C. M. Wielands Sämmtliche Werke: Band 14 Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit [[Erstausg.] Reprint 2019 ed.] 9783111568928, 9783111197371


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Inhalt
1. Koxkox und Kikequetzel, eine Mexikanische Geschichte
2. Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen
3. Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche, den wahren Stand der Natur-des Menschen zu entdecken. Nebst einem Traumgespräch mit Prometheus
4. Über die Behauptung, dass ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung schädlich sey
5. Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts
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C. M. Wielands Sämmtliche Werke: Band 14 Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit [[Erstausg.] Reprint 2019 ed.]
 9783111568928, 9783111197371

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C. M. W I E L A N D S

SÄMMTLICHE WERKE VIERZEHNTER

BEYTRÄGE

ZUR DER

GEHEIMEN

BAND

GESCHICHTE

MENSCHHEIT.

L E I P Z I G BE V

GEORO

JOACHIM

GÖSCHEN.

»79-5-

B

E

Y

T

R

Ä

G

E

ZUR GEHEIMEN DER

W l F L A K D Ü .

G E S C H I C H T E

MENSCHHEIT.

W.

XIV.

B.

1

I n h a l t .

Koxkox und

Kikequetzel,

eine

Mexikanische

Geschichte.

s. Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen.

Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche, den wahren Stand der Natur-des Menschen zu entdecken. Nebst einem Traumgespräch mit Prometheus. 4Uber die Behauptung, dafs ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung schädlich »ey. 5Uber die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts.

K

O X K O

X

U N D

K I K E Q U E T Z E L EINE

EIN BEYTRAG

MEXIKANISCHE

zun

GESCHICHTE.

NATURGESCHICHTE MEESCHEN. 1769

und

1770.

DES

SITTLICHEN

Vor undenklichen Jahren k a m , nach einer alten M e x i k a n i s c h e n Sage, ein großer Komet auf seiner Reise um die Sonne — man weifs nicht aus welcher Veranlassung — dem Planeten, welchen unsre Vorfahren bewohnten, so nahe, dafs beide Sterne, nach menschlicher Weise zu reden, handgemein mit einander werden mufsten. Das Gefecht war eines der hartnäckigsten , welche seit langer Zeit in den Gefilden des Äthers vorgefallen waren. Die besondern Umstände davon sind, aus Mangel beglaubter Zeugnisse, unbekannt. Alles, was wir davon sagen können, ist: dafs, nachdem der Mond seiner Schwester Erde zu Hülfe gekommen , der Komet sich endlich genöthiget fand r mit Zurücklassung des gröfsten Theils von seinem Schweife die Flucht zu ergreifen, und, es sey nun aus Feigheit oder Scham über seine inifslungene Unter-

8

Koxicox

UND

K IICE

QUET

z

EL

nehmung, sich im leeren Räume so weit zu verlaufen, dafs er, nach der Meinung der besten Sinesischen Sternseher, bis auf den heutigen Tag den Rückweg noch nicht hat finden können. Wie wichtig der Verlust seines Schweifs für ihn gewesen sey, können wir nicht bestimmen. Aber so viel ist gewifs, dafs die Erde wenig Ursache hatte, sich dieses erfochtenen Siegeszeichens zu erfreuen. Denn unglücklicher Weise befanden sich in diesem Schweife (welcher nach der mäfsigsten Berechnung eine Million dreymahl hundert vier und vierzig tausend fünf hundert sechs und sechzig Mexikanische Meilen lang, und verhältnifsmäfsig breit und dick war) obenhin gerechnet wenigstens hundert tausend Millionen Tonnen Wassers, welches in erschrecklichen Güssen auf die arme Erde herunter stürzte, und in wenigen Stunden eine solche Überschwemmung verursachte, dafs alle Menschen und Thiere des ganzen mittlem Theils der Halbkugel, von Luisiana und Kalifornien art bis zu der Erdenge Panama, dadurch zu Grunde gingen; wenige einzelne ausgenommen, die so unglücklich waren, in den Klüften der höchsten Gebirge einem f e u c h t e n Tode zu entrinnen, um aus Mangel an Lebensmitteln von einem trocknen aber unendliche Mahl grausamem aufgerieben zu weiden.

E I N E

MEXIKAK,

GESCHICHTE.

9

H ü e t und seines gleichen würden kein Bedenken tragen, uns zu versichern, dafs diese alte Mexikanische Sage nichts anders als eine durch die Länge der Zeit abgenutzte, und (nach Gewohnheit der blinden Heiden) mit Fabeln wieder unterlegte und ausgeflickte Nachricht von der Mesaischen allgemeinen Sündllut sey. Ich bin nicht belesen genug, mit einem so belesenen Manne wie H ü e t zu haberechten. Es kann seyn! — Aber da es eben • so möglich ist, dafs diese Mexikanische Überschwemmung nur p a r t i k u l a r gewesen und später erfolgt ist als jene; und da, aus Mangel zuverlässiger kronologischer Nachrichten, sich in dieser Sache nichts bestimmen läfst: so — überlasse ich diese Frage unberührt einem jeden, der sich ihrer annehmen will, — um zu derjenigen interessanten Begebenheit fortzueilen, welche der Leser, wofern er über diesem Anfang noch nicht eingeschlafen ist, im zweyten Kapitel dieses r h a p s o d i s c h e n W e r k e s , mit allen Grazien der Neuheit, deren eine so alte Geschichte nur immer fähig ist, beschrieben finden wird.

Wienands W. XIV. B.

IO

Koxkox und

Kikequetzel

2.

Ein junger Mensch — der jedoch alt genug war, um zu wissen dafs man ihn K o x k o x zu nennen pflegte, ehe dieses entsetzliche Schicksal sein Vaterland befiel, — hatte das Glück, der allgemeinen Zerstörung zu entrinnen, und das Unglück, allem Ansehen nach das e i n z i g e m e n s c h l i c h e W e s e n zu seyn, dem dieses Glück zu Theil geworden war. K o x k o x glaubte sich zu erinnern, dafs der Frühling, welcher, so bald als das Gewässer von den höher liegenden Orten abgeflossen war, wieder aufzublühen anfing, wenigstens der z e h e n t e sey, den er erlebt hätte; — ein Umstand, der zur Ehre seines Verstandes wenigstens so viel beweist, dafs er drey und ein Drittel Mahl besser zählen konnte, als die armen Einwohner von N e u h o l l a n d , welche es bis auf diesen Tag noch nicht weiter als bis zur P y t h a g o r i s e h e n Drey haben bringen können; — wenn- wir so gut seyn wollen,

EINE

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

11

es den Reisebeschreibern zu glauben. — Und in der That war' es, das wenigste zu sagen, sehr unfreundlich, wenn wir Leuten, welche sich so vielen Gefahren und Beschwerden unterzogen haben, um uns andern glebae addictis — Wunderdinge nach Hause zu bringen, eine so wenig kostende Kleinigkeit, als ein B i f s c h e n G l a u b e n ist, versagen wollten. Zu Folge der besagten Rechnung also, mochte K o x k o x , wofern er sich anders nicht überzählt hatte, — welches gröfsern K r o n o 1 o g e n als er begegnet ist, und noch täglich begegnet — ungefähr vierzehn bis fünfzehn Jahre alt seyn ; vorausgesetzt, dafs er sich wenigstens bis aufsein fünftes Jahr habe zurück erinnern können, welches von einem Jüngling von erträglicher Fähigkeit nicht zu viel gefordert scheint. Man weifs nicht wie es zugegangen, dafs er -\vahrend der Überschwemmung und eine geraume Zeit hernach sich bey Leben erhalten konnte. Was seyn soll, mufs sich schicken, sagten unsre Alten, — die mit ihren Sprichwörtern gemeiniglich mehr sagten, als manche Leute zu verstehen fähig sind. — Im Nothfall sehe ich nicht, warum wir nicht unendliche Mahl befugter seyn sollten, ihn durch ein W u n d e r zu retten, als die Kronikenschreiber

12

KOXKOX

UND

K I K E Q U E T Z E I ,

des achten und etlicher folgender Jahrhunderte es waren, Wunder auf einander zu häufen, ivo man nicht begreifen kann, wozu sie dienen sollen; — denn die Rettung eines Menschen in feinem Falle wie dieser scheint doch wohl ein digiius vindice nodus zu seyn. Wofern aber der eine oder andere von unsern Lesern kein Liebhaber dieser Art von Entwicklung — welche, genau zu reden, in der That keine Entwicklung ist — seyn sollte: s o , däucht uns, könnte man sich billig daran begnügen lassen, dafs K o x k o x , besage seiner ganzer Geschichte, da w a r . Denn w a r e r d a , so ist die M ö g l i c h k e i t seines Daßeyns aufser allem Zweifel; wie jedermann zugeben wird, der seinen A r i s t o t e l e s oder B a u m e i s t e r nicht ganz vergessen hat.

EINE

3-

D a s Land, worauf sich K o x k o x befand, war durch die besagte Überschwemmung zu einer Insel geworden. Nach einiger Zeit hatte die Erde wieder angefangen eine lachende Gestalt zu gewinnen; junge Haine kränzten wieder die Stirne der Berge, und diese Haine wimmelten in kurzer Zeit wieder von Papagayen und Kolibri's; die Fluren, die Thäler waren voll Blumen und fruchttragender Gewächse; — kurz, da er nun immer weniger Schwierigkeiten fand sich fortzubringen, würde sich sein Herz der Freude wieder haben offner, können: wenn die E i n s a m k e i t , welche keinem Menschen gut ist, für einen Menschen von sechzehn oder siebzehn Jahren nicht beynahe eben so entsetzlich wäre, als für den einsiedlerischen T a l a p o i n — welcher, um desto ruhiger der Betrachtung des geheimnifsvollen N i c h t s (des Ursprungs und Abgrunds aller Dingp, nach F o h i ' s Grundsätzen) obzuliegen, sich

14-

KOXKOX

UND

KIICEQUETZEL

dreyfsig ganzer Jahre aus aller männlichen und weiblichen Gesellschaft freywillig verbannt hatte, — der beleidigende Anblickeines nymfenähnlichen Mädchens, das sich in seine Wildnifs verirret hätte. Die Einsamkeit — ich meine hier eine solche, welche nicht von unserm Willen abhängt, lind in einer gänzlichen Beraubung aller menschlichen Gesellschaft besteht — mufs für Menschen, die an die Vortheile und Annehmlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens gewöhnt sind, ein unerträgliches Übel seyn. Freylich nicht für alle in gleichem Grade. — Der Dichter, der Flatonist, der schwärmerische Liebhaber, es sey nun dafs er in eine m a t e r i e l l e oder u n s i c h t b a r e Schönheit verliebt ist, kurz die Penserosi aller Gattungen und Arten, entreißen sich oft freywillig dem Getümmel der Städte, fliehen aufs Land, in wilde Gegenden, wo überhangende Felsen, finstre "Wälder, fern her schallende Wasserfalle , - die süfse Schwermuth unterhalten, welche das Element einer begeisterten Einbildung ist. Solche Leute würden sichs, wenigstens eine Zeit lang, auf einer einsamen Insel gefallen lassen können. Wenn sie anfingen das Leere ihres Zustandes zu fühlen, wiey viele Hülfsmittel würde ihnen ihre Einbildungskraft darbieten! Sie würden Berge und

EINE

MEXIKAK,

GESCHICHTE.

15

Haine und Thaler mit eingebildeten Wesen anfüllen ; sie würden mit den Nymfen der Bäche, mit den Dryaden der Bäume Liebesverständnisse unterhalten; und wenn auch dieses Mittel nicht immer hinlänglich wäre, die Forderungen der Natur und des Herzens zu befriedigen, so würde es doch genug seyn, um sie zuweilen einzuschläfern und durch angenehme Träume zu täuschen; — und alle B o n z e n und B o n z i n n e n auf beiden Seiten des G a n g e s wissen, „dafs angenehme Träume sehr viel sind, wenn man nichts substan zielleres haben kann." Aber der arme K o x l c o x hatte keinen Begriff von diesen Mitteln sich die Einsamkeit zu versüßen. Das Volk, welches in den Gewässern des Kometenschweifes ersäuft worden war, hatte sich noch in den ersten Anfangsgründen des geselligen Standes befunden. Zufrieden mit den freywilligen Geschenken der Natur, hatten sie noch wenig Gelegenheit gehabt, ihre Fähigkeiten zur K u n s t zu entwickeln. Ihre Einbildungskraft schlummerte noch, und ihre Sprache war nur sehr wenig reicher und wohlklingender als die Sprache der wilden Truthühner, womit ihre Wälder angefüllt waren. Die Erziehung , welche K o x k o x unter einem solchen Völkchen genossen hatte, konnte ihm also wenig oder

16

KOXKOX

UND

KIKEQUETZEL

gar nichts helfen, die Beschwerlichkeiten des verlassenen Zustandes, worin er sich befand, zu erleichtern. Hingegen ersetzte sie ihm auf einer andern Seite wieder, was auf dieser abging; sie verhinderte ihn das Elend seines Zustandes zu fühlen.

EINE

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

17

4-

Indessen erinnerte er sich doch ganz lebhaft, dafs er in seinem vorigen Zustande unter andern Kindern gewesen war, dafs sie mit einander gespielt hatten, und dafs unter diesen Spielen ein Tag nach dem andern wie ein Augenblick vorbey geschlüpft wa r. Er merkte, dafs ihm jetzt die Tage länger vorkamen; öfters so lang, dafs es nicht auszustehen gewesen wäre, wenn er sich nicht damit geholfen hätte, sich in irgend ein dickes Gebüsche hinzulegen, und den ganzen langen Tag so gut hinweg zu schlafen, als ob es nur eine einzelne Stunde gewesen wäre. Lebhafte Träume versetzten ihn dann in die Tage seiner Kindheit; er jagte sich mit seinen Gespielen durch Gebüsche herum, sie plätscherten mit einander in kühlen Bächen, oder kletterten an jungen Palmbäumen hinaufKeicliend erwachte er darüber, und wurde nun so traurig über seine Einsamkeit, dafs W L E L A N L J S W . X I V . B.

5



KOXKOX

UND

KIKEQUETZEI.

er sich wieder hinlegte zu träumenAber •weder Schlaf noch Traum war so gefällig wieder zu kommen. In dem schwermüthigen staunenden Zustande, worein ihn diese Lage setzte, blieb ihm nichts anders übrig, als m i t s i c h s e l b s t z u r e d e n , — welches sich gemeiniglich damit endigte, dafs er unwillig darüber wurde, k e i n e A n t w o r t z u b e k o m m e n , — oder mit etlichen P a p a g a y e n zu spielen, aus welchen er sich, in Ermanglung einer bessern, eine Art von Gesellschaft gemacht hatte. Die Papagayen hatten die schönsten Federn von der W e l t , — aber eine so dumme, gleichgültige, gedankenlose Miene, so wenig Fähigkeit zu ergetzen oder sich ergetzen zu lassen, dafs sogar K o x k o x bey aller seiner eigenen Einfalt verlegen war, was er mit ihnen anfangen sollte. Ein einziger aschgrauer, den er Anfangs wegen seiner unscheinbaren Gestalt wenig geachtet hatte, entdeckte ihm endlich ein Talent, welches ihm eine Art von Zeitvertreib gab, ohne dafs er sogleich merkte, wie viel Vortheil er davon ziehen könnte. Der graue Papagay gab allerley Töne von sich, welche einige Ähnlichkeit mit gewissen Worten hatten, die er aus den Selbstgesprächen

E I N E

M E X I K A N .

GESCHICHTE.

19

des K o x k o x aufgefangen haben mochte. I C o x k o x merkte diefs kaum, so machte er sich schon ein sehr angelegenes Geschäft daraus, der Sprachmeister seines Papagayen zu werden; welcher, bey seiner Lernbegierde und Fähigkeit, die ganze Kunst seines Lehrers ziemlich bald erschöpfte. Unvermerkt sprach der Papagay so gut Mexikanisch als K o x k o x selbst. Wahr ists, ein strenger Dialektiker würde oft sehr viel gegen seine Wortverbindungen einzuwenden gehabt haben. Hingegen gelangen ihm auch nicht selten die witzigsten Einfälle; und wenn er zuweilen baren Unsinn sagte, so kam es blofs daher, weil er keine B e g r i f f e , sondern blofse Wörter zusammen stelUe: — ein Zufall, wovon, wie man glaubt, die weisesten Männer, ja sogar ganze ehrwürdige Versammlungen von weisen Männern, nicht allezeit frey gewesen sind. K o x k o x und sein Papagay waren nunmehr im Stande Gespräche mit einander zu führen, die zum wenigsten so witzig und interessant waren, als die Unterhaltung in den meisten heutigen Gesellschaften ist, wo derjenige sehr wenig Lebensart verrathen würde, welcher mehr Zusammenhang und Sinn darein bringen wollte, als in der Unterhaltung mit

ao

KOXKOX

UND

RIKHQÜETZEI.

einem Papagay ordentlicher echen pflegt.

Weise zu herr-

T l a n t l a q u a k a pa t l i , ein angesehener Mexikanischer Filosof, trägt kein Bedenken, den A n f a n g d e s g e s e l l s c h a f t l i c h e n L e b e n s unter seiner Nazion von dieser Vertraulichkeit K o x k o x e n s mit seinem P a p a g a y abzuleiten. Die Dichter des Landes gingen noch weiter, Sie versicherten, — mit einer Freyheit, deren sich diese Zunft bey allen Völkern des Erdbodens zu allen Zeiten mit sehr wenig JVTäfsigung bedient hat, — „dafs irgend eine mitleidige Gottheit sich den Zustand des einsamen K o x k o x zu Herzen gehen lassen, und den oft besagten Papagay in das schönste Mädchen, das jemahls von der Sonne beschienen worden sey, verwandelt habe." Und damit die Weiber (sagen sie) ein immer währendes Merkmahl ihres U r s p r u n g s an sich trügen, habe dieser Gott dem neuen Mädchen und allen seinen Töchtern die Schwatzhaftigkeit gelassen, welche ihm in seinem Papagayenstand eigen gewesen. Wenn man (sagt der vorbenannte Filosof) dieses Mährchen behandelt, wie alle Mährchen, welche von Anbeginn der Welt bis auf diesen

E I N E

M E X I K A N .

GESCHICHTE.

21

Tag in Prosa, oder in Versen, oder in beiden zugleich erzählt worden sind, ohne Ausnahme behandelt werden sollten, — d. i. wenn man (durch eine so leichte Operazion, dafs eine jede Amme Verstand genug dazu hat) das W u n d e r b a r e darin vom Natürlichen scheidet; so wird man linden: „dafs gerade so viel Wahres daran ist, als am Boden sitzen bleibt, nachdem das Wunderbare im Rauch aufgegangen ist." Nehmlich

22

KOXKOX

UND

KIKEQUETZEL

5.

K o x k o x gerieth einst, indem er mit seinem Papagay auf der Hand spazieren ging, in eine Gegend, wohin er noch nie gekommen war,— und da fand er unter einem Rosenstrauche — ein Mädchen schlafen, von dessen Anblick er auf der Stelle so entzückt wurde, dafs er eine gute Weile nicht im Stande gewesen wäre, zu sagen ob er wache oder träume. Den Rosenstrauch ausgenommen, — denn ich sehe nicht, warum es nicht eben so wohl ein Balsamstrauch oder ein Rosinenstrauch oder ein KokospHaumenstrauch hätte gewesen seyn mögen — scheint in dieser Geschichte, wenigstens bis hierher, nichts zu seyn, was der Wahrheit der Natur nicht vollkommen gemäfs wäre. Die Entzückung des armen K o x k o x endigte sich mit einem Schauer, der alle seine Glieder durchfuhr, und auf welchen eben so

E I N É

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

23

schnell ein Strom von geistigem Feuer folgte, der aus seinem Herzen sich in einem Augenblick durch sein ganzes Wesen ergofs, und jedes unsichtbare Fäserchen davon elektrisch machte. Das Mädchen däuchte ihm das lieblichste unter allen Dingen, die jemahls bey Tageslicht oder Mondschein vor seine Augen gekommen waren. Die ernsthaften Lente, welche ihm dieses übel nehmen, sollten (wie T l a n t l a q u a k a p a l l i sagt) bedenken, dafs er seit mehr als sechs und dreyfsig Monden nichts als Papagayen, Truthühner, Schlangen, Affen und Ameisenbären gesehen hatte. Diese Entschuldigung (wofern es einer Entschuldigung bedurfte) scheint sehr gründlich zu seyn. Gleichwohl aber erklären wir hiermit und kraft dieses, dafs wir, aus billiger Rücksicht auf unsre schönen Leserinnen, an. derselben keinen Anlheil nehmen.

24-

KOXKOX

UND

KlKEQUETZEt

6.

E s mag nun aus Vorurtheil, oder aus Aberglauben, oder aus wirklicher Überzeugung dafs es so und nicht anders gewesen, hergekommen seyn, — so viel ist gewifs: dafs die M e x i k a n i s c h e n T i z i a n e , wenn sie die G ö t t i n d e r S c h ö n h e i t , oder, prosaischer zu reden, eine vollkommene Schöne mahlen wollten, sich dazu durch die I d e e der schönen K i k e q u e t z e l (so nennen sie die Nymfe, von welcher hier die Rede ist) zu begeistern pflegten. Sie w a r , sagen sie, gerade und lang wie ein Palmbaum, und frisch und saftvoll wie seine Frücht. Ihre Gestalt war nach den feinsten Verhältnissen gebildet; vom Wirbel ihres Hauptes bis zu den- Knöcheln ihrer schönen Fiifse war nichts eckiges zu sehen noch zu fühlen. Rabenschwarze Haare flössen ihr in natürlichen Locken um den erhabenen Busen.

E I N E

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

25

Sie hatte grofse schwarze Augen, eine kleine Stirne, hochrothe etwas aufgeworfene Lippen, eine Gesichtsfarbe die ins J o n q u i l l e fiel, eine flache aufgestülpte Nase — mit Einem Worte, niemahls (sagen sie) hat die Natur etwas volllcommneres hervorgebracht.

bey rief nen Ha!

Ein junger S i n es e r rümpfte die Nase diesem Gemähide. — Eine S c h ö n e , er, mit grofsen Augen! mit einer kleiStirne! mit aufgestülpten Nüstern! — ha! ha!

Sie mag, b e y m G o l d k ä f e r ! so übel nicht gewesen seyn, schnatterte ein H o t t e n t o t t — und, beym Goldkäfer! wenn sie zu ihren grofsen Augen und dicken Lippen noch kurze dicke Beine und nicht so langes Haar gehabt hätte, ich bin euch nicht gut dafür, dafs ich mich nicht selbst in sie verliebt haben könnte. Der G r i e c h e — Aber, ach! es giebt keine Griechen mehr, welche wissen was die G n i d i s c h e V e n u s war! W i r wollen nicht streiten, lieben Leute!— Der Himmel weifs, was für D r a c h e n es in andern Planeten giebt, die sich selbst für

WituuBs w. xrv. b.

4

26

KOXKOX

UND

K I K E Q U E T Z E L

schön, und alle unsre Liebesgöttinnen Grazien für — Drachen halten!

und

Genug , die Nymfe K i l c e q u e t z e l machte auf K o x k o x e n denselben Eindruck, welchen Juno mit Hülfe des G ü r t e l s d e r V e n u s auf den Vater der Götter, und die schöne Fryne o h n e G ü r t e l auf hundert tausend tapfre Griechen mit Einem Mahle machte; — und darum allein ist es zu thun. Übrigens hätte ich wohl selbst wünschen mögen, dafs die schpne K i k e q u e t z e l einen andern Nahmen geführt hätte. Unsre höchst verfeinerten Ohren sind durch die musikalischen Nahmen unsrer C e f i s e n und C i d a l i s e n , A d e l a i d e n und Z o r a i d e n , N a d i n e n und A m i n e n , B e l i n d e n und R o s a l i n d e n , so verwöhnt, dafs wir uns keine liebenswürdige Person ohne einen schönen Nahmen denken können. Es ist ein blofses Vorurtheil. Aber was für eine "Wirkung würde K i k e q u e t z e l in einer T r a g ö d i e oder in einem H e l d e n g e d i c h t , oder nur in einer kleinen N o v e l l e thun? — K o x k o x und K i k e q u e t z e l ! — Wehe dem Dichter, der den Einfall hätte , diese Nahmen über das mühvolle Werk seiner Nachtwachen zu setzen! Alle Grazien und Liebesgötter könnten ihn nicht gegen das Lächerliche und I n d e c e n t e

E I N E

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

27

in dem Nahmen K i k e q u e t z e l schützen. — Ich •wiederhohle es, ich hätte ihr einen andern "wünschen mögen; — und in der That, warum hätte sie nicht eben so gut Z i l i a oder A l z i r e heifsen können? Ein blofser Zufall war Schuld daran. Als sie mit K o x k o x e n bekannt wurde, hatte sie noch gar keinen N a h m e n , und sie lebten eine geraume Zeit mit einander, ohne dafs es ihm einfiel ihr einen zu geben. Die Wahrheit von der Sache ist: K i k e q u e t z e 1 ( welches in IC o x k o x e n s Sprache ungefähr so viel als F r e u d e d e s L e b e n s bedeutet) war der Nähme, den er ehmalils seinem grauen P a p a g a y gegeben hatte. Einige Sommer nach dem Tilge, da er das Mädchen unter dem besagten Rosenstvauche gefunden hatte, befiel den armen Kikequetzel das Unglück, von einer Schlange gegessen zu werden. K o x k o x war etliche Tage untröstbar über diesen Verlust. Endlich Fiel i h m , u m das Andenken seines geliebten P a p a g a y e n zu erhalten, nichts bessers ein, als seinen Nahmen auf dasjenige überzutragen, was ihm das liebste in der Welt w a r : und so hiefs das Mädchen K i k e q u e t z e l j — « und so hat schon tausendmahl ein eben so

28

K.OXICOX

UND

K l K E Q U E T Z E Ii

zufälliger Umstand Dinge von unendliche Mahl gröfserer Wichtigkeit entschieden. Der Umstand ist an sich so gering, dnfs wir ihn nicht berührt hätten, wenn er nicht dem H e r z e n d e s g u t e n K o x k o x E h r e machte.

E I N E

M E X I K A N .

G E S C H I C H T E ,

CG

7-

Sich hinsetzen und aussinnen, wie dem jungen Mexikaner, in dem Augenblicke, worin wir ihn zu Anfang des vorher gehenden Kapitels verlassen haben, zu Muthe gewesen seyn müsse, ist wahrlich keine so leichte Sache, als sich diejenigen vielleicht einbilden, die es nicht versucht haben. Es ist noch lange nicht damit ausgerichtet, dafs man sich etwa frage: Wie würde m i r an einem solchen Platze gewesen seyn? — Nichts betrügt mehr als diese Operazion; ob wir gleich gestehen müssen, dafs sie, mit gehöriger Vorsichtigkeit und zu rechter Zeit gemacht, allen Arten von Dichtern und Schauspielern — auf allen Arten von Schaubühnen gute Dienste thun kann. Hundert verschiedene Personen würden an K o x k o x e n s Platze auf hunderterley ver-

SO

KOXKOX

UND

KlICEQUETZEr-

schiedene Weise empfunden und gehandelt haben. Z u m Beyspiel: Ein M a h l e r "würde mit dem kältesten Blut einen haarscharfen Umrifs von der schlafenden Mexikanerin genommen haben. Ein i n q u i s i t i v e r R e i s e n d e r hätte die ganze Scene in sein Tagebuch abgezeichn e t , — wenn er hätte zeichnen können; w o nicht, so hätte er wenigstens eine so genaue Beschreibung davon gemacht, als ihm seine E i l f e r t i g k e i t verstattet hätte. Ein A l t e r t h u m s f o r s c h e r würde alle alte Dichter und Prosaschreiber, Münzen, Aufschriften und geschnittene Steine in seinem Kopfe gemustert haben, u m etwas darunter z u suchen, wodurch er diese Begebenheit e r l ä u t e r n könne. Ein P o e t hätte sich gegen über gesetzt, und indessen, bis sie erwacht wäre, ein Liedchen, oder wenigstens ein kleines Madrigal gedichtet. Ein P l a t o n i s c h e r F i l o s o f hätte untersucht, w i e viel ihr noch fehle, um dem I d e a l eines schlafenden Mädchens gleich z u kommen ?

EINE

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

31

Ein P y t h a g o r ä e r , — was ihre Seele in diesem Augenblicke für V i s i o n e n habe? Ein H e d o n i k e r, — ob und wie es thunlich seyn möchte, ihren Schlummer durch eine angenehme Überraschung zu unterbrechen? Ein F a u n würde bey der Ausführung angefangen haben, ohne zu untersuchen. Ein S t o i k e r hätte sich selbst bewiesen, dafs er keine Begierden habe, weil — der Weise keine Begierden hat. Ein echter E p i k u r ä e r liätt' es, nach einer k u r z e n Überlegung, nicht der Mühe werth gefunden, die Sache in l ä n g e r e Überlegung zu nehmen. Ein S k e p t i k e r hätte die Gründe f ü r so lange gegen die Gründe w i d e r abgewogen, bis sie erwacht wäre. Ein S k l a v e n h ä n d l e r hätte sie taxiert, und, nach Berechnung der Unkosten und des Profits, auf Mittel gedacht sie sicher nach Jamaika zu bringen. Ein M i s s i o n a r hätte sich in die Verfassung gesetzt, sie, so bald sie erwachen würde, auf der Stelle zu bekehren.

32

KOXKOX

UND

K I K E Q U E T Z E L

R o b e r t v o n Ä r b r i s s e l würde sich so nahe als möglich zu ihr hingelegt und sie so lange unverwandt betrachtet haben, bis er, dem Satan zu Trotz, gefühlt hätte, dafs sie ihm nicht mehr E m o z i o n mache als ein Flaschenkürbis. S a n k t H i l a r i ó n wäre seines Weges fortgegangen und hätte sie gar nicht angesehen. Und so weiter Aber K o x k o x — was K o x k o x empfand und dachte, das verdient ein besonderes Kapitel.

EIIVTE

M E X I K A N .

GESCHICHTE.

8-

K o x k o x •war, nach der gelehrten Zeitrechnung des Filosofen T l a n t l a q u a k a p a t l i , — gegen welche sich vielleicht Einwendungen machen liefsen, ohne dafs den Wissenschaften ein merklicher Nutzen aus der ganzen Erörterung zugehen würde — K o x k o x , sage ich, war in dem wichtigen Augenblicke, wovon die Rede ist, achtzehn Jahre, drey Monate, und einige Tage, Stunden, Minuten und Sekunden alt. Er war fünf Fufs und einen halben Palm hoch, stark von Gliedmafsen, und von einer so guten Leibesbeschaffenheit, dafs er niemahls in seinem Leben weder Husten, noch Schnupfen , noch Magendrücken, noch irgend eine andre Unpäfslichkeit gehabt hatte; — welchen Umstand der weise und vorsichtige K o r n a r o , in seinem bekannten Buche von den Mitteln alt WIELAKDSW.

X I V . B.

5

54-

KOXKOX

UND

K I K E Q U E T Z E L

zu werden, seiner Mäfsigkeit und einfältige« Lebensart zuschreibt. Die Absonderung seiner Säfte ging also vortrefflich von Statten, und die flüssigen Theile befanden sich bey ihm mit den festen in diesem glücklichen Gleichmafse, welches, nach dem göttlichen H i p p o k r a t e s , die Bedingung einer vollkommenen Gesundheit ist. Alle seine Sinne und sinnlichen Werkzeuge befanden sich in derjenigen Verfassung, welche — in allen Handbüchern der Wolfischen Metafysik — zum E m p f i n d e n erfordert wird. Die Kanäle seiner Lebensgeister waren nirgends verstopft, und die Fortpflanzung der äufsern Eindrücke in den Sitz der Seele, (welcher, im Vorbeygehen zu sagen, ihm so bekannt war als irgend einem Psychologen unserer Zeit) nebst der Absendung der V o l i z i o n e n lind N o l i z i o n e n aus dem Kabinet der Seele in die äufsersten Fäserchen derjenigen Werkzeuge, welche bey Ausführung derselben unmittelbar interessiert waren, ging mit der gröfsten Leichtigkeit und Behendigkeit von Statten. Er hatte ungefähr vor zwey Stunden eine starke Mahlzeit von Früchten und geröstetem M a i z gethan, und ungefähr drey Nöfsel von

E I N E

M E X I K A K .

GESCHICHTE.

35

einem.Trank aus Wasser, Kakaomehl und Honig zu sich genommen, von welchen beiden Ingredienzien das erste bekannter Mafsen sehr nährend, und das andere, nach B o e r h a a v e und allen die E r abgeschrieben hat und die I h n abgeschrieben haben, ein vortreffliches K o n f o r t a t i v ist, dessen K o x k o x weniger als irgend einer von unsern angeblichen Mädchenfressern nöthig gehabt zu haben scheint. Es war ungefähr um vier Uhr Nachmittags, in dem Monat, worin ein allgemeiner Geist der Liebe die ganze Natur neu belebt, alle Pflanzen blühen, tausend Arten von bunten Fliegen und Schmetterlingen, aus ihren selbst - gesponnenen Gräbern aufgestanden, ihre feuchten Flügel in der Sonne versuchen, und zehen tausend vielfarbige W i z i z i l i s auf jungen Zweigen aus ihrem langen "Winterschlummer erwachen, um unter Rosen und Orangenbliithen zu schwärmen, und ihr wollüstiges Leben, welches mit der Blumenzeit anfängt, zugleich mit ihr zu bescliliefsen. Es ist sehr zu bedauern, dafs T l a n t l a q u a k a p a t l i , aus Mangel eines R e a u m ü r s c h e n oder irgend eines andern Thermometers, nicht im Stande w a r , den G r a d der W ä r m e zu bestimmen, auf welchem sich damnhls die Luft befand.

36

KOXKOX

UND

KIKEQÜETZEL

Es war ein schöner, -warmer Tag, sagt er, die L u f t rein, und der oberste Theil derselben lasurblau; und es wehte ein angenehmer Wind von Nord-West-West, welcher die Sonnenhitze so gut mäfsigte, dafs das Roth auf K o x k o x e n s Wangen, etliche Augenblicke zuvor eh* er das schlafende Mädchen erblickte, nicht höher war, als es auf den innersten Blättern -einer neu aufgehenden Rose zu seyn pflegt. Unser Filosof — welcher glaubt, dafs alle diese Umstände bey Berechnung dfer Ursachen und Wirkungen der menschlichen Leidenschaften mit in die Rechnung gebracht werden müssen — ist eben so genau in Angebung aller der kleinen Bestimmungen, unter welchen die schöne K i k e q u e t z e l dem jungen Mexikaner in die Augen stach. Seiner Beschreibung nach, war sie gerade so gekleidet, wie die Grazien der Griechen oder die Töchter der Karaiben auf den Antillen, das ist in derjenigen Kleidung, wegen welcher der ältere F l i n i u s — vermuthlich in einem Anstois von schlimmer Laune — mit der N a t u r einen Zaiilc anfängt, der uns (alles wohl überlegt) der unbilligste unter allen scheint, welche jemahls ein mifsmüthiger Filosof mit ihr angefangen hat. O 1) Flin. Hislor. Natural. L. VII. in prooemio.

E I N E

MEXIICAN.

GESCHICHTE.

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Sie lag auf einem grünen Rasen, dessen dichtes blumenvolles Gras sie ( w i e Homer von seiner bekannten Göttergruppe auf dem Ida sagt) sanft empor zu heben schien. Ihr Haupt ruhte auf einem Haufen der schönsten Blumen, welche sie vermuthlich selbst (es wäre denn, dafs man glauben wollte, dafs Zeiyr oder irgend ein andrer Sylfe ihr diese Galanterie gemacht habe) zu diesem Gebrauch zusammen getragen hatte. Ihr rechter Arm — dessen schöne Form unser Filosof nicht unbemerkt läfst — verbarg einen Theil ihres Gesichts, und bekam durch die Verkürzung, und den sanften D r u c k , den er von seiner Lage litt, einen Reitz, der — w i e alle Grazien — sich besser fühlen als zeichnen , und besser zeichnen als beschreiben läfst. — Das leichte Gesträuch, welches eine A r t von Sonnenschirm um sie zog, warf kleine bewegliche Schatten auf sie hin, welche die pittoreske Schönheit des G e m ä h i d e s — denn noch war es nichts mehr für unsern Mann — erheben halfen.

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KOXKO X UND KlIiEQXIETZEIi

9-

T l a n t l a q u a k a p a t l i untersteht sich aus verschiedenen Ursachen nicht, zu bestimmen, •wie schön das Mädchen gewesen sey; — denn E r s t l i c h , (sagt er) fehlen mir dazu die nöthigen Originalgemahlde, Zeichnungen, Abdrücke, u. s. w. Z w e y t e n s , haben wir kein allgemein angenommenes Mais der Schönheit, und D r i t t e n s , ist auch keines m ö g l i c h , — bis alle Menschen, an allen Orten und zu allen Zeiten, aus e i n e r l e y A u g e n sehen, und den Eindruck mit e i n e r l e y G e h i r n auffassen werden; — und das, spricht er, hoffe ich nicht zu erleben. Indessen getraut er sich so viel zu behaupten, dafs sie, so wie sie gewesen, dem ehrlichen K o x k o x das schönste und lieblichste Ding in der ganzen Natur geschienen habe; —

EINE

M E X I K A N .

GESCHICHTE.

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und -wir zweifeln, ob es möglich sey ihm das Gegentheil zu beweisen. Die Wahrheit zu sagen, bey einem Dinge, welches das einzige in seiner Art ist, hat weder Vergleichung noch Übertreibung Statt. K o x k o x konnte keine Idee von etwas besserm haben als er vor sich sah. Seine Einbildungskraft hatte gar nichts bey der Sache zu thun; seine Sinne und sein Herz thaten alles. K i k e q u e t z e l hätte so schön seyn mögen als K l e o p a t r a , P o p p ä a , R o x e l a n e oder Frau von M o n t e s p a n , oder, wenn ihr lieber wollt, so schön als O r i a n e , M a g e l l o n e , Frau K o n d ü r a m u r , und die Prinzessin D u l c i n e a selbst, ohne dafs sie ihm um ein Haar schöner vorgekommen wäre, oder um den hundertsten Theil des Drucks eines Blutkügelchens mehr Eindruck auf ihn gemacht hätte, als so wie sie vor ihm lag. „ D a s i s t w u n d e r l i c h . " — E s ist nicht anders, mein Herr. Unser Autor — dessen verloren gegangene Schriften der geneigte Leser um so mehr mit mir bedauern wird, als uns diese Probe von seinem Beobachtungsgeiste keine schlechte Meinung giebt — geht noch weiter, indem er sich sogar getraut, die e i g e n s t e n E m p f i n -

4-0

KOXKOX

UND

KlKE(JÜETZEL

d ü n g e n von Augenblick zu Augenblick zu bestimmen, welche K o x k o x , einem so unverhofften Gegenstand gegen über, habe erfahren müssen. Beym ersten Anblick, spricht er, schauerte der Jüngling, in einer Art von angenehmem Schrecken, zwey und einen halben Schritt zurück. Im Z w e y t e n Momente guckte er, mit aller Begierde eines Menschen der sich betrogen zu haben furchtet, wieder nach ihr hin. Der Durchmesser seines Augapfels wurde um eine halbe Linie gröfser; er hielt die linke Hand etwas eingebogen vor seine Stirne, so dafs der Daumen an den linken Schlaf zu liegen kam, und schlich sich allgemach mit zurück gehaltenem Athen näher, um sie desto besser betrachten zu können. Im D r i t t e n Momente glaubte er einen kleinen Unterschied zwischen ihrer Figur und der seinigen wahrzunehmen, und eine Bestürzung von der angenehmsten Art, welche ihn bey dieser Entdeckung befiel, nahm Im V i e r t e n , und F ü n f t e n dergestalt zu, dafs er im S e c h s t e n eine Art von Beklemmung ums Herz fühlte, welche sich ungefähr im

EINE

M E X I K A N .

GESCHICHTE.

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N e u n t e n oder Z e h e n t e n m i t der oben besagten Ergiefsung des subtilen elektrischen Feuers aus seinem Herzen durch alle Adern, Kanäle und Fasern seines ganzen Wesens e n d i g t e. Dieser letzte Augenblick i s t , nach der Meinung unsers Autors, d e r a n g e n e h m s t e i n d e in g a n z e n L e b e n eines Mens c h e n ; und dasjenige, was er darüber filosofiert, scheint uns nicht u n w ü r d i g z u seyn, in einem kleinen Auszuge z u einem eigenen Kapitel gemacht zu werden.

WIELANDS w .

X I V - B-

6

/|.2

Koxxox

UND KlKIiQUETZEL

10.

D i e ganze Natur, spricht er, zeugt von der Güte und Weisheit ihres Urhebers. Aber in der ganzen Natur überzeugt mich, — T l a n t l a q u a k a p a t l i , M i x q u i tl i p i k o t s o h o i t l ' s S o h n , nichts vollkommner und inniger von dieser gröfsten und besten aller Wahrheiten, als die Beobachtung der besondern Aufmerksamkeit, welche dieser unsichtbare Geist der Natur darauf gewandt hat, — den höchsten Grad des Vergnügens, dessen der Mensch fähig ist, mit denjenigen Empfindungen unauflöslich zu verbinden, welche den grofsen Endzweck seines Daseyns unmittelbar befördern. Glaub* ich, am Ende einer feurigem Bestrebung meines Geistes durch die krummen Irrgänge der Einbildung, eine schon lange vor

EINE

MEXIICAK,

GESCHICHTE.

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mir fliehende W a h r h e i t e r h a s c h t z u haben; Oder, unterhalt' ich mich, einsam und in mich selbst gesammelt, mit dem A n s c h a u e n e i n e s t u g e n d h a f t e n K a r a k t e r s ; — ich seh' ihn in Handlung gesetzt, in Versuchungen verwickelt, mit Schwierigkeiten umringt; — ich zittre für ihn; — und nun, in dem grofsen A u g e n b l i c k e d e r E n t s c h e i d u n g , seh' ich ihn s e i n e r w ü r d i g h a n d e l n , und meine schüchterne Hoffnung durch die schönste der Thaten überraschen; Oder, m e i n b e s s e r e s S e l b s t hat in diesem Augenblick e i n e n S i e g ü b e r d a s u n e d l e r e erhalten; — ich habe eine eigennützige Bewegung unterdrückt, welche mich verhindern wollte etwas Gutes zu thun, da ich einen Wink dazu bekam; — oder eine übelthätige, welche mich aufwiegelte eine Beleidigung zu rächen, weit ich es, ohne Besorgnifs mir selbst dadurch zu schaden, hätte thun können; Oder, i c h h a b e d e m s i i f s e n Z u g d e r M e n s c h l i c h k e i t g e f o l g e t , und mit sanfter mitleidiger Hand die Thränen des Unglücklichen abgewischt, die Freude ins bleiche Gesicht des Bekümmerten zurück gerufen: In allen diesen, und in allen ähnlichen Fällen, fühle ich, in dem entscheidenden Augenblicke, diese göttliche Flamme sich mit einer

4-4-

KOXKOX

UND

K I K E Q U E T Z E L

unaussprechlichen geistigen Wollust durch mein ganzes Wesen ergiefsen, und den s i t t l i c h e n Menschen mit dem a n i m a l i s c h e n wie in E i n s zusammen schmelzen; — und ich sag* und schwöre, dafs keine andre Wollust so süfs, so befriedigend, und — wenn ihr mir diesen Ausdruck gestatten wollt — so v e r g ö t t e r n d ist als diese. Ich habe, fahrt er fort, a u c h unter Rosen gelegen, o M o t e z u m a ! Ich habe mich auch in den Düften des Rosenstrauchs, im säuerlichsüfsen Nektar des Palmbaums, und in den süfsern Küssen des Mädchens berauscht. — Hab' ich nicht den Becher der Freude rein ausgetrunken, und den letzten Tropfen von meinem Nagel abgesogen ? — Aber, ich behaupte dir und schwöre, dafs die Wollust eine gute That zu thun ;— die gröfste aller Wollüste ist! Sanft ruhe deine Asche, weiser und empfindungsvoller T l a n t l a q u a k a p a t l i ! und Friede sey mit deinem Schatten, w o er auch irren mag! Wenn schon dein Nähme in keinem Gelehrtenregister prangt, und kein hohläugiger Kommentator, in eine Wolke von Lampendampf (das Sinnbild seiner viel wissenden Dummheit) eingehüllt, p o l y g l o t t i s c h e Noten mit schwerer Arbeit zu deinen Werken zusammen getragen hat: so soll dennoch — oder

E I N E

M E X I K A N .

G E S C H I C H T E .

4.5

mein weissagender Genius miifste mich gänzlich betrügen — dein Gedächtnifs noch dauern, wenn ich lange, wie du selbst, Staub bin, und von dem Menschenfreunde gesegnet werden, dessen klopfendes Herz dir die groke Wahrheit beschwören hilft: dafs die Wollust eine gute That zu thun die gröfste aller Wollüste ist. Wenn der Urheber des Menschen (so beschliefst mein Freund T l a n t l a q u a k a p a t l i seine Betrachtung) den Trieben, von welchen die Vermehrung unsrer Gattung die Folge ist, einen Theil dieser göttlichen Wollust, von welcher ich rede, eingesenkt hat: so kann ich nichts anders vermuthen, als dafs es d a r u m geschehen sey, Aveil dieses Geschäft, wiewohl an sich selbst blofs animalisch, für das menschliche Geschlecht von solcher Wichtigkeit ist, dafs er es in dieser Betrachtung würdig fand, die Menschen durch dieselbe Belohnung, die er mit den edelsten Handlungen verbunden hat, dazu einzuladen.

4.6

KOXKOX

UNDKIKEQUETZEL

] l.

D i e Empfindungen des jungen Mexikaners waren so heftig, dafs er sich an einen Baum, der Schlafenden gegen über, lehnen mufste, um nicht unter ihrer Gewalt einzusinken. Die Freude, eine Gesellschaft zu finden, von welcher er sich mehr Vergnügen und Vortheil versprach als von seinen Papagayen, Die Anmuthung, welche ihm ihre Ähnlichkeit mit ihm einAöfste, Eine andere unbekannte Regung, die gerade aus dem Gegentlieil entsprang, Das Vergnügen, an ihrem blofsen Anschauen, und die dunkle Ahnung, welche seine Brust mit noch süfsern Erwartungen schwellte — Alle diese Regungen, welche ihm so fremd und doch so natürlich, so angenehm und doch so unverständlich waren, — konnten, (wie

E I N E

MEXIICAN.

GESCHICHTE.

4.7

T l a n t l a q u a k a p a t l i meint) wenn w i r auch alles dasjenige, was die Umstände des Subjekts, der Z e i t , des Ortes, u. s. w . dazu beytragen mochten, abziehen, nicht weniger als die angegebene W i r k u n g hervorbringen. Es ist in der menschlichen Natur, dafs w i r uns das Avirkliche Vorhandenseyn eines Gegenstandes, den uns die Augen bekannt gemacht haben, durch einen andern Sinn zu b e w e i s e n suchen, welcher ( w i e alle Ammen und Kinderwärterinnen zehentausendmahl zu beobachten Gelegenheit haben) der e r s p e i s t , durch den w i r u n s e r e i g e n e s D a s e y n fühlen, und der eben dadurch zum W e r k z e u g wird, w o m i t wir, von der Natur selbst dazu angewie* D s e n , die Wirklichkeit der Fänomene, die uns umgeben, auf die Probe setzen. Nichts w a r demnach natürlicher als der Zweifel,

der

Koxkoxen

nach- einer aufstieg,

kleinen Weile

in

„ o b das, was er sah,

auch wirklich s e y ? " Eben so natürlich w a r , dafs er diesen Z w e i f e l kaum empfand, als er sich schon der schlafenden N y m f e näherte, u m sich durch den vorbesagten Sinn z u erkundigen, was er von der Sache z u glauben hätte.

48

Koxicox

UND

KIKEQUETZEL

Er streckte schon seine rechte Hand aus, — als ein abermahliger Schauder sein Blut aus allen Adern gegen die Brust zurück drückte; und — ivie ein Pfeil, der unmittelbar am Ziele alle seine Kraft verloren hat — sank der nervenlose Arm zurück. Er betrachtete das Mädchen von neuem: und da sich mit jedem Augenblicke seine Furcht verlor, und die Begierde, sich ihrer K ö r p e r l i c h k e i t zu versichern, zunahm; so streckte er noch einmahl seine rechte Hand aus, bückte sich mit halbem Leib über sie hin, und legte, so sacht es ihm möglich war, die zitternde Hand auf ihre' linke Hüfte. Man müfste gar nichts von der menschlichen Natur verstehen, sagt der Mexikanische Filosof, wenn man sich einbilden wollte, dafs er es bey diesem ersten Versuch habe bewenden lassen können. Die Wichtigkeit der Wahrheit von der er sich versichern wollte, und das Vergnügen, welches mit der Untersuchung unmittelbar verbunden war, vereinigten sich mit einander, ihn zu vermögen das Experiment fortzusetzen. Unvermerkt, und mehr durch einen mechanischen Instinkt als mit Vorsatz, schweifte die forschende Hand von dem Orte, den sie zu-

Eine

Mexikan.

Geschichte.

49

erst berührt hatte, zum sanft gebogenen Knie herab. Was in diesen Augenblicken in ihm vorging, läfst sich nicht beschreiben. Die Wahrheit ist, dafs er selbst unfähig gewesen wäre Rechenschaft davon zu geben. Denn ( u m den Leser nicht unnöthig aufzuhalten) seine Augen fingen an trüb zu werden, und vor lauter Empfindung sank er ohne Empfindung neben die schöne K i k e q u e t z e l h i n , so dafs die Hälfte seines Gesichts ungefähr eine Spanne und anderthalb Daumen über ihrem besagten linken Knie aufzuliegen kam. Das Mädchen erwachte in diesem nehmlichen Augenblicke.

W j e l a k d s W. XIV. B.

7

50

KOXKOX UND

KjJtE9UETZEI.

12.

T l a n t l a q u a k a p a t l i findet, eh' er weiter geht, vor allen Dingen nöthig, uns zu berichten , dafs die schöne K i k e q u e t z e l , zu der Zeit, da Mexiko in den Wassern des oben besagten Kometenschwanzes unterging , ein Kind von eilf bis zwölf Jahren gewesen sey. Mit diesem armen Kinde auf dem Rücken habe sich ihre Mutter auf einen hohen Berg geflüchtet, wo sie sich, bis das Gewässer wieder abgeflossen, in einer Höhle aufgehalten, und von den Eyern einiger Vögel, die in dem Felsen nisteten, gelebt hätten. Da diese unglückliche Mutter, auf allen ihren Herumschweifungen in dem neuen Lande, welches aus dem Wasser wieder hervor gegangen war, keine Spur von Menschen gefunden hatte: so blieb ihr nichts anders übrig , als sich an den trostloseil

E I N E

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

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Gedanken zn gewöhnen , dafs sie und ihre Kleine Tochter die einzigen Geretteten Seyen. Sie waren also eines dem andern die ganze Welt. Alle ihre Empfindungen koncentrierten sich in ihre gegenseitige Liebe. Das kleine Mädchen kannte kein gröfseres Vergnügen , als ihrer Mutter die Sorge für ihre Erhaltung so gut sie konnte zu erleichtern, ihr die schönsten Blumen zu bringen, die sie auf ihren kleinen Wanderungen fand, und die Thränen, die oft wider ihren Willen dem geheimen Kummer ihres Herzens L u f t machten , von ihren Wangen und von ihrem Busen wegzuküssen. Drey Sommer hatten sie auf diese Weise mit einander verlebt, als die gute Mutter eins-' mahls das Unglück hatte, durch einen Fall von einem K o k o s b a u m , auf den sie sich, um die Früchte zu pflücken, gewagt hatte, das Leben einzubüßen. Das trostlose Madchen , nachdem sie etliche Tage lang alles mögliche versucht hatte die Todte wieder zu beleben, sah sich endlich gezwungen, ihre Hoffnung .aufzugeben, und entfernte sich von dem traurigen Orte. Sie gerieth in unbekannte Gegenden, deren natürliche Fruchtbarkeit ihr allenthalben

52

K O X K O X

UND

K I KEQIT E T Z E t

anbot, was sie zu Erhaltung ihres Daseyns nöthig hatte. Ihre Mutter hatte ihr einige unvollkommene Begriffe von dem vorigen Zustand ihres Volkes gegeben. Sie hatte sich so viel daraus gemerkt, dafs es e i n e A r t v o n M e n s c h e n gegeben habe, welche nicht völlig so gewesen wie sie selbst. Sich deutlicher zu erklären hatte die Mutter für unnöthig gefunden, da das Mädchen noch ein Kind war, und bestimmtere Kenntnisse ihr ohnehin, in dem einsamen Zustande wozu sie verurtheilt schien, zu nichts dienen konnten. Indessen wufste das Mädchen schon genug, um ein sehr lebhaftes Verlangen in sich zu fühlen, einen von diesen Menschen zu finden; wenn es auch nur gewesen wäre, um zu wissen w i e sie aussähen. Sie war in der vollen Bliithe der Jugend, als K o x k o x sie zuerst antraf; und aufser der besagten Neugier, welche täglich wuchs, hatte ihr Herz, durch die Liebe zu ihrer Mutter, und die Gewohnheit, in den melankolischen Stunden der guten Frau ihr trauern und weinen zu helfen, eine stärkere Anlage zu zärtlichen Empfindungen bekommen, als die blofse Natur den meisten ihres Geschlechts zu geben pflegt.

E I N E

MEXIKAK.

GESCHICHTE.

Sie mufste also e n t s e t z l i c h fieyn, sagt T l a n t l a q u a k a p a t l i .

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zärtlich

Der Abkürzer dieser anekdotischen Geschichte hält es für seine Schuldigkeit, eh' er zu demjenigen fortschreitet, -was auf das Erwachen der schönen und zärtlichen K i k e q u e t z e l folgte, seine a u f . E u r o p ä i s c h e M a n i e r schönen und zärtlichen Leserinnen zu ersuchen, es — nicht einer vorsetzlichen Absicht, die Delikatesse ihrer Empfindungen zu beleidigen, oder der Würde ihres Geschlechtes (dessen Verehrer er allezeit zu bleiben hofft) zu nahe zu treten, — sondern lediglich der Verbindlichkeit, den Pflichten eines getreuen Kopisten der Natur genug zu t h u n , beyzumessen, wenn er sich in dem folgenden Kapitel genöthiget sehen wird , da» Betragen dieser jungen Mexikanerin unver« schönert, so wie es war darzustellen; ein Betragen, von welchem er besorgen mufs, dafs es, ungeachtet aller seiner Bemühungen das A u f f a l l e n d e darin zu mildern, der besagten D e l i k a t e s s e seiner schönen Gönnerinnen anstöfsig werden dürfte. Er bittet sie indessen zu bedenken, ob es nicht gleichwohl zu einer Entschuldigung der jungen Mexikanerin diene, dafs sie — in den Umständen, worin sie sich ohne ihr Verschul-

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KOXKOX

UND

KIKEQTJETZEL

den befand, und bey dem gänzlichen Mangel aller Vortheile der Ausbildung und Politur •welche nur Erziehung und Welt geben können — nichts besseres seyn konnte als e i n W e r k d e r r o h e n N a t u r ; oder, mit andern Worten, dafs es unbillig wäre den wilden Gesang einer ungelehrten Nachtigall zu verachten, weil eine ihrer Schwestern das Glück gehabt hat in einem Käficht erzogen zu werden und nach den Noten eines H i l l e r oder N a u m a n n singen zu lernen.

E I N E

M E X I K A K ,

GESCHICHTE.

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13.

W i e sich die C r e b i l l o n i s c h e Fee T o u t o u R i e n , — oder die Fee K o n k o n i b r e , —• oder die sehr decente Dame Z u l i k a , — oder ivie sicli irgend eine von den Celimenen, Julien, Beiisen, Araminten, und Cidalisen des besagten Französischen Sittenmahlers — in einem ä h n l i c h e n F a l l e aber bey v e r ä n d e r t e n U m s t ä n d e n , es sey nun in irgend einem anmuthigen Bosket, oder in einem wollüstigen Kabinet auf einem rosenfarbnen L o t t e r b e t t e 2 ) mit silbernen Blumen betragen hätte, — liefse sich, wenn es nöthig w ä r e , mit der gröfsten moralischen Gewifsheit bestimmen, ohne dafs man dazu eben ein C r e b i l l o n seyn müfste.

2 ) U m dem Hrn. C a m p e die Verantwortung dieser Verdeutschung zubürden,

des Worts

gestehe ich,

Sofa

nicht

allein

auf-

dafs es mir h i e r an seinem

rechten Orte zu stehen scheint.

d. H.

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KOXKOX

UND

KIKEQ.UETZEL

Und wie sich unsre vorbesagten Leserinnen selbst sammt und sonders in solchen Umständen betragen würden , ist eine Sache, welche wir ihnen zu gelafsner Überlegung in einer e r n s t h a f t e n einsamen Stunde überlassen; mit der beygefügten freundschaftlichen Verwarnung, dafs diejenigen unter ihnen, welche ihr g r o f s e s S t i i f e n j a h r noch nicht zurückgelegt haben, oder (was auf Eines hinaus kommt) welche sich noch den Nachstellungen unternehmender Liebhaber ausgesetzt sehen, — ehe sie diese Selbstprüfung anstellen — sich in ihr Kabinet einschliefsen, und Befehl ertheilen möchten dafs sie nicht zu Hause wären, wenn sich auch der ehrerbietigste unter allen Liebhabern an der Pforte melden sollte. Was indessen aber auch das Betragen irgend einer erdichteten oder unerdichteten heutigen Dame in dergleichen Fällen seyn möchte — so kann es, wie gesagt, nicht zur R i c h t s c h n u r für die liebenswürdige K i k e q u e t z e l genommen werden , welche ( u m ihr nicht zu schmeicheln) im Grunde weder mehr noch weniger als eine W i l d e w a r , und — was einen wesentlichen Umstand in der Sache ausmacht — Ursache hatte, sich f ü r das e i n z i g e Mädchen in der Welt zu halten.

E I N E

MEXIKAK,

GESCHICHTE.

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Ich — der irh es, ohne eine aufserordentliclie Reitzung oder eine giäfsliche Verstimmung des Instruments meiner Seele, nicht über mein Herz bringen kann, einen W u r m unter meinen Füfsen zu zertreten — verabscheue nichts so sehr, als den blofsen Schatten des Gedankens, auch nur zufälliger Weise eines von den schwachen Geschöpfen z u ärgern, deren k a k o c h y m i s c h e Seele nichts als Molken und leichte Hühnerbrühen verdauen kann, und jede stärkere Speise, so gesund sie auch für g e s u n d e Leute seyn m a g , mit Ekel und Beschwerung avw y.ai xarw "wieder von sich giebt. Sollte also, wider alles bessere Verhoffen , dieses unschuldige Buch — welches ( w i e ich schon erklärt zu haben glaube) keine NahrungÖ für blöde Magen ist — von ungeC" & fahr einem solchen schwachen Bruder in die Hände fallen: so ersuche ich ihn hiermit dienstlichen Fleifses, — und nehme darüber alle meine werthen Leser zu Zeugen dafs ich es gethan habe — das Buch ohne weiteres, wenigstens beym Schlüsse dieses Kapitels, wegzulegen , u n d , es sey nun durch Aufsagung des Griechischen Alfabets, ( w i e dem Kaiser A u g u s t in einem ähnlichen Falle gerathen w u r d e ) oder durch jedes andere M i t t e l , welches er aus Erfahrung am bewährtesten gefunden hat, alle Gedanken weiter fortzulesen iich aus dem Sinne zu schlagen. Widrigen W I I I A N D S W.

x i v . B.

a

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KOXKOX

UND

KIKEQDETZEL

Falls und dafern ein solcher, oder eine solche, dieser meiner ernstlichen Warnung ungeachtet , mit Lesen weiter fortfahren, und dadurch auf irgend eine Weise zu Schaden kommen, oder durch ekelhaftes Aufstofsen oder Erbrechen dessen, was er solcher Gestalt, naschhafter Weise, zu sich genommen hätte, andern ehrlichen Leuten, oder auch mir selbst beschwerlich fallen sollte; ich mich hiermit einf ü r allemahl gegen alle daher entspringen mögende Verantwortung zierlichst verwahrt, und den besagten Leser (oder Leserin) selbst, für alles sich und andern dadurch zuziehende Übel, für jetzt und allezeit verantwortlich gemacht haben will.

EINE

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

59

14.

In dem Augenblicke, da sie erwachte, lag ( w i e w i r wissen, — s i e aber nicht wissen, konnte bis sie es sah) ein Jüngling, der e r s t e den sie in ihrem Leben sah, und der, nach unsrer Art zu reden, mehr dem jungen Herkules als dem jungen Bacchus glich, in einem dem Tod ähnlichen Zustande zu ihren Fiifsen, mit der Hälfte seines Gesichts eine Spanne und anderthalb Daumen über ihrem linken Knie aufgestützt. Damen können sichs leichter vorstellen, als ichs beschreiben könnte, wie sehr sie über diesen Anblick erschrak. Durch die Bewegung, welche sie in der ersten Bestürzung machte, veränderte das Gesicht des armen K o x k o x seine Lage ein wen i g , ohne den Vortheil derselben zu verlieren — wofern es nicht gar dabey gewann;

Co

KOXKOX

U N D

KIICEQÜETZEL

wie sich genauer bestimmen liefse, wenn der Filosof T l a n t l a q u a k a p a t l i seiner zwar sehr umständlichen aber etwas undeutlichen Beschreibung eine genaue Z e i c h n u n g beyzufügen nicht vergessen hätte; —* eine Unterlassung, u m derentwillen eine Menge gelehrter und mühsamer Beschreibungen des A r i s toteles, T h e o f r a s t , Plinius, Avicenn a und andrer Naturforscher der Welt unbrauchbar geworden sind. Der erste Schrecken des Mädchens verlor sich im dritten oder vierten Augenblicke da sie ihn betrachtete, und verwandelte sich in das lebhafteste Vergnügen, das sie jemahls empfunden hatte, — und welches sie natürlicher Weise beym Anblick eines Wesens fühlen mufste, das ihr z u ä h n l i c h war u m k e i n M e n s c h , und n i c h t ä h n l i c h gen u g u m ein Mensch von i h r e r A r t zu seyn. Sollte es wohl, dachte sie, einer von den Männern seyn, von denen mir meine Mutter sprach, ohne dafs ich sie recht verstehen konnte? Unfehlbar ist es einer, flüsterte ihr etwas in ihrem Busen auf diese Frage zur Antwort. Des Menschen H e r z hat seine e i g e n e L o g i k , und — mit Erlaubnifs des ehrw.

EINE

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

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Pater M a l e b r a n c h e , eine sehr gute — D a n k sey dir dafür, liebe Multer Natur! Sie thut uns unaussprechliche Dienste. Was w i r w ü n s c h e n ist uns w a h r , so lang* es nur immer möglich ist dafs wir das Gegentheil unsern eignen Sinnen abdisputieren können. „ W i e kam er hierher? W o war er zuvor ? W a r 11 m liegt er hier zu meinen Füfsen ? W a r u m liegt sein Gesicht eine Spanne und anderthalb Daumen über meinem linken Knie? „ S c h l ä f t er ? W i e mag er A v o h l aussehen, Avenn er wacht? „ W i e wird er sich wohl geberden, er mich erblickt?

wenn

„ W i r d er mich a u c h so lieb haben wie meine Mutter mich lieb h a t t e ? " Dergleichen leise Stimmen liefsen sich noch mehr in ihrem Busen hören; aber es würde kaum möglich seyn, sie in irgend eine e x o t e r i s c h e S p r a c h e zu übersetzen. Aber noch gab der Schlafende kein Zeichen des Lebens von sich. A c h ! rief sie mit einem ängstlichen Seufzer, sollte er todt seyn? —

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KOXKOX

UND

KIICEQÜETZEL

Sie konnte diesen Zweifel nicht ertragen. Sie legte zitternd ihre blasse Hand auf sein Herz — Er war n i c h t todt — denn in diesem Augenblick erwachte er! Sie fuhr zusammen, und zog mit einem Sclirey des Schreckens und der Freude ihre Hand zurück. K o x k o x kam zu sich selbst, ehe sie sich ganz von ihrem angenehmen Schrecken erhohlt hatte. Er hob seine Augen auf, und sah sie — mit einem so freudigen Erstaunen, mit ein^m so lebhaften Ausdruck von L i e b e und V e r l a n g e n an, und seine Augen baten so brünstig um G e g e n l i e b e ; — dafs sie — die keinen Begriff davon hatte dafs man anders aussehen könne als es einem ums Herz ist — sich nicht anders zu helfen wufste, als ihn — wieder so freundlich anzusehen als sie nur immer konnte. Die Wahrheit ist, dafs sie ihn so z ä r t l i c h ansah , als die feurigste Liebhaberin einen Geliebten ansehen könnte, der nach sieben langen Jahren Abwesenheit, und nach

E I N E

M E X I K A N .

GESCHICHTE.

63

so vielen Abenteuern als Ulysses auf seiner zehnjährigen Wanderung bestand, wohlbehalten und getreu in ihre Umarmungen zurück geflogen wäre. — Aber was das sonderbarste dabey war, i s t , dafs sie weder w u f s t e noch wissen k o n n t e , w a r u m sie ihn so zärtlich ansah. In der That wufste sie gar nicht wie ihr geschah; genug, es war ihr so wohl bey diesen Blicken und Gegenblicken, dafs ihr däuchte, sie fange eben jetzt zu leben an.

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KOXKOX

RUU

KIKEQUETZEL

15D i e Weisen haben längst bemerkt, dafs etwas M a g i s c h e s in dem menschlichen Auge sey; und bekannter Mafsen hat man die Sache weit genug getrieben, zu glauben, es gebe Leute, •welche mit einem blofsen Blicke v e r g i f t e n könnten; — ein Glaube, der zu allen Zeiten unter den Filosofen wenig Beyfall gefunden hat. Aber dafs ein blofser Blick zuweilen hinlänglich sey, aus einem w e i s e n M a n n einen Gecken, aus einem M a s ü l h i m einen M a n n , und aus einem B r u d e . r L u z e einen P r * * p zu machen, — das sind bekannte Wahrheiten. K o x k o x sah die schöne K i k e q u e t z e l immer f e u r i g e r an; S i e K o x k o x e n immer z ä r t l i c h e r . „ O! wie lieb hab' ich dich!" — ihr seine Augen.

sagten

„ O ! wie angenehm ist mir das!" — antworteten die ihrigen.

E I N E

M E X I K A K .

GESCHICHTE.

65

„ I c h möchte dich auf einen Blick aufessen, " sagten jene. „ Ich sterbe vor Vergnügen wenn du mich länger so ansiehst, " sagten diese. Diese Augensprache dauerte, nach unserm Autor, ungefähr eine IVTinute, weniger etliche Sekunden, als K o x k o x , der noch immer zu ihren Füfsen lag, — nicht als ob er einen bestimmten Vorsatz dabey gehabt hätte, sondern in der That aus blofsem Instinkt, — seine beiden Arme um ihren Leib schlug. K i k e q u e t z e l , die sich einbildete, dafs sie ihm keine Antwort schuldig bleiben dürfe, legte ganz langsam und leise ihre rechte Hand auf seine linke Schulter, — und erröthete bis an die Fingerspitzen, indem sie es that. K o x k o x drückte sein Gesicht an ihren Busen. Das Mädchen fuhr sanft streichelnd an seiner linken Schulter bis zur Brust herab, und schien sich sehr am Fochen seines Herzens zu ergetzen. T a n 11 a q u a k a p a t l i , dessen Fehler überhaupt zu wenig Umständlichkeit nicht ist, fährt hier fort, uns von Umstand zu Umstand WIEIABDS

W . XIV. B,

9

66

KOXKOX

UND

K I K E Q Ü E T Z E L

zu berichten, wie die N a t u r mit diesen ihren Kindern gespielt habe. Keine falsche Bescheidenheit — denn Natur ist uns in allen ihren Wirkungen ehrwürdig — sondern blofs unser Unvermögen, die Zartheit der Sprache des Mexikanischen Filosofen in die unsrige übertragen zu können, verbietet uns, ihm weiter zu folgen. Die guten Kinder wufsten nichts anders. „Sie machten also nicht mehr Umstände als diefs?" fragt A r a m i n t e . — Keinen einzigen!

Eike Mexikak. Geschichte.

67

16.

W e n n uns nicht alles betrügt, so ist das, was wir unsern Lesern in den beiden vorher gehenden Kapiteln zu lesen gegeben haben, p u r e N a t u r . So viel ist gewifs, die Kunst 3) hatte keinen Antheil weder an den Gefühlen dieser Alt-Mexikanischen Liebenden, noch an der Art, wie sie sich ausdrückten. Und nun fragt sich: — „ V e r l i e r t oder g e w i n n t die N a t u r dadurch, wenn sie des Beystands und der Auszierung der K u n s t entbehrt?" 3)

Das Wort

K u n s t wird in diesem und dem

folgenden Kapitel in

der weitläufigsten Bedeutung,

in so fern es gewöhnlich der N a t u r entgegen gestellt wird, genommen.

68

KOXKOX

UND

KIKEQUETZEL

Eine verwickelte Frage! ein wahrer G o r d i s c h e r K n o t e n , den wir, nach dem Beyspiele der raschen Leute die mit allem gern bald fertig sind, geradezu z e r s c h n e i d e n könnten, wenn wir nicht für besser hielten, vorher zu versuchen, ob er nicht mit Hülfe einer leichten Hand und mit ein wenig Flegma aufzulösen sey. Es giebt eine K u n s t , welche die Werke der Natur wirklich v e r s c h ö n e r t ; und eine a n d e r e , welche sie, unter dem V o r w a n d e der Verbesserung oder Ausschmückung, v e r unstaltet. Wiewohl nun die e r s t e allein des Nahmens der Kunst würdig ist, so wird sie ihn doch so lange mit ihrer Bastardschwester theilen müssen, bis man für diese einen eigenen Nahmen erfunden haben wird. Einige bestimmen das Verhältnifs der Kunst gegen die Natur nach dem Verhältnifs eines Kammermädchens gegen ihre Dame; andere nach demjenigen, welches der S c h n e i d e r , der F r i s e u r , der B r o d e u r , und der P a r f ü m e u r — vier wichtige Erzämter! — gegen ein gewisses Geschöpf haben, welches, je nachdem man einige besondere Veränderungen damit vornimmt, unter den Händen

E I N E

M E X I K A X .

GESCHICHTE.

69

der vorbesagten vier p l a s t i s c h e n N a t u r e n und nach ihrem Belieben, ein Markis oder L o r d , ein Abbe' oder ein Chevalier, ein Parlamentsrath oder ein Held, ein Witzling oder ein Adonis wird; im Grund aber, in allen diesen verschiedenen Kleidungen und Posituren — immer das nehmliche Ding bleibt, nehmlich e i n G e c k . Nach dem Begriff der ersten, ist d i e N a t u r der H o m e r i s c h e n V e n u s gleich, welche von den G r a z i e n gebadet, gekämmt, aufgeflochten, mit Ambrosia gesalbt, und auf eine Art angekleidet wird, wodurch ihre eigent ü m l i c h e Schönheit einen neuen Glanz erhält. Nach dem Begriff der andern, ist d i e K u n s t eine A l c i n a , die einen ungestalten, kahlen, triefäugigen, zahnlosen Unhold zu jener vollkommenen Schönheit umschafft, welche A r i o s t in sechs unverbesserlichen Stanzen — zwar nicht so gut g e m a l i l t hat, als es T i z i a n mit Farben bätte thun können, aber doch so gut beschrieben h a t , als — man beschreiben kann. 4) Die ersten scheinen der Kunst z u w e n i g einzuräumen, die andern z u vi e l ; beide 4)

Orlando Furioso, VII. 6 — 12.

70

K o x i c o x urcu

K I K E Q U E T Z E L

aber sich zu irren, wenn sie von Natur und Kunst als w e s e n t l i c h v e r s c h i e d e n e n und ganz ungleichartigen Dingen reden: da doch, bey näherer Untersuchung der Sache, sich zu ergeben scheint, >,dafs dasjenige, was wir Kunst nennen, „Es sey nun dafs sie die z e r s t r e u t e n Schätze und Schönheiten der N a t u r in einen e n g e r n R a u m , oder unter einen besondern Augenpunkt, zu irgend einem b e s o n d e r n Z w e c k zusammen ordnet, — „Oder, dafs sie den r o h e n S t o f f der Natur a u s a r b e i t e t , und, was diese gleichsam o h n e F o r m gelassen hat, b i l d e t , — „Oder, dafs sie die A n l a g e n der Natur anbaut, den K e i m ihrer verborgenen Kräfte und Tugenden e n t w i c k e l t , und dasjenige schleift, poliert, zeitiget oder vollendet, was die Natur roh, w i l d , unreif und mangelhaft hervor gebracht hat — „dafs, sage ich, die K u n s t in allen diesen Fällen im Grunde nichts anders ist, als die N a t u r s e l b s t , in so ferne sie den Menschen — entweder durch die N o t h , oder den R e i t z d e s V e r g n ü g e n s , oder die L i e b e z u m S c h ö n e n — veranlafst und antreibt, „entweder ihre Werke nach seinen besondern Absichten umzuscliaffen, oder sie durch Versetzung in

E I N E

M E X I K A N .

GESCHICHTE.

71

einen andern Boden, durch besondere Wartung und befördernde Mittel, zu einer Vollkommenheit zu bringen, wovon zwar die Anlage in ihnen schlummert, die Entwicklung aber dem Witz und Fleifs des M e n s c h e n überlassen ist." Fragen w i r : W e r giebt uns die F ä h i g k e i t z u r Kunst ? Wer befördert die E n t w i c k l u n g dieser Fähigkeit? W e r giebt uns den S t o f f zur Kunst? W e r die M o d e l l e ? W e r die R e g e l n ? — so können wir kühnlich alle Filosofen, Misosofen und Morosofen, welche jemahls über Natur und Kunst v e r n u n f t e t 5) oder v e r n ü n f t e l t haben, auffordern, uns jemand andern zu nennen, als die N a t u r , — welche durch den M e n s c h e n , als ihr vollkommenstes W e r k z e u g , dasjenige, was sie gleichst

Auch

dieses ungewohnten Ohren possierlich

genug klingende Wort,

wiewohl

von zwey

ver-

dienstvollen Männern der eine es e r f u n d e n ,

und

der andere e m p f o h l e n hat,

ist vielleicht nur bey

solchen Gelegenheiten wie hier brauchbar, und dürfte wohl schwerlich die Stelle des fremden aber bisher unentbehrlichen Wortes r ä s o n i e r e n im ernsthaften Styl schicklich einnehmen können.

72

K o x i c o x

UND

K l I i E Q U E T Z E L

sam nur flüchtig e n t w o r f e n und a n g e f a n g e n hatte, unter einem andern Nahmen zur V o l l k o m m e n h e i t bringt. Die natürlichen Dinge in dieser s u b l u n a r i s c h e n Welt — denn auf diese schränken wir uns ein, weil sie unter allen möglichen Welten am Ende doch die einzige ist, von der wir mit Hülfe unsrer s i e b e n Sinne (das S e i b s t b e w u f s t s e y n und den G e m e i n s i n n mit eingerechnet) eine erträgliche Kenntnifs haben — theilen sich von selbst in org a n i s i e r t e und n i c h t o r g a n i s i e r t e , und die ersten wieder, in Solche, welche zwar eine bestimmte F o r m aber kein L e b e n haben, Solche, welche zwar l e b e n , aber nicht empfinden, Solche, welche zwar e m p f i n d e n , aber nicht d e n k e n und mit W i 11 k ü h r handeln, und endlich, in Solche, die zugleich empfinden, denken und mit Willkühr handeln können; — eine Klasse, welche sehr weitläufig ist, wenn wir dem F l o t i n u s und dem Grafen von G a b a l i s glauben, von der wir aber gleichwohl, die reine Wahrheit zu gestehen, keine andre Gattung kennen, (wenigstens so gut kennen, dafs wir ohne lächerlich zu seyn darüber filosofieren dürften) als diejenige, wozu wir selbst

E I N E

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

75

z u gehören die Ehre haben — den M e n s c h e n , der durch die V e r n u n f t , wodurch er über alle übrige bekannte Klassen unendlich erhoben ist, dazu bestimmt scheint, „die vorbesagte sublunarische Welt nach seinem besten Vermögen zu v e r w a l ten, " und für seine Bemühung berechtigt ist, „sie so gut zu b e n n t z e u , als er immer weifs und kann."

W l E L A W D S

W .

X I V .

B.

10

74

KOXKOX

UND

K I K K Q U E T Z E L

17-

Vergleichen wir die verschiedenen Klassen der natürlichen Dinge unter einander, so zeigt sich, — dafs unter allen der Mensch am wenigsten das geboren wird was er s e y n k a n n ; dafs die Natur für seine Erhaltung, dem Ansehen nach, am wenigsten gesorgt hat; dafs sie ihn übel bekleidet, unverAvahrt gegen Frost, Hitze und schlimmes Wetter, und unfähig ohne langwierigen fremden Beystand sich selbst fortzubringen, auf die Welt ausstößt; — dafs der Instinkt, der angeborne Lehrmeister der Thiere, bey ihm allein schwach, ungewifs und unzulänglich ist: — und warum alles das , als „weil sie ihn durch die V e r n u n f t , die er vor jenen voraus hat, f ä h i g gemacht, diesen Abgang zu ersetzen?" Der Mensch, so wie er der p l a s t i s c h e n Hand der Natur entschlüpft, ist beynahe nichts als F ä h i g k e i t . E r mufs sich selbst entwik-

E I N E

M E X I K A N .

GESCHICHTE.

75

kein, sich selbst ausbilden, sich selbst diese letzte Feile geben, welche Glanz und Grazie iiber ihn ausgiefst, — kurz, der Mensch mufs gewisser Mafsen sein eigener zweyter S c h ö p f e r seyn. Oder, vielmehr — Wenn es die N a t u r ist, die im Feuer leuchtet, im Krystall sechseckig anschiefst, in der Pflanze vegetiert, im Wurme sich einspinnt, in der Biene Wachs und Honig in geometrisch gebaute Zellen sammelt, im Biber mit anscheinender Vorsicht des Zukünftigen Wohnungen von etlichen Stockwerken an Seen und Flüsse baut, und in diesen sowohl als vielen andern Thierarten mit einer so zweckmäfsigen und abgezirkelten Geschicklichkeit wirkt, dafs sie den Instinkt zu K u n s t in ihnen zu erhöhen scheint: warum sollte es nicht auch die Nat u r seyn, welche im M e n s c h e n , nach bestimmten und gleichförmigen Gesetzen, diese Entwicklung und Ausbildung seiner Fähigkeiten veranstaltet? — Dergestalt, dafs, so bald er unterläfst, in allem, was er unternimmt, auf i h r e n F i n g e r z e i g zu merken; so bald e r , aus unbehutsamem Vertrauen auf seine Vernunft, sich von dem Plan entfernt den sie ihm vorgezeichnet hafc>, — von diesem Augenblick an I r r t h u m und V e r d e r b n i f s die Strafe ist, welche unmittelbar auf eine solche Abweichung folget.

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KOXKOX

UND

KIKEQUETZEL

Und hat nicht die Natur, eben so wie sie uns die V o l l e n d u n g u n s e r s e l b s t anvertraut hat, auch über die andern Dinge dieser Welt uns eine solche G e w a l t gegeben, dafs ein grofser Theil derselben als blofse M a t e r i a l i e n anzusehen ist, welche der M e n s c h nach seinem Gefallen umgestaltet, aus denen er so viele Welten nach verjüngtem Maisstab, oder Welten nach seiner eignen Fantasie erschaffen kann als er wilL? Wohl verstanden, dafs er in allen Betrachtungen besser thäte gar nichts zu thun, als nach R e g e l n und A b s i c h t e n zu arbeiten, welche mit denjenigen nicht zusammen stimmen, nach welchen das a l l g e m e i n e System d e r D i n g e selbst, mit oft unterbrochner, aber immer durch die innerliche Güte seiner Einrichtung von selbst wieder hergestellter Ordnung, von seinem unerforschlichen Urheber regiert wird. Alles dieses vorausgesetzt, werden wir uns keinen unrichtigen Begriff von der K u n s t machen, wenn wir sie uns als „ d e n Geb r a u c h vorstellen, w e l c h e n d i e N a t u r von den F ä h i g k e i t e n d e s Menschen j n a c h t , t h e i l s u m i h n , s e l b s t — das schönste und beste ihrer Werke — a u s z u b i l d e n , t h e i l s d e n ü b r i g e n i h m untergeordneten Dingen diejenige

E I N E

M E X I K A K .

GESCHICHTE.

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F o r m u n d Z u s a m m e n s e t z u n g z u geb e n , w o d u r c h sie am g e s c h i c k t e s t e n w e r d e n , d e n N u t z e n u n d das V e r gnügen der Menschen zu beförd e r n." — Die Natur selbst ist es , welche durch die Kunst ihr Geschäft in uns f o r t s e t z t ; es wäre denn, dafs w i r ihr unbesonnener Weise e n t g e g e n a r b e i t e n , u n d , indem w i r sie nach w i l l k ü h r l i c h e n oder mi fsverstandenen Gesetzen verbessern w o l l e n , aus demjenigen, was nach dem ersten Entwurf der Natur ganz hübsche Figuren hätten werden sollen, — O s t a d i s c h e B ü r leslcen, oder Zerrbilder in K a l o t s Geschmack heraus künsteln; welches, wie w i r vielleicht in der Folge finden werden, zuweilen der Fall der. angeblichen V e r b e s s e r e r der menschlichen Natur .gewesen zu seyn scheint. Der gewöhnliche G a n g d e r N a t u r in dieser Auswicklung und Verschönerung des Menschen ist l a n g s a m — und sie scheint sich darin mehr nach den Umstanden als nach einem einförmigen Plan zu richten. In der That haben diejenigen ihren Geschmack nicht der Natur abgelernt, in deren Augen die M a n n i g f a l t i g k e i t in der fysischen und sittlichen Gestalt der Erdbewohner eine UnVollkommenheit ist.

78

KOXKOX

UND

KIKEQUETZEL

Das menschliche Geschlecht gleicht in gewisser Betrachtung einem Orangenbaum, welcher Knospen, Blüthen und Früchte, und von diesen letztem grüne, halb zeitige und goldfarbne, mit zwanzig verschiedenen Mittelgraden, zu gleicher Zeit sehen läfsL Es scheint widersinnig, zu fordern dafs die K n o s p e ein A p f e l werden soll, ohne durch alle dazwischen liegende Verwandlungen zu gehen: aber gar darüber ungehalten zu seyn, dafs die Knospe nicht schon der Apfel ist, — in der That, man mufs sehr wunderlich seyn, um der Natur solche Dinge zuzumuthen. Was die K u n s t , oder, mit andern Worten, was die vereinigten Kräfte von Erfahrung, W i t z , Unterricht, Beyspiel, Überredung und Zwang, an dem Menschen zu seinem Vortheil ändern können, sind entweder E r g ä n z u n g e n der mangelhaften Seiten, oder V e r s c h ö n e r u n g e n ; welche letzteren, wenn sie ihren Nahmen mit Recht führen sollen, sehr wesentlich von blofsen Z i e r a t h e n verschieden sind. J e n e setzen voraus, dafs der Mensch seine Bedürfnisse f ü h l e , und stehen mit der Beschaffenheit und Anzahl derselben in Ver-

E I K E

MEXIICAN.

GESCHICHTE.

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liältnifs: d i e s e sind die Früchte einer durch die Einbildungskraft erhöheten und verfeinerten Sinnlichkeit, und Enden nicht eher Statt, bis wir durch die Vergleichung mannigfaltiger Schönheiten in der nelimlichen Art uns von Stufe zu Stufe zu dem I d e a l d i e s e r A r t erhoben haben. Fordern, dafs die Liebe des jungen K o xk o x zu der s c h ö n e n K i k e q u e t z e l so fein und romantisch wie die Liebe zwischen T h e a gen e s und C h a r i k l e a hätte seyn sollen, hiefse ihnen übel nehmen, dafs sie das einzige Menschenpaar im ganzen Mexiko waren; und es wäre eben so weise, wenn man die arme K i k e q u e t z e l tadeln wollte, dafs sie nicht so zart-fühlend und gesittet und geistreich, wie die i d e a 1 i s c h e P e r u v i a n e r i n der M a d a m e G r a f f i g n y , als wenn man sie abgeschmackt fände, weil sie nicht ä la Jihinoceros oder ä la Comete aufgesetzt war.

ßo

KOXKOX UND K i ü e q u k t z e l

18.

Nach dieser kleinen Abschweifung über N a t u r und K u n s t , die uns nicht weit von unserm Wege abgeführt hat, kehren wir zu unserer Geschichte zurück. Koxkox und Kikequetzel, die (im Vorbeygehen zu sagen) von den alten Mexikanern für ihre Stammältern gehalten wurden, waren nun ein Paar, oder, richtiger zu reden, machten nun ein G a n z e s aus, welches aus zwey H ä l f t e n bestand, die, von dem Augenblick an da sie sich gefunden hatten, sich so wohl bey einander befanden, dafs nichts als eine überlegene Gewalt fähig gewesen wäre sie wieder von einander zu reifsen. Sie hatten einander nie zuvor gesehen; K o x k o x wufste so wenig was ein Mädchen als K i k e q u e t z e l was ein Knabe war; Sie stammten aus zwey ganz verschiedenen Völkerschaften ab, welche keine Gemeinschaft mit einander gehabt hauen;

E I N E

MEXIKAN.

GESCHICHTE.

8

1

Sogar ihre Sprache war so verschieden, dafs sie einander kein W o r t verstehen konnten. Offenbar trugen also diese Umstände nichts dazu bey, dafs sie einander auf den ersten Blick so lieb wurden. Die N a t u ' r that Alles. Man kann die Art, wie sie einander ihre Gefühle ausdrückten, nicht wohl eine S p r a c h e nennen; aber sie war beiden so aneenehm, dafs sie nicht aufhören konnten bis sie mufsten. — Auch diefs war N a t u r , sagt T l a n t l a quakapatli. Ein süfser Schlaf überraschte den ehrlichen K o x k o x in den Armen der zärtlichen K i k e quetzel. Sie schliefen bis der Morgengesnng der Vögel sie weckte. Und da gingen die Liebkosungen von neuem a n , bis sie es müde wurden. Pure Natur! r u f t T l a n t l a q u a k a p a t l i aus. Nun sahen sie einander mit so vergnügten Augen a n , waren einander so herzlich gewogen, drückten jedes sein Gesicht mit so vieler Empfindung wechselsweise an des andern Brust, dafs sogar ein Teufel, der ihnen zugesehen hätte, sich nicht hätte erwehren können Vergnügen darüber zu haben, — sagt T l a n ll a q u a k a p a t l i . WLLUTDS

\ \ r . X I V . ß.

11

82

K O X K O X UND K l K E Q U E T Z E L

Sie fingen beide an zu hungern. Aber K o x k o x war noch immer nicht recht bey sich selbst; er tanzte um das Mädchen herum, sang und jauchzte, machte Burzelbäume, und that zwanzig andre Dinge vor Freude, die nicht kluger Avaren, als was Ritter Don Quischott auf dem schwarzen Gebirge aus Traurigkeit that. Das Mädchen fühlte kaum dafs sie hungerte, als sie dachte es werde dem guten K o x k o x auch so seyn. Sie hüpfte davon, suchte Früchte, pflückte Blumen, flog wieder zurück, steckte die Blumen in des Jünglings lockiges Haar, suchte die schönsten Früchte aus, und reichte sie ihm mit einem so lieblichen Lächeln und mit so reitzendem Anstand hin, — wie Hebe ihrem Herkules die Schale voll Naktar reicht — würde mein Filosof gesagt haben, wenn er ein Dichter und ein Grieche gewesen wäre. Allein da er ein Mexikaner und kein Dichter war, sagt er die Sache ohne Bild, gerade z u ; aber mit einer Stärke und P r o p r i e t ä t des Ausdrucks, die ich nicht in unsre Sprache überzutragen vermag, — wiewohl ich gestehe, dafs die Schuld eben so leicht an mir als an unsrer Sprache liegen kann. Meine schönen Leserinnen werden empfunden haben, was für ein Kompliment ihnen

E I N E

MEXIICAN.

GESCHICHTE.

83

T l a n t l a q u a k a p a t l i durch den angeführten Umstand macht. — D o c h , ich denke nicht dafs es ein Kompliment seyn sollte; es ist wirklich blofse W a h r h e i t , und einer von den Zügen, welche beweisen, wie gut er die Natur gekannt hat. K o x k o x besann sich n u n , dafs er eine Grotte hatte, u m welche ein kleiner Wald von fruchtbaren Bäumen und Gewächsen einen halben Mond zog. Er führte seine Geliebte dahin. Wie reitzend däuchte ihm jetzt dieser Ort, da er ihn an ihrem Arm betrat! Er fühlte sich kaum vor Freude. Alle Augenblicke überhäufte er sie mit neuen Liebesbezeigungen. Und so schlüpfte den Glücklichen ein Tag nach dem andern vorbey.

84-

Koxkox und

ICike— Alles diefs ist von den meisten Einzelnen mehr oder weniger falsch, und von der ganzen Gattung wahr. Rousseau hat also eine unrichtige Bemerkung gemacht; und wenn etwas dabey zu verwundern ist, so ist es, wie er sie hinschreiben konnte, ohne zu merken, wie wenig sie die Probe hält. Nimmermehr wird unter Wilden, oder unter irgend einem kleinen Volke, das dem u r s p r ü n g l i c h e n S t a n d e noch nahe ist, ein P a l l a d i o , ein R a f a e l , ein E r a s m u s , ein B a k o n , ein G a l i l e i , ein L o c k e , ein

526

OB

UNG EIIEMMTE

AUSBILDUNG

Shaftesbury, ein M o n t e s q u i e u , ein N e w t o n , ein L e i b n i t z gebildet w e r d e n . — Und wer kann so unwissend, oder so unbillig seyn, die grofsen Vortheile zu mifskennen, welche sich nur allein von zehn solchen Männern unvermerkt über ganze Nazionen ausbreiten, und mit der Zeit über die ganze Gattung ausbreiten werden? Bedürfnisse und Talente vermehren und verfeinern sich i n g r o f s e n oder Avenigstens e m p o r s t r e b e n d e n Gesellschaften, durch eine wechselsweise Wirkung in einander, ins unendliche. ' Die Liebe zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen, die Begierde sich in Achtung zu setzen und Einflufs zu haben, — um der Vortheile zu geniefsen die damit verbunden sind — (denn welcher unter uns bekümmert sich um die Achtung der J a p a n e r ? ) nöthigt Hunderttausende zu einer Anstrengung ihrer Kräfte, die dem Ganzen nützlich w i r d ; und so wird durch den feinsten Mechanismus der Natur die T r ä g h e i t selbst, deren Gewicht den Wilden zu den Thieren herab zieht, in der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Q u e l l e wetteifernder T l i ä t i g k e i t . Ohne Vereinigung kleiner Gesellschaften in grofse, ohne Geselligkeit der Staaten und Nazionen unter einander, ohne die unzähligen

D E IV M E N SC HL.

GATTUNG

U.S.W.

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K o l l i s i o n e n der mannigfaltigen Interessen aller dieser gröfsern und kleinern S y s t e m e d e r M e n s c h e n , würden die edelsten Fähigkeiten unsrer Natur e w i g im Keim eingewikkelt schlummern. Ohne sie würde die Vernunft des Menschen nie zur Reife gelangen, sein Geschmack immer roh, seine Empfindung immer thierisch bleiben. M i t gedankenlosen Augen würde er e w i g den gestirnten Himmel anschauen, ohne sich träumen zu lassen, dafs er fähig sey die Bewegungen dieses unermefslichen Uhrwerks zu berechnen. Seine Stimme würde niemahls ein Mittel geworden seyn, seinen geistigsten Gedanken einen Leib zu geben , und die leisesten R e g u n g e n seines Herzens andern verständlich C D zu machen. Tausend bewundernswürdige Künste würden, in seinem Gehirne begraben, von seinem plumpen W i t z nicht entdeckt worden, und seiner ungeübten Hand unmöglich geblieben seyn. Die M u s e n würden seinen Geist nicht verschönert, die G r a z i e n seine Freuden nicht veredelt, die W i s s e n s c h a f t e n ihn nicht auf den W e g geleitet haben, sich die ganze Natur zu unterwerfen. W e l c h e Vortheile für die G a t t u n g ! W i e ist es mögw

O

lieh sie zu mifskennen? Und w i e wenig kommen dagegen die zufälligen Übel, welche mit dem gesellschaftlichen

528

OB

UNGEHEMMTE

AUSBILDUNG

Stande verbunden sind, in Betrachtung, wenn •wir erwägen, dafs eben in jenen wohlthätigen Ursachen auch die bewährtesten Mittel gegen diese liegen; dafs, vermöge der Natur der Dinge, so wie jene steigen, diese abnehmen, und jeder Schritt, den wir zur Vervollkommnung der Gattung thun, eine Quelle von fysischen oder sittlichen Übeln stopft, welche der allgemeinen Glückseligkeit hinderlich waren!

D E R

M E N S C H L .

G A T T U N G

U.S.W.

3 2 9

IO.

E s ist wahr, alles, was, von dem H e r m e s der Ägypter an, durch die weisesten und wirksamsten Geister, durch die H e r o e n , durch die G e s e t z g e b e r , durch die E r f i n d e r , durch alle Arten von G e n i e n , durch alle Arten von Triebfedern der moralischen Welt, z u m a l l g e m e i n e n Besten der G a t t u n g bisher gewirkt worden ist, besteht nur in B r u c h s t ü c k e n , in M a t e r i a l i e n , welche zum Theil noch roh, zum Theil mehr oder weniger bearbeitet da liegen. Aber es ist eben so Avahr, dafs diese Materialien nur auf die Vereinigung g ü n s t i g e r Zufälle mit der zusammen gestimmten Thätigkeit g r o f s e r S e e l e n warten, um zu dem einzigen Werke, was würdig ist jede fühlende und denkende Seele zu begeistern, zu e i n e m WIELANDS

W.

XIV.

B.

42

33°

OB

U N G E H E M M T E

AUSBILDUNG

allgemeinen Tempel der Glückseligk e i t des m e n s c h l i c h e n Geschlechts aufgeführt zu werden. R e l i g i o n , W i s s e n s c h a f t e n , und ihr, liebenswürdige K ü n s t e d e r M u s e n ! — ihr habt in der Kindheit- der Welt die rohen, verwilderten Menschen gezähmt, in Städte vereiniget, Gesetzen unterwürfig gemacht, und mit der edeln Liebe eines gemeinschaftlichen "Vaterlandes beseelt! — Eurer freundschaftlich vereinigten Wirksamkeit ist es aufbehalten, das grofse Werk zur Vollendung zu bringen, und aus allen Völkern des Erdbodens, — dieses Sonnenstaubs in dem grenzenlosen All der Schöpfung — E i n Brudergeschlecht v o n M e n s c h e n zu machen, welche durch keine N a h m e n , keine W o r t s t r e i t e , keine H i r n g e s p i n s t e , kein k i n d i s c h e s Geb a l g e u m e i n e n A p f e l , keine kleinfügige Absichten und verächtliche Privatleidenschaft e n , wider einander empört, — sondern von dem seligen Gefühl der Humanität durchwärmt, und von der innigen Uberzeugung, dafs die Erde Raum genug hat alle ihre Kinder neben ein, ander zu versorgen, durchdrungen, einander alles Gute willig mittheilen, Avas Natur und Kunst, Genie und Fleifs, Erfahrung und Vern u n f t , seit so vielen Jahrhunderten auf dem ganzen Erdboden, wie in ein allgemeines Ma-

DER

IM E N S C H Ii. G A T T U N G

U. S. W .

351

gazin, aufgehäuft haben. E u r e r f r e u n d schaftlich vereinigten Wirksamkeit ist es aufbehalten, dieses glorreiche Werk zu Stande zu bringen, sageich. Denn, g e t h e i l t , oder durch unselige Vorurtheile e n t z w e y t , und mit euch selbst im Streite, werdet ihr nimmermehr, nimmermehr das wahre Ziel eurer Bestimmung erreichen! G e t h e i l t werdet ihr ewig, wider eure Absicht, B ö s e s s t i f t e n ; v e r e i n i g t werdet ihr alle Menschen g l ü c k l i c h m a c h e n ! Schwärme ich? — Es sollte mir leid seyn, wenn nur Einer von denen, welche v o r z ü g l i c h dazu berufen sind auf ein so edles Ziel zu arbeiten, denken könnte, dafs der einzige allgemeine Endzweck der Natur, der sich denken läfst wenn überall ein Plan und eine Absicht in ihren Werken ist, eine Schimäre sey. Ist es eine Schimäre — nun so wissen wir, was wir von dieser sublunarischen Welt zu denken haben. So macht Alles zusammen genommen eine so schale, so bürleske, so sinn - und zwecklose t r a g i - k o m i s c h e P a s t o r a l - F a r c e aus, dafs man alle Harlekins, Mezzetins und Bernardons der Welt getrost aufbieten kann,

332

OB

UNGEHEMMTE

AÜSBILD.

U.S.W.

eine schalere zu erfinden! So sind alle Narren weise Leute, und die S o k r a t e s und A r i s t o t e l e s , die E p a m i n o n d a s und T i m o l e o n , von jeher die einzigen Narren in der Welt gewesen! Welches der Himmel verhüten wolle!

ÜBER DIE

VORGEBLICHE

ABNAHME

DES MENSCHLICHEN

GESCHLECHTS.

1777.

Jedes gebildete Volk hat seine f a b e l h a f t e und h e r o i s c h e Zeit gehabt, aus welcher seine spätem Dichter den S t o f f zu wundervollen Gesängen, Erzählungen und Schauspielen hergenommen haben; eine Zeit von Halbgöttern, R i e s e n und Helden, gegen welche w i r armen Wichtchen der h i s t o r i s c h e n Zeit eine so demüthige Figur machen, dafs w i r ( u m so bald als möglich aus der Verlegenheit zu k o m m e n ) uns nicht besser zu helfen wissen, als die ganze Geschichte dieser Wundermenschen f ü r M ä h r c h e n zu erklären. Gleichwohl Anden sich auf der andern Seite starke Gründe, zu glauben, dafs diese H e r o e n jeder Nazion einmahl w i r k l i c h da w a r e n , w i r k l i c h grofse Menschen waren, und Dinge thaten, die w i r — Aveil sie über u n s r e Kräfte gehen — e r s t a u n l i c h finden,

336

Ü B E R

D I E

VORGEBL.

ABNAHME

wiewohl sie i h n e n s e l b s t sehr n a t ü r l i c h vorkamen; ja, dafs sie in der That noch weit gröfser, als wohl die meisten spätem Dichter und Romanschreiber in ihrem höchsten Taumel sich einbilden konnten, — und mit allem dem doch — weder Götter noch Halbgötter, sondern b l o f s e M e n s c h e n waren, wie.wir zu ihrer Zeit und in ihren Umständen ohne Zweifel auch gewesen wären. Das ganze Geheimnifs liegt darin, dafs sie noch u n z e r d r ü c k t e und u n g e k ü n s t e l t e , noch g e s u n d e , u n g e s c h w ä c h t e , g a n z e Menschen waren. W o die Natur noch frey und ungestört wirken kann, da macht sie keine andre als solche: und wenn für jedes policierte und verfeinerte Volk einmahl eine Zeit gewesen ist, wo es noch unpoliciert und unverfeinert w a r ; so steigt die Geschichte eines jeden solchen Volkes (seine ältesten U r k u n d e n mögen verloren gegangen seyn oder nicht) bis zu einem Zeitalter hinauf, wo es aus einer Art Menschen bestand, deren Existenz nach einer langen Reihe von Jahrhunderten endlich fabelhaft scheinen mufs. Ein f r e y stehender Mensch kann sich ausdehnen und wachsen, kann zu dem Grade von Gröfse, Stärke und Tauglichkeit gelangen, wozu

EES MEKSCHI. GESCHLECHTS.

537

er die Anlage auf die Welt gebracht hat. Damit diefs -wirklich geschehe, müssen freylich mancherley äufsere Ursachen mitwirken. Er mufs, zum Beyspiel, weder an d e m , was zur Unterhaltung und Entwicklung seiner Kräfte nöthig ist, M a n g e l l e i d e n , noch mufs es ihm g a r z u l e i c h t werden, sich, diese Nolliwendigkeiten zu verschaffen. Der armselige Zustand der Bewohner von F e u e r l a n d , der ewige Druck gegenwärtiger Noth ohne Hoffnung es jemahls besser zu haben, ist dem Wachsthum des Menschen zu seiner natürlichen Vollkommenheit eben so nachtheilig und noch m e h r , als das allzu freygebige und wollüstige Klima von O - T a h i t i , das seine Einwohner in ewiger Kindheit erhalt, oder als die üppige Lebensart einer grofsen K ö n i g s s t a d t . Der Mensch, der alles seyn soll wozu ihn die Natur machen wollte, mufs alles erdulden können was ihm Natur und Nothwendigkeit auflegen ; aber sein gewöhnlicher Zustand mufs überhaupt glücklich, und sein Gefühl f ü r die Freuden des Lebens und das Vergnügen da zu seyn, mufs offen und unabgestumpft seyn.' Sein Nacken mufs sich nie unter die W i l l k ü h r eines andern gebeugt haben; er mufs immer unter s e i n e s g l e i c h e n , das W l ELAN DS

W .

XIV.

13.

4 5

338

Ü B EH

DIE

VOUCEBL.

AHNAHJIE

ist unter Menschen, die nichts sind als was er auch i s t oder w e r d e n k a n n , gelebt haben ; aber auch mit b e s s e r n als e r ist, damit der Vorzug, den diesen ihre gröfsere T a u g l i c h k e i t giebt, ihn immer zur Nacheiferung und zum Wettstreit auffordere. Alles diefs setzt eine E p o c h e d e r Naz i o n a l v e r f a s s u n g voraus, w o die S i c h e r h e i t mehr das Werk unsrer eignen Stärke und persönlicher Verbindungen als der G e s e t z e ist; w o Fürsten und Könige nur die e r s t e n unter ihren P a i r s sind; w o jeder gilt was er werth ist, jeder wagt was er sich auszuführen getraut, jeder so gut oder böse seyn darf als ihn gelüstet; w o das Leben eines Mannes das Leben eines K ä m p f e r s ist, eine fortgehende Kette von Abenteuern, ein eAviges D r a m a , gedrängt voll von Handlung und Zufallen und Wagestücken, voll wider einander rennender oder sich mit grofser Gewalt an einander reibender Leidenschaften; w o der K n o t e n meistens mit dem Schwert aufgelöst, und die K at a s t r o f e immer die Wurzel neuer Verwirrungen wird. Eine solche Epoche findet sich in den ältesten Jahrbüchern jeder policierten Nazion: und könnten wir heutigen Europäer, oder vielmehr unsre Abkömmlinge, ( w i e es denn

DES

MZNSCHL.

GESCHLECHTS.

359

gar nichts unmögliches ist) vor lauter grenzenloser Verfeinerung und Filosofie und Geschmack, und Verachtung der Vorurtheile unsrer Großmütter , und Weichlichkeit und Übermuth und Narrheit, es endlich wieder so weit bringen, i n W ä l d e r n (wenn es anders bis dahin noch Wälder giebt) e i n z e l n u n d g e w a n d l o s a u f a l l e n V i e r e n h e r u m zu k r i e c h e n u n d E i c h e l n z u f r e s s e n ; so wird dann auch, über lang oder k u r i , die Zeit •wieder kommen, wo die Nachkommen dieser neuen Europäischen Wilden gerade wieder die freyen, wackern, kühnen, biederherzigen Leute seyn werden, deren Sitten und Lebensart T a c i t u s — seinen nervenlosen Römern zum Verdrufs, und zur Demüthigung ihrer kleinen flattrigen, gaukelnden, niedlichen Puppenseelchen — in einem so prächtigen Gemählde darstellte. In einer solchen Zeit, unter einem solchen Volke ungeschliffner, aber freyer, edler, starker, gefiihl-und muthvoller Menschenkinder, müssen freylich die stärksten, die edelsten, mit Einem W o r t e , die B e s t e n , gar herrliche Menschen seyn. G a n z n a t ü r l i c h , dafs das Andenken dessen was sie waren und thaten sich Jahrhunderte lang unter ihrem Volke lebendig erhält; dafs der Grofsvater mit verjüngender Wärme seinen horchenden Enkeln

5/FO

UBER

DIE

VORGEBL.

ABNAHME

Geschichten davon erzählt; dafs diese Geschichten in Gesängen u n d Liedern von einem Geschlechte z u m andern übergehen; und dafs man desto mehr davon singt und sagt, je weiter sich die Nazion von jen^m H e l d e n - A l t e r entf e r n t , je näher sie dem Zeitlaufe der Policierung und Verfeinerung k o m m t , u n d je weiter sie darin fortschreitet. N a t ü r l i c h , dafs endlich eine Zeit kommen mufs, w o man sich diesen grofsmächtigen Menschen so ungleich fühlt, dafs man an ihrem eliemahligen Daseyn zu zweifeln anfängt, u n d alle seine Einbildungskraft aufbieten m u f s , u m sich eine "Vorstell u n g von ihnen zu machen; dafs eben defswegen diese Vorstellungen u n w a h r , übertrieben lind romanhaft, k u r z , dafs aus den w a h r e n , grofsen Menschen der Vorwelt — f a b e l h a f t e G ö t t e r und G ö t t e r s ö h n e , R i e s e n u n d R e c k e n , A m a d i s e und R o l a n d e Averden.

D E S

3 I E X S C H I .

G E S C H I E C H T S .

2.

Allein diese Zeit kommt nicht auf einmahl; die AusartungD kann nicht anders erfolgen als O stufenweise. Die nächsten zwey oder drey Menschenalter auf jene H e r o e n müssen natürlich, in Vergleichung mit viel spätem noch weit mehr ausgearteten Nachkömmlingen, noch sehr grofse Menschen hervorbringen. Aber wer in solchen Zeiten etliche Generazionen überlebt hat, mufs den Unterschied schon merklich Hnden. Die R i t t e r d e r T a f e l r u n d e des K ö n i g s A r t u s waren gewaltige Mäijner in Ritterschaft, hatten noch viel von dem hohen M u t h e , ja selbst noch einen Überrest von der Treue und Biederherzigkeit ihrer Vorfahren. Aber was für eine Figur machen sie mit allem dem gegen den alten B r a n o r , der in einem Alter von mehr als hundert Jahren noch Stärke genug hatte, sie alle aus dem Sattel zu w e i f e n ! Und wie noch armseliger stehen sie vor ihm da, nachdem er ihnen an seinem Freunde, G e r o n dem A d e l i c l i e n , ein Muster von Treue und

54-2

ÜBER

DIE

VORGEBI.

ABNAHME

Aufrichtigkeit und Grofsherzigkeit vor die Stirne gestellt hat, dessen Anblick und stille Vergleichung mit sich selbst (die er, w\e billig, ihrem eigenen Gewissen überläfst) ihnen das beschämendste Gefühl, wie klein sie gegen ihn sind, geben mufs! Eine ganz ähnliche Bewandtnifs hat es mit den Helden und Menschen, die uns H o m e r in seiner Dias und Odyssee schildert. Was fiir Männer gegen die spätem, durch ihre geschwätzige Filosofie, schönen Künste, Handelschaft und Reichthümer verfeinerten Griechen! Keiner, bis auf den g ö t t l i c h e n S c h w e i n h i r t e n E u m ä u s , den der Dichter nicht durch diefs hohe Beywort (der göttliche) über die Menschen vom gemeinen Schlage seiner Zeit erheben mufste, um ihm sein IVecht anzuthun. Aber wie mit ganz andern Augen sieht die H e l d e n d e r I l i a s der alte N e s t o r an, dem seine hohen Jahre das Recht geben, einem A g a m e m n o n und A c h i l l e s und D i o m e d e s und A j a x ins Gesicht zu sagen: „Ich habe mit andern und bessern Männern gelebt als ihr seyd — Nein, solche Männer habe ich nie wieder gesehen, und werde keine solche wieder sehen, wie Peirithoos und Dryas, der Hirt der Völker, und Käneus, und Exadios,

DES

MENSCHL.

GESCHLECHTS.

54.5

und der göttliche Polyfemos, und Theseus der Ägeide, der wie der Unsterblichen einer war." — Man sieht, H o m e r und N e s t o rliatten schon einen sehr verschiedenen Mafsstab. Die Männer, die H o m e r göttlich nennt, sind in N e s t o r s Augen, gegen jene, die E r dieses Beynahmens würdig hält, nur gewöhnliche Menschen. Und ganz natürlich, da sie zu den Helden des Jahrhunderts v o r dem Trojanischen Kriege sich ungefähr eben so verhielten, wie die Griechen zu Homers Zeiten gegen die Zerstörer von Troja. Dieser selbst so grofse Mann hatte in einem Zeitpunkt, der in u n s e r n Augen noch heroisch genug ist, schon ein starkes Gefühl von der Abnahme der Menschheit in seinen Tagen. Diomedes hebt (im fünften Buche der Ilias) einen Stein auf, und s c h l e u d e r t ihn unter die Feinde, der so schwer war, (sagt H o m e r ) „dafs ihn z w e y Männer, wie die Menschen j e t z t sind, nicht t r a g e n könnten." V i r g i l — der ungefähr neun Jahrhunderte nach H o m e r lebte, in einer Zeit, da die Üppigkeit und die Ausartung in Rom der höchsten Stufe schon nahe waren — fühlte die Menschen s e i n e r Zeit gegen die Helden der

544-

UBEH U l l i V'OftGJiJUI.. AJJNAHME

Trojanischen so klein und schwach, dafs er, um im gehörigen Verhältnisse zu bleiben, aus H o m e r s zweyen z w ö l f solcher Männerclien, wie man sie im goldnen Jahrhundert A u g u s t s sah, machen mufste. Freylich mag er wohl daran z u v i e l gethan haben, da hier blofs von der k ö r p e r l i c h e n Kraft eine gewisse Last aufzuheben die Rede ist: aber wenn seine Absicht war, das Verhältnifs jener Helden gegen die gewöhnlichen Menschen seiner Zeit ü b e r h a u p t , oder nach der ganzen Summe der Naturkräfte, so weit sie in einem Menschen gehen können, anzudeuten; so möchte sich wohl behaupten lassen, dafs er n i c h t z u v i e l gesagt habe; und dafs zum Beyspiel ein Mann wie D i o m e d e s , nackend und ohne Waffen, gegen zwölf junge Herren vom H o f e A u g u s t s , ebenfalls in Naturalibus, kämpfend , die artigen Herren mit eben so weniger Mühe nach einander ins Gras hingestreckt hätte, als es ihm leicht war den Stein aufzuheben und fortzuschleudern, den keiner von ihnen nur von der Stelle hätte rücken können.

DES M E N S C H I . G E S C H L E C H T S .

34-5

3.

M a n erlaube mir hier eine kleine Abschweif u n g , die uns nicht weit von der Hauptsache führen soll. In den Zeiten der Entnervung der Menschheit durch Üppigkeit und alle übrigen Folgen des Reichthums und der höchsten Verfeinerung oder Überspannung, 1 ) ist es weniger die k ö r p e r l i c h e Schwäche als d i e Ab Würdigung und E n t k r ä f t u n g der S e e l e n , die Stumpfheit ihres innern Sinnes für das wahre Grofse, was sie gegen die herrx) Diefs letzte war eigentlich der Fall der R öm e r; aber die F o l g e n von beiden sind am Ende ziemlich ähnlich; nur dafs E r s c h l a f f u n g aus Ubers p a n n u n g bey weitem ein schlimmerer Zustand ist als S c h w ä c h e aus V e r f e i n e r u n g . W I E N A N D S

W.

XIV. B.

44.

34-6

Ü B E R

DIE

VORGEBT..

ABNAHME

liehen Naturmenschen der Vorwelt so klein erscheinen macht. Wie sollten sie das Vermögen haben zu thun was d i e s e vermochten, da sie nicht einmahl fähig sind das Grofse in den edelsten Gesinnungen oder Handlungen derselben zu f ü h l e n ? P l u t a r c h hat uns in seinem Leben des P o m p e j u s ein sehr auffallendes Beyspiel hiervon aufbehalten, das einen Zug von A c h i l l s Betragen in der grofsen entscheidenden Scene der I l i a s betrifft. Um meine Leser darüber selbst urtheilen zu lassen, mufs ich diese Scene mit zwey Worten in ihr Gedächtnifs zurück rufen. Die Trojer alle haben sich vor der Wuth des A c h i l l e s hinter die Mauern ihrer Stadt geflüchtet; die Thore sind verschlossen; nur der einzige H e k t o r ist aufser den Mauern zurück geblieben, entschlossen zu sterben oder dem Zerstörer seines Volkes das Leben zu nehmen; das Griechische Heer steht in einiger Entfernung gegen über, und die Götter schauen schweigend vom Olymp herab. H e k t o r , unerbittlich dem Flehen seines Vaters und seiner Mutter, steht und erwartet den kommenden Feind. Aber indem A c h i l l e s , „dem Gott der Schlachten gleich, in seinem Harnisch, der wie lodernd Feuer oder wie eine Morgensonne Strahlen wirft, den furchtbaren Speer in seiner Rechten schwin-

DES

MENSCHL.

GESCHLECHTS.

347

gend, auf ihn z u g e h t , " — überfällt ein ungewohntes Entsetzen H e k t o r n ; ihm entsinkt der M u t h , der ihn zur letzten Hoffnung seines unglückseligen Volkes und Hauses machte; er kann den Anblick des Stärkern, der über ihn gekommen ist, nicht ertragen, er flieht. Dreymahl jagt ihn A c h i l l e s rund u m die Mauern von T r o j a , und so oft der verstürzte Hektor, Hülfe von den Seinigen zu erhalten, sich innerhalb eines Pfeilschusses den Thürmen nähern will, treibt ihn jener wieder ins offne Feld gegen die Stirne des Griechischen Heeres zurück —- winkt aber zugleich den Seinigen mit dem Kopfe, und wehrt ihnen, mit Pfeilen nach Hektorn zu schiefsen, „ d a m i t n i c h t ein a n d r e r ihm den R u h m wegnähme, H e k t o r n erlegt zu haben; und Er nur der Z w e y t e w ä r e . " Wer die Ilias auch nur mit dem mäfsigsten Antheile von Menschensinn gelesen hat, mufs fühlen, dafs Achilles nicht Achilles hätte seyn m ü s s e n , wenn es ihm in diesem glorreichen entscheidenden Augenblicke hätte gleichgültig seyn sollen, ob die Seele seines Freundes P a t r o k l u s und aller übrigen Griechen, welche Hektor zum Orkus gesendet hatte, durch i h n oder einen andern gerochen würde, und Troja durch s e i n e oder eines andern Hand fiele. Gleichwohl (spricht P l u t a r c h ) fanden

348

Ü B E R

D I E

VORGEBL.

A B N A H M E

sich Leute, 2 ) die in diesem Gefühl und Betragen des Achilles etwas unendlich kleines fanden. „Achilles, sagten sie, tliut hier nicht die That eines Mannes, sondern eines thöricliten nach Ruhm schnappenden Knaben." Die feinen Moralisten! Nach dem hohen Ideal dieser Schulmeister hätte es Achillen gleich viel seyn sollen, iver Hektorn erlegte, E r oder T h e r s i t e s , wenn die That nur gethan würde; denn „dem Weisen ists ja nie um s i c h , sondern immer nur um d i e S a c h e s e l b s t zu thun!" — O die G r a e c u l i , die G r a e c u l i ! W i e sehr Achill zu beklagen ist, dafs er kein S t o i k e r w a r ! dafs er zu früh in die Welt kam, um bey einem C h r y s i p p u s oder P o Sid o n i u s in die Schule zu gehn, und zu lernen, was für eine kindische Sache es um die L e i d e n s c h a f t e n ist! — Freylich, in den wilden Zeiten, worin er das Unglück hatte geboren zu werden, wufsten die Leute noch wenig von guter Lebensart. Da zankten Könige 2) Er sagt uns nicht, wer sie waren; die Rede ist aber von denen, die den P o m p e j u s wegen eines gewissen wirklich unedlen Verfahrens in dem Kriege mit den Seeräubern tadelten. Wahrscheinlich waren es nicht weise R ö m e r , wie D a c i e r meint, sondern G r a e c u l i , Moralisten von Profession, von den scharfsichtigen Herren, die den Wald vor den Bäumen nicht sehen können.

DES

MENSCHI.

GESCHLECHTS.

54.9

und Feldmarschälle sich noch im bittersten Ernst um — eine hübsche Dirne, geriethen um so einer Kleinigkeit willen in solche Wuth, dafs sie, mit Hintansetzung aller Wohlanständigkeit, einander schimpften wie die Karrenschieber. — Da setzte sich der göttliche Achill ans Ufer hin und weinte wie ein kleines Mädchen, dafs ihm Agamemnon seine Puppe genommen, oder (was in den Augen eines stoischen Schulmeisters auf Eines hinaus lief) dafs ihm die Griechen seinen verdienten Antheil an der Beute, an deren Gewinnung er sein Leben gesetzt, wieder weggenommen und ihn dadurch beschimpft hatten, u. s. w. Welche Thorheiten! welche Kindereyen! Und der einfältige Homer, der selbst Kind genug war aus solchen Kindern seine Helden zu machen, liefs sich so wenig davon träumen, wie irgend eine grofse Natur ohne Leidenschaft seyn könnte, dafs er auch sogar s e i n e G ö t t e r mit eben so läppischen Leidenschaften begabte — wofür ihm denn auch P l a t o , C i c e r o und so viel andere grofse Männer, (die zwar weder Iiiaden get l i a n noch Iiiaden g e d i c h t e t haben) nach Verdienen den Text gelesen haben! — Doch freylich, Avas können am Ende Homer und seine Helden dafür? Sie trugen die Last ihrer Zeiten, wo die Menschen noch waren wie sie die b l o f s e N a t u r macht — wie sie in dem groben ungeschliffnen Zustand eines Volkes, das

55°

ÜBER

DIE

VOBGEBL,

ABNAHME

noch Nerven hat, seyn können. Ach! die Nerven, die Nerven! die sind immer ( w i e Herr P i n t o weislich bemerkt hat) an allem Übel schuld! Man kann daher nicht geniig eilen, sie ihrer unbändigen, so viel Unheil in der Welt stiftenden Schnellkraft zu berauben! Denn, haben wir nur d i e s e erst einmahl wegeerö schwelgt oder wegfilosofiert oder weggetändelt, oder auf welche Art es sey aufser Aktivität gesetzt: dann räckeln wir uns hin, und, weil wir keine Nerven mehr haben u m zu lieben oder zu hassen, v e r n u n f t e n oder faseln w i r über die Herrlichkeit der W e s e n ohne S i n n e u n d L e i d e n s c h a f t e n ; — und, •weil wir keine Nerven mehr haben etwas zu unternehmen und auszuführen, beweisen wir, da Ts der Weise weder Hand noch Fufs regen, sondern blofs z u s c h a u e n müsse; u n d , weil •wir ohne Nerven sind, und in dem Staate, •worin wir zu leben die Ehre haben, auch keine nöthig haben, sondern Drahtpuppen, nervis älienis mobilia ligna, sind, schwingen wir uns über die parteyischen kleinfügigen B ü r g e r t u g e n d e n h i n w e g , und — sdhwatzen von a l l g e m e i n e r W e l t b ü r g e r s c h a f t . — Kurz, je mehr wir durch die Abschälungen und Abstreifungen , die man mit uns vorgenommen, verloren haben, je spitzfindiger werden wir, uns zu beweisen: dafs ein Mensch desto v o 11k o m m n e r sey, je a b g e s t r e i f t e r er ist,

DES

MENSCHI.

GESCHLECHTS.

351

das ist, j e w e n i g e r e r z u v e r l i e r e n h a t ; so dafs einer erst dann ganz vollkommen wäre, wenn er gar nichts mehr zu verlieren hätte, das i s t , w e n n er g a r nichts mehr w ä r e ; — welches bekannter Mafsen das höchste Gut gewisser F a k i r n und Schüler des F o l i i in I n d i e n und allerdings ultima linea die u n t e r s t e S t u f e der A b n a h m e rcrum, des m e n s c h l i c h e n G e s c h l e c h t s ist, der wir, leider! zwar immer näher und näher kommen, sie selbst aber vermuthlich doch niemahls völlig erreichen werden.

352

ÜBEIV

DIE

VOIYGEBL.

ABNAHME

4In dem Kreise, worin uns die Natur ewig herum zu drehen scheint, lassen sich gleichsam z w e y P o l e angeben, wovon der eine den h ö c h s t e n Funkt der natürlichen Gesundheit, Gröfsp und Stärke des Menschen, und der andre den t i e f s t e n Punkt der Kleinheit, Schwäche, Erschlaffung und Verderbnifs bezeichnet. Jedes Volk in der Welt (dünkt mich) i s t dazu gekommen, oder w i r d dazu kommen, sich e r s t auf dem einen und e n d l i c h auf dem andern dieser Punkte zu befinden. Und wo suchen wir nun den e r s t e n dieser Zeitpunkte, den Z e n i t h d e r n a t ü r lichen Vollkommenheit des Mens c h e n ? — Wahrlich nicht in den gepriesenen goldnen Altern der Filosofie und des Geschmacks, nicht in den Jahrhunderten A l e x a n d e r s , A u g u s t s , L e o n s X. und L u d w i g s XIV. Das kann wohl niemanden mehr einfallen, der diese goldnen Zeiten ein wenig genauer angesehen, und nur einen Begriff davon

DES

MEKSCIIL.

GESCHLECHTS.

353

hat, was M e n s c h ist und seyn k a n n . Auszierung, Einfassung, Schminke und Flitterstaat machen es nicht aus; etliche gute Mahler, Bildhauer, Poeten und Kupferstecher wahrlich auch nicht! Man zeige inir in einem von diesen Jahrhunderten den Mann, der sich vor K a r i n d e m G r o f s e n , dem Sohn eines barbarischen Zeitalters, (wie wirs, d e n G r i e c h e n n a c h p l a p p e r n d , zu nennen pflegen) nicht zur Erde blicken müsse! Man messe (alle Umstände gegen einander gleich gewogen) die A l c i b i a d e n , A l e x a n d e r , C ä s a r n , (für die ich meines Orts übrigens allen Respekt habe) und neben I h m werden sie kleiner scheinen; wie L a n z e l o t t v o m S e e und seine Genossen neben dem alten B r a n o r , der eines ganzen Hauptes länger war als sie alle, — wie die alte Geschichte sagt. Ich vergesse nicht, dafs es unbillig wäre, K a r i n die Tugenden s e i n e r z e i t , und jenen Griechen und Römern die Untugenden der i h r i g e n ohne Abzug anzurechnen. Aber es ist auch hier nicht vom p e r s ö n l i c h e n V o r z ü g e dieser grofsen Menschen, (wiewohl ich glaube, dafs K a r l auch von d i e s e r Seite der gewinnende Theil seyn würde) sondern von dem Vorzuge der Z e i t e n die Rede —• und gewifs gebührt er derjenigen, w o man der künstlichem Ausbildung und Aufstutzung WlELANDiW.

XIV- B.

/ f -,

354-

UBER

DIE

VOEGEBL.

ABNAHME

eben darum nicht bedarf, weil die Natur noch alles thut. Ich weifs ungefähr, was sich zum Vortheil der Verfeinerung in Sitten und Lebensart, die wir den grofsen Monarchien und Hauptstädten, dem Luxus, der Nachahmung der alten Griechen und Römer, dem Handel, der Schifffahrt, und so weiter, zu danken haben, — und was sich gegen die rohe Lebensart und die derben Sitten der Patriarchen-Helden - und Ritterzeit, sagen und nicht sagen läfst. Es ist eine ausgedroschne, erschöpfte Materie, an der ich weder mehr zu dreschen noch zu saugen Lust habe. Aber hier ist die Frage: in welcher von beiden die Menschheit lautrer, gesunder, stärker und sogar gefühlvoller gewesen sey? — Denn unsre a l k o h o l i s i e r t e und so oft nur a f f e k t i e r t e Empfindsamkeit, die wir voraus zu haben glauben, ist nur ein schwaches S u r r o g a t für die lebendigen, starken, voll strömenden Gefühle der Natur. Oder vielmehr es ist k e i n e F r a g e : die Sache spricht für sich selbst; und niemand, so sehr ihn auch die Last unsrer Zeit zusammen gedrückt oder der Taumel unsrer vermeinten Vorzüge verdumpft haben mag, kann nur einen Augenblick anstehen, auf welche Seite er entscheiden soll.

DES

MEKSCHi,

GESCHLECHTS.

355

5-

W i r sind also, leider! nicht mehr Avas unsre Vorväter waren. Fuiinus Troes! Wir gewinnen im Kleinen, und verlieren im Grofsen. Unsre Abnahme, unser Verfall, ist schon seit Jahrhunderten die allgemeine Klage. Alles diefs ist ausgemacht. Aber, liegt die Ursache davon in der N a t u r s e l b s t , die, wie L u k r e z meint, als eine durch viele Geburten geschwächte Mutter, nicht mehr Kräfte genug hat so grofse Körper und gewaltige Thiere hervorzubringen wie vormahls ? Oder liegt sie in ä u f s e r n U r s a c h e n , und ist eine nothwendige Folge des ewigen Wechsels der menschlichen Dinge? — Erstreckt sie sich auf die Menschheit überhaupt, oder trifft sie nur besondere Völker und Zeiten? Giebt es irgend einen Punkt, wo sie still steht? einen Kreislauf, der.uns wieder dahin zurückbringt, wo wir schon gewesen sind? Oder hat diese

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UBER

DIE

VOAGEDL.

ABNAHME

fatale Abnahme keine Grenzen? Haben wir v o n A d a m u n d E v e n a n abgenommen, und werden so lange, von Generazion zu Generazion, immer kleiner, schwächer, und verkrüppelter werden, bis endlich (wie es einst der Nymfe E c c h o und dem Zauberer M e r l i n erging) nichts als eine b l o f s e S t i m m e , und zuletzt (wenn auch diese ausgetönt haben wird) gar nichts mehr von uns übrig ist? Eine kurze Fortsetzung meiner bisherigen Betrachtungen wird uns eine, wie mirs scheint, sehr natürliche Auflösung dieser Fragen an die Hand geben.

DES MENSCIIL. GESCHLECHTS.

357

6.

W i e alle Meinungen der Menschen, selbst die ungereimtesten, sich immer auf irgend eine T h a t s a c h e stützen; und wie wir Sterbliche fast immer nicht durch das was wir s e h e n , sondern durch das was wir daraus s c h l i e f s e n , betrogen werden: so scheint es auch h i e r ergangen zu seyn. Man bemerkte von einem gewissen Punkte bis zu einem andern eine stufenweise Abnahme; und nun schlofs man: die Menschen haben also immer abgenommen, und werden immer abnehmen; haben schon zu H o m e r s , ja schon zu des Patriarchen J a k o b Zeiten abgenommen; sind folglich desto gröfserund vollkommner gewesen je näher sie dem Ursprung der Menschheit waren , und werden desto schlechter, je weiter sie sich davon entfernen. Und nun liefs man die Einbildungskraft ausrennen.

558

ÜBER

DIE

VORPEBI..

ABNAHME

Ich will — um die Sache durch ein etwas kurzweiliges Beyspiel zu erläutern — nur bey einem einzigen Vorzug verweilen, den ein fast allgemeiner Glaube den Menschen der ältesten "Welt einräumt — nehinlich dem Vorzug einer ungeheuern körperlichen Gröfse. Wir wollen sehen, was wohl an der Sache seyn mag, und mit welchem Grunde sich daher auf die Abnahme der menschlichen Gattung schliefsen läfst. Nach dem Berichte der T a l m u d i s t e n war A d a m , selbst nach dem leidigen Fall, (wodurch er auch in diesem Stück unendlich viel verlor) noch immer n e u n h u n d e r t E l l e n hoch ; so dais ein S w i f t i s c h e r B r o b d i g n a k gegen ihn nur ein L i l l i p u t t e r gewesen wäre. Die A r a b e r , (nach der Erzählung des Wanderers M o n k o n y s ) machen sich keinen viel kleinern Begriff von der Gröfse unsrer ersten Stammältern; denn sie zeigen bis auf diesen Tag drey Berge oder Hügel in der Ebene von Mekka, auf deren einen E v a ihren K o p f , und auf die beiden andern (welche zwey Musketenschüsse weit von jenem abstehen) ihre K n i e bey einer gewissen Gelegenheit gestützt haben soll. 3) — Doch man weifs, dafs die Morgenländer starke 5) Dictionaire

de Bayle,

article

Adam.

DES

MENSCHL

GESCHLECHTS.

35j)

Liebhaber vom Vergröfsern sind. W i r wollen uns also an einen neuern abendländischen Gelehrten halten, der sich viele Mühe gegeben hat, auf den Grund der Sache zu kommen. Herr N i k o l a u s H e n r i o n , Mitglied der Academie des Inscrip tions zu Paris im ersten Viertel dieses Jahrhunderts, ein Mann, der eine grofse Stärke in den morgenländischen Sprachen besessen haben soll, arbeitete viele Jahre Tag und Nacht an einem grofsen Werke über Mafse und Gewichte aller Zeiten und Völker des Erdbodens. Es war seine Lieblingsbeschäftigung; aber je mehr er Entdeckungen machte, und je tiefer er sich in die alte Welt hinein grub, je mehr wuchs seine Arbeit ins unermefsliche; und so überraschte ihn der Tod, eh' er damit zu Stande kommen konnte. Der Umstand , . dafs alle Völker von jeher mit F ii f s e n gemessen haben, brachte ihn auf Untersuchung der verschiedenen Gröfse des menschlichen Fufses, und diese auf Ausmessung der ganzen Gröfse der Menschen in verschiedenen Zeitaltern. Im Jahre 1718 brachte er der Akademie eine kronologische Tabelle der Verschiedenheiten der Länge des menschlichen Körpers, von Erschaffung der Welt an bis zur christlichen Zeitrechnung, so wie er sie nach seinen vermeinten Entdeckungen ausgerechnet hatte. Vermöge derselben hätten sich zwar die R a b -

360

ÜB En

DIE

V O R G E B I«

ABNAHME

L i n e n um etwas verrechnet; jedoch bliebe unsern Stammältern immer noch eine sehr ansehnliche Länge. A d a m war, nach H e n r i o n s Tabelle, ein hundert drey und zwanzig Fufs neun Zoll Pariser Mafs, und E v a ein hundert und achtzehn Fufs, neun und drey Viertel Zoll lang; beide also ungefähr achtzehn bis zwanzig Fufs länger als der berühmte K o l o f s zu R h o d u s . Bey der n e u n t e n Generazion zeigte sich bereits eine merkliche Abnahme; N o a l i hatte schon zwanzig Fufs weniger als Adam: und bey der n e u n z e h n t e n schrumpfte das Menschengeschlecht vollends zu wahren Zwergen ein; denn Vater A b r a h a m mafs nur noch sieben und zwanzig bis acht und zwanzig Fufs. Nun wurden die Zeiten immer schlechter, so dafs für M o s e nur dreyzehn und für den T h e b a n i s c h e n H e r k u l e s 4) kaum zehen Fufs blieben. A l e x a n d e r d e r G r o f s e mufste sich an 6echs Fufs begnügen lassen; und C ä s a r ( z u dessen Zeiten man die Gröfse eines Mannes schon lange nicht mehr nach F ü f s e n ausmafs) Cäsar konnte ein grofser Mann mit fünfen seyn.

4 ) Der nach Frerets Berechnung (Memoir des Inscr.

Tom. VII.

de VAcad.

p. 405 ) ungefähr zwey hundert

Jahre später ist als Moses.

DES

MEKSCHt.

GESCHLECHTS.

561

Schade dafs die Akademie der Aufschriften uns nicht -wenigstens einen Theil der Gründe und Belege hat mittheilen wollen, w o m i t H e n r i o n diesen merkwürdigen M a f s s t a b d e r M e n s c h h e i t ohne Z w e i f e l zu rechtfertigen im Stande w a r ! Man hätte sie doch wohl in seinen nachgelafsnen Papieren finden sollen. Insonderheit hätte ich sehen mögen, aus was f ü r Gründen er uns hätte begreiflich machen w o l l e n , wie, zu einer Z e i t , da die menschliche Gattung schon auf z w ö l f bis dreyzehn Fufs eingeschrumpft w a r , die K i n d e r Enalcs noch so ungeheure P o p a n z e seyn konnten, dafs die Israelitischen Kundschafter sich selbst gegen jene nur w i e H e u s c h r e c k e n vorkamen. 5) Der A b b e ' T i l l a d e t hatte der Akadem i e , schon lange zuvor (im Jahre 1 7 0 4 . ) eine Abhandlung über d i e R i e s e n vorgelesen, w o r i n er aus heiligen und profanen Skribenten bewies, dafs es in den eisten z w e y Jahrtausenden R i e s e n v ö l k e r gegeben habe, und dafs nicht nur Adam und die ersten Patriarchen , sondern auch die Anführer der morgenländischeu Kolonien, die nach und nach die Abendländer bevölkert haben, insgesammt R i e s e n gewesen. 5)

4 B. Mose 15.

W l E l A « l ) S

W.

XIV.

B.

46

562

ÜBER

DIE

VORCÜBL,

A B N A H M E

Einige Jahre darauf nalnn M a h ü d e l die Frage wieder a u f , und weil ihn däuchte, dafs T i l l a d e t die Sache ein wenig z u leichtgläubig und seichte behandelt habe, so untersuchte er sie, in derechten S h a n d y i s c h e n Manier, als ein Naturkundiger, Zergliederer, Mechanilcus, Geschichtsforscher, Kunstrichter, Staatsmann ; Moralist, Ökonomist, u. s. w . und so fand sich denn freylich, dafs die Männer, die, mit einer Fichte statt des Stabes in der Hand, über Berg und Thal daher schritten, und denen, wenn sie ins Meer hinein gingen, das Wasser kaum bis an die Kniekehlen reichte, bey genauerer Ausmessung zu ganz leidlichen Ungeheuern w u r d e n ; so wie das fürchterliche weifse Gespenst, das uns die Haare zu Berge stehen machte, beym Lichte besehen und mit Händen betastet, zu einem unschuldigen — Hemde wird. Diefs gilt nicht nur den Mährchen solcher Geschichtschreiber Avie zum Beyspiel der Mönch H e i i n a n d und sein

6)

E i n Kronikschreiber

aus dem A n f a n g e des drey-

zelinten Jahrhunderts, auf dessen Glaubwürdigkeit

die

schöne Erzählung beruht von der Entdeckung des Grabes des v o m Virgil besungenen Prinzen P a l l a s ,