werte betreffen, und die Tat ist eine wahre, wenn sie nicht nur in Wahrheit geschehen ist als Handlung, sondern wenn die „Gesinnung“ eine gute war, wenn die vermeinten Werte wahr waren und wenn die Hypothesen, auf die sie als eventuelle Übertragungswerte bezogen waren, sich bewähren.
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zur willensanalyse: das wirken des ich h§ 6. Freie Ich-Akte als Aktualisierungen und Stiftungen von Gesinnungen. Aktives Streben als Vernunftstreben auf Evidenz der Wahrheit im weitesten Sinn gerichtet. Jeder Akt des Ich als seine bleibende Bestimmung, solange er nicht durch neue Akte entwurzelt wirdi
Das W ir ken des I ch und sein Gegenstück: Das Ich erfährt W ir kungen. 1) Das Ich erfährt Wirkungen in Form der passiven auf es gerichteten Reiz-Affektion. Es wird in ihm eine Reaktion passiv ausgelöst; es wendet sich zu und verhält sich „genießend“; das motivierende Gefühl nimmt die Form des passiven Interesses, die wir „Genuss“ (mehr/weniger) nannten, an. Die Auslösung der Zuwendung und des daran sich schließenden passiven Interesses werden wir kaum ein „Wirken“ des Ich nennen. Ebenso zum Beispiel der Prozess, in dem sich ein triebhaftes SichBewegen ohne Ichbeteiligung in ein Sich-Bewegen mit Ichbeteiligung wandelt, nicht in ein bloßes Zuschauen der sich vollziehenden Bewegung, sondern so, dass die vorangehende Vorstellung einer subjektiven Bewegung das Ich als Triebich affiziert und eine realisierende entsprechende Bewegung auslöst: ein passives Realisieren, das zwar vom Ich ausgeht, aber als Folgeleisten einem Zug. 2) Ich vollziehe frei „Ich-Akte“, vom Ich her frei vollzogene, glaubende, wertende, wollende „Stellungnahmen“; sie sind entweder Aktualisierungen schon vorhandener Gesinnungen des Ich, diesem habituell zugehörig, oder Stiftungen solcher Gesinnungen. (Jede Aktualisierung ist zugleich Bekräftigung bei Krafterhaltung, sekundäre Stiftung.) Im Ich ist nicht nur die Stelle, wo etwas ausgelöst wird, sondern in ihm wird ein Habitus begründet als seine Eigenheit. Insofern sind die Motive das, was wirkt, und der Akt bzw. die Gesinnung hdasi, was erwirkt wird. Insofern ist also die allgemeine Rede von Akten, Glaubensakten und wertenden Akten und selbst von Willensakten (soweit sie bloß Entschlüsse sind) unpassend, ebenso wie Bewusstsein, intentionales Erlebnis. Auch „vollzogene“ Intentionalität gegenüber nicht vollzogener Hintergrundintentionalität ist kein gutes Beiwort, abgesehen hdavoni, dass „Intentionalität“ nicht wohl passt. Es ist schwer, ein passendes Wort zu finden.
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Akte im eigentlichen Wortsinn, Tätigkeiten, haben nahe Beziehung zu den intentionalen Erlebnissen; sie sind intentional, sofern sie als hdasi Medium eine Intention, ein Streben gegen das „Selbst“, das Wahre, die Norm, aufnehmen können und zumeist wirkliche Intentionalität in sich bergen. Alles Tätigsein setzt „Akte“ voraus, und es ist selbst ein Akt. Alles aktive Streben und alle Tätigkeit ist Vernunftstreben, Vernunfttätigkeit, 1) gerichtet also auf Erzielung der Wahrheit im weitesten Sinn und, was nahe damit zusammenhängt, auf Kritik der nichtevidenten Akte durch ihre Normierung an evidenten oder besser: korrelativ auf Kritik des vermeinten Seins, der vermeinten Werte und Güter, der vermeinten Praktika h, durch Normierungi an ihrer „Wahrheit“ in Form der „Einsichten“ (onthischi verstanden). Ein Tun, ein Handeln untersteht zwar immer der Norm, ist aber nicht notwendig auf seine Norm bezogen oder gar gerichtet, sondern sozusagen auf alles Mögliche. 2) Ein Ziel kann realisiert werden, das keineswegs praktische „Wahrheit“, Normgerechtigkeit hat. Es wird eben etwas realisiert, das ist, aber darum nicht mit dem Wertsinn ist, den der Wille in der Betätigung beständig voraussetzte und den er als bleibende Willensgesinnung weiter in Setzung erhielt. Zu bemerken ist dabei: Eine Tat ist nur richtige Tat, wenn der vermeinte Wert, den sie als Motivanten in sich trägt, wahrer Wert ist, also das Getane, abgesehen davon, dass es Tat ist, ein Wert im wahren Sinn ist. Andererseits ist sie selbst dann eine „wertvolle“ Tat, nämlich als Tat wertvoll. Sie ist dann ein wahrer Wert, nämlich sie kann gewertet werden, und notwendig ist dann der vermeinte Wert ein wahrer. Das Ich w ir kt als t äti ges Ich, es erwirkt Geschehnisse durch sein Tun, sein Handeln ist selbst ein von ihm tuend erwirktes Geschehen, und dann sind erwirkt Mittelziele und Endziele, ein bleibendes Werk etc. Ich-Wirken heißt Handeln, Erzielen. Als eine „Kausalität“ ist es eine Kausalität besonderer Art: Das Ich „wirkt“ aber auch, wie immer motiviert und dadurch „kausiert“, in jedem Akt in gewisser Weise, unangesehen eines Handelns. Es ist dabei nicht die bleibende Icheigenheit der Entscheidung (Überzeugung) durch den Akt „erwirkt“, denn jeder Akt ist als Akt des Ich eine Bestimmung des Ich, die notwendig bleibt, solange sie nicht angegriffen wird. Aber wie das Ich nun ist bzw. geworden ist (als Ich seiner gesamten
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bleibenden Stellungnahmen), so wird es weiterhin motiviert, und der neue Akt übt auch Rückwirkungen auf dieses Ich, sofern er frühere Akte entwurzeln, in Zweifel setzen, brechen kann.1 Ebenso können Zweifel (in ihrer Art auch Eigenheiten des jetzigen Ich), entschiedene Setzung von Wahrscheinlichkeiten bekräftigt werden usw. Es können Verflechtungen begründet, im Dunklen zunächst und passiv motiviert werden (denn auch diese Idealitäten der Ichsetzungen werden geweckt und treten in Bezug zu der Passivität), die wir Schlüsse und Beweise nennen usw. Ein neuer Akt kann Reihen von geistigen Gebilden wecken, in unserem Geiste vorüberziehen lassen, die nicht in ursprünglicher Erzeugung gewonnen, sondern in bald aktiver, bald passiver Motivation (als Sekundärpassivität) auftauchen und tendenziös verlaufen, gemäß der Richtung des Interesses und seiner allgemeinen Artung. Die Tendenz ist dabei eine passive Strebenstendenz, wir folgen dem Zug des Interesses in der Urteilsantizipation, Wertantizipation etc. So ist es bei dem normalen Denken. Das Wirken als Tun (freies Sich-Entscheiden und Realisieren) und als Realisieren überhaupt ist also nur ein besonderer Fall der seelischen Kausalität, und sogar der Ichkausalität.
h§ 7. Das Wirken des Ich auf andere Subjekte durch soziale Akte. Die Person als ein Ich, das mit anderen Ich in Willensgemeinschaft steht. Personale Liebei Im kommunikativen Zusammenhang: Das Ich als Ich (Person) 25 fungiert als Ursache, ist Prinzip von Veränderungen, wirkt in die 1 Daraus ergibt sich: Das Ich ist zwar nicht in der immanenten Zeit lokalisiert, aber es hat in Beziehung auf sie zeitliche Bestimmungen, es entwickelt sich nach seinen habituellen Eigenheiten. Jede hat in dem ursprünglich stiftenden Akt ihre zeit-lokale Bezogenheit und ein Feld möglicher Aktualisierung als von da auslaufende „Dauer“, obschon eine Gesinnung nichts eigentlich hsichi durch die Zeit Hindurchdehnendes und als extendiert, gedehnt, erstreckt zu Gebendes ist. Das Ich entwickelt sich, indem es nicht nur Eigenheiten annimmt, sondern Eigenheiten aufgibt, abwandelt, wobei die Eigenheiten in ein „kausales“ Abhängigkeitsverhältnis treten, sich in Bezug auf andere abwandeln, nicht sich ändern wie extendierte Eigenschaften, und doch in Analogie. Im Besonderen das diskrete Durchstreichen, Umschlagen von Überzeugungen, „kontinuierlich“ aber das Verkümmern.
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Außenwelt und erfährt von ihr Wirkungen; speziell wirkt es handelnd. Es wirkt auf andere Subjekte, indem es für sie Affektionen schafft, die sie weiterhin passiv und dann aktiv bestimmen. Es wirkt auf sie, indem es in Ich-Du-Beziehungen soziale Akte übt, also aktiv, handelnd das andere Ich und sein Wollen und Handeln in das eigene einbegreift und von ihnen einbegriffen wird. Ich will im sozialen Akt in ein anderes Ich hinein, ich will, dass er will, und was ich erzielen will, will ich als zu Erzielendes durch den Anderen. Ich wirke, indem ich einen Ausdruck äußere. Von den Lauten, die ich objektiv erzeuge und die ihn affizieren werden, wird in ihm in Folge der Affektion eine Zuwendung statthaben. Aber die Laute werden schon vor der Zuwendung ein Verständnis wecken, in der Zuwendung wird er, durch die Ausdrücke geleitet, ins Verständnis eingehen, dem Ausgedrückten zugewendet sein. Ich drücke meinen Willen aus, dass er das und das tun soll, und er, motiviert etwa durch meine Übermacht und ihre Folgen, macht sich meinen Willen zu eigen, er will gemäß meinem Willen, er unterwirft sich und damit wird eine Einheit der Willensgesinnung hergestellt, die als meine Willensgesinnung anhebt, sich als seine, der meinen untergeordnete, ihr schon Wirksamkeit gebende Willensgesinnung fortsetzt und künftig in ein Handeln übergeht, das mein Handeln in seinem Handeln und sein Handeln in meinem ist: wie jeder es von seinem Augenpunkt ansehen muss. Eine Einheit zweier Ich-Subjekte als handelnde verbundenen Handelns. Ich wirke, also von mir geht eine Kausalität aus. Verstehen wir unter „Ich wirke“, „Ich übe Kausalität“ hdasi „Ich handle“, so liegt im Befehl an den Anderen ein Wirken und wiederum in der Ausführung des Befehls. Ich wirke auf den Anderen, das ist, durch mein Handeln mache ich das andere Ich zum Subjekt eines Handelns, ich erwecke in ihm eine Gesinnung, ich wirke auf ihn als Ich, als Person. Denn zur Person gehören alle Akte und Gesinnungen, die Gesinnungen zu Akten sind, sich in Akten aktualisierend. Es ist noch keine Wirkung von Person auf Person, wenn die eine Affektionen schafft, die auf das andere Ich passiv wirken. Es ist schon eine Wirkung, die eine Person auf eine andere Person übt, wenn Akte der einen freie Akte der anderen zur Folge haben. So werden meine Person und freies Aktsubjekt identifiziert. Verstehen wir aber unter Person spezieller ein Ich, das mit anderen Ich in unmittelbarer oder mittelbarer Willensgemeinschaft und jener
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besonderen Art steht, in der mehrere Personen der gemeinschaftliche Träger einer gemeinschaftlichen Handlung sind oder auch mehrere Personen in einer Gesinnungsgemeinschaft leben, derart, dass die Gesinnung der einen Person die andere Person und ihre Gesinnung als Objekt umspannt, aber in einer korrelativen Gesinnung diese zweite Person die erste, und zwar im Medium der Wechselverständigung – dann wirkt eine Person in besonderem Sinn: Sie wirkt auf die andere unmittelbar, indem sie in ihr und mit ihr gemeinschaftlich wirkt; mittelbar, indem sie auf eine Person unmittelbar wirkt, die ebenso unmittelbar auf eine andere wirkt, die dann wieder auf eine dritte wirken kann usw., und personal erwirkt mittelbar heißt dann alles sonst, was dank dieser Bestimmung der Person durch Person in der Sachenwelt und Güterwelt, aber auch wieder in der Personenwelt und in der unterpersonalen Welt unreifer Kinder und der Tiere erwirkt wird. Dann haben wir vor Augen die vorübergehenden personalen Verbindungen in gemeinschaftlichem Denken, Werten und Handeln, so wie die Dauervereinigungen von Personen zu personalen Dauerganzen. In personalen Verhältnissen spielt begreiflicherweise der Wille als gemeinschaftlicher Wille (Mehrheitswille oder multipersonal) eine große Rolle. Aber das personale Subjekt ist nicht bloß Willenssubjekt, nicht bloß als ein Ich gedacht in „sozialem“ Handeln (zu dessen Wesen es gehört, nicht ein, sondern mehrere Handlungssubjekte als handelnde und zugleich als Handlungsthemen zu umspannen). Die Per s on im spez if i schen Si nn können wir wohl fassen als Subjekt von s ozial en Akten (Ich-Du-Akten, Akten des Ich im besonderen Sinn, der sich in den Personalpronomina ausdrückt). Soziale Akte jeder Art stiften einen sozialen Zusammenhang oder sind Aktualisierungen von sozialen Gesinnungen, die aus Sinnstiftungen entstammen. Eine Liebe im besonderen Sinn personaler Liebe, ist das ein sozialer Akt? Ein wertender Akt, der vom Ich, dem liebenden, aus auf das geliebte Subjekt als Subjekt seiner mannigfaltigen Akte oder vielmehr Gesinnungen geht, mitwertet, mitwill, mitmotiviert wird in der Einfühlung und all das liebt, oder vielmehr darin das Subjekt liebt, das in diesen Gesinnungen lebt und webt. „Ich liebe Dich“ – ein Ich-Du-Akt liegt vor. Aber nicht ein Akt, in dem sich das Ich an das Du wendet und auf das Du oder durch das Du wirken will. Hier
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ist kein Willensakt. Natürlich motiviert die Liebe zum Handeln, in Bezug auf den Anderen, dem Anderen Gutes zu tun jeder Art, Übel von ihm abzuwenden. Ein Denken, das nicht bloß mein Denken ist, sondern gemein5 schaftliches, vom Ich zum anderen Ich überströmendes. Übernahme eines fremden, sich gar nicht an mich adressierenden, nicht durch Mitteilung an mich mir zuwachsenden Gedankens. Ich erfasse an einer Äußerung den Gedanken und nehme ihn mit seiner Motivation und in seiner Gewissheit auf. Es ist nicht ursprünglich mein selbstge10 dachter Gedanke, es ist der fremde, dem fremden Ich in seinem Leben zugewachsene. Mir kommt er zu durch Verständnis des Ausdrucks. Wie ich einen Ausdruck verstehen kann und einen gedanklichen, den ich nicht selbst schon vollzogen, ein Urteil nachurteilen kann, das ich noch nicht gefällt habe und dgl., ist ein eigenes Problem; es gehört 15 zum Problem der Einfühlung. Ferner das Problem der Suggestion, des Miturteilens in Nachahmung, ohne dass in der eigenen Innerlichkeit Urteilsmotive da sind, ebenso für Wünsche usw.
XI. VORSTELLEN, DENKEN UND HANDELN1
h§ 1. Willentliche Erzeugung von Vergegenwärtigungen und von Gedanken. Mechanisches Rechnen. Das auf reales Dasein gerichtete Realisieren gegenüber dem Erzeugen von Urbildern. Die Erzeugung im Kenntnis nehmenden Erfahren eines äußeren Gegenstandes gegenüber dem Erzeugen des darstellenden Erlebnissesi
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Jedes erzeugende Tun, Handeln ist strebend gerichtet auf ein Zukünftiges, auf eine kommende und im Erzielungspunkt erzielte Gegenwart. Das Erstrebte wird gegenwärtige Wirklichkeit und wird es als von mir „durch“ mein realisierendes Tun Erzieltes, Realisiertes. In jedem Handeln während seines Verlaufs ist immerfort Kommendes als Erwartetes, aber nicht bloß als das. So ist auch die Sphäre der Wiedererinnerung ein Feld des Handelns, desgleichen die Sphäre der fingierenden Phantasie, in ähnlicher Weise auch die Sphäre der Erwartung, und das alles als „bloße Vorstellung“ verstanden, das ist vor allen Einschlägen begrifflich gedankenbildenden „Denkens“. Eine Erinnerung kann matt oder ganz unanschaulich sein, ich strebe nach Anschaulichkeit, und es kann ein aktives Ichstreben, ein richtiges „Wollen“ sein. Was will ich dabei? Nicht das Vergangene soll zum Erzeugnis werden; was ich erzeugen will, ist das „E ri n n eru n g sb i l d“.2 Was als unwillkürlicher Prozess öfters eingetreten ist und eintreten kann, ein Aufmerksamwerden auf ein Vergangenes, aber in Form einer leeren Wiedererinnerung, durch die der Ichstrahl hindurchgeht, das dann „von selbst“ übergeht in die optimale Gestalt
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Wintersemester 1921/22. Erinnerungs„bild“ als Ziel des Strebens nach Klarheit. – Für die Rolle der „Bilder“ sehr wichtig. 2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 145 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_11
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einer klaren Wiedererinnerung mit einem anschaulichen „Erinnerungsbild“, was dann auch die Gestalt haben kann und in der Regel hat eines strebenden Hingezogenseins im Übergang, eines tendenz iös en Pr ozess es, das kann auch die wesentlich neue Gestalt annehmen: Ich will das Bild erzeugen. Das Bild ist dann ein willentlich erstrebtes und in der Willenshandlung (Erzeugung) werdendes, eintretend als wahrgenommene Gegenwart und im Charakter des Realisierten. Dieses Erinnerungsbild ist das Korrelat des gegenwärtigen Erinnerungserlebnisses. Ebenso in der freien Phantasie das Phantasiebild. Jede anschauliche Vergegenwärtigung hat in sich beschlossen ein gegenwärtiges Vergegenwärtigungsbild, das, in dem sich mehr oder minder vollkommen das Vergangene, das irgendhwiei „Repräsentierte“ eben repräsentiert, vergegenwärtigt. Also, was ich im betreffenden Handeln erzeugen will, ist natürlich nicht das Vergangene, das NichtGegenwärtige, sondern sein „Bild“, und im Erzeugungspunkt tritt es auf als ein Jetzt, als Wahrgenommenes und als Immanentes.1 Ebenso beim Denken. Einen G edanken kann ich erzeugen, er kann auch werden ohne ein (wirkliches, willentliches) Erzeugen, in einem subjektiven und tendenziösen Prozess. Ich kann mir Fragen stellen, Aufgaben etc., schließlich tritt der Gedanke, der als Ziel intendiert war, „selbst“ auf, er ist gegenwärtiger Gedanke, jetzt habe ich ihn, sehe ich ihn, erfasse ihn. Es erwächst hier nun eine Schwierigkeit. Ich gehe einem Gedanken nach, ich will eine Frage beantworten und finde die Lösung,
1 Die Rede von Bildern stellt eine Doppeldeutigkeit dar (siehe unten). Was erzeugt wird, ist die wirkliche Repräsentation (die als solche ein Selbst ist, eine wirkliche Vergegenwärtigung) von einer Gegenwärtigung, von einer selbstgebenden Erscheinung, die wieder als wirkliche „Wahrnehmung“ ein Selbst ist und durch sie heine Repräsentationi vom gegenwärtigen Gegenstand, dem in ihr gegenwärtig gewordenen. – Wenn später unterschieden wird hdasi Ur b i l d von diesen r e p r ä s e n t i e r e n d e n Bildern, so ist klar, dass diese „Bilder“ einerseits so heißen mit Beziehung auf die vergangenen Gegenstände, Ereignisse etc., so wie die Urbilder Urbilder ihres gegenwärtigen Gegenstandes sind. Andererseits sind die repräsentierenden Bilder auch „Repräsentanten“ der vergangenen Urbilder und repräsentieren damit die Beziehung dieser Urbilder auf den Gegenstand. So haben wir z w e i g r u n d v e r s c h i e d e n e Beziehungen, die zwischen Ur b i l d u n d Ge g e n s t a n d (selbstgebende Erscheinung und ihr Gegenstand) und die der R e p r ä s e n t a t i o n, die auf beides in eins geht.
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aber rein symbolisch, und bin befriedigt. Will ich ausrechnen, wieviel 17 mal 9 ist, und rechne ich aus, so will ich gar nichts anderes, als die bekannte Methode, die eine rein symbolische ist, befolgen und eine „Zahlformel“, die dabei resultiert, herstellen. So ist es bei aller „mechanisch“ zu befolgenden Konstruktionsmethodik, einer praktischen Erzeugungsregel, von der vorher allgemein erwiesen worden ist, dass ihr Resultat jederzeit gewisse (im gegebenen Fall erwünschte) Eigenschaften haben muss. In einem solchen Fall denke ich nicht nach und erzeuge logisch den Endgedanken, das ist, es ist zwar ein Erzeugungsprozess, in dem aus Worten wieder Worte, aus grammatischen Sätzen wieder Sätze erzeugt werden, aber nicht eigentlich Gedanken aus Gedanken oder auch nur Aussagen aus Aussagen.1 Im letzteren Fall liegt in der Erzeugung das Schwergewicht, d. i. die eigentliche Intention in den Bedeutungen; im m echanischen Rechnen aber mögen die Bedeutungen mitanklingen, aber sie spielen keine Rolle, durch sie hindurch geht keine erzeugende Intention während des Prozesses. Bei einer geometrischen Konstruktionsregel erzeuge ich Figuren aus Figuren; die Endfigur hat dann die erwünschte Eigenschaft, aber eben, dass dieser Sachverhalt besteht oder das Urteil selbst als Wahrheit, ist hierbei nicht erzeugt. Und so ist es bei allem Verfahren nach Regeln. Ich werde vorangehend mir sagen: Jedes nach dieser Regel erwachsende Erzeugnis hat die Eigenschaft A (was die und die Gründe hat). Ich will ein Erzeugnis dieser Eigenschaft, also wähle ich als Mittel eine Erzeugung dieses Regeltypus. Ich führe es nun aus und bin in Erinnerung an die vorangegangene Regel einsichtig dessen gewiss, ein A zu haben. Demgegenüber haben wir das „schließende“, das in jedem Schritt praktisch einsichtig motivierte Verfahren,2 dessen Ende selbst einsichtig motiviert ist. Doch ziehen wir ja dabei auch Mittelglieder heran, die anderwärts erwiesen worden waren oder die wir einfach als Gewissheiten in Anspruch nehmen (feststehende Prämissen). Da ist also mancherlei durchzudenken. Jedenfalls ich kann „Gedanken erzeugen“ als bloß rein grammatische Sätze (ohne Urteile zu erzeu1 Sätze aus Sätzen erzeugen ist eben zweideutig. In Worten denken und dabei aus Gedanken Gedanken erzeugen in eins mit der Erzeugung der Worte ist heini anderes, als aus Worten und Sätzen neue erzeugen, ohne dass dabei aus Gedanken Gedanken erzeugt würden. 2 Auch das falsche, nicht-evidente Schließen.
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gen als Gewissheiten dieses Inhalts – was aber hier für uns nicht von Interesse ist). Ich kann auch Urteile erzeugen, und ich kann Wahrheiten erzeugen oder besser Urteile erzeugen, in denen ich sie als Wahrheiten erziele, sie im Modus der Wahrheit, so dass ich ihr Wahrsein selbst erzeuge. Blicken hwiri jetzt auf die früheren Fälle in der Sphäre bloßer Vorstellungen zurück, so hätten wir die Parallelen: Ich werde von einem A an irgendetwas erinnert; die Erinnerung ist von „leerer Unbestimmtheit“; ich suche eine bestimmte Erinnerung und es gelingt, aber es braucht darum keine klare zu sein. Jetzt habe ich es: B ist es, woran mich A erinnert! Ich strebe nun nach einer klaren Erinnerung, sie tritt ein, und das B selbst im Modus des Vergangenen steht mir vor Augen, ich sehe es gleichsam vor mir: Ich habe jetzt sein „Bild“, worin es selbst sich in der Gegenwart darstellt (repräsentiert). So kann auch eine Erwartung unbestimmt sein, kann tätig bestimmt werden und dann in dieser Bestimmtheit „ausgemalt“ hwerdeni. I n der V ors tel lun gssphäre habe ich ein besonderes willentliches Erzeugen, geri chtet auf real es Dasein, und zwar ein Erzeugen, in dem das Reale als Endziel der Erzeugung in ihr selbst direkt gegeben, beschlossen ist: wie wenn ein Handwerker sein Werk erzeugt. Das Reale ist dann in der Erzeugung als wahrnehmungsmäßiges Dasein beschlossen, zum erzeugenden Bewusstsein gehört als Ende die Wahrnehmung vom Realen in Form also der realen ursprünglichen Gegenwart. Das ist das „ Realisieren “ im urs pr ünglic hen und eig entl i chen Si nn (real-isieren). Ein ander es willentliches Erzeugen ist dasjenige, wobei ich ein Gegenwärtiges erzeuge, darin sich ein Nicht-Gegenwärtiges darstellt, oder wo ich aus einem gegenwärtig vorschwebenden Leeren ein mehr oder minder Anschauliches erzeuge, von einem leer Vermeinten (oder quasiVermeinten) vordringe zu seinem voll anschaulichen oder mehr oder minder anschaulichen Selbst. Diese Modalitäten des Selbst sind die gegenwärtigen „Bilder“; durch sie alle und durch alle „Wiederholungen“ geht hindurch die Identität des Selbst. Das Erzeugen bewegte sich bei der eigentlichen „Realisierung“ in einem Prozess der Wahrnehmung. Aber wir haben noch nicht geschieden die w il lent li chen Wahrnehm ungsprozesse, die selbst willentliches Erfahren (fortgesetztes wahrnehmendes Kenntnisnehmen) sind, von den wahr en Real i si erungen.
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a) Bei dem erfahrenden, Kenntnis nehmenden Prozess ist das Erzeugte nicht das gegenwärtige Reale, sondern im Prozess schreiten wir erzeugend vom Sel bstbi l d (Urbild) des Realen zu intendierten neuen und neuen Selbstbildern vor und gewinnen damit zugleich ein unversaleres Selbstbild (freilich als Einheit sukzessiver Selbstbilder). b) Im Reali si eren aber erzeugen wir aus einem selbstbildlich gegebenen Selbst ein neues selbstbildlich gegebenes Selbst. Wir können auch sagen, das eine Mal erzeugen wir aus einem „Urbild“ neue Urbilder vom Selben, ein andermal aus einem urbildlich Gegebenen ein anderes und nicht dasselbe, nur in einem anderen Urbild Gegebenes. Das Urbild vergegenwärtigt nicht, sondern gegenwärtigt, aber es ist nicht das Gegenwärtige selbst, sondern gibt das Selbst, aber urbildlich. Und hini Unendlichkeiten von möglichen Urbildern, die ich (und „jedermann“) erreichen könnte, ist das urbildlich gegenwärtige Selbst identisch dasselbe. Die Urbilder sind aber ihrerseits auch „Originale“.1 Also war die Beschreibung oben nicht korrekt. Wir haben zu scheiden 1) die „erzeugenden“ willentlichen Prozesse, die von unbildlichen Intentionen zu bildlichen, und 2) die von bildlichen zu neuen bildlichen führen, von Erscheinungen zu Erscheinungen. Die bildlichen sind die erfahrenden (oder quasi-erfahrenden) Prozesse. Demgegenüber die Erzeugungen als Realisierungen eines neuen Selbst. (In der Phantasie ein Selbst durchhalten, hdasi ist, einen QuasiErfahrungsprozess fixieren oder im unstimmigen Wechsel von Phantasien selbst mich für eins als Quasi-Selbst entscheiden: ansetzen, es sei.) Eine besondere Erörterung verlangten die „ Ab “bilder. Es treten also gegenüber: Realisierungsprozesse und diejenigen Erzeugungsprozesse, welche Erkenntnisprozesse unterster Stufe
1 Urbild ist eigentlich nie ein Bild, so wenn wir hdasi Original dem Abbild gegenüberstellen. (Original ist nur ein anderes und ein Fremdwort für Urbild.) Ebenso gegenüber der Repräsentation ist die Gegenwärtigung urbildliche Erscheinung, und korrelativ heißt die Repräsentation Vergegenwärtigung hinsichtlich der gegenwärtigenden Erscheinung, hheißti der wirklichen Erscheinung Urbild, und korrelativ auch das wirklich Erscheinende, wahrgenommen, oder, was dasselbe, hdasi in seiner Gegenwart ursprünglich Gegebene hheißti Urbild, nämlich in Relation zu einer möglichen Vergegenwärtigung von demselben. Zu beachten ist, dass urbildliche Erscheinungen als Erscheinungen ihrerseits ursprünglich gegeben, also selbst Urbilder sind hinsichtlich möglicher Vergegenwärtigungen von ihnen.
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sind, die Prozesse des Erfahrens bzw. des von dem unbildlichen Meinen (und Quasi-Meinen, quasi-setzenden Vorstellen) zum urbildlichen oder abbildlichen Erfahren Vordringens; dazu gehört auch das Hinausgehen, um einen Gegenstand, den ich jetzt vergegenwärtige (urbildlich oder schon erinnerungsmäßig) und der im Nebenzimmer steht, selbst zu sehen. Das ist ein erfahrender Prozess, erzeugt wird ein Urbild und eventuell ein Erzeugen mannigfaltig zusammenhängender Urbilder. Ich kann erfahren wollen, ich kann aber auch einen Erfahrungszusammenhang, ein allseitiges Erfahren verwirklichen wollen. Das Erfahren ist mitsamt seinen Erzeugnissen, Erzeugungszielen ein „immanenter“ innerer Prozess des Erfahrenden. Eine „Realisierung“ im gewöhnlichen Sinn hat transzendente Ziele, und das Transzendente ist ein ihm transzendent Reales. Aber kann man nicht auch von immanenter Realität und Realisierung sprechen? Also Erzeugungen von Nicht-Bildern, Nicht-„Vorstellungen“, sondern von immanenten Daten, ohne eine Intention, um durch sie hindurch ein Selbst vorstellig zu machen. Man wird das nicht leugnen können. Es ist ja auch ein Unterschied bei Erzeugungen von Bildern und ein grundwesentlicher, ob ich, Kenntnis nehmend, auf das Selbst, auf den immanenten Gegenstand von der und jener Seite, nach den oder jenen Bestimmungen gerichtet bin, auf ihn also in seiner und ihrer Urbildlichkeit der Gegebenheit1 oder ob ich, wie als Phänomenologe, gerichtet bin auf die Bilder in einem neuen Sinn, auf die Empfindungsdaten, ihre abschattende Funktion („Auffassung“), also auf das „reell Immanente“, das doch als Gedehntes in der immanenten Zeitform seine „Realität“ hat. Allerdings auch der Gegenstand im Wie der Erfahrungsgegebenheit, das Bild im anderen Sinn, hat seine Zeitstelle und Zeitdauer. Das Intentionale, das Gegenständliche mit seinen jeweilig gegebenen gegenständlichen Bestimmungen, erscheint, tritt kontinuierlich in neue und neue Erscheinungen, und in ihnen ist es Erscheinendes in der Erscheinungsweise. Aber das Objektive, Identische ist eben „transzendent“, im Immanenten Ideales und hat nur dadurch, dass
1 Ich könnte auch sagen, was da Urbild heißt, heißt gemeiniglich die Wahrnehmung im noematischen Sinn.
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es durch Erscheinungen (Bilder im zweiten Sinn) hindurch erscheint, Anteil an der Realität, Auftreten in der Zeit als etwas, das sich zeitlich gibt und gibt in der Erscheinungsweise. Es ist ein ganz einzigartiges Verhältnis, ja eine ganz einzigartige Einheit, dieses auftretende Ideale im reell Immanenten, als es gerade so darstellend. Danach habe ich im Kenntnis nehmenden Erfahren eines äußeren Gegenstandes, z. B. Dinges, ein anderes Erzeugen als im phänomenologischen Erzeugen des darstellenden Erlebnisses – obschon im Wesentlichen der Prozess derselbe ist. Der Unterschied liegt in der Blickrichtung und damit im Ziel. Auf das reell Immanente kann ich freilich nur kommen, ich kann es nur als Ziel nehmen, indem ich mir vorher ein „gerades“ Ziel setze: Das erste muss sein, ich will diesen Gegenstand erfahren, von ihm erfahrend, etwa in der Urbildlichkeit, Kenntnis nehmen, „ihn“ in Urbildlichkeit durchlaufen; und dann kann ich reflektieren und die reell immanenten Daten, die reellen Bilder betrachten, eine kontinuierliche Reihe derselben oder ein Einzelnes herausgreifend als Ziel nehmen, in geänderter Blickstellung auf sie in Wiederherstellung zustreben. Es sind korrelative und miteinander gegebene Ziele, ähnlich wie wenn bei irgendeiner realen Erzeugungsart die reale Erzeugung selbst zum Ziel werden kann: wie wenn ich eine solche studieren will und eine solche dadurch selbst herstellen will, wobei ich die Sache erzeuge, also sie als Ziel setze und dabei zugleich nachkommend das Erzeugen selbst als Ziel habe und als das Endziel, während die Sache das Mittelziel ist.
h§ 2. Das Denken als Handeln mit dem praktischen Ziel der Wahrheit. Das Streben nach Evidenz. Die Logik als Wissenschaft von der praktischen Vernunft im Erkenntnishandelni
Wie steht es nun mit dem Denken? Dass etwas als Tisch, als Baum, als ein A gegeben ist, das ist ein Gegebenheitsmodus, der zurückweist (einen Horizont hat) auf andere Gegenstände von demselben Typus, auf ein „Gemeinsames“, identisch Allgemeines, das sich in ihnen allen und in diesem Gegebenen vereinzelt, und dieses Einzelne ist bei dieser Auseinanderlegung der „Meinung“ nicht nur 35 vorstellungsmäßig gegeben, sondern auch gegeben als Seiendes dieses 30
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Allgemeinen. Kenntnisnahme und Explikation, Relation, Identifikation, begriffliche Fassung, Modalitäten der Gewissheit, Negation, Umfiktion, Quasi-Gegebenheit, Quasi-Denken, Ansetzen, hypothetische Zusammenhänge etc. – das sind Titel für subjektive, passiv verlaufende Geschehnisse, und andererseits können diese Geschehnisse zu Wegen willkürlicher Zielsetzungen und Aktionen werden, zum willkürlichen Denken. Dabei liegen Vorstellungen zugrunde. Die Gegenstandspole bestimmen polare Vorkommnisse, Eigenschaften, Verhältnisse, Identitäten, Gleichheiten, Teilverhältnisse, eigenschaftliche Sachverhalte, relationelle Sachverhalte, Identitätsverhalte etc. Es sind selbst wieder „Gegenstände höherer Stufe“; doch sie sind nicht „thematisch“. Worin besteht nun das Denken als Tun? Im naiven Wahrnehmen ist das Kenntnisnehmen eines Wahrnehmungsobjekts ein triebhaftes Tun, aber kein Handeln. Es kann aber auch sein, dass ich dergleichen als Ziel stelle, ich will mir eine Sache näher ansehen, ich will eine nähere Kenntnisnahme vollziehen, im Rahmen meines herrschenden Interesses natürlich. Mir fällt auf, dass es A ist, da habe ich schon den Modus begrifflicher Fasssung, dann, dass es, dasselbe, B ist: Kette zweigliedriger, durch Identifikation des Substrats verknüpfter „Urteile“. Ich kann etwa zu Zwecken der Mitteilung darauf gerichtet sein, Urteile zu fixieren als Aussagen und den Gegenstand begrifflich zu bestimmen. Ich kann Fragen stellen, wie das Unsichtige und noch Unbestimmte begrifflich sich bestimmt und so auf Sätze ausgehen und dann auf Sätze verschiedener Stufen. Ich komme auf „weil“ und „so“ im begrifflich Bestimmten. Da S A ist, ist es auch B, ein A weist als das darauf hin, dass sich ein B dann finden wird etc. Gegenständliches und gegenständliche Bestimmung, Identität, Unterschied, Relation etc. in dem Modus der urteilsmäßigen Gegebenheit oder Gemeintheit. Das „Vorstellen“ ist von vornherein nur eine solche Kette. Ist da ein Unterschied von Vorstellen und Urteilen? Das Vorstellen ohne jedes In-einem-Typus-Auffassen ist Grenzfall, und ebenso ist das ganze System der Formen bereitliegend: Darin entfaltet sich das Vorstellen. Aber was macht das „menschliche“ Denken aus? Das allgemeine Denken, das Denken im „etwas überhaupt“, das logische Denken, das Limes-Denken, das Denken, das Unendlichkeiten umfasst, Umfangsunendlichkeiten, Grenzen als Grenzen von erschauten Unendlichkeiten, das Gesetzesdenken. Das Reich des Logos, wo im-
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mer ein echter Begriff, ein logischer, auftritt, d. i. denkend auf eine Unendlichkeit bezogen. Ein sinnlicher Typus ist noch kein logischer Begriff; um ihn zu gewinnen, muss ich das „ein“ und das „überhaupt“ haben, einen offenen „Umfang“ von Möglichkeiten.1 Mens chli che Vern unft ist ein universaler Titel, der alle menschliche Praxis umspannt. Alle Praxis ist auf irgendein Ziel, ein bewusst erstrebtes und handelnd zu realisierendes Ziel gerichtet. Handeln ist aber gelingendes und misslingendes Handeln; es ist als das im Bewusstsein des Handelnden selbst bewusst. Das Bewusstsein des Gelingens, also der handelnden Erzielung des gesteckten Ziels, kann zwar selbst noch ein bloß vermeinendes, ein das Ziel in irgendeinem Sinn antizipierendes und nicht, als was es erstrebt war, wirklich habendes sein. Aber auch dieses Wahrhaft-und-wirklichHaben und Erreichthaben kann sich im Bewusstsein ankündigen.2 Das gilt für jederlei Handeln. Es gilt also für jedes besondere Handeln, das für jede Vernunftpraxis höherer Stufen Mitvoraussetzung ist, für das Erkennen und zuhöchst das wissenschaftliche Erkennen. Sein praktisches Ziel ist die Wahrheit, und die Wege zur Wahrheit heißen Begründungen oder auch Wahrheitsmethoden. Das Bewusstsein, das in durchgehender Form der Selbstgebung verläuft und in selbstgegebener Endwahrheit terminiert, einer Selbstgegebenheit, die als solche dem Erkennenden bewusst ist, heißt
1 Das ist unklar stecken geblieben. Natürlich haben wir hier verschiedene Weisen, wie die Intention, im weitesten Sinn Repräsentation, Antizipation etc., ihre Stufen hat. Ein Urteil kann selbstgegeben sein als Urteil, während aber nicht der „Sachverhalt“ es ist; er kann erinnert sein oder aufgrund schlichter Erinnerungen erst konstituiert, er kann mit leeren Vorstellungen fundiert sein und dann erst recht nicht selbstgebend, geschweige denn urgebend etc. hseini. Ein Urteil kann selbst vergegenwärtigt sein; die Funktionen sind iterierbar. Leere Urteile, gebildet auf leeren Substratsetzungen (Substratsätzen und Satzmodifikationen) sind Gebilde, und andererseits, es kann durch sie hindurch eine Strebensintention gehen auf Sachverhaltsanschauungen, auf Gegenstandsanschauungen, „Bilder“, die selbst auf den Sachverhalt selbst, den Gegenstand selbst, der Einheit einer Synthesis von Bildern ist, „gerichtet“ sind, als dem Weg der Bewährung. 2 Zum Beispiel, wer eine sinnliche Lust und nichts Weiteres erstrebt und handelnd sie selbst erzielt, der wird keinen Zweifel möglich finden, ob er sein Ziel nicht am Ende doch verfehlt hat, ob seine Befriedigung nicht eine bloße Scheinbefriedigung sei. Ein praktisches Handeln, das dieser Art zur Selbstgegebenheit der Ziele führt und auf praktischen Wegen, die nicht minder in „wirklicher“ Durchlaufung Selbstgegebenheiten sind, heißt ein Vernunfthandeln im prägnanten Sinn.
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E videnz. Indem Wissenschaft Wahrheit anstrebt, strebt sie notwendigerweise auch Evidenz an, Evidenz als sekundäres Ziel. Denn so, wie die nach Wahrheit Strebenden dessen inne werden, dass die Antworten, die sie auf ihre Fragen gefunden und denen sie zugestrebt haben, auch verfehlte sein könnten, und sowie er merkt, dass nur Antworten im selbstgebenden, im evidenten Bewusstsein volle Befriedigung gewähren können, weil der Erkennende dann eben das Ziel als es selbst vor Augen hat, wird er am Ende seiner Erkenntnisbewegung sich fragen, ob sie das Ziel selbst vor Augen gestellt hat, und wird allgemein die praktische Intention annehmen, den Blick auf Wege und Ziele zu richten, inwiefern sie selbstgebende, an der Kette selbstgegebener Erkenntnissachen verlaufende Wege sind zum Ziel selbst. Die weitere Folge ist, dass der ersten Entwicklung der Wissenschaft bald nachfolgt die Entwicklung einer Wissenschaft von der Wissenschaft, einer Logik, und zwar näher als einer Wissenschaft von der praktischen Vernunft im Erkenntnishandeln oder als einer Wissenschaft von den allgemeinen Formen einer evidenten, auf evident resultierende Erkenntnisziele vorgehenden Erkenntnishandlung. Jede im Modus der Selbstgegebenheit, der Evidenz, sich darbietende Erkenntnisgegenständlichkeit und jeder in eben diesem Modus sich darbietende Erkenntnisweg heißt im prägnanten Sinn „Erkenntnis“, und solche Erkenntnis ist die Norm für alles Erkennen, Norm für das vorgreifende, antizipierende, erst vermeinende und noch nicht gebende Erkennen, für das Erkennen im laxeren Sinn. Die fragliche Logik ist normative Erkenntnislehre; sie dient aller Wissenschaft als Norm für Erkenntnispraxis, kann aber als Wissenschaft selbst in rein theoretischem Interesse betrieben werden. E chte, norm gerec h te Wi ssenschaft ist eine von dieser Erkenntnislehre entworfene und wissenschaftlich nach ihren Typen und konstitutiven Einzelgestaltungen erforschte und konstruierte Idee. Zu ihr gehört Evidenz in verschiedener Art und Stufe. Von vornherein scheiden sich da in der Selbstgebung Erkenntnisgegenstand und E r kenntni sgedan ke, ein relativer Unterschied, der auf einen absoluten zurückführt. Am einfachsten gehen wir da von der Unterscheidung zwischen hdemi Gebiet der Wissenschaft und den auf sie bezogenen Sätzen, Theorien der Wissenschaft aus oder auch von dem Unterschied zwischen einem Gegenstand, der Erkenntnisthema
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werden soll, und von den Wahrheiten als wahren Aussagen, die für ihn gesucht werden. Das Gebiet einer Wissenschaft ist die begrifflich umschlossene Einheit ihrer Erkenntnisgegenständlichkeiten, die thematische Sphäre der Erkenntnis. Für diese Gegenständlichkeiten sollen Aussagen, wahre Aussagen gewonnen, diese Wahrheiten sollen, wie es schon die Unendlichkeit eines jeden Erkenntnisgebiets fordert, systematisch entwickelt, in geordneter Folge evident begründet werden. V or allem Denken, vor all dem, was sich in den Formen Begriff, Urteil, Schluss, Beweis, Theorie ausspricht, liegt das bloße Vor s tellen, hier verstanden als das schlichte Gegenstandsbewusstsein, das den vorgestellten Gegenstand noch ohne eine solche gedankliche Form dem Erkennenden darbietet. Vorstelle n und Denken sind nun zwei aufeinander bezogene, aber scharf zu trennende Erkenntnishandlungen. Von bloß Vorgestelltem zu bloß Vorgestelltem übergehen, wie etwa eine Reihe von Wahrnehmungs- oder Erinnerungsgegenständen durchlaufen, ohne dabei sich „Gedanken“ zu machen, ohne Begriff und prädikatives Urteil zu konzipieren, ist eben noch kein Denken. Denken ist die spezifische Betätigung des Logos. Aber das „logische“ Bewusstsein ist nicht volles Erkennen, es gehört dazu notwendig auch als Unterstufe das vorstellende. Dieses aber, das Vorstellen, kann ein volles und leeres, ein mehr oder minder anschauliches oder ein unanschauliches sein. Ich sagte „das Vorstellen“, also z. B. eine Erinnerung kann eine anschauliche sein oder eine völlig unanschauliche, wie wenn ein so genanntes Erinnerungsbild auftaucht, aber rasch abklingt, in völliges Dunkel versinkt, um eventuell wieder aufzutauchen. In der Zwischenpause ist der Gegenstand unanschaulich, und doch ist der Vorstellende darauf gerichtet. Es ist aber sehr wohl möglich, längere Zeit unanschaulich vorzustellen. So weckt eine Zeitung, die wir flüchtig und in Müdigkeit durchfliegen, eine außerordentliche Mannigfaltigkeit von Vorstellungen bzw. von Gegenständen im Modus schlichten Vorgestelltseins, allerdings auch beständig in gedankliche Formungen, in Begriffe gefasst, hVorstellungeni, die Bauglieder von Aussagen, darunter von Urteilen, sind. Aber fast alle diese Vorstellungen sind unanschauliche; sie sind „leer“, obschon bestimmt, auf bestimmte Gegenstände bewusstseinsmäßig gerichtet. Schon zu den bloßen Vorstellungen gehört der Unterschied zwischen
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selbstgebenden oder evidenten und nicht selbstgebenden Vorstellungen. Offenbar ist jede Wahrnehmung, im Modus der Gewissheit vollzogen, in sich charakterisiert als selbstgebend, und zwar für ihr als gegenwärtig daseiend gegebenes Objekt; ebenso ist jede normale 5 Erinnerung selbstgebend für das vergangene Objekt als vergangenes. Die vergangene Gegenwart ist nicht selbstgegeben, und insofern ist das vergangene Objekt jetzt nicht bewusstseinsmäßig da, nicht Gegenwart; aber das Gegenwärtig-gewesen-Sein und Gegenwärtiggewesen-Sein gerade dieses Objekts ist selbstgegeben. Darin drückt 10 sich also schon aus, dass diese Vorstellungen Normcharakter haben, zunächst für Leervorstellungen und dann für lückenhaft anschauliche Gegenwarts- und Vergangenheitsvorstellungen.
XII. DAS ALLGEMEINE DES STREBENS UND SEINE VERSCHIEDENEN RICHTUNGEN1
ha) Erkenntnisstreben und wertendes Genussstrebeni
h§ 1. Das wertende Verhalten in der Erkenntnis und das wertende Verhalten im Begehren. Sind objektivierendes und wertendes Bewusstsein gegensätzliche Aktklassen?i
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Leben ist Streben.2 I. Mo di d es St r e be ns n a ch I nt e nt i on un d E r fü l l un g. Leerintention – Erfüllungsgestalten. a) Annäherung in vermittelnder Erfüllung, Durchlaufen eines Weges dahin, der Weg ist noch nicht der Wert (die Sache selbst in ihrer Wertheit). b) Erzielungsprozess selbst, Eintreten der Sache selbst und genießend-wertendes Dabeisein bei der Sache selbst. Aber das ist ein Prozess mit einem Anfangspunkt. Und nun kann die genießende Erfüllung eine unvollkommene sein und immer vollkommener werden, immer satter erfüllend, der Genuss ist immer weniger beschwert mit unerfüllter Intention, die, solange der Wert nicht satt (das Genießen nicht sattes Genießen) ist, durch das Gegebene hindurchgeht. Eigentlicher Genuss oder vielmehr vollendeter Genuss, reine Befriedigung = reine Lust, reine genießende Hingabe an die Sache, in der Sache terminierend als einem Endwert. II. Mo di de r Ve r h üll un g u nd En th ü l l u n g : i n sti n k ti ve s St re ben u nd z i e l be wus s t es St r e be n b z w . zi el - u n d w e gb e wu sste s.
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Wohl 1923. – Anm. der Hrsg. Die Rede ist hier von begehrendem Streben. – Vorbetrachtung. hDasi war die erste dieser Kette hvon Überlegungeni, vortastend, aber einiges wohl brauchbar. 2
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III. a) E r kennendes Streben, durch objektivierendes Bewusstsein hindurchgehendes Streben auf Kenntnis und Erkenntnis des gegenständlichen „Selbst“ und auf Modi jeder Art von gegenständlichen „Selbst“ gerichtet: auf wahres Sein, Wahrheit jeder Form. Streben zur Kenntnis zu nehmen, in Kenntnis aufzunehmen, Streben, betrachtend, explizierend, näherbestimmend, in Beziehung setzend etc. allseitig kennenzulernen. Streben nach Wissen, nach Gewissheit, im Bewusstsein, jederzeit es ausweisen zu können, jederzeit die gemeinte Sache, den gemeinten Sachverhalt etc. in seiner Selbstheit wieder erfassen zu können. b) Wertendes Streben, Streben nach Genuss von Gegenständen. Aber ist nicht, könnte man einwenden, jedes Streben (positiv oder negativ) Streben zu etwas hin – also zum Genuss eines Gegenstandes als positiver Genuss oder von ihm weg halsi Befreiung von ihm und seinem schmerzlichen Unwert? Überlegen wir. Wir unterscheiden das objektivierende und das darin fundierte wertende Bewusstsein (das wir auch halsi strebendes in mannigfachen Modi bezeichnen können, wie Aristoteles den allgemeinen Titel ρεξισ hat). Wir können das objektivierende Bewusstsein unter Abstraktion von allem Werten, Streben betrachten. Alles Bewusstsein kann die Form von Ichakten haben, es kann aber auch Untergrundbewusstsein sein. Bewusstsein und „Intention“. 1) Objektivierendes Bewusstsein ist Bewusstsein von einem Gegenständlichen. Nehmen wir einen sinnlich-schlichten Gegenstand, der dann expliziert wird, mit anderen kolligiert, zu anderen in Beziehung gesetzt etc. Wir beschränken uns auf positionales Bewusstsein bzw. positionale Akte. Wir haben dann die Leerf orm des objektivierenden Bewusstseins, der Vorstellung als positionaler in verschiedenen Glaubensmodalitäten, und die Füllefor m, das anschaulich vorstellende Bewusstsein, das Wahrnehmen als original gebendes, das wiedererinnernde als selbstvergegenwärtigendes. Das mittelbare Bewusstsein durch Anzeige, selbstgebendes hinsichtlich eines A, aber meinend das dadurch angezeigte B, wobei B aber leer bewusst ist. Veranschaulichung durch Bilder, durch Vorveranschaulichung, Verbildlichung. Jedes unmittelbare Anschauen, zunächst Wahrnehmen, hat seine Phase der Urimpression, der satten Selbstgebung und seine Protention und Retention, Leerintention, aber im Begriff sich zu erfüllen und in stetiger Erfüllung begriffen. Bei Dingvorstellungen haben wir
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Leervorstellungen von Nichtgegenwärtigem und anschaulich vergegenwärtigende Vorstellungen mit einem leer vorstelligen Weg dahin im Ausgang von dem wahrnehmungsmäßig Gegebenen. Im Hingehen wird der Weg in satter Wahrnehmung verwirklicht und der Endgegenstand selbst, das „Ziel“ der vorstellenden Intention, im Akt das gemeinte Objekt, der gemeinte Vorgang satt gegenwärtig. Die Gradualität der Annäherung an das Ziel. Die Verwirklichung des Zieles „selbst“ in seiner satten Selbstgegebenheit. Die Erwartung als Zustand des Sich-Realisierens des Gegenstandes auf einem sich realisierenden Weg. Ich werde gefahren und komme auf einem wahrnehmungsmäßig sich realisierenden Weg zum „Ziel“ selbst. Ich bin wahrnehmend bei ihm. Die vorgerichtete Erwartung in ihrer Entspannung, genommen rein als Erwartung und nicht als strebend Begehren dahin oder Widerstreben. Also Ausschluss des Wertens. Die Erwartung gewinnt eine Art Erfüllung. Darin der Anfang der Sättigung mit Beginn der Wahrnehmung, darin Steigerung der Sättigung im Näherkommen, in fortschreitender „Klarheit und Deutlichkeit“. 2) Parallel damit können wir dann wertende Intentionen haben mit wertender Entspannung, Erfüllung, vorerfüllender Annäherung, dann eigentlicher Erfüllung in Sättigung. Dabei aber die grundverschiedenen Gegenfälle der positiven und negativen begehrenden Strebungen, also hier hoffende Erwartung, hoffende Erfüllung, befriedigende Freude und (angstvolle) fürchtende Erwartung, peinliche Erfüllung, Unfreude, sattes Widerstreben.1 Beide Bewusstseinsarten sind im Erlebnisstrom immer da, immer vereint. Das wertende Bewusstsein ist als Bewusstsein von vermeinten und selbstgegebenen Werten nicht nur hinsichtlich des fundierenden Objektbewusstseins, sondern auch hhinsichtlichi des Wertes objektivierend, so dass es fraglich ist, ob m an obj ekti vi erendes und wertendes B ew us s ts ein als Klas sengegensätze anerkennen kann. Es gibt Objekte, die wertfremde sind, d. i., unter Absehen vom Wert und im Wechsel der Wertcharaktere sind sie bewusst und haben ihre Art, sich auszuweisen. Das Werten ist ein Wertkonstituieren, ein Objektivieren höherer Stufe. Was befriedigt hier nicht?
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Es gibt natürlich auch Mischungen: partielle Lust, partielle Unlust.
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a) Das wertende Verhalten in der Erkenntnis: das theoretische I nter es s e, das theoretische Streben, die theoretische Freude an der gewonnenen Erkenntnis, die Freude an der Kenntnisnahme an neuen Gegenständen im Wahrnehmen derselben, an der erfahrenden Kenntnisnahme neuer Pflanzen, Tiere etc., auch an der Wiederkenntnisnahme, die alte Kenntnis bereichert, vertieft, auffrischt etc. Das fortgehende Streben darin. Die Gegenstände sind von Interesse, aber sie sind nicht nach ihrem Was selbst gewertet, sondern es ist Freude „am Bemerken“, besser am Wahr-nehmen (im Wahrnehmen). Wahrnehmen ist hier Zur-Kenntnis-Nehmen, und das Korrelat histi das Hier- und Jetztsein, das Sosein nach Eigenschaften, das Sosein in Beziehung auf anderes, Umstände, das Sich-Verändern gemäß den Umständen – lauter Seinsbestimmungen. b) Das wertende Verhalten als Begehren nach Gegenständen, sie zu genießen, sich an ihnen zu freuen; weiter das sie praktisch E r s tr eben, im Bewusstsein des Ich-kann, des realisierenden Strebens in der Handlung, das erzi el ende Freudenbewusstsein, Freude selbst – alles als Ichakte. Die Erkenntnis von Gegenständen ist selbst ein gewerteter Gegenstand? Werteigenschaften von Gegenständen und Wertlichkeit von ihnen; dass sie schön oder hässlich sind, hsindi selbst wieder gegenständliche Prädikate und ihre Erkenntnis wieder Erkenntnis und Streben nach dieser Erkenntnis wieder Streben, also eine Freude höherer Stufe, die in der Erzielung nicht von Werten, sondern Werterkenntnissen hbestehti. In der Ichaktion der Erkenntnis, z. B. fortschreitender Wahrnehmung, „neugieriges“ Sich-Umschauen, ist die „Triebkraft“ eben der Erkenntnistrieb und die sich befriedigende Neugier. Instinktive Wahrnehmungsfreude, den Einheiten der Erfahrung nachgehen, sie fortgesetzt näher, allseitiger, reicher erkennen und bestimmen. Das wertende Verhalten zu einem Gegenstand, das instinktive Suchen nach einem Gegenstand des Genusses, nach dem, was im Wahrnehmen Genuss bringen und an einem Gegenstand von Wert mit Befriedigung haften könnte. Strebend bin ich auf etwas gerichtet; ich terminiere im Erfüllungsprozess in der Freude des Genusses. Strebend bin ich auf Kenntnisnahme von etwas gerichtet, es zu erfahren, zu erfahren, wie es ist, in welchen Beziehungen es zu anderem steht, unter welchen
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Bedingungen es sich ändert etc. Strebend bin ich eventuell auf den Wertgegenstand als Wertgegenstand gerichtet: nicht den Wert zu genießen, sondern Kenntnis nehmend, erkennend, unter welchen Umständen, unter welchen Änderungen seiner Eigenschaften der 5 Gegenstand Wert annimmt, Werteigenschaften verliert, seinen Wert oder den seiner Eigenschaften steigert oder mindert oder in Unwerte wandelt. Hier bin ich nicht strebend auf den Gegenstand gerichtet und will nicht im Genuss leben, im satten Genuss verweilen, den Unwert widerwillig ertragen, mich von ihm möglichst entfernen etc., 10 sondern ich will erkennen.
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h§ 2. Affektion durch den Wert. Das theoretische Interesse und der Eigenwert der Erkenntnis. Die zwei Strebenssysteme. Streben nach Erkenntnis und Streben nach Realisierung des Gegenstandes um seines Wertes willeni Das passive Sich-Konstituieren von Gegenständen. Ebenso viel besagt das Bewusstsein vor der Ichbeteiligung. Immerfort ist es Bewusstsein von etwas, steht es in Zusammenhängen der Synthese, die zur Einheit bringt in stetigen oder diskreten „Deckungen“. So schon im inneren Bewusstsein: Empfindungsdaten als Einheiten, Bildung von Assoziationen und Apperzeptionen. Die Gegenstände und Zusammenhänge führen Gefühle mit sich, sinnliche Gefühle. Die Gefühle treten auf und verschwinden für einzelne Gegenstände je nach Zusammenhängen und Gegebenheitsweisen; bei gewissen sind sie immer wieder da. Gleiche Gegenstände unter gleichen Umständen lassen gleiche Gefühle erwarten. So in der Passivität, eventuell im Wechsel mit der Aktivität. Das Wachwerden des Ich. Affiziert in verschiedenen Graden wendet es sich schließlich zu: betrachtend, explizierend, beziehend, verknüpfend. Affektive Kraft eines Wertmoments. Ein schöner Ton zieht an, ich vertiefe mich in den Ton, ich lebe im Genuss und Gefühl seiner Schönheit, während ich ihm zugewendet bin. Er entfernt sich, ich gehe ihm nach, mit satterem Hören habe ich wieder satteren Genuss, ich genieße. Ich bin in ästhetisch wertender Einstellung. Ich bin auf den Ton gerichtet, ihn kennenzulernen. Ein schönes Ding betrach-
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ten und seine Schönheit genießen. Betrachten, es kennenzulernen, wie es ist, eintreten in seinen Einheitszusammenhang; genießen, an seiner Gegebenheitsweise haften, die das zu genießende Gefühl mit sich führt, im „Ich habe Genuss“ sattes Gefallen. Vom Ich her eine Affektion durch das Identische und ein ihm Nachgehen und eine Affektion durch den Wert, Eingehen in den Genuss, in dem der Wert sich entfaltet, aber nicht Eingehen in die objektiven Zusammenhänge, in die der Wert als Gegenstand führen würde. Das Wegstreben, Flucht. Realisierung im Wegstreben, nicht „Realisierung“ des Wegstrebens, oder hes entsteht eini Doppelsinn. Bin ich schon dabei erfahrend, so erfahre ich die Unlust, den negativen Wert. Die Freude ist Genuss, das Erfahren im hingebenden reinen Genuss, in satter Erfüllung des Strebens, das nichts mehr von Unerfülltheit in sich schließt. Das Erfahren im negativen Genuss, in negativer Erfüllung des Strebens. Streben als leeres Streben, Streben mit Fülle des Wertes oder Unwertes. „Lust“ und Unlust. Aber Lust ist noch als unerfülltes Streben möglich (unvollkommene Lust), noch leer. Leeres Streben ist Gefühlsantizipation, Vor-langen, Haben und noch über das Gehabte Hinauslangen, durch es hindurch. Str eben und Vors t el l en. Lust (Freude) und Erfahrung, Freude und Glaube (Antizipation). Grundunterschied: Wahrnehmen, Vergegenwärtigen, leer Vorstellen, Gemisch von Antizipation und Wahrnehmung, Gemisch von leer Vorglauben und schon Haben. Alles ohne „Erkenntnisstreben“. Das Streben „nach Lust, das Fliehen der Unlust“. Das instinktive Tun als unmittelbarhesi im „Ich kann“ Realisieren, realisierendes Erfüllen eines Lustbringenden. Unmittelbares Realisieren. Hier habe ich noch zu erwägen das Tun von Lustvollem, das aber nicht nur unvollkommen befriedigend ist, sondern auch den Charakter des Durchganges hat zu einem anderen, das eigentlich gewollt ist, erstrebt ist. Erfüllungsprozess also 1) das Herangehen, das SichNähern; 2) das Dabeisein beim leibhaftigen Selbst, aber noch unvollkommen. Wertleibhaftigkeit und Wertannäherung, Wertsättigung bis zum vollendeten Haben (Genießen) des Wertes selbst. Das Vorstellen, das Gegenstandsbewusstsein, objektivierender Akt. Seine Modi. Soll en wi r sagen: A priori ist das Leben Str eben und i n dies em doppel ten Sinn? Der Modus der ob-
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jektivierenden Fülle (Wahrnehmung, modifiziert klare Erinnerung, in gewisser Weise auch klare Phantasie) hat einen ursprünglichen Gefühlston: Freude an der Wahrnehmung. Das objektivierende Bewusstsein ist ursprünglich eine Sphäre des Strebens? Oder ist nur ein ursprünglicher Zusammenhang? Das Ekelhafte, das Schrille, Überlaute, das Hässliche, in irgendeinem Sinn Widerwärtige. Die Angst vor dem Feindlichen, Antizipation, das Ausmalen in der Vorstellung bei Fürchterlichem, Gefahrdrohendem als unwillkürliches Anschaulichwerden. Ist das ein Hinstreben und als das ein Werten? Ist es ein Mittel der Vergegenwärtigung, um leichter Wege zu finden, das Gefahrdrohende zu fliehen oder es ursprünglich instinktiv und andererseits eventuell bewusst geradezu aufzusuchen, um es zu bekämpfen und in seiner Gefahr bringenden Eigenschaft zu ändern, zu vernichten, als was es war, als böses Tier, dessen Tötung einen Leichnam gibt, der nicht mehr schaden kann, oder bei einem Brand das Brennende zu zertreten etc.? Wir haben also die Frage: Ist ursprünglich das Vorstellen keine Wertsphäre, sondern nur eine Sphäre von möglichen Wegen, um Wertinteressen anderweitiger Art zu fördern? Wie dann das „theoretische Interesse“? Halten wir am Eigenwert der Erkenntnis fest, dann muss nicht alle Gegenständlichkeit als solche einen Selbstwert haben, aber alle gegenständliche Kenntnis und Erkenntnis. Wir haben dann zwei Strebenssysteme? Überlegen wir: Die Vorstellungen, Empfindungen, Farben, Töne, Geschmäcke werden gewertet – die Freude an der Sinnlichkeit, aber auch die Unlust an Sinnlichem, ursprünglich. Was ist der Unterschied des „theoretischen Interesses“ an einem Geruch und der U nl ust, die ihn widerwärtig macht? Ihn kennenlernen, einordnen in die Ordnung der Gerüche, die Geruchswelt studieren. Ich betrachte, unterscheide, vergleiche. Die Freude der habituellen Kenntnis, des Wiedererkennens als dasselbe, seine ganzen Verlaufsformen, seine Änderung unter den wechselnden Umständen etc. Jede Gegenständlichkeit hat ihre Umstände, ihre wechselnden Verhältnisse und Verhaltungsweisen, ihre wechselnd hervortretenden Teile, Eigenschaften etc.: das im Voraus kennen und es kennenlernen, also nicht das Erleben des Datums selbst, sondern das Erkennen des Gegenstandes und der Gegenstandswelten in allen Zusammenhängen.
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Habe ich schon Gegenstände, so können sie mir wert sein; wert nicht hinsichtlich ihrer Kenntnis und Erkenntnis, sondern hinsichtlich der Art, wie sie Freude „machen“, Lust „gewähren“ etc. 1) Streben nach Kenntnis und Erkenntnis. 2) Streben nach Reali5 sierung des Gegenstandes um seines Wertes willen. Freude am Dasein und der im Dasein gewährten Lust; Freude am Glauben als Antizipation für die zu verschaffende Freude.
hb) Das Erkenntnisinteresse gegenüber dem wertenden Interesse. Bewertung als erkennender Akt gegenüber Wertung als genießender Akt. Die Grundeigenschaften des Lebensi
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Objektivierendes Bewusstsein – der Strom des subjektiven Lebens ist als Bewusstseinsleben ein Strom, in dem sich aus Bewusstsein immer wieder Bewusstsein aufbaut, und durch diesen Strom gehen die Verflechtungen der Synthesis der Einheitsdeckung, der identifizierenden Anknüpfung, der Konstitution einer einheitlichen Gegenständlichkeit oder vielmehr mannigfaltiger Gegenständlichkeiten, die selbst zur umfassenden Einheit einer Gegenständlichkeit sich zusammenschließen. D urch di esen Strom gehen beständig Str ebungen hi ndurc h.1 „Einheiten“ eines Bewusstseins (und immer haben wir Bewusstsein und immer Einheit des Bewusstseins), „Gegenstände“ affizieren das Ich, dieses wird zur Einheit hingezogen, wird hineingezogen in ihre eventuell schon entwickelten Horizonte, sie zu eröffnen, den Gegenstand zu explizieren, näher zu bestimmen, ihn in sich näher kennenzulernen, zu anderen ebenso bestimmten in Beziehung zu setzen etc.2 Man kann vielleicht sagen: D i eses Streben ist ein Urstreben in der „ Monade “ al s sol cher. Jedes Streben geht in der Erfüllung über in Befriedigung; also das Sich-Ausleben in Kenntnisnahme und Erkenntnis eines Gegenstandes ist „befriedigend“, und der Gegen1
Das affektive Streben (aber kein solches im gewöhnlichen Sinn, kein Begehren). Aber die Gegenstandskonstitution schreitet fort in fortschreitender Assoziation unter Neubildung von Apperzeptionen. 2
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stand selbst ist bewusst in dem Charakter des Interessanten, Interessierenden.1 Freilich affizieren neue Gegenstände übermächtig, und diese Befriedigung wird unterbrochen. Die Störung in der Auswirkung des ersten Interesses hemmt die Annehmlichkeit, aber das neue Interesse kann stark sein; nachdem es sich eine Weile ausgewirkt und sich geschwächt hat, kann das alte Interesse wieder vorankommen etc. Diese Mannigfaltigkeit des Interesses, die Wiederanknüpfungen im Wiedererkennen, die Konstitution von Zusammenhängen, von Gegenständlichkeiten höherer Stufe und die höheren Erkenntnisnahmen und Erkenntnisse – all das ist ein Spiel von immer reicheren Strebungen und immer weiter reichenden, immer reicheren Befriedigungen. Ist das nicht die ursprüngl i che Neugier? Danach hat jeder Gegenstand sein Interesse als Gegenstand möglicher Erkenntnis. A ber darum hat e r sel bst noch keinen Wert. Ist ein Gegenstand schon zur Kenntnis gekommen, ist eine Bestimmung in der Erfahrung schon hervorgetreten, hat sich ein darauf bezogenes Intendieren des Triebes zur Kenntnis nehmenden Erfassung, zur Herausstellung in der Wahrnehmung und dgl. hschon eingestellti, so kann es sein, dass er nicht nur für mich selbst-da ist, sondern mit dem Bestimmungsgehalt oder der einzelnen Bestimmung, die da herausgetreten ist, eine Lust erregt oder eine Unlust.2 Und nun ist diese Lust nicht sozusagen „formale“ Lust an der Herausstellung und dem sich Herausstellenden als solchen, sondern Lust, die in besonderer Weise zu dem betreffenden Merkmal und dem Gegenstand als dem dieses Merkmals gehört. Muss man nun nicht sagen, das ist ein neuer Charakter, nicht ein Merkmal, sondern etwas am Mer kmal, und nun af f i zi ert di eses Moment der „ Lust “ und z ieht in bes onderer Wei se an zu „ genießen “, nicht in der Kenntnis nahm e des G egenstandes weiterzugehen, sondern in der Erhaltung der wahrnehmenden Erfassung das neue Moment
1 Erfüllung des affektiven Strebens – Interesse. Es ist aber keine Lustbefriedigung (Genuss), cf. 2- h= S. 166,25–168,28i. Es gibt da kein negatives Streben (Fliehen)! Darf man bei diesem Urstreben also von „Streben“ sprechen, „Intendieren“? Indessen, ist das vermeidlich? Cf. dort. 2 Es kann aber auch sein, dass schon vor der Kenntnisnahme der auseinandergehenden Urteilstätigkeit, vor aller sachlichen Zuwendung, der Gegenstand mein Gemüt berührt, also im Gefühl bewusster ist, und zwar als dieser Gegenstand, oder durch den gegenständlichen Sinn des unterliegenden Bewusstseins bestimmt histi.
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zu erhalten; eventuell im Durchlaufen gewisser Erscheinungsweisen des Gegenstandes, gewisser Seiten, in gewissen Stellungen den Lustwert immer wieder herzustellen, der an diesen Abläufen und ihrer konstitutiven Einheit, der „Seite“, ersteht. Ein neuartiges Str eben er wäc hst , das spezi fi sch wertende und auf Genuss aus gehende Str eben, ein Streben, das im Genießen terminiert, in dem das Lustobjekt besessen wird als genossenes, als solches, an dem sich, an dessen Lustcharakter sich das Ich befriedigt, genießend hingibt.1 Die ursprünglichen Gegenstände erhalten durch die Erfahrung, dass sie unter gewissen Erkenntnisumständen Lust gewähren können, in der Latenz neue Eigenschaften, die des Wertes, die als Eigenschaften nur gegeben sein können, wenn mit der betreffenden Erfahrung der hdiei Lust fundierenden Merkmale die Lust eintritt und in Befriedigung genossen wird. Ich kann dann einen Gegenstand auch urteilsmäßig „auffassen“ als Wertträger, und er kann einen unbestimmten Werthorizont haben. Ich kann ihn in dieser Hinsicht kennenlernen wollen. Er wird eventuell als Wertgegenstand Gegenstand eines „theoretischen Interesses“, in dem das Genießen nur Durchgang für die Kenntnisnahme ist, während, wenn ich „nach dem Gegenstand begehre“, ich auf Genießen gerichtet bin, ich hbeii ihm, seinem Lust gebenden, Lust erregenden Merkmal halten und die Lust genießen will, mit all dem, was dazu gehört; eventuell Steigerung der Lust etc. Danach kann wohl das Erkenntni si nteresse im Gegensatz zum w er tenden I nt eres se so charakterisiert werden: 1) Das Streben nach Kenntnisnahme und Erkenntnis ist ursprünglich zum Bewusstseinsleben gehörig. Es ist im eigentlichen Sinn nicht auf Lust (auf Erfüllung durch Lust in dem Sinn eines Strebens nach Lust) gerichtet, w ie es ja auc h kei nen G egenpart hat, das Widerstreben. Es ist also ei gentl i ch ni cht vom Charakter eines Wüns chens , eines Begehr ens, ei nes Wol l ens oder gar eines Fürchtens, eines Fliehens etc. Es hat allerdings mit ihnen ein Gemeinsames, eben das Allgemeine des Strebens. Jedes sich vollendende Streben, 1
Ohne dass das Lustmoment selbst als gegenständliches erfasst würde und bestimmt würde oder hdazui dienen würde, den Gegenstand als Wert habend relationell zu bestimmen.
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Tendieren, hat in seiner Entspannung und Vollendung (Erzielung) den Charakter der Befriedigung, der dem Weg und Ende einen Lustcharakter, einen allgemeinen, auflegt. Dieses ursprüngliche Streben führt ursprünglich ein u rsprüngl i ches „ Realisieren “ mit sich, aber dann auch Hemmungsgestalten des Strebens, in denen es halsi ein Vorlangen, ein unerfülltes, unerfüllt bleibendes Streben in Spannung verbleibt. Indem diese aus wiederholter und immer neuer Auswirkung solchen Strebens hervortretende Endlust (aber auch die Lust an gelingender Realisierung „überhaupt“) bewusst wird und selbst affizierend wird, erwäc hst aus dem ursprünglich blinden Streben das Str eben nach dem erkennenden Realisieren, nach Prozessen der Realisierung von Kenntnissen, nach Kennenlernen der Welt, nach höherer Erkenntnis der Welt in dem Erzeugen von Theorien und von Wahrheiten, die in ihnen resultieren als theoretisch begründet hervortretende. Jetzt haben wir eine besondere Art des w er tenden Str ebens, Begierde und Freude an der Erkenntnis (gerichtet auf den Genuss der Befriedigungslust in durchgehender Weltbetrachtung und Welterkenntnis). Es wäre aber verkehrt zu sagen, dass alles durch Wahrnehmen, durch Erkennen hindurchgehende Streben von dem „Erkenntniswert“, der Freude an der Erkenntnis als Ziel, der Unlust am Irrtum als negativem Ziel geleitet wäre. Das U rstreben und das immer wieder durch das Leben hindurchgehende Streben nach Objektivierung, nach Herausstellung der Gegenstände selbst, nach ihrer Näherbestimmung usw. ist kei n wertendes Streben, nämlich nicht von Werten bewusst geleitet und nicht etwa in dem Sinn unbewusst geleitet, dass Leervorstellungen von zu ergreifenden Werten eingeschlossen wären im Streben. Das wertende Erkenntnisstreben, also auc h das er kennende H andel n, i st ei n Produkt der Genesis. 2) Betrachten wir nun das wertende Interesse und das wertende Streben, so ist letzteres a l l gem ei n dadurch charakterisiert, dass die Lust und Unlust vorangeht, und zwar eventuell als selbst „objektiv“ gewordene, an einem schon thematisch erfassten Gegenständlichen als Wert „vorstellige“ Lust (affektive).1 1 Doch nicht immer müssen die Lust und der Wert objektiv, thematisch urteilsmäßig geworden sein; aber Lustaffektion hat statt.
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Das begehrende Streben und Wirken, Wollen, setzt voraus das objektivierende Streben und strebende Realisieren („Urteilen“), wodurch die synthetische Einheit bewusst geworden und als Ausweisbares bewusst realisierbar geworden ist. Hat sich das ursprüngliche Streben betätigt, so werden Gegenstände für mich als Gegenstände thematisch bewusst, ich kann sie antizipierend mir anschaulich machen, ich kann sie erfahrend oder sonst wie ausweisend herstellen und so innerlich als Einheiten der Erfüllung ausweisend erzeugen. Und so tue ich immerfort (ohne dass ein „Wert“ mich leitet, ohne dass ich wie erst in höherer Stufe von eigentlich theoretischem Interesse bewegt wäre). Habe ich aber schon Erfahrungseinheiten, habe ich durch dieses (wertunbewusst) ohne Wertbezug vollzogene Streben und Realisieren gegenständliche Apperzeptionen, und erfahre ich nun einen Gegenstand, nehme ich ihn wahr nach diesen und jenen Bestimmungen und stellen sich dabei solche heraus, die durch ihre Besonderheit Lust erregen oder Unlust, so erfahre ich damit, dass er in dieser Hinsicht einen Wert hat oder Unwert.1 Die Lust „am“ betreffenden Merkmal erregt und erfüllt ein Begehren, ein sich darin erfüllendes Hinstreben und Haben im Genuss; die Unlust am betreffenden Merkmal erregt und erfüllt ein Wi ders treben, ein Streben davon weg, wie man sofort sagen wird. Doch ist Widerstreben zunächst nicht etwa ein Hinstreben auf ein anderes, das weit weg vom Schuss ist, sondern im Urpunkt negati ver Ge nuss – statt genießender Hingabe Ekel – woran sich hinsichtlich des Erwarteten der Fortdauer als noch Unerfülltes, aber Erwartetes äußerstes Widerstreben noch anschließt. Aus der Erfahrung (befördert durch instinktive Reaktionen) erwächst dann die Vorstellung von möglichen Zielen positiven Strebens, deren Realisierung, Hinlaufen nach B als Weglaufen von A, woraus die Lust der Entspannung und Entleerung des Widerstrebens, der Beseitigung der Unlust, erwächst, die selbst als Lust gewertet werden und bewusst leitend werden kann. Das W er tnehm en ist also G eni eßen einer am original bewussten Gegenstand hinsichtlich originaler gegebener Bestimmun1
„Erfahrung“ des Wertes ist Genuss, der in latenter Weise gegenständlich konstituiert ist; ich kann nun „urteilend“ auf Gegenstand der Lust und haufi Lust selbst (Wert) achten hundi beziehend urteilen.
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gen affizierenden Lust, und eigentliches Werterfahren, Wert-Wahrnehmen ist Erfassen dieser Lust als dem Gegenstand vermöge seines Merkmals hzukommenderi, nämlich als darin fundierter Charakter. Nach Gegenständen beg ehren, das ist letztlich nach der Verwirklichung ihrer „vorgestellten Werte“1 im Genuss begehren, nicht diese Gegenstände sich überhaupt zur Kenntnis zu bringen (als ob es sich um ihre Erkenntniswerte handelte, siehe oben), sondern sie zum Genuss bringen. Das objekti vier ende Streben kann auf die Kenntnisnahme und Erkennt ni s des G egenstandes als Wertgegens tandes geri chtet sei n, was voraussetzt, dass der Wert als fundierte Eigenschaft des Gegenstandes, als seine Bestimmung, erkenntnisthematisch geworden ist. Das begehrende Streben will aber zum Genuss kommen und im eigentlichen Sinn genießen, d. i. im Genuss verweilen, das Luststreben fortgesetzt erfüllen, solange es eben Luststreben ist (das nicht durch ein anderes überwogen wird oder sich nicht in sich gewandelt hat in Gleichgültigkeit oder Unlust). Das bloße Genießen is t kein Bewe rten, Für-wert-Halten, obschon in gew is s e r W eis e h ei n i D en-Wert-originaliter-Haben; es ist noch nicht den Wert „wahrnehmen“, wahrnehmend erfassen, den Gegenstand „urteilend“, konstatierend bewerten. Da gibt es freilich Verschiebungen, die leicht eines ins andere übergehen lassen. Das ist vielleicht noch nicht deutlich. 1) Ich kann von einer Wertbeschaffenheit als solcher ursprünglich Kenntnis nehmen, den W er t konst ati ere n. 2) Ich kann eben den Wert genießen. Genießen ist in der begehrenden Erfüllung leben, die Lust als Erfüllung des beständig geweckten Hinstrebens auf sie in ihren neuen Phasen durchleben. Dann erlebe ich nicht bloß Lust, sondern ich lebe im Streben zur Lust hin im Modus der steten Erfüllung, und das ist Genießen. Dagegen im Wahrnehmen leben, das ist im objektivierenden Streben leben, betrachtend, fortgehend Kenntnis nehmend, konstatierend etc. Das wären primitive Stufen. In höherer Stufe kann ich objektivierend, urteilend von Ungewissheit, von Zweifel, Frage, zur 1
Was heißt hier „vorgestellte Werte“? Sie sind natürlich antizipiert, nämlich antizipiert ist der mögliche Genuss; aber dieses „vorgestellt“ besagt nicht, dass Lust und Genießen in der Erkenntniseinstellung (urteilend) gegenständlich wären.
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Entscheidung übergehen, ein Wissen gewinnen, dass z. B. ein Ereignis eingetreten ist, das für mich Genüsse zur Folge haben kann. Darüber freue ich mich. Der in Gewissheit herausgestellte Sachverhalt ist erfreulich um jener Beziehungen zu möglicher und zu erhoffender Lust willen. Ich kann wieder in der Freude leben, und ich kann die Erfreulichkeit konstatieren. Dem Sachverhalt als in Gewissheit geglaubtem kommt die Erfreulichkeit zu, für mich mit Beziehung auf diese Möglichkeiten meines Genusses, eventuell auch für andere. Auch hier geht durch das Objektivieren ein objektivierendes Streben, und an eine gewisse Stufe, an Ergebnisse der objektivierenden Stufe knüpft sich ein Gefühl, das Genuss begründet oder begründen kann. Die Gewissheit des Sachverhalts ist für mich von Wert, und das kann wieder objektivierend gefasst und konstatiert, erkannt werden.1 Also in welchem Sinn muss für ein wertendes Streben, oder sagen wir für ein begehrendes, handelndes, sich freuendes etc., der Wert gegenständlich konstituiert sein? Eine Gegenständlichkeit muss schon urteilsmäßig konstituiert sein als Substrat, das, was Wert hat und die Eigenheit, die Lust bringt, oder die Beziehung, in der Lust sich überträgt, der Wert mittelbar Wert wird. Was mich da leitet, ist die „Vorstellung“ eines Lustbringenden, Lusterweckenden und des Genusses, aber der Gegenstand als genossener, nicht als wahrgenommener etc., nicht in Erkenntniseinstellung, sondern in genießender Einstellung. Also nicht Erkenntnis des Wertes, nicht Bewertung als erkennender Akt, sondern Wertung als genießender Akt. Was sind die G runde i genschaften des Lebens? 1) Bewusstsein, dazu gehört Synthesi s. 2) Str eben dur ch di e Synthese hindurch auf Einheit, E r kenntniss tr eben. 3) B efr iedigung des Strebens ist Lust, auch die des Erkenntnisstrebens.
1 „Hemmungen“ des objektivierenden Strebens als Modalisierungen: durch gehemmtes Streben geht die strebende Intention auf Ungehemmtes, auf objektivierende Gewissheit. Innerhalb der Gewissheit ist das antizipierend-leere Bewusstsein nicht gehemmt, aber unerfüllt und sich erfüllend in Erfahrungsgewissheit. Unerfüllt ist zugleich unbefriedigt; unbefriedigt ist auch jedes gehemmte objektivierende Streben. Das „erfüllt“ besagt einen Modus der „Gegebenheitsweise“, analog wie für vorstellendes (urteilendes) Streben auch für wertendes und seine Hemmungen – Gefühlsgewissheit, Gefühlszweifel.
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4) Synthetische Einheiten jeder Art; Gegenstände als Träger der Lust und Unlust, und ursprüngliches Streben nach Lust fundiert also in synthetischem Streben; Streben auf Genuss hin. Es scheidet sich objektivierendes Streben und Luststreben oder wertendes Streben. 5 5) Die Synthese übergreift auch die Lust; erkennende Objektivierung als gegenständlichen Wert; Wertgegenständlichkeit als Gegenständlichkeit und das Werterkennen eventuell als leitend für das Handeln. Handeln: realisierende Gestaltung von Gegenständen um ihres positiven Wertes willen, der bewusst leitend ist. Das theoretische 10 Forschen ist Handeln, die theoretischen Gebilde sind Erzeugnisse aus vorangegangenen Gegenständen, nach Wertnahmen gestaltete Gegenstände. Theorie wird als „wahr“ gewertet, sie ist Ziel als zu Genießendes in der Erkenntnisfreude.
XIII. ZUR LEHRE VON DER INTENTIONALITÄT IM HINBLICK AUF DIE GENESIS DER WELTKONSTITUTION. DER STREBENSCHARAKTER DES AKTLEBENS1
h§ 1. Das nicht durch einen Glauben motivierte, uninteressierte Gefallen am Schönen gegenüber dem Gefallen am Wesen als Seiendeni
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Ver schied en e „ Wa hr h e i t e n “: Seinswahrheiten, Gefallenswahrheiten, im gewöhnlichen Sinn praktische Wahrheiten, praktische Wahrheiten überhaupt. Das strebende Leben: I. Das „ urt e i l e n de “ L e b e n, das Urteilend-auf-Seiendes-Gerichtetsein, auf wahrhaft Seiendes, II. das g ut wert en de L e b en, auf Gutes Gerichtetsein (Gefallendes, Schönes), III. das h an d e l nd e , z w ec ktä t ig e L e be n, das auf praktische Güter gerichtete. Alles Aktleben ist strebendes, gerichtet auf Habe, histi erfahrendes, urteilendes, auf Urteile, Sätze, dann auf wirkliches Sein und Sosein gerichtetes Streben, auf Schönes oder Gutes gerichtet, auf praktisch Gutes (frei zu verwirklichendes). Das Seiende, das Erfahrbare, Beurteilbare umspannt das Schöne als schön seiend, das Gute als gut seiend. Und so in allen Modalitäten. Das Streben geht überall auf Erfüllung, das Streben der Urteilssphäre auf Selbstgegebenheit, Kenntnis, Erkenntnishabe in Form erfüllender Erfahrung, das Streben der Gefallenssphäre auf Erfüllung des Gefallens im Genuss, das der praktischen Sphäre auf Erzielung des Zweckes im verwirklichenden Handeln, entsprechend dreierlei „Einstellungen“.
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23.2.1931.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 173 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7_13
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Klarheit, was all das besagt, erfordert es, weiter zurückzugehen. Das Sein, das sozusagen explizierte (das urteilsmäßige, doxische, aber explizierte), das der „seinssetzenden“ Wahrnehmung und Erfahrung, hat hinter sich das implizite, das „Vorsei n“; bzw. dem aktiven Seinssetzen (dem urteilenden Glauben, etwa wahrnehmend) geht voran das, was ich die „pas si ve D oxa“ nannte. Wir haben ein Vorsein in der „U rdoxa“ (Vor-Doxa), wir haben ebenso ein Vor-Gefallen in der Weise des Urfühlens, des passiven, das kein eigentliches Schönwerten ist, und des Urstrebens und urtümlichen Tuns, das keine eigentliche Aktivität ist, kein eigentliches Wollen und Handeln. 1) Die Urdoxa und d as Vorsei n – natürlich von uns konstatiert durch ein nachkommend enthüllendes Erfahren und sonstiges Urteilen – der in der passiven, rein assoziativen Wesensgesetzmäßigkeit des Lebens sich vollziehenden Konstitution von „Einheiten“, vor allem der Einheiten des ursprünglichen Zeitbewusstseins, der Einheiten aus immanenter Zeitigung. Diese ursprüngliche Einheitskonstitution führt (durch Abbau) auf ihr Kernstück, die Konstitution der Hyle. 2) Das passiv ihr zugehörige Gefühl und 3) hdasi Streben. Das Streben ist aber instinktives, und instinktiv, also zunächst unenthüllt „gerichtet“ auf die sich „künftig“ erst enthüllt konstituierenden weltlichen Einheiten. Damit hängt zusammen, dass die passiv verlaufenden, die unwillkürlichen kinästhetisch-subjektiven Bewegungen, zusammen verlaufend und sich asshoziierendi mit den zugeordneten hyletischen Daten, zur genetisch einzel-subjektiven Konstitution von Erscheinungseinheiten führen können als sich in den Gruppen zugeordneter hyletischer Daten „darstellenden“, „abschattenden“. Nämlich optisch ist das Gefälligste immer das Optimhumi – einerseits das der Ausbreitung (Steigerung der „Färbung“ mit der Ausbreitung), was für „Drehung“ und „Entfernung“ seine Rolle spielt, andererseits Helligkeit und Dunkelheit, was schon in die kausale Betrachtung führt (das Ding ans Licht bringen) etc. D i e individuelle Genesis findet die W ege, die I nsti nkte der Weltlichkeit zu erfüllen, und dafür müssen Bedingungen schon erfüllt sein und sind erfüllt. Die ersten instinktiven Erfüllungen sind noch nicht die Enderfüllungen der Instinkte (abgesehen von den Instinkten des Saugens an der Mutterbrust, überhaupt geruchsmäßige, wärmemäßige In-
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stinkte mit Kinästhesen des Näherseins bei der Mutter etc.). Die instinktive Freude am Sehen ist ein Prozess instinktiver Intentionen und Erfüllungen, und die Erfüllungen lassen immer noch etwas offen; der Instinkthorizont geht weiter. Indem sich weltliche Einheiten konstituieren als habituelle Zugangseinheiten von demselben und auch das Menschsein, die „Anderen“ und man selbst als seiender Mensch sich konstituieren und immerfort konstituieren, bekommen die ins tinkt iven Str ebenshori zonte immer neue Vorzeichnung, eben dadurch, dass immer neue Erfahrung (die neu konstituierende) neue Erfüllung bringt für das, was noch Unerfülltheit war.1 Fast möchte man sagen „Ahnung“, aber das Wort hat schon den Sinn einer, wenn auch unklaren Vorzeichnung. Das neugeborene Kind hat schon im Verborgenen die „Anlage“ in immer höheren Stufen seines Entwicklungsganges die Welt und schließlich die Welt der vollen Menschheit zu verstehen, aber – im Sinn der gewöhnlichen Rede – noch „ahnungslos“ blickt es „in die Welt“ hinein, so sehr, dass es noch nicht die primitivsten Vorzeichnungen für die Welt hat, geschweige denn wirkliche Erfahrung. Jede neue Stufe hat ihre Fühlungen und Gefühlscharaktere, diese Charaktere haben ihre Steigerungsreihen, und ihnen ordnen sich zu „Kinästhesen“ höherer Stufe und ihnen folgende Strebungen, ausgebildete Zwecke und Handlungen. Die konstitutive Praxis bildet sich zunächst aus unter Leitung der „sinnlichen Gefühle“, in höherer Stufe hunter deri der Objektwerte etc. Jede ausgebildete Stufe wandelt sich in ihren immer mehr differenzierten und organisierten Einzelzielungen und Einzeltätigkeiten in eine neue Pas si vit ät um, in ein gewohnheitsmäßiges Tun (die dann „Mechanisierung“ in einem schlechten Gleichnis genannt wird oder auch Dressierung). Es ist die Passivität der Gewohnheit aus Übung, in der selbst der Einsatzwille auf das Ziel hhini (durch den Weg hindurch bzw. seine Mittel hindurch und die Zwischenwege) in assoziativer Passivität die Form „bloßer Auslösung“ hat. Jede höhere Stufe beginnt mit dem Versuch, das Bessere, das durch ein „Ich kann tun“ im „Vermögen“ liegt (zunächst natürlich ein leibliches „Ich kann mich dahin bewegen“ oder „Ich könnte 1 Vgl. Beilage I: Seiendes als erworbene Habe und Korrelat einer habituellen Zugangspraxis (S. 185). – Anm. der Hrsg.
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stoßen, schieben, drücken, hämmern etc. und in Folge davon würde ich haben, würde ich es entsprechend umwandeln“), zu verwirklichen. Aber das Bessere hat in der Erfahrung wieder Besseres, es bilden sich „Spielräume“ praktischer Möglichkeiten aus und hdiei Wahl des Besten, es zu verwirklichen. Es wiederholt sich aus der engsten Sphäre in allen Stufen die Möglichkeit der M odal i si erung, das Unstimmigwerden, das Schweben zwischen Sein und Schein, in der höheren der bewusste W ille z ur Ei nst i mm ig kei t, zur Einheit eines „wirklichen“ Seins im Rahmen einer wirklichen „Welt“, die wirklich ist in der präsumierten und auszuweisenden bzw. in der Erkenntnis zu verwirklichenden Wirklichkeit. Es ist nun aber Folgendes zu bedenken. Nicht nur hyletische Daten konstituieren sich als Einheiten, auch das konstituierende Leben, auch die Kinästhesen, die Akte des Ich, kurz alles und jedes, was zum Bewusstseinsleben gehört, konstituiert sich vermöge der immerfort wirkenden Assoziationen als Einheit. Aber wir müssen unterscheiden: heinerseitsi Einheiten, die affizieren, an und für sich, sich entgegenheben – Interesse erwecken – dem aktiven Ich (was eine Tautologie ist, das Ich ist das Ich korrelativer Affektivität und Aktivität), und andererseits Einheiten (als Abgehobenheiten mögliche Vorbedingungen der Affektion liefernd), die nicht affizieren. Was auf niederer Stufe nicht affektiv ist, also das Interesse noch nicht berührt, kann es auf höherer Stufe tun. Die konst it uti ve G enesi s i st für jedes einzelne Ich die s eine, in ihr muss sich ge l ei tet von den Instinkten – wir könnten sagen, geleitet von dem uni versal en Instinkt, der alle Sonderinstinkte synthetisch vereinheitlicht – korrelativ hdasi Ich als menschliche Person und Welt für dieses Ich konstituieren. Das geschieht aber, wie wir schon wissen, als Welt für das Wir dieses Ich, als Welt, die Menschen in sich hat und zugleich Welt für diese Menschen ist. Darin liegt, sie konstituiert sich als gemeinsame für eine kommunizierende Menschheit, und diese Konstitution ist selbst eine Einheit der „Entwicklung“, ist immerfort auf dem Weg zwischen δàναµισ und ντελÛχεια. In seinem Urinstinkt trägt jedes einzelne Subjekt diese ganze Entwicklung als nicht seine solipsistische, sondern als Menschheitsentwicklung – als Entwicklung der transzendentalen Allgemeinschaft, der der transzendentalen Subjekte – in sich, also es
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trägt „implizite“ alle anderen, die ihm entgegentreten können, und alle ihrer Leistungen, die gesamte Welt als humanisierte, als Kulturwelt in sich. Natürlich nur der Form nach. Schon die untersten und nächsten Instinkte, die der ursprünglichsten Sphäre der „Praxis“ (das 5 Streben vor dem eigentlichen Wollen und somit noch vor dem Ich als seiner selbst bewusstem menschlichem Ich), sind zwar gerichtet, aber mit unbestimmtem und vorzeichnungslosem Horizont, so der Nahrungstrieb und der Geschlechtstrieb und der auf Dinge konstituierend gerichtete.
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h§ 2. Werte als im fühlend-wertenden Bewusstsein konstituierte Einheiten. Der Wert als Seinsthemai Die genetische Richtung auf Weltkonstitution wird nur verständlich durch die systematische, sozusagen ästhetische Auslegung der Konstitution der „fertigen“ Welt, auf der konstitutiven Stufe, die sie für uns, die forschend Auslegenden, hat. Diese Welt ist immer schon Güterwelt und immerzu Feld der Praxis, die ihrerseits auf mögliche weltliche Güter gerichtet ist. Ihre beständige und wesensmäßige Unterschicht ist bloße Natur, die aber in der konstitutiven Entwicklung auch eigenes interessierendes Thema wird, Thema des Naturgefallens und somit als Naturschönheit Thema der Erkenntnis der puren Natur, Thema der praktisch-handelnden Umgestaltung im Sinn der Steigerung der Schönheit ihrer Erscheinungsweise. In der Welt sind mannigfaltige Güter, Güter für Einzelne, Güter für die menschliche Gemeinschaft als darin für „jedermann“ zu genießen, immer wieder für jedermann sich daran zu freuen, und eventuell Güter für jedermann in unbedingter Universalität – sofern sie für ihn nach Sinn und wirklichem Dasein in diesem Sinn zugänglich sind.1 „Güter“ sind Gegenstände des Wohlgefallens, Gegenstände, die weltlich schon da sind, sei es auch in der Weise idealer Güter, wie mathematische Theorien, die schon um ihrer „eleganten“ Beweisform willen, aber auch als eine bedeutsame Stufe der wissenschaftlichen Erkenntnis den Forscher und Leser entzücken können. 1 Aber „Güter für jedermann“ setzt voraus eine Willensharmonie – eine Willensorganisation. Gegen Streit und Zerstörung – ideale Güter.
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Das Gefallen hat seine Vollkommenheitsgrade; es ist eine Form des Strebens, und zwar der Ichaktivität und hdesi Sich-Erfüllens; es ist eine Art der Intention auf etwas hin, die sich erfüllend eine habituelle Wertüberzeugung (also eine über den actus hinaus verharrende) begründet, aber nachträglich aktualisiert kann es doch ein plus-ultra fühlbar machen, wie z. B. wenn verwandte höhere Werte sichtbar geworden sind. Nicht hat das Gefallen als Erlebnisdatum (das analog wie ein Ton betrachtet wird) seine Intensität, sondern es hat als I ntent ion- auf oft ei ne G radualität ihm möglicher E r füllung, und das ergibt den Unterschied zwischen größeren oder geringeren Werten. Die Größe besagt hier aber bloß Unterschiede der Steigerung, die eben das Analogon von sinnlicher Intensität ist. Aber dies ist eben nur eine besondere Art der Steigerung. Das Werten des Gemüts, das fühlende Werten, ist also zu verstehen als eine „Einstellung“ des Ich, in der es „im Gefühl lebt“, und dieses Leben kann Fühlen in der Weise des Vor-Fühlens, der Gefühlsantizipation sein, ein bloßes Wertvermeinen, und es kann die Form haben oder im Erfüllungsübergang annehmen, in der der Wert ursprünglich als er selbst „verwirklicht“, konstituiert ist – das terminierende Genießen in der Weise des Selbst-als-fühlendes-Ich-beim-Wert-Sein. Doch muss man von dem Wort „Genießen“ alle sinnliche und gar abschätzige Färbung wegnehmen. Auch der erhabendste Kunstgenuss oder Genuss an der „Schönheit“ der Erkenntnis (ihres Wertes im Gemüt) ist eben Genuss. Genossen wird im „Gemüt“, nicht im „Verstand“ (auch nicht im Willen). Im „Verstand“ wird nicht der Wert „Thema“, so wie er im Gemüt „Thema“ ist, das heißt, er ist nicht Zielpunkt und Erfüllungspunkt einer urteilenden Intention. Aber der Wert kann auch Seinsthema, Thema des Verstandes werden, und nur sofern er das ist oder geworden ist, hat er die eigentliche, die explizite Form „seiend“ angenommen, nur so ist er anzusprechen als Subjekt von Prädikaten, ist er zu beschreiben usw. Der Wert ist zwar schon da, nämlich im puren (nicht von Urteil und selbst von Wahrnehmung, Erfahrung im Urteilssinn begleiteten) Genießen; im ästhetischen Wohlgefallen einem Kunstwerk hingegeben – nicht als „Gebildete“ oder als Kunsthistoriker auf Feststellungen absehend, also auch keine feststellende, seinssetzende Erfahrung vollziehend – sind wir in der puren ästhetischen Seligkeit, wir leben im Gemüt. Ein ganz anderes ist hesi, dass erfahrende Auffassung, Gedanken,
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Urteile zugrunde liegen mögen, die aber als solche Grundlagen in der Gemütseinstellung eine wesentliche Modifikation der Gegebenheitsweise annehmen. Die Freude an einem „eleganten“ Beweis kann zunächst als begleitendes Fühlen das verstandesmäßige Beweisen begleiten, aber die nachkommende G efühl sei nstellung und Wertung als schön ist ein Neues und fundiert. Wie sie nun im verstandesmäßigen Tun ist, ist sie selbst nicht mehr ein verstandesmäßiges Tun, sondern ist gefühlsmäßiges Sich-Freuen am Beweisen, und darin histi bewusst Wert des Beweises. Andererseits ist jeder Wert implizite seiender, als vermeinter Wert ein vermeintlicher, als selbsterwerteter Wert (im „Wertnehmen“, wie ich es seit Jahrzehnten in Vorlesungen nannte, als Analogon des Wahrnehmens gedacht) ein wirklich seiender. Das sagt: Wert konstituiert sich im Werten als habituell verharrende Einheit, die im wiederholten Werten des Gemüts sich einigend deckt. Aber diese passiv-assoziativ sich vollziehende Einigung und Konstitution von Einheit ist nicht Identifikation als Akt des „Verstandes“, dessen Funktionen (die Urteilsfunktionen im weitesten Sinn) auch bezeichnet werden als die innig zusammenhängenden, ineinander notwendig übergehenden Modi der aktiven Identifizierung und Konstitution von Identitäts-Einheiten als immer wieder selbst zugänglichen, als originäre Wiederherstellbarkeiten des Identischen in der originalen Identifizierung. Bleibende Sachen (des Verstandes) und ebenso bleibende Werte (des Gemüts) als Erwerbe des Ich setzen immer schon voraus, dass Einheit konstituiert ist, sei es aus ursprünglichster Passivität, sei es aufgrund von Akten, die alsbald assoziativ-fungierende Einheiten neuer Art begründen. So ist es, wenn Werte im wertenden (fühlendwertenden) Bewusstsein, also, wenn man will, im „Gemüt“ als erworbene Einheiten konstituiert sind. Diese, wie alle und jede Einheiten, können das Ich affizieren und im Besonderen das Verstandes-Ich, das für Seiendes, für „Tatsächliches“ interessierte.1 Das Interesse am Sein lebt sich aus im erfahrenden Erfassen als ein „dies da“, weiterhin auch halsi ein Streben, es identifizierend in 1 Probleme: a) Uraffektion von „ichlos“ konstituierten Einheiten, b) Affektion von Tatsachen und Werten als erworbene des Ich, also aus Akten.
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alle Zukunft immer wieder erkennen hzui wollen, darin liegt, darauf gerichtet hzui sein, es sich zu merken, zunächst das, was es „im Einzelnen“ ist, das, wie beschaffen es ist, hsichi merken hzui wollen, es explizierend in seine zu merkenden, immer wieder zu erkennenden, identifizierbare Beschaffenheiten, als denjenigen, worin sein totales Sein sich auslegt in seine Sonderheiten. In der Erfassung als „dies da, das so und so ist“ liegt selbstverständlich also eine Zueignung dieses Seins und Soseins als bleibender Besitz, das man als Gekanntes und Erkanntes hat, nämlich auf das man, einmal erfasst, immer wieder zurückkommen kann, es als es selbst als identisch wieder konstituierend. Das sind also die Funktionen des Ein-zunächst-ungeschiedenes-Etwas-als-identisches-Substrat-identifizierbarer-BestimmungenIdentifizierens und hdesi Auf-habituellen-Erwerb-des-Identischenals-immer-wieder-Identifizierbaren-Gerichtetseins; in letzter Hinsicht hgerichteti auf praktisches Fixieren durch die sprachlichen Zeichen. Auf die Funktionen der Kenntnisnahme gründet sich, mit dem Einsetzen der Sprache anhebend, das prädikative Urteilen mit seinen höherstufigen Funktionen der kathegorialeni Identifizierung, der begreifenden, mit den Formen des Allgemeinheits- und Einzelheitsbewusstseins. Dazu die Modalisierung, die damit zusammenhängenden Funktionen der Kritik (und kritischen Logik), wobei die Erscheinungen, die Sätze als Meinungen, zu Gegenständen werden mit den neuen Prädikaten „wahr“ und „falsch“, und überhaupt modalen Prädikaten. So sind auch Werte „etwas“, Seiendes, d. i. identifizierbar, als „dies da“ zu setzen, auszulegen, begrifflich zu fassen, prädikativ zu beurteilen, im eigens auf sie einzeln oder auf die Werte im Allgemeinen gerichteten Seinsinteresse zu thematisieren, einem Interesse, das, wenn es in habitueller Konsequenz auf derartiges Seiendes und eventuell universale Kenntnis eines Seinsgebiets gerichtet bleiben mag, „theoretisches“ Interesse heißt. Potenziell gesprochen „sind“ Werte schon vor aller erfahrend-urteilenden Einstellung „da“, ursprünglich da im aktuellen und erfüllten Wohlgefallen (Unwerte natürlich im Missfallen).1 Aber eigentlich als seiend sind sie für uns da im Wechsel
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In gewisser Weise sind sie im Genuss „erfahren“.
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der Einstellung und hin deri Ausübung der Funktionen des Urteilens, unter denen die „schlichte“ Kenntnisnahme des „Merkens-auf“ und des auslegenden Merkens auf das, wie es ist (es, dasselbe). Die niederste ist die Erfahrung im gewöhnlichen Sinn wissenschaftlicher 5 Rede. Man sieht da, der „Verstand“, das Vermögen des Urteils im weitesten Sinn, ist nicht etwas neben dem „Gemüt“ und dem „Willen“.
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§ 3. hStellungnehmende Akte als eigentliche Ichakte und ihre passiven Vorformen. Das erfahrend Gerichtetsein als eine Strebenstendenz gerichtet auf die Realisierung des Seienden in seinem Seinsgehalt. Der Willensmodus des Urteilensi Aber muss man nicht evidenterweise scheiden, wie es so oft geschehen ist, zwischen Sei endem und Seinsollendem, zwischen dem Reich bloßen Seins und dem Reich der Werte? Ist nicht die Natur, die physische und psycho-physische ein Reich bloß wertfreien Daseins? Und histi nicht die Zahlenwelt, diese Welt der Idealität, eine Welt puren Seins, wertfrei wie die Natur? Ist das Seiende Korrelat des Verstandes und Wert ein Korrelat des Gemüts, mag man nun unter Gemüt ein Vermögen bloßen Fühlens verstehen oder auch des Willens, oder mag man scheidend dem Gefühl die spezifischen Werte, dem Willen das Sollen (die Gesolltheiten) zuschreiben? Jedenfalls ist Natur, ist ideale Zahlenwelt, ist das ideal Mathematische „wertfrei“ bzw. gemäß jener Unterscheidung sollensfrei. Aber was soll diese Fr eiheit bes agen? Sprechen wir allgemein von Seiendem, so stehen wir natürlich in der Verstandessphäre, das heißt, wir sprechen von Identifiziertem bzw. zu Identifizierendem in Anmessung an immer wieder herstellbare Ausweisung letztlich durch Erfahrung, wir sprechen also von Erfahrenem oder Erfahrbarem, von Substraten prädikativer Urteile in prädikativen Identifikationen, wirklichen oder möglichen, vermeintlich ausweisbar durch Einsichten usw. Aber allgemein sprechend haben wir nicht gesagt, woher, aus welcher Sphäre die Identifikation ihren Inhalt bezieht. Je nachdem kann er ein sehr verschiedener sein, von sehr verschiedenem konstitutivem Ursprung. Das Identifizieren, oder besser: die Einstellung auf Seien-
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des als Identisches und Identifizierbares, ist eine Funktion, die völlig unselbständig ist. Was sie leistet, leistet sie auf einer schon vorausgesetzten Unterlage. Dasselbe gilt freilich für die Einstellung auf Werte, d. i. für das wertende Verhalten, und wiederum für das Streben und insbesondere das Willentlich-auf-etwas-Gerichtetsein, und zwar in allen Modalitäten, die für diese Verhaltungsweisen bestehen können. Einstellung besagt hier Stellungnahme, aus der die bleibende Stellung hervorgeht, in der dann Seiendes da ist oder „gilt“, in der Wertes in seiner Weise gilt, aber nicht als Seiendes zur Geltung kommen muss, und ebenso für Gesolltes, auf das Wollen hinauswill. Die betreffenden Akte, in denen aktuell Stellung genommen, innegehabt hwirdi und hdiei dann auch nach dem Akt als „Überzeugung“ (auch Wertüberzeugung, Willensüberzeugung) verbleibt, können fundiert sein, wie wenn die fühlend-wertende Einstellung auf eine Person fundiert ist in Urteilen über das, was sie getan oder unterlassen hat, oder die Willensentscheidung fundiert ist in Urteilen über die Situation, über Dinge, Menschen, politische Verhältnisse etc. Doch damit ist nicht alles gesagt. Wir müssen die eigentlichen I chakte, die Urteilsakte, die fühlend-wertenden und Willensakte auf ihre passiven Vorformen von Bewusstseinserlebnissen zurückbeziehen, wie wir dann unter dem Titel „intentionale Erlebnisse“ sie alle befassen, obschon nicht alle Intentionen im prägnanten Sinn sind. Diese letzteren sind alle charakterisiert als Gerichtethseini eines Ich auf etwas, während die Nicht-Akte zwar Bewusstsein von etwas sind und die aktive Gestalt des Gerichtetseins-auf annehmen können, aber sie eben nicht angenommen haben. Das wache Ich ist als solches aktives Ich, aber auf dem Grund eines weiterreichenden Bewussthabens von etwas, für das es nicht im Besonderen wach ist oder in dem es nicht wach ist, nicht sich speziell richtet auf dieses Was. Es zeigt sich, dass in jedem konkret genommenen Akt und eigentlich aller Weisen aktiven Verhaltens alle diese Modi ihre Rolle spielen: passive Doxa, passives Gefühl, passives Streben, wobei „passiv“ hier die Bezeichnung ist für das Unwachsein des Ich, für sein Indem-Bewusstsein-nicht-aktiv-Gerichtetsein. Jedes passiv herauszuhebende Bewusstsein in seiner relativen Konkretion hat diese drei Momente, aber auch in Richtung auf Aktivitäten jedes aktive. Als Gerichtetsein des Ich ist es ein Streben, ein sei es frei, sei es gehemmt
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strebendes (im ersteren Fall sich ausstrebend bis an sein „Ende“, das aber selbst ein relativer Anfang bzw. Durchgang sein kann). Erfahrend Gerichtetsein ist erfahrend Streben, von Erfahren zu Erfahren geht kontinuierlich oder durch das Abbrechen hindurch hgehti eine Strebenstendenz, und das Ich, durch diese Aktkontinuität oder durch die abgehobenen Akte hindurch strebend, ist auf das Erfahrene gerichtet, auf das eine erfahrene Ding, das sich im wandelbaren Erfahren von immer neuen Seiten bietet und im Besonderen auf diese und durch diese Seiten bzw. auf die und durch die Sondermerkmale hindurch zu den neuen und wieder neuen. Es ist ein Abzielen und Ziele Erreichen, relative Zwischenziele und Endziele, die aber bei anderen Interessenrichtungen selbst nur Zwischenziele wären. Es ist also ein Pr ozess des i ch-wachen Strebens, hier, mit anderen Worten, ein Willensprozess, des Näheren ein Prozess fortschreitender Realisierung. Was da real i si ert wi rd, ist das Seiende in s einem Seins gehalt „ sel bst “, in dem es, als was es identisch ist, im Modus des „original da“ Verwirklichtes ist, und so gemerkt zur Kenntnis genommen, als bleibende Seinshabe ursprünglich erworben oder als schon Bekanntes wiedererkannt wird. Die Apperzeption als seiendes Ding, auch des unbekannten Dinges, ist Apperzeption, das ist Antizipation nicht nur des Jetzt-so-und-so-erfahren-Könnens, die kinästhetischen Abläufe und die entsprechenden Erscheinungen und Erscheinungseinheiten konstituieren hzui können, sondern auch des Das-immer-wieder-später-Könnens und den Erwerb somit als Seinshabe buchen zu können. Die Urteilsaktion als Aktion, als Willensmodus hat ihre Formen, die Formen der immer höherstufigen Identitätsgebilde; sie sind das jeweilige Urteilswerk, in der niedersten Stufe das noch vorprädikativ, bloß zur Erfahrungskenntnis genommene Wahrnehmungsobjekt als Substrat seiner Explikate (seiner ausgelegten Sondermomente). Was da als Substrat erfahren ist, was mit anderen Substraten kollektiv, vergleichend etc. zusammengenommen und in diesen und immer neuen Funktionen der Urteilssphäre Urteilserzeugnisse liefert, das ist natürlich sehr Verschiedenes und sozusagen eventuell alles und jedes. Es kann ein neues Objekt sein, ein Wert sein, aber auch wieder ein Urteilsgebilde sein, oder ein Entwurf mit Zweck und Mitteln sein, oder die Handlung als Handlung sein. Ich sagte „auch ein Urteilsgebilde“ – denn zum Wesen der Akte gehört die Iterierbarkeit, und so ist auch das Urteilen iterierbar und
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in verschiedenen Hinsichten. Im Urteilen auf Kenntnis, auf immer weiter reichende Erkenntnis abzielend, erwachsen Gebilde immer höherer Stufe, die nicht selbst Ziele sind, sondern die Handlungen, worin sie als erzielt auftreten. Sie sind aber jeweils da – vor ihrer Erfassung als seiend und gewiss vor ihrer Beurteilung. Sie sind selbst also erfahrbar (wenn jedes Zum-Seinsthema-Machen, zum Substrat niederster Stufe, Erfahren heißt) und können zu Gegenständen der fortschreitenden Erkenntnis werden. Vor der thematisierenden urteilsmäßigen Erfahrung liegt hier jenes Urteilen und sein Urteilsinhalt, der unthematisch aufgetreten und erst bei einem neu gerichteten Interesse thematisch und zunächst als „Erfahrung“ wird. Jenes unthematische Auftreten macht die Vor-Erfahrung aus, auf die eigentliche Erfahrung zurückweist und ohne die sie nicht ihren Inhalt hätte. Was ist die Vor-Erfahrung (dieses weiteren Sinnes), wenn ein genossener Wert zum Seinsthema wird, zum Substrat für Urteilstätigkeiten? Natürlich das Werten, im ursprünglichen Modus das genießende. Und wie steht es mit der gewöhnlichen naturalen („sinnlichen“) Erfahrung? Aber auch hier muss das jeweilige Objekt, das Ding, die Gruppe, der Vorgang usw. schon „da sein“, um erfahren werden zu können, humi im urteilsmäßigen Sinn thematisches Substrat sein zu können. „Schon da sein“ – nicht als objektive Wirklichkeit, die uns erst da ist durch Erfahrung und erfahrungsgegründete Erkenntnis. Auch wenn sich herausstellen sollte, dass das „da seiend“ ein Schein sei, kann Erfahrung als Erfahrung „dieses Dinges da“ statthaben und auch dann natürlich setzt sie voraus, dass es im Voraus schon in unserem Bewusstseinsfeld da ist (im unbeachteten Naturhintergrund, der immer schon bewusster ist), damit sie sich eben darauf erfassend, bestimmend richten kann.1
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Abgebrochen. – Wie sieht der letzte Ursprung aber aus?
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Beilage I hSeiendes als erworbene Habe und Korrelat einer habituellen Zugangspraxisi1 Die instinktive Affektion führt auf Zuwendung und Erfassung, das ist 5 noch nicht Konstitution von Seiendem. Seiendes ist erworbene Habe, das ist
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hdasi, wozu ich immer wieder Zugang habe als etwas, das bleibend für mich da ist. Das Seiende konstituiert sich also in eins mit dem „Ich kann beliebig das in Wahrnehmungsgegenwart Gegebene allseitig betrachten und im durchlaufenden Wiederkehren desselben Moments dasselbe als dasselbe identifizieren und so das Wahrgenommene als verharrendes Identisches identischer Bestimmungen in wiederholend-fortgesetzter Wahrnehmung wiedererkennen.“ (Später aber auch, ich kann Verharrendes auch nach der Wahrnehmung in Erneuerung durch getrennte Wahrnehmung erkennen, ich kann dabei auch auf die vergangenen Veränderungsmodi durch Erinnerung zurückkommen – wie dann in der Wahrnehmung ja Wiedererinnerung für das Wiedererkennen schon eine Rolle spielt. Und so kann ich auch durch Wiedererinnerung auf das früher Wahrgenommene zurückkommen etc. Das alles aber geht nicht mit einem Schlage.) Und zieht nun ein Neues mich an, so ist schon die Apperzeption begründet: Es ist für mich nicht nur erfasst, sondern aufgefasst (später als immer wieder zu Erkennendes) – zunächst als Wunschintention, und dann lerne ich es, und schließlich kann ich es überall, ich gewinne die Seienden in ihrer apperzeptiven Typik, jeder Typus hat seine Weise des „Ich kann“, seine Weise der Zugangspraxis. Das ist also eine Art „Handeln“. Für die erste Konstitution von erscheinend Seiendem (Raumding bzw. Mutter) das sich ausbildende Vermögen, durch „könnende“ In-Spiel-Setzung der Kinästhesen (die schließlich zu einem beherrschbaren System geworden und als das bewusstseinsmäßig zur Konstitution gekommen sind halsi systematisches Einheitsfeld meiner Herrschaft im „Ich bewege“) die assoziierten Erscheinungsreihen zum Ablauf bringen zu können, in der Weise, welche eine „Kenntnis“ des Gegenstandes, in dem, was sein eigenes Sein ausmacht, schafft, als bleibende Kenntnis, als immer wieder realisierbares Identisches. Seiendes ist Korrelat also einer habituellen Zugangspraxis, die nicht im gewöhnlichen Sinn „handeln“ heißt, da dieses Wort bezogen ist schon auf ein Reich von weltlich Seiendem. Dies ist schon vorhanden, die handelnde Praxis geht auf das, was noch nicht vorhanden ist, nicht da ist als ruhendes Sein oder als bewegtes bzw. als Bewegung, hwasi da ist als so bestimmt, aber nicht bestimmt so,
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wie ich es wünsche. Es geht also darauf, die vorhandene Welt, sie im weitesten Sinn zu verändern, und zwar durch Tätigkeit zu verändern, von mir her, aus meinem Wollen, meinem Entwerfen und Tun.
Beilage II hWahres Sein und wahrer Wert. Wert und Stimmung. Die auf die ganze Lebenszukunft bezogene Stimmung: Lebensgefühl und Lebenssorgei1
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Seinswahrheiten, Wertwahrheiten, praktische Wahrheiten. 1) Wahres Sein in seiner Relativität – Urteilsaktivität, Potenzialität theoretischer Erkenntnis ins Unendliche, Potenzialität der Welterkenntnis, des Fortschritts der Menschheiten bzw. transzendentale Subjektivitätsentwicklung zur universalen absoluten Wissenschaft, und diese selbst in infinitum. Naturwissenschaft – Geisteswissenschaft – als ra t i o n a l e in die Unendlichkeiten übergehende – transzendental, Überwindung aller Relativität des Seins, universale Teleologie des sich konstituierenden Seins in der transzendentalen Subjektivität, auch als sich selbst als wahrhaft seiend konstituierende; alles relativ Seiende nur seiend als potenzielles Gebilde in der transzendentalen Subjektivität, aber in der sich selbst zum wahren Sein fortentwickelnden, also in der Konstituierung des Relativen in sich die Potenzialitäten als Habitualitäten ausbildende. 2) Wahrer Wert – das „Schöne“. Alles Schöne ist relativ schön; schön in seiner Eigenheit, die aber nicht „in der Luft steht“: die Schönheit einer Blume, eines Kunstwerkes, die Schönheit der deutschen Natur, die Schönheit der Natur ist univhersali, die Schönheit der Gotik, die Schönheit der arabischen Kunst, die Schönheit der konkreten anschaulichen Welt – der schöne Mensch, der schöne Staat, die schöne Ehe, die schöne Geselligkeit. Eine schöne Menschheit als in einer schönen Welt lebend, sie von sich aus zu Schönheit gestaltend – so weit es an ihr liegt. Die Schönheit bestimmt durch den puren Inhalt: die „Ideenschönheit“, die des Inhalts als Idee, die Schönheit des Seienden durch Methexis an der Idee. Die primitiven Daten und ihre Schönheit, einzeln und zusammen – oder Hässlichkeit (Unstimmigkeit der ursprünglichen Gefühlseinigung, der Einigung der fundierten „Werte“), reine Schönheit, Steigerungen (plus-minus). Die Schönheiten der sich weltlich durch darstellende Erscheinungen konstituierenden Realitäten,
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und zwar der lebensweltlichen. Das konstituierte Reale und seine Stimmungsbedeutsamkeit oder Gegenstände mit Stimmungswerthaftigkeit. „Wert“ halsi allgemeines Wort für das Gefühlshaftige des jeweiligen „Vorstellungsinhalts“ des individuell Seienden – eines einzelnen, eines Komplexes. Es kann sein: relative Einheit der Erscheinungen (Optimum einer gewissen Nähe). Es kann sein: eine einzelne Erscheinungsweise oder beschränkte Kontinuität der Erscheinungen wie Aussicht – Land als Land im Wie der Erscheinungsweise, als „Landschaft“. Das ist „Landschaftsschönheit“, dieses nicht bloß im Wie, sondern in der Stimmungshaftigkeit. Also nicht nur, was da durch diesen „Inhalt“ fundiert ist, als zur Einheit der Gegenständlichkeit als Realität gehörig und als Einheit von Eigenschaften, die ihm aus der Praxis zugewachsen sind – was das schon ist und wie es von hier aussieht –, sondern was diese Seiende im Aussehen f ü r m i c h b e d e u t e t, mir gefühlsmäßig wert ist. Dieser Wert kann selbst praktische Bedeutung haben. Man erzeugt Landschaft nach Wertideen (m a c h t Stimmung), man erzeugt Gegenstände in Zierform, hum siei im Stimmungscharakter für jedermann fühlbar zu machen, sie werden also auch „objektiv“. Die Heimwelt und ihr Wertcharakter, das Heimelige, Vertraute. Einstellung der reinen Wertung, Ausschluss aller praktischen Einstellung, zuhöchst derjenigen, die auf diese Wertung selbst geht. „Interesseloses Wohlgefallen“ (oder Missfallen), Einheit in der Mannigfaltigkeit der „ästhetischen“ Werte, abwechslungsreiche Landschaft auf der Wanderung, einförmig-langweilige, heroische, großartige, liebliche. Subjektive Wohlstimmung und Missstimmung – der Ort, wo ich lebe, in einer schicksalsvollen Zeit, die allgemeine Stimmungsfärbung, die n i c h t im Einzelnen motiviert ist durch den Inhalt und wiederkehrt, so oft ich den Ort besuche. Im Unglück habe ich kein Auge für das Liebliche, Heimelige der Landschaft, für die Schönheit eines Baues etc. Diese subjektive Stimmung gehört dem „Interesse“ (als Gegensatz zur Uninteressiertheit) an: Ich bin im Beruf gescheitert, ich habe als Kaufmann Misserfolg, ich bin in einer Unternehmung plötzlich gehemmt und weiß nicht weiter etc. Wertung ist nicht Stimmung in diesem gewöhnlichen Sinn, ist Gefühl des Gelingens und Misslingens, aber nicht so im Einzelnen. Menschliches Streben als universales Lebensstreben, in der Einheit, die alles Sonderstreben im Voraus reagiert. Es misslingt nicht bloß die einzelne Handlung, es misslingt auch mein „ganzes Leben“, es ist nun missraten. Es kann auch sein, dass mein künftiger Lebensweg nicht wesentlich betroffen ist, ein bloß momentanes Missraten hier und jetzt, das für den kommenden Morgen nichts mehr bedeutet. Dann ist also der Ausdruck „Stimmung“ für Wertung zu meiden oder scharf zu scheiden: heinerseitsi die Stimmung, die ich jeweils als praktisches
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Ich aus meiner Praxis her gewinne und habe, die singuläre Befriedigung oder Unbefriedigung und die sonst wie zum begrenzten Ganzen der engeren und weiteren Gegenwart gehörige Gesamtstimmung; andererseits die auf die ganze Lebenszukunft (auch da nach einer Berufsseite oder schließlich ganz und gar nach allen Seiten) bezogene Stimmung. Allerdings jede „gute“ Gegenwart hebt mich in meinem gesamten „Lebensgefühl“, sofern die Gegenwart zur Einheit einer (Berufs-)Zukunft gehört, die mit gekräftigt wird. Aber da ist eben der Unterschied, dass in der Gegenwartsstrecke Gelingen und Misslingen so sein kann, dass das Gelingen zwar erfreulich ist, aber nicht wesentlich die Zukunft fördert, so wie das Misslingen sie noch nicht schädigen muss. Es ist also gleich zu beachten, dass das menschliche Leben (in seiner Form der ausgezeichneten Bezogenheit auf eine weite Zukunft und schließlich für den vollen Menschen auf das ganze Leben) immerfort in der Schwebe von Gelingen und Misslingen, also immerfort in Gefahr und Sorge verbleibt, und insofern rechtfertigt es sich, das Leben hinsichtlich seiner Stimmung als ein Leben in der L e b e n s s o r g e zu bezeichnen. „Sorge“ ist überhaupt ein Ausdruck, der in der Regel oder oft in seinem Sinn vordeutet auf das Ganze des Lebens. Die „Sorge“ um einen Kranken, ob er davon kommt oder nicht – der Ausdruck besagt schon, dass dieser Mensch in seinem Dasein für unser Leben und nicht bloß für den Moment etwas bedeutet. In jeder echten Nächstenliebe liegt innerer Anteil an seiner praktischen Lebensbefriedigung, aber auch, von dem Moment an, wo diese Liebe als aktuelle für die Person erwacht ist, ist seine Sorge unsere Sorge (Mitsorge ist eigene Sorge), unser Für-ihn-besorgt-Sein gehört mit zu unserer eigenen Lebenssorge, unser Zukunftsleben rechnet auf ihn, umschließt das Mitleben mit ihm. Aber ist da nicht die Rede von Gelingen und Misslingen, das doch auf unsere Praxis als Lebenspraxis geht, zu eng? Allerdings. Es kommt nicht auf eine wirklich in Gang befindliche Praxis an, und auch nicht auf einen bestimmten Plan, einen Vorsatz, der missrät, der gegenstandslos wird, seiner praktischen Möglichkeit nach entwurzelt, wenn die Voraussetzungen der praktischen Möglichkeit aufgehoben sind durch den Gang der Umwelt, durch eigene Krankheit und dgl. Zum praktischen Dasein gehört das gesamte Praktische, das beschließt die praktischen Möglichkeiten, den ganzen Untergrund, der jeweils die Entschlüsse und Handlungen möglich macht und wenn auch nicht ausdrücklich, hsoi doch als verstandene praktische Situation zum Sinn des praktischen Lebens gehört und darin in einem Modus praktischer Apperzeption bewusst ist. Mit Lebenssorge ist nicht bloß die meines egologisch abgeschlossenen Lebens, sondern Sorge für andere und Mit-Sorgen mit ihrem Sorgen, von ihnen aus gesehen eventuell aber auch in ihr Sorgen mit Eingehen hgemeinti. Aber „ S o r g e n “ i s t z w e i d e u t i g:
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einerseits praktisches Bestrebtsein und praktisches Tätigsein, andererseits um sie sorgen im Gefühl. Als Gefühlskorrelat des praktischen „Es stimmt oder stimmt nicht“ hätten wir Freudenstimmung (Sich-gehoben-Fühlen) und Trauerstimmung, die herabgedrückte Wohlstimmung (Missstimmung allgemein gesprochen), in verschiedenen Modi und Zwischenmodi auf Einzelnes bezogen. Die praktischen Umstände stellen sich günstig dar oder im Einzelnen ungünstig, genauer, sie entwurzeln praktische Möglichkeiten, eventuell sind sie ungünstige Möglichkeiten, schwer zu überwindende, oder „eventuell“ und wahrscheinlich Misserfolge bedingende usw. Die praktische Gewissheit modalisiert sich in praktische Möglichkeit, praktische Unwahrscheinlichkeit und Wahrscheinlichkeit, und danach haben die zugehörigen Situationsmomente korrelativ praktische Modalisierungen. Hinsichtlich des Gefühls hätten oder haben wir Freude als Erfüllungsfreude, Freude als Vorfreude (Freudengewissheit) = frohe Hoffnung, Freudenzweifel = Sorge in der Zwiespältigkeit, aber Gleichheit der Möglichkeiten, bei überwiegender Wahrscheinlichkeit des Misslingens Sorge als Furcht, schließlich Misslingen als Negat der Freude, als Unfreude (Trauer klingt zu prätentiös, Bedauern). Dabei aber hatten wir Einzelheiten im Auge. Selbstverständlich würde auch ein Leben in der Vereinzelung Gesamtstimmungen ergeben, für welche eben der Status der Gegenwart und „endlichen“ Zukunft allein in Frage kommen würde. Nach Art tierischen Daseins. (Auch beim Menschen sind die Instinkte für die Lebensbedürfnisse ursprünglich bestimmend und jedenfalls mitbestimmend, dann als selbstverständliche Unterlage.) Wenn die Mahlzeit nicht eingenommen werden kann, so wird die ganze Stimmung herabgedrückt. Aber der Mensch hat mindestens eine weitreichende Gesamtgegenwart und Lebenszukunft in der Einheit eines praktischen Interesses und hat so eine besondere Stimmungseinheit, die vom Ganzen her bestimmt ist, für das alle Einzelheiten irgendwie Funktion haben. Und erst recht, wenn er ein „voller“ Mensch ist. Also da „spiegelte“ das Gefühl die Struktur der Praxis nach Gelingen, Misslingen, Hemmung und Förderung in den Umständen etc. Diese Stimmung bestimmt dann die Lebensenergie, die Hoffnung beschwingt, die Sorge mag lähmen – die Willenskräfte. Der Wille hat Unterschiede der Kraft und Kraftanspannung, unwillkürliche oder willkürliche; Anspannung ist selbst eventuell willensmäßig ins Spiel zu setzen. Kraft hat aber auch von vornherein eine Größe (als Schwungkraft, je nach dem Schwung größer oder hgeringeri), oder sie ist schwach, „gelähmt“. Aber Verzweiflung kann erst recht hdiei Kraft erhöhen etc.!
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intentionalität und genesis der weltkonstitution Beilage III hDie Vorfreude als eine Gefühlsantizipation und ihre Erfüllung im Genuss. Der im Genuss selbsterfühlte Werti1
Wir müssen unterscheiden: die Ist-Funktionen, die der identifizierenden 5 „Ineinssetzung“, und die Funktionen der Bewährung, die Erfüllungsfunk-
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tionen (Adäquhationi). Beide sind innig verflochten. Wenn ich, sei es auch in der Erfahrung identifiziere, so ist es doch demgegenüber ein Besonderes, dass ich identifizierend bewähre, hdass ichi das Wahrsein zum Ziel habe und darauf aus bin, es in seiner Wahrheit mir zuzueignen, als seiend zu merken. Wie ist es im Werten – fühlend Werten? Ich lebe in meinen Gefühlen, sagen wir Passivitäten, eventuell genieße ich, und der Genuss birgt Intentionen zu immer neuem Genuss. Strebend gehe ich darin fort. In der sinnlichen Erfahrung, Wahrnehmung intendiere ich, ich strebe fort von Erfahrenem zu Erfahrenem, dabei erfüllen sich die erfahrenden Vorintentionen. Ist es ein gleicher Fall? Erfahre ich dort den Wert im Genuss? Die Blume hat ihren Geruch, ich lerne ihn als Bestimmung kennen – ich genieße die „Schönheit“, die Lieblichkeit etc., die des Geruchs; ich gehe dieser Geruchsausströmung nach, die sich im Raum verbreitet, ihn durchstrahlt und genieße immer vollkommener.2 Und je mehr ich befriedigt werde, umso höher „schätze“ ich den Wert. So auch bei Farbe, Gestalt. Es kommt dabei auf die Gegebenheitsweise an, eine gewisse Distanz von mir usw.3 Scheide ich da nicht die Bl ume se l b st, ihre Gestalt etc., ihre Ausstrahlung, und wie sie bei passender Stellung zu ihr und der Gegebenheitsweise für mich a u f mi c h wi r kt? Die Art der Wirkung auf mich ist eine gewisse Lust, ist das nicht ein Erfahrungsmerkmal, obschon ein relatives? Wenn ich Lust genieße, als Ich darauf gerichtet, was da lustig ist, im Wohlgefallen lebend, ist das nicht eine Art Bejahung, der gegenüber steht die Unlust als eine Verneinung, eine Ablehnung? Wenn ich einen antizipierenden Glauben habe in einer antizipierenden „Vorstellung“ als Erwartung, so ist es ein Seinsglaube. So ist auch jedes nicht vorerwartende Urteil, aber etwa ein „symbolisches“ Urteil, ein Glaube, der nicht „Seinsgenuss“ ist, möglicherweise aber in einen solchen bewährenderfüllenden überzuführen ist. Antizipation von einem Selbst-da in möglicher Erfahrung ist Glaube, und in Erfahrung selbst liegt Antizipation, Glaube und
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Wohl Februar 1931. – Anm. der Hrsg. Ich erfahre selbstvergessen – aber ich freue mich, das Ding erfreut mich. Ein Haus in seiner Architektur – nur in einer Distanz tritt die Schönheit hervor.
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ursprüngliche Bewährung als Erfüllung, ebenso ein sonstiger nicht erwartender „leerer“ Glaube. Ein Gefühl kann auch Vorerwartung des Genusses sein. Vorerwartung des Genusses ist zugleich Vorfreude, ist eine Gefühlsantizipation und selbst Gefühl. Die Erfüllung im Genuss ist „Bewährung“, aber nicht Bewährung, dass das Gefühl selbst eintreten wird als seiend, sondern hdasi Analogon davon: Die Gefühlsmeinung, das Gefühl selbst der Vorfreude wird berechtigt oder wird „entrechtigt“. Die Vorfreude von vorhin hört nicht – im letzteren Fall – auf, mein vergangenes Gefühl zu sein, so wie mein vergangenes Urteil, das ich wiedererinnernd doch jetzt ablehne, nicht aufhört, mein vergangenes zu sein. Aber es verliert seine „Geltung“, ich stehe nicht zu ihm. Aber die Erfüllungen und Enttäuschungen, also die Bewährungen und Entbehrungen sind nicht dieselben beiderseits. Die Antizipation des Geruchs stimmt, aber das Gefallen tritt nicht ein (ich bejahe jetzt nicht als Fühlender), sondern Missfallen; das Bild erkenne ich wieder, aber heute mit geläutertem Geschmack werte und urteile ich kritisch. Früher genoss ich den Wert (den positiven), jetzt lehne ich ihn als vermeinten Wert ab. Die Vorfreude ist Freude darüber, dass künftig ein Erfreuliches eintreten wird. Darin liegt, dass das bewusst statthabende „künftige Eintreten“ in Freude aufgenommen sein wird. Ist aber Vorfreude, Freude darüber, dass künftig das und das (etwa A) sein wird, dasselbe wie Freude am Seinwerden einer Freude über A? Das künftige Eintreten der Freude ist selbst ein künftig Seiendes. Wäre dies das, worauf die Vorfreude gerichtet ist, worin sie sich erfüllt, so kämen wir auf einen unendlichen Regress. Offenbar ist die Freude am eintretenden A selbst der Erfüllungsmodus der Vorfreude daran, dass A eintreten wird, aber gerichtet ist die Vorfreude auf das Seinwerden von A und nicht auf das Seinwerden der Erfüllungsfreude. Würde man beides verwechseln, so wäre es ebenso, wie wenn man einen gegenwärtigen Vorglauben ansehen wollte als Glauben, dass künftig der erfüllende Glaube (der der Gewissheit, dass nun gegenwärtige Wirklichkeit geworden sei, was vorgeglaubt war) eintreten wird. Der Zukunftsglaube ist auf das künftig Seiende gerichtet und nicht auf die Glaubensgewissheit, in der es sich erfüllt. Sonst unendlicher Regress. Trotzdem ist noch nicht alles klar. Freude ist doppelsinnig als mein MichFreuen und als das Erfreuliche, als das Schöne, Liebliche des Seienden. Das Sich-Freuen als eine Gemütsintentionalität hat ihre eigene Synthese, fundiert in einer Doxa und doxischen Synthesis des und des Inhalts. Das Sich-Freuen ist nicht gerichtet auf Seiendes als solches, es erfüllt sich nicht als Seinsglaube in Form des Erfahrungsglaubens und ist in der Erfüllung also nicht Bewusstsein vom Seienden selbst in seiner Seinswahrheit. Es erfüllt sich als genießendes Sich-Freuen, und in diesem ist im Modus des Selbst (dem
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parallelen Gemütsmodus) erfühlt bewusst der Wert. Sich-Freuen ist auf den Wert gerichtet, Sich-Freuen am Künftigen wie auch an Vergangenem und Gegenwärtigem (aber im Allgemeinen nicht am genossenen Gegenwärtigen und Vergangenen) ist auf den Wert gerichtet, der im Modus selbst-erfühlter 5 bewusst ist, in dem ursprünglichen Genuss, im gegenwärtigen Genießen oder im „Wiedergenuss“, dem Nachgenuss der Wiedererinnerung. So wie die Abwandlungen der Originalität der Erfahrungsgewissheit doch Abwandlungen der Doxa sind und selbst Doxa, sofern sie umzuwenden sind in Selbstgewissheiten, so sind die Gefühlsabwandlungen zur Gattung Gefühl gehörig und 10 selbst abzuwandeln in Gefühlsgewissheiten (genießende). Die Vorfreude in Form der expliziten Betätigung des Gefühls an der explizit anschaulichen Vorgewissheit ist ein Modus der Freudengewissheit und in Einstellungsänderung des Gefühls selbstgegenwärtige Freude, die Wiederfreude der Erinnerung wird auch gegenwärtige Freude durch Einstellungsänderung.
ERGÄNZENDE TEXTE
A. NEIGUNG, VERMUTUNG, ANMUTUNG, ZWEIFEL IM URTEILSGEBIET UND IN DER SPHÄRE DES GEMÜTS
Nr. 1 Ve rnunf t und Ne i g un g . Ur t e i l sn e i gu n g1
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Im Urteilsgebiet:2 A) naiv urteilen, der Urteilsneigung folgen, ohne nach Recht und Unrecht, nach Vernunft und Unvernunft zu fragen. Ich nehme wahr und drücke aus, was ich wahrnehme. Ich gehe aber über den Bereich des primär und eigentlich Wahrgenommenen hinaus, ich folge dem „Zug“ der sekundären Intentionen, die mich über den Bereich des primär Wahrgenommenen hinausführen. Ich folge diesem Zug: Die Ergänzungsintention i s t n i c h t b l o ß V orst ellu ng , s o n de rn N ei gu ng, und dieser Neigung gebe ich nach. Ich fühle mitunter die Neigung noch v o r dem Urteil: „So dürfte es weiter gehen, so ist es.“ Je uneigentlicher das Denken und denkende Ansetzen, Urteilen und Urteilen-Wollen, umso deutlicher der Unterschied von Urteilsneigung und Urteil. Die Urteilsneigung, ist sie nicht Vermutung, Für-wahrscheinlichHalten? Ist das Wahrscheinliche das, was ich geneigt bin, anzunehmen? Natürlich nicht das objektiv Wahrscheinliche, d. i. das, was wieder berechtigte Neigung auszeichnet, das, was zu vermuten ich (unter gegebener Sachlage) „Gründe habe“ (Vernunftvermutung).3 Ist das richtig (das zu urteilen, habe ich momentan die „Neigung“, und das ist „mir“ jetzt überwiegend wahrscheinlich, das vermute 1
Wohl 1907. – Anm. der Hrsg. Der Ausgang der Überlegung war die parallele Frage hnachi Vernunft und Neigung im Willensgebiet. 3 Neigung zunächst gleich A n m u t u n g, zu unterscheiden von V e r m u t u n g, welches eine Entscheid u n g i m S i n n d e r A n m u t u n g, eventuell im Sinn dieser Anmutung gegenüber and e r e n A n m u t u n g e n ist, deren Gewicht geringer angeschlagen wird. 2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 195 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7
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ich jetzt), dann hätten wir anzusetzen: Urteilsneigung gleich Ur teils dr ang glei ch Verm utung (es ist mir so zumute, es scheint mir so, als ob), und zu unterscheiden: begründete Vermutungen, vernünftige, berechtigte und unbegründete etc., hundi Vermutungen, von denen es heißt, sie seien vernünftig berechtigt (oder schlechthin vernünftig), und die, bei denen das nicht der Fall ist. Ferner, einer Anmutung kann man „nachgeben“, der Urteilsneigung kann man folgen, in doppeltem Sinn: a) Man hält sie als Vermutung fest, um ihrer Vernünftigkeit willen; b) man geht zum Urteil über. Aber heißt es nicht oft, eben wenn die Rechtsfrage gestellt, wenn die Rechtfertigung als nötig empfunden wird: Ich bin geneigt, zu ver muten? Haben wir also nicht auch Vermutungsneigungen gegenüber den naiven Vermutungen? Aber heißt das nicht vielmehr: I ch bin genei gt, es fü r wahrschei nl i ch zu halten; ich bin geneigt, zu urteilen, dass meine Vermutung berechtigt ist, einen Rechtsgrund habe? Wenn ich Urteilsneigung, Vermutung habe, kann ich wieder vermuten, dass sich diese Vermutung als berechtigt herausstellen wird, und kann wieder dieser Vermutung nachgeben in dem Sinn, dass ich das glaube, dass ich schon glaubend nur die Gründe suche, die ich damit gesetzt habe, aber erst finden muss. Die zweite Vermutung kann wieder berechtigt, vernünftig gerechtfertigt sein etc.1 Wir hätten also: A) nai v urtei l en, sei es, dass eine eigentliche Urteilsneigung vorhergeht (eine Anmutung, Vermutung), die zum Urteil tendiert und darin übergeht, oder auch nicht, wenn man nicht etwa sagen muss, dass jedes akthuellei Urteil Erfüllung (= Befriedigung) einer Urteilstendenz (einer Urteilsneigung) ist. Dann hätten wir Erfüllung in doppelt em Si nn: Das Urteil erfüllt sich in der Adäquation, im „Gegebensein“ der Sachlage selbst, die Urteilstendenz er füllt s ich im Ur tei l (befriedigt sich). Das Erfüllen ist beiderseits etwas wesentlich Verschiedenes. Im z w eiten Sinn haben wi r ei n Phänomen der Klasse der
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Steckt da nicht ein wesensgesetzlicher (logischer) Zusammenhang? Vermute ich, dass A ist, so „muss“ ich auch vermuten (oder glauben?), dass sich diese Vermutung als vernünftig herausstellen lassen muss.
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Tendenz en, als Wün sche, Begi e rden, Triebe und dgl. Die Tendenz geht auf Entscheidung, auf das Urteil als Akt, auf das UrteilsTun. Ich folge der Urteilsneigung, ich gebe nach und tue, ich urteile. Im ersten Fall stehe ich aber nicht in der Sphäre der Wünsche, Wollungen, hderi Tendenzen als Neigungen, sondern in der Sphäre der berechtigenden Evidenz. Nun könnte man aber sagen: Die Neigung zum Urteilen ist eine Neigung zur Urteilstätigkeit, die Neigung zu einer Handlung; der Urteilstrieb befriedigt sich, indem ich ihm nachgebe. Ich urteile, das heißt, ich vollziehe das Urteil. Also nicht ist die Neigung eine Neigung zum Urteil, sondern zum Vollziehen, Tun des Urteils? Natürlich ist da leicht zu antworten: Jede Willenstendenz ist Neigung zum Vollzug einer Handlung und Neigung zur Handlung. Neigung zum Vollzug des Essens und Neigung zum Essen ist dasselbe: Nämlich Essen ist nicht die Ereignisfolge ohne Willenscharakterisierung (zu der bloßen Ereignisfolge habe ich keine Neigung – das hat keinen Sinn), sondern mit der Willenscharakterisierung. Dann ist es Handlung; der Vollzug des Essens, willentliches Essen ist hesi, worin sich die Willensneigung erfüllt.1 Ich begann mit A): nai v urtei l en, der Urteilsneigung folgen, ohne nac h Rech t und U nrecht, nach Vernunft und Unver nunf t z u fr agen. Ich geriet dabei auf die Frage, was das sei: „ Ur teils neigung “ und „ei ner U rtei lsneigung folgen“. Ich fühle den Zug, die Sache mutet sich als seiend oder so seiend an, und darin bzw. in dem „Gewicht“ der Sache liegt meine Vermutung oder Urteilsmotiv. hB)i Aber das Urteil kann vernünftig oder unvernünftig motiviert sein. J edes U rtei l i st phä nom enologisch motiviert, s ofer n ic h urt eil end notwendi g ei ner Neigung folge, einer „ A uffor der ung der S ache “, ihrem Gewicht, dem Gewicht, das einen Z ug auf m ein U rtei l en (mich „urteilend entscheiden“) übt.2
1 Essen-Wünschen, Tendenz auf Essen. Essen-Wollen = Essens-Entschluss: künftig hEssen-Wolleni. Essen-Wollen = akthuellesi Essen, Erfüllung jener Tendenz. 2 Ich habe inzwischen zu unterscheiden versucht zwischen Motiv der Neigung zum Urteil und der Neigung selbst. Das eine histi eine besondere intellektive Intention (und jede Aktart hätte ihre besonderen Intentionen) und das andere eine Tendenz, die zum Willensgebiet gehört.
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Nicht jedes Urteil ist andererseits logisch motiviert, d. h. jetzt: s achlich begründet. Die Sache erscheint als fordernd, aber in Wahrheit braucht es nicht zur Sache zu gehören, dass sie so zu beurteilen sei. Vielleicht kann man sagen: Jedes Motiv gibt zwar einen Gr und ab, aber es gi bt wesentl i ch verschied ene Gründe. Eine mathematische Sachlage, wie sie sich mir zunächst im Ansatz darstellt, mutet sich als so und so zu entscheiden an, etwa vermöge ihrer äußerlichen Analogie mit einer anderen, welche eine Lösung gewisser Form zuließ. Weiß ich sonst nichts, so hat diese Anmutung ihr Recht. Sehe ich mir aber die Sachen an, dann erkenne ich, dass die Analogie eine bloß äußerliche ist (Ähnlichkeit, äußerliche, der Ansatzformen „pflegt“ Ähnlichkeit in den Lösungsformen mit sich zu bringen, die innere Ähnlichkeit wird sich ja umgekehrt in der äußeren widerspiegeln), dass das Motiv der Ähnlichkeit hier also nichts bedeuten darf, dass es hier als Null anzurechnen ist. Die Ähnlichkeit hat ihre Anmutung, und damit scheint das Urteil (Anmutung) „S sei p“ ein „Gewicht“ zu haben. Solange nichts sonst bekannt ist, besteht das Gewicht mit Recht. Es treten hier aber Motive auf, welche das Gewicht annullieren, und zwar nicht nur de facto, sondern in der Vernunft. Wir werden zu unterscheiden haben innere und äußere Motive. I nner e glei ch ei gentl i ch sachliche; äußere h gleich i analogis che, empi ri s che. Das ist noch ganz vage. Die Sachen, so wie sie sind (nämlich im Sinn der Vermutungen, Urteile, ja in hypothetischer Behandlung der Annahmen, die ich vollzogen habe und mit denen die Sachen als seiend und so und so bestimmte angesetzt sind), fordern so und so gedacht zu werden. Das schon Gesetzte fordert Weiteres, motiviert neue Vermutungen oder Urteile. Unterschiede von for maler und m ateri al er Moti vierung. Äußere Motive: Motive der As soz iat i on. Bei aller Vernunftabmessung liegt zugrunde der Unterschied der E igentlic hkeit und U nei gentl i chkeit. Eigentliches Gegebensein des Sachverhaltes, uneigentliches Gegebensein oder bloßes Meinen. Ich sehe die Sache, ich lege sie auseinander in der Wahrnehmungsreihe. Ich sehe sie in Verbindung mit anderen etc. Ich vollziehe das Sc hauen des m athe m ati schen G esetzes – ich denke es uneigentlich. Ebenso bei äußeren Motivationen. Ich fühle den Drang z u ur teilen, ich fühle die Neigung, ich frage nach dem Grund. Was
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is t da das M oti vier ende und woran hängt die Motivation? Was ist da das „Eigentliche“, das heißt, nehme ich hier ein Gewicht selbst wahr, oder lege ich bloß vermeinend ein Gewicht unter? Was ist der eigentli che Sinn der G ewi chts-Supposition? Rückgang 5 auf diesen eigentlichen Sinn, worin sich die Meinung dieser Supposition auseinanderlegt und aufklärt (erfüllt). Oder auch Widerstreit. Das Motiv ist hier ein verkehrtes, die Motivation genauer betrachtet ist eine Supposition, der in Wahrheit kein Gewicht entspricht, oder falsche Schätzung des Gewichtes. Lauter Probleme.
Nr. 2 hA nmutung al s Nei gung zu Vermutung oder Glaube. Ur tei ls ne i gung und U rteilshandlung i1
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Wir müssen scheiden: Anm utung und Vermutung.2 Die Anmutung ist Neigung, Glaubensneigung; deutlicher unterschieden: Neigung, zu vermuten oder in Gewissheit zu glauben, dass A sei. Es können verschiedene Anmutungen miteinander konkurrieren, und das ist überall der Fall, wo von den verschiedenen „Möglichkeiten“ beim Wahrscheinlichkeitsansatz die Rede ist. Jede solche Möglichkeit hat ihre Anmutung und muss sie haben. Und jeder entspricht in objektiver Rede ein „Wahrscheinlichkeitsgrad“. Jede Möglichkeit, jeder der hini Seinsfrage stehenden Sachverhalte hat sein Gewicht, bzw. er hat seine Anmutung, das heißt, es „erscheint“ in ihr ein Gewicht. Und di e v ergl ei chende Betrachtung der ver s c hiedenen Mögl i chkei ten nach ihren Gewichten ergibt eventuell das „Phänom en ei nes Ü bergewichtes“ für die eine. Dieser einen folgt die „Entscheidung“, für sie entscheide ich mich; das kann heißen: Dies vermute ich, dies halte ich nun für wahrscheinlich. Für-wahrscheinlich-Halten heißt hier also mehr als eine Anmutung haben. Ich kann eine Anmutung haben, ohne zu vermuten, während ich natürlich nur vermuten kann, was sich anmutet. Was oben Wahrscheinlichkeitsgrad hieß, müsste besser heißen: ein A nmutungs gewic ht haben. Von Wahrscheinlichkeit im zweiten und echten Sinn ist da keine Rede. Die E ntsc heidung i m Si nn ei ner Anmutung kann sein entweder, wie jetzt die Rede war, eine Vermutung oder ein gewisser (besser: entschiedener) G l aube. Ich lasse vielleicht die konkurrierenden Anmutungen nicht „zu Wort kommen“, ich sehe von ihnen ab oder vielmehr gar nicht auf sie hin (durch sie hindurch auf ihre Gewichte, lebe nicht in ihnen), ich ziehe sie gar nicht oder mit ganz geringem Gewicht in Rechnung und vollziehe vielleicht zunächst 1
Wohl 1907. – Anm. der Hrsg. Gut, obschon im Wesentlichen in den vorigen Blättern h= Text Nr. 1i schon enthalten. 2
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eine Entscheidung im Sinn einer Vermutung, die in festen Glauben alsbald übergeht: Die Gegenmöglichkeiten gelten mir als quhantitéi négligeable. Es gilt allgemein, dass eine Vermutung umso leichter hin Gewissheiti übergeht, umso mehr „Neigung“ hat, in Gewissheit überzugehen, je geringer das Gewicht der entgegenstehenden Möglichkeiten erscheint, je „schwächer“ die Anmutungen sind; anders ausgedrückt: Die Vermutung geht umso leichter in entschiedenen Glauben über; und umgekehrt: Umso schwerer wird Vermutung festgehalten und der Glaube vermieden. Es besteht eine fühlbare Tendenz vom Vermutungsakt zum Gewissheitsurteil, und diese hat ihre „Kraft“, ihre „Intensität“, die umso größer ist etc. Also nicht bloß um eine objektive Tatsache handelt es sich, dass der Glaube in diesen Fällen faktisch einzutreffen pflege, hdass eri umso sicherer die Vermutung ablöse, umso häufiger (bildlich: umso leichter), je geringer die Anmutungsgewichte sind, sondern es handelt sich um ein Phänomenologi sc hes, um eine fühl bare Tendenzgröße und um den Charakter der „Leichtigkeit“ der Tendenz-Erfüllung, des widerstandslosen Überganges, der – je kleiner die Gegenanmutungen sind – hini umso größeren Widerstand sich verwandelt, wenn die Willenstendenz sich darauf richtet, das Gewissheitsurteil nicht zu vollziehen und das bloße Vermutungsurteil beizubehalten. Der Wille braucht umso größere „Energie“ dergleichen durchzusetzen, die Willens-„Anstrengung“ muss umso größer sein, je „kleiner“ die Gegenanmutungen sind.1 Jede Vermutung führt eine U rtei l s- (Gewissheits-)neigung mit s ich, eine Tendenz zum U rtei l en, einen Urteilsdrang. Das tut schon nach dem Obigen jede Anmutung. Diese tendiert zur Vermutung, und weiter zum entschiedenen Glauben. Nicht jede Anmutung ist in eine Disjunktion von unterschiedenen Möglichkeiten eingespannt. Mitunter habe ich bloß eine Anmutung. Man könnte sagen, die Gegenmöglichkeiten sind unbestimmt. A mutet sich mir an, als ob es zum Beispiel α wäre, es könnte auch anders sein, ohne dass ich andere Möglichkeiten bestimmt vorstelle. So gehört es zum 1
In der Vermutung gründet also etwas Neues, eine „Tendenz“, die nicht selbst die Vermutung ist und eine Funktion der Stärke der Vermutung ist. Auch schon die Anmutung.
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Wesen der Vermutung, dass andere hMöglichkeiteni offen bleiben. Diese brauchen nicht abgehoben vorgestellt hzui sein, selbst hnichti in ganz unbestimmter Weise, demgemäß auch nicht abgewogen. Ich blicke bloß auf das α-Sein hin, fühle die Anmutung. Ich vermute nicht. Noch weniger glaube ich. Die Kraft der Anmutung ist schwach. Mitunter ist sie stark, ich vermute, mitunter so stark, dass ich sogleich glaube, ich werde sogleich gewonnen. Ich entscheide mich für sie, ich vermute und (muss das immer vermitteln?) ich glaube. Die Sache „leuchtet mir ein“, ich fühle die Glaubenstendenz und wie ich ihr „willenlos“ nachgebe (ohne Gegenstreben, ohne vernünftige und freie Überlegung). Ur teils neigung: Tendenz auf das Urteil als Glaube, dass S p ist. Ur teils handl ung: Ich urteile, S ist p. Und dieses Urteil, das ja sich in einigen Schritten aufbaut, ist nun ein zeitlicher Prozess, der in jedem Schritt, in jeder Zeitphase, als Handlung charakterisiert ist, als E r füllung der Ur tei l sn ei gung. Zu unterscheiden hätten wir wie beim Essen das Urteil als Tatsache, als Ereignis, und das Urteil als w illentlic h charak teri si ert, wodurch es erst Handlung ist. Jede Handlung ist Erfüllung einer Wunschneigung, einer Tendenz, aber hauchi mehr als solche Erfüllung, nämlich der Erfüllungsablauf getragen durch das fiat, durch den Charakter, der das Spezifische des „Ich tue“ hausmachti, es geschieht nicht nur, was und wie es erwünscht ist, sondern es geschieht willentlich, „vermöge“ des Willens, als von mir gewollt. Ich handle, ich wirke, tue.
Nr. 3 h Anm utung und Vermutung. B linde und durch G ewi cht verleihende Mot ive b egründete Annahmeni1 5
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Im Urteil habe ich das Bewusstsein: „Es ist so!“, „S ist p!“, in der mehr oder minder „starken“ Vermutung das Bewusstsein: „Es dürfte so sein, es scheint so zu sein, es mag so sein, es ist einigermaßen wahrscheinlich, ziemlich wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, dass es so ist.“ Eventuell heißt es: „Es hat einiges oder viel für sich, dass es so ist. Es spricht etwas dafür.“ Doch ist so auch eventuell die Rede, wo keine Vermutung vorliegt, und andererseits können wir vage vermuten und keineswegs ein deutliches Bewusstsein haben von etwas, was dafür spricht und hesi wahrscheinlich macht. W ir unters cheiden von den Vermutungen die bloßen A nmutungen. Verm utungen si nd deutliche oder vage „ Bevor zugungen “ auf gru nd von entgegengesetzt tendierten A nmutungen, deutliche oder vage „Entscheidungen“ für eine „stärkere“ Anmutung gegenüber einer schwächeren. In der bloßen Anmutung heißt es nicht (für das Bewusstsein): „Es dürfte so sein“, allenfalls: „Es hat einen Anschein.“ D i e bloße Anmutung ist das B ew us s ts ein „ r ealer Mögl i chkei t “ für das Bestehen eines Sachverhalts. Reale Möglichkeit muss dabei in einem weiten Sinn genommen sein, hdenni es kann auch eine reale Möglichkeit bewusst sein, dass ein mathematischer Sachverhalt besteht. Es handelt sich hier um die Möglic hkeit en im Si nn der Wahrscheinlichkeitslehre. Was ist eine reale Möglichkeit? Nun, eine Möglichkeit, für die etwas spricht, im Gegensatz zu einer leeren, bloß logischen Möglichkeit. (Und das ist leicht noch näher zu charakterisieren: in sich verträglich, vorstellbar, ohne inneren Widerspruch, zunächst ohne formal-analytischen, eventuell aber auch ohne materialen Widerspruch, wobei das kontradiktorische Gegenteil ebenso möglich ist, im selben Sinn. Andererseits, für das eine spricht etwas, es ist Objekt einer vernünftigen Anmutung.)
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In der Anmutung besteht also das (gleichgültig, hobi vernünftige oder unvernünftige) Bewusstsein der Möglichkeit, für die etwas spricht. In der Vermutung hbestehti aber ein Bewusstsein bevor zugender Ent schei dun g für eine Anmutung, was Gegen-A nmutungen voraussetzt. Es könnte zwar scheinen, als ob eine Anmutung, gegen die nichts spricht, eo ipso Vermutung sei. Indessen, es kommen einzelne Anmutungen vor, die keine Vermutungen sind, z. B.: „Es ist so, als ob es regnen wollte“, „Es sieht so aus, mutet sich so an“, ohne dass Anzeichen, die dagegen sprächen, vorhanden wären, etwa ein Wind, der „so aussieht“, als ob er die Wolken vertreiben könnte. Ich gehe nicht zur Vermutung über. Ich kann es, ich kann mich für die Anmutung entscheiden. Das setzt aber voraus, dass das Nicht-Regnen als reale Möglichkeit konstituiert histi und derjenigen des Regnens gegenübersteht. Das Nicht-Regnen ist dann keine leer e logi sche Mög l i chkeit. Aber ich denke etwa, dass in solchen Fällen einer positiven Anmutung für Regen – positive Anzeichen, die dafür sprechen – öfters doch kein Regen eingetreten ist, und nun bevorzuge ich gleichwohl die erstere Möglichkeit, ich ver mute. Indessen, es bedarf hier einer ergänzenden Feststellung. Wenn ich Vermutungen „Bevorzugungen“ aufgrund entgegengesetzt tendierter Anmutungen nenne, „Entscheidungen“ für eine jeweils „stärkere“ Anmutung, so darf nicht gemeint sein, dass es sich um expliz ite ar tikul ier te Akte bevorzugenden Entscheidens handeln muss – was in der Tat nicht die Regel ist. Ich blicke hinaus und sage ohne Erwägung der verschiedenen Möglichkeiten: „Es wird wohl Regen geben“, im Sinn von „Es dürfte Regen geben“. Sollen wir sagen, weder blicke ich besonders hin auf die Möglichkeit, dass es nicht Regen gäbe (ich denke gar nicht an das „nicht“), geschweige denn, dass ich explizit an Fälle denken würde, wo „der Regen vorüberging“ bei gleichen oder ähnlichen Anzeichen, noch habe ich überhaupt ein Bewusstsein der Gegenmöglichkeit? Müssen wir nicht sagen, das Bewusstsein der einen Möglichkeit und gar der Vollzug in ihrem Sinn setze voraus das Bewusstsein anderer Möglichkeiten und ein Übergewicht der ersteren? Also, wir s pr ec hen nic ht von e i nem Vernunftbewusstsein, von Fällen abgewogener Motivation, sondern von dem bli nden und noch so blinden Verm uten un d Anm uten.
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Auch für das bloße Anmuten, für das bloße Bewusstsein „Es sieht so aus, als ob es regnen wollte“ gilt dasselbe. Setzt nicht Anmutung als Bewusstsein einer realen Möglichkeit implicite ein gewisses Bewusstsein von entgegengesetzten Möglichkeiten voraus, das hieße also, ein gewisses Anmutungsbewusstsein für sie? Nun kann dieses nicht in derselben Weise vollzogen sein, das ist selbstverständlich. Konkret gesprochen haben wir die Anmutung „Es sieht nach Regen aus“, es mutet sich wie „Regnen-Werden“ an, und nicht die Anmutung „Es sieht nicht nach Regen aus“; das wäre in der Tat nicht richtig. Einerseits natürlich kann das verstanden werden und würde das verstanden in dem ausgeschlossenen Sinn, als ob keine Anzeichen für Regen da seien, während sie ja da sind. Andererseits brauchen ja auch keine anderen Anzeichen mitvorhanden zu sein, die positiv für schönes Wetter sprechen, was ebenfalls gemeint sein könnte. Es genügte das Bewusstsein: „Es braucht darum nicht Regen zu geben“; Wolkenund Luftverhältnisse dieser Art führen öfters zu Regen, mitunter aber auch zu Nicht-Regen. Auch das letztere hBewusstseini ist motiviert. Keine Anzeichen für Nicht-Regen sind diese Verhältnisse, eben weil „Anzeichen“ schon die „prävalierende“ Motivation andeutet, zum Mindestheni eine „starke“ Motivation. Wind bei Wolken und solcher Luftbeschaffenheit hat eine starke Motivation gegen Regen, Wolken von gewisser Art für sich hhabeni eine starke Motivation für Regen. Nun ist aber fortzuführen, was ich oben anfing: Ich folge der s tär ker en Mot ivat ion , i ch vol l zi ehe die betreffende Anmutung und vollziehe ni cht die Gegenanmutungen, die Anzeichen für das Gegenteil sind, seien sie starke oder solche, die es nicht sind. Und doch „gehören“ solche Anmutungen mit dazu; die Anmutung, in der mir eine reale Möglichkeit bewusst ist, „Es ist so, als ob“, „impliziert“ irgendhwiei das Bewusstsein anderer Möglichkeiten. Müssen wir nicht sagen: Z um W esen ei ner Anm utu ng gehört die Möglichkeit, entgegengeset zte Anm utungen zu vollziehen, zum Wesen der Ver mutung die Möglichkeit, entgegengesetzte Anmutung zu vollziehen und das Vermutete als das Bevorzugte, als Anmutung von größerem Gewicht zu finden? Freilich ist das nicht sehr klar. Anm utung ist ein „ Akt “, es is t meinendes Bewusstsei n. Ni cht alle Motivationen s ind aktgem äß besee l t von G em ei ntheiten. Gegenmotiva-
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tion gehört zum Bewusstsein reell, aber ist nicht selbst Meinung, sondern Voraussetzung für jene Meinung, die die Gegenmotivation auszeichnet (nicht bevorzugt im Sinn einer Entscheidung). Auch bei der Vermutung haben wir keine Bevorzugung im Sinn eines Aktes der Entscheidung, vielmehr Bewusstsein einer überwiegenden Möglichkeit (ohne deutliches, meinendes Bewusstsein von hderi Gegenmöglichkeit). Haben wir nur Urteil, wo das Bewusstsein einer Gegenmöglichkeit fehlt, das heißt, geht gleichsam „Möglichkeit“ in „Wahrheit“ (für das Bewusstsein) über, wenn die Gegenmöglichkeiten auf Null reduziert, etwa aufgehoben werden oder solche gar nicht bewusst werden? Wir können aber mitunter Möglichkeiten erwägen und ohne „ r echten G rund “ uns für die eine entscheiden, und zwar nicht bloß in der Weise der Abwägung, die das größere Gewicht als solches anerkennt, ohne das schwächere für nichts zu erachten. Ich denke so: Es können Gegenmotive annulliert werden, nicht bloß durch positive Motive, die für das A-Sein etwa sprechen, überwogen hwerdeni. Es können in der Motivation Tatsachen eine Rolle spielen, die selbst wieder nur vermutliche sind und gegen die wieder andere sprechen, und Affekte können die Motivationskraft einzelner verstärken, ihnen auf „unehrliche“ Weise ein stärkeres Gewicht geben (das als solches wirklich stärker „empfunden“ wird). Wir haben also eine Abwägung, in der entgegengesetzte Möglichkeiten dastehen – die eine erscheint als die stärkere, die andere weist in entgegengesetzte Richtung –, aber hier finden wir Motive, welche die Motivationskraft dieser Möglichkeiten (die solange als Möglichkeiten nur fungieren, als sie für sich und ohne jene neuen Motive betrachtet werden) schwächen und ganz aufheben. Wir verwerfen diese Möglichkeiten, eventuell helfen wir durch Affekte und ihre Gewicht verfälschende Kraft nach. Wir sagen: „Das kommt nicht in Betracht“, und so wird aus dem Bewusstsein „Wahrscheinlich wird das sein“, „Vermutlich wird diese Möglichkeit realisiert werden“ das Bewusstsein „Sie wird sein“, „Dies ist die einzige Möglichkeit, es ist Wirklichkeit“. Subjektiv können wir oft sagen: Ich habe die Neigung anzunehmen. Eventuell: Ich fühle mich gedrängt, hsoi zu urteilen. Doch werden wir sehen, dass der Urteilsdrang, die Urteilsneigung eigentlich gesprochen, etwas anders ist als die Anmutung und Vermutung.
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Man kann mich nun fragen: Was begründet deine Neigung, was macht dich geneigt? Und daraufhin kann ich versuchen, der vagen Neigung, Anmutung, Vermutung nachzugehen, sie mir klarer zu machen hinsichtlich ihrer motivierenden Momente. Und ich kann zum Ergebnis kommen: Das und das veranlasste mich, machte mich geneigt, ließ es so scheinen, machte es anmutlich, etwa die und die Analogie, jene Erfahrungen etc. Und ich kann mir so klar machen, dass diese der Annahme „Es sei so“ ein positives „Gewicht“ verleihen, sie berechtigen. In anderen Fällen wieder mag es sein, dass sich das Gegenteil einstelle, es war eine vielleicht nur äußerliche Analogie, eine außerwesentliche, die die Neigung, Vermutung, Anmutung motivierte oder, objektiv gesprochen, die Annahme (das „Es dürfte so sein“) motivierte, und ich mag zur Überzeugung kommen, dass solch eine äußerliche Analogie, etwa gar der ähnliche Klang der Rede mit einer anderen erfahrungsmäßig begründeten, nichts motiviere (nämlich mit Recht motiviere) und dgl. Es scheint, dass jede Neigung irgendwelche Motivation mit sich führt, dass aber sich herausstellen kann, dass sie keine wahre Motivationskraft hat, womit die „geklärte“ Neigung in sich aufgehoben wäre.1 Eine und dieselbe Neigung (Anmutung und Vermutung) kann verschiedene Motivationen in sich fassen; es können auch in der Überlegung neue Motive für die Annahme, es sei so, auftreten. Verschiedene Motive geben der „Annahme“ ein verschiedenes Gewicht, entgegengesetzte Motive (Motive teils dafür, dass S p sei, teils, dass es nicht sei) hemmen sich im Gewicht oder ihre Gewichte sind von verschiedenem „Vorzeichen“, während gleichsinnige Gewichte sich verstärken, ein größeres Gesamtgewicht summatorisch ergeben. In der Klarlegung und evidenten Rechtfertigung, die sonach Neigungen (Anmutungen) erfahren können, erlebe ich, erfasse ich „mit Evidenz“ das Gegebensein des Gewichtes. Natürlich gehen dabei phänomenologische Veränderungen vor. Das Gemeinsame ist „Neigung (Anmutung) des Inhalts ‚S ist p‘ “. Aber einmal habe ich viel-
1 In all diesen Ausführungen kann „Neigung“ auch verstanden werden als Anmutung oder Vermutung. Später scheide ich aber deutlich zwischen diesen und den Neigungen zu urteilen im eigentlichen Sinn, als Urteilstendenz, analog wie es Willenstendenzen, Wertungstendenzen gibt und dgl.
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leicht eine ganz leere Vorstellung von „S ist p“ und ohne deutlich sich abhebende Motive. Ich habe die Neigung (Anmutung, Vermutung) und „weiß“ zunächst gar nicht, was mich motiviert, und ein anderes Mal habe ich „dieselbe“ Neigung (Anmutung, Vermutung), aber bei klarerer Vorstellung der Sachlage, und das heißt hier hauptsächlich der Motivationslage, in der ich hdas,i was für die Annahme, es sei so, spricht, gegeben habe. Ich erinnere mich etwa, so war es schon einmal, so war es schon wiederholt und dgl., und darin finde ich das Motiv oder ein Motiv für die Annahme, es sei S p. Was heißt hier diese Rede: Moti v für die „ Annahme “? Einerseits phansisch gesprochen: Es ist die Erinnerung und dgl. ein Motiv z u glauben, es sei S p. Das Motiv wäre Motiv für ein Annehmen im Sinn von Glauben oder dem Wortsinn entsprechend hein Motiv, umi zuzustimmen, anzuerkennen. Nun ist hier aber von einem aktuellen Glauben und Anerkennen offenbar keine Rede, als ob hier geurteilt würde und das Urteilen außerdem verbunden wäre mit einem motivierenden Akt. Soll nun ein „Glaube in der Vorstellung“ oder eine Anerkennung in der Vorstellung vorliegen? Es handelt sich uns um das Bewusstsein der Anmutung, das Bewusstsein, es dürfte S p sein, sei es als vages und nicht expliz ier tes Bewusstsein, sei es als einigermaßen explizites B ew us s ts ein, wo ich auf ein Motiv, das in abgehobener Weise bewusst ist, gleichsam hinblicke, oder es mindestens eben in abgehobener Weise bewusst habe. Was soll da nun als „Glauben in der Vorstellung“ fungieren? Also soll ein phantasiemäßiges Glauben, Urteilen, Annehmen (gar als Anerkennen) hier ernstlich fungieren? Die Analyse des Phänomens zeigt davon nichts. Wir finden nichts anders als ein gegenüber dem wirklichen Urteilen, dem Bewusstsein hdesi „Es ist so!“, modifiziertes Bewusstsein, das der Neigung, Anmutung desselben Inhalts „S ist p“, und dazu eventuell den sich abhebenden und auf diesen Akt bezogenen (besser, mit ihm verflochtenen) motivierenden Akt, und eventuell so, dass ich mit Evidenz entnehmen kann: Das „Es dürfte so sein“ habe seinen „Grund“ in der und der Erinnerung etc. Ich kann auch sagen: Für die Vermutung, dass es so ist, spricht das und das, oder für die Annahme, nämlich nicht hfüri das Urteil, sondern hfüri das „problematische Urteil“, nicht für die Annahme im eigentlichen Sinn, sondern hfüri die problematische Annahme. Und das
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ist eben das „Es dürfte so sein“ bzw. in phansischer Richtung das Anmutungsbewusstsein. Das Vermuten, sagen wir, ist berechtigt und gründet in der (ist motiviert durch die) Erinnerung, hgründet in deri früheren Erfahrung etc. Ontisch aber entspricht dem Vermuten als „problematischen“ Annehmen (was freilich ein irreführender Ausdruck ist, man muss sich direkt an die Phänomene halten, um nicht in hdiei Irre geführt zu werden) die „Annahme“ selbst, das ist der „Ver mutungs inhal t“, das „S dürfte p sein“, und dieser hat nicht seine Vermutungsgründe, sondern Wahrscheinlichkeitsgründe, seine Vermutungsgewichte. Es fehlen uns die rechten Worte. Freilich sagen wir und das macht Schwierigkeiten: Dafür, dass A ist, dass S p ist, dafür, dass diese Tatsache besteht, spricht das und jenes. Ebenso wie wir korrelativ sagen können: Für die Meinung, für den Glauben, dass S p ist, spricht das und jenes. Aber überlegen wir Fälle, wo wirklich Urteile vollzogen und in bewusster Weise auf Urteilsmotive hin vollzogen sind. In Hinblick auf Urteilsgründe, die selbst Urteile sein mögen, urteilen wir: S ist p. Da ist es natürlich zweierlei, so hzui urteilen und auszusagen: Dafür, dass S p ist, dass diese Tatsache besteht, spricht die und die Tatsache. Oder korrelativ: Für das Urteil (die Meinung im aktuellen Sinn oder spezifisch für das Urteilen) spricht das und jenes, dafür, dass man den hSatz desi Pythagoras annehme, sprechen die und die gültigen Urteile. Indem wir urteilen, steht uns das „S ist p!“ da und zugleich stehen in dem Motivat ions zusa m m enhang mit den anderen Urteilsakten, in dem wir leben, die motivierenden Gründe da. Und wir können nachher aussagen: Die und die Sachverhalte sind die Gründe für „S ist p“. Doch wird man hier eine Unklarheit finden. Was ist das Begründete und was das Begründende? Sachverhalte? In welchem Sinn? Weil G ist, ist S p. Das p-Sein des S, dieses Sein folgt aus dem G-Sein. Noetisch aber heißt es: Das Urteilen, das Meinen, es sei G, motiviert das Urteilen, S sei p. Und würde ich hypothetisch annehmen, es sei G, so „müsste“ ich als „Folge“ annehmen, es sei S p. Gehen wir nun zu unserem Ausgangsfall zurück. Zunächst liegt einfach das Vermuten oder das Anmuten vor „S dürfte p sein“, eventuell in Hinblick auf das Motivierende, das letztlich nicht immer wieder ein Vermuten sein kann, sondern wohl ein Glauben. (Es ist eine besondere Aufgabe, zu studieren, was für heinei Motivation das
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Anmuten als solches fordert.) Kann ich nun ernstlich, indem ich aufgrund dieser Sachlage urteile, aussagen: Dafür, dass A ist, spricht die und die erfahrungsmäßige Tatsache? Und kann ich wirklich aussagen: Für die Meinung, für den Glauben, es sei S p, spricht das und jenes? Eine wirkliche Meinung, ein Glaube liegt doch hier nicht vor. Und ein vorgestellter Glaube oder ein phantasiemäßig modifizierter QuasiGlaube ist es doch auch nicht, was hier Motivation, Begründung finden kann. Man kann wohl das sagen, dass Vermutungen öfters in Gewissheiten, in Urteilsentschiedenheiten übergehen und dass das Urteil dann in der Vermutung und seinen motivierenden Akten sein Urteilsmotiv auch finden kann, obschon kein berechtigtes. Denn wo bloße Vermutung berechtigt ist, ist noch nicht Urteil berechtigt. (Wobei freilich dafür Sorge zu tragen ist, dass wir nicht zu weit gehen und in einen extremen Probabilismus verfallen.) Wenn nun aber einzelne Anmutungen und „bloße“ Vermutungen noch keine Urteile begründen können, so kann es doch sein, dass ihre Motivationskraft, ihr Gewicht, durch Sukkurs wiederum einzeln unzureichender solcher Motivationen soweit voll wird, dass es zureicht für eine Überzeugung, für eine „praktische“ Gewissheit. Stelle ich mir diese Möglichkeit vor, oder lasse ich mich von ihr, wenn auch unklar, in der Ausdrucksweise leiten, so werde ich sagen können: Für die Annahme, für die Überzeugung, es sei S p, spricht das G. Genauer: Unter Voraussetzung, dass sich noch ein passender Sukkurs finden ließe, so wäre G ein Motivationsgrund für eine Überzeugung solchen Inhalts. A ber das änd er t ni chts daran, dass wir Anmutungen und Ver mutungen s ondern m üssen von Überzeugungen und eventuel l fes ten G ewi sshei ten, die nichts of fen lassen w ollen und event uell ni chts offen l assen, und dass eine Anmutung in sich motiviert sein kann, wie korrelativ ein „Es dürfte so sein“ sich als vermeintlich oder wirklich berechtigt klären kann. Zu beachten wäre auch noch Folgendes: Ich kann einfach die Anmutung haben und wieder kann ich mir in solchem Fall jederzeit bloß denken „S sei p“ und dann mich diesem Quasi-Urteil annehmend „zuneigen“. Ich kann urteilend im vollen Sinn zustimmen, nämlich zu einem vorstellungsmäßigen „S ist p!“. Ich kann auch in der Weise der Hinneigung zustimmen, etwas vom Ja liegt schon darin: das anmutende Ja, ich „nehme an“. Dieses Annehmen (das natürlich gar
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nichts Hypothetisches hat, worauf bei dem Doppelsinn des Wortes zu achten ist) ist eben das in der Vorstellung Dargebotene anhzuinehmen, aber ein Annehmen – oder Zustimmen, wie wir besser sagen – in der Weise bloßer Anmutung, Zuneigung gegenüber der echten und vollen Zustimmung, der vollen Annahme in Form des gewissen Urteils. Ferner, wir haben auch hier wie sonst gegenüber dem Phansischen ein Ontisches als Korrelat. So wie wir gegenüber dem „S ist p!“ haben das „S möge p sein“, das „Ist S p?“, haben wir dem „S ist p!“ gegenüber das „S dürfte p sein“ (auch das „S muss p sein“, wenn „S ist p!“ in der Weise der notwendigen Folge charakterisiert dasteht). In diesen und ähnlichen Fällen können wir abstraktiv ausscheiden das „S ist p“ und sagen: Dass S p ist, das ist wahr, das ist wahrscheinlich, vermutlich, möglich (= anmutlich), es ist fraglich, das ist erwünscht usw. Die Art, wie dieser intentionale Sachverhalt als solcher darin steckt, das „S ist p“, das kein wirkliches Urteilskorrelat, kein Sachverhalt, aber Urteilsverhalt, ebenso identisch derselbe Frageverhalt, Vermutensverhalt ist, das ist überall dasselbe Problem. Also wenn von Anna hm e die Rede war, so waren es eigentlich A nmutlic hkeit en – „Es möchte sein“ –, es sind „ Möglichkeiten “, nicht l eere M ögl i chke i ten, sondern eben Anmutungs ver halt e, für di e, wo Recht besteht, in der Tat etwas s pr icht; in der empirischen Sphäre: die jederzeit den Gedanken bei sich führen, dass sie eventuell einen geltenden Sachverhalt begründen könnten. Darum ja Ann ahm e. Die Annahmen, von denen in der W ahr s cheinl ic hkeit s rechnung die Rede ist, ebenso die Hypothesen der Naturforscher sind immer auch Annahmen in unserem Sinn (eine leer e Vora ussetzung – ich kann alles Beliebige in Voraussetzung stellen, wofür nicht das Mindeste spricht – ist keine A nnahme). Nach diesen Überlegungen werden wir doch auch sagen müssen, das s A nnahm en bli nd sei n können, dass sie andererseits auch begr ündet werden können, dass sie bestätigt werden können, nämlich durch Nachweisung von motivierenden Erkenntnisgründen. Durch Nachweisung immer neuer Motive kann eine immer weiter gehende Bekräftigung vollzogen werden, welche die Kraft der Annahme wachsen lässt (ihr Gewicht). Es war also verkehrt, oben zu sagen, dass Neigungen nicht Begründung fordern und erfahren können.
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Z u den N eigungen ge hören ferner als mögliche Gegens tüc ke die E nts cheidu ngen. Si e si nd freilich nicht einfache B evor zugungen des sen, was i n einer Disjunktion als gew ichtiger ers chein t. Im intellektuellen Gebiet: Schwanke ich in meinen Urteilsneigungen zwischen A und A’ (in der Überzeugung, dass A oder A’ gelte), so entscheide ich mich für A’, wenn ich ihm mehr Gewicht beimesse?1 Der Ausweis der Entscheidung, Bevorzugung liegt in der Erkenntnis (der Gewissheit, die zur Beurteilung gehört, welche sich in der Begründung vollzieht), dass gewichtigere Gründe für A’ sprechen als für A. Dahinter steht eine gewisse Möglichkeit, objektiv über Gewichte zu urteilen und apriorische Sätze für Gewichte auszusprechen. Das führt auf Wahrscheinlichkeitslehr e und W ahrs chei nl i chkei tspri nzipien. Schwanke ich wünschend zwischen A und A’ in Wunschneigungen, so entscheide ich mich für das, was mir als Besseres erscheint. Ich entscheide mich?2 Ebenso bei konkurrierenden Willensneigungen; aber ich kann verschiedene Willensneigungen haben, die sich ausschließen und von denen die eine ihren Vorzug hat (und ich übe Bevorzugung), ohne dass ich mich gerade entscheiden müsste. Wann ist nicht nur Bevorzugung, sondern Entscheidung vernünftig gefordert?
1 Aber wenn die Neigungen nur „leise“ Neigungen sind? Ich b e v o r z u g e die Annahme, dass A ist gegenüber den anderen Annahmen, a b e r i c h e n t s c h e i d e m i c h darum nicht. „Ich halte für wahrscheinlich“, aber ich gehe nicht zur Gewissheit über. 2 Wann tue ich das? Das ist ein Hauptproblem der Theorie der Erfahrung.
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Ich habe eine Zeit lang versucht, innerhalb der Impressionen gegenüberzustellen: 1) die A kte i m enge ren Si nn hwiei Urteil, Freude, Wille; 2) die A kt -Neigung en, die Regungen hwiei Geneigtsein zu urteilen, sich zu freuen, zu wollen; 3) die A kt- Enthal tu ngen. Indessen zeigt die genauere Analyse, dass, wenn wir das Wort Neigung im eigentlichen Sinn verstehen als Neigung zum Urteilen, sich dazu hingezogen fühlen, danach gleichsam langen (und ebenso überall), es si ch um P hänom ene eben des Langens, des Tendier ens , des St reb ens i m w ei teren Sinn handelt, und erst recht ist das klar für die Aktenthaltungen, wo es sich um Willensakte handelt, die auf Akte als Handlungen, auf Urteile als Handlungen gerichtet sind bzw. auf Nicht-Vollzug solcher Akte. Unter dem Titel Neig ung kann in der Rede aber a uch etwas ander es gemei nt sei n. Statt „Ich bin geneigt zu glauben, dass es regnen wird“ kann ich auch sagen „Es dürfte Regen geben“, und umgekehrt. Wenn ich Anmutungsbewusstsein habe, so möchte man dieses beschreibend auch sagen: Nun, dann habe ich die Neigung zu glauben. Indessen trenne ich das Hinneigen im eigentlichen Sinn, das Sich-zum-Urteil-gedrängt-Fühlen (Urteilsdrang, ebenso Willensdrang, geneigt sein sich zu entschließen, eine Pflicht zu übernehmen etc.), und das Bewusstsein, das ich Anmutung und Vermutung nenne, das Bewusstsein der „Möglichkeit“, dass A eintreten möge, „Es könnte Regen geben“, des deutlichen oder vagen „Es hat etwas für sich“, „Es spricht was dafür“ oder als Vermutung des „Es dürfte Regen geben“, „Vermutlich, wahrscheinlich wird es das geben“. Diese Unterscheidungen sind auch relevant für die Phänomene des Z w eifels und der Frage. Ich bin geneigt zu urteilen, A wird eintreten, und wieder, es wird ein es ausschließendes B eintreten. Durch die Anzeichen motiviert,
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bin ich geneigt zu meinen, es wird regnen, und dann durch andere Anzeichen motiviert, es wird der Wind die Wolken vertreiben und es wird schönes Wetter werden. Ich zweifle. Ich schwanke nicht zwischen zwei Urteilen. Natürlich, auch das kann vorkommen. Ich urteile jetzt entschieden „Es wird regnen“, dann wieder entschieden „Es wird schönes Wetter geben“. Ich schwanke und falle bald auf die Seite, bald auf die. Aber das ist kein Zweifel. Schwanke ich aber in den Neigungen, so ist das ein einheitlicher Akt und nicht bloß ein Übergehen von Neigung in Neigung, ein Sich-Ablösen der Neigungen, vielmehr ein in Neigungen fundierter Akt, eine disjunktive Neigung. Indessen, das ist nicht ein Z w eife l im natü rl i chen theoretischen Sinn, haberi es ist auch ein Zweifel. Es gibt auch Wunschzweifel, Willenszweifel usw., und das hier ist ein Neigungs-Zweifel, gehörig in die Sphäre eben der Neigungen, der Tendenzen, die nächstverwandt sind mit Begehrungen, Wünschen etc. Wenn wir andererseits von Zwei fel i n theoretischem Sinn sprechen, so liegen ihm n i cht zugrunde Neigungen, sondern Anmutungen (und eventuell haben wir in Rücksicht zu ziehen die Veränderung, die in den Gewichten erfolgen und verschiedene Vermutungen begründen kann, zwischen denen ich auch zweifelnd mich bewege). Beides ist sehr oft verflochten, muss aber begrifflich und sachlich gesondert werden. Wir haben das disjunktive Bewusstsein: A könnte sein, B könnte sein. Aber nicht bloß das. Darauf gegründet zweifle ich, ob A oder B ist. Und man kann wohl sagen, dass dies das rein Theoretische der Fr age ist, das „ob A oder B ist“, während bei der vollen Frage allerdings ein Langen hinzutritt: Ich wünsche zu wissen, ob A oder B ist. Darin liegt natürlich nicht bloß: Ich weiß nicht, dass A ist, ich weiß nicht, dass B ist (die bloße Privation). Ob A ist, ob A ist oder B ist, das sind „theoretische“ Fragen. Und wieder, es sind theoretische Zweifel oder können es sein, nämlich wenn was für das A-Sein und gegen das A-Sein spricht, sich aufhebt, besteht Zweifel. Der Zweifel, ob A ist, ist ja gleichwertig mit dem, ob A ist oder nicht ist. Von Schwanken braucht gar keine Rede zu sein, weil vielleicht nichts Ordentliches für das eine und andere spricht, obschon es reale Möglichkeiten sind. Ich komme bei der Wanderung an einen Fluss: Ob hier in der Nähe eine Brücke hinüberführt? Ich bin zwischen beidem „völlig“
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unentschieden; ich vermute weder für die eine noch für die andere Seite, geschweige denn, dass ich Urteilsneigung empfinde. Ebenso: Ob der Freund diesen Weg oder jenen und welchen Weg überhaupt er herkommen oder am Ende gar nicht herkommen wird? Ich bin in völligem Zweifel. Es ist völlig zweifelhaft, es ist völlig fraglich. Ich kann auch „einigermaßen“ zweifelhaft sein, ob A sein wird oder gerade dieser Weg eingeschlagen wird etc., nämlich sofern zwar mehr dafür spricht, oder ich mehr schon „geneigt“ bin, für diese Seite lebhaftere Anmutung empfinde, aber nicht Unachtliches für die andere Seite spricht. Ich kann also vermuten, dass A sein wird und dabei zweifelhaft sein – nur darf das Übergewicht auf Seite der Vermutungschancen nicht sehr groß sein gegenüber den Chancen der anderen Seite –, insbesonders wenn die Gewichte selbst unbeständig sind oder die „Kraft“ der Anmutungen für die beiden Seiten. Eigentlich, wird man sagen, ist Vermutung ein Vorzug für die stärkeren Chancen, ein in der stärkeren Anmutung leben und die schwächere dahinstehen lassen oder als schwächer zurückstellen. Im Zweifel, in der Frage, stelle ich mich nicht auf den Boden der einen Anmutung, nehme nicht für sie Partei. hEs isti ein Von-dem-einenzum-anderen-Übergehen. Aber freilich eine gewisse Richtung hat auch die Frage für eine Seite. Sonst wären die Fragen „Ist A?“ und „Ist A nicht?“ identische Fragen, während sie nur korrelativ zusammengehören. (Daher die Antworten beiderseits nicht dieselben sind.) Auch zweifelnd sage ich: Ist A? Ich zweifle, ob A ist. Und ein anderes Mal hsage ichi: Ich zweifle, ob A nicht ist. Einmal steht voran und ist Materie die Möglichkeit „A ist“ und das andere Mal die Möglichkeit „A ist nicht“. Nicht übersehen darf man, dass man doch wohl bei Anmutungen von gewi ss erm aßen posi ti ven und negativen Qualitäten s pr echen kann. Ich erlebe die Möglichkeit, dass A sei, aber zugleich stößt mich etwas davon ab, ein Nein, ein Hemmendes. Es ist ein Unterschied, von einem das A-Sein ausschließenden B angemutet zu werden (Eintritt von Regen – Vorübergehen der Wolken, Ausschluss des Regens) und auf dieser Grundlage von dem „A ist nicht“ angemutet zu werden, und andererseits von dem „A ist“ abgestoßen zu werden; und so können Anziehung und Abstoßung, positive Anmutung und Wider-Anmutung sich neutralisieren oder vielmehr ein Bewusstsein der Zweifelhaftigkeit, der Fraglichkeit herstellen.
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Kann man aber nicht fragen, wo gar nichts von Anmutungen, sei es positiven oder negativen, vorliegt? Und nicht zweifeln? Kann ich nicht alles und jedes fragen, was ich nicht schon weiß (d. i. wirklich für fraglich halten, als fraglich, zweifelhaft finden)? Gibt es auf dem Neptun nicht Menschen mit zwei Köpfen? Wir werden wohl sagen müssen: Ernstlich zweifeln und fragen kann ich nur, wo in der Tat reale Möglichkeiten vorliegen, also Anmutungen, und ich kann es nicht, wo eine große und gar ungeheure Wahrscheinlichkeit gegen die eine Möglichkeit spricht. In gewisser Weise kann ich auch, was ich schon für gewiss halte, in Frage stellen. Ich nehme an, ich weiß es noch nicht, ich mache von der Gewissheit keinen Gebrauch; ich nehme an, es fehlte noch an einer sicheren Entscheidung zwischen dem, was dafür und dagegen spricht. Es handle sich darum, die Vernunftmotive herauszustellen und nach ihrem Wert abzuwägen. Ich versetze mich also in das Fragen und erwäge die Frage, erwäge, was ihr zugrunde liegt, was sie zur vernünftigen macht, ich sammle Gründe zur Entscheidung und ziele auf Entscheidung. Und Fragen, das ist in der Regel nicht nur theoretisch „fraglich finden“, sondern hesi abgesehen haben auf Entscheidung. Und soviel ich sehe, liegt hier allein in solchen sekundären Momenten der Unterschied zwischen Frage und Zweifel. Bei der Frage denkt man nicht an ein Schwanken, beim Zweifel im Gegenteil vorwiegend an ein Schwanken zwischen „fraglichen“ Möglichkeiten. Umgekehrt: bei der „Frage“, nicht aber beim „Zweifel“ weist die Rede (eben von Frage und Zweifel) auf Wunsch und Absicht, auf Herbeiführung einer Entscheidung hin. Die Entscheidung erfolgt nun öfters durch (vernünftige oder unvernünftige, einsichtige oder blinde) Erwägung, Abwägen der Gewichte. Die Gewichte sind bewusst als Bestimmungen der Möglichkeiten im Anmutungsbewusstsein derselben bzw. im Einheitsbewusstsein, das „positiv“ und „negativ“ oder Anmutungen für das A und die für das „oder B“ in Einheit setzt. Erwägen ist aber nicht bloß das Bewusstsein der verschiedenen Möglichkeiten und ihrer Stärken hzui haben, sondern ist vergleichendes und damit auf Entscheidung eines Vorzugs gerichtetes und weiter aber auf überwiegende Wahrscheinlichkeit oder Gewissheit gerichtetes Bewusstsein. Nämlich, es ist normalerweise ein Prozess, in dem den Motiven nachgegangen wird, immer neue Motive für
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und gegen herangezogen werden, in der Hoffnung, dadurch zu einer Entschiedenheit kommen zu können. Also da spielen Hoffnungen, Wünsche, Wollungen eine wesentliche Rolle als Bestandstücke. Die Entscheidung des Zweifels bzw. seine Lösung besteht darin, dass die Verflechtung der sich aufhebenden positiven und negativen Anmutungen „gelöst“ und durch den Sukkurs überwiegender Anmutungen bzw. ihrer Gewichte für die eine oder durch Entwertung der Gegengewichte (Aufhebung derselben in irgendeiner Weise) zu„gunsten“ der einen Anmutung entschieden wird: analog wie bei der Waage; die Waagschale senkt sich. Wir gebrauchen dieses Bild, das sehr passend ist, gerne. Wir sprechen von einem Grund als entscheidendem Übergewicht etc. Ich meinte nun weiter: Si nd al l e einschlägigen Unters chiede nic ht bei Akten al l er Kl assen zu machen? Gibt es nicht W uns chanmu tungen , G efal l ensanmutungen, Willens anmutungen? Die Gefallensanmutungen sind sicherlich analog den Urteilsanmutungen. In ihnen ist eine Gegenständlichkeit nicht als Möglichkeit, aber als Wertlichkeit sozusagen bewusst. Etwas „mutet“ sich „bloß“ als gefällig an. Eine „Regung“ des Gefallens ist da, aber kein wirkliches Gefallen; und da spielen wieder die (axhiologischeni) Motivationen und Gegenmotivationen ihre Rolle. Ebenso, statt einfach zu wünschen, es möge A sein, regt sich bloß ein Wunsch, es mutet sich das A-Sein sozusagen als wünschlich an und „erscheint“ doch nicht als erwünscht. Wieder, ich will nicht und doch bin ich mit meinem Willensvermögen dabei. Ohne mich zu entscheiden, mutet sich willentlich eine praktische Möglichkeit an, als praktisch Gesolltes. Und überall sind auch Zweifel möglich. Zwischen verschiedenen Möglichkeiten? Es mutet sich etwas in gewisser Hinsicht als gefällig an, aber in anderer Hinsicht auch als missfällig. Der Gegenstand selbst ist nun mit beiderlei Wertanmutungen behaftet, die sich widerstreiten. Aber sind die widerstreitenden verschiedene Möglichkeiten? Der Fall ist insofern doch verschieden, als hier keine Entscheidung möglich sein muss. Gehe ich zur „Auswertung“ über, überlege ich, gehe ich den Motiven nach, so ende ich vielleicht mit dem: Der Gegenstand hat kein einstimmiges Wertprädikat; er ist in der Hinsicht schön, in der hässlich, und absolut genommen weder das eine noch das andere, weil
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keine Seite überwiegt. Aber ist der Gefühlszustand nicht zwiespältig, analog wie beim theoretischen Zweifel? Und haben wir nicht Fälle, wo das Übergewicht für eine Seite sich herausstellt: Alles in allem ist der Gegenstand gefällig, sofern die Vorzüge über die Mängel überwiegen? (Freilich, „schön“ würden wir nur sagen, wenn sich das Missfällige auflösen würde in eine höhere Schönheit des Ganzen.) Hier gehen aber mehrere Verhältnisse ineinander, die man scheiden muss. Etwas mutet sich als gefällig und zugleich in verworrener Weise als missfällig an. Jemand hält eine schöne Rede und ich bin geneigt, ihn zu bewundern. Aber es sperrt sich etwas dagegen, ich habe Vorurteile gegen ihn, er hat mir öfters missfallen etc. Ohne dass das alles jetzt explizit vorstellig ist, so empfinde ich die darauf zurückgehende negative Anmutung. Habe ich so ein Bewusstsein, das zwiespältig den Gegenstand nicht wirklich wertet, sondern mit entgegengesetzten anmutlichen Werten behaftet, so kann ich zur „Auswertung“, zur Entfaltung der Motivationen und zur Erwägung übergehen. Und nun entscheidet sich: Das ist wirklich ein Vorzug von ihm und das ist wirklich ein Mangel an ihm. Und dann entscheide ich mich etwa: Der Mangel ist „verzeihlich“, alles in allem ist er von überwiegendem Wert. Ich entscheide mich für ihn wertend. Einerseits das Klären und Begründen der Anmutungen bzw. der Wertprädikate, die miteinander in Spannung stehen (die Bestimmung und gewissermaßen Entscheidung ihres Wertes), und andererseits die Entscheidung für den Gesamtwert, die vom Verhältnis der Gewichte abhängt. Aber ist das alles nicht genauso in der theoretischen Sphäre? Natürlich auch „theoretisch“, nämlich urteilend, stelle ich hier fest, aber aufgrund der parallelen Vorkommnisse in der Gemütssphäre. Ebenso bei Wunsch und Willen. Ich vollziehe keinen Wunsch, ich bin wünschend zwiespältig. A erscheint mir erwünscht, in anderer Hinsicht unerwünscht. Ich kann mich entscheiden, ich wünsche, dem Übergewicht des vermeinten Wertes folgend. Ich kann auch im Wollen zwiespältig sein. Jede der praktischen Möglichkeiten mutet sich als seinsollend an und doch steht keine als die gesollte da (nicht im ethischen Sinn, sie steht nicht da als vermeintlich gute). Es kann aber auch sein, dass der Zweifel sich entscheidet etc. Somit haben wir, wie es scheint, bei allen Aktgattungen zu unterscheiden:
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1hai) A nmutungen und 1b) Zwei fel (als unentschiedene A kte); 2) E nts c heidungen (in der Urteilssphäre sind das die Behauptungen) oder besser Ents chi edenhei ten, entschiedene Akte. Die Entschiedenheiten können den Charakter von Gewissheiten haben (Urteilsgewissheit, Wunschgewissheit, Willensgewissheit), nämlich dann, wenn ihnen keine oder keine merklichen, erheblichen Gegenanmutungen einwohnen. Ist das aber der Fall, so hätten wir das Analogon von Vermutungen im Urteilsgebiet. Aber freilich, von Wunschvermutung, Willensvermutung kann man nicht gut sprechen. Es fehlen Namen. Noch eins. Kann ich nicht in der Urteilssphäre (oder nicht besser, Sphäre der Vorstellungsakte) ein Übergewicht auf Seiten einer der Anmutungen finden und doch noch nicht in ihrem Sinn entscheiden und zum entschiedenen „Wahrscheinlichkeitsurteil“, zum entschiedenen Vermuten übergehen? Ebenso mag sich etwas als einigermaßen überwiegend gefällig zeigen und ich hwerdei doch nicht zum entschiedenen, wenn auch nicht reinen Gefallen übergehen. Wieder, etwas erscheint mir praktisch als besser, ich entschließe mich aber noch nicht, ich fälle keine Willensentscheidung. Kann man in Ermangelung eines passenden Ausdrucks auch auf Seiten der ents chied enen Akte unterscheiden zwischen rein und unr ein? Aber so richtig es ist, dass auf der einen Seite Akte stehen des „Urteils“ (der Vorstellung), die nichts von Gegenanmutungen (die ja zur selben Aktklasse gehören) enthalten, und auf der anderen unreine, nämlich verunreinigt durch Gegenanmutungen, so spricht doch gegen diese Terminologie die Unreinheit, die in den Gemischen von Hoffnung und Furcht vorliegt. Aber warum soll es dagegen sprechen? Ich wünsche, mein Werk glücklich zu vollenden, es erscheint mir nicht nur als möglich, sondern als überwiegend wahrscheinlich. Aber zugleich empfinde ich die immerhin nicht verachtlichen Möglichkeiten, dass Hinderungen dazwischen treten, dass ich sterbe und die Arbeit so vieler Jahre verloren ist etc. Haben wir hier nicht einen Freudenzweifel? Die Freude an der Wahrscheinlichkeit, dass W sein wird, ist verunreinigt durch die Unfreude an der nicht ungewichtigen Möglichkeit, dass W nicht sein wird. Die Freude über die künftige Vollendung des
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Werkes ist gehemmt durch die Möglichkeit, dass es nicht vollendet wird. „Freudengewissheit“ habe ich in der zweifellosen Überzeugung, dass ich es zustande bringe, den Freudenzweifel (den zwiespältigen Zustand) bei Änderung der Vermutungsunterlage. Und ebenso 5 die Freudenentscheidung mit Beimengung von Verunreinigung. N atür lich gehör en zu al l en Akten einerseits die Übergangs - und Zus amm enhangsphänomene der Erwägung, B egr ündung und andererseits der Entscheidung als Übergang von Anmutung und Zweifel (Unentschiedenheit) zu Entschiedenheit. 10 Die ersteren Vorkommnisse, die der Erwägung und Begründung, gehören zu allen Akten, zu Unentschiedenheiten und Entschiedenheiten; überall untersteht der Akt der Rechtsfrage, der Frage nach Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit. Die Entscheidungen und Begründungen (abgesehen von den Willenskomponenten, die mitspie15 len) gehören den Aktklassen an, in welche sich die zu begründenden, die Entscheidung erfahrenden Akte einordnen. Ebenso gehören die Zusammenhänge der Motivation, z. B. die expliziten Motivationen, die die Begründungen aufzubauen haben, natürlich den entsprechenden Aktklassen an.1
1 Wie steht es mit den A n n a h me n a l s a l l g e m e i n e M o d i f i k a t i o n e n f ü r alle Aktklassen? Sollen wir sagen, jeder Entschiedenheit entspricht eine mögliche Annahme? Es gibt auch Wunsch- und Willensannahme. Ich versetze mich in das Wünschen hinein. Aber nicht nur ich träume mich hinein, ich phantasiere, sondern ich versetze mich hinein und habe dann das Bewusstsein von Wunschfolgen. Ebenso, ich versetze mich in ein Wollen hinein und habe dann das Bewusstsein „Dann würde ich das und das wollen“, oder „Dann wäre das und das zu wollen (objektiv)“. Ich hätte also überall: 1) Entscheidungen und Unentschiedenheiten in Form der Neigung etc., und zwar unbed ingt e. 2) B e d i n g t e Entscheidungen und Unentschiedenheiten aufgrund „bedingender Annahmen“, und wir hätten unter dem Titel Annahme eine Modifikation, die jeder Akt erfahren kann.
Nr. 5 h B egründung i n der Sphäre der emot ionalen A kte. Schwanken und Entscheidung . Die mit dem U rt eil verbundene Wertintention und ihr e Er fül l ung durch die Einsichti1
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Wunschregung oder Wunschneigung, sie ist noch nicht Wunsch. Es erscheint mir etwas als „wünschlich“, aber ich entscheide mich noch nicht im Wünschen, im Begehren. Oder auch, ich schwanke in den Wunschregungen und deren Entscheidung. Es mutet sich etwas als gut und schön, als begehrenswert an, ich schätze aber nicht wirklich und begehre nicht wirklich. Ich bin genei gt zu wünschen. Ich weiß vielleicht nicht, ob nicht der Wunsch eine Sünde wäre, ich hege so etwas wie einen Aberglauben, dass der Wunsch schon eine Kraft der Realisierung haben könnte.2 Schwankend zweifle ich: Was soll ich nun wünschen (Wunschz w eifel)? Zum Beispiel bei der Stichwahl zwischen den Sozihaldemokrateni und den Schwarzen. Die Sozi? Das stößt mich ab. Die Schwarzen? Wieder. Aber „eines wäre doch das kleinere Übel“. Das erscheint also als das nun doch zu Wünschende. Der Wunschzweifel löst sich, indem ich mich nun i m Wunsch entscheide. Eben damit erscheint das Erwählte (Bevorzugte, im Wunsch Erwählte, W uns c hw ahl) als das Wünschenswerte unter den gegebenen Umständen. Ebenso bei der Fre ude „Regungen“ der Freude, Anmutungen zur Freude. Schwanken und Entscheidung. Ist die Entscheidung erfolgt, so haben wir den Akt im eigentlichen Sinn, die Stellungnahme des Wunsches, der Freude, die Wunschentschiedenheit etc. und das Sich-Entscheiden halsi ein Übergangsphänomen. Beim W illen ebenso: Willensregung, Willensneigung, Willenszweifel, Willensentscheidung, Wahl, Wi l l enserwägung, Wille als eigentlicher (entschiedener) Willensakt.
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1909. – Anm. der Hrsg. Ich bin in der Wertungsunterlage vielleicht nicht sicher. Es mutet sich als Wert an, ich habe in dieser Hinsicht eine Neigung und dann vielleicht auch eine Wunschneigung. 2
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Zu den Stellungnahmen (besser: entschiedenen Akten), und nur zu ihnen,1 gehört das Übergangs-, Einheitsphänomen der Begründung, Bestätigung, Bekräftigung.2 Doch haben wir dabei eher von Urteilen gesprochen. Wir werden noch in den anderen Gebieten das Parallele suchen müssen. Fügen wir zunächst noch ein Wort bei für die Urteile. Ein Urteilsakt (Urteilsstellungnahme, -entschiedenheit) kann trotz seiner Entschiedenheit unbegründet sein. Es wird begründet durch Rückgang „auf das, was gemeint ist“, auf das gemeinte „Wesen“, wenn das Urteil ein Wesensurteil ist (oder aus Wesensgründen einleuchtend zu machen ist); ist es ein Erfahrungsurteil, ein „Tatsachenurteil“, so bedarf es der Erfahrung. Was entspricht dem nun in der Sphäre der emothionaleni Akte? Man kann auch von der Begründung eines Wunsches, einer Freude, eines Willens sprechen, verstanden als eigentliche Akte. Eine bloße Regung, Neigung kann nicht begründet werden.3 Nehmen wir einen Wunschakt. Er sei zunächst unbegründet. Er wird dann begründet. Das geschieht durch Rückgang auf die Anschauung der Sachen (Sachverhalte) und ihre Werte (offenbar nicht Wahrnehmung und nicht Urteilsintuition, denn zum Wesen des Wunsches gehört, dass die Überzeugung fehlt, dass das Gewünschte in Wahrheit sei). Oder es gehört dazu das Analogon des Beweises: Rückgang auf die mittelbaren Wertmotivationen und Wunschmotivationen, bei denen dann aber wieder die Frage nach der Begründung aufgeworfen werden kann. Schließlich werden wir notwendig zurückgeführt auf unmittelbar erschaubare Werte und unmittelbar evident motivierte Wunsch-Verhalte, bei denen ein weiteres „Fragen“ und „Zweifeln“ „keinen Sinn hat“. Ich habe bei den Urteilen von „Intention und Erfüllung“ gesprochen. Das ist eine Ausdrucksweise, die in gewisser Weise passt (Verhältnis zwischen dem leeren Akt, der Fülle erhält, und dem Wert der Fülle, der nun als das gleichsam angesehen wird, wonach der leere Akt strebt und das er in der Evidenz nun „besitzt“, ähnlich wie der „leere“ Wunsch in der Freude sich die Fülle des Erwünschten und
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Nein. Begründung von Stellungnahmen und nur zu Stellungnahmen gehörig. – Nein! Nein!
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nun Seienden zueignet), aber wiederum in anderer Weise nicht passt. Ich stellte das Verhältnis der Begründung, denn darum handelt es sich doch, in eine nic ht gute Parallele mit dem Verhältnis von W uns c hintenti on und Wunscherfül l ung, Wunsch und Freude, und W illensi ntent ion und Wi l l enserfüllung, Befriedigung der Willensintention, Willensentschluss – Realisierung (Handlung) bis zur vollendeten Tat. D ie se l etzteren Verhältnisse haben ihre Par allelen i n der Er wartung, ni cht i m Urteil überhaupt. Wir stellen gegenüber Erwartung und Erfüllung der Erwartung. W unsc h, W il le oder Erwartung spielen ihre Rolle in jeder B egründung. Wir sind oft erwartungsmäßig darauf gerichtet, es „wirklich“ so zu finden und als begründet zu finden (als bestätigt in der begründenden Anschauung oder Erfahrung oder in der Schlussfolgerung), genau so, wie wir es „gemeint“ hatten. Damit verflicht sich wohl auch öfter der Wunsch, es so zu finden (doch kann es mir wieder Wunsch auch sein, wenn ich für das Gegenteil interessiert wäre). Im Zusammenhang der Begründung – mag es sich um Begründung eines Urteils handeln, das wir entschieden haben, oder hum Begründungi einer schon problematisch sich anmutenden „Annahme“, die wir hypothetisch setzen und nun zusehen, ob sie nicht zu begründen sei – spielen aber Willensakte ihre beständige Rolle. Der Wille ist auf das „Herstellen“ der Gründe, das Beibringen der Gründe gerichtet, der Gründe für das zu begründende Urteil (und im weiteren Gang für die vermittelnden), das sich in der Begründung bestätigen „soll“. Es selbst ist gleichsam auf Erfüllung „gerichtet“. Dieser Wille als Wille zum Begründen, als Wille zur Erkenntnis, richtet sich auf die Erkenntnis, er will Recht des Urteils ausweisen, von dem wir in sich selbst sagen, dass es „Recht beansprucht“. Aber in sich denkt Letzteres an kein Recht und ist auf kein Recht gerichtet. Es „beansprucht“ ein Recht, das heißt nichts anderes als: Wir werten Urteile, nämlich als wertvoll und wertlos, und als positiv wert gilt uns ein Urteil, das „seinen Rechtsgrund ausweisen“ kann, das sich in Evidenz überführen lässt. Die nor mi erende Logi k heftet j edem Urteil eine „ Intention “ auf Begr ündung an, ei nen Sol l enscharakter, den, dass es begründbar („begründet“) sein soll. Phänomenologisch hat das Urteil in sich keinen solchen Charakter (das Urteil als Urteil des und des Sachverhalts). Unser „Erkenntni si nt eresse“ gibt ihm diesen
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Charakter, den des Sollens. Wir wünschen, dass jedes Urteil, das wir fällen, ein gutes sei, ein begründbares. Sollen wir überhaupt ein Urteil als Ur teil schätzen können, so muss es dieser Bedingung genügen: Wir schätzen es positiv, wenn es das tut, negativ, wenn nicht. Es soll begründbar sein (wie überhaupt, es soll etwas a sein), das heißt ja nichts anderes als: Es hängt von der Erfüllung der Bedingung a oder von der Herausstellung der Beschaffenheit a ab, ob es als wert geschätzt werden kann oder nicht. Vielleicht muss man aber sagen, dass, wo das der Fall ist, der Sache (hier dem Urteil) ein eigener emhotionaleri Charakter oder objektiv ein eigener Wertungscharakter, der Sollenscharakter, anhängt und unter diesen Umständen wesentlich zugehört. Wir haben dann von einer Wer tu ngsi ntenti on zu sprechen (die nicht mit Wunschintention zusammenfällt, aber ihr ganz nahe verwandt ist). Das Urteil ist dann nicht in sich selbst, in seinem eigenen Wesen ein mit W e r tcharakt er b egabtes, sondern es ist ein Wertobjekt, das heißt, es ist das Urteil – oder vielmehr die Urteilsgegebenheit, die Wahrnehmung des Urteils oder Vorstellung des Urteils – Grundlage eines Wertungsaktes, in dem sich vermeinter und in der Erfüllung wirklicher Wert „konstituiert“. Der Wertungsakt ist Wertmeinen, und dieses erfüllt sich in der Begründung: Sie endet mit der Wertgegebenheit, der Werterfüllung. Die Einsicht ist das, was dem Urteil den Charakter des Begründetseins gibt, die Erschauung seines Gegründetseins. U nd m i t der Ei nsicht verflicht sich die E r füllung der Wer ti ntenti on, in der der Wert gegeben ist. Das Begründete als solches ist ni cht in sich der gegebene Wert, sondern als das die Wertintention Erfüllende ist es Wert und gegebener Wert. Hier wurde nun Werten, Schätzen eingeführt. Aber ist Werten in s ic h s elbs t eine „ I ntenti on “? Doch so wenig wie das Urteil. Das Sollens erl ebnis, die spezifische Wertintention, ist eine Intention: die Forder ung. Die Wertintention erscheint hier parallelisiert mit der Wunschintention, die sich in der Freude erfüllt: Forderung und Wunsch sind nächste Verwandte. Die Wertintention hat ihre Werterfüllung. Ist das etwas der Freude Analoges? Es ist das satte Werten, das den Wert selbst Erleben und Gegebenhaben, und zwar als entsprechend dem Sollen, dieser Forderung. Die Wertintention, was ist das hier?
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Urteilend vermisse ich die Klarheit, die Begründung, die Einsicht; für diese interessiere ich mich theoretisch, und die vermissend begehre ich. Objektiv steht aber das Urteil als unklares, unbegründetes, mangelhaft da und andererseits das klare, begründete etc. als das „So 5 ist hesi, wie es sein soll“. Der Charakter der Einsicht als ein Wertcharakter, als seinsollender. Ebenso, im Voraus uneinsichtig urteilend vermisse ich eben Einsicht und bin gerichtet auf Einsicht, die das Ersehnte, Seinsollende ist. Somit haben wir es hier mit nichts prinzipiell Neuem zu tun. Das Vermissen und Langen, das Bewusstsein 10 des Seinsollens und Gerichtetseins auf Seinsollendes ist überall dasselbe. Nur dass wir hier in der Sphäre der „theoretischen Interessen“ und theoretischen Werte stehen, die ein eigenes Wertsystem bilden. Natürlich ist das Gefallen an der Erkenntnis, am einsichtigen Urteil und das Gefallen am Begründen, am Gewinnen einsichtiger Urteile, 15 ein anderes als das Gefallen am Sinnlichen, weil eben Urteile keine sinnlichen Gegenstände sind usw.
Nr. 6 hAkt mot iva ti on, Nei gung und Tendenz. D as Wi ll entl i che i n al l en Akteni1
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Pr oblem: Si nd Nei gungen ni cht Tendenzen und als solc he in das Gebiet des H andel ns, des Bege hrens und Wollens gehör ig? Ein Urteilsdrang ist eben ein Drang, eine Tendenz zum Urteilen, ebenso ein Willensdrang, ein Wunschdrang. Aber ist ein Wunsch nicht selbst ein Drang, z. B. der Wunsch, eine schöne Frühjahrsreise zu machen, eben ein Drang, die Reise zu machen, also eine Tendenz zu wollen (zu tun)? Der Wille selbst ist kein Drang, obschon in der Handlung auch zugleich ein Drang lebt, eine sich stetig „erfüllende“ Tendenz. Aber habe ich oben nicht Beispiele für Wunschneigung gegeben und entsprechend für Wunschzweifel? Es sei bei einer Wahl: „Soll ich wünschen“, dass der Sozialdemokrat (etwa gegenüber einem Polen) siegt? Ich stelle mir allerhleii günstige Folgen davon vor – Mängel, die sehr empfindlich sind, würden etwa beseitigt etc. –, und sowie ich das hmiri vorstelle, wünsche ich. Aber damit verbinden sich die und die ungünstigen Folgen (und das weiß ich von vornherein), und die können nicht in Kauf genommen werden. Ich wünsche also nicht wirklich, dass die Sozi siegen mögen. In der Beziehung a wäre es gut, wäre es zu wünschen, in der Beziehung b wäre es negativ zu wünschen. Käme b nicht in Betracht – beständen diese schlimmen Folgen nicht –, so wäre es erwünscht. Blicke ich auf a hin und abstrahiere von b oder mache mir b nicht deutlich, so fühle ich den Wunsch, aber „gehemmt“ durch die Gegentendenz, die von b trotz seines Zurücktretens ausgeht. Sagt man: Ich habe hier einen hypothetischen Wunsch, nämlich vorausgesetzt, dass b nicht ist, wünsche ich, dass die Sozi siegen. Aber das reicht nicht aus. Vorausgesetzt, dass b nicht wäre, würde ich wünschen, und objektiv: wäre es erwünscht. So kann ich in der Tat aussagen. Aber diesen Gedanken brauche ich nicht zu haben. In Hinblick auf die guten Folgen erscheint die
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Sache als erwünscht, in der anderen Hinsicht als unerwünscht. Alles in allem wünsche ich, aber nicht sozusagen thetisch. Ich wünsche, dass A sei, das heißt, A steht „schlechthin“ als erwünscht da. Nicht A „erscheint“ in der Hinsicht als erwünscht, in der als unerwünscht. Nur wenn ich die unerwünschten Folgen „in den Kauf nehme“ und das A-Sein „alles in allem“ besser finde, wünsche ich wirklich, es soll sein. Wir haben diese Sachlage schon beim Gefallen. Gefällt A in der Hinsicht a und missfällt es in der Hinsicht b, so kann ich und werde ich im Allgemeinen nicht sagen und schlechthin sagen „A ist schön“ oder „A ist unschön“, und subjektiv „A gefällt mir!“ etc., sondern hich werde dasi nur hsageni, wenn die Schönheit in der einen Hinsicht die in der anderen überwiegt, oder die Unschönheit gar selbst schön ist um der Erzielung einer hohen Gesamtschönheit willen. Wo aber keine Bevorzugung einen höheren Wert für eine Seite herausstellt, einen Überschuss sozusagen, da kann ich nur sagen: A würde mir gefallen, wenn b nicht wäre, oder würde mir missfallen, wenn a nicht wäre, und im Übrigen, in der einen Hinsicht ist es wirklich gefällig, in der anderen wirklich missfällig. Aber mit dieser „Hinsicht“ ist eine Einschränkung gegeben. Denn wenn auch das a selbst ein Gefälliges ist, so ist das A als das a habend zwar „insofern“ gefällig, aber dieses Gefälligsein ist „gehemmt“ durch das Missfälligsein hinsichtlich b. Die Wertung des A ist keine Summe zusammenhangloser, auf die Eigenschaften des A bezogener Wertungen, sondern eine Einheit. Der Wert des A ist Eins, und er ist Null, wenn die positiv wertgebenden Charaktere durch die negativen wertgebenden gehemmt, aufgehoben werden und umgekehrt. Und so ist auch das „erwünscht“ ein einheitlicher „Wert“ (wenn wir hier dasselbe Wort gebrauchen wollen, wir könnten sagen: dasselbe Gut), und darin müssen, wenn dieser Wert (wie wir das Wort „erwünscht“ normalerweise verstehen) hbestehti, alle negativen Wunschmotive so aufgehoben sein, dass in der Bevorzugung ein positiver Vorzug („Überschuss“) übrig bleibt. Bleibt ein negativer, so haben wir das „unerwünscht“. Stellt sich kein positiver oder negativer Vorzug heraus, so haben wir die Wunschunentschiedenheit, obschon nicht das adiaphoron in wünschlicher Beziehung. Es ist ein bestimmter Zustand der Wunschsphäre und ontisch das zu dieser Sphäre eigentümlich gehörige Neutrale (genauso wie zur Gefallens-
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sphäre der neutrale Punkt hgehörti, an dem positive und negative Wertgewichte sich die Waage halten). Das entspricht dem Zweifel in theoretischem Gebiet, wo alles, was positiv für und was negativ gegen eine „Annahme“ spricht, sich aufhebt. Insoweit ist alles in Ordnung und die Betrachtung, die wir angestellt haben, von Nutzen gewesen. Wir steht es aber mit der Rede von Neigungen, Tendenzen? Ich achte auf eine Gruppe von „Motiven“, sagen wir Urteilsmotiven, und „bin geneigt“ zuzustimmen; ich achte dann auf andere und bin nun geneigt, dagegen zu stimmen. Müssen wir da nicht unterscheiden: „das Für- das- ei ne-Sti m m en, -Sprechen“ der Motive s elbs t und di e Neigun g zu dem zusti mmenden Urteilen? Ebenso: Ich blicke auf die Momente des Gegenstandes, sie sind angenehm, und damit habe ich hinsichtlich des Gegenstandes Motive für seine Gefälligkeit. Ich bin in dieser Richtung blickend geneigt zum Gefallen am Gegenstand. Ich blicke in eine andere Richtung, die Missfälliges bietet, und nun fühle ich Motive, die für „missfällig“ stimmen, ich bin nun geneigt zum Missfallen am Gegenstand. Haben wir nicht wieder zu unterscheiden die Gefallens- oder Missfallensmotive und die Neigung zum Gefallen, zum Missfallen? Ebenso beim Wunsch. Ich bin des A-Seins nicht gewiss, denke an die und die schönen Folgen des A-Seins und sie stimmen für „erwünscht“. Ich bin geneigt, dass A-Sein als erwünscht zu finden, also zu wünschen, A möge sein. Ich blicke auf die anderen Motive, unschöne Eigenschaften des A oder unangenehme Folgen desselben, sie stimmen für „unerwünscht“, ich bin geneigt, negativ zu wünschen. Haben wir nicht abermals Unterschiede zwischen den Motiven und der Neigung? Am meisten und sprachlich ursprünglich redet man beim Willen von Motiven. Nehmen wir etwa den Fall einer Erwägung von Handlungsmöglichkeiten: Sie haben den Charakter freier Handlungen, freier Bewegungen und dgl. Die betreffenden Ereignisse realisieren – sei es als Ereignisse in sich selbst, sei es durch ihre Folgen – bald Gutes, bald Schlechtes. Je nachdem sind sie anders charakterisiert. Die einen stimmen für erwünscht oder vielmehr für praktisch seinsollend (als „Erreichbarkeiten“), die anderen dagegen bzw. für praktisch nichtseinsollend. Lebe hichi in diesen Motiven, so bin ich geneigt zu wollen, wenn in den anderen, zu fliehen. Also wieder sind sie Motive, auf die sich Neigung gründet, und Motiv und Neigung ist zweierlei.
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In allen Fällen sind die Motive das, was „geneigt macht“. Sie sind Motive nicht für wirkliches Urteilen, aber eventuell doch für wirkliches Urteilen. Die Neigung mag in wirkliches Urteilen übergehen und dann ist dieses, so wie vorher die Neigung, motiviert. Und ebenso überall. W as s ind nun die M oti ve? In phansischer Hinsicht sind sie die zu den betreffenden Aktklassen eigentümlich gehörigen motivier enden A kt e; also in den Fällen expliziter Motivation, die wir im Auge hatten, etwa beim Urteil, Erinnerungen an vergangene Erfahrungen, beim Gefallen die Gefühlsakte, die sich auf Momente oder Teile beziehen usw. Von diesen motivierenden Akten haben wir den Charakter der Motivation zu unterscheiden innerhalb der Einheit der Motivation, der den motivierten Akt kennzeichnet. Ist das die Neigung? Überlegen wir. Die Erinnerung an frühere Erfahrungen oder, sagen wir einfacher und besser, ein bestimmtes oder allgemeines Erinnerungsbewusstsein motiviert deutlich die Anmutung (Vermutung) des Eintritts eines Ereignisses, etwa eines Gewitters: „Es dürfte Gewitter geben.“ Ich spreche es in Form des „problematischen Urteils“ aus, aber nur dann, wenn ich den eventuellen Gegenmotiven kein mindestens ebenso großes Gewicht beimesse. Dort auf der Seite sieht es ganz hell aus, der vorherrschende Wind kommt von der Seite etc. „Dass es Gewitter geben wird“, ist in Hinblick auf jene Motive in der Einheit der vorliegenden Motivation charakterisiert als „motivierte Möglichkeit“, als ein „Es mutet sich so an“, und in Hinblick auf die anderen Motive ist „Dass es kein Gewitter geben wird“ ebenfalls motivierte Möglichkeit. Diese Akte, deren ontische Korrelate diese „Möglichkeiten“ sind, sind die zur intellektiven Sphäre gehörigen Anmutungen. Andererseits, sofern wir die „Tendenz“ empfinden zu urteilen „Es wird Gewitter geben“ und zum Urteilen dann wirklich übergehend eben das charakterishtischei Erlebnis haben, einer Tendenz nachgegeben zu haben, sprechen wir von Urteilstendenzen und hvoni der Entspannung von Urteilstendenzen, dem „Nachgeben“, das im Urteilen sich vollendet. Also scheint es sich hier herauszustellen, dass wir ein drittes Glied haben. Wir haben einen motivierenden Akt, den motivierten (die A nmutung) und drittens die Tendenz zum entschiedenen Akt, even-
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tuell mit einem neuen Übergangsphänomen, dem der Tendenzentspannung. Das Problem ist hier, wie das Bewusstsein der „Möglichkeit“, der Anmutung, sich zur Tendenz verhält. Ist die intellektive Anmutung durch sich selbst Tendenz? Aber was heißt das „durch sich selbst“? Es kann heißen, „Tendenz“ ist etwas, was zu jederlei Aktsphäre wesentlich gehört als eine zu ihr zu rechnende Möglichkeit, als ein modaler Unterschied, der sich in allen Aktklassen findet. Oder demgegenüber könnte es heißen: Tendenz sei etwas, das nur zu einer bestimmten Aktklasse, nur zu den „Gemütsakten“ gehört und sich nur mit den intellektiven Akten verbindet. Es ist hier aber sogleich noch einiges anzumerken. Natürlich überträgt sich, was wir unterschieden, auch auf die anderen „Anmutungen“ in den anderen Klassen. Dabei aber braucht die Modifikation keineswegs explizit vorzuliegen. Es kann sein, dass ich aufgrund deutlicher Erfahrungsmotive sage: Es dürfte Gewitter geben. Es kann aber auch sein, dass ich es sage und nicht mehr die Erfahrungsmotive gegenwärtig habe oder deutlich abgehoben habe. Es kann sich mir ein Satz im Charakter der Anmutung darbieten, ohne dass ich recht weiß, was mich da motiviert. Vielleicht bin ich auch ganz unfähig, es selbst bei Nachdenken anzugeben, und finde ich dann motivierende „Gründe“, so werde ich vielleicht außerstande sein zu sagen: Die waren es, die die Anmutung begründeten. Ebenso mag es auch bei mehrfältigen und miteinander streitenden Anmutungen sein. Sie haben ihre „Stärke“, so etwas wie eine größere und geringere Intensität, und daraufhin bevorzuge ich, ohne einsichtige „Gründe“. Müssen wir sagen, es stecke im Gesamtbewusstsein jeder Anmutung notwendig implicite eine Motivation, wenn sie auch nicht explizit darzulegen sei? Es ist dieselbe Frage, ob in jedem Urteil notwendig (nämlich in dem Gesamtbewusstsein, aus dem das Urteil hervortritt) irgendwelche Motivationen liegen, wenn auch verworrene. Es ist auch die Frage, was hier Implikation bedeutet. Man könnte sagen, bei jeder solchen Motivation ist der motivierte Akt eine Tendenz, und das ist analog wie eine Kraft. Sie hat eine Richtung-auf, aber auch einen Ursprungspunkt. Die Ursprungspunkte sind die motivierenden Akte, und diese können vollzogen sein, ohne dass in ihnen das Meinen lebt, sie sind bewusst, aber eventuell in dunkler Weise, nicht nur leer, sondern auch „unbewusst“.
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Im Zusammenhang damit könnte man die Ansicht vertreten, dass alles „ blinde U rt eil en “ U rtei l en aus bloßer Neigung sei. Solche Urteile sind sozusagen ungehemmte Wege, blinde Neigungen. Hemmen sich „im Unbewussten“ entgegengesetzt tendierte Neigungen mit Überschuss hauf der einen Seitei, so verbleibt eine Anmutung. Anmutungen können reine sein, sofern sie motiviert sind ohne Gegenmotive. Aber dann sind sie nicht mehr Anmutungen, sie sind eo ipso Entschiedenheiten. Wo aber Anmutung gehemmt wird, da ist es anders. Oder vielleicht besser: Von motivierenden Punkten aus strahlen Tendenzen. Fehlt es an Gegentendenzen, so fand ein Nachgeben statt, und wir haben entschiedenes Urteil. Wo aber entgegengesetzte Tendenzen streiten, da verbleibt in „mechanischer“ Bevorzugung eine Tendenz, aber als herabgesetzte. Sie kann bei entsprechender Stärkedifferenz in Urteilsentschiedenheit übergehen, aber es ist ein Urteil mit „einigermaßen schlechtem Gewissen“, keine reine Gewissheit. Besteht eine reine Gewissheit und werden nachträglich Gegentendenzen wirksam, so wird sie unrein und eventuell von der reinen Gewissheit weit entfernt, hdann erhält sie deni Charakter bloßer Vermutung, ja bei Übergewicht der Gegentendenz hden Charakteri der negativen Vermutung und in positiver Hinsicht hdeni bloß schwacher Möglichkeit. Das Probl em i st dann wei ter, wie all das wieder abhängt von den entsprechend en Vorkommnissen in der s chlichten Vors tel lun gssphäre. Jede Dingwahrnehmung, meinte ich, ist ein „Komplex von intentionalen Strahlen“, das wäre ein Komplex von „Tendenzen“, unterschieden durch ihren „Sinn“, ihre Richtung, und je nachdem voll oder leer. Sie verschmelzen zu Einheiten, in denen Einheit des Sinnes, der gegenständlichen Richtung waltet. Sind sie alle einig, treten nicht Gegentendenzen auf, die miteinander unverträglich einen Streit in der gegenständlichen Richtung begründen, so sind sie alle Gewissheiten und begründen Einheit der Gewissheit, d. i. Einheit der normalen Wahrnehmung (ebenso in der Erinnerung und Erwartung). Andernfalls begründen sie Zweifel, Vermutung für die eine Auffassung oder Entscheidung für sie mit Schwächung der Überzeugung, eventuell aber feste Gewissheit trotz des Widerstreits, sofern diese Gegentendenzen durch weitere neutralisiert werden. Der Zweifel geht eventuell über in Überzeugung: Man „überzeugt sich“, dass es so und so ist, sofern man eben Zeugen hat, die dafür aussagen und die
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Gegenzeugen Lügen strafen. Grade der Überzeugung in diesem Sinn: abhängig von dem Grad des Übergewichts der positiven Beziehungen etc. Wir sehen auch, wie das Phänomen der Bevorzugung in dieser Sphäre des noch blinden Urteilens und Vorstellens auftritt. Man folgt der größeren, stärkeren Tendenz uneinsichtig, eventuell nach vorgängigem Schwanken zwischen den verschiedenen Neigungen, nach vorgängigem Bewusstsein des Zweifels. Schließlich tritt etwa Entscheidung ein, entweder als Vermutung (also ohne Gewissheit) oder, indem der Neigung, die da als Vermutung bevorzugt ist, ihrerseits nachgegeben wird, Gewissheit, unter „Zurückdrängung“ der Gegenmotive. Das problematische Urteil drückt normalerweise eine Vermutung als solche Bevorzugung aus. Man stellt sich in der Bevorzugung auf den Boden der einen Neigung; diese ihrerseits führt eine Tendenz zur Gewissheit mit sich und der wird nachgegeben, was offenbar ein anderes Nachgeben ist als das in der Bevorzugung. Hier wird ja nicht bevorzugt. Mit all dem ist unser obiges Problem nicht gelöst, wie sich die „Tendenzen“ zu jenen motivierten „Neigungen“ verhalten, nämlich ob die motivierten Intentionen in sich Tendenzen sind oder so etwas wie Gemütstendenzen tragen, um derentwillen sie Neigungen zu Urteilen, zu Wünschen etc. sind. Infolge der letzten Betrachtungen spreche ich von Intentionen, Vor s tellungs int enti on, prädi kati ve Intention, Willensintention, W uns chint enti on. Das kommt ja davon her, dass alle die Mot ivati onskom pl exe, di e wi r analysieren, auf Motivations s tr ahl en zurü ckführen, di e sich voneinander unabhängig zeigen, nämlich durch den Zusammenhang sich miteinander einigen oder gegeneinander motivieren und so das Fundament für Z w eifel, Verm utu ng (ei ne Bevorzugung) und für Gew is s heiten werden und für die Analoga in den Gemütsgebieten. Nun möchte man sagen: Haben nicht im Allgemeinen Akte jeder A r t den C har akter vo n H andl ungen oder möglichen freien Handlungen? Zeigt sich das nicht darin, dass ich Akte suspendier en (wie ich sonst Handlungen suspendieren) und wieder ihnen nac hgeben kan n? Si nd si e ni cht Spontane itäten? Und können demnach nicht auf sie Tendenzen bezüglich sein, die eben den
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Charakter von Willenstendenzen haben? Doch damit wird man sich nicht leic ht z ufr ieden geben können. Überlegen wir. Tendenzen haben wir im Vorstellungsverlauf, den wir einen assoziativen nennen. Eben vom Schlaf erwacht, sind meine Gedanken in einem lebhaften Fluss. Ich will arbeiten, aber die Gedanken haben die Tendenz, in jenem erregten assoziativen Zusammenhang fortzulaufen. Ich kann diesen Tendenzen nachgeben oder, wenn auch mit Mühe, eine Zeit lang oder dauernd widerstehen und eine andere Gedankenbahn willkürlich einschlagen. Wiederholt geht es nicht, widerwillig gebe ich jenen Neigungen nach. Ich fühle mich dann unfrei. Fehlte der Arbeitswille, so würde ich mich im Fluss und Ablauf der Assoziationen gar nicht unfrei, sondern im Gegenteil frei fühlen. Der Gedankenreihe haftet nichts von einem „muss“ an. Es ist nicht so wie bei einer kausalen Reihe, die sich mir als kausal intuitiv präsentiert und hbei deri ich das Bewusstsein habe: Jetzt ist das, nun muss das kommen. Ich bin ja auch nicht den Gedanken, den Akten zugewendet, sondern lebe in ihnen, und in den Sachen finde ich eben nichts von Notwendigkeit. Ich träume und lebe im Traum. Ich spaziere in Berlin auf der Friedrichstraße, jetzt sehe ich die Menschen, dann jene, ein Wagen rollt vorbei, Zeitungsträger rufen aus usw. Ich erlebe das und jenes Abenteuer. Das ist alles Quasi-Faktum, es hat nichts von notwendiger Folge. Und reflektiere ich auf die Phantasien selbst, so mag ich „wissen“, dass da Regelungen bestehen, aber ich sehe ihnen selbst keine Notwendigkeit an. Und hat da nicht der Wille Einfluss? Ich träume, ich gehe durch die Friedrichstrasse. Sie steht als eine Erinnerungseinheit vor mir, wenigstens dem Allgemeinen nach. Ich kann weitergehen in der Phantasie, ich entschließe mich jetzt zu phantasieren, da an der Marienstraßenecke einzumünden, dann wieder umzukehren usw. Da, jemanden will ich ansprechen, ich gehe mit ihm, ich mache einen Luftsprung usw. Das kann ich alles. Jetzt habe ich nicht nur Wollungen, die selbst zum freien Abfluss der Phantasie gehören, als Phantasiewollungen und Handlungen, die phantasierte sind, sondern ich habe aktuelle Wollungen, die auf die Phantasien, auf die Direktion der Phantasiemodifikationen von all diesen (phantasierten) Wahrnehmungen, Gefühlen, Wollungen gerichtet sind. Mag die Einheit solcher Abflüsse unter welchen Regeln immer stehen, mag es psychische Kausation geben: Es verhält
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sich hier so wie bei meinen Leibesbewegungen. Physiologisch und physikalisch stehen sie unter Gesetzen, aber ich kann sie dirigieren, meine Leibesbewegungen: meine „willkürlichen“. In den Wahrnehmungsreihen, in denen sie sich mir darstellen und nur mir, und in den Empfindungsmannigfaltigkeiten, in denen sie nur für mich bewusst sein können, haben sie den Charakter von freien Handlungen, und ich kann sie frei im Voraus vorstellen und dann realisieren, ich kann sie mannigfach frei verändern, die Hand nach oben, unten, rechts, links bewegen usw.1 Genauso meine Phantasieerlebnisse. Sie mögen einmal von selbst ablaufen, das andere Mal kann ich dirigieren, mir willkürlich einbilden, dass das und das geschieht, dass ich das und das dabei denke und tue etc. Beiderseits haben wir einen Rahmen der Freiheit. Im einen Fall die Natur, in der meine Leibesbewegungen statthaben und darin Wirkungen setzen und der mein Leib selbst als Stück angehört, und andernfalls die ganz andere Existenz, welche die Phantasien nach „Assoziationen“ haben. Das eine Mal „wirkt“ der Wille in den Wahrnehmungszusammenhang ein, das andere Mal in den Phantasiezusammenhang. Und beide sind geregelt, und doch ist der erstere an gewissen Stellen (mein Leib), der letztere in weiterem Kreis nach Ablauf „frei“. Ich bevorzuge willkürlich von den sich erzeugenden Assoziationsreihen die eine. Ich halte willkürlich ein Glied fest, und es schließen nun neue Assoziationsreihen daran an. Ich bin aufmerksam in der Phantasie und nicht nur das, ich vollziehe den Willen, in der Phantasie hier aufmerksam zu sein. Und das spielt eine besondere Rolle, denn alle andere Wirkung des Willens ist durch diese auf das Phantasieaufmerken wohl vermittelt. In der Phantasie scheidet sich wieder Phantasie-Wirklichkeit und Phantasie-Phantasie. Ich phantasiere und lebe so gleichsam in dem „Spaziergang unter den Linden“, nun kommt mir der Einfall eines Luftsprunges, den ich aber doch nicht „mache“, sondern mir erst einbilde, und nun sage ich mir jetzt: Den will ich in der Phantasie „wirklich“ machen, und schon mache ich ihn in der Phantasie und phantasiere dann weiter in der schlichten Reihe, phantasiere mir etwa die Folgen etc. Es ist oft so, dass ein Phantasiertes zweiter Stufe ohne
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Doch kann hesi auch sein, dass ich reflexmäßig bewege, ohne meinen Willen.
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weiteres in ein solches erster Stufe übergeht. Hier aber mache ich es willkürlich. Ich kann auch die Willensneigung haben, so zu verfahren, und eine andere kann dagegen auftreten, und ich entscheide mich für ein anderes, ich folge der anderen Regung: Das wäre hübscher, ich tanze lieber etc. Betrachten wir nun die weiteste Sphäre der Akte, der wirklichen Akte. Der Wille hat auf sie Einfluss. Auf Wahrnehmungen: Ich kann den Lauf der visuellen Wahrnehmungen bestimmen, ich blicke weg, drehe den Kopf herum etc. Ich kann damit allerdings nicht machen, dass ich beliebige Wahrnehmungen habe, aber den Lauf der Wahrnehmungen kann ich ändern. In ganz anderer Weise, wenn ich Hände und Füße etc. bewege, stoße etc. und damit nicht nur visuelle Änderungen, sondern „Wirkungen in der Außenwelt“ erzeuge. Jede willkürliche Bewegung, auch die des Auges, ändert etwas in der Außenwelt: Die Lage der Leibesglieder ist eine andere geworden, ihre Form etc. – aber es ist ein Unterschied in phänomenologischer Beziehung zwischen Augenbewegungen etwa und Handbewegungen – und dazu die „Wirkungen“, die damit weiter geübt werden. Ebenso hdiei Direktion der Erinnerungen. Die Erinnerungswelt ist eine im Ganzen feste. Aber ich kann den Lauf der Erinnerungen dirigieren. Sie bilden eine Sphäre der Freiheit, eine Sphäre von willkürlichen Handlungen, von möglichen, denn nicht immer greift das Wollen ein. Ich kann willkürlich aussagen, willkürlich prädizieren, schon willkürlich die den Prädikationen zugrundezulegenden Synthesen bilden. Zunächst hätte ich etwas sagen müssen über willkürliche Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit spielt für den Willen überall ihre Rolle. Ich kann freilich im sekundären Bewusstsein Wollungen vollziehen. Ich denke jetzt nach, die Brille sitzt nicht gut auf der Nase, ich setze sie zurecht – willkürlich. Aber meine Aufmerksamkeit im speziellen Sinn, mein Interesse, meine thematische Beschäftigung liegt in wissenschaftlicher Richtung. Bemerkt ist das störende Gefühl in den Augen oder auf der Nase wohl worden. Bemerken ist da überall vorausgesetzt. Was ist nun wi ll kürl i che Aufm erksamkeit? In der thematischen Zuwendung kann ich leben ohne Willen, ich kann aber auch thematische Zuwendung mit Willen üben; der Wille mag welche Motive immer haben, außerhalb der betrachteten Sachen liegende, ich kann das Zuwenden wollen, und zwar als dauerndes Zuwenden, als
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Festhalten des Objekts im Aufmerken, als Festhaltung des Themas (des gemeinten Objekts als solchen). Dieses Thema kann ein in der Phantasie Vorgestelltes oder leer Gedachtes sein. Ich kann nun dadurch den Gedankenlauf der Erinnerung dirigieren, ich kann auch mit der willkürlichen thematischen Zuwendung und mit willkürlicher Beziehung auf die Einheit eines Gesamtthemas willkürlich das zum Subjekt, das zum Prädikat machen, die und die Beziehungen speziell ins Auge fassen und dabei willkürlich eben das Beziehen üben etc. Ich kann nicht beliebig machen, dass mir ein S, das ich wahrnehme und hdasi in der prädikativen Gliederung als p dasteht, nicht als p dasteht, es sei denn, dass ich es verändere in willkürlicher Handlung. Aber ich kann willkürlich diese prädikative Gliederung vollziehen und willkürlich das Aussagen selbst mit seinem begrifflich Fassen. Ich brauche nicht auszusagen aufgrund der Wahrnehmung, und habe ich die Wahrnehmungen, so kann ich willkürlich aufgrund dessen Verschiedenes aussagen, obschon nicht Beliebiges. Natürlich nicht immer prädiziere ich im Bewusstsein eines wirklichen Handelns, und nicht immer ist es wirkliches Handeln. Aber darum ist doch das Urteilen eine Sphäre der Freiheit. Wie steht es nun mit den Urteilsenthaltungen? Würde man darunter verstehen, dass ich nicht prädikativ zu gliedern, unter Begriffe zu bringen, auszusagen brauche, so ist das richtig, dass dergleichen in weitem Maße möglich ist. Ebenso, dass ich, statt das Urteil zu fällen oder nachdem ich es eben gefällt habe, mich willkürlich anderem zuwenden, das und jenes wahrnehmen, andere Urteile fällen kann etc. Aber das sind nicht Urteilsenthaltungen im normalen Sinn. Darunter versteht man das Dahingestelltseinlassen. Kann ich, wo ich, etwa aufgrund einer Wahrnehmung, aufgrund einer Beweisevidenz, Gewissheit habe, beliebig es machen, dass mir der Sachverhalt wirklich als nicht entschiedener dastehe? Ich kann willkürlich mich auf den Boden der Unentschiedenheit stellen; nämlich ich kann annehmen, es sei nicht entschieden, dass S p sei. Lassen wir zunächst dahingestellt, ob S p sei, und erwägen wir, was dafür sprechen mag. Oder lassen wir es dahingestellt, machen wir davon keinen Gebrauch für das Weitere, wie wenn ich z. B. in der ganzen Phänomenologie die Existenz der empirischen Welt dahingestellt sein lasse. Was liegt da vor? Der Wille, in den betreffenden Zusammenhängen das entschiedene Urteil nicht zu fällen und jedenfalls, wenn ich es tue, es auszuschalten bzw. nicht
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eintreten zu lassen in die Einheiten von Begründungszusammenhängen, auf die ich es abgesehen habe. Das Urteil hzui fällen und von dem darin gesetzten Sachverhalt als einer Wahrheit im Zusammenhang „Gebrauch zu machen“, ist zweierlei. Der Sachverhalt ist nicht unentschieden und steht nicht als zweifelhaft da, aber hichi behandle ihn insofern als unentschieden (ohne dass ich das hypothetisch annehmen müsste), als ich willkürlich von der Entscheidung keinen Gebrauch mache. Wie ist es, wenn ich einer Neigung oder dem Vorwiegen einer Neigung, d. h. einer Vermutung folge? Zunächst, wenn mir von zwei Anmutungen die eine als kräftiger erscheint, als solche dasteht, dann hat sie ihren Vorzug, und daran kann ich zunächst nichts ändern. Ich kann aber wieder „die Sache unentschieden lassen“, mich „der Entscheidung enthalten“, nämlich in dem Sinn, dass ich das objektive Urteil über die Wahrscheinlichkeit etwa nicht fälle, davon keinen Gebrauch mache und mir die Begründungsverhältnisse näher ansehe. Ich bin vielleicht schon so weit gegangen, dass ich der Neigung zum behauptenden, gewissen Urteil nachgebe. Nun ziehe ich zurück: Ich denke etwa an die logischen Folgen solcher leichtfertigen Urteilsweise. Damit sind neue Motive hereingezogen, infolge deren ich das eben gefällte Urteil preisgebe. Der Wille hat hier Einfluss insbesondere in der vagen Urteilssphäre, indem die Aufmerksamkeit auf das Begünstigende gelenkt und das die entgegengesetzten Tendenzen Bevorzugende missachtet wird. Und so kann ich mit einiger Willkür einer Neigung nachgeben (zumal wenn sie ihre Gemütsvorzüge hat, die es eben bewirken, dass die eine Seite „mehr zu Wort kommt“ und hdassi die Aufmerksamkeit auf die andere Seite und das sie Begründende und sonst wie Stärkende abgestoßen wird). Ebenso kann ich willkürlich die vollzogene Entscheidung wieder aufheben, die Gegenmotive stärker hervortreten lassen. Doch vielleicht kann man wirklich sagen: In der vagen Sphäre kann ich ein Urteil wir kl i ch suspendieren, ich kann jede Sachlage „in Frage stellen“. Das Suspendieren, der Charakter der Urteilsaufhebung, ist dann der Gegensatz zur Urteilshandlung. So wie ich sonst eine Handlung vollziehen und eine Handlung suspendieren kann (und damit den Handlungswillen suspendieren), so hier das Urteilen und den Urteilswillen. Aber allerdings ist nicht jedes Urteilen Urteilen-Wollen und eigentliches Handeln. Aber ich kann ja auch
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heran, sie zu betrachten. Es kann eine Hemmung dazwischen treten und ich dann willkürlich tun, das fiat setzt dann ein. Ich verderbe mir den Appetit, gleichwohl: fiat. Ist di e Nei gung, aus der hier das Tun her vorgeht und das hi er di e Rolle des Willens spielt, s elbs t ein Modus des Wi l l ens? Ferner, die Neigung geht auf Lustbringendes, Gefälliges. Wie ist es in unserem Fall? Sollen wir sagen, ich fühle mich zu dem Urteilen gedrängt, es zieht mich dahin, dieses Urteilen hat einen Charakter der Schönheit, der Gefälligkeit etc.? In gewissen Fällen wohl. Wo ich wünsche, dass etwas sei, da mag das Urteil selbst und wird es einen angenehmen Charakter haben. Aber wie ist es bei der Unmasse von vagen Urteilen, wo ich einfach der Neigung gemäß urteile? Man wird etwa sagen: Ausschalten müssen wir die Fälle, wo einfach geurteilt wird im Sinn der mannigfachen und unbestrittenen Urteilsintentionen. Da haben wir zwar Intenti onen, aber wir haben nicht er s t N eigungen, denen nun erst Folge geleistet wird. Ebenso bei Wünschen, Wertungen, Wollungen. A nder s , wenn wir kl i che Nei gungen zu Urteilen vorangehen, gerichtet auf mehr oder minder deutlich vorgestelltes Urteilen (ebenso Wünschen, Werten etc.), und denen nun Folge geleistet oder nicht Folge geleistet wird. Da kann man wohl die Ansicht vertreten, dass hier Gefühle maßgebend sind wie bei jedem Langen und Wollen. Es hängt ja auch von der vorherrschenden Gemütsstimmung ab, wie ich mich in solchen Fällen verhalte, falls nicht etwa ein besonderes Interesse an den Sachen sein Gefühl auf die Beurteilung ausstrahlen lässt. „Es wird Gewitter geben!“ „Das passt mir gerade, ich bin ohnehin zu dem Ausflug nicht geneigt, den ich anderen zuliebe mitmachen wollte!“ Oder, es wird Gewitter geben, ich bin gerade in schlechter Stimmung und bin geneigt, alles, was sie nährt, zu bevorzugen. Und das alles aufgrund von einigen Anzeichen, die sonst eine schwache Neigung zur Annahme, aber keine wirkliche Annahme (kein Folgeleisten dieser Neigung) mit sich bringen würden.
Nr. 7 h Di e Wi ll ensri chtung auf Wahrheit. Denke n al s ei ne Tätigkeiti1
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Im Denken geht der Wille durch Wahrnehmungen, Vorstellungen, Ausdrücke etc. hindurch. Das Denken terminiert in seinem Erfolg, in dem gesuchten „So ist es“ oder „Also, so ist es“. Sind die Wahrnehmungen, Vorstellungen etc. die Mittel? Wenn ich einen Besuch machen will, so stehe ich auf, ich hole mir den Hut und Stock usw. Das sind in der ausführenden Handlung die Mittelhandlungen. Wenn ich eine strittige Theorie entscheiden will, so erkenne ich als geeignetes Mittel ein gewisses Experiment. Seine Ausführung ist also eine Mittelhandlung. Hierbei vollziehe ich Wahrnehmungen, Phantasievorstellungen, Denkakte etc. Sind sie Mittel? Es sind objektivierende Akte. Blicke ich auf diese objektivierenden Akte hin oder lebe ich nicht vielmehr in ihnen? Sind die objektivierenden Akte Handlungen in dem Sinn wie die Vorgänge des Hutergreifens und dgl. im anderen Fall? Natürlich, jedes Wollen, Handeln beruht auf objektivierenden Akten. Aber beim BesuchWollen und so bei jeder äußeren Handlung blicke ich nicht auf diese Akte hin (ich vollziehe keine Reflexion), sondern auf Vorgänge, die die Handlungen ausmachen. Ich will wissen, wie die Sache wirklich ist. Ich will die Sache erkennen. Also das Erkennen ist das, worauf der Wille gerichtet ist, und auf den Denkprozess als Handlung bin ich gerichtet, zuletzt und durch die ganze Handlung hindurch auf den Erfolg, die Erkenntnis. Nun scheint es, dass wir im Denken, z. B. im Beweisen des hSatzes desi Pythagor as, nicht reflektiv gerichtet sind auf intellektive Akte, sondern sachlich hgerichtet sindi. Wir beweisen und leben im Beweisen. Voraussetzung: ein rechtwinkliges Dreieck sei gegeben, ein beliebiges rechtwinkliges Dreieck, über dessen Seiten Quadrate errichtet sind. Angenommen, es sei A, B, C ein rechtwinkliges Dreieck,
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hWohl 1909/10.i – Gut. Nur lösen sich alle Schwierigkeiten, wenn ich anerkenne, dass jedem Akt sein ontisches Korrelat entspricht und so dem Akt der Evidenz die Selbstgegebenheit als solche.
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über dessen Seiten etc., dann können die Verbindungslinien m, n, p gezogen werden, es entstehen die und die Dreiecke, es bestehen dann die und die Kongruenzen zwischen den Dreiecken. Und nun folgt S1 und S2 und daraus S3 und schließlich: Also muss das Quadrat über der Hypotenuse … Bin ich da nicht durchaus objektiv gerichtet? Ich sage und schreibe „Es ist das und das gegeben, dann ist das“ und schließe: „Also ist das Quadrat über etc.“ Wo reflektiere ich da auf die Urteile als Akte? Ebenso beim Experiment. Ich lebe in den Wahrnehmungen, in den Vorstellungen, Urteilen etc. Ich achte dabei auf die äußeren Hantierungen, auf die Waage und mein Abwägen etc., und schließlich hsage ichi „So und so ist es, das widerspricht der Theorie, also sie ist falsch“. Und mein Ziel ist erreicht. Ganz sicher, ich bin objektiv gerichtet im Beweis. Sähe ich nicht auf die Bedeutungen, Sachverhalte, Gründe und Folgen hin, so würde ich ihre Zusammenhänge nicht verfolgen können. So wie ich, wenn ich gehe, wenn ich eine Bergspitze erreichen will, doch beständig auf den Weg und das Ziel hin gerichtet sein muss, darauf sehen muss. Andererseits will ich nicht den Weg und das Ziel, sondern ich will das Ziel erreichen, ich will den Weg gehen. Primär achte ich durchaus auf den Weg und nicht auf mein Muskelanspannen etc. So ist der Bedeutungszusammenhang und Sachverhaltszusammenhang mein Erkenntnisweg. Ich gehe diesen Weg und erreiche mein Ziel, indem willentlich die Wahrnehmungen, Vorstellungen, Urteile etc. ablaufen, in denen dieser Weg zur Gegebenheit kommt. Aber habe ich dort nicht den Unterschied zwischen Weg und meinem physischen Gehen, Gliederbewegen? In der Einheit der äußeren Erscheinung habe ich den Weg als im Gehen durchlaufenen, das Ziel, dem ich mich im Gehen annähere. Das ist die einheitliche Handlung; darin bevorzugt der Weg als das Schritt für Schritt „zu Betretende“, das, worauf ich meine Schritte neu und neu setze und wodurch ich im Raum in der bestimmten Wegrichtung weiterkomme. Aber die Füße, das Sich-Bewegen der Füße, das Aufsetzen derselben auf den Boden, das ist alles mit in der Wahrnehmung, ist Wahrgenommenes. Dementsprechend hätte ich im anderen Beispiel das Ablaufen des Beweises: „Das ist und somit ist das usw.“ Das ist eine zeitliche Reihe. Sind aber die Bedeutungen, die geurteilten Sachverhalte, nicht unzeitliche Einheiten? Und weiter: Wenn ich diesen Erkenntnisweg
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gehe, ihn betrete, was ist hier das Gehen, das Betreten? Das Erzeugen der Sprachlaute, der Schriftzeichen und dgl.? Aber das reicht doch nicht hin. Zu den Sätzen gehören auch die Ausdrücke und beide werden, wenn von „dem“ Satz gesprochen wird, in idealer Objektivität genommen. Betrachten wir noch einmal das Beispiel des willkürlichen Gehens. Ich sehe vielleicht die lange Straße vor mir, den ganzen Weg. Ich will aber den Weg erst „machen“. Nämlich jetzt bin ich hier, aber ich will der Reihe nach an immer neuen Wegpunkten sein, und schließlich – dazu dient das Gehen, das Immer-wieder-an-neuen-Punktenwillentlich-der-Reihe-nach-Sein (-Seinwerden), als Mittel – will ich „am Ziel sein“, also enden mit dem „Gottlob, nun bin ich da, wo ich sein wollte“. Was entspricht dem im anderen Fall? Ist es ein gelernter Beweis, den ich nur neu führen soll, so habe ich die voraufgehende Vorstellung dieses „Weges“. Das „da sein“ ist der volle eigentliche Vollzug des betreffenden Urteils, des betreffenden Beweisschrittes, und am Ende des Weges bin ich in der Einsicht: Also muss Z sein. Ich habe gewissermaßen Sehnsucht. Wenn ich Sehnsucht habe nach meiner Vaterstadt, so erfüllt sich diese Sehnsucht, wenn ich hinreise und sie sehe. Aber sehend bin ich da doch der Vaterstadt zugewendet, und sehend freue ich mich, habe ich mein Willensziel erreicht. Ich strebe aber auf den „Schlusssatz“ hin. So, wie wenn ich mich interessiere für eine Landschaft oder eine Straße in einer fremden Stadt: Ich will sie kennenlernen. Ich gehe Schritt für Schritt weiter, verfolge mit den Augen die Gegenstände in ihrer Reihe und will immer weiter, immer Neues kennenlernen. Ich bin hier nicht „gerichtet“ auf die „Phänomene“, sondern haufi die Sachen. Der Pythagorei sc he Lehrsatz ist etwas Objektives und ist nicht das, was ich will. Er unterliegt keinem Willen, ebenso hnichti der ganze Beweis, verstanden als ein Zusammenhang von Gründen und Folgen. Der besteht, ob ihn irgendwer denkt und erkennt oder nicht. Aber der Beweis kann mir gegeben sein, und ihn zur Gegebenheit hzui bringen, Schritt für Schritt, das ist meine Willenshandlung. Aller Wille geht auf Realisierung, also in gewisser Weise ist jeder darauf gerichtet, zur Gegebenheit zu bringen. Ja, in gewisser Weise! Will ich jemandem eine Ohrfeige geben, so fordert die Realisierung des Willens als Endglied: Wahrnehmung der vollzogenen Ohrfeige.
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Aber der Wille ist nicht auf die Wahrnehmung als Willensziel gerichtet (sie fundiert die Willenserfüllung, mit der das Ziel erreicht ist, ist aber nicht selbst das Ziel). Das Ziel ist Hauen der Ohrfeige. Dagegen handelt es sich in unserem Fall gerade darum, dass die Gegebenheit 5 das Willensziel ist, das Evidenzbewusstsein, das Bewusstsein, in dem der Beweis vollzogen ist oder das „Vollziehen“ des Beweises (in evidenter Weise). Das zu Überlegende dabei ist aber, dass das Gegebensein nichts ist, was ich konstatieren muss durch „Reflexion“. Oder was soll 10 Reflexion besagen? Nun, das Sehen vollziehend, weiß ich, dass ich sehe, und dass ich sehe, darauf kommt es an. Das Erlebnis „S ist P!“ ist als Evidenz anders charakterisiert als ein beliebiges „S ist P!“1 Wiederhole ich den Beweis, so habe ich wiederholte hErlebnissei „S ist P! Also ist Q R etc.“. Einmal sage ich, ich habe immer neue 15 Erlebnisse, und dann, die Sätze sind dieselben, der Beweis ist ein und derselbe etc.
1 Die Evidenz hat eben ontisch ein anderes Korrelat als die bloße Meinung, das „Selbstgegebene als solches“.
B. ZUR PHÄNOMENOLOGIE DES WOLLENS UND DER HANDLUNG
Nr. 8 h Ana ly se n zur T r i e bha n d l u ng , zu u nte rschi e dl i c he n Fä l l e n d e s e in em T ri e b F ol g e l e i s t en s s o w i e zu m fre i e n un d unf r e i e n W o l l eni1
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Ideomotorische Handlungen, reagierende, und Triebhandlungen: keine „eigentlichen“ Willenshandlungen. Bei ihnen sei „keine Spannung eines Willensbewusstseins“ vorhanden.2 Und ebenso bei den unmittelbaren „Tri e bh a n dl u ng e n“. Hier sei es das Begehren, das die Handlung auslöse (nicht wie bei den ideomotorischen Handlungen eine Vorstellung). Ein Begehren liegt vor, das sich ohne vorgängige Absicht, die im Bewusstsein nachweisbar wäre, befriedigt. Eine Triebhandlung: Müde und durstig kommt der Wanderer an eine Quelle; ohne weiteres geht er infolge des Triebes hin und trinkt. Id eo m o t ori s ch: Tanzen nach dem Takt, Schreiben nach Diktat etc., Klavierspielen. Unmittelbare Triebhandlungen sind also charakterisiert durch das Moment des Begehrens. N u n k önn e n me h re r e Be g ehru ng e n m i te in a n de r s t re it e n. Eines erweist sich als das stärkere, und es kann die Handlung „ohne weiteres“ im Sinn des momentan stärksten Begehrens (Triebes) erfolgen, ohne dass ein neues Bewusstseinsmoment eintritt. Es gibt dann aber auch Fälle, wo zwar ein stärkstes Begehren vorhanden ist und uns bewusst histi, und wir ihm doch nicht folgen, sondern ihm widerstehen. Wir „wollen“ ihm nicht folgen.
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Wohl Anfang 1910. – Anm. der Hrsg. Else Wentscher, Der Wille. hVersuch einer psychologischen Analyse, Leipzig und Berlin, 1910.i 2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 245 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7
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Lotz e wird hvon Wen tscheri zitiert: „Was wir Trieb nennen, ist nicht ein Wollen, durch welches wir den Körper lenken, sondern eine Wahrnehmung seines Leidens und der unwillkürlich in ihm entstehenden Bewegungen. h…i Nur da sind wir überzeugt, es mit einer Tat des Willens zu tun zu haben, wo in deutlichem Bewusstsein jene Triebe, die zu einer Handlung drängen, wahrgenommen werden, die Entscheidung darüber jedoch, ob ihnen gefolgt werden soll oder nicht, erst gesucht und nicht der eigenen Gewalt dieser drängenden Motive, sondern der bestimmenden freien Wahl des von ihnen nicht abhängigen Geistes überlassen wird. … In dieser Entscheidung über einen gegebenen Tatbestand besteht allein die wahre Wirksamkeit des Willens.“1 Ich hatte das „Wollen“ so weit verstanden, dass es jederlei Handlungen, auch die „Triebhandlungen“, die ideomotorischen, umspannt. Ich meinte, dass auch jede Triebhandlung ihren Einsatz als „fiat“ hat und dass im Verlauf der Handlung nicht nur das Begehren sich befriedigt, sondern dass ein Willensmoment da ist, dem das „Ich folge“ entstammt. Denn nicht nur überhaupt entspannt sich das Begehren, befriedigt es sich, sondern es ist eine Handlung, ich „folge“ dem Begehren, gebe ihm nach, und ich tue es, ich begehre es nicht nur, sondern tue es, und d. i., ich will es, und „daran liegt es“, dass es geschieht. Ich dachte mir das Verhältnis zwischen diesem schlichtesten Wollen und dem Sich-Entschließen in einer Wahl analog wie zwischen dem schlichtesten Glauben und dem Sich-glaubend-Entscheiden, etwa aufgrund einer wissenschaftlichen Erwägung, die Grund für uns gibt. Freilich die Parallele zwischen Urteil (Glaube) und Wille war für mich ein Problem. Und zu erörtern ist dabei, ob ein urteilendes Entscheiden nicht, wie es D escartes ja wohl meinte, eigentlich ein willentliches ist und dgl. Nun kommen aber weitere Fragen. Wenn ich im unmittelbaren Wollen (im schlichten Erfüllen einer Begehrung, eines „Triebes“) lebe, so fühle ich mich in diesem Wollen, das unmittelbares Tun ist, frei. Andererseits sage ich: Ich folge dem Trieb widerstandslos. Der 1
Hermann Lotze, Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, Erster Band, Leipzig 1884 (4. Aufl.), S. 287 f. – Anm. der Hrsg.
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Trieb übt eine Kraft, der ich nicht widerstehe. Diese Rede weist auf mögliche andere Fälle zurück. Ich fühle den Trieb, den Drang, das Begehren, und ein anderes Begehren drängt mich nach einer anderen Richtung. Dem einen folge ich, aber „unfrei“, er zwingt mich, „wider Willen“. Etwas Schreckliches, Abscheuliches sehe ich. Ich muss hinsehen, ich kann nicht wegsehen. Ich möchte wegsehen, es stößt mich ab, drängt mich weg, und doch es zieht mich zugleich an und so stark, dass ich nicht anders kann. Ich fühle mich unfrei. Ich trinke den Wein, sein edler Geschmack lockt mich, es zieht mich an, ich folge. Aber ich fühle zugleich, eine innere Stimme sagt es mir, dass er mir schaden wird, ich fühle das „Ich soll nicht“, ein Drang zieht mich weg, stößt mich zurück. Aber ich folge ihm nicht; der anziehenden Kraft des Weines, seinem „Reiz“ kann ich nicht widerstehen. Solche Fälle sind zu unterscheiden von dem sonstigen „Kampf“ zwischen Trieben. Nämlich: Eine Gruppe von Fällen ist dadurch charakterisiert, dass mehrere Begehrungen, von denen die eine auf a, die andere auf b, die dritte auf c gerichtet ist und die nicht in kollektive Begehrung a und b etc. übergehen können, miteinander ringen. Ich bin zu Gast geladen und ein reich besetztes Buffet steht da. Ich soll jetzt essen, und ich will. Gegenmotive seien nicht da. Und nun kann ich jetzt nur eines essen, wenn auch nacheinander mehreres. Welches wähle ich? Ich durchlaufe die verschiedenen „Möglichkeiten“. Der Kaviar übt den stärksten Reiz auf mich. Ich folge ihm. Ich fühle mich darin nicht unfrei. Es ist kein Bewusstsein da des „Ich muss“ gegenüber einem abweisenden „Tue nicht!“. In den anderen Fällen aber liegt es so, dass ich dem Trieb „nachgebe“ mit „schlechtem Gewissen“ gegenüber einem „Tue das nicht!“. Jedenfalls liegt darin ein Unterschied: Dem Von-dem-Begehrten-als-Objekt-eines-positiv-Begehrenden-Angezogenwerden steht einmal gegenüber ein Davon-Abgezogenwerden in Form eines Hingezogenwerdens zu einem anderen Begehrungsobjekt. Das andere Mal steht dem gegenüber ein auf dasselbe Begehrungsobjekt Bezogenes Abgestoßenwerden. Das Schreckliche übt einen Bann auf mich, nämlich es drängt mich, hinzusehen. Andererseits ist ein Trieb da, ihm zu entfliehen. Der edle Wein lockt mich, ihn zu genießen. Ein dunkler Trieb (die „innere Stimme“, er wird mir schaden und die Besorgnis davor) sagt Nein und sucht mich vom Genuss abzuziehen.
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Das ist aber nur ein Anfang der Analyse. Denn fühle ich mich in jedem Fall unfrei, wenn ich einem „Gegenmotiv“ zu Trotz dem anderen Motiv „nachgebe“? Man könnte sagen: Wenn ich den Wein doch trinke, obschon ich „weiß“, dass sich unangenehme Folgen einstellen werden, so verschwindet der Charakter der Unfreiheit, wenn ich dem Weintrinken Folge leiste, sowie ich daran etwa denke, dass morgen ein freier Tag ist und dass freie Betätigung der Persönlichkeit, die schöne und heitere Geselligkeit, die der Wein fördert, Werte mit sich bringt, die höher zu schätzen sind als die üble Folge des Katzenjammers. Oder: das Hässliche, das ich betrachte, bringt eine Erweiterung meiner Erkenntnis mit sich, die ich als höherwertig ansehe denn die Peinlichkeit der negativen Gefühle, die ich da in Kauf nehme. Ich komme wandernd an einen schlechten Steg, der über das Wasser führt. Es zieht mich hinüber, und der bedenkliche Steg ruft sein Nein. Aber das Wasser ist seicht, höchstens werde ich ein bisschen nass, drüben ist es ja so hübsch, und ich gehe hinüber. In all diesen Fällen habe ich aber nicht mehr einfach ein Begehren, das mich zieht, demgemäß zu tun, und ein Fliehen, das von demselben Tun zurückstößt, und hauchi nicht einfach ein „Nachgeben“ dem ersteren: Hier sprechen wir von willenloser Hingabe an einen Trieb dem Gegentrieb zu Trotz. Vielmehr tritt jetzt als Neues eine „Überlegung“ ein und eine klare Bevorzugung aufgrund neuer Motive, welche den negativen Drang paralysieren. Anstatt dass Trieb und Gegentrieb verbunden da sind und nichts weiter erfolgt, als dass dem Trieb „Folge geleistet“ wird, unterbleibt jedes solches Folgeleisten. Der Trieb und Gegentrieb werden ihrem „Sinn“ nach auseinandergelegt und neue Motive tauchen etwa auf, das heißt, die Vorstellungen und Gefühle werden vereigentlicht, gewisse an die Realisierung sich knüpfende Folgen werden neu vorgestellt und bringen neue Begehrungen mit sich, und nun folgt die Bevorzugung entweder im Sinn des Triebes oder des Gegentriebes. Jetzt entscheide ich mich, aufgrund der „Überlegung“. Aber hat sich die Sache wesentlich geändert? Habe ich jetzt nicht nur einen komplizierteren Fall? Es sind mehrere Triebe auf den Plan getreten, und im Übrigen ist die Entscheidung als Bevorzugung wieder nichts anderes, als dass einem der Triebe, jetzt etwa einem aus Trieben komplizierten, „Folge geleistet“ wird. Ich sage einfach mein fiat und darin liegt nichts weiter als „Ich folge dem da“.
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Andererseits wird man antworten können: Einmal entscheide ich blind und das andere Mal sehend. Ich entscheide vernünftig, ich folge dem, was sich als das Bessere herausstellt. Die Gewichte pro und contra werden objektiv herausgestellt (was in Wahrheit für das eine und hwasi für das andere spricht) und objektiv abgewogen. Indessen, nicht jede Wahl ist eine vernünftige Wahl, mag es auch an sich schon vernünftiger sein, aufgrund einer Wahl zu entscheiden, als willenlos dem Zug des einen Motivs und ohne Überlegung nachzufolgen. Der wirkliche Unterschied liegt erst dann vor, wenn wir gegenüberstellen: einsichtig Entscheiden, einsichtig Wollen, und uneinsichtig Entscheiden, d. i. blind Wollen. Und ebenso haben wir den Unterschied einmal zwischen frei Wollen in dem Sinn des keinen Widerstand-, kein Nein-Fühlens, und unfrei Wollen, das ist Wollen und Tun gegenüber einem negativen Motiv (einem dagegen sprechenden Gefühls- und Begehrungs-Nein); andererseits frei Wollen im Sinn von klar, einsichtig Wollen und unfrei Wollen im Sinn eines uneinsichtigen Wollens. Das Ja, die Entscheidung ist dann eine vernünftige Entscheidung und an sich ein Schönes. Das Nein aber, das in Form von Gegenmotiven vorliegen mag, ist nun charakterisiert als unvernünftiges Nein. Im Übrigen gibt es verschiedene Stufen relativer Einsicht. Statt völlig blind zuzugreifen, lege ich mir meine Motive auseinander, ziehe neue Motive heran etc. Gehe ich darin auch nicht bis zum Letzten, zur wirklichen und letzten Auswertung, so ist schon ein partielles Begründen eben ein Begründen und gibt der Wahl den Vorzug einer gewissen Vernünftigkeit. Eine Frage: Ist schon das Festhalten eines Gegenstandes in der meinenden Vorstellung, das Aufmerken, das Meinen, sind all das schon Handlungen, nämlich geht von dem Vorgestellten (vor dem Aufmerken und Meinen) ein Reiz aus, ein Interesse, das einem Zuwendungstrieb Richtung gibt, so dass überall zugleich ein schlichtes Wollen zugrunde liegt als überall waltende ursprüngliche Spontaneität? Und wir unterscheiden „theoretisches Interesse“ und anderes Interesse. Wie weit erstreckt sich die Sphäre niedersten Wollens und die der ursprünglichen Spontaneität? Wieder eine Frage: Man unterscheidet „ohne weiteres“ befriedigendes, entspannendes Begehren, den sich befriedigenden Trieb der schlichten „Triebhandlung“ gegenüber dem bloßen Begehren, bloßen Wünschen. Ist etwa jedes bloße Wünschen ein durch Gegenmo-
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tive gehemmtes Tun, gehemmtes Begehren, gehemmt in seinem SichEntspannen? Aber was soll das für das Bewusstsein selbst besagen? Natürlich kommt es da auf die phänomenologischen Unterschiede an, und da ist es eines, dass im Begehren ein Werden des Begehrten 5 vorstellig ist, das als „freies“ dasteht etc. Natürlich haben wir den Unterschied des bloßen Wünschens vom sich erfüllenden und sich willentlich in Folge des Wollens erfüllenden. In der Erfüllung, „die ohne mein Zutun erfolgt“, haben wir auch eine Entspannung des Begehrens, aber keine Handlung. Also, es ist schon klar, das geht 10 nicht. Ferner, von „Triebhandlung“ ist es besser zu sprechen, wo ein Trieb im eigentlichen Sinn, wie bei Hunger etc., vorliegt. Ist jede schlichte Handlung eine Triebhandlung? In diesem Sinn? Es klingelt und der Diener steht ohne weiteres auf und geht, die Türe hzui öffnen. 15 Es ruft jemand hinter mir und ich drehe mich ohne weiteres um. Ich erkenne den Rufenden als A und bin mit ihm böse. Ich drehe mich nicht um. Der Trieb (das allgemein Einem-Ruf-Folge-zu-Leisten) ist da, aber gehemmt durch das „Ich will nicht“. Sollen wir so weit von Triebhandlungen und Triebhemmungen sprechen?
Nr. 9 Z us amm enst el l ung der U nterscheidungen h bei der Anal yse der H andlungi1
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1) Die Handlung al s wi rkl i cher Vorgang der Natur. Eine Person vollzieht eine Handlung: einen psychophysischen Vorgang, der seine psychische Seite hat im Fühlen und Wollen des Handelnden und eine physische Seite im Naturvorgang, in der physischen Bewegung und Veränderung, die durch das Wollen „erzeugt“ wird. So bei physischen Handlungen, hbeii Handlungen in der äußeren Natur. Auch bei psychischen haben wir diese Doppelseitigkeit: nämlich einerseits das Wollen des Handelnden, andererseits das psychische Ereignis, das Psychische überhaupt, das er durch seinen Willen „erzeugt“. Eventuell haben wir auf Seiten des Erzeugten, auf Seiten der Tat, Physisches und Psychisches, wie wenn eine psychische Wirkung auf andere und in ihnen geübt wird. 2) Die Handl ung nach i hrem phänomenologischen Bes tand. I. In phansischer Richtung: A) das Voluntäre im Handeln, die Willensform; B) das Gefühlsmäßige, Gemütsmäßige im Handeln, die Motivationsform; C) die voluntäre Materie, die Vorstellungsunterlage, oder besser die intellektive, die Wahrnehmung und sonstige setzende Vorstellung. II. In ontischer Richtung: hA)i die voluntäre ontische Form der Handlung (im ontischen Sinn): Erzeugtwerden, schöpferisches Werden in der ganzen Verteilung; hB)i ihr motivierender Wert; hC)i die Materie der Handlung: der Vorgang. Das im Bewusstsein des Handelnden sich phänomenal konstituierende Faktum des äußeren Vorgangs z. B., welcher im Wollen erzeugt wird, abgesehen vom Charakter der Erzeugung.
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Jede Handlung ist ein Werdensprozess, in dem sich das Handlungsziel verwirklicht. Für die populäre Darstellung wäre auszuführen, es sei zu unterscheiden: 1) die Verwirklichung des Zieles als ein objektiver faktischer Prozess der Natur; 2) die Verwirklichung als im Bewusstsein des Handelnden sich phänomenierendes Faktum, z. B. bei der Handlung des Essens, das Essen als phänomenal sich konstituierendes, wahrnehmungsmäßig so und so erscheinendes Faktum; 3) das, was dieser Verwirklichung den Charakter der Handlung verleiht, nicht bloß Werden, sondern „schöpferisches“, willkürliches Werden zu sein. Unterscheidungen, die sich auf die Begriffe Weg und Ziel beziehen, so wie Zweck, Mittel. Bei einfachen Handlungen haben wir die zwei Fälle: Entweder 1) in der Tat ist kein Unterschied zwischen Weg und Ziel: Die Tat ganz und gar, das volle Korrelat des Handelns, ist Zweck, Selbstzweck. hOderi 2) es unterscheidet sich in der vollen Handlung, dem vollen Korrelat des Handelns, ein Werk und das Übrige der Handlung, die zu ihm in dienender Beziehung steht. Zum Beispiel ich mache eine Zeichnung: Die Bewegung, die ich vollziehe, erzeugt in jeder Phase die Zeichnung. Die volle Handlung ist diese objektive Bewegung und zugleich Zeichnung (Sich-Zeichnen). Hier deckt sich das Werden des Werkes und die volle Handlung; das Werk wird im Handeln stetig erzeugt. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass das Werk am Ende der Handlung, die keine es stetig aufbauende ist, steht und dass sich überhaupt das Ziel von dem bloßen Weg scheidet.
Nr. 10 hDas G efal l en aufgrund der Vors tel lung a l s G rundl age des Wunsches. Das Verhäl tni s von Wunsch und Wille i1 5
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Ich will spazierengehen, ich will zu Mittag essen, ich will an meine Aufgabe, ich will, was mir als gut erscheint, was mir gefällt. Der Spaziergang erscheint mir als ein „Befriedigendes“. Stelle ich wollend die E r füllung des W ol l ens, wünschend die Erf üllung des W uns c hes vor ? Stelle ich etwa vor, dass der Spaziergang zur Wirklichkeit wird, etwa gar infolge meines Willens, und dass infolge davon Befriedigung desselben eintreten wird? Natürlich nicht. Da kommt ja mehrfach der Wille, und immer der Wille zum Spazierengehen vor. So wie in der Vorstellung nicht das künftige Wahrnehmen oder ein mögliches entsprechendes Wahrnehmen oder ein Wahrgenommenes als solches vorgestellt wird, so wird im Wunsch und himi Willen nicht das Befriedigende als solches vorgestellt, es ist somit nicht als solches gewünscht und gewollt. Die Willensintention hat ihr Korrelat in der Willenserfüllung, in der Befriedigung. Ganz so wie die Vorstellungsintention in der Wahrnehmung. Im Wunsch ist keine Befriedigung vorgestellt, aber ihm liegt zugrunde ein Gefallen, und zwar ein G efal len aufgrund der Vorstellung, dass dies und jenes s ei. Es ist nicht ein Quasi-Gefallen, wie wenn ich einen anderen als Gefallenden vorstelle, während ich selbst dieses Gefallen nicht teile, sondern es ist ein Gefallen (ein wirkliches), das sich aber aufgrund der Vorstellung, dass die Sache sei, genauso gründet, wie sich aufgrund einer Wahrnehmung oder einer sonstigen setzenden Vorstellung, einer Überzeugung, Vermutung, dass S sei und so sei, die Freude gründet. In diesem Akt wird das Vorgestellte nicht als gefallend oder gefällig bloß vorgestellt – das wäre möglich auch in bloß symbolischer Form: Die Chinesen lieben gebratene Ratten. Es wäre wohl auch möglich in intuitiver Form: Ich stelle intuitiv einheitlich mit der vorgestellten Sache ein Gefallen an ihr vor, das ich aber nicht selbst teile, sondern ich habe jetzt wirklich ein Gefallen,
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Abschrift eines Bleistiftblattes (1902).
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die Sache gefällt mir wirklich, die ich da vorstelle, oder vielmehr, die als seiend assumierte (gedachte) Sache. Oder dass die als seiend assumierte Sache so sei, diese Vorstellung begründet wirklich ein Gefallen, ein Gefallen auf dem Vorstellungs- oder Assumtionsgrund. Ein vorgestelltes Objekt kann gefallen und missfallen. Eine vorgestellte Tatsache, ein Sachverhalt, kann aktuelles Gefallen und Missfallen begründen. Ein bloß vorgestelltes, unanschaulich der Sache anhängendes Gefallen ist nicht ein aktuelles Gefallen. Erinnere ich mich eines früheren Gefallens, so brauche ich nicht dieses Gefallen jetzt zu haben, das Vorgestellte kann mir jetzt in sich als missfällig gelten. Allerdings haben wir hier eine Erinnerungssetzung, aber es ist klar, dass von dieser auch abgesehen werden kann. Auch in setzungslosen Akten werden doch Gegenständlichkeiten anschaulich als gefällig vorgestellt werden können, ohne selbst als gefällig zu gelten. Der W unsc h geht a uf Sei n: Ich wünsche, dass A sei oder dass das als seiend gesetzte A B sei. Und dass es sei oder das Seiende so sei, das steht mir „in der Vorstellung“ als gefällig da.1 Der Wille geht auf Verwirklichung von A; sein Endziel ist, dass A sei, auf dem Verwirklichungsweg WA: Ein Werden kulminiert im Sein. Es ist aber nicht nur das Sein und das Sein-Werden gewünscht, es ist dasselbe auch nicht gewollt (wenigstens ist das keine klare Ausdrucksweise), sondern gewollt ist die Verwirklichung des A auf dem Weg WA, die Erfüllung der Willensintention auf Verwirklichung in hderi Handlung und nicht etwa der objektive Eintritt des Seins und Sein-Werdens auf diesem Weg, oder auch die Wahrnehmung oder Überzeugung, dass A eintritt und in der und der Weise zur Wirklichkeit kommt: „Vermöge des Willens“ muss es dazu kommen, d. i. in der willentlichen Erfüllung. Natürlich kann auch die Handlung gewünscht werden und damit die Wollung gewünscht werden. Aber dieser Wunsch ist nicht der Wille selbst und geht ihm nicht notwendig voraus, geht nicht notwendig in ihn ein. Auch zum Willen gehört das Gefallen daran, dass A sei und dass es werde. Aber ist der Wunsch darum Bestandstück des Willens? I st der Wi l l e ni cht ei ne Art Setzung, die dem
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Kontrastgefallen.
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W uns c h ent spr ic ht, aber i hn ni cht einschließt? So wie bloße Vor s tel lung (Vorschweben) und Urteil, so Wunsch und W ille.1 Also hdasi Problem, das parallele Problem, ob jedem Willen ein 5 Wunsch einwohnt. Nichts kann ich wollen, was ich nicht wünsche. Muss das besagen, dass zum Phänomen des Willens der Wunsch wesentlich gehört?2
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Der Punkt wurde später in ein Fragezeichen verändert und der Satz zwischen eckige Klammern gesetzt; zusätzlich am Rand ein Fragezeichen. – Anm. der Hrsg. 2 Nein.
Nr. 11 h D ie paral l el e U nterscheidung zwis chen Anm utung, U rteilsneigung und U rt ei l sentsche i dung einerseits sowi e Wun s ch, Wi l l ensneigung und W il lens entschei dung andererseitsi1
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Wie verhält sich Wollen und Wünschen? Man sagt, wo ich nicht wünsche, kann ich nicht wollen; dem Wollen liege ein Wünschen zugrunde. Wie steht es hdamiti und was ist dieses „zugrunde liegen“? Ferner, man spricht beiderseits von Intensität, von Stärke, Lebhaftigkeit des Wünschens und ebenso von Lebhaftigkeit (Leidenschaftlichkeit) des Wollens. Ist diese Intensität beiderseits dieselbe, und zwar für den Willen nichts anderes als die Intensität des in ihm eingeschlossenen, zugrunde liegenden Begehrens? Bestehen nicht auch hinsichtlich der Intensität Analogien mit dem Urteilsgebiet? Wir sagen zunächst: Dem Wollen als praktischem Entscheiden entspricht das Urteilen als theoreti sches Entscheiden. Auf der einen Seite Folgeleistung einer Begehrung, einem „Willensdrang“,2 einer Willensneigung. Auf der anderen Seite Folgeleistung einem Urteilsdrang, einer Urteilsneigung. Oder auf der einen Seite: in der Wahl das gesammelte Gewicht und Übergewicht von Begehrungsmotiven. Auf der anderen Seite: hein Übergewichti von Urteilsmotiven. Anmutungen bzw. Vermutungen mehr oder minder lebhafter Art, die einen auf Ja, die anderen auf Nein gerichtet; das spricht dafür, das andere dagegen: dann das Urteilen in der Entscheidung für das Übergewicht. Das Urteilen selbst (die Urteilsentschiedenheit, die eventuell als Entscheidung einer Wahl auftritt) hat keine Intensität, wohl aber der Urteilsdrang, das theoretische Angemutetwerden oder Abgestoßenwerden. (Beiderseits entspricht der positiven Neigung als Zuneigung eine Abneigung und so dem positiven Entscheiden und Zustimmen, Folgeleisten, das Ablehnen, das AbsageErteilen.)
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Wohl 1909/10. – Anm. der Hrsg. Cf. p. 2 h= S. 257,29–259,10i.
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Urteilsdrang oder Urteilsneigung kann Erlebnis sein, ohne dass geurteilt wird, es kann aber auch geurteilt werden mit und im Drang. Dann hat das konkrete volle Urteil Intensität, aber nicht eigentlich selbst als Urteil, sondern vermöge seiner Neigungskomponente. Es gibt aber ein Urteilen (auch Sich-urteilend-Entscheiden) ohne Drang, mindestens ohne merklichen Drang. Ein schlichtes Setzen: Ich sehe, so ist es, und sage aus, so ist es. Ebenso oft bei gewohnheitsmäßigen Urteilen. Ebenso haben wir einen Wollensdrang, einen Drang des Strebens, ein bloßes Begehren auf der einen Seite, auf der anderen ein Wollen, in dem Begehren, mehr oder minder lebhaftes, lebt. Es gibt aber auch ein Wollen (ein wollendes Entschiedensein) ohne Drang, zum Mindesten ohne merklichen Drang. Die Feder entbehrt der Tinte: Ich tauche ein. Ich merke, dass das Fenster nicht fest geschlossen ist: Ich stehe auf und schließe es besser. Bei all dem ist zu bemerken, dass die Fragen der theoretischen und praktischen Vernunft hier ganz aus dem Spiel bleiben. Wenn wir oben von Entscheidung sprachen, so nahmen wir Fälle eines Dranges, z. B. eine Anmutung oder eine überwiegende Vermutung. Es stellt sich zunächst in der Sphäre der Anmutungen heraus, dass mehrere gewissermaßen gleichsinnige Anmutungen im Sinn des „Es ist A“ sich zu einer Anmutungskraft summieren und ebenso eine andere Gruppe im entgegengesetzten Sinn des „Es ist nicht A“. Die eine summatorische Kraft hat das Übergewicht. Ich kann dann bei der Vermutung stehen bleiben und eventuell ihr urteilsmäßig Ausdruck geben als Wahrscheinlichkeitsurteil oder mich im Sinn der größeren Kraft entscheiden, ich folge dem Drang, ich urteile („A ist!“ und nicht „Es ist überwiegend wahrscheinlich“ etc.). Ebenso kann ich ein Begehren, das ich hier versuchsweise als Willensdrang ansetze, empfinden und ihm nun Folge leisten; die Frage nach der Vernunft der Entscheidung liegt in einer anderen Linie. Nun ist die Frage, ob die Gleichstellung berechtigt ist. Damit, dass eine Urteilsneigung in Urteilsentscheidung übergeht, sind von Seiten der Neigung, wie es scheint, nicht besondere Bedingungen zu erfüllen, es sei denn, dass nicht stärkere Neigungen für das Gegenteil daneben stehen. Dagegen, nicht jeder Wunsch kann in einen Willen übergehen. Es muss das Bewusstsein der „Freiheit“ da sein.
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Ferner, ist nicht der Begriff des Urteilsdranges und der des Willensdranges zweideutig?1 1) Eine Sachlage schwebt mir vor in der Weise der Anmutung des „Es dürfte sein“. Sie hat im weiteren Sinn die Vermutlichkeitscharakterisierung. Das wäre Urteilsdrang im einen Sinn. Eine Wunschlage schwebt mir in der Weise des Wünschens als erwünscht vor, sie hat den Charakter „Es möge sein“. Das wäre Urteilsdrang, Wunsch als Willensdrang im einen Sinn. Hier wird doch niemand von Willensdrang sprechen. Und man fühlt eigentlich auch einen Widerstand, im anderen Fall von Urteilsdrang anstatt eben von Anmutung, Vermutung zu sprechen. 2) Ich kann angesichts einer anmutlichen Sachlage mich urteilend entscheiden, ich kann aber auch vorher die Neigung empfinden, mich zu entscheiden. Einmal ist die Entscheidung ungehemmt, das andere Mal gehemmt: Und dann besteht eine Tendenz zur Entscheidung. Die Hemmung hält nicht vor, und dann findet die Entscheidung statt, die Tendenz setzt sich durch. Ebenso beim Willen. Ein Wunsch liegt vor, das Erwünschte ist im Freiheitsbewusstsein als praktisch möglich charakterisiert. Nun mag „ohne weiteres“ die Wollung eintreten. Es kann aber auch sein, dass zunächst eine bloße Willenstendenz da ist, eine Neigung sich zu entscheiden, eine Neigung zu wollen, zu tun. Es können auch entgegengesetzte Willenstendenzen da sein: Nicht tun! Fliehe das! Oder Willenstendenzen auf anderes gerichtet, die der in Rede stehenden im Wege stehen und im Streit mit ihr eine Hemmungstendenz entfalten: Wir haben dann die Tendenz auf Wollung des A und auf diese bezogen einen Modus der Hemmung, ein „Halt!“, ein „Nicht!“. An all dem ist kein Zweifel, und somit haben wir prinzipiell zu unterscheiden: die theoretischen Anmutungen, Vermutungen und die Urteilsneigungen, Urteilstendenzen. Die praktischen Anmutungen: Das wären die Wünsche mit Bewusstsein praktischer Möglichkeit. Aber da ist nun die Frage, ob sie und ob die Wünsche überhaupt gleich zu stellen sind. Oder sollen wir von den Wünschen die B egehr ungen unterscheiden, dadurch charakterisiert, dass bei
1 Scheidung zwischen Anmutung und Drang zum Urteilen, zwischen Begehren (Wünschen) und Drang zum Wollen (Willensneigung).
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ihnen schon das Moment des Strebens auftritt? Aber es scheint doch nur ein gradueller Unterschied vorzuliegen. Jedenfalls haben wir von den Wünschen, Begierden (als Akten) zu unterscheiden die Willensneigungen, die auf Wollungen gerichteten Tendenzen, die Strebungen und Gegenstrebungen. Ich komme doch wieder darauf zurück, dass Begierde im spezifischen Sinn unterschieden von Wunsch wohl bedeutet ein mit Wünschen oder im Wünschen gegebenes lebhaftes Streben.1 Aber ist das nicht etwas ganz anderes als hdasi, was oben als Tendenz zur W ollung beschrieben wurde? Man könnte hFolgendesi versuchen: Unsere Beschreibung war vorhin keine tief genug gehende. Zum Wollen gehört Streben, und das Streben kann im Freiheitsbewusstsein ungehemmt und schlicht in Handlung oder Entschluss übergehen.2 Nun mögen Hemmungen auftreten, oder es mögen mit dem Streben, dem Begehren, hdasi auf A gerichtet histi, verbunden sein die voreilende Vorstellung und Erwartung des Entschlusses mit seinen Folgen, die fatal sind. Oder ein Begehren geht auf das A und dagegen streitet ein anderes, und nun erwachsen Tendenzen auf den A realisierenden Entschluss und Gegentendenzen, Hemmungen. Neigungen gerichtet auf den vorgestellten Entschluss und Abneigungen; die Entscheidung dieser Neigungen ist Zustimmung bzw. Verwerfung. 1 Eine gewisse Erreichbarkeit ist dabei mitvorgestellt. Erreichbar: Nur bestehen die oder jene Schranken, die mitunter überwunden worden sind, von denen ich aber nicht weiß, hobi ich sie überwinden mag etc. 2 Zunächst scheint Begehren, wenn auch natürlich nicht überhaupt, so im Fall, in dem Handlungen in Frage sind, Willensneigung zu sein. Ich stelle mir als Möglichkeit eine Reise nach dem Süden vor, ich begehre das. Ich spüre die Willensneigung. Aber genauer: Nicht Begehren überhaupt ist hier die Willensneigung. Ich kann die Reise auch bloß wünschen, sie mag mir in der Vorstellung als ein Schönes dastehen, ein Schönes, das ich vermisse, ohne dass ich irgendeine Willensneigung empfinde. Dagegen, sowie ich die natürlich setzende Vorstellung der Ausführbarkeit dieser Handlung habe, verwandelt sich das Begehren in eine Willensneigung. Mit einem Mal bin ich „aktiv“ tendiert. Also ein Begehren liegt vor, das auf eine Handlung gerichtet ist, die als ausführbar bewusst ist in Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit und dgl. Oft genügt eine leise „Möglichkeit“, es mögen auch starke Gegentendenzen da sein in Form von Gegen-Willensneigungen. Eine Delikatesse im Schaufenster, die sehr teuer ist. Ich habe gar kein überflüssiges Geld oder gar keines. Ich kann es nicht kaufen. Sowie ich mir aber sage: Ich könnte den Ring versetzen, ich könnte mein anderweitig nötigeres Geld dafür hergeben, sowie ich die Handlung als mögliche mir vergegenwärtige, habe ich schon mehr als Begehren, nämlich Willensdrang.
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Die bloße Begi erd e ist das schl i chte Streben nach A-Sein: Das ist keine W il lens tendenz im Sinne einer Tendenz gerichtet auf Wollen bzw. auf Handlung. Die Willensneigung ist eine auf Wollen gerichtete Neigung – das Wollen dabei vorgestellt –, und ihr steht gegenüber die Willensentscheidung, die Entscheidung im Sinne dieser Neigung. Ebenso beim Urteil. Ich empfinde eine Anmutung. Ich bin im Begriff, mich zu entscheiden, das heißt, deutlicher gesprochen, einfach im Sinne der Anmutung zu urteilen. Gegentendenzen hemmen das. Die vorauseilende Vorstellung dieses Urteilens (das schon erwartungsmäßig charakterisiert sein könnte, aber im Allgemeinen nicht sein muss) vermittelt nun eventuell eine Urteilssuspension, wenn ich nämlich schon im Begriff war zu urteilen oder gar schon geurteilt hatte, oder nicht. Dann besteht eine auf dieses Urteil gerichtete Tendenz, eventuell auch Gegentendenzen und eventuell zum Abschluss eine positive oder negative Entscheidung im Sinne dieser Tendenzen. Freilich: Sind nicht alle Tendenzen überhaupt Willensphänomene im weitesten Sinn, Strebensphänomene? Noch eins. Ich urteile schlicht, ich entscheide mich urteilend für oder gegen, zustimmend oder ablehnend: sei es zu einem vollen proponierten Urteil, sozusagen zu einem vorgeschlagenen (erwogenen), oder ich entscheide mich aufgrund einer Untersetzung zustimmend oder ablehnend gegenüber einer Prädikatsetzung oder aufgrund einer Voraussetzung für oder gegen eine Folgesetzung.1 In jedem Fall urteile ich. In den beiden letzteren Fällen habe ich Urteilsvorkommnisse modifizierter Art, aber doch Urteilsvorkommnisse, und das Ganze, das Unter-Voraussetzung-Folgesetzung-Üben etc., ist ein Urteil. Freilich haben wir dabei zu unterscheiden das, was vor dem Prädizieren (Ausdrücken) liegt und was mit ihm selbst statthat. Es gibt zwar innerhalb des Urteils, wie wir sahen, Vorkommnisse des positiven und negativen Urteilens, nämlich als Bejahung und Verneinung, Zustimmung, Ablehnung, aber nicht steht jedem Urteil als Positivum ein Negativum gegenüber.2
1 Schlichtes Urteil. Affirmation, Negation etc. Schlichtes Wollen, affirmierendes, ablehnendes Wollen. Nicht jedes Urteil, nicht jedes Wollen hat von vornherein ein Negativum. – Cf. M h= Haupttext II: Das Wesen des schlichten Handelns (S. 23)i. 2 Das habe ich inzwischen wieder aufgegeben.
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Wie ist es beim Wollen? Selbstverständlich, dem Streben steht gegenüber das Gegenstreben, Widerstreben (auch dem „Streben“ in Form der Tendenz zu einem erwogenen Urteil steht gegenüber die Tendenz gegen dasselbe). Aber Streben ist nicht Wollen, wofern 5 wir Streben eben als Begehren und analog verstehen. Wir haben ein schlichtes Wollen. Wir entscheiden uns wollend auch für oder gegen, zustimmend oder ablehnend, sei es zu einem praktischen „Vorschlag“, zu einem „erwogenen Wollen“, oder wir entscheiden uns aufgrund der Voraussetzung einer Sachlage (einer theoretischen 10 Voraussetzung) für oder gegen. Wir entscheiden uns auch aufgrund eines Wollens für ein anderes oder aufgrund einer Willensvoraussetzung (gesetzt, dass ich das will) für eine weitere Willensfolge. In jedem Fall wollen wir. Und das jeweilige Ganze ist ein Wille (alles wie oben, cf. dort). 15 Müssen wir auch hier nun sagen: Es gibt zwar innerhalb des Wollens zustimmendes und ablehnendes Wollen, aber nicht gehört zu jedem schlichten Wollen etwa ein Widerwollen, ein Fliehen? Ist jedes negative Wollen ein Nein (so wie jedes negative Urteilen), das den Gedanken an ein Wollen schon voraussetzt? Ich denke doch!
Nr. 12 hI nwiewei t das fi at di e Vorstellung der H andl ung voraussetzt i1
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Wie richtet sich die „Willensintention“ des fiat auf das Ziel und wie auf den Weg, der zum Ziel führt? Manchmal trennen sich Ziel und Weg, oder ist das Ziel das „Ende“ des Weges, manchmal ist Weg und Ziel eins, sofern mit jeder Phase des Weges sich das aufbaut und stetig aufbaut, was die „Absicht“ des Willens ist. Wie wenn ich mit der Feder einen Kreis beschreibe und ihn eben und nichts anderes beschreiben will. Man wird nun vielleicht sagen: Der ansetzende Wille, das fiat, muss der Handlung vorausgehen, und humi das fiat zu sprechen, muss ich doch vorstellen, was ich will, ich muss die Handlung, die zu realisieren ist, im Voraus vorstellen, wenn auch nicht gerade anschaulich. Und ich muss dabei nicht bloß den äußeren Vorgang vorstellen, vielmehr hmuss ichi ihn als Handlung, als willentlichen Vorgang vorstellen. Es scheint also, dass wir das Bewusstsein des fiat verknüpft denken müssen mit der Vorstellung der Handlung. Zur wirklichen Handlung kommt es also dann so, dass das fiat dieser Vorstellung die praktische Zustimmung verleiht. Indessen, man könnte sagen: Diese Auffassung führte auf einen grundverkehrten Regress in infinitum. Ist aktuelle Handlung, fiat, gegründet in der Vorstellung der Handlung, so wäre die Vorstellung der Handlung wieder eine Vorstellung von der Vorstellung eines fiat und der Vorstellung einer Handlung und so in infinitum. Das ist aber falsch argumentiert. Die Vorstellung von der Handlung ist, wenn es anschauliche Vorstellung ist, eine Phantasiemodifikation des fiat und der ganzen im Willen ablaufenden Handlungserscheinung und weiter nichts. Es darf nicht verwechselt werden die Vorstellungsmodifikation des Handelns und die Vorstellung der Handlung. Die Vorstellung braucht aber nicht anschauliche Vorstellung zu sein. Zuerst steht das aktuelle fiat und ihm liegt zugrunde die Vorstellung der Handlung. Die Vorstellung der Handlung ist die Vorstel-
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lungsmodifikation der Handlung selbst im phanseologischen Sinn, d. i. des Handelns: also „fiat und Vorgangserlebnis im Wollensbewusstsein“. Ontisch: „Das soll sein“ – Vorgang im Charakter der Handlung. Phansisch führt das modifizierte Bewusstsein des „Ich will“ oder das Bewusstsein des Seinsollens nicht mit sich das Bewusstsein eines neuen „Ich will“. Die ganze Betrachtung scheint also schief zu sein.1 Bestehen aber sonst Unzuträglichkeiten darin, dass bei jeder aktuellen Handlung ein fiat vorhergeht, verbunden mit der Vorstellung der Handlung? Der Psychologe wird sagen: Eine aktuelle Handlung könnte nie entstehen, ohne dass schon Handlungen vorangegangen wären. Die Vorstellung einer Handlung setzt voraus, dass irgendeine aktuelle Handlung schon gewesen ist. Könnte aber nie eine Vorstellung einer Handlung entstehen, so auch nicht eine aktuelle Handlung. Irgendetwas Wahres wird doch wohl in dieser Argumentation liegen. So wie eine Wahrnehmung nicht voraussetzen kann die Vorstellung der Wahrnehmung, so nicht ein Wille die Willensvorstellung (das ist hier die Modifikation). Das schließt natürlich nicht aus, dass ich zunächst wie in aller praktischen Erwägung Handlung vorstelle und dann mich für ein Handeln im Sinn dieser Vorstellung entscheide. In diesem Fall stimme ich praktisch zu, genauso wie ich bei einer theoretischen Erwägung erst eine Urteilsmodifikation vollziehe und dann mich in ihrem Sinn entscheide. Ich stimme zu: So ist es.
1 Es wäre dann ja auch ein Wille überhaupt unmöglich in Form eines vorgängigen Entschlusses gerichtet auf eine vorgestellte Handlung. Ich kann doch vorstellen und überlegen: „Zuerst tue ich das, dann das etc.“ – alles in der Überlegung und vor der Entscheidung –, und dann sage ich: „Ja, das will ich tun.“ Darin liegt schon: Ich stelle Tun, Handeln vor, und dann entscheide ich mich dafür.
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Man könnte sagen: Wenn ich mir anschaulich einen Stoß eines Körpers auf einen anderen vorstelle, so stelle ich eigentlich einfühlungsmäßig eine Handlung, ein aktives Stoßen des einen Körpers auf den anderen vor: so wie wenn ich mit meiner Faust gegen den Tisch oder das Tintenfass stoße etc. Und so stellen wir alle Kraft und Kraftwirkung vor. Stelle ich also vor „Wenn i ch stoße, so geschieht das“, so habe ich eigentlich kein besonderes plus in der Anschauung bzw. anschaulichen Vorstellung. Der Unterschied ist nur der, dass ich hier mein Stoßen, d. i. das nicht eingefühlte Stoßen, assumiere. Also liegt nicht ein komplizierter Fall vor, als ob ich zur intuitiven Kausation der äußeren Natur noch ein kausal bestimmendes Moment, meinen Willen, hinzutue. Indessen m uss ich doch das kindliche Einfühlen nicht mehr vollziehen. Und ferner ist zu beachten, dass sich all das auf die sekundäre Handlung bezieht, d. h. auf den Erfolg als mitgewollten einer primären Handlung, nämlich einer willkürlichen Bewegung. Was heißt das nun: Wenn ich will, so kann ich? Das „Wenn ich will“ heißt offenbar: Wenn ich (mit Hand, Finger, Fuß, Ellbogen etc.) stoße, wenn ich gehe, wenn ich hebe, wenn ich ziehe oder drücke etc. Das „Wenn ich will“ heißt nicht: Wenn ein „abstraktes fiat“ da ist und mein fiat ist (ich stelle mir es in der Weise des „mein“ vor, also nicht durch das Medium der Einfühlung in einen Anderen). Vielmehr setze ich annehmend irgendeinen „Anfang“ einer Handlung überhaupt, d. i. irgendeiner primären Handlung, einer Willkürbewegung, und zwar als meiner Handlung. D i e Rede vom fiat, die ich von J ames übernommen habe, wi rd m i r also bedenklich. Die Rede vom fiat hat ihr Recht zweifellos hinsichtlich der praktischen Z us timmung (συγκατhÀ©εσισi), die den Entschluss, die Entscheidung hinsichtlich einer im Voraus vorgestellten Handlung betrifft, das Analogon der urteilsmäßigen Entscheidung in Bezug auf eine bloß vorgestellte Sachlage (bloße propositionale Vorstellung). Diese 1
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Zustimmung, Billigung, Entscheidung ist genauer zu analysieren: So ist es – so soll es (willentlich) sein. Man könnte sagen: Eine Seins motivati on, die fehlte, stellt sich ein ohne Gegenspannung, sie lebt sich also frei aus. Oder eine Hemmung (ein Gegenantrieb von Motiven) wird aufgehoben oder überwogen. In der erwägenden Frage „Ist das so oder nicht?“ wird eventuell „Suspension“ geübt und diese Suspension wieder aufgehoben. Doch das ist alles näher zu studieren. Ebenso bei der pr akti schen Moti vation. Aber setzt jede aktuelle Handlung im Voraus ihre Vorstellung als Handlung voraus und, um zur aktuellen Handlung zu werden, die praktische Zustimmung? Aber dann müsste jede vorgestellte Handlung voraussetzen das einleitende fiat als Sich-Entscheiden und eine zurückliegende Vorstellung der Handlung (in der Vorstellung) und so in infinitum. Wir kämen also auf einen unendlichen Regress. Wir müssen also das fiat als pr akt is che Zu sti m m ung und das Willensmoment in der E ins atzphase der H andl ung unterscheiden. Zur Handlung gehört der allgemeine durchgehende Willenscharakter, und nicht geht aus dem einleitenden „Ich will“ etwas hervor, sondern aus der einleitenden Handlungsphase in concreto die weiteren Phasen. Es ist ein Entwerden, ein Sich-Entfalten, aber immer Handlung aus Handlung. Nicht etwa ein abstraktes fiat, ein pures „Ich will“ noch ohne Materie, sondern der Anfang ist schon volle Handlung. Ist diese Argumentation aber richtig? „Die vorgestellte Handlung setzt voraus“ – was heißt das? Die Vorstellung der Handlung ist Vorstellung des ansetzenden praktischen Soll und Vorstellung des Vorgangs in seinem onthischeni Willenscharakter. Vorstellung des Soll ist nicht Vorstellung vom Wollen und ebenso Vorstellung des Vorgangs mit seinem Seinscharakter hnichti Vorstellung des setzenden Seinsbewusstseins und des Wollensbewusstseins, das es „begleitet“. Wir haben einfach die Modifikation des fiat-Bewusstseins und des ganzen weiteren Willensbewusstseins mit seinem ganzen Gehalt, welches fundierend wäre im Fall aktueller Handlung und jetzt quasifundierendes histi. Diese ganze Modifikationsreihe setzt die Modifikation des Bewusstseins der aktuellen Handlung voraus (des aktuellen Handelns mit seinem Inhalt) und eventuell eine Leermodifikation als Leervorstellung der Handlung. Und voran geht nun ein praktisches Zustimmen: fiat.
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Ein Vorsatz richtet sich auf eine künftige Handlung (Tat, Werk), und zwar sprechen wir von Vorsatz da, wo eine „unlebendige“ Zeitstrecke zwischen dem bloß intendierenden und dem erfüllenden Willen vermittelt. Nehmen wir eine Handlung, die nicht aufgrund eines früher einmal (also nicht in unmittelbar lebendiger Vergangenheit) stattgehabten Vorsatzes erfolgt (und dann ergänzend eine Handlung, die das tut). Jeder Handlung geht „u nm i ttel bar“ ein fiat, eine Willensintention vorher, die jedenfalls in dem jetzigen Fall eine unerfüllte (und nicht selbst erfüllende) Willensintention ist. Das „unmittelbar“ besagt, dass der Zeitstrecke der Handlung vorangeht eine angrenzende Zeit, „Zeitpunkt“ oder Zeitstrecke, der leeren Willensintention. Die gesamte Zeit, die des fiat und die der angrenzenden Handlung, ist aktuelle phänomenologische Zeit. Was das fiat anbelangt, so liegt es nahe zu sagen: Innerhalb der phänomenologischen Zeit tritt die Vorstellung des Zieles mit irgendeinem Weg2 auf (oft nur eine ganz vage). Diese Vorstellung ist Trägerin eines unges ätt igt en G efal l ens, eines Wünschens, das in einem fiat seine Wi ll ens entschei dung findet (Lipps‘ „Einschnappen“?). Und dieses fiat leitet nun die Handlung ein. Es hat den Charakter eines phänomenologisch „Momentanen“, eines Grenzpunktes. Es ist eine unerfüllte Intention des Willens, die charakterisiert ist als ein Quellpunkt der Handlung (in statu nascendi), es ist „Geburtsstätte“ der Handlung. Die unerfüllte, aber „als sich unmittelbar erfüllend“ charakterisierte Intention, halsi „unmittelbar in Erfüllung übergehende“ und „sich auslebende Intention“: So ist es charakterisiert. Die Handlung geschieht „infolge“ des fiat: Ich tue es. Es gilt für jede Handlung, dass sie ein fiat voraussetzt. Findet sie als Erfüllung eines früheren Vorsatzes statt, so fundiert die Vorstellung der Sachlage die Ziel-Weg-Vorstellung, auf die der Vorsatz ging. Das
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darin Vorgestellte ist als Vorgesetztes charakterisiert. Daran schließt sich das fiat und die Handlung. Das fiat erfüllt die Vorsatzintention. Diese geht ja auf die Handlung, und zu ihrem Wesen gehört das fiat. Das vorgesetzte fiat der Vorsatzintention verhält sich zum aktualisierenden fiat analog wie die weiteren aktuellen Phasen der Handlung und all die zugehörigen Intentionen zu den leeren Phasen der Vorsatzintention, von der wir ja sagten, dass sie sich über die „vorgestellte“ Handlung ausbreitet. Das fiat ist willentlich der Anfang der Handlung, leitet sie notwendig ein, gehört zu ihrem willentlichen Wesen. Es ist der „ Springpunkt “ der Handl ung, und ohne Springpunkt keine Handlung. Der bloße Vorsatz ist das G egenbild d er Handlung, es ist der „leere“ Entschluss, der in der wirklichen Handlung seine Erfüllung findet und somit vor allem in dem einleitenden fiat, dem nun die Handlung zu folgen hat. Läuft sie „anders“, geht sie nicht in das Ziel aus, so enttäuscht sich die Willensintention des fiat (und dadurch des Vorsatzes). Ich will und kann nicht, ich bringe es nicht zustande. Andererseits, der Vorsatz erfüllt sich, sofern ich dem Vorsatz Folge gegeben habe. Während ich ihm eventuell keine Folge gebe: Ich führe den Vorsatz nicht aus, ich halte ihn nicht fest, ich entschließe mich jetzt anders. Der Vorsatz sagt: „Ich will“ = „Ich werde“. Das fiat hsagti: „Ich will“ = „Ich tue es unmittelbar“. Das „Ich tue es“ ist aber das einleitende „Ich will tun“, einleitend zum Tun und darin unmittelbar übergehend. Davon histi zu unterscheiden das „Ich tue“ während des Tuns, inmitten der Handlung.
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Die Unterschiede zwischen Zweckwollen und Mittelwollen sind natürlich nicht Unterschiede bloßer Aufmerksamkeit. Oder vielleicht, es sind Unterschiede hderi Aufmerksamkeit oder auch nicht Unterschiede derselben – je nachdem wir die Rede hvoni Aufmerksamkeit weiter oder enger fassen. Dem Wollen liegt ein „Vorstellen“ zugrunde. Es ist ein setzender (unmodifizierter) Akt, ein „Erwarten“ künftigen Seins, freilich in eigener Weise, sofern das praktische Setzen und dieses Erwarten nichts zu Trennendes sind. In diesem Vorstellen finden wir Unterschiede des Bemerkens und Aufmerkens. Wenn wir uns entschließen, wenn wir einen Vorsatz fassen, wenn wir handeln, so kann die Materie des Handelns nicht völlig unbemerkt, sie muss gegenüber dem sonstigen Vorgestellten bevorzugt sein. Eventuell sind wir, z. B. wenn es gilt, als Schütze das Ziel zu treffen, dem Gewollten mit „lebhafter“ Aufmerksamkeit zugewendet. „Aufmerksamkeit“, sofern sie Unterschiede der „Lebhaftigkeit“ hat, ist Interesse. Interesse kann sein Interesse am Vorgestellten als solchen, Interesse an den Sachen um ihrer selbst willen oder humi ihrer sachlichen Zusammenhänge mit anderen willen. Dieses Interesse ist das theoretische Interesse. Es ist nicht zu verwechseln mit Gefallen an Sachen, um dessentwillen die Sachen Wertprädikate erhalten. Ist nicht theoretisches Interesse Interesse an den Sachen, sofern sie Subjekt der und der Prädikate, Beziehungspunkte der und der prädikativen Zusammenhänge sind? Interesse an Sachen überhaupt als urteilsmäßig zu bestimmenden, als was sie sind und immer wieder weiter bestimmbar sind, ist allgemeines theoretisches Interesse. Interesse an bestimmten Sachen als Subjekten gültiger Prädikation ist besonderes theoretisches Interesse. Das Interesse kann Sachen und Bestimmungen um ihrer selbst willen zugewendet sein. Sie werden zu Objekten eigener Interessen, oder sie werden zu Objekten theoreti-
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schen Interesses, nicht um ihrer selbst willen, sondern um ihrer Zusammenhänge mit anderen Objekten willen, denen das theoretische Interesse primär gilt. Jeweils wählt ein Interesse aus und bestimmt das Thema des Interesses. Und alle anderen Interessen sind Interessen um dieses Themas willen. Das theoretische Interesse kann auch dienend sein. Um eines Gefallenswertes willen wende ich mein theoretisches Interesse einer Gegenstandsgruppe zu, um Nützlichkeiten willen etc. Darin liegt: Das Interesse ist dann motiviert durch jenes Gefallensinteresse, aber es ist und bleibt ein Interesse für sich und bleibt Grundinteresse, thematisches, in Relation zu anderen theoretischen Interessen, die damit „zusammenhängen“. Das theoretische Interesse ist jedenfalls verwandt oder im Ganzen identisch mit der Neugierde, die ihrerseits (in unechter Weise) ein Gefallen am Neuen motivieren kann. Das theoretische Interesse ist nicht ein Gefallen, wie es scheint. Das Uninteressante, ist das ein in eigener Weise Missfälliges? Was kein theoretisches Interesse auf sich zieht, was kein Thema der Betrachtung und Bestimmung ist, das ist nicht interessant. Aber darum nicht missfällig. Aber das Langweilige? Gibt es nicht ein Abstoßen des Interesses, ein negatives Interesse? Andererseits, kann ich nicht willkürlich mein Interesse der Sache zuwenden, während sie doch uninteressant ist, „mein Interesse nicht befriedigt“? Das alles ist vollständig und neu zu studieren und die alten Manuskripte über Interesse1 hsindi heranzuziehen.2 Interesse an den Sachen, dass da etwas so ist, oder etwas, das α ist, zugleich β ist usw., ist theoretisches, nicht praktisches Interesse. Was ist praktisches Interesse? Ist es der Wille selbst? Es kommt uns jetzt ja auf den Unterschied von thematischem Interesse sozusagen und sekundären Interessen des Willens an. Das eine ist das Willensthema, das, was der Wille primär will. Das andere ist dienendes Moment, es ist gewollt, es ist praktisch interessant um des primären Interesses willen. Und wie steht es mit der Aufmerksamkeit auf den Weg? „Wenn es darauf ankommt“, sind wir doch dem Weg gespannt
1 Husserl bezieht sich hier auf Manuskripte aus dem Jahr 1898, die in Husserliana XXXVIII, S. 86–114 veröffentlicht sind. – Anm. der Hrsg. 2 Vgl. auch James‘ Identifikation von Interesse und Wille und meine uralten Vorlesungen über Psychologie hwohl aus dem Jahr 1891/92i.
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zugewendet, während doch der Unterschied zwischen dem auszeichnenden Interesse am Ziel und hdemi am Weg bestehen bleibt. Wenn ich den Bleistift spitze, um nachher besser schreiben zu können, so muss ich sehr aufpassen, und ich lasse zeitweilig meinen Endzweck 5 außer Augen. Aber er bleibt doch mein Zweck.
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„Leere“ Willensintention. Willensintention und Willenserfüllung als Realisierung, verworrenes Wollen und klares, einsichtiges, evidentes Wollen. 1) Das „Absehen“ des Wollens geht auf das willentliche Seinsollen, also auf die Handlung. Intention im Sinn dieses Absehens ist befriedigte Intention (das Abzielen ist Erzielen), soweit oder wenn Handlung abläuft. Wenn man hier von „leer“ sprechen will, so ist das Erfüllende die Handlung nach ihren kreativen Phasen. Im Übrigen ist das Wort Intention (Abzielen, Streben) bezeichnend genug, und man braucht als ergänzendes Wort am besten Erzielen oder Realisieren (Verwirklichen). 2) Ein Entschluss bzw. ein Vorsatz kann gefasst sein aufgrund einer intuitiven, eigentlichen Vorstellung des Vorgangs der Handlung bzw. der vollen Handlung (indem ich etwa mich ins Handeln einfühle und dann entscheide). Im letzteren Fall habe ich im Moment der zustimmenden Entscheidung eigentlich nicht mehr die anschauliche Vorstellung, sondern die Vorstellung, die auf die anschauliche als eine gewisse merkwürdige und näher zu beschreibende Sorte von Leervorstellungen folgt, die keineswegs ohne weiteres als eine verworrene etc. bezeichnet werden kann. Ich habe etwa soeben eine voll explizite Vorstellung einer Sachlage gehabt und „noch“ ist sie „lebendig“ in ihrer Explikation, und doch habe ich kein Sehen. Demgemäß haben wir auch beim Urteil den Unterschied: Ich urteile etwa voll explizit und einsichtig, ich beweise voll explizit, und nachdem das abgeflossen ist, habe ich das Urteil, aber nicht mehr klar, einsichtig, und doch nicht in Verworrenheit. Die ganze Explikation des Gedankens steht „lebendig“ und doch nicht anschaulich klar vor mir. Übrigens sagen wir hier sogar „klar“. Wir sagen: „Ja, so ist es, ich habe es ganz klar vor Augen.“ Und dabei ist
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die Reihe der Gedanken abgeflossen und keineswegs in eigentlicher Weise vollzogen. In dieser Weise entscheide ich mich praktisch nach einer Überlegung und habe die ganze Motivation noch deutlich und lebendig, und doch nicht eigentlich. Und die ganze Vorstellungsunterlage ebenso. Ferner: Es kann sein, dass von vornherein eine vage, unvollkommen anschauliche, rudimentäre anschauliche Vorstellung oder eine ganz unanschauliche und dabei verworrene auftaucht und das Vorgestellte im Charakter der Freiheit, eine vage Vorstellung eines Weges zu ihm hin, eines „freien“ Weges. Und dazu tritt nun das fiat des Vorsatzes. Da haben wir einen „leeren“ Vorsatz, eine unanschauliche, eine verworrene Wollung. Demgegenüber gibt es klare Vorsätze. Auch Willensüberlegungen, praktische Erwägungen können vollzogen sein in verworrener Weise; verworrene Vorstellungen liegen zugrunde, demgemäß sind die Motivationsverhältnisse verworren, und weiter histi das Wollen in verworrener Weise begründet. Dieser zweite Unterschied der Klarheit und Verworrenheit ist der „logische“ oder, wenn man will, der zur Vernunftsphäre gehörige, der noetische. Er gehört zum νοσ ποιητικÞσ, so wie der parallele Unterschied in der theoretischen Sphäre eben zum theoretischen Nus gehört. Die falschen Analogien mit dem Denken liegen auf Seiten von 1), die echten auf Seiten von 2).
Nr. 17 h Der Unter sc hie d zwi schen G efühlsprädikaten und dem Cha rakter der Wi l lentlichke iti1
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Vorstellung einer Handlung: Vorstellung des Vorgangs, z. B. des physischen, der die Materie der Handlung ausmacht. Dieser Vorgang ist nicht eines und mein Wollen irgendwie hinstrebend zu dem Vorgang ein Zweites, sondern der Vorgang steht da im Charakter des willentlichen, des willentlich werdenden. Die Handlung ist wahrgenommen im eigentlichen Sinn, wenn ich eben handle und dabei dem Vorgang in seinem volhuntäreni Charakter zugewendet bin. Aber wie steht es mit diesem Charakter? Bei dem physischen Vorgang habe ich die Unterschiede des Erscheinenden vom Erscheinen, von den Abschattungen, von den „Erscheinungen“ des Erscheinenden, den „Darstellungen“ hinsichtlich der Gegenstandsseite etc. Wir können da von so etwas wie Appherzeptioni sprechen. Inwiefern können wir auch hinsichtlich der volhuntäreni Form der Handlung parallele Unterschiede machen? Wo ist das phansische Phänomen des Wollens im Unterschied von dem onthischeni, am erscheinenden Vorgang haftenden volhuntäreni Charakter? Wenn wir den „Erscheinungen“ nachgehen, in denen der Vorgang erscheint, wenn wir ein Wahrnehmungsbewusstsein annehmen, aus dem verschiedene Komponenten, aber auch verschiedene immanente Gegenständlichkeiten zu entnehmen sind, so können wir nun fragen: Was gehört dem Bewusstsein des Erscheinens, dem Wahrnehmungsbewusstsein, noch als ein Neues reell zu, was ist mit ihm verwoben, wenn der Vorgang Handlung wird? Den Charakter des Willentlich hat der erscheinende Vorgang, nicht das Wahrnehmungsbewusstsein, das ja nicht Gegenstand ist, und ihn nimmt es auch nicht eigentlich an, wenn wir darauf reflektieren. Ist Wille ein Bewusstsein, das mit dem Wahrnehmungsbewusstsein parallel sozusagen geeinigt ist, so dass alle Transzendenz des Wahrnehmungsbewusstseins nun ins Willensbewusstsein übergeht? Von sich aus hat der Wille nicht ein eigenes Material von Art der Empfin-
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dung und nicht ein eigenes „Auffassen“, durch das Gegenstandsbewusstsein erwächst und hier ein analoges Bewusstsein erwachsen soll. Tritt also bloß ein neues Bewusstsein auf, derart, dass es durch das intellektive Bewusstsein hindurch seine Setzung übt, die aber doch prinzipiell verwandt ist mit jenem, sofern es ebenfalls Bewusstsein ist und somit „setzt“? Oder vielmehr, haben wir nicht zu sagen, dass das Bewusstsein, das wir Wahrnehmung nennen, schon zweiseitig ist: abstrakte Komponente „Erscheinung“ und abstrakte Komponente „Setzung“, die das spezifisch Modale des Bewusstseins als intellektives Bewusstsein (Glaube) ausmacht, während jedes weitere Bewusstsein nur einen neuen modalen Charakter, eine neue Setzungsweise hereinbringt? Wie stammen aber aus solchen Setzungsweisen „gegenständliche“ Prädikate oder Quasi-Prädikate – sprachlich als Prädikate ausgedrückt: Sein, Seinsollen etc.? Wie steht es mit den Akten des Gefallens und Missfallens? Ich erlebe nicht nur ein Gefallen und andererseits ein Vorstellen, z. B. ein Wahrnehmen, sondern im Wahrnehmen steht das Objekt da, und es steht zugleich da als gefällig, als angenehm, als lieblich, widerwärtig, als schön und hässlich, als „gut“ und schlecht. Aber solche Prädikate sind eben Prädikate des Objekts, das Objekt steht da und hat sie. In Bezug auf das Subjekt sagen wir: Ich habe Gefallen am Objekt. Es ist mir lieb und angenehm, ich hasse und liebe es. Es zieht mich an und stößt mich ab. Aber ich muss nicht das Subjekt heranziehen und kann doch subjektive Prädikate aussprechen: Das Objekt ist anziehend, das heißt dann, es ist so beschaffen, dass es gegebenenfalls unter selbstverständlichen Umständen Anziehung übt, Gefallen weckt in den passend disponierten Subjekten. Die Eignung oder Eigenheit, dann Gefallen zu erwecken, begründet Prädikate wie reizend, angenehm, gefällig, missfällig. Das Objekt hat die und die Prädikate α, und zu den α gehört es, solche Gefühle zu wecken. Aber phänomenologisch ist das Erste: Es erscheint der Gefühlsinhalt als zugehörig zum Prädikat, zu dem Inhalt des Objekts, und darum selbst als ein Objektives. Aber solche Gefühlsprädikate sind nicht konstitutive hPrädikatei des Objekts, erscheinen in ganz anderer Weise als zu ihm gehörige wie Farbe, Gestalt etc. Dabei bemerken wir zwar, dass die Prädikate „anziehend“, „reizend“, „gefällig“ etc. öfters in subjektiver Hinsicht gebraucht werden, also eine Beziehung auf einen mehr oder minder
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unbestimmten Menschheitskreis haben. Einen Walzer, erwarten wir, werden die meisten – unserer Kultursphäre – reizend finden, aber nicht Chinesen etc. Ein Bild nennen wir schön, aber hwiri erwarten nicht, dass jeder Bauer es schön finden wird etc. Aber schließlich wissen wir auch, dass es Farbenblinde gibt und dass nicht jeder die Objekte als rot oder grün so bezeichnen wird, bei entsprechender Beleuchtung, wie wir. Dasselbe gilt von allen Prädikaten der sinnlichen Anschauung, auch den räumlichen (Gestaltverzerrungen bei gewissen Augenerkrankungen) etc. Mit Rücksicht darauf können wir den Prädikaten auch subjektive Bedeutung geben. Aber das hindert gar nicht, dass sie, und notwendig, als konstitutive Prädikate der Objekte der schlichten Anschauung dastehen. So können wir daran denken, dass Menschen unseres Kreises die und die Objekte reizend, angenehm, wohlschmeckend etc. finden werden, und mit Ausnahmen. Aber etwas ganz anderes ist hesi, wenn wir fragen, wie die Objekte in der Wahrnehmung und aufgrund des aktuellen Gefühls unabhängig von solchen Gedanken „dastehen“, wie sie „erscheinen“, als was sie „angeschaut“ werden. Ich sprach öfters von einer Gefühlsfärbung, sie „überkleidet“ das Objekt, verleiht ihm einen rosigen Schimmer und dgl. Das ganze Objekt steht so da, und eventuell merken wir, „näher besehen“, dass die Gefühlsfärbung eigentlich und primär zu dem und dem Wahrnehmungsgehalt des Gegenstandes gehört und nur „infolge der Gefühlsübertragung“ sich über das ganze Objekt erstreckt. Indessen fragt es sich, wie das wirklich zu beschreiben und inwiefern hier von Charakteren am Objekt zu sprechen ist; sozusagen immanent an ihnen und doch nicht konstitutiv erscheinend. Ist es berechtigt, davon zu sprechen, so müssen wir natürlich also ausscheiden jene relationelle Auffassung der Gefühlsprädikate als „subjektive“, wodurch sie in eine Reihe mit den Wirkungsprädikaten gerückt werden: Gewicht, Tonwirkung zu üben etc. Übrigens ist das oben Gesagte zu ergänzen und zu berichtigen, insofern als Wirkungsprädikate nicht immer Denkprädikate sind und auch hnichti die subjektive Beziehung, auf mich z. B. eine Anziehung zu üben etc.: Es sind Relationsprädikate dann, aber es bedarf nicht des ausdrückenden Denkens etc. Doch können wir das ruhen lassen. Da liegen keine Schwierigkeiten mehr. Also das ist die Frage. Sicher ist doch, dass wir, dem Eindruck der Lieblichkeit, Schönheit, dem Eindruck abstoßender Hässlichkeit etc.
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ganz hingegeben, diese Prädikate sozusagen am Objekt finden, und wenn wir sie auf das Subjekt beziehen, so ist doch das Prädikat am Objekt eins und die Beziehung auf mein Ich, der ich so urteile und fühle, der ich mich angezogen fühle oder abgestoßen, ein Zweites. Das Schöne ist wie etwas am Objekt; meine ästhetische Freude, mein ästhetisches Werten davon ist etwas anderes. Freilich nicht etwas, was damit nichts zu tun hätte. Ist das Verhältnis nicht ähnlich wie mein Wahrnehmen, mein Farbensehen („Empfinden“ von Farbe) und andererseits die Farbe selbst? Ist es nicht das Wesen des Fühlens, dass es, fundiert in einem so und so beschaffenen Vorstellen, eben Bewusstsein ist von einem so und so vorgestellten und schönen Objekt? Dem Objekt zugewendet brauchen wir an kein Ich hzui denken, weder an das Vorstellen noch an das Fühlen. In der objektiven Einstellung ist das Objekt da und schön. Nun haben wir hier das Wahrnehmen (das Anschauen) und das Fühlen in Parallele gestellt. Dürfen wir auch in eine Reihe stellen das Begreifen, das begreifende Urteilen, das Vermuten, Fragen, weiter das Wünschen und nun schließlich das Wollen? Das macht doch entschieden Schwierigkeiten. Angenommen, ich tue etwas. Ich drehe meinen Stift in der Hand. Die Drehung als der Naturvorgang trägt doch nicht ein neues „Merkmal“, so etwas wie eine „Färbung“, so etwas wie den Charakter der Schönheit, der Lieblichkeit. Der Vorgang des Drehens ist nicht bloßer Vorgang. Es ist Handlung. Gewiss, es ist meine Handlung. Aber wenn ich der Handlung zugewendet bin, so handle ich zwar, aber ich bin so wenig wie meinem Wahrnehmen zugewendet meinem Wollen: Ich bin zugewendet der Handlung. Der Vorgang hat einen Charakter der Willentlichkeit, den schöpferischen Charakter, wie ich auch zu sagen pflege. Also auch hier haben wir den Unterschied zwischen „Akt“, „Bewusstsein“ und dem Objektiven des Bewusstseins, das ist der Charakter der Handlung. Andererseits, ist es nicht klar, dass der Charakter der Handlung ein ganz anderer ist, in der ganzen Art, wie er „am“ Objekt hängt, wie der Charakter der Schönheit, Gefälligkeit etc? Und dabei finde ich auch folgende Schwierigkeit: Rede ich von „schön“, so kann ich nach der Ausweisung fragen. Ich kann schließlich bei jedem Prädikat nach Ausweisung fragen. Aber kann ich nach Ausweisung des Charakters der Handlung fragen? Vom Wollen heißt es, dass es gewertet werden kann als gutes oder böses Wollen, vom Gefallen als berechtigtes oder unberechtigtes
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Gefallen, vom Fragen als vernünftiges oder unvernünftiges hFrageni. Auch die Handlung wie jede Wollung kann gewertet werden. Aber da werte ich die Handlung eben, ich werte das Wollen und das Gewollte als solches. Der Charakter der Handlung aber kommt dem 5 Vorgang zu, wenn ich eben handle. Da ist nichts weiter zu fragen, es sei denn, ob ich wirklich will und wirklich der Vorgang schöpferisch oder „mittelbar“, wie wenn ich einem anderen Befehle erteile, aus dem Wollen hervorgeht, oder ob jemand anderes wirklich handelt. Oder etwa so: Das Wollen als solches ist kein Werten.
Nr. 18 hDas W il lens vorkom m ni s des Widerstandes und sei ner Übe rwi ndung. G eht der Wille bei der Lei besbe wegung ni cht primär auf die Schic ht der s ubj ekti ven Em pfindungen? i1
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Willensvorkommnis: Ich will die Hand von A nach B bewegen. Ich vergreife mich und die Hand kommt nicht nach B. Die Bewegung ist darum doch eine Handlung: willentliche. Ich hatte eine vage Vorstellung des Weges, insbesondere der Reihe von Bewegungsempfindungen und zugehörigen rein dinglichen Handvorstellungen: vielleicht die letzteren klar, die ersteren, auf die es speziell ankommt, unklar. Mit dem fiat findet nun Ablauf und Bestimmtheit statt. Aber was da kommt, ist zwar vermöge des Willens da, aber absolut genau in dieser Bestimmtheit war es im fiat nicht gewollt. (So wie die Antizipation der Wahrnehmung über das eigentlich Wahrgenommene hinausgreift; wenn dann das Ding in neuen Wahrnehmungen bekannt wird, so heißt es, die antizipierende Wahrnehmung hat gerade dieses schon gemeint. Aber die entfaltende Wahrnehmung nach der bestimmten Besonderheit gibt nicht genau das vorhin Gemeinte.) Es können auch Zwischen-Wollungen eingreifen und regieren, die dem Sinn des fiat sich zwar einordnen, aber doch nicht so, dass sie darin im Voraus volhuntativi antizipiert wären. Ich will das und das tun: Es tritt ein Hindernis auf, es tritt der Bewegung ein Widerstand entgegen, der im Voraus nicht erwartet war, dessen Überwindung nicht zum Willen gehörte. Die Handlung wird unterbrochen, und zwar etwa bei B. Daran schließt sich eventuell „Entspannung der Energie“, „Muskelentspannung“ etc. Das ist ein weiteres Stück Handlung, das eventuell einleitet die Überwindung des Widerstandes. Ich will das Bein heben, es ist aber eingeschlafen, nun mit aller Energie kriege ich es doch ein Stück empor. Haben wir bei jedem Willen als Komponente ein Moment der „Energie“? Der Widerstand liegt im Objekt, das ich bewegen will, selbst (im leiblichen Glied selbst) oder im Objekt, das ich fassend heben will
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(Bleiklumpen), oder der Bewegung tritt ein Objekt entgegen: Die Bewegung ist physisch gehemmt, unfrei. Steckt nicht in der Willensmotivation vielerlei Empirisches? Wie ist der Anteil davon zu bestimmen? Also zunächst zwei Schichten haben wir bei den Leibesbewegungen zu unterscheiden: das, was Sache des Dinges und der dinglichen Bewegung ist, und das, was Sache des Ichleibes ist, also der Zusammenhang der Ich-Empfindungen, der Bewegungsempfindungen und Schmerzempfindungen etc., die im Leib lokalisiert werden, nicht aber im Dingobjekt sonst. Geht der schöpferische Wille nicht primär auf dieses Subjektive? Ist das Objektive nicht bloß faktisch damit verknüpft? Doch so darf man nicht sagen. Das Objekt Leibesglied konstituiert sich ja mit Hilfe dieser Empfindungen als subjektiver Leib. Ist aber der Wille nicht näher bezogen auf die subjektiven Empfindungen? Geht er nicht in erster Linie auf Erzeugung dieser subjektiven Fülle? Und mit dieser ist empirisch „assoziiert“ das, was Sache der bloßen Erscheinung „Ding Hand“ ist. Und dieses Handbewegen als physischer Vorgang ist selbst schon sekundär Gewolltes. Das Primäre geht ausschließlich auf den Zusammenhang der Schicht des „Subjektiven“ im Objekt Leib. Ich frage auch, ob das nicht seine Rolle spielt bei der Konstitution aller äußeren Dinglichkeit. Bei der Konstitution schon der des Raumkörpers selbst mit dieser Fülle spielen sehr wesentlich mit die „Umstände“, die willkürlichen Empfindungsmodifikationen, die das Auftreten zugehöriger Modifikationen der „nach außen zu projizierenden“ Inhaltsgruppen (der räumlich zu „formenden“) motivieren. Es ist die Frage, ob der Wille in Form der willkürlichen Durchlaufung der kinhästhetischeni Momente eine wesentliche Rolle spielt, ob es auf das Willkürliche als solches für die Konstitution der Raumerscheinungen ankommt. Jede Handlung hat also ein primäres Handlungsstück (zum Mindesten), und in diesem hat der Wille seine primäre Schicht und eine mit dieser empirisch zusammenhängende und mitmotivierte. Negative Handlungen gibt es nicht. Es gibt ein fiat und dieses ist handlungsausgehend oder auf künftige Handlung gehend. Und es gibt Aufhebung eines fiat, Aufhebung des Entschlusses. Inhibierung der Handlung schon während ihres Verlaufes. Endlich gibt es Anerkennung einer Proposition als Willensproposition, als Vorschlag,
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Willensvermutung und Verwerfung einer Anmutung. Die Anerkennung ist anerkennendes fiat. Die Verwerfung ist eben das willentliche Nein. Muss jeder Handlung vorhergehen eine Anmutung, die im fiat ihre Willensbejahung findet? Dann wäre das Negative: Anmutung, 5 der das Willens-Nein entgegen tönte.
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In Bezug auf den Willen mache ich folgende Unterscheidungen: 1) Vorausgesetzt ist als die Wirklichkeit, in der sich der Wille betätigt, ein gewisser Zusammenhang von Dingen und Vorgängen: diejenigen Teile der gesamten Naturwirklichkeit, innerhalb dessen Rahmen die möglichen Willenshandlungen fallen. Dieser Zusammenhang lässt mannigfache Möglichkeiten für Veränderungen offen, für sich hineinbewegende Dinge, für vielerlei neue Vorgänge und Vorgangsveränderungen, die in diesem Zusammenhang nicht statthaben, aber statthaben könnten. Das sind freie Möglichkeiten, sofern sie nicht durch den physischen Zustand des Systems geforderte sind. Jeder in diesem Sinn mögliche Vorgang ist denkbar als Willenshandlung: Jede Willenshandlung setzt voraus, dass ihre Materie eine in diesem Sinn freie Möglichkeit darstelle. 2) Stelle ich mir einen solchen freien Vorgang als Handlung vor, so liegt darin, dass die Willenssetzung des fiat, gerichtet auf den mit ihm in eins vorgestellten Vorgang, diesen nach sich zieht, dass er in ihrem Sinn willentlich abläuft. Genauer gesprochen: Die Willenssetzung setzt den Vorgang in einem willentlichen Ablaufcharakter, und diese Setzung impliziert in ihrem Wesen, immanent, eben die „Erwartung“, die auf hdiei Zukunft gerichtete Setzung des Ablaufs in seiner zeitlichen Gestalt. Dass also Willenssetzung die Überzeugung vom künftigen Eintreten des Ereignisses etc. „gemäß“ dem Willen voraussetzt, das heißt nicht, eine beliebige psychologische Voraussetzung ist zu erfüllen, vielmehr gehört das zum Bestand der Willenssetzung selbst. Ich kann nicht wollen, ohne überzeugt zu sein, dass das Gewollte „infolge“ des Wollens eintreten wird. Natürlich: Wollen ist Setzen, und zwar willentlich Setzen, was einschließt als Wirklichkeit setzen, und zwar eines unmittelbar mit dem Willen selbst oder künftig mit einem neuen Willen anhebenden und „vom Willen getragenen“ Vorgangs (mit dem Willentlichkeitscharakter ausgestatteten). Erwarten
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(als künftig ablaufend setzen), dass der Vorgang wird und im Willentlichkeitscharakter wird, und überzeugt sein, dass er nicht wird, das schließt sich evident aus. Genauso wie sich ausschließt Freude darüber, dass Sp sei, und Überzeugung, dass Sp nicht sei: da eben die Freude die Überzeugung impliziert. 3) Sehen wir uns jene freien Möglichkeiten an! Die Schachtel steht hier auf dem Tisch. Die Schachtel könnte sich in die Luft erheben. Ist das eine freie Möglichkeit? Natürlich nicht, wenn dieses gesamte physische System unverändert bleibt. Wenn in dasselbe ein neues Objekt eintritt, etwa als stoßendes Objekt oder als magnetisches oder sonst wie anziehendes, dann kann die Schachtel ihren Platz verlassen: Sie wird angezogen, gestoßen etc. In einem geschlossenen physischen System kann von selbst nichts statthaben: Jede Veränderung ist physikalisch motiviert, sie hat ihre Ursachen, und das sind physische Ursachen. So nach der naturwissenschaftlichen Auffassung. In natürlicher vor-naturwissenschaftlicher Auffassung ist das nicht so. Da sitzt ein Käfer. Ohne dass ein neues physisches Vorkommnis auftritt, verwandelt sich Ruhe in Veränderung. Der Käfer bewegt sich „von selbst“ fort. Der Zufall und andererseits die Spontaneität spielen da eine große Rolle. Warum bewegt sich der Käfer fort? Weil er will. Er wird nicht durch den Willen bewegt, wie ein Stoßendes ein Gestoßenes bewegt, sondern die Bewegung, die physisch betrachtet eine ursachlose ist (kein äußeres agens), ist eine Handlung. Es gibt so etwas wie Handlungen. Ebenso die eigenen Handlungen. Meine Gliederbewegungen stehen phänomenal nicht da als physisch bewirkte, hwiei wenn sie gerade gestoßen worden sind und dgl. Wenn man mich kitzelt, so muss ich zusammenzucken. Wenn man einen elektrischen Strom durch meine Hand leitet, muss ich zusammenfahren etc. Das sind physische Wirkungen. Objektiv kann man auch psychophysische Wirkungen nachweisen: Lebhafte Vorstellungen von entsetzlichen Schmerzen etc. erwecken Pulsverlangsamungen und dgl. Phänomenal stehen aber gewisse Körperbewegungen als physisch unmotiviert da, dafür aber charakterisiert als Handlungen, und zwar als „unmittelbare“. Können solche unmittelbaren Handlungen sein, während ihre Materie, der Vorgang, phänomenal als physisch motiviert dastände, als physisch notwendig? Doch nicht. Ich kann einen „tatsächlichen“ Vorgang nicht beliebig mit Willentlichkeit versehen, ich kann einen
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notwendigen Vorgang auch nicht als Handlung sehen: wenn er mir phänomenal als notwendig dasteht. Der Charakter des fiat und die übrigen Handlungscharaktere vertragen sich nicht mit dem Charakter der bloßen Tatsächlichkeit und empirischen Notwendigkeit des Vorgangs. Nur das verträgt sich, dass etwas den Charakter der Willentlichkeit annehme, sofern es sich um Vorgänge handelt, die an eigentliche Handlungen sich als empirische Konsequenzen (im Phänomen, für das Bewusstsein) anschließen. In diesem Fall aber ist zu sagen, dass solch eine sekundäre Handlung eine primäre notwendig voraussetzt. Denke ich mir diesen Stein als bloß mit Farbe etc. erfüllten geometrischen Körper, so kann ich ihn bewegen und verändern, völlig frei. Dazu brauche ich gar keine Hand und dgl. Doch nur so: Denkbar wäre es, dass der Wille sein fiat setzte und die Bewegung dann als Handlung erfolgte. Aber ist da ein wesentlicher Unterschied? Wäre es nicht denkbar, dass mein Wille Berge versetzte? Ja, hier haben wir die empirischen Motivationen, hier sagen wir, der Berg (der kein Lebewesen ist) bewegt sich nur, wenn er gestoßen, wenn er physisch bewegt worden ist. Schneiden wir diese Motivationen ab, nehmen wir etwa nur den geometrischen Körper mit seinen primären materialisierenden Bestimmtheiten, schneiden wir alle Erfahrungsbeziehungen der Kausalität durch, dann steht der Idee eines frei bewegenden Willens nichts im Weg. Die Veränderungen sind dann freie, sofern die Unfreiheit eben die der Kausalität ist. Andererseits, würde der Körper sich bewegen? Kann ich glauben, dass er sich bewegen wird? Wir sprechen von „Erwartung“ als Komponente des Wollens. Was motiviert die Erwartung? Diese Frage habe ich ja noch nicht aufgeworfen. Eine Erwartung kann empirisch motiviert sein, wie wenn unter gegebenen empirischen Umständen der gewohnte Erfolg eintritt. Das Erscheinen der Umstände führt den Gedanken des Erfolgs nicht nur mit sich, sondern auch die Erwartung, derart, dass wir das Bewusstsein haben, zu den Umständen „gehört“ der Erfolg. Nicht etwa, als ob wir frühere Erinnerungen hätten usw. Freilich kann man nun die Frage aufwerfen: Ist die Motivation eine gültige? Besteht das zu Recht, ist das mit Recht zu erwarten und die Folge „wirklicher“ Erfolg jener empirischen Umstände? Wie sich die Motivation ausweist, das ist eine besondere Frage und im Ganzen doch eine andere als die nach der Existenz der Umstände und des
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eintretenden Ereignisses. Auch hier haben wir Motivierendes und Motiviertes (Substanzmotivation und was dazu gehört). Wie steht es nun mit der „Erwartung“ im Wollen? Ich nehme dabei primäre Handlungen, willkürliche Leibesbewegungen. Als physische Vorgänge können sie nicht motiviert dastehen im Zusammenhang der physischen Umstände. Weiß ich, dass die Hand „ohnehin“ in Bewegung versetzt wird, dann „brauche“ ich ja nicht zu wollen. Aber ich kann auch nicht wollen. Die empirische Motivation, ich habe es auf der vorigen Seite schon gesagt, schließt die Möglichkeit der Willensmotivation aus. Was ist das, Willensmotivation, in diesem Zusammenhang? Nun, der Vorgang, der da gewollter ist, wird nicht nur schlechthin sein, vielmehr wird er „infolge des Wollens“ sein, er wird schöpferischer sein. Sein Sein wird ein Geschaffensein. Wo liegt da die Motivation? Ein Sein kann Folge sein eines anderen Seins. Oder vielmehr ein Geschehen in einem raum-dinglichen Zusammenhang kann Wirkung sein, kann physisch bedingt sein durch anderes Geschehen (sich verändern und sich nicht ändern, letzteres in Bezug auf die ruhenden Umstände). Gegenständlich sagen wir: Ursache sein, notwendig reale Folge sein als Wirkung. Phanseologisch sagen wir: Die Erwartung, dass A eintrete, ist erfahrungsmäßig motiviert durch die Erfahrung und erfahrungsmäßige Überzeugung, dass die und die Bedingungen erfüllt sind. Andererseits in der Willenssphäre: Ein Geschehen kann schöpferisches Geschehen sein; was da wird, das wird willentlich, es geht aus dem schöpferischen „Es werde!“ hervor. Es ist keine physische Wirkung, sondern eine Willensfolge: Geschaffenes als solches. Scheidet sich hier auch Objektives und Phanseologisches? Zunächst: Liegt das „willentlich“, der Charakter des fiat, und der ganze Handlungscharakter nicht auf objektiver Seite, das heißt, steht es nicht genau in der Richtung da wie der Vorgang selbst? Jede Phase des Vorgangs hat ihren besonderen Willenscharakter, und dieser Willenscharakter setzt ihn in eigener Weise und ist ein Charakter an ihm, ihn nach seinem Sein „schaffend“. Wie steht es mit diesem Sein? Das Seiende steht als Seiendes, das Werdende als Werdendes da. Auch das ist etwas „Objektives“, und das Sein als Sein des jeweiligen Inhalts, das Sein mit seinem Jetzt als Phase des Werdens und so das ganze Werden, das ist die Unterlage für den Charakter, der aus dem Wollen stammt, hfüri den Charakter der Schöpfung: Geschaffensein. Auch
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im anderen Fall ist das Sosein Wirkung des Soseins, das Sowerden Wirkung des Sowerdens und hdesi damit einigen Soseins. Dem Sein etc. entspricht die Glaubenssetzung, die Seinssetzung; dem Geschaffensein die auf Glaubenssetzung irgendwie bezogene 5 Willenssetzung (das Setzen). Diese Beziehung ist aber nicht eine solche, als ob eine Glaubenssetzung vorangehen könnte. Ich erwarte nicht vorher die Bewegung meiner Hand und gründe auf diese Erwartung meinen Willen. Vielmehr, weil ich will, erwarte ich. Weil ich die Hand heben will (will, nicht bloß wünsche!), erwarte ich, dass sich 10 die Hand vermöge des in diesem Willen gesetzten fiat bewegen wird.
Beilage IV hGibt es eigene Erwartungsphänomene in der Gemüts- und Willenssphäre?i1 Problem: Sind „Erwartungen“ Modi bei allen Gattungen, also auch in der 15 Gemütssphäre? Erwartung: Antizipation des künftigen Urteils vom künfti-
gen Eintreten, zugleich selbst ein gegenwärtiges Urteilen: „Das wird eintreten“. Wunscherwartung, nämlich „freudige Erwartung.“2 Es wird das Erwünschte eintreten. Erwartung desselben (gewöhnliche Erwartung). Antizipation 20 der Wunscherfüllung und ihrer Freude, zugleich selbst vom Charakter eines Wunsches und einer Wunscherfüllung, nämlich im Glauben, es wird das Erwünschte eintreten. Antizipatorische Erfüllung und wirkliche Erfüllung. Willenserwartung: das frohe Bewusstsein, es wird die Handlung glücken. Antizipation der 25 Willensrealisierung, zugleich vom Charakter der Willenserfüllung, nämlich hinsichtlich der Freude, und selbst Wille. Aber ist das eine korrekte Analogie? Es sind doch intellektive Erwartungen da und dadurch fundierte Gemütsphänomene. Sind das wirklich eigene „Erwartungsphänomene“? Jene gespannte frohe Erwartung (und mit dem 30 Grad der Ungewissheit gedämpfte Erwartung): Es wird das Erwünschte eintreten, oder es wird die Realisierung dem Willen gemäß sich vollziehen – antizipatorische Befriedigung. Vielleicht doch? Nun, haben wir dann nicht auch eine berechtigte Analogie, welche überall von Erfüllung zu reden gestattet? 1 2
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Bei der „Wunscherwartung“ haben wir einmal eine gewöhnliche Erwartung. Das Betreffende wird kommen und wir erwarten es. Das, was eintreten wird, ist aber Gegenstand des Wunsches und war es vielleicht vor dem Wissen, dass dergleichen kommen wird. Die Erwartung nun bringt eine Änderung im Gemütszustand. Der Wunsch, dass S P sein möge, erfüllt sich mit Eintritt der Überzeugung, dass es sei. Der Wunsch, dass es künftig sei, ist voll erfüllt durch die sichere Überzeugung, dass es künftig sein wird, unvollkommen herfüllti durch die Vermutung, die somit Rest von Wunsch übrig lässt. Damit haben wir schon eine Komponente der Freude. Der Wunsch, dass S P sei, und ich es erlebe, dass ich seine Herausstellung erfahre und dass ich es damit genieße, wird natürlich durch die Überzeugung davon, dass es eintreten wird, oder dass es jetzt sei, nicht erfüllt oder nur nach der einen auf das Sein gehenden Seite erfüllt. Erfüllung auch nach der anderen Seite bietet die wirkliche Herausstellung. Es wird nun im Fall der Erwartung, dass es eintreten, und das heißt hier nicht bloß überhaupt eintreten, sondern vor meinen Augen eintreten wird (dass es sich mir herausstellen wird), einerseits Freude vorhanden sein, dass es sein und erlebt sein wird, andererseits der Wunsch, gerichtet auf das Eintreten und Erleben, ist noch nicht erfüllt. Es fehlt noch das wirkliche Erleben. Der Gemütszustand ist also freudiger Wunsch auf dem Grund der Erwartung. Ein neues primitives Phänomen Wunscherwartung ist hier also nicht anzunehmen. Ebenso beim Willen das frohe Bewusstsein, es wird die Handlung glücken, die Unternehmung, die inszeniert ist. Wir haben da Überzeugung, dass es glücken wird. Eine gewisse Vermutung ist Voraussetzung des Willens. Je stärker die Überzeugung ist, umso mehr Wunschfülle hat der Wille. Der Wunsch, dass das künftig sein möge, ist ja erfüllt, wenn ich glaube, hdassi es sein wird. Nun geht aber im Willen der Wunsch nicht nur auf das Seinwerden, sondern auf das Tun. Die Handlung ins Werk setzend und betreibend besteht Erwartung, vorhandener Wunsch und Willenserfüllung und andererseits unerfüllter Wunsch und Wille hinsichtlich der noch fehlenden Realisierung. I c h gl aub e a lso, da ss m a n k e i n e i g e n e s E r w a r t u n g s p h ä n o m e n i m W i l l ens ge bie t konst ru i e re n k a n n . U m g e k e h r t g e h t e s n i c h t an, Er war tung a ls e ine n G e m ü t sa k t zu b e z e i c h n e n. Wir haben also i ntel l ekti ve Inte ntione n (Spannungen und Lösungen, Entspannungen) neben i ntel l ekti ve n a usg e g l i ch e n e n A k t e n, und G e m ü t s i n t e n t i o nen neben emotiona le n a u sg e g l i ch e n e n A k t e n. Weitere Gemeinsamkeiten: Bi l l i gung en und M i ssb i l l i g u n g e n , B e j a h u n g e n , V e r n e i n u n gen, Zus ti mmunge n, A b l e h n u n g e n.1
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Das wäre noch zu überlegen.
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h§ 1. Der vielfache Sinn der hypothetischen Rede und der hypothetische Willei 5
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Existenzialurteil: S existiert. Kateghorisches Urteili: S ist p. Hyphothetisches Urteili: Wenn S p ist, so ist Q r. Ebenso disjhunktives Urteili. Willentliches Soll (Vorsatzfiat oder Handlungsfiat etc.): S soll existieren. Thetische Willenssetzung: S soll p sein. Sp soll p’ sein. Zum Beispiel, die Uhr soll wieder gehen! Die gehende Uhr soll auf den Tisch gestellt werden! Wenn S p sein soll, so soll Q r sein. Reflexion über diese hypothetische Formel. Zunächst als Urteil. Gleichwertig kann ich dann sagen: Wenn es wahr ist, dass S p sein soll, so ist es wahr, dass S q sein soll. Aber in dem „Es soll“ steckt das „Ich will“. Die Uhr soll wieder gehen. Willentlich heißt das: Ich will, dass die Uhr wieder gehe; so hist esi oft, hdassi das „soll“ eine individuell bestimmte Handlung oder eine vorgesetzte Handlung ausdrückt. Führen wir diese subjektive Ausdrucksweise ein, so heißt es: Gesetzt, dass ich will, es soll M sein, oder gesetzt, ich will das M-Sein, so muss ich das N-Sein wollen. Zum Beispiel, gesetzt, dass ich den Zweck will, so muss ich irgendein Mittel wollen. Doch ist es mit dem „muss“ eine eigene Sache. Gesetzt ich fahre nach Rom, dann fahre ich nach Basel, über den Gotthard nach Mailand, Florenz, schließlich nach Rom. Oder ich fahre nach München, über Innsbruck und den Brenner etc. Gesetzt, ich tue A, dann tue ich vorher α, dann β … Oder ich tue erst α’, dann β” … Hier sprechen wir nicht von einem „muss“. Ich kann allerdings sagen: Gesetzt, ich will, ich realisiere A, dann muss ich entweder in der Reihenfolge α, β … realisieren oder die Reihenfolge α‘, β‘ … realisieren.
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Das „Gesetzt, ich tue A, dann mache ich erst α …“ kann nun auch eine rein empirische Bedeutung haben, die mit der Einheit der Willensmotivation gar nichts zu tun hat. Wenn ich des Morgens aufgestanden bin, mache ich einen Spaziergang und nehme dann mein Frühstück. Oder von einem anderen: X hat die Gewohnheit, wenn er A tut, dann B zu tun. Es mag dabei von seiner Seite eine Motivation Einheit gebend zugrunde liegen. Aber das kommt hier nicht zum Ausdruck, es ist in der Aussage nicht gemeint. Somit haben wir bei dem Satz „Wenn ich A will, will ich B“, „Wenn irgendjemand A tut, tut er auch B oder nachher B“ 1) einen empirisch-praktischen Sinn des „wenn-so“. Der Wille bzw. die Handlung ist hier als ein Vorkommnis der Natur genommen und wie bei anderen solchen Vorkommnissen kann die hypothetische Redeform den Sinn haben: Im Fall, hdassi A eintritt, tritt auch B ein. Tritt A ein, so ist zu erwarten, dass B eintritt, auch, immer wenn … so … usw. 2) den Sinn der willentlichen Motivation: Wenn ich A will, so „liegt darin“ willentlich, dass ich B will, oder dass ich B oder B’ … will. Und in allgemeinen Fällen: Wenn ich ein A überhaupt will, so muss ich eins davon, B, B’ … wollen. Ergänzend muss ich noch hinzufügen, dass auch bei der Interpretation des hypothetischen Satzes im Sinn eines empirisch-praktischen Vorkommnisses eine Willensmotivation mitspielen kann. Angenommen jemand macht von hier nach Rom eine Reise, dann wird er entweder den Weg über Basel-Gotthard oder über München-Brenner wählen. Nämlich: Ich denke an den normalen Kulturmenschen, der seine Geographie kennt, der fähig ist, das vernünftig zu erkennen und geneigt histi, sich dadurch praktisch motivieren zu lassen. Ich nehme aber auch an, dass er nicht mit der Reise noch andere Zwecke verbinde, etwa zugleich ganz Oberitalien kennenlernen will und dgl. Unter solchen Voraussetzungen kann ich aus dem Faktum, dass jemand A will, schließen, dass er dann auch B will, und ex post aus dem Faktum, dass er die Reise nach Rom gemacht hat, schließen, dass heri die oder die Route gewählt haben wird. Das „wenn-so“ der Motivation sagt aber: Im Willen des A liegt der Wille des B vernünftigerweise, oder wenn ich A will, so fordert die Vernunft, dass ich B will. Zum Beispiel die Reise nach Rom: 1) In physischer Richtung weiß ich, ein Ding, das hier ist, kann nachher an einem anderen Ort nur sein, wenn es sich von hier dahin stetig bewegt hat. 2) In willentlicher Richtung: Soll R realisiert werden (künftiges
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In-Rom-Sein), so muss die Handlung eine willentliche Bewegung von Göttingen nach Rom sein. Ist eine Ortsänderung gewollt und ist eine Ortsänderung nur möglich als stetige Bewegung, so kann die Ortsänderung nur in der Weise einer willentlichen Bewegung Materie einer Handlung sein. Oder: Ist Anderssein hinsichtlich des Ortes gewollt, ist Anderssein hinsichtlich des Ortes nur möglich als Anderswerden in der Zeit und dieses nur möglich in der Weise einer stetigen Bewegung, so fordert das Wollen des Andersseins des Ortes auch das Wollen des Anderswerdens als stetiger Bewegung und die Handlung des Andersseins Handlung in Form einer Bewegungsänderung. Dritter Sinn der hypothetischen Rede: Wenn A sein soll, so soll B sein. Wenn S p sein soll, so soll Q r sein. Wenn es vernünftig ist, dass A sein soll, so ist es vernünftig, dass B sein soll. Doch werden wir dabei nicht sagen, wenn ich A will, wenn ich A tue, so will, tue ich B oder muss ich B tun, sondern wenn ich A tun soll, so muss ich B tun oder soll ich B tun. Soll ich, ist es gut, nach Rom hzui reisen, so ist es auch gut, ist es auch gesollt, den passenden Weg zu wählen. Ferner haben wir eine Art hypothetischer Aussagen, die dem Wollen unter Hypothese Ausdruck geben. Unter Voraussetzung, dass faktisch S p ist, unter Voraussetzung, dass ich Geld habe etc., dass das Wetter günstig ist usw., will ich Q r. Das heißt nicht, unter Voraussetzung, dass die Tatsache „S ist p“ besteht, ist es eine Tatsache, dass ich das will, sondern etwas ganz anderes: Ich entschließe mich zum „Q ist r“ unter Voraussetzung, dass die Vorbedingung „S ist p“ sich als erfüllt herausstellen sollte. Ich habe jetzt einen Entschluss gefasst, ich will, aber es ist ein hypothetischer Entschluss, ein hypothetischer Wille. Die Aussage, die ihm Ausdruck gibt, ist wahr, wenn ich mich wirklich so entschlossen habe. Die erstere Aussage, dass im Fall jener Tatsache auch die Tatsache meines Wollens des „Q ist r“ bestehe, kann falsch sein und ist im Allgemeinen falsch. Ist gemeint das künftige Wollen „Q ist r“ (künftiges thetisches Wollen), so kann ich mich ja inzwischen anders entschlossen haben oder meinen Entschluss vergessen haben etc. Zu bemerken ist, dass ein hypothetischer Wille seine „Realisierung“ findet in der Form, dass an die Entscheidung der Tatsachenfrage im positiven Sinn sich knüpft der thetische Wille „Q sei R!“. Diese Entscheidung in Verbindung mit diesem thetischen Willen
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„realisiert“ in gewissem Sinn den Entschlusswillen. Wir haben hier den willenslogischen Zusammenhang sozusagen. Will jemand: „Unter Voraussetzung A will ich B“, und erkennt er, dass A in Wahrheit ist, dann besteht die Willensfolge, dass er B wollen muss.1 Der hypothetische Zusammenhang, der hier auch in Form eines hypothetischen Satzes zum Ausdruck kommen kann, ist offenbar ein aus Motivation entspringender und in diesem willentlichen Sinn zu verstehender, und zwar gemeint als analytischer (willensanalytischer). Es ist hierbei zu bemerken: Jedes Urteil ist in gewissem Sinn kategorisch, nämlich es ist eben Urteil: U! Zu jedem Urteil U! ist aber denkbar ein Urteil (rein bedeutungsmäßig) der Art „Wenn M ist, so ist U!“ und „Entweder M ist oder U ist!“. Ebenso im Willensgebiet? Zunächst überlegen wir Folgendes. Haben wir – bedeutungsmäßig gesprochen – irgendeinen Willen (Vorsatz oder Handlung) W!, so ist denkbar, zunächst in Verbindung mit beliebigen Urteilen bzw. Sachverhalten: Wenn U ist, so W! (Wenn die Tatsache U besteht, so sei W, so will ich W.) Und willenslogisch: Wenn U ist, dann ist W zu wollen. Nicht aber ebenso: Entweder U ist oder W ist zu wollen; entweder es besteht die Tatsache, dann will ich W, oder ich will W und sie besteht nicht (dieses disjunktive Urteil kann nur tatsächlich verstanden sein, nicht im willentlichen Sinn). Aber wie ist es, wenn wir Willen mit Willen verbinden? Wenn W1 gewollt ist, dann ist W zu wollen. W ist zu wollen. Zu jedem solchen Wollen ist formal zu denken ein hypothetisches: W ist zu wollen, wenn W1 gewollt ist. Oder eins von beiden ist zu wollen. Doch hier ist von „ist zu wollen“ geredet. Zunächst kann ich einfach sagen: „Wenn W1, so W!“: Ich will W unter Voraussetzung, dass ich W1 will. „Entweder W1 oder W!“: Eins von beiden will ich, W oder W1, ich will W oder will W1. All das nicht in intellektivem Sinn verstanden als Faktum. Nicht ist gemeint: Vorausgesetzt, dass in mir ein Wille W1 besteht, hsoi besteht das „hIchi will W“. Oder Faktum: Ich vollziehe entweder die oder jene Wollung; ein disjunktives Faktum. Das Hypothetische und Disjunktive sind vielmehr Formen des Wollens selbst. Und auf diese „Bedeutungsformen“ des Wollens
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Willensschluss – das „und“ natürlich als zum Willensbewusstsein gehöriges.
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oder auf das Wollen hinsichtlich der Bedeutungsformen, hinsichtlich der Geltung und Nichtgeltung, die in der Form wurzeln, bezieht sich die formale Logik des Willens (die formale Willenslehre als Analogon der formalen Urteilslehre).
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h§ 2. Affirmation und Negation beim Urteil und beim Willeni Dazu der Unterschied der Affirmation und Negation. Was ist ihr willentliches Gegenstück? Ich habe den Willen W! Ich will nicht: W. Ich will nicht das und das (Materie). Ich urteile nicht „S ist P“. Das heißt, ich glaube das nicht. Ich lehne es glaubend ab. Darin liegt, ich stelle „S ist P“ vor und verwerfe das ganze so Vorgestellte. Es kann auch jemand urteilen „S ist P!“. Ich negiere, ich sage Nein. Oder ich habe soeben oder gestern geurteilt, und nachher darauf zurückblickend, auf das Urteil, sage ich Nein. Ich wende mich aber nicht eigentlich gegen das Urteilen als vielmehr gegen das „dass S P ist“, es ist nicht so. Andererseits kann ich affirmieren, zustimmen. Ebenso beim Willen. Ich stelle mir den Entschluss (nicht das Entschließen), die Handlung (nicht das Handeln) vor und lehne es ab: im Willen. Ebenso wie ich willentlich affirmieren kann. Ich habe also die drei formalen Fälle: W!, +W!, -W!, d. h. schlichter Wille, willentliche Zustimmung, willentliche Verwerfung. Das zustimmende Urteil ist selbst ein Urteil: Es ist wahr, dass A ist! Ist das zustimmende Wollen, das Zustimmen zu einem Wollen auch ein Wollen und ein iterierbares? Doch wohl. Ich stelle mir eine Handlung vor, ich entschließe mich zustimmend zu ihr. Ich stelle mir ein wollendes Zustimmen vor – und stimme dem wieder zu, ich sage noch einmal mein Ja. Ebenso, ich lehne ab. Ich stelle mir ein Ablehnen zu einer proponierten Handlung vor und verhalte mich dazu wieder ablehnend. Und das Ablehnen ablehnen, das ist gleichwertig einem Zustimmen. Es sind hier aber allerlei Schwierigkeiten. Die klare Analyse der einschlägigen Verhältnisse ist ein großes Desiderat. Was ist das für ein Verhalten, das Ablehnen einer vorgestellten Handlung, die Ablehnung eines „proponierten“ Vorsatzes und ebenso das Zustimmen zu einem solchen? Ist dieses Zustimmen und Ablehnen ein Willensver-
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halten? Gibt es ein Willensverhalten, das nicht den Charakter eines Vorsatzes oder eines sich als Handeln realisierenden Wollens hat? Stimme ich einer „proponierten“ Handlung, einem proponierten Vorsatz zu, so „entschließe ich mich dazu“. Was liegt da vor? Fasse ich bloß den Vorsatz? Das wäre der Vorsatz, das und das zu tun. Aber ich habe schon vorher die volle Handlung, den vollen Vorsatz vorgestellt mit dem fi at etc. Ich fühle mich vorher in den Vorsatz, in das Handeln ein: Ich setze gleichsam vor, ich handle gleichsam. Oder jemand sagt „Tue das!“. Und ich stelle mir dieses Tun vor. Nun tue ich es. Aber ich tue es nicht bloß, ich stimme zu. Ich sage Ja. Was liegt in diesem Ja? Im Urteilsgebiet: Jemand sagt „S ist p“. Ich stimme zu: „So ist es wirklich“. Wir sagen auch „Ja, es ist wahr“. Ist das ein spezifischer Ausdruck der Zustimmung? Gebrauchen wir es nicht in der Tat so? Jemand sagt „S ist p“ und wir sagen: „Ja, es ist wahr“. Besagt „Ja“ und „Es ist wahr“ dasselbe? Das Proponierte, eventuell Erwogene, bloß Gedachte ist dasselbe wie das gleichstimmig Geurteilte, d. i. als „wahr“ Gesetzte. Das Urteilen ist das In-der-Weise-der-WahrheitSetzen. Ich sage nun von dem Vorgestellten, Erwogenen, Proponierten, Geurteilten des anderen: „Das ist wirklich so“, das heißt, im Urteil steht das Was, der Inhalt, die bloße Vorstellung im Charakter des „wirklich“ da, und das sage ich eben aus. Freilich, dieser Charakter ist nicht die Wahrheit selbst. Es ist „Charakter“ der Wahrheit, und dieser weist sich aus in einer neuen Zustimmung, nämlich wenn das „wahr“ gegeben ist, der ganze Urteilsinhalt in diesem wahr „gegeben“ ist. Ich bringe da zur Einheit das Urteil und die „Gegebenheit“, die wieder Urteil ist. Nun haben wir den Urteilsinhalt, gleichgültig ob wir ihn einem Urteil oder einer Vorstellung meiner oder eines anderen entnehmen, und das „wahr“ und eine Prädikation „Das ist wahr“, und dann haben wir die Zustimmung oder Zusammenstimmung mit dem maßgebenden evidenten Urteil, dasselbe, derselbe Inhalt in der Gegebenheitsweise der Anschauung, ja der Evidenz, das Steigerungs- und Zusammenstimmungsbewusstsein zwischen nicht-evidentem und evidentem Urteil. Der identische Inhalt hat den Charakter der „Wirklichkeit“, er ist gegeben als Wirklichkeit. Im Bewusstsein der Zusammenstimmung meines Urteilens mit einem anderen, aber proponierten oder einem Quasi-Urteilen haben wir das Bewusstsein „ ‚S ist P‘ ist wirk-
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lich“ oder „ist!“, „ist so“, man sagt nicht „ist ja“. Im Bewusstsein des Widerstreits zwischen „S ist P“ und einem Gegenurteil, das mit ihm eben streitet, haben wir das Bewusstsein „S ist P – nein!“, es hat den Charakter der Nichtigkeit, Charakter des „nicht“. Berechtigt ist dieses neue Urteil, so gut wie das schlichte Urteil, erst, wenn es sich ausweist, wenn es Grund hat. Also in der Begründung, und die hat immer selbst die Form einer Bejahung (und in der negativen Auswertung einer Verneinung). Berechtigt ist das Urteil, wenn es eine bejahende Begründung, unberechtigt, wenn es eine verneinende Begründung zulässt (eine Entgründung). Jede Begründung endet in einer Zustimmung, jede Entgründung in einer Verwerfung. Wir müssen unterscheiden das zustimmende Urteilen und das Urteilen, das dem in der Zustimmung synthetisch bewusst werdenden Sachverhalt Ausdruck gibt. Jemand berichtet mir und ich „übernehme“ sein Urteil, ich urteile mit ihm. Ich verhalte mich zustimmend, wie ich dann öfters mit dem Kopf nicke, Ja sage, nicht bloß zum Zeichen, dass ich verstanden habe, sondern als Zeichen der Zustimmung. Oder jemand sagt etwas aus, worüber ich selbst schon „mein Urteil“ habe, und ich stimme zu. Bei all dem urteile ich wie er „S ist P“ und stimme zu, aber ich urteile nicht: „Es ist wahr, dass S P ist, es ist wirklich so.“ Das ist eine neue Prädikation auf dem Grund der Zustimmung, in ihr kommt die in der Zustimmung bewusste Synthese zur Setzung. Ist die Zustimmung selbst ein Urteil? Ist die Verwerfung ein Urteil? Es ist wohl im Wesentlichen dieselbe Frage, ob wir unter dem Titel „Urteil“ nur jede Aussage befassen, in der eine intellektive Synthese, eine prädikative, ihren begrifflichen „Ausdruck“ findet. Dann urteilen wir nicht, wenn wir solche Synthesen vollziehen, aber nicht begreifen und ausdrücken. Gehen wir nun zum Willen über. Wie es ein intellektives Vorstellen gibt, eine intellektive Zumutung, Proposition, so eine praktische. Ich erwäge eine Handlung, jemand mutet mir eine Handlung zu, er bittet mich darum, er fordert es von mir etc., ich stimme zu und will in Übereinstimmung mit seiner Zumutung. Was ist hier Sache des Willens? Nun ich will, was er von mir fordert. Hier handelt es sich nicht um eine Übereinstimmung meines Willens mit seinem Willen in der Art, dass er will, dass A geschehe, und ich will auch, dass A
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geschehe. Also zum Beispiel, er will nach Rom reisen und ich will nun auch nach Rom reisen. Das wäre keine Zustimmung. Indessen sehen wir genauer zu. Ist die Handlung und entsprechend die Wollung der Materie nach identisch? Die Handlungen sind offenbar bestenfalls gleich, aber nicht ein und dieselbe. Identität zweier Wollungen hinsichtlich der Materie ist offenbar nur möglich, wenn ich wiederholt einen Vorsatz habe einer und derselben Materie, in der Wiederholung sage ich: derselbe Vorsatz. Und abermals kann es sein, dass ich und ein anderer übereinstimmen, nämlich so: Ich will, dass die in seine praktische Sphäre gehörige Handlung erfolge, also dass er H ausführe oder den Entschluss (H) fasse, und er kann nun wirklich den Entschluss fassen und eventuell H tun. Freilich mein Wille, dass mein Nebenmann H tue oder wolle, kann kein unmittelbarer sein und kein einfacher. Ich muss es den anderen wissen lassen, muss zu ihm sprechen und dgl., dass ich das will, und muss annehmen können, dass dieses Wissen nun in der und der Weise Motivationen errege, die zur Fassung des Entschlusses und eventuell des fiat der Handlung führen. Will ich nun, dass er H wolle, und will er wirklich, so ist diese Übereinstimmung natürlich nur ein Faktum, von dem ich auf dem Weg der Verständigung erfahren kann. Wie ist es aber im anderen? Der Bequemlichkeit der Einfühlung wegen kehren wir um: Fordert jemand von mir, dass ich H will, so mag es ein bloßes Faktum sein, dass ich in der Tat will. Aber wenn ich seiner Forderung bewusst „nachkomme“, wenn ich ihr „zustimme“, was liegt da vor? Ich stelle mir nicht nur ihn als Fordernden, sondern den Inhalt seiner Forderung vor; das ist, dass ich das und das wolle: Ich stelle damit die Wollung des Inhalts H (wo H bloße Materie bedeutet) vor. Aus welchen Motiven immer, ich will, was er mittelbar will oder was er von mir fordert, wünscht: Also ich fasse den Entschluss, den Vorsatz. Aber nicht bloß fasse ich den Vorsatz, so wie wenn nichts voranläge. Er wünscht doch, dass ich will, oder er will und befiehlt, dass ich wollen soll. Ich folge. Ich sage Ja. Würde ich einfach den Vorsatz fassen, so würde ich wollen, das und das zu tun, nämlich H. Stattdessen ist gefordert, dass ich das wollen soll, und ich sage Ja, das heißt, ich will wollen, ich will den Entschluss fassen, ich will das H wollen, und das ist willentliches Zustimmen. Das „Ich will H wollen“ ist aber eine unmittelbare Willenshandlung. Dieser Wille geht nicht darauf, dass ich künftig wollen soll, sondern unmittelbar.
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Ich will den Entschluss fassen, heißt, ich will wirklich und darin liegt, der Wille zu wollen geht unmittelbar in Realisierung über: Er geht über eben in den Willen des Inhalts H, in den Vorsatz (H). Statt des einfachen Vorsatzes habe ich also die Handlung, die schöpferisch den Vorsatz erzeugt. Der Vorsatz ist willensmäßig erzeugter. Dass also wäre die Willensbejahung. Ebenso die Ablehnung, die Willensverneinung bedeutet: Ich will den Vorsatz nicht fassen. Deutlicher: Es ist nicht eine Privation da, als ob der Wille, den Vorsatz zu fassen, eben nicht bestände, vielmehr wird der vorgestellte Vorsatz negiert: in einer W illensnegat i on, einer Ablehnung. Nun scheint mir aber die Darstellung inkorrekt. Ich habe nämlich folgendes Bedenken. Der andere will, dass ich den Vorsatz fasse, das heißt phansisch: Ich soll ein Wollen des Inhalts H haben, und darin steht der Vorsatz thetisch da. Ich stelle nun den Vorsatz vor. Stelle ich damit mein Wollen vor? Nein, ich fühle mich in das Wollen ein und stelle den Vorsatz vor, das Vorgesetzte als solches, und das erkenne ich praktisch an. Dieses praktische Anerkennen ist nicht ein Wollen, das auf ein Wollen gerichtet ist, sondern ein Wollen, das auf ein vorstellungsmäßig modifiziertes Wollen gebaut ist. Und dieses Wollen im höheren Stockwerk ist entweder affirmhativesi oder negatives, es ist Annehmen des Vorsatzes oder Ablehnen desselben. Wir hätten dann die genaue Analogie zum Urteil. Das intellektiv vorgestellte „S ist P“ (intellektive Vorstellung in Urteilsmodifikation) wird anerkannt oder verworfen. Urteilslogisch betrachtet ist dann die doppelte Anerkennung gleichwertig einer Anerkennung, oder es ist die Anerkennung eines Urteilsinhalts gleichwertig dem schlichten Urteil. Ferner, die Verwerfung einer Verwerfung ist gleichwertig dem schlichten Urteil. Willenslogisch betrachtet ist die Anerkennung eines Willensinhalts (das wäre, eines Vorgesetzten als solchen, als Idee) gleichwertig mit dem einfachen Wollen dieses Inhalts. Was heißt gleichwertig? Nun, dem Wert, dem Willenswert nach gleich. Ist der Vorsatz H gut, so ist auch die Zustimmung zu dem Vorsatz H gut. Und ist die Zustimmung zu dem Vorsatz H gut, so ist auch der Vorsatz H selbst gut. Natürlich ceteris paribus in sich gut etc. Die doppelte Negation: Ich lehne den Vorsatz H ab, ich lehne den abgelehnten Vorsatz ab? Was ist das Abgelehnte als solches?
C. ZUR LEHRE VON DER TENDENZ UND IHRER AUSWIRKUNG: DIE SPANNUNG DER ERWARTUNG UND AUFMERKSAMKEIT, THEORETISCHES INTERESSE, TENDENZ UND ERFÜLLUNG, TENDENZ UND WILLE
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Nr. 21 h De r un te r sc hi e dl i che C ha ra kt e r d e r Ersch ei nu ng s we i se n be i g e g e ben e n Di ng e n u n d bei de r Er ze ug ung e i ne r Obj e k tv e rä n d e ru ng . Au fme r ks a mke i t a uf da s Ers ch e i n e n d e u nd Vo llz ug de r S t el l ung na hme . De r S e i n sc h a ra k te r vo r d e r Ak tu a l i s ie r ung de r Ste l l u n g na h m ei1
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Die Tendenz geht darauf, die Erscheinung, die ich vom äußeren Objekts schon habe, in andere und wieder andere „Erscheinungen vom selben Objekt“ zu verwandeln. Ich bewege mich in der geschlossenen Mannigfaltigkeit „möglicher Erscheinungen“, ich „will“ gleichsam immerfort neue Erscheinungsveränderungen. Gerichtet bin ich mit dem Blick auf das Objekt, auf das erscheinende „Etwas“, aber die Tendenz geht darauf, das Etwas im Wie der einen Erscheinungsweise zu verwandeln in dasselbe Etwas im Wie der anderen Erscheinungsweise; oder die Tendenz geht auf die „Erzeugung“ neuer Erscheinungsweisen, die Identifizierung des erscheinenden Etwas mit sich führen (neuer hErscheinungsweiseni – innerhalb des Bewusstseins „dasselbe“). Jede Wahrnehmung – mir das Objekt in dieser Orientierung darbietend – lässt die Übergänge in die anderen Erscheinungen desselben Objekts, und zwar in gewisse Gruppen, praktisch offen; die Übergangsmöglichkeiten sind praktische Möglichkeiten, und zwar unmittelbar praktische Möglichkeiten (Augenbewegungen etc.). 1
Wohl 1913/14. – Anm. der Hrsg.
© Springer Nature Switzerland AG 2020 297 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7
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„ E in neues O bjekt erzeugen “, d. i. sozusagen eine neue „ Gr uppe “ erz eugen, also Erscheinungen „erzeugen“, die nicht zum bloßen System der Augenbewegungen etc. als motivierte gehören. Die Gruppe ist natürlich nicht das Objekt der Willenssetzung und somit ihre Schöpfung, Erzeugung im onthischeni Sinn. Wie findet Objekterzeugung statt? In der äußeren Erzeugung handelt es sich immer um Objektveränderungen, um Zusammenbildungen von Objekten aus gegebenen Objekten, um Bearbeitungen von Objekten, durch welche aus ihnen andere, unseren Zwecken entsprechende Objekte werden etc. Also immer hhandelt es sich um eini Anderswerden eines schon Seienden, in einem weitesten Sinn. Also geht die Willensrichtung aus von schon gegebenen Objekten, sei es unveränderten oder selbst schon als verändert bewussten, und im Horizont liegt eine Veränderung vor bis zu einem gewissen Veränderungsziel. Dabei besagt die Pas si vi tät der Erfahrung vom gegebenen Objekt oder der gegebenen Objektveränderungen eine gewisse Gebundenheit eben an die „Gegebenheit“. Gewisse Erscheinungen sind schon da und geben mir das Objekt und hini unvollkommener Weise, weisen aber durch den Sinn, der ihnen einwohnt, auf gewisse neue Erscheinungsweisen und wieder neue hin, denen ich frei nachgehen kann und die in aktueller Erfahrung immerfort Identifikation desselben Objekts als immerfort gegebenem resultieren lassen. Bei der Erzeugung einer Veränderung habe ich einer im Vorsatz vorschwebenden Veränderung – die nicht gegebene, sondern vorgesetzte ist und im Vorsatz in bestimmter Erscheinungsweise (die den Sinn vorschreibt) vorschwebt – die Thesis des „Es werde“ erteilt, und damit haben die in der Handlung auftretenden Erscheinungsweisen einen neuen Charakter, eben den der aus dem Willen entquollenen gemäß dem vorgesetzten Sinn. Bleibe ich im Vorsatz, so hat die vorgestellte Veränderung die Thesis des Willens (die eine Kontinuität von Willensmomenten, von Willensthesen abgewandelter Art in sich impliziert). Aus dem Vorsatzwillen entquillt eine reproduktive Kontinuität von Willensreproduktionen, die den Charakter von künftigen, aber eben aus dem Willen hervorgequollenen haben, dazu für jede Phase von Vorgangsphasen – die den Charakter von aus den künftigen Wollungsphasen hervorgegangenen haben, in der Art, dass ihr onthischesi Korrelat „künftig Erzeugtes“ bewusstseinsmäßig
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ist – künftig Erzeugtes, aber als infolge des jetzigen Entschlusses, des Wollens dieses Künftigen. Und damit der ganze Vorgang. Die Art, wie hier die Erscheinungsweisen in ihrer Kontinuität, die zur Einheit des Sinnes der Veränderung sich zusammenschließen, gesetzt sind, ist wesentlich anders als die Art, wie Änderung von Erscheinungsweisen bei gegebenen Dingen und Vorgängen statthat. Einmal histi das Sein und Werden eines Sinnes vorgegeben, das andere Mal Sein und Werden dieses Sinnes willentlich gesetzt. Es sind hier aber noch genauere Unterschiede zu machen: Eine Bewegung kann erscheinen, so dass ich auf das Erscheinende gerichtet bin oder auch nicht darauf gerichtet bin, genauso wie bei jedem Erscheinenden überhaupt. Speziell etwa bei einer Wahrnehmungserscheinung kann ich dem Erscheinenden zugewandt sein; ist es eine Bewegung, so kann ich dem Sichbewegenden mit dem „geistigen Blick“ der Aufmerksamkeit folgen oder auch nicht. „Ich bin nicht dabei“, ich weile mit meinem Betrachten, Stellungnehmen dieser oder jener Art woanders. Hierbei finden wir auch den Unterschied, dass der „aufmerkende“ Blick durch das Erscheinende hindurchgehen kann und ihm folgen hkanni, eventuell an ihm die oder jene Teile und Momente herausmerkend und dabei das einheitliche Ganze festhaltend usw., dass, sage ich, er das tun kann, ohne dass mein Glauben oder Zweifeln oder Unglauben und sonstige derartige „Aktqualitäten“ mitbeteiligt sind, obschon sie mit da sind. Ich betrachte ein perzeptiv Erscheinendes in der gewöhnlichen äußeren Wahrnehmung; das Wahrgenommene steht als seiend da, aber ich bin nicht in besonderer Weise auf das Sein gerichtet, ich vollziehe nicht in ausgezeichneter Weise den Glauben, ich bin nur auf das Erscheinende gerichtet. Genauso bei der Betrachtung eines „Bildes“, z. B. einer gemalten Zentauren-Landschaft, die ich keinen Augenblick für eine Wirklichkeit nehme, oder bei der Betrachtung einer stereoskopisch erscheinenden Linienpyramide, die ich nicht für eine wirkliche Sache im wirklichen Raum halte. Ich betrachte dergleichen erscheinende Objekte, durchlaufe sie aufmerksam nach ihren Teilen und Momenten; die Unwirklichkeit, deren ich mir immerfort in gewisser Weise bewusst bin, spielt dabei „keine Rolle“ – nicht so, wie wenn ich betrachtend aktuell „Stellung nehme“ in einem eigenen Bewusstsein der Ablehnung der Wirklichkeit, in einem vollzogenen Nichtigkeitsbewusstsein, in einer vollzogenen Negation.
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Bei einem eigenen Stellungnehmen in Form der Position (Seinssetzung) beobachten wir oft, dass „Gegenmotive“ gegen das Sein sprechen, dass Charaktere der Zweifelhaftigkeit, der Unstimmigkeit auftreten. Eventuell aber geht eine Seinsanmutung, ein modifizierter Seinscharakter vorher (auch Soseinsanmutung natürlich). Es fragt sich aber, ob das notwendig ist, und wieder: Sind das nicht schon vollzogene Stellungnahmen? Es ist z. B. klar, dass, wenn ich zweifelhaft bin in Betreff eines Soseins, etwa, ob das dort im Wald ein Hund oder ein Wildtier ist, und ich den Blick auf einen anderen sichtbaren Hund wende, der einerseits ein Motiv für mich sein mag, auch das Erstgesehene für einen Hund zu halten, als auch handererseitsi zu vollziehen „Das ist ein Hund“, das heißt, ich habe hier nicht wie bei vielen anderen erscheinenden Dingen den doxischen Charakter ohne doxische Stellungnahme, sondern hier in diesem Kontrastverhältnis habe ich eine Glaubensstellungnahme, ohne dass bei diesem Objekt ein Zweifel, ein Gegenmotiv und dgl. aufgetreten wäre. Habe ich nun eine äußere Erscheinung, so kann ich das Erscheinende bloß betrachten, ohne aktuell Stellung zu nehmen. Ich kann es betrachten und zugleich Stellung nehmen, und tue ich das, so kann der aufmerkende Blick auf dem Sein ruhen. Er kann? Hier ist zu überlegen: Stellungnehmen ist das Seinssetzen, ist Auf-das-Sein-inder-Setzung-Gerichtetsein. Nun kann ich in gewisser Weise aber noch Stellung nehmen und betrachtend das Erscheinende durchlaufen: Hier rückt der Blick auf das Sein an die zweite Stelle, primär betrachte ich bloß das Erscheinende als solches, ebenso wie ich bei der bewussten Illusion eventuell aktuell gegen das Sein Stellung nehme, nämlich das Erscheinende verwerfe, aber es durchlaufe, seine Seiten und Momente hervorhebe, eventuell beschreibe etc.: „Dieses Ding da, diese rote Linienpyramide etc. ist nicht, existiert nicht.“ Hier achte ich zuerst auf das in bestimmter Erscheinungsweise mit seinem Erscheinungsgehalt Erscheinende, expliziere und deskribiere es, und dann hachte ichi auf den ihm in der Ablehnung zuerteilten Nichtseinscharakter. Also auf Sein und Nichtsein achten und es beachtend erfassen ist etwas anderes als Stellungnahme des positiven oder ablehnenden Glaubens hzui vollziehen. Nun sehen wir aber, dass wir bei der „Vorstellungsunterlage“, bei dem Haben der Erscheinung, zweierlei Möglichkeit haben: Es kann die Erscheinung erscheinen in diesem oder jenem „qualitativen“, do-
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xischen Aktcharakter. Das Erscheinende hat schon einen Charakter des „seiend“ und dgl., aber einen toten Charakter. Andererseits hhat das Erscheinendei nicht einen solchen hCharakteri, der selbst ein Erscheinendes, eine Komponente des Erscheinenden (der Materie) ist, etwas, worauf man bloß „hinsehen“ könnte, worauf man bloß aufmerken könnte, vielmehr etwas, was man vollziehen muss. Und dieses Vollziehen ist ein dem Erscheinenden so etwas wie einen Wertcharakter zuerteilen, es in einem erweiterten Sinn „bewerten“. In diesem Bewerten ist der Charakter originär da und konstituiert sich der „Satz“, das Erscheinende als Substrat des Seinscharakters. Und in der Reflexion heißt es dann: Schon vor der „Aktualisierung“ der Stellungnahme (dieser „Bewertung“) war die charakterisierte Erscheinung bewusst, aber der Charakter war tote Potenzialität (die darum keineswegs ein leeres Nichts ist), heri war dargeboten und in diesem Sinn gegeben, aber nicht in aktualisierter Weise gegeben. Also im eigentlichen Sinn vollziehen kann man nur Stellungnahmen; die Vorstellungsunterlage aber, die Materie, das Substrat der Stellungnahme, kann man nicht vollziehen, sondern durch Aufmerksamkeit beseelen, in die Form der Betrachtung bringen, die den aufmerkenden Blick hineinsendet. Und das Aufmerken auf das substruierte Erscheinende ist Voraussetzung für den Vollzug der Stellungnahme, und es heißt, die Stellungnahme hzui modifizieren, nämlich in den Modus sekundärer Stellungnahme bringen, wenn man wieder ausschließlich auf das Substrat achtet und sich ausschließlich darin betrachtend betätigt. Es ist nun eine sekundäre Vollzogenheit gegenüber der bloßen Potenzialität vor jedem Vollzug. Erst wenn sich der „Satz“ aktuell konstituiert hat als eine fundierte, auf Substrat und produktiv aktualisierten Charakter gebaute Gegenständlichkeit, kann hsichi ein aufmerkender Blick auf das „Sein“, auf diese Wertungskomponente des Satzes, die den Satz zum Satz macht, richten.1
1 In den Darstellungen über Aufmerksamkeit und Vollzug vorsichtig sein und die Ausarbeitungen Yo (Januar 1912) hvgl. Husserliana XXXVIII, Text Nr. 4: Richtungen der Aufmerksamkeit (S. 371)i, Ms, Ax hvgl. zu diesen Signaturen den Textkritischen Anhang, Husserliana XLIII/4, S. 364 ffi etc. beachten. In Yo tritt hervor, dass im vollzogenen Akt zu unterscheiden ist, die Richtung des aufmerkenden Blickes auf das Gegenständliche und die Stellungnahme zu demselben. Und es wird da gehandelt von einem „bloßen Betrachten“, wo also der aufmerkende Blick auf den Gegenstand geht, ohne die Stellungnahme zu vollziehen, und das gibt Anlass, den Versuch eines eigenen
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Aber nun ist doch zu überlegen, ob da nicht manches zu ändern ist. Wann ist der Charakter ein bloß toter Charakter? Wann ist er unvollzogener? Wenn ich in normaler Weise wahrnehmend die daseienden Dinge betrachte, und zwar in der natürlichen explikativen Art, die ich dann mit Worten und Begriffen ausdrücke, also in Aussagen hwiei „Das Tintenfass steht auf dem Tisch“ usw., so habe ich doch beständig die Seinsbewertung, die Daseinssetzungen (Gewissheitssetzungen) vollzogen. Die Aufmerksamkeit und Analyse richtet sich auf das Erscheinende, das aber immerfort aktuell Gesetztes ist. Das Tintenfass, das ist gesetzt, aber etwas anderes ist hesi, den aus der Setzung dem Substrat Tintenfass zuerteilten Charakter in einer neuen Setzung hzui setzen, also eine neue Objektität, die wieder als seiend bewusst ist, zu haben und auf ihre Komponente, die Satz-Komponente, den Blick zu richten. Und dabei ist auch das Substrat, aber nur als Substrat gesetzt. Also zwei Arten der Setzung des Substrats? Einmal ist das Substrat schlechthin gesetzt, das andere Mal „als Substrat“. Was heißt das? Einmal setze ich: das Tintenfass! Das andere Mal „das Tintenfass“ – existiert. Das eine Mal geht der Setzungsstrahl durch das Erscheinende hindurch, ohne dass dieses als Erscheinendes zum Objekt wird. Die Setzung wird vollzogen, aber der Setzungswert wird nicht selbst Objekt, was vielmehr ein neues Bewusstsein voraussetzt. Im einen Fall aktuelle Setzung mit seinem Substrat-Bewusstsein: Setzung auf Setzungsmaterie gebaut. Das andere Mal ist dieses Bewusstsein selbst Unterlage eines anderen Bewusstseins, das in ihm, in seiner reflektiven Modifikation, Substrate für Setzungen findet. Das sind eben überaus schwierige Verhältnisse, von deren reinlicher Beschreibung so viel abhängt und die ich noch nicht voll beherrsche. Wenn ich eine Illusion habe, so kann ich doch, das ist der leitende Gedanke, das erscheinende Objekt betrachten, genau so, als wenn es für mich da als Wirklichkeit wäre. Ich beschreibe, was da erscheint und was ich ohne Glauben sehe, ich sage etwa beschreibend: „Es erscheint, es existiert aber nicht“ oder „Ich glaube daran nicht“. Zum Beispiel, es erscheint ein Tisch, auf dem Tisch steht ein Tintenfass etc., genau so wie jetzt im Bewusstsein der Wirklichkeit, in Vorstellungsbegriff zu bilden. Überhaupt ist da vieles gesehen, was ich seitdem wenig benützt habe.
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der „normalen“ Wahrnehmung. Die Aussagen sind modifiziert, aber sie setzen doch etwas. Sie setzen die erscheinenden Sachlagen und Sachverhalte „als solche“. Was hier gesetzt, beschrieben, als seiend behandelt ist, ist das „Substrat“, das seinerseits in dem Täuschungsbe5 wusstsein selbst als nicht-seiend bewusst, in einer Durchstreichungssetzung abgelehnt ist.
Nr. 22 hZ ur Abgrenz ung von Tendenz und Wille. I s t das Tendi eren ei n Wi l l ensmodus?i1
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Anspannung des Willens, Spannung eines Begehrens. (Grad: Intensität des Begehrens, des Wollens.) Spannung des Vermutens. („Intensität“ des Vermutens? Vermutende Erwartung?) Erfüllung des Begehrens, Realisierung in der Handlung. Spannung der Aufmerksamkeit in einer objektivierenden Intention (der Erwartung z. B.), Erfüllung im Durchlaufen. Tendenz in der Sphäre der objektivierenden Akte, ferner in den Gefühlsakten, Gefallen, In-Freude-Zugewendetsein, in den Begehrungsakten, Wollungen. Vorstellungen vor der Zuwendung, vor der Aufmerksamkeit (Tendenz, Aufmerksamkeit: Ich gerichtet auf das Objekt). Gefühls akte vor der „ Zuwendung “ – gemeint ist hier die Gefühlszuwendung. Die Gefühlszuwendung selbst gleich ein Modus der Tendenz. Das Ich, „im“ Fühlen hintendierend, angezogen vom Wertobjekt. Tendenz auf Gefühlserzielung (oder vielmehr Erzielung des Werterfassens in Form der Gemütsevidenz). B egehr ungen. Frage, ob wir nicht zu trennen haben: Gefühle, die den Charakter von ästhetischen Gefühlen haben, der Seinscharakter des Objekts unbeteiligt oder andererseits für das Gemütsverhalten fundierend der doxische Charakter; die neue Axiose geht durch diesen Charakter hindurch. Durchstrichenes Sein – „Vorstellung des Seins“, Hineindenken in Sein – Fliehen oder Begehren des Seins. Andererseits direkt auf das Durchstrichene hgerichteti: Trauer; auf das nicht Durchstrichene: Freude. Begehren und Freuen hsindi keine verschiedenen Grundklassen, aber doch phänomenologisch sehr wesentlich verschieden. Das „Ich begehre“, „Ich freue mich“, „Ich fliehe“ etc.: Tendenzen darin. Analoga der Aufmerksamkeit. Die Haupt sc hwier i gkei t: der Wille. Das praktische Verhalten, unwillkürlich. Ist jedes Tendieren ein Willensmodus? Und was ist der eigentliche Wille? 1
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Ich atme unwillkürlich und ohne „dabei“ zu sein. Ich kann meine Aufmerksamkeit auf den Vorgang richten, ich atme weiter, die angefangene Atembewegung geht fort. Sie vollzieht sich gemäß einer Tendenz? Wodurch unterscheidet sich das vom Fall einer „Aufmerksamkeit“ auf den Vorgang? Das ist Tendenz im Vollzug der Wahrnehmung des Vorgangs. Atmen ist etwas anderes. Besteht hier phänomenologisch ein Reiz und ein Dem-Reiz-Folgen? Aber ein Reiz objektivierender Zuwendung ist das nicht. Was wäre das für ein Reiz? Ein praktischer Reiz, es wäre ein unwillkürliches „Tun“, das hier vonstatten ginge. Und geht die Zuwendung in dieses Tun hinein, wird es vom Ich „vollzogen“,1 so hätten wir dann ein wollendes (willkürliches) Tun?2 Dann wäre das „fiat“ hier nichts anderes als der Eintritt des Ich ins B ew us s ts ein, also die Umwandlung desselben in das cogito, und genau dasselbe wie der Einsatzpunkt im Moment der Zuwendung der Aufmerksamkeit auf ein Objekt, das mich zur Betrachtung „reizt“. Wie aber in anderen Fällen? Ein bloßes Begehren ist nie ein Wollen. Ist es so, dass ein bloßes „fiat“ es zum Wollen macht? Aber wenn die eben beschriebene Auffassung richtig ist, dann ist das fiat nur der
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Das heißt hier aber nur: Das Ich lebt darin. Sprechen, willkürlich. Willentliche Erzeugung der Worte als bedeutsame Wortlaute, willentliche Erzeugung derselben als Ausdruck für den mir vor Augen stehenden Sachverhalt oder für das von mir Gedachte. Aber auch beim Ansprechen: diese Erzeugung in der Absicht, dass der andere erfahre, was meine Meinung ist. – Lesen, willkürlich. Willkürliche Aufnahme der gedruckten Worte, willkürliche Hinwendung zu den Druckzeilen, zum Verstehen (also willkürliche Blickrichtung durch die Wortlaute zu den Bedeutungen und die eventuell belegenden Anschauungen). Ebenso beim willentlichen Hören. – Es treten aber auch unwillkürliche Wortgebilde auf in der inneren freien Hingabe an Gedankenverläufe. Unwillkürlich kann ich auch lesen (mein Blick fällt zufällig auf eine Zeile, die ich verstehe) etc. Das Wortlautbewusstsein entfaltet seine Tendenzen; un w i l l k ü r l i c h gehe ich im Sinn dieser Tendenzen fort. Dieses Fortgehen ist nicht nur überhaupt ein Vorgang, ein Vorsichgehen, sondern ein freies Nachgehen, frei folgend (d. h. ungehemmt folgend) der Tendenz (dieses „frei“ eben als ungehemmtes Nachgeben einer Tendenz). Im w i l l k ü r l i c h e n R e d e n u n d Hören, Lesen ist also ein Wille da, unter dem steht als Gewolltes der Vollzug des Wortes und Ausdrucks. Und dazu wieder gehört das „frei folgen“, das „Dem-Zugder-Worttendenzen-Nachgeben“, das ist hier also Gewolltes. Aber wir müssen immer scheiden den inszenierenden Willen, der auch fehlen kann, und die Tendenzen, das ungehemmte Abfließen der Tendenz etc. 2
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„Vollzugsmodus“ des Willens, das Parallele beim Begehren wäre der E ins atzpunkt i n der Vol l zugsstel l ung des Begehrens1. Es muss also schon ein Willensmodus im weiteren Sinn da sein, damit er die Form des fiat annehmen könnte. Was ist das für ein Willensmodus? Es ist die prakti sche Ei nstellung. Entweder es ist ein unwillkürliches Handeln, oder es ist eine unwillkürliche Willenstendenz, die noch nicht in Handeln übergegangen ist. Der Wille selbst ist eine Tendenz: frei sich auslebende – oder gehemmte, gebundene Tendenz. Wie stimmt eins und das andere zusammen? Bald ist das Ich dabei, bald nicht. Auch bei den objektivierenden Intentionen ist bald das Ich dabei, bald nicht. Aber erfüllen sich objektivierende Intentionen ohne Anteil des Ich, ohne dass das Ich Erfüllung vollziehendes ist? Die Erfüllung einer Objektivation ist doch selbst bald eine „tätige“, bald eine „leidende“. Ich betrachte das Objekt, bewege die Augen etc., oder das Objekt selbst stellt sich mir in verschiedener Weise dar, es bewegt sich, verändert sich etc. und zeigt mir, was es ist. Im ersteren Fall habe ich doch selbst wieder tätige Verläufe. Ebenso ist es in der Erfüllung einer Freude. Ich gehe allem Erfreulichen am Objekt nach, das ist ein tätiger Verlauf. Und ähnlich schließlich auch im Begehren, wenn ich es als Begehren sättige und nicht in dem anderen Sinn erfülle, wobei das Begehren sich in entsprechender aktueller Freude „sättigt“. Überall haben wir tätige Verläufe, die in Willkürakte umgewandelt sein können. Kann dann also der Wille allen anderen Akten gleichgestellt werden? Wie ist da durchzukommen? Kann man Wollen und Tendieren identifizieren? Dann läge in jedem Akt ein Wollen. Das Wollen hätte keinen ihm eigentümlichen Gehalt, es wäre ein allgemeiner Bewusstseinsmodus. Aber wodurch unterscheidet sich dann aktuelles Wahrnehmen vom realisierenden, inneren oder äußeren Tun? Auf ein Gegenständliches aufmerken, ein Ding betrachten: Tendenz des Übergangs von Erscheinung zu immer neuer Erscheinung, von Erfassung zu immer neuer Erfassung innerhalb der Serie der Erfüllungen der Wahrnehmung (Einheit des erscheinenden Gegen-
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des „Ich begehre“: Vollzug ist ein schlechtes Wort.
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standes). Andererseits bei der Erzeugung eines Gegenstandes, bei einer Umwandlung eines wahrgenommenen Gegenstandes: Da liegen zugrunde Wahrnehmungen und Änderungsvorstellungen des Wahrgenommenen. 5 „ Vor s atz “- Vors te l l ungen: Solche liegen also in jeder Handlung, mag sie „Umwandlung“ eines äußeren Objekts sein, wozu Körper-Leib-Bewegung gehört, mag sie in bloßer Leibestätigkeit bestehen oder in inneren Erzeugnissen.
Nr. 23 hTendenz al s „ Form “ der Akte. Die Doppel sei ti gkei t der Intentionalität: Tendenz und Bewusstsei n-von. Die z um inner en Bewusstsei n gehörende Tendenz gegenüber dem Begehren und W oll en als Tendi eren auf eine Freude i1
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A kt und I ntent ion – Tendenz. In jedem Aktvollzug liegt eben ein Vollzug, eine Tendenz kommt zur Auslösung. Hat dies eine Bedeutung für die Grundfrage der axiologischen Vernunft? Jeder Vernunftakt ist eben ein „Akt“. Man möchte nun sagen: Tendenz ist Streben, Streben kann vernünftig oder unvernünftig sein, also haben wir das Allgemeine der Vernunft hiermit bezeichnet. Vernunft und strebende Vernunft ist einerlei. Urteilen geht dann auf Wahrheit, ästhetisches Gefallen auf Schönheit, Seinswerten, Gutwerten auf Gut, praktisches Werten auf Vernunfttat, Vernunfthandlung. Aber fassen wir Streben als so etwas wie Wünschen, Wollen auf, so gibt es nur eine Art von Werten, die ihm zugeordnet sind, die Gutwerte. Also da sind große Unklarheiten. Tendenz ist eine Form. Ichtendenzen, Akte. Grundarten von Akten, unangesehen der Form. Die Tendenz auf Erfüllung und der Vollzug selbst. Der Vollzug ist ein Tuend-Geschehen.2 Unter allen Umständen also „tut“ das Ich, indem es Akte vollzieht, und Tun mag schon Modus einer Tendenz sein, die im Tun sich sättigt. Dieses Tun hat seinen „Inhalt“. In dem waltet abermals eine Tendenz, die auf Auswertung. Das Tun als Tun ist berechtigt, vernünftig gerichtet, wenn das Ziel ein richtiges ist. Ich kann das Tun bewerten. Ich kann es billigen, missbilligen, ich kann es praktisch arretieren, ich kann dem praktisch beistimmen, es nicht nur vollziehen, sondern billigend vollziehen; dann habe ich neue Akte, neue Tendenzen, neues Tun, das selbst wieder zu billigen ist, zurückzuhalten, mit Beistimmung zu vollziehen ist usw. 1
Wohl 1913/14. – Anm. der Hrsg. Der Punkt nach „Geschehen“ wurde später von Husserl in ein Fragezeichen verändert. – Anm. der Hrsg. 2
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Ist mein Urteil richtig, so ist mein urteilendes Tun als Tun insoweit richtig. Ist mein Gefallen richtig, so ist mein Tätigsein im Gefallen richtig (an und für sich betrachtet). Ist mein Wollen, Wünschen, Begehren richtig, so ist das in ihm waltende Tun richtig. Ist das Letztere eine Tautologie? Ich strebe nach Geld, Gut, Ehre, Sittlichkeit etc. Ich wünsche es, ich mache es zum praktischen Ziel etc. Das Wünschen ist ein Tendieren, aber ist es nicht selbst ein Tuend-Geschehen? Das Wünschen geht auf Geld, das Tun geht auf im Vollzug des Wünschens. Ich will Geld holen. Der Wille geht auf Geldholen. Ist aber der Vollzug des Willens selbst nicht ein Tuend-Geschehen? Natürlich nicht eine Handlung, hnichti ein Wollen des Wollens, obschon es das natürlich auch geben kann. So beim Entschluss, der vorangeht. Mit anderen Worten, das, was wir Akt nennen, was wir dabei „TuendGeschehen“ nennen, ist nicht selbst wieder ein Akt, als ob jeder Akt ein Akt zweiter Stufe wäre. Und dann nicht so wieder bei diesem? Oder haben wir zu sagen, es sei gegenüberzustellen das Wollen als Entschluss und das handelnde Wollen? Bei Letzterem ist sicher einfaches Tun, wobei nicht zu unterscheiden ist zwischen Akt als Tuend-Geschehen und Akt der Handlung. Dieser ist selbst das TuendGeschehen. Entschließe ich mich aber, eine Reise zu machen, so ist das selbst ein Tuend-Geschehen und natürlich unterschieden von der Handlung selbst. Jeder Akt, mit Ausnahme des Aktes im Handeln, ist Tuend-Geschehen mit einem Inhalt, in dem sich ein Urteil konstituiert, eine Freude, ein Wunsch etc., d. i. tätig erzeugt. Im Handeln aber wiederum, nur dass eventuell das tätig Erzeugte als Äußeres erscheint. Wenn wir nun bei Akten die „Form“ der Tendenz haben, so ist doch immer zwischen dem Akt selbst und der Tendenz, die sich im Bewusstseinsdasein des Aktes realisiert, zu unterscheiden. Selbst wenn in allem Bewusstsein – und notwendig – Tendenzen walten würden, müssten wir doch unterscheiden: das Tendieren und die A kte, der en „ In tenti onal i tät “ selbst doch nicht die I ntentionalit ät ei ner Tendenz i st. Die Idee der Intentionalität ist hier das, was der Klärung bedarf, und die Doppels eit ig kei t, di e i n i hr auft ritt, darf nicht ver w ir r en. Das „Intendieren“ wäre, sofern jene Form in Frage käme, eben ein Tendieren. Dagegen das, was das Charakteristische
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des vorstellenden (glaubenden), fühlenden, wollenden Bewusstseins ausmacht, das wäre „Bewusstsein-von“.1 Gesetzt, wir dürften Tendenz und Streben identifizieren, was setzt jedes Streben voraus? Doch eine „Vorstellung“ des Erstrebten. Die Realisierung ist doch eine Erzeugung, also bewusstseinsmäßige Erzeugung eines bewusstseinsmäßigen Habens, einer Wahrnehmung, in dem das Erzeugte nun Gegebenes, als seiend Ausgewiesenes ist. Haben wir also nicht zu sagen: Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf eine Hintergrundwahrnehmung richte und der Tendenz folgend „den Blick auf den Gegenstand richte“, so realisiere ich die Wahrnehmung als Erlebnis im inneren Bewusstsein? Ich erzeuge nicht das Wahrgenommene (es ist ja schon da und schon wahrgenommen oder hzuimindest bewusstseinsmäßig charakterisiert als in meiner Umgebung hseiendi). Es handelt sich jetzt um die Realisierung der Wahrnehmung, die hier das Objekt der Tendenz ist. Also in der Realisierung realisierte sich eine „Wahrnehmung“ von dieser Wahrnehmung. Das wäre hier das innere Bewusstsein von der Wahrnehmung, von jener mir fehlenden Wahrnehmung. Offenbar gehört also die fragliche Tendenz zum inneren Bewusstsein und zu dessen Abwandlungen, also zu Vorstellungen, die im Voraus gerichtet sind auf Formen des inneren Bewusstseins, die zu realisieren sind. So versteht es sich, warum die Tendenz, die zum inneren Bewusstsein gehört, zu der Verwandlung der Erlebnisse selbst in bevorzugte Erlebnisse, sich nicht stört damit, dass andererseits Erlebnisse selbst Tendenzen sein können. So ist jedes Begehren und Wollen ein Tendieren, Tendieren auf eine Freude aufgrund des Seinsbewusstseins des Erfreulichen. In gewisser Weise sagen wir: Begehren gehe auf Sein des Begehrten, und dieses „Gehen“ sei selbst Tendieren. Die Tendenz geht durch eine Vorstellung, und die Vorstellung zielt hin auf eine setzende Vorstellung. In gewisser Weise zielt dabei aber die Qualität des Begehrens hin auf die Qualität der Freude. Wir brauchen hier also eigene Ausdrücke, um das „Tendieren“, das auf noetischer Seite zwischen der mit dem Charakter des Nichtseins oder Vielleicht-Nichtseins qualifizierten Vorstellung und der belief-Vorstellung waltet, in höherer Stufe zwischen Begehrungsqua-
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Aber ist diese Antwort voll ausreichend? Ja.
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lität und Freudenqualität, auszudrücken. Andererseits haben wir phänomenologische Charaktere, welche die Noemata angehen oder endlich die Beziehung zwischen Noesis und Noema. Das Begehren geht auf Sein des Begehrten, strebt es an. Das Begehren ist gerichtet 5 auf das Erfreuliche als solches, auf den Freudenverhalt. Sollen wi r das Wo rt Tendenz (i ntentio) verwenden für die B eziehung von Noeti schem zu Noetischem, das Wort Str eben ( L an gen, Se hnen) aber für die Bezieh ung zwis chen A kt und er st re btem Sachverhalt (Freudenverhalt)?
Nr. 24 Tendenz und Aufm erksam kei t. Im Akt leben. Das I nter ess e. Vol l zug i ntenti onaler Erlebnisse1
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Tendenz auf „Wahrnehmen“, auf Wahrgenommenes als solches (Wahrnehmung als Erscheinung). Tendenz auf Erkenntnis, auf Prädikation. V om I c h aus gehende Tendenz: Ich vollziehe eine Prädikation. Ich betrachte, ich vollziehe Wahrnehmungen für Wahrnehmungen – ich betrachte das Ding allseitig etc. Ich freue mich an einem Gegenstand, ich betrachte ihn mit Freude, ich durchlaufe ihn nicht nur in der Wahrnehmung, sondern auch in der Freude: Ich durchlaufe die Freudenmomente. Also Tendenz auf die Wahrnehmung des Gegenstandes besagt Tendenz auf die Seinserfassung, die Erfassung des Gegenstandes selbst nach allen seinen ihm konstitutiv zugehörigen (gemeinten) Komponenten im intuitiven Glauben. A ufmer ks amkei t al s Tendenz: nicht nur sinnlich anschauliche Aufmerksamkeit, nicht nur intuitiv (im Rahmen schon vollzogener Intuition) sich betätigende, sondern Tendenz aufgrund der Leervorstellung des Gegenstandes, sich erfüllend, sich entspannend in der Kette von immer vollkommener veranschaulichenden Akten, die einig sind im Identitätsbewusstsein, im Bewusstsein der Einheit des Gegenstandes. I n der Gef ühls sph äre: Im Gefallen leben, gefallend zugewendet sein, Gefallen vollziehen – Tendenz, die sich im Gefallen entspannt, aber auch Tendenz auf neues und immer neues Gefallen als Gefallen an diesem Gegenstand, den „Gefallensintentionen“ nachgehen, den Tendenzen, die von gegenständlichen Komponenten ausgehen, die Gefallen „erregen“, aber das Gefallen wirklich ergeben, nur wenn ich sie zur klaren Anschauung bringe. W üns chen: im Wünschen leben, der Wunsch lebt sich aus, wenn ich die Vorstellung der erwünschten Sachlage in entsprechender Weise zur Entfaltung bringe; und „in entsprechender Weise“ das besagt: Es kommt zutage, was mir daran gefallen würde, wenn es
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wäre; ich denke mich in Klarheit in das Sein ein, habe also das Gegenständliche klar im Charakter der supponierten Erfreulichkeit und hdasi Bewusstsein ihres Nichtseins (oder möglicherweise Nichtseins etc.), das Bedauern – den Wunsch, das Begehren.1 Endlich was das Wo l l en anbelangt: Das Wollen „richtet sich“ auf das Sein des Gegenstandes, in gewisser Weise auf das Erfreuliche als solches, in gewisser Weise auf das als Nichtsein bewusste Gegenständliche, dass es sein möge, dass es praktisch sein solle etc. W ollen und W ünsc hen. Akte des Strebens. Das Wollen in der Handlung, das Wollen als unklares, das Wollen als von dem unklaren fiat in Klarheit übergehend in das entsprechende Quasi-Handeln. Der Übergang von Phase zu Phase im Sinn einer Tendenz. In dem Fall der Quasi-Handlung (Anschaulichmachung des Willens): Wir haben Reproduktivität der Handlungstendenz, aber die Folgen der Reproduktionen hsindi selbst von dem Charakter der tendenziösen Einheit. Das sind zweier lei Tendenzen: 1) die eine, Tendenz der Klärung des Entschlusses, des Zieles, des Weges etc.; 2) die andere, die der Handlung einwohnende Form der realisierenden Tendenz, im Modus der Entspannung. Aber wie innig beides verflochten! Zu allen Akten gehörig: das Sicheinleben in den Akt, wodurch alles in ihm leer Intendierte zur Klarheit, zu „eigentlichem“ Bewusstsein (Eigentlichkeit des Gefallens, Wünschens etc.) kommt. Aber beim Wollen tritt etwas Neues auf: Einen Entschluss kann ich mir klar machen, aber hauchi ausführen! Verstehen wir das cogi t o überhaupt nur so, dass dabei der Blick des Ich auf das Objekt des Aktes geht (ohne in ihm ein Ende haben zu müssen), dann haben wir zu sagen: Die Form des cogito histi unempfindlich dafür, ob das Objekt Selbstgemeintes ist oder als bloßes Zeichen Erfasstes bzw. überhaupt als bloßer Durchgang Bewusstes ist, wie wenn ich durch eine zufällige Asshoziationi weitergeführt werde auf ein anderes, was ich nun zum Thema mache. Überhaupt ferner, ob ich im Vorbeigehen auf etwas achtsam werde, es bemerke, oder ob ich es zum Thema mache, zum Worüber oder ein Worüber bestimmend etc.
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Einige Reflexionen. Zur Lehre von den Zeichen, über Tendenzen und Intentionen.
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Wir haben dann zu unterscheiden: Aufmerksamkeit oder thematis ches Bewusstsein oder theoretisches Interesse,1 bloße Zuwendung ohne thematisches Bewusstsein. Ferner Zuwendung und Erfassung als bloßer Durchgang durch 5 ein anderes und Zuwendung zu einem Terminus, der darum doch kein Thema sein muss. 1) Zuwendung – Nicht-Zuwendung; 2) Thema – Nicht-Thema (theoretisches Inter-esse: mit der Seele dabei sein); 10 3) Erfassen eines Zeichens – Erfassen eines Bezeichneten; überhaupt Erfassen als Mittel, um zu dem Ende, worauf eine Tendenz geht, zu kommen.2
1 Ist theoretisches Interesse etwas anderes als Tendenz darauf, den Gegenstand der Zuwendung immer besser zu fassen, ihm näher zu kommen, ihn allseitig zu betrachten, auf ihn bezügliche Denkintentionen, Leerintentionen zu verlebendigen, ihn zu bestimmen, im Urteilen weiter zu schreiten etc.? 2 1) Bloße Zuwendung – Nicht-Zuwendung; 2) Thema (theoretisches Interesse) – Nicht-Thema; 3) Erfassen im Durchgang – Zeichen.
Nr. 25 hI st G lauben i n anal ogem Sinn Intention w ie T endenz u nd Begehren? Das Verhältnis von Bekräf t ig ung und Erfül l un g. Intention al s Stel lun gnahm e und al s Tendenz i1
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Urteil und Frage, Urteil (Glaube) und doxische Modalitäten; desgleichen auch Begehrungen, Wollungen: alles unter dem Gesichtspunkt, ob Glaube in anal ogem Si nn Intention ist, wie Begehr en, Str eben nach etwas Intenti on i st. Ich bin einer Allgemeinheit gewiss, innerhalb dieser Allgemeinheit schwebe ich aber zwischen Möglichkeiten. Ich postiere hmichi in einer dieser Möglichkeiten. Ich „überlege“ diese Möglichkeit, ich frage. Das ist doch: Eine „Intention“ geht durch dieses Möglichkeitsbewusstsein, eine Tendenz, eine Spannung, die sich entspannt in einer „A ntwor t“, in einer „entsprechenden“ Gewissheit. Die Frage-Intention gehört also zu den Erkenntnisintentionen: Bedürfnis der Klarheit bzw. Klärung, der Bestätigung von Erwartungen, der Näherbestimmung, der Eröffnung neuer Horizonte und immer wieder ihre Näherbestimmung, eventuell die Andersbestimmung, die Beseitigung von falschen Auffassungen etc. I c h vollziehe ei nen G l auben, ich kann auch ein Vermuten etc. vollziehen. Ich vollziehe Seinserfassungen auf Seinserfassungen, kathegorialei Akte. „Objektivation“ bestimmt durch Qualität: Glauben, Seinssetzung. In jedem Akt liegen implizite Objektivationen. Jeder Akt lässt sich in einen objektivierenden umwenden. Und jeder objektivierende Glaube kann eine Tendenz auf Erkenntnis (ein praktisches Hingerichtetsein, heinei Strebung) aufnehmen, ein tendierendes Gerichtetsein auf Erkenntnis. Zum Wesen des Bewusstseins gehört die ideale Möglichkeit einer Verschiebung der Bewusstseinsstruktur, wonach die „Qualifizierungen“ Modifikationen erfahren: Ich lebe einmal im Gefallen und dann im Glauben des „gefällig“, einmal im Wollen und Tun, das andere Mal im glaubenden Erfassen des „gesollt“ und des Werkes usw.
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K ann man den G la uben i n si ch selbst als eine „ Intention “ fas s en (analog wie Tendenz, das Willensstreben, den Trieb) so wie das Gefallen, das Wünschen, das Wollen etc. und das Ablehnen, das Widerwollen, das Widerwünschen, das Sich-gegen-etwasEntscheiden, für das Vermutlichere, gegen das minder Vermutliche? Wie verhält sich die einstrahlige oder mehrstrahlige Thesis des Glaubens in der „erfüllenden“ Deckung? Im Fortgang der Thesis der Erfahrung als Erfahrung vom Dasein eines Gegenstandes bzw. vom daseienden Gegenstand erfährt die Erfahrungsthesis (in der Einstimmigkeit) eine fortgehende „Bekräftigung“, und zwar betrifft das die Seinsthesis des identischen Gegenstandes (= X) und die Seinsthesis des so und so bestimmten, soweit sich die schon gesetzten Bestimmungen eben in dem Fortgang durchhalten und erfüllen. Wir müssen unterscheiden die Thesi s des X und die Thesis der bes timmenden M om ente. Diese können mitgeführt sein, ohne sich zu bekräftigen, aber auch ohne Aufhebung zu erfahren; die Seinsthesis bekräftigt sich, aber nicht dieses So-bestimmt-Sein. Doch davon kann hier abgesehen werden. In der vielstrahligen „analytischen Synthesis“, der Urteilseinheit: B ekr äftigung durch Rückgang auf die Anschauung, etwa in Form der Ausweisung des beschreibenden Urteils, oder die Zusammenstimmungen einsichtiger Art von Urteilen mit Urteilen und zuletzt mit Anschauungen. Wir haben hier also die Phänomene der Bekräftigung, die Steigerungen der „Erkenntniskraft“, eventuell bis zu einer festen, eventuell bis zu einer sich verschiebenden Grenze, also eigentlich ohne Grenze. Und diese Phänomene der Bekräftigung, der Seinsthesisbewährung, hsindi wesentlich abhängig von Vorkommnissen im Was, in der Materie (der vollen Materie, dem Was), von den Unterschieden der Fülle und eventuell hvoni manchen in ihr liegenden Steigerungen und Bereicherungen, was wir beschreiben werden. Wir haben ferner auch bei den Anm utungen und Vermutungen, ja auch bei den freien Möglichkeiten Steigerungen der Qualität, in derselben Linie Bekräftigungen. „Es spricht mehr dafür, die Kraft ist größer.“1 Das möglichkeitssetzende Bewusstsein nimmt an Kraft 1 Hier also ganz besonders. Die Rede von Kraft, die größer und kleiner sein kann. Andererseits Durchstreichung der Kraft, Nicht-Überwiegen.
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zu, in der Zunahme an Fülle bereichert es sich an motivierender Kraft. Das Als-seiend-sich-Anmuten ist gleichsam ein Tendieren gegen das Glauben hin, und diese Glaubensneigung wird immer stärker, aber nicht als ein Wünschen, Sehnen, hnicht als eini beliebiges sonstiges Sich-„Neigen“, sondern eben hstärkeri an Motivationskraft, und das ist eine eigene „ I nten ti on “. Ebenso bei Ablehnung: Die Unstimmigkeit kann mehr oder minder klar hervortreten, es kann für das „nicht“ mehr oder weniger sprechen etc. Also die Bekräftigung ist nicht zu verwechseln mit der Tendenz auf den Glauben, die im Möglichkeitsbewusstsein liegt oder liegen mag. Es ist ebenso, wie der Glaube in der Bekräftigung eben „kräftiger“ wird, aber es ist nicht „Lebhaftigkeit der Überzeugung“ im Sinn einer Gefühlstendenz, wie wenn ich, im Glauben, im Gemüt Partei nehmend, interessiert bin und nun eine Begehrungs- oder Willenstendenz zum Glauben hin habe. Wenn ich mich vermutend für eine Möglichkeit gegenüber anderen oder hfüri eine Gruppe von Möglichkeiten entscheide, so hat auch diese bevorzugende Entscheidung eine eventuell wechselnde Kraft. Auch da hgibt esi gewisse Steigerungsmöglichkeiten, die nichts zu tun haben mit dem Parteiergreifen des Gefühls und Begehrens und nicht zu verwechseln hsindi mit den eventuellen „Tendenzen“, die im Phänomen walten. Nun nehmen wir aber G em ütsakte mit ihren besonderen qualitativen Charakteren. Wir haben hier zu scheiden: 1) den Übergang eines Begehrens in die Erfüllung als Befriedigung. Das Begehren als unbefriedigte „Spannung“ entspannt, befriedigt sich; hami Ende: Freude am Sein des Begehrten. 2) Andererseits: Auch ein Begehren „bekräftigt“ sich, nämlich ich mache mir klar, was ich begehre, ich gehe den Begehrungsmotiven nach, und es steigert sich nun etwas ganz anderes, nicht wird das Begehren darum „leidenschaftlicher“, „heißer“. 3) Das Letztere weist auf eigene Charaktere und Steigerungen hin: Bei gleichen Motiven und gleicher Klarheitsstufe etc. kann das Begehren heißer und minder heiß sein. Das Begehren „bestätigt sich“, es weist sich aus, aber es sei hier nicht an Urteilen gedacht, etwa gar an Urteilen über das Recht, sondern an die Steigerung, die eintritt, wenn ich im Begehren verbleibend übergehe in die Entfaltung der vordem „verworrenen“ Motivationen, der leer bewussten und nun
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klarer werdenden und dgl. Ebenso beim Sich-Entschließen, dem Sichwillentlich-Vorsetzen. 4) Ich merke hier aber noch eine Differenz: Eine begehrte Sache betrachte ich mit Interesse, ich durchlaufe sie betrachtend nach all dem für das Begehren Relevanten und dabei sättigt sich das Begehren als Begehren, es wird innerlich reicher, ohne dass es sich im gewöhnlichen Sinn irgendwie erfüllte. Im Ganzen gehört das zu 2). Wir haben hier also in der graduellen Kraft, Bekräftigung, eine Art von Wesenscharakteren gradueller Art, die wir nicht nur im Glaubensgebiet finden. Nun können „Wunschintentionen“, „Willensintentionen“ (d. i. Wunschtendenzen, Willenstendenzen oder einfach praktische hTendenzeni) als Tendenzen auf Klärung, Bekräftigung, „Auswertung“ gehen. Das ist dann ein Neues. Und wir haben doppelte Steigerungen in eins, eben die der Auswertung und die der Erfüllung dieser Tendenzen. Glaube, Vermutung, aber auch Gefallen, Wünschen, Wollen sind „Meinungen“. Intentionale Erlebnisse sind Meinungen oder Erlebnisse, die implizite Meinungen sind, d. h. in ein aktuelles cogito,1 in eine aktuelle „Stellungnahme“ etc. zu verwandeln sind. Meinungen: Dazu gehört Bekräftigung, Bewährung, Auswertung.2 Sagen wir für Meinung „Intention“, so bekräftigt sich eben die Intention. Zu sagen für „Bekräftigung“, sie „erfüllt“ sich, das supponiert wohl eigentlich ein Streben, ein Tendieren mithin, das freilich sehr gewöhnlich ist als theoretisches Interesse oder als praktisch auswertendes Interesse. Wir haben also Intenti on als Stellungnahme und I ntention al s Ten denz, Spannung zu scheiden. Schließlich noch: Wie steht es mit den Erwartungen? Sind das Gemütsakte? Natürlich bestehen hier, im Voraus gesagt, auch die bezeichneten Unterschiede: Eine Erwartung kann sich erfüllen, eine Erwartung kann aber – immerfort bloße Erwartung bleibend (ungelöste Spannung) – sich klären, dabei bekräftigen, bereichern.3
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Bei den positionalen Akten! So viele Grundarten von Meinungen (thetischen Qualitäten), so viele Arten der Bekräftigung. 3 Die Frage ist dann: Gehört zu jedem Stellungnehmen, jedem Leben in einem positionalen cogito (und parallel in jedem neutralen), eine Tendenz auf Ausleben, nämlich in Richtung auf die Bekräftigungen und Bewährungen? 2
Nr. 26 h Die Spannu ng der Erwartung gegenüber der Spannung der Aufm erksamkeit. Die zur A uf mer ksam kei t gehörenden Tendenzeni1 5
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E r w ar tungen, Spannung der Erwartung. Das die Erwartung Erregende – die Erwartung und ihre „Spannung auf“ das Kommende. Sollen wir sagen: Es ist ein Gefühl der Spannung, ein dem Künftigen Entgegenstreben oder ein dem Wahrnehmen, Erfahren vom Künftigen, ein dem Bewusstsein des „Jetzt ist es“, „Es ist wirklich“ Sich-entgegen-Sehnen? E r w ar tung eines Vergangenen. Dass ein Gewesenes eben wirklich gewesen sei – ich vermute es, glaube es, aber ich suche die Bestätigung, ich strebe danach, „das Wirklichsein zu konstatieren“. Aber nicht nur das. Es ist nicht überhaupt der Wunsch, sondern es ist in einem Prozess des In-die-Vergangenheit-Zurückgehens, in einem Prozess des Nachweisens sich vollziehendes Erwarten, dass sich die Bestätigung einstellen wird. Also geht auch hier die Erwartung auf das künftige Eintreten, hier nicht der Sache selbst, sondern der Nachw eis ung der Sac he. hIsti Erwartung auf Eintreten eines Ereignisses, z. B., dass der Schuss die Scheibe trifft, ein dem künftigen Eintreten Entgegenlangen? Im Allgemeinen weiß ich nicht und brauche ich gar nicht zu glauben. Ich brauche nicht zu glauben, dass der Schuss ins Schwarze trifft. Ich bin gespannt, ich bin in Erwartung, „ob er dahinein trifft“, also eine Spannung dis jun kti ver Art. Ich weiß, dass er irgendwohin geht; ich wünsche nicht nur überhaupt zu wissen, wohin er geht. Ich bin bei solcher Erwartung nicht in der Einstellung der bloßen Frage, ob er auf die Scheibe oder nicht auf die Scheibe geht (oder in dem bloßen „Ungewissheits-, Zweifelsbewusstsein“, ob oder ob hnichti, auf dem Grund des Wissens: eins von beiden). Ich bin gespannt auf die Entscheidung des Zweifels, und zwar durch das Eintreten des einen oder anderen.
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Ich bin erwartungsmäßig gespannt: Das besagt also nicht bloß, ich begehre die Entscheidung des Zweifels, der disjunktiven Ungewissheit. hEini Wettrennen, der Endkampf zweier Pferde: Ich nehme für keines Partei, ich bin gespannt, welches siegen wird. Ich kann auch Partei ergreifen für das eine: Ich begehre leidenschaftlich – ich habe etwa darauf gesetzt – den Sieg des einen. Ich bin gespannt, ob dieses siegen wird. Die Spannung steigert sich bis zum entscheidenden Zeitpunkt. Vor dem Rennen: Ich habe schon gesetzt, ich bin noch nicht gespannt, noch nicht in Erwartung, aber ich begehre. Erst wenn das Rennen los geht, setzt die Spannung ein und steigert sich. Ist das die Spannung des Begehrens selbst? Ist es ein Modus des Begehrens? Was liegt vor? Das Bewusstsein, dass der Prozess im Ablauf ist, in dessen Verlauf oder an dessen Ende sich das Begehren „entscheidet“, entweder erfüllt oder seine negierende Abweisung erfährt. In diesem Bewusstsein gründet die Spannung. Das Begehren wird immer leidenschaftlicher. Aber wenn ich gar nicht interessiert bin daran, dass A siegt? Ich habe also nicht das Begehren, doch „interessiert“ mich zu erfahren, welches siegt, ic h bi n gespannt auf Eintritt der die Ungew is s hei t lös enden Erfahrung. Eben das ist es auch, worauf ich gespannt bin im anderen Fall, nur dass die Entscheidung, die Beseitigung der Spannung, die mit der Ungewissheit besteht und in der entsprechenden Gewissheit ihre Lösung findet, zugleich die Entscheidung über Erfüllung oder Enttäuschung des Begehrens mit sich führt bzw. begründet. Ist es aber nicht offenbar ein G efühl, ein Langen – unter den Begriff des Begehrens fallend – nach dem Eintritt des Endes, damit nach der Entscheidung der Ungewissheit durch diesen Eintritt, sich steigernd bis zum Ende und dann in den Modus der Entspannung übergehend? Aber die Entspannung ist doch nicht Freude über das Eintreten. Begierde ist es also nicht. Begierde ist koordiniert mit Freude. Jede Spannung mag irritierend sein, die Lösung bringt Beruhigung, Erleichterung. Die Spannung der Erwartung mag lästig, unangenehm sein, dann wird die Lösung als angenehm empfunden. Ich kann danach begehren, dass die „unerträgliche“ Spannung endlich vorüber sei, dass endlich die Entscheidung eintrete, und, wenn sie eintritt, mich darüber freuen – während doch nicht das Begehrte eingetreten,
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die Entscheidung gegen mich gefallen ist. Die Spannung ist also nicht s elbs t das Begehren, und die „Stärke“ des Begehrens, seine Leidenschaftlichkeit, ist nicht die Spannung, die eventuell mit dem Begehren wie in jeder Erwartung von Begehrtem verflochten ist.1 Spannung ist also etwas Eigenes.2 Ob man es Gefühl nennt, hängt davon ab, was man überhaupt Gefühl nennt. Nennt man Gefühl so etwas wie gefallendes oder missfallendes Stellungnehmen, so ist Spannung kein Gefühl. Es is t über haupt kein Stellungnehmen, es hat keine Unter sc hie de der Posi ti vi tät und Negativität. Ist es so etwas wie ein Zustand der Freude oder Trauer? Aber das auch nicht. Aus demselben Grund, das sind ja zuständliche Modifikationen von stellungnehmenden Akten. N achtr ag: Es handelt sich beim Erwarten nicht bloß um disjunktive Ungewis she i ten, ein „ob oder ob hnichti“. Ich kann überzeugt und ganz gewiss sein, dass A eintreten wird, und ich bin doch in Erwartung des Eintretens. Es genügt mir eben nicht das Überzeugtsein, ich bin (etwa in Freude oder Leid) „interessiert“ am aktuellen Haben, Erleben des Eingetretenen, es knüpfen sich daran angenehme oder unangenehme Folgen, ich will das Eingetretene benützen etc. Erwartungsspannung ist etwas mich von jetzt in die Zukunft Ziehendes; die präsumtiven Gefühle, was immer es sei, motivieren die Spannung. Gespannt bin ich, weil ich am aktuellen Eintreten „interessiert“ bin. Also in der Gegenwart erregt etwas die sukzessive Assoziation, weckt die Vorerinnerung mit dem zugehörigen Glauben, eventuell mit disjunktiver Unbestimmtheit und dem „das oder das“. Aber was die Vorerinnerung erregt, ist nicht schon Erreger der Spannung. Es wird eine Spannung auf das Eintreten des Vorerinnerten bzw. auf die Entscheidung des Disjunktivums erregt. Aber was sagt da „Spannung“? Und was sagt sonst „Spannung“?
1 Nota: Ich erwarte den Anfang der Vorstellung. Ich warte dabei auf das Klingelzeichen, das dem Anfang vorhergeht. Die Erwartung auf K ist „Durchgang“, vermittelndes Stadium, aber nicht selbst zum „eigentlich“ Erwarteten gehörig. 2 Es ist ein Aktmodus, hier der Vorerinnerung. Auch Rückerinnerungen können in der Form der Tendenz auftreten, wie wenn wir der Erinnerungskette nach bis zur Gegenwart fortschreiten: gespannt und wartend auf das sich als Erinnerung bestimmt Einstellende. Ebenso Aufmerksamkeit in der Wahrnehmung; ebenso Tendenz bei Gemütsakten. (Tendenz geht im inneren Bewusstsein immer auf Künftiges, auch wenn ich in der Erinnerung zurückgehe, einer Tendenz folgend.)
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Man kann zunächst sagen, ein „Interesse“ am Kommenden, Eintretenden, an der Entscheidung wird erregt, und Interesse kann meinen: A ufmer ksam keit darauf. Ich sehe z. B. in einer gegebenen Situation voraus, was kommen wird, und bin dem mit „Interesse“, mit Aufmerksamkeit zugewendet. Kann man das schon Erwartung nennen? In einigen Minuten wird die Sonnenfinsternis eintreten. Aber das ist nicht ohne weiteres „warten darauf“, es „erwarten“, dem Fluss der Zeit, etwa dem Ablauf des hinführenden Ereignisses hingegeben, erwartend dem Kommenden sozusagen die Arme öffnen, es aufzufangen. In der Erwartung liegt ein Hintendieren auf das Kommende bzw. auf sein Eintreten. Das Erwarten des Freundes, sein Eintreten, das kann auch als Beispiel dienen. Hier freue ich mich auch auf sein Eintreten. Es kann aber auch ein unangenehmer Mensch sein, ich freue mich nicht darauf, ich begehre es nicht, im Gegenteil. Und doch erwarte ich. Ich bin aufmerksam auf jeden Schritt, aber auch erwartend tendiert, und das ist etwas anderes. Diese Erwartung erfüllt sich mit dem Eintreten. Die Aufmerksamkeit erfüllt sich nicht in dem Sinn wie die Erwartung. Man spricht von ges pannter Erwartung (wobei notwendig die Aufmerksamkeit auch gespannt ist) und von gespannter Aufmer ks amkei t.1 Die Spannung der Erwartung löst sich, nun bin ich erst recht gespannt aufmerksam auf das Eintretende. Die Spannung der Aufmerksamkeit: Was sagt das? Und was ist da die Entspannung? Und was ist das Nicht-Gespanntsein? Ich kann vom Objekt angezogen sein, ich bin angespannt, hingezogen, und fest, stark hingezogen. Ich kann aber weniger stark hingezogen sein, mein Blick haftet nur lose an dem Gegenstand. Ich kann zu immer neuen Einzelerfassungen der Momente und Teile mich fortgezogen fühlen, eventuell gewaltsam hingerissen sein, wie beim Anblick der einfahrenden und dem Hören der gell pfeifenden Lokomotive. Ich vertiefe mich in den Gegenstand, ich folge dem von ihm ausgehenden „Interesse“, es zieht mich an immerfort, hdann:i der Zug wird schlaff. Ich bin zwar dem Objekt zugewendet und mein Blick wird zu ihm gelenkt, aber es hat mich nur
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Dazu die wichtige Beilage hVI: Zur Spannung und Entspannung bei Erwartung und Aufmerksamkeit. Die Erwartung als vorerinnernde Aufmerksamkeit. Quasi-Erwartung und Quasi-Aufmerksamkeit in der Phantasie (S. 328)i.
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flüchtig angezogen, es interessiert mich wenig und der Zug anderer Objekte der Erscheinungssphäre überwiegt.1 V on Seiten des Ob j ekts haben wir das Sich-Aufdrängen, Anziehen, In-sich-Hineinziehen; von Sei ten des Ich das Dem-ZugFolgen, Sich-nicht-nur-Hinwenden, sondern Sich-dem-Zug-Hingeben, Sich-Hineinziehenlassen, Sich-Hineinvertiefen. Dabei verliert sich das Ich, verschenkt sich an das Objekt, gibt sich hin und lebt ihm ganz hingegeben, lebt im Betrachten, Explizieren. Wie sehr es sich hingibt, die Spannung kann immerfort dieselbe bleiben. Freilich, im Nachgeben an irgendein Moment, z. B. Farbe, kann ein Stück Entspannen liegen, aber das Objekt zieht weiter an, es geht der Zug über auf andere Momente des Objekts, oder dasselbe Moment „bewahrt seine Anziehungskraft“, es hält mich fest. Ist, wie z. B. wenn wir einen herrlichen Ton einer Geige hören, die „Schönheit“ des Tones das, was ihn „anziehend macht“, so mag es sein, dass wir uns nicht satt hören, die Lebendigkeit des Gefühls lässt nicht nach und so auch nicht der Zug und die Intensität der Hingabe, obschon ich schon ganz dabei bin, schon hingegeben und nicht erst mich annähernd, von fern herangezogen.2 Betrachten wir mit Interesse3 eine alte Geige, so betrachten wir die schöne Schnecke, bis wir sie ganz aufgenommen haben, dann den Rücken usw. Dann prävaliert wieder das Interesse an der Schnecke, es geht von ihr ein neuer Zug aus. Was die Aufmerksamkeit erregt, ist hier die edle Form oder der Habitus als Anzeige eines ehrwürdigen Alters und dgl. Die Aufmerksamkeit selbst hat ihre Anspannung, ihre Grade. Aber handelt es sich um wirklich Analoges mit der Spannung
1 Das sagt: Die Spannung hat Stärkegrade. Aber Stärke und Schwäche der Spannung besagt nicht Spannung und Nicht-Spannung. Die Grade sind eben Grade der Spannung, einer Tendenz. Bilder sind gefährlich. Hier sind verschiedene Gradualitäten, die das Bild der Spannung bezeichnen kann. Der Fortschritt in der Erzielung (bzw. der Fortschritt von Noch-nicht-Erzielung zur ersten Erzielung) ist die eine Gradualität. Die „Intensität des Interesses“, der Aufmerksamkeit, mag sie erzielend sein oder nicht, histi die andere hGradualitäti. 2 Wir haben aber doch zwei Modi zu unterscheiden: 1) Das sich aufdrängende Objekt zieht an und ich folge der Zuwendung. 2) Das Objekt hält mich fest; ich bin schon bei ihm, aber es zieht weiter im Sinn des Festhaltens. 3 Eventuell mit kühlem Interesse: Die erregten Gefühle bleiben außer Spiel. Theoretische Tendenz, sich befriedigend im fortschreitenden Anschauen und Explizieren; ein Fortstreben von Anschauen zu Anschauen.
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der Erwartung und Erfüllung der Erwartung, hmiti Willensentschluss und Erfüllung, Streben und Erfüllung des Strebens im Vollziehen und dgl.?1 Man könnte sagen: Es ist ein Mehr oder Minder an IchHingegebenhei t; eine Tendenz auf fortgesetzte Betrachtung liege auch vor, aber die Tendenz sei zu scheiden von dem, was Spannung der Aufmerksamkeit soeben hieß. Von dem, was jetzt nicht Aufgemerktes ist, aber in die Einheit des Aufmerksamkeitsthemas gehört, geht ein „Reiz“ aus.2 Bin ich auf einen Gegenstand aufmerksam, so zieht er mich zunächst in ungeschiedener Einheit an. Aber diese Einheit geht in ihre konstituierenden Momente auseinander, sie beginnen sich abzuheben. Während das eine hMomenti im Blickpunkt ist, sind die anderen, als zum Gegenstand gehörig, in die intentionale Einheit desselben thematisch hineingehörig, üben als das ihre Reize, es gehen von ihnen Tendenzen aus.3 Ein vielgliedriger Vorgang oder Gegenstand, ein lebendiges Bild, ein Gruppentanz: Das Ganze ist das Thema, jedes Einzelne ist aber nicht im Blickpunkt, und ich kann nicht sagen, ich bin auf den Tanz nicht aufmerksam, wo ich jetzt momentan den bestimmten Tänzer im Blickpunkt habe. E inheit des them ati schen Bewusstseins ist ein Sinn von A ufmer ks am keit, und dazu gehört das Sich-Ausleben desselben in vereinzelten Schritten, in denen jeweils das Aufmerken sich vollzieht, und das Vollzogene ist dabei das im Blickpunkt Stehende und in besonderstem Sinn Aufgemerkte.4 So gehören zur Aufmerksamkeit Tendenzen, Ketten von Tendenzen. Diese Tendenzen „entspannen“ sich (erzielen), wenn ihnen nachgegeben wird und die Einzelheit zum Blickpunkt wird, zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Aber damit entspannt sich nicht die Aufmerksamkeit in Hinsicht auf ihre Intensität. Die Aufmerksamkeit „lässt nach“, sie wird matt, schlaff, das Objekt zieht nicht mehr an, es
1 „Spannung“ der Aufmerksamkeit und Spannung der Erwartung, Spannung eines Strebens. 2 So von Seiten des Gegenstandes. Von Seiten des Aktes: Eine Einheit der aufmerkenden Intention richtet sich auf die Einheit der Gegenständlichkeit (zwei Stadien: Sich-ihm-Zuwenden und In-ihm-Leben). 3 Aufmerksamkeit und Explikation. 4 Das Erzielen der von der Sache ausstrahlenden Tendenz.
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reizt nicht mehr das Ich zur Hingabe.1 Nun sind all diese Ausdrücke solche, die wieder an Tendenzen erinnern, aber wie sehr sie nahe liegen, es handelt sich darum doch um Verschiedenes. Demgegenüber: Man könnte sagen, zu unterscheiden sei das Auffallen des Objekts, der Reiz, den es vor der Zuwendung übt, und das sei eine Tendenz zum Objekt hin. Ist aber Zuwendung erfolgt, dann gehe die Tendenz in das Objekt, das schon „erblickt“ ist, hinein. Und nun wiederhole sich bei vielseitigen und vielgliedrigen Objekten das Spiel: Ein Moment zieht zu ihm hin und in es hinein, andere Momente fallen auf und ziehen ihrerseits zu ihnen hin. Es sei eigentlich eine E inhei t der Tendenz, di e si ch aber in Tendenzen aus einander spal tet, und die Tendenzen erzielen2 nicht, wenn Zuwendung statthat, sondern in der Vertiefung in das Objekt. Vielleicht ist das richtig. Aber das ist noch nicht ganz klar. Wir scheiden ab: der Tendenz Folge leisten im Gegensatz zum Erleben der Tendenz und nicht Folge leisten. Dieses Folgeleisten nun hat statt, sowohl durch Blickzuwendung als durch Vertiefung. Nun aber kann der Prozess der Vertiefungen mit immer neuen Blickzuwendungen hinsichtlich der Teile und Momente durch fortgesetzten und nicht geminderten „Reiz“ vom Gegenstand her auf gleichem „Interesseniveau“ bleiben, oder es kann sich das „Interesse verlieren“ oder stetig schwächen, sättigen. Die Tendenzen werden „schwach“. Es ist also in Wahrheit nur zu scheiden zwischen dem Tendi eren der Aufmerksamkeit und der I ntensi tät des Ten di erens. „Aufmerken“ ist vom Objekt angezogen sein, von Seiten des Ich dem Objekt hingegeben sein = dem Zug der Tendenz vom Objekt her folgen, und diese Tendenz ist Tendenz der Betrachtung. Andererseits hat jedes Aufmerken seine Gradualität: die Stärke des Zuges bzw. der Hingabe; also doch so, wie ein Drang, ein Streben, seine Gradualität hat. Man sieht, dass diese Tendenzen der Aufmerksamkeit und die Gradualität ihrer Spannungen etwas anders aussehen als Erwartungs-
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Gradualität in der Intentionalität der Aufmerksamkeit. „erzielen“ ist eine Veränderung für „entspannen“, dazu die Randbemerkung: „ ‚Entspannen‘ ist eben unklar, zweideutig.“ – Anm. der Hrsg. 2
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intentionen.1 Erwartung ist keine Tendenz, der das Ich durch Hinwendung „Folge leistet“.2 Die Erwartung hat ihre Gradualität der Spannung. Aber abgesehen von dieser Gradualität hat sie die Eigentümlichkeit, dass sie sich nicht entspannt in der Weise des ihr Folgeleistens (von Seiten des Ich), sondern in der Weise der eigentümlichen „Erfüllung“ der Erwartung, in der Weise des Umschlagens der Vorerinnerung im Ablauf der Zeit in ein korrelates Phänomen (aufgrund des Eintretens in der bestimmten Zeitstelle). So ist auch die Anspannung des Willens ein Phänomen, das seine Gradualität hat. Aber abgesehen von dieser Gradualität haben wir das Umschlagen der Willensintention in die Willenserfüllung, nämlich in die Handlung. Allerdings haben wir dabei ein kontinuierliches Sich-Erfüllen und in jeder Handlungsphase ein Ineinander von Erfüllung und Intention auf weitere Erfüllung. Ebenso, wenn ein Begehrtes, Erwünschtes eintritt: Auf der einen Seite das Begehren als Intention, als Spannung (und Intensität), auf der anderen Seite Erfüllung, aber ablaufende Erfüllung, wobei jede Phase des Eintritts sozusagen eine Phase des bloß Intendierten erfüllt.3 Geht aber nicht Analogie überall durch? Bei jeder Tendenz haben wir den Modus der unerfüllten Tendenz und das Sich-Erfüllen (hier bei der Aufmerksamkeit nicht das bloße „Folgeleisten“, hsonderni auch hdasi Sich-den-Gegenstand-anschaulich-Machen, wenn er eben noch nicht anschaulich, selbstgegeben ist). Die Analogie sagt aber nicht, dass Aufmerksamkeit und so überhaupt Tendenz ein Gemütsphänomen ist. Tendenz, Tendieren, das besagt einen Modus, der bei verschiedenen Phänomenen auftritt, und im Voraus ist es nicht unsere Sache, Theorien zu machen, sondern sorgfältig zu beschreiben. Ist nicht Tendenz ein M odus, der zu allen Grundarten von A kten gehört?4
1 Falsch. Cf. Beilage zu 4 h= Beilage VI: Zur Spannung und Entspannung bei Erwartung und Aufmerksamkeit. Die Erwartung als vorerinnernde Aufmerksamkeit. Quasi-Erwartung und Quasi-Aufmerksamkeit in der Phantasie (S. 328)i. 2 Das besagt aber nicht, dass es etwas grundwesentlich dem obersten Gattungscharakter nach Verschiedenes ist, siehe unten. 3 Wir haben in allen diesen Aktarten zwei korrelate Modi: Spannung als den Vollzugsmodus, Erfüllung als Endpunkt = Erzielung. 4 Aber das ist nicht bewiesen.
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Ich will nun gleich die Frage anknüpfen nach den „a t t e n t i o n a l e n W andl ungen“ im Sinn der Ideen. Wir achteten bisher auf die Eigentümlichkeit, dass, wie die Reflexion lehrt, Objekte, die nicht Zuwendungsobjekte sind, Aufdringlichkeit haben, das Zuwenden erzwingen oder dazu anreizen können, dass dann das Objekt in der Zuwendung zum Thema werden kann, dass damit organisierte Tendenzen bezeichnet sind usw. H i n g e g e b e n h e i t des I c h – A nzie hung v o m O b j e k t, so stellt sich die Sache noematisch und subjektivisch dar. Aber nun die merkwürdigen Wandlungen der Phänomene hinsichtlich der „inhaltlichen“ Gegebenheitsweise des Gegenstandes, je nachdem er Hintergrund der Bemerksa mkei t u n d A u f m e rk sa m k e i t ist, also außerhalb der Zuwendung, und je nachdem er primäres Objekt ist, oder nachdem er primäres Objekt war, noch festgehaltenes oder im Voraus schon bemerktes, aber noch nicht zentrales Objekt. Auszuscheiden haben wir zunächst die Wandlungen, die das Aufmerken mit sich bringt: Es ist das Wachstum an inhaltlichem Reichtum durch Neuhereinkommen von bestimmenden Gedanken etc. Zum Wesen der Sachlage aber gehört das Sich-Zerteilen des einen thematischen Strahles in einen thematischen Strahlenbüschel, das Auseinandergehen der Objekteinheit in die Mannigfaltigkeit der Komponenten, die einen Büschel von Tendenzen erzeugen, allerdings im Nacheinander, Moment für Moment sich abhebend, aussondernd und Schritt für Schritt Reize für das Aufmerken entfaltend. Und dem folgen nun die wirklichen Aufmerksamkeitsstrahlen, Strahlen der aktuellen thematischen Erfassungen. Nun scheint mir aber, dass eben das die a t t e n t i o n a l e n W a n d l u n g e n sind. Die Deutlichkeit halsi das Für-sich-aufgemerkt- und -bemerkt-Sein. Schließlich ist die Rede von Strahlen ein Bild. Das Ausgrenzen, das modifiziert den Gehalt des Phänomens, das thematische Auseinandergehen etc.2 Man hat nur verschiedene Weisen und Richtungen, was hier wesensmäßig zusammengehörig vorliegt, zu beschreiben. Ei nhei t ei nes The ma s – E i n h e i t e i n e r A u f m e r k s a m k e i t. Die Einheit des Themas bestimmt das Feld der Aufmerksamkeit. Es können dann aber auch mehrere besonderte Themen abwechseln, das Aufmerken von einem in das andere überspringen: zwei thematische Erlebnisse sich kreuzen. 1
Wohl Anfang 1914. – Anm. der Hrsg. Im noematischen Kern zeigen sich eigentümliche Veränderungen des sachlich Näherkommens, Deutlichwerdens, Klarwerdens. 2
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Da wollte ich ge spannt e E rw a rt u n g und g e s p a n n t e A u f m e r k s a m kei t kontrastieren und dadurch Erwartung und Aufmerksamkeit selbst. Wir haben dabei zu unterscheiden: Eine gewisse Erwartung ist schon erregt, eine gewisse Aufmerksamkeit ist schon „erregt“, aber die Erwartung wird nicht „vollzogen“, die Aufmerksamkeit wird nicht vollzogen. Der „Reiz“ des Objekts, des gedachten Sachverhalts etc. wird schon „empfunden“, der Zug dahin ist schon da, a b e r i ch f o l g e i h m n i c h t. Ich bin noch durch anderes „gebunden“, ich bleibe anderem, mich noch „stärker Anziehendem“ zugewendet. Die Aufmerksamkeit bzw. die Erwartung geht nun in das Vollzugsstadium über, oder vielmehr: Der betreffende hinblickende oder vorblickende Akt erhält die Vollzugsform des Hinblickens, des Vorblickens. Das sagt, ich erlebe nicht nur das perzeptive Gegenstandsbewusstsein, das Vorerinnerungsbewusstsein und erlebe nicht nur Tendenzen, die sozusagen das Ich dem Gegenstand zuwenden wollen, sondern ich v o l l zi e h e das Gegenstandsbewusstsein i m Modus de s cog it o (die Stellungnahme), und das Vollziehen bedeutet eine phänomenologische Wandlung, welche sowohl das Gegenstandsbewusstsein selbst als auch die in ihm lebenden Tendenz-Regungen betrifft. Die Letzteren werden zu Tendenzen, denen „ich folge“. Ich werde so zum Subjekt des cogito. Eine offene Frage ist es, o b j e d e Z u w e n d u n g d e n C h a r a k t e r ei nes Fol gens hat, eines Folgeleistens, eines, noematisch gesprochen, vom Objekt ausgehenden „Anziehens“ bzw. hden Charakteri der Tendenz, der Wandlung, aus dem Modus einer an das Ich appellierenden in den Modus der vom Ich angenommenen, es betreffenden Tendenz hüberzugeheni. Wir haben also: 1) das Folgeleisten, die Verwandlung der Tendenz in eine „aktuelle Intention“, z. B. in einem objektivierenden Bewusstsein lebt eine Tendenz, der ich folge; 2) die Intention (die in diesem Modus lebendige Tendenz) hat ihre verschiedenen Grade der Spannungsstärke (wie sie solche auch schon vorher übrigens hat);
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Wohl Anfang 1914. – Beilage zu S. 322. – Anm. der Hrsg.
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3) die Intention hat, und mit ihr das ganze Gegenstandsbewusstsein der vollzogenen cogito, ihre Modi der Erzielung,1 und zwar a) den Modus der Abzielung, ohne jeden Anfang der Erzielung; b) den Modus der Erzielung, aber nur als unvollkommener, partieller, als eine Erzielung, die immer noch Komponenten der Nicht-Erzielung hat. Das betrifft die Aufmerksamkeit und die Erwartung in gleicher Weise. Wenn es nun hieß, die Erwartung entspannt sich schon, aber die Aufmerksamkeit ist immerfort in Spannung – und erst recht, wenn das Erwartete eintritt –, so kann das nur Folgendes sagen: Die Erwartung geht, ihrem Gehalt nach, aus dem Modus der A b zi e l u n g in den der E r z i e l u n g über. Aber damit ist ihre „Spannung“, genauer gesprochen, damit ist sie selbst als Tendenz mit ihrem Modus der Hingabe, der Zuwendung, der aktuellen Intention nicht verschwunden, und natürlich ist damit auch nicht ihre Gradualität verschwunden, die eventuell gleich-intensive Hingabe, Intensität der Hingabe. Vielmehr läuft ja das Ereignis erstmal ab. Und erst wenn es ganz abgelaufen ist, ist die Erwartung voll erfüllt. Doch bleibt ein Ergebnis da, so bleibt noch die Hingabe und Spannung etc. Und übrigens, auch wenn nichts übrig bleibt, so ist die Spannung nicht weg, ja sie ist erst recht unerfüllte Spannung. Näher besehen ist da Er w a rt u n g gar nichts anderes als v o r e r i n n e r n d e „ A ufmer ks amke it “. Wie ich auf Gegenwärtiges aufmerksam sein kann, so auf Vergangenes und Künftiges. Und überall haben wir all die Phänomene, besonders das der Erzielung, nur dass die Unterlagen wechseln. Auf ein Ereignis, das schon losgeht, aufmerksam hzui sein, ist nichts anderes als in einer erzielenden Erwartung auf ein „Kommendes“ hzui leben. Hier ist Aufmerksamsein nicht-erzielendhesi Erwarten. hNachtrag:i Aufmerksamkeit habe ich da mit Erwartung in eins genommen, derart, dass Erwartung nur einen besonderen, durch die zugrunde liegende Materie bestimmten Fall ausmacht. Er war tung geht aber auf E i n t re t e n, auf das künftige Sein. Also ist auch Aufmerksamkeit so genommen, dass sie auf Sein geht. Ich bin aufmerksam auf die Dinge meiner Umgebung. Ich höre mit Aufmerksamkeit auf die Mitteilungen, die man mir macht usw. Bin ich auch in Erwartung und bin ich aufmerksam, wenn ich p h a n t a s i er e? Ich folge dem Zug der Phantasie, nicht bloß der Aufeinanderfolge, sondern auch im anderen Sinn ihrem Zug. Ich vollziehe Quasi-Erwartungen und in Hinsicht auf das Phantasie-Gegenwärtige Quasi-Betrachtungen, aufmerksame Quasi-Erfassungen. 1 Das betrifft den Gehalt des intentionalen Erlebnisses, abgesehen von der „Form“ der Tendenz.
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Andererseits ist doch das Angezogensein, die Tendenz mit ihrer Stärke, ihren verschiedenen Modi n i ch t s b l o ß P h a n t a s i e r t e s, nur dass ich eben Phantasieerscheinungen wie auch Erinnerungserscheinungen habe. Denn bei der Erinnerung ist es genauso. Ferner, wenn ich eine Folge von b i l d l i c h e n Dar s tel l ungen, kinemahtographischeni, erlebe und aufmerksam hbini: Ich erwarte, bin vorgerichtet aufmerksam. Einen Roman lesend bin ich voll Erwartung, wie ich, ein wissenschaftliches Buch lesend oder eine geographische Beschreibung, voll Erwartung bin für die kommenden Mitteilungen von Tatsachen. Erwartung geht auf Kommendes, ein Daraufwarten, Entgegenlangen. Das Kommende muss aber etwas sein, hmussi in der Weise einer Vorauserinnerung, einer im Voraus vollzogenen, mehr oder minder, eventuell unbestimmt vollzogenen Setzung gesetzt sein und dann „eintreten“. Dazu genügt auch Phantasie: Ich erwarte nicht, was ich frei fingiert habe, aber ich erwarte auch da, was da wohl kommen wird „von selbst“. Im dunklen Gesichtsfeld, ich erwarte die sonderbaren Schlummerbilder, betrachte das Einzelne eventuell mit Aufmerksamkeit, interessiere mich, wie sie sich verändern werden. Es gibt eben ein Phantasiefeld mit Gegebenheiten, Erscheinungsgegebenheiten (Vorgestelltheiten, so wie sie da Vorgestelltheiten, Erscheinendes als solches, sind), und diese laufen ab in ihrer Zeitfolge, die eine immanente ist. In der Erinnerung ist es nicht anders, wenn ich eben nur warte, „was da die Erinnerung bringen wird“. In der Vorerinnerung und der normalen Erwartung erwarte ich aber, was da „in Wirklichkeit“ kommen wird. Das Eintreten einer Wirklichkeit. Ebenso Aufmerksamkeit auf Wirkliches: das aufmerksame Wahrnehmen. Aufmerksamkeit auf ficta, auf Schlummerbilder, auf Phantasieeinfälle, da „betrachte“ ich die Gegebenheiten. Dagegen wenn ich in der Phantasie lebe, so bin ich quasi aufmerksam, ich nehme gleichsam wahr etc. Aber der Zug ist dann auch da. Ebenso wenn ich wachend träume, mich hineinträume, wie ich ein Ereignis erwarte etc., so ist die Spannung der Erwartung – obschon „in der Phantasie“ – doch auch Spannung. Ist es nicht so, wie die Lust, in die ich mich lebendig hineinphantasiere, zwar Phantasielust ist, aber trotz der Modifikation auch „Lust“ vom selben „Wesen“ ist? Die Quasi-Tendenzen gehören in die Tendenzsphäre, so die Quasi-Lüste in die Gefühlssphäre. Sie sind also nicht etwa nichts. Natürlich müssen wir uns nicht objektiv vorstellen: Empirisch gesprochen werden wir wirklich „gezogen“, aber phänomenologisch ist der Zug ein Zug in der Phantasie, zu ihrem anschaulich imaginativen Bestand gehörig.
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Ich habe bei diesen Betrachtungen über A u f m e r k s a m k e i t immer vorausgesetzt, dass das Objekt schon „da“ ist, auf das ich aufmerksam „werde“ oder in dessen aufmerksamen Betrachten ich lebe. Es kann aber auch sein, dass das Objekt ganz im Dunkel ist, dass ich in einem unklaren oder l e e r e n Vor s tel l en es vorschweben habe und ins Leere hinein aufmerksam bin. Das Dem-„Zug-des-Objekts“-Folgeleisten heißt also nicht, das Objekt dann „wi r kl i ch ha ben“, und es ist klar, dass das F o l g e l e i s t e n hier wie bei jeder „erregten“ Tendenz eben nur das Hineinleben ist. So kann ich ja auch einer Erwartungstendenz Folge leisten oder den Zug der Erwartung zwar spüren, aber anderswohin gewendet sein. Oder ich kann im Begehren leben oder der Begehrungstendenz nicht Folge leisten, mich anderswohin wenden. Ein anderes aber ist das Z u r- E n t sp a n n u n g - B r i n g e n. Ist das Objekt schon anschaulich, „selbst“ da, so e n t sp a n n t s i c h d i e T e n d e n z d e r A ufmer ks amkei t – übrigens ohne darum notwendig an „Kraft“ zu verlieren. Ich bin dem Objekt hingegeben und nicht nur das, sondern es heißt genauer, ich bin ihm hingegeben u n d b e i i h m se l b s t. Das ist also E r f ü l l u n g al s Zi el er r eichung , E rzi e l u n g. Aufmerken als objektivierende Intention (Tendenz) findet sein Ziel, die objektivierende Intention erfüllt sich.2 Ebenso ei ner Erw artu n g n a ch g e b e n d , F o l g e l e i s t e n d bin ich dem Erwarteten hingegeben, aber ich bin „bei ihm selbst“, wenn die Erwartung sich erfüllt. Die Erwartungstendenz erreicht ihr Ziel (das Erwartete fängt selbst an), und nun geht das Erzielen im Ziel Spazierengehen stetig weiter. Ebenso jedes Begehren: Ich e rre i ch e d a s W u n s c h z i e l – freilich, ich erreiche es vielleicht, ohne was dazu zu tun –, die Tendenz, die Wunschintention, in der ich lebe, erfüllt, erzielt sich. Wollen: W ol le nd e rrei ch e i ch d a s Z i e l. Aber zunächst wäre das Analogon: Ich entschließe mich und erwarte die Zeit der Ausführung. Nehmen wir das in eins an, dann haben wir nicht bloß E r w a r t u n g, sondern auch die Spannung de s Entschl u sse s, dann ist der Entschlusswille bei der Sache selbst: Er fängt an, sich zu erfüllen. Die „S a ch e s e l b s t“ ist die Tat oder vielmehr die Handlung, die ihre Erfüllung hat in der Tat.
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Wohl Anfang 1914. – Anm. der Hrsg. Aber immer neue Ziele: In der Erfahrung habe ich das System freier Möglichkeiten der Blickwendung etc., meine Tat, die „Erkenntnis“ zu erzeugen. 2
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I ntens i tät der Aufm e rk sa m k e i t , In t e n s i t ä t d e r E r w a r t u n g , I ntens i tät des Wünsche n s u n d W o l l e n s – I n t e n s i t ä t d i e s e r T e n denz en, mit welcher die Leichtigkeit oder Schwere der Ablenkung im Sinn des Fahrenlassens zusammenhängt. G ra d d e r W i l l e n s a n s p a n n u n g , d e r 5 A ufmer ks amkei tsanspa n n u n g e t c. Dieser Grad hat nichts zu tun mit der anderen Gradualität, nämlich dem Umfang der Entspannung (mit der Erzielung), sofern ich den Gegenstand allseitig in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit bringe oder sofern immer hmehri vom Erwarteten abgelaufen ist oder immer mehr von der Handlung realisiert histi. 10 Allerdings, mein Interesse kann sich dabei schwächen etc.,1 aber es braucht nicht. Es kann mir bald langweilig werden, aber so ohne weiteres ist nicht Fortschreiten im Durchlaufen Nachlassen der Spannung.
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Das Erkenntnisinteresse, das theoretische, wird schwach.
Nr. 27 h Die Er fül lun g von Int enti onen gegenüber der Ent sp annung von Tendenzen i1
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Ich sprach in den Logischen Untersuchungen von „Erfüllung“ objektivierender „Intentionen“. Was für Vorkommnisse hatte ich dabei im Auge? Das in einer Deckung sich vollziehende Anschaulichwerden einer Leerintention, das satter Anschaulichwerden einer schon anschaulichen, das Sich-Bereichern an anschaulichen Zügen innerhalb einer partiell schon anschaulichen Vorstellung etc., endlich auch das Sichdecken eines reproduktiven Bildes mit entsprechender Wahrnehmung.2 Das alles hat mit Entspannung von „Intentionen“ im Sinn von Tendenzen nichts zu tun,3 es sei denn, dass durch den Fortschritt der Bekräftigungen sich „Erkenntnisinteressen“ befriedigen, d. h. hier, Strebungen, Tendenzen auf solche Bekräftigungen sich entspannen, befriedigen.4 Ich sprach vom Aufbau einer Wahrnehmung aus intentionalen Strahlen, aus „Partialintentionen“, vollen und leeren, zum Wesen der Wahrnehmung gehöre ein offener Horizont mit immer neuen Möglichkeiten der Erfüllung. Das alles ist natürlich richtig. Wir haben unendliche Reihen von Objektivationen, die alle „dasselbe“ meinen, aber in vollkommener und immer vollkommenerer Weise meinen. Es ist doch unvermeidlich, das teleologisch zu denken: ein Ziel der Erkenntnis, immerfort Zielgebungen, Zielannäherungen, neue Zielsetzungen etc.5 Aber stammt nicht die Teleologie aus dem theoretischen Interesse (gleich aus der Aufmerksamkeit)?6 Die 1
Wohl 1913/14. – Anm. der Hrsg. Zu beachten: Bekräftigung erinnert an K r a f t, an graduelle Abstufungen. G r a dualität der Bekräf t igu ng, demgegenüber G r a d u a l i t ä t d e r B e f r i e d i g u n g der Erkenntnisabsichten, Strebungen. 3 Oho! Gerade im Gegenteil: Die aufmerkenden Intentionen sind Spannungen, die sich in der Gegebenheit des Gegenstandes befriedigen, so wie die Erwartungsintentionen im Eintreten des Gegenstandes. 4 Vgl. aber Beiblatt zu 5 h= Beilage VII: Die Intensität der Aufmerksamkeit (S. 331)i. 5 Das ist aber kein bloßes Gleichnis, es s i n d Ziele. 6 So wie bildliche Reden vom Sichannähern an eine Grenze, Zustreben zu ihr in der Mathematik. 2
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„Sache zieht mich an“ – Tendenz, das Ich sich zuwendend der Sache und von ihr „selbst“ angezogen. In der Unklarheit haben wir ein Leerbewusstsein. Eine durchgehende Tendenz auf Erfüllung: Ist das nicht die Frageintention? 5 Genauer sein! Innerhalb einer Sphäre „allgemeiner Möglichkeit“, innerhalb einer allgemeinen, aber unbestimmten Gewissheit habe ich beschlossen Möglichkeiten, und nun habe ich das „Ob das ist?“. hDiei „Fr age“ is t di e der „ Mögl i chkei t “ entsprechende Intention, Tendenz, auf Antwort, Entscheidung durch entsprechende An10 schauung. Erkenntnisinteresse: Ich bin überzeugt und „will“ bewähren.1 In gewisser Weise stelle ich dabei in Frage, nämlich die Deckung mit der Anschauung.
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Zielen-auf, das ist kein Wollen.
Nr. 28 h A ufm erks am kei t al s Zuwendung und als Tendenz. D ie vom G egenstand ausgehenden Tendenzen z ur Betrachtung und Tendenzen auf Expl ikat io n und synthetische Setzungi1
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A ufmer ks amkei t, darunter kann verstanden werden: 1) das Im-objektivierenden-Bewusstsein-Leben, Ein-MeinenVollziehen oder das Objektivieren-als-Durchgang-Vollziehen. Das kann sagen: Zuwendung. Wobei zu fragen ist, ob Zuwendung 10 s chon Setzung, Vollzug des Glaubens ist. Ist nicht erste Zuwendung noch so, dass die Vorstellung – und speziell das Glauben, das Vermuten etc. – in der Zuständlichkeit verbleibt, und dann ist ein Zweites das Die-Seinssetzung-Vollziehen, Den-VorstellungsaktVollziehen im „Ich denke“?2 Und wir haben schon Unterschiede 15 z w is chen pr im ärer Zuwendung und sekundärer, und korrelativ Unterschiede der O bj ekte.3 Sie sind in verschiedener Weise gegeben, wenn auch noch passiv gegeben, noch nicht im aktualisierenden Glauben und Auffassen in einer Spontaneität gegeben oder einer weitreichenden Spontaneität.4 Sie haben schon ihr Licht und 20 verschieden helles Licht gegenüber dem dunklen Hintergrund.5
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Wohl 1913/14. – Anm. der Hrsg. Aber ist das Vollziehen des Glaubens etwas Eigenes? Ist es nicht schrittweise das Einleben in das Wahrnehmen? 3 Vgl. Y hvgl. Husserliana XXXVIII, Text Nr. 4: Richtungen der Aufmerksamkeit o (S. 371)i. 4 Einstellung der Betrachtung des Gegenstandes, Einstellung der Bestätigung des Seins. 5 Nota. Aufmerksamkeit: Zuwendung, primäre Erfassung, sekundäre Erfassung etc. – das sind formale Unterschiede. Nähere Bestimmung: das, was man S p a n n u n g der Aufmerksamkeit nennt, interesseartig. Ich bin dem Inhalt mehr oder minder hingegeben, dringe in ihn tiefer oder weniger tief ein, und er dringt in mich tiefer oder weniger tief ein. Ich habe von Affektion, S t ä r k e der Affektion gesprochen und die Sache so angesehen: Je stärker die Affektion ist, umso stärker ist die der Tendenz zur Hingabe, zur Erfassung, zu dem Folgen. Aber die Erfassung selbst kann mehr folgen und weniger folgen, und das gilt sowohl von primärer als von sekundärer Zuwendung. Ich brauche mich einem starken Reiz nicht ganz hinzugeben, ich kann mich verschieden in ihn einlassen. Jedenfalls, meine ich, müssen wir unterscheiden, was zur Affekt ion selbst g e h ö r t – und was seine zwei Seiten hat: das auf mich 2
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2) Die A uf mer ksam kei t al s Tend enz, als Hintendieren zum Gegenstand, als in ihm gemäß dieser Tendenz Terminieren bzw. im Durchlaufen seiner Erscheinungen und dem Gegebenhaben seiner einzelnen Beschaffenheiten hTerminiereni, Terminieren im Gegenstand-Identifizieren und Merkmal-Identifizieren in seinen verschiedenen Modi gemäß den Erscheinungsweisen. Und ist das nicht das Den-Gegenst and-z um -Them a-H aben? „Thema“ ist Korrelat von Thesis. „Ich mache zum Thema“ kann heißen, ich vollziehe die Thesis, ich lasse den Gegenstand nicht nur herankommen, er gibt sich mir nicht nur, ich nehme ihn, „erfasse ihn“, setze ihn als Objekt und setze immer neu. Wir haben Tendenzen: Der Gegenstand zieht mich zu ihm hin, zu seiner Betrachtung, und das geht über in Erfassung, Setzung, Subjektsetzung mit Festhaltung, Daraufhinsetzung eines Moments, einer Beschaffenheit an ihm und schließlich zur Erkennung. All die Spontaneitäten sind Erfül l ungen von Tendenzen. Ich bin auf den Gegenstand aufmerksam, ihm hingegeben: Ich vollziehe das Wahrnehmen etwa in der Weise, dass ich den von ihm ausgehenden Tendenzen folge, d. i. den Tendenzen auf Explikation der Gegenstandsmomente, auf Durchlaufen der Erscheinungen, in denen sich die Einheit des Gegenstandes konstituiert etc. Und dabei wieder die Unterschiede des bloße n Betrachtens und des synthetischen Setzens, des Vollziehens von Thesen, derart, dass ich die mehrfachen Thesen in die Einheit eines thetischen Zusammenhanges bringe, statt in der Betrachtung dem Gegenstand zwar treu zu bleiben, aber ohne die Thesen zu verknüpfen. „Thema“ ist also nicht ganz eindeutig. Aber in der Tendenz haben wir eine Einhei t, eine Organisierung in der Entfaltung zu Eindringen, mich affizieren, und vom Ich aus die Tendenz, der Zug zu ihm hin – und was zu meinem Auf merken gehört (hdemi primären und sekundären Aufmerken) als mich mehr oder minder hingeben, an den Hals werfen, eindringen und den Inhalt in mich hineinziehen. Wachsein ist Zuwendungen vollziehen, Aufmerken und dann überhaupt tätig sein. Erwachen ist auf etwas den Blick richten. G e w e c k t w e r d e n ist stärkere Affektionen erleiden, wodurch Inhalte dem Ich „näher“ kommen. Es ist bei ihnen, wenn es sich zuwendet. Grade der Wachheit ergeben sich in unterster Stufe durch Grade der Zuwendung, aber in höherer Stufe hdurchi G r a d e d e r T ä t i g k e i t. Denn auch das Tun hat graduelle Unterschiede; das aktiv Konstituierte affiziert selbst wieder verschieden und bedingt verschiedene Tiefe der Setzung und Beziehung etc. Intensität des theoretischen, des vernünftigen praktischen Interesses etc.
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neuen Tendenzen, und das gibt die Einheit des Aufgemerkten und andererseits Einhei t d es Them as: Schaffung von synthetischen Einheiten, die auf dem Grund des Aufgemerkten als solchen sich konstituieren als ei ne höhere Stufe. Im Vollzug, im Abfließen 5 der Betrachtungstendenzen konstituieren sich implicite neue Gegenständlichkeiten, aber sie sind zunächst nur Möglichkeiten. Es ist eine neue Vollzugswei se, wenn i ch erfasse und zugleich setze und prädikativ Sachverhaltsgegenstände konstituiere. Müssen wir aber nicht sagen, unter allen Umständen lebt im ak10 tuellen Gegenstandsbewusstsein, im Vollziehen, eben eine Tendenz, eine E inhei t des Tendi erens geht hindurch, und die Einheit der Betrachtung des Gegenstandes und der Explikation und synthetischen Konstitution auf ihn bezüglicher Sachverhalte ist zugleich eine Einheit von sich zusammenschließenden, durch einander motivierten 15 Tendenzen?
Nr. 29 h T heoret is ches Interesse als Tendenz zur Betrachtung. Ist Interesse am Geg enstand ei n G efühl? i1 5
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Es ist ein Problem, wie sich die verschiedenerlei Tendenzen zu Gefühlen, zu Begehrungen, Wollungen verhalten. Im Gefallen hingezogen sein, angezogen sein, sein Gefallen im Anblick eines geliebten Gegenstandes, die Liebe, das Begehren in der Umarmung etc. sättigen. Das Bege hren i st sel bst ein Tendieren-zu, ein begehrendes Tendieren, ebenso das Wollen. Wie steht es i m einf ach en Betrachten eines Gegenstandes? Der Gegenstand interessiert mich. Ich fühle mich von ihm angezogen, ich gehe von Betrachtung zu Betrachtung. Ich sehe mir ihn „aufmerks am“ an, gehe von Teil zu Teil, von Form zu Form, von Beschaffenheit zu Beschaffenheit. Es ist hier also eine Tendenz z ur B etr ac htung. Ich bin am Gegenstand interessiert. Und das I nter es s e ist, könnte man sagen, ein Interesse am Gegenstand, also heini Gefühl, das dem G egenstand gilt und in der fortschreiten den Gegebenheit des G egenstandes sich sättigt. Das Gefühl aber ist nicht die Tendenz? Zum Beispiel, ich höre einen wundervollen Violinton. In satter Freude höre ich zu, ich bin „gefesselt“. Die Zuwendung ist erfüllte Tendenz. Ist die Freude selbst die Tendenz? Ist nicht die Freude am Gegenstand etwas, worin ich leben kann, aber nicht leben muss? Ich kann in dem „theoretischen Interesse“ am Gegenstand leben, ihm nachgehen, wie er ist, und andererseits in der Freude leben, wobei die Betrachtung des Gegenstandes nur „dienend“ ist für die Sättigung der Freude, des Gefallens. Nun ist aber die Sachlage schwer zu beschreiben. Sind da verschiedene Gefühle? Einmal gefällt mir der Gegenstand etwa ästhetisch, das andere Mal sind mir andere, außerästhetische Beschaffenheiten von Wert, sie kennenzulernen etc.2 1
Wohl 1913/1914. – Anm. der Hrsg. Wesensgesetz: Gef üh le, d i e s i c h a n G e g e n s t ä n d e k n ü p f e n , f u n d i e r e n Tendenzen der Betrac ht u n g d e r G e g e n s t ä n d e, und zwar in den Hinsichten, 2
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W as is t al so der U nterschi ed von In-theoretischemB ew us s ts ein-Leben und In-G em ütsbewusstsein-Leben? Soll man sagen, einmal ist es „ Interesse “ „ am Gegenstand s elbs t “, d. i. ein Gefühl, das sich in fortgesetzter Betrachtung, Explikation, Prädikation erfüllt, das andere Mal ist es ein Interesse besonderer Art, ein Gefallen an gewissen Darstellungsweisen des Gegenstandes (nicht an der Einheit), an gewissen Nützlichkeiten desselben etc.? Dann hieße „Vollzug“ irgendeines Aktes nur die Form des cogito, und alles andere wäre Sache des „Gemüts“, Sache von Gefühlen und mit ihnen zusammenhängenden Arten von Gemütsakten, die in „Vorstellungen“ fundiert wären. Auf solche schwierigen Fragen kann ich mich doch nicht einlassen. Was brauche ich für meine Darstellung? Wir haben eine Tendenz auf hdiei „Sachen selbst“, ein „Interesse“, das sich in der Expl i kati on der Sachen erfüllt bzw. ein „theoretisches“ Interesse als Korrelat theoretischer Intentionen, Erkenntnisintentionen, sofern es sich im Fortgang der Erkenntnis „auswirkt“, immer neu erregt und immer neu entspannt. Wir haben andere Tendenzen, von einem Gegenstand auslaufende, Tendenzen zu einem Gegenstand, die aber nur „Mittel“ sind der Überleitung des Interesses auf andere, zur Überleitung des Blickes auf andere. Sagt man „Überleitung des Interesses“, so fragt es sich, was für ein Interesse. Interesse an der Sache. Aber bei Worten: Es gehen Tendenzen von Wort zu Wort. Unselbständige Gedankenstücke weisen weiter auf Ergänzungen, und wo ich in der Zeitung lese oder einen Roman etc., da sind die einzelnen Sätze selbst Glieder eines größeren Zusammenhanges. Sie erregen Intentionen auf weitere Sätze, bzw. der Blick wird von den schon vorstelligen Sachen auf neue hingelenkt, die aber noch nicht vorstellig sind. Nun überwiegt diese Sachintention, wir bleiben nicht an dem Einzelnen hängen. Wir gehen weiter. Das
in denen sie speziell gefühlsmäßig interessieren, und so weit sie reichen, reichen die Tendenzen. Passive Motivation: die Tendenz zu Zuwendung und Betrachtung – weil der Gegenstand gefällt (missfällt etc.?). Doch ist es nicht klar, wie es beim Missfallen steht. Gehört dazu nicht ein Trieb der Abwendung, der Trieb, sich zu entfernen? Oder ein Streit? Trieb der Betrachtung, andererseits der Trieb, es zu vernichten, sich davon zu entfernen etc. Aufdringlichkeit: durch Stärke, Intensität etc. Das besagt nicht Unlust oder Lust. Ist nicht das sehr große Unlust Erregende höchst aufdringlich um der Unlust willen?
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Interesse am Einzelnen kann aber überwiegen. Ich bleibe stehen, vertiefe mich, gehe von der Unklarheit zur Klarheit, gehe von der Unbewährung zur Bewährung etc.
Nr. 30 h Pas si vit ät und Akti vi tät i m Begehren und Wol le n. D i e zum Begehren und Wol len g ehörenden Tendenzeni1 5
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Wunsch, Begierde und Spannung, Trieb. 1) Ein Begehren kann mehr oder minder lei denschaftl i ch sein. Überhaupt: Leidenschaftlichkeit histi eine Gradualität des Begehrens. 2) Begehren als Zustand, als passi ver Trieb. Hier gilt es vorsichtig sein: Ich wünsche die Verständigung Deutschlands mit England. Ich begehre danach. Kann man hier nicht unterscheiden:2 das spontane „Ich wünsche“ von dem passiven Zustand des Begehrens, so wie ich das aktive „Ich will“ unterscheiden kann vom passiven „Folgeleisten einem praktischen Trieb“, z. B. eine praktische Möglichkeit taucht auf und „willenlos“ folge ich ihr, ich gehe in eine Willenszuständlichkeit über ohne ein freies aktives fiat, einen aktiven Entschluss. hDasi Beispiel vom Trinker: der Gedanke, ins Wirtshaus zu gehen (sowie ich von meinen momentanen Gebundenheiten loskomme), übergehend in einen zuständlichen Entschluss, der nichts vom aktiven Entschluss hat.3 Oder ich sehe die Zigarre, und der Trieb zum Rauchen geht über in die Ausführung. Ich greife danach, ich zünde an, ich rauche, sozusagen eine bewegte Zuständlichkeit, eine Passivität, wenn auch keine ruhende, sondern eine bewegte. Nun liegt beim passiven Wollen (praktische Passivität) der Unterschied vor zwischen a) dem erregten Willenstrieb, der von dem Anblick der Zigarre ausgeht, hundi b) dem widerstandslosen Folgeleisten. Vordem leerer Trieb, dann Erfüllung, Entspannung in der Weise des Folgeleistens. Ebenso könnte man sagen: Es sei zu unterscheiden zwischen a) dem erregten Begehrungstrieb, b) dem Sichbegehrend-dem-Trieb-Hingeben, Ihm-Folgen. Demgegenüber wird man aber einwenden können: Die ganze Darstellung sei verkehrt. Im ersten Fall, beim Willen, sei der vor-
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Wohl 1913/14.- Anm. der Hrsg. Eine sehr fragliche Überlegung. 3 Ja, was ist da der Gegensatz? Das Überlegen und sich aufgrund der Überlegung und Erwägung Entscheiden: Ich entscheide spontan, der Vernunft folgend. 2
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angehende Trieb die unerfüllte Begierde nach dem Rauchgenuss. Dieser steht als „Ende“ einer „prakti schen Möglichkeit“ da (Willensanmutung: Analogon der doxischen Anmutung), d. i. eine Phantasiemodifikation einer Handlung, eines Ablaufs, der im Rauchen und Rauchgenuss terminiert und nicht bloß im Charakter der Befriedigung des Begehrens vorstellig ist, sondern im Charakter des „Praktischen“, des Tuns, des Geschehens im willentlichen Sinn. Und sowie die praktische Möglichkeit bewusst ist, geht von ihr ein neuer Trieb, der praktische Trieb aus, dem das fiat folgt, der realisierende Wille, falls nicht eine Hemmung auftritt, ein Gegentrieb: „Es könnte mir schaden, ich soll das nicht“, ein Trieb dagegen, und dem entspricht das „Ich will nicht“, die Willensablehnung (Widerstreit zwischen zwei praktischen Tendenzen). Oder ein Willenstrieb dahin, hesi zu realisieren, aber auch ein Trieb dagegen, z. B. zu überlegen, ohne dass es zunächst wieder zu einem Wollen als Zustimmung oder Ablehnung käme. Setzt aber jeder Wille die Vorstellung einer praktischen Möglichkeit voraus, ist jeder also charakterisiert als Willensbejahung? Gibt es nicht etwas W il l ensarti ges ohne Bejahung?1 Hat es aber nicht doch einen guten Sinn, davon zu sprechen, dass ein Begehren erregt sei, dann aber die Möglichkeit bestehe, sich dem Begehren hinzugeben, ihm zu folgen oder nicht? Gewiss, dann handelt es sich um den Unterschied zwischen „im Begehren leben und sich ausleben“ und es nicht tun. Hier kommen wir auf andersartige Tendenzen: Tendenzen, sich dem Begehrten zuzuwenden, und nicht ihm zugewendet zu sein, humi es theoretisch zu betrachten, sondern es dient die Betrachtung als Unterlage des sich nun entfaltenden und auslebenden Begehrens. Wir sind nicht nur betrachtend, sondern begehrend zugewendet. Das Begehren ist nicht nur Hintergrundbegehren, sozusagen außerhalb des Ich, sondern das Ich ist das sich im Begehren auslebende, im Begehren sich zuwendende Ich. Das ist also das B egehrungs anal ogon der Aufmerksamkeit. Ebenso aber auch beim Wi ll en. 1 Es gibt ursprüngliche „Leibesbetätigungen“, die charakterisiert sind als N i c h t t u n. Es juckt mich und ich kratze mich, ich bewege die Augen etc. „unabsichtlich“. Das ist nun auch in reproduktiver Modifikation vorstellbar. Und dann kann Wille als Zustimmung erfolgen: Die „praktische Möglichkeit“ „reizt“ mich, sie zu realisieren. Ich folge der Tendenz: Ich sage dazu Ja, ich tue, und das Tun ist charakterisiert als Realisieren der „Absicht“.
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Das Wollen kann blind,1 im Hintergrund vollzogen sein. Ich arbeite, ich bin meinen Gedanken so intensiv zugewendet, dass ich mir dessen gar nicht „bewusst“ bin, dass ich soeben dem Reiz des Begehrens und dem Reiz der dunkel auftauchenden Vorstellung der praktischen Möglichkeit folgend nach Zigarre, Feuerzeug etc. greife. Oder dass ich eine unbequeme Lage der Hand mit einer anderen vertausche und dgl. Aber freilich kann man hier sagen, dass doch flüchtige Ichblicke in die Willensrichtung gehen und dass hier vor allem doch wohl der Unterschied zwischen speziellem Thema und nicht-s pez iel lem Them a in Frage komme. Sollte es aber nicht doch auch richtig sein, dass ich vi el erl ei „ mechanisch tue “, das wirklich getan ist, aber so, dass das Ich darin nicht lebt? Bestätigt das nicht auch die Reflexion? Also hätten wir auch das Analogon der A ufmer ks am keit im Wi l l ensgebi et. Wie steht es nun aber mit der Passivität und Aktivität, mit Z us tändlic hkeit und aktuel l em Vol lzug? Es zieht mich ins Begehren hinein, und ich lebe im Begehren, das ist dann vollzogen. Es ist, kann man sagen, die them ati sche Vollzugsform des B egehr ens (wie jedes Aktes im Modus cogito). Der Modus cogito im allgemeinsten Sinn ist schon die flüchtigste Vollzugsform des „Ich begehre“, die dauernde Hingegebenheit, das Darin-ganz-Aufgehen, d. i. das Zum-Thema-Machen. Überall beim Begehren und Wollen haben wir dabei die Ti efe der H i ngegebenheit, eine Art Gradualität, die ver allgemei nert e Ti efe der Aufm erksamkeit. Das ist aber nicht dasselbe wie Leide nschaftl i chkei t der Begierde. Dazu kommen dann die Unterschiede der U nerfül ltheit und Erfülltheit. Das ist wieder eine Gradualität beim Begehren wie beim Wollen. Auch hier wie bei jeder Gradualität dient das Bild der Spannung. Das Begehren kann pures Begehren sein ohne Erfüllung, es kann sich erfüllendes sein, sich stetig erfüllend. Es ist einmal leer, das andere Mal füllt sich gleichsam die Leere aus und eventuell stetig, immerfort im weiteren Sinn Begehren verbleibend, aber Begehrungsfülle gegenüber Begehrungsleere.
1 „blind“ im Manuskript gestrichen, dazu die Randbemerkung „Gemeint ist nicht vernunft-blind, sondern ich-blind.“ – Anm. der Hrsg.
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Ebenso der Wille. Der leere Entschluss und die Realisierung, die ablaufende Handlung. Eventuell halsi Vorstufe: den Weg zu dem, was ich eigentlich will, durchlaufen und schon eine intermediäre Fülle schaffend und dann hderi Ablauf des eigentlich Gewollten im SichRealisieren. Das Geschehen histi nicht bloß Geschehen und nicht bloß Begehren, sondern Wollen erfüllend und als erfülltes Wollen zu charakterisieren, objektiv als Handlung bzw. eigentliche Willensobjektität: Werk. (Es ist natürlich als diese Objektivität gegeben, wenn ich mir es als Endpunkt der Handlung realisiert vorstelle, und hes ist alsi Objekt durch hdiei Einstellung der Objektivierung.) Zum Wesen des W il l ens gehört in verschiedener Hinsicht Trieb. Der leere Entschluss ist auf die Zukunft gerichtet und hat einen Trieb zum Künftigen (ist ein Trieb?), verwandt der auf das Erwartete gerichteten Spannung der Erwartung. Der einsetzende Handlungswille setzt voraus die vorgängige Entschlossenheit, die ihren Trieb hat (oder Trieb ist) gegen den betreffenden Zeitpunkt und die Voraussetzungen, die er bringt: Sowie die Erwartung, die dies betrifft, entspannt ist bzw. erfüllt, tritt das fiat ein, und nun verwandelt sich der leere Entschluss in den H andl ungswillen, der aber immerfort ein Moment der Erfülltheit und einen Horizont der Entschlossenheit hat im Modus der stetigen Erfüllung. Hierher gehörig die Tendenz des Übergangs zu neuen und neuen Erfüllungen mit dem Moment des sich auswirkenden, stetigen, also nicht im Modus des abgesetzten fiat charakterisierten Willens. Es geht ein Tendieren gegen das Ziel hindurch, ein Tendieren, das nicht eine beliebige Tendenz, sondern die zum Wesen des sich auswirkenden Willens gehörige Tendenz ist. Aber ebenso gehört zur Erfüllung, die einem Begehren „zuteil wird“ (es selbst tut ja nichts dazu wie der Wille), ein Tendieren im Sinn des Erfüllungsverlaufs – wieder nicht bloße Erwartung, sondern eine das Begehren selbst und seine Begehrungserfüllung durchherrschende Tendenz, die sich entspannt. Und wie ist es, wenn ich eine objektivierende Intention zur Erfüllung bringe? Es ist genauer zu überlegen: Sind das nicht alles Erwartungen? Wenn ich einen Entschluss zur Ausführung bringe, so läuft die Handlung ab; bleibt der Ablauf „ungestört“, so läuft alles nach Erwartung, aber auc h gem äß dem Wi l l en. Freilich, wir müssen da unterscheiden: die Willensanstöße und das, was ihnen gemäß von selbst abläuft in der Natur, erwartungsgemäß, aber auch im Sinn des
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Wollens, der auf diesen erwartungshgeimäßen Ablauf rechnete. Jeder vermittelnde Willensakt ist „vorgesehen“, aber nicht bloß erwartet, sondern w ill entl ic h „ v orgesehen “. Wenn ich kontinuierlich hebe etc., so ist das ganze Tun ein kontinuierliches Wollen gemäß dem fiat, 5 das da die „Vorsehung“ ist. Da haben wir eine Tendenz, die nicht bloß Erwartungs-, sondern Willenstendenz ist. Der Wille in sich selbst, indem er etwas leistet, tendiert.
Nr. 31 h D er Tri eb al s ursprüngliche s W ill ensphäno m en. D er Wi derstand ge gen den Tri eb al s Wi l l ensenttäuschungi1 5
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Jucken, Trieb, mit einem Mal übergehend in „Tun“, wobei dem Trieb Folge geleistet, der Trieb im Tun entspannt wird. Man möchte nun fragen: Ist nicht jeder analoge Trieb, z. B. der Trieb der Zuwendung, der Trieb vom Zeichen zum Bezeichneten überzugehen, ein ursprüngliches „Willens“-Phänomen, das Dem-Trieb-Folgen ein Tun,2 obschon nicht eigentlich ein Handeln als Vollführen einer „Absicht“? Der Tr ieb is t ger i chtet, aber er hat keine Absichten. Ein Trieb kann einen Widerstand finden. Ich kann die Hand nicht bewegen. „Es geht nicht.“ Das Tun ist im Ansatz stecken geblieben, es ist „aufgehoben“. Ich „enthalte“ mich nicht, es ist auch keine Willensablehnung, keine Entscheidung gegen den Trieb. Es ist das Moment des „willentlich“3 da, aber das Tun läuft hnichti ab, das, was „stattdessen“ eintritt, ist etwas „anderes“, es ist gegen den Willen, Willensenttäuschung. Es ist das wi l lentliche Nicht, so wie wir im Gebiet der Erwartung unterscheiden: die Enttäuschung und das Sein dem Erwartungsglauben entgegen, das, worin der Grund der Durchstreichung des erwarteten Seins liegt. Aufgehobene, enttäuschte Erwartung, enttäuschter Wille. (Nicht zu verwechseln mit den Tatsachen der Ausweisung im Glaubensgebiet?) Also das finden wir nicht nur bei willensartigen Trieben. Die Erwartung ist ja kein solcher. Praktische Tendenzen auf die Gegenwart gerichtet, auf die Zukunft gerichtet Erwartungstendenzen. Ich zweifle, ob oben die Rede vom „willentlichen Nicht“ eine rechtmäßige ist. Müssen wir denn nicht sagen, dass die spezifische Willensnegativität, das „Ich will nicht“, die Willensablehnung, das Analogon der doxischen Ablehnung ist? Da bedarf es also eigener Unterscheidungen.
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Wohl 1913/1914. – Anm. der Hrsg. Ein Tun? Eben nicht. 3 Über „willentlich“ ein Fragezeichen, dazu die Randbemerkung: „Nicht das Moment des ‚willentlich‘, sondern eben der Trieb, die Tendenz.“ – Anm. der Hrsg. 2
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Getriebensein, einem Trieb folgen, passiv nachgeben – „ohne Willen“. W illensakt ivi tät: das fiat, die Willensthesis, das „Ich will und tue, den Willen ausführend“ und nicht hdasi: „Ich lasse mich treiben“. Ein Handeln ist Sich-nicht-treiben-Lassen; ein Sich-treiben-Lassen kann selbst ein Handlungsthema sein: Ich will mich eben treiben lassen. Statt einem Trieb hzui folgen in passiver Nachgiebigkeit kann man auch sagen: ungestauter Abfluss eines Triebes, Tendenz – ungehemmte Entspannung der Tendenz. Demgegenüber gestauter Zustand, Stauung. Der Wille als Thesis mit „Affirmation“ (Position) und Negation, Thesis auch „Stellungnahme“. Der Trieb keine Thesis, keine Affirmation und Negation, keine Stellungnahme. Die Triebe (die Tendenzen) sind aber verschieden. In der Erwartung lasse ich mich treiben, bis das Erwartete kommt.2 Andererseits, mein Blick fällt auf die Zigarre und sie übt einen Reiz auf meinen „Willen“, einen Reiz, nach ihr zu greifen und sie anzuzünden, und ich folge diesem Trieb. Oder mein Blick fällt auf das Papier und ich folge dem Reiz des Lesens, und ich lese. Ein besonderes fiat ist nicht da. Es sind bloß Reize und korrelativ Triebe. Trieb, dem „Kommenden“ entgegen zu gehen. Trieb, etwas in der Außenwelt „zu tun“, zu gestalten etc., hzui „erzeugen“. Nicht jede Tendenz ist solch ein Trieb. Ich wünsche etwas, „wozu ich nichts dazu tun kann“. Es kommt nach Wunsch und befriedigt den Wunsch, aber es läuft nicht ein Trieb in sich selbst ab als eine Tendenz, die von selbst abfließen kann, wenn nur keine Gegentendenz oder Stauung da ist. Wir haben also hier einen wesentlichen Unterschied: 1) Tendenz en des Durc hlauf ens, Tendenzen, die Augen zu bewegen, hdiei
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Wohl 1913/1914. – Anm. der Hrsg. Ich lasse mir das Erwartete zutreiben.
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Hand zu bewegen, etwas zu tun durch Körperbewegung und dgl.; 2) andererseits W unsc hin tenti onen, Begehrungsintentionen etc. Wie ist dieser Unterschied näher zu charakterisieren? Soll man sagen, die einen sind in Willensakte (Willkür) zu verwandeln und das 5 verwandelt die Abläufe in Handlungen, das Ziel der Tendenz ist dann Werk, Tat; die anderen sind ni cht in wollende Akte zu verwandeln, und ihr Ziel, wenn sie sich entspannen, ist da, aber nicht „infolge des Willens“? Oder: Die einen Tendenzen oder Triebe sind Kräfte, die sich von innen her auswirken, sind Reservoirs, die abfließen und 10 das Ende damit aus sich heraus erzielen; die anderen nicht, „aus“ ihnen geht ja nichts hervor, sondern durch Beziehung auf andere Vorkommnisse erfahren sie eine Entspannung: Von außen her erwirkt sich die Entspannung.
Nr. 33 h Di e Tendenz auf Vol l zug eines Akt es und i hre Auswi rkung in der Sätt igung gegenüber dem Begehren i1 5
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Gefallenstendenz als Begehren und Gefallenstendenz als Tendenz des Vollzugs als cogito. Ebenso Unterscheidung zwischen Tendenz zum Vollzug des „Ich will“ und dem Wollen selbst (Willensintention), und so überall. Auf das Gefallende bin ich aufmerksam. Das Sich-in-den-Gegenstand-Vertiefen ist aber bloße Voraussetzung des Gefallens. Soweit mir der Gegenstand gefällt nach Gestalt, Färbung etc., soweit betrachte ich ihn aufmerksam. Das Interesse am Gegenstand ist Gefallensinteresse. Der Gegenstand, bevor ich ihm zugewendet bin, erregt eine Gefallensintention. Was besagt das? Man kann versuchen zu sagen, es ist vielleicht schon Gefallen, wenn auch „unvollzogenes“. Schon während das Objekt Hintergrundobjekt ist, „erweckt“ seine Gestalt mit der sich eigentümlich so und so kontrastierenden Färbung ein Gefallen, ein lustvolles Zumutesein. Ich wende mich nun zu. Aber indem ich mir nun das Objekt näher bringe, indem ich es „aufmerksam“ durchlaufe, mich an seine Färbung und Form hingebe, bereichert, sättigt sich das Gefallen. Muss man nicht von vornherein sagen: Normalerweise ist die „Gefallensintention“ – die Tendenz, die sich im Gefallen aufgrund des Durchlaufens sättigt, erfüllt – ein Begehren,2 und, wenn ich schon zugewendet bin, so haben wir ständig Erfüllung des Begehrens, das immerfort aber noch unerfüllt insofern ist, als jede Phase des Durchlaufens immer wieder „Gefallensintentionen“, d. i. Begehrungsmomente, enthält, die erst im weiteren Durchlaufen sich zu sättigen haben? Ist es also nicht richtig zu sagen: Gefallensintentionen sind nichts anderes als Begehrungen?3
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Wohl 1913/14. – Anm. der Hrsg. Nein. Es wird aber später deutlich unterschieden zwischen Vollzugsintention des Gefallens und Missfallens und der positiven Begehrungsintention beim Gefallen und der negativen beim Missfallen (nämlich cf. p. 3 h= S. 352,11–353,29i)! 3 Nein, cf. 3 h= S. 352,11–353,29i. 2
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In jedem Gefallen liegen aber (würde man sagen) auch Gefallenstendenzen. Entweder es ist „unvollzogenes“ Gefallen oder vollzogenes. Im ersteren Fall hängt ihm die Tendenz auf Vollzug an. Die Befriedigung dieser Tendenz führt auf eine Art Erhöhung des Gefallens in der Form „Ich habe Gefallen“. Ich mache es sozusagen zu dem meinen, ich genieße. Dazu aber ist erforderlich, dass die Voraussetzung des Vollzugs im Vollzug der Unterlage gegeben ist. Und da sind zwei Fälle: 1) Ich habe Gefallen an einem Objekt, das Gefallen wird aktuelles cogito dadurch, dass ich das Objekt betrachte, und im Allgemeinen muss ich das Objekt, das gefällig ist, betrachten, um das Gefallen hzui vollziehen. 2) Nur eine Ausnahme: Wo das Gefallen Gefallen am Betrachten des Objekts, an der reinen Hingabe an sein So- und Sosein, an sein Erkennen, Beurteilen etc. ist, da hemmt die Reflexion auf das Betrachten den Fortgang des Betrachtens, die Reflexion auf das Erkennen den Fortgang des Erkennens und hemmt somit die Entfaltung des Gefallens und der Gefallensintentionen, die eben in diese Richtung „begehrend“ langen. Nun wird man aber wohl nicht sagen, dass wir in dem „schönen“ Fortgang des Erkennens gar nicht in der Freude leben. Andererseits, um in der Freude zu leben, müssten wir auch hier uns dem Erfreulichen zuwenden. Es ist hier ein eigentümliches Widerspiel: Mich ganz in die Sachen einlebend erhöht sich und verbreitet sich die Freude; Freudenintentionen (also begehrende) erfüllen sich mit Fortgang der Erkenntnis. Ab und zu, bei den Ruhepunkten, da, wo die Spannung am höchsten ist und wo die Sättigung nachher am vollkommensten ist, bei der Erreichung der Zwischenziele und Endziele, aber auch bei der Formulierung der Fragen an den Hemmungspunkten bricht das Gefühl durch und reißt zum cogito hin: „Jetzt habe ich also das heraus! Wie schön!“ Oder: „Wie mag das nun weitergehen? Das ist böse! Wie fatal!“ Usw. Also wir haben unter dem Titel G efallensintentionen Strebungen, die in Gefallen, in Freude als Erfüllung terminieren, mögen wir in denselben „leben“ oder nicht. Und so ist es überall. Andere Beispiele: eine „schöne Frau“, die ich undeutlich sehe, eine gefällige Stimme, auf die ich aufmerksam werde – Begehren, die Schönheit zu genießen und durch Zuwendung und Einzelbetrachtung immer besser und vollkommener zu genießen. Und diese Tendenzen fließen
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sofort ab, der Trieb ist ein praktischer Trieb. In anderen Fällen kann ein Trieb da sein, aber ohne abzufließen, ohne dass die Intention sich erfüllen könnte: bloßer Wunsch, bloßes Begehren. Aber wie nun beim Mi ssfal l en? Im Durchlaufen eines gefälligen Gegenstandes sättigt sich das Gefallen; die Gefälligkeit ist ja nicht Sache des „Gegenstandes draußen“, sondern des sich in der Anschauung konstituierenden, etwa seine vielerlei Teile und Momente zeigenden; und an den gegebenen in ihrem Zusammenhang in der Gegebenheit haftet das Gefallen. Also ich muss durchlaufen und all das in seinem Zusammenhang zur Anschauung bringen, was das Gefallen ursprünglich fundiert, um eben das Gefallen nicht in Präsumtivität, sondern in lebendiger, originärer Form zu haben. Ebenso doch beim Missfallen: Es „sättigt“, es entfaltet sich und die korrelate Missfälligkeit im Durchlaufen des Gegenstandes und seiner Missfallensmomente und Zusammenhänge. Wir haben hier doch zu unterscheiden: So wie wir bei der bloßen Objektivation (Vorstellung) Erfüllung als „Sättigung“ haben, das Ineinandergehen der mannigfaltigen Vorstellungen, in denen der Gegenstand in Einstimmigkeit als derselbe „immer vollkommener“ gegeben bewusst wird, in denen das Gegenstandsbewusstsein sich sättigt, abgesehen von Tendenzen des Übergangs, von Intentionen als Abgesehenheiten oder eben als Zielungen, die sich in solchen Zusammenhängen ihre Erzielungen erschaffen, ebenso ist das Gefallen als Gefallen am intentionalen Gegenstand selbst ein „intentionales“ Erlebnis. Hier haben wir aber unter „intentio“ nicht im Auge Tendenzen, sondern die Zusammenhänge, in denen das Gefallen immer mehr seine „Gefallensmeinung“ erfüllt; ebenso das Missfallen seine Missfallensmeinung. Das Missfallen hat seinen „Sinn“ und der schreibt Wege der Sättigung vor. Davon wieder zu scheiden ist eine Tendenz des Durchlaufens, eine Tendenz, die auf Sättigung gerichtet ist. Hierbei ist zu beachten, dass der Zuwachs an Reichtum, an „Lebendigkeit“, die das sich sättigende Gefallen oder Missfallen erfährt, eine Gradualität ist, die nicht zu verwechseln ist mit derjenigen, welche wir am Gegenstand als größere oder geringere Gefälligkeit bezeichnen und die ihr Korrelat in den Akten hat (abgesehen von Gültigkeit oder Ungültigkeit solcher Wertungen). Der eine Gegenstand gefällt mir mehr, der andere weniger, diese Form gefällt besser als jene. Die Steigerung, die in der Sättigung liegt,
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hat ihre Grenze, und die bestimmt eine Höhe, die sich nun noch da und dort graduell unterscheidet. Und dementsprechend sind auch die Zwischenstufen da und dort graduell anders bestimmt. Also Sättigung des Gefallens oder Missfallens (gemäß seinem Gefallenssinn) und „Größe“, „Höhe“, Intensität der Wertung sind zu unterscheiden. Ferner: Muss man nicht jedem Gefallen und Missfallen eine Tendenz zum Vollzug beimessen, eine Tendenz, die sich in der Sättigung auswirkt? Ebenso wie jeder Vorstellung eine Tendenz zum Vollzug, die sich auswirkt in der fortschreitenden Durchlaufung. Dabei geht beim Missfallen oder Gefallen die Tendenz der Fundierung entsprechend auch auf die Durchlaufung der Vorstellungsunterlage, soweit diese aber Unterlage ist. Nun haben wir aber eine wesen tl i ch verschiedene Situation bei dem Gefal len und Mi ssfal l en. In der Sättigung des Gefallens, die in Hinwendung und vollziehender Durchlaufung statthat, sättigt sich auch ein Begehren auf Gefallen und Steigerung des Gefallens. Wir scheiden also die Tendenz auf Vol lzug des Gefallens und das B egehr en nac h Ste i gerung des G efallens, die dabei in Aussicht ist. Das Begehren geht auf Erfreuliches, eben auf Gefälliges. Die Tendenz auf Voll zug i st aber kei n Begehren. Das zeigt sich deutlich im Gegenfall. Die Tendenz auf Vollzug tritt hier in Kontrast zur Begehrungstendenz, hier die negative Begehrungstendenz. Das Missfällige als solches stößt mich ab, es ist mir zuwider, ich verabscheue es. Die Tendenz des Vollzugs hat sich gegenüber eine Tendenz der Abwendung. Das Missfällige als solches, und je missfälliger umso mehr, reißt mich zu sich hin, es ist auffällig. Andererseits, das negative Begehren, das Verabscheuen treibt mich weg. Das positive Begehren kommt der Zuwendungstendenz zugute, das negative schafft gegen sie gerichtete Tendenzen. Man könnte hier ferner weiter geltend machen: Begehren ist s elbs t eine Tendenz, eine Tendenz auf entsprechenden „Genuss“, auf eine entsprechende Freude, aber eine Tendenz, die in einem geschlossenen Akt (und als bloßes Begehren gehemmt) wurzelt. Ich vermisse das Sein des A, dieses Erfreulichen (aber eben nur im Gegebensein wirklich Erfreuenden), und sehne mich danach. Andererseits kann auch ein Begehren vollzogen oder unvollzogen sein; und das im Hintergrund auflebende Begehren tendiert, zum vollzogenen zu werden, zum „Ich wünsche“. Diese Vollzugstendenz ist also wieder
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eine zweite gegenüber dem Begehren selbst und der Tendenz, die es als solches ist. Ebenso liegt i m Wol l en selbst ein Tendieren, ein praktisches Hinstreben. Andererseits kann eine Vollzugstendenz in ein Hintergrund-Wollen hineingehen und dieses sich in ein „Ich will“ verwandeln. Also z. B., es regt sich in mir ein Entschluss. Ich bin eigentlich schon entschlossen, „ehe ich mir dessen bewusst bin“. Ich wende mich dem Entschluss zu: Ich vollziehe ihn jetzt in der bewussten Form. Aber auch ein ausführender Willen kann „unbewusst“ sein. Ich tue etwas im Sinn eines Willens, bin aber inzwischen mit meinen Gedanken woanders. Dann aber lebe ich wieder im Handeln. Der Übergang ins „Vollziehen“ hinein als Leben im Wollen, die Tendenz auf die Verwandlung in die Form des „Ich will“ (die Rede vom „Vollziehen“ eines Willens ist hier also nicht passend) ist eine andere als die Tendenz, den Willen auszuführen, bzw. halsi die Tendenz, die das Wesen des Willens selbst ausmacht und die sich in der Ausführung erfüllt. Wie das Begehren, so ist das Wollen ein „Meinen“, ein praktisches Abgesehenhaben (Hinstreben), und dessen Sättigung ist Erfüllung des Willens in der Handlung, und zwar ist es stetiges SichErfüllen in jeder Phase des Vorgangs, wobei aber zu jeder ein ungesättigter Horizont gehört, ein vorblickendes, noch nicht erfülltes Streben. Wir haben da ein Ineinander dreier Willensmodi: in Hinsicht auf das abgelaufene Handlungsstück das Schon-Getane, den J etz tpunkt der H andl ung, der realisierte Wille im aktuellen Erfülltsein, hundi den Hor i zont der H andl u ngszukunft, das Nochzu-Tuende: unerfüllte Intention. Das Handeln ist also sich kontinuierliches „Erfüllen“, Sättigen der Willensmeinung. Der Gegenfall das Sich-Enttäuschen, das Misslingen, das „Es geht nicht“. Jedes Sichzuwenden, jedes Einen-Akt-als-Ichakt-Vollziehen (egozentrisch) ist ein „Tun“, eine Spontaneität, ein „Streben“ und sich lösendes Streben, sich erfüllendes eben im Ich-Vollzug. Dieses „Streben“ erfüllt sich in der Auswirkung der objektivierenden Meinung, der gefallenden Meinung, der wünschenden Meinung, der Willensmeinung. Ist also die Meinung eine solche, die selbst ein Streben in sich birgt, so vereinen sich in gewisser Weise diese beiden Strebungen; in der letzteren setzt sich die erstere fort. Das Verwandeln des verbor-
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genen Entschlusses in den offenen, in den bewussten hdesi „Ich will das tun“, verlebendigt den Entschluss in der Weise, dass er nun zu meinem Streben, zu dem wird, in dem ich mich strebend „betätige“. Und nun lebe ich in der Tendenz, die dieses Streben selbst ist, in der 5 Tendenz eben zu tun bzw. an den und den Orten, in der und der Zeit das auszuführen, worauf ich nach willensgemeinter Örtlichkeit und Zeitlichkeit strebend gerichtet bin. Fraglich ist es aber, wie es mit der Klärung steht, wenn der Akt ein „unklarer“ war. Sie gehört wohl mit in diese Tendenz des Vollzugs. 10 Nur ist zu beachten, dass das Gegenständliche eine Einheit vielfältiger Konstitution ist und dass ich da verschieden durchlaufen, aber auch mich mit verschiedenen Schritten in jedes gegenständliche Moment vertiefen kann. Die Tendenzen gehen in die Tiefe und in die Breite. Ich sprach oben davon, dass jede Tendenz ein „Streben“ ist. Aber 15 der Ausdruck ist gefährlich. Und insbesondere das sich realisierende Streben ist ein „Tun“. Es ist nicht Wille (bzw. Begehren) im gewöhnlichen Sinn. Es ist jene Spontaneität, die Voraussetzung jeder Praxis ist, Voraussetzung der Möglichkeit eines eigentlichen Willens, aber nicht selbst Wille.
Nr. 34 I mpl ikat ion der D oxa. D i e Vorzugsstellung der ob j ekti vi erenden Akte1
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Versuchen wir den Ansatz: Intentionale Erlebnisse heißen objektivier ende, sofern hsiei in Hinsicht auf ihre Materie eine objektivierende, d. i. eine vollzogene doxische Qualität haben, oder sofern wir sie unter dem Gesichtspunkt eines solchen in Aussicht stehenden oder vergangenen, überhaupt eines wirklichen oder möglichen Vollzugs betrachten. Jedes intentionale Erlebnis, zunächst jedes konkret geschlossene, ist eine Einheit von Materie und Qualität oder ist qualifizierte Materie (noetisch – noematisch), oder in der Redeweise der Ideen, es ist eine aktuelle oder potenzielle Thesis mit einer Materie, die Thesis sich auf den Gesamtumfang der Materie beziehend. Ist das intentionale Erlebnis komplex, so oder so fundiert, dann können wir darin eingeordnete oder untergeordnete, eventuell relativ unselbständige und insbesondere in dem besonderen Modus, in dem sie da auftreten, uns elbs tä ndige Akte unterscheiden, für jeden haben wir das Schema Thesis und Materie. Und ist die Thesis eine aktuelle Glaubensthesis, so ist der Akt ein objektivierender. Zu jedem komplexen Akt gehört ein einheitlicher thetischer Charakter als seine Thesis. Im weiteren Sinn rechnen wir hierher die doxisch modalisierten Akte, die Akte der Anmutung, Vermutung usw. Wir können sie auch die modalis ier t en Obj ekti vati onen nennen. Jeder ni cht- objekt i vi erende Akt, jeder, dessen Thesis (im Fall gegliederter oder sonst wie fundierter Akte: die zur Einheit des gesamten hAktesi gehörige hThesisi) keine Glaubensthesis ist, birgt eine solche in sich. Aber nun ist es wichtig, dieses In-sich-Bergen richtig zu verstehen. Das Thema „Vollzugsmodalitäten“ eines Aktes ist ein vielgestaltiges und schwieriges. Zunächst: Ein Akt kann vielerlei Qualitäten reell in sich enthalten, vielerlei „Thesen“, aber je nachdem ist diese oder jene Thesis die auszeichnend vollzogene. Zum Beispiel ich freue
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mich: Ich kann in der Freude bevorzugend leben, ich kann im Fixieren des Seins, in dem Vollzug der Seinsthesis eines Erfreulichen (und die Erfreulichkeit fundierenden hSeinsi) vorzugsweise leben. Die Echtheitsfeststellung eines Bildes ist Grundlage einer großen Freude für mich, aber ich kann bald in der Freude, bald in dem Vollzug des Urteils leben. In diesem Fall sind die Thesen schon da, reell vorhanden, aber sie haben verschiedene Vollzugsmodalitäten.1 Ein wesentlich anderer Fall liegt schon vor, wenn ich ein Urteil vollziehe, Subjektsetzung und Daraufsetzung des Prädikates. Ich kann nun sicher sagen: Es ist da eine Einheit des Aktbewusstseins, der eine Einheit der Qualität zukommt, und diese Qualität ist Glaube. Ich kann also sicher von einer „Einheit der Thesis“ sprechen. Und doch muss man hier vorsichtig sein: Unter dem Titel Thesis wird man eine Setzung verstehen, die wie ei n Strahl vom Ich aus auf den gesetzten Gegenstand, hier den gesetzten Sachverhalt, geht. Das ist hier nun gerade nicht der Fall. Es gehört eine eigene Modifikation der „Nominalisierung“ dazu, um die einstrahlige Thesis zu erzeugen und dadurch ändert sich das ganze Phänomen wesentlich. Während wir früher einen einheitlichen Glaubenscharakter hatten, aber keine Thesis in dem besonderen (einstrahligen) Sinn, eine Einheit von Setzungen als Glaubenseinheit und doch nicht neben den besonderen Setzungen eine „eigene Setzung“, haben wir jetzt eine solche vollzogen. Aber die ideale Möglichkeit besteht: Wir können sagen, „implicite“ liegt eine solche Thesis darin, als Potenzialität sie vollziehen zu können. Aber es ist eigentlich nicht eine Potenzialität des bloßen Vollzugs, sondern einer wesensmäßig begründeten Erzeugung. Man könnte hier auch Folgendes anführen: Jedes im Hintergrund erscheinende Ding, so wie es in dem einheitlichen Dinghintergrund dasteht, steht eben da. Es gehört zu ihm „Dasein“, das Erlebnis von ihm hat die Qualität des Glaubens. Fragen wir aber wie, so ist es klar, dass der Gesamthintergrund ein Vages ist, das seinen Gesamtglauben hat, dass ferner dieser Gesamtglaube keine eigentliche Thesis ist, keine Setzung, die auf sein Gesamtgegenständliches geht; weiter, dass jedem einzeln sich abhebenden Dinglichen und eventuell sich 1 Das ist aber in den anderen Fällen ebenso. Es macht also keinen wesentlichen Unterschied.
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sogar „Aufdrängenden“ ein Moment dieses allgemeinen Glaubens als das zu ihm speziell gehörige hentsprichti, natürlich wieder nicht als eine eigene Setzung usw. Dabei ist auch klar, dass der Vollzug dieses Glaubens als thetischer Setzung ein verschiedener sein kann und es kaum zu sagen ist, dass ein bestimmt gerichteter Vollzug im Voraus vorgezeichnet ist: Denn wirkliche Dingthesis ist Thesis „vom Standpunkt“ dieses oder jenes Merkmals oder Teils. Doch ist zu beobachten, dass bei der Realisierung des Glaubens, beim Vollzug desselben, das Erste ist die „allgemeine“ schlichte Zuwendung, die eine in gewissem Sinn, nämlich dem Standpunkt nach unbestimmte ist, dass diese dann übergeht in explizierende Zuwendung usw. Nun wird man hier aber sagen: Der Glaube ist da und ich vollziehe ihn, nur es ist nicht abgegrenzter Glaube. Und ist es anders, wenn im Hintergrund ein Gefühl schon lebendig ist und doch nicht für sich vollzogen ist? Was aber die explizierten Wahrnehmungen anlangt, bei denen ich – das Ding durchlaufend nach seinen Teilen etc. – Sonderauffassung vollziehe, so liegt hier, wird man sagen, eine gewisse Mittelbarkeit vor in der Verlebendigung: so wie beim Auftauchen eines Urteils erstmal eine „allgemeine“ Zuwendung statthat, die einstrahlig ist, und dann eine explikative, eine Ausführung in Sonderthesen. Die liegen schon verborgen vor in einem geänderten Modus. Freilich beim Ding habe ich sehr viele Möglichkeiten, es durchlaufend. Da können wir doch nicht sagen, dass all die Möglichkeiten schon reell da sind, dass ich nur bald diese, bald jene Vollzugsweise verlebendige. Also haben wir auch da eine gesetzmäßige Potenzialität des Vollzugs, hinter dem eine Gesetzmäßigkeit des Neuerzeugens liegt, das aber durch das „vage“ Phänomen vorgezeichnet ist? Aber wie vorgezeichnet? Ich wende mich einem Hintergrundobjekt zu. Ich vollziehe den schon vorhandenen Glauben. Aber es ist nun die Frage, ob nicht damit schon ein Standpunkt vorgezeichnet ist, d. i. eine gewisse Ordnung von Hauptthese und Nebenthesen oder von These mit thetischem Hintergrund vorgezeichnet ist. Aber freilich die Auffassung wird auch bestimmter, demgemäß werden auch die „Anreize“ bestimmter, die mich im Vollzug leiten. Muss man nicht doch sagen: Die Thesen sind schon da auf jeder Stufe der Entwicklung des immerfort beweglichen Phänomens, nur zunächst unvollzogen und dann trete ich in den Vollzug ein?
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Überlegen wir nun die Sachlage bei den modalisierten Glaubensakten und den Gemütsakten. Hier haben wir potenzielle Thesen. Hier haben wir zunächst nicht-doxische Thesen, vollzogene oder nicht vollzogene. Einen Gemütsakt vollziehen, das heißt nicht die ihm zugehörige doxische These vollziehen, wodurch das ganze Phänomen einen eigenen Modus erhält. Nun gehört es aber zum Wesen all solcher Akte, dass, wenn sie z. B. als wertende Akte vollzogen worden sind, sie eine Umwendung erfahren können, eine Umwandlung in den Vollzug eines doxischen Aktes, in dem der Wert zum Gegenstand wird. Sicherlich ist die Doxa, die ich da vollziehen kann, in dem vordem vollzogenen Gemütsakt impliziert, aber doch in ganz anderer Weise als in den vorigen Fällen. Soll man sagen, die Doxa ist impliziert in dem Sinn, dass eine wesensmäßige Umwandlung in eine Doxa möglich ist, aber dass die Doxa nicht vordem schon reell vorhanden war im Gemütsphänomen? Aber könnte man das „impliziert“ nennen? Dann müsste ich doch auch sagen, weil eine wesensmäßige Umwandlung einer unvollzogenen Doxa in eine vollzogene möglich ist, sei die vollzogene in dem Phänomen vor dem Vollzug impliziert. Es liegt doch die Doxa wirklich darin. Müssen wir also nicht sagen, mit dem Auftreten einer neuen Qualität tritt, das gehört zu ihrem Wesen, noch eine neue Qualität auf, immer eine Urdoxa. Jedes Bewusstsein ist Doxisches, und zwar entweder es ist ein nur Doxisches oder es ist Modalisierung eines Doxischen oder in Doxischem im weiteren Sinn fundiert. Im letzteren Fall wäre zu sagen: Jede Modalisierung eines Doxischen enthält in der Weise einer einseitigen Fundierung notwendig ein Moment einer Urdoxa; diese Urdoxa ist nicht archontische Qualität, wenn ich die modalen Akte vollziehe. Ich kann den modalen Akt vollziehen, und dann habe ich eine vollzogene Vermutung etc. Ich kann aber auch diese Doxa vollziehen, dann habe ich einen vollzogenen doxischen Akt. Also ist der Fall nicht prinzipiell verschieden gegenüber den neuen Qualitäten, die bei jedem synthetischen Bewusstsein als Gesamtqualität auftreten, aber unvollzogen auftreten in Form einer einstrahligen Thesis. Sie tritt in einem eigenen Vollzugsmodus auf, denn es ist doch ein wesentlicher Vollzugsunterschied, ob das ganze synthetische Erlebnis unvollzogen ist und damit auch die oberste Qualität, oder ob das synthetische Erlebnis wirklich vollzogen ist und nur die oberste Qualität nicht einen Eigen-Vollzug hat. Jeder Vollzug eines Aufbaus
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von Thesen auf Thesen (Synthese) bringt ursprünglich eine neue Qualität als Gesamtqualität, als fundiert, aber nicht als eigens vollzogene. Ebenso jederlei neu auftretende Gemütsthesis birgt eine doxische Qualität, aber als fundierte und nicht vollzogene. Jeder Gemütsakt seinerseits kann selbst modalisiert sein und fundiert einseitig einen doxischen Akt, einen modalisierten oder nicht modalisierten. Wie kann ich nun den Begri ff des objektivierenden Aktes festhalten? Ich kann nur so sagen: Jedes intentionale Erlebnis hat (ur-) doxische, das sind „objektivierende“ Qualitäten, zumindest eine. Es kann aber auch nicht urdoxische enthalten. Jede neue nicht urdoxische Qualität fundiert in sich auch neue doxische Qualität usw. Wir nennen ein intentionales Erlebnis „objektivierend“, wenn wir es unter dem Gesichtspunkt seiner obersten Doxa betrachten und in Hinsicht auf die immer mögliche Überführung in doxischen Vollzug. Ein eigentliches, d. i. vollzogenes doxisches Erlebnis ist ein objektivierendes in prägnantem Sinn. So ist überhaupt ein Akt im prägnanten Sinn ein vollzogenes intentionales Erlebnis, und zwar nennen wir es ein objektivierendes, wenn eine Urdoxa vollzogen ist, und nennen es objektivierend hinsichtlich der zu dieser Doxa gehörigen Materie. Wir nennen es Gemütsakt, wenn eine Gemütsthesis vollzogen ist und nennen es so mit Beziehung auf seine Materie, und somit hin Beziehung aufi seine Gegenständlichkeit. Wir können auch sagen, vollzogene Akte sind immer vollzogen mit Beziehung auf gewisse Aktqualitäten, die dann zu thetischen Charakteren werden. Den vollzogenen Akt nennen wir einen thetischen und nehmen dann als thetischen Akt immer nur zusammen die Thesis mit ihrer Materie, mögen auch noch verflochten sein andere Thesen und andere Materien. Wir haben dann doxo theti sche Akte, axiothetische, praktothetis c he, die ersteren nennen wir objektivierende, denn Objekt ist Seiendes, und Seiendes ist Korrelat einer noetischen Doxothesis – Seiendes in Anführungszeichen.
Nr. 35 h Ver s chiedene Begri ffe von Aufmerksamkeit und M einun g. Tendenz, i n ein Meinen überz ugehen, und Tenden z im Meinen i1 5
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1) Positionaler Akt – neutraler. Beschränkung auf positionale. 2) Modus des cogito: das Im -Akt-Leben, in gewissem Sinn ihn vollziehen als: „Ich stelle vor, ich urteile, fühle, will“ hund nicht in diesem Sinn in ihm lebeni. Das ist eine Unterscheidung, die sich mit der ersten kreuzt, denn auch jeder neutrale Akt zeigt diese Doppelheit. Zur Vollzugsform des cogito gehört bei den positionalen Akten hzuimindest eine Qualität als vollzogene Stellungnahme;2 es können aber auch mehrere Qualitäten auftreten, und zwar auch mehrere Arten von Qualitäten. Die einartigen hängen dabei wesentlich zusammen. Im durchlaufenden Wahrnehmen kontinuiert sich die Qualität, setzt sich bei Sondererfassung ab und ist doch wieder kontinuierlich eins mit den Wahrnehmungsqualitäten der übrigen kontinuierlich aneinandergrenzenden Komponenten der Wahrnehmung. Auch in der Einheit eines prädikativen Urteils haben wir mehrere Qualitäten, aufeinander bezogen, aufeinander gesetzt und doch wieder einig, sofern eine Einheit der Stellungnahme hindurchgeht, obschon nicht als eine abgesetzte Qualität gegenüber den fundierenden Qualitäten. So auch in der Einheit eines Gefallens, das sehr wohl in abgesetzten Gefallensakten sich begründen kann, aber doch durchgehende Einheit eines Gefallensaktes ist. Gewisse Qualitätsarten (und somit Aktarten, wenn wir Akte nach den Stellungnahmen berechnen) setzen andere Qualitätsarten in der Fundierung voraus. Gefallensakte (Stellungnahmen) setzen in der Unterlage als Akte der Freude Urteilsakte oder Stellungnahmen des Glaubens voraus usw.
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Wohl 1913/14. – Anm. der Hrsg. Stellungneh men in ei n e m a n d e r e n S i n n: im Glauben Stellung nehmen gleich zu einer Anmutung oder Zumutung durch Bejahung, Zustimmung Stellung nehmen oder dagegen, in der Ablehnung, Verneinung. Ebenso bei allen Gemütsakten. Demgegenüber der lebendige Glaube, das lebendige Gefallen etc. im Modus cogito. 2
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3) Dem entspricht nun ei n U nterschied i n der Weise der Vollzogenheit. Dasselbe Glaubens-cogito, dieselbe Stellungnahme des Glaubens in eins genommen mit ihrer Materie ist anders charakterisiert in der Weise ihres Vollzugs, je nachdem wir ausschliesslich im Vollzug des Glaubens leben oder in ihm nur leben, insofern er Unterlage einer Freude ist, in der wir leben. Das gibt also vers chi edene Begri ffe von Aufmerksamkeit: 1) Ich bin aufmerksam auf das, was ich „meine“. Meinen kann hier Stellungnehmen (im Modus des cogito einen positionalen Akt vollziehen) besagen. Im Meinen bin ich gerichtet auf das gemeinte Was, auf den Gegenstand, auf den Wert, auf die Handlung, auf den Entschluss, auf den Wunschinhalt. Diese Richtung-auf, die vom Ich ausgeht als dem Subjekt des Meinens, ist das Aufmerken; wobei Aufmerken alle Gattungen von Stel l ungnahm en ums pannt und nicht nur Stellungnahmen des Glaubens. 2) „Ich bin aufmerksam“ kann aber auch beschränkt werden auf die Sphär e der Gl aubensstel l ungnahme. 3) Ja hes kanni auch anderes, was da auftritt, befassen, z. B. die Empfindungsdaten im Wahrnehmen, was freilich wesentlich verschieden wäre. A) Meinung = Int enti on. Intentionales Erlebnis ist weiter: jedes Erlebnis, das in ein aktuelles cogito zu verwandeln ist, das die Form des cogito und damit einen Strahl der Richtung des Ich auf ein bewusstes Was annnehmen kann oder schon diese Form hat. B) Meinung i n eine m spezi el l eren Sinn: diejenigen Stellungnahmen bzw. konkret vollen Akte, in denen ich bevorzugend lebe, die nicht in dienender Funkti on auftreten. Bei all dem war von Tendenz keine Rede. Nun versuchte ich die Anschauung durchzuführen: In jedem intentionalen Erlebnis liegt noetisch-noematisch die Tendenz, in ein „Meinen“ im weiteren Sinn überzugehen (in ein cogito) und so weiter: In jedem „Meinen“ hliegti die Tendenz auf Sich-Ausleben durch Sättigung, in jedem liegt ein Tr ieb der „ Sel bst för derung “.
Nr. 36 h Zuwendung zum G egenstand um seiner s elbst wi ll en u nd um des G efühls willen. Das w illkür li che Verfol gen ei nes theoretischen I nt eres ses um sei ner sel bst willen und als Mitt el. Das durch di e „ Lust am Bemerken “ mot ivi ert e theoreti sche Interessei1
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Durch das Zeichenbewusstsein hindurch geht die Intention auf das Bedeutete. Das Bemerken des Zeichens und das Auffassen desselben nach seinem signitiven Typus ist nur „Mittel“; es sind die Züge des Zeichens, die allein im spezifischen Sinn Träger der B ez eic hnung sind, das sind sozusagen die Stellen, durch die die bezeichnende Intention hindurchgeht, oder vielmehr, an denen sie ihren Anhalt hat. Das signitive Vorstellen und Aufmerken geht zu diesen Momenten hin, aber nicht durch sie hindurch, als ob diese Züge das in der Gesamtintention Gemeinte wären, und an ihnen beginnt der charakteristische Zug der Hinweisintention, der bezeichnenden. Es ist ganz analog wi e i m Bi l dbewusstsein, das ebenfalls fundiert ist und wo ebenfalls der Blick zum Bildobjekt hingeht, aber hier doch in gewisser Weise durch gewisse der spezifisch abbildenden Momente hindurchgeht. Sollen wir hier auch sagen, das Bildobjekt sei Mittel – ist jede Vermittlung ein „Mittel“? Es will mir hier scheinen, das s ich das W ort besser verm ei de. Nehmen wir andere Fälle, wo sich auf einem symbolischen (und abbildenden) Bewusstsein ein neues Bewusstsein aufbaut. Ich betrachte einen Gegenstand in „theoretischem Interesse“, ich bin auf ihn aufmerksam, er selbst, was er ist, ist mein Thema, ein Selbstthema. Ich betrachte den Gegenstand „in gewisser Hinsicht“, etwa als Botaniker, geleitet von speziellen theoretischen Interessen, dann sind es gewisse Teile, Eigenschaften, Seiten des Gegenstandes, die allein für mich in Betracht kommen. Endlich, der Gegenstand interessiert mich nicht theoretisch, nach dem, was er ist oder in gewis-
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ser Hinsicht ist; mich interessiert nur die Farbe um ihrer Schönheit willen oder die Form, die schöne Anblicke bietet, oder mich interessiert (ich sehe in eine Landschaft mit dem Auge des Landwirts) seine Nützlichkeit und um der Nützlichkeit willen eben das an ihm, was Nutzen bringt. Da bin ich auf den Gegenstand aufmerksam bzw. auf ihn nach gewissen Momenten, Eigenschaften, aber um gew is s er lei tender (v erm ei nter) Werte willen oder um gewisser pr akti sc her Zwecke willen. Wie sollen wir die Sachen interpretieren? Sollen wir sagen: Aufmerksamkeitstendenzen gehen zwar auf den Gegenstand überhaupt, aber nur gewisse Auswirkungen derselben, nur gewisse Erfüllungen sind möglich, weil andere Tendenzen hemmend eintreten? Nämlich was meinem Gefallen gemäß ist, das wird bevorzugt, wird vermöge des Gefallens festgehalten, das andere dringt nicht durch? Ist es also so: Das gefühlsmäßig ausgezeichnete Objekt übt einen „durch“ das Gefühl gesteigerten Reiz auf das Ich und die Ichzuwendung, und erfolgt sie, so kommt dieser Reiz nur dem speziell am Objekt Gefallenden zugute. Nein, das wäre nicht richtig, denn die Zuwendung ist modifiziert. Der Reiz geht jetzt überhaupt nicht von dem Gegenstand selbst und seinen sachlichen Momenten selbst aus, sondern von dem an sie gebundenen, durch sie fundierten oder mit ihnen durch Erregung verflochtenen Gefühl, und so ist das Interesse am Gegenstand nicht Selbst-Interesse, die Zuwendung nicht Zuwendung um seiner „selbst“ willen, sondern um des Gefühls willen, das ist, die Tendenz geht nicht auf Betrachtung des Gegenstandes als „ s eiend “, sondern auf ei n Leben i m Gefallen. Dieses ist das A nalogon der Auf m erksam kei t i m Gefallensgebiet: Das Ich erfährt einen Reiz zu gefallender Zuwendung, gibt ihm nach, aber dies „setzt voraus“ als Unterlage, Mittel, die Zuwendung zur Sache, die aber nun doch nicht im eigentlichen Sinn aufmerkende ist, nämlich wenn wir „aufmerkende“ Zuwendung oder Aufmerken die thematische Beschäftigung mit dem Gegenstand nennen, diejenige, wo der Gegenstand selbst, als was er ist, das „Bestimmende“ ist. Oder Aufmerken (im ausgezeichneten Sinn!) ist den Gegenstand s elbs t meinen ( um s e i ner sel bst wi l len), das objektivierende Meinen. Das fragliche Gefallen ist das gefallende Meinen, die Gefallensmeinung hat nun eine modifizierte objektivierende Meinung als notwendige Unterlage, eine Erfassung und Betrachtung des Gegen-
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standes um seiner Gefälligkeit willen, die auch Umfang und Grenzen der Betrachtung determiniert.1 Ein Urteil fällen: Das Urteil kann mein Thema sein = ich bin „aufmerksam“ im engeren Sinn, ich fälle das Urteil „theoretisch“ (im theor eti sc hen Int eresse). Das Urteilen kann aber bloß fundierender Akt sein für eine Freude; ich bin nicht theoretisch eingestellt, sondern eingestellt gefallend. Ich kann andererseits aber auch gegen die Freudenintention dem Sachverhalt theoretisch zugewendet sein: Die Sachtendenz siegt über die Freudentendenz.2 Ich mache den Sachverhalt nicht zum Freu denthema, sondern zum theor etis chen Thema. Ebenso kann ich eine Sache sehen, Sachbeziehungen erfassen und sofort innerlich, aber im Hintergrund, entschlossen sein, etwas zu tun. Ich nehme mir die Sache im Vorbeigehen voluntativ ad notam, aber ich bleibe im theoretischen Interesse, das eine durchgehende Einheit verbleibt, im Interesse am Gegenstand selbst und seinem gegenständlichen Sein. Ich kann andererseits im Entschlossensein thematisch leben, im Wollen, und hichi betrachte den Gegenstand, „um“ ihn praktisch zu verwerten, soweit der Wille es eben vorzeichnet. Auch da ist der Wille in gewisser Weise im Hintergrund, insofern als ich nicht das fiat vollziehe. Aber doch im Hintergrund? Ich betrachte den Gegenstand, das ist freilich kein Wollen. A ber dieses Be tr achten gehört schon zur „ Handlung “ des W illens. Natürlich kann ich auch inmitten einer durchgehend einheitlich praktischen Einstellung und Betätigung nebenbei eine theoretische Bemerkung machen, etwas im Vorbeigehen theoretisch ad notam nehmen. Wie sollen wir uns also stellen? Sollen wir sagen, von den Sachen gehen allgemein sachliche Reize aus von verschiedener Intensität? Es können aber zuglei ch Gefühlsanreize, praktische Anreize von ihnen ausgehen (besser von ihren Werten, von ihren Nützlichkeiten ausgehen), und nun kann, was sonst, wenn sie nicht „wirksam“ werden, 1 Das objektivierende Meinen: das „wahrnehmende“, gewahrende, betrachtende, einzeln explizierende, synthetisch verknüpfende; darauf gegründet in den hfolgendeni Schritten das begreifende, erkennende Meinen, weiter das voraussetzende und daraufhinsetzende, folgesetzende etc. Urteilen. 2 Eventuell: Ich folge ihr bevorzugend frei. Aber was heißt das anderes, als dass ich die Tendenz als Zumutung fasse und dann im bejahenden Wollen mich für die eine oder andere entscheide?
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Hingabe an die Sachen ist, zum bloßen „Mittel“ für die Hingaben an die Werte, an die Nützlichkeiten etc. hwerdeni. Es besteht hier aber Freiheit: Ich kann mich wi l l kürl i ch der Sache hingeben, ich kann willkürlich mich den Werten hingeben oder die Sachen nutzen, ihren Willensanreizen als Güter folgen. Endlich, ich kann willkürlich auch theoretische Interessen befriedigen, den Sachen und ihren sachlichen Anregungen folgend und nichts sonst. Ich kann aber auch das Dentheoretischen-Interessen-Folgen selbst wieder nur in Absicht tun, um ein berühmter Mann zu werden, um Ehren einzuheimsen, Geld usw. Dann ist das theoretische Interesse nicht theoretisches Interesse, dem ich folge „um seiner selbst willen“. Ich suche zwar die Sachen und gehe ihren Forderungen nach, aber das Den-SachforderungenNachgehen ist „Mittel“. Was macht aber den Unterschied gegenüber den obigen anderen Fällen aus? Bei ihnen dachten wir nicht daran, dass allgemeine theoretische Interessen bestimmend sind, sondern dass an den Sachen ihrem bestimmten Inhalt nach Werte hängen oder dass an ihnen in gewissen Hinsichten, die durch ihren Sachgehalt bestimmt sind, Nützlichkeiten hängen usw. Aber hier bedarf es größerer Klarheit: Ich kann in der Freude über eine Sachlage leben, und die Betrachtung der Sachen, das Konstatieren, dass das so und so ist, ist bloße Unterlage der Freude: „Betrachten um der Freude willen“ – so kann man sich ausdrücken. Aber das ist nicht korrekt. Es ist Fundierung der Freude, die eben Freude über die Sache ist und sich auswirkt aufgrund der Betrachtung. Ebenso kann ich in einem Wollen leben, als Handwerker, und dabei hdie Sachei als Unterlage betrachten, ich sehe mir die Sache an, wo ich sie am besten anfassen kann, überlege, wie sie zu bearbeiten wäre. In gewisser Weise ist das Betrachten und Überlegen ein solches im Dienste des Wollens, aufgrund desselben wirkt sich das Wollen aus, erfüllt es sich. Hier wird niemand von einem theoretischen Interesse sprechen, von einer theoretischen Betrachtung, die Mittel ist. Aber wie, wenn der Techniker beim Bau einer Maschine als Mittelglied eine theoretische (physikalisch- oder chemisch-theoretische) Erwägung anstellt? Nun, wird man antworten, das ist eben keine theoretische Erwägung im eigentlichen Sinn, nämlich wenn wir darunter eine Erwägung verstehen, die eben aus „theoretischem Interesse“ vollzogen ist, in der sich also ein solches theoretisches Interesse befriedigt.
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Nun kann man wieder sagen: Der Techniker hat den Zweck vor Augen, und nun stößt er auf den Mangel eines Wissens, dessen er für die Ausführung seiner Absichten bedürfte. Da stellt er den Zweck zunächst zurück und versenkt sich mit theoretischem Interesse in die Lösung der „theoretischen Aufgabe“. Er fragt „Wie ist das?“ und geht jetzt rein dieser Frage nach, lässt sich von dem sachlichen Interesse leiten, bis er das Ziel erreicht hat: die Antwort auf die Frage. Aber diese ganze Erwägung hat den Index des Mittels. Das theoretische Interesse, die theoretische Frage und Antwort dienen ihm als Mittel für seinen Zweck. Und schließlich wählt jemand eine Wissenschaft als Arbeitsfeld, ein Sachgebiet soll auf ihn seine theoretischen Anziehungen üben, er geht diesen nach, allseitig, nach den systematischen Leitfäden, er stellt sich theoretische Sonderziele und vollzieht dabei Wollungen, Zwecksetzung, Mittel zur Erreichung der Zwecke, aber immer so, dass das Willensziel ein theoretisches ist und die Mittel sich als vermittelnde Ziele diesem einordnen. Nun ist aber das Ganze selbst wieder Mittel: Er will eine Lebensstellung haben, er will Ruhm und Ehre, Ansehen gewinnen usw. Also das Den-sachlichen-Interessen-Folgen, das Die-Forschung-eines-wissenschaftlichen-Gebiets-sich-zum-ZielSetzen ist Mittel für die Erreichung von außersachlichen, außerwissenschaftlichen Zielen. Wir sehen, dass da in unseren Überlegungen eine Lücke geblieben ist, etwas, was nur berührt war, aber nicht genau erwogen worden ist. Es ist ja da die Rede gewesen von einem willkürlichen Verfolgen theoretischer Interessen, von dem Sich-theoretische-Zwecke-Setzenund-Mittel-diesen-Zwecken-Unterordnen. Also dem steht gegenüber das Unw il lkür li che. So wie wir ja unterscheiden unwillkürlic he und w il lkür li che Aufm erksamkeit (nur dass normalerweise von Aufmerksamkeit die Rede ist, gleichgültig ob Objektivierung vollzogen ist und dabei primär vollzogen ist in rein sachlichem Interesse oder in Gemütsinteresse). Ebenso unwillkürlich gebe ich mich einer Freude hin, betrachte das Erfreuliche und freue mich. Ebenso unwillkürlich kann ich wollen, ich kann aber auch wollen wollen usw. Ein „ s ac hli ches “ I nteress e bewegt mich. Ich folge dem Zug der Sachen selbst, betrachte sie, expliziere sie usw. Gelegentlich kann auch eine explizite Freu de an der Befri edigung dieser sachli-
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c hen I ntenti onen,1 Freude an dem Betrachten, an der Erweiterung der Kenntnis und Erkenntnis eintreten: Dann reflektiere ich vielleicht auf das Betrachten, auf Kenntnis und Erkenntnis; dann tritt eine explizite Freudenintention auf, in der, mich einlebend, ich eben solcher Reflexion bedarf. Das „Interesse der Sachen“ ist nicht selbst Freude an der Betrachtung.2 Habe ich das schon erwogen: Eine Freude ist Freude darüber, dass etwas eingetreten ist, dass ein S p ist oder nicht ist etc. Ein Betrübtsein: Trauer, dass S p nicht ist oder ist etc. Ein Sich-Freuen kann aber Sich-Freuen sein am Betrachten, Kennenlernen, Erkennen, wie die Sache ist (und davon wieder unterschieden Freude an Erscheinungen etc.) bzw. Freude am Noematischen: am gegebenen Gegenstand, am „Urteil“, an der Aufeinandergründung der „Urteile“, an der Folge der Explikate, der Herausgehobenheiten, des Sich-Bestimmens des Gegenstandes durch die neu und neu auftretenden Beschaffenheitsthesen, Relationen etc. Ich freue mich nicht, dass dieses Papier weiß ist, viereckig etc., aber es „interessiert mich“, ich mache der Reihe nach die Feststellungen und ich habe „Vergnügen daran, das und das festzustellen“. Aber ist da nicht die Freude die an dem „Ich nehme wahr“, „Ich lege auseinander“, „Ich konstatiere“ etc.? Diese Freude kann mich bestimmen, so zu tun, und zwar kann es Freude sein an gewissen Sphären der Wahrnehmung etc.; Feststellung gerade von Gegenständen und Sachverhalten der und der Sorten kann mir Freude machen, z. B. mathematische. Ich gehe, da mir das Mathematisieren „Freude macht“, dem nach, aber die Freude empfinde ich, wenn ich eben mathematisiere, im Mathematisieren lebe. Es gibt ein Angezogensein, ja „gewaltsam“ Hingerissensein vor all solcher Freude. In der Betrachtung, im Nachgehen den Sachtendenzen kann sich dann Freude an der Betrachtung, Explikation etc. herausstellen, und insbesondere bei gewissen Objektarten herausstellen. Dann kann auch das das Motiv sein: Die Erinnerung an solche Freude wird erregt. Ist also nicht zu unterscheiden: 1) die zu Sachen hindrängenden, Betrachtung erzwingenden, anregenden Tendenzen; 1 2
Cf. 42 h=S. 367,13–369,17i. Aber ist das nicht nur eine Wendung der Einstellung?
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2) die s pez if is ch t hem ati schen Tendenzen, die theoretischen, d. i. auf die „theoretische“ Beschäftigung mit den Sachen hindrängende Tendenzen, di e m oti vi ert sind durch „ Lust am B emer ken “, durch Freudentendenzen, die sich auswirken in Freuden an der Betrachtung, an der Beschäftigung mit den Sachen?1 a) Ich kann mich über einen Menschen freuen, so wie er ist, sich gibt, an seinen schönen Gesinnungen etc. Ich lebe in der Freude, indem ich, dass er so ist, erfasse. Hier ist das Erfassen (mit dem Sinn) Unterlage der Freude; das In-der-Freude-Leben ist fundiert im Erfassen der Sache, im Erfassen des Erfreulichen, im Beurteilen desselben etc. b) Ich kann aber auch „ m ei ne Lust daran haben “ zu fors chen, zu betrachten, festzustellen in der oder jener Gegenstandssphäre (die mir nicht selbst Lust macht, sondern als Forschungsobjekt gefällt, derart, dass mir das sie Erforschen Lust macht). Diese Lust habe ich aber, wenn ich im Forschen lebe, wenn die auf die Sachen, auf das Betrachten, Konstatieren, Unterscheiden, Begreifen etc. gehenden Intentionen sich erfüllen, und gar, wenn sie sich hemmungslos erfüllen; „Es geht vorwärts, wie herrlich“, so sage ich in der Reflexion. Aber die Freude fühle ich auch vor der Reflexion. Da hätten wir also den merkwürdigen Unterschied, dass h das i, w as mir Fr eude m acht, ni cht sel bst im Blickpunkt der B etr ac htung s teht, ja dass die Freude dieser Art geradezu fordert, dass es nicht im Blickpunkt steht und überhaupt nicht bemerkt is t. Erst wenn sie vorüber ist, kann in der Reflexion noch einmal und „wiederholte“ Freude auftreten im Blick auf das abgelaufene Forschen. Ich freue mich dann, dass es so gut gegangen ist, also noch einmal über das Abgelaufensein, das glückliche Geforschthaben.2 Es scheint, dass mit dieser Auffassung (im Wesentlichen die Restitution der Stumpf ’s chen Lehre) ein nicht unwichtiger Unterschied zur Geltung gekommen ist. Das ist ja sicher: Es gibt Sachtendenzen, die dem „theoretischen Interesse“ im Sinn eines scharf charakterisier-
1 Doch nicht an der Beschäftigung als solcher, am Tun als solchem, sondern an dem Resultat, am Erzielten, Freude an der immer klarer werdenden Sache als solcher, an dem Erkannten, Eingesehenen. 2 Wichtige Beilage ξ 1–2 h= Beilage VIII: Freude an der Forschung, Freude an der Erkenntnis. Aufmerksamkeit und theoretisches Interesse (S. 369)i.
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ten Gemütsanteils an der Betrachtung und Erforschung vorangehen, die Tendenzen, die sich in der Betrachtung selbst erfüllen und nicht mittels der Betrachtung erfüllen, hnichti aufgrund derselben. Und man wird wohl sagen: Es gibt wie ein Sich-Aufdrängen der Sachen, 5 so eine Hingegebenhe i t an si e, in denen sie zum Thema (aber doch nicht eigentlich!) werden, ohne dass ein theoretisches I nter es s e im Stum pf’ schen Si nn l ei tend sein müsste. Diese Hingabe mag auch zudem Lust erwecken, und dieses Gefallen in der Erfüllung von Sachintentionen kann dann seinerseits wieder bestim10 mend, motivierend werden. Aber es ist ein Unterschied (in weiten Strecken eventuell), Sachen hingegeben hzui sein und von ihnen sich anziehen hzui lassen und einer erweckten Neugier hzui folgen oder durch die miterregte Freude am „Bemerken“ an der Fortführung der Erforschung der Sachen gefühlsmäßig interessiert zu sein und 15 sich durch Aussicht auf solche Lust zu immer neuen Forschungen antreiben hzui lassen. Und solche Gefühle können dann den Willen zur Forschung motivieren.
Beilage VIII Freude an der Forschung, hFreude an der Erkenntnis. Aufmerksamkeit und theoretisches Interessei1
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Freude an der Forschung: Es ist, genauer betrachtet, hoffnungsvolles Streben, sich öfters auch erfüllend und immer wieder mich und immer mehr motivierend, anregend neu zu streben in Aussicht auf neue und weitere, eventuell auch höhere Erzielungen. Das Ziel aber ist das Den-„Gegenständen“25 durch-Erfahrung-, durch-„Sehen“-näher-Kommen, sie zu erkennen, durch Heranziehung von Erinnerungen wieder zu erkennen und unter Klassenbegriffen zu erkennen, ihre Zusammenhänge forschend zu erkennen, ihre Kausalitäten usw., wodurch ich in jeder Hinsicht den in ihren Gegebenheiten liegenden Intentionen nachgehend erfahren kann, wie sie „sind“, und zwar 30 hesi nicht bloß leer meine, sondern es wirklich erfassen und sehen kann. Korrelativ: zu sehen, wie sie nicht sind; der missliebigen Enttäuschung, die in der Aufhebung, Durchstreichung liegt, künftig zu begegnen, falsche Auffassungen zu berichtigen, die Auffassungen also passend umzuwandeln, so dass sie sich bewähren können usw. 1
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Di e Fr eude li eg t ni ch t i m f o rs ch e n d e n S t r e b e n ü b e r h a u p t. Allgemein kann man sagen: Wenn gewisse, vielgestaltige Tätigkeiten fordernde Ziele mit mannigfaltig entsprechenden Zwischenzielen mir lieb sind, also in der Erzielung Freude bringen (sei es Freude um ihrer selbst willen, sei es um eines anderen willen), so bringt das gelingende Streben und Tun noch selbst eine Freude, die Freude an derartiger Tätigkeit (Spiel), und diese Freude kann sogar viel größer sein als die Freude an dem Ziel. Schließlich kann ein Ziel an sich gleichgültig sein und nur Wert bekommen dadurch, dass es, hum esi zu erreichen, Geschicklichkeit fordert (also nur Freude an der Geschicklichkeit, um zu erreichen, was nicht leicht zu erreichen ist etc.). Nun gibt es sicherlich auch eine starke, aus der Übung der Forschung erwachsende Freude als Fre u d e a n d e m „ S p i e l “ d e s F o r s c h e n s, sozusagen Freude an der Forschung als eine Art S p o r t, aber das ist nichts weniger als theoretisches Interesse. Vielmehr ist das theoretische Interesse und ist der theoretische Zielwille eben das Interesse bzw. der W i l l e a m „ Theor eti s c hen “. Eine Freude kann eine Freude am Gegenstand, d. i. an einem Seienden und Soseienden, sein, ein Wünschen und Wollen kann darauf gehen, dass der Gegenstand sei oder so sei, so werde etc. Eine Freude kann auch, wie oben beschrieben, eine sportliche Freude an dem anschaulichen Erfahren des Gegenstandes sein, an seinem Erkennen, Einsichtig-Bestimmen, Theoretisieren etc., sei es überhaupt, sei es von diesem Gegenstand als Gegenstand eines umgrenzten Gebiets (mathematischer Sport). Das Erkennen und das Erkannte als solches bringen einen Höhepunkt der Freude, die aber Freude an der sportlichen Erzielung ist. Di e Fr eude ka nn ab e r n o ch e i n e a n d e r e s e i n! Ein unklarer Gedanke „befriedigt“ mich nicht als solcher. Eine verworrene Erscheinung, eine Erscheinung im Nebel, im Dunkeln, auch eine einseitige Erscheinung des Gegenstandes bzw. Wahrnehmung des Gegenstandes befriedigt mich als solche nicht. Sie hat e i n M a n k o. Dass S p ist, dass der heurige Wein geraten ist, kann mich freuen, aber ob es mich freut oder nicht, das Beseitigen dieses jetzt unklaren Urteils, das Klarmachen und Bewähren, das ist eine erfreuliche Steigerung. Die Freude daran, dass S p ist, ist Freude daran – ob ich die Überzeugung, die den Unterbau liefert, klar vollziehe oder unklar, ob ich ausweise oder nicht ausweise. Die Freude mag bei klarer Urteilsweise selbst an Fülle zunehmen, aber sie war schon Freude und bleibt es nur, auch nimmt die Erfreulichkeit selbst nicht zu (der Wert). Dagegen e i n u n k l a r e r Gedanke ha t, sagte ich, e i n e n M a n g e l. Er mag vielleicht schon einen Fortschritt bedeuten, einen Wert haben, aber sowie er in Klarheit übergeht und dann weiter sich auseinanderlegt, sich begründet, nimmt der Wert immerfort zu oder stellt sich überhaupt erst ein. H i e r k o m m t e s a l s o n i c h t
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auf di e ver mei nte T atsa ch e, die als seiend dastehende, an, sondern a u f s i e i m „ W i e ihre r Geg e b e n h e i t sw e i se “. Die Freude ist nicht Freude am Sein des Geurteilten, am Sein des vorstelligen Gegenständlichen etc., sondern Fr eude am Erk e n n t n i sm o d u s d i e s e s S e i n s bzw. an seiner Rangordnung im Reich der Erkenntniswerte. Das „Sein“ als Sein dieses Erkenntnismodus hat Rechtsgründe, nicht das Seiende, sondern die noematische Thesis des Seins in Beziehung auf die noematische Erkenntnismaterie. Das führt auf die E rkennt n i sf ü l l e. „Freude an der Erkenntnis“ sagt man, Freude an Feststellungen, an Einsichten, an Beweisführungen, Schlussfolgerungen etc., Freude an der Klärung etc. Aber all das besagt nicht, oder jetzt nicht, Freude a m E r k e n n e n , a m Fes ts tel l en, a m Ei nsehe n , a m T u n des Beweisführens etc. Wie Ur tei l zu Urtei le n steht, so steht E r k e n n t n i s z u E r k e n n e n, ebenso Beweis – und zwar nicht als logischer Zusammenhang von Sätzen, sondern als Zusammenhang von Einsichten – zu Beweisen. Und wiederum, „Ei ns i c hten“ besagt nicht A k t e d e s E i n se h e n s, sondern E i n g e s e h e nes , Ei nges ehe nhei ten: das jeweilige Urteil (der Satz) im Modus der Einsichtigkeit, in dem Maß an intuitiver Fülle, die er hat, in dem strahlenden Licht des Rechtscharakters, der an dieser Gegebenheitsweise hängt. U n d di es es s tr ahle nde L ich t i st e s, d a s F re u d e m a c h t und dem wir nachstreben, das uns von der Ferne schon lockt. A ufmer ks amke it besagt nun normalerweise nicht so viel als Zugewendetsein in diesem theoretischen Interesse, d. h. in Zuwendung zum Thema in dem Streben nach der Erzielung von „Evidenz“ (in allen Stufen; und hEvidenz isti nicht gerade gleich letzte Einsicht), aber hzuimindest Anfänge davon besagt das. Wir sind a u f m e rk sa m, wir lassen uns von den Sachen selbst anziehen, a ber the o re t i sch a n zi e h e n: Wir verhalten uns theoretisch erfahrend, d. i. rein davon geleitet, sie zu Gesicht zu bekommen, nach dem, was von ihnen nicht sichtig ist, sie immer besser zu sehen, zu analysieren etc. I n der Schul e Aufm e rk sa m k e i t: von den „S a c h e n“ ausgehendes Interesse – Hingabe an die Sachen ohne „Interesse“,1 d. i. eben ohne das 1 Das spezifische Erkenntnisinteresse, so wie wir es beschrieben haben. Erkenntnisfreude, Erkenntnisstreben, Erkenntniswille, das alles bleibt wesentlich ungeändert, je nachdem die Freude Freude an der Erkenntnis „um ihrer selbst willen“ ist, oder ob Erkenntnis Mittel für anderes ist. Also betrifft das auch den Begriff von Aufmerksamkeit, der auf Erkenntnis bezogen ist. Ich bin eben aufmerksam, wenn ich auf Klarheit, Deutlichkeit, einsichtige Bestimmung, auf Erkenntnis gerichtet bin, in der Tendenz darauf mich auslebe. Es ist dabei gleich, ob ich das „interessiert“ oder uninteressiert in einem anderen Sinn tue, ob meine Motive reine Erkenntnismotive oder dem Erkenntniswertgebiet fremde Motive sind.
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Interesse, das die Sachgegebenheit weckt. Aber für den Begriff der Aufmerksamkeit kommt es nicht darauf an, ob ich noch anderwärts durch erkenntnisfremde Motive bestimmt bin.1
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Beilage IX Doppelsinn des cogito. Das Im-Griff-Behalten während der Ablenkung2 Ein Vorgang „fesselt“ mich. Ich folge ihm, dazwischen ertönt von anderer Seite ein Schrei etc. Ich werde abgelenkt. Aber ich unterliege wieder der Tendenz. Sie ist immer noch da als gehemmte Tendenz, sie ist nicht abgeschnitten. Ich habe die Sache innerlich eigentlich nicht fahren gelassen, ich habe nur momentan woanders „hingesehen“. Besagt nicht das Fahrenlassen und demgegenüber das Im-Griff-Behalten einen vor dem cogito im engeren Sinn liegenden Unterschied, oder haben wir nicht einen phänomenologischen Unterschied zu konstatieren? Wie sollen wir das ausdrücken? Ob ich zugewendet bin und dem Zug der Sachen Folge leistend sie erfasse und verfolge, oder ob ich abgewendet bin, abgelenkt, und die Sachen im Griff behalte, ich bin in gewisser Weise beide Male dabei. Die Sachen sind von mi r ergriffen. In gewisser Weise habe ich also schon ein „Ich denke“, aber doch nicht Aktualität des Vollzugs, die ich beim „cogito“ immer mitverstanden habe. Das Fahrenlassen sagt dann also, dass die Ichbeziehung nun fortfällt, die weitere Form des cogito. Wir haben ferner schon hier eine gewisse Einheit des Themas: etwas nämlich, das wir betrachten, in das wir eindringen und das nicht fahrengelassen wird, wenn wir „abgelenkt“ werden. Also was bestimmt hier das Thematischsein? Es genügt doch nicht zu sagen, der I nh al t de s cogi to, denn was mich ablenkt, ist ja wieder im Modus des cogito. Das Letztere fesselt mich nicht, das Erstere fesselt und hält mich auch in der Abwendung.
1 Neugier. Ein schnell erregtes Erkenntnisinteresse, aber am Neuen und nicht tiefgehend und standhaltend. Habituell hängend am Neuen, aber ohne Verfestigung in einem Gebiet. Allgemeines Erkenntnisinteresse innerhalb eines Gebiets: ein allgemein auf Gegenstände dieses Gebiets bezogenes Streben nach Erkenntnis, und dieses Interesse kann gewohnheitsmäßig sein, habituelle Stärke haben etc. Ob ursprünglich jedes Gegenstandsbewusstsein eine Tendenz auf Erkenntnis hat, die sich nur durch Gewohnheit, Übung steigert? Ein Gebiet histi mein Generalthema. Es zieht mich, es kennenzulernen. Es zieht mich an: Ich bin bei ihm selbst, wenn ich es erkenne. 2 Wohl Anfang 1914. – Anm. der Hrsg.
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Was ist das nun für ein F e sse l n? Da komme ich wieder auf den Unterschied von 1) und 2).1 Es fesselt mich bloß als aufdringlich, ich komme davon nicht los. Aber das macht kein eigentliches Thema. Erst die „Lust am Bemerken“ macht das eigentliche Thema. Und da mag ich ärgerlich sein über 5 die Störung, wenn etwas Aufdringliches da ist, von dem ich nicht loskomme, und das darum nicht mein Thema im eigentlichen Sinn ist, kein sachliches, dem ich hingegeben bin, „weil“ dergleichen zu betrachten und zu erforschen mein Gefühl bewegt.
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Nr. 37 Bejahun g i n der Wi l l enssphäre und i n al l en Aktsphären1
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Ich habe einmal zu beschreiben den „ Mechanismus “ der Tendenz en, denen ich ihrer Kraft gemäß bald folge, bald nicht folge (anderen hTendenzeni folgend). Ich wende mich einem Gegenstand zu und folge seinem Zug weiter in der Betrachtung, vertiefe mich in ihn, dann fällt mir etwas anderes auf, es gefällt mir, ich blicke auf ihn im Gefallen hin, dann wird wieder das „Interesse“ am ersten Gegenstand stark, ich kehre zu ihm zurück usw. Ich kann aber auch „frei m i ch entscheiden“. Ich mache willkürlich das eine zum Thema, ich entscheide mich für das Eingehen in die Erforschung des Gegenstandes. Dieses Eingehen hat jetzt eine gewisse Distanz zu mir, steht mir gegenüber als Inhalt einer Zumutung und als eine praktische Möglichkeit, i ch sage dazu Ja, ich vollziehe ein bejahendes fi at (Willensbejahung), oder ich sage dazu Nein, ich entscheide mich dagegen. Das Sich-Entscheiden ist selbst vorstellbar als eine freie Möglichkeit und kann somit selbst wieder wie jede solche Möglichkeit Objekt einer Entscheidung und einer willentlichen Realisierung werden usw. Das gilt in allen Akt- bzw. Vernunftsphären, doch in verschiedenem Sinn: Die Tendenzen und das Den-Tendenzen-Folgen, das ist eins, worauf hauchi immer die Tendenzen gehen. Also Tendenzen, eine Wahrnehmung zu vollziehen, Objektivation zu vollziehen etc., stehen mir im Modus des Folgeleistens, als Vollziehen des Objektivierens gegenüber. Ich kann mich dafür entscheiden, ich sage Ja oder Nein, und je nachdem gehe ich ein, vertiefe mich, oder ich sehe weg als willkürliches Tun. Wie steht es nun aber mit der Zustimmung im Urteilsgebiet bzw. der Ablehnung? Ich kann einfach urteilen in der Weise, dass ich einen Wahrnehmungsglauben vollziehe, explizierend, erkennend ausdrückend weitergehe und so meine Aussagen gewinne. Ich kann aber auch ein Urteil als Zum utung in der Mitteilung aufnehmen und
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dann erst dazu Stellung nehmen in Zustimmung oder Ablehnung, im Ja oder Nein. Ich kann auch durch Zweifel oder durch eine einfache Anmutung hindurchgehen. Es mutet sich etwas in der Ferne als Mensch an, es bewegt sich in menschenähnlicher Weise. Die Kraft der 5 Anmutung nimmt zu, und ich gehe in einer Gewissheitsentscheidung zu dem „Ja, es ist ein Mensch“ über. Ich kann mich auch, wo Anmutungen gegeneinander stehen, hwoi motivierte Möglichkeiten pro und contra sprechen, auf die eine Seite als die „gewichtigere“ stellen. Ich kann es auch ohne Stellungnahme tun, einfach übergehend, 10 aber auch in der Weise der vermutenden Bejahung und Verneinung. Ich kann auch in Gewissheit Stellung nehmen: Ja, das ist (gewiss). Die A nalogi e m it dem fi at oder sei nem Gegenteil scheint unver kennbar. Es können dabei auch wieder Tendenzen ihre Rolle spielen. Ten15 denzen zur Entscheidung, denen ich in der vollzogenen Entscheidung nachgebe. Aber ein Zirkel liegt darin nicht, da das Vollziehen einer Tendenz nicht ein Wollen, also Sich-Entscheiden ist.1
1 Beachte noch: Die Frageintention ist die unerfüllte I n t e n t i o n a u f E n t s c h e i dung. Cf. weiter unten 5 h= S. 378,3–379,13i.
Nr. 38 h Tendenz und cogito. Aufm erk sam kei t al s Spannungi1
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Tendenz: 1) Tendenz vor dem cogito, Reiz. Verschiedene Grade der Spannungsstärke. 2) Das der Tendenz-Folgeleisten = die Verwandlung der Tendenz in eine „aktuell e Int ent i on“, z. B. in einem objektivierenden Bewusstsein lebt eine Tendenz, der ich Folge leiste. 3) Die aktuelle Intention (das ist die im Modus des cogito waltende Tendenz) hat verschiedene Grade der Spannungsstärke. 4) Das cogito, die aktuelle Intention, hat abgesehen von der Form der Tendenz einen Gehalt. Es ist so und so „qualifiziert“, es hat die oder jene Art der These (Axiose) und diese oder jene thetische Materie (das gesetzte Was). In Hinsicht auf diesen Gehalt bestehen nun Modi: a) der Modus der Abzielung noch ohne jeden Anfang der Erzielung; b) der Modus der Erzielung in verschiedenen Abstufungen: unvollkommene Erzielungen, partielle, mit Komponenten der „unerfüllten“ Abzielung. Ich versuchte nun zu zeigen, dass Aufmerksamkeit im weitesten Sinn nichts anderes ist als der Modus des Aktes hinsichtlich seiner Form der Tendenz, in welchem die Tendenz die Form hat, dass ich ihr Folge leiste. Das sagt: Wir waren oben noch nicht genau genug. Ich sagte früher immer: „im Akt leben“. Ich muss besser sagen: Der Modus eines Aktes kann entweder der sein, dass das Ich vollziehendes ist oder nicht, die Form eben des cogito. Aber die Sache ist als Modalität der Tendenz zu fassen: Die Tendenz ist entweder auf das Ich gerichtet, es anziehend zum Vollzug, oder sie ist gegen das Ich entspannt. Das Ich ist nun dabei. Der Akt hat die Form cogito. Aber Tendenz waltet immer noch in ihm in verschiedener Stärke. Die Tendenz entspannt sich in der Erzielung; sie ist unentspannt in der Abzielung.
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Aber ist es ei ne Tendenz mit fortgesetzter Entspannung, die durch alle diese Aktmodi hindurchgeht? Der „Reiz des Objekts“ zieht mich „zu ihm hin“, ich gehe dann dem Objekt nach etc. Oder entspannt sich die erste Tendenz im cogito? Erwachen nun neue Tendenzen, die mich forttreiben, neue Tendenzen, die bei dem gegebenen Gehalt Abzielungen sind und sich erfüllen in der Erzielung? Erfüllung wird aber doppeldeutig. Wir haben innere Charaktere, innere Eigenheiten des Gehalts, die sich ausdrücken damit, dass der Akt unerfüllt ist oder erfüllt; ebenso die intentionalen Komponenten, abgesehen von der Tendenz, haben dabei verschiedene Eigenheiten der Sättigung und Nichtsättigung. Andererseits laufen dem parallel Spannungen und Entspannungen der Tendenz. Was sagt also „Auf m erksam kei t“? Nicht das bloße cogito in dem Sinn, dass das Ich dabei ist, sondern eine „Spannung“, mit der das Ich im cogito gerichtet ist. Das kann es bei demselben cogito in verschiedener Richtung sein, und da kommt die Tendenz in Frage. Sie ist ein Modus des Aktes, der gewisse Komponenten bevorzugt oder dem ganzen Akt mit seinen Komponenten einen verschiedenen Modus gibt, und dieser bestimmt dann das, was als „Erfüllung“ auftreten kann. Es ist freilich sehr schwer, all das, was hier vorliegt, richtig auszudrücken. Es scheint doch, dass ein und dieselbe Wahrnehmung Ausgangspunkt für verschiedene Erfüllungsrichtungen sein kann. Aber bei dem gegebenen Modus der Wahrnehmung kann die Erfüllung nicht nach allen möglichen Richtungen laufen, sondern jeweils ist eine bevorzugt. Die Tendenz geht in diese eine Richtung. Wenn ich wahrnehme, so bin ich aufmerksam auf das Wahrgenommene. Aufmerksamkeit besagt hier aber auch die Richtung für die mögliche Erfüllung. Gewisse Objektseiten oder Merkmalkomponenten, mögen sie auch noch nicht sichtig sein, sind bevorzugt, ich bin auf sie aufmerksam – die Spannung der Aufm erksam kei t betrifft sie, und die Tendenz geht auf Erfüllung nach di eser Ri chtung hin.1 Das dürfte doch eine völlig richtige Analyse sein, und es dürfte sich doch auch in anderen Beziehungen ähnlich verhalten.
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Gradualität der Spannungsstärke. Gradualität der Erzielung.
Nr. 39 hTendenz en auf Kl ärung und auf Berechtigung1i
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Wie stehen nun allgemein Intention, zunächst objh ektivier ende i I ntenti on, und Aufm erksamkeit sowie ihre Analoga hzueinanderi? Kann man die Lehre durchführen, dass jedes objektivierende Bewusstsein nur dadurch „vollzogen“ ist, dass es von einer IchTendenz , von einem Strahl der Ich-Hinwendung durchleuchtet is t? Und zwar so, dass vom Objekt Anziehung ausgeht, der das Ich folgt, dass hiermit eine Tendenz zum Objekt besteht, die sich umso mehr erfüllt (Erzielung erfährt), je näher das Ich dem Objekt kommt, das heißt, je mehr das Objekt zum „Gegebenen“ wird? Dann läge in jeder Zuwendung schon eine Tendenz auf klare Gegebenheit etc. Jede Bekräftigung, jede Veranschaulichung würde schon in dieser Tendenz angelegt sein. Wir hätten hier aber auf die verschiedenen Modi der Qualität Rücksicht zu nehmen. Die Zuwendung zu einem doxischen Objekt wäre doxische Tendenz zu ihm hin, eine Tendenz, die in der Seinsausweisung ihr Ziel erreichte. Also bloße Veranschaulichung reicht nicht aus. Handelte es sich um eine Seinsanmutung, so brächte die Veranschaulichung noch keine Erfüllung, zumal da auch Gegenanmutungen daneben stehen mögen. Die Fr age ist offenbar eine Tendenz auf Antwort, d. i. auf Ents cheidung, auf Herausstellung des in einer Doxa gegebenen Seins des bloß Anmutlichen bzw. des Seins des in der Gegenanmutung Vermutlichen. Oder liegt vor: in der Seinsanmutung eine auf den Glauben (auf das im Glauben gegebene Sein) bezogene Tendenz, die sich, wenn Gegenanmutungen da sind, hemmt durch Gegentendenzen, aber in dem Gegeneinander gründet dann eine disjunktive Tendenz, deren Erfüllung in der „Antwort“, in der das Sein des einen oder anderen ausweisenden Gegebenheit, liegt (Erfüllung der disjunktiven Intention)?
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Habe ich eine Vermutung, die schon eine Entscheidung für das Übergewicht einer Möglichkeit ist, aber eben eine vermutende, so liegt in ihr eine Tendenz auf „Bestätigung“ der Vermutung, auf Herausstellung, dass das Verm utete wi rkl ich ist. 5 V or aller Erf üll ung di eser Tendenzen, die (wie die Erwartungstendenzen) auf wirkliche Gegebenheit im Glauben gehen, liegt aber die B ekräf ti gung durch Kl ärung und Aufweisung der Motive, und das überall. Ich mache mir einen Sachverhalt, den ich glaube, klar und erfasse seine klare Möglichkeit, ich mache mir die 10 Gründe klar und erfasse die guten Gründe, ohne dass der Sachverhalt damit zur voll ausweisenden Gegebenheit käme. Ist ein Glauben, Anmuten, Vermuten, Fragen klar, so ist es (wo nicht Glauben vorliegt sogar immer) doch nur unerfüllte Intention. *
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Die s achli che I nte nti on: Das Betrachten, Explizieren, dem nachgehen, was die Sache ist oder nicht ist, was sie unter den oder jenen möglichen Voraussetzungen ist oder nicht ist, was dann die Folge wäre etc. Andererseits, wie steht dazu die Gradualität der Klär ung und in Zusammenhang damit die Ausweisung als Ber echtigung? Die Vermutung berechtigt sich durch Intuition, aber natürlich nicht durch Explikation der Sache, und der Übergang zur „Erfahrung“, zur Erfüllung der nicht-doxischen Akte, die den Charakter von Intentionen auf doxische Akte „gleichen Inhalts“ haben, hvollzieht sichi durch doxische, durch entsprechende Wahrnehmungen. Ein gewisser G laube (wofern er auf Gegenwärtiges geht) bestätigt sich (wofern er nicht schon Wahrnehmungsglaube ist) durch Wahrnehmung (bzw. durch Übergang von Wahrnehmung zu Wahrnehmung, bis ich bei dem Geglaubten bin). Ein Glaube an Vergangenes bestätigt sich direkt durch Erinnerung (anschauliche Erinnerung) und dann weiter mittelbar durch Wahrnehmung, nämlich durch Fortgang in der Kette der intuitiven Erinnerungen. Ein Glaube an Künft iges bestätigt sich direkt durch Übergang von der Wahrnehmungsgegenwart zu dem Eintritt des Künftigen. Ein Vermuten bes tä ti gt sich – ein Vermuten berechtigt sich. Es erweist seine Berechtigung durch Klärung der Motive, hdurchi die
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Abwägung der Gewichte der Möglichkeiten. Es ist berechtigt, wenn es wahr ist, dass das und das vermutlich ist. Aber die Vermutung „bes tätigt si ch“ außerdem, die Vermutung, dass S p sei, durch das begründete Urteil „S ist p!“ D i e Vermutung bestätigt sich als o dur ch etwas anderes al s durch Klärung. Aber auch eine Erinnerung bestätigt sich durch ein anderes, zuletzt durch Beziehung auf die Wahrnehmung. Die Erwartung zeigt sich in hderi Klärung, in hderi Aufhellung der Motive eventuell als berechtigt, aber sie bestätigt sich durch „Übergang“ zur gebenden Wahrnehmung. Haben wir danach verschiedene Intentionen zu unterscheiden, verschiedene Tendenz en? 1) Es erscheint ein Objekt, ich wende mich zu, und die Intention, der ich da folge, drängt weiter zur durchlaufenden, analysierenden und doch einheitlichen Betrachtung. Von Begreifen ist da keine Rede, auch nicht von Ausdrücken. Ich habe doch keine Tendenzen auszudrücken oder zu erkennen. 2) Es ist also eine neue Tendenz, das zu erkennen und auszusagen. 3) Was ist das für eine Tendenz, die dahin geht, sich ein Unklar es klar z u machen und dann speziell ein unklar vollzogenes Urteil (einen unklaren Erkenntnis- und Aussageakt) zur Klarheit zu bringen? 4) Was für heinei Tendenz ist die auf Berechtigung und auf Bestätigung? Wie hängt sie mit Klarheit zusammen? Und mit Gegebenheit? Ist die Tendenz auf Klärung nicht ein Zwischenstadium für die auf Berechtigung und Bestätigung? A ktuelle I ntent ion en: Akte, in denen ein Tendieren, ein Gerichtetsein, ein Gezogensein waltet; Vollzugsmodi von Akten. Die Intentionen „wirken sich aus“, z. B. die Hinweisintention wirkt sich aus, entspannt sich, wenn dem Hinweisen eben Folge geleistet wird.1 Begehrungsintentionen sättigen sich,2 Frageintentionen erfüllen sich durch Beantwortung, Willensintentionen erfüllen sich im Han1 Darum braucht aber in den Akten k e i n W o l l e n i m e i g e n t l i c h e n S i n n sich zu realisieren, es braucht nicht Willkürakt hzui sein, ihr Ablauf hbrauchti nicht den Charakter von Tätigkeiten hzu habeni, z. B. unwillkürliches Angezogensein, unwillkürliches Aufmerksamsein. Auch auf Wollungen können Tendenzen gehen, denen ich unwillkürlich nachgebe. 2 Durchlaufen der Begehrung, Klarmachung, Realisierung als Begehren – Erfüllung des Begehrens durch Eintreten.
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deln, Erwartungsintentionen erfüllen sich im Eintreten des Erwarteten. Objektivierende Intentionen überhaupt erfüllen sich durch Deckung des „Vermeinten und Wirklichen“ – „durch“: eine theoretische Intention, eine Intention auf Betrachtung, Entfaltung, Erkennung also sich erfüllend eben dadurch. Eine Erinnerungsintention: Intention auf Gewesensein, auf Sein eines Nichtgegenwärtigen, sich erfüllend im Erinnerungszusammenhang bis zur Gegenwart etc., eine Phantasieintention hsich erfüllendi durch allseitiges Phantasieren. Eine Intention-auf: Begehrungsintention, eine Willensintention. Deckung des Eintretenden bzw. der Gewissheit des Nichtseins oder Ungewissheit des Seins mit der neuen Gewissheit des Seins. Bekräftigung eines Glaubens: Er bestätigt sich immer neu, durch immer neue Erfüllung. Die Glaubensmeinung und Zusammenhänge der Identifikation. Die Willensmeinung und ihre Bekräftigungen, Bestätigungen. Glaube, abgesehen von Tendenzen, abgesehen von Hinweisen, von thematischen (theoretischen) Interessen. Glaube im Modus des cogito, Glaube sich „erfüllend“. Wir denken ihn von theoretischen Interessen getragen, dann würden die theoretischen Interessen befriedigt, die the oreti schen Tendenzen sich erfüllen in der B es täti gung de s G l aubens. Vom Leeren zum Anschaulichen übergehen, dadurch werden die verborgenen leeren Intentionen zweiter Stufe lebendig, sie müssen zur Ausweisung kommen in neuen Anschauungen etc. So erfüllt sich das thematische Interesse dadurch, dass sich die leeren Intentionen sättigen, hdassi die unvollkommen gesättigten bzw. die in ihnen auftretenden lebendigen leeren Intentionen sich sättigen usw. E r füllung der obj ekt h i vi erenden i Akte selbst: die in ihrem Wesen liegende Eigenheit herifüllbar zu sein. Wir fassen das unter dem Bild einer Intention im Sinn eines Strebens: Objekthivierendei Akte streben zur „Erkenntnis“. Wir betrachten die Akte unter dem Bild eines Strebens: Sie sind in der Tat mögliche Träger von Strebensintentionen, von Erkenntnisinteressen, Erkenntnistendenzen, die sich in eins mit dem Fortgang zur Sättigung erfüllen.1
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Intention ist aber zweideutig: 1) Meinung und 2) Tendenz, Streben.
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Kann ich überhaupt von „Erfüllung“ objektivierender „Intentionen“ sprechen? Es fragt sich also, ob unsere ganze Terminologie haltbar ist. Das vorstellende „Meinen“ (= Intention) ist entweder, dachte ich, unerfüllt oder erfüllt, leeres Meinen oder volles, erfülltes.
Nr. 40 hT endenzen und täti ge Verläufe in der ic hlos en Wah rnehm ung und im „ Ich tue “i1
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Tendenz zur Zuwendung – übergehend in die dem cogito eigene Tendenz, die nun lebendige Tendenz ist. Tendenz in eine transzhendentei Apperzheptioni hüberzugeheni, eine Tendenz zum „Auswirken dieser Apperzheptioni“ in der Erfüllung. Wahrnehmung: Das wahrgenommene Objekt kann ein ruhendes oder sich veränderndes, ein sich bewegendes oder sich qualitativ veränderndes sein. Ist es ruhendes, so wende ich mich etwa hin und erfasse es in ei ner Gegebenheitsweise und kann in dieser verbleiben, es ändert sich dann nichts in dauernder Weise, in unveränderter hGegebenheitsweisei habe ich ein unverändertes hObjekti gegeben. Verändert sich das Objekt, so verändert sich kontinuierlich seine Gegebenheitsweise, mag ich zu den Veränderungen der Gegebenheitsweise etwas dazu tun oder nicht. Es gibt hier eine Freiheit des Durchlaufens, wenn das Objekt nur dauert, derart, dass ich hdiei Augen bewege, den Kopf bewege, meine Körperhaltung wechsle, herumgehe, den Blick auf das Objekt gerichtet, betaste usw. Das alles sind Abläufe von Tendenzen, es sind „Tätigkeiten“, obschon nicht willkürliche Handlungen. Ich vollziehe da (im Allgemeinen) keine willkürlichen Akte, unwillkürlich bewege ich meine Augen etc. und ohne dabei „an die Augen denken“ zu müssen. Die betreffenden Empfindungsabläufe haben den Charakter von tätigen Verläufen, von subjektiven Verläufen, und mit ihnen geht Hand in Hand in motivierter Weise ein Verlaufen der „zugehörigen“ „vishuelleni Bilder“, „taktuellen Bilder“ usw., die nun selbst ablaufen als tätige Verläufe, während mir doch der Gegenstand in der ruhenden Dauer oder in seiner Veränderung „gegeben“ ist, er sich mir gibt, ich in Beziehung auf ihn rezeptiv bin, während ich gewissermaßen pr oduktiv, wenn auch nicht rein produktiv, den Ablauf der „Bilder“ erzeugen kann; nur dass immerfort der Inhalt rezipiert ist, während das Sicheinstellen in der Folge, das Sicheinstellen mit dem bestimmten
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Inhalt „in meiner Macht“ steht, nur außer Macht ein anderer Inhalt. Das Objekt ist in der Wahrnehmung als gegeben bewusst; darin liegt eine gewisse Motivation des möglichen und freien weiteren Verlaufs, ein W enn und So etc. Das gilt für Ruhe wie für Bewegung, für Unveränderung wie für Veränderung. Zur Apperzheptioni gehört diese Freiheit der Modifikation der Empfindungsumstände und der zugehörigen Folge der Erscheinungen. Sie hat etwas Tätiges in ihrem Wesen. Sie erzeugt aber nicht das Objekt wi e die prakti sche App herzeption i in Form des Machens, des Ein-äußeres-Objekt-Veränderns, -Bewegens, Umgestaltens. Das Machen, das Handeln in der Welt, das besagt eine willkürliche oder eine praktische Tendenz (ohne „Willen“), wodurch ich die in der perzeptiven Apperzeption liegende Richtung selbst „frei“ verändere. Das Wahrnehmen ist belebt von Wahrnehmungstendenzen, Tendenzen des kontinuierlichen Übergehens von Apperzeptionen in neue Apperzeptionen, Tendenzen, die Sinnesdatenmannigfaltigkeiten zu durchlaufen und dadurch die „Bilder“ zum Ablauf zu bringen. Eingestellt bin ich aber auf das in den Erscheinungen (Bildern) Erscheinende, und dabei speziell auf diese oder jene Momente, Formen etc. Zur äußeren Wahrnehmung gehört wesentlich, sagten wir, das Spiel der motivierenden Empfindungsmannigfaltigkeiten, die in ihren Verläufen den Charakter von täti gen Verläufen haben, es sind Abläufe im Sinn von Tendenzen, die sich entspannen, von „ Tätigkeit en “. Ich brauche nicht den Verlauf zu vollziehen, dann hemme ich aber. Ich kann die Aufmerksamkeit auf ein Objekt richten und kann dem „Zug“ der Betrachtung widerstehen – aber ich widerstehe eben. Nun können aber sehr wohl die „Objekte“ meines Sehfeldes ihre Reize ausüben und Tendenzen entfalten, denen ich mit Augenbewegungen z. B. nachgebe, ohne dass ich aufmerksam zugewendet bin. Diese appherzeptiveni Verläufe als tätige Verläufe sind möglich ohne „ Z uw endung “ des Ic h. Andererseits, die Apperzeption hzui vollziehen in der Zuwendung des Ich als das „Ich nehme wahr“, „Ich durchlaufe betrachtend“, macht es, dass das Objekt mein Objekt, Objekt meines Betrachtens ist, und das Betrachten selbst, das Durchlaufen der Augenempfindungsdaten, das motiviert Ablaufenlassen der „Erscheinungen“ ist „ m ei n “ D urchlaufen, mein Durch-die-
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Bilder-hindurch-das-Gegenständliche-Betrachten (aber freilich, es ist nicht mein Objekt). Im cogito lebt das Ich, und das gibt allem Gehalt des cogito seine besonderen Ichbeziehungen. Die Zuwendung ist nun selbst charakterisiert als Tun und als ein „Ich tue“, und die Wanderung des Strahles des aufmerkenden Blickes, der bald den und jenen Teilen und Momenten des „Gegenstandes“ nachgeht und sie als Reize für das „Ich tue“ nimmt, ist ein freier Ablauf, ein Tun. Ich habe also den Unterschied eines „Tuns“, das nicht ein „Ich tue“ ist, von dem „Ich tue“. Ich habe „Reize“ für das ichlose Tun und Reize für das aufmerkende Tun und Betrachten. Wie ich ein Wahrnehmen habe vor dem „Ich nehme wahr“, so habe ich natürlich – und darin beschlossen – ein Durchlaufen vor dem „Ich durchlaufe“, und das gilt natürlich auch für das Handeln, oder sagen wir lieber, hich habei ein Machen, Gestalten, Transzendente-Objekte-Bewegen, -Verändern etc. vor dem „Ich handle“, „Ich tue machend“ (wobei das „Ich will“ als fiat dabei sein kann oder nicht). Wenn ich auf den Verlauf der Empfindungsdaten selbst achte oder auf das „Tun“ dabei, so ist der aufmerkende Blick selbst wieder ein Tun als sich hinwenden und tätig dabei bleiben, eventuell sich wieder abwenden usw. „ Tendenz en “ – Tendenzen, di e sich in einem Tun ausw ir ken – is t al so ei n al l gem ei ner Ti tel, der die Ichtendenz en ( die Tendenzen d er Ich-Zuwendung, der Ichvollzüge von A kten überhaupt ) i n si ch fasst.1 Gehe ich in den Zusammenhang der Dinggegebenheit und nehme ich das Sichgebende einfach hin, so haben wir zusammenhängende Gruppen von Appherzeptioneni und sich darin auswirkenden intentionalen Tendenzen. Damit verflicht sich anderes: die Zusammenhänge der Kausalität. Ändern sich die Umstände, so ändert sich in Folge davon der Gegenstand; denke ich mir die Umstände geändert, so knüpfen sich daran „notwendig“ zu denkende Folgen. Ich kann die Umstände willkürlich ändern und die Folgen beobachten, ich kann experimentieren und so immer weiter das Ding kennenlernen, seine kausalen Eigenschaften. Ich kann willkürlich oder unwillkürlich vergleichen, Begriffe bilden und unter Begriffe bringen. Ich kann den
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Gegenstand erkennen, in eins mit dem Explizieren, kann urteilen (prädizieren), in eins damit „Ausdrücke“ gebrauchen, Aussagen mit Aussagen verknüpfen, schließen usw.
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Erwartung: 1) intellektuelle Erwartung, gleichstehend der Erinnerung, also das Vorblicken in die Zukunft; 2) die Erwartung als Spannung, was da kommen wird, oder Spannung auf das Kommende (Gemütserwartung). Ich erwarte etwas, etwa ein Disjunktivum. Ich weiß nicht, welche unter den „Möglichkeiten“ eintreten wird, aber „eine“ wird eintreten, das sehe ich voraus, das „weiß“ ich, z. B. beim Würfeln, und nun bin ich gespannt, was da kommen, „wie es ausfallen“ wird. Die Spannung, dieser Gemütszustand, findet seine Lösung. Aber auch wo ich sicher bin, was eintreten wird, bin ich eventuell gespannt. Die Geliebte wird sicher kommen, „Ich kann es nicht erwarten“, das heißt, die süße Pein der Erwartung kann ich kaum ertragen, ich bin in fieberhafter Erwartung. Die Erwartung ist eine „Intention“ in dem besonderen Sinn eines Auf-etwas-gespannt-Seins, also einer Spannung, und zwar nur die zweite, die Gemütserwartung. Und die Lösung dieser Spannung ist ein eigenartiges Übergangserlebnis, das insofern Verwandtschaft hat mit der Erfüllung der Erwartung von 1), als hierbei Akte gleicher Materie zur Deckung kommen (in der negativen Entspannung: Enttäuschung, Akte kontradiktorischer Materie) und das Einheitserlebnis nicht umkehrbar ist: eine bestimmte Ordnung der Deckung verschiedenartiger Akte, eine bestimmte zeitliche Ordnung: erst Erwartung, dann Erfüllung – erst Spannung, dann Entspannung. Analog: Wunsch und Wunschbefriedigung, Frage und Antwort, Vermutung, Bestätigung der Vermutung, Meinung (leere, oder unbegründete Überzeugung), eine Bestätigung, Begründung der Überzeugung. Was Frage und Antwort anlangt, so habe ich das Moment des Wunsches richtig ausgeschaltet. Die theoretische Frage ist identisch mit dem theoretischen „Zweifel“, und dieser setzt ein Gegeneinander
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zweier gleich- oder ungleichgewichtiger Anmutungen voraus. Und dies hat zugleich den Charakter von Gegentendenzen (wobei die Frage ist, ob die Anmutungen selbst die Tendenzen sind, die Urteilsneigungen), und dazu gehört dann das Phänomen der Entscheidung, das Einer-Neigung-Nachgeben, wobei sich die betreffende Tendenz entspannt. Dabei kann das Für-wahrscheinlich-Halten als das vermutende Entscheiden für die eine Anmutung unterschieden werden von dem „Preisgeben“ der Gegentendenzen und dem Sich-urteilsmäßigin-der-Überzeugung-Entscheiden-für-die-eine-Seite. Hier tritt also überall das Probl em der Tendenz auf. Ist nicht Erwartung (im Sinn von 1), abgesehen von der Gefühlsspannung, eine Tendenz, also wie der Zweifel und die Frage? Und wenn wir eine Wahrnehmung nehmen, liegen da nicht Komplexe von Intentionen vor, die in der Tat Tendenzen sind? Und so bei allen nicht-evidenten Akten.1 Das lag zugrunde im Sinn meiner allgemeinen Rede von Erfüllung von Intentionen. Es ist insbesondere da zu überlegen, ob wir nicht katas temat is che und ki neti sche Intentionen unterscheiden müssen (statische und dynamische).2 Nämlich bewegen wir uns in der Einheit einer empirischen Anschauung, einer Dingwahrnehmung, etwa auch nur, indem wir die Augen bewegen, so verwandeln sich die „statischen“ Intentionen in kinetische, die potenziellen in aktuelle – oder wie wir es nennen mögen.3 In jeder Begründung, im Begründungsprozess, hat die leere oder unvollkommen erfüllte Intention den Charakter einer kinetischen hIntentioni (einer Tendenz, die aktualisiert ist) einer Spannung, also habigesehen von der Gemütsspannung, der Willens- und Wunschtendenz auf Erfüllung, auf jene andere Erfüllung, die zur anderen Tendenz gehört. Wenn wir aber einfach vage urteilen, so ist die Intention sozusagen verborgen, sie ist potenzielle Intention (Tendenz), katastematisch.4
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Tendenzen: Aktintentionen in allen Aktklassen (Qualitäten). Statt dynamisch besser kinetisch. Aber warum kinetisch? Potenziell aktuell. 3 Das heißt, die „Intentionen“ geraten in Bewegung und erfahren Modifikationen im kinetischen Übergang in die erfüllenden. 4 Die Tendenz ist tote, oder sie ist (nämlich im Erfüllungsprozess) eine lebendige, nämlich sie erhält den Charakter aktueller Spannung. 2
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In all dem liegt sicher viel Wahrheit. Andererseits ist zu sagen, dass gegenüber diesen durch alle Akte hindurchgehenden Unterschieden als ein besonderer Fall herauszuheben ist der Gegensatz von intellektuell en, axi ol ogi schen und praktischen stellung5 nehmenden (entschiedenen) Intentionen und ihren Vernunfterfüllungen, die begründenden Erfüllungen: die Bewährungen, die Bestätigungen, Begründungen. Also es scheint, dass der weitere Begriff festzuhalten ist und dass der Fehler nur darin bestand, dass nicht der weitere und engere Begriff scharf unterschieden wurde.
D. PHÄNOMENOLOGIE DER WILLENSAFFIRMATION UND -NEGATION, MODALITÄTEN DES WOLLENS
Nr. 42 h Di e Schw i e ri g ke i t e n de r Wi l l e n sa n a l y s e . P assiv i t ät , Re ze pt i v i t ä t u nd Spo n t an e i tä t i n d e r d ox is chen S phä r e . Re i z un d Z u w e nd u n gi1
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Eine außerordentlich schwierige und höchst umfangreiche Aufgabe wäre es, neben der Systematik der Willensmodalitäten auch eine Untersuchung der Aktabwandlungen bzw. fließenden Umgestaltungen der Willenssphäre zu unternehmen, welche bei festgehaltener Modalität möglich sind und welche nach idealer Möglichkeit durch alle Modalitäten in gleicher Weise hindurchgehen. Ein solches Studium ist ganz unerlässlich, um die Grundbegriffe der Ethik und insbesondere die unter dem Titel Ve r nun f t b z w . Un v e rn u n f t ihre bestimmende Rolle spielenden Begriffe einer entscheidenden Klärung entgegenzuführen. Diese Untersuchungen schließen innig an die allgemeine Untersuchung der möglichen Strukturen des Wollens an, und diese wieder erfordern schwierige Untersuchungen d e r a l l ge m eine n B ewu ss ts e i ns s truk tu r en ü b e r h a u p t, da die rechte Abgrenzung der Bewusstseinsgestaltungen, die das Wort „Wille“ bezeichnen soll, keineswegs von vornherein eine selbstverständliche Sache ist. Den Versuch einer Grundlegung in dieser Hinsicht bietet die ausgezeichnete Arbeit von A. P f än d e r in den Münchener Abhandlungen zum 60. hGeburtstag voni Th. Li pps (1911).2 Aber so rühmens-
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Wohl Juli 1914. – Anm. der Hrsg. Vgl. Alexander Pfänder, „Motive und Motivation“, in: Münchener Philosophische Abhandlungen, Theodor Lipps zu seinem sechzigsten Geburtstag gewidmet von früheren Schülern, hrsg. von A. Pfänder, Leipzig 1911, S. 163–195. – Anm. der Hrsg. 2
© Springer Nature Switzerland AG 2020 391 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7
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wert sie ist und so weit sie durch Tiefe und Sorgsamkeit der Analyse alles zurücklässt, was die Literatur bis dahin an Deskriptionen der Willenssphäre darbot, so überwindet sie doch nicht vollkommen die außerordentlichen Schwierigkeiten der Materie und bildet nicht das Ende, sondern den Anfang einer Fundamentalforschung der Willenssphäre. In vielem, nicht in allem kann ich ihm beistimmen. Ich begnüge mich hier mit der Empfehlung des Studiums dieser Abhandlung, ohne mich mit ihr im Einzelnen auseinandersetzen zu können. Es handelt sich, um nur einiges auszuführen, um Nachweisung der Willensstrukturen, die einerseits nach typischen Allgemeinheiten Parallelen sind von Strukturen, die wir in der doxischen Sphäre finden und dann wieder in der Sphäre der Fühlungen und Begehrungen, die sich hier aber andererseits doch schwieriger dem Verständnis darbieten, weil die Willensakte noch in Richtungen ihre Strukturen (und sehr komplizierte) haben, die den anderen Aktarten naturgemäß fehlen. Willensakte sind im Allgemeinen sehr vielfältig fundierte Akte, sie setzen schon doxische Akte voraus, desgleichen schon Gemütsakte. Also durch diese Unterlagen und die Weisen des Daraufgebautseins kommen außerordentliche Schwierigkeiten herein, die sich natürlich nicht finden, wo Akte, wie die doxischen, solcher Fundierung entbehren oder hzuimindest entbehren können. Ich will hier nur einige Andeutungen über schwierigere Punkte geben, die immer wieder zu Verirrungen Anlass geben und insbesondere auch das Eindringen in das Wesen der spezifischen Willensvernunft erschweren. D urch al l e Aktarten hindurch geht als Par allele der U nterschi ed zwi schen Spontaneität und Rezeptivität, und dieser Unterschied ist vielfältig vermittelt, insofern in jeder Aktart verschiedene Mischungen von Spontaneität und Rezeptivität möglich sind und überall Spontaneität in Rezeptivität übergehen kann und umgekehrt. Die Rezeptivität ihrerseits führt uns aber weiter zurück in Hintergründe, bei denen wir eigentlich weder von Spontaneität noch von Rezeptivität sprechen können. Gehen wir von der doxi sche n Sphäre aus, in der wir die relativ einfachsten Bewusstseinsgestaltungen finden, so können wir da als Ausgangspunkt der Betrachtung eine einfache Wahrnehmung nehmen. Wir erblicken einen Gegenstand, wir hören einen Ton, einen Pfiff und dgl. Aber da ergeben sich verschiedene Möglichkeiten bzw. Stadien der Wahrnehmung, mit verschiedenen Charakteristiken. Im
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lebhaften Gespräch begriffen, kommt uns ein Pfiff nicht zum Bewusstsein. Aber wir hören ihn, er ist, genauer gesprochen, phänomenal da, aber nicht im besonderen Sinn bewusst, wir sind nicht auf ihn aufmerksam. Hinterher können wir den Blick in der Erinnerung wohl zurückgehen lassen und dessen in Sicherheit inne werden, dass der Pfiff nicht mit dem Moment der Zuwendung angefangen hat, sondern vorher schon „da“ war. So hat jeder vorgestellte und aufgemerkte Gegenstand einen weiten, wenn auch sehr unklaren Horizont von unbemer kt en Hi nter gründen, die doch nicht im wirklichen Sinn unbewusste sind. Suchen wir genauer zu beschreiben, so stoßen wir darauf, dass der bemer kte Ton eine Bezi ehung zum Ich gewonnen hat, die vor dem nic ht best and. Ich war ihm nicht zugewendet, jetzt bin ich ihm zugewendet. Der unbemerkte Hintergrund entbehrt dieser Ichbezüglichkeit, die wir durch das „Ich bin zugewendet“ bezeichnen; er gehört zwar zum Ich, aber das nur vermöge einer Potenzialität der Zuwendung, die wesensmäßig in aktuelle übergehen kann. Suchen wir noch genauer zu beschreiben, so beobachten wir, dass das Bewusstseinserlebnis, das das Wort „Der Gegenstand ist für mich da, er erscheint“ hbezeichneti – hier das intentionale Erlebnis, das wir Wahrnehmung nennen –, durch und durch eine Wesensmodifikation erfährt, wenn die Wahrnehmung aus dem Modus der Nichtzuwendung in den der Zuwendung des Ich übergeht. Eine Modifikation, die in einer ganz anderen Dimension liegt als diejenige, die statthat, wenn derselbe Gegenstand mir etwa von einer anderen Seite, in einer anderen Orientierung zu mir, erscheint. „Das Ich richtet sich auf den Gegenstand durch das Phänomen hindurch, es sendet einen Aufmerksamkeitsstrahl durch dasselbe“ ist also keine volle Beschreibung, obschon es wohl etwas besagt. Es bedarf der Betonung dieser eigenartigen Veränderung des ganzen Phänomens, die wir attentionale Modifikation nennen. Gehen wir weiter: Das Ich wendet sich zu. Wie kommt es dazu und was liegt weiter darin? Phänomenal, vom Objekt aus, kann man da sagen: Das Objekt noch vor der Zuwendung hat schon eine Beziehung zum Ich, und die Potenzialität der Zuwendung besagt mehr als man zunächst zugestehen möchte. Bevor die Zuwendung zustande kommt, zupft das Objekt uns sozusagen beim Arm oder ruft uns ins Ohr, es klopft an. Ein Reiz geht vom erscheinenden Objekt aus und gegen
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das Ich hin. Dieser Reiz kann sehr verschiedene Grade haben. Die herankommende Lokomotive lässt einen Pfiff ertönen, der, wie er mächtig anschwillt, auch einen gewaltig ansteigenden Reiz übt; er bombardiert sozusagen die Pforte des Ich und erzwingt schließlich den Einlass, trotz des lebhaftesten Anteils an dem Gespräch. Die Reize und Unterschiede der Reize können wir im Rückblick wohl konstatieren und den Zusammenhang dieser Gradualität mit anderen Momenten, der diskontinuierlichen Abgehobenheit, Intensität und dgl. Und findet die Zuwendung statt, „folgt“ das Ich dem Reiz, so finden wir eine eigentümliche Veränderung: Der Reiz zieht das Ich mit stärkerem oder minder starkem Zug, und das Ich gibt nach. Wir können sagen, eine graduelle Tendenz verbindet die Phänomene, eine Tendenz des Übergangs aus dem Status des Ich-Hintergrunds in den des Ich-Gegenüber, der Zuwendung. Die Zuwendung selbst ist ein intermediärer Prozess. Das Hinwenden endet mit dem BeimObjekt-Sein-und-das-Objekt-berührend-Erfassen. Der von diesem ausgehende Reiz kann aber noch fortgehen, die Tendenz, obschon sie neue Formen angenommen hat, geht fort als Tendenz, in das Objekt geistig einzudringen, es nach seinen Momenten, Teilen, Seiten zu durchlaufen und ihm so geistig immer näher und näher zu kommen. Alle Phasen dieser einheitlichen Vorgänge hängen zusammen, und nicht nur hin der Weisei, dass die Wahrnehmungserlebnisse als auf denselben Gegenstand bezogen in der Weise des Bewusstseins vom einen und selben ineinander übergehen, hsondern darüber hinausi haben wir noch eine durchgehende Einheit in Form der durchgehenden und sich erfüllenden Tendenzen – sich erfüllend, sofern die Phänomene in ihrem Sinn ablaufen und im Ablauf von ihnen durchlebt sind und insofern das Ich dabei immerfort der Beziehungspunkt bleibt, immerfort in den Akten lebend, sie vollziehend und dem Zug der Tendenzen dabei folgend. Da haben wir schon Unterschiede der Rezeptivität und Spontaneität. Wir haben ein Feld dunkler Passivität. Vielleicht kann man die Behauptung wagen, dass von allem Hintergrund Reize auf das Ich gehen, das in Hinsicht auf sie aber passiv bleibt. Es würde dann Grade der Ichnähe und Ichferne geben, bis zu dem Punkt, wo der Reiz die Ichpforte sprengt. Diese Passivität ist die Voraussetzung der Rezeptivität in der Zuwendung. Das Ich übt die unterste Stufe der Spontaneität, es wendet sich zu, es nimmt hin. Nur was ihm vorge-
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geben ist, kann es nehmen, rezipieren. Es verhält sich dabei aber in gewissem Sinn leidend, es lässt sich das Herankommen gefallen und blickt nur hin. Eine schon höhere Stufe ist das geistige Sichnäher-Bringen, das Den-Gegenstand-Betrachten, ihn nach Seiten, Teilen, Merkmalen explizieren. Eine noch höhere Stufe histi: ihn mit anderen Gegenständen zusammennehmen, vergleichen, unterscheiden, Beziehungen stiften, begreifen, explizieren, wobei fundierte und polythetische und vielschichtige Akte auftreten, die alle auf der untersten Stufe, also auf Rezeptivitäten, aufgebaut sind, aber durchaus einen anderen Charakter haben: Nämlich sie entquellen aus dem Ich, und sie haben nicht mehr den bloßen Charakter von Explikationen des am wahrgenommenen Gegenstand Gemeinten und Gegebenen als solchen, von einem Sich-Zueignen von etwas eventuell vor der Ichzuwendung schon Gegebenem. Vielmehr handelt es sich bei den kolligierenden, disjungierenden, beziehenden, begreifenden Akten um rein aus dem Ich entquellende Akte und um Leistungen, die das Ich in Bezug auf die Objekte produziert und sich nicht durch das Objekt in bloßer Rezeptivität der Zuwendung und Explikation geben lässt. In diesen spezifisch geistigen Akten, den spontanen Akten der Glaubenssphäre, konstituiert sich alles Logische, die so genannten kategorialen Gegenständlichkeiten, und, zu ihnen gehörig, die kategorialen Bedeutungen, die Bedeutungen der reinen Logik. Wir sehen, dass sich also niedere und höhere logische Funktionen abscheiden, Funktionen der Rezeptivität und Spontaneität. Dabei kann aber jede konstituierte kathegorialei Gegenständlichkeit in eine sekundäre Rezeptivität versinken, wie sie es immerfort nach der aktuellen Konstitution tut. Nachdem wir geurteilt, d. i. einen spontanen Akt des Glaubens vollzogen haben, können wir auf den Sachverhalt den Blick zurücklenken: Aber nun ist der Blick rezipierend und der Sachverhalt nicht mehr ursprünglich produktiv konstituiert. Und erst recht ist es so, wenn uns ein Gedanke als Einfall wiederkommt, in Verworrenheit, aus einem Dunkel auftauchend, aus logischen Hintergründen. Wir nehmen hin; wir urteilen dann in der Hinnahme auch, aber rezeptiv statt produktiv. Man sieht schon, welche Bedeutung das für die Vernunftfragen haben muss. Die vollkommenen doxischen Akte sind diejenigen, die ihre Gegenstände zur einsichtigen Gegebenheit bringen. Das aber vollzieht sich ausschließlich in Akten, die allem toten oder, besser, allem schlafenden Bewusstsein Leben, Erweckung
396 phänomenologie der willensaffirmation und -negation verschaffen, jene Erweckung, in der das Ich selbsttätig rezipieren kann, d. i. das Gegebene auseinanderlegen kann und selbsttätig die Denkgegenstände aufgrund der Explikationen konstituieren kann, mit denen es zugleich Erkenntnis theoretischer Stufe von Seienden 5 gewinnt. – Ich weise noch darauf hin, dass natürlich Wahrnehmungen nur Beispiele rezeptiver Akte waren; hweitere Beispiele wäreni sinnliche Erinnerungen etc. Versuchen wir nun, den Parallelen in der Willenssphäre nachzugehen!
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Wollensbewusstsein: Hat hier nicht das Sollensbewusstsein seine originäre Stelle? Wie sieht ein ori gi näres Sollensbewusstsein aus? Vom „Ich soll“ spricht man da, wo ich vor allem noch nicht will, in Fällen der Überlegung. Ich betrachte das Objekt, bzw. ich denke mir die Handlung, ich versetze mich in das Wollen hinein, aber ich spiele nicht mit dem Gedanken. Ich vollziehe eine Willensanmutung, oder ich mache einen Willensansatz. In der Urteilssphäre kann ich einen Ansatz machen oder ein Fragen vollziehen und nun tritt Einsicht ein. Ich erlebe nun das Sollen? Das ist noch unklar. Gehört schon zum schlichten Entschluss, hzumi Vorsatz, als Charakter das: „Es ist gesollt“? Ist die Willensthesis eine Setzung vom Subjekt aus, während vom Gewollten aus entgegenkommt das Sollen? Im schlichten, blinden Wollen: Vom Objekt geht der Reiz aus, als ein Zug, dem ich im Willen nachgebe, indem ich mein Ja sage. Eventuell nacheinander, in der Überlegung: Ich stelle mir die Handlung vor, das ist, ich vollziehe eine Quasi-Handlung. Aber nicht nur das: Ich erlebe, vollziehe eine Willensanmutung. Aber ist nicht das Charakteristische der Anmutung, dass sie von den Sachen ausgeht gegen das Ich hin, gegen das Willens-Ich? Und ist das die Anmutung des „Ich soll“? Willensanmutung ist hier vieldeutig. Wenn ich schwanke, ob ich das soll oder jenes, so habe ich mehrere Anmutungen, aber keine bringt wirklich das „Ich soll“. Ich kann aber Einsicht haben, dass ich dies da und dann aber auch nur dies soll. Was ist das für eine Einsicht? Aber auch im vernünftigen Denken, Werten, Wollen liegt ein „das Vernünftige denken sollen“. Was heißt das, die Vernunftmotive fordern das entsprechende thetische Verhalten? Was besagt hier das Schema Intention – Erfüllung? Das Bewusstsein des „Ich soll“. Gibt es ein eigenes Sollensbewusstsein? So urteilen, ist richtig urteilen; anders hurteileni, ist un-
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richtig. Einsichtig urteilen, reflektieren, sich dazudenken, ansetzen, Sp gelte nicht, es sei nicht Sp. „S ist p“, „dass S p ist, das stimmt“ – die These gehört zu dieser Materie; das Stimmen, in der Reflexion hervorgehoben, abgehoben. Wo ist da ein Bewusstsein des Sollens? „Das“ Urteil, das so urteilt, ist richtig. Der Glaube, es sei so, ist richtig. Die Thesis hat den Vernunftcharakter, sie ist vernünftig motiviert. Sie ist als Glaube „gleichgerichtet“ wie im Fall „desselben“ unklaren Urteils, aber in der reflektiven Betrachtung, die selbst eine evidente ist, finde ich einen eigenen Charakter der Thesis; sie ist vernünftig, sie hat ihren Grund, sie ist auf ihrem Grund gebaut. In anderen Fällen meint der Glaube dasselbe, es ist Glaube desselben „Inhalts“, aber ohne Grund. Verschiedene Weisen der Begründung, mittelbare Begründung und unmittelbare. Der Grund ist das gegebene Objekt, der gegebene Sachverhalt (oder Sachlage). Im anderen Fall: Der in der Meinung implizierte Zusammenhang, verweisend auf andere Zusammenhänge, kommt mit ihnen hini eins zur Gegebenheit. Praktische Wertelehre oder vielmehr Kunstlehre vom richtigen Werten, axiologische Noetik. Was hätte eine solche zu geben? Hat sie nicht auch ihr Reich, das Gebiet der Wollungen, der Praxis? Ist das ein koordiniertes Gebiet? Was sind hier die Gegenstände? Doch nicht die Handlungen und Tätigkeiten überhaupt? So wie in der Sphäre der Wahrheit und des vernünftigen Urteilens nicht das Urteilen überhaupt und die Sätze überhaupt.
Nr. 44 h A uf Vergan genes geri chtete Wünsche. Das Verhäl tn i s von Begehren und Wollen i1
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Ich versetze mich ins Altertum, etwa als Schüler in die Kämpfe zwischen Scipio und Hannibal. Ich nehme für Hannibal Partei. Ich wünsche ihm den Sieg. Ich weiß schon das Ende. – Wie ist das aber zu verstehen? Wenn ich auch das Ende des Kampfes weiß, so kann ich mich doch in den Anfang hineinversetzen, ihn lebendig „mitleben“, quasi mich in diese Welt hineinleben, bevor der Ausgang schon bekannt und entschieden sein könnte. Und nun als Zuschauer oder Mitstreiter mich hineindenkend, nehme ich Partei und wünsche heiß, dass Hannibal siegen möge. Ist es so überall, wo ein Wunsch sich auf Vergangenes richtet? „Ich wünschte das“ – dass der letzte Hohenstaufe Konradin nicht hingerichtet worden wäre etc. Kann ich nicht eigentlich wünschen, dass es nicht gewesen sein möge? Ich wünsche, dass dies oder jenes Unglück andere oder mich nicht betroffen hätte. Das ist doch etwas sehr Gewöhnliches und besagt nicht bloß, dass ich mich in die Vergangenheit zurückversetze und, gewissermaßen das Wissen ausschaltend, einen Quasi-Zukunftswunsch erlebe, dass es nicht eintreten möge. So gut ich bedauere, dass es eingetreten ist, dass das Unglück die betreffende Person betroffen hat, wünsche ich eventuell, dass sie von demselben nicht betroffen gewesen sein möge. Von Begehren werden wir hier allerdings nicht sprechen. Das Begehren ist ein auf das Künftige gehendes Sehnen, Langen, und zwar ein Wunsch, dass ich etwas haben, dass mir ein Angenehmes oder Gutes zukommen möge etc. Ich wünsche einem anderen Glück, ich selbst aber begehre nach Glück, obschon man auch in Bezug auf sich selbst ebenso gut von Wünschen sprechen kann. Wie stehen nun Wünschen und Tendieren, Streben hzueinanderi? Dieses geht immer auf die Zukunft und geht auf „Realisierung“. Wie stehen nun Begehren und Streben, Wollen hzueinanderi? Ich kann im Wollen zu einem Künftigen mein Ja sagen, ohne noch zu wissen, wie ich es „mache“, ich habe noch nicht den „Anfang“ des Vorsatzes, den
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Weg zum Ziel hin, aber in unbestimmter Weise ist der Weg mitgesetzt. Das Willens-Ja ist aber nicht bloß Begehren. Nun ist die Frage, hobi das Willens-Ja eben die zum Begehren gehörige „Auslösung“ bzw. die realisierende Bejahung ist. Gehört zu jedem Wollen ein Begehren? Und handelt es sich bei jedem „Auslösen“ eines Triebes eben um Auslösen eines Begehrens, obschon auf niederer Stufe, sofern es dunkles Begehren gibt, das noch der „Zielvorstellung“ entbehrt, des bestimmten und mehr klaren Bewusstseins des begehrten Zieles? Ist es also bei dem „voll bewussten“ Begehren so, dass wir da ein Hingetriebensein erleben, ein Hingespanntsein, das erst mit dem Willens-Ja – im Fall, hdassi das Begehrte sich als ausführbar anmutet – seine Wandlung erfährt, die eben etwas neu herstellt: den Vorsatz und eventuell die Handlung? Bin ich noch nicht bei der Ausführung, so ändert sich mit dem Vorsatz die Situation: Mit dem „Ich will“ tritt schon eine Entspannung, aber nur eine vorläufige ein, eine Beruhigung. Aber die Entschlossenheit hindert nicht, dass ich, mir wieder die Sache vorstellend, von neuem begehre. Es ist hier nicht leicht, das Verhältnis von Begehren und Wollen (Entscheidung „Ich will“ und nun entschieden sein) mit erneutem Hingeben an das Begehren zu beschreiben.
Nr. 45 h Wi ll ensa nm utung gegenüber dem Bewus st sei n prakti scher Möglichkeit. Di e Er fas sun g von H andl ungen. Das aus dem W oll en entquel l ende Gewiss-Sein i1
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Dem „Ich will“ liegt notwendigerweise zugrunde ein „Ich kann es“. Ich kann es sicher, ich kann es wahrscheinlicherweise, ich kann es vielleicht, möglicherweise, vielleicht auch nicht. Wie steht es mit dem Bewusstsein des „Ich kann“? Dieses Bewusstsein ist: „Ich kann“. Ich stelle mir eine „mögliche Reise“ vor, und ich will. Ich sage im Willen Ja. Schlichtes ursprüngliches Wollen. Einfach wollend gerichtet sein, einfach wollen. Im Wollen selbst ist das Gewollte als ein ursprünglich Praktisches bewusst. Eine schlichte Handbewegung, ohne vorgängige Vorstellung der Bewegung als möglicher Bewegung (ich bewege). Im Urteilen steht das Geurteilte als seiend da, die Erscheinung, die Vorstellung hat den Charakter der Glaubens-Setzung. Im Bejahen steht es anders. Ich nehme Stellung zu einem „Vorgestellten“, das aber heißt, eine Seinszumutung liegt schon vor. Etwas „als seiend Vorgestelltes“, sich als seiend anmutend, mir als seiend zugemutet, ist Unterlage, Substrat einer Anerkennung. Das als seiend Fragliche etc. oder als seiend Vermutliche (vermutlich seiend) – demgegenüber das Ja-Sagen, das Für-das-Sein-in-Gewissheit-Stellung-Nehmen. Ebenso das sich als praktische Möglichkeit Anmutende – aber was ist hier die Gewissheit? Die des „Ich kann es“. Zu unterscheiden: Es mutet sich etwas praktisch als ein „Ich soll“ an, ich schwanke, ob ich soll oder nicht soll, ich entscheide mich dafür, dass ich soll, ich will – etwas anderes ist die praktische Möglichkeit. „Willensanmutung“ ist nicht bloßes Bewusstsein des „Ich kann oder ich kann vielleicht“, sondern gleich Willensneigung, ich bin geneigt zu wol len. Willenszweifel: Soll ich oder soll ich nicht? Willensablehnung: Ich soll nicht, ich will nicht. Willensbejahung: Ich entscheide mich im Sinn einer Anmutung oder im Fall eines Befehls,
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einer mir von außen zukommenden Zumutung. Ich sage im Willen dazu Ja: Ja, ich will. Oder ich lehne ab. Also hist dasi das Analogon der Bejahung als bejahende Entscheidung im Urteilen für eine Seinszumutung, das Zustimmen oder Ablehnen. Demgegenüber: Bewusstsei n prakti scher Möglichkeiten – nicht als Anmutungen oder Zumutungen zum Wollen. a) Ich stelle mir eine Reise vor. Ich habe nicht die geringste Lust dazu, ich habe dazu gar keine „Neigung“. Oder einen Mord und dgl. Ich denke mich in dieses Handeln hhiniein, ich vollziehe es in der Modifikation des „Hineindenkens“. Und indem ich es tue, steht die Handlung so als Möglichkeit vor mir, wie ein physischer Vorgang als Möglichkeit vor mir steht, wenn ich mich in ein bloßes Wahrnehmen des Vorgangs in Klarheit hineindenke. Wie das äußere Wahrnehmen der originär gebende Akt ist für ein äußeres Sein und Werden, ist so das aktuelle Handeln der originär gebende Akt für eine Handlung? Was fehlt da? Äußerlich wahrnehmend ist mir das Sein und Sosein bewusst, und ich erfasse es. Handelnd ist mir das Handlung-Sein, Gehandelt-Sein, die Tat (und am Ende das Werk) bewusst. Ist aber Handeln Erfassen? Ist Handeln Wahrnehmen der Handlung? Im Handeln nehme ich wahr das äußerliche Werden, obschon ich nicht theoretisch eingestellt darauf bin. Es steht in Seinsweise da, obschon ich nicht in der Seinssetzung thematisch lebe, es ist nur dienend für das Wollen, das sich als handelndes darin befriedigt. Ich lebe im Wollen. Um die Handlung als solche zu erfassen, muss ich ein eigenes Erfassen üben, ich muss die Handlung „objektivieren“. Änderung also der Einstellung. Das Handeln ist originär gebend, insofern als es vollzogen sein muss, damit ic h es wahr nehm end erfassen kann. Vielleicht kann man sagen: In der schl ichten Wahrnehmung liegt das leibhafte Selbsterfassen des Gegenständlichen vor. Ich kann daraufhin sagen: „das da“ usw. Die schlichte Wahrnehmung ist also selbst ein Erfassen, in dem das Erfasste gegeben ist. Es ist aber das schlichte Wahrnehmen auch gebend für ein anderes „Erfassen“, nämlich des W ahrneh m ungssatzes, des Wahrgenommenen als solchen, des Korrelats, das ich dann explizieren kann als: Dieser Vorgang ist ein wirklicher, dieser Gegenstand existiert etc. So, wenn wir onthischi von Wahrnehmung sprechen oder von Erfahrung. Nicht anders, möchte man sagen, verhält es sich in der Handlungs s phäre. In der Wahrnehmungssphäre, um noch einen Augen-
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blick dabei zu verweilen, kann sich auf eine Grundsetzung, die ein längst schon als seiend hingenommenes Objekt wiederum setzt, eine neue Wahrnehmungssetzung beziehen, z. B. die Wahrnehmung (Beobachtung) des X, dass der Mond einen neuen Krater aufweise, muss nachgeprüft werden oder ist nicht bestätigt worden. Ich stelle mich dabei so, dass ich den Mond schlechthin gesetzt erhalte, andererseits aber die Wahrnehmung von dem auf dem Mond statthabenden Vorgang zum Objekt mache. Parallel in der Willenssphäre: Den bei der äußeren Handlung perzeptiv ablaufenden äußeren Vorgang nehme ich hin, ich vollziehe nun aber eine neue Objektivierung: Nicht mein Wollen setze ich, mein aktives Verhalten, sondern, obschon auf mein Ich bezogen, die Handlung, deren Vorgangskern eben dieser Vorgang ist. Wenn ich von den Handlungen irgendeiner Person oder meinen Handlungen spreche, von Taten und auch Werken, so setze ich sie zwar mit als handelnde, aber ich bin dabei in der Setzung gerichtet auf die Vorgänge mit ihrer Tatcharakteristik. Diese ist freilich eine „aus der Subjektivität stammende“, so wie die Charakteristik „Wahrnehmung“ bezogen histi auf ein schon als seiend Gesetztes und schlechthin Angenommenes. Der Vorgang selbst ist hier „objektiv“, aber er ist nicht bloß Vorgang, sondern Handlung, erzeugt, getan von dem Handelnden. Kehren wir nun zur Frage der Vorstellung praktischer Möglichkeiten zurück, die nicht als Anmutlichkeiten charakterisiert sind. Das „bloße Vorstellen“ einer Handlung verbürgt mir die Möglichkeit der Handlung ebenso wie die bloße Vorstellung einer Wahrnehmung die Möglichkeit einer Wahrnehmung, die bloße Vorstellung eines Vorgangs oder Seins überhaupt die Möglichkeit desselben. Diese Möglichkeit ist die mit anschaulicher Vorstellbarkeit gleichwertige. Nun ist aber diese praktische Möglichkeit nicht die mit dem „Ich könnte es“ übereinkommende. Ebensohwenigi ist die Vorstellbarkeit eines Vorgangs überhaupt schon soviel wie „reale Möglichkeit“ in dem gewöhnlichen Sinn. Ich kenne die Natur im Allgemeinen nach vielerlei allgemeinen Gesetzen, und eventuell knüpfe ich auch mein Möglichkeitsurteil an meine Kenntnis über bestimmte Naturobjekte und Natursphären, überhaupt an bestimmte empirische Fakta, die also als seiend im Voraus gesetzt und gewiss sind. So die reale Möglichkeit, ob oder wie lange ein verwittertes Standbild oder ein verfallendes Gebäude noch
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stehen kann, ob eine prätendierte Tatsache der Beobachtung (die anschaulich erfasst im weiteren Sinn möglich ist) eine mögliche Tatsache sei etc. Meine Kenntnisse bzw. die ihnen gemäßen gewissen (oder sehr wahrscheinlichen) Tatsachen lassen sehr viel offen, aber präjudizieren auch. Somit kann eine Möglichkeit im ersten Sinn dagegen streiten und insofern ist sie reale Unmöglichkeit (in Streit mit festgelegten Realitäten), oder sie kann damit übereinstimmen: Reale Möglichkeit ist also mit festgelegter Realität stimmende, sich dem durch sie offen gelassenen Möglichkeitskreis einordnende Möglichkeit. Analog verhält es sich mit dem Verhältnis der praktischen Möglichkeiten überhaupt zu den praktischen Möglichkeiten für mich, für die gegebenen Umstände, für Menschen überhaupt oder für eine Tierart überhaupt usw. Ein möglicher Vorgang kann ablaufen, aber er kann im Ablauf auch Hemmung erfahren, er kann wider das wahrnehmende und sonstige Erwarten verlaufen. Eine mögliche Handlung kann als „gelingende“ oder „misslingende“ verlaufen. Die im Handeln lebende willentliche Erwartung kann sich enttäuschen, die Handlung erreicht nicht ihr Ziel, es geht nicht weiter, oder es kommt ganz was anderes heraus etc. In sehr vielen Fällen ist dabei aber die Sachlage einfach die, dass ich in Bezug auf die realen Umstände die oder jene Handlung vorstelle, und sie steht motiviert als unter diesen Umständen real mögliche da; ich mache den Willensansatz als Ansatz der Realisierung, und sie läuft dann selbst als motivierte ab:1 „Es geht“. Oder ich stoße auf ein Hindernis, auf ein Misslingen, das „dann“ notwendig wäre, auf einen dann unvermeidlichen Widerstand etc.: „Es geht nicht“ (es würde „dann“ nicht gehen). Ich brauche nicht von vornherein an ein Misslingen hzui denken und die Frage, ob es geht oder nicht geht, vorlegen; mit der Vorstellung stellt sich in Rücksicht auf die real feststehenden Umstände reale Möglichkeit heraus, ähnlich wie die Vorstellung des Lärms beim hypothetisch angesetzten Umfallen des Tisches als Möglichkeit, ja als Folge-Notwendigkeit dasteht.
1 Ich kann nichts glauben, was ich nicht für möglich halte. Der Glaube schließt ein Für-möglich-Halten ein. Ich kann nichts wollen, was ich nicht für praktisch möglich halte (für realisierbar). Der Wille schließt das Bewusstsein praktischer Realisierbarkeit ein. Das Einschließen wird nun gar leicht falsch interpretiert.
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Bei einer schlichten Handlung, der kein Entschluss vorangeht, liegt in gewissem Sinn auch im „Ich tue“, „Ich will“ ein „Ich kann“ beschlossen. Der Wille als Einsatzwille des Handelns ist auf ein künftiges Sein gerichtet. Es liegt aber nicht nur überhaupt ein Glaube des Seinwerdens, eine Erwartung vor (und nicht ein bloßes Tendiertsein). Es ist nicht Glaube des künftigen Seins und Wille (etwa gar darauf gebaut, als wäre die Gewissheit Voraussetzung), sondern eben Wille des Künftigen. Und im Willen des Künftigen selbst liegt in gewisser Weise das (beim schlichten Wollen) Gewiss-sein-Werden darin und in der Handlung am Ende schließlich die perzeptive Gewissheit. Der Wille ist Willensgewissheit des das Künftige Schaffens. Das Künftige ist nicht einmal gewiss und dazu noch gewollt, sondern es ist gewiss, weil es in Willensgewissheit gewollt ist, weil sein Gewiss-sein-Werden in der Willensgewissheit beschlossen ist. Wir sagen wohl auch: Es wird sein, weil ich es will, infolge des Willens tritt das Gewollte ein. Hinterher ist gewiss: Die Tat trat infolge des fiat ein; aus dem schöpferischen „Es werde“ geht das „Es wird“ hervor und ist das Gewordene hervorgegangen. Aber der Wille in sich selbst bzw. der Anfang der Tat, das „Es werde“, setzt das Werden, setzt also das künftige Sein, schafft es. Das sagt, dass also die Seinsgewissheit in der Tat und wirklich impliziert ist in der Willenssetzung (als Willensgewissheit), aber eine eigene Struktur macht es, dass nicht der Wille fundiert ist in der Gewissheit, sondern in gewisser parallelistischer Weise das Wollen das Gewiss-Sein aus sich entquellen lässt und im Handeln das perzeptive Gewiss-Sein schließlich entquellen lässt. Die Wahrnehmung als Wahrnehmung entquillt. Im Wollen steht also in dieser Art das Gewollte als ursprünglich „Praktisches“ da. Also auch das Gelingen und Misslingen sind Möglichkeiten, zunächst freie Möglichkeiten. Nun weiß ich aus Erfahrung, dass ich gewisse Handlungen unter normalen Verhältnissen in Gewissheit „kann“, andere mit Wahrscheinlichkeit, wieder andere „vielleicht“ usw. Gewisse Umstände und Arten von Umständen stehen mir als real mögliche oder als jetzt und künftig wirkliche vor Augen. Beziehe ich auf sie einen Willensansatz, denke ich mir in Bezug auf sie ein „Ich will“, gerichtet auf eine Änderung der Sachlage, irgendwelcher Linien des zugehörigen realen Seinshorizonts, so ist die zugehörige Handlung nicht nur überhaupt als vorstellbar, sondern als eine solche charakterisiert, deren Gelingen mit Sicherheit zu erwarten wäre bzw.
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deren Misslingen real ausgeschlossen wäre. Zum Beispiel, bei Beginn der Ferien kann ich verreisen etc., oder auch nicht mit Sicherheit, aber mit Wahrscheinlichkeit oder „vielleicht“ (Anmutlichkeit). Hier treten also nicht leere Neutralitätsmodifikationen von Handlungen auf, sondern motivierte, und zwar hypothetisch motivierte Gewissheiten, Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten des Gelingens bzw. des Nicht-Misslingens. Ich kann nicht wollen, was ich für unrealisierbar halte, etwas, was ich, wie ich gewiss bin, nicht kann, etwas, dessen Misslingen mir voraus gewiss ist. Das sagt wohl: Ein solches Wollen ist unvernünftig; und nicht: Es ist psychologisch unmöglich. Und zwar braucht es nicht ein Wollen zu sein, dass 2 × 2 = 5 sei, sondern auch ein Wollen, das ich mir als handelndes Wollen zwar vorstellen kann, das aber als für mich „unerfüllbares“ gewiss ist. Bei dem „Ich kann“, das wir hier beschrieben, spielt der Kontrast zum „Ich kann nicht“, also der Gegensatz von Gelingen und Misslingen, seine Rolle, und wir beziehen uns auf die große Klasse von Wollungen und Handlungen, in denen ein Entschlusswille der Handlung vorausgeht und motiviert ist durch Rekurs auf vorblickende Überlegungen in Betreff möglichen Gelingens und Misslingens.
Beilage X hWie steht eine Handlung als praktische Möglichkeit vor Augen?i1 In der Phantasie steht mir etwas vor Augen, ein Gegenstand, ein Vorgang; 25 ich mache mir es in der Phantasie klar, und in einer aktuellen, nicht phan-
tasiemäßigen Setzung ist es charakterisiert als eine „Möglichkeit“. In der Phantasie will ich und handle ich, das Quasi-Tun und die ganze Handlung ist in phantasiemäßiger Modifikation vollzogen. Nun wieder in aktueller, nicht in phantasiemäßiger Setzung steht die Handlung als praktische Möglichkeit 30 da. Diese theoretischen und diese praktischen Möglichkeiten sind aber noch nicht real im engeren Sinn. Ich kann mir vorstellen, dass ich so groß bin wie ein Riese, so groß, dass ich ohne weiteres den Jacobi-Turm umbreche,
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dass ich mit Bergen spiele etc., und da habe ich zugleich praktische Möglichkeiten, die nicht real fundierte sind. Wir können sagen: Das eine sind apriorische Möglichkeiten, das andere empirische Möglichkeiten. Ich kann jetzt aufstehen. Ich kann den Tisch heben. Den Schrank? Aber das ist nicht so ganz sicher. Vielleicht wäre er mir zu schwer. Ein Flieger kann sich immer höher erheben, ich kann das vorstellen, aber nicht beliebig. Vielleicht wird die Luft zu dünn etc. Soll ich mich zu einer Tat entschließen können, so muss mir die Handlung als praktische Möglichkeit vor Augen stehen: Sie muss mir unter den gegebenen praktischen Verhältnissen als praktisch möglich dastehen. Ich kann so oder mindestens ich kann es höchstwahrscheinlich oder mindestens es könnte gehen: Gewissheit, Wahrscheinlichkeit, problematische Möglichkeit der Ausführung. Wenn ich anfasste, dann ginge es oder dann ginge es vielleicht, das ist ein hypothetisches Urteil. Aber dem liegt etwas im Willensgebiet zugrunde. Ich versetze mich in das Wollen hinein. Aber nicht nur so, dass ich dazu phantasierte das Tun, sondern ich vollziehe ein hypothetisches Wollen (nicht ein Wollen unter Hypothese), und unter dieser willentlichen Hypothese steht dann eine willentliche Folge oder steht hier eine hypothetische Tat. Das willentlich Hypothetische, was ist das hier: Hypothese des fiat oder Hypothese schon des Anfangs der Handlung, Hypothese meiner Handbewegung, Zufassung etc. und halsi Folge die dadurch motivierte Hebung des Kastens etc.? Meine Leibesbewegungen (in einem Gesamtsystem möglicher subjektiver Bewegungen) stehen als „Möglichkeiten“ da, praktische Möglichkeiten, Möglichkeiten des „Ich kann“. Das muss zunächst völlig geklärt werden. Jede Leibesbewegung, jede, die als mein „Ich bewege mich“ charakterisiert ist, steht mir zu Gebote. Ich kann mir sie zunächst vorstellen in dem Modus, in dem das Ich dabei ist und darin ist als vollziehendes, nicht als aufmerkend auf das Geschehen, sondern als ausführendes. „Willkürlich“ bewege ich die Hand. Ohne nun wirklich die Hand zu bewegen, kann ich mir vorstellen, dass ich sie bewege. Kann ich aber nicht ebenso mir vorstellen, dass ich den Mond bewege, oder ein besseres Beispiel, dass ich diesen Bücherschrank hebe wie den leichten Tisch? Vorstellung eines Gewichts, eines zu überwindenden und in der Handlung überwundenen Widerstandes, des Grades einer Anspannung und überwindenden Erzielung. Wieder Vorstellung einer vergeblichen Anspannung, einer Wollung mit der Vorstellung einer in der Anspannung der Kräfte vorliegenden Handlung, aber die Handlung bricht an einer Stelle ab: „Es geht nicht“, „Ich kann es nicht“. Der Wille findet keine Willenserfüllung, sondern Willensenttäuschung.
Nr. 46 h Das wi ll kürl ic he Ei ngrei fen in ein von selbst ablaufendes tri ebm äßi ges Geschehen am B eis piel des Atm ens: H em m ung, Bes chleunigung und Verl angsam ung. D i e Frage nach dem V erhäl tni s von Wi l l e und Tendenz i1
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Die Schwierigkeiten des Wollens. Ich will und ich kann. Eine bloße Vorstellung eines Vorgangs reicht nicht hin, um eine Willensthesis zu fundieren. Was muss zur Vorstellung hinzukommen? Beispiel der Leibesbewegungen – der „unwillkürlichen“. Unterscheidung der Leibes bewegungen, die objektive Bewegungen des Leibes im Raum sind und als das aufgefasst sind, die aber nicht die Form des „Ich bewege den Leib“ haben, sondern „Ich bzw. mein Leib wird bewegt“. Zum Beispiel, ich sitze, „ohne mich zu bewegen“, im Eisenbahnwagen auf der Fahrt. Dieses „Ich bewege mich“ sagt z. B.: Ich ändere ganz „gedankenlos“ meine Lage. Auch: Ich atme, ohne es zu wissen, ohne darauf zu achten, „ohne besondere Willensakte“. Ohne zu wissen, bewege ich bald meine Finger, meinen Fuß, meinen Oberleib, bewege meine Augen dahin und dorthin. Nachträglich kann ich es aber konstatieren, dass diese Bewegungen einen eigenen Charakter haben, der sie scharf unterscheidet von anderen Leibesbewegungen. Beide sind, wie ich finde, objektive Bewegungen insofern, als sie erscheinen als relative räumliche Ortsveränderungen und so, dass ich sie auffassen muss als Veränderungen im objektiven Raum. Aber während die einen ganz gleichstehen mit beliebigen außerleiblichen Ortsveränderungen, die mit einem „Ich bewege“ nichts zu tun haben, verhält es sich anders mit den anderen. Fremde Objekte, und nehmen wir an unbelebte, können zwar auch zu einem „Ich bewege“ in Beziehung treten, nämlich als „von mir“ bewegte, wie wenn ich von einem Sessel sage, ich hätte ihn bei unwillkürlicher Bewegung meines Fußes, wenn auch unbeabsichtigt, verschoben, ich hätte ihn dadurch fortbewegt, und erst recht: Ich hätte ihn durch eine willkürliche Fuß- oder Handbe-
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wegung bewegt; seine Bewegung hat dann die Form des „Ich bewege“, wenn auch in einer gewissen Mittelbarkeit, im Gegensatz zu einer Bewegung desselben Dinges, wobei ich selbst gar nicht mitbeteiligt bin. Diese Mitbeteiligung besagt hinsichtlich der äußeren physischen Dinge immer: Ich bewege zunächst meinen Leib oder ein Leibesglied und dadurch wird das vom Glied im physischen Zusammenhang Bewegte und Bewirkte von mir bewegt und bewirkt. Wird mein Leib von einem physischen Ding bewegt, wie ein beliebiges physisches Ding ein anderes bewegen kann (z. B. fällt ein Ding neben mir um und wirft mich dabei um), so hat diese Bewegung nicht den Charakter des „Ich bewege mich“, so wenig als wie meine Bewegung mit dem Wagen, in dem ich fahre. Natürlich scheiden wir in der Auffassung fremder Dinge als Leiber von Personen dieselben Fälle, ob sie als Dinge bewegt werden oder ob sie als Menschen oder Tiere, als psychophysische Wesen „sich bewegen“. Und während wir so scheiden, scheiden wir zugleich innerhalb dieser eigentümlichen Bewegungsgattung, die in sich phänomenologisch eigentümlich charakterisiert ist, die „ willkürlic hen “ und „ unw illkür li chen “ Bewegungen oder auch die absichtlichen und unabs ic htl ic hen. Es sind da aber noch genauere Unterschiede zu machen. Zunächst: Die unabsi chtl i chen Bewegungen sind in weitem Umfang von der Art, dass das Ich im Erlebnis der Bewegung nicht dabei ist als auf das Bewegte gerichtet. Es kann aber auch in dieser Weise dabei sein. So z. B., während ich atme, kann ich auf den Vorgang gerichtet sein; die unwillkürlich erfolgende Bewegung kann ich aufmerksam betrachten oder kann, in der Aufmerksamkeit auf sie hingelenkt werdend, ihr mit dem Blick folgen. Dadurch wird sie nicht zu einer willkürlichen Bewegung, zu einer absichtlichen. Es ist hier analog wie mit dem Unterschied einer Wahrnehmungserscheinung, die ich habe, ohne sie im spezifischen „Ich nehme wahr“ und überhaupt himi „Ich bin auf das Erscheinende gerichtet“ hzui haben, und dem gegenüberhliegendeni Fall. Nun merken wir aber, dass es zw eier lei ist, heinerseitsi auf den Vorgang einer subjektiven Bewegung bloß aufmerkend, d. i. im vorstellenden Modus des cogito, gerichtet zu sein. (Ich brauche nicht zu glauben, dass die Bewegung in Wirklichkeit statthat, auch einem als Illusion ablaufenden Vorgang, den ich für unwirklich halte, folge ich „betrachtend“. Also das
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Aufmerken besteht in einem vom Ich ausgehenden Strahl auf das Erscheinende, unangesehen der „Qualität“.) Andererseits der Fall, dass ich das „Ich bewege“ wollend vollziehe. Die freie „Leibes“-Bewegung oder, wenn wir die eigentliche Leibesvorstellung ausschalten, die freien „Bewegungen“, Veränderungen der ursprünglichen Subjektivität, die Formen des „Ich tue“, „Ich bewege“, aber unwillkürlich, gegenüber der willkürlichen Veränderung und Bewegung. Ich atme „unwillkürlich“. Ich hemme die „Atembewegung“: Die Atembewegung ist ein gewisser kontinuierlich fortschreitender Vorgang, der bis zu einem Grenzpunkt fortgeht, einem Grenzpunkt, der aber im Wesen des Kontinuums nicht vorgezeichnet ist, und dann umgekehrt bis zum Ausgangspunkt im Allgemeinen zurückgeht. Das gewöhnliche Atmen hat den Charakter einer periodischen Veränderung, wobei innerhalb des Kontinuums der möglichen Phasen immer wieder ein Emporschreiten von A zu B und ein Rückkehren von B zu A statthat. Dabei hat die Bewegung noch eigenen Charakter (ob objektive Bewegung statthat, ist hier nicht in Frage; aber die phänomenologisch gegebene Veränderung in der Empfindungslage, es ist eine Empfindungsänderung). Ich kann analysierend einiges scheiden. Zum Beispiel, die Empfindungen des Einziehens der Luft in der Nase und in der Luftröhre etc. und die der Bewegung selbst. Die Bewegung des Einatmens geht nicht immerfort „gleichschnell“ vor sich, sie verlangsamt sich in beschleunigter Weise und endet mit der Grenze Null. Und ebenso verlangsamt sich das „Ich bekomme Luft“, ich bekomme immer weniger; die mit den besonderen Empfindungen der Bewegung parallel gehenden Empfindungsveränderungen haben ähnliche Verlangsamungen. Beim umgekehrten Vorgang, der als Umkehrung charakterisiert ist, geht es wieder „sehr schnell“ zurück, nicht in Umkehrung des Tempos. Überhaupt ist das Tempo in seinen Abstufungen nicht streng analog. Es geht schnell abwärts und gegen Ende ist kaum etwas von Verlangsamung zu spüren. Bei genauerem Zusehen aber doch, nur ist die Sphäre der Verlangsamung klein und schnell abfallend. Das geht so periodisch, wobei aber gelegentlich ein „tieferes Aufatmen“ oder ein tieferes Ausatmen, ein Nachstoß in der Ausatmung etc. vorkommt. Analogie: Ich hebe die Hand und lasse sie wieder herunterfallen.
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Ich kann nun „eingreifen“ und während des Aufatmens die kontinuierliche Veränderung hemmen: Ich hemme die Bewegung und die weiteren Empfindungsveränderungen sind die Folge. Ebenso kann ich die Hemmung wieder aufheben. Es ist so, wie wenn ein Rad sich bewegt, und ich hemme die Bewegung, und dann hebe ich wieder die Hemmung auf, ich „lasse“ es sich weiter bewegen. Hier ist die Hemmung ein willkürliches Tun, diese Veränderung des Ablaufs. Ich kann verschieden hemmen, gleich am Anfang, im Fortgang, ich kann so kürzere und größere Atmungsstrecken erzeugen, ich erzeuge aber eigentlich die Hemmungen, und die Bewegung bis zur Hemmung hat den Charakter der zugelassenen; und lasse ich dann jede Hemmung sein, d. i., „unterlasse“ ich dann Hemmung, so hat die natürlich vonstatten gehende Atmung den Charakter der zugelassenen und in diesem Sinn willentlichen. Sie hat aber darum nicht den Charakter der erzeugten. Das „Hemmen“ kann sagen, ich mache dem Aufatmen ein Ende und halte das Ende bzw. den Zustand des Endes hfesti (die Ruhe, wobei sich für das Mitverknüpfte des Zustandes Folgen merklich machen), oder ich halte fest und „lasse“ den Prozess sich umkehren. Ebenso Aufatmen: Ich hemme es und lasse es dann weiter fortgehen als Ausatmen, oder ich kehre den Bewegungsgang um und gebe den „Impuls“ zum Einatmen. Ferner: Statt das Einatmen (Aufatmen) zuhzuilassen bzw. statt ihm bloß zuzusehen (was kein eigentliches „lassen“ ist), kann ich beschleunigen oder in stetiger Hemmung verlangsamen. Einmal gebe ich meinen „Impuls“ im Sinn der Bewegungsrichtung, das andere Mal gegen sie, „hemmend“, und wieder etwas anderes ist das Hemmen von oben: das Unterbrechen, die Bewegung bis zu einer Stelle hzuilassen bzw. ihr zusehen und das Absehen haben und die Willkür, ihr an einer Stelle ein „Ende“ zu machen. Jede subjektive Bewegung, mag sie unwillkürlich sein – etwa einem „Reiz“ folgen, der den Trieb zu ihr erregt und eventuell „auslöst“ (z. B. eine „unbequeme Lage“, bzw. der ihr entsprechende subjektive Zustand wirkt als Reiz, erregt den Trieb, die „Lage zu ändern“, löst ihn eventuell aus; ich kann während der erfolgenden Bewegung hemmen, beschleunigen etc.) –, oder mag sie schon willkürlich sein, kann durch Eingreifen des Willens befördert, gehemmt werden etc. Ist schon ein Bewegen ein willkürliches, so können neue willkürliche
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Impulse der Bewegung „zugute kommen“, sie beschleunigen oder gegen sie gehen, sie hemmen, sie zum Stillstand bringen. Weitere Beispiele: Ich folge einem Reiz, ich stehe auf, um ins andere Zimmer zu gehen. Oder ich bewege unwillkürlich die Augen: Überall kann ich da eingreifen. Oder ich gehe schon infolge eines Vorsatzes, ich schicke neue Willensimpulse hinein, ich gehe schneller etc. Es wäre dabei auch zu studieren, wie die neuen und die alten Willensakte zueinander stehen. Es wäre dann zu erwägen: Bewegungsreize können bestehen, ohne zu Bewegungen zu führen, ohne dass der Reiz die Kraft hat, die Bewegung auszulösen. Der „Wille“, das fiat, „kann“ als Auslösung fungieren, wobei aber ein „Gelingen“ oder „Misslingen“ möglich ist. Man kann auch fragen: Kann nicht auch da, wo ein Prozess wie der Atmungsprozess von „selbst“ statthat, gesagt werden, dass es eine „ausgelöste“ und sich immer wieder neu auslösende Tendenz ist und dass auch da das Ich, statt bloß zuzusehen und in dieser Weise dabei zu sein, das ohnehin Geschehende in Form willkürlichen Tuns geschehen lassen kann? Ich atme. Bei der Umkehrstelle etwa setze ich ein mit einer Willkür, nicht nur hemmend und beschleunigend. Ich habe einen bestimmten Bewegungsmodus in der Weise des abgesehenen vorstellig, und ich vollziehe diesen abgesehenen. Ich hemme nicht nur, sondern ich habe einen bestimmten langsameren Modus der Bewegung im Vorsatz und führe den Vorsatz aus. Man muss sorgsam überlegen, ob Hemmung eines von selbst ablaufenden subjektiven triebmäßigen Geschehens und langsames willentliches Tun nicht wohl zu scheiden sind bzw. das während des Atmens auf die Zukunft gerichtete Wollen zu hemmen und das Wollen, langsames Atmen willkürlich zu tun. Ebenso wie ich den Lauf hemmen kann und von vornherein wollen kann, langsam zu laufen oder zu gehen. Es ist mir dieser Unterschied fraglich. Besteht schon eine Tendenz, die in Auslösung abfließt, oder schon ein in Ausführung begriffener Wille, ein Ablauf infolge eines Willensimpulses, so würde sich ein auf eine künftige Bewegungsstrecke beziehender Wille langsamerer oder schnellerer Bewegung (der wohl möglich ist) nur ausführen lassen in der Form einer „Beschleunigung“ oder „Hemmung“ der schon vorhandenen triebmäßigen oder willensmäßigen Bewegung.
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Das vorgesetzte Bewegungstempo bestimmt dann den „Grad“ der Hemmung oder Beschleunigung. Ähnliche Vorkommnisse in anderen Gebieten, in denen von Reizen, Trieben, triebartigen subjektiven Abläufen die Rede ist. Also im Reich der Phantasien und Erinnerungen. Eine Erinnerungstendenz kommt zur Auslösung, ich folge unwillkürlich einer Erinnerungsreihe. Diese „Erinnerungsbewegung“ kann ich willkürlich befördern, ich kann mich willkürlich in einzelne der Erinnerungen vertiefen und willkürlich hier Einhalt gebieten. Ich kann willkürlich durch solche Vertiefung (ohne Arretierung) den Lauf der Phantasie regeln; ich kann es auf möglichste Klarheit abgesehen haben, ohne aber zu hemmen; ich kann nicht nur zusehen, sondern willkürlich das nicht recht zur anschaulichen Erinnerung Durchdringende oder unbestimmt Bleibende durch Willkürimpulse fördern, hesi gewissermaßen heranziehen, hsoi dass es bestimmter oder klarer wird, wobei diese Förderung entweder eine gelingende oder nicht-gelingende ist. Ebenso Willkür in der Umgestaltung der Phantasien oder im Hineinphantasieren in die Erinnerung usw. Das aber in beliebiger Stufe. Ich kann ja auch gegen das Wollen wirken, die angefangene Handlung „innerer Tätigkeiten“ unterbrechen. Hierher gehört auch das unwillkürlich verlaufende Denken, Aussagen etc., das in ein willkürliches verwandelt werden kann. Willensimpulse greifen ein, hemmen, fördern, ändern die Richtung, ein mehrstufiger Vorgang, da zuunterst z. B. Wahrnehmung vorliegen kann, der ich durch „willkürliche Beeinflussung“ der subjektiven „Wahrnehmungsumstände“, der Augenbewegung etc., Richtungen vorschreibe. Oder es dienen zugleich Erinnerungen, Phantasien, Ideationen der Denktätigkeit, und die Willkür kann überall eingreifen, und der Wille auf Erkenntnis kann vielgestaltige einzelne Wollungen motivieren bzw. Tendenzen organisieren, die durch das Eingreifen des Willens zu willensmäßigen, von Willensausstrahlungen durchsetzten werden. Nun die große Frage nach dem Verhältnis von Wille und Tendenz: Wir unterscheiden subjektive Geschehnisse (subjektives „Tun“), die unwillkürlich, und solche, die willkürlich sind. Unwillkürliche subjektive Geschehnisse sind Verläufe, die statthaben als Erfüllungen von Tendenzen. Das Schema ist: Reize sind Ausgangspunkte von Tendenzen; Reize können Tendenzen auslösen, und die Tendenzen kommen zur Erfüllung, zur Entspannung.
414 phänomenologie der willensaffirmation und -negation Die Willkürtätigkeit, die handelnde als schlicht handelnde, ist, so möchte ich glauben, zurückbezogen auf Auslösungen und Auflösungen (Abspannungen) von Tendenzen. Die Willkürtätigkeit setzt voraus zwei Strecken: 1) die Strecke vor dem fiat, 2) die Strecke 5 nach dem fiat. Also beide aneinandergrenzend im fiat. Ich will nach der Feder greifen: Ich habe die „Vorstellung“ des nach der Feder Greifens; dieses Greifen kann vorstellig sein als „Reiz“, sich auslösend in der Bewegung (im „Ich bewege mich“), terminierend in dem Ergreifen der Feder. Es kann auch vorstellig sein im Vorstellen eines 10 „willkürlichen“ Greifens nach der Feder.
Nr. 47 hU nbest im m ter, zi el l oser gegenüber ziel geri chte tem Tri eb. Tri ebbetätigung gegenüber Wi l l kürtäti gkei t. Das Verhältnis des Begehr ens zur Schi cht der tätigen I mpul se in der Konti nui tät des Tuns i1
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1) Trieb, unbestimmter dunkler Trieb. Entladung des Triebes in Form einer „Tätigkeit“, einer Triebbewegung, heineri triebmäßigen Veränderung. In dieser Bewegung ist jede Phase als Entladung des Triebes charakterisiert, als die Triebintention, die durch alle Phasen hindurchgeht, an ihrer Stelle hsichi befriedigend. Wir haben eine stetige Intentionalität des Triebes, die eine stetige Auswirkung des Triebimpulses ist, hdiei zu seiner Erfüllung stetig gehört und hzu ihmi gehört mit dem fundierenden Vorstellungsgehalt. Eventuell tritt eine Hemmung ein, das „Es geht nicht weiter“, ein „wider“ den Trieb wirkendes Geschehen. Eventuell tritt mit der Hemmung eine neue Triebbewegung ein, die nicht der Einheit mit der ersten Triebbewegung entbehrt. Ein neuer Impuls, aber doch wieder dem ursprünglichen Impuls sich anschließend und mit ihm einig. So können wir z. B. intuitiv interpretieren die Triebbewegungen des Kindes, das strampelt, die Füße dahin und dorthin wirft, an ein „nicht weiter“ kommt und dann umkehrt. Das sind ziellose Bewegungen und triebmäßige Veränderungen. 2) Trieb von einem Unangenehmen weg, zu einem Angenehmen hin. Ziellose triebmäßige Veränderungen führen zu Enden, die charakterisiert sind als „infolge“ der Bewegung und die charakterisiert sind als angenehme, als positive Werte. Es knüpft sich an die Bewegung ein Erfolg, etwa ein Stoßen an ein Ding, das schön klingt etc. Oder es knüpft sich an die empfundene Unannehmlichkeit (etwa der Gliederlage) eine Triebbewegung; jene wirkt als Reiz für eine allgemeine Bewegung, die die „Unannehmlichkeit beseitigt“, mit der Bewegung geht das schnelle Abklingen dieser Unannehmlichkeit und im Kontrast Annehmlichkeit der „Beseitigung“ Hand in Hand. Eventuell Erfahrungs- und Gewohnheitscharakteristik. Die Bewegung hat 1
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einen „angenehmen Erfolg“. Der angenehme Erfolg als Reiz für ein Tendieren dahin, eventuell auslösend die triebmäßige Bewegung (Veränderung) gegen den Erfolg hin, zu seiner Realisierung. Verkettung von Trieben zur Einheit eines aus verschiedenen Triebimpulsen und Triebabflüssen aufgebauten triebmäßigen Zusammenhangs mit einem Ziel. 3) Konkurrenz von Trieben, Hemmung von Triebbetätigungen durch Auftauchen neuer Reize mit neuen Triebimpulsen etc. 4) Ein Triebimpuls mit Zielvorstellung entlädt sich, aber kommt nicht zu Ende, oder es geht langsam und die Begehrungsstärke ist groß, das Vermissen ist unleidlich. Eventuell: Ein neuer Impuls tritt auf als fördernder, als die Hemmung überwindend, in seiner Folge wird sie überwunden. 5) All das und wohl auch 4) ist möglich ohne Zuwendung des Ich. Aber die Ichzuwendung kann die Form haben des bloßen Zusehens, sie kann aber auch die Form haben des „Ich will“, „Ich handle“. Das Letztere als nicht bloß sich treiben lassen und zusehen, wie man da getrieben tut, sondern als sein Nein sagen und den trieblichen Vorgang hemmen, und dann Ja sagen und ihn im Willens-Ja vollziehen oder einen willkürlichen Impuls hineinsenden zur Förderung, Verlangsamung oder Verschnellung etc. 6) In der Triebbetätigung ist bloß Treiben zu und Getriebensein zu dem Ende, wenn ein Ende mit vorstellig ist und dann auch ein mehr oder minder bestimmter „Weg“ zu ihm hin. In der Willkürtätigkeit, in der Handlung ist dieselbe Betätigung im Vorsatz vorstellig, aber sie fungiert eben als „Vorsatz“: Ein vom Ich ausgehendes „Ich will“ vollzieht eine aktive Thesis. Das ist etwas anderes, als wenn der Anblick eines Objekts als Reiz eines Triebes wirkt, eine Triebbewegung reproduktiv erregt, die in seiner Realisierung (oder der Realisierung einer gewissen Veränderung desselben) terminieren würde, und nun der Reiz „wirksam“ wird, dem gemäß unmittelbar die Betätigung abläuft. Dergleichen könnte auch ohne Ichbeteiligung statthaben. Im „Ich will“, „Ich handle“ liegt aber ein aus dem Ich hervorquellendes, spezifisch handelndes Verhalten, ein actus im besonderen Sinn, ein Vollziehen der Tätigkeit, ungleich dem Sich-Auslösen eines bloßen Triebes. 7) Also im Wollen, so wie es da beschrieben ist, waltet auch Trieb: Es setzt eine Triebtätigkeit und macht sie zur abgesehenen und in der Weise des handelnden Wollens zur ablaufenden Handlung.
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Aber haben wir nicht ablehnendes Wollen, ein Wollen, das die Zumutung des Triebes durchstreicht? Ist da ein zweites „Willensmotiv“ da, als ein zweiter Trieb? Und wieder erhebt sich die Frage: Wie steht da Trieb und Begehren, Wünschen? Ist nicht Begehren Hingezogensein, Getriebensein? Versuchen wir so zu sagen: Es gibt Begehren, Treiben, das sich in einem „Tun“ entlädt und sich darin tuend sättigt. Dann haben wir eben den Punkt der Entladung, d. i. einen Triebimpuls, der das Tun inszeniert. Während des Tuns haben wir nicht nur stetige Sättigung des Begehrens (mehr oder minder vollkommen), sondern eben Tun, der Impuls geht stetig weiter, er ist Anfang für einen Fortgang, und dieser Fortgang ist immerfort in ähnlicher Weise charakterisiert wie der Impuls: Es ist das triebmäßige Tun nach seiner noethischeni Seite. Müssen wir nicht sagen, dass diese Schicht der tätigen Impulse, diese Strebungsschicht, nur eine Abwandlung des Begehrens ist? Immer waltet im tuenden Streben auch das Tendieren, das Treiben und Getriebensein, aber es hat jetzt einen geänderten Charakter, den Charakter des Tuns, in dem sich das vorgängige bloße Begehren im Aktualitätspunkt sättigt, während das weitere Stück des noch nicht Gesättigten den Charakter der „Erwartung“ hat. Aber bloße Begehrung steht nicht zu Wollung so wie bloße Vorstellung zu Anschauung. Wir haben ja den Entschlusswillen (Vorsatzwillen) und den ihn erfüllenden Handlungswillen im Modus des Realisierens. Muss man doch trotz dieser Wesenszusammenhänge sagen: Wille sei eine neue Art von „Stellungnahme“ gegenüber Begehren? Hätten wir dann zu sagen, dem Tun und Handeln läge zugrunde ein Streben (bzw. im Erfüllungspunkt eine Seinsfreude), aber hier eigentümlich durch diese Fundierung bestimmt, also das im Streben (Tun und Handeln eingeschlossen) liegende Drängen, Treiben wäre Sache des unterliegenden Begehrens? Aber die in der Abfolge der Handlung, in der Kontinuität des Tuns waltende Tendenz von Aktphase zu Aktphase ist doch etwas ganz anderes als ein Begehren. Da fehlt noch einiges. Die Art, wie aus dem Impuls des Tuns Phase für Phase des Tuns hervorgeht und immerfort der Impuls in seiner kontinuierlichen Abwandlung mit der Geschehnisphase einig ist und sie in sich fasst als Inhalt, wie da Impulsphase aus Impulsphase hervorquillt etc., das ist etwas Eigenes. Nicht so, wie wenn ich ein Werden begehre und eine
418 phänomenologie der willensaffirmation und -negation Begehrenskontinuität über das Vorstellen eines begehrten Vorgangs sich breitet. Sollen wir also nicht sagen, das Begehren motiviert das Wollen und Tun, aber dieses histi nicht ein bloß neuer Modus des Begehrens? 5 Richtet sich der Wille gegen einen Trieb, so muss ein „Motiv“ hdai sein, das ihn anderwärts hinzieht. 8) Wählen und Sich-Entscheiden, Willensfrage und Willensantwort etc. Ist nach all dem, was da versuchsweise angesetzt ist, „Trieb“ nicht doch eine Form des Wollens im weiteren Sinn, das unvollzogene 10 Wollen, die Willenspassivität gegenüber dem freien, dem eigentlichen, hdemi aktiven Wollen?
Nr. 48 h Schli chte s Wol l en und Entschluss. Tri ebwil l e und tri ebhaftes Tuni1
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Überlegung der realen Verhältnisse. Überlegung der praktischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, der sicheren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten und ihrer Zweifelhaftigkeiten, Wahrscheinlichkeiten. Überlegung der Vorzüglichkeiten hinsichtlich der Wege und Ziele nach ihren den Willen motivierenden Gemütswerten. Subjektive Überlegung des Sich-Entschließenden – objektive Beurteilung, auf Objektivität abzielende Überlegung, sei es des SichEntschließenden, sei es eines Dritten. Das Wollen als schlichtes Wollen ohne vorgängigen Entschluss, also auch vor aller Erwägung. Überlegter Entschluss als Wille aufgrund einer Überlegung; unüberlegter Entschluss als unvollkommen, schlecht überlegter. Entschluss weist auf Erwägung hin, auf Schwanken, eventuell Hin-und-her-Erwägen der Möglichkeiten etc. Danach wäre nicht jeder Wille ein Entschluss; Entscheidung weist hin auf Erwägung von Gegenmöglichkeiten, Streit von Gegentendenzen, auf Wahl. Entschluss kann auch statthaben, wo nicht Gegentendenzen hinsichtlich der Ziele miteinander ringen; ich will schon etwas tun, aber ich weiß noch nicht wie, ich mache mir klar, wie die Ausführung auszusehen hat. Wille, der kein Entschluss, keine Entscheidung ist. Triebwille: nicht der „Wert“ des Objekts, hsonderni der „Reiz“ des Objekts – ihm folgt die schlichte Willenszuwendung oder Willensabwendung. Es zieht an, es stößt ab. Das Anziehen kann ein willentliches Angemutetsein sein, das mit der Reizsteigerung übergeht in ein dem Reiz Folgen, Nachgeben. Vielleicht kann man sagen: eine Willenszustimmung, besonders bei einer von außen kommenden Willenszumutung als Bitte, Überredung (Kauf). Das Kind vor dem Kuchenladen: Anblick der Süßigkeiten. Der Reiz wird stärker, dann tritt ein inneres Willens-Ja ein oder auch bei Erinnerung an das Verbot nach Kampf ein „entschlossenes“ Nein. Für das Ja kommen aber auch Gegentendenzen, „Verbot“, in Betracht. Der einfachste Fall: Der Reiz wirkt
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sofort. Der Wille passiv, getriebener Wille. Eine Aktivität liegt darin, dass wollendes Tun Erzeugen ist. Aber der Wille ist unfrei, ich gebe nach, ich lasse mich treiben, ziehen. Triebhaftes Tun, das kein „willkürliches“, kein absichtliches ist. Ich folge Tendenzen, ohne selbst überhaupt zu tun im prägnanten Sinn. Ich bin gar nicht dabei, und schon darum: „Ich vollziehe kein Wollen.“ Im dunklen Hinterhof treten Tendenzen auf, und die Tendenzen entspannen, erfüllen sich. Aber ich weiß gar nichts davon, ich bin fern, ich lebe in anderen Tätigkeiten oder in Urteilen, Gefühlen etc. Aber ich kann hierbei eventuell zusehen und insofern dabei sein und tue doch nichts willentlich. Zum Beispiel finde ich das triebhafte Tendenziöse im Atmen: Es ist kein bloßer Vorgang, sondern im Ablauf ein Sich-Entspannen von Tendenzen und neu Sich-Anspannen, ein blinder Trieb, der sich auswirkt, und so, dass ich dabei gar nicht will. Folge ich einem Trieb von einem äußeren Objekt her, z. B. beim Anblick einer Speise, um sie zu kaufen, zu essen etc., so folge ich als Willenssubjekt wollend dem Trieb bzw. Reiz.1 Im Überlegen und Sich-Entschließen kann ich darum doch dem Reiz folgen, aber es kämpft eventuell Reizantrieb gegen Reizantrieb: Ich folge eventuell dem größeren Reiz, entscheide mich für ihn. Der Reiz braucht nicht ein sinnlicher Reiz, ein solcher sinnlicher Gefühle hzui sein, die mit dem erscheinenden Objekt eins sind. Es kann auch sonstwie ein Gefühlscharakter, ein übertragenes Gefühl (bzw. ein übertragener vermeinter Wert) als Reiz fungieren. Die Überlegung kann darauf gehen, zu sehen, ob der vermeinte Wert wirklicher Wert ist oder wie es mit der objektiven Werthöhe der zunächst mich reizenden Objektitäten steht etc., wie durch den objektiven Wert des zu Realisierenden (der Absicht) der Wert der Handlung, der Handlungswert (Tat-, Werkwert), bestimmt ist, was für funktionelle Verhältnisse hier bestehen. Man kann dabei auch sprechen vom Wert des Wollens als Wollen dieser Handlung, dieser Absicht mit diesem Weg etc. Man kann aber auch sprechen vom Wert der Handlung. Die Handlung ist aber wesensmäßig Handlung eines
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Aber da haben wir näher zu beschreiben: Es handelt sich um eine Veränderung des Objekts, ein Vorgang, an dem es beteiligt ist, und dieser histi mehr oder minder klar vorgestellt.
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Subjekts. Eine Handlung kann allgemein wert sein – wer immer sie vollzieht, unangesehen des Subjekts also –, oder sie kann wert sein in Bezug auf das bestimmte Subjekt in seiner empirischen Lage.
Nr. 49 h Liegt i n jedem ei gentl i ch en Wollen ein Werten? Tendenz en und G egentendenzen: das passive Folgen gegen üb er dem wol l enden Bevorzugeni1 5
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Das Wollen ist ein aus dem Ich entquellender Akt und nicht ein bloßes Getriebensein und triebhaftes Tun. Ob man sagen kann, jeder Trieb geht auf „Lust“, ob in jedem Ablaufen eines Triebes Lustgefühle auftreten müssen, ob in jedem Weggetriebensein Unlust und Empfindung von Unlust liegt? Ob man sagen kann, dass in jedem ei gentl i chen Wollen ein Werten liegt und jedes Gewollte in der Vorstellung als Lustbringer, als gefällig vorstellig ist? Ich will mein Atmen verlangsamen, ich will die Atemzüge beschleunigen, anhalten. Hat das einen Wert? Erscheint es mir als wert? „Warum“ tue ich es jetzt? Es kann sein, dass ich überrascht bin und unwillkürlich stockt mir der Atem. Aber die Überraschung ist kein Willensmotiv und ich habe hier keinen Willen. Ich fürchte, dass mein lautes Atmen gehört wird, ich halte den Atem daher zurück und atme ganz leise. Hier ist das leise Atmen bewertet als Mittel, ein Übel zu vermeiden; das laute Atmen hätte zur Folge oder zur vermutlichen Folge ein Unheil; die Verwandlung in leises Atmen ist nun in Übertragung positiv gewertet. Wie aber, wenn ich jetzt einfach ohne solche Gründe leise atmen will? Ich studiere jetzt das Willensgebiet, ich weiß schon, dass unter verschiedenen Umständen, bezogen auf verschiedene wirksame Motive, der Wille auf Verlangsamung des Atmens möglich und dann wirksam ist; ich weiß, dass ich, hbezogeni auf welche Motive immer, den Atem anhalten kann (reale Möglichkeit, motiviert durch Erfahrung). Ich möchte wissen, ob ich es auch ohne solche Motive kann. Ich ziele wollend auf Verlangsamung und es geschieht. Man könnte hier sagen: Hier bewerte ich den in der Erwägung mir vorschwebenden Willen auf Verlangsamung. An dem Sein dieses Willens liegt mir. Die Verlangsamung selbst steht nicht als wert oder unwert da, aber der Wille auf Verlangsamung. Diesen Willen erzeuge ich also und damit freilich die Verlangsamung. 1
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In den anderen Fällen kann ich zwar auch auf den Willen der Verlangsamung gerichtet sein, aber um der werten Verlangsamung willen, durch welche der Wille selbst seinen abgeleiteten Wert erhält. Wille und Willenshandlung können unter Umständen einen Wert erhalten, dadurch dass ich theoretisch interessiert bin an Sein und realer Möglichkeit eines solchen Wollens und Handelns. Und das ist hier eben der Fall. Also würde ich sagen: Jedes Willensziel ist bewertet, in dem Sinn, es steht mir vor Augen als solches, dessen Sein mir lieb wäre. Lenke ich meinen Blick auf ein Objekt, das mich triebhaft reizt, und gehen von dessen Vorstellen triebhafte Tendenzen zum Übergang in andere Vorstellungen und Akte hausi, so kann ich mich diesem Zug anschließen, passiv folgen, ohne Willen, wie wenn ich dem Zug einer Phantasie nachgebe, mich in der Erinnerung treiben lasse oder den Blick auf ein Papier werfend anfange, die Zeilen zu lesen. Dabei kann Angenehmes und Unangenehmes, Interessantes und Uninteressantes auftreten. Es können die Tendenzen zu folgen ihre Gegentendenzen finden, etwa wie wenn peinliche Erinnerungen auftauchen, die mich abstoßen, oder im Gelesenen widerwärtige oder peinlich langweilige Sachen zur Sprache kommen. Abgestoßen von einer Seite kann ich stärker angezogen sein von einer anderen, ich folge diesem Zug etc. Das alles ohne eigentlichen Willen. Es kann aber mit Tendenzen und Gegentendenzen auch anders gehen. Während ich einem solchen Zug hingegeben bin und bewusst mit dabei bin, dem Zug folgend, erwacht der Gedanke an ein Versprechen, das ich gegeben, an eine Verabredung zu einem Spaziergang. Er taucht im Hintergrund auf, von ihm geht eine Tendenz zur Zuwendung aus, die übermächtig wird; Zuwendung erfolgt. Ich bin nun allerdings etwa höchst interessiert, aber obschon der Zug zur anderen Seite schwächer ist, die Kraft der Tendenz, obschon das Streben, in der Lektüre zu bleiben, sehr „intensiv“ ist, erkläre ich wollend Nein und erkläre, ich erfülle mein Versprechen. Ich werte in dieser Richtung und bevorzuge.
Nr. 50 hDie Fr age nach dem Wert des blinden, aber r ic hti gen U rtei l ens. Die Idee göt tl ic her Erkenntni s. D er Un terschied z w is chen Erfül l ung und Berechtigung in der Gl aubens- und Wi l lenssphärei1
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In der eins ic hti gen Ü berl egung sagt sich der Erwägende, Wert Abwägende etwa so: Das Urteil U ist richtig; es ist also gut, diese Urteilsmaterie so zu beurteilen; also will ich mir das „Urteil merken“, also dafür Sorge tragen, dass ich künftig die diesbezügliche Materie in dieser wertvollen Weise beurteile. Also er wertet das r i chti ge U rtei l als solches positiv. Was nicht hindert, dass wir und er selbst, wenn er entsprechend reflektiert, das einsichtige Urteil an und für sich betrachtet höher werten werden als das uneinsichtig-richtige. Ebenso in der Gemüts- und W illens s phär e. In voller Einsicht urteile ich, ich sehe ein, dass A gut ist, und da es gut ist, ist das Wollen des A gut. „Das will ich mir merken.“ Wo künftig A auftritt, will ich daran denken, dass es zu wollen gut ist. Wie hat da nun aber die Wertüberlegung weiterzugehen? Denken wir uns, wir könnten uns in eine Urteilsmaschine verwandeln, derart, dass wir im Voraus es machen könnten, dass wir immerfort nur richtige Urteile ohne jede Einsicht fällen könnten und fällen würden. Unser faktischer Urteilsbereich, in dem wir zu richtigen Urteilen in unserem Leben gelangen, ist begrenzt. Denken wir uns, dass wir es machen könnten, dass wir nicht nur denselben, sondern einen viel größeren Urteilsbereich in lauter richtigen Urteilen beherrschen könnten, so dass der Gesamtwert der Richtigkeit beliebig größer würde als der jetzige und faktische Wert. Wäre dann der theoretische Mensch besser? Könnten wir vernünftigerweise eine solche Situation wünschen? Wir können von RichtigkeitsKapazität (Urteilskapazität in Hinsicht auf Richtigkeit) sprechen und in Hinsicht auf den unendlichen, ideal möglichen Bereich, haufi die Möglichkeiten in infinitum fortgehender Steigerung beliebige Reihen
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herausgreifen U1 i U2 i U3 … Wäre da eine Stelle, wo wir sagen könnten Uk i als eine noch so kleine Einsichtskapazität? Nun dürfte man nicht Urteil und Glauben identifizieren. Denn es fragt sich, ob es überhaupt möglich ist, dass in einem Bewusstsein nur „Urteile“, Glaubensakte, auftreten, die „ungesättigt“ sind. Und parallele Probleme wären zu stellen und tiefer zu fassen, exakter zu formulieren und hzui differenzieren hinsichtlich der Willenssphäre. Was für Wesenserörterungen sind für all solche Fragen doch das Fundament? Alle kategorialen Akte haben ihren Aufbau, sie vollziehen sich in Stufen, Synthesen gründen sich auf Synthesen, also auch die einsichtigen kategorialen Akte. Im Verlaufen sinken sie zurück, immer mehr ins Dunkel. Wie steht es da mit der Einsicht? Dass die unterliegenden Einsichten zurückgesunken sind, mag man hinnehmen, sie fundieren doch die höhere Einsicht. Aber die vollendete Einsicht in die Gesamtsachlage sinkt selbst wieder hinunter, und wenn später auf sie zurückgegriffen wird, hat sie nur den Charakter des „früher begründet worden“. Es ist ein Vernunftcharakter, aber doch von „niederer Stufe“. Das ist auch für einen „Gott“ nicht anders. Was liegt in der Idee einer göttl i chen Erkenntnis? Wir könnten hier nur sagen: „Gott“ hat eine unendliche Sphäre der frischen und klaren Retention, die sich über die gesamte Vergangenheit erstreckt. Seine Reproduktion besteht darin, dass er in den unmittelbaren „Gegenwartsbereich“ zurückgeht und die Situation von jedem Gewesen aus wieder erfassen und wieder erzeugen kann. Gott hat keine „verworrene“, „unklare“ Retention, er kann nicht „verwechseln“, durcheinandermengen, er kann nicht etwas für begründet gewesen halten, das nicht begründet war. Für ihn gibt es keine vermeintlichen Begründungen (wobei freilich ein Problem ist, wie er „vermeintliche Begründungen“ verstehen kann, er müsste dann willkürlich die Klarheitsstufe herabsetzen können, sich in der Phantasie ein menschliches Bewusstsein vorstellen können). Der Mensch hat einen völlig dunklen Vergangenheitshorizont, und er hat unklare Wiedererinnerungen, er mengt Erinnerungen durcheinander. Also nicht das ist das „Ideal“, dass überhaupt nur richtig geurteilt würde, derart, dass ein anderer die richtigen Urteile auswerten könnte, sondern dass der Urteilende im begründeten Urteilen immer fortschreiten kann, ohne immer wieder von neuem anfangen und die früheren Begründungen wiederholen zu müssen. Nicht etwa, weil das
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„unbequem“ wäre, sondern weil das Denken dann überhaupt nicht vom Fleck kommen könnte, und das wesensmäßig. Müsste ich, um einen richtigen Satz zu benützen, ihn in „voller aktueller Einsicht“ haben, so könnte ich keinen Beweis führen, der voraussetzt, dass ich schon bewiesene Sätze in Anspruch nehmen darf – und nicht grundlos, sondern mit Grund und Vernunft –, ohne, wenn ich auf ihn zurückgreife, den Beweis für ihn erst erneuern, die Einsicht originär erzeugen zu müssen. Müsste ich das, so würde ich auch den anderen Beweis, in dem ich ihn benütze, noch einmal von vorn anfangen, und so käme ich nie weiter. Nun gehört es zum Wesen der höheren Erkenntnis, dass sie in immer neuen Stufen auf niedere Erkenntnis sich bauen kann und ihrem Wesen nach bauen muss. Es ist ein Widersinn, von Gott zu verlangen, dass er mathematische Theorien so einsieht wie ein mathematisches Axiom, dass er die Wahrheit entlegener Theoreme unmittelbar einsieht usw. Nun kann man von hier aus wieder die Frage aufwerfen, ob denn dann überhaupt gesagt werden darf, dass nicht einsichtiges – oder irgend durch Begründung motiviertes, auf Begründung hzuimindest zurückgreifendes – Urteilen, sondern schon völlig blindes, aber richtiges Urteilen als ein Wert angesetzt werden kann. Freilich, wenn ich die Wahl hätte, in meinem blinden Urteilen das Richtige zu treffen oder nicht zu treffen (wenn auch, ohne mich selbst davon je auch nur überzeugen zu können), so würde ich nicht schwanken. Aber es fragt sich, ob das ein unmittelbares Werten ist. Ich bin dabei im Geheimen etwa bestimmt von mittelbaren Wertungen; zum Beispiel, dass mir das nützlich sein würde und vielleicht auch anderen, die sich von mir, in der Meinung, ich wüsste, was ich einsichtig urteile, bestimmen lassen etc. Es ist merkwürdig, dass ich da in der Auffassung der Sachlage nicht völlig sicher bin. Wenn wir die parallelen Fragen in der Willenssphäre behandeln, so ist Folgendes zu scheiden: Das Wollen kann nur „einsichtig“ sein, originäres Vernunftwollen und Vernunftwollen überhaupt sein, wenn es seine volunthäreni Gründe hat, und diese liegen teils konstituiert in anderen Wollungen (Mittel), teils in Wertungen, die ihrerseits also wieder vernünftig sein müssen. Davon spricht ja ein Wesensgesetz. Das Wollen kann nur seine vernünftige Richtigkeit haben, wenn es sich nach Wertung en richtet, und die Richtigkeit dieser W er tungen i st s elbs t wi eder U nterl age für die Richtigkeit
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der W ollungen. Primitive Wollungen hsindi in einfachster Weise nach primitiven Wertungen orientiert. Wertungen können selbst wieder begründet sein in anderen Wertungen und sich nach diesen also „richten“. Das hSich-iRichten ist eben das spezifische Motiviertsein, auf Gründe hin werten, auf Gründe hin wollen. Eigentliche Willensgründe sind Werte. Eigentliche Wertgründe sind wieder Werte. Aber nicht alle Werte haben eigentliche Wertgründe: Es gibt unmittelbare Werte. Problem: Wie steht es mit den Existenzialwerten? Sie „gründen“ in der Überzeugung der Existenz etc. Ist das Urteil ein Grund für einen Wertsatz? Setzt das nicht voraus, dass dazu eine andere „Wertprämisse“, ein im spezifischen Wertgebiet liegender Grund mitwirke? Weil etwas schön ist und weil es ist, freue ich mich. Ein völlig unmittelbares Schönwerten wäre unmotiviert, wäre grundlos (keine „Motive“, keine Prämissen), ein unmittelbares Werten ist darum nicht „wertlos“, d. i. unvernünftig. Anders ein unmittelbares Wollen, z. B. ein Sich-treiben-Lassen. Hier ergeben sich ja freilich manche ernste Probleme. Ist ein irgendeinem Trieb oder Reiz Nachgeben überhaupt ein Wollen? Ferner, ich stelle immer zusammen „Glauben“ gleich Seinsvermeinen, Werten ebenfalls ein Vermeinen, Wollen ein Vermeinen. Wo aber von Vermeinen die Rede ist, da hatte ich immer das Schema von „Intention – Erfüllung“ im Auge. Da muss man in die tiefsten Tiefen blicken und dringen, um sich von Verirrungen fernzuhalten. Das transeunte Wahrnehmen ist ein Vermeinen: Vermeinen und dabei zugleich gebend. Ist auch das immanente, „innere“ Wahrnehmen ein Vermeinen? Ist es nicht bloß gebend, das ist, könnte man sagen, ein Bewusstsein, wonach sich ein Glauben richten kann, in dem ein Vermeinen sich vollkommen sättigen kann, in dem es seinen „adhäquateni“ Grund finden kann? Ein letzter Grund, der keine Doxa mehr wäre, aber zur Doxa in Wesensbeziehung steht. Geht das? So beim Werten: Es gibt ein Werten, das sich nach sinnlichen Gefühlen richtet, aber sie selbst hnichti wertet. Dieses Werten richtet sich nach etwas, was kein Werten ist. Auch Werten einer Einsicht: Aber hier richtet sich ein Vermeinen nach einem Vermeinen, obschon einer anderen Gattung. Im Vermeinen ist etwas vermeint, „es ist“, „es ist so“, es ist wirklich, es ist wert. Aber wie im Wollen? Ist das Wollen auch ein Vermeinen? Vermeint ist ein praktisches Gut?
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Nun sagen wir in der Urteilssphäre: Im Urteil ist vermeint ein Sachverhalt bzw. eine Wahrheit. Im schlichtesten äußeren Wahrnehmen haben wir ein Vermeinen. Es ist vermeint, dass das Erscheinende sei. Können wir auch beim inneren Wahrnehmen sagen, es sei vermeint, dass das Gegebene sei? Wenn ich vorblickend in der Erwartung ein Vermeinen vollziehe, so ist das ein Vermeinen, dass etwas sein wird. Auch ein Immanentes, dass es eintreten wird. Aber haben wir nicht mit Rücksicht auf das innere Zeitbewusstsein auch bei dem immanent Gegebenen einen Horizont von Erwartungs- und von Vergangenheitsbewusstsein und ein „Vermeinen“ des Seins? Also wird es doch nicht gehen, mit alten wohl überlegten Einsichten zu enden. Und im Wollen? Als Vermeinen geht es doch auf die Tat, und es impliziert eine Guthaltung und eine Seinsüberzeugung. Es selbst als Wollen geht auf das Sein in der Weise der Realisierung. Aber es hat seine Motive. Das motivierende Werten kann unrichtig sein. Das zugrunde liegende Beurteilen der Sachlage kann wieder unrichtig sein. Also komme das Wollen nicht rein in sich in Frage, sondern das Gesamtphänomen, das Wollen mit seiner Unterlage. Aber das Wollen, indem es sich richtet, nimmt dabei selbst etwas an, es geht das Sich-Richten das Wollen „innerlich“ an. Also das Wollen erfüllt sich in der Handlung, aber es berechti gt sich durch Auswertung seiner Motive. Haben wir auch bei den parallelen Akten Unterschiede zwischen Auswertung (Berechtigung) und Erfüllung? Eine Vermutung erfüllt sich – etwas anderes ist, sie berechtigt sich; das ist, ich gehe ihren Vermutungsmotiven nach, ihren „Gründen“, und sehe zu, ob es „wirkliche“ Gründe sind. Eine Frage findet ihre Antwort und findet damit ihre Erfüllung. Wieder ist hesi etwas anderes, den „Motiven“ nachzugehen, dem Warum der Fraglichkeit, nach dem sich das Fragen orientiert. Ein Wunsch erfüllt sich, eine Begierde erfüllt sich, ein Wille erfüllt sich. Der Wunsch erfüllt sich, und doch kann er unberechtigt sein. Ein Wille erfüllt sich: Das Gewollte kommt in der Willenshandlung zur Realisierung, aber die Motive sind wertlos. Wie beim Glauben im Urmodus der Gewissheit? Ein Glaube kann sich bestätigen: Es stellt sich heraus, es ist wirklich so. Aber darum können die Glaubensgründe ganz „verkehrt“ sein. Sie bestätigen sich nicht in der Erfüllung. (Aber „erfüllt“ sich der Glaube wirklich in sich selbst? Ja,
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die Glaubensintention. Ist da nicht zu scheiden der Glaube selbst und die durch ihn hindurchgehende Intention, z. B. Erwartung?) Wie steht aber weiter Erfüllung und Berechtigung? In der Glaubenssphäre kann doch Erfüllung zugleich berechtigende Funktion üben. In der 5 Willenssphäre, in der Wunschsphäre auch? Höchstens, soweit nicht die Irrealisierbarkeit herauskommen kann oder soweit die Voraussetzung der „Möglichkeit“ sich bestätigt. Erfüllung von Intentionen, Intentionen, die durch einen Glauben hindurchgehen, Anmutungsintentionen, Vermutungsintentio10 nen, Fragen, Wünsche, Wollungen. Diese Erfüllung histi nicht gleich dem Sich-Berechtigen und Berichtigen.
Nr. 51 hDie B ewert ung des U rtei l ens im Hinblick auf s eine dur ch pr in zi pi el l e Ei nsi cht ausgewiesene R ic hti gkeit . D as Werten gegenüber dem exis tenz ial i nteressi erten G emütsverhalten. Die Sti ft ung des ethi schen Gewissens und C har akter s dur ch den ethi schen Grundwillen i1
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Guter Wille und Pf li chtwi l l e. Das „gute“ Urteil (Urteilen) und das „pflic htm äßige“ Urteilen. Zum Beispiel ein Urteil der „inneren Wahrnehmung“: Während ich will, sage ich aus „Ich will“ oder unmittelbar darauf „Ich habe soeben gewollt.“ Nun aber reflektiere ich: Ist das Urteil richtig? Ja, es ist richtig! Denn „prinzipiell“ ist es klar, dass so urteilen richtig urteilen ist: „Jedes Urteil, das rein zum Ausdruck bringt, was innerlich wahrgenommen ist, ist notwendig wahr.“ Ich habe also geurteilt, wie ich „pflichtmäßig“ urteilen sollte. Ich kann auch an das Prinzip appellieren: „Jedes Urteil überhaupt ist richtig, vernünftig, das zu bloßem Ausdruck bringt, was in der Wahrnehmung gegeben ist.“ Das freilich muss ich generell „einsehen“. Ich verfahre etwa so: Dieses Urteil drückt aus, was ich intuitiv gegeben habe. Ich sehe mir an, was gegeben ist, ich erfasse es in theoretischer Einstellung; ich sehe zu, was dabei wirklich gegeben ist und was nicht, und halte mich an das „wirklich Gegebene“. Und nun fasse ich das begrifflich und sehe wieder zu, ob das, was ich mit dem Wort meine, was im Begriff selbst liegt, genau dem entspricht, was hier wirklich gegeben ist. Und nun sage ich zugleich allgemein aus: „Überhaupt ist jedes Urteil dieser Art, das so sich orientiert nach eigentlich Gegebenem, ‚evidentermaßen‘ richtig.“ So überhaupt verfahren, ist richtig verfahren. Freilich habe ich nun selbst wieder all das ausgedrückt, mein Verfahren, sowie das, was der allgemein prinzipielle Satz aussagt. Will ich das nachprüfen, so habe ich abermals so zu verfahren und so in infinitum. Es gibt also kein prüfendes Verfahren, das nicht der Prüfung fähig wäre. Aber ich kann „einsehen“, dass jede neue Prüfung unter demselben Prinzip stehen müsste als hdemjenigeni, welches ich schon nachgeprüft habe. 1
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Das logisch Pflichtmäßige (das Urteilen im Bewusstsein der Pflichtmäßigkeit) besteht darin, dass ich kein Urteilen naiv passieren lasse, kein Urteil fälle, für das ich nicht ein formuliertes reines Pr inz ip habe, das mich der prinzipiellen Triftigkeit so gearteten Urteilens „versichert“. Darin liegt: Ein Urteil, das bloß naiv gefällt ist, hat geringeren „Wert“ als ein Urteil, das – nachdem es gefällt ist – seine Bestätigung in dem Sinn erfahren hat, dass seine Richtigkeit selbst, sein „Stimmen“ mit seiner Sachlichkeit, zum Gegenstand der Betrachtung und der einsichtigen Beurteilung gemacht worden ist; und diese Einsichtigkeit selbst hat höheren Wert, wenn ich in die prinzipielle Allgemeinheit übergehe und sie als Besonderung einer prinzipiellen Einsicht in die notwendige Geltung von allen Urteilen der betreffenden Urteilsart erfasse. Ich bewerte also das Urteilen. Ich urteile nicht nur überhaupt, sondern urteile, wie ich urteilen soll; und ich urteile nicht nur überhaupt, wie ich soll, sondern im „Bewusstsein“, sehend, dass ich urteile, wie ich soll. Und noch weiter: Besonders wertvoll gilt mir ein Urteilen (ich urteile „höchst gewissenhaft“, „pflichtmäßig“ im höchsten Maß), wenn ich das besondere Sollen erkenne als Sonderfall eines allgemeinen, nämlich einsehend, dass prinzipiell jedes Urteilen des betreffenden Typus so ist, wie es sein soll: prinzipiell wahres ist. Ob dieses Bewerten von Urteilen selbst richtig ist, das ist hier nicht in Frage. Darüber reflektiere ich nicht. Das gehört in eine andere Linie. Und ich bewerte nicht bloß, sondern ich handle, ich vollziehe willentlich Urteile, ich gehe auf Urteile aus, die „richtig“ sind, die wahr sind; die „Wahrheit“ ist es ja, die ich da positiv werte, und ich strebe nach Wahrheit. Ich versuche, sie praktisch zu realisieren. Und hichi strebe nach Wahrheit als ausgewiesener, als prinzipiell sich „rechtfertigender“ Wahrheit. Also ich strebe nach Urteilen, die ihre Richtigkeit prinzipiell (nach Prinzipien) ausweisen können.Aber ob dieses Streben, dieses Wünschen, Wollen, Handeln sein Recht hat, darüber reflektiere ich hierbei nicht, so wenig ich darüber reflektiere, Feststellungen darüber mache, ob richtiges Urteilen etwas an sich oder um hetwasi anderen willen „wirklich“ Wertvolles ist. Zum Wesen der Richtigkeit des Urteils bzw. zum Wesen der Wahrheit der Urteile gehören Prinzipien: allgemeinste und besondere, nach der Grundart der Urteile sich differenzierende. Das Prinzipielle
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werte ich höher: Vor der objektiven Wertbetrachtung würde sich wohl herausstellen, dass es in sich höher ist. Freilich haben wir da wieder die Rückbezogenheit: Die Feststellung des „höher und minder wert“ vollzieht sich in Urteilen, und ich suche dabei möglichst wertvolle Urteile: prinzipiell über die Werte von Urteilen. Die Prinzipien, die ich feststelle, sind selbst wieder Prinzipien, unter denen die Wertung, die ich dabei vollziehe, steht. Hat nun nicht das Werten eine besondere Stellung in den Akten, sofern ich ja überall nicht nur von „richtig“ und „unrichtig“, sondern auch von Sollen und Nicht-Sollen spreche? Wir haben parallele Richtigkeiten und Unrichtigkeiten und haben dadurch bestimmte Werte an sich. Wir w er ten das Urteilen, wir werten alle Modalitäten des Urteilens, wir werten das Werten, und zwar in verschiedenem Sinn: Wir werten die Gemütsstellungnahmen des Gefallens und Missfallens etc., aber auch das Werten im eigentümlichen Sinn, das in bevorzugenden Akten sich betätigt und seine Korrelate hat in Aktkorrelaten und speziell in Korrelaten von Gemütsstellungnahmen, die sich einordnen in Ordnungen des „höher wert“ und „minder wert“ durch Bevorzugungen, die selbst als richtig und als wert zu beurteilen sind. Wir werten dann natürlich auch das Begehren und das Wollen. Und das Werten ist bestimmt durch Richtigkeiten und Unrichtigkeiten (bzw. Rechtheiten und Unrechtheiten). Die Univer sal it ät d es Wertens geht Hand in Hand mit der Univer s alit ät des Sehens, der doxi schen Akte und dann weiter des pr ädikati ven Ur te i l ens. Und die Uni vers ali tät des Begehrens und Wollens? Allgemeiner muss ich zunächst sagen: Universalität des an Existenz interessierten Gemütsverhaltens, also Freude und Trauer in eins genommen mit Wünschen, Begehren und seinen Negativa. Aber ist das nicht unter dem Titel Werten aufgeführt? Und ist demgegenüber nicht „Werten“ etwas Eigenes? Ich habe von Schönwerten gegenüber Gutwerten gesprochen. Aber reines Werten ist nicht dasselbe wie Schönwerten. Schönwerten sei, sagte ich, unempfindlich gegen Sein und Nichtsein im Sinn der existenzialen Feststellung und der begehrenden Strebung und Wollung. Ich stelle mir etwas vor. Freilich, es steht quasi als seiend da. Ich werte das, was ich da vorstelle, rein nach seinem Was oder nach dem Wie seiner Gegebenheitsweise (Weise, wie es vorstellig ist). Ich kann aber auch sein Sein werten. Ich
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stelle mir dann vor, dass es sei, und werte das vorgestellte Sein dieses Inhalts. Aber da ist Werten etwas anderes als Gutwerten. Ich mache nicht die Hypothese, dass es sei, und sage hnichti „Wenn das wäre, so wäre es wert“, sondern ich sage „Ein Sein dieses Gehalts ist wert.“ Ich billige sozusagen wertend ein solches Sein bzw. dass das sei. Ein anderes ist die Freude, dass es sei, das Begehren, dass es sei, das in einem vorangegangenen Werten gegründet sein kann.1 Es ist also das W ert en wohl etwas Eigenes und demgegenüber das existenzial „interessierte“ Gemütsverhalten ein anderes, das Sich-Freuen etc., das Begehren, und wieder ein Neues das Wollen. Die Universalität dieser Akte besteht darin, dass ich „vorstellen“, prädikativ urteilen kann, und speziell richtig vorstellen und urteilen, weiter richtig werten, begehren und dann wollen kann (und wenn ich es schon habe, mich daran freuen kann), und ebenso dann weiter begehren kann nach richtigem Begehren, begehren kann nach Wollen und speziell hnachi richtigem Wollen. Werte ich nun das Begehren und werte ich das Wollen und werte ich als Höheres das Richtige in diesen Sphären, so ist pflichtmäßig ein Wollen, das im Bewusstsein vollzogen ist des „Ich will, wie ich soll“. Und das Wollen-Sollen besagt im Sinn dieser Wertungsrichtung ein Bewusstsein von Richtigkeit: Ich will nicht nur, sondern bin mir dessen bewusst, dass ich das Richtige will, dass So-Wollen RichtigWollen ist. Und eine höhere Wertstufe ist die, dass ich weiß, dass das So-Wollen in der Tat richtig ist, dass ich die Richtigkeit sehe und dann dem Wollen zustimme (bzw. dem „Mich-Entschließen“) aufgrund dieser erkannten Richtigkeit (so freilich nur einzeln betrachtet), und schließlich, dass ich das Prinzip der Willensrichtigkeit erfasst habe und das einzelne Wollen als prinzipiell richtig einsehen kann und einsehe. Aber schließlich: Ist die Sachlage eine andere als beim Urteil, wo wir doch eine Richtigkeit haben vor dem reflektiv wissenden und einsehenden Bewusstsein von der Richtigkeit? Der „gute“ Wille kann schon in sich selbst guter sein, ehe ich reflektiv das Wissensbewusstsein habe, dass er gut ist, und speziell das einsehende Bewusstsein,
1 Dazu © 1–4 h= Husserliana XXVIII, Beilage I: Schiefheiten in meiner Lehre vom Werten in der Vorlesung über formale Axiologie und Praktik (S. 154)i.
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und ehe ich ihn um seiner Richtigkeit willen billige, und eventuell vorher, wenn ich die Willenstendenz spüre, den Willen zunächst als problematischen vollziehe, dann seinen Wert erwäge, mich von seiner Richtigkeit und Vorzüglichkeit überzeuge, eventuell weiter nach Prinzipien, und dann den Willen aktuell realisiere und mich von der prinzipiellen Richtigkeit so gearteten Wollens (unter solchen Umständen) motivieren lasse. Und diese Motivation ist Willensmotivation, die nicht Motivation durch ein bloßes Urteil ist, sondern ich entscheide mich für den Entschluss (ich will mich so entschließen), weil ich erkenne, dass der Entschluss ein richtiger ist, und richtig wie jeder Wille dieser Artung, und weil ich den allgemeinen Entschluss fasse, überhaupt richtiges (wertvolles) Wollen anzustreben und zu vollziehen. Besser als ein einzelner richtiger Wille ist ein Wille „aufgrund“ der Einsicht in die Richtigkeit, also besser als der schlichte Wille ist der, der die Form hat: Ich will das Richtige tun, mich zum Richtigen entschließen, und da ich einsehe, dass das das Richtige ist, so entschließe ich mich wirklich dazu. Noch besser aber als der einzelne, durch die einzelne auf Richtigkeit gerichtete Wollung hindurchgehende Wille ist derjenige Einzelwille, der bestimmt ist durch den allgemeinen Willen (als „Willensprinzip“), überhaupt nur das Richtige anzustreben und zu wollen. Nun kann man aber nicht sich zum Ziel setzen, nur solches Wollen zu realisieren, das dieser Forderung entspricht, weil es leicht nachweisbar ist, dass hesi nicht möglich ist und auf heineni unendlichen Regress führt. Es ist zu scheiden das einzeln betrachtet Richtige oder Gute und das schlechthin Richtige, d. i. das im Konkurs vieler relativ guter Wollungen (nämlich einzeln betrachtet guter) – ja vielmehr aller in allgemeiner Erwägung miteinzubeziehenden – Beste zu wollen. Ich bin nicht eine Maschine richtigen Wollens und will auch nicht eine solche sein. Ich entscheide mich frei und ein für alle Mal, das Beste zu wollen, und jedes einzelne Wollen sei charakterisiert als im Sinn dieses allgemeinen Wollens liegend, als dessen durchgehende Willenstendenz erfüllend. Ist dazu aber nötig, dass ich jeden einzelnen Willensakt in der Weise einer logischen und volunthäreni Subsumtion unter den allgemeinen und formulierten Willensakt subsumiere? Nein.
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Ich verschaffe mir einen „ethischen Charakter“, einen Willenshabitus. Ich verschaffe mir ein „Willensgedächtnis“, d. i. eben einen Habitus, vermöge dessen jede Wollung im Sinn einer Tendenz ist, sie erfüllend, die, wenn ich der Tendenz nachgehe, sich ausweist als entspringend aus jenem allgemeinen Wollen. Ich „verschaffe mir einen ethischen Charakter“; nicht will ich das Wollen mechanisieren und eine Maschine des richtigen Wollens werden, sondern jener Grundwille ist Wille auf mein künftiges Willensleben in seiner unbestimmten Allgemeinheit gerichtet und ist somit eine gestiftete Tendenz – das gestiftete ethische Gewissen –, die, wenn sie stark genug ist, sich durch Abweichung sofort merklich macht (Wollung, Handlung gegen das Gewissen). Würde eine Handlung, die ethisch war, die ihre Richtigkeit auswies oder ohne Ausweis schon anderweitig als richtig gesicherte bewusst war, durch Mechanisierung in immer neuen Fällen wiederholt ohne ihren ethischen Charakter, so wäre sie wertlos, jedenfalls ethisch wertlos. Alle Handlungen müssen ethischen Charakter haben, mögen sie selbst durch ethische Reflexion hervorgegangen sein oder nicht. Wie ist das möglich? Das ist die große Frage. Die erste Frage aber: Wie ist es möglich, dem ethischen Radikalentschluss eine solche fernwirkende Kraft zu geben, dass er sich bei jeder Wollung als spezifisch ethisches Gewissen merklich machen kann (gegenüber eventuellen Spezialgewissen, die ich jetzt aufhebe durch Substituierung des allgemeinen ethischen Gewissens)? Der Wille kann in verschiedener Tiefe und Kraft vollzogener Wille sein, „Erneuerung“ des ganzen Menschen oder nur flacher Wille, schwächlicher, zum Guten. Er kann durch Erneuerung, durch Wiedererinnerung und Wiederbilligung, durch „Wiederaufnahme“ neue Kraft gewinnen und auch nachher mit höherer Kraft vollzogen werden als früher. Das sind also erste Probleme. Es ist nicht Gewohnheitssteigerung. Das neue Wollen wird durch Wiederholung leichter vollzogen, aber darum noch nicht tiefer, kräftiger. Und ist die allgemeine Tendenz nicht kräftig, so hat der allgemeine ethische Wille keine Wirkungskraft für die Einzelfälle. Das Gewissen ist dann keine große Macht. Es ist leicht, gegen die Tendenz zu wollen. Ein leichthin gefasster Wille, der nur „schwacher“ Wille ist, wird leicht durch Gegentendenzen über den Haufen geworfen. Er geht auf schwachen und lahmen Beinen. Die Gewohnheit nützt also
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nicht sehr viel, obschon sie den Vollzug erleichtert. Mehr nützt es, sich den „überwältigenden“ Wert des allgemeinen ethischen Verhaltens zur Klarheit zu bringen, in immer reicherer Anschauung, in immer neuen Füllen der Klarheit. Und so in den Wiederholungen. Also mehr leistet die Gewohnheit, diese Werte zur Intuition sich zu bringen und sich für sie in entsprechender Kraft hzui entscheiden. Und die Werte sind schon Willenswerte, sich summierend, steigernd und selbst ihre Tiefe und Kraft habend, die mit wertbestimmend sind. Dann Hilfsmittel: Richtung auf Prinzipien für ganze Klassen von Fällen, deren allgemeine Einsicht, Erfassung und entsprechende allgemeine Willensentscheidung jedem künftigen Einzelfall ohne alle Reflexion den Stempel der Werthaftigkeit verleiht, des selbstverständlich Gesollten und in seiner Gesolltheit jederzeit leicht wieder zu Bestätigenden – so wie bei Urteilen der Charakter der bekannten Geltung, der Längst-Erwiesenheit, seinen Wert hat, obwohl man sich darin schließlich täuschen kann. Dann vorgerichteter Entschluss (als Mittel für das ethische Ziel), jeden als neu charakterisierten Fall durch Reflexion, Einsicht etc. nicht nur als einzelnen zu entscheiden, sondern möglichst auf große Klassen von Fällen zurückzugehen, also aus möglichst allgemeinen (materialen) Prinzipien zu entscheiden. Da ist offenbar ein reicher Bestand von apriorischen Normen, und zwar, wie wir werden sagen müssen, von noetisch formalen. Im Ganzen war also Brent ano in diesen Richtungen schon vorgegangen und im Ganzen wohl auch auf richtigem Weg.
Nr. 52 hDer urs prüng l i che Wi l l e i n Hemmung und För derung vo n ki nästheti schen Verläufeni1
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Der Wille: die Willensthesis, das Willenssubstrat, das „Ich bewege“, das Tat-Geschehen. „Subjektives Geschehen“: das als subjektiv geschehend Vorgestellte – das subjektive Geschehen selbst. Was für ein Akt konstituiert ein subjektives Geschehen? Ein ursprüngliches, völlig eigenartiges Bewusstsein? Ein vorstellendes Bewusstsein? Aber warum soll das einen Vorzug haben? Was soll den Vorzug und die Eigenart ausmachen? Beziehung auf die subjektiv-sensuelle Sphäre. Empfindungsabläufe, mit ihnen zusammenhängend motivierte Empfindungsabläufe. Das erste Feld die ästhesiolhogischei Sphäre und erst durch Mitverflechtung von Erfahrungsakten kommt das „Ich bewege meinen Leib etc.“ und dadurch wieder „Ich bewege ein äußeres Ding“ zustande. Die „Subjektivität“ der ästhesiologischen Inhalte wie der Akte, der Vorstellungen, Urteile etc. Die Vorgänge „subjektiv“. Auf die Sphäre der Subjektivität beziehen sich „Reize“ und „Reaktionen“ auf Reize, Tendenzen, die abfließen, denen gemäß Vorgänge dann statthaben, oder Tendenzen, die „gehemmt“ werden. Wo entspringt nun das „Ich will“, das Mit-dabei-Sein des Ich, das Befördern und Hemmen? Das schon Ablaufende wird beschleunigt, befördert (Mit-dabei-Sein: wenn es ein „Liebsames“ ist und Liebsameres mit sich bringt); das schon Ablaufende wird gehemmt, ein Sich„Anstemmen“ gegen das Unliebsame. Innerhalb der Subjektivität tritt Hemmung des Ablaufs ein, und die Hemmung ist „infolge“ des sich anstemmenden Dagegen. Ebenso wie die Beförderung Beförderung infolge des fördernden fiat ist. Es fehlen da „Zielvorstellungen“? Das fiat histi nicht das „absichtliche“. Subjektive Abläufe von Farbenempfindungsdaten in eins mit kinästhetischen Abläufen. Kinästhetische Abläufe direkt zum Stillstand gebracht; oder hsie werdeni gefördert oder umgekehrt: Die Empfindungsdata werden immer angenehmer oder voll befriedigend,
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oder sie werden unangenehmer. Tendenz zur Festhaltung, zur Hemmung, zur Umkehrung. Entladung der Tendenz in kinästhetischen Verläufen. (Ursprüngliche Koordinationen? Oder überhaupt zunächst Strampeln, verschiedene – bald die, bald jene – kinästhetischen Abläufe.) Das Hinstreben und Wegstreben, das ursprüngliche Hinstreben im Verlust des eben gewesenen Lustvollen oder in der Lustabnahme bei Veränderung. Dieses Hinstreben (Zurückstreben) sich erfüllend durch gewisse kinästhetische Verläufe. Das Sich-Verflechten der förderlichen kinästhetischen Verläufe mit solchem Rückstreben: Durch sie hindurch geht es zum „Ziel“, durch andere hindurch Entfernung von dem Ziel. Also: Auszeichnung der kinästhetischen Verläufe. Erste ursprüngliche Auszeichnung: Widerstreben gegen Unangenehmes entlädt sich (was ursprünglich keine besondere Form ist) in kinästhetischen Verläufen. Auftreten verschiedener hVerläufei, darunter solcher, mit denen zugleich das Unangenehme verschwindet bzw. Angenehmes auftritt. Assoziation: Widerstreben gegen das ähnlich Unangenehme, assoziative Ergänzung, von da aus Übergang zu kinästhetischen Reihen, die mit Angenehmem assoziiert sind; „aktive“ Bejahung dieser Reihen in Form des ihnen „willkürlich“ Nachgehens. Ursprünglicher Wille, bezogen auf ursprüngliche Handlungen, kinästhetische. Das aktive Ja lässt die Handlung ablaufen, das aktive Ja führt mit sich eine kinästhetische Reihe, die im Ja abläuft, und eventuell „durch sie“ das erstrebte Angenehme oder die erstrebte Vermeidung des Unangenehmen hmit sich führti. Eventuell „nützt es nichts“. Aber erfahren wird: Der aktive Wille im kinästhetischen Gebiet „erzeugt“ kinästhetische Reihen. Das Erzeugen wird Erlebnis, das freie absichtliche Tun. Das ist ein Gebiet der praktischen Freiheit innerhalb der Subjektivität: das Gebiet des Kinästhetischen. – In der Aktsphäre: Das Sich-Zuwenden und -Abwenden im Sinn der Aufmerksamkeit, das Explizieren, Beziehen, das Sich-der-Erinnerung-Zuwenden, In-ihrLeben, Erinnerungsreihen Nachgehen, Auftauchen von Leerintentionen, Hemmung der Klarheit, Aktivität in dieser Richtung, Klarheit tritt ein. Auch hier unmittelbare ursprüngliche Aktivitäten, auf die sich später mittelbare bauen, Absichtlichkeiten mit komplexen
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Vermittlungszusammenhängen. Frage nach den Ziel- und Wegvorstellungen der primitivsten und „ursprünglichsten“ Willensakte.
Nr. 53 h Unmit tel bares Tun gegenüber w illkürlichem Tun al s s ekundärem Tun, dem eine als Reiz fungi ere nde Vorstel l ung vorausgeht. Di e Erf ahrung der H emmung als Ver nunf tm oti v für ei ne Wi l l ensverneinung i1
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Was soll das für ein reines Ich besagen, es habe einen an sich bestimmten praktischen Bereich, oder zunächst, es bestehe für dasselbe eine praktische Möglichkeit? Wir denken uns das Ich einen Willensakt vollziehend, dann ist darin das Gewollte bewusst als „vermöge“ des Wollens seinwerdend. Und denken wir das Wollen noch nicht vollzogen, so kann dem Subjekt das betreffende Geschehen vorstellungsmäßig bewusst sein als tätiges Geschehen und eben damit vorstellig sein als praktisch möglich. Jedes so charakterisierte Geschehen (in der Vorstellung vorschwebende) kann die Willensbejahung erfahren bzw. besser: die Willensposition. Ich kann mir es als Handeln vorstellen, kann die Handlung vorsätzlich setzen, kann also Willensaffirmation vollziehen oder auch ein „Ich will nicht“, ein Ablehnen. Man kann dann sagen: Um dem „Tun“ den Charakter eines willkürlichen Tuns geben zu können, brauche ich nicht irgendein Werten zu vollziehen. Es ist denkbar, dass mich die Vorstellung des Tuns zum willkürlichen Tun „reizt“, ohne dass ich im Gefühl besonders berührt bin, ohne Gefallen. – Gegenansicht: Nein, es „gefällt mir“, die Bewegung zu vollziehen, ich habe Lust, es zu tun. Ist das Handeln, das „Ich will“, das auf das vorgestellte willkürliche Tun geht, das als gefällig Bewusste oder nicht vielmehr das vorgestellte willkürliche Tun? Und gibt es nicht unmittelbares Tun ohne vorgängige Vorstellung der Willkürlichkeit? Ist jedes unmittelbare Zugreifen schon Wille zu handeln, schon vorsätzlich? Oder ist es eben noch kein Wollen und Handeln, vielmehr bloß „Tun“? Müssen wir dann aber nicht scheiden: ursprüngliches Tun und sekundäres Tun, d. h. ein Tun, dem vorangegangen ist die (anschauliche?) Vorstellung eines Tuns, die
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als „Reiz“ fungiert,1 dem in einem entsprechenden neuen Tun Folge gegeben wird? Das ist also ein Haufen von Fragen. Stelle ich mir ein Tun vor, so kann ich es willkürlich vollführen, ohne es dabei oder sein Ende zu werten. Das „Ich will das tun“, „Ich will die Hand bewegen“ ist mir dann wert, und ich will dieses Wollen und dadurch die Tat. Ich will es, bzw. ich werte es etwa zu dem Zweck, um künftig sicher zu sein, dass eine solche Tat für mich ausführbar ist. Nicht jeder Wille kommt ja erfahrungsmäßig an sein Ziel. Ich kann z. B. erfahrungsmäßig finden, dass ein „lebhafter Willensimpuls“ Beschleunigung einer subjektiven Bewegung mit sich führt. Ich kann nun im Voraus Beschleunigung wollen und in der Vorstellung verschiedener Beschleunigung eine „besondere Schnelligkeit“ wollen. Aber es geht nicht nach Belieben. Eine solche Beschleunigung würde mir gefallen, ich spreche das fiat aus, aber es geht nicht, und keine „Verstärkung der Willensimpulse“, keine „Anstrengung“ nützt etwas. Das „weiß“ ich nun, und der Wille, so etwas auszuführen, obschon er noch immer möglich ist, erfährt seine Hemmung. Was ist das für eine Hemmung? Denke ich mir t gewollt, so würde infolge des Wollens nicht das t geschehen, sondern etwas anderes geschehen, wider den Willen. Und dieser Glaube ist ein „Grund“, ein Motiv, dem vorgestellten Wollen nicht ein wirkliches folgen zu lassen in der Weise des Willens-Ja, sondern eine ablehnende These, ein Willens-Nein zu vollziehen. Und diese Motivation ist ein Vernunftakt: Es ist offenbar „vernünftig“, hier das Nein zu vollziehen. (Analog wie im Urteilsgebiet: Ich kann mir einen beliebigen Satz im Glauben denken, aber es spricht das und das dagegen; es ist anzunehmen, dass, wenn ich zur Ausweisung übergehe, sich das Gegenteil herausstellen würde. Ich sage demgemäß statt des zustimmenden Ja mein doxisches Nein.) So überall. Die Ausführbarkeit und Nicht-Ausführbarkeit, das „Ich kann“ und „Ich kann nicht“, weist also auf praktische Gegenmotive hin, die nicht die Willensbejahung, sondern die Verneinung einer erwogenen möglichen Handlung fordern.
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Müsste ich, um wollen zu können, im Voraus ein Vorstellen haben, dass das Wollen des zu Realisierenden in der Vorstellung hat, und müsste der Wille auf den Vorsatzwillen gerichtet sein, dann wäre ein unendlicher Regress unvermeidlich: W1 (VW2), W2 (VW3), W3 (VW4) usw.2 Wie geht nun der Wille auf die Handlung? Muss ich nicht, bevor ich anfange, muss ich nicht, ehe das fiat einsetzen kann, eine Vorstellung derselben haben? Man könnte folgende Auskunft versuchen: Ich stelle mir eine Triebhandlung gegen Z hin vor, und diese kann ich wollen, ich kann in Bezug auf sie mein fiat aussprechen. Zum Wesen jeder solchen Betätigung, jedes „Ich bewege“, gehört die Möglichkeit eines zu erteilenden fiat. Ich kann einen Reiz zu einer Bewegung empfinden und blind kann ich die Bewegung auslösen, das heißt, ohne dass ich überhaupt dabei bin. Sie kann sich auch auslösen, und ich „sehe nur zu“, und ich kann eingreifen oder von vornherein als wollend darin sein. Ich empfinde den Reiz und folge ihm willkürlich. Ich sage mein willentliches Ja dazu oder auch mein Nein. Ich inhibiere oder ich hemme, ich beschleunige, ändere den Veränderungsmodus etc. Vor mir habe ich also die Bewegung, das dem Trieb gemäß Sich-Bewegen. Und das hat, wenn es schon im Ablauf ist, vor sich ein Vorstellungsstück des noch nicht Abgelaufenen, der unerfüllten Tendenz. (Die Vorstellung kann sehr unklar sein und bei neu erwachenden Trieben eine völlig dunkle, unbestimmte, aber doch nicht beliebige: Nicht alles liegt in der Richtung des Triebes.) Dann also besteht keine Schwierigkeit wegen eines unendlichen Regresses. Habe ich wirklich im Voraus eine volle Handlung vorstellig, so braucht die vorgestellte Handlung nicht selbst wieder eine Vorstellung einer Handlung vorauszusetzen und so in infinitum. Wie ist es im gewöhnlichen Fall? Was ist das gewöhnliche schlichte Tun? Ich stocke im Schreiben, um nachzudenken, das Stocken ist kein eigentliches Handeln, es vollzieht sich ohne eigentliches Wollen. Ich werde etwa plötzlich bedenklich, gehe in das Nachdenken ein, das Fortschreiben wird arretiert, gehemmt, falls nicht etwa gar alles im Schreiben mir Vorschwebende nun schon niedergeschrieben ist (also zu Ende). Nun gehe ich ins Nachdenken, ich folge dem Reiz der Sachen, eine Unklarheit reizt, zu Klarheit verwandelt zu werden; die Vorgänge laufen gemäß inneren Tendenzen ab. Eventuell
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Wohl Juli 1914. – Anm. der Hrsg. Es ist aber immer Wille auf dasselbe gerichtet mit demselben gegenständlichen Inhalt. 2
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greife ich mit Akten der Willkür ein, ich will tieferdringen, ich will schneller weiterkommen, ich will abschneiden und in dieser Richtung nicht weiter gehen, sondern zum Ausgangspunkt zurückkehren etc.
Nr. 54 h D ie O bje kti vi tät der Natur und die Vor aus -Bes ti m m thei t des Erfahrungsverlaufs. D ie apri ori schen Voraussetzungen einer Wi ll ensthesi s. D i e Auszeichnung von i dealen Mögl i chkei ten des Wollens al s prakt i sche Mögl i chkeiten nach best im m ten Erfahrungsthesen i1
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Ein Urteil ist objektiv entschieden, es ist wahr oder falsch. Ein ideales Urteil, ein apriorisches: Es gehört entweder der Sachverhalt zur „Welt“ der Wesensverhalte oder nicht. Das Reich der apriorischen Wahrheit ist geschlossen und ist unabhängig von der urteilenden Subjektivität. Jedes Subjekt (das mögliches urteilendes Subjekt ist) hat die ideale Möglichkeit, alles Aprhiorischei sich zuzueignen, sich zur Einsicht zu bringen. Wie steht es mit der empirischen Sphäre? Scheinbar gilt hdorti dasselbe. Aber zum Wesen des urteilenden Bewusstseins überhaupt (auch das gehört zum Reich der idealen Welt) ist zu rechnen, dass in jeder beliebig weit oder eng zu begrenzenden Strecke seines phänomenologischen Flusses jede ideale Wahrheit eingesehen werden könnte, jeder Wesensverhalt gegeben sein könnte. Dagegen setzt die aposteriorische Wahrheit Erfahrung voraus. Wenn es eine objektive Welt der Erfahrung soll geben können, dann muss der Bewusstseinsverlauf und die Ordnung der möglichen Erfahrungen vorgeschrieben sein. Es ist a priori unmöglich, dass ein die Natur erkennendes Subjekt statt der Erfahrungen, die es hat, beliebige andere Auffassungen hätte und dass es in einer beliebigen Strecke seines Bewusstseinsverlaufs jede beliebige Erfahrung haben könnte. In meinem mathematischen Denken habe ich ein faktisches Tempo. Aber denkbar ist es, dass ich in einer beliebigen Bewusstseinsstrecke ein noch so komplexes mathematisches Gebilde nacherzeugen, eine noch so komplexe Theorie durchlaufen könnte. Worin besteht die Objektivität des Erfahrungsurteils? Es ist „an sich“ wahr, an sich falsch. Der Lauf der Bewusstseine und ihrer 1
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Erfahrungen ist ein an sich bestimmter und so, dass darin jedes Erfahrungsurteil begründet und durch den Erfahrungslauf selbst ausgewiesen werden könnte; aber nicht durch den Erfahrungsverlauf eines einzelnen Individuums, sondern hier sind wir verwiesen auf das intersubjektive Bewusstsein. Ideal möglich ist für das einzelne Bewusstsein eine beliebige Fortsetzung des Erfahrungsverlaufs. Ideal möglich ist also, dass jedes willkürlich konzipierte Erfahrungsurteil, wenn es nur gegen kein logisches oder materiales Apriori verstößt, sich bestätigt – und so also beliebig viele als Erfahrungsurteile, die auf eine Natur sich beziehen, unverträgliche Urteile. Freilich sind hier große Probleme zu lösen. Ist es absolut notwendig, dass es eine Natur gibt? Ist es absolut notwendig, dass für jedes individuelle Bewusstsein der Bewusstseinsverlauf a prhiorii bestimmt ist, also im Voraus, weil an sich bestimmt, was weiterhin und so in infinitum in diesem Bewusstsein auftreten müsse? Kann es keinen Zufall geben? Wie hängen nun diese beiden Sachen zusammen: 1) Der Bewusstseinsstrom meines Ich ist absolut vorbestimmt. Es ist jede „Wahrheit“, die sich auf den künftigen Verlauf bezieht, zu begründen; es gibt eine auf den Inhalt des künftigen Bewusstseins nach allen seinen Daten bezogene objektive Wahrheit und demnach eine ideale Möglichkeit der Begründung dieser Wahrheit. 2) Die bewusstseinsmäßig erscheinende, gesetzte, gedachte Natur hat ihre Objektivität. Es gibt auf sie bezogen objektive Wahrheit, die ihren künftigen Inhalt und Verlauf betrifft nach allem und jedem. Jedes Natururteil ist definit, ebenso wie oben jedes Bewusstseinsurteil. In der idealen doxischen Wesenssphäre (in der Sphäre des apriorischen Urteilens) bewege ich mich im rein ideativen bzw. reinen Allgemeinheitsbewusstsein, zu dessen Vollzug als Unterlage bloß anschauliches Vorstellen gehört mit seinen intuitiven Möglichkeiten, die keine Erfahrungsthesis einschließen. Das jeweilige Urteil, das da a prhiorii sein soll, schreibt durch seinen Sinnesgehalt alles vor; zum Wesenssatz gehören entweder Möglichkeiten intuitiven Vollzugs oder Widerstreits, eventuell durch Eintritt in umfassendere Wesenszusammenhänge. Gehen wir aber in den Kreis der Erfahrungsurteile, der Urteile über ein faktisches Sein, so fordern sie eben aktuelle Erfahrung; es genügt nicht „bloße Vorstellung“, um da Möglichkeiten zu entneh-
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men und daraufhin Wirklichkeiten hausizusagen. Nur Wesenszusammenhänge, aprhiorischei, kann ich hier zur Aussage bringen, nie aber Aussagen über Tatsachen. Die Wahrheit hängt also nicht am bloßen Sinn des Satzes bzw. nicht an der bloßen Idee des betreffenden Urteils, sondern nur Erfahrung, wirkliche Erfahrung (Wahrnehmung, Erinnerung) kann die Zustimmung oder Ablehnung „begründen“, das heißt, notwendig muss sie mitwirken. Ist es nicht meine Erfahrung, so muss es die Erfahrung eines anderen sein, der ich zunächst meine Zustimmung gebe, die ich übernehme, der ich Vertrauen schenke, was wieder Erfahrungsthesis (fremden Leib, fremde Existenz etc.) voraussetzt. Alle Tatsachenurteile, alle Urteile, die entweder unmittelbar Dasein behaupten oder es mittelbar tun, genauer, die, ohne gegebenes Dasein bloß auszudrücken, irgendwelches individuelles Sein behaupten, bedürfen der Begründung durch Erfahrungen. Wo aber (da alles individuelle Sein objektiv Zeitliches ist) auf Künftiges bezügliche Daseinsbehauptungen – seien es Behauptungen über singuläres Sein oder Gesetzesbehauptungen – ausgesprochen werden (Gesetzesbehauptungen für alle Zeit überhaupt, die keine Wesensgesetze sind), da besteht immerfort die Möglichkeit des Andersseins, des „Es stellt sich anders heraus“, der nachträglich zu motivierenden Negation der schon auf gute Gründe hin vollzogenen Affirmation. Gehen wir nun ins praktische Gebiet über. Der Wille bzw. das Handeln ist bezogen auf einen Daseinshorizont, und zwar auf ein Willenssubjekt, auf sein jeweiliges Jetzt und auf den vom Jetzt auslaufenden Zeithorizont, der ein Horizont möglichen Daseins ist. Es ist selbstverständlich eine apriorische Möglichkeit, dass das Willenssubjekt sich bezogen weiß auf eine objektive Raum-Zeit, dass es als Feld seiner praktischen Tätigkeit vorfindet einen eigenen Leib, eingeordnet in eine Natur, die nun selbst, wenn auch beschränkt, Feld seiner möglichen praktischen Tätigkeit ist usw. Es fragt sich aber, wieviel von all dem apriorhischei Notwendigkeit ist. Es fragt sich, was a priori zu einem künftigen Dasein gehört, das den Charakter eines im Wollen Erzeugbaren haben können soll. Es muss natürlich und a prhiorii so etwas wie unwillkürliches „Tun“ schon geben, damit willkürliches möglich ist. Jedes solche Tun ist mögliches Substrat einer auslösenden Willensthese, und jedes schlichte Handeln, das nur vorstellig ist, kann dann zu einem vorsätzlichen Tun und Unterlassen Anlass geben (Bejahung, Verneinung).
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Was die Vorstellung von „Ausführbarkeit“ anlangt, Vorstellungen eines „Ich kann“ mit dem Gegensatz „Ich kann nicht“, so sind sie aufeinander bezogen. Etwas ist ausführbar, ich kann darauf rechnen, dass kein Widerstand sie aufheben, dass sie nicht misslingen, dass ein „Es geht nicht“ nicht dazwischen kommen wird. Das setzt also Erfahrungen vom Misslingen voraus bzw. Erfahrungen vom Gelingen. Die bestimmte vorgestellte Handlung ist erfahrungsmäßig charakterisiert, so dass ich dazu sage „Ich kann das“, „Wenn ich das will, so geschieht es und wird nicht misslingen.“ Bei anderen bin ich in dieser Hinsicht zweifelhaft. Wenn ich das will, so gelingt es vielleicht, vielleicht auch nicht: Erfahrungsmäßiges spricht für das Auftreten von Hemmungen, irgendetwas. Es sind nicht leere Möglichkeiten, bloße Vorstellbarkeiten, die hier heine Rollei spielen. Durch das eigene Wesen des Willensaktes als Thesis eines Tuns bzw. als Thesis eines künftigen Seins, eines künftigen Werdens, sind keine praktischen Möglichkeiten vorgezeichnet; vorgezeichnet sind nur ideale Möglichkeiten, und vorgezeichnet ist für die Möglichkeit einer Willensthesis nur das Selbstverständliche, was der „Sinn“ der These impliziert, der „Gehalt“ des Wollens, die „Materie“ (in meinem Sinn). Nicht jedes vorstellbare Sein kann gewollt sein. Ein Ding kann nicht gewollt sein, es sei denn als so und so geworden, als Ende eines Erzeugens, eines Werdens zunächst. Zum Wesen der Willensthese gehört es, dass sie entweder These eines Werdens an sich ist oder These eines Werdens als Endglied eines anderen Werdens, das selbst eine vermittelnde These, heinei Durchgangsthese hat, oder These eines Seins histi als eines Gewordenseins (eines künftigen Gewordenseins), als Ende eines Werdens, das selbst von einer Durchgangsthesis getragen ist. Und nicht jedes Werden kann willensthetisches Werden sein: Es muss den Charakter des subjektiven, tuenden Werdens haben. Dieser Charakter lässt sich zwar jedem Werden andichten, aber es muss ihn haben, um die Willensthesis annehmen zu können. Es sind dann weiter apriorihschei Möglichkeiten der „Hemmungen“, „Widerstände“ zu entwerfen, und zwar zunächst Möglichkeiten der Hemmungen der subjektiv tuenden Geschehnisse und demgemäß Möglichkeiten der Willensenttäuschung, hdiei das Vorkommnis eines Handlungsverlaufs – d. i. ein Tun oder mittelbar eines durch Tun Geschehens – gegen den Willen mit sich führt. Weiter aprhiorischei Möglichkeiten eines erfahrungsmäßigen „Wissens“ von praktischer Un-
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möglichkeit, Unfähigkeit und zugehörige Motivationen der Willensverneinung und im entgegengesetzten Fall der Willensbejahung, also aprhiorischei Möglichkeiten der Konstitution von Gegen-Ständen als Widerständen, von erfahrungsmäßigen Möglichkeiten der Überwindung von Widerständen durch Willensanstrengung, durch Änderung der Wege zu dem gewollten Ziel hin usw. Aber wenn wir von einem bestimmten Wollen, aber als idealer Möglichkeit, von einem bestimmten ideal möglichen Vorsatz ausgehen, so sind alle diese Möglichkeiten so lange leere Möglichkeiten und sind mannigfache leere Gegenmöglichkeiten ebenso gut zu entwerfen, als nicht bestimmte Erfahrungsthesen eine Auszeichnung geben. Es ist ebenso wie in der puren Glaubenssphäre, wo wir zwar durch einen Tatsachensatz, vermöge seines Sinnes, eine Tatsächlichkeit auszeichnen, aber, selbst wenn wir schon damit eine Natur setzen, wir doch unzählige reale Möglichkeiten offen haben, die erst aktuelle Erfahrung mit ihren Motiven begrenzen kann. Und objektiv: Gibt es eine bestimmte Natur, der sich alle Tatsachen einordnen, so ist jedes Tatsachenurteil von vornherein entweder wahr, d. i. der Natur gemäß (die Tatsache ordnet sich der Natur ein), oder falsch: Die vermeinte Tatsache steht mit Tatsachen der Natur in Widerstreit. Aus dem bloßen Wesen des Urteils (des Satzes) ist aber nicht abzunehmen, dass es eine Allnatur im angegebenen Sinn geben muss. Vielleicht gibt es gar keine „Natur“. Ist denn das eine aprhiorischei Notwendigkeit, dass es Natur geben muss? Jedes objektive Erfahrungsurteil, aber auch jedes gewöhnliche empirische Einzelurteil oder allgemeine Urteil setzt die Existenz der N atur sc hon voraus in der Art, dass Natur erscheint und nicht bloß das einzeln Besagte erscheint (und gesetzt ist). Eine umfassende Natur „steht da“, ist gesetzt, mit unbestimmten Unendlichkeitshorizonten, aber mit einem Sinn, dem gemäß sie eine in sich bestimmte, nur für uns unbestimmte individuelle Tatsache als Alltatsache ist. Und auf diesem Grund vollziehen wir einzelne Thesen, einzelne Ansätze von Hypothesen etc. Ich spreche in dieser Hinsicht von einer Generalthesis. (Es ist übrigens zweifelhaft, ob der Sinn dieser Thesis schon einschließt Thesis einer „objektiven“ Natur, die dem Prinzip der Definitheit genügt! Die Anwendung des Satzes vom Widerspruch, vielmehr hdesi ausgeschlossenen Dritten auf die Natur bzw. der allgemeine Anspruch des Prinzips für jedes Urteil überhaupt
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ist also pr obl emat is ch. Man darf nicht mehr hineinlegen, als was das formale Gesetz fordert. Also nicht ohne weiteres, dass, wenn ein Sachverhalt in der Natur nicht besteht, ein anderer Sachverhalt bestehen muss in ihr, der diesen aufhebt. Dem Satz vom Widerspruch ist auch genügt, wenn es gar keine Natur gibt.) Es ist nun die Frage, was dazugehören würde, damit gesagt werden kann, es gebe zu einem Ichsubjekt objektiv einen abgeschlossenen Bereich seiner praktischen Möglichkeiten in jedem Punkt seines Daseins und demgemäß ein absolut praktisches Gut. Also es sei objektiv entschieden, ob das Subjekt, wenn es überhaupt will, das in Relation zu ihm Beste will, und dieser Wille sei dann „objektiv gefordert“. Wir können dieselbe Frage für die Möglichkeit eines göttlichen Willens stellen. Gott soll einen abgeschlossenen praktischen Willensbereich haben, einen einheitlich übersehbaren mit einem höchsten praktischen Gut, dem „unendlich vollkommenen“ Gut, genauer dem höchsten praktischen Gut, das ein Willenssubjekt, welches auch immer, haben könnte. Ist die Bedingung der Möglichkeit dafür nicht eine objektive Natur überhaupt? Ist so etwas wie eine Natur nicht schon Voraussetzung eines vollkommen geschlossenen praktischen Bereichs mit einem relativ zu dem Subjekt höchsten praktischen Gut? Wo ist die Grenze der formalethischen Erwägung?
E. MODI DES STREBENS, FORMEN DER AFFEKTION UND FREIE ICHAKTE. HEMMUNG UND MODALISIERUNG
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h Die Er f üll ung sg e s t a l t e n de s p o si t i v en u nd n ega ti ve n St rebe ns . Spa nnung sz u st än d e un d ihr e L ösun g . Pr oze s s e d e r L u st a b n ah me , Lu sterh al t ung und L ust s t e i g e ru ng u n d d a s d am i t verb un d e ne pos i t i v e und ne g a ti v e St re b e ni1
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Das n egat i ve St r e b e n ist auf sein Ziel nicht positiv „hin“gerichtet, sondern von ihm weggerichtet. Wir müssen hier auch von Z i el sprechen als dem P ol, von dem das Streben weggerichtet ist. Das Ziel positiven Strebens ist Anziehungspol, Hinstrebungspol, das des negativen der Wegstrebungs-, Abstoßungspol (Gegenpol histi natürlich immer das Ich). Die Erf ü l lu ng sge s tal t en de s Str ebe ns. Das positive Streben hat seinen Endzustand der Fülle, in dem sein Ziel, das bei ihm den Charakter des terminus ad quem hat, im Zustand der Lust, der Freude als Wert genossen und gegeben ist. Das unerfüllte Streben birgt in sich die Vorstellung des Zieles (die unenthüllte oder enthüllte), aber nicht den Glauben, dass es jetzt sei. Und der Vorstellung entspricht die vorgestellte Wertung, die antizipierte oder quasi antizipierte. Es gehört dazu die Möglichkeit einer Vorstellung, in der das Ziel als mögliches und dann als erfreuliches, lustbringendes bewusst ist. Aber nicht Vorstellung im Sinne von einer Erkenntnis (nicht urteilende). Der Füllezustand der Lust, der Freude ist einerseits der Glaube, es sei das Ziel, und andererseits die Freude daran. In der Unterlage der Freude Unterschiede: Der Gegenstand ist original
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© Springer Nature Switzerland AG 2020 451 U. Melle, T. Vongehr (Hrsg.), Studien zur Struktur des Bewusstseins, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke 43-III, https://doi.org/10.1007/978-3-030-35928-7
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gegeben, er ist erinnert halsi gegeben gewesen, oder er ist erwartet. Ferner, er ist schlichter Gegenstand oder Sachverhalt und ist eventuell bloß als seiend geglaubt in einer positiven Modalität der Vermutung, der empirischen Gewissheit, ohne dass er wahrgenommen, erinnert oder erwartet ist. Das alles muss näher durchdacht werden und herigibt Unterschiede der Füllezustände. Ferner, es kann etwas eintreten, ohne vorher erstrebt hgeweseni zu sein, aber was mit Lust erfüllt, woran man seine Freude hat. Hier haben wir hinsichtlich der „Vorstellung“ (der Objektivation) Wahrnehmung und darin immerfort den satten Jetztpunkt (die satte Wahrnehmung) mit vorgerichteter Erwartung, Antizipation des Kommenden. Demgemäß ist die Lust satte Lust im Jetzt und in eins antizipierend-begehrendes Streben; das genießende Ich öffnet dem Kommenden die Arme, und kontinuierlich erfüllt sich die begehr ende Pr otent i on in eins mit der Erfüllung der vorstellend-ur teilenden. Dabei tritt hinsichtlich des Prozesses der Erfüllung und je nach seinen Möglichkeiten ein Gefühl und Streben zweiter Stufe hinzu.1 So wie jede objektivierende Anschauung und speziell auch die originär gebende Anschauung ihre ursprüngliche Phase (Urimpression in der Wahrnehmung) hat, die allein satt ist hinsichtlich der Fülle und im Übrigen, konkret genommen, leere Vorgriffe und Rückgriffe hat, so das w er tende Bewusstsei n, das kein bloßes Anschauen ist, sondern Anfühlen, Genießen (als aktuelles, vom Ich her strebend). Gegenüber dem genießenden, dem Füllezustand oder actus der Lust haben wir konkret den Zustand der Unerfülltheit, das bloße, zuständliche oder aktive, unerfüllte Streben, Begehren als Hinstreben auf Lust, auf das Erfreuliche als solches, das noch nicht da ist und noch nicht in Freude genossen ist. Andererseits: Das negati ve Streben und der negative Füllez us tand des G em üts. Dieser ist die Unlust. Unlust, Sc hmer zer leben ist ein Wi derstreben in der Fülle erleben. Das protentionale Widerstreben, das hier mit der Vorerwartung kontinuierlich mitgegeben ist, in der dauernden Zuständlichkeit hat den Charakter der Angst, Furcht vor dem Kommenden, allerdings im
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Anschauung = actus der Objektivierung; Genuss = actus der Wertung
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Modus der Gewissheit, dass es kommt. Wie das leere positive Streben aufgrund der objektivierenden gewissen Erwartung des Kommens Hoffnung ist, so hier im gleichen Fall Furcht; und im Übrigen die analogen Modalitäten des negativen Strebens bei Modalisierung der Gewissheit. Der positive Erfüllungsprozess: Erfüllung der Hoffnung, Eintreten des Erhofften, Freude, eventuelle Steigerung in der Sattheit der Erfüllung und Gefühle höherer Stufe. Der negative Erfüllungsprozess: Erfüllung der Furcht, erfülltes Widerstreben im Schmerz. Andererseits, dem Erfüllungsprozess steht gegenüber der Entleerungsprozess: statt dass ich herankomme, näherkomme, das Erhoffte erreiche, die Lust standhält, sich steigert, htritti das Umgekehrte heini. Besondere Fälle, darunter die diskrete Enttäuschung, fundierte Gefühle des Bedauerns, Unfreude an der Entleerung. Umgekehrt: Entleerung des Widerstrebens, Entsättigung, bringt Freude. Bei negativem Streben umgekehrt. Das negative Streben ist von verschiedener möglicher Sattheit, und das sagt, im Erfüllungszustand ist die Unfreude, Unlust, von geringer Unlustintensität. Das Entschwinden der Unlust als Schmerz ist negative Entleerung, die aber statt des Vermissens, statt der Unbefriedigung eine wohltuende Beruhigung, Entspannung mit sich führt. Im Prozess allmählicher Abnahme der Unlust haben wir eine steigende Lust an der Abnahme, an der schließlichen Befreiung von der Unlust und weiter an der Entfernung. So hängen also die Sachen zusammen. Spannung ist jedes Streben. Der Spannungszustand Null beim positiven Streben: Die Gelöstheit ist die Lust bzw. Freude. Im Genuss bin ich bei der Sache selbst und nicht auf sie gespannt. Die Protention als Vorerwartung ist unerfüllte Spannung, aber alsbald schon sich erfüllende. Sie steht dem Limes Null an Spannung nahe. Für die weitere Strecke wären manche Möglichkeiten zu bedenken. Der Null-Zustand des Widerstrebens. Hier ist zu sagen: Die Erfülltheit ist nicht Null der Spannung, Gelöstsein der Spannung. Beim negativen Streben, dem Widerstreben, ist die Spannung am größten in der Unlust, im negativen Genießen. Und ist es von maximaler Sattheit (eine Idee), so hätten wir nicht ein Unendliches, sondern ein negatives Null, ein Gegen-Null als absolutes Spannungsmaximum. Doch ist natürlich auch ohne absolute Sattheit schon Sattheit überhaupt ein Null. Hier ist also mehreres zu beschreiben. Entleerung ist Entspan-
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nung. Freiwerden von Schmerz (im Genuss) ist ein Grenzpunkt und dann „Entfernung“ vom Schmerzvollen mindert noch die Spannung, bis das Befürchtete so weit aus dem Weg liegt, dass es nicht mehr Furcht macht. Doch hes bestehti auch die Möglichkeit, dass es nicht mehr heini Genießen ist und zugleich ein Glauben eintritt, dass es aufhöre zu sein. Jedenfalls haben wir wieder mehrere Möglichkeiten, und den Nullpunkt der Spannung. Etwas anderes sind die G rade der Affektion und die Hingabe im Gefühl, die der Aufmerksamkeit auf die Sache entspricht, aber selbst eigene Gradualitäten hat. Genießend bin ich hingegeben, ich kann aber intensiver oder minder intensiv genießen, bei gleicher Intensität der Sattheit der Lust und Unlust. Pr oz es s e. Die Lust, die ich genieße, nimmt ab, „leider“. Das sagt aber nicht, ich habe an dem betreffenden Gegenstand Unlust. Ich habe ja noch Lust, aber ich vermisse etwas. Die Lust ist nicht genug, das Luststreben ist immer mehr unbefriedigt; meine Befriedigung nimmt ab, Unbefriedigung wächst oder erwacht und wächst. Wie steht es da mit Gefühlen, die dadurch in zweiter Stufe begründet werden? Ein Abfall der Lust, diskret oder stetig, besagt eine Lust mit steigendem Langen nicht nur nach Fortsetzung der Lust, sondern nach Steigerung. Dieser Prozess des Abfalls und der Abfall selbst sind selbst unlustig. Ein Gegenstreben erwächst, gegen diese Abnahme gerichtet: Wir haben also ein positives Streben auf Steiger ung der Lust, auf eine Lust, die wie früher befriedigt, und ein negat ive s Streben gegen die Abnahme der Lus t. Pr oz es s e der Lus t erhal tung i n gl eicher Höhe, die nichts vermissen lässt. Reiner Genuss ohne Antizipation eines höher en Lus tzust andes. Prozesse der Luststeigerung: Solange ich noch einen Steigerungshorizont habe, geht mein antizipierendes Streben dahin. Der steigende Genuss begründet Freude an der Steigerung selbst, und in fortgesetzter Steigerung erfüllt sich die Intention auf Erhaltung dieser angenehmen Tatsache. Das ergibt auch Genuss zweiter Stufe. Das Tempo kann aber sich noch steigern etc. Das alles fand von selbst statt. Der Gegenstand sei nun schmerzlich. Das Negativum von Genuss. Gegenfreude gleich Gegenstreben, negatives im Zustand negativer Fülle, so wie die positive Lust positives Streben im Stadium positiver Fülle ist.
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Wird die Fülle weniger satt, so sagt das, es ist noch erfülltes Streben, aber weniger erfülltes, und im Prozess sich entleerendes und bei Entleerung positiven Strebens erwächst notwendig Unfreude an der Entleerung. Die Entleerung führt zur vollkommenen Leere und von 5 da an zur mittelbaren Entleerung, Entfernung; hes tritti das Vermissen heini und das Vermissen zweiter Stufe, das Verschwinden des Wertes überhaupt und das Entschwinden in immer größere Fernen. Ein hmöglicheri Fall: Verschiedene Stufen der Sattheit, aber so, dass man befriedigt ist in der Zuständlichkeit der Stufe.
Nr. 56 hDer Tr ieb und sei ne Modi . D ie Realisierung als Tr iebm odus i st kei ne Stel l ungnahme. Der E nts chlus s al s prakti sches Ja oder Nein zu einem prak ti sc hen Anschl ag al s das eigentliche fiat. Ents chlu ss und ei gentl i che Handlungi1
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Tr ieb gleic h Neigu ng. Das Objekt affiziert, zieht heran, anziehend. a) Das Objekt da; b) das Objekt unanschaulich: dunkler, aber gerichteter Trieb, individuell gerichtet. Unbestimmt-allgemeiner Trieb, speziell z. B. logischer Trieb, Trieb zur Entscheidung eines Zweifels, herausbekommen, ob A oder B. Trieb, A (die Meinung, A sei) klarhzuimachen, hzui begründen, die Überzeugung ist da, aber es ist auch etwas da, was sie gefährdet, sie bestreitet, innerlich unruhig macht. Trieb, diese Gegenmotive einsichtig zu durchstreichen, als solche zu beseitigen. Zu jedem Trieb zwei Modi: 1) der Trieb hin, positiv anziehend; 2) der Trieb weg, negativ abstoßend. Ferner: Zum Trieb gehört eine Gradualität der Spannung. Die Neigung kann größer oder kleiner sein, kann auch kleiner werden (unabhängig von der Realisierung, die hier nicht in Frage kommen soll). Ferner: Ein Trieb kann Trieb zur Zuwendung sein und in Zuwendung sich „realisieren“. Jeder andere Trieb führt mit sich den Trieb zur Zuwendung zum „Gegenstand“ des Triebes oder die Wandlung des Triebes in den Modus, in dem das Ich in ihm sich „richtet auf das Ziel“. Ferner zwei Modi: Die Realisierung des Triebes, Trieb in Realisierung; der Trieb ohne Realisierung, Trieb als bloße Intention. Dabei wieder zwei Modi: Das Ich folgt der Neigung, es gibt realisierend nach, es ist das realisierende Ich, vom Ich geht als wachem Ich die Realisierung aus, oder das Ich ist „nicht dabei“, sondern etwa bei anderem.
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Sommersemester 1919. Seminar hüberi Kants Ethik.
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Realisierung ist ein Triebmodus und hat einen Einsatzpunkt der Inszenierung (eventuell des „Ich gebe nach“), und jeder weitere „Punkt aktueller Realisierung“ ist eine Modifikation des Einsatzpunktes und hat den inneren Verwirklichungscharakter, nur nicht den des Einsatzes. Strecke der realisierten Dauer mit realisiertem Triebgehalt, Strecke mit unrealisiertem hTriebgehalti: hmiti befriedigter – unbefriedigter Intention (Triebintention). Die Reali si erung i st kei ne Vernunftthesis, keine Stellungnahme. Das „fiat“ ist keine Bejahung und hat sich gegenüber keine Verneinung. Die Frage bleibt: Was ist da das Dem-Triebbewusst-Widerstehen, hdas Sichi-das-fiat-Versagen? – Das hat sich gegenüber das Dem-fiat-Ja-Sagen. Also eine doppelte Stellungnahme. Das wird gleich klar werden. Eine Realisierung als Realisierung einer Neigung (also selbst Neigung in dem Realisierungsmodus) hat sich gegenüber eine andere Modalität der Neigung, nämlich ich kann, während ich in der Neigung lebe, den Ansatz haben, der hypothetisch sich ausdrückt: gesetzt, dass ich dem folgte, gesetzt diese Realisierung. Ich habe dann nicht Realisierung, sondern Ansatz, Hypothesis. Aber es kann noch mehr sein: Ansatz im Modus des „Ich könnte“, ich habe das Bewusstsein einer praktischen Möglichkeit, eines praktischen Anschlages. Zu einem praktischen Anschlag kann ich Ja sagen, das praktische Ja. Das ergibt einen Entschluss. Das Ja geht auf das Moment der Verwirklichung, in seiner Kontinuität von Modalität, durch den Ansatzpunkt in die Erfüllungsreihe hinein. Das macht das eigentliche fiat mit seinen entsprechend parallelen Modi. Dem praktischen Ja steht gegenüber das praktische Nein, der negative Entschluss. Entschluss ist Affirmation und Negation von angesetzten und im Modus des „Ich kann“ bewussten Realisierungen von Neigungen. Doch pflegen wir Entschluss und Handlung oder auch Wille und Handlung zu scheiden. Der Ansatz kann wie schon der Trieb und irgendeine Realisierung von einem Gegenwärtigen und Gegebenen ausgehen oder von einem Künftigen. Alle Zukunft liegt zwar im Horizont der Gegenwart, aber der Trieb, die Neigung geht auf ein Geschehen, auf ein Anderssein in der künftigen Zeitstrecke, wie wenn ein auftauchender Gedanke eines morgigen Konzerts den Trieb erregt und zum Triebziel in der Form wird, dabei zu sein, morgen. Dann gehört zum Trieb eine Rückstrah-
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lung bis zur Gegenwart: Der Trieb weitet sich zum Trieb, von heute bis morgen so zu leben, dass ich morgen dabei bin. Realisierung kann erst morgen einsetzen, ich gehe hin usw., und heute geht der Trieb eventuell hemmungslos über in die antizipatorische Realisierung. Ich folge, ich gebe nach, ohne weiteres. Das ist kein Entschluss. Es ist aber ein Entschluss da, wenn ich das „Ich gebe nach“, sei es in der antizipatorischen Form, sei es in der Form des Ansatzes „Ich werde das morgen realisieren“, im Bewusstsein des „Ich kann“ hypothetisch setze und mein Ja sage; ich entschließe mich: Morgen werde ich, ich will es realisieren. Dem Entschluss entspricht (als voraufgehendem, auf Zukunft gerichtetem Willen) die eigentliche Handlung. Der betreffende Zeitpunkt ist nun da, und ich realisiere nun nicht den bloßen Trieb, sondern ich vollziehe das Ja des früheren, jetzt wieder bewussten und festgebliebenen Entschlusses; ich löse das Ja ein in der Realisierung. Willensbefriedigung also zugleich Befriedigung der Neigung, das Ersehnte, das, dazu ich Neigung habe, was mich anzog, ist jetzt wirklich da, in Folge der Realisierung. Jede Neigung geht auf „Lustvolles“, die Abneigung auf „Unlustvolles“, nämlich: Ihre Realisierung (durch mich, die subjektive) bringt die Befriedigungslust. Das Wirklichwerden dessen, wozu ich Neigung habe, ist angenehm, das Wirklichwerden des Gegenstandes der Abneigung unangenehm. Diese Lust kann selbst, nachdem sie bekannt geworden histi, Neigungen bestimmen, ich sehne mich nach einer Befriedigungslust als solcher.
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N eigung, Leidenschaft, Tri eb, Bedürfnis. Der Mensch als Subjekt von Bedürfnissen, von Trieben. Was ist der Unterschied z w is chen s ons ti gen G efühl en und Triebgefühlen? Wenn ich mich an einem Schönen freue, so braucht gar kein Trieb dabei im Spiel zu sein. Wenn ein Trieb sich befriedigt, so ist das Befriedigende Gegenstand eines Gefühls. Aber dieses Gefühl braucht mit dem Gegenstand weiter keine Beziehung zu haben. Gefühle können Übertragungsgefühle sein und in sich charakterisiert sein als Gefühle um eines anderen willen, und das in sozusagen rationaler Weise. Triebgefühle heften sich an den Gegenstand und haben dabei auch den Charakter von intermediären Lüsten, die nicht das „Letzte“ sind. Jede Lust, die Trieblust und Endlust zugleich ist, ist als das auch charakterisiert. Und doch hat all das als Triebgefühl, vermittelndes und Endgefühl, seinen Charakter. Und auch da ist nicht etwa die Endlust selbst das Ziel, sondern sie gehört zu dem Gegenständlichen, und gerade diesem, und keineswegs ist eine gleiche Lust als Endlust in diesem Sinn charakterisiert (so im Geschlechtsakt und demgegenüber die selbstbefriedigende Lust). Es ist aber ein ganz anderer Charakter, wenn ich in wertenden Gefühlen Mittel- und Endgefühle habe. Diese Gefühle sind nicht blind und selbst wenn sie keine Wertnehmungen sind, haben sie einen total anderen Charakter. Die Trieblust zur Speise – eigentlich wäre dann hderi Gourmheti eine Verfälschung. Die triebhafte Mutterliebe, haben wir da nicht eine Verbindung von beidem? Die Mutter kann auch sehen, dass das Kind ein Wert ist an sich. Vielleicht könnte ich auch den Wert, der jedem natürlichen Trieb zugrunde liegt, erkennen. Dann würde diese Erkenntnis den Trieb „adeln“. Es gibt auch Triebe der Gewohnheit: Ich werde zur gewohnten Zeit unruhig etc.2 1
Wohl um 1920. – Anm. der Hrsg. Ein Trieb kann intensiv angespannt sein, leidenschaftlich, er kann auch nicht gespannt sein. Aber er spannt sich, wenn er unerfüllt bleibt, immer stärker an. Er wird leidenschaftlich. Das Vermissen eines Wertes bedingt Wunsch, aber noch nicht Leidenschaft, hso beii rationalen Wünschen. 2
Nr. 58 h Rati onales H andel n gegenüber Handeln aus Neigung . Rati onal e wertnehmende Li ebe und ih re Kraft. Wi l l ensschwäche: das für das G ute gel ähm te Willens-Ichi1
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„Ein Handeln aus Neigung ist ethisch unwert, kann nicht tugendhaft sein, ist das Gegenteil von ethisch Gesolltem.“ Darin liegt: Ein Tun in Passivität des Nachgebens ist für den Menschen ein Unwert, wofern dieses Tun nicht versehen ist mit dem „Stempel“ des Erlaubten, Zugelassenen aufgrund früherer Erwägungen und Wahlen, die für die betreffende Klasse von Neigungen und für die betreffenden Handlungslagen die Zulässigkeit oder Gebotenheit herausgestellt haben; ihnen folgt das praktische fiat (das dem „zulässig“ folgt). Ferner, es heißt allgemein: Man kann auch „in der Leidenschaft“ einem minder Guten (für minder gut Erkannten) nachgeben. Die bewusstseinsmäßig gegebene (wirklich erkannte oder gemeinte) Werthöhe ist die, dass a niederer, b höherer Wert ist, aber der Werthöhe entspricht 1) nicht ohne weiteres die Intensität des „Triebes“, die „Leidenschaft“, die Größe des „Dranges“, die Kraft der Affektion, und 2) selbst wenn das der Fall wäre, so wäre das Handeln einfach nach dem Trieb, das heißt, sich dadurch motivieren hzui lassen, kein rationales Handeln, somit kein ethisches, denn das fordert rein rationale Motivation, rein durch den Wert. Der Wille ist keine Gegenkraft derselben Art, wie zwei Affektionen, Triebe gegeneinander wirken. Der Wille „kann“ jederzeit, was ein noch so großer Trieb erwirken möchte (indem er entweder Gegentrieb ist oder Trieb für ein damit unverträgliches anderes), und kann es in rationaler, rein rationaler Motivation. Er hat seine Weise, durch gegenstehende Affektion gehindert zu sein und die Hinderung zu überwinden, und wenn er eintritt, ist der Wille dann oft nicht „standhaft“. Der Wille hat eine eigene Kaphazitäti der Standhaftigkeit, und je nachdem ist er tiefer oder oberflächlich im Ich verwurzelt. Das Ich ist gehindert, wenn es durch den Lärm der Leidenschaft als rationales Willens-Ich blind wird, es dringt die Stimme des „Ich soll“ nicht zum innersten Ich vor. Wie ist das zu verstehen und wie 1
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die Möglichkeit der Überwindung der Hindernisse? Das Ich in der rationalen Liebe, zunächst in der rationalen „wertnehmenden“ Liebe hat verschiedene „Liebeskraft“; es kann sich dem geliebten Wert mehr, innerlicher hingeben, fester, reiner den Liebesblick darauf richten, mit größerer Ausschließlichkeit, den blinden Trieb fortweisen, ausschalten, oder mit geringerer. Im Trieb leben hat ebenso „Intensitäten“, schon vor dem Nachgeben, ich bin mehr oder minder erfüllt davon, ich kann Subjekt des Triebes sein oder wegsehen, nicht dabei sein und rein dem Geliebten hingegeben. Dem Wert folgen ist nicht dem Trieb nachgeben, sondern dem Rationalen Folge geben, rational praktisch motiviert sein. Doch das alles sind unzureichende Beschreibungen. Beschreibung ist hier überhaupt schwierig. Ich kann das Sollen „erkennen“, und doch kann ich, zu meiner Trauer, nicht gut tun. Ich kann mich in das Gut-Tun hineindenken und erkennen, dass es das einzig Richtige wäre, aber wie klar ich mir das hauchi vorstelle (freilich, ob ich das in letzter Klarheit tun kann, ist fraglich), ich als Willenssubjekt, als das wirkliche, bin gelähmt. Ich finde „meinen Willen“ affiziert, ich bleibe in bloßer Willensregung, in der dem aktuellen Wollen vorangehenden Willensaffektion stecken (hier in der Affektion durch das Vernunftmotiv des Besten, das als Resultat etwa der Überlegung in der Wahl resultiert). „Normalerweise“ folge ich dieser Vernunftaffektion. Das sündige Ich (ja schon das in Neigung lebende) ist das für das Gute gelähmte (in solchen Grundfällen voller Bewusstheit). Ich bin, sagt es, ein erbärmlicher Schwächling. Wie kann ich stark werden? Wie wird mir göttliche Gnade, die der Kraft von oben, zuteil? Wie kann ich mich allmählich auf indirektem Weg stark machen, durch Übung im Kleinen, durch Mithilfe anderer, aus Quellen der Religion, durch Nachfolge Christi.1 1 Ja der Trieb, die Leidenschaft hat mich in Besitz, füllt mich und treibt mich, weil sie zum Ich vordringt und es prägt, zu sich zieht. Statt dass das Ich sich „losreißt“, die Leidenschaft entwurzelt. Der Trieb ist nicht nichts geworden, aber er hat seinen Modus geändert. Das Ich ist noch affiziert, aber es ist eine modifizierte Affektion; das Ich hat die Affektion neutralisiert, macht nicht mit. Solange das nicht der Fall ist, ist kein reiner Wille da, selbst wenn ich mich gegen den Trieb entscheide. Es kann aber auch sein, dass der Wille zum Guten gehemmt ist, gelähmt: Dem Trieb wird nicht nachgegeben, weil das rationale Motiv es hindert. Es liegt also eine gemischte rational-irrationale Motivation vor. Jedenfalls bewirkt diese Motivation, dass der Trieb bei mir nicht so fest und tief fassen kann. Je mehr ich liebend-wertend auf das Gute eingehe, umso mehr ist der Trieb zurückgedrängt, und rein liebend ist er ausgeschaltet.
Nr. 59 h D as S treben nach Lust. Das Haben und das G eni eßen der Lust i1
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Das Problem des Egoismus. Was ist das für ein Ego? Egoist und Genüssling.2 Das Kind als (vermeintlicher) „Egoist“, seine untadelhafte, uns oft entzückende „Natürlichkeit“; es folgt frei seinen Neigungen, Trieben, seinem Bewegungstrieb, seinen Spieltrieben, seiner Neugier, die sich in immer neuem sinnlichen Wahrnehmen sättigt. Wie steht es zur Lust und zum Schmerz? Es hat Hunger, das ist unlustig; es verlangt nach Essen; es hat keines und ist unwillig. Es kämpft gegen die Hemmung an, nutzlos. Ein Sich-Anstemmen, ein energisch, ja heftig, wütend sich gegen eine Störung, eine „von außen kommende“ Ärgerlichkeit, eine Hemmung, gegen ein Fehlen etc. hsichi wenden, ablehnen, sich gegen etwas feindlich, unwillig richten. Ist das ursprünglich schon eine „Intention“, die sich „erfüllt“ in der Beseitigung der Hemmung etc.? Ist Lust Ziel von im Lusterzielen sich erfüllenden Trieben? Sind alle passiven Triebe Lusttriebe? Das Kind, das Hunger hat und den Hunger natürlich stillt. Das Kind, das Bonbons kennenlernt bzw. das schon kennengelernt hat die eigentümlich überschwängliche Erregung, die mit manchen Geschmäcken, mit manchen Speisen im Kauen und Schlucken sich einstellt. Das Kind, das verwöhnt worden ist und „dieselben“ Speisen in besserer und schlechterer Zubereitung kennengelernt hat. Es scheidet sich Stillung des Hungers und „Befriedigung der Geschmackslust“. Süßigkeiten ohne Hunger gesucht, das Ziel eine gewisse „Wollust“, Sehnsucht danach, praktisches Streben, Suchen, Finden und daran genießendes Gefallen, „Genuss“ haben. Ebenso hdasi Gegenteil. Das Strebensziel ist die sinnliche Lust, die sinnliche Gefühlsempfindung, die Strebenserfüllung, der Genuss daran. „Lust auf Bonbons“ haben, Mangel, dann Lust an Bonbons haben, dann die „Lustgefühle“ nicht nur haben, sondern sie genießen – hier (aber nicht immer) als Erfüllung des Strebens. Das erste Genießen histi nicht 1 2
Wohl um 1920. – Anm. der Hrsg. Hat das etwas miteinander zu tun? Das Weitere über Lust und Genuss.
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Erfüllung eines früheren Strebens mit Wiedererinnerung (obschon im Genuss immerfort auch Streben liegt, nämlich auf die kontinuierliche Fortdauer, Intensitätsabstufungen etc.). Bewegungslust, Wohlgefühl einer natürlichen Bewegung. Lust im Spiel. Tätigkeitslust. Wie ist es da mit dem Genießen? Lust an einer Theateraufführung. Lustvolles Sich-Hineinleben in Bilderwelten. Betrachten von Bildern, Mitleben im Bildlichkeitsbewusstsein, im Fall einer dramatischen Aufführung. Ist da die Sache nicht wesentlich anders? Das „Süß-Schmeckende“, auf das SüßSchmecken in seinen Eigenheiten blickt man hin. Es ist das, was man genießt. Andererseits hat man abgebildete Gegenstände, bildlich dargestellte. Man lebt im Bildbewusstsein, hat Gefallen und lebt im Gefallen, und das ist doch selbst das Genießen. Ist Genießen so viel wie im Gefallen (in diesem Sinn in der Lust) leben, so genießen wir immerfort, wo immer wir gelingende Tätigkeit üben, und nicht nur, wo wir passives Gefallen üben. Man pflegt nicht zu sagen, dass man sein Arbeiten genieße; man ist befriedigt, man ist glücklich im gelingenden Fortgang seiner Unternehmungen, seiner Arbeiten. Im Theater: Man ist nicht wirklich tätig, man übt „Schein“-Tätigkeiten. Auch wenn man in der Gesellschaft zuhört, dem Wettkampf folgt, sich an der Art der sich bekundenden Personen freut, vollzieht man Einfühlung, lebt das Leben der anderen „mit“, ist in der Einfühlung quasi-mittätig; aber man ist darum doch „passiver“ Betrachter, nicht handelnder.
Nr. 60 h Die Wes enst ypen des dum pfen und wachen Lebens . Ins ti nkti ve und frei e Akte . Leben als unaufhör li ches Streben. H i n- und Wegstreben – die Füll efor m en der Lust und Unlusti1
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Vollziehen wir eine phänomenologische Wendung, in der wir unsere reine Subjektivität nach ihren konkreten Gestaltungen betrachten und forschend auf reine Wesenstypen bringen, oder, was dasselbe, wir können aus uns, aus unserem voll lebendigen Leben, die „eingeborenen“ Ideen bilden, teils von den Sondertypen, die in einer solchen Subjektivität auftreten können, teils von einer ganzen Subjektivität in ihrer vollen konkreten Möglichkeit. Es scheiden sich die W esenstypen des dumpfen Lebens und w ac hen Lebens (der schlafenden Monade und der frischen, wachen Monade), und für das wache Leben das niedere tierische und das höhere menschliche Leben. Die Phänomenologie bestätigt Leibniz‘ Scheidung zwischen schlafenden Monaden, wachen Monaden, in seiner Rede auch „Seelen“, die ein Bewusstsein in besonderem Sinn haben, und Geistern, menschlichen Monaden. Auch das ist eine zu bestätigende Wahrheit, dass jede höhere Stufe in gewisser Weise die niederen in sich schließt. Der Mensch hat in sich ein niederes tierisches Seelenleben und in diesem auch die Strukturen der tiefsten Stufe der schlafenden Monade, das ist, die Zustände, die in dieser ideell als ihr ausschließlich zukommende gedacht werden. Der C har akter des wachen Lebens ist, dass das Ich wach ist, und es ist wach in Form der Affektion und Aktion, in Form der spezifischen Ichakte, Akte der Gestalt ego cogito. Hier scheiden sich aber die instinktiven Akte und die freien Akte, die unter Ideen der Vernunft stehenden Akte. Der Mensch ist ein freies oder ein Vernunftwesen. Er hat das Vermögen der Vernunft in dem besonderen Sinn der Akte, die er als positiv vernünftig rechtfertigen kann.
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Leben is t St reben i n m anni gfal ti gen For men und Gehalten der I ntent ion und Erfül l ung, in der Erfüllung im weitesten Sinne Lust, in der Unerfülltheit Hintendieren auf Lust als rein begehrendes Streben oder als sich im erfüllenden Realisieren entspannendes Streben und sich erzielend im Prozess der Realisierung der in sich entspannten Lebensform der Lust. Jede Lust aber hat ihren Horizont der Unerfülltheit; hsie isti Fülleform des Lebens, so weit sie währt und nicht von vornherein verbunden ist mit Seiten der Unerfülltheit. Hört sie auf, so tritt eine Leere ein, die alsbald al s Verm is sen ein fortwährendes Streben nach Füllen mit sich führt. Al le s Leben i st unaufhörliches Streben, alle B efr iedi gung is t D urchgangs befriedigung. Bloße Empfindungsdaten und in höherer Stufe sinnliche Gegenstände wie Dinge, die für das Subjekt da sind, aber „wertfrei“ da sind, sind Abstraktionen. E s kann ni chts geben, was ni cht das Gemüt berührt, und das Gleichgültige ist nur ein Zwischenstadium zwischen Lust oder Unlust, es ist weder lustig noch unlustig, in ähnlichem Sinn, wie ein Gegenstand weder warm noch kalt, weder groß noch klein ist usw. Streben dürfen wir nicht bloß posi ti v als Hinstreben fassen. Es ist Hins tr eb en oder Wegstreben, und die Fülleformen sind eben Lus t oder Unl ust. Aber Wegstreben vom Gleichgültigen? Das Gleichgültige affiziert nicht das Gemüt (+/-), aber es enttäus c ht das Str eben, das auf Lust geht. Und Lust kann satt oder uns att sei n. Das Gleichgültige ist das Null der Sattheit. Das schon lebendige positive Streben geht auf Lust; richtungsbestimmtes Streben auf beste Lust ist unerfüllt, soweit diese Lust noch nicht satt ist. Das Streben geht auf das Lustvolle hin und geht hin positiv auf Steigerung, wenn sie nicht satt ist. Das Steigerungsfaktum weckt nur durch Kontrast ein Begehren. Missfallen, das ist zunächst nicht schon ein Wegstreben. Unmittelbar: Das Unlustige missfällt, es stößt ab, das ist das negative Gefühl selbst (Lust als Gefühl: etwas zieht an). Lust ist Hinstreben im Haben und hinstrebend es ins Gemüt Aufnehmen, Näherkommen, Steigern, bis man dabei ist, nicht mehr steigern kann. Unlust: Wegstreben, es Mindern. Komponente der Lust selbst und der Hingabe, Einigung, Näherung, Komponente der Unlust und Wegstreben. Streben aufgrund der Vorstellung, wo man das Lustige nicht hat, aber sucht; das
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Unlustige nicht hat, sondern, wenn es kommen mag oder kommen kann, es meidet. Streben, Hinstreben – Wegstreben, unenthülltes, instinktives.1 Erfüllung, Enthüllung, nun wieder: unvollkommen, das Streben 5 „gemischt“ in Erfüllung und Nichterfüllung, ein Fortstreben durch das Erfüllende hindurch; geht die Erfüllung (Realisierung) weiter, so enthüllt sich damit der Sinn des „unvollkommen“ als Fortgehen auf Steigerung, die nun als Steigerung selbst auch im Hinblick auf sie erstrebt sein kann. 10 Nachdem einmal Enthüllung stattgehabt hat, Bewusstsein als Antizipation: Ziel, Erfüllung, Bewusstsein am Ziel zu sein, aber nicht ganz erfüllt, Bewusstsein auf Steigerung. Antizipation als anschauliche Vergegenwärtigung mit Werterfüllung in Vergegenwärtigung. Das Selbst der Wahrnehmung als Selbst der Wertung.
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Gibt es unenthüllt objektivierende Intentionen?
Nr. 61 h Der Tri eb i n der G estal t des Ichstrebens gegenüber „ m echani sch “ ablaufenden tendenz iös en Verl äufen. D ie Hemmung ei nes St re bensverl aufs durch einen W ider st and. D i e Frage nach der Bedeut ung der Wi derstandserfahrung für di e Konsti tuti on ei ner Dingwelt i1
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Subjektive Abläufe: 1) Ein Triebverlauf eventuell die Gestalt eines Ichstrebens annehmend, des „Ich tue“: Das Ablaufende geschieht nicht nur und affiziert das Ich, „bestimmt“ es zur Zuwendung, und es geschieht dann nicht nur im „Beisein“ des Ich, wobei das Ich zuschauend, dafür interessiert, sich daran freuend ist, davon angenehm berührt etc. histi, sondern: Jede Phase des Triebvorganges hat eine Materie, das was vorgeht, und eine Form, nämlich das Ich ist auf das Vorgehende strebend gerichtet, und das Vorgehende ist aus dem Streben „hervorgegangen“.2 Der „erwachende“, in die Verwirklichung eintretende (als Ichstreben), einsetzende Trieb trägt nun in sich ein „Gerichtetsein-auf“ des Ich. Worauf es gerichtet ist, das tritt erst hervor im Einsetzen der hervorgehenden „Bewegung“. Jede Phase ist dabei vom Ich her, als aus ihm als so strebend gerichtetem, motiviert und dabei stetig mittelbar motiviert, sofern jede Strebensphase mitsamt ihrer Materie bestimmt ist (in gewisser Weise motiviert) durch die vorhergehende, und damit das Neuauftreten der Materie der jeweiligen neuen Phase in ihrer Weise motiviert histi durch das Auftreten der kontinuierlich vorhergehenden (als Triebmaterie der vorigen) und dann mittelbar durch die ganze Reihe hindurch. Die ganze abgelaufene Vorgangsreihe bzw. der ganze Triebvorgang mit seiner Triebform liegt „beschlossen“ im Einsatz, der durch den ganzen Vorgang hindurch„wirkt“ (oder in dem das Ich hindurchstre-
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Wohl 1921. – Anm. der Hrsg. Unwillkürliche, triebhafte Geschehnisse – demgegenüber tendenziöse, das „Streben“, das vom Ich her charakterisiert ist als seine spontane „Aktivität“. 2
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bend wirkt als realisierend) und sich im „Auswirken“ „enthüllt“ nach dem, worauf er hinausstrebte („hinauswollte“) und nicht nur dadurch den in ihm im Voraus beschlossenen „Sinn“ enthüllt, sondern ihn realisierend verwirklicht. De r Tri eb i st ei n „ Bleibendes “, das nur „ gew eckt “ wi rd durc h ei n D asei endes, das als Anfangsphase des Triebgeschehens zu fungieren „berufen“ ist. Dieses Daseiende übt also eine Affektion auf das Ich, einen Reiz, und zwar auf das Ich als Triebich, als Inhaber des Triebes. Ist a dieser affizierende Gehalt, so kann der Triebvorgang die Gestalt haben „a übergehend in m“ und besonders bestimmt sein, artmäßig ein a und dgl. fordern. Es kann aber auch in Frage kommen jedes beliebige a, sofern es affizierend z. B. einen Trieb zur Betrachtung, zum Näherbringen und die Vorgangsreihe des Näherbringens ins Spiel setzt, einen allgemeinen Grundtrieb. Die Kontinuität solcher Wandlungen lässt bewusstseinsmäßig das „a“ als Identisches gelten. Das a tritt nun dem Ich näher und es dem a. Diese Abwandlung kreuzt sich mit denjenigen, die a in m überführen aufgrund andersartiger Tr iebe. Wesenszugehörigkeiten von Trieben: mögliche Hemmung von Triebverläufen, verschiedene Lebendigkeit, mit der der Trieb aktuell wird, Anspannung, etc. Genetisch: Urerwachen von Trieben. Trieb ohne miteinsetzenden Vorstellungshorizont der in seinem Sinn angelegten Vorgänge. Späterhin Trieb mit himi Voraus vorgestelltem Triebablauf, der im Voraus schon die Triebform hat und eine gewisse Vorstellung von der für den Triebablauf, also für die Realisierung des Vorganges aufzuwendenden, über ihn zu verteilenden Kraftanspannung. Setzt der Trieb ein, so kann er trotzdem mit einer geringeren Kraft einsetzen; es kann aus der Erfahrung die Unzulänglichkeit bewusst werden, ein Trieb (allgemeiner Art) auf Verstärkung geweckt werden usw. Trieb und Ziel. Triebe, die im Vorgang, der da abläuft, selbst ihre Befriedigung haben, und Triebe, die am Ende des Vorganges, in einem dann Seienden oder Geschehenden, aber nicht mehr aus dem Ich und dem Trieb, dem Streben Hervorgehenden (in seinen nach dem Einsetzen des „Endes“ sich einstellenden Vorgangsphasen) hihre Befriedigung habeni. Im letzteren Fall: Charakter aller Zwischenphasen als Durchgangsphasen, als „Mittel“-Phasen, befriedigend, erfüllend
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als Mittel für das Weitere und so bis zum Ende, das „um seiner selbst willen“ letztbefriedigend ist. Charakter des Endes, Telos.1 2) Willkürliche Verläufe, Willensvorgänge, Willenshandlungen. Ihr Ursprung aus den Trieb- (Strebens)abläufen. Das handelnde Ich. 3) Subjektive Verläufe (aber nicht vom strebenden oder wollenden Ich her tätig erwirkte, nicht handelnd geschaffene etc.), nichttendenziöse und tendenziöse. Assoziative Verläufe, Verläufe der Wirkung affektiv auf das Ich hinwirkender Reihen von Assoziationen. Auch das Anschaulichwerden von Reproduktionen, das Emporschreiten zu steigernder Anschaulichkeit, aber auch Verläufe des Abklingens, des Verblassens der Phantasiebilder und Erinnerungsbilder; auc h alle tendenz iös en Verl äufe, die zwar tendenziöse, aber nicht im I chst r eben si ch verwirklichende Verläufe s ind. Es können aber auch Empfindungsverläufe sein (und transzendente objektive Geschehnisse), die doch einen subjektiven Charakter haben, wie Bewegungen meiner Leibesglieder, die „von selbst“ passiv und nicht triebhaft, nicht von einem Streben regiert, statt haben.2 Das Herabsinken der Arme, das Zurückgehen der Augen in die Nulllage, in Fällen, wo kein Trieb, kein Streben mit dabei und das Bestimmende ist.3 Natürlich ist hier die Frage, wodurch scheidet sich das von den außersubjektiven Verläufen ichfremder Empfindungsverläufe und objektiv-transzendenter Verläufe. Was soll man da sagen? Etwa dies: Alle subjektiven Verläufe haben eine besondere Beziehung zum Ich als „tätigem“ Ich, als Strebens-Ich. Alle können triebhaft verlaufen, sie haben dann die Form des triebhaften Tuns. Sie können eventuell aber auch „von selbst“, „mechanisch“, außer Ichbeteiligung verlaufen, und zwar tendenziös, und demgemäß in einer gewissen Spannung, Kraft, so dass sich auch subjektives Tendieren und diese außersubjektive Tendenz mischen, ein Geschehen zugleich von sich selbst aus forttendierend und zugleich erstrebt sein kann oder auch erstrebt und durch „Wider-
1 Unterscheidung von: 1) „formalen“, völlig universalen Trieben, wie der Trieb der Zuwendung, Erfassung, Betrachtung oder des Festhaltens des Lustvollen, der Kraftanspannung bei nicht auslangender Kraft; 2) materialen Trieben, material bestimmt durch den Inhalt des Geschehens. 2 Ist das nicht alles tendenziös? 3 Aber ist das nicht doch auch tendenziös?
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streben“, durch eine Gegentendenz, „Widerstand“ gehemmt sein kann. Rein phänomenologisch ist das Zurücksinken der Augen in die Nulllage ein passives tendenziöses Ablaufen, das unterstützt sein kann oder verbunden mit einem Hinstreben gegen die Nulllage; auch das Wegstreben aus ihr hat einen Widerstand, wenn auch zunächst keinen sehr merklichen, zu überwinden; und längeres Festhalten in der extremen Lage führt zu einem Aufbrauch der positiven Strebenskraft durch die Gegenkraft, die in die Ruhelage zurückzieht. In allem Streben fungieren so passive Gegenkräfte, die übermächtig werden und ein passives Ablaufen herbeiführen können. Ebenso beim Erheben der Arme, wo der Zug der Schwerkraft in Frage kommt, was aber rein phänomenologisch und nicht physikalisch zu nehmen ist. Jeder tendenziöse Verlauf, der schon Strebensverlauf war, welcher schon als dessen umkehrende Ablösung fungiert hat und dgl., hat seinen Charakter der Subjektivität; der ursprünglich ichliche Subjektivitätscharakter stammte also aus dem Streben. Demgegenüber haben wir Verläufe, wie etwa ein plötzliches, unmotiviertes Stimmengewirr, die gar nicht subjektiv in diesem Sinn ablaufen, nicht im Charakter des „Ich kann“, „Ich kann es verstehen“ etc. gegeben sein können. Allerdings, jedes, das im Bewusstsein auftritt, hat seine subjektiven Seiten, nämlich seine konstitutiven, seine Seiten, in denen es affizieren kann und dann entsprechend Strebensreihen und passiv-subjektive Gegenabläufe ergeben kann, aber es selbst, das Objektive in seinem Verlauf, der Verlauf beliebiger Empfindungsdaten, ist nicht „subjektiv“. Sowie aber ichfremde Daten in geregelte Erfahrungsverbindung mit kontinuierlichen Folgen von Daten (wie den kinästhetischen) treten, die in Ichverläufen des Tuns, als Tätigkeiten des Ich aufgetreten waren und für das Ich charakteristisch sind als Sphären seines Könnens (als Vermögensbereiche), wird es anders. Da treten auch diese Daten in die Bereiche ein. Aber sie haben den entsprechenden abgeleiteten Charakter, den Charakter von Verläufen, die mittels der primären Tätigkeitsverläufe zu erweckten, tätig herbeigeführten, gekonnten, zu realisierenden werden können. So zum Beispiel: Ich beherrsche die Bilderverläufe des visuellen Feldes „durch“ meine Augenbewegungen. In höherer Stufe: Ich bewege stoßend einen Gegenstand durch meine stoßende Handbewegung, bzw. durch meine Kraftanspannung überwinde ich den fremden Widerstand.
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Nur wo ein Streben, da gibt es ein dem Streben Zuwider, ein Hemmendes und darunter auch einen Widerstand. Hier kommt nicht nur in Frage, dass im Strebensablauf selbst als Gegenkraft und in der Anspannung Überwundenes oder zu Überwindendes auftreten, sondern ein normalerweise „frei“, wie es als gekonnt, als zu realisierend vorausgesetzt war, Ablaufendes wird im Ablauf abgebrochen, zum Stillstand gebracht oder abgelenkt (zu einem Geschehen, das dem Streben zuwider, anders ist). Ein Strebensverlauf kann jeweils zum Stillstand kommen (wesensmäßig) durch einen Stopp oder durch einen „Widerstand“, der aber wieder durch eine entsprechende Kraftanspannung überwunden werden kann, so dass der Tätigkeitsvorgang wieder weiter läuft, seinem Tätigkeitssinn entsprechend. Eventuell aber „komme ich nicht dagegen auf“, so gehört dazu doch die Idee eines Kraftgrades, Anspannungsgrades, den ich eben nicht „aufbringe“, der aber den Widerstand überwinden würde. Das Ichfremde, das meinem Tun „entgegenwirkt“, ihm „widersteht“, ist also ein besonderer Typus von phänomenologischen Vorkommnissen. Und dieses hat späterhin große Bedeutung für die Objektivierung des räumlich Objektiven als Natur. Rein visuell konstituierte Raumgegenständlichkeit, als „res extensa“, die qualifizierte Gestalt im Raum, ist noch kein Ding und wäre nie ein Ding, wenn nicht „physikalische“, „materielle“ Eigenschaften sich konstituieren würden. Es fragt sich, ob eine materielle Dinglichkeit und Welt rein optisch konstituiert sein könnten. Es ist das ein Hauptstück der Untersuchung. Jedenfalls ist von vornherein nicht abzusehen, wie visuelle Dinge „Widerstand“ haben könnten. Andererseits fragt es sich noch, was dieser Widerstand für die Objektivierung der materiellen Welt bedeutet. Gewicht, Druck, Stoß indizieren sich freilich auch optisch und haben ihre optischen Parallelen. Ich sehe die Waage und habe innerhalb der gesehenen Kausalität die Erscheinung des Gleichgewichts etc. Ist also der außeroptisch konstituierte Druck etc. entbehrlich für die Konstitution einer Dingwelt? Hierbei ist zu ergänzen: Die rein optisch konstituierte Welt könnte schon ihre Kausalität in sich konstituiert haben, wie es scheint; warum fehlte etwas an ihrer Realität? Warum soll eine „widerstandslose“ (mir nicht widerstehende) rein optische Welt nicht „reale“ Welt sein? Wie verhalten sich geregelt und bleibend konstituierte Einheiten zu
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den Dingen der Welt mit ihrer Eigenheit, Widerstand zu leisten, der vom Ich her relativ überwindbar ist? Die reale Welt ist faktisch eine solche, die zwar ihre eigene Regelordnung der Kausalität hat, aber andererseits eine Kausalität, die durch die ganz andersartige sub5 jektive des Ichwirkens, des die äußeren Kausalitäten durch ichliche „Kausalität“ Unterbindens, Förderns, Regierens gekreuzt wird und so, dass jede Kausalität ihr ideales Gegenstück hat in einer ichlichen, die ihr „äquivalent“ ist. Also analog wie jeder Raumbewegung eine ichliche Bewegung entspricht, wie Raum eine objektive Seite hat und 10 eine subjektiv äquivalente. Sich selbst überlassene Natur – von mir und von uns regierte Naturkräfte, Ichkräfte etc.
Nr. 62 hDas Str ebe n nach Sel bsterhaltung als Str eben nac h Lust. Posi ti ves Hin- und negat ives Wegstreben. Konkurrenz der Str ebungen. Spontanes und affektives Tuni1
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Zum Wesen des Menschen wie jeder Subjektivität gehört das Streben nach „Selbsterhaltung“. Dies verstehen wir aber in einem rein geis tigen Si nn als Str eben nach posi tiv Wertigem und zuunterst nach sinnlicher Lust, wobei aber zu beachten ist, dass Wertungen in funktionaler Abhängigkeit stehen können und positiv Wertiges, wie eben z. B. sinnliche Lust, im Motivationszusammenhang des sinnlichen Lebens Entwertung erfahren kann; sei es in seiner Konkurrenz mit Höherwertigem, sei es durch apperzeptive Verflechtungen mit Beziehung auf unwertige Folgen, die ihm einen Unwertcharakter verleihen können. Das Selbsterhaltungsstreben ist der bloße Ausdruck für die Wesenseigenheit alles geistigen Lebens, dass es nicht nur ursprüngliche positive Strebungen und in erfüllter Form positive Genüsse als sinnliche Lust hat und auch negative Strebungen, in gespanntester Form Schmerzerleiden und von ihm Wegstreben und in der entspannenden Erfüllung Minderung des Schmerzerlebens bis zur Nullgrenze, sondern dass Streben mit Streben konkurriert und dass der Größe der Lust, die Korrelat ist der Größe des positiven Strebens, eine Kraft des in dem Streben Verweilens hzuigehört. Denn es gibt den Unterschied zwischen in dem Streben leben, sich ihm hingeben, ihm hingegeben leben und der Ablenkung auf ein anderes, der strebenden Zuwendung zu einem anderen, wodurch das frühere Streben den Modus der Ablenkung hat. Wir müssen scheiden Streben und Tendenz zur Zuwendung und die Kraft des Verweilens in der Zuwendung. Im verweilenden Zuwenden lebt sich das Ich im Genuss aus, oder es lebt hingegeben im Streben danach und im subjektiven Tun als dem Geschehen, das dem Erstrebten entgegenführt, es zur Realisierung bringt. Man kann das Genießen als den Grenzfall des Tuns auffassen;
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in der Hingabe an das Lustvolle im Genuss wird es tuend realisiert als Wert, als Gut. Es wird eben genossen. Im Sich-Entfernen im Modus des Zugewandtseins, also DarinLebens, lebt sich das Ich in der Entspannung seines negativen Strebens aus, im „Wegtun“. Im „unvermeidlichen“ Schmerzerleben, im stechenden Schmerz, findet reines „Leiden“ statt; es ist kein negatives Tun, sondern Hemmung jedes Tuns. Das Leiden steht also hier als „aufgenötigter“ Schmerz nicht der genossenen Lust gleich. Sie ist nicht aufgenötigt, sie ist keine angetane Not, sondern sie ist als genossen positiv erstrebte hLusti, dem Strebens-Ich gemäß. Das Wegstreben und wegtuende Realisieren ist ein Gemisch von Schmerz und Lust; die Abnahme des Schmerzes ist selbst Korrelat der großen Abnahme des Strebens von dort weg (der Spannung) und ist wohltuend, sie hat also den Charakter eines positiven Strebens auf Abnahme, auf Entfernung vom Schmerzlichen. Können wir also sagen, Streben ist also entweder positives Streben auf „Lust“, und Tun ist positives Tun in Steigerung der Lustannäherung und Genuss der Lust, oder hStreben isti positives Streben auf Minderung der Unlust und im realisierenden Tun auf Steigerung in der Minderung der Unlust und im Genuss des Verschwindens der Unlust? Muss man dann aber nicht antworten: Die Realisierung der positiven, geraden Hinstrebung auf Lust führt zu der Annährung an die Lust, und das ist selbst etwas Lustvolles und sich Steigerndes und wird in der Annäherung genossen, aber doch nicht eigentlich genossen, da das strebende Realisieren darüber hinausdrängt? Da ist doch manches noch zu überlegen, um die Wesensstruktur klar zu erhalten. Passivität ist kein gutes Gegenteil zu „freier Aktivität“. Denn wir haben den Doppelsinn des fühlenden Leidens und des nicht frei wollenden Tätigsein. Auch Spontaneität ist nicht sehr klar, aber man müsste es ernst nehmen als Ich-Spontaneität, sua sponte, das Freiwillige. Sein Gegensatz am besten Affektivität: Spontanes Tun und affektives Tun, das affektive Realisieren und uneigentliche Wollen (wie auch vor dem Realisieren, im Voraus, für die Zukunft sich zu etwas bestimmen lassen, affektiv Folge leisten) und das spontane Wollen und spontane Realisieren gleich Handeln. Im Leben der Subjektivität: in der rein affektiven Stufe positive Strebungen und positives affektives Tun und verweilendes Genießen; negative Strebungen – vielerlei in Konkurrenz. Instinktiv subjektive
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Abläufe, die, sowie sie Lust erregen oder hsichi der Lust annähern, in Griff gebracht, festgehalten, durchlaufen werden. Ebenso umgekehrt: Aufgenötigter Schmerz lenkt ab von der Lust und hemmt den Genuss, entwertet sie, setzt den Wert des Erlebten herab, bedingt instinktiv Verläufe, die „von ihm befreien könnten“. Wenn sie sich einstellen, so geht das Leben in Richtung auf Lust und Lustgenuss fort und ist darin „befriedigt“. Aber wo keine Lust als positive Genusslust da ist, fehlt die Befriedigung. Die Entspannung einer Unlust tut zwar wohl, aber endet sie in Beseitigung des Schmerzes, so ist nun eine Leere. Einmal genossene Lust verschwindet und lässt auch eine Leere zurück. Die Neutralität ist die Leere, die das Streben nach einer Fülle erregt. Das Neutrale selbst erregt kein Streben oder ist kein Ziel eines positiven Strebens. Die Affektivität der Abhebung etc. bedingt wechselnde Zuwendungen, aber zu Neutralem, und das gibt keine Erfüllung des „Strebens“, obschon Erfüllung von affektiven Tendenzen. Streben im prägnanten Sinn ist wertendes Streben. Das Fehlen eines wertenden Strebens ist eine eigene Unbefriedigung. Aber wie kommt sie zustande? Die Lustleere ist ein Charakter; das strebende Hingezogensein, der Genuss, die Abwandlung eines neutralen Bewusstseinsgebietes in ein wertiges ist selbst ein wertig Vorgestelltes, Erstrebtes etc. Der Mensch strebt nicht nur faktisch nach Lust, die er bestimmt vor Augen hat, sondern er strebt auch danach, nach Lust zu streben, wo er keine Lust in bestimmter Aussicht hat, er strebt nach einer Lust überhaupt (auch bevor er allgemeines Vorstellen hat, in dem er das Überhaupt selbst vergegenständlicht).
Nr. 63 h Die Neugier al s Tri eb zur Kenntnisnahme gegenüber dem al l gem ei nen Trieb zur Z uwendung. D i e Neugi er i m Verhältnis zu anderen Gef ühl en und i hrer Motivkraft. Phänom enol ogi sche U nter schiede zwis chen Neuem und Bekanntem i1
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Theor etis ches I nte resse, zunächst Interesse an der fortschreitenden Kenntnisnahme. Es ist da manches zu überlegen und das theoretische Interesse von anderen „Interessen“ zu unterscheiden. Wir müssen unterscheiden die eigentliche Kenntnisnahme, welche Kenntnis als erworbene Icheigenheit (Habitus) schafft; andererseits a) die Realisierung der Kenntnis durch wiedererkennende Anschauung und b) die Kräftigung der Kenntnis (unter eventueller Bereicherung) durch eine erneuerte und wieder realisierende Kenntnisnahme, Wahrnehmung. Das Unbekannte zieht an, das Neue weckt und befriedigt in der Kenntnisnahme hdiei Neugier (admiratio), abgesehen von besonderen und anderen Gefühlen, die durch Gegenstände erregt und in der Gegebenheit befriedigt werden. 1) Ursprüngliche Affektion im „Hintergrund“, ursprünglicher Trieb zur Zuwendung und Auslösung dieses Triebes.2 2) Dabei tritt (wir setzen voraus, dass es ein Unbekanntes ist) Kenntnisnahme ein. Neugier als Interesse am Unbekannten, zur Kenntnis Kommenden lässt das Ich am Gegenstand haften, ist eine anziehende, Festhalten „motivierende“ Kraft, die durch andere Reize aber überwogen werden kann. Die Neugier erschöpft sich mit der Kenntnisnahme, wobei sich mehrfach neue Momente abheben mögen (für sich besondere Affektion erregend), die in besonderen Kenntnisnahmen, auf dem „Grund“ der ganzen einheitlichen, die Neugier befriedigen. Genetisch ursprünglich kann man nicht sagen, dass der Zuwendungstrieb von der Neugier geleitet sei. Aber alsbald muss Neugier zum Motiv werden, sowie ich ein Neues erfahre und erfahren habe.
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November 1921. Cf. 4 h= S. 479,27–481,7i.
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Ehe ich mich noch zuwende, wird schon antizipatorisch die Lust an einer Kenntnisnahme, die Neugier, geweckt, oder wie ich auch sagen kann: Ursprünglich affiziert mich kein „Gegenstand“, d. i. solches, das in Kenntnisnahme zu Erfassendes ist und in wiederholten Realisierungen der Kenntnis und Wiederwahrnehmungen zu Identifizierendes.1 Das Ich hat aber in der Entwicklung bald nur affizierende „Gegenstände“. Dabei ist auch an die höherstufig konstituierten Gegenstände zu denken. Der typische Charakter der affizierenden Gehalte bedingt alsbald Weckung früher gestifteter Apperzeptionen und apperzeptive Auffassungen gemäß dieser Apperzeptionen, also antizipatorisch ist schon ein akustisch Affizierendes als „Pfiff“, als Lokomotiv-Pfiff und dgl. vor der Zuwendung mehr oder minder ausgearbeitet bewusst, und so affiziert ein Gegenstand, und ein Gegenstand einer typischen, wenn auch unbestimmten Struktur. Er ist gleichwohl als dieser unbekannt und reizt die Neugier. W ie s teht nun di e Neugi er zu anderen Gefühlen und ihr er Motivkraf t? Ein reiner, weicher Ton ist wohlig, ein schriller Pfiff peinlich schon vor der Zuwendung. Die Lust wird in der Zuwendung zum Gegenstand genossen, die Neugier wird in der Zuwendung zum Gegenstand und in seiner Kenntnisnahme befriedigt. Ich genieße, ich habe die Lust, aber ich nehme nicht von ihr Kenntnis; sie macht mich nicht neugierig, obschon auch das möglich ist, dann würde ich nicht genießen. Die Wollust genieße ich, indem ich die sie fundierenden besonderen Gehalte des Gegenstandes durchlaufe, auf sie den wahrnehmenden Blick richte. Der Gegenstand kann mir schon vollkommen bekannt sein, ich bin nicht auf Kenntnisnahme und Bekräftigung der Kenntnisnahme gerichtet, die Neugier ist nicht mehr rege, sie ist nach der vollzogenen Kenntnisnahme „gesättigt“; d. i. nicht, sie ist höchst gesteigert (wie ein „gesättigtes Rot“ eine höchste Steigerung ausdrückt), sondern entspannte Gier, und die Lust am in Kenntnis Genommenen als solchem hat aufgehört. Die Wollust ist im Genießen auch nicht gegenständlich, sie ist nicht Thema der Kenntnisnahme. Sie ist freilich, einmal genossen, auch bekannt, sie kann eben auch zur Kenntnis genommen werden und
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Unklar.
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wird es gelegentlich auch. Jedes Neue, auch eine neue Art Wollust, ist auch Thema einer Neugier. Und ist Lust einmal genossen, dann kann sie jederzeit in der Erinnerung zur gegenständlichen Erfassung, zu neuer oder zu wieder realisierender Kenntnisnahme kommen. Natürlich kann ich, statt im Genuss aufzugehen und mich in der Lust zu verlieren, auch an einer Lust Gefallen haben oder an dem Gegenstand der Lusterregung als solchem Gefallen haben. Wie dem Willen, wie dem vom Ich frei ergehenden Streben ein affizierender Trieb zugrunde liegt, wie da das Ich frei wählt und entscheidet, so entscheidet sich das Ich für den Genuss, es gibt sich frei hin und ist dabei nicht verlorenes, sondern von sich aus waches Ich. Habe ich Interesse an der Kenntnisnahme, so gehe ich so weit, als ich am Gegenstand etwas finde, was meine Neugier reizt. Treibt mich die andersartige Lust, so gehe ich nur dem nach, was diese Lust fundiert. Die Neugier ist in gewisser Weise eine allgemeine Lust, die zu jedem Gegenstand gehört, nicht durch seinen besonderen Inhalt, sonst müsste er immer wieder zum Genuss einladen, sondern nur, soweit er noch unbekannt ist. Die Wiedererfassung eines schon in Kenntnis Genommenen, die Betrachtung des Bekannten hat einen besonderen Charakter, eben den der Bekanntheit, demgegenüber der Charakter der Fremdheit. Sich-Bekanntmachen, das Kennenlernen, ist eine Bereicherung für das Ich, sie gefällt, und der Gegenstand selbst hat während der Kenntnisnahme den Charakter des Interessanten, Reizenden. Aber dieser Gefühlscharakter gehört nicht als objektiver zum Sachgehalt des Gegenstandes in der Weise eines Wertcharakters, der dem gegenständlichen Gehalt bleibend zugehört (oder bleibend in Relationen zugehört, also jedes Mal von neuem erweckt werden muss, wenn der Sachgehalt gegeben ist). Nochmalige Überlegung. Zur Frage des Triebes der Zuwendung haben wir Folgendes zu unterscheiden: 1) Es kann ein Unbekanntes affizieren, und am „Anfang der Entwicklung“ ist noch alles unbekannt. 2) Es kann Bekanntes affizieren. Was macht phänomenologisch den Unterschied? Betrachten wir das Bekanntwerden in der Kenntnisnahme eines Unbekannten. Die Kenntnisnahme beginnt mit der „Zuwendung“ des Ich und einem bildlich so zu bezeichnenden „Erfassen, Ergreifen, Sich-Zueignen“. Der Gegenstand, der in der Mannigfaltigkeit kontinuierlich einheitliche, sich stetig als solche Einheit „deckende“,
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tritt in besondere Beziehung zum Ichpol. Die Icheinheit ist stetig durch die Mannigfaltigkeit hindurch auf das Eine gerichtet, es in seinen Phasen und in der Explikation in seinen besonderen Momenten durchlaufend; aber nicht nur durchlaufend: erfassend, hieß es, ergreifend und im Griff behaltend. Der Zugriff wird zum bleibenden Griff. Aber das Ich ist aktuell dabei und in der besonderen ausgezeichneten Weise des Ergreifens nur auf die neue Phase gerichtet. Das besagt: Das Ich folgt in der Wahrnehmung des Neuen der protentionalen Linie, es macht ihre passive Tendenz zu einer aktiven. Was da ergriffen ist, wird alsbald zum Gehabten, In-Besitz-Genommenen; eine geistige Hand hat das Ergriffene fest gepackt, und ein neuer Handgriff zieht das Neue in die umschließende, geschlossene Hand mit hinein. So geht es auch mit den Synthesen der Partialerfassung von Momenten des einen Gesamtgegenstandes. Er wird erfasst und kommt als unexplizierter in den Griff. Das Besondere kommt in der Synthese als seine Bestimmung in den Griff und bleibt so im Griff, hbleibti Zugeeignetes. Das Zugeeignete hat seinen bleibenden Charakter, das heißt, in der Rückkehr gibt es sich schon als in der geistigen Hand darin, als schon „bekannt“, als dasselbe, das schon ergriffen war und noch im Griff ist. Und hdie Rückkehr gibt sich als das,i was dazu nur dienen kann, den Griff zu „ sichern “, zu fes tigen. Denn es kann schon Ergri ffenes auch dem Griff entgleiten, oder die Besitznahme kann eine unvollkommene sein. Bei der Wiederholung können auch neue Momente hervortreten, die noch nicht besonders ergriffen waren; auch wo das nicht der Fall ist, gibt es sozusagen Intensi täten der Kenntnisnahme, des E indr ingens des Ei nhei tl i chen in seiner Phasenkontinuität in das Kenntnis nehmende Ich. Das sind also phänomenologische Unterschiede zwischen Neuem und Bekanntem und von Graden bz w . Stufen der Beka nnthei t. Es muss offenbar auch Unterschiede geben, ob im Hintergrund ein Bekanntes oder Neues affiziert. War das Affizierende schon, oder ein Ähnliches, affektiv wirksam gewesen und in einen Prozess der Erfassung, der fortschreitenden Kenntnisnahme getreten, so hat es s c hon s ei ne „ G es chi chte “, es ist dem Ich nicht mehr ein Fremdes, es gehört s chon zu sei nem „ Besitz “, und das ist sein geistiger Charakter, der von vornherein geweckt ist, schon vor der neuen Zuwendung.
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Der ur s pr üngli chs te affekti ve Tri eb ist „blinder“ Trieb zur erfassenden Zuwendung.1 Man kann nicht von vornherein sagen Trieb zur Kenntnisnahme, zur immer fortschreitenden Kenntnisnahme, obschon Kenntnisnahme notwendig statthat. Diese kann ja gehemmt werden durch Gefühle, welche nicht den Fortschritt weiterer Kenntnisnahme, der ablenken würde, fordern, sondern das Festhaften an dem in Kenntnis Genommenen oder wiederholte Rückkehr zu ihm, als dem das Gefühl Fundierenden, statt zum Fortschreiten zu neuen, diesem Gefühl gleichgültigen Momenten. Es differenziert sich nun Neugier oder vielmehr Freude am E r kenntnisbes it z in sei ner ursprünglichen Erwerbung: Der Gegenst and im Modus der fortschreitenden Zueignung is t das Freude nthem a, und es erwächst ein Trieb der N eugier, der Trieb des Kenntnisinteresses (theoretisches I nter es s e). Wenn dann im Hintergrund „Neues“ auftaucht, kann es von vornherein Neugier erregen und das Spiel sie erfüllender Kenntnisnahmen auslösen. Aber demgegenüber kann auch ein andersartiges, ein am Sachgehalt s elbs t hängend es G efühl, gründend in diesen oder jenen besonderen Momenten, hinterher die Affektion motivieren: Sie geht geradewegs auf Zuwendung. Aber schon im Hintergrund wird durch Analogie mit Fällen, wo eine Zuwendung und Kenntnisnahme, heinei erfassende Aufnahme von den und jenen Momenten, ein ihnen zugehöriges Gefühl ergab, die Aussicht sozusagen auf den Genuss dieses Gefühls motivierend für die Zuwendung wirken hundi eine Triebkraft für sie schaffen: Das Ich wendet sich zu um dieses Gefühls willen, das aktuell (als genossenes) oder als im Genuss allein vom Ich besessenes, in das Ich aufgenommenes eine ursprüngliche Triebkraft hat. Um Genossenes zu werden, muss aber erfassende Zuwendung zum betreffenden Sachgehalt statthaben. Das Erfassen ist dann „dienend“; es ist aber nun nicht ursprüngliche Kenntnisnahme, sondern Realisierung schon bestehender Kenntnis. Allgemeinere Frage: Was motiviert solche Realisierung, was eine erneute Zuwendung, was das Wiederherstellen in der Erinnerung und was Wiederholung der Wahrnehmung, wo dergleichen möglich ist?
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Cf. 1 h= S. 476,8–477,23i.
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Jedenfalls werden wir wohl den allgemeinen Trieb zur Zuwendung unterscheiden müssen von dem Trieb zur Kenntnisnahme, der nur Neuem zugute kommt (oder nach Momenten Neuem oder Vergessenem etc.), also auch hvon dem Triebi zur Restitution, zur neuen 5 Kräftigung der Kenntnis. Wo von vornherein ein Affizierendes sein Gefühl mitführt, übt dieses seine Motivationskraft in der Affektion, aber die Zuwendung muss den Sachgehalt erst treffen.
Nr. 64 h E r kennen al s zi el geri chtete Tätigkeit. Das durc h das ver m ei nende Werten im Gefühl hindurc hgehende Streben. Ein Ding als Gut in Bez ug auf di e Mögl i chkei t des Besitzes und der geni eßenden Wertrealisierung. Die V er f lec htung der Bewusstsei nsfunktionen i1
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Erkennen ist eine z ie l geri chtete Ichaktion. So ist schon ein schlichtes Wahrnehmen, vollzogen als eine Tätigkeit fortschreitender Kenntnisnahme, ein Erkennen niederster Stufe. Ihr fortschreitend sich bereicherndes Ergebnis, das, was dabei erzielt wird, ist eben die Kenntnis des Gegenstandes; seine immer reichere Selbstgegebenheit, sein Selbstdasein realisiert sich im wahrnehmenden Tun. Und das ist hier das Ziel. Das Interesse der Kenntnisnahme greift weiter auf einzelne Teile, Seiten, Merkmale des Gegenstandes, richtet sich darauf, wie beschaffen er ist, weiter, in welchen Beziehungen er zu anderen Gegenständen steht, schauend zu originaler Selbstgegebenheit zu bringen. Dem folgt das Fassen in Begriffe und das Erzeugen prädikativer Urteile. Taucht eine antizipierende Intention auf Gegenstände, auf sie bestimmende Merkmale oder auf Urteilsverhalte auf, so geht sie in eine Erkenntnisaktion über. Also kurz gesagt: Erkennen2 ist eine abzielende Tätigkeit, die auf ein Besitzergreifen eines wahren Seins oder Soseins, eines Gegenstandes, seiner bestimmenden Merkmale, ihn betreffender Sachverhalte, diese Sachverhalte betreffende Abhängigkeiten usw. geht. Dieses Besitzergreifen des Wahren vollzieht sich im Medium vorgreifender, unklarer, unerfüllter Seinsmeinungen (irgendeines Einen-Gegenstandals-seiend-Meinen, meinen, dass er so ist oder nicht ist usw.), und durch das Meinen hindurch geht ein Streben und in aktuell sich auslebendem Erkennen ein handelndes Realisieren, in dem das Vermeinte, so wie es Vermeintes ist, sich bestätigt im identifizierenden Übergang in sein entsprechendes Wahres in dem evidenten Selbstergreifen
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hWohli 1922. Erkennen (Glauben) gerichtet auf wahres Sein = doxische Meinungen.
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des gegenständlichen Seins und Soseins oder mittelbar im evidenten Ergreifen eines folgernden Beschlossenseins in einem anderen, das schon früher als wahr erkannt worden ist. Was einmal in seiner Wahrheit, als was es selbst ist, ergriffen war, ist ein dauernder Besitz, sofern es immer wieder verfügbar bleibt, nämlich in einem wiederholenden (etwa wiedererinnernden) Prozess wieder erfasst, also eine darauf zielende neu auftauchende Meinung wieder realisiert werden kann. Das auf Seiendes sich richtende Bewusstsein (der meinende Akt) heißt Glauben (Doxa), sich entfaltend in Urteilszusammenhängen. Das Erkennen ist die im Glauben sich vollziehende Tätigkeit, deren Ziel die den Glauben bestätigende oder in der Widerlegung ihn aufhebende Wahrheit ist. Die Seins mei nungen vollziehen und erkennend sich eventuell betätigen, das ist Urteilen, und das spielt im personalen Leben immerfort seine Rolle neben anderen „Akten“, den wertenden Meinungen, wie wenn ich mich freue an etwas, über etwas, etwas für schön und gut halte, aber rein in Gemütseinstellung, fühlend, nicht urteilend. Das Letztere kann jederzeit in einer Wendung der Einstellung eintreten, wie wenn ich, zunächst im Wohlgefallen an einem Bild lebend, dann urteile, dass es schön ist. Geht durch ein wertendes Meinen ein Streben hindurch, so erfüllt sich das Streben bzw. das handelnde Tun im fühlenden Sich-Zueignen des Wertes. Das Seinsmeinen hat seine antizipatorische, leere Form, die des bloßen Meinens und demgegenüber seine „originale“ Form, die der Erfüllung, in der das gegenständliche Sein und Sosein im Modus des originalen Selbst, des wahren Seins bewusst ist. Weiter: Der strebende Übergang oder das willkürliche Handeln verleiht dem Vermeinten und sich im Übergang mit dem Selbst Identifizierenden den Charakter des bestätigenden „Ja, so ist hesi“, des Wahren, den Charakter des die Meinung Bestätigenden. So ähnlich hier: Das erfüllte Werten bestätigt das vermeinende Werten im Gefühl und strebenden Tun, und der vermeinte Wert ist erfühlt im Modus des „wahr“ und erfüllt das darauf gerichtete Streben: So fühlen wir (ästhetisch eingestellt) ein Bild als schön, im näheren Betrachten erfüllt sich diese fühlende Antizipation, indem die antizipierte Harmonie in der Einzeldurchlaufung der ästhetischen Momente sich im Gefühl (als Harmonie eben der Wertmomente) verwirklicht, und dabei geht durch den Prozess ein auf sie gerichteter Strebenszug hindurch,
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eventuell ein absichtliches Wollen und Handeln, und die Harmonie ist zugleich Willensziel und das Streben und Wollen erfüllend. In Urteilseinstellung kann dann nicht nur über die Schönheit geurteilt, sondern das Urteil auch als urteilswahr bestätigt werden: Das ist schön – es ist wahr, dass das schön ist. Und es kann geurteilt werden, das Bild (das dargestellte Bild) ist schön, und das Ding da, das ein Bild „in sich trägt“, in sich „darstellt“, ist schön (uneigentlich, es stellt ein Schönes dar). Andererseits heißt das Dingbild ein Gut, es ist als Ding (um jener Schönheit willen, die man daran genießend jederzeit verwirklichen kann) ein Gegenstand der Freude, wenn man es eben „besitzt“ und darüber freie Verfügung für die Realisierung des Schönen „selbst“ hat. Ein geistiges „Bild“ ist ein im Durchlaufen und wiederholten Durchlaufen Identisches, Dauerndes (in eins mit dem dauernden physischen Ding, das es trägt), und im Durchlaufen konstituiert es sich für das Werten als Wert, in den sich realisierenden Wertmomenten konstituiert sich als fundiert der gesamte Wertcharakter und ist eins mit dem Bild. Ein sinnlicher Wert: eine wohlriechende Blume; „mit ihr“ gegeben ist der ausströmende Geruch, das dauernde, in der Intensität wechselnde Empfindungsdatum, das mit der Intensität sich steigernd sinnlich wohlig ist und dadurch Wohlgefallen motiviert in Freude am Riechen und ein Begehren nach Hineinriechen und die Intensität des sinnlichen Gefühls steigert und dadurch das Wohlgefallen (als original Werten) steigert. Eine Speise: Im Zerkauen und Schmecken ein Prozess von sinnlichen Geschmacksdaten und verschmolzen mit sinnlichen Gefühlen, dementsprechend ein Wohlgefallen am Essen, eine Freude daran und nach den antizipatorischen Freudenerwartungen ein begehrendes Streben und sich realisierendes Streben (in eins noch mit dem Hunger, einer anders sinnlich fundierten Unlust, die sich löst, ein Trieb, der sich dabei erfüllt). Die Speise hat einen Wert, Gutwert als ein Ding, durch das Geschmacksfreude zu inszenieren und ein Geschmackswert zu realisieren ist. Durch die Realisierung wird aber das Ding Speise „konsumiert“;1 sie ist real nur, wie sie ist, solange
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Konsumptionswert.
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sie noch nicht gegessen wird, und sie kann nicht wieder Speise sein, nachdem sie gegessen ist. Die Speise, die Blume sind hjedei ein Gut; sie sind Gegenstände eines übertragenen Gefallens um eines daran sich betätigenden ursprünglichen Gefallens willen, oder sie sind ein Wert um eines darin sich verkörpernden anderen Wertes willen. Und gut ist ein Gegenstand, sofern er geeignet ist, dauernd besessen und dauernd eine Quelle von Freuden zu sein, in denen also dauernd ein und derselbe Wert fühlend erfühlt, genossen sein kann, oder ein Momentanwert nach Belieben, wann immer man nach ihm „selbst“ begehrt, realisiert werden kann. Das Geeignetsein besagt nur, dass unter gewissen Umständen ein wirklich sich entsprechend richtendes Fühlen hierbei einen positiven Wert erfühlt, und wieder, dass eine antizipierende Gefühlsgewissheit besteht und ein Begehren erregt ist für jemand (oder für irgendwelche Personen oder für alle Menschen), dass dann auch unter Umständen praktische Möglichkeiten für diesen Jemand bestehen, den Wert zu aktualisieren im Genießen. Ist das erkannt, so ist es ein Neues, dass der Besitz erstrebt, also selbst bewertet wird; die besitzmäßige Zueignung eines Gutes ist selbst ein Wert. Durch seine Realisierung werden die Umstände der freien Verfügung hergestellt; ein besessenes Gut ist ein solches, das seinem Wert nach jederzeit realisiert werden kann. Güter, die für niemand faktisch erreichbare sind, sind eigentlich nur mögliche (phantasiemögliche) Güter. Zum Begriff eines wirklichen Gutes gehört die Relation zu Menschen, für die reale Möglichkeiten des Besitzes bestehen und damit reale Möglichkeiten, den Wert genießend zu realisieren. Kohlen auf dem Mars sind höchstens für Marsbewohner Güter, und sind dort keine wärmebedürftigen Wesen, so sind sie es auch für sie nicht. Alle Güter weisen auf wirkliche Subjekte zurück, für die reale Möglichkeiten des Wertens etc. bestehen. Nehmen wir alle diese Überlegungen zusammen, so haben wir also in innigster Verflechtung folgende Bewusstseinsfunktionen: 1) pr imär e: das Seinsbewusstsein, Glauben, Möglichkeitsbewusstsein, Bewusstsein der Einstimmigkeit und Unstimmigkeit, Zweifel etc., das Wertbewusstsein, Fühlen; 2) s ekundär e: das tendenziöse Verhalten (Intention und Erfüllung), Wunsch, das primäres Bewusstsein voraussetzt und in gewisser
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Weise ein Modus des primären Bewusstseins ist, es nimmt die Form des Strebens, des Erkenntnisstrebens und wertenden Strebens, an.1 3) Das Wollen ist in gewisser Weise Modus des Wünschens, Begehrens. Es kann ein Begehren sich aus sich selbst erfüllen als Willenspassivität, nicht hin dem Sinni dass sich überhaupt das Begehren und selbst stetig erfüllt, wie wenn eine schöne Himmelserscheinung abläuft, und ganz wunschgemäß, sondern hin dem Sinn, dassi sich hdas Begehreni durch sich und aus sich erfüllt wie im Essen die Begierde. (Wird der Hunger gestillt durch ein objektives Einflößen der Nahrung, ohne dass ich „esse“, so ist das der erste Fall. Esse ich aber selbst, und sei es auch ohne jede freie Aktivität, so ist es der zweite. Ebenso wenn ich, ohne überhaupt als Ich tätig dabei zu sein, „mechanisch“ rauche.) Beim Willen haben wir den Einsatzpunkt des fiat und ein stetiges „Ich will“ im Verlauf des strebenden „Tuns“. Aber das Streben kann auch gehemmt sein, es kann doch Wille sein ohne Handlung. Ich strebe und will weiter, aber ich kann nicht. Es kann das Streben auch den Charakter eines auf künftige Realisierung hGerichtetseins habeni (also auf künftig realisierendes Streben abgestimmt sein). Endlich haben wir die freie Form: Ich entscheide mich frei, das setzt aber „Neigung“ voraus etc.2
1 Die Modalitäten bestimmen dann wesentlich das Streben in eins mit dem Unterschied der Unerfülltheit und Erfülltheit, der mit ihnen aber wieder zusammenhängt. Das ist noch nicht herausgearbeitet. 2 Wille ist in gewisser Weise überhaupt Aktivität, aber die Aktivität hat zwei Modi, die als passive und aktive Aktivität, als unfrei und frei, sich charakterisieren. Das „selbsttätige“ Verhalten, das Von-sich-aus-Wollen und das Sich-Ziehenlassen, das Willig-Nachgeben, das in anderer Hinsicht und Rede auch willenloses Nachgeben heißt.
Nr. 65 Fr eihei t und „ Ichakt “. h Frei e Entscheidung aufgrund f rei er Ü berl egung. Entscheidungen unter Zwang . D i e Frei hei t der Vernunft: Ent sc hei dung auf G rund einer Über legung , di e auf Wahrheit abzielt i1
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1) Ichaffektion und das Ihr-Folge-Leisten. Das Ich ist affiziert und folgt der Affektion. Die Zuwendung. Ein Pfiff – die Beachtung wird erzwungen: Die Erfassung ist kein Ichakt der Freiheit. Ein Lustreiz, ein Schmerz – die Lust, der Schmerz übermannen mich. Ein Trieb, eine Neigung übermannen mich. Ebenso das Hineingeraten in eine Gewohnheit. 2) Ichakte als Akte des „Interesses“, als freie Akte, also des I nter es s es in einem prägnanteren Sinn: nicht das bloße Interesse des Dabeiseins, sondern „willentlich“ Dabeisein und sich tätig verhalten, frei. Das Interesse ist also ein actus bzw. Habitus der Freiheit, eine allgemeine phänomenologische Form „actus“, deren Gegens tände m ir ni cht aufgedr ängte sind, sondern zu denen ic h m ic h f rei hi ngestel l t habe, mit denen ich mich beschäftige, denen ich mich hingebe. Der freie Akt ist also ein besonderer Typus gegenüber dem allgemeineren: „Ich bin mir einer Gegenständlichkeit bewusst, ich bin auf sie aufmerksam, auf sie gerichtet.“ Innerhalb dieser Allgemeinheit haben wir, wie gezeigt, den Unterschied zwischen passivem Hingerissenwerden und dem eventuell nachkommenden (mein Interesse wird geweckt, erwacht) aktiven Sich-Hingeben und Tätigsein. 3) Freies, interessiertes Eindringen in die Horizonte, in ihre Möglichkeiten, und fr eie Ü berl egung.2 Jede Überlegung ist ein freier Akt, ebenso f rei e, akt i ve Stel l ungn ahme, z. B. nicht ein passives doxisches Bewusstsein, sondern ein Sich-Entscheiden auf Gr und einer Ü berl egung. (Ich muss, wie nachher noch sichtlich wird, aber als zweierlei unterscheiden: 1) Entscheidung überhaupt,
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1922. Ein weiterer Begriff von freier Spontaneität.
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vom Ichzentrum aus, eine Frage, einen Zweifel entscheiden, und 2) eigentliche freie Entscheidung.) Unter dem Titel „passives doxisches Bewusstsein“ darf nicht übersehen werden a) die sekundäre und uneigentliche Passivität, nämlich die aus einer früheren freien Entscheidung als habituelle Entschiedenheit erwachsene, gegenüber b) der Passivität einer Doxa, die wie die einer Wahrnehmung auf keiner Entscheidung beruht (Entschiedenheit ohne Entscheidung). Ichakte der besonders wichtigen Eigenart der freien Entscheidungen.1 Urteilsentscheidungen (allgemein doxische), Gefühlsentscheidungen, Wunsch- und Willensentscheidungen sind Urteile im logischen Sinn, Wertungen im axiologischen Sinn, Begehrungen und Wollungen im ethischen, im praktologischen Sinn. Sie setzen freie Über legungen vor aus, noematische Überlegungen über Sein und Nichtsein, über Wertsein, über Sollendsein, praktisch richtig Sein, natürlich letzteres als Gefühlsüberlegungen und praktische Überlegungen. Das gibt dann entsprechende Unterschiede für Akte, die habituelle Erneuerungen sind, was als eigener Aktunterschied ausdrücklich aufgestellt werden muss. 4) Zu erwägen ist das Verhältnis freier Überlegung bzw. freier Stellungnahme (= Entscheidung) zur Affektion, zur Neigung. Zu unter s cheiden i st die Affekti on vor der Zuwendung und die N eigung unt er un d während der Zuwendung. Ich bin einem Gegenstand zugewendet, ich „bemerke“ ihn und spüre die Neigung, ihn so oder so zu beurteilen, zu bewerten, zu behandeln. Ich inhibiere die Neigung, ich überlege. In jedem Überlegen liegt ei n Inhi bi eren. Ich lasse den Glauben (und seine Modalitäten), das wertende Meinen, das Willensmeinen (oder vielmehr korrelativ die Meinung) nicht „in mich eindringen“, worin natürlich liegt, ich lasse es nicht zu Meinungen kommen, die ich dann hätte. 5) I chakte al s vom Ich her täti g vol lzogene Entscheidungen und auch durch Überlegung vollzogene sind genau besehen noc h nic ht Akte der Frei hei t i m prägnanten Sinn. Entscheidungen, die ich zwar vollziehe, aber von anderen gezwungen, sind, heißt es jetzt, unfrei. Willenszwang, den der andere auf mich als Herr übt. Dann handelt der andere i n mir frei, aber nicht ich selbst. Folge 1
Der im weiteren Sinn freien! Cf. folgende Seite h= S. 488,20 ff.i.
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ich blind dem Befehl, so entscheide ich mich überhaupt nicht auf Grund eigener Überlegung. Wobei nur noch in Frage kommt, dass ich handle im Habitus der eventuellen Entscheidung, in der ich mich als Sklave unterworfen und dafür entschieden habe, ein für alle Mal „blind“ zu folgen. Natürlich ist das aber nicht der einzig mögliche Fall. Andererseits, ich kann in Ausführung der „Dienstpflicht“ überlegen und frei entscheiden, während ich doch unfrei bin, sofern ich den fremden Willen ausführe. Statt des Sklaven der freiwillige Diener und immerfort „willige“ Diener. Da ist es schon anders. Erst recht im Verhältnis der Liebenden, das ein Verhältnis personaler Zweieinigkeit ist und dabei auch Willenseinheit. Urteile durch Überredung sind unfrei: Ich urteile nicht aus eigener Überlegung mich entscheidend. Anders, wenn der andere mich überzeugt: Ich höre und erwäge seine Gründe, und sie werden mir selbst, in der Zueignung, zu Gründen. Ich entscheide mich also auf sie hin frei. Unfrei bin ich auch aus Willensschwäche und W illens lähm ung. Eventuell kann ich in freier Überlegung zur Erkenntnis des Gesollten kommen und habe also diese doxische und axiologische Entscheidung gewonnen. Aber ich verbleibe in Passivität, ich bringe den Entschluss nicht auf, der mich als Freien erweist und mich frei macht. 6) Übung in der Freiheit, die Gewohnheit, frei zu handeln. 7) Die Hauptfrage: Was i st Zwang? Was macht zum Sklaven eines anderen, wie wenn jemand selbst sich zum Sklaven macht, seine Freiheit verspielt? Oder: Jemand entscheidet sich dafür, gewissen seiner Begierden nachzugeben, dann ist doch das Nachgeben frei gewolltes. Wie kommt es dann zum Begriff der ethischen Freiheit, überhaupt zur Frei heit der Vernunft? Zu notieren: Auch die Überlegung kann Gegenstand der Überlegung werden. Sie kann ja kritisiert werden; sie ist dann selbst inhibierte Überlegung in Hinsicht auf ihr Thema. Die Kritik „schweigt“, wenn die Entscheidung eine evidente ist? Nein, eigentlich nicht. Die Evidenz kann selbst wieder kritisiert werden. Aber sie schweigt, ist „gegenstandslos“, wenn sie eine aus sorgsamer Kritik erwachsene, apodiktisch evidente ist. Das, worauf das Ich durch seine Überlegung hinauswill, ist endgültig erreicht, sein Streben ist „vollendet“.
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Wir haben jedenfalls zu sondern innerhalb der freien Entscheidungen (der im spezifischen Sinn freien?): a) Entscheidungen überhaupt als Stellungnahmen durch Überlegung, b) im prägnantesten Sinn: freie Stellungnahmen der Vernunft, als Entscheidungen auf Grund 5 einer Überlegung, die auf Wahrheit abzielt und sich vollendet, aber auch ihrer Vollendung gewiss wird. Die Urteilsentscheidung ist durch einsichtige und apodiktische Kritik „gebunden“, ist notwendig, wenn nicht nur überhaupt eine Überlegung statt hat und in irgendeiner Richtung Urteilsneigungen 10 unterbunden werden, sondern wenn alle Urteilsneigungen universal und fest unterbunden sind. Wie ist es mit dem sonstigen Wollen, Handeln? Willenshaltlosigkeit, -schwäche ist eine Unfähigkeit, Willensneigungen zu unterbinden, die sich als mögliche Strebensziele darbieten, das Willens-Ich 15 affizieren.
Beilage XII hDer zur Rezeptivität gehörende Streit der Apperzeptionen. Das aktive Annehmen und das aktive Wahrnehmen als Ich-Tuni1 Das fr ei e „ Inhi bie re n “. Ich weiß schon, dass es eine Puppe ist und kein Mensch. Aber ich inhibiere die Setzung Puppe, ich denke mich hinein, ich nehme an, es sei ein Mensch. Ich kann auch die damit streitende Apperzeption Puppe und meine Entscheidung dafür „wegdenken“. Was liegt in all dergleichen vor? Auch wenn ich einfach wahrnehme, in unbestrittener 25 Gewissheit, hier steht ein Mensch, da kann ich mir „denken“, es sei eine Puppe oder dieser blonde Mensch sei schwarz etc., und „denke“ ich mir das, oder was dasselbe, setze ich es an, dann wäre also dieser Mensch nicht blond. Wie ist hier die Sachlage zu beschreiben? Jedenfalls ist es klar, da ss d a s A n se t ze n zu d e n „ I c h a k t e n “ g e h ö r t 30 und dass es nicht gehört in den Bereich der Modi der apperzipierenden Intentionalität und somit der Re ze p t i v i t ä t. Dort haben wir 1) einen U r b o d e n der Ei ns ti mmig kei t, di e U rd o x a, 2) aus ihm eventuell sich heraushebend aus der Unterlage einer durchgängigen, aktuell einheitlichen Syn20
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these eine Spaltung der Synthese, eine Synthese des Widerstreites und der Modalisierung der sich spaltenden intentionalen Schichten, ihr Modus des Gehemmtseins, und Widerstreit besagt das Einleben in die eine Schicht oder auch wirkliches Zustandekommen der einen apperzeptiven Auffassung und somit der einen Erscheinungsreihe (der einen Wahrnehmung), die andere „unterdrückt“ und umgekehrt. Es ist ein Wettstreit der Wahrnehmungen und wechselseitige Unterdrückung (vor aller Stellungnahme des Ich), und wieder: Es kann die Fortsetzung der Erfahrung eine Bereicherung der einen Apperzeption herstellen, von der grundlegenden aktuellen Wahrnehmungssynthese sich aktuell ungebrochen fortsetzend, sich fortsetzend in die eine Wahrnehmung, und zwar so, dass sie eben ungebrochen ist oder dass sie selbst ihre Modalisierung im streitenden Stück, so weit es „Hemmung“ ist, verliert und abermals Modus des „seiend“ wird. Das Unterdrückte erhält dann den Charakter des „nicht“, und bricht es wieder durch, so hat es offen, hd.h.i hat die Erscheinung, den Charakter des Illusionären. Die impressionale Erfüllung der Erwartungsintentionen aus der einen Apperzeption hebt die damit streitenden der anderen Apperzeption auf. Diese Aufhebung ist das illusionäre „nichtig“. Das gehört in die R e ze p t i v i t ä t. 2) Auf der anderen Seite steht das motivierte Verhalten des Ich, seine s pontane A ktiv itä t. Freilich ist da die Passivität und ihre Leistung weiter zu verfolgen. Das Spiel der Assoziationen und das Überlagern der Apperzeption mit Gegenapperzeptionen, und zwar nicht nur von solchen, die durch die Erfahrungsunterlage passiv motiviert sind (in apperzeptiver Intentionalität angeregt und „bedingt“), sondern auch von solchen, die es nicht sind. Ich habe z. B. den „Einfall“ eines ähnlichen Menschen als der hier gesehene, dessen Haare aber schwarz sind. Da haben wir auch eine Deckung und die schwarzen Haare in „streitender“ Deckung mit den blonden. Es ist dann die Frage, wie ich dadurch motiviert werden kann, diesen Menschen hier selbst als schwarzen mir zu „denken“, das „gesetzt, er wäre schwarz“ zu bilden. Es kann mir Spaß machen, das in der Überdeckung groteske oder schönere Bild des schwarzen Menschen, das da bereit liegt, zur Einheitsapperzeption sich schickt, festzuhalten und mir etwa weiter dabei verweilend vorzustellen, was die Leute sagen würden etc. Und in anderen Fällen kann die Lage praktisch werden. Ich kann bedauern, dass A nicht statt α β ist. Ich kann mit Rücksicht auf die Erfolge meines aufmerksamen Eingreifens in anderen Fällen hier zum Bewusstsein des „Ich kann es verändern oder vielleicht verändern, so dass es β wird“ kommen etc. Da sind also Probleme der Bildung und Umbildung von Apperzeptionen vermöge der Wirksamkeit der Ähnlichkeitsassoziation und dabei von Phantasieumbildungen, das Bilden von Möglichkeiten, von passiv sich durchhaltenden wie passiv erwachsenden. Aber dann vom I c h h e r d a s
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fes te Zugr ei fen, das In-Id e n t i t ä t - Fe st h a l t e n, d. i. aber, es in Identität des gegenständlichen Sinnes (im Quasi-Modus des einstimmig seiend) in Gang halten. Im akti ven Anne hm e n liegt ein Tun, ein Vom-Ich-her-s t r e b e n d Lei s ten. Aber das liegt auch vor im a k t i v e n W a h r n e h m e n, wird man sagen, wo ich bald das „weil-so“, bald das „wenn-so“ im aktiven Vollzug der Kinästhese oder der Annahmen von Kinästhesen frei durchlaufe und so notwendig Betrachtung tätig vollziehe oder mir „vergegenwärtige“, mir im voraus denke, was voraussichtlich eintreten muss, und zwar, was ich voraussichtlich vom Gegenstand wahrnehmungsmäßig haben müsste, wie er gemäß dem schon Gesehenen sein würde usw. Das akti ve Wa hrnehm e n und aktive Durchlaufen der Wahrnehmungsmöglichkeiten und der darin erwartungsmäßig in Gewissheit oder Vermutlichkeit oder hin deri offenen Möglichkeit hervortretenden gegenständlichen Bestimmungen ist ein erze u g e n d e s T u n. Aber ein Tun, wo ich, solange ich in der bloßen Wahrnehmung bleibe, e n t w e d e r s c h o n r e z e p t i v b i n o d e r wei ter e Reze ptiv itä t e rw i rk e , i n t ä t i g e r H e r s t e l l u n g, oder tätig herstelle die Bedingungen für eine bestimmt erwartete und offen mögliche Rezeptivität. Aber das ist dann wieder Rezeptivität in der Vergegenwärtigung. Was gibt es dann mehr? Natürlich explizieren, beziehen, vergleichen und die Gemeinsamkeiten herausheben, dazu hypothetische Ansetzungen machen und das unter dem Ansatz sich Ergebende, die Folgen herausstellen – ist all dergleichen nicht eine Kette tätiger Prozesse, in denen Rezeptivität und Quasi-Rezeptivität vorbereitet wird? Und das Fixieren des in jedem Schritt Hervortretenden im Willen zur Kenntnisnahme, das Sichzueignen als etwas, das man „sich“ einprägt und nachher hat als etwas immer wieder Identifizierbares, das ist ein zur Rezeptivität gehöriger Modus. Und wie steht es in höherer Stufe mit dem „überhaupt“, und zwar dem Apriorischen im Rahmen reiner Möglichkeiten und dann mit dem Denken in Anwendung auf empirische Wirklichkeit? Wie steht es mit dem aktiven Begründen, Rechtfertigen der Vormeinungen? Ist jederlei Evidenz nicht in nur immer höherer Stufe Rezeptivität, wenn auch Spontaneität vielfältig ihre Rolle spielt als vom Ich her Streben, Tun, Herstellen von Umständen, unter denen man eben sehen kann und einsehen, und dann einsieht? Aber nun die Stellungnahmen? Das Reich der Entscheidungen des Ich?
Nr. 66 h Di e Freud e an der Erkenntnis. Das unendli che Rei ch der m athematischen E r kennt nis als ei ne ei gene praktische Güterwelt. Der en m etho di sche Beherrschbarkeit als eine eigene prakti sche Ver nunft und ein ers tes Bi ld ei nes rati onal en Lebens i1
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Liebe zur Erkenntnis. Erkenntnis als Gut, als Zweck und seine möglichen Motive. Liebe zur Erkenntnis, reine Freude an einer Problemlösung, an einer Gewissheit, die eine Unentschiedenheit zwischen Möglichkeiten entscheidet. Unlust an dem Ungewiss-Werden, Zweifelhaft-Werden einer Überzeugung, Freude an der Entscheidung in einsichtig gegebener Wahrheit, Freude an der Wahrheit. Aber wenn ich nun schon Wahrheit und eine sichere Überzeugung durch Anmessung an Wahrheit habe, weiter die Sicherung durch Fixierung der Erkenntnis zum dauernden Besitz, wonach ich die Wahrheit immer wieder „herstellen“ und die Überzeugung und die Aussage immer wieder bewähren kann: Wann werde ich diesen Besitz realisieren, wann die Freude daran wiederherstellen? Wird sie immer wieder die gleiche Freude und überhaupt Freude sein? Oder vielmehr: Warum fixiere ich, warum wird die Fixierung der Erkenntnis vollzogen, wofür ist sie Mittel, warum ist fixierte Erkenntnis ein dauerndes Gut? Eine endliche Freude, die sich vollendet in vollendeter Erzielung eines Begehrten, klingt ab und geht vorüber. In der Wiederholung der Realisierung des Wertes, desselben oder eines gleichen, kann sie oder eine gleiche wiederhergestellt werden. Aber das gilt doch nicht ohne weiteres. Die wiederholt durchlaufende Betrachtung eines Schönen erfreut mich, und in der Wiederholung vertieft und vollendet sich die Freude. Eine gewisse Mehrfältigkeit des Genusses gehört hier zur Vollendung. Ebenso, wenn ich erstmalig eine Erkenntnis gewonnen habe, durch Rekurs auf sich plötzlich darbietende Prämissen eine Entscheidung einsichtig gewonnen habe, dann werde ich, abgesehen
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von der Absicht auf Sicherung, mir den Zusammenhang wiederholt ansehen, und in der Wiederholung erst vollendet sich die Erkenntnisfreude. Aber nur, bis ich „satt“ bin. Nicht nur, dass äußerlich betrachtet ein Punkt kommt, wo die Freude sich nicht mehr erhöht, sondern sie hat eine Vollendung, und vom Ich her gesagt: Ich habe nun den Wert voll und ganz realisiert, zu dieser Realisierung gehört die Wiederholung, ich habe den Wert „in mich aufgenommen“. Ist das der Fall, so werde ich, wenn ein Begehren nach einem neuen Gut mich bewegt, diesem nachgehen. Das noch nicht Erledigte hat den Vorrang vor dem schon Erledigten; es ist als Erledigtes nichts mehr, was mich an sich fesselt. Aber es kann nach einer Zeit die Erinnerung an das früher Ausgekostete, aber wieder Realisierbare, auftauchen und ein Begehren, es wieder zu genießen. Andererseits hat dann das Begehren nach einem Neuen, Gleichwertigen, das ich noch nicht realisiert und, subjektiv gesprochen, genossen habe, seinen Vorrang, wenn nicht noch andere Motive als im Wert selbst liegend mitsprechen. Aber es ist nicht so leicht, hier allgemeine Sätze auszusprechen. Das „Eins und Eins“, Zahlenformeln – sind das unendlich viele Erkenntniswerte? Hätte ich in infinitum Freude, sie zu realisieren? Hier habe ich eine Methode, jede nach Belieben zu erzeugen, ich habe sie alle im Besitz, wenn ich die Methode habe. Obwohl die Methode Methode für Erzeugung solcher Erkenntnisse ist, zehrt der Wert der Methode sozusagen die Werte aller dieser Erkenntnisse auf, beschließt sie in sich und entwertet sie in gewisser Weise. Die Freude an der Erkenntnis und Zueignung der Methode konsumiert sozusagen die Freude an den einzelnen Erkenntnissen. In dieser Weise entwertet jede allgemeine mathematische Formel ihre mathematischen Besonderungen, z. B. die numerischen, und diese erhalten erst Wert, wenn ich gerade sie für einen besonderen Erkenntniszweck brauche. Ebenso wenn eine Methode sich leicht auf verwandte Fälle übertragen lässt, so findet eine Entwertung statt: „Das ist nichts wesentlich Neues“, „Das ist keine wesentliche und wertvolle Leistung“, sagt dann die Mathematik. Wird die Methode allgemein formuliert, ihr allgemeiner Gedanke erkenntnismäßig herausgehoben, dann ist sie der konsumierende Wert für alle die besonderen Methoden, die unter ihr stehen. Aber bedarf es dabei mehr als mechanischer Subsumption (die nicht rechnet), sondern einer gewissen Erkenntnisleistung, die doch eine Erkenntnis schafft, die
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man nicht ohne weiteres bereit hat, so bleibt hier ein „kleiner“ eigener Wert doch noch übrig. Der geübte Mathematiker, der gewisse Typen von Aufgaben nach einem Methodentypus selbstverständlich lösen kann, rechnet die Lösungen nicht mehr als Werte, wo eben dieselben Lösungen für den Anfänger Werte sind und ihm Lob eintragen. Es ergibt sich aber das Problem: Was ist das, Freude an der E r kenntnis, wori n gr ündet si e? Wo mich keine Frage bewegt, habe ich für keine Antwort ein Interesse, und eine Erkenntnis wie die der Pythagoreischen Wahrheit, im Zusammenhang der Beweisführung als einsichtig hervortretend, wird mich sehr interessieren, wenn ich mathematisches Interesse habe und nach dergleichen Erkenntnissen eben ein Begehrheni habe, wenn mit anderen Worten mathematische Fragen mich beunruhigen. Aber auch dann, wenn das nicht der Fall ist? Ist Einsicht in den generellen Größenzusammenhang gewisser Gebilde im Raum oder sind die Einsichten, die die Axhiomei der Geometrie aussprechen, und die weiteren, dass die und die Sätze für alle A etc. bestehen, an sich reine Erkenntnisfreuden bzw. Erkenntniswerte? Das kann man aber überall fragen. Überall liegt jedenfalls die Sache so, dass mannigfaltiges Erkenntnisbegehren aus den verschiedensten praktischen Motiven vorangeht, so für die Geometrie das praktische Interesse des Feldmessens etc. Aber die Neugier, das Interesse des Weltreisenden, das Interesse dafür, wie die Welt ist, nach ihren ρχÜ ist. Es handelt sich also doch nicht bloß um ein universales Erkenntnisstreben in dem Sinn, dass man bloß im Voraus möglichst viel oder alle Erkenntnis bereit haben will, wenn man sie braucht, oder um eine Freude an dem Können, dass man in der Lage ist, jede Erkenntnis zu beschaffen, wenn man sie braucht (indem man sie schon als reines Erkenntnisgut in den Besitz gebracht hat). Man freut sich an der Erweiterung der geographischen Erkenntnis, man freut sich „interesselos“ an allgemeinen Erkenntnissen über die Welt, wie sie geworden ist, aus welchen Prinzipien. Und man geht dann weiter, reines Interesse erwacht für die räumliche Struktur der Welt, man findet die praktisch gewonnenen geometrischen Sätze merkwürdig und interessiert sich für sie und ihre Gründe rein theoretisch, ebenso für die Zahlenwahrheiten, die auch zur Weltstruktur eine Beziehung gewinnen.
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Es ist nicht gleich alles „interessant“; aus der Unendlichkeit der Welt interessiert zunächst das allgemein Einheitliche oder aus dem konkreten großen Einheitszusammenhang, wie bei nächststehenden Völkern, den Persern, ihre Geschichte, dann im Raum die Unendlichkeit von Gestalten und zunächst von geradlinigen Figuren, die sich auszeichnen, man sucht sich zurechtzufinden und systematisch vorzugehen. In der Mathematik interessiert dies, dass hier ein Reich freier Konstruktion ist, dass aber die frei gezeichneten Gebilde ihre allgemeinen Gesetze haben. Es eröffnen sich hier systematische Wege, durch die man Erkenntnis gewinnen und Herrschaft über die Konstruktion von Erkenntnisgebilden gewinnen kann. Somit erwächst Freude am Können, im Erzielen von schönen Zielen, im Problemstellen selbst und Problemlösen, in systematischer Ordnung des Vorgehens, die das geometrische Reich zu einem Reich praktischer Vernunft macht, einem unendlichen Reich praktischer Tätigkeit, in dem man nicht wahllos Ziele sich stellt und Interessantes findet, aber auch sich verirrt, Fehler, Trugschlüsse begeht, sondern durch Ordnung des Ver fahr ens , dur ch r i chti ge Methode und Methodenkritik eine A r t vernünf ti ger H errschaft etabliert, die sich über dieses unendliche Gebiet immer weiter ausbreitet, und schließlich eröffnet sich di e Auss ic ht, m ethodi sch diese Unendlichkeit ganz beherr sc hen zu können, nicht durch wirkliche Aufstellung jeder hineingehörigen Erkenntnis – deren sind unendlich viele –, sondern durch Aufstellung einer Grundgesetzlichkeit, die das unendliche Reich der Erkenntnis definitiv umspannt und einer systematischen Methodik der Deduktion, welche es ermöglichen soll, alle Probleme schichtenweise oder stufenweise und in jeder Schicht systematisch zu ordnen und feste Wege zu zeichnen, durch die man sie in der Stufenordnung erledigen kann. Man hat hi er eine eigene praktische Güter w elt und eine ei gene praktische Vernunft, eine pr aktis c he Lebensor dnung (Ordnung des erkennenden Lebens), in der der Erkennende handelnd in jeder Lebensphase das Bestmögliche vor Augen hat und realisiert, und hin der eri andererseits ein unendlich Gutes (das unendliche Erkenntnisreich) als unendliches System erreichbarer Güter als Feld seiner Lebensarbeit hat; und gerade durch die Unendlichkeit, die Abschluss unmöglich macht (aber auch unmöglich macht eine Befriedigung, die sich in der Erzielung
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auch alsbald erschöpft), ein ins Unendliche sich in endlichen Schritten befriedigendes, aber auch sofort zu höheren Werten fortstrebendes Leben ermöglicht. Das is t ei n er st es Bi l d ei nes rati onalen Lebens einfachs ter Ges talt, ei n der r ei nen Erkenntnis gewidmetes Leben, z unächs t im mat hema ti schen U ni versum. Denken wir uns eine universale Philosophie mit allen wissenschaftlichen Sonderdisziplinen, so bietet jede ein solches Bild, wenn diese Sonderdisziplin streng wissenschaftlich geworden ist, und die ganze Philosophie selbst: Es geht dann eine Struktur des Vernunftlebens durch die Menschheit, nämlich für die Gemeinschaft der Wissenschaftler gilt es, dass sie, soweit sie ihr einheitliches Berufsleben der Erkenntnis durchführen, sie ein rationales Leben führen, eben dadurch, dass sie rationale Erkenntnis in rationaler Methode erzeugen. Ein Erkenntnisleben ist aber nicht alles. Auch wäre zu sagen, dass ein mathematisch rationales Leben, das des Mathematikers im abstrakt herausgenommenen Berufsleben, die Prinzipien seiner Rationalität (als ein Leben, das Erkenntnis wertet und Erkenntnis anstrebt und bestmögliche Erkenntnis) der Axiologie entnimmt. Man begehrt und will auch hnochi anderes als zu erkennen, und das gilt selbst für den Wissenschaftler, dessen Berufsleben nicht sein ganzes Leben ausfüllt. Dur ch das Vernun ftl eben i n der Form der Wissenschaft w ir d ein V ernunf tl eben überhaupt möglich, und zwar durch univer s ale Wi ss ensc haft,1 welche so universal ist, dass sie die Möglichkeiten eines Vernunftlebens überhaupt nach allen zu einem Leben wesentlich zugehörigen Formen der Vernunft und zuhöchst die Möglichkeit eines höchstwertigen Lebens und danach als praktisch geforderten theoretisch erforscht und als praktische Norm alles aktuellen Lebens bestimmt.2 Indem diese universalste Frage praktischer Vernunft und Vernunft überhaupt wissenschaftlich erforscht wird, so ist es selbst eine erste Einsicht, dass solche praktische Vernunft nur durch universale Wissenschaft möglich wird.
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Darin tritt eine Rückbezogenheit der Vernunft auf sich selbst wieder hervor. Und teils durch universale Vernunftlehre, teils durch Eingehen in die besonderen Möglichkeiten und dann durch alle Wissenschaften überhaupt. 2
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Das erkennende Streben und freie Handeln, das reine Erkennen im rein sachlichen, rei n theoreti schen Interesse, in dem ich nur die Sachen selbst sprechen lasse,1 die Wahrheit selbst, das ist, hichi urteile nur nach der Norm der Wahrheit, oder ich strebe nach Wahrheit in doppeltem Sinn: Ich bilde mir nicht nur meine Meinung und beantworte eine Frage (eine auf Entscheidung von miteinander streitenden Möglichkeiten, von einem „Zweifel“ gerichtete strebende Intention) nicht in Form einer sich mir irgend motiviert ergebenden Gewissheit, sondern nur durch eine Gewissheit, die aus „Begründung der Wahrheit“ hervorgeht (eventuell durch schon „gewonnene Wahrheit“, durch Urteilssätze, die ihre Wahrheit schon ausgewiesen haben, begründet ist, derart, dass ich das Gründen und Entspringen an dem Begründeten, sein „Folgesein“ selbst, als wahres sehe). Das r eine Erkenne n folgt dem einzigen Erkenntnismotiv, das reine Erkenntnisbefriedigung verbürgt, es strebt nach nichts anderem als nach der Wahrheit bzw. nach Aussagesätzen, deren Bedeutung so gebildet sind, dass sie Wahrheit dauernd in sich tragen. Ein Aussagesatz wird wiederholt immer im selben Sinn verstanden und kann von jedem Hörenden im selben Sinn verstanden werden. Als geschriebener Satz kann er zu beliebigen Zeiten in diesem Sinn gelesen werden. Wie erhält er die Wahrheit? Der verstandene Satz ist nicht ohne weiteres eingesehene Wahrheit. Aber wird auch die Begründung sprachlich fixiert, dokumentiert, so kann die Begründung immer wieder einsichtig vollzogen werden, sofern alle unmittelbaren Wahrheiten (die letzten Prämissen) ohne weiteres einsichtig zu machen sind etc. Aus dem, was unmittelbar klar und wahr ist, unmittelbar gegeben ist in seinem Selbstsein und Sosein, wie eine Erfahrungsgegenständlichkeit, ihre Eigenschaften, hwiei ihre selbsterfahrenen Verhältnisse etc. erkennend-begründend fortschreiten und in unmittelbar evidenten Folgerungsschritten, das ist das Ziel purer Erkenntnis.
1 „Sachlich“, „Sache“ ist unpassend. Ich habe diese Worte sonst ganz anders gebraucht, zur Bezeichnung des Eigentümlichen des Naturalen gegenüber dem ichlichintentional charakterisierten Geistigen. Da s t h e o r e t i s c h e I n t e r e s s e g e h t a u f „ Wahrhaft- und Wirk lich s e i n “ , a u f „ W i r k l i c h k e i t “ a l s W i r k l i c h k e i t. Das wertende Interesse lebt im konsequenten und auf Erzielung gerichteten Werten, so wie das theoretische Interesse im konsequenten und auf Erzielung gerichteten Denken.
Nr. 67 Aff ekt i on h und At tention als M odi des G egenstandsbewusstseins. St reben als al l gem ei ne Modalität des B ewuss ts ein s. H i ntergrundaffektion und att enti onale Affekti on: vorattentionales und at tenti onal es Strebeni1
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Objektivation, Gegenstandsbewusstsein, z. B. (Ausgangsfall) eine schlichte Anschauung. Allgemeine Form: kontinuierliche Synthese von Urimpression, Urretention, Urprotention. Urimpression ein Erfüllungsmodus. Wir haben Bewusstsein, „Gegenstandsbewusstsein“, in verschiedenen Modi, unerfüllte und Erfüllungsmodi. „Intention“ besagt hier nur das Gattungsmäßige des „Bewusstseins“ als Bewusstsein-von; „leeres“, „noch unerfülltes“, und „erfülltes hBewusstsein“i besagt Modi und ebenso die konkreten Gestalten und Übergangsgestalten, ein konkretes unerfülltes Bewusstsein sich im Prozess erfüllend im Übergang zu einer Wahrnehmung. Aber da gibt es viel zu unterscheiden und zu beschreiben. Das dachte ich in dieser Betrachtung ohne Hinblick auf die Modi des Strebens.2 Gegenstandsbewusstsein und Affektion – Attention. Modi des Gegenstandsbewusstseins je nach Art der Affektion, die noch nicht Attention geworden ist. Affektion ist schon ein Vollzugsmodus und Ichmodus des Gegenstandsbewusstseins. Affektion als Reiz übt auf das Ich einen Zug in einer von Null anhebenden Gradualität. Problem: Übt jeder Gegenstand des Bewusstseins eine Affektion? Oder was dasselbe: Gibt es auch in dem Sinn ichloses Gegenstandsbewusstsein, dass das Ich auch nicht in der Weise der leisesten Affektion beteiligt ist? Oder was wieder dasselbe: Kann der Affektionsgrad Null wirklich vorkommen? Kann es intentionale Erlebnisse geben oder gar gibt es stets solche, die in jedem Sinn der Affektion und Attention ichlos sind?
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1923. Allenfalls könnte man die zu jedem ursprünglichen Zeitbewusstsein gehörige Protention schon als ein passives Streben, halsi „Tendenz“ bezeichnen. 2
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Betrachten wir die Affektion weiter als Vollzugsform der intentionalen Erlebnisse bzw. als Art der Beteiligung des Ich an der Intentionalität. Die Affektion besagt für das „Gegenständliche“, es zieht das Ich hin, und für das Ich, es ist gezogen, mehr oder minder, und schliesslich kann es hingezogen werden, dem Zug folgend, in verschiedenen Übergangsgestalten, die mit der Intensität des Zuges zusammenhängen. „Dem Zug folgen“, das kann statthaben bei geringerer oder stärkerer Intensität und hängt in der Übergangsform ab von Gegenaffektionen und ihrer Gesamtkraft. Besondere Gestalt: das gewaltsame Hingerissenwerden. Das gilt für alle Modalitäten des Glaubens, des Wünschens etc. Doch es ist hier zu sagen: Es können mancherlei Affektionen im Ich zusammentreffen, schlaffe und intensive. Verschiedene Affektionen, solche verschiedener Sinne, Sätze, „Gegenstände“, hemmen sich, stören sich, stehen in affektivem Wettstreit. Muss eine, die stärkste, siegen: vorausgesetzt, dass das Ich nicht seinen attentionalen Gegenstand hat? Kann das Ich schlafen, zurückgezogen sein ohne jede Aktivität, ohne jede Beschäftigung mit irgendetwas? Und wenn das, besagt das ein Gleichgewicht aller Affektionen? Können Affektionen überhaupt völlig unverändert bleiben in ihrer Kraft, und sind Kraftschwankungen eventuell bedeutungslos für das Ich? Dann die Phänomene des Siegens, der Zuwendung,1 des Eingreifens und die Phänomene der primären und sekundären Affektion und was sekundär motivieren kann. Indem das Ich nachgibt, erhält das Gegenstandsbewusstsein einen sich neu wandelnden Modus der Ichbeteiligung und im Moment, himi Einsatzpunkt des Erfassens, erhält es die attentionale Gestalt des ego cogito. Aber nun wird man sagen: Es liegt darin zugleich eine Forterhaltung, wenn auch Modifikation, der vorgängigen Affektion, des Hingezogenseins. In der objektiven Betrachtung zieht das Objekt noch immer an, und das Ich ist in gewisser Weise bei ihm und geht ihm fortgesetzt nach. Nun erwächst die Frage: Handelt es sich bei all dem nicht um verschiedene Formen unerfüllten oder erfüllten „Strebens“?2 Und da Affektion und Attention selbst betrachtet sind 1
Zuwendung zu einem Wirklichen, Vermutlichen, aber auch in der „Phantasie“. Dieses Streben ist Ich-Streben, Tendenz auf das Ich hin und vom Ich hin auf das Intentionale; dann Modus des aktuellen Vollzugs. 2
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als Modi der Gegenstand konstituierenden Intentionalität, so kommen wir auf die Frage, ob nicht Gegenstandsbewusstsein überhaupt eine gewisse Modalitätenreihe hat, die der Titel „Streben“ bezeichnet, das also nichts neben ihm ist, nicht ein in ihm bloß fundiertes neues Bewusstsein, sondern eben etwas zu seiner Konkretion beständig Gehöriges, eine Abwandlungsform, die wir dann etwa in der bevorzugten Form der Attention festhaltend außer Betracht lassen, wenn wir Sinnesanalyse oder Satzanalyse betreiben. Dabei sehen wir eben nach hderi Richtung anderer Modalitäten hin, die aber wesensmäßig mit attentionalen und überhaupt Strebensmodalitäten zusammenhängen.1 „Streben“, hier in dieser allgemeinsten zum Bewusstsein gehörigen Form der Tendenz, der tendenziösen Intention,2 bezeichnete also von vornherein einen Modus der Intentionalität, setzte also immerfort voraus Bewusstsein als Bewusstsein-von, aber drückt eben nur aus, wie Bewusstsein „Bewusstsein-von“ sein kann, und das sei nur möglich in der Weise der Affektion und Attention.3 Dabei muss man sorgsam unterscheiden: Gra de der Stärke hat die Affektion, absolute, andererseits, was davon wieder zu unterscheiden ist, relative: nämlich je mehr sie andere Gegenaffektionen übertönt, umso stärker ist die wirksame Affektionskraft.4 Stärkere Reize betreffen das Ich stärker, aber so sehr mit der Stärke als Korrelat in der Vereinzelung Hand in Hand geht Stärke des Zuges (und evident fühlbar), so gehört doch dazu auch im Konkurs der Anziehungen die Hemmung, eventuell Gleichgewicht, also Mangel „wirkender“ Kraft, Mangel einer Resultante oder einer wirksamen Kraft als Resultante, d. i. Stärke des wirklich resultierenden Zuges. Dabei kann ich bei einer Sache schon sein, und es handelt sich um eine Resultante anderweitiger Affektionen, und dies bedeutet dann korrelativ eine Neigung und eventuell wachsende Neigung zur
1 Aber wir haben noch ganz andere Tendenzen, die assozhiativeni, die ichlosen vom Assoziierenden zum Assoziierten, und dabei die Modi der unerfüllten und reproduktiv erfüllten und der impressional erfüllten Intentionalität. 2 Modaler Unterschied des Strebens: das Getane der Retention, das Lebendige der Protention und Erfüllung in Wahrnehmung. 3 Und Assoziation! 4 Alles auch für Assoziation.
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Zuwendung, wofern die Kraft in der Zuwendung selbst auf das mich gerade Beschäftigende sich schwächt. I n der Z uwendung, wi rd m an sagen, „ entspannt “ sich die A ffektion. Aber was sagt das? Das Hinstreben entspannt sich durch „Erfüllung“. Aber es hört nicht auf, Streben zu sein, und korrelativ hört der Reiz des intentionalen Gegenstandes nicht auf, er hat nur den neuen Modus der „Erfüllung“. Aber nun haben wir im Gegenstandsbewusstsein dieses neuen attentionalen Modus doch offene Horizonte und selbst in der Wahrnehmung stetige protentionale Affektionen, und auch diese haben einen neuen Modus gegenüber dem Hintergrundmodus, sofern ich schon bei dem Gegenstand strebend dabei bin und insofern mein Streben zu ihm hin erfüllt und realisiert ist. Aber ich komme mit offenen Armen dem Neuen des Gegenstandes entgegen, fange es auf und bleibe so an ihm und bei ihm, ihn stetig kennenlernend. Die protentionale Intentionalität der Wahrnehmung ist also patent geworden, ist immerfort sich vom Ich her realisierendes Streben und erhält sich im Erfüllungsmodus der Attention, erhält sich, indem es attentional stetig vorgerichtet ist auf das stetig Kommende.1 Also die Affektion hat hier eine neue Gestalt, sie hat selbst attentionale Gestalt, das Ich ist schon wach, hat schon seinen Gegenstand und über das hinaus, was es von ihm in der momentanen Impression hat, langt es vor in Vorerwartung, so dass diese Vorerwartung in ihrer kontinuierlichen Einheit mit der Impression und ihrem wachen Ich selbst einen neuen Modus hat.2 Andererseits ist es unerfüllte, aber sich stetig erfüllende Intention, solange eben das Wahrnehmen am Zuge ist.3 Aber nun müssen wir überlegen. Wir haben unter dem Titel des Hintergrundbewusstseins mit Hintergrundgegenständen ein Reich der Intentionalität, das der Form des Strebens nach unerfüllt ist
1 Ferner: Modus des Noch-im-Griff-Haltens des Ich und weitere Abwandlung das Ichlos-Werden, das Loslassen des aktuellen Ich. Andererseits Herabsinken des „Ich denke“ in die Vergangenheit, wobei das Ich als aktuelles Ich nicht mehr dabei ist und doch das Vergangene durch Synthese dem Ich näher ist in besonderer Art gegenüber Sonstigem. 2 Ebenso hat das Retentionale, das in der normalen Wahrnehmung nicht im Griff bleibt, doch einen besonderen Modus des Außer-Griff-Seins. 3 Aber wenn die Erwartung sich im Anderssein enttäuscht oder im Aufhören? Aber „enttäuscht“ sich das attentionale Streben? Das ist immer erzielendes Streben.
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und sich erfüllt, wenn dieses oder jenes Hintergründliche zum Attentionalen, zum Erfassten wird. Wir haben also den ersten modalen Unterschied, modal der Strebensform nach, als Hintergrundaffektion mit Tendenz zum Gegenstand hin, als Vorform strebender Intentionalität und attentionaler Affektion, in der das Ich bei dem Gegenstand (als Gegenstand des Bewusstseins) ist und von ihm als attentionalem und seinen offenen Horizonten die „Motive“ des Strebens empfängt, wobei das Streben erfüllt ist, soweit es beim Gegenstand ist, aber unerfüllt in neuer Weise ist, sofern es noch nicht nach allen seinen intentionalen Momenten bei ihm ist.1 Wir haben also vor-attentionales Streben als unerfülltes und Erfüllungsform der Attentionalität, und diese Erfüllung ist selbst ein unterstufiger Modus, der selbst wieder, und das gehört zur höheren Stufe, unerfüllte Intention sein kann und Erfüllungsgestalten annehmen kann. Das ergibt die Mannigfaltigkeit der patenten, d. i. doch der attentionalen Intentionalitäten. Natürlich müssen wir scheiden „Erfüllung“ als Modus des affektiven Strebens oder der Strebensabwandlung und Erfüllung als Modus der Intentionalität als Sinngebung, als Modus des Sinnes und der Übergänge des Sinnes aus der leeren zur vollen Gestalt, Übergänge indirekter Intentionalität zum relativen Selbst und schließlich zum evidenten Gegenstand selbst. Die beiden „Erfüllungen“ und Erfüllungssynthesen sind miteinander natürlich zusammenhängend, obschon sie anderen Wesensrichtungen zugehören. Das Erkennen als erkennendes Streben verläuft in Sinnesgestalten, die in erfüllten terminieren und terminieren im Sinn des Strebens. Das Streben ist eben nur eine Form, und sie hat ihren Sinnesgehalt, und Erfüllung des Strebens führt aus der Vorform in die attentionale Form und dann in ihr zu E r füllungsges tal te n, di e Si nnesgestalten wesensmäßig for der n. Aber wie steht es mit „ Erfül l ungen “ im Hi ntergrund, wenn etwa dort ein Gegenstand, in gewohnten Weisen seine verschiedenen Seiten zeigend, sich dreht, oder im Hintergrund eine Melodie in gewohnter Weise abläuft, und so schon im ursprünglichen Zeitbewusstsein? Sind das nicht Tendenzen, die sich erfüllen? Haben wir also nicht noch eine ganz andere Art von Tendenzen, die zum Gegen-
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Streben = Motivation, hier Ichmotivation.
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standsbewusstsein gehörig sind und, wenn der Gegenstand affiziert, den Weg einschlagen, um zu attentionalen Ichtendenzen, Strebungen zu werden? Das muss also noch überlegt werden. Wir haben also doch Intentionalität und Tendenz vor aller Frage nach Affektion und At5 tention, und int enti onal e Tendenzen , die passive Synthese er möglic hen, si nd etwas anderes al s Ichtendenzen und halsi die Wandlungen, durch die Attention zustandekommt und damit derjenige Modus der Intentionalität, durch die sie in der oder jener Richtung patent wird. Wenn ich einem Moment eines Ereignisses, 10 etwa dem fahrenden Wagen, zugewendet bin und gerade den Rädern, dann ist alles Übrige daran ein Komplex von apperzeptiv-assoziativen Tendenzen, aber eröffnet ist nur eine Richtung in der ichstrebenden Intentionalität.
Nr. 68 h Pra kti sche Affektioni1
ha) Die Abwandlungen des Strebens. Ist Gefühl ein Modus des Vorstellens?i 5
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A s s oziat ion, Apperzeption kann als passives Geschehen im Leben bezeichnet werden, sofern seine Bildungen erwachsen können ohne jedes Zut un des Ich.2 Andererseits, das tätige Ich kann „eingreifen“, obschon es dazu, eben weil Tätigkeit selbst ein subjektiver Modus der Intentionalität ist, Intentionalität (Apperzeption) „voraussetzt“ und beständig in sich schließt (wenn wir Tätigkeit korrekt verstehen). Das voliti ve St reb en, vom Ich her frei realisierend. Es gibt subjektive Vorkommnisse, Geschehnisse, „Bewegungen“, die ich frei durchlaufen, frei wiederholen kann. Habe ich mehrere konstante Gegenstände passiv als dauernde konstituiert und hsiei im Fortwähren durchlaufen, so kann ich sie wieder durchlaufen; die attentionalen Einzelerfassungen in ihrer Folge assoziieren sich und können im voraus affizierend eine praktische Zuwendung ermöglichen. Diese praktische Zuwendung zu den vorgestellten Reihen von Einzelerfassungen ist ein eigentümlicher Modus, nicht bloße Vorstellung, sondern Realisierung. Prozess einer durchlaufenden Betrachtung eines Gegenstandes: Wiederholung. Prozess einer Wiedererinnerung im Modus der Attention: Wiederholung der Erinnerung. Prozess einer kinästhetischen Wiederholung: um der Wiederherstellung der zugehörigen Gegenstandsergreifung willen. Affektion eines Vergangenen. Zuwendung, passiver Prozess der Erfüllung in Form einer Wiedererinnerung. Das ist eine Realisierung, aber zugleich eine solche, die zur Realisierung vom Ich her im fiat werden kann. Spiel einer Geige:
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Wohl 1930. – Anm. der Hrsg. Ist passive Verwirklichung einer assoziativen (reproduktiven) Tendenz Verwirklichung eines „Strebens“? Ist Assoziation auch im Hintergrund unerfülltes oder erfülltes Streben? Also wäre das Ich-Streben ein besonderer Modus des „Strebens“. – Aber was besagt dann Affektion? 2
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Hier erfüllt sich das aufmerkende Streben, aber dieses „ichfremde“ Geschehen ist nicht im Feld meiner „praktischen“ Möglichkeiten – nicht unmittelbar. Tun kann ich nur, wo ich unmittelbar subjektives Geschehen vom Ich her verwirklichen kann; das Ichtun ist ein eigentümlicher Strebensmodus und mittelbares Ichtun setzt eben unmittelbares voraus.1 Der Wille, der als Entschluss auf „spätere“ Zukunft gerichtet ist. Auf Zukünftiges ist das realisierende Ich-Streben notwendig gerichtet. Die pr akti sc he Af fekti on, die auf willentliche Realisierung hgerichtetei, kann dieses letztere unmittelbar auslösen, das WillensIch folgt realisierend in „Willenspassivität“2 sofort; ja weil eben die praktische Möglichkeit „gegenwärtige praktische Möglichkeit“ ist, im praktischen Gegenwartsfeld liegt. Ich habe vor mir die strömende unmittelbare Zukunft, das protentionale Feld. Ich habe damit in Deckungseinheit eine mögliche Abwandlung dieses strömenden Feldes im Modus des „Ich kann“, der praktischen Möglichkeit, und hichi folge der praktischen Affektion im fiat. Ich kann aber das Zukunftsfeld, während es strömend in Stetigkeit in Impression übergeht, antizipierend durchlaufen, spätere Strecken des Zukunftshorizonts affizieren mich attentional. Ich denke an Zukunftsmöglichkeiten, an Abwandlungen des zu Erwartenden. Sie sind praktische Möglichkeiten, und als das sind es praktische Affektionen. Im Zukunftsfeld können verschiedene praktische Affektionen mich betreffen, miteinander streiten, ein Streben nach Realisierung ist jede (ein Strebensmodus, nämlich wechselseitiger Hemmung), der am „stärksten“ affizierenden gebe ich nach. Zu meinem protentionalen Feld gehört dann, dass an der betreffenden Zukunftsstelle, die in passiv erwartungsmäßigen Verläufen herankommt, eine unmittelbare willentliche Realisierung eintritt. Im Jetzt habe ich den Zukunfts-
1 Problematisch ist dabei aber, inwieweit Gemütsinteresse dabei eine Rolle spielt oder spielen kann – spielen muss? Instinktives Streben ohne Wertleitung. Instinktives „Ich tue“, „Ich bewege“, u rsp r ü n g l i c h i n d i f f e r e n t e s ohne Wertleitung. Sich im Tun differenzierend und zu besonderem „Ich bewege“ werdend und immer noch ohne Wertung, aber in der Erfüllung Wert werdend. 2 „Willenspassivität“ hat Husserl später in Anführungszeichen gesetzt und darüber geschrieben „Wollenspassivität“ und dazu bemerkt „Das ist zweideutig“. – Anm. der Hrsg.
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willen, der auf die künftige „Handlung“, das Sich-Realisierende als solches geht und noetisch hier übergeht in ein Willensbewusstsein der Form der Realisierung, die aber jetzt anders charakterisiert ist. Das fiat dieser unmittelbaren Realisierung und der ganze Prozess der Realisierung ist im vergangenen „Entschluss“ vorgängig „beschlossen“ und hat Erfüllungscharakter hinsichtlich des Entschlusses, und da dieser zum Vergangenheitshorizont gehört, soweit die Handlung wirklich ausführende ist, hhat siei auch in sich selbst neuen Charakter, eben „Ausführung“. Wir haben also neue Formen des Strebens unter dem Titel „praktische Affektion“, praktisches Streben, das nach möglicher Abwandlung der zu erwartenden Zukunft langt und in praktischer Ichzuwendung, Realisierung tätig ist. Von Wünschen, Begehren, Zweckwollen, Wollen von Erwünschtem, Vermisstem, Wollen in Absicht, ein Ziel zu erreichen, dessen man sich freut, in dem man als einem Freudenwert ruht – davon ist hier keine Rede gewesen. (Es ist aber die Frage, worin die Lust und Gemüt überhaupt als Unterlage des Begehrens und Wollens ihre Rolle notwendig spielen müssen.) Es scheint mir, dass Streben ein A llg emei nes is t, das si ch verschiedentlich abwandelt. Die eben besprochenen Abwandlungsgestalten setzen in ihrer Allgemeinheit Lust und Unlust, Begierde, Lustabzielung nicht voraus. E s s cheint m ir , das s wi r beständi g und auch genetisch ur s pr ünglich i m Bewusstsei nsl eb en Streben, Strebenserfüllung, pr akt is che Affekti on und praktisch tätige Zuwendung und „ Betr achtu ng “ haben (Tätigkeit), die nicht ger ade Lus tmot ive i n si ch tragen, obschon Lust und alles, was dazu an Modalitäten gehört, selbst ein Universales im Bewusstseinsleben ist. Ist Gefühl ein neuer Modus der Intentionalität? Von einer neuen „ Klas se “ des Bewusstsei ns als solchen kann natürlic h keine Rede m ehr sei n. Also ist es ein Modus, der wesensmäßig neue Formen des Strebens bestimmt? Oder ist es ein Modus der Vorstellung und dadurch erst eine neue Modalität des Strebens? Das Vorstellen „fundiert“ Fühlen, das Vorgestellte affiziert, „motiviert“ das Ich. Aber das Ich kann 1) von der Sache, vom Sinn her motivier t s ein, al s Z ug zur attenti onalen Zuwendung, zur Betrachtung, zum Eintreten in die Synthesen der Identifikation. Dem
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Zug antw ort et das Ich im Hinstreben, im realisierenden Streben, das noch kein Wollen ist, aber schon ein gewisses Tun, actus ist (kein actus der „Freiheit“). 2) Das Ich kann aber auch vom Wert der Sache motiviert 5 s ein. Das sagt, das Vorstel l en hat ei nen Gemütsmodus oder die Sache ist in einem Gemütscharakter bewusst. „Stimmung“ = allgemeiner Gemütscharakter, in den alles Bewusste eingetaucht ist. Wert = das im Gegenstand selbst Liegende, durch sein Quale Bestimmte und mit ihm besonders Einige.
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hb) Der Unterschied zwischen praktischer und doxischer Affektion. Die Aktivierung tendenziöser Verläufe. Die assoziative Erweiterung eines Triebes. Der Unterschied zwischen herrschendem und dienendem Triebi Die Frage ist, wie ei ne ursprüngl i che Affektion der praktis chen Sphäre aus si eht und was dann Affektion eigentlich ist. 1) Das bloß vorgestellte subjektive „Ich bewege“ ist noch keine Affektion. Das „Ich bewege“ selbst in der Passivität, und zwar ohne dass ich als vollziehendes Ich dabei bin, ist auch kein eigentliches Tun, aber die passive Vorstufe des Tuns. Hier haben wir „praktische Zuwendung“, die das passive Tun in das eigentlich aktive verwandelt. Dabei haben wir das bloße Geschehen, den Seinsvorgang, dem ich auch bloß zusehen kann, ohne dass ich vollziehendes, praktisch gestaltendes Ich bin. Dann hat es auf mich eben nur eine „vorstellende“, eine doxische Affektion geübt, aber nicht eine praktische. Das erst, wenn ich, statt nur dem Vorausgesehenen, Kommenden doxisch entgegenzugehen und es kennenzulernen – in doxischer Erfüllung oder auch partieller Enttäuschung der protentionalen Intentionen –, vielmehr entgegenstrebe, ja indem ich, statt es passiv werden zu lassen, es aus mir her werden lasse, wie wenn ich vom passiven Atmen in das aktive übergehe und nun nichts mehr übrig ist als passives Geschehen, dem nur zuzusehen ist, sondern als Neues ein aktives histi, das erst aus Aktivität hetwasi werden lässt, dem man nachher erst, also in einer höheren Schicht, zusehen kann. Dazu aber gehört, dass das vordem bloß seinsmäßig Erwartete seinen Charakter grundwesentlich ändert, eben als von mir aus erzeugt und nun nicht bloß erwartet, sondern
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erwartet als durch mich realisiert, als kommende Tunphase, auf die ich hinausstrebe und durch die ich fortstrebe. Also schon zu dem aktiven „Ich tue“, wodurch das passive subjektive Geschehen zum Tun wird, habe ich einen Vorhorizont der spezifisch „praktischen Erwartung“, praktisch vorgreifender Willentlichkeit, pr akt is cher Anti zi pati on – gegenüber der bloßen Antizipation eines Werdens, Geschehens. Gegenüber diesem „Es wird sein“, „Es ist im Kommen“ habe ich ein „Es soll sein“ im Sinn des willentlichen „Es sei“. Wie ist es nun, wenn ein vorgestelltes „Ich bewege“, eine vorgestellte Möglichkeit des Bewegens affektiv wird? Wann kann es das und was gehört hier zur Affektion? Im Fall des Atmens – wie wird es zum willkürlichen? Doch meistens, wenn ich eine Abänderung des Atmens vorstelle als eine Möglichkeit und sie als praktische Möglichkeit setze. Dazu muss sie mich aber vorher im „Gemüt“ bewegen, mir Annehmlichkeit versprechen. Schwierig ist es, klar zu sagen, wie ich das Atmen, ohne es in seinem praktischen passiven Verlauf anders zu wünschen, in ein tuendes Atmen (im eigentlichen Sinn) verwandle. Soll man sagen, jedes „subjektive“ Geschehen ist tendenziös und in seinem tendenziösen Verlauf entweder „ natürlich “ ver laufend, d. i. glat t erfül l ungsm äßig – angenehm, befriedigend –, oder gehem mt , g estört verl aufend, unbefriedigend. Der glatte Verlauf ist Verlauf ohne „Anstrengung“, der gehemmte ist Verlauf unter Anstrengung, welche zugleich die Hemmung überwindet, oder nicht unter Anstrengung, wobei der Verlauf schließlich vor der normalen Erfüllung oder in der Weise einer unliebsamen Minderung statthat und schließlich eventuell stockt. Grenzform: plötzliches Inhibieren, Stocken, die Tendenz ist leere Tendenz, gänzlich unerfüllt bleibende. So in der Passivität. Jeder derart tendenziöse Verlauf kann aktiviert werden vom Ich her. So ursprünglich – aber dazu kommt die Assoziation, die tendenziöse Verläufe mit annehmlichen oder unannehmlichen Folgen verknüpft vorstellig macht. So hbeii Kinhästheseni mit Sinnesdaten, die das Interesse der Kenntnisnahme beschäftigen. An die Kenntnisnahme können sich weitere annehmliche Folgen knüpfen. Das ergibt dann tendenziöse Verläufe neuer Art, passive und aktive. Ein Geschehen, das sich an ein ursprünglich tendenziöses erwartungsmäßig anschließt und eine annehmliche Ablaufform hat
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(als das vorausgesehen ist, antizipiert), wird in den Triebverlauf aufgenommen – Analogon der Apperzeption – bzw. in den Trieb selbst als Triebintention; sie erfüllt sich nun in dem ursprünglichen Verlauf und durch ihn hindurch in der Verwirklichung des Miterwarteten. Dieses erhält dadurch den neuen Charakter des ihn Realisierenden. In der Aktivierung erhalten wir ein „Ich tue“, das einheitlich diesen ganzen assoziativ erweiterten Trieb aktiviert, und wenn das apperzeptiv hinzukommende Stück ein „vorzügliches“ Interesse hat, so haben wir eine Tätigkeit, die es auf ein „Ende“ abgesehen hat. Hier kommt offenbar ein Neues hinein in eben diesem Absehen auf ein Ziel durch einen „Weg“ hindurch. Wir müssen schon in der Passivität den axiologischen Unterschied einführen zwischen hintanstehender und vorzüglicher Lust, derart, dass dem korrespondiert ein vorzüglicher Trieb und ein hintanstehender und durch den vorzüglichen zurückgedrängter – was etwas ganz anderes ist als Hemmung in der Auswirkung eines Triebes. Ferner, dienender Trieb und herrschender Trieb, wobei der dienende in der Auswirkung den „Weg“ gibt zur Befriedigung des herrschenden und seines „Zieles“. Das Leben im „theoretischen“ Interesse ist seiner passiven Unterlage nach ein Spezialfall des „Interesses“, d. i. triebmäßiger, tendenziöser Verläufe; das Interesse selbst ist die Aktivierung eines auf Kenntnisnahme, Explikation etc. gerichteten Triebes der Passivität, und in dieser Sphäre haben wir schon die Unterschiede des herrschenden und dienenden, des vorzüglichen und hintangesetzten oder als vermittelnder Weg fungierenden. Das „praktische“ Interesse ist Interesse nicht bloßer Kenntnisnahme, sondern der Umgestaltung eines Vorstelligen, eines in Erfahrung ursprünglich gegebenen Gegenstandes. Da haben wir die Urschwierigkeiten des Verhältnisses von Sein und Seinsollen. Denn schon das Sein ist durch Seinsollen einer anderen Stufe sich realisierendes als Sein, oder vielmehr realisiert durch das doxische Tun.
Nr. 69 h Der Geg enstand i n der H ingabe und im Int eresse. F rei e Stellungnahme und Ent sc hei dung. D as Streben nach E i nst im mi gkei t durch Ü berwindung der Hemm ungen. D i e Modi des Strebensi1
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Von einer Affektion übermannt werden, wach werden, ist noch nicht im besonderen Sinn dabei sein. Ich bin schon wach dafür, bin etwa hingerissen, hingezwungen, aber ich interessiere mich nicht dafür, ich habe kein Interesse. (Rede: „Da bin ich dabei!“ gleich „Da tue ich mit!“ „Da bin ich nicht dabei, da tue ich nicht mit.“) Das eigent li che Int eresse als ein „willentlich“ Dabeisein, nicht hingezwungen sein (Pfiff), sondern sich hingeben, in Freiheit. Interesse besagt also hier eine allgemeinste phänomenologische Form desjenigen wachen Bewusstseins, wodurch es zum spezifischen Akt des Ich wird. Oder vielmehr, das Ich vollzieht Hingabe, Hingabe setzt ein Bewusstsein voraus, das dadurch die besondere Form annimmt eines Bewusstseins, in dem das Ich Hingabe übt; Hingabe üben ist das nicht dem Bewusstsein die Gestalt einer freien Tätigkeit, einer Handlung verleihen? Nehmen wir den einfachsten Fall einer Wahrnehmung, einer ursprünglich erfahrenden Apperzeption. Der Gegenstand ist in der Hingabe, im Interesse nicht mehr aufgedrängter, der mich zu sich hingerissen hat. Zunächst folge ich wohl der Affektion. Aber der Gegenstand „weckt mein Interesse“. Nun ist der Gegenstand ein solcher, zu dem ich mich frei hinstelle, bei dem hichi in freier Hingabe bin, mit dem ich mich beschäftige. Was ist hier das Beschäftigen? Ich sehe dem Kommenden tätig entgegen, ich öffne ihm meine Arme und empfange es im impressionalen Kommen als Erwartetes mit einer inneren „Zustimmung“, ich gehe ihm entgegen und nehme es an. Im Fall der modalisierenden Spaltung: Ich betrachte jede der problematischen Möglichkeiten, der einander hemmenden Apperzeptionen, ich nehme die passiv sich herstellende Einheit an und das Nichtige
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der Gegenmöglichkeit, ihr Unterdrücktsein, ich erprobe aber auch eventuell in sie eingehend diese Möglichkeit und lehne sie ab in einer Entscheidung gegen sie oder rückkehrend entscheide ich mich für die andere.1 Lassen wir zunächst nur reine Einstimmigkeit in der passiven Unterlage bestehen. Ich betrachte den Gegenstand im Modus also der mich hingebenden, tätig beteiligten Betrachtung. Mein Interesse sei rein sachlich, ich interessiere mich rein für den Gegenstand als den, der sich mir gibt, als welcher er selbst ist. Ich erfasse seine Farbe, seine Gestalt, einzelne Formen und Linien der Gestalt etc. als solche, in denen er ist. Ich bin tätig und auf die Rezeption dessen gerichtet, was sich da ergeben wird. D as si ch i n der Tätigkeit Ergebende kann das s elbe im W esen sei n, al s was sich uninteressiert, untätig aufdr ingen kö nnte. Also mein Interesse erzeugt als tätiges, aber es ist nicht etwa schöpferisch aus einem Nichts; frei tätig bin ich immerfort in meiner willentlichen Aufnahme, in meinem freien Eindringen in die Horizonte, in der freien Bevorzugung dieser oder jener Affektionen von daher, die mich eventuell nicht alle gleich interessieren. Mein Interesse gehört jetzt der Gestalt, und so dirigiert es weiter Durchlaufen der Gestalt und Herausfassungen der besonderen Gestaltmomente, dann der verschiedenen Färbungsmomente im Sonderinteresse für die Färbung – aber immerfort innerhalb der Einheit des Interesses für den Gegenstand als sich in den Sonderbestimmungen bestimmenden, alle Sonderinteressen sind dienend dem Hauptinteresse. 2) Schon in der interesselosen Passivität bestimmt sich der Gegenstand selbst in dem aufgezwungenen Fortgehen der Wahrnehmung und himi Auseinandergehen in Sonderwahrnehmung: was kein eigentliches Betrachten ist. Schon darin vollzieht sich ein (widerwilliges) Bekanntwerden-als, ein Sichbestimmen des Gegenstandes als X der hervortretenden „Bestimmungen“. Im Fall eigentlichen Betrachtens haben wir zunächst nur ein fortlaufendes „thematisches“ Bewusstsein, das ist eben ein interessiertes, und darin ein aktives Annehmen (Rezipieren) der schrittweise sich ergebenden Bestimmungen; und die Verbindung ist die einer Ein-
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Besser: Ich öffne mich diesen Möglichkeiten, gehe in sie ein („williglich“).
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heit des sich in s ubordi ni erten Ei nzel i nteressen erfüllenden I nter es s es, ihm entsprechend eine sich fortlaufend abspielende und mir zuwachsende thematische Kette, mit dem thematisch zentralen Sinn X, der im Untergrund bleiben kann, und seinen jeweiligen Bestimmungen. Es ist eine höhere Stufe, wenn ein fixierendes Interesse darauf geht, die Einheiten „X ist α“, dasselbe „X ist β“ usw. als synthetis che E inheit en z u f ixi eren, sich so einzuprägen, und zudem ihren durch die Identitätsverknüpfungen hingestellten synthetischen Zusammenhang thematisch und fixiert bzw. ausgedrückt zu verfügbarem Besitz zu machen. Ich habe dann Urteile und Urteilssynthesen als aktiv bestimmende Synthesen für einen und denselben Gegenstand. Es sind Gegenständlichkeiten höherer Stufe, die ich frei erzeugt habe in sachlichem Interesse, und dabei erfasse ich eventuell den Gegenstand selbst als so bestimmten, als den mir durch Erzeugung zugewachsenen Erfahrungsbegriff. Aber freilich derselbe Begriff, dasselbe Gegenständliche in seinen Bestimmungen kann mir passiv, untätig sich gestalten, ohne dass ich es willentlich gestaltet hätte im Interesse. 3) Freies Eindringen in die Horizonte und freie Überlegung und auf Grund freier Überlegung die Ichaktivität der Stellungnahme, das aktive Sich-Entscheiden – was heißt das? Ich bringe zur Entscheidung, hbringei zur Verwandlung die problematische Disjunktion in eine unproblematische Konjunktion. Tätig bin ich, praktisch strebend darauf gerichtet, und ist das Anerkennen und Verwerfen nicht ein praktisches Ja und Nein, sofern ich, worauf ich hinauswill, erziele oder als verfehlt verwerfe? Handelt es sich also nicht um ein Streben nach Einstimmigkeit und humi Widerstreben gegen Unstimmigkeit oder hum eini Streben nach dem sich in der Wahrnehmung (in der ich schon stehe) sich entfaltenden (einstimmigen) Gegenstand selbst, in der Einstimmigkeit fortgehender Wahrnehmung, in seinem Selbstsein sich entfaltend? In der Wiedererinnerung lebend, nach dem vergangenen Gegenstand (oder Vorgang selbst) hstrebeni, so wie er im einstimmigen Fortgang sich nach seinem vergangenen Selbst entfaltet, als wie er kontinuierlich war in seiner abgelaufenen Dauer. Weiter aber im explizierenden Urteilen um Heraussetzung der Explikationsgebilde: „X ist rot, ist rund“ etc., die selbst wieder Gegenstände höherer Stufe sind und
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in ihrer Art als Erzeugungsgestalten, als mehrgliedrige Erzeugnisse einheitlich wiedererzeugt und identifiziert und fixiert werden können. Ferner, der Gegenstand ist α und ich erkenne ihn als zum allgemeinen A, einem typisch allgemeinen Baum etc. gehörig, und das interessiert mich, ich halte diese Gegenständlichkeit „X ist ein A“ fest, mache sie mir in Wiederholung als Identisches zu eigen, oder X ist in der (allgemein erfassten, unter dem Typus R stehenden) Beziehung zu B: X ist ein hin Beziehungi zu dem B als größer charakterisiertes etc.; alles „anschaulich“. Ferner, ich darf da nicht vergessen, dass im bloßen wahrnehmenden Betrachten die kontinuierliche Einheit erstrebt ist; im wiederholten Durchlaufen derselben Bestimmungen, im kontinuierlichen Zurückkehren, identifiziere ich kontinuierlich das neu Auftretende als Bekanntes und so den Gegenstand selbst im Ablauf des einstimmigen Seins selbst. Ist die Wahrnehmung vorüber, das wahrgenommene Ereignis verlaufen, so kann eine strebende Intention dahingehen, den retinierten Vorgang wieder zu vergegenwärtigen und, was er ist, wieder herauszustellen und sich dieses Seins und Soseins zu vergewissern. Hier geht die Intention des sachlichen Interessiertseins durch ein Leerbewusstsein in das entsprechende „erfüllende“; sie befriedigt sich und entspannt sich in dem Prozess des Deckungsübergangs der Füllung, der Beistellung des wiedervergegenwärtigten Selbst. Das Leerbewusstsein ist hier ein besonderes; es ist ja nicht das Gleiche, wie, wenn ich schon Wahrnehmung habe, die Protention sich erfüllt in neuen Urimpressionen etc., oder hwie,i wenn ich schon Wiedererinnerung habe, die Vergegenwärtigungsmodifikation der Protention ihre vergegenwärtigungsmäßige Erfüllung findet usw. Ferner überhaupt W eckung von W iede reri nnerungen; andererseits die Erwartungen. Es ist hier daran zu denken, dass A ssoziation im Bewusstseinsleben waltet, dass daraus „Modalisierung“ letztlich entspringt, dass die geweckten Linien der Wiedererinnerung sich durchkreuzen und in den Kreuzungspunkten sich hemmen; ebenso dass Erwartungslinien sich durchkreuzen und Erwartung zwiespältig und mehrspältig wird. Dann aber auch, dass jeweils nur partielle Weckung der herabgesunkenen Retentionen und ihrer Verflechtungen statthat und
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dass die Hemmungen durch Hervortreten einer geweckten intentionalen Tendenz sich zur Einstimmigkeit ausgleichen können, ohne dass Anschauung eintritt oder ohne dass, wenn sie eintritt, weitere Assoziationen wirksam werden. Ebenso in letzter Hinsicht: dass in der Veranschaulichung Anschauungen verschiedener Linien sich durchdringen und verschmelzen können und dass im Fall neuer Weckung der Widerstreit in der Einheit der Anschauung und Bruchstellen merklich werden können und schließlich das Zerfallen eintreten kann in Wiedererinnerungsreihen, die verschiedenen und getrennten Strecken der Einheit des Wiedererinnerungskontinuum angehören und durch überschiebende Assoziation ineinander geraten waren. Ähnlich bei Erwartungen. I n der Pass ivi tät haben wir Ü berschiebungen, Hemmungen, Lös ungen, aber eben zufällig. In der Aktivität gehe ich auf Einstimmigkeit aus, gehe ich darauf aus, Hemmungen zu überwinden, indem ich in die Hemmungslinien eindringe (in die Möglichkeiten, sie „erwägend“, wozu aber auch gehört, dass im Eindringen Assoziationen lebendig werden und neue Kräfte wirksam machen). Ich gehe also durch Mobilisieren dieser Kräfte zur „Entscheidung“ über, zur intendierten Herstellung der Einstimmigkeit. Was bloße problematische Möglichkeit war, wird zur einstimmigen Wirklichkeit, dadurch dass sie von ihrer Hemmung befreit wird. In dieser Modifikation wird sie, wird das Mögliche zum Wirklichen und zum befriedigenden Ziel und erhält die Form des die praktische Tendenz Erfüllenden gegenüber den anderen problematischen Möglichkeiten als durchstrichenen und auszuscheidenden. Wo immer eine praktische Tendenz in mehrere Möglichkeiten gespalten ist, haben wir Bejahung und Ver neinung, die eine Möglichkeit wird zum offenen Weg, für den das strebende Ich sich im Ja entschei det. Die anderen werden zu Fehlwegen, die das Ich verwirft, gegen die es sich entscheidet. Im objektivierenden Leben, im passiven Leben der Einstimmigkeit und Hemmung, waltet das aktive Ich als abzielend auf einstimmiges Sein und dann weiter auf Rechtfertigung, auf Herausstellung des letztbestätigenden Selbst in der Evidenz. Fragen ist strebend gerichtet sein auf Entscheidung, auf Auswahl derjenigen verschiedener Möglichkeiten, die zum Ziel führen. Das Ziel ist Entschränkung, hnämlichi Befreiung von Hemmung, Entscheidung, dann weiter aber in der
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Rechtsfrage diejenige Entschränkung, hnämlich Befreiung von Hemmung,i welche uns vom Selbst trennt bzw. hdiejenige Entschränkung, welche unsi von der Möglichkeit befreit, dass die Entscheidung wieder aufgegeben werden muss. Die Erfüllung assoziativer Intentionen (ursprüngliches Zeitbewusstsein und Assoziation, die konstituierte Gegenstände in intentionale Beziehung setzt) – keine ich-strebende Erfüllung, durchaus außerichliche, ichfremde, konstituierende Assoziation, in ihr Ausbildung von Apperzeption, d. i. von konkretem Gegenstandsbewusstsein – ist die Voraussetzung des Ichstrebens.1 I ntentionali tät i n d er Wachhei t ist Intentionalität im Modus der strebenden intentio, und dieser Modus des attentionalen Strebens, des eigentlichen, gibt der Rede hvoni Intentionalität den Namen. Das Str eben i st al so ni cht ei ne neue „ Grundklasse “ des B ew us s ts eins von et was; es gi bt nur eine „ Grundklasse “, eben B ew us st se in- von, oder Bewusstsein ist als absoluter Strom des Lebens des Ich durch und durch Bewusstsein-von und ist durch und durch Sinngebung, in der sich Gegenständlichkeit „konstituiert“ in vielerlei Abwandlungen. Ein Grundmodus bzw. eine Wesensform der Abwandlung ist das attentionale Streben und seine Wandlungsformen. Sagte ich oben, Assoziation, Apperzeption ist als solche keine strebende Intention und Erfüllung, so sagt dass nur, dass wir unter dem Titel „intentionale Analyse“ entweder die Richtung der Analyse der Sinngebung, der Modi des Bewusstseins als Bewusstseinvon, die Weise, wie Bewusstsein als Bewusstsein sich aufbaut und korrelativ der Sinn als Korrelat wesensnotwendig sich konstituiert, einschlagen, oder aber die hRichtung der Analyse deri Modi des Strebens wie des Affizierens, der Beteiligung des Ich durch Affektion und der korrelativ antwortenden der Hingezogenheit und schließlich der wachen Zuwendung und ihrer Fortsetzung im strebenden Tun heinschlageni. Im inneren Bewusstsein ist jede solche Abwandlung in der Konkretion des Erlebnisses selbst bewusst, es ist Gegenstand möglicher Zuwendung, möglicher Betrachtung etc.2 1 Assoziation ist tendenziös, sie ist freilich nicht Streben; der normale Sinn von Streben ist Ichstreben. 2 Vorsthellungi als Unterlage von Ichakten besagt: Ichakte sind Erlebnisse, die eben Bewusstseinserlebnisse sind, Sinn, Gegenständlichkeit in sich bewusst habend als das Substrat des Modus „Ich tue“.
Nr. 70 h Das i „ I ch kan n “. h H em m ung als praktische Negati on. Di e D urchstrei chung des fiat bei einer unüberwi ndl i chen H emmung. Die M odali si er ung des Tuns und Könnens bei einer vorübergehenden Hemmungi1
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Das Streben, das hemmungslos sich auswirkende Tun – das ursprünglich strömend Zeitigen (Retention, Protention) kein Streben. Ursprünglichstes Streben: das Instinktstreben. Sich erstmalig ohne weiteres auswirkend ist es ein Tun-Prozess, ist Kinästhese etc. Instinktives Begehren, ursprüngliches Zielen, das unerfüllt ist: Darin liegt für das Ich eine Ichhemmung, aber Hemmung ist noch nicht apperzipiert, geschweige denn Hemmung im ontischen Sinn. Anblick oder Geruch der Speise, ohne weiteres Sichlösen der Hemmung in entspannenderfüllendem Tun – Entspannung in Annäherung, schließlich Genuss als kontinuierliche unmittelbare Spannung – Entspannung. Im neuen Fall hat das Begehren apperzeptiv sein Ziel, seinen Zukunftshorizont, aber modifiziert. Zwei Fälle: 1) Es ist entweder wieder die „anziehende“ Speise da, dann verläuft die Instinkterfüllung zwar auch ohne weiteres, ohne weiteres löst sich die Spannung (das ichliche Gehemmtsein) des Begehrens. Der Einsatzpunkt ist zwar ausgezeichnet, hat aber noch nicht den Charakter „Ich kann es und tue es“. hOderi mit dem Ansatz die Antizipation des Sich-Erfüllens – aber nicht als bloße Erwartung eines künftigen Eintretens des Erfüllungsverlaufs, sondern als „Ich tue“ – vom Ansatz hin auf das Ziel, das durch Apperzeption vorstellig ist; ich handle, verwirkliche durch diesen Prozess hindurch ein in jeder Phase durchgangsmäßig „Gewolltes“, zu Verwirklichendes im Prozess der Verwirklichung selbst. Wenn die Sache so geht, und solange noch nicht Neues dazu gekommen ist, habe ich ein Tunbewusstsein, ein Tun selbst (nicht bloß ein „Wissen“), aber noch ni cht ei n „ Ich kann “. Das „Ich kann“ kommt erst zustande, wenn das Tun gebrochen wird, wir sagen da auch „gehemmt“ wird. Nicht wenn das Subjekt
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das Ziel fahren lässt (abgelenkt wird durch ein anderes Streben, etwa, um sich gegen einen Angriff zu wehren oder weil ein anderes lockt), sondern wenn etwa die Speise weggezogen wird, nicht mehr „da“ ist oder wenn sich ein Widerstand einstellt, der den Erfüllungsprozess hemmt. Das Widerstehende wird in der Wiederholung solcher Situation apperzipiert als Widerstehendes, als Störend-Hemmendes, als solches, durch dessen Dasein („infolge“) der Prozess der Erfüllung nicht weiter kommt. Im anderen Beispielsfall: Infolge des Nicht-mehr-Daseins ist dem Streben das Ziel, das Woraufhin, genommen; im anderen Fall ist das Ziel nicht erreichbar – was wieder eine Aufhebung des Zieles und damit des Handelns, des ichlichen Erfüllungsprozesses daraufhin hbedeuteti. Jetzt haben wir das Negat der E r füllung, die Enttäuschung als „durchstrichene“ Erfüllung. Man sagt da nicht „Ich tue nicht“ – aus guten Gründen, das drückt das bloße Nichtsein des Tuns aus –, sondern „Ich kann nicht“ – das sagt mein Tun und im Tun kontinuierlich Können hausi – oder vielmehr „Ich bin gehemmt“: Ich selbst als Tuender bin gehemmt. Das ur s pr üngli ch ungehem m te Können ist das Tun selbst, und eben das ist „aufgehoben“. E r s t im D urc hgang durch di ese praktische Negation kommt e s zur Scheid ung von „ Ich kann “ und „ Ich kann nicht “ und bekommt das „Ich kann“ seinen eigentlichen Sinn, der schon ausdrückt, dass „es geht“, dass keine Hemmung stört. Im ursprünglichen Gehemmtwerden ist noch zu beachten, dass Hemmung des strebenden Sich-Auswirkens (des Tuns) eine gesteigerte Anspannung, die Kraf ta nspannung begründet. Alles „Ich tue“ als subjektives „Ich bewege“ hat seinen Null-Modus der Anspannung, und sowie eine hemmende Störung eintritt, spannt sich das Ich, spannt es seine Kraft an, dadurch oft, aber nicht notwendig die Hemmung überwindend.1 Hemmung setzt voraus, dass das Ziel noch da ist, dass dem Streben nicht durch die Änderung der wesentlichen Abzielungssituation der Boden unter den Füßen weggezogen ist. Das „ Ich kann nicht “ tr itt hier er st ein, w enn di e äußerste Anspannung nicht den E r folg hat: Es is t „ über m ei ne Kraft “.
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Das Ich als waches ist strebendes und ist in jedem besonderen Streben.
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Die Durchstreichung betrifft das kontinuierlich vom Einsatzpunkt (fiat) aus durchgehende fiat in seiner ursprünglichen praktischen Antizipation (das ist die Zielung selbst) bzw. des antizipierten stetigen wirklich Kommens des Kommenden im Modus des von mir er w ir kt. Wird das Zielobjekt „genommen“ und damit als Ziel durchgestrichen, so sagt das, vorausgesetzt, dass das Tun noch nicht in Gang kam, dass mein fiat im Ansatz durchstrichen ist und die Form „Ich kann nicht“ annimmt. Tritt etwas Hemmendes, ein Widerstand mir „in den Weg“, so ist an dieser Wegstelle das fiat im Modus der Phase durchstrichen, aber damit rückgreifend auch das ganze Tun als Tun auf das Ziel hin und vorgreifend das ganze weitere Tun durchstrichen: „Ich kann nicht weiter“. Das aber während ich auf das „Ziel“ immerfort strebend gerichtet bin. Der Wille hat seinen Modus geändert in Streben und Nicht-Können. Ist im Voraus das „Etwas steht im Wege“ apperzeptiv erfahren, so tritt im Voraus Durchstreichung des fiat ein. Aber es treten nun weitere Möglichkeiten ein. Einerseits, in der Situation liegt es, dass die Hemmung eine vorübergehende ist und in ihrem Wandel in absehbarer Zeit von selbst verschwinden wird: Dann „warte ich ab“. Das fiat ist nur vorläufig gebrochen, durchstrichen. Ebenso wenn das Tun, das schon im Gang war, unterbrochen wird. Es genügt offenbar statt der gewissen Voraussicht, dass die Störung vorübergehen wird, auch dass das Zielobjekt wieder greifbar sein wird, die Vermutung, die anmutliche Möglichkeit. Es „modalisiert“ sich also das Tun und das Nicht-Können und korrelativ das Können in ein künftig vermutlich Können, im Jetzt das Tun in ein vorläufig nicht Ausführbares. Ein bleibendes Streben, ein bleibendes fiat in der Modalität des „noch“, aber erst unter Voraussetzung günstiger Umstände auszuführendes oder weiterzuführendes. Es entspringt ein St re ben, di e Wi derstände zu überwinden in Form der Beseitigung oder Umgehung, also die Möglichkeiten zu überschauen und zu erproben, auch nur zu bedenken. Die Aufhebung des fi at is t ni cht Aufhebung des Strebens, das auch als gehemmtes Streben, als unbefriedigtes Begehren verbleibt und sozusagen sich auszuwirken sich müht. Das fiat kann aber auch „endgültig“ durchstrichen werden, das ist die Negat ion der Preisgabe (das Analogon der Urteilsgewissheit in Form der gewissen Negation). Aber auch die Modalisierung hat ihre Weise der Durchstreichung.
Nr. 71 h E r fahr ung als konti nu i erl i che Identifikation im akt iven S trebe n. D as wi ederholende Dur c hlauf en i m „ Ich kann “. D ie Modalisierung der Gel tu ng. D er Erkenntniswillei1
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Die Ist-Funktionen, die Funktionen der Identifizierung, und die Bewährung. Das Auf-das-Eine-im-Wandel-der-Erscheinungen-Gerichtetsein, erfassend; das Auf-das-Eine-, das-Substrat-, Gerichtetsein in auslegender Betrachtung, auf es, wie es beschaffenheitlich ist, es in seinen Istheiten, in seinen Washeiten erfassend-identifizierend kennenlernen. 1) Immerzu haben wir in jeder Phase der kontinuierlichen Erfahrung Vorintention als antizipierende und Erfüllung im Selbst, also eine Art kontinuierlicher „Identifizierung“: kontinuierlicher Erfahrung des Einen, zunächst des Substrats, sein kontinuierliches Erfahren in kontinuierlich aktiver Anti z i pation und erfüllender Selbs tgabe – also Erfahrung als kontinuierlich aktive Identifikation dieses Modus der Erfüllung – und ebenso für jedes Explikat in seiner Sondererfahrung, aber als das „auf dem Grund“ der Substraterfahrung Partialidentifikation im Übergang zum ersten Explikat, in ihm partiell sich erfüllend, sich bestimmend – Übergang zum neuen Explikat, das alte bleibt im Griff. 2) Das ist das Erste, dann das Moment des wiederholenden Dur c hlaufens und abermals Einigung, „Identifikation“ von jetzigen Vormeinungen und hdemi Selbst (und das betrifft schon die Deckung im Übergang der ganzen wiederholenden Phänomene), und Wiedererkennen des Substrats als desselben Einen und Wiedererkennen dessen, was es ist. Dies alles im akti ven Streben. Wenn die Erfahrung vorüber ist, im Wiederauftauchen in der „Unklarheit“ als Vorintention, und zwar in einem ungeschiedenen, noch unexplizierten Einfall oder im unmittelbaren Anschluss an die Erfahrung als noch da in einem Erfassungsstrahl, aber nun „Erfüllung“ in Form der „ unanschaulichen “
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E xplikation der Mei nung, ei ner Wie derherstellung der „ Meinung “, W ieder verdeutl i chung – das aber selbst ist nun wieder bloße Meinung und findet Erfül l ung durch klare Wiederer inner ung in synthetischem Prozess – das ist abermals als Wiederholung zu betätigen und willentlich, dann in höherer Stufe dieselbe Typik – iterativ. Also, „dasselbe“ ist im ursprünglichsten „Ich kann“ wieder durchlaufen, ich kann auf das nicht mehr Erfahrene, aber noch Bewusste wieder aktiv zurückgehen, es wiedervergegenwärtigen und wieder klar machen, das ursprüngliche Erkennen im Wiedervergegenwärtigen „wiederholen“. Ich kann in einem s ekundären (nämlich nicht an die ursprüngliche Wahrnehmung angeschlossenen) Prozess mich wieder erinnern, ebenso vorgehen, ich kann wiederholte Wiedererinnerung vollziehen, ich kann mich „später“ erinnern, dass ich mich erinnert habe und eventuell so vorgegangen bin und eventuell wiederholte frühere Erinnerungen mit der gegenwärtigen Erinnerung synthetisch einigen usw. „Ich kann jederzeit auf dasselbe zurückkommen“, als was ich ursprünglich erworben habe in einer ersten Wahrnehmung und nun „in Erinnerung“ habe (was besagt: nicht in einem momentanen Wiedererinnerungsakt, sondern im Vermögen, jederzeit daran erinnert werden zu können und wann immer früher oder später es identifizieren zu können. Vorausgesetzt die Fortgeltung). Dazu die Möglichkeiten der Verwechslung durch Undeutlichkeit und Unklarheit, die Identifizierung, die aufgehoben wird und sich wandelt in Nicht-Identifizierung, „Unterscheidung“, in dem Bewusstsein des „nicht dasselbe, anders“. Schon in der Erfahrung: Die Antizipation, statt in ihr Selbst überzugehen und sich bestätigend zu identifizieren, „enttäuscht“ sich, aber das setzt eine gewisse Deckung voraus: Antizipation der Rückseite, aber sie ist anders. Total anders – es ist kein Ding da, die totale Dingantizipation ist aufgehoben, es ist nichts Reales da, aber die Welt und der Weltraum ist und darin ist es nicht. „Dort“ ist etwas ganz anderes, eventuell leerer Raum. Die Modalität des Nichtidentisch, des Anders bzw. die Durchstreichung des Seins, des Einen. Die Verwandlung der Antizipation im Modus der Geltung in Nichtgeltung hat neben sich andere Modali-
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täten. Die Unbestimmtheit der Antizipation als Bestimmbarkeit, das Auseinandergehen in Möglichkeiten, wobei aber die Möglichkeiten „streiten“. Habe ich ordentlich berücksichtigt, dass der Erfüllungsgang der „Identifikation“ das Erste ist und Enttäuschung, also Negation, das Zweite und dass dieses Erste und Zweite vorangeht allen anderen Modalitäten? Der E r kenntni swi l l e: der Wille zu einer bleibenden Kenntnishabe, worin in weiterer Folge beschlossen histi die bleibende Seinshabe modalisierten Inhalts, die Seinshabe des Nichtseins der Seinsmeinung (selbst eines Seienden), die Seinshabe der Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten – auf ihrem Grund, solange sie unentschieden sind, d. i. nicht verwandelt sind in Gewissheit. Wille zur Ausweisung in Ursprünglichkeit der Identifizierung und der merkenden Fixierung, der Feststellung, der Bewahrung vor Verwechslung, vor Modalisierungen. Das aber in der intersubjektiven Einstellung objektiviert: Herstellung von Erkenntnissen, jedermann zugänglich von da aus, wo er steht, von seiner jeweiligen Gegenwart aus. Jedermann kann sich durch ursprüngliche Erfahrung, durch ursprüngliche Explikation, durch seine eigene Bildung von Meinungen und Heranführung derselben an ausweisende Erfahrungen usw. des für ihn Seienden als bleibend, als immer wieder als dasselbe seiend und so seiend Erkennbaren versichern. Er kann auch seine Seinsmeinungen als solche als seiende fixieren und als ein für allemal stimmende oder nicht stimmende erkennen, iterativ Meinungen aus Meinungen bilden, den Konsequenzen nachgehen (schließen), das „Erschlossene“ schließlich kritisierend an der Erfahrung bewähren und so wahre Sätze sich aufbewahrend zueignen. Diese Erkenntnis von Seiendem bzw. von wahren Meinungen kann er als verfügbare Habe fixieren, ordnen usw. Jeder kann mit jedem darin in Konnex treten, kann, was für den anderen ist, sich zueignen, jeder hat dasselbe Seinsuniversum und hat die Möglichkeit es als dasselbe eines jeden zu erkennen und dieses selbe Seinsuniversum zum Thema fortschreitender Erkenntnis hzui machen, sei es von sich aus und zunächst als einzeln Erkennender, sei es in Erkenntnisgemeinschaft mit anderen in Bewusstseinsgemeinschaft, und zwar erfahrend, urteilend, ausweisend fixierend, mit andern Gemeinerkenntnis herstellen helfen, objektive Erkenntnis, die nicht nur für jedermann gilt, sondern an
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der die anderen, etwa die wissenschaftliche Gemeinschaft, gemeinschaftlich „gearbeitet“ haben.
Nr. 72 h Das s tr ebende G eri chtetsein des I ch auf bl ei bende Stel l ungnahmen. Geltungs modal i si erungen al s Hemmungen des I ch und Stö rung en i n sei nem habituellen Sei ni1
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Ich bin meinem Wesen nach als Ich strebend-lebendes; strebend hbin ichi auf Auswirkung in „bleibenden“ Leistungen gerichtet. Leistungen sind Erfüllungen meiner strebenden Intentionen, ob es nun theoretische, ästhetische, praktische oder besser Seinsintentionen, Gefühlsintentionen (wertende) oder handelnde Intentionen im gewöhnlichen Sinn weltlicher Praxis sind. Über den Moment subjektiven Auftretens im Erfüllungsprozess reichen sie hinaus, weil von Seiten des Ich jedes Sich-Richten im Streben eine Stellungnahme ist, in der es also Stellung nimmt zu dem, was korrelativ in einem allerweitesten Sinn als Gesolltes sich ihm bietet. Diese Stellung, einmal genommen (Urstiftung), ist für das Ich bleibende Stellung. Darin liegt Folgendes: Das Intendierte, im Voraus im Streben als erstrebt, als gesollt auftretend, ist in der Erfüllung Gesolltes in dem neuen Modus „nunmehr verwirklicht Seiendes“. Es ist, wiederhole ich, noch immer Gesolltes des Ich, das heißt, die Stellungnahme des praktischen Ich und die daraus entsprungene bleibende praktische Stellung ist nicht nur bleibend bis zur Verwirklichung, als ob das nunmehr verwirklichte Seiende nur eben Seiendes wäre so gut wie irgend ein anderes. Zum Beispiel, wenn ich eine Absicht im aktuellen Entschluss fasse, so habe ich hinfort diese Absicht, diesen Entschluss. Im Ansatz der Ausführung des Prozesses der Verwirklichung fasse ich nicht einen neuen Entschluss, sondern ich, das schon von früher entschlossene Ich, komme nur auf meinen alten Entschluss zurück, aktualisiere ihn in einem neuen Akt, der aber nur wiederaufnehmender ist, wiederaufnehmend meinen Entschluss. Und nun geht der Entschluss in den Modus seiner Verwirklichung oder besser, das Gesollte, das Ziel, worauf die „Absicht“ geht, geht über in die Modi relativer Verwirklichung bis zum Endmodus, dem als Ende, als Verwirklich-
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tes konstituierten. Natürlich kann die Ausführung diskret verlaufen, der Entschluss fordert andere Entschlüsse, vermittelnde, deren Ziele „Mittel“ heißen, und zwar in einer Verkettung, die schließlich als Letztes das Ende bringt. Dann wiederholt sich das Gesagte auch für jedes Mittel als an seiner Stelle relativ Gesolltes in Modi des vorangehenden, vor der Ausführung stehenden Entschlusses usw. Das Ich ist durch alle diese Modi hindurch bleibend auf das Seiende praktisch gerichtet. Ist nun aber das Ende erreicht und der Endzweck Wirklichkeit geworden, so ist das nunmehr Seiende, sagte ich, nicht Seiendes wie ein anderes. Es ist nunmehr für mich Gesolltes, praktisch Geltendes für mich in der Form des erworbenen Besitzes. Doch nun muss das Gesagte wesentlich ergänzt werden. Einerseits ist Rücksicht zu nehmen darauf, dass die habituelle Stellung des Ich (in einem sehr weiten Sinn die Willenstellung) in Modi der Privation übergehen kann. Der unmodifizierten Willensstellung, die wir bisher ausschließlich im Auge hatten, entspricht als Korrelat schlechthin das Gesollte, das mir fortgesetzt schlechthin in diesem allgemeinsten Willenssinn Geltende und als das Fortgeltende – fortgeltend eventuell nur „bis auf weiteres“. Nämlich: Das Gesollte, das, woraufhin das Ich zielt und strebt, kann ihm „geraubt“ werden, nämlich etwa durch Verfehlen, schon in der Ausführung. Es kann aber auch schon der Entschluss vor der Ausführung in seiner Fortgeltung aufgehoben, vom Ich her preisgegeben werden, gewissermaßen durchgestrichen werden (Negation), aber auch fallengelassen werden: das Erste in der Form etwa der Bevorzugung eines anderen als praktisch möglich, als „zu wollend“, als willensmöglich SichBietendem und mit dem schon Gewollten „praktisch unvereinbar“, das andere, wenn das Ich in eine neue Lebensumwelt tritt und damit das spezifisch in der alten und für sie Gewollte „aufgibt“. Die dauernde Lebensumgebung und mit ihr die spezifisch auf sie bezogene Sphäre der für das Subjekt der Situation gestifteten Fortgeltungen hat ihre Zeitweiligkeit, sie kann wechseln, und das modifiziert die Geltungen auch ohne eine aktive, sozusagen ausdrückliche Modifikation. Die früheren Entschlüsse, wieder auftauchend, werden „gegenstandslos“; ihre auf die frühere bleibende Lebensumgebung (zu der bleibende Seinsstellungnahmen gehören) bezogenen Ziele sind außer Frage; die einen mögen, wenn ich in die alte Umgebung zurückkehren würde (Rückkehr des Auswanderers) wieder zu al-
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ter unmodifizierter Geltung kommen, die anderen wären durch den inneren Wandel dieser alten Umgebung aufgehoben. Aber darüber braucht nicht im Besonderen reflektiert zu werden, schon in dem „Das ist in dieser Umwelt außer Frage“ liegt eine Modifikation. Ohne auf alle Modifikationen näher einzugehen, sei aber ein Hauptpunkt herausgehoben: das Phänom en der Modalisierung. Mehrfache Geltungen können in der Aktualisierung, der Wiederaufnahme, und zwar im Fall der Aktualisierung im Zusammen, in der Einheit einer lebendigen Gegenwart in „Widerstreit“ treten, das ist, während etwa die eine noch einfach, unmodifiziert zu Aktualisierung kommt, tritt in der Aktualisierung der anderen eine Modifikation auf: Sie gilt nicht mehr schlechthin, sie hat den Modus der Bestrittenheit durch die erste. Und diese ihrerseits „bestreitet“ diese erste, und auch sie ändert den Modus ihrer Geltung. So ist im Fall des Zweifels vorausgesetzt das wechselseitige Gehemmtsein der schlichten Geltung, von dem aus verschiedene mögliche weitere Modi ausstrahlen, der Zweifel, ob das oder jenes, die Restitution der Geltung des einen und dann in eins die Durchstreichung des anderen usw. Es kann auch sein, dass vorweg die eine Geltung unmodifiziert bleibt und nur die andere sich modifiziert mit dem Charakter des „unstimmig“ etc. Das alles sind nicht nur assoziative Vorkommnisse des Aktlebens, sondern es greift das strebende Ich an und bedeutet für es selbst Wandlungen. Es ist verharrendes Ich in verharrenden Stellunghaben, und die Modalisierung bedeutet für es eine korrelative „Modalisierung“ seiner Stellunghaben. Jede Modalität der Geltung, zum Beispiel ein Zweifel (hinsichtlich des Subjektes: das Ich im Habitus des Zweifels), ist selbst eine bleibende Geltung – bleibend als Modifikation der Urgeltung – bleibend „bis auf weiteres“. Wenn nun aber das Ich hinsichtlich seiner „Stellung“ in Modifikation einer Stellung befindlich ist und verbleibt, so ist es „eigentlich“ nicht in Stellung. Eigentliche Stellung zu etwas haben, ist Stellung im unmodifizierten Urmodus haben, welcher Urmodus im weitesten Sinn „Gewissheit“ heißt. Das Ich ist in Glaubensgewissheit (erfahrend, prädizierend), es ist wertend gewiss (Gefallensgewissheit), es ist in Willensgewissheit (seines Zweckes, seiner Mittel, seines praktischen Weges überhaupt, aber auch seines Werkes als seinem Willen gemäß gewiss). Ungewissheit: in Zweifel, in Vermutlichkeit, in Negation. Es ist gewiss: Es hat seine „feste“,
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seine „ungefährdete“, unbetroffene oder demgegenüber festgehaltene Stellung; und vor allem in Hinsicht auf mögliche Negation: Es hat „seine Position nicht verloren“. Nun ist es zwar so, dass jede Modalisierung und daraus entspringende Abwandlung der habituellen Stellungnahme selbst wieder den Charakter einer bleibenden hat – bis auf weiteres –, aber es spricht sich in dem eben Ausgeführten und in solchen Reden wie „eine Position, eine Stellung zu einer Frage haben“ (gemeiniglich allerdings nur bezogen auf die Erkenntnissphäre) eine merkwürdige Bevorzugung der Gewissheitsposition als der Urposition, die sich eventuell modalisiert, aus; und andererseits die Position der entschiedenen Negation. Oder vielmehr, es drückt sich darin aus, dass jedermann „Gewissheit haben will“, aber mit Rücksicht auf drohende Möglichkeiten der Modalisierung der Gewissheit endgültig gewiss sein will, und wenn er schon in Ungewissheit ist – in den Modi, die zwischen Sein und Nichtsein stehen –, dass er sie entschieden haben will. Die Modi der Entscheidung: die entscheidende Bejahung und die entscheidende Verneinung, das Endgültig-Dabeibleiben, das Endgültig-Preisgeben. Und weiter müssen wir ergänzend sagen, dass sich mit der Modalisierung (ein Ausdruck, der dem besonderen Gebiet des Urteils verallgemeinernd von uns abgenommen worden ist) eine zweite W eis e „ int enti onale r Modi fi kati onen “ kreuzt: im Gewissheitsmodus der Modus bl oße Intenti on und der Modus Erfüllung (selbst wieder in sich unterschieden als relative und Enderfüllung). So die Erinnerungsgewissheit, auf vergangenes Sein bezogen, als geweckte Intention und die Erfüllung als klare Wiedererinnerung, im Modus Wieder-bei-der-Sache-selbst-Sein, die dabei als vergangene charakterisiert ist. Oder der Entschluss (der gewisse, unbetroffene) als Willensintention, auch die aus der Überlegung des nötigen Weges hervorgehende Entschlossenheit für den aussichtsvollen und demgegenüber die wirkliche Ausführung, die Willenserfüllung mit dem Modus der Endverwirklichung. Aber beide Weisen der Abwandlung kreuzen sich nicht bloß. Die genannte „Modalisierung“ ergibt in ihren „Modalitäten“ für das Ich Gestaltungen des Stellungnehmens bzw. der Stellunghaben, die nicht wie die Gewissheit den Charakter der Vollendung haben, sondern gewissermaßen von Hemmungen des Ich, durch die hindurch es hinstrebt auf Gewissheit. Eben dadurch erhält sie in Verwirklichung gedacht den Charakter der vollendeten
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Stellungnahme, derjenigen, bei der das Ich zu seiner Ruhe kommt und nun eigentlich erste „feste Stellung“ hat. Festigkeit ist hier aus diesem Zusammenhang zu verstehen, sonst drückt sie offenbar auch einen anderen Sachverhalt aus: Manche Stellungnahmen erhalten sich in ihrem „bis auf weiteres“ doch als feste Überzeugung, die nicht leicht preisgegeben wird hundi gewappnet ist gegen Modalisierungen. Das Ich strebt – es ist immerzu strebendes Ich. Modalisierungen erwachsen als Hemmungen, welche im „Zusammen“ der Aktualisierung von Stellungnahmen oder ihrer frischen Aktualitäten selbst erwachsen (wie wenn eine eben vollzogene und im Modus „noch“ aktuelle Stellungnahme betroffen wird durch eine andere eben zu Aktualität kommende alte oder neue Stellungnahme). Das Ich ist bleibendes Ich seiner bleibenden Stellung, seiner bleibenden und in der Einheit des Ich einstimmigen Positionen. Jede Modalisierung stört das Ich in seinem habituellen Sein, versetzt es in Unruhe, nimmt ihm als Negation, was ihm selbst eigen ist, worin es selbst ist; so dass es in dieser Hinsicht von seinem Sein einbüßt, sozusagen von seiner Existenz. Die sonstige Modalisierung ist eine bloße Störung in dieser Existenz. Hier ist, ehe wir soweit kommen, die „Selbsterhaltung“ des Ich hmit Bezugi zu diesen für sie grundlegenden Tatsachen zur Klarheit zu bringen, noch einiges Weitere in Rechnung zu ziehen.1 Erfüllung vollzieht sich als Verwirklichung der bloßen Intention, das „wirklich“, das Erfüllende ist der Modus, wo das Intendierte als „es selbst“ gegeben ist.
1 Selbsterhaltungsstreben, Streben der Selbstbewahrung, der Erhaltung seiner Existenz durch Entscheidung. Aber da steht das Ich zwischen positiver und negativer Entscheidung und bei der Entscheidung des „anders“, und des „überhaupt nicht“, in der Sorge, was da positiv ist, festzustellen. Modi der Entscheidung und Modi der Unentschiedenheit.
Nr. 73 h Frei er Wi l l e, frei es Können und W illens hemm ung. Phantasi eabwandlungen von W il lens m ögl i chkei ten in Bezug auf die wir kli che Si tuati on unter Einschluss meiner gelt enden Moti ve und Interessen i1
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Fr eiheit, fr eies Könne n – H em m ung. Vor der ethischen Fr age der Fr eihei t. Freier Wille, Wille überhaupt, der – vorgreifend heinei Möglichkeit (ihm geltende) erfassend – sein fiat spricht oder nach Erwägung der Möglichkeiten und der für sie möglichen Wege, ob sie voraussichtlich gangbar sind oder nicht, sich entscheidet. Für jede Möglichkeit bin ich „frei“, jede kann ich hergreifeni, wenn ich von da, „wo ich stehe“, sie ergreife und Ja sage (frei). Aber der äußere Beobachter (als der ich selbst fungieren kann) kann empirisch-induktiv mit Wahrscheinlichkeit voraussagen, wie ich mich entscheiden werde. Er wird die Art und Kraft der Motive, die in Frage kommen, abschätzen, als welche und wie sie für meine Individualität charakteristisch sind. Darin ist jeder von jedem verschieden und darin besteht eine empirische Typik, bezogen auf die Typik der normalen Umwelt mit ihren typischen Situationen. Ich tue – ich kann. Mich in ein Tun hineinversetzend, ein Tun phantasierend habe ich in der konkreten Phantasie auch die Umstände und Motive. Ums tände: Ich weiß, was geschehen würde, wenn ich das und das tun würde (in der Phantasie). Ich stelle mir vor, dass ich ins Wasser springe, worin Haifische schwimmen – sie würden mich zerreißen. Ich stelle mir die Moti vati on mit vor, irgendwelche habe ich notwendig. „Ich will mir das Leben nehmen“ – dann kann ich das sehr wohl, es ist eine Möglichkeit. Aber in Frage kommt meine wirkliche Situation. Auf dem Schiff sind andere. Sind sie gegenwärtig, so würden sie mich voraussichtlich hindern. Also kann ich nicht. „Ich warte ab, bis niemand da histi“ – dann kann ich. Alles in der „Phantasie“: lauter Abwandlungen der jetzt wirklichen oder kommenden wirklichen Situation. 1
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Jedes w ir kli c he „ Ich kann “ i st auf die jetzt wirkliche Situation bezogen m i t i hrem Wi rkl i chkeitshorizont. Ich bin gegenwärtig auf einer Schiffsreise. Was kann ich da jedenfalls, welche Motive immer? Ich kann in die Kabine, in den Speisesaal, nicht ins Rauchzimmer, da wird renoviert, es ist geschlossen. Oder: Ich will allein sein, ich wünsche es. Kann ich es? Hier auf dem belebten Schiff? Welche Räume sind unbesetzt etc.? Momentane gegenwärtige wirkliche Situation – Phantasieabwandlungen meines Tuns in dieser Situation, darunter meines Stillseins, meines Ruhens (im Willensmodus, ich habe mich niedergelegt und liege, willentlich). Bin ich gefangen und gefesselt – ich bin immer noch in einer Willenssphäre und bin in einer Willenssituation. Die empirische Umwelt bleibt in Geltung bis auf die einzelnen Abwandlungen in Phantasie vorstellbarer Willensmöglichkeiten, die sich mit dieser Situation vertragen. Das Meer kann ich mir phantasiemäßig in seinen Eigenschaften anschaulich verwandeln, aber das kommt nicht in Frage bei der Überlegung, was kann ich jetzt auf dem Schiff, unangesehen meiner Motive = unangesehen all der Interessen, die ich schon habe und die ich nicht ändere. Ziehe ich diese Motive in Betracht, bleiben in Geltung diese Interessen (gleich bleibe ich, wie ich bin), z. B. hdiei meines Geschäfts, für das ich reise, hsoi ergibt die gegenwärtige Situation, so wie sie sich faktisch ausgestaltet hat, dass Leute da sind, die mir förderlich oder schädlich sein könnten oder gar, wie ich gewiss bin, mich schädigen wollen. Ich sei als politischer Flüchtling vorausgesetzt: Sie wollen mir etwa ans Leben, mich Todfeinden ausliefern, ich bin in Angst, das motiviert etwa den Gedanken der Flucht, aus dem Schiff springen etc. und dann, was würde geschehen? Stimmt nun alles, so habe ich eine Abwandlung der faktischen Situation und meiner Willentlichkeit in der Situation und was dazu? „ A lles s timm t “ – ic h, wi e i ch j etzt wirklich bin, bin das Motivationss ubjekt . Ich habe m ei n Ganzes von Willensgel tungen, En ts chied enhei ten, m ei ne festen Überzeugungen, meine M axim en a l s bewusste Willensallgemeinheiten, „ allgem eine W i l l ensentschi edenheiten “, meine bestimmten individuellen oder allgemeinen Willensziele (eine Person, die ich liebe, zu gewinnen, ein bestimmtes Handelsgeschäft in Amerika abzuschließen, ein wissenschaftliches Problem zu lösen)
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usw. Und daz u noc h di e j etzi ge Si tuation, die gegenwärtige Umw elt in ihr er Fak ti zi tät und i hre n umweltlichen Möglic hkeiten, den „ obj ekti ven “. Da habe ich horizonthaft Bekanntes und Unbekanntes der näheren und ferneren Vergangenheit und Gegenwart, Bestimmtes und Unbestimmtes und von da aus Vorausgewisses oder Vermutliches für die Zukunft. Das alles von mir aus zugänglich – immer schon Möglichkeiten als Vermöglichkeiten, imm er s chon Vorgegebenes und Vorschau von umgebenden M ögli chkei ten und Motiven, zusammenstimmend oder ni cht. Was kann man da denn letztlich sagen? I c h phant asi ere ni cht bl oß, i ch träume nicht. Ich bin kein Traum-Ich, sondern das wirkliche Ich, mit meinen Willensrichtungen und mit der Umwelt in ihrer Horizonthaftigkeit und dem, was diese für mich an Bestimmtheiten und Unbestimmtheiten etc. impliziert. Es stimmt, die Möglichkeit ist eindeutig, die meinem wirklichen Sein, meiner wirklichen Willentlichkeit, meinem wirklichen JetztCharakter gemäß histi, und das löst ohne weiteres mein fiat, meine Entscheidung aus. Als Willens-Ich tue ich immerfort in Richtungen, in denen ich ungehemmt bin; jede Unbestimmtheit ist Hemmung, jeder „Widerspruch“ ist Hemmung, verschiedene umweltliche Möglichkeiten, ohne Vorzug, gleiche Möglichkeiten: Ich stocke. Miteinander streitende Motive – ich mit mir in Streit als Willens-Ich.1 Beseitigung der Unbestimmtheit, Beseitigung der streitenden Motive, und ich folge ungehemmt; was ich tue, ist das, was ich dann eo ipso will. Ich habe als Wollender meinen jeweiligen Willenshorizont. Was darin liegt, will ich, allgemein gesprochen; aber im Modus des eigentlichen Willens, des entschiedenen, der ein tuend Darauflosgehen ist, will ich das vom Horizont, was hemmungslos vor mir liegt; das aber in vielen Stufen und eventuell reflektiv neue Stufen bildend. Insofern bin ich immer frei, wo ich ohne Hemmung bin und wo Hemmung fortfällt, die Unfreiheit verschwindet. Das tut sie eventuell selbst aus meiner Aktion, aber dann ist es ebenso in einer anderen reflektiven Schicht.
1 Oft muss ich warten, „ehe ich tun kann“, aber ist dieses Abwarten nicht selbst ein Willensmodus, der dann zum Tun gehört? Das ganze Tun ist Verwirklichen oder Verfehlen, und so ist mein totaler Wille Wille in einem Erzielungshorizont, aber im Milieu von Verfehlungen, etwas geschieht wider meinen Willen.
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Wie steht es nun mit der so genannten ethischen Freiheit, mit einem Willensleben, das die Gestalt meiner „wahren Selbsterhaltung“ hat oder der Verwirklichung meines wahren Selbst? Als waches Ich habe ich immer einen Horizont der Freiheit, auch wo ich 5 gehemmt bin, sofern ich immer etwas kann, mindestens umschauen, überlegen.
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Ich habe eine klar e Anschauung von einem Tun, von einem jetzt wirklich vollzogenen oder erinnerten oder sonst wie vergegenwärtigten, in irgendeiner Weise mir anschaulichen Ich-tue. Der Urmodus der Anschauung, Wahrnehmung eines Ich-tue in der Weise, dass ich geradehin jetzt irgendetwas tue ohne reflektives Thematisieren. Ich handle, Wahrnehmung meines Handelns, eines weltlichen Geschehens, eines sachlichen, al s meine „H andlung“, und Handeln als „ apper zipi ert “: Ein sachliches Geschehen als Handlung apperzipiert im apperzipierten Handeln. Das „eigentlich“ Perzipierte im Handeln und in der Handlung, das Antizipierte ihres Seinssinnes. Eventuell die Trugwahrnehmung des „Ich handle“: „Ich handle“ als eine Täus c hung. Ich habe das originale Bewusstsein – unthematisch: In der Besinnung wird es thematisch und dass es das wird, das weiß ich aus Besinnung. „Ich handle in der realen Welt“ und behandle Mundan-Reales, mir selbst gegenwärtig in meinem mundanen Wahrnehmungsfeld. Wahrnehmungsanalyse der Handlung, Wahrnehmung des realen Bestandes, der als wahrgenommen fundierend ist für die Handlung, korrelativ das entsprechende Wahrnehmen fundierend für das in neuer Weise wahrnehmungsmäßige Handeln. Schicht des perzeptiv anwesenden Realen in handelnder Funktion: a) das reale Ding, das Reale „außer mir“, das ich behandle, das ich in Arbeit habe etc.; b) mein Leib als Körper, worin „ich“ tätig walte, stoßend, schiebend etc. Jedes Handeln rein als solches histi Äußeres behandeln und „dazu“ meinen Leib in Aktion setzen oder ist „mittels“ des Leibes in die Äußerlichkeit hineinhandeln. Aber das im Wahrnehmungsfeld sich abspielende Handeln hat Richtung-auf, und zwar ich bin handelnd gerichtet durch meinen Leib auf Äußeres und dabei ist zu scheiden: Es kann sein, dass das Äußere, das ich behandle, unmittelbar durch das leibliche „Ich bewege“ Erwirktes ist. Es ist in unmittelbarer Berührung mit dem Leib, oder besser, ich berühre es unmittelbar, ich bin haptisch unmittelbar bei ihm; der 1
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Stoß ist unmittelbarer Stoß oder Schub. Oder es schließt sich eine mittelbare „Folge“ an das stoßende Wirken an, es geschieht etwas im Realen, es bewegt sich fort und verändert sich dabei eventuell noch, überträgt kausal Bewegung und Veränderung auf Dinge, auf die ich nicht mehr unmittelbar wirke. Diese gehören zur Handlung, wenn ich auf sie als Folgen mit gerichtet bin und soweit, bis mein Absehen in einer Folge sein „Ende“ hat. Es kann aber auch sein, dass sich Folgen und wiederum neue Folgen als Wirkungen, als Folgen meines Wirkens fortsetzen, für die ich nicht interessiert bin, auf die ich es nicht mehr abgesehen habe. Dann gehören sie nicht in die Einheit meiner Handlung. Betrachten wir nun die Unterschicht meines spezifisch handelnden Tuns als Tuns mit, durch und an mundanen Gegenständen. Sie sind für mich wahrnehmungsmäßige, sind in meinem Wahrnehmungsfeld, im strömend sich wandelnden und dabei einheitlich bleibenden Wahrnehmungsfeld: dem der lebendig wahrnehmungsmäßig fortgehenden Gegenwart, als in welcher Außengegenstände verschwinden, neue Außengegenstände auftreten. Dazu also gehört unabänderlich mein Leib, er kann nie im handelnden wie überhaupt im wachen Leben „verschwinden“. In dieser strömend perzeptiven realen Gegenwart habe ich die ganze Handlung, so weit sie aktuelle (wahrnehmungsmäßige) Handlung ist, aber so, dass in die jeweils ins retentionale Soeben versunkenen Momentanfelder des Wahrnehmens das unmittelbare Stoßen bzw. der Stoß gehört, und ich nun aktuell wahrgenommen, perzeptiv gegenwärtig nur abgesehene Folgen habe. Es kann sein, dass mein Absehen über die Wachperiode hinausreicht, dann erfahre ich zwar die Folge als erhandelte, von mir, von der gestrigen Ursprungshandlung erwirkt, und zwar willentlich, aber die Handlung und das Erhandelte als solches sind dann nicht wahrnehmungsmäßig als Handlung und erhandelt. Originales handelndes Bewusstsein als Bewusstsein von Handlung im „Original“ als selbstgegeben ist eben ein Modus von Wahrnehmung; aber ein in einer anderen Wahrnehmungsart Fundiertes, in der ich mundane Realität wahrnehme. Mundane Realität, wie gesagt, ist im Allgemeinen schon vom Handeln her, freilich nur ausnahmsweise hvoni meinem eigenen her geworden und hat von da aus einen durch Handeln gewordenen Seinssinn. Es ist nun offenbar zu unterscheiden: der in der origina-
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len Handlung als wahrnehmungsmäßig gegenwärtig entspringende und kontinuierlich hindauernde gegenwärtige Seinssinn Handlung (mit seinen Komponenten in der Schicht Handlung), andererseits der aus meinem früheren Handeln mir gewordene und fortgeltende Seinssinn, endlich der aus fremdem Handeln gewordene und sonst wie auf Fremdes bezügliche Seinssinn. Dieses Zweite und Dritte ist prinzipiell nicht wahrnehmungsmäßig hinsichtlich dieses Seinssinnes, nicht originale Selbstgegebenheit von Handlung, von HandelndErwirktsein-als-Seiend wie von Handelnd-Anfangen-des-Wirkensals-Stoßen, etwa Stoßen mit der Hand etc. In welcher Weise fremdes Handeln eine sonderbare Originalitätsform hhati, die auch als Wahrnehmung (ich „sehe“ den anderen handeln, bzw. ich sehe die Handlung des anderen als solche) angesprochen wird und sich, gegenüber entsprechend nicht original apperzipiertem Seinssinn aus Handlungen des anderen, begründet, wird noch zu erörtern sein. Ich beschränke mich auf mein Handeln in seiner ersten und eigentlichsten Originalität und frage von neuem nach der Fundierung desselben, ich abstrahiere also jetzt oder halte abgehoben mein originales Handeln. Dann finde ich als fundierend mundane Wahrnehmung, in korrelativem Sinn also für die Handlung wahrnehmungsmäßige Realität. Genau gesehen müssen wir hier sagen: originales Gegenwärtigsein der Welt für mich, korrelativ die für mich wahrnehmungsmäßig gegenwärtige Welt als solche in ihrem kontinuierlichen „strömenden“ Für-mich-Sein. Nun wird man sagen: Ich als handelnder Mensch, also mit meinem Handeln und dann auch mit dem, was das Handeln fundiert, bin doch für mich in der Welt, gelte mir ständig als seiend in der seienden Welt, und als das ist sie doch wahrgenommene original gegenwärtige. Sie ist das allerdings wesensmäßig in der Form eines strömenden und im Wechsel der mundanen Realitäten sich forterstreckenden Wahrnehmungsfeldes mit einem Horizont von dabei jeweils nicht selbst wahrgenommenen und wahrnehmbaren Gegenständen, aber nicht bloß als von mir wahrnehmbaren. Zum Horizont gehören von mir wahrgenommene oder wahrnehmbare andere Subjekte und durch sie hindurch indirekt als mitgegenwärtig erfahrbare Gegenstände, insbesondere auch solche, die ich als nicht von mir original wahrnehmbare, aber als von ihnen und für mich einfühlungsmäßig erfahrbare gegeben habe.
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Natürlich ist das richtig. Die mir jeweils wach in strömender Originalität als Gegenwart, als jetzt seiend geltende Welt umfasst mich den handelnden Menschen, mein Handeln und das Bewussthaben von Weltlichem, das das Handeln fundiert – umfasst mich und mein 5 Bewussthaben von allem und jedem, dessen ich bewusst bin, und jede Weise des Bewussthabens und Bewusstseins als solchem. Alles als Welt, alles in der Einheit der Zeit, als seiend in Zeitbestimmungen. All das ist entweder thematisch oder nicht thematisch, wahrgenommen oder nicht wahrgenommen, dann, wenn gegenwärtig, impliziert im 10 universalen Gegenwartshorizont.