Christliche Sittenlehre: Teil 3 Besondere Sittenlehre [Reprint 2020 ed.] 9783111619903, 9783111243269


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Christliche Sittenlehre: Teil 3 Besondere Sittenlehre [Reprint 2020 ed.]
 9783111619903, 9783111243269

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§ hristliche Stttenlehre. Von Dr. Wilhelm Martin Leberecht de Wette.

D r i t t er Theil. Besondere

Stttenlehre.

Berlin, 1823. Gedruckt

und

verlegt

bei G. Reimer.

Christliche

S i t t e n l e h r e.

Znhaltsanzeige

Dritter Theis. Besondere Sittenlehre.

Einleitung. §. 418. Verhältniß der besondern Sittenlehre, oder der Lu­ gendlehre, sie ist die Ausführung der allgemeinen Pflich­ tenlehre. S. i—-3.

$• 419« Nothwendigkeit, auf dasjenige zurückzugehen, was die Grundlage aller Tugend ausmacht, die Lugend schlecht­ hin oder den sittlichen Charakter. S. 3-5.

Inhaltsanzeige

IV

Erstes Capitel.

Von t> er chrt stlichen Tugend. I. Begriff und Wesen derselben. Sie besteht in dem innern geistigen Einsseyn mit

§. 420.

Christo, oder dem Leben im Geiste S. 6— io.

§. 42i. Sie beginnt mit der Urthat der Wiedergeburt, der De­

muth und des Glaubens.

S. io —n.

§. 4-2. Diese Demuth ist aber mit einem richtigen Selbstver­ trauen vereinbar. S. n —14.

II.

Die Bruchstücke der christlichen Tugend oder die Grundtugenden.

$. 423. Klarheit des Verstandes, lebendige Kraft des Willens, Reinheit deS Herzens: deren Verhältniß zu den sogenann­

ten Cardinaltugenden und den theologischen Tugenden.

S. 14—16.

$. 424.

Die Lugend der GeisteSklarheir und deren Mangel. S. 16—21. Vereinbarkeit derselben mit Lebendigkeit des Gefühls und der Phantasie. S. 21—23.

§. 425.

§. 426.

Die lebendige Kraft des Willens, Seelenstärke und

deren Theile: Geduld und Seelenruhe, Tapferkeit und Mäßigung. S. 23—25.

§ 427. Die Geduld, die Haupttugenb der ersten Christen, aber

*

vereinbar mit der Tapferkeit.

S. 26 — 29.

428. Die Seelenruhe. S. 29-—31.

Inhaltsanzeige.

v

5.429.

Die Tapferkeit.

S. Zi—35-

§. 430.

Die Mäßigung.

S. 35—39*

§. 4Zi.

Lebendigkeit des Willens.

§. 432.

Reinheit des Herzens mit Demuth und reiner Liebe.

S. 39—-41.

S. 41—45-

Zweites

Capitel.

Ueber die Pflichtenlehre überhaupt. I. §. 433.

Unterschied der strengen Pflicht und der Vollkommen­

heit.

§. 434.

Behandlungsart demselben.

S. 45— 49-

Geltendmachung der Gesinnung, nicht der That.

spiel

christlichen Friedfertigkeit

der

Bei­

und Wahrhaftigkeit

S. 49 — 53.

II.

§- 435*

Collision der Pflichten.

Angebliche Collision der Pflichten gegen uns selbst und

gegen Andere. §. 436.

S. 53 — 59.

Zwischen den Forderungen der Vollkommenheit und den S. 59 — 61.

Pflichten ist keine Collision denkbar.

Drittes

Capitel.

Vor» der Frömmigkeit. I§. 43?-

Als Gesinnung.

Das Gefühl der Frömmigkeit

Pflichtgefühl.

als alles

Drei Grundideen desselben.

umfassendes

S. 61—63.

JnhaltSanzeige.

vi

Die Idee der Bestimmung des Menschen:

§. 438«

Glaube an

die Unsterblichkeit, Begeisterung, himmlischer Sinn, fro­ S. 63 — 67.

her Muth.

Demuth und Ergebung, Gefühl der Unwürdigkeit, An-

§. 439«

spruchlosigkeit und Gott.

§. 440.

Selbstverleugnung,

Ergebung

gegen

S. 67—74.

Andacht und Anbetung, heilige Scheu, rechtfertigender,

S. 74—77.

siegender Glaube, Seelenruhe.

Alttestamentliche Frömmigkeit.

§. 441.

der Betrachtung

Die Frömmigkeit

II.

kirchlichen

§. 442.

S. 77—80.

und

Gemeinschaft.

Nothwendigkeit der Betrachtung und Gemeinschaft. Das

Gebet.

§. 443.

S. 80 — 83.

Der Glaube an Christum.

Naturalisten.

§. 444.

Irrthum der Deisten und

S. 83—85.

Werth der äußeren Gemeinschaft; rechtes Verhältniß des

Aeußern

und Innern.

Obliegenheit

§. 445.

Treue gegen die Kirche.

Muthiges

Märtyrerthum.

S. 90—95.

Schisma.

§. 447.

und standhaftes Bekenntniß,

Falscher Eifer der Ketzerei und des

Unduldsamkeit,

Gleichgültigkeit.

Das Kirchenleben des A. T.

Staats und der Kirche.

Bekenntnisses.

Fehler der Heucheley und des

Separatismus.

$. 446. Eifer für die Kirche.

des

S. 85 — 90.

Fehler des Indifferentismys.

S. 95 — 99»

Wahres Verhältniß des

S. 99 — 103,

JnHaltSanzeige Vierte«

VII

Capitel.

Don der Gerechtigkeit. I.

§. 448.

Als Rechtsgefühl.

der Rechtspflichten der Wahrhaftigkeit,

Entwickelung

der Treue, des bürgerlichen Gehorsams, der Vergeltung aus

den

Bedingungen

Gesellschaftlichkeit.

menschlicher

©, 103 — 109. Z 449.

Die Lugendpflicht der Friedfertigkeit als Ergänzung der

Rechtspflichten.

S. 109— in.

Die christliche Friedfertigkeit, und Heren Mißdeutung.

§. 450.

S. 111 — 114.

II.

Gerechtigk eit als Tugendpflicht. 1.

§. 451.

Gerechtigkeit in enger Bedeutung.

Die Gerechtigkeit als Achtung der pershnlichcn Würde.

S. n5 — 1I9.

§. 452.

Friedfertigkeit, Billigkeit im Urtheil über Andere, Ver­

söhnlichkeit, Bescheidenheit, Gemeinsinn. §. 453.

S. 119 — 123.

Die Gerechtigkeit der alttest. ©Lttenlehre. S. 123— 125*

3.

Wahrhaftigkeit.

§. 454. Einschränkung der Pflicht der Wahrhaftigkeit. S. 126—133*

§. 455*

Geschichte der Lehre von der Lüge.

§* 456.

Dom Eide,

S. 133—140*

S. 140—144«

§• 45?- Wahrhaftigkeit als Sache der Vollkommenheit. S* 144~>47-

Inhaltsanzeige,

VIII

Treue.

z.

Die Treue in verschiedenen Abstufungen und Beziehun­

§. 458.

gen.

S. 147—153.

Biblische Lehre darüber.

§. 459.

4.

§. 460.

Die

Vergeltung

S. i5»—153.

Vergeltung. im

öffentlichen

und

Privatleben.

6. 153—160. Fünftes

Capitel.

Don der Lieb« und Freundschaft. I. 461.

II.

Allgemeines Verhältniß.

Unterschied der Liebe und Achtung.

S. 161 —166.

Menschenliebe, Theilnahme, Wohlthätigkeit,

Dankbarkeit. §. 462.

Die Menschenliebe, auch gegen Feinde.

§. 463.

Wohlwollen.

§. 464-

Wohlthätigkeit als Pflicht.

$• 465.

Wohlthätigkeit aus freier Liebe, leibliche und geistige.

S. 166—1.69.

S. 169 — 172.

S. 173—175.

S. 176—182.

§. 466.

Die Wohlthätigkeit im A. T. und in der christlichen

Kirche. §. 467.

S. 182 — 183.

Dankbarkeit.

S. 183—184.

HL

Freundschaft.

§- 468.

Die Freundschaft, nach christlicher Idee.

§. 469.

Freundschaft tm A. T.

S. 18^—191.

S. 185 — 189*

Inhaltsanzeige IV.

Ix

Liebe, Ehe, Familien leben.

Geschlecht-liebe und deren Unterschied von der Freund­

§. 470.

schaft.

S. 191 —198.

§. 471.

Die Ehe, Monogamie.

§. 472.

Biblische Lehre.

S. 198—302.

S. 202—205.

Verbotene Verwandtschaftsgrade und

§« 473.

Gründe.

deren

S. 205—214.

§. 474.) > Andere Chehinderniffe. §. 475- )

S. 215—219.

S. 219—223.

§. 476.

Wahl de- Gatten.

§. 477.

Erfordernisse zur Schließung einer Ehe.

§. 47s.

natürliche

Pflichten

der

Ehegatten

gegen

S. 223—225.

einander.

Treue.

S. 225—232.

S. 232—235.

$. 479.

Andere Verhaltungsregeln.

§. 480,

Pflichten der Eltern gegen die Kinder.

8. 48i.

Der Kinder gegen die Eltern.

§. 482.

Verhältniß der Geschwister.

§. 483.

Zweite Ehe.

§. 484- ) > §. 485. )

Ehescheidung.

Der bürgerliche

S. 256—260.

®. 236—240.

S. 240—243.

®. 243—249

V.

§. 486.

S. 235—236.

S. 249—256.

Gemeingeist.

Gcmeingeist in seinen Abstufungen.

X

JnhaltSarizeige.

§. 487.

Dessen Wirkungen.

§. 438.

Der kirchliche Gemeingeist.

S. 260 — 264. S. 264- 267.

Anhang.

Von dem Verhalten gegen die Thiere. §. 489.

Mitgefühl gegen sie;

ist

eines

das Princip

edeln

vernünftiger Gebrauch derselben

Verhaltens

als Mittel.

S. 267 — 270.

Sechstes

Von

Capitel.

der

Ehre.

Die Ehre oder Selbstachtung ist die Gerechtigkeit gegen

490.

sich selbst, mithin besteht sie erstens in der Gerechtigkeit

gegen

als

Andere,

Gegensatz

der

Niederträchtigkeit.

S. 270—274.

Zweitens besteht die Ehre darin,

§. 491.

Andere nicht selbst dern

erniedrigen,

erniedrigt, und

beleidigen,

daß man sich gegen

sich

nicht von An­

Vom

Zweikampf.

Widerlegung

des Vorur-

laßt.

S. 274—282.

Christliche Idee der Ehre:

§. 492.

theils, als sey die Pflicht der Ehre im Christenthum ganz vernachlässigt.

Spuren der Lehre von der Ehre im 2s. T.

S. 282 — 286.

§. 493-

Beurtheilung unserer Begriffe von Ehre und der Sitte

deö

Zweikampfes

vom

christlichen

Standpunkte

aus.

InHaltSanzeige.

XI

Capitel.

Siebentes

Von der persönlichen Vollkommenheit oder

der Schönheit der Seele. Grundriß der Anfoderungen der feinern Ehrliebe oder

494.

der edlen Selbstliebe.

I.

S- 291 — 292.

Anfoderungen der Vollkommenheit im Ver­ hältniß z u r 9^a t u r.

§. 495-

Foderung der Lebenserhaltung; Verwerfung des Selbst­

mordes.

S. 292 — 301.

§. 496. Bibel - und Kirchenlehre über den Selbstmord. ©.302—305. Subtiler Selbstmord.

§. 497.

Sorge für die Erhaltung des

Lebens und der Gesundheit; für die Stärkung und Uebung

des Leibes.

S. 306—310.

Anfoderungen d er Vollkommenheit im Ver­

IIe

hältniß zur Gesellschaft.

§. 498.

Fleiß und Erwerbsthätigkeit, Streben nach Besitz und

Reichthum, Sparsamkeit. §. 499.

S. 310—313.

Gebrauch des Reichthums in Wohnung und Kleidung.

S. 3I3-3I4-

§. 500.

Tüchtigkeit zur Wirksamkeit; Streben nach Schätzung

und Ruhm; ächte und eitle Ruhmliebe.

§. 501.

S. 315 — 319.

Herrschen und Gehorchen, vernünftige Ordnungsliebe.

S. 319 — 324-

InhaltSanzeige

XII

III. Anfodevungen der Vollkommenheit in Bezie­ hung auf uns selbst: Schönheit der Seele. §. 502. Idee der Selbstbildung. S. 324—326.

§. 5oz. Lauterkeit, Selbstprüfung. S. 326 — 330. §. 504-

Selbstvertrauen; Vermessenheit und Bescheidenheit,

S. 331 — 337.

§. 505. Selbstschätzung, Uebermuth, Stolz, Bescheidenheit. S. 337 —339-

Eitelkeit und

§. 506. Wahrheitsliebe; Schönheitssinn. S. 339 — 341. §. 507. Gesundheit der Seele in überwiegender geistiger Thä­

tigkeit. S. 341 — 345.

§. 508. Schönheit der Seele in edler^nd reicher Thätigkeit der Geistes. S. 345—348-

609. Gesundheit der Seele in der Mäßigung; deren allgemeine Idee. S. 348—353-

§. 510. Die Keuschheit.

S. 353—357*

§. 511. Die Bibellehre.

S. 357— 36o.

§. 5i2. Ebenmaaß des Geistes S. 360—364. Achtes

in allseitiger Ausbildung.

Capitel.

Vom Berufsleben. I. Im Allgemeinen.

§. 515. Verhältniß des Berufs zum ganzen Leben. Wahl des­ selben. S. 364—366. §. 514. Arten des Berufs, oder verschiedene Stände. S. 366—369.

515. Nothwendigkeit und Schützbarkeit aller. S. 369 — 370.

Inhaltöanzeige. §. 5lS.

xni

Alle sollen rm Geiste der Liebe betrieben werden.

S. 370—574. §. 517. Weiblicher Beruf. (5. 374 —377.

II. Im Besond ern.

§. 518. Anfoderung der Vollkommenheit an jeden Beruf: höchste Herrschaft und Freiheit des Geistes. S. 378—380. §. 519. Vollkommenheit des Nahestandes. S. 380—582.

§. 520. Sittlicher Geist desselben.

S. 382—385-

521. Vollkommenheit des Wehrstandes. S. 385—387. $. 522. Des LehrstandeS im engern Sinn.

S. 387— 389.

§. 52Z. Des Künstler-Berufs. S. 389—595.

§. 524. Des geistlichen Berufs.

S. 393—395»

Neuntes Capitel.

Von der sittlichen Erziehung und Uebung; ober die Grundzüge der sittlichen Päda, gogik und Asketik. I. Verhältniß und Werth dieser Lehren. §. 525. Sie machen die sittliche Klugheitslehre aus und geben bloß Rathschläge. S. 395 — 398.

§. 526. Ihre Quelle die Selbsterkenntniß.

S. 398—399.

§. 527. Unterschied der Pädagogik und Asketik. S. 399.

II.

Grundsätze.

§. 528. Grundsatz der Selbständigkeit der sittlichen Natur und

der darnach abzumeffende Gebrauch sinnlicher Einwirkung und Gewährung.

S. 599—402.

JnhaltSanzeige.

uv §. 529*

Natürliche und übernatürliche Ansicht der sittlichen Na­

tur, sittliche und religiöse Askese. §. 55o.

Verschiedene,

S. 402 — 404.

aber zu vereinigende Wirksamkeit beider

Arten von Askese.

S. 404—406.

IN.

Mittel.

§. 551.

Mittel der religiösen Askese.

§. 532.

Mittel der sittlichen Askese, zur Bildung und Läute­

rung des Gefühls.

S. 406 — 405.

S. 408—410.

§. 553. Mittel zur Uebung und Stärkung des Willens. @.410—411. §. 554.

Mittel zur Bildung der Erkenntniß.

Rücksichtnahme

auf die verschiedenen Lebensalter und Zustande. S. 411—414.

Besondere Sittenlehre. Einleitung. 5* 4x8* ^)ie Besondere Sittenlehre gibt die Ausfüh­ rung der in der allgemeinen Sittenlehre ($. 83—90) entworfenen Grundjüge der allgemeinen Pflich­ tenlehre; und, insofern die Pflichten verpflichtend find, b. h. den Willen in Anspruch nehmen, und in die Ueberzeugung eingehen sollen, mithin die Vorschrif­ ten für die menschliche Tugend ausmachen, kommt ihr die Benennung Tug end lehre zu. In der allge­ meinen Sittenlehre kamen alle stttliche (praktische) Principien, auch die der Recht- und Staatslehre, vor; das ganze nach Ideen zu gestaltende menschliche Lebe« wurde betrachtet, und von verschiedenen Seiten be­ leuchtet. Nachdem die sittlichen Anlagen, Zwecke und Kräfte des Menschen und die Richtung feines Stre­ bens zur sittlichen Ausbildung in der sittlichen Anthro­ pologie dargestellt waren, fanden wir in der christlichen Offenbarung die geschichtliche Erscheinung der vollen­ deten Menschenbild««»-, alle Ideen derselben verwirk3- Thr. A

2

Besondere Sittcnlchre.

licht, und die Stiftung und den Beginn der in die Menschheit einzuführenden vollendeten sittlichen Bil­ dung; und nach der Regel dieser Offenbarung stellten wir bann erstens die Zwecke des menschlichen Lebens oder die christliche Weisheitslehre, zweitens die Kräfte und Mittel der christlichen Wirksamkeit oder die christliche Klugheitslehre, drittens die Ge­ setze der christlichen Gemeinschaft oder die allgemeine Pflichtenlehre, viertens die christliche ZurechnungSlehre auf, in welcher die Rückwirkung der gelöseten oder nicht gelöseten sittlichen Aufgabe auf daS Gemüth betrachtet und die Regeln der sittlichen Selbstbeurthrilung gegeben wurden. Jetzt bleiben wlr bei dem dritten Moment, der Pflichten lehre, ste­ hen, betrachten den In der christlichen Gemeinschaft ste­ henden Menschen naher, entwickeln die ihm gestellte sittliche Aufgabe bis ins Einzelne, und entwerfen die vollständigen Musterbilder der christlichen Lugend und der christlichen Gesinnung. Zugleich, da die Gemeinschaft des Christen ge­ schichtlich bestimmt ist, treten wir in der besondern Eittenlehre auS dem allgemeinen Kreise der christlichen Gesetzgebung überhaupt heraus in den besondern ge­ schichtlich begrenzten KreiS des evangelisch-christlichen Lebens, brachten die darin vorkommenden besondern sittlichen Verhältnisse und zeichnen die Musterbilder des christlichen Wandels in diesen Verhältnissen. Um diese Verhältnisse kennen zu lernen, haben wir oben die all­ gemeine Geschichte der christlichen Sittenlehre voraus­ geschickt, und darin besonders den Gang der Ausbil­ dung des christlichen Kirchenlebens ins Auge gefaßt. Manche christliche Pflichten würden wir gar nicht aus-

Einleitung.

5

führen können, ohne dle bestimmte Beziehung auf die besondern durch den geschichtlichen Gang herbekgeführten Verhältnisse des christlichen Lebens, wohin besonn ders das Musterbild des evangelischen religiösen Lebens gehört. §. 419» In der Behandlung der Tugendlehre hat man schon längst bas Verfahren beobachtet, biß man zuerst gewisse Grundtugenden aufstellte, auf welche es bet der.Erfüllung aller Pflichten ankommt, ohne deren Voraussetzung die stttlichen Vorschriften leere Formeln bleiben; und auch wir müssen dasselbe Verfahren be­ obachten. Wir müssen vor allen Dingen diejenige Ge­ müthsverfassung zeichnen, in welcher die Annahme und Erfüllung der aufzustellenden Pflichtenlehre möglich ist, welche selbst nicht als Pflicht anzusehen, sondern die Grundlage aller Pflichten ist. Wo der Geist noch nicht zur Klarheit und Besonnenheit erwacht ist, da wird man die Sittenregeln noch gar nicht fassen und ver­ stehen; wo kein reines Herz ist, da werden fie keinen Eingang finden, und wo der gut« starke Wille fehlt, da wird dle Befolgung derselben ausbleiben. Wir nen­ nen die Gemüthsverfassung, in welcher der ganze Mensch innerlich sittlich gestaltet und geläutert ist, dle Tu­ gend schlechthin, oder den sittlichen Charakter. Der erste Abschnitt unserer Tugendlrhre wird.daher von der christlichen Tugend handeln. Für den tugendhaften Menschen, in welchem eine erleuchtete Erkenntniß, ein guter Wille und ein reines Herz ist, werden wir sodann die Pflichten, denen er stch zu unterwerfen, ober dle Gesinnung, in welcher er zu handeln hat, in Beziehung auf alle beA s

4

Besondere Sittenlehre,

sonderen kebensverhältnisse zu entwickeln suchen, und davon Serben die folgenden Abschnitte unserer Tugend­ lehre handeln. Wenn wir im ersten Abschnitt den gan­ zen inneren Menschen betrachten, in wiefern er sich für die Lugend entschieden hat: so betrachten wir in den folgenden Abschnitten besonders die sittliche Gefühlsfiimmung und Gesinnung desselben; dort nehmen wir vorzüglich auf den guten Willen und die Kraft der in­ nern Selbstbeherrschung Rücksicht, ohne welche die Auf­ gabe der Tugend unlösbar bleibt; hier setzen wie die Güte des Willens voraus, und entwickeln nur die Ge­ setze, denen sich derselbe zu unterwerfen hat. Die Heraushebung einer besondern kehre vom Cha­ rakter oder von der Tugend überhaupt ist sehr wichtig, «m den Gedanken recht geltend zu machen, daß es nur Eine Tugend gebe, und daß alle Aufzählung einzelner Pflichten und selbst die Erfüllung derselben ohne diesen Kern und Inbegriff aller Tugend nichts sey. Die Vernachlässigung dieser kehre rächt sich an der ganzen Sittenlehre dadurch, daß diese leicht in den Fehler der Werkheiligkeit verfällt und eine Sittlichkeit ohne wahre Tugend befördert, wie dieß leider in der «mesten Feit mit der theologischen Sittenlehre der Fall gewesen ist. Ehedem hat man sich sehr mit der Claspfieation und Unterordnung der Tugenden abgegeben und immer die sogenannten Cardinal-Tugenden und die sogenannten theologischen Tugenden vor« angestellt; aber theils war dieß etwas bloß Angelern­ tes und Ueberliefertes (von de» Griechen und Augusti­ nus her), theils zu sehr Sache des Begriffs und des ClasstficationS - Geistes, als daß man das Wesentliche in dieser kehre ergriffen hätte, welches eben darin be-

Einleitung.

5

steht, baß man den Blick von den einzelnen Aeußerun­ gen der Tugenden auf deren inneren Grundquell richtet; daß man nicht den Menschen darnach schätzt, was er thut und sich zu thun bestrebt, sondern darnach, was er innerlich ist. Der gute Charakter ist unabhängig von dem Einfluß, den da- Herkommen, die Gewöh­ nung, die herrschende» Meinungen auf die Sittlichkeit der Mensche« äußern; er ist, als solcher, immer der­ selbe, «ährend die Ueberzeugung von dem, was löblich und vollkommen sey, in manchen Punkten wechselt. Der Mensch kann noch in Ansehung der pttklchen Ue­ berzeugung ungebildet und roh seyn, und doch den Ruhm eines guten Charakters behaupten. Die Ausführungen, die wir über di« sittliche Ge­ sinnung oder die Ueberzeugung von den Pflichten ge­ ben werden, find zum Theil abhängig von der Stufe der Bildung, die wir in der Wissenschaft, im Staat und in der Kirche erreicht haben, und eine zukünftig« Zeit kann darin manches abändern; was wir aber vom Charakter sagen werden, falls wir es . nur recht und erschöpfend sage», das gilt für alle Zeiten,

Erstes Capitel, Von der christlichen Tugend,

I, Begriff und Wesen derselben. §♦ 426. •tarnen thun wenig zum Verständniß der Sache, und

sie können in einer Sprache oder Lehre fehlen, ohne daß darum die Idee der Sache fehlt; der Mangel der, selben verrath bloß den Mangel der festgestellten Abge, zogenheit des Begriffs. Selbst bas deutsche Wort Tu, gend und das griechische o&vfita) ist die Tugend,

welche besonders bei den ersten

Christen sehr in Anspruch genommen wurde, theils für

die Ertragung der über sie verhängten Verfolgungen (Matth. 10,22. 24, 13. Röm. i2, i2. 2 Gor. 1, 6. 6, 4. 2 Thess. 1, 4. 2Tim. 2, es. Hebr. 10, 3. 6. 12,1.7.

Jakob. 1, s f. i2. 5, 7 ff. i Petr. 2, 20. Offenb. 1, 9. r,

3.4. 19. 3,10.),

damit fle in der Prüfung bewährt

erfunden würden (Röm. 5, 3.), theils für die Erwar­

tung der Entwickelung des Reiches GotteS oder der Zukunft deS Herrn, welche für die lebhaftern Hoffnun­ gen etwas zu lange zögerte (Röm. 8, 25. 15, 4. Col.

1, 3. i Thess. 1, 3.), theils in beiderlei Beziehung und im Allgemeinen (Col. j, ii. 2 Thess. 3, 5. r Tim. 6, n. Tit. 2, 2. 2 Petr. 1, 5. Offenb. i5,10. >4, 12.). Für Christus, die Apostel und ersten Christen war die Ge­ duld mehr noch als die Tapferkeit nothwendig,

weil

sie de« Zweck der Ausbreitung des Reiches Gottes nicht durch thätige- Eingreifen in die Verhältnisse, nicht

durch Anwendung von Gewaltmitteln, dergleichen Hel­ den

und

Staatsmänner gebrauchen,

sondern allein

durch die Kraft des Geistes erreichen konnten, wodurch

Erstes Cap. Von der christlichen Tugend.

27

fle aber von allen irdischen Waffen entblößt, den An, griffen der Welt bloßgestellt waren und sich fast ganz

leidend verhalten mußten.

Das Märtyrerthum war

der höchste Erweis der christlichen Tugend.

auch nach Allen,

wollen,

So ist

welche nach Christi Beispiel wirke»

denen die Verbreitung der Wahrheit Beruf

ist, die Geduld als Haupttugend anzuempfehlen.

eines Theils war,

wie wir zeigen werben,

Aber

bei dieser

Geduld Christi und seiner Nachfolger auch die Tapfer­

keit, weil sie die Gefahren unerschrocken aufsuchten; theils giebt es für diejenigen Christen, welche in der

bürgerlichen Gesellschaft leben,

auch noch eine andere

Berufs» und Wlrkungsart, welche die Mittel der Ge­

walt anzuwenden und gestaltend in die Natur und das Menschenleben eknzugrelfen hat; und für solche ist die Geduld nur so lange zu empfehlen- als die Gelegenheit

und die Mittel zu wirken fehlen, die Tapferkeit hinge, gen, wo sie handeln können.

Diejenige LebenSanstcht,

welche lcldendes Hingeben auch da empfiehlt, wo man sich durch thätiges Wirken helfen kann,

welche alles

der Fügung Gottes zu überlassen räth und nichts alohnmächtige sehnsüchtige Wünsche für bas eigene und

fremde Wohl erlaubt, ist rin ordentliches Mißverstänb, niß, dem nicht nur die Verwechselung der beiden gleich nothwendigen Wirkungsarten, der durch die Innere Kraft des Geistes und der durch die äußeren Mittel

der That, zum Grunde liegt,

sondern wobei selbst die

erstere verkannt und vernachlässigt wird, indem die Geduldsprediger gewöhnlich eben so wenig das freimü­

thig unerschrockene Wort der Wahrheit als die tapfere That gebrauchen.

28

Besondere Sittenlehre.

Die Hebräer waren mit ihrer ganzen Lebensanficht ju sehr auf bas Irdische gerichtet, ohne doch von Natur mit großer Serlenstärke ausgerüstet zu seyn, als baß sie die Tugend der Geduld, für die sie kaum einen Namen haben, gehörig hatten kennen und üben können. Die Geschichte ihres Auszugs auS Aegypten ist eine Reihe von Ausbrüchen kleinmüthiger Ungeduld. S» wenig fie späterhin standhafte Treue gegen ihr Ge­ setz bewiesen, eben so wenig Geduld zeigten fie im Un­ glück. Die Frommen unter ihnen, die Propheten vor­ nehmlich hatten von den Mächtigen und Reichen viel zu dulden, wovon die Klagpsalmen-zeugen; auch erlitt der an seinem Gesetz treu haltende Theil der Ration Verfolgung von den auswärtigen Unterdrückern, wor­ auf sich ebenfalls viele jener Psalmen beziehen; aber das reine Gefühl der Geduld drückt sich selten in die­ sen Klagen auS, vielmehr wird es oft durch ein anmaßliches Rechten mit Gott und durch Rachgefähl ge­ trübt. Hiob, der Stellvertreter frommer Dulder, wird keineswegs als Muster der Geduld gezeichnet (vergl. Jak. 5, ii.)z vielmehr werfen ihm, und mit Recht, feine Gegner Ungeduld vor (Hiob 5,2.). Diejenigen Weisen aber, welche die Zweifel an der Gerechtigkeit der göttlichen Weltreg.'erung niederschlagen, ermahnen allerdings zur Geduld, indem sie stilles Vertrauen auf Jehova fordern (Pf. 37, 7.). Auch wird der prophe­ tische Dulder Jes. 53,7. als rin Muster der Geduld gezeichnet, so wie Jrremia von sich ebenfalls große Ge­ duld rühmt (Jerem. n, 19.). Ausdrücklich wird die Geduld empfohlen Spr. 18,14. und vor der Ungeduld gewarnt Spr. 3, n»

Erstes Cap. Von der christlichen Tugend,

ec

§. 428. Mit der Geduld ist die Seelenruhe verbunden, oder diejenige Stimmung des Gemüths, durch welche wir die Leiden und Widerwärtigkeiten nicht nur stand­

haft ertragen,

sondern uns auch mit Heiterkeit dar­

über erheben. Man kann geduldig seyn, aber sich innerlich durch das Leiden trüben und niederdrücken

lassen; man kann die innere Selbständigkeit gegen die Eindrücke von außen ungebeugt erhalten, aber die Kraft derselben kann dadurch gelähmt seyn.

Geduld ohne

Seelenruhe, ohne Erhebung des Geistes, ist eine ge­ meine Tugend, häufig jumal beim weiblichen Geschlecht,

und in dieser Art eine Gabe der Natur; ein Werk der freien Willenskraft ist sie nur dann, wenn der Geist im Leiden, seiner frei bewußt, sich über den irdischen

Sturm emporhebt, dahin, wo die ewige Heiterkeit des Reiches GotteS strahlt, gleich dem gewaltigen Gebirg, dessen Fuß vom Ungewitter vergebens bestürmt wird,

und dessen Haupt sich über die Wolken erhebt, wo ei»

heiterer Himmel lacht.

Diese heitere Geistesruhe wird,

mit der Besonnenheit verbunden, von ihr unterstützt und dieselbe wiederum unterstützend, dem Geiste das

Ziel seines Strebens nicht verrücken und

verhülle»

lassen, so daß er unwandelbar auf der einmal betrete­

nen Bahn fortgeht.

Wir reden hier nicht von derjenigen Ruhe des Gemüths, welche eine Folge der Zurechnung ist, vom

Frieden Gottes,

welcher aus der Rechtfertigung

fließt (Röm. 5, i.); auch nicht von dem Frieden Got­ tes, welcher daS Werk der ganjen religiösen Selbst­ verständigung und die höchste Vollendung der christ­ lich

frommen Gemüthsstimmung ist (Ioh. 14, 27..

Zo

Besondere Sittenlehre.

„Meinen Frieden gebe ich euch: euer Herj erschrecke nicht, und fürchte sich nicht." Röm. 15, 13, 1 Thess. 5, 23. 2 Thess. 3, 16.); selbst nicht von dem, sorglos ma­

chenden Frieden Gottes, welcher aus der Tiefe des frommen Gefühls entspringt und durch das Gebet ge­ stärkt wird (Phil. 4,7. „der Friede Gottes, der alle-Denken übersteigt, wird eure Herzen

und Sinne Christo Jesu treu bewahren"), wiewohl diese Seelenruhe derjenigen, welche wir mei­ nen, sehr nahe liegt. Wir meinen hier eine solche, welche der Stärke der Seele angrhört, und nicht bloß

durch fromme Selbstverständlgung,

Glauben erhalten wird,

durch Gebet und

sondern sich als Kraft des

Willens beweiset. Diese Seelenruhe wirb, obschon nicht ausdrücklich, bezeichnet kn der Ermahnung, daß

die Christen feststehen in Einem Geist, Eines Sinnes zusammenkämpfenb für den Glau­

ben, und in keinem Stück« erschrecken sollen vor den Widersachern (Phil, r, 27. vergl. 4, i.)

und überhaupt in demFeststehen imHerrn (iThess.

3, 8. 2Thess. B, 15.) und der Stärkung des Her­ zens (Jak. 5, 8.), welche als Gabe GotteS betrachtet und angewünscht wird (2 Thess. 3, 3. 1 Petr. 5,10.).

Sie wird unstreitig mit begriffen in der so oft empfoh­ lenen Geduld, besonders in der Langmuth (/taxQo&vfila),

welche am nächsten unsere Idee bezeichnet (Col. 1, n.

Hebr. 6, 12. Jakob. 5, 7. 8.10.);

auch liegt sie mit

in der Hoffnung, welche sich im christlichen Gemüth mit der Geduld paart und derselben Fröhlichkeit ver­

leiht (Röm. 5, 3f. 12,12. i5,13. i Thess. 1, 3.). Die

Hoffnung, als Aussicht auf daS Ende und den Sieg

beS Kampfe-, ist allerdings auch Sache brrSrlbstver-

Erstes Cap. Von der christlichen Tugend.

31

ständigung und des Klaubens, eine Vorstellung und Ueberzeugung, durch welche die heitere Ruhe des Ge­ müths behauptet wird; aber fie kann nicht ohne dieje­ nige Seelenruhe, welche wir hier meinen, bestehen, und bas Festhalten dieser Ueberzeugung ist selbst eine That des Willens. Ganz eigentlich ist es von der Seelenruhe zu verstehen, wenn der Apostel die Thessa­ lonicher ermahnt, sich nicht durch Vorspiegelungen von der nahen Ankunft Christi außer Fassung setzen zu lassen (aThrss. 2, 2. vrgl. 3,12.). SieistdieFreude deS heil. Geistes, welche man auch in der Drangsal

bewahrt (iLhess. 1, 6, Hrbr. 10, 34. Jakob, i, 2). Auch bei den Hebräern zeigt sich die Seelenruhe meistens als religiöses Vertrauen. Ps. 112,7. „Ge­ trost ist sein Herz, vertrauend auf Jehova." Beson­ ders ist dieses Vertrauen die Folge der Selbstverstän­ digung Über den geheimnißvollen Gang der Weltregie­ rung (Ps. 37, 3. 73, 28.), wiewohl diese Selbstverstän­ digung nicht die rechte, nicht mit der wahren Erge­ bung verbunden war (§. 122.). Ganz rein wird die heitere Seelenruhe gefordert Spr. Sal. 17,22. „Ein fröhliches Herz bringt gute Heilung; ein niedergeschlagener Muth vertrocknet bas Gebein." Standhafte wüthige Fassung empfiehlt Jes. Sir. 2, 2. 12. §. 429« In der vordrlngrnden Kraft des Willens, mit welcher er die sich entgegenstellenden Hindernisse aus dem Wege räumt, sich von keiner Gefahr zurückschrekken läßt, sondern kämpfend das Ziel verfolgt, zeigt sich^ble thätige Tugend der Tapferkeit mit der Un­ erschrockenheit, Geistesgegenwart und Ent-

Besondere Sittenlehre,

ZL

fchloffenheit, Tugenden, welche eben fo nothwen­ dig sind zur Fassung männlicher Entschlüsse, als zur

Ergreifung der schicklichen, oft nur im Augenblick der

Gefahr sich darbietenden Mittel und zur Ausführung

der begonnenen Unternehmungen,

durch welche die

Selbständigkeit deö Geistes sich, herrschend und sieg­ reich über die Natur beurkundet.

Man -rennt am häu­

figsten die Tugend des Kriegers, welcher der Todesge­ fahr muthkg entgegensteht, Tapferkeit; aber sie kommt jedem zu, der sich in den Kampf mit Schwierigkeiten

und Gefahren begiebt, sey es, daß es mit den Ele­ menten und Kräften der Natur, wie in der Schiff­

farth, auf Reisen, bei Ueberschwemmung und Feuers­ noth, bei gefährlichen Handthierungen, oder mit den Leidenschaften der Menschen, bei Volks - und Raths­ versammlungen, einem empörten Haufen oder erzürnten Machthaber gegenüber, den Kampf gelte. Der einge­

schränkte Gebrauch des Wortes Tapferkeit unter un­

zeigt, baß wir in der Gesellschaft diese Tugend nicht genug zu schätzen wissen; und wenn wir statt dessen die Worte Unerschrockenheit,

Entschlossenheit gebrauchen,

Geistesgegenwart und

so srhlt uns doch immer

die Beziehung der ganzen Tugend,

von welcher die

letzter» Eigenschaften nur Theile sind. Auch hier müssen wie die Unterscheidung mache«

zwischen der sinnlichen, angebornen Tapferkeit und Un­

erschrockenheit, und der selbsterworbenen ober selbstbe­ wußten, innerlich frei behaupteten. Jene wird, ohne Besonnenheit, leicht in Tollkühnheit ausarten, welche der Gefahr, ohne zu wissen warum, entgegen­

geht;

diese wird vlelleicht bei unvorhergesehenen Ge­

fahre« nicht immer die vollständige Furchtlosigkeit und

iGei-

Erstes Cap. Ton der christlichen Tugend.

33

Geistesgegenwart behaupten,, wenn die Körperbeschaf­ fenheit schwach und reizbar ist, dafür aber desto an­ haltender und besonnener seyn. Ihren Verhältnissen gemäß konnten die ersten Christen die Tapferkeit nur im Aufsuchen der Gefahren und Widerwärtigkeiten und in der Unerschrockenheit und Unbeugsamkeit, womit sie trotz denselben ihren Glauben bekannten und behaupteten und die Pflicht der Treue gegen Christum übten, beweisen. Thätiger Widerstand und Selbstverthridigung lag nicht in dem Kreise ihres Lebens und Wirkens. Christus bewies die höchste Tapferkeit durch den kühnen Freimuth, mit welchem er die Laster der herrschenden Parthei der Pha­ risäer angrlff, und das Werk der Besserung unter fei­ nem Volke begann, wodurch er die Wuth der Macht­ haber gegen sich reizte und derselben unterliegen mußte. Tapferer, unerschrockener kann kein Muth seyn, als der, mit welchem er erklärt«, daß er an die Stelle des al­ ten Gottesdienstes einen neuen errichten werbe (Joh. 2,19.), mit welchem er, seinem Tobe entgegensrhenb, nach Jerusalem reifete (Matth. 20,18f.), öffentlich daselbst rinzog und im Tempel auftrak, seiner Gefan, gennehmung nicht auswich, sondern entgegenging, und im Angesichte seiner feindseligen Richter bekannte, daß er Gottes Sohn sey, und einst in den Wolken des Him­ mels wirberkehren «erde (Matth. 26, 64.}. Ohne wahre Tapferkeit war Petrus, welcher zwar bei der Gefangennehmung in der ersten Hitze das Schwert zog, aber nachher de« Herrn verleugnete. Dagegen war der Apostel Paulus feines Meisters ganz würdig. Nach­ dem er überall «nter Juden und Heiden bas Evange­ lium gepredigt und sich manche Verfolgungen zugezo3. Thl. C

Besondere Sittenlehre, gen, ging er unerschrocken der ihn erwartende» Gefan­ genschaft in Jerusalem entgegen (Apg. 20,22 ff.) und ließ sich durch keine Bitten und Vorstellungen von die­ ser Reise abbrlngen (Apg. 21, u ff.). Die Tapferkeit, sich durch keine Verfolgungen und Versuchungen vom Glauben an Christum und von sei­ ner Gemeinschaft abwendig machen zu lassen, die Stand­ haftigkeit im Bestehen des Kampfes mit dem Unglau­ ben Wirb deutlich im N. L. gefordert, indem dieser Kampf als ein Kampf mit dem Teufel angesehen wirb. Eph. 6,10 — 17. „Seyd stark durch den Herrn und durch seine mächtige Kraft. Ziehet an die Rüstung Gottes, um zu bestehen gegen die Ränke des Teufels. Denn wir haben nicht zu kämpfen mit Fletsch und Blut, fon, der» mit den Mächten, mit den Gewalten, mit den Beherrscher« dieser Finsterniß, mit den Geistern der Bosheit unter dem Him­ mel. Darum leget die Rüstung Gottes an, auf daß ihr widerstehen möget in der schlim­ men Stunde, und den Feind besiegend das Feld behaltet u. s.Die Waffen des Geistes, welche die Christen anlegen sollen, find nicht bloß Schußwaffen, Waffen der Geduld und Seelenruhe, sondern auch das Schwert sollen sie ergreifen, das Schwert des Wortes Gottes, um damit die Wahrheit thätig zu verbreiten. Sie sollen nicht bloß wachsam seyn gegen den Widersacher, damit er ihnen nicht schade (1 Petr. 5,8.); sondern sie sollen unerschrocken wider ihn kämpfen (Phil. 1, 27 f.) und ihn Lurch tapfern Widerstand in die Flucht schlagen (Jakob. 4,7. „Wi­ derstehet dem Teufel, so wird er euch fliehen). Mit

Erstes Cap. Von der christlichen Tugend.

35

ganz eigentlichen Worten fordert der Apostel Paulus die Tapferkeit ober männliche Starke (1 Cor. 16,13. avSQt&a&s, HQataiovo&e) obschon nur für die Stand­ haftigkeit im Glauben. Fromme Unerschrockenheit in Gefahren sprechen schön au- die Stellen Pf. 46,2. 91, 5. ng, *?♦ Jes. Sir. zi, rb. Der heilige Geist ist dem Hebräer auch der Geist der kriegerischen Tapferkeit (Nicht. 3,10. 6, 34. Hz 29. iz, 25.). §. 430« Die höchste Kraft der Seele zeigt sich in der Mä­ ßigung oder in der Selbstbeherrschung, d. h. in der Behauptung der innern Selbständigkeit des Geistes gegen die finnlichen Antriebe, Gemüthsbewe­ gungen und Leidenschaften überhaupt, so baß der Mensch nicht nur gegen da-, was ihn von außen feindlich berührt, leidend und kämpfend seinen Willen behaupte, sondern auch in sich selbst frei bleibe von der Gewalt der sinnlichen Natur, seinen Begierden nicht erliege, sondern über sich selbst, wie über die Natur, Herr sey. Er soll da- Gleichgewicht der Seele nie durch die Gemüthsbewegungen stören lassen, sonder» jedem sinnliche« Eindruck, der ihn Übermanne« will, kräftig entgegenkreten, und jede Neigung und Begierde l« ihre Schranken rurückweisea, damit sie nicht eine unrechtmäßige Gewalt über de« Geist gewlanea. Nur bei dieser innern Meisterschaft drS Menschen kan sich da- Gebot der Pflicht klar und sicher auSfprechen und geltend mache«; nur wen« der Mensch sich selbst zu beherrschen weiß, kann er die Natur beherrschen und ihr sein Gesetz als Form aufprägen. Mit Recht nann­ ten die Römer de« Zustand teS leidenschaftliche« Et-

C s

Besondere Sittenlehre.

56

impotentia, well der Grund derselben Schwache,

Mangel an Kraft der Selbstbeherrschung ist.

Bei uns

gelten starke Leidenschaften nur gar zu oft als ein Zei­

chen des starken Charakters, da doch die wahre Stärke im Willen liegt, welcher die Leidenschaften zügelt. Zu dieser Selbstherrschaft gehört auch dle Freihrlt

von Angewöhnung; denn oft gewinnt ein Hang durch

Gewohnheit eine solche Herrschaft über den Geist, daß dessen Freiheit ganz dadurch verloren geht.

Es ist

aber gleich, ob wir Sklaven einer lebhaften sinnlichem Neigung oder einer durch Gewohnheit befestigten Rich­

tung werden; denn immer werden uns dadurch die Zü­

gel der Selbstherrschaft aus den Handen gewunden. Auch

hier müssen wir das Angrborne von dem

Erworbenen,

die Naturgabe vom Werk der Freiheit

unterscheiden-, Wir verstehen unter dieser Tugend der Mäßigung nicht die natürliche Gleichgültigkeit und Fühllosigkeit (Indolenz), welche keiner Begierden

und Leidenschaften

Auch wollen wir die

fähig ist.

Mäßigung nicht in soweit übertrieben wissen, daß da­ durch alle Sinnlichkeit ausgerottet werde, welches die

mystische« Asketen

mit ihren Casteinngen

versuchen,

oder baß dadurch eine rohe Fühllosigkeit, worin Wilde in Ertragung des Schmerzes ihre sittliche Größe ftu

chen, hervorgebracht werde.

Die mäßigende Kraft des

Willens soll kein Zwingherr seyn,

der alles Leben um

sich in Furcht und Feigheit erstarren macht; unter sei­ ner Herrschaft sollen die sinnlichen Anregungen und

Neigungen ihr freies Spiel haben, aber in Einklang und Gehorsam erhalten «erden»

wie durch Speise und Trank,

Sinnliche Erregung, so durch ein lebhaftes

Spiel der Empfindungen, ist durchaus nothwendig zur

Erstes Cap, Vou der christlichen Tugend. Frischheit

und Kraft des LebenS.

57

Regen uns die

Dinge nicht zur Lust und zum Schmerz, zur Neigung und Abneigung auf,

so stad wir für das Leben todt

und kalt, und wie es auf uns nicht einwirkt, so tön*

nen wir auch nicht auf dasselbe einwirkea.

Ja selbst

die Harmonie aller Neigungen, obgleich bas Ideal der

Sittenbildung, ist nicht in höchster Vollkommenheit von

allen Menschen zu fordern,

weil dadurch dem Leben

im Ganzen die Mannichfaltkgkeit der Bewegung abgr-

hen würde.

Verschiedene Menschen müssen in sich ver­

schiedene Neigungen

in einem gewissen Uebergewlcht

hervortreten lassen, so wie sich auch Verschiedene ver­

schiedene Berufsarten und Lebensverrichtungen Wahlen. Der Gelehrte muß andere Neigungen haben,

als der

werkthätige Bürger; der Künstler darf sich mehr brat'

phantastischen Hang überlassen, als der Geistliche.

Nur

soll doch keiner sich an irgend eine Neigung so gefan­ gen geben, daß er darüber seine Selbstherrschaft ver­ liere, und wo höhere Pflichten rufen, Alles zum Opfer

bringen können. DaS Christenthum gebietet uns,

das Fleisch zu

kreuzigen samt den Lüsten und Begierden (Gal. 5,24.), die Glieder zu tödten, nämlich, Hurerei Wollust, böse Begierde (Col. 3,5.), das Auge, bas uns ärgert, aus-

zureißen (Matth. 5, 29.);

aber damit ist nicht eine

Ertödtung aller, auch der unschuldigen Sinnlichkeit ge­ meint (§. 72.).

Das ertödtete Fleisch soll auch wieder

auflebr» (Röm. 8, n.); geschehen,

ist die sittliche Wiedergeburt

dann braucht der Christ seine Sinnlichkeit

nicht mehr ängstlich zu bewachen und gewaltsam zu

lahmen, sie ist gelautert und gemäßigt, und reizt ihn nicht mehr zur Sünde.

Die wahre Mäßigung bezeichnet

38

Besondere Sittenlehre,

die Schrift als Nüchternheit (rThess. 5,6. g. iPet. 5, g.). Es gehört dahin die Herrschaft über den Zorn, daß man sich durch denselben nicht zur Sünde reizen (Eph. 4,26.), daß man sich nicht vom Bösen über­ winden lasse, sondern das Böse durch das Gute über­ winde (Röm. 12,2i.). Die eigentlichen Worte für die Mäßigung otocpQtov, GtotpQoovvt], kommen im N- T. in dieser bestimmten Bedeutung nicht vor. Christus ist daS höchste Vorbild der Mäßigung. Nie eine Aufwallung der Leidenschaft in ihm; denn der heilige Zorn, mit welchem er den Unglauben und die Verderbtheit straft, «ar nicht daS irdische Feuer der Leidenschaft; nie brachte ihn die giftige BoSheit seiner Feinde außer Fassung. AlS die Söhne Zebrdäi Feuer vom Himmel fallen lassen wollten auf die ungastlichen Samaritaner, sagte er ruhig: Wisset ihr nicht, welches Geistes ihr seyd? (Luk. 9, 55.). Während des Ver­ hörs vor dem Hohenpriester und PilatuS und bei den ihm widerfahrenden Schmähungen und Mißhandlungen, kein einziger Augenblick der Aufwallung, der verlorenen Fassung (1 Petr. 2,2;.). Im Augenblick der Kreuz i, -un- fühlte sein Herz nur Mitleid mit der Rohheit feiner Marterer, und er bat für sie um Vergebung (Luk. 23, 34.). Wenn er im Schmerze des Todes rief Meta Gott, warum hast du mich verlassen? so war dieß nicht der Ausdruck der Verzweiflung, sondern ein Gebet um Stärkung (§. 51.). Die Idee der Mäßigung ober Selbstbeherrschung ist den hebräischen Sittenlehrern sehr klar geworden, wie natürlich, da ohne dieselbe keine GesetzeSerfüllung — ihnen da Höchste der Sittlichkeit — möglich war. Spr. 16, 32.: „besser der kangmüthige, als

Erstes Cap. Von der christlichen Tugend.

39

rin Held, und wer sich selbst beherrscht, als ein Städte-Eroberer." Spr. 25, 28-. „Eine geschleifteStadt vhneMauer, wer sich selbst keinen Einhalt thun kann." Jes. Sir. i8z 29.: Folge nicht deinen Begierden und beherrsche deine Leidenschaften." Vrgl. sz, 4 ff. Beson, ders wird die Langmuth im Zorn empfohlen (Spr. 14, 29. 15,18. 17, 27. 19, 11) und vor der Rachsucht ge­ warnt (Spr. 2°/ 22.). §- 43i* Wenn so die Kraft deS Willens unabhängig ist von aller Naturgewalt, welche sie von außen und von innen hemmen und beugen kann, so daß sie sich im Entschluß und in der Ausführung desselben frei und selbständig beweiset: so bleibt noch die Forderung übrig, daß sie lebendig sey. Man kann Geduld, Ruhe, Tapferkeit und Mäßigung haben, und innerlich todt und leer seyn ohne eigenen Geist der Entschließung und Lebensrichtung. Schon für die vollkommene Mä­ ßigung oder Selbstbeherrschung ist Freiheit vom ge­ wohnheitsmäßigen Hang nothwendig; aber ist auch diese Freiheit vorhanden, hat der Mensch gar keine Leidenschaften, weder solche, die ihm angeboren find, «och solche, die ihm die Gewohnheit gegeben hat; han­ delt er stets nach verständig sittlichen Regeln: so können Ihm diese Regeln doch fremd, und sein Wille der Sklave der Nachahmung seyn. Wir finden Weltleute, welche ohne Leidenschaft, mit Festigkeit des Willens, «ach gewissen Grundsätze« handeln und gewisse Plane streng durchführen; und denaoch fehlt ihnen der leben­ dige Geist der Tugend; sie sind in einer Art von hö» herm Mechanismus befangen. Alle Entschlüsse und

4o

Besondere Sittenlehre.

Grundsätze sollen aus dem Menschen selb- entspringen, feine Tugend soll sein eigenes Werk seyn. So wie fein Verstand selbständig urtheilen soll, so soll fein Wille sich durchaus durch sich selbst bestimmen. Und nicht genug: der Wille soll sich in jedem Augenblick von neuem frei entschließen, stet- frisch von vorn be­ ginnen. Der Mensch soll nicht nur nicht der Sklave Anderer, sondern auch nicht fein eigener Sklave seyn. Diese lebendige aneignenbe Kraft des Willens ist nach christlicher Ansicht der Geist der Freiheit, welcher von allem Satzungswesen losblndet und die eigene freie Menschenkraft entwickelt. Zur Beobach­ tung des Mosaischen Gesetze- gehörte allerdings Seelenstärke, Geduld, Ruhe, Tapferkeit, Selbstbeherr­ schung ; aber sie konnte doch nur Sach« des Mechanis­ mus seyn, man konnte das Joch des Gesetzes als ein von außen aufgelegtes schleppen, und eben so wenig mit selbständiger Ueberzeugung als mit lebendiger Kraft des Willens handeln. Dagegen trat nun das Chri­ stenthum auf mit der Lehre von der Freiheit. AuS ei­ genem l-brndlgen Gefühl soll der Christ handeln, ,tmb nie eines Menschen Knecht werben (i Cor. 7,23.), das Gefttz soll ihm ins Herz geschrieben seyn, er soll den Willen des Vater- selbständig erkennen und als seinen eigenen vollbringen, Gott dienen im Geist und nicht im Buchstaben (Röm. 7, 6.) sich ihm weihen zu einem lebendigen, heiligen, wohlgefälligen Opfer, zu ei­ nem geistigen Gottesdienst (Röm. 12,1.). Die neue Schöpfung, durch welche wir Christen werden, muß im­ mer neu bleiben durch beständige Wiederholung; die Umgestaltung und Erneuung des Sinnes (Röm. 12,2.) ist ein fortgehendes, nie abzuschließendes Werk; und

Erstes Cap. Von der christlichen Tugend.

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wü der innere Mensch, «ährend der äußere aufgerkeben wird, sich stets erneuet, wie der Muth der Dul­ dung immer sich wieder aufrafft (2 Cor. 4, ,6.), so soll der gute Wille sich in allen seinen Bestrebungen stetS erneuern. Und diese fortgehende Erneuerung bringt Wachsthum im Guten mit sich, welches vom Chri­ sten gefordert wird (Col. 1,3 — 12. Eph. 4,15. Phil. 1,9) und die Unermüdlichkeit (Gal.6,9. -rLheff. 3, §. 432. Die Tugend wird ganj vollendet durch die Rein­ heit des Herzens. Was hilft es, wenn wir mit Klarheit des Geistes die Zwecke des Lebens vor un­ sehen, und ihnen nicht nachstreben? WaS hilft eS, wenn wir mit Besonnenheit uns in der Welt bewegen, entschlossen die sich darbietenden Mittel und Gelegen­ heiten benutzen, dabei aber nicht dem reinen Gesetze der Tugend dienen? Was Hilst es, wenn wir Starke des Willens besitzen und bewähren, und sie nicht im Gehorsam gegen das Gute gebrauchen? Und selbst die freie Lebendigkeit im Entschluß und kn der Wahl der Lebensrichtung kann noch ohne die wahre sittliche Richtung gedacht werden. Mit diesen Eigenschaften des Charakters ausgestattet sind die großen Men­ schen, Helden, Eroberer, Regenten, welch« die Kraft ihres Geistes, die Stärke ihres Willens zur Verherr­ lichung ihrer Selbst oder ihrer selbstisch geliebten Na­ tion, nicht aber zur Förderung wahrer Menschenbllbung, nicht zum Bau des Reiches Gottes gebrauchen; Menschen, die wir bewundern können, vor denen wir uns aber entsetzen. Nur wer reines Herzens ist, wird' sich mit treuem Pflichteifer allein der Tugend widmen,



Besondere Sittenlehre,

und Seelengröße mit Seelenadel vereinigen, oder den Menschengeist in seiner wahren Verklärung zeigen. Unter dem reinen Herzen verstehen wir die stet­ offene Empfänglichkeit des sittlichen Gefühls für sittliche Anregungen, die Hingebung an das, was die Pflicht gebietet, die Reinheit von Selbstsucht, die volle Unterwerfung unter die Gesetze des Reiches Gottes, die Demuth, welche sich selbst nur im Gehorsam ge, gen die höhere sittliche Weltordnung fühlt, für sich nichts will, sondern alles nur für die Menschheit, für Christus und Gott, und die reine Liebe, welche in der eigenen Person und in Andern die menschliche Würde und Vollkommenheit anerkennt und zu erhalten und zu fördern strebt, und in ihrer obersten Richtung Gott als den Schöpfer und Gesetzgeber der sittlichen Welt mit unbedingter Ergebung, mit freudiger Begei­ sterung dient. Mit Recht preiset Christus diejenigen selig, welche reines Herzens find (Matth. 5,8.); sie allein wer« den „ Gott schauen," und zur sittlichen Vollendung ge­ langen. Dieses reine Herz ist der heilige Geist', der in den Christen wohnt. „Wisset ihr nicht, daß euer Leib Tempelde- in euch wohnenden heiligen Geiste- ist, den ihr von Gott em­ pfange« und daß ihr euch nicht selbst ge­ hört?" (iCor. 6,19.) „Weihet eure Glieder

zum Dienst der Gerechtigkeit zur Heilig­ keit" (Röm. 6, 19.). „Wir wollen unS rein halten von aller Befleckung de- Fleisches wnd de- Geiste-, nach immer vollkommnerer Heiligkeit strebend in der Furcht Gottes"

Erstes Cap. Von der christlichen Tugend.

43

(2Cor. 7, i.). „Ein jeglicher, der solche Hoff, nung zu ihm hat, der reinkgt sich, gleichwie er auch rein ist" (r Joh. 3, ?.). „Reiniget die Hände, ihr Sünder und machet eure Herzen keusch, ihr Wankelmüthigen!" (Jak. 4, 8.) Auch die Weisen und Frommen des A. T. kennen den Werth eines reinen Herzens. Um rin solches btt, tet der Psalmlst Pf. 51, 12. darin findet der weise Spruchdichter die Quelle alles Guten: Spr. 4, 23. „Mehr denn Alles bewahre de'in Herz, denn auS demselben kommt des Lebensllrfprung!" Ps. 119, 80: „Mein Herz sey ganz ergeben dei­ nen Satzungen!" Ps. 40, 9.: deinen Wille« zu thun ist meineLust, und deinGesetz wohnt in meinem Dusen." Die Demuth ober die Unterwerfung unter die Gesetze der sittlichen Welt, als die erste und Haupt­ frucht der Reinheit de- Herzens, wird im N. T. be­ stimmt herausgehobrn. Christus, dessen Speise es war, den Willen dessen zu thun, der ihn gesandt hatte (Joh. 4,34.) demüthigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode am Kreuz (Phil. 2, 8.), und obschon er Gottes Sohn war, lernte er durch sein keidev Ge­ horsam (Hebr. 5, 8) Gott dienen mit aller Demuth (jaTteivotpQOGimf) war das Ziel des Etrebens für den Apostel PauluS (Apostrlgrsch. 20, 19.). Die Christen find „ durch die Heiligung des Geistes er­ wählt zum Gehorsam und zur Reinigung durch das Blut Jesu Christi" (i Petr, i, a.); sie sollen „sich weihen dem Gehorsam zur Gerechtigkeit (Röm. 6,16.). Alles, waS sich gegen die Erkenntniß Gottes erhebt, aller Wahn und alle Anschläge sollen gefangen

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Besondere Sittenlehre.

genommen werden unter den Gehorsam Christi (2 Cor. 10, 5,). Aus der Hingabe (v^o^ayy) an das Evangelium kommt alles Guti, auch die Wohlthätig, kekt gegen die Bräder (2 Cor. 9, 13.). Daher wird Unterwerfung und Demuth gegen Gott gefordert (1 Petr. 5, 6. Jak. 4,10.) Diese Demuth ist mit der demüthigen Anerken­ nung unserer Schwäche und Unfähigkeit zum Guten nahe verwandt; denn so wenig wir das Gesetz erfüllen können, eben so wenig können wir uns selbst Gesetz seyn und unser Selbst zum Gesetz des Reiches GotteS machen. Wir sollen nicht unsere eigene Ge, rechtigkeit geltend machen, sondern uns der Gerechtigkeit unterwerfen die vorGott gilt (Röm. 9/ Z.). Die reine Liebe, welche ein relneS gottergebnes Herz in sich pflegt, die Liebe des Nächsten, wie unser selbst, die Liebe Gottes des himmlischen Vaters und Christi als seines Ebenbildes und unsers Heilands, ist das erste größte und immer wiederholte Gebot des Christenthums (Matth. 22,37.39, Joh. 13, 34. 1 Joh. 3, ii. Röm. 13,9. Gal. 5, 14. Jacob. 2, 8. Joh. 14, 15.2i. 23 f.) und die Kraft, welche sich durch den hei­ ligen Geist in die christliche Kirche ergossen hat. Für solche nun, welche reines, bemäthiges, liebe­ volles Herzens sind und in welchen die Klarheit des Verstandes erwacht ist, und in welchen zugleich der gute starke Wille lebt, daS Gesetz Gottes zu erfüllen, gilt die von uns versuchte Darlegung der sittlichen Ge­ setze im Ganzen und Einzelnen oder die besondere Pflichtenlehre, welche nun folgt. Wir wollen nun­ mehr zeige», wie der erleuchtete Verstand die sittlichen

Zweites Cap. lieb. d. Psiichtenlehre überhaupt. 45

Verhältnisse des Lebens zu betrachten hat, und wie ein reines Herz in jeder Lage des Lebens gesinnt seyn soll.

Zweites Capitel.

Ueber die Pflichtenlehre überhaupt. I.

Behandlungsart derselben.

§. 433» Dem analytischen Gange der theologischen Sitten­ lehre gemäß, fassen wir den Inbegriff aller Pflichten oder die pflichtmäßige Gemüthsstimmung und Gesin, nung zuerst in der Hauptpflicht der Frömmigkeit, als der Quelle aller übrigen Pflichten, auf, aus wel­ cher sich dann diese einzeln ableiten lassen. Den Stu­ fengang dieser Ableitung haben wir oben (§.86—90.) im Allgemeinen verzeichnet, und wir werden demselben hier in der Art folgen, daß wir uns dabei von den Pflichtverhältnissen selbst leiten lassen, daß wir einmal in Beziehung auf uns selbst, und dann in Beziehung auf Andere und die sittliche Gemeinschaft nachweisen, was erstens die strenge Pflicht, dann waS das Stre­ ben nach Vollkommenheit und die Rücksicht auf die Gemeinschaft nebst der Klugheit gebieten. Diese Unterscheidung der strengen Pflicht und der Anforderung der Vollkommenheit, nebst den übrige» bedingten sittlichen Verhaltungsregeln, welche schon einmal von «ns in allgemeiner Hinsicht aufgestellt (§.

Zweites Cap. lieb. d. Psiichtenlehre überhaupt. 45

Verhältnisse des Lebens zu betrachten hat, und wie ein reines Herz in jeder Lage des Lebens gesinnt seyn soll.

Zweites Capitel.

Ueber die Pflichtenlehre überhaupt. I.

Behandlungsart derselben.

§. 433» Dem analytischen Gange der theologischen Sitten­ lehre gemäß, fassen wir den Inbegriff aller Pflichten oder die pflichtmäßige Gemüthsstimmung und Gesin, nung zuerst in der Hauptpflicht der Frömmigkeit, als der Quelle aller übrigen Pflichten, auf, aus wel­ cher sich dann diese einzeln ableiten lassen. Den Stu­ fengang dieser Ableitung haben wir oben (§.86—90.) im Allgemeinen verzeichnet, und wir werden demselben hier in der Art folgen, daß wir uns dabei von den Pflichtverhältnissen selbst leiten lassen, daß wir einmal in Beziehung auf uns selbst, und dann in Beziehung auf Andere und die sittliche Gemeinschaft nachweisen, was erstens die strenge Pflicht, dann waS das Stre­ ben nach Vollkommenheit und die Rücksicht auf die Gemeinschaft nebst der Klugheit gebieten. Diese Unterscheidung der strengen Pflicht und der Anforderung der Vollkommenheit, nebst den übrige» bedingten sittlichen Verhaltungsregeln, welche schon einmal von «ns in allgemeiner Hinsicht aufgestellt (§.

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Besondere Sittenlehre.

12.) und dann int Christenthum selbst nachgewiesen worden ist (§- 74.), wird eine Haupteigenthümlichkeit dieser unserer Pfllchtenlehre seyn. Zunächst freilich gilt sie nur für die Wissenschaft oder für den Verstand; denn im Leben soll der Christ das eine, wie das an, deee, mit gleicher Treue ausüben. Streng wissen, schaftlich liegt dieser Unterschied so. Die Antriebe, aus welchen wir. sittlich handeln, kommen alle aus der­ selben Quelle, aus dem Herjen; und hier ist daS, waS der strengen Pflicht, und was der Vollkommenheit an­ gehört, ! durchaus nicht geschieden. Aber sobald der Verstand über die sittlichen Antriebe nachdenkt und in dem, was ln der Natur theil- in verschiedenen Graden, theil- in verschiedenen Richtungen vorkommt, das schlechthin sich gleich bleibende Nothwendige und We­ sentliche, dasjenige, worin Alle übereinstimmen und was unerläßlich, ohne welches gar keine sittliche Gr, mrinschaft möglich ist, oder die Idee, bestimmen will; so erkennt er jenen Unterschied. Die strenge Pflicht ist die Idee, die Vollkommenheit die Erschei­ nung derselben; jene ist durchaus immer dasselbe, diese ihrer Natur nach mannichfaltig. Darum nennen wir diese auch sittliche Schönheit, «eil das Schöne in der harmonischen vollendeten Erscheinung des Man, nichfaltigen, in der freien Unterordnung de- Mannichfaltigen unter die Idee, in der reellen lebendigen Ver­ wirklichung derselben besteht. Die Idee kann der Ver­ stand nur negativ erfasse« und bestimmen, d. h. er kann nur dasjenige genau angeben, was davon ausge, schlosse« ist oder damit in Widerstreit steht, de« Ge­ halt selbst aber kann er nicht beschreiben und bestim­ mt«, «eil dieser sei«« Natur «ach ««endlich und über,

Zweites Cap. Ueb. d. Pflichtenlehre ü -erhaupt. 47 fchwenglich ist. So werden aste I^een la der Wissen­ schaft nur negativ bestimmt, und meistens auch in frtr Sprache so bezeichnet, z. B. die Unsterblichkeit, die wir uns nur als rin Seyn ohne Tod und Vergäng­ lichkeit denken können, nicht aber, wie sie in ihrem in­ nern Wesen selbst ist. Die Idee der Ehre und Ge­ rechtigkeit in ihrer wesentlichen Nothwendigkeit erscheint sonach im Verstandesbegriff als rin Verbot dessen, was gegen unsere eigene Würde und gegen die des Nach, sten nicht gethan werden soll, und das Gebot dessen, waS dafür gethan werden soll, daß wie uns und An, dere achten sollen, bleibt für de» Verstand undeutlich. Dieses Nothwendige der Pflicht nun, in dieser verstän­ digen begriffsmäßigen Bestimmung, bringt für den Willen daS Gebot des unbedingten Gehorsams mit sich. Es heißt hier schlechthin und ohne Aus­ nahme: du sollst, weil gar keine sittliche Gesetzge­ bung ohne die Pflicht zu denken und keine Ausnahme, kein Mehr oder Minder zulässig ist. Dieser unbedingte Gehorsam gegen die Pflicht, dieser heilige Ernst der Gewissenhaftigkeit, ist das Erhabenste in der sittlichen Gefühlsstimmung uächst der Ehrfurcht vor Gott; es ist diese Ehrfurcht selbst in bestimmter Beziehung auf die Grundgesetze der sittlichen Weltordnung. Aber auch für daS Leben selbst ist diese Scheidung des unerläßlich Nothwendigen von dem Vollkommenen nützlich. Zuerst in Beziehung auf unS selbst, wenn wir das eben bezeichnete Gefühl der Achtung vor der Pflicht recht in uns lebendig machen, um uns dadurch zum unbedingten Gehorsam zu gewöhne«. ES ist eine der Hauptqurllen der Tugend, und bringt gesundere kräftigere Früchte, als das oft «richiiche Gefühl Les

48

Besondere Sittenlehre.

Wohlwollens und selbst dec Frömmigkeit, well sich dies« zu sehr ins Unbestimmte verlieren können, und nicht immer stark genug zusammengedrängt sind. Es ist auch der letzte Wächter der Sittlichkeit. In Fällen, wo das sittliche Gefühl durch Leidenschaften getrübt, wo da- Herz ganz für die Liebe verschlossen ist und der Nächste uns als tief verhaßter Gegner vor Augen steht: dann kann das Gewissen noch durch jene Ach­ tung vor dem Pfiichtgebot gewarnt werden, daß wir u»S nicht durch Ungerechtigkeit vergehen, daß wir im Feinde wenigstens nicht den Menschen verkennen, wenn er uns auch nicht mehr als Bruder gilt. Gemißbraucht würde jene Scheidung, wenn wir glaubten, mit dem Allernothwendigsten genug gethan zu haben; oder wenn wir uns dessen rühmen wollten, was wir noch darüber hinaus thun. Ein Gemüth, das dieses Mißbrauchs fähig wäre, würde jenes erhabene Gefühl der Achtung vor dem Gesetz nicht kennen; denn wo dieses ist, da ist auch das warme umfassende Gefühl der Begeiste­ rung, welches uns bei keiner Schranke unser- Stre­ bens, wie nah oder wie fern sie stehen mag, inne zu halten und auszuruhen erlaubt. Uns Christen aber, welchen das Urbild der Voll­ kommenheit in Christo vor Augen gestellt, und die wir verpflichtet sind, demselben nachzustreben, ist auch der scheinbare Vorwand genommen, uns von den Anforde­ rungen der höheren sittlichen Ausbildung zu entbinden. Da wo die Erkenntniß der Gesetze, da ist auch die Verpflichtung. Freilich gestattet das Christenthum selbst eine Abstufung der Liebe und eine gewisse Frei, heit in der Wahl der Wege zum Ziel der Vollkommen­ heit (§. 74»), >«ub darum bleibt auch für den Christen der

Zweites Cap. Ueb. d. Pflichtenlehre überhaupt. 49

der Unterschied zwischen dieser und der Pflicht stehen aber er kann sich doch der erstern nicht völlig entschla, gen, wenn er Christo nicht ganz untreu werden will. Zweitens ist jene Scheidung ersprießlich zur ge, rechteren und milderen Beurtheilung Anderer. Wir selbst sollen dem Urbild der Vollkommenheit nachjagen, das uns vorschwebt, und da wir es nie ganz errei­ chen, im Urtheil über uns selbst streng seyn. Aber von Andern sollen wir nie mehr fordern als Gerechtigkeit; und wenn sie nicht mit uns demselben Grabe von Voll­ kommenheit nachstreben, oder überhaupt sich gar nicht um die feinere und schönere Wohlgestalt des sittlichen Lebens kümmern: so mögen sie allerdings nicht auf unsere Freundschaft und nähere Gemeinschaft Anspruch mache«; aber wenn sie treu und gewissenhaft in Er­ füllung ihrer Pflichten sind, so sollen wir ihnen unsere Achtung nicht versagen. Besonders dient diese Scheidung auch zur richtigen Würdigung der geschichtlichen Sittenbildungen. Wo wir die Idee der Vollkommenheit noch nicht in der Vollendung gefaßt sehen, in welcher wir sie zu fassen durch das Christenthum in Stand gesetzt sind: da sol­ len wir uns doch nicht verachtend wrgwenden, indem bei aller herrschenden Unvollkommenheit und selbst bei der Rohheit sich ein tüchtiger Sinn für Ehre und Ge­ rechtigkeit bewähren kann. §, 434* Schon die Scheidung der wesentlichen Zbee der Sittlichkeit von der mehr oder weniger vollkommenen Erscheinung derselben führt darauf, baß wir in der Ausführung der Pflichtenlehre bloß die Gesinnung ins Auge fassen, nicht aber bestimmte Vorschriften der Hand, 3. Thl. D

5

Aber so lange noch nicht Alle ganz Kn Geiste

Christi leben,

sind zur Erhärtung der Wahrheit im

Staatsleben die Eidesleistungen nothwendig, und wenn man sich nicht dem StaatSleben entziehen will, was

unchristlich ist, muß man sich dieser Einrichtung unter­

werfen.

Mit dem Ideal der Wahrhaftigkeit sind aller­ auch die Nothlügrn unverträglich;

dings alle Lügen,

aber so lange noch nicht Alle unser unbedingte- Ver­

trauen verdienen und Manche dasselbe zu unserm Scha­ den mißbrauchen können,

dürfen wir nur di« Gesin­

nung der Wahrhaftigkeit fordern,

zufolge deren man

so viel als möglich offen und aufrichtig seyn soll; nicht aber dürfen wir die allgemeine Vorschrift geben,

zu

jeder Zeit und in allen Fällen alles zu sagen, was wir

wissen und denke«.

II.

Collisiön der Pflichten.

$♦ 43 S* Wenn wir überall bei der Gesinnung stehen blei,

ken, so werden wir un- auch nicht in die schwierige

Untersuchung über die Collision der Pflichten elnzulassen

54

Besondere Sittenlehre,

haben. Eigentlich giebt es nur eine Pflicht, wie eine Tugend, nämlich die Pflicht der Frömmigkeit oder der Liebe Gottes und deS Menschen; auch bei der nach Maßgabe der menschlichen Verhältnisse eintretenben Verschiedenheit der Anwendung dieser Hauptpfllcht, ober, wenn man lieber will, bei der durch Auflösung derselben entstehenden Verschiedenheit der Pflichten ist immer die gleiche pflichtmäßlge Gesinnung erforderlich: mithin giebt es an sich dem innern Wesen nach keine Colliston der Pflichten. Zwischen den aus der Fröm­ migkeit zunächst entspringenden Pflichten der Ehre und Gerechtigkeit ist keine innere Eolliston denkbar, da die Würde der Person in mir und Andern die gleiche ist. Indem ich den Nebenmenschen achte, ehre ich mich selbst und umgekehrt, und beides fließt aus dem einen und selbigen Gefühl, und hier ist gar kein Widerstreit denkbar. Nur in der Anwendung auf die Fälle deS Lebens können Collisionen Statt finden. Denn die Fälle find das Mannichfaltkge, und wenn darauf das Eine und Gleiche der Pflicht angewenbet werden soll, kann diese- selbst dadurch in Gegensatz gerathen, zumal da hier die Klugheit mit ins Spiel tritt, deren Urtheile an die Naturverhältnlsse gebunden find. Aber solche Fälle mühsam ayszudenken und zu beurtheilen, darf nicht die Aufgabe des Sittenlehrers seyn. Er begnüge sich, das Seknkge zur Ausbildung der sittlichen Gesin­ nung brizutragen, und überlasse die Entscheidung sol­ cher Fälle den Menschen selbst, welche das Schicksal in dieselben bringt; ein jeder aber bitte Gott, baß er ihn nicht in. Versuchung führe. Bloß scheinbar find die Collisionen zwischen den Pflichten gegen uns selbst und denen gegen unser«

Zweites Cap. Ue6. d. Pflichleulehre überhaupt. 55

Nächsten bann, wenn diese sich feindlich -egen unS be­ tragen, und uns in den Stand der Nothwehr versetzen. In diesem Fall entscheidet dir Pflicht der Selbsterhal­ tung, und giebt uns daS Recht, den Feind ebenfalls feindlich zu behandeln, in soweit eS diese Pflicht noth­ wendig macht; denn wir streiten auf diese Welfe nur für die Würbe des Menschen in uns und für dieAufrechkhaltung der sittlichen Ordnung. Hingegen wenn der Nächste schuldlos und friedlich neben uns steht, dürfen wir ihn keineswegs unserer Selbsterhaltung aufopfern, «eil wir dann die sittliche Ordnung stören würde«. Ma« hat für dieses Verhältniß de» Fall ausgedacht, baß zwei Schiffbrüchige sich auf einem Trete zusammen retten wollen, das sie nicht beide tragen kann, so daß entweder beide untergrhen, oder der Eine den Andern herunterstoßen muß, und har die Frage ausgestellt- ob man in diesem Fall lieber sich selbst oder den Andern aufopfern solle d)? Eine höchst spitzfindige Frage! Um den Fall ganz rein zu haben, müßte man noch annehmrn, daß bei dem Einen, wie bet dem Andern, nur seine persönliche Menschenwürde, nicht seine Wichtigkeit für Verwandte, Freunde, Va­ terland, noch seine Verdienste für Menschenwohl und Menschenbilduyg in Betracht kämen, daß der Eine gegen den Andern rein nur die allgemeine Menscheupflkcht, nicht Liebe, Achtung, Ehrfurcht fühlte, und sich selbst auch »icht anders als »ach seinem allgemeinen menschlichen

d) Cie. de officiis III, 03. Aehnlich ist jener Fall, daß ein Schieferdecker seinen vom Schwindel befallenen Sohn herabgestür-t haben soll, weil, wenn er dieß nicht gethan hätte, er selbst mit herunter gerissen worden wäre.

Besondere Sittenlehre.

56

Werth beurtheilte.

Aber so unwahrscheinlich eS ist,

so wenig kann

daß dieser Fall je wirklich vorkomme,

der Sittenlehrer verpflichtet seyn, sich darauf einzu­ lassen.

Immer wird der Eine sein Leben auch um sei­

ner Freunde und Angehörigen lieben,

oder in dem

Andern mehr als den bloßen Nebenmrnschen

achten,

und dieses Uebergewicht der Achtung und Liebe wird den Ausschlag geben, und allerdings wird es edler seyn,

sich selbst, als den Andern aufzuopfern «).

Eine Menge angeblicher Collistonsfälle,

wo näm­

lich das Recht des Einzelnen der Erreichung allgemein

wichtiger Zwecke im Wege steht, z. B. die Herstellung der bürgerlichen Freiheit,

werden weggeräumt durch

die Geltendmachung des Satzes: selbst Zweck ist,

einem andern,

Zwecke aufgeopfert werden kann,

daß nichts,

was

wenn auch höherm

ober baß schlechte

ungerechte Mittel nicht durch den guten Zweck gehei­

ligt werden, well dessen Erreichung durch Ungerechtig, keit keine Erreichung ist,

indem sittliche Ordnungen

nur auf sittlichem Wege sicher gegründet «erben kön­

nen.

Maa harre lieber geduldig, bis das Hinderniß

aus dem Wege geräumt ist, und dann wird der Zweck

ganz und rein erreicht werben können.

Tyrannen grün­

den ihre Thronen auf Blut und Thränen, aber darum sind sie auch

nicht dauerhaft gegründet.

In dieser

falschen Gesinnung handelten die jüdischen Machthaber, indem sie Christum für bas angebliche Heil des Volkes

e) So hat auch Cicero a. a. O. entschieden: Cedat vero; «ed cedat ei, cujus magis intersif, sei sua, vil rei publicae causa, v.vere. Ficht e System der Sittcnlchre S. 408. will, daß man in solchem Falle gar nichts thue, sondern die Ent« schkidung dem Schicksal überlasse.

Zweites Cap. Lieb. d. Pflichtenlehre überhaupt. 57

hinrichteten (Joh. u, 50. „Es Ist uns besser, Ein Mensch sterbe für das Volk, denn daß daS ganze Volk verderbe")» Aber man muß auch die Rechte der Ein­ zelnen, welche dem sittlichen Wohl des Ganzen im Wege stehen, nicht engherzig nach dem hergebrachten überelnkömmlichen Rechte, sondern nach der Natur der Sache beurtheilen, nach welcher sie vielleicht ganz nich­ tig seyn können. Eine ähnliche Bewandtniß hat es mit den Fällen folgender Art. In Zeiten bürgerlicher Umkehrung haben Privatleute oder Machthaber Feinde der öffentlichen Wohlfahrt, Tyrannen und Tyrannen­ knechte, Verrather und Empörer, getödtet, ohne daß die erstern dazu berufen, und die andern durch die be­ stehenden Gesetze dazu berechtigt waren. Fühlt man sich nun bewogen, solche außerordentliche Thaten zu rechtfertigen, wie denn in der That mehrere derselben eine fast allgemeine Billigung finden: so muß man es nicht auS dem Grunde thun, baß der kleine Zweck dem großen weichen müsse, sondern man muß zeigen, daß die gefallenen Todesopfer dadurch, daß sie sich alS Feinde der Sache der Freiheit und Gerechtigkeit be­ wiesen, den Tod verdient hatten, ob «S gleich an einem geschriebenen Gesetze dafür fehlte. Nach sittli­ cher Ansicht ist derjenige aus der sittlichen Gemein­ schaft zu stoßen, welcher sich durch Handlungen, welche dieselbe untergraben oder umzustoßen drohen, derselben unwürdig macht. Die Todesstrafe ist aber bisher im­ mer als das Mittel gebraucht worden, unwürdige Glie­ der aus der Gesellschaft auf ewig zu entfernen. So betrachtet würde die Colliston zwischen der Pflicht ge­ gen den einzelnen Nebenmenschen und gegen das Ganz« der Gesellschaft in dergleichen Fällen wegfallen. .

58

Besondere Sittenlehre.

Nicht anders ist eS yiit der angeblichen zwischen Yen heiligsten Pflichten der Liebe gegen den Vater und gegen daS Vaterland, wie wenn j. B. rin Sohn sei­ nen Vater als Verräther des Vaterlandes anzuklagen, -der an seinem Verbrechen durch Stillschweigen Theil zu nehmen hat f). Allein hier hat in brr That keine Kollision und keine Aufhebung der einen Pflicht durch die andere Statt. Die Pflicht gegen den Vater schließt nicht in sich, daß man dessen Ungerechtigkeit und Ver­ brechen billigen oher nachsehen und verhehlen soll. Die Liebe zu ihm wird uns die mögliche Schonung dessel­ ben zur Pflicht machen; aber könnrn wir dessen Ver­ brechen nicht anders verhüten, als daß wir eS anzei­ gen, so sind wir hazu verpflichtet, weil das Familien, band das allgemeine Gesellschaftsband yoraussetzt, und was zur Erhaltung des einen nothwendig ist, auch zur Erhaltung deS andern gehört. Der Vater ist nicht mehr Vater, wenn er nicht mehr Mensch und Bürger ist. Freilich muß das Verbrechen für die Gesinnung des Sohnes entschieden seyn, und darüber kein Zwei­ fel Statt finden g); auch können wir den Sohn rntfchuldkgey, wenn er nicht die Kraft hat, den Vater der Gerechtigkeit aufzuopfern, oder wenn er unter der Pflicht erliegt. In der neueren Zeit, wo die Meyschen mehr i,n der Familie, als im Staate leben, wo der Gemein­ geist und die Vaterlandsliebe nicht so stark sind, alS die f) Cic. de off. 1. e. g) Raupach in seiner „Erdennacht" hat den Fall nicht rein entschieden gefaßt, da daS Verbrechen des Vaters aus einer guten Absicht, nämlich die Volksfrecheit herzustellen, floß, und nur die Mittel ungerecht waren.

Zweites Cap. Ueb. d. Pflichtenlehre überhaupt. 59 Familienliebe, würden die Meisten das -eben deS Va­ ters dem Wohl des Ganzen vorjiehen; hingegen im Alterthum galt daS Ganze mehr als daS Einzelne, und daher entschieden die Eittenlehrer zum Vortheil deS erstem. §« 43^. Daß die Anforderungen der Liebe und des Doll-; kommenheitsstrebens mit den strengen Pflichten nicht in kollifion kommen, ist für sich selbst klar; denn jene müssen diesen immer weichen. Ich darf nicht stehlen, um meine Kinder zu ernähren oder um dadurch meine Geistesausbildung zu fördern; ich darf nicht durch un­ gerechte Mittel mir Amt und Wirksamkeit zu verschaffen suchen. Im Gebiet der Liebe selbst, wo eine gradweise Verschiedenheit Statt findet, so daß ich den Einen mehr als den Andern lieben, den einen Zweck höher als de« andern halten darf, sind gar keine Colliflonen denk­ bar , weil hier immer auf der einen oder andern Seite ein Urbergewicht vorhanden seyn wirb. Wo zwei Leben in Gefahr sind, aber nur das eine gerettet werden, kann, werde ich mich für dasjenige entscheiden, welches mir das theuerste ist: mithin, wird bei einer schweren Ge­ burt das Kind und nicht die Mutter aufzuopfem seyn. Dem Freunde werde ich in der Noth eher helfen, als dem Fremden, dem Volksgenossen eher, als dem Aus­ länder. Wenn entweder auf die Ausbildung des Kör­ pers und Geistes oder auf irdische Güler und den Ge­ nuß derselben zu verzichten ist, so werde ich das letztere dem erstem nachsetzen. Ja, selbst bas Leben als daS höchste der irdischen Güter werbe ich ben geistigen

Besondere Sittenlehre.

6o

Gütern nachsetzen, falls ich von der Liebe zu den letz­

ter» so durchdrungen bin, daß ich sie dem erstem vor­ ziehe.

Aber diese Voraussetzung ist durchaus nothwen­

dig; und einem, der den Werth des religiösen Lebens

und der Gewissensfreiheit nicht kennt, zur Pflicht ma­ als Märtyrer für! seinen Glauben zu sterben,

chen,

würde thöricht seyn;

denn thut er es nicht freiwillig,

so thut er eS nicht auf die rechte Art, ein bloß äußerliches Werk.

und vollbringt

Hier wird der Nachtheil

der Casuistik/echt augenfällig;

anstatt die Gesinnung

zu bilden, schreibt man Verhaltungsregeln für einzelne

Fälle vor, ohne daß man immer die dazu erforderliche

Gesinnung voraussetzen kann, und belastet das Gewis­

sen mit angeblichen Pflichtgeboten,

deren Erfüllung

nichts als todtes Gesetzeswerk seyn kann. Das Ergebniß von allen bisherigen Bemerkungen

ist also: in jedem Fall sotten wie aus Gesinnum han­ deln, und wo unsere Erkenntniß zweifelhaft ist, unserm Gefühl folgen, das uns wenigstens in so weit richtig leiten wird,

als wir dann so gut gehandelt haben

werden, als wir handeln konnten.

Noch pflegt man eine Collision zwischen Rechten und Pflichten anzunehmen;

richtig.

aber schwerlich ist diese«

Mit sittlichen Pflichten können nur Rechte au-

positiver Gesetzgebung, z. B. Schuldforderungen, deren

Geltendmachung den Schuldner zu Grunde richten wür­

den, eollidiren;

aber dieß ist

keine wahre Collision;

denn di« Pflicht der Billigkeit sieht mit solchen Rech­ ten nicht auf gleicher Stufe.

Anforderungen an den Andern,

Sittliche Rechte,

die

uns die Achtung un­

serer sittlichen Würde zu erweisen,

können mit den

Drittes Cap.

Von der Frömmigkeit.

61

Pflichten gar nicht in Colllflon kommen, weil unsere eigene Würbe nur mit der der Andern besteht h).

Drittes Capitel. Von der Frömmigkeit.

L

Als Gesinnung.

§» 437Unter der alles umfassenden Pflicht der Frömmig­ keit verstehen wir die Ehrfurcht und Liebe gegen Gott, als den heiligen Gesetzgeber und Richter der Welt, die durchgängige Richtung des Gemüths auf die sitt­ liche Weltordnung oder das Reich Gottes auf Erden, kraft deren alles im Leben auf Gott und fein Reich bejvgen, alles seinem heiligen Dienst unterworfen wird, den Geist der Sittlichkeit, welcher das Gemüth durch, bringt und es ganz zum Werkzeug des Willens Got­ tes macht, so daß es durch Alles, was es berührt, sittlich angeregt wirb. „Ihr esset, oder trinket, oder was ihr thut, so thut Alles zu Gottes Ehre" (i Cor. io,31.). „Leben wir, so leben wir dem Herrn, und sterben wir, so sterben h) Man vergleiche mit unserer Beurtheilung die Beurtheilun­ gen des Collisionsverhältniffes beiCrusiuS Anweisung ver­ nünftig zu leben §. 404—437. Moraltheologie Th. 2. S.

953 ffReinh ard christliche Moral 2. B. §. 200. Am­ mon Lehrbuch der christl. relig. Moral. §. 123., welcher mit uns am meisten üoereinstimmt.

Drittes Cap.

Von der Frömmigkeit.

61

Pflichten gar nicht in Colllflon kommen, weil unsere eigene Würbe nur mit der der Andern besteht h).

Drittes Capitel. Von der Frömmigkeit.

L

Als Gesinnung.

§» 437Unter der alles umfassenden Pflicht der Frömmig­ keit verstehen wir die Ehrfurcht und Liebe gegen Gott, als den heiligen Gesetzgeber und Richter der Welt, die durchgängige Richtung des Gemüths auf die sitt­ liche Weltordnung oder das Reich Gottes auf Erden, kraft deren alles im Leben auf Gott und fein Reich bejvgen, alles seinem heiligen Dienst unterworfen wird, den Geist der Sittlichkeit, welcher das Gemüth durch, bringt und es ganz zum Werkzeug des Willens Got­ tes macht, so daß es durch Alles, was es berührt, sittlich angeregt wirb. „Ihr esset, oder trinket, oder was ihr thut, so thut Alles zu Gottes Ehre" (i Cor. io,31.). „Leben wir, so leben wir dem Herrn, und sterben wir, so sterben h) Man vergleiche mit unserer Beurtheilung die Beurtheilun­ gen des Collisionsverhältniffes beiCrusiuS Anweisung ver­ nünftig zu leben §. 404—437. Moraltheologie Th. 2. S.

953 ffReinh ard christliche Moral 2. B. §. 200. Am­ mon Lehrbuch der christl. relig. Moral. §. 123., welcher mit uns am meisten üoereinstimmt.

6a

Besondere Sittensehre,

wir dem Herrn. Wir mögen nun leben oder sterbe«, so find wir des Herrn" (Röm. 14,g.). Da für »ns Christen Christus der Abglanz Gottes, der sichtbar gewordene Gott, der König des Gottesreichs ist; so ist für unS dieses Gesetz auch so bestimmt: „Was ihr thut, mit Wort oder Lhat, das thut alleim Namen Jesu Christi" (Col. 3, 17.). Alles thut der Christ „im Angesichte GotteS" und „in Christo." In dem Gedanken an Gott und Christus, kn der Ehrfurcht und Liebe gegen sie ist alles, was zur sittli» chen Gesinnung gehört und jede Pflicht, die Achtung vor der Würde des Menschen alS Gottes Ebenbildes und die Liebe zu aller Vollkommenheit eingeschloffen, aber als Gefühl, nicht als klare verständige Erkennt­ niß, und dir bestimmten Verhältnisse, in denen sich dasselbe erweisen soll, werben dabei noch nicht ins Auge gefaste. Der Blick ist mehr nach dem Himmel als auf die Erde gerichtet; wir erheben uns zu der Quelle, aus welcher alles sittliche Licht und Leben strömt, und keh, rett uns dann erst, erleuchtet und gestärkt, ins irdische Leben, um darin zu wirken und zu gestalten. Das ist die sogenannte Pflicht gegen Gott und Christum, welche man fälschlich der Pflicht gegen die Menschen nebengeördnet hat, da sie diese in sich schließt; doch kann man die Frömmigkeit, alS Ändachtsäbung

und Betrachtung, wovon wir nächher handeln, eher in jenem Verhältniß betrachten, obwohl sie keine ei­ gentliche Pflicht ist. Die Frömmigkeit ist theils unmittelbares Gefühl, theils durch den Verstand vermittelte Ueberzeugung und Erkenntniß ober Gesinnung; und wiewohl letzteres von

Drittes Cap.

Von der Frömmigkeit.

65

ersterem nicht im Leben getrennt werben kann, so müsfen wir unS doch hier, da wir von dem Einflüsse der Frömmigkeit auf bas flttliche Leben reden, auf daS Gefühl selbst einschränken. Don der Ueberzeugung ihrem Gehalt nach ist in der Glaubenslehre die Rede, und von der Bildung der Ueberzeugung als Gegenstand deS flttllchen Strebens werden wir nachher hasidrln. Auch jenes unmittelbare Gefühl müssen wir genau auf das sittliche irdische Leben beziehen, und dasjenige, was sich auf das ewige Leben bezieht, nur als Halt und Stütze der sittlichen Ansicht mit itt Betracht ziehen. DaS religiöse Gefühl spricht sich in der Erkennt­ niß durch drei Grundideen, die Ideen der Bestim­ mung des Menschen, des Widrrstreltes deS Guten undVösen und berWeltregkerung äus; und an diese müssen wir unS halten, um daS damit in Verbindung stehende Gefühl bezeichnen zu können^ §. 438. Die Idee der Bestimmung des Menschen steht der sittlichen Ansicht am nächsten, und schließt die sittliche Gesetzgebung dem Gehalte nach als Prin­ cip in sich. Eie ruht auf der metaphysischen Idee der Unsterblichkeit der Seele oder der Selbständigkeit unseres Geistes feiner Natur nach, und indem wir mit der Idee des ewigen Sehn- die deS ewigen Zweckes oder das Gefühl des unvergleichbaren unbe­ dingten MertheS unseres WesenS verbinden, entsteht die Idee unserer ewige» Bestimmung oder der sittlichen Selbständigkeit und Erhabenheit unseres Geistes- daß wir nämlich einet höheren ewigen geistigen Weltord­ nung angehören, und so wenig wir mit unserm inner« Wesen in den vergänglichen Wechsel der Natur ver-

Besondere Sittenlehre.

64

schlungen sind, eben so wenig mit unserm Sinnen und

Handel« der wechselnden Anregung der sinnlichen Na­ tur angehören sollen. Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und die verklärte Auferstehung des Leibes ist im Christen­

thum eine der Hauptwurzrln des sittlichen Gefühls. Der auferstandene und verklärte Christus steht als Vor­

bild und Vorgänger gleichsam an der Pforte des Rei­

che- GotteS, und zeigt uns den Weg zum erhabenen Ziele und giebt uns den Muth, ihm dahin zu folgen.

Dadurch, baß er auferstand, ward er als Sohn Gottes und Erlöser der Menschen erwiesen (Röm. i, 4.); da, durch ward das geistige Selbstgefühl der an ihn Glau­

benden erweckt, ihr Blick nach der geistigen unsichtba­ ren Welt hinzerichtet, und die Kraft des sittlichen Strebens in ihnen entzündet. „Gott hat den

Herr« auferrpecket, und wird auch uns auf­ erwecken durch

seine Macht" (1 Cor. 6, 14.).

„Wo der Geist deß, der Jesum auferweckte

vo« den Todten, in euch wohnt, so wird er, der Christum auferweckte von den Todten, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen, wegen beS in euch wohnendenGeistes" (Röm. 8,11.).

Darum weil die Christen durch den Glauben

an die Unsterblichkeit dem ewigen Reiche Gottes ange, hören, sind sie nicht mehr dem Fleische ver­

pflichtet,

um nach dem

(Röm. 8,12.);

Fleische zu leben"

ihr Wandel, ihr Bürgerrecht, ihr

sittliches Leben (noliievfia) ist im Himmel, woher

sie auch als Retter den Herrn Jesum Chri­ stum erwarten, welcher ihren vergänglichen Leib umbilben wird, ähnlich seinem herrlichen Leibe

Drittes Cap.

Von der Frömmigkeit.

65

Leibe (Phil, z, 20f.); „sie sind bestimmt gleich zu seyn dejmBilbe besSohnesGotteS" (Röm. 8. 29.). Wird nun diese Idee der Unsterblichkeit und ewigen Bestimmung inS Gefühl und in die Gesinnung ausgenommen, so zeigt sie sich zuerst als heilige Be­ geisterung, und zwar alS erhabene Richtung des Geistes, als himmlischer Sinn. Diese Er­ hebung des Geistes besteht darin, baß der Christ sich von der gemeinen Ansicht des LebenS, welche nut sinn­ liche Gäter und deren Genuß sucht, losgemacht, und seine Liebe und sein Streben auf die unvergänglichen Gäter des ewigen Lebens gerichtet hat; baß er alleSinnliche und Irdische nur als Mittel, das Ewige aber allein als Zweck, betrachtet; daß er in der Un­ abhängigkeit des Geistes von der sinnlichen Natur, in dessen eignem innern Leben, in sittlicher Vollendung, seine Bestimmung findet; daß er in der Gemeinschaft der Menschen die Vorbereitung und das Abbild des Reiches GotteS sieht, und dieses auf Erden immer n ehr zu befördern strebt; daß er „trachtet nach dem was droben ist, nicht nach dem was auf Er­ den ist" (Col.g, 2.) daß er sich nicht Schatze sammelt aufErden wo Motte und Wurm ver­ derbet, sondern sich Schätze i« Himmel sam­ melt, wo weder Motte noch Wurm verderbet (Matth. 6,19f.); daß er nicht die Welt lieb hat und was in ihr ist, sondern dteLlebe besVaterS in sich hat (r Joh. 2, i;f.). Diese Gesinnung ist eine Wirkung des göttlichen GeisteS; „die vom Geist Gottes getrieben werden, die sind Gotte-Söhne" (Röm.8/14.)i Und darum nen­ nen wir sie mit Recht Begeisterung. 3 Thk. E

66

Besondere Gittenlehre.

Wie dies« erhabene Lebensanstcht, welche fm Men­ schen den Bürger des GottesrricheS erkennt, unmittel­ bar mit der sittlichen Gesetzgebung zusammenhange, sieht man daraus, daß aus ihr die Achtung der Men­ schenwürde, welche das sittliche Grundgesetz ist, unmit­ telbar hrrvorgeht. Alle Christen find „Glieder deS Leibe- Christi, von seinem Fleisch und Ge­ bein" (Ephes.5,?o.); „ein Tempel des in ihnen wohnenden heiligen Geistes" (i Cor. 6, ig.). So wie nun der Christ sich selbst als Glied Christi achtet und fich scheut, dasselbe ;u verunreinigen (r Cor. 6, 15.): so liebt und achtet er auch den Mitchristen als «in solches Glied, und scheut fich, ihn ju betrüben und tü verderben, für welchen Christus gestorben ist (Röm. 14,15.). Dieses Gefühl ist die Quelle aller pflichtmä, ßigen Gesinnung, vorzüglich aber wird es hervorbrechea in den erhabenen Bestrebungen für Kirche und Vaterland, für Wissenschaft, Kunst und Geistesbildung, in der Hingebung für Freunde und Geliebte. Ueberhaupt herrscht es im Gebiet der Liebe und Vollkom­ menheit am meisten, weil sich da die Gesinnung am wärmste« und kräftigsten erweisen kann. Zweitens zeigt sich das Gefühl unserer ewigen Bestimmung oder die heilige Begeisterung in frohem Muth und heiterer Zuversicht auf die Kraft und den Sieg des Guten im Menschenleben. Da der Geist Gottes in uns wohnt und uns antreibt, für das Reich GotteS auf Erden zu wirken, so ist uns der Sieg ge­ wiß, wenn wir auch im steten Kampf begriffen sind. „WaS in euch ist, ist mächtiger, als was in der Welt ist" (1 Joh. 4, 4.). „AlleS, waS von Gott geboren ist, überwindet die Welt"

Drittes Cap.

Von der Frömmigkeit.

67

(rJoh» 5/ 4-1« „Das Schwache von Gott ist stärker als bieMenschen" (i Cor. i, 25.). „Im Eifer seyd unverdrossen, seyd glühenden Geistes" (Röm. 12, n.). Diese frohe Stimmung des Gemüths, welche uns zu allen großen Unterneh­ mungen fähig macht, spricht sich in der christlichen Hoffnung aus: daher setzt der Apostel zu jener Er­ mahnung hinzu: „Seyd fröhlich tn Hoffnung!" (V. 12.). Die Hoffnung, die frohe Zuversicht, welche ihm sein erhabenes Amt einflößte, gab ihm jenen Muth 0.11.). Den Aufopferuugstod der Helden starb Eleafar Chauraa unter den Makkabäern (1 Makk. 6, 44.), zu deren Zeit überhaupt eine herrliche Begeiste­ rung lebte. Die Ergebung in den göttlichen Willen Ist meistens burd) die Zweifel, warum Gott die From­ men dulden lasse, (Ps. 37. 73. §. 122.) und durch eine gewisse Ungeduld Ps. 10.1. 12. 13,1. u. a. Pf.) und übertriebene Herzeaszerknirschung (Pf. 6, 38. 102. 143. 3er. 8, 18 ff. 10,19 ff. 14,19 ff. 10,15 ff.) getrübt; die Gebote sind meistens zu vorschreibend, zu ungestüm

Dritte- Cap.

Von der Frömmigkeit.

79

fordernd (Pf. 86,17. 17, 6.); doch erkennt ma» das Unglück als heilsame Züchtigung, und fleht eS alS ei­ nen Beweis der göttlichen Liebe an (Epr. Z, is. vrgl. Jes. Sir. 2,1 —18.). Oie Ansicht von der Dergäng, lichkett alle- Irdischen und baß wir durch die Aufopfe­ rung desselben sittlich vollendet werden, fehlt den Hebräern ganz, und Koheleth zieht daraus nur die Lehre, daß man den Augenblick genießen müsse (§. 123.). Am meisten ist die A n d a ch t bei den Hebräern inS Leben getreten, aber vorzüglich alS Furcht vor dem heiligen Gesetzgeber und strengen Richter (Ps. 15, 24. 50,16 ff. 90,7 ff.), vor dem „Prüfer der Herzen" (Ps. 26, 2 ff. 139, i ff.). Der tröstliche Glaube an Sündenvergebung ist da (Pf.32. 57,65,4. 103, з. ), ab rr freilich ohne den vertrauensvollen Hinblick auf Christum, mithin ohne die wahre Rechtfertig gung, und ohne die daraus entspringende freudige Zu­ verficht auf den Sieg deS Guten in unS selbst und km ganzen Menschenleben. Groß ist daS Vertrauen des Hebräers auf den Schutz seine- Gottes im Un­ glück (Ps. io, 16 ff. 25, is ff. 34,16 ff. 46, off; 4», 6. is. 55,23 s. 62, r ff. u. a. m.) und auf feine erbar­ mend« Gnade (Ps. 79, 8 ff. 85,2 ff. 86,15 ff. 90,13 ff. и. a. in.); und nie gab er die Hoffnung ganz auf. Aber diese i®at nicht, wie bei den Christen, auf die Ewigkeit gerichtet, sondern irdisch politisch, und darum schwärmerisch, von welcher Art die Hoffnung de- Mes­ sias «ar. Der Sieg des Guten im Volke, die Herr­ schaft der Weisheit und Gerechtigkeit «ar in dieser Hoffnung der fittliche Ker», und in sofern stimmt sie mit der christlichen zusammen; aber die Art und Weise, wie jener Sieg gelingen sollte, «ar darin in bestimm-

8o

Besondere Sittenlehre.

ten menfckchen Vorstellungen gedacht. Darum konnte auch dke «elenruhe des frommen Hebräers nicht so unzerst'bar und frei von allen Leidenschaften seyn, wie in eiem christlichen Gemüth; doch giebt es schöne Ausbrück derselben, zumal in den Psalmen (Pf. 3,6 f. „Ich leg mich nieder und entschlafe, ich erwache; denn Jchva schützt mich." Pf. 4,9. 16, 9 ff. Ps. 23. 27, 1 — 3/ 15» 14. u. a. m.).

II.

Die Frömmigkeit in der Betrachtung und kirchlichen Gemeinschaft.

§» 442. Bisher haben wie ble Frömmigkeit als unmlttelbares Gefühl, wie es sich In bas thätige Leben ergießt unb dasselbe erregt und befruchtet, kennen gelernt. Mer dieses Gefühl kann nicht ohne ein mittelbareBewußtseyn in der Betrachtung bestehen, nur darin findet es seine Befestigung, Läuterung und Nahrung. Wie alles, was im Menschen ist von dem Verstand, als der Kraft der Selbstbeherrschung und Selbstvrrständigung, in Besitz genommen werden muß, so auch die Frömmigkeit; auch diese muß sich in das einheit­ liche Ganze des innern LebrnS fügen. Diese Selbstverfiändlgung über die Angelegenheiten des frommen Le­ bens geschieht zuerst durch die Erkenntniß; der Verstand muß, die frommen Gefühle anerkennen, in Zu­ sammenhang und Einheit bringen, und der Regel der Wahrheit unterwerfen. Was im Gefühle lebt, läßt sich auch in die Erkenntniß auffaffen, wie wir denn selbst

Drittes Cap.

Von der Frömmigkeit.

81

selbst de« Gehalt der religiösen Gefühle an dem Leit­ faden metaphysischer Ideen entwickelt haben« So bil, bet sich eine religiöse Ueberzeugung von unserm Verhältniß zu Gott und zur übersinnlichen Welt und den ewigen Gesetzen, denen wir unterworfen find. Die Ausbildung dieser Ueberzeugung schließt fich an den Bildungsstand der Menschheit, des Volkes, der Kirche an, in welchen wir leben, und ist nicht das Werk des Einzelnen; auch da der Verstand vom Willen abhängig ist, schließt sie fich an die Richtung des thätigen Le, brnS an. Es muß daher zweitens, damit eine reli­ giöse Gelbstverständigung zu Stande komme, die Ge­ meinschaft mit Andern sowohl in der Erkenntnlß als in der That hinzukommen. Ehe wir aber dieses Verhältniß betrachten, bleiben wir bei dem Kreise der religiösen Betrachtung stehe», welchen der Einzelne für fich elnnimmt, und wobei wir den Einfluß, den die Gemeinschaft auf ihn ausäbt, aus der Rechnung lassen können. Wir können annehmen, daß ein jeglicher, in welchem das fromme Gefühl lebt, abgesehen davon, wie eS in ihm erregt und gebildet worden, dasselbe für fich in die Betrachtung hervothebt; daß er das Verhältniß, in welchem er fich zu Gott fühlt, fich in Gedanken zum Bewußtseyn bringe, und dieß geschieht lm Gebet, welches im Allgemeinen Nichts weiter ist, als die bewußte, reflectirte Erhebung des Herzens zu Gott. Aber alle erlangte Selbstverständigung reicht oft nicht zn, uns im Gebete zu beruhigen; „was wir beten sollen, wie fich- gebührt, wissen wir nicht, aber der Geist tritt für uns ins Mittel mit unausgespro­ chenen Seufzern" (Röm. 8, S6.). Zm Gebete geschieht die unmittelbare Berührung des Gemüths mit Gott Z. Thl.

F

8a

KSesondere Sittenlehre,

unt» feinem Geist; eS ist die höchste Weihe d,S from­ men Herjens, baS sich darin über sich selbst erhebt. Wenn bi« Frömmigkeit unmittelbare Pflicht ist, so ist eS bas Gebet nur mittelbar, als Mittel, Nahrung und Stütze der Frömmigkeit; aber wo die Frömmig­ keit lebt, da wird auch das Gebet nicht fehlen, ohne daß eS geboten ist. Oft ermahnt das N. T- -um Ge­ bet, weil es für den Frommen unentbehrlich ist, well es feine Wachsamkeit (Matth. 26,41. Eph. 6,18. Col. 4, s.), seinen Muth und sein Vertrauen (Luk. 18, i.) und seine Festigkeit km Glauben (Jud. 20.) erhält; aber es fchkeibt nichts Bestimmte- darüber vor, und «och weniger bindet es dasselbe an Tag und Stunde, wie es eine pharisäische Sittenlehre thut. Christus hat uns ein Gebet gelehrt, aber nur um uns damit «in Muster aufzustellen, und uns von den wortreichen Gebetsformela der Heiden zu entwöhnen, nicht um uns daran ; und auf keine» Fall wird es geboten, ober auch nur erlaubt seyn, durch offenes Bekenntniß Andere ins Verderben zu stürzen. Aber sich selbst durch Offenheit der unge­ rechten Gewalt preiszugeben, wird allerdings pflicht­ mäßig oder doch edel seyn, weil uns bas Gericht, selbst wenn es ungerecht verwaltet wird, zu heilig seyn muß, als daß wir ihm die Wahrheit verschweigen dürften, wenn es bloß auf unsere eigene Gefahr geschieht. Un­ terliegen wir ungerechter Gewalt, so wird der Miß­ brauch, den die Regierung treibt, offenbar und dadurch vielleicht dem ungerechten Zustand, ein Ende gemacht, und wir wirken mithin Lurch unsere Wahrhaftigkeit auf die Verbesserung des rechtlichen Zustandes hin. Hingegen nützt es nichts für das Ganze, und schadet uns selbst, wenn wir dem Einzelnen, der unS verderben will, uns mit Offenheit preisgeben. Sogar gegen solche, die uns nicht selbst feknbselibehandeln, aber doch unser Vertrauen mißbrauchen könnten, müssen wir auf unserer Hut seyn, und ihnen nicht alle- offenbaren, was wir zu thun gesonnen find, oder sonst auf den Herzen haben. So sagte Christus zu seinen unwürdigen Brüdern, er werde nicht auf daS Passah gehen ix), und erschien doch nachher zu w) So urtheilte Thom. Aqu. Vergl. 332. II. Lh. 1. Abth. S. 163. x) Die Lesart bunn hat weder so viele Zeugnisse für sich, noch ist sie in sich selbst wahrscheinlich, da sie wohl statt der an3-Lhl. I

»zu

Besonder« Sittenlehre.

Jerusalem (Ioh. 7, 8 — 10.). Es gle^t «'ne Art von lustiger Neugierde, vor der man sich oft nicht anders sichern kann, als daß man sie mit Unwahrheit abspeiset. Der Zudringliche verscherzt selbst das Recht die Wahr­ heit zu hören, und es ist sein« Schuld, nicht meine, wenn ich ihm mein Geheimniß nicht mittheile. Man macht mit Recht einen Unterschied zwischen dem Verschweigen und Verleugnen der (jdt (falsiloquiuni) und der bejahendenLüge (»rendacium), wodurch man dem Andern nicht nur die Sache verhehlt, wie sie Ist, sondern sie auch noch ganz anders vorstellt, als sie ist. Es gehört dazu ein höherer Grad von feindseligem Mißtrauen; aber sobald dieses durch das Betragen des Andern und durch die nothwendige Rücksicht auf unsere Sicherheit gerechtfertigt ist, so ist auch die Nothlüge dieser Art gerechtfertigt. 2) Oer ganz entgegengesetzte Fall, wo die Unwahr, heit gesagt werden kann, tritt zwischen Freunden ein, die so sehr im Vertrauen zu einander befestigt sind, daß sie sich keine Beleidigung, mithin auch keinen un­ schädlichen scherzhaften Betrug übel nehmen. Hier ist die Lüge so wenig ein Beweis von Mißtrauen, daß da­ durch vielmehr das innigste Vertrauen beurkundtt wird. Eia jeder aber muß wissen, wie weit er mit feinem Freunde gehen darf. * 3) Wo zwar keine Feindseligkeit und keine Noth, wehr Statt findet, wo aber von der einen Seite nicht die vollkommene Fähigkeit vorhanden ist, mit uns in Gedankenverkehr zu treten und an unsern Ansichten, dern, diese aber, als scheinbar anstößig, nicht statt ihrer ge­ sagt werden konnte.

Vieltes Cap.

Von der Gerechtigkeit.

131

Gesinnungen und Absichten Theil zu nehmen, da ist die Pflicht der Wahrhaftigkeit ebenfalls beschränkt. DkeseS Verhältniß findet Statt, wo wir mit Kindern, Thoren, Geistesschwachen, Vorurtheilsvollen, Leidenschaftlichen, Kranken zu thun haben, denen die Wahrheit, ohne alle Einschränkung gesagt, geistig und leiblich schädlich sey«

Kluge Aerzte müssen oft ihre Kranken belä-

könnte.

gen; so auch die Eltern ihre Kinder, wenn sie z. B-

nach den Geheimnissen des Geschlechts fragen; Freunde,

welchen wir eine Schreckensnachricht mitzutheilen haben, müssen wir durch Unwahrheiten darauf vorberelten»

Man kann dieß Verfahren im Allgemeinen Anbequemung nennen; und diese ist nothwendig für alle Erzie­ hung und allen Unterricht, zumal den religiösen, weil hier

nicht bloß die Unfähigkeit des Verstandes, sondern auch die Dunkelheit und Sinnlichkeit des Gefühls hemmend wirken,

so daß eine dargebotene Vorstellung,

welche

nicht mit dem Verstände gefaßt wird und an bisher gehegte Vorurtheile anstößt, nicht nur unverstanden bleibt, sondern auch das Vertrauen gegen den Lehrer

stört.

Die Anbequemung besteht überhaupt in der An­

knüpfung an die Vorstellungen des Lehrlings, und, in Beziehung auf die religiöse Bildung, in der Symbolik

oder dem bildlichen Vortrag, weil dieser dem hier be­ sonders mit Schonung zu behandelnden Gefühle am meisten zusagt.

Man kann eine negative und posi­

tive Anbequrmung unterscheiden:

jene besteht in -er

Vorenthaltung derjenigen Wahrheiten, welche noch nicht an der Zeit sind, so wie Christus feinen Jüngern das­

jenige, was sie nicht tragen konnten, noch zur Zeit ver­ schwieg (Joh. 16,12.) t diese in dem Eingehen in die

Vorstellungen deS Lehrlings,

so daß man la dessen Zs

152

Besondere Sittenlehre.

Sprache und Begriffen redet,

empor zu heben sucht. auf der sinnlich

und ihn nach und nach

Diese Vortragsweise beruht

beschränkten Form der menschlichen

Erkenntniß und auf dem Verhältniß zwischen Cache

und Bild, wodurch sie nur dem Grabe nach verschieden

Jede Sprache bedient sich der Bilder;

sind.

ja ur­

sprünglich sind alle geistigen Vorstellungen nur bildlich

bezeichnet worden,

und unsere scheinbar abgezogenen

Ausdrücke find noch immer bildlich;

nur die Gewöhn*

hekt hat sie nach und nach von der daran haftenden

bildlichen Vorstellung befreit.

Auch die positive Sicco#

modation ist von Christo und den Aposteln gebraucht

worden, wie die Bilder des Reiches Gottes, des Mes,

siaS, des Sühnopfers u. dgl. beweisen, welche die zu

bezeichnende Sache nicht rein bezeichnen.

Aber man

würde in der Annahme der biblischen Anbequemung zu

weit gehen,

wenn man irgend eine Vorstellung für

ganz leer und irrig halten und aus dem System der Glaubenslehre entfernen wollte: keine bildliche Vorstel­

lung der Bibel ist ganz leere Form,

sondern schließt

immer eine wesentliche Idee in sich. — Die bestimm­

teste Erklärung über die Anwendung der Anbequemung giebt der Apostel i Cor. 9, 20 — 22. wo er sagt,

daß

er den Juden geworden sey wie ein Jude, den Heiden wie ein Heide, den Schwachen, wie ein Schwacher;

auch nennt er sonst die anbequemende Vortragsweise

eine Rede nach menschlicher Weise (Gal. 3,15. Röm. 6, 19.).

Und dennoch rühmte er sich sonst, und gewiß

mit Recht,

der größten Freimüthigkeit und Offenheit

in seiner Lehrart (2 Cor. 4, 1 ff.). 4) Auch das nähere oder entferntere Verhältniß

-es Verkehrs und des Vertrauens, in welchem wir zu

Viertes Cap.

Von der Gerechtigkeit.

153

den Menschen stehen, verpflichtet uns in verschiedenen Graden zur Wahrhaftigkeit. Vor Freunden sollen wir kein Geheimniß haben; Fremden hingegen müssen wir wohl manches verhelen: darüber aber laßt sich keine bestimmte Vorschrift geben, als die, baß wir allen Menschen mit Achtung rntgegenkommen, und mit Allen das möglich beste Verhältniß des Vertrauens anzu» knüpfen suchen sollen. §. 455* Es ist sehr belehrend, die verschiedenen Meinungen der christlichen Sittenlehrer über die Erlaubtheit oder Unerlaubtheit -er Lüge zu überblicken: wobei fich leicht bemerklich macht, daß es fast Stilen an einem Princip der Beurtheilung fehlte. Die alten Philosophen haben die Lüge nicht für schlechthin verwerflich erklärt. Plato hielt fle für ein Arjneimittel, dessen stch die Obern zum gemeinen Besten bedienen könnten y). Selbst die strengen Stoiker lehrten, baß der Weise zur rechten Zeit zu lügen wis­ sen müsse z). Die Anhänglichkeit an Plato machte, y) De republ. I1L i. p. 389. Steph. z) Plutarch de stoicor. repugn. p. 36t. ed. Reist. Gatacker ad An ton in. ad se ipsuin p. 135. QuinctiL Institutt. oral. L. XII. c. 1. §. 38. Concedant mihi omnes oportet, quod Stoicorum quoque asperrirni confitentur, facturum aliquando bonurn virurn, ut mendacium dicat, et quidem nonnunquarn levioribus causis: ut in pueris aegrotantibus, utilitaiis eorurn gralia midta fingimus, multa non facturi promittimus: nedum si ab homine occidendo grassator avertcndus sit, aut hostis pro salute patriae fallcndus: ut hoc, quod alias in servis quoque repreh enden dum est, sit alias in ipso sapienh; laiulendum. — T a c ituö nennt die Verleugnung des Piso durch dessen Sklaven ein mendaciurn cgregium. Histoi. IV, 5o.

154

Besondere Sittenlehre,

daß auch manche christliche Lehrer darüber mildere Grundsätze hatten. Nach Clemens Alex, redet der Gnostiker zwar in der Regel die Wahrheit, bedient sich aber zuweilen der Lüge als eines Arzneimittels a), Auch Origen es hielt die Lüge für erlaubt, wenn dadurch ein großer Nutzen könne gestiftet werben, und beruft sich auf das Detspiel der Judith, Esther, und des Ja, kobd). Gleich milde Grundsätze bekennen Hierony» mus c), Chrysostomus Hierbei erinnern wir uns, welches Ziel im Allge­ meinen die Klugheit mit ihrer bildenden Thätigkeit zu erstreben, und welchen Gang sie zu beobachten hak. Ihr Ziel ist, dem menschlichen Geiste die Herrschaft über die Natur zu erringen und zu behaupten, und die Mittel seines Wirkens zu mehren und zu sichern (§. so.). Ihr Gang aber ist folgender (vergl. §. si.). Eie erhebt sich aus der sinnlichen Defangenhelt, in welcher sie blind und roh, vom augen­ blicklichen Bedürfnisse getrieben, nur für den Augenblick schafft, zur Ordnung der Gewohnheit, in welcher sie das Leben schon mehr im Ganzen beherrscht, aber noch knechtisch und träge sich in den Bahnen der Erfahrung und Ueberlieferung fortbewegt; von da erhebt sie sich zur Freiheit des selbstthätigen, erfindenden, schaffen­ den Geistes, der für die frei erkannten Zwecke mit freier Willkühr die besten Mittel wählt. Diese Geistesfreiheit ist der höchste Triumph der bildenden Klug­ heit; sie will den Geist, wie von der Nothwendigkeit der Natur, so auch von den Fesseln der Gewohnheit lösen. Allein nie darf sie die Gewohnheit ganz ver­ schmähen; das Freierfundene muß in die Ruhe und Sicherheit der Gewohnheit eingehen; der vorwärts stre­ bende Geist darf nicht mit unruhiger Hast von Neuem ZU Neuem treiben, nicht gewaltsam das Alte umstoßen. Neues an die Stelle setzen, und dieses wieder mit Anderem vertauschen. Die Freiheit soll sich mit der Gewohnheit zu einem sichern, wohlthätigen Bunde ek yigen,

Besondere Sittensehre.

38o

Wollen wir nun die Vollkommenhrlts-Bilder der

einzelnen Berufsarten zeichnen, so müssen wir überall

die freie Herrschaft des Geistes als das höchste Ziel in- Auge fasten, jedoch auch vor dem unruhigen Trei­

ben der falschen Freihettsliebe warnen. §-

5i9.

des NährstandeS

Das Berufsleben

hat zum

Zwecke, den Kampf des Geistes mit der Körperwelt zu

führen, dem mrnschllchen Leben die Unabhängigkeit von

der Natur und deren feindlichen Einflüssen zu sichern, es vor dem Mangel zu bewahren,

ihm die Beförde­

rungsmittel der leiblichen Lebenskraft, der sinnllchen

Lust und Freude, der Ruhe und Bequemlichkeit, im mög­ lich

reichsten Maaße

zu verschaffen.

Wer in diesem

Berufe steht, fühle daher die edle Bestimmung, an dem

Befreiungswerke derMenfchheit Theilzu neh­ men,

die Leichtigkeit und Sicherheit des Lebens mit

befördern zu helfen, irgend einen Beitrag zum allge­

meinen Wohlstände und Lebensglücke zu liefern.

Aber

er sehe nicht bloß darauf, was er thut, sondern auch

wie er es thut.

Die Freiheit des menschlichen Gei­

stes und seine Herrschaft über die Natur wird dadurch erhöht,

daß im Hervorbringen der Naturerzeugnisse,

in der

künstlichen Bearbeitung derselben und in der

Beförderung des Handelsverkehrs die Anwendung der menschlichen Kräfte je mehr und mehr gespart werde,

daß dir Menschen immer leichtere und sichrere Weisen,

drn todten Stoff zu überwinden und zum Gebrauche elnzurichten, erfinden, und der Verkehr sich immer leich­

ter und sicherer bewege.

Alles dieses aber wird durch

freie« ErfindungSgeist erreicht werden.

Achtes Cap.

Vom Berufsleben.

381

Dem Landwirth liegt eS ob, nicht nur so viel als möglich an Erzeugnissen zu gewinnen, sondern sie auch auf die leichteste und sicherste Art zu gewinnen. Er darf sich daher nicht in den hergebrachten Weisen bewegen, welche gewöhnlich nur mit dumpfem Sinne der Erfahrung abgelernt sind; er muß die Hülfe der Wissenschaft benutzen, welche ihn die Natur deS Bo­ dens, der Gewächse, der Thiere, und die Mittel, sie am besten zu bearbeiten und zu ziehen, kennen lehrt, welche ihn zur Erfindung zweckmäßiger Werkzeuge und Maschinen führt. Schon hat sich der Mensch die Be­ arbeitung des Bodens sehr erleichtert, und eine Menge von Mitteln in seine Gewalt bekommen; aber er kann und soll es darin noch immer weiter bringen. Der Handwerker und Fabrikant soll sich nicht nur die Güte seiner Erzeugnisse, sondern auch die leichteste und sicherste Art der Erzeugung zum Zwecke setzen; und ihm «erden die Wissenschaften der Physik, Chemie und Mechanik immer neue Hülfsquellen dar­ bieten. Der HandelSmann soll mit freiem Auge den Verkehr seines und der benachbarten Völker überblikken, neue Wege erspähen, in welche er den Ab« und Zufluß der Rej^thämer kinleiten könne, wo er eine Lücke und einen Mangel entdeckt, den Ersatz und die Abhülfe herbeifähren, wo sich eine Stockung zeigt, die Hindernisse zu heben und den Umlauf zu befördern su­ chen. Der Handel ist die Seele aller hervorbringenden Thätigkeit; er erregt und ermuntert dieselbe, indem er die Vergeltung der Arbeit befördert, und das, was nicht in der Heimath bezahlt werden kann, auf fremde Märkte bringt. Darum muß in demselben der meiste

382

Besondere Sittenlehre,

freie Geist herrsche», damit er das allgemeine Leben fördere. Seiner Natur nach ist der Verkehr stet- be­ weglich und unzähligen Zufällen unterworfen: um so freier muß der Handel-mann umherblicke«, und dem Wechsel mit beweglichem Geiste folgen. §. 520. Die Richtung auf den eigenen Erwerb, welche mit diesen Arten des Berufs nothwendig verbunden und gewöhnlich dabei vorherrschend ist, bringt es mit fich, daß sie oft ohne Gemeingeist uud Vaterlandsliebe 6t# trieben werden. Am wenigsten ist es der Fall bet der Landwirthschqft, weil diese an den väterlichen Boden gebunden ist. Aber es könnte doch geschehen, daß der Landwirth die Kräfte desselben den heimischen Bedürf­ nissen entjöge, und z. B. anstatt Korn zu bauen, sich auf Erjeugnisse legte, welche er ins Ausland absetzte, und dadurch die Theurung der ersten Lebensbedürfnisse im Vaterland veranlaßte. Hier müßte dem Streben drS Eigennutzes die Rücksicht auf das Wohl der Mit­ bürger beschränkend entgegentreten. Am häufigsten wird die Thätigkeit des Fabrikanten für die heimische Wohlfahrt gefährlich, indem durch die Betreibung ge­ wisser Erzeugungsjweige, welche ihren Absatz nur im Auslande finden, das Wohl jahlrelcherFamilien, welche dabei ihren Unterhalt gewinnen, von dem guten Wil­ len oder dem wechselnden Bedürfnisse fremder Regie­ rungen und Völker abhängig gemacht wird. Zeuge des­ sen ist das Elend vieler Fabrikstädke und solcher Ge­ genden, in denen durch die jeweilige Blüthe gewisser Gewerke sich eine große Bevölkerung gesammelt hat, und nachher durch veränderte Handelsverhältnisse an den Bettelstab gekommen ist. Der vaterlandliebende

Achtes Cap.

Vom Berufsleben.

385

Fabrikant wird ein solche- Uebel durch einseitige Ver­ folgung seines Vortheils herbeizuführen sich hüten, und Immer lieber solche Fabriken gründen, welche im Jnlanbe Absatz finden, als solche, welche vom AuSlande abhängig sind. Man erwartet gewöhnlich Alles von der Freiheit des Verkehr-, und will jede beson­ dere Gewerbsthatigkelt gewähren lassen, ohne sie irgend zu leiten oder zu ordnen; aber außerdem, daß eS keine allgemeine Verkehrs-Freiheit giebt, so kann in derselben allein nicht die Gewähr liegen, daß alle verschiedene Erwerbsthätigkeiten harmonisch zum Ziele treffen wer­ den, ohne sich unter einander zu stören «nd ihre Zwecke zu vereiteln. Verkehrs-Freiheit ist nichts als das Zu­ sammen-, Gegen- und Jneknanber-Wirken der im Der, kehr thätigen Kräfte, dem in diesem selbst liegenden, nicht einem äußeren Gesetze gemäß. Nun aber ist daS herrschende Gesetz des Verkehrs, wie derselbe gewöhn­ lich angesehen und getrieben wird, der Trieb des Ei­ gennutzes, der Gewinnsucht: mithin würde man den allgemeinen Wohlstand einem Triebe anvertrauen, der demselben, wenn auch nicht schlechthin zuwiberläust, doch keine Rücksicht darauf mit sich bringt. So wahr eS ist, daß die Eingriffe der Negierung in den Verkehr nichts taugen, so falsch ist es, alles zu verwerfen, waS die Richtung desselben auf die allgemeinen Zwecke sichert. Wir erwarten dieses aber von der guten Gesinnung der Gewerbtreibenden selbst: diese sollen, einzeln und im Vereine, den Trieb des Eigennutzes durch den sitt­ lichen Geist, den Gemeingelst, zügeln und leiten. Wie dieß aber geschehen solle, zu bestimmen, ist die Sache der Klugheit, und wir überlassen eS denjenigen, welche

Besondere Sittenlehre,

584

tiefe Gesinnung mit der Kenntniß und Ausübung die­ ser Art des Berufes verbinden.

Welche Anforderungen der besondere Gemeingeist für die Vaterstadt, für die Landschaft, die Gemeinde,

in der man lebt, an die Gewerbtreibenden macht, ist nach dem Vorigen

leicht im Allgemeinen einzusehen,

und im Besondern gehört eS nicht hierher.

Aber vom

Standes- und Zunftgeist müssen wir noch beson­ ders reden. In sofern die besondere Berufsthätigkeit eines Je­

den eigennützig ist, sind die Genossen desselben Berufs-

Nebenbuhler, und müssen streben, es einander zuvor zu

thun.

Aber dieses an sich löbliche Streben soll von

Neid und Haß frei seyn, und es sollen dabei keine un­ redlichen Mittel angewendet werden. Und nicht genug,

daß die StandeSgenoffen nicht in Feindschaft mit eia, ander stehen; sie sollen auch Freunde seyn, und sich ge­

genseitig in ihrem Geschäft unterstützen, weil dieses in der Natur der Sache liegt.

Jedoch soll ihre Freund­

schaft nicht eine feindselige Richtung gegen die Uebri-

gen nehmen, so daß sie etwa in der Uebertheuerung der Waaren und Bevortheilung des Volkes zusammen­

halten : ihre Freundschaft soll |el6fi nur zum allgemein nen Nutzen dienen.

Die ganz allgemeine Forderung der Gerechtigkeit

ist in einem Gebiete des Berufs, wo der Eigennutz ei­ nen so mächtigen Einfluß hat, nicht überflüssig.

Es

ist nichts häufiger, als der Grundsatz: daß man seine Erzeugnisse so theuer als möglich an den Mana brin­ gen müsse, und daß jeder Gewinn erlaubt sey.

Die

Handwerker und Fabrikanten haben in der Zeit und Mühe, die an ihre Waaren gewendet worden, und im

Preise

Achtes Cap.

Vom Berufsleben.

585

Preise deS rohen Stoffes noch einen gewissen Maaß­ stab; aber der Kaufmann hak gar keinen, als den deS Bedürfnisses, und man benutzt dieses oft blS zum Drükkenden. Aber es ist ungerecht, von der Verlegenheit Anderer einen solchen Nutzen zu ziehen, und «in so ge­ triebener Handel ist nichts weniger als feiner Bestim­ mung angemessen, und gewissermaßen eine Art von Raubkrieg. Eine scharfe Grenze zwischen dem erlaub­ ten und unerlaubten Gewinn zu ziehen, ist unmöglich; aber das Billkgkeltsgefühl wird darüber in jedem ein­ zelnen Falle mit Sicherheit entscheiden. Die Ungerech­ tigkeit weiß sich auf mannkchfaltlge Welse zu verbrrgen, und nicht nur diejenigen, welche dadurch bevortheilt werben, sondern auch diejenigen selbst, welche sie ausüben, zu täuschen. Dahin gehört der Kunstgriff, die Waare zwar wohlfeiler, als bisher, aber auch schlech­ ter und selbst des geringern^ Preises unwerth zu lie­ fern. Wie viele halten dieses nicht für ein erlaubtes Mittel der Erwerbsthätigkeit; und doch ist es ein ent­ schiedener Betrug. §. 52t.

Die Berufsarten des Wehrstandes, welche dem sittlichen Zwecke der Gerechtigkeit dienen, können ihrer Natur nach nicht ohne den Geist der Gerechtigkeit, und, da die Angelegenheiten derselben in Beziehung auf einen bestimmten Staat zu besorgen sind, nicht ohne Gemekngeist und Vaterlandsliebe betrieben werden. Nichts verächtlicher und verderblicher als Regenten, Beamte, Richter, Verwalter, welche kn der Eigensucht ihres persönlichen ober Standes- und Familien-Nuzzens handeln, und das sittliche Wohl des Volkes verratheg. Gerechtigkeit, Uneigennützigkeit, Unbestechlich3. Th!. Bb

38G

Besondere Sittenlehre.

feit, Vaterlands,, Volksllebe ersetzen im StaatS-Beruf fast alle andern Mängel; das Vollkommene aber wird

nur durch die Weisheit und Klugheit in Verbin­ dung mit der guten Gesinnung erreicht, durch jene freie, tiefe Einsicht in die Zwecke des Staatslebens und

die entsprechenden Mittel.

Es setzen sich in der Ge­

sellschaft Formen und Gesetze fest, welche dem Zwecke der Gerechtigkeit wenig oder gar nicht entsprechen; an­

dere Zwecke sind vielleicht noch gar nicht erkannt und noch weniger vermittelt: es ist daher im Staate, wie in allen Gebieten des Lebens, ein beständiges Fortschrei­ ten zum Bessern nothwendig, und dieses ist nur durch

Geistesfreiheit in Verbindung mit Gerechtigkeitsliebe möglich. Damit aber dieses Fortschreitrn nicht störend und zerstörend «erde, muß der natürliche Sinn für die Gewohnheit und das Herkommen geschont werden, und

die Umwandlung (§.

auf geschichtlichem Wege geschehen

es muß sich philosophischer und geschichtli­

cher Geist mit einander verbinden. Dieß gilt besonders

für die Gesetzgebung; aber auch für die Verwaltung und Ausführung ist dieser freie, und doch nicht unge­

bundene und ordnungswidrige Geist zu fordern, damit nichts zum todten Gewohnheitswesen werde.

Es ist daher von denj .nigen, welche sich dem Staats­

berufe widmen, die Forderung zu stellen, daß sie vor allen Dingen gute Bürger seyen, daß sie sich durch

wissenschaftliche Bildung die nöthigen Kenntnisse, und die gesunde Freiheit und Empfänglichkeit des Geistes für das Neue und Bessere erwerben. Der Beruf des Kriegers, d. h. des Vaterlands­

vertheidigers, fordert ebenfalls die gute Gesinnung des Bürgers, und, da es die Aussetzung und Aufopferung

Achtes Cap.

Vom Berufsleben.

587

LeS Lebens gilt, die wärmste, entschlossenste Vaterlands­ liebe und unerschrockenste Tapferkeit, das, was man nicht bloß im gemeinen Sinne Herl nennt, b. h. Muth, sondern Herz in der umfassendsten Bedeutung» Die von aller Bürger-Gesinnung entfremdete Krie­ ge r, Ehre ist ein Ueberrest deS im Mittelalter beste­ henden Handwerks der Söldlinge und des daraus ent­ standenen, nunmehr fast ganz vertilgten Werbr.SystemS, und kann, obschon an dem Einzelnen vielleicht achtungS« werth, im Ganzen nur als eine sittliche Ausgeburt an­ gesehen werden. Ze höher der Krieger steht, desto nothwendiger ist ihm die wissenschaftliche Ausbildung, weil je höher hin­ auf, desto weniger die Körperkraft, sondern die Klug­ heit den Sieg entscheidet. Die Kriegswl ssenschaft gehört ganz der Klugheit an, ober hat es ganz allein mit den .Mitteln, mit der Ueberwindung und Dienstbarmachung der Naturkrafte, wohin auch die hier zur Anwendung kommenden menschlichen Kräfte gehören, zu thun. Die Zwecke selbst liegen außer dem zerstören­ den ober wenigstens Zerstörung drohenden Kriegshand­ werk, welches selbst nur dem erbauenden, fruchtbrin­ genden Frieden dient. Aber so wie die Staatsweis­ heit das Kriegswesen gebraucht, so wird auch bie AuS, hildung desselben mit der Ausbildung des Staatslebens gleiche« Schritt halten, und erst dann vollkommen seyn, wenn dieses vollkommen ist. Einen Beleg hat die neueste Geschichte gegeben, welche zugleich mit durch­ greifenden Staatsverbesserungen auch eine überraschende Entwickelung des Kriegswesens gebracht hat. §. $22. Zm gelehrten oder wissenschaftlichen VeBb 2

588

Besondere Sittenlehre,

ruf wirb bie Wahrheitsliebe allein zum Ziele der Vollkommenheit führen; denn die Rücksicht auf Nutzen und Brauchbarkeit liegt außer demselben, und soll nie eigentlich leiten und bestimmen.

Der Nutzen fallt von

selbst als reife Frucht vom Baume der Erkenntniß. Diese reine Liebe zur Wahrheit wird auch die ächte

GeistesfreiHelt bringen, welche hier vorzüglich nö­ thig ist; denn nur aus Mangel an lebendigem Triebe

zur Wahrheit bleibt man bei demjenigen stehen, was die Ueberlieferung gebracht hat, ohne es selbstständig zu prüfen, dagegen die Wahrheitsliebe zur Forschung und diese zu neuen Entdeckungen leitet. Aber auch für

die Wissenschaft müssen wir die Verbindung des Ge­

schichtlichen mit dem freien Denken, bas Anschließen an das Alte mit der Empfänglichkeit für das Neue foti* dern, damit die Entwickelung und der Fortschritt stetig sey,, und die Gemeinschaft des Wissens nicht unterbro­

chen werbe, welche auf der Ueberlieferung beruht. Das Ueberlieferte ist in der Sprache niedergelegt und in ihr drückt sich die Geistesbildung des Volkes ab:, es ist

daher besonders nothwendig, daß man in der Fortbil­

dung der Wissenschaft die Sprache nicht willkührlich umbilde und eine Verwirrung derselben veranlasse. Bei

uns hat der freie Geist der Wissenschaft mit dem Ein­ flüsse des allen Literatur zu kämpfen, bereu Studium

zwar nie zu vernachlässigen ist, wodurch uns aber rin

gewisser Pedantismus gebracht wird. zrn die Sprach- und Geschichtskunde,

Wir schäz-

welche nichts

ohne den freien, eigenen Geist ist, zu hoch, und fesseln diesen durch die Anknüpfung der wissenschaftlichen Bil­ dung an das, was man klassische Bildung nennt, und

was oft nichts als Sprachübung ist.

Achtes Cap.

Vom Berufsleben.-

589

Was die Gesinnung des Gelehrten betrifft, so wird er, da er auf die all emcine Wahrheit gerichtet ist,

über den besondernGemelngeist zum KosmopolitismuS hinausstreben; jedoch soll er jenen nie verleug­

nen, so wenig als er das sittliche Gefühl durch einen einseitigen, übermüthigen Verstand verwirren und un­

terdrücken lassen soll. Die Frucht der Wissenschaft soll

heilsam für das Leben seyn, und zunächst für denjeni­ gen Kreis desselben, kn welchem der Gelehrte steht.

Eine gewisse Verbrüderung darf und soll unter den Gelehrten Statt finden; die gemeinschaftliche Liebe zur Wahrheit soll Alle verbinden zur gegenseitigen Un­

terstützung und

Mittheilung.

Aber

der

absondernde

Zunftgeist, welcher durch politische Köporatlon auf un­

sern Unlversitäten herrscht und noch mehr ehedem ge­ herrscht hat, und der darauf gegründete Gelehrten» und

Schülerstolz,

welcher

dem

bürgerlichen Gemeingeist

schädlich wird, verträgt sich nicht mit dem wahren

Geiste der Wissenschaft.

§, 52;» Der Beruf des Künstlers und Dichters

ist,

das Schöne und Erhabene in der begeisterten Seele zu empfangen, und in lebendigen Darstellungen zu of­

fenbaren.

Das Schöne und Erhabene aber läßt sich

nie voM Guten trennen; Kunstwerke sind zugleich die

Früchte und der Saame der Sittlichkeit und Frömmig­ keit, indem sie aus einem begeisterten Gemüth hervor­

gehen, und wieder in ein solches Eingang finden sol­

len; dir erste Forderung an die Künstler ist daher, nie dem sittlichen Geiste untreu zu werden.

Da die

Sittlichkeit nichts als die Herrschaft des Geistes über

die SinrUlchkeit ist, und die Kunst die Ideen des sitt-

Besondere Sittenlehre,

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lichen Lebens In sinnlicher Gestalt darzustellen hat:

so

haben die Künstler vorzüglich die Klippe zu vermeiden, daß sie nicht durch sinnliche Reize die Sinnenlust rr-

weckcn. Dieß ist nicht allein von der gemeinen Lüstern­ heit in der Darstellung, von dem, was die feine Zucht

verletzt, zu verstehen, sondern selbst von der weichlichen Rührung, von der Aufregung edler Gefühle im Ueber# maaß, ohne den kräftigen Aufschwung des Geistes. Es

giebt auch eine Sinnlichkeit und Wollust In dem Schwel­ gen mit geistigen Gefühlen, wenn in ihnen, wie z. B. in denen der Wehmuth, der Sehnsucht, der Geist mehr

empfänglich, als selbstthätig ist, und daher leicht lei­ dend werden kann.

Die Rührung

Künstlers und Dichters Zweck,

sey

niemals deS

sondern das Mittel,

wodurch er den Geist aufregt und emporhebt.

Das sittliche Leben, aus welchem und für welche-

der Künstler bilden soll, und in der Kirche.

erscheint'im Volksleben

Wir fordern daher zweitens,

daß sich die Kunst an diese beiden großen Gemeinschaf­

ten anschließen soll.

Alles menschliche Streben kann

nur in der Gemeinschaft gedeihen, darin ist für Alles Halt und Nahrung; und eine Kunst, die sich davon ab­ wendet, wird eben so, wie eine Lebensrichtung selbst,

die für sich stehen will, durch Selbstsucht und die da­

durch

bedingte Leerheit und Ohnmacht ausarten und

verkümmern. Dieses Anschließen an die Dolksthümlich-

keit und an die kirchliche Gestalt der Religion ist schon

darum nöthig, weil darin die Bedingung der Wirksam­ keit liegt.

Ein Kunstwerk, ein Gedicht, das sich auf

das eigenthümliche Leben des Volkes bezieht, wird von

diesem eher verstanden, gefaßt und in Saft und Blut verwandelt werden, als ein fremdartiges; es wird mäch#

Achtes Cap.

Vom Berufsleben.

tiger ins Leben eingrrifen,

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und zur Fortbildung und

Veredelung desselben beitragen.

Es ist nicht die Mei­

nung, daß die Künstler und Dichter sich knechtisch an sie sollen vielmehr stetS

das Bestehende halten sollen, zum Höheren streben;

der Gemeingeist, den wir von

ihnen fordern, soll auch nicht den Sinn für das allge­

mein Menschlicheausschließen, vielmehr soll sich dieses in dem Besondern spiegeln: aber ihre Begeisterung soll

immer von dem besondern Kreise, in welchem sie ste­

hen, ausgehen. Offenbar leidet unsere Kunst und Dich­ tung an dem Buhlen mit dem Alterthum und Ausland, und ist nicht nur oft fremdartig gelehrt und vornehm,

sondern auch oft in knechtischer Nachahmung begriffen, wovon nachher.

Die Forderung, daß sich die Kunst an das Kir­ chenleben auschließen soll, könnte so mißverstanden wer­

den, als ob sie bloß heilige Gegenstände Wahlen solle.

Wir unterscheiden eine kirchliche Kunst und Dich­ tung im eigentlichen Sinne,

welche nicht nur b