„Bolschewigenzija" und Perestrojka


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„Bolschewigenzija" und Perestrojka

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Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien „Bolschewigenzija" und Perestrojka Alexej Stykow

18-1991

Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FÜR OSTWISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN herausgegebenen Veröffentlichungen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wieder. © 1991 by Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln Abdruck und sonstige publizistische Nutzung - auch auszugsweise nur mit vorheriger Zustimmung des Bundesinstituts sowie mit Angabe des Verfassers und der Quelle gestattet. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Lindenbornstraße 22, D-5000 Köln 30, Telefon 0221/5747-0

INHALT

Seite

Kurzfassung

1

1. Russische Intelligenzija und "Bolschewigenzija": Zur Problematik ihres Nachfolgeverhältnisses

5

2.

Die Wissenschaftlichkeit der Intelligenzija und die "traditionelle Gesellschaft"

15

3. Die heutige "Bolschewigenzija" während des neuesten Versuchs zur Modernisierung Rußlands

26

Die letzte Generation

44

Summary

53

März 1991

Die vorliegende Arbeit ist aus einem Forschungsauftrag des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien hervorgegangen. Der Verfasser dieses "Berichts" ist freiberuflich wissenschaftlich tätig. Redaktion: Bernd Knabe

Alexej Stykow "Bolschewigenzija" und Perestrojka Bericht des BlOst Nr. 18/1991 Kurzfassung Alexej Stykow untersucht in dieser Studie die Rolle der russischen Intelligenzija im Verlauf der Geschichte Rußlands und der Sowjetunion in diesem Jahrhundert, die er vornehmlich als Modernisierung des Landes versteht. Daß er diesem Prozeß skeptisch gegenübersteht, macht seine Einschätzung des Europäisierungsversuchs Peters I. deutlich - bereits seit dem 18. Jahrhundert müsse eine "fortschreitende Paralyse des eigentlichen Rußland" konstatiert werden. Durch ihre einseitige Westorientierung habe die Intelligenzija bereits im 19. Jahrhundert den Kontakt zum Volk verloren und sei zu einer marginalen Gruppe geworden. Anstelle der Religion und der nationalen Idee seien die sozialistische Utopie, die Wissenschaft und der Globalismus getreten. Statt des wissenschaftlichen Relativismus habe sich immer stärker eine "wissenschaftliche" Weltanschauung durchgesetzt, mit der allerdings auch die Bereitschaft zur Mythenbildung einherging. Für Stykow ist die Geschichte Sowjetrußlands zwischen 1917 und 1990 die permanente Konfrontation zwischen der "traditionellen Gesellschaft" und der von ideokratischen Positionen ausgehenden Intelligenzija. Bei ihr handele es sich dabei auf der einen Seite um die intellektuelle Elite (Intelligenz i.e.S., Technokraten), auf der anderen Seite um die politische Elite (Partei-, Sowjet- und Staatsbürokratie). Zwar lasse sich für die letzten sieben Jahrzehnte ein Dauerkonflikt zwischen beiden Eliten konstatieren, doch handele es sich um zwei Teile eines Ganzen, die sich gegenseitig bedingten. Für Stykow ist die 1985 von M. Gorbatschow begonnene Perestrojka in erster Linie ein weiterer Versuch der Modernisierung Rußlands. Als Inspiratoren und Initiatoren der Perestrojka identifiziert er Angehörige der "Sechziger"-Generation, solche Intellektuellen also, die nach 1945 aufgewachsen sind, ihre wesentliche politische Prägung während der "Tauwetterperiode" der fünfziger und sechziger Jahre erfahren haben. Als Vertreter dieser Generation nennt er Andropow, Jelzin, Gorbatschow und Ligatschow, daneben aber auch Sacharow, den Regisseur Ju. Lpubimow, die Historiker Ju. Afanasjew und L. Batkin sowie die Ökonomen L. Abalkin und A. Aganbegjan. Tatsächlich handele es sich bei allen diesen Personen um Angehörige der linksradikalen Parteiintelligenz, der dritten Generation der "Bolschewigenzija". Die Großväter der Angehörigen dieser Gruppe hätten die bolschewistische Intelligenz in den Jahren vor und nach der Oktoberrevolution 1917 gestellt, die dann in der Folgezeit von der internationalistischen Intelligenz abgelöst worden sei. Die gegenwärti-

- 2gen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der politischen und der intellektuellen Elite müßten als "Streit im eigenen Hause" verstanden werden, ähnliches habe es in der sowjetischen Geschichte wiederholt gegeben. Stykow fragt nach den Ursachen der Krise des Sozialismus, wobei er auch die anderen Länder Osteuropas einbezieht, und nach den Aussichten der Perestrojka, die für ihn den "politischen Selbstmord der Bolschewigenzija" bedeutet. Die Arbeit ist aus einem zunächst viel umfangreicher geplanten Forschungsprojekt "Sowjetische Perestrojka und linksradikale politische Kultur: historisch-soziologische Analyse des 'bolschewigentischen' Bewußtseins" hervorgegangen, das Stykow und sein Moskauer Kollege Andrej Ignatjew Anfang 1990 geplant haben. Als Mitarbeiter waren auch zwei Wissenschaftler des im Mai 1990 gegründeten "Zentrums für soziale Forschungen 'Rossika'", M. Koshokin und A. Bystrizki, vorgesehen. Da die für die Durchführung des Projekts benötigten Mittel nicht beschafft werden konnten, konzentrierte sich Stykow auf seine Forschungen, die in eine Habilitationsschrift an der Berliner Humboldt-Universität eingehen sollen. Thema seiner Dissertation (1989 an der Pädagogischen Hochschule Dresden) war "Zur Gesellschaftsanalyse des gegenwärtigen westlichen Marxismus". Daß Stykow in seiner Studie zu sehr bemerkenswerten Ergebnissen gelangt, ist sicher auch auf die Spezifik seines methodischen Ansatzes zurückzuführen. Seine profunden Kenntnisse der russischen Kultur- und Geistesgeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts kombiniert er mit neueren politologischen und soziologischen Ansätzen (Organisations- und Gruppentheorie, Modernisierungstheorie, ethnosoziologische Methoden). Aus seinem persönlichen Standpunkt macht Stykow kein Hehl, doch tritt dieses starke Engagement nicht als Störfaktor in Erscheinung. Eine Erstfassung des Manuskripts hatte Stykow im Herbst 1990 fertiggestellt. Nach einem Vortrag im BlOst hat er das Manuskript überarbeitet und übersetzt. Der Redakteur hat bei seinen Korrekturen versucht, den Stil Stykows nach Möglichkeit beizubehalten. Als wesentliche Ergebnisse der Untersuchung sind herauszustellen: - Die ersten Jahre nach 1985 haben gezeigt, daß es vielen Vertretern des intellektuellen Zweiges der Bolschewigenzija vor allem um eine Revanche für die letzten 50 Jahre ging, in denen im wesentlichen die politische Elite das Sagen hatte. Trotz ihrer Stellungnahmen gegen den Bolschewismus, ihrer Bekenntnisse zur "Demokratie" und zur Religion seien diese Intellektuellen ihren Grundüberzeugungen treu geblieben. - Entsprechend dem Pragmatismus Lenins, der auch vor dem Verrat an früheren Prinzipien und Weggefährten nicht zurückgeschreckt habe, sei auch der Sozialismus außerordentlich anpassungsfähig: "Die historischen Tatsachen des 20. Jahrhunderts zeigen uns den Sozialismus in seiner ganzen geistigen Belie-

- 3bigkeit und schöpferischen Unfruchtbarkeit auf dem Gebiet der Entdeckung wirklich neuer Wege und Alternativen gesellschaftlicher Entwicklung . . . Sie (die Sozialisten) sind in der Lage, alles nur erdenklich Mögliche auf ihre Fahnen zu schreiben: "Industrialisierung" (der Marxismus), "Nation" (der Nationalsozialismus), "Demokratie" (der demokratische Sozialismus), die "globalen Probleme" (das "neue Denken" Gorbatschows )." - Im gegenwärtigen Kampf um die Macht werde die intellektuelle Gruppierung innerhalb der Bolschewigenzija von verschiedenen populistischen Gruppen unterstützt, unter anderem auch von der einflußreichen "Demokratischen Partei Rußlands" N. Trawkins. Da es den hinter dieser Partei stehenden Gruppen vornehmlich um die Umverteilung von Eigentum gehe, werde auch hier sozialistisches Gedankengut deutlich. Von daher Stykows Schluß: "Der gegenwärtige Streit zwischen 'Linken' und 'Rechten' ist kein Streit zwischen Progressisten und Reaktionären, sondern zwischen Reaktionären unterschiedlicher Qualität." - Die Bolschewigenzija kann die Wirklichkeit nicht verstehen; eine Eigendynamik der Realität wird nicht als Möglichkeit in Betracht gezogen. Die Gesellschaft wird als Pyramide betrachtet, die durch Anordnungen von oben geformt werden kann hier werde das "Vertrauen auf die bolschewistische Magie von der Zauberkraft des Wortes" deutlich. - Auch von daher sei erklärlich, daß das politische Prestige der Intelligenzija vor allem in den Bildungsschichten und bei den Bewohnern der Hauptstädte stark ausgeprägt sei. Dort sei es 1989/90 auch zur Bildung von über 20 Parteien gekommen, bei denen es sich freilich im wesentlichen um "Einmannvorstellungen" von Angehörigen der radikalen Intelligenz handele. Sie hätten im wesentlichen keine Verbindung zu konkreten sozialen Gruppen und dürften sich nicht das Image von Nachfolgern vorrevolutionärer Organisationen anmaßen. - Wenn sich die Bolschewigenzija zum Prinzip der "Gewaltfreiheit" bekenne, so bedeute dies das Ende des Systems und den politischen Selbstmord der Bolschewigenzija; ihr werde es genau so ergehen, wie den Kommunisten und anderen Linken in Osteuropa, denn: "Der Versuch zur Demokratisierung der 'Okkupationszone' ist für seine Initiatoren genau so sinnlos und gefährlich, wie der Versuch zur Demokratisierung eines Gefängnisses." Da es während der über siebzigjährigen Geschichte Sowjetrußlands alle jetzt für die Krise verantwortlich gemachten Phänomene bereits gegeben habe, müsse als wesentliche Ursache der jetzigen Existenzkrise des Sozialismus der Versuch der Bolschewigenzija bezeichnet werden, Elemente der Demokratie in das sozialistische System zu implementieren. - Während für viele Völker Osteuropas durch diese Wende ein Neuanfang möglich geworden sei, zeichne sich für das Schicksal

- 4 des russischen Volkes und der Bolschewigenzija selbst eine eher tragische Perspektive ab. Die mit der Perestrojka eingeleiteten Reformen erwiesen sich für Rußland als schädlich, möglicherweise sogar zerstörerisch. In dieser Situation votierten auch Vertreter der intellektuellen Bolschewigenzija für eine Verstärkung der staatlichen Autorität, da sie die "Macht der Straße" fürchteten. Andere neigten zu einer Selbstmystifizierung der Bolschewigenzija, indem sie eine Bedrohung durch nationalistische Extremisten oder Faschisten behaupteten. Mitunter müßte dies als Reaktion auf das Auftreten einer neuen Generation verstanden werden, die sich von jedem Sozialismus losgesagt habe. Ein wesentlicher Irrtum führender Sowjetologen (Kennan, Pipes, Cohen) bestehe darin, daß sie von einem Gegensatz zwischen der internationalistischen bzw. kosmopolitischen Intelligenzija und der nationalen bzw. nationalistischen "sowjetischen Bürokratie" ausgegangen seien. In Wirklichkeit habe es sich dabei um zwei verschiedene Herangehensweisen im Rahmen derselben gegen das Volk gerichteten Methode der Modernisierung gehandelt - mit ähnlichen Programmen sollte die soziale und ökonomische Transformation der Gesellschaft durchgesetzt werden (bei der radikalen Intelligenzija auf dem amerikanischen Weg, d.h. mit einer größeren Einflußnahme des Auslandes, bei der Bürokratie auf dem preußischen Weg, der diese Öffnung nicht vorsehe). Erst seit 1990 sieht Stykow das Entstehen authentischer gesellschaftlicher Organisationen, wobei er sich über ihr Wesen und ihre Programmatik nicht expressis verbis äußert. Aus seinen Ausführungern läßt sich aber der Schluß ziehen, daß bei ihnen die nationale und religiöse Orientierung im Vordergrund stehen wird. Ob sich bei der Anknüpfung an russische Traditionen die Übernahme quasi-sozialistischer Ideen ausschließen läßt, bleibt abzuwarten. Stykow hofft auf "sowohl friedliche als auch gewaltsame" Alternativen zur Diktatur.

1. Russische Intelligenzija und "Bolschewigenzija": Zur Problematik ihres Nachfolqeverhältnisses Es ist sehr verbreitet, die russische Intelligenzija als eine spezifische und sehr aktive Bevölkerungsgruppe aufzufassen, die im Laufe der von ihr selbst vorbereiteten und inaugurierten sozialen Katastrophe seit 1917 praktisch verschwunden ist. Daher schlagen einige Autoren vor, in bezug auf die Gegenwart den Begriff der Intelligenzija gänzlich vom Gebrauch zu suspendieren und alle die Leute, welche heute in der UdSSR zur gebildeten Schicht gehören, als "Obrasowanschtschina" (Ausgebildetenschaft) zu bezeichnen (so z.B. A. Solshenizyn)A Es gibt eine Fülle historischer Tatsachen, die aufzeigen, daß die ehemalige russische Intelligenzija in der Tat äußerst geringe Chancen hatte, auf Dauer die russische Revolution zu überleben. Eine überraschende Ähnlichkeit von sozialen und kognitiven Aktivitäten zwischen den beiden, voneinander durch die Zeit getrennten sozialen Gruppen "russische Intelligenzija" und "Obrasowanschtschina" gestattet jedoch durchaus den Versuch, das Problem eines Nachfolgeverhältnisses zwischen beiden zu erörtern. Zu guter Letzt mag ins Feld geführt werden, daß es wenig Sinn macht, einer großen spezifischen sozialen Gruppe, auch wenn sie "Obrasowanschtschina" heißen möge, das Recht abzusprechen, sich als "russische Intelligenzija" zu begreifen. Und daher gilt auch, daß die wesentlichste Erscheinung, die zu einer solchen Erbidentifikation ermutigt, eine sehr tiefgehende und vielseitig entwickelte Ganzheit von Ideen und Vorstellungen A. Solshenizyn schrieb in seinem Artikel "Obrasowanschtschina": "Da wir bisher von niemandem eine klare Bestimmung der Intelligenzija erhalten haben, hat es sich so ergeben, daß wir irgendwie aufgehört haben, weiter nach einer solchen zu fragen. Unter diesen Begriff fällt in unserem Land heute die gesamte gebildete Schicht, alle, die eine Schule mit mehr als sieben Klassen absolviert haben." Der Autor meint, daß man "... jene gebildete Schicht, alles das, was sich heute unter falschem Namen und übereilt 'Intelligenzija' nennt, als 'Obrasowanschtschina' (Anführungsstriche hier - A.S.) bezeichnen ..." sollte. A. Solshenizyn, "Obrasowanschtschina", in: Gesammelte Werke (russ.), Bd. 9 - Vermont, Paris 1981, S. 89.

- 6 der sowjetischen Intellektuellen über sich selbst ist, die ihnen sagt, daß in der Tat genau sie jene gewisse "Intelligenzija" heute verkörpern. Erkennt man solche Erscheinungen nicht an, indem man nur die äußerlich-sozialen, in der Tat kolossalen Erschütterungen in Betracht zieht, so wird ziemlich vielem das Lebensrecht abgesprochen. Zum Beispiel wäre die Existenz des Volkes in seiner Qualität als "russische Nation" ebenfalls in Frage gestellt. Selbst A. Solshenizyn äußert sich beim Vergleich zwischen der "Vechi"-Intelligenzija des vorrevolutionären Rußland und der "Obrasowanschtschina" ermutigend: "Auch heute scheinen uns die 'Vechi' wie aus der Zukunft zugesandt. Und dabei kann man es nur für erfreulich halten, daß sich in Rußland die Schicht zu verbreitern scheint, welche dazu in der Lage ist, dieses Buch zu unterstützen."2 Auch wenn man die äußere Ähnlichkeit betreffs ungelöster nationaler Probleme in Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in dem am Ende dieses Jahrhunderts anerkennt, so wäre es sehr übertrieben, von Identität oder Wiederholung der Ereignisse zu sprechen, oder auch "historische Zyklen" zu postulieren. Ungeachtet dessen scheint allerdings eine These, die davon ausgeht, daß sowohl in der alten russischen als auch in der sowjetischen Gesellschaft ein analoger Typ des reflektierenden Subjekts "Intellektueller" vorherrscht, nicht unbegründet zu sein. Es gibt eine Menge Anzeichen dafür, daß dieser Typ im Verlauf einer langen historischen Periode bestrebt war (und eigentlich bis heute nicht ohne Erfolg danach strebt), ein Monopol in bezug auf die nationale Weltsicht zu erlangen und konsequent seine diesbezüglichen Konkurrenten sowie jede andere Herangehensweise zum Ver-

Ebenda, S. 79.

_ 7 ständnis und Überdenken der in der Gesellschaft stattfindenen Prozesse auszuschalten. Es seien hier kurz Charakteristika der russischen Intellektuellen, welche F. Dostojewski, die "Vechi", I. Iljin, A. Solshenizyn sowie andere hervorgehoben haben, sowie die mit ihnen verwandten Merkmale der sowjetischen Intellektuellen aufgezählt. Die Intelligenz betrachtet sich als die schicksalhafte Vorhut (Vorsehung - "providenie") für das ganze Land und neigt vorschnell zu pessimistischen Schlußfolgerungen (vgl. "Tagebuch eines Schriftstellers" von F. Dostojewski); sie grenzt sich stark von den sogenannten "Kleinbürgern" ab; entwickelt ein übertriebenes Gefühl für die eigenen Rechte; glaubt, daß eine Gesundung der Gesellschaft ausschließlich durch äußere soziale Reformen zu erreichen sei, wobei dieser Glaube nur mit einem schwachen oder überhaupt keinem Appell an die persönliche Verantwortung gekoppelt ist; für sie existiert fast überhaupt kein Problem "persönlicher Schuld" (A. Solshenizyn); ihre Interessen und Projekte sind immer global, mit "Kleinigkeiten" gibt sie sich nicht ab. In diesem Zusammenhang ist es durchaus von Interesse, einmal nachzufragen, ob die russische Intelligenzija überhaupt in der Lage ist, die erwähnten "Kleinigkeiten" in den Griff zu bekommen. A. Tschechow meinte z.B., daß die Intelligenzija sich sehr stark von den Vertretern "anderer gebildeter Schichten" distanziert (z.B. von Ingenieuren). Außerdem bemerkt er ebenso wie andere russische Schriftsteller (M. Bulgakow, N. Leskow, A. Pisemski), daß hierbei sogar ein gewisser "Haß" gegenüber qualifizierten Spezialisten auftritt, ein Wunsch, letztere zu demütigen, zu erniedrigen oder zu beleidigen. Eine solche Haltung ist natürlich kein Privileg der russischen Intelligenzija. Vielmehr trifft man diese Einstellung wohl bei der gesamten europäischen linksradikalen politischen Kultur an. So traten z.B. in der Bundesrepublik "Linke" und "Grüne" ebenfalls gegen Ingenieure und andere qualifizierte Spezialisten auf (z.B. gegen

- 8Mitarbeiter von Atomkraftwerken oder generell des Energiewesens). Und auch die Vorwürfe waren dieselben: "Ingenieure sind käuflich", "... leisten Dienste für die Ausbeuter" usw. Offenbar ist es die "Professionalität", die intensive Beschäftigung mit "Kleinigkeiten", welche der radikalen Intelligenz mißfällt und sie dazu provoziert, den "Spezies" ihren "Globalismus" (oder ihre "Globalistik" in den Sozialwissenschaften) entgegenzusetzen. Zu den typischen Charaktermerkmalen der russisch-sowjetischen Intelligenzija gehört ebenfalls ihre tiefe Ergebenheit gegenüber den Ideen der Gleichheit, des Kollektivismus und der Werte der sozialen Existenz. Charakteristisch ist dabei, daß das Streben nach Gleichheit historisch von der überwiegenden Mehrheit der Intellektuellen als eine Nivellierung aller Hierarchien und Unterschiede üherhaupt angesehen wurde, wobei im Verlaufe dieser Vereinheitlichung die sich einigenden (genauer eigentlich: die von außen vereinigten) Teile des Ganzen auch ihre Eigenständigkeit und Identität verlieren. Traditionell begründete eben dieser Umstand die Unhaltbarkeit der beschworenen neuen Einheit. Das ererbte irrationale Streben der russischen und sowjetischen Intelligenzija nach einer "vereinfachenden Vermischung" ("uprostitel'noje smes'enie" bei K. Leontjew) bestimmt auch ihren insgesamt protosozialistischen Charakter. Die Kraft der Bolschewiki und der gesamten russischen linksradikalen Kultur beruhte im wesentlichen darauf, daß sie die oben erwähnte Neigung der russischen Intelligenzija konsequent bis zum schrecklichen Ende führten und dadurch einen möglichen konstruktiven Widerstand seitens derselben paralysierten. Das berüchtigte "Volkstümlertum", welches zum Aushängeschild der russischen Intelligenzija wurde (und im großen und ganzen auch den europäischen linksradikalen Kulturen, z.B. dem Marxismus, eigen ist), bekräftigt das hier betrachtete Nachfolgeverhältnis nur.

- 9 In diesem Zusammenhang ist der Artikel "Treten die Bolschewiki die Macht an die Sowjets ab?" von Nikolai Trawkin, dem Vorsitzenden der "Demokratischen Partei Rußlands", von großem Interesse. Beim Lesen dieser programmatischen Schrift hat man unwillkürlich den Eindruck, als seien die letzten 70 bis 80 Jahre spurlos an der russischen radikal-demokratischen Intelligenz vorübergegangen: Ton, Stil und Lexik sind dieselben geblieben. Gleich geblieben sind die Betrachtungen über das "Wohl des Volkes" bzw. über das, was ein besorgter "Intelligenter" (der "intelligent" im Russischen, negativ besetzt gegenüber dem "intellektual" als vollwertigem Angehörigen der Intelligenzija) darunter versteht. Im Jahre 1906 schrieb der russische Radikaldemokrat A. Peschechonow in seiner Arbeit "Brot, Licht und Freiheit: "Die Frage danach, was das russische Volk braucht, kann man offensichtlich sofort beantworten. Das russische Volk braucht natürlich genügend Nahrung, Schuhwerk, Kleidung sowie warme, helle und geräumige Wohnungen." Der Artikel seines Nachfolgers von anno 1990 enthält sehr ähnliche Wendungen und Gedanken: "... was aber kostet das dem Volk . . . ", "... die ganze Last trug das Volk...", "... Antivolkspartei ... (in bezug auf die KPdSU - A.S.)", "... auf Kosten des Volkes...", "... dem Volk entgegengehen..." usw.3 Der sowjetische Publizist A. Bystrizki unterstreicht in diesem Zusammenhang, daß eine Spaltung in "Volk" und "Intelligenzija" als etwas sehr Zwiespältiges einzuschätzen ist. Er schreibt: "Eine derartige Unterscheidung ist untauglich und trägt mystifizierenden Charakter, da sie keine Anweisungen zum Übergang von einem Zustand in den anderen gibt, ja mehr noch, eigentlich Angst davor hat. Und nicht umsonst fällt es vielen "Intelligenten" reichlich schwer, mit dem "Volk" zu verkehren - früher und heute ganz genau so. Denn eigentlich sind sie vom "Volk" nicht Vgl. N. Trawkin, Treten die Bolschewiki die Macht an die Sowjets ab?, in: Demokratisches Rußland (russ.), Nr. 2, S. 1-2.

- 10 aufgrund irgendeiner gesellschaftlichen Rolle, aufgrund einer Funktion in einer Struktur getrennt, sondern aufgrund ihrer isolationistischen Selbstidentifikation, die nur Sinn in Pseudostrukturen macht. Es ist festzustellen, daß es oftmals den Konservativen leichter fällt, sich ungewzungen und verständlich mit dem "Volk" zu unterhalten."4 Bei allen Unterschieden im Herangehen an eine definitorische Bestimmung der Intelligenzija ist es jedoch allgemein anerkannt, daß sie historisch etwas Nichttraditionelles und Fremdartiges für den nationalen Organismus Rußlands war. Diese Tatsache bestimmte auch ihren Übergangscharakter, die Unscharfe ihrer soziologischen Grenzen sowie die allgemeine Fluktuation in ihrer Zusammensetzung. Die historischen Faktoren, welche der russischen Intelligenzija ihren marginalen sozialen Status seit dem 18. und 19. Jahrhundert bis heute aufprägten und sie dem traditionell-nationalen Selbstgefühl, vor allem aber dem russisch-orthodoxen Glauben, entfremdeten, konnten jedoch nicht das starke angeborene Glaubensbedürfnis auslöschen. Wie alle Menschen, die einen konsequenten Atheismus nicht ertragen können, griffen auch die Angehörigen der Intelligenzija nach der Trennung von der Kirche und dem orthodoxen Glauben zu Glaubensersatzformen der unterschiedlichsten Art. Genau dieses Bedürfnis führte sie auch zum "Sozialismus", zum "Westlertum" und zum Glauben an die "Wissenschaft". Das genannte Bedrüfnis förderte auch das Streben nach einer abgeschlossenen "Weltanschauung", welche dem wissenschaftlichen Relativismus ein Ende bereiten sollte. L. Schestow bemerkte hierzu folgendes: "Drei Viertel unserer Erziehung beruhen darauf, uns auf ausgeklügelte Weise beizubringen, wie wir am besten den Wandel unserer Ansichten und Stimmungen verbergen können. Ausgehend von utilitaristischen Überlegungen, postuliert die Moral hier, wie auch überA. Bystritzki, Die soziale Katastrophe - oder wer wie die Gesellschaft reformiert (russ.), unveröffentlichtes Manuskript, Moskau 1990, S. 13.

- 11 all, das ewige Prinzip: Du sollst Deinen Überzeugungen treu bleiben! In Kreisen der Kulturintelligenz geht das so weit, daß man sogar vor sich selbst Angst hat, unbeständig zu sein. Menschen mit solchen Einstellungen versteinern geradezu in ihren Glaubenshaltungen..."5 Es war das Streben nach einem Glaubensersatz, welches unter der russischen Intelligenzija meistens dazu führte, in den Gesellschaften des Westens mehr zu sehen als die einfache Realität. "Ihm (dem russischen Intellektuellen - A.S.) erzählte man von Eisenbahnen, landwirtschaftlichen Maschinen, Schulen und von der kommunalen Selbstverwaltung. In seiner Phantasie jedoch verwandelte sich das alles in Wunder: allgemeines Glück, grenzenlose Freiheit, das Paradies, Flügel usw."6 Selbstabgrenzung (z.B. vom "Volk") ist zwar für die russisch-sowjetische Intelligenzija insgesamt gesehen charakteristisch, ihren Höhepunkt jedoch erreicht sie in der intellektuellen Abgehobenheit und Distanzierung vom allgemeinen Schicksal der Nation. Ihren "Exodus" vollzieht die Intelligenzija dabei jedoch nicht ins Niemandsland, sondern sie bevorzugt ganz bestimmte Ufer: z.B. die der Frankophilie, Anglomanie etc. Diese hartnäkkige Absage an eine Weiterentwicklung eigener nationaler Traditionen und Ideen, also an die Grundlage jeglicher nationaler Existenz bedeutet in der Tat immer einen Dienst an den Ideen anderer Nationen. Es kann jedoch sein, daß der sogenannte "Internationalismus" und der "Nationalnihilismus" nur getarnte Versionen des Nationalismus darstellen. Iwan Iljin hat einen der Gründe der russischen Tragödie des 20. Jahrhunderts wie folgt bestimmt: "Wenn die Masse des einfachen russischen Volkes es vorzog, nicht der eigenen nationalen gebildeten Schicht, son5

L. Schestow, Apotheose der Bodenlosigkeit - ein Versuch adogmatischen Denkens (russ.). Bd. 4, Paris 1971, S. 107108. Schestow selber meinte, daß "... der Mensch seine 'Weltanschauung' genau so oft wechseln sollte wie seine Schuhe oder Handschuhe. In seinen Beziehungen zu anderen Menschen jedoch sollte man durchaus beständig sein. Schließlich ist es für diese ja notwendig, zu wissen, wann und in welchem Maße sie sich auf Sie verlassen können". Ebenda, S. 37.

6

Ebenda, S. 50.

- 12 d e m fremden internationalistischen Abenteurern zu folgen, so sollte die russische Intelligenzija in erster Linie die Gründe dafür bei sich selbst suchen.""? Rußland wurde und wird von der linksradikalen Intelligenzija bis heute als ein einziges Sammelsurium verschiedener Zufälle, Völker und Kriege aufgefaßt. "Die russische Intelligenzija hat aufgehört, an Rußland zu glauben ... dadurch hat sie auch keine Wurzeln mehr im eigenen Volk."8 Während der Erste Weltkrieg tobte, wies Sergej Bulgakow nachdrücklich auf diesen gefährlichen Umstand hin und versuchte, die Ursachen für diese schon "hypnotisch" zu nennende Ergebenheit der russischen Seele gegenüber dem Westen zu bestimmen. In seinem Artikel "Der Krieg und das russische Selbstbewußtsein" (1915) lesen wir: "... vor allem durch seinen Komfort imponierte Westeuropa den barbarischen Völkern und zog diese an, und genau von diesem Komfort gefangen... huldigten seit den Zeiten Peters I. auch unsere Landsleute Westeuropa . " 9 Die Lebenselemente einer Kultur, die organisch auf dem Boden Westeuropas entstanden war, nahm die russische Intelligenzija in sich auf und wurde somit zur "marginalen Gruppe" im eigenen Lande. Bis hin zur Perestrojka war sie die treibende Kraft aller Versuche zur "Modernisierung" Rußlands und in dieser Intelligenzija hatte der Westen seine "Avantgarde". Durch sie versuchte er, Ökonomismus, Juridismus, Methodismus und den Rationalismus seines Geistes und Lebens in den sich all diesem nur schwer öffnenden russischen Boden einzupflanzen.

I. Iljin, Über die russische Intelligenzija (russ.), in: Russkij Kolokol (Russische Glocke) 1927, Nr. 2, S. 6. Ebenda, S. 6-7. S. Bulgakow, Der Krieg und das russische Selbstbewußtsein (russ.), Moskau, 1915, S. 9.

- 13 Die Neigung der marginalen russischen Intelligenzija zur Mythenbildung findet heute (wie auch zu Beginn unseres Jahrhunderts) ihren Ausdruck darin, daß das "Westlertum" ("Zapadnicestvo") rein religiösen Charakter annimmt. S. Bulgakow hat das bereits 1915 feststellen können: "Für einen derartig gläubigen Westler wird der Westen zu einem gewissermaßen absoluten Faktum, zu einer höheren Wirklichkeit, zu einem Mekka, zum Gelobten Land."1^ Diesem recht derben Religionsersatz (einem intellektuellen Mythos) stellte Bulgakow das bourgeois-unternehmerische, das händlerische Westlertum gegenüber, welchem bis dahin nicht beschieden war, in Rußland die Oberhand zu gewinnen. Das Rußland nivellierende und alles simplifizierende religiöse Westlertum hingegen, welches den Einzug in die "gemeinsame Familie der westlichen Völker" predigt, ohne dabei ein eigenständiges Profil zu entwickeln, bedeutet den Aufruf zur nationalen Kapitulation und zu einem bedenkenlosen Leben auf Kosten des materiellen und geistigen Reichtums anderer Völker. Die Verblendung durch den schillernden Westen und die Akzeptanz eines Mythos' über ihn auf gut Glauben hin stumpfte kritisches Empfinden, nüchternes Abwägen sowie eine gesunde Abwehrbereitschaft ab und verhinderte auch die Möglichkeit der wägenden Auslese. "Die gebildete Schicht Rußlands schluckte die europäische Kultur, ohne deren Erfindungen und 'Entdeckungen' zu prüfen weder mit der Tiefe eines religiösen, christlichen Gewissens noch mit der Tiefe eines nationalen Instinkts zur Selbsterhaltung. " H wie stark erst sollte sich diese Überwältigung durch den Westen bei der heutigen Generation sowjetischer Westler potenzieren, da diese doch durch die soliden Mauern des Sozialismus vom Westen isoliert waren?!

Ebenda, S. 38. I. Iljin, a.a.O.. S. 9.

- 14 Die Frage danach, ob es einen Erben der alten Intelligenzija gibt, kann mit vollem Recht für jene bejaht werden, die sich einem russisch-sowjetischen historischen Schicksal der "Intelligenzija" verpflichtet fühlen. Neben einem ausgeprägten Selbstbewußtsein der neuesten Generation in dieser Richtung sprechen im übrigen zu viele auch rein äußerliche Analogien und Übereinstimmungen dafür, als das man ein Nachfolgeverhältnis für zufullig oder künstlich halten könnte. Die verbreitete Gegenüberstellung von alter russischer Intelligenzija und sowjetischer "Obrasowanschtschina" ist daher unserer Meinung nach übertrieben. Ihre Unterschiede sind quantitativer Art, eine Kluft gibt es zwischen ihnen nicht. Das, was von der russischen Intelligenzija die Feuer der Vernichtungsprozesse überlebte und was wir hier "Bolschewigenzija" bzw. protobolschewistische Intelligenzija nennen wollen, war und ist der rechtmäßige und konsequente Sachwalter eines (wenn auch bitteren) Erbes der rationalistisch eingestellten, radikalen Intelligenzija Rußlands im Zeitalter umfassender Erschütterungen und einer generellen Zivilisationskrise. Im Kontext der allgemeinen Entwicklung der Sowjetgesellschaft (insbesondere nach 1985) verdient daher die parteiorientierte linksradikale Intelligenz, die Bolschewigenzija (früher bolschewistische und internationalistische Intelligenzija), welche als einzige nach 1917 und nach der Stalinära erhalten blieb, unsere besondere Aufmerksamkeit. Ihre "Väter" und "Großväter" verbargen sich seinerzeit in der Nische des staatlich sanktionierten Dienstes am Sozialismus und "der einzig wahren Lehre". Ihre Kinder und Enkel (d.h. die dritte Generation der Bolschewigenzija), welche im Verlauf der 80er Jahre die Perestrojka anführten, reproduzieren in vollem Umfang (und sogar in besonders ausgeprägter Art und Weise) die oben angegebenen Charakteristika des russischen Radikalismus. (Unter "Generation" werden in diesem Zusammenhang nicht so sehr biologisch festgelegte Altersgruppen, sondern vielmehr Gruppen mit einer für sie typischen sozial-kognitiven Praxis verstanden). Eben diese dritte Genera-

/

- 15 tion der "Bolschewigenzija" spielte die entscheidende Rolle in der bisher fünfjährigen (1985-1990) Entwicklung der sowjetischen Perestrojka. Die Perestrojka selbst hingegen trägt für die gesamte "Bolschewigenzija" schicksalhaften Charakter, da sie das Ende ihres "Lebenszyklus" bedeutet.

2. Die Wissenschaftlichkeit der Intelligenzija und die "traditionelle Gesellschaft"^ Selbst wenn man sich ernsthaft der traditionellen russisch-philosophischen Fragestellung nach Charakter und "Schuld" der russischen Intelligenzija zuwendet, um damit das Problem der persönlichen Verantwortung eines jeden Intellektuellen zu erörtern, so ist es dennoch unabdingbar, zumindest den Versuch zu einer akzeptablen historisch-soziologischen Erklärung der Stabilität und des Ausmaßes einer Erscheinung zu unternehmen, welche für Rußland so seltsam typisch ist. Es handelt sich hierbei um die schon erwähnte Fremdartigkeit der Intelligenzija im nationalen Organismus Rußlands. Im Verlaufe des gesamten 20. Jahrhunderts subsumiert man unter "Intelligenzija" eine bestimmte Schicht russischer, im öffentlichen Leben tätiger Menschen, welche auf der Grundlage ihres Glaubens an ein rationalistisch begründetes Ideal eine ganz bestimmte Sozialtechnik praktizieren. Die Berufung auf ihre "Intelligenz" sowie das Errichten und Befestigen des Idols "Wissenschaft" war und bleibt dabei das wichtigste Instrument ihrer sozialen Herrschaft und Mittel zur Hypnotisierung der "unaufgeklärten" Massen. Die "Halbwissenschaft" (F. Dostojewski) der

12

Der vorliegende Abschnitt stützt sich Im wesentlichen auf eine Studie von A. Ignatjew "Die Werte der Wissenschaft und die traditionelle Gesellschaft" (vgl. Anm. 14).

- 16 Intelligenzija spekuliert dabei mit dem begründeten Ruhm, den realen Erfolgen sowie der Autorität der Naturwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. "Die Wissenschaft eroberte die menschliche Seele nicht dadurch, daß sie ihr etwa alle Zweifel nahm . . . Sie verführte die Menschen nicht durch ihre Allwissenheit, sondern durch die kleinen Erleichterungen im Alltag, auf welche sich die so lange Zeit darbende Menschheit mit derselben Süchtigkeit stürzte, mit welcher sich ein vom langen Fasten ausgemergelter Bettler auf ein ihm dargebotenes Stück Brot stürzt (L. Schestow). *-3 Die sogenannten Sozialwissenschaften enthielten aus eben diesem Grunde seit ihrem Aufkommen auch eine Verführung durch die Annahme, daß der Erfolg der Naturwissenschaften direkt auf die "Gebrechen der Gesellschaft" übertragbar sein könnte. Hiermit wurde allerdings auch die Sanktion zur berechtigten Anwendung von Gewalt gegeben, welche als eine Art Recht des Arztes auf einen operativen Eingriff verstanden wurde. Wer im Besitz einer "wissenschaftlichen Weltanschauung" bzw. "Ideologie" war, hatte auch ein Recht auf - notfalls gewaltsame - "Umgestaltung der Gesellschaft." Das Streben nach einer "Weltanschauung" in diesem Sinne ist eine Art intellektueller Aggression und tritt natürlicherweise sofort in Konflikt mit der sich diesem Streben nicht beugenden Lebensweise des Volkes. Die intellektuellen Bemühungen um die Lösung dieses Konflikts waren das mental-geistige Präludium zur Fuge des sozialen Totalitarismus. Möglicherweise gehört es zum professionellen Image oder zu den angeborenen Neigungen von Vertretern der "Gesellschaftswissenschaften", zu einem bestimmten Zeitpunkt "ein Ende zu machen", "einen Punkt zu setzen", ein "System" zu erstellen. Die ErrichL Schestow, a.a.O., S. 15.

- 17 tung einer "wissenschaftlichen Weltanschauung", durch die der Mensch seinen Erkenntnisweg abschließt und nicht weiter dem allgemeinen Relativismus ausgesetzt ist, dürfte ein Merkmal für Schwäche, nicht für Stärke sein. Dabei geht es hier nicht um die eine oder andere Weltanschauung, sondern generell um die "Verfaßtheit" eines bzw. von Menschen an sich. Und ein "Philosoph" ist schon aufgrund seiner öffentlich erklärten gesellschaftlichen Funktion geradezu verpflichtet, "wissenschaftlich" ein überzeugendes Beispiel für die Kapitulation vor der Unerträglichkeit des allgemeinen Relativismus zu liefern. Das, wonach er strebt, ist "ein überzeugend dargelegter Irrtum", ein gut ausgetretener Weg, auf welchem sich das theoretische Denken leicht und frei bewegen kann.1^ Bei der Enträtselung und Analyse der historischen Dynamik sozialistischer Gesellschaften des 20. Jahrhunderts haben das hier umrissene Problem und die damit in Zusammenhang stehenden Konflikte geradezu eine Schlüsselfunktion. Die Werte der Wissenschaft und ihr Träger - die Intellektuellen - haben als spezifische soziale Gruppe in diesen Prozessen eine entscheidende Rolle gespielt. Für jede Nation sind Sprache und Religion die wichtigsten (wenn auch nicht die einzigen) Bedingungen ihrer Selbstbehauptung und Entwicklung. Mit ihrer Hilfe wird eine fortwährende Unterscheidung in "fremd" und "seinesgleichen" gewährleistet. "Seinesgleichen" sind damit die "... in einem intuitiv-transparten Sinne... jeweilig (unter sonst gleichen Bedingungen) zu bevorzugenden Partner betreffs beliebiger Formen des Zusammenwirkens zwischen Personen bzw. Gruppen". *• 5 Die Wissenschaften vermag als Quelle und Kontext von Werten für eine Persönlichkeitsidentifikation mit der Nation zu konkurrieren. In ihr wirken nicht minder autoritativ-verbindliche und universelle Verhaltsimperati14

L. Schestow, a.a.O., S. 15.

15

A. Ignatjew, Die Werte der Wissenschaft und die traditionelle Gesellschaft: Soziokulturelle Voraussetzungen eines radikalen politischen Diskurses, unveröffentlichte Studie, Moskau 1990, S. 4.

- 18 ve, nämlich Wissen und Rationalität (im Unterschied zu Sprache und Religion). Hiermit ist schon viel von der nicht nur für Rußland typischen Konfliktträchtigkeit des Verhältnisses zwischen den Vertretern nationaler Werte und solchen wissenschaftlicher Werte erklärbar. Eine vollständige Übereinstimmung ("Konstellation") oder auch nur eine länger andauernde friedliche Koexistenz zwischen nationalen Werten und den Werten der Wissenschaft ist sogar in den Nationen problematisch, in denen die Werte der Wissenschaft organisch entstanden sind. Viele Kulturhistoriker haben die Wissenschaftsähnlichkeit des protestantischen religiösen Bewußtseins konstatiert (R.K. Merton vgl. 1 5 ) . ^ Im Unterschied dazu waren Kultur und Mythos der westeuropäischen katholischen Gesellschaften, Rußlands und des Ostens von wesentlich anderer Art. Wenn sie auch nicht unbedingt rationales Wissen ausschlössen, so orientierten sie sich an nationalen oder noch weiter begrenzten lokalen Werten. Daher verlief die Herausbildung von Gesellschaften, welche die Werte der Wissenschaft positiv anerkannten, in diesen Fällen immer in der Form tiefer struktureller Konflikte. Die Wissenschaft trat dabei nicht nur als Quelle bloß alternativer Urteile auf, sondern als Verkörperung vollständig andersartiger Verhaltensimperative, die zu den nationalen oder lokalen Werten in antagonistischem Verhältnis standen. In seinem praktischen Wirken stand so z.B. in Rußland das Wissenschaftssubjekt (besonders im Bereich der "Sozial"wissenschaften) vor der typisch marginalen Situation des gleichzeitigen Wirkens zweier miteinander unvereinbarer Diskursstandards.

16

Merton, R.K., The sociology of science. Theoretical and empirical investigations, Chicago, London 1973.

- 19 Nationen, welche den Prozeß der "Modernisierung" durchlaufen, sind dem zermürbenden Prozeß derartiger Wertauseinandersetzungen in besonders starkem Maße ausgesetzt. Für die gebildete oder aufgeklärte Schicht der betreffenden Nationen ist der angesprochene marginale Status mit beträchtlichen Persönlichkeitskonflikten verbunden und wird bei ihnen von der Herausbildung einer bestimmten Lebensweise begleitet. Als Folge dieser Prozesse wandelt sich die soziale Rolle des Intellektuellen in beachtlichem Maße - die Person bzw. die Gemeinschaft, welche diese Rolle ausfüllt, verwandelt sich entweder in eine lokale Enklave der "modernen" Lebensweise und unterhält intensive Kontakte zu einem anderen Land (vgl. hierzu die Arbeiten F. Fanons) oder wird innerhalb der betreffenden Gesellschaft zum Träger eines ganz besonderen Normen-Werte-Komplexes. Letzterer findet seine vollendetste Ausprägung in den verschiedensten radikalen Ideologien einer gewaltsamen Weltveränderung (bzw. Veränderung des nationalen Lebens) nach den Maßstäben eines rational begründeten Ideals. Es ist nicht zu leugnen, daß unter der rationalistischen Intelligenz des 20. Jahrhunderts Hoffnungen und Erwartungen sehr verbreitet waren, die entweder mit der Konzeption einer rationalen Verwaltung der Gesellschaft oder der Umgestaltung der sozialen Wirklichkeit auf der Grundlage wissenschaftlicher Errungenschaften in Zusammenhang standen bzw. stehen. Auf natürliche Weise wurde hieraus die Schlußfolgerung abgeleitet, daß, erstens, in den umzugestaltenden Gesellschaften die Macht jenen Personen oder Gruppen zu obliegen habe, die auch Träger des Wissens sind, und, zweitens, die Bewertung ihrer Tätigkeit verständlicherweise nach den Kriterien der Rationalität und der technischen Effektivität zu erfolgen habe. Eine solche Diskursstruktur besitzt alle Merkmale der linksradikalen politischen Kultur.

- 20 Innerhalb der Nation, in deren politischer Ordnung diese "Kultur" die Oberhand gewann (dies ist das Schicksal Rußlands seit 1917), wurde die Wissenschaft nicht mehr als besondere Lebensweise, als spezifisches Aufgabenfeld einer sozialen Rolle oder als Sphäre ganz bestimmter Privatinteressen angesehen, sondern als Quelle einer gewissen "Sakralordnung"1', als universaler Wert, welcher alle anderen Gedanken und Handlungsformen konstituiert oder zumindest sanktioniert. Der Besitz von wissenschaftlichen Kenntnissen wird unter derartigen Bedingungen Merkmal eines höheren sozialen Status', weshalb er als Privileg der herrschenden Elite betrachtet wird. Diese wiederum rekrutiert sich in beträchtlichem Umfang aus Kreisen der Intellektuellen und stützt sich in ihrer Tätigkeit entweder direkt auf rationales Wissen oder appelliert zumindest an dieses mit dem Ziel einer Sanktionierung des Handelns. Das marxistische sozialistische Ideal behielt ständig eine tiefe, innere Verbindung zu den Werten der Wissenschaft und zur Autorität rationalen Wissens. Der Status N. Bucharins als Ordentlichem Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR war bei weitem nicht nur ein Attribut der Rolle des führenden Ideologen der Partei. Neben der unbegrenzten Macht Stalins oder Mao-Tse-Tungs in Staat und Gesellschaft waren die Quelle ihrer Legitimierung ihr Status als "weiser Lehrer" sowie ihre Autorität als Theoretiker und "Experte". Ideal und Praxis des Sozialismus im 20. Jahrhundert waren sogar bei seinen sehr pragmatisch eingestellten Vertretern immer von einem ausgeprägt negativen Verhältnis gegenüber den Werten, menschlichen Identifikationsformen und sozialen Rollen der "traditionellen Gesellschaft" begleitet, was sich mitunter bis zu ausgesprochenen Phobien auswachsen konnte. Unter den BedingunA. Ignatjew, a.a.O., S. 12.

- 21 gen schärferer sozialer Konflikte erstreckten sich diese Phobien auf beliebige nationale oder lokale Werte, was in der Regel durch ethnische Andersartigkeit des jeweils aktiven Subjekts der Modernisierung nochmals potenziert wurde (vgl. hierzu Lissak, 1970 und Schafarewitch, 1990). -^ Man kann in diesem Zusammenhang an das berüchtigte Marxsche Wort vom "Idiotismus des Dorflebens" erinnern, oder auch an die bekannte Position von R. Luxemburg in bezug auf die patriarchalische Familie (ähnlich auch bei A. Kollontai) bzw. die sehr ablehnende, sich bis zum Haß steigernde Haltung der Bolschewiki gegenüber dem "patriarchalischen" Rußland und seiner Bauernschaft. Freilich treten solche Stimmungen und Phobien in allen Gesellschaft auf, welche eine Modernisierung durchlaufen, auch unabhängig von irgendwelchen Ideologien oder Parteien. Sie stellen das beinahe stabilste Merkmal des sich spontan herausbildenden Massenbewußtseins dar (vgl. hierzu P. Berger et al.) 1 ^ Eine Gesellschaft, in welcher der soziale Status eines Menschen vom Grad seiner Zugehörigkeit zur Wissenschaft bestimmt wird und von seiner "Wissenschaftlichkeit" oder Kompetenz in irgendeinem Wissensgebiet direkt abhängt, sollte man folgerichtig "ideokratische Gesellschaft" nennen. In Rußland, wo die Revolution die alte herrschende ökonomische und politische Elite des Landes, d.h. das Beamtentum, die Geistlichkeit, die Kaufmannschaft und die aktive Schicht der Arbeiter und Bauern vernichtet hatte, konnte deren Rolle nur von zwei einander bedingenden und gleichzeitig miteinander konfligierenden, weitgehend unversehrt gebliebenen Subjekten übernommen werden: von der linksradikalen Intelligenzija, der "Bolschewigenzija", sowie von der neuen Sowjet- und Parteibürokratie. Zunächst dominierte in der 18

Lissak, M., Some theoretical implications of the multidimensional concept of modernisation, in: International Journal of Contemporary Sociology, Toronto 1970, vol. 11, No. 3. I. Schaf arewitch, Russofobr ja, in: NaS sovremennik, 1989, No. 6 und 11.

1

Berger, P., Berger, B., Keilner, H., The homeless mind. Modernisation and consciousness, New York 1974.

^

- 22 Elite der ideokratischen Gesellschaft der UdSSR das intellektuell-rationalistische Element. Von Anfang an war die Instabilität der ideokratischen Herrschaftsform nicht zu übersehen. Aufgrund ihrer Struktur der Machtgestaltung pendelte die Sowjetgesellschaft periodisch entweder in Richtung Technokratie, wo der soziale Status von der Kompetenz oder "Wissenschaftlichkeit" abhängt, oder in Richtung Bürokratie, wo der soziale Status über Kompetenz entscheidet. Der ideokratischen Gesellschaft ist eine permanente Tendenz der Abgrenzung zwischen Bürokratie (politischer Elite) und wissenschaftlicher Gemeinschaft (intellektueller Elite) - mit entsprechendem Konfliktpotential - immanent. Im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Intelligenzija und Bürokratie gibt es viele Mythen und Mißverständnisse, die zur Grundlage von zahlreichen historiographischen Konzeptionen wurden. Eine der bekanntesten stammt aus der Feder extrem "linker" und protrotzkistischer Autoren. Dabei wird der "internationalen" oder kosmopolitisch eingestellten Intelligenzija - den Vertretern der modernen westlichen Werte - die nationale, "bodenständige" oder sogar "nationalistische" Sowjetbürokratie gegenüberstellt, wobei dies ganz besonders für die "Ära Stalin" gelten soll. Dabei wird der "Stalinismus" als Folge einer hypertrophierten nationalstaatlichen "russischen Idee", als ein Produkt der "russischen nationalen Kultur und Geschichte" interpretiert. Diese (besonders unter westlichen Gelehrten und Politikern wie J. Kennan, R. Pipes, S. Cohen oder E. Mandel) recht verbreitete Ansicht entstand (wenn man keine pragmatisch-ideologischen Absichten unterstellen will) offenbar aufgrund eines Mißverständisses. Zwei unterschiedliche Herangehensweisen im Rahmen ein und derselben antinationalen Methodik zur "Modernisierung" Rußlands hielt man für zwei qualitativ unterschiedliche Erscheinungen.

- 23 Das Wesen dieser beiden Herangehensweisen bleibt bis heute jedoch ein und dasselbe und besteht in Folgendem. Die radikale Intelligenzija und die Bürokratie traten mit gleichartig autoritativen Programmen zur sozialen und ökonomischen Transformation der Gesellschaft auf, obwohl die Perspektiven ihrer jeweiligen Umsetzung mit politischen Prioritäten einhergingen, die sich bei beiden Gruppen sehr stark voneinander unterschieden. Wie die Intellektuellen war die Bürokratie in den ideokratischen Gesellschaften des realen Sozialismus bestrebt, auf der Grundlage eines universellen Ideals zu agieren, wobei zu dessen Umsetzung ihr subjektiver Wille von entscheidender Bedeutung war. Dieser Wille bestimmte die Ordnung, welche zum Allgemeingut wurde. Infolge des politischen und ökonomischen Antlitzes der Bürokratie wurde die Ordnung konservativer, skeptischer, pragmatischer und "sozialer" als bei der Intelligenzija. Die Bürokratie war aufgrund ihrer Lage bestrebt, die "Modernisierung" durch sich selbst zu "personifizieren" und sie in einer ganz bestimmten Form zu halten. Sie inaugurierte damit ein extensives Modell der "Modernisierung", bei welchem ein Zuwachs an Produktion oder Verwaltungseffektivität durch die ständige Neuauflage ein und derselben Standardstrategien bzw. -technologien erreicht werden sollte. Für die Bürokratie sind Standards schon erprobt und führen nicht zu einer stärker spürbaren internationalen Abhängigkeit. Auch die Intelligenzija versucht, die Gesellschaft in Übereinstimmung mit einem universellen Ideal zu reorganisieren. Bei ihr ist dieses Ideal von den sogenannten "objektiven Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft und des sozialen Lebens" abgeleitet, die durch rationales Wissen widergespiegelt werden, dessen Träger wiederum die Intellektuellen sind. Die Intelligenzija strebt daher nach einem intensiven Modell der "Modernisierung", bei welchem die Zuwachsraten für Produktion und Verwaltungsef-

- 24 fektivität aus der ständigen Veränderung von Technologien, Strategien und "Sozialtechniken" resultieren sollen, was freilich eine internationale Arbeitsteilung involviert. Die Frage muß vorläufig unbeantwortet bleiben, ob dies ein Ergebnis schicksalhafter Verknüpfungen von Umständen oder die logische Folge einer prinzipiellen Unvereinbarkeit dieser beiden Modelle zur "Modernisierung" Rußlands war - ein konstruktiver Kompromiß zwischen der Sowjetbürokratie und der "Bolschewigenzija" konnte letzten Endes nicht gefunden werden. Die Beziehungen zwischen ihnen gestalteten sich dramatisch, was in einigen Entwicklungsetappen bis zur realen Gefahr der physischen Vernichtung ging. Aus diesem Grund "herrschten" beide Gruppen abwechselnd, wobei jede ihren jeweiligen Opponenten aus dem Tempel und in den "Untergrund" vertrieb: stürmische und dramatische, aber kurze revolutionäre Eruptionen (z.B. von 1917 bis zu Beginn des Jahres 1920) und "Tauwetterperioden" (zweite Hälfte der 50er bis in die 60er Jahre; wohl auch die "Perestrojka" seit 1985) wurden von etwas stabileren, länger andauernden und undramatischen (aber deshalb für Land und Leute nicht weniger verlustreichen) "Stagnationsperioden" abgelöst. Die beschriebenen Tendenzen wirken auch in der Weise, daß sie die sowjetische ideokratische Gesellschaft ständig unterhöhlen und ihr gleichzeitig die Grundlagen für eine erfolgreiche "Modernisierung" nehmen. Unter solchen Bedingungen, besonders unter der Voraussetzung der Herrschaft des Linksradikalismus und Sozialismus, endet die "Modernisierung" wohl eher in einer Sackgasse. Der Konflikt zwischen der Bürokratie und der Intelligenzija ist, so scheint es, ebendlos und alles hat etwas Theatralisches an sich. Dabei sind die Schauspieler, welche den jeweiligen Part übernommen haben, nicht in der Lage, einen gemeinsamen Diskurs zu formulieren, der sowohl pragmatisch effektiv wäre, als auch den Standards rationalen Wissens entspräche. Eben aus diesem Grund ist die Entwicklung eines effektiven Zusammenwirkens zwischen Intellektuellen und der Bürokratie auch außerhalb

- 25 Rußlands mit spezifischen "Karneval"-Diskursformen in Zusammenhang gebracht worden (vgl. hierzu Dahrendorf).20 Historisch hat sich dieser Konflikt in Rußland jenseits der Grenzen entfaltet, wo er hätte sprachlich formuliert werden können. Er ist daher auch niemals durch Sprache, sondern immer gewaltsam gelöst worden: entweder wurden die über die Stränge schlagenden "Schlaumeier" durch die Bürokraten zur Ordnung gerufen, indem an traditionelle "nationale" Werte oder den Pragmatismus des gesunden Menschenverstandes appelliert wurde, oder aber die "Bolschewigenzija" verpaßte dem über die Maßen verknöcherten und "unaufgeklärten" Apparat eine Auflockerungskur bei gleichzeitigem Appell an die Werte der modernen Lebensweise. Diese Besonderheiten der sozialen und politischen Spannungen, welche die "Modernisierung" sowie den wissenschaftlichen und technischen Aufbau in Rußland begleiteten, erklären auch die seltsame und widersprüchliche Lage des Intellektuellen allgemein in diesem Land. Einerseits ist er eine geachtete Person, welche der herrschenden Elite angehört oder ihr zumindest nahesteht. Andererseits betrachtet man ihn als einen Außenseiter, als potentiellen Aufwiegler und Unruhestifter. Darüber hinaus stand die soziale Gruppe der Intellektuellen in der historischen Erfahrung Rußlands wiederholt mit dramatischen Erschütterungen und Niedergangserscheinungen in Zusammenhang. Traditionell orientieren sich die Intellektuellen in der nichtwestlichen nationalen Gesellschaft Rußlands an professionellen und geistig-kulturellen Zentren im Ausland, wodurch ihre Entfremdung von der Gesellschaft insgesamt verstärkt wird. Der marginale Status des Intellektuellen macht es ihm sehr schwer, eine im Vergleich zu seinen westlichen Kollegen adäquate Lebensstellung oder professionelle Anerkennung zu erlangen. Dieser Umstand wirkt unter anderem auch als Faktor fortwährender Instabilisie;;

:

Dahrendorf, R., The intellectual and society: the social function of the "fool" in the twentieth century. Theoretical studies, case studies, New York 1970, S. 53-56.

- 26 rung, da die Intelligenzija bestrebt ist, entweder zur Bürokratie überzuwechseln bzw. in die Politik zu gehen (als Beispiele seit 1985: Aganbegjan, Abalkin, Popow, Afanasjew, Sacharow und andere Wissenschaftler) oder auszuwandern, um in der Perspektive Teil einer "modernen" Gesellschaft zu werden. Daneben gibt es freilich die Perspektive des "inneren Emigranten" und Radikalen. Bis auf den heutigen Tag ist die sowjetische Intelligenzija folglich einer der am stärksten wirkenden Destabilisierungsfaktoren innerhalb der Gesellschaft. Einerseits verursacht und beschleunigt sie soziale Veränderungen in der Gesellschaft - und das mit zunehmender Radikalität, andererseits ist sie damit Ursache für die Aktivisierung rein konservativer politischer Kräfte, welche sich um das Aufhalten der "Modernisierung" oder zumindest um ihre deutliche Begrenzung bemühen.

3. Die heutige "Bolschewiqenzija" während des neuesten Versuchs zur Modernisierung Rußlands Die dritte Generation der "Bolschewigenzija", mit der wir es heute zu tun haben, wurde in der Nachkriegszeit erwachsen und formierte sich während der Chruschtschowschen "Tauwetterperiode" in den 50er und 60er Jahren zur politischen Kraft. Mitunter nennt man sie auch die Generation der "Sechziger" . Sie waren es, welche die Perestrojka vorbereiteten, und sie sind es, welche die Perestrojka weitgehend dominieren. Im Verlaufe der Perestrojka versuchte die "Bolschewigenzija" zu beweisen, daß ihre "Sache" die qualitative Entwicklungsalternative einer "Modernisierung" darstellt, und daß zwischen ihr und der "Bürokratie" Abgründe liegen. In Wirklichkeit jedoch sind sie Altersgefährten und nur zwei Teile eines einheitlichen Ganzen, die einander bedingen. Die von den Intellektuellen so vehement verdammte "Bürokratenherrschaft" kann nicht verschwinden, ohne daß mit ihr nicht auch ihre sozialistische (oder protosozialistische) Ideo-

- 27 kratie untergeht. Bevor wir daher zur Beschreibung der heutigen "Bolschewigenzija" übergehen, soll auf folgenden Zusammenhang hingewiesen werden: eine konsequente Überwindung des Sozialismus und seiner "administrativen" Variante bedeutet in Wirklichkeit weniger das Verschwinden oder Abdrängen der Bürokratie (zumindest nicht in erster Linie, wie das in Osteuropa oder der DDR der Fall war), als vielmehr das Ende des Lebenszyklus der "Bolschewigenzija", und dies aufgrund spezifischer Merkmale ihrer dritten und letzten Generation. Man kann durchaus behaupten, daß die drei Symbolsäulen dieser Generation auf den verschiedenen Gebieten intellektueller und geistiger Tätigkeit, die aktiv gegen das "System" gekämpft haben und gleichzeitig seine Produkte waren, Andrej Sacharow (in den Naturwissenschaften und in der Politik), Ewald Iljenkow (in den Gesellschaftswissenschaften) und Juri Ljubimow (in der Sphäre der Kulturschaffenden) gewesen sind. Später machte sich dann eine ganze Plejade sowjetischer Intellektueller einen Namen, welche für in- und ausländische Korrespondenten zur Inkarnation der Entwicklung der letzten fünf Jahre wurden (So: T. Saslatfskaja, A. Aganbegjan, A. Butenko, E. Ambarzumow, 0. Latzis, I. Kljamkin, L. Abalkin, A. Jakovlew, 0. Bogomolow, Ju. Afanasjew, W. Seljunin, A. Streljanij, A. Zipko, N. Schmeljow, F. Burlatzki, G. Popow, L. Karpinski). Bei aller Individualität ihrer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Ansichten sind sie (wie es so schön im Lied heißt) "Kinder von unserem Hofe", Rybakowsche "Kinder des Arbat". Man kann durchaus Juri Andropow, diesen "Vorläufer" Gorbatschows, als den ersten "Perestrojka-Mann" der 80er Jahre auf der höchsten Ebene von Partei und Staat bezeichnen. Beide gehören in sehr vielem zu den "Sechzigern"; in besonderem Maße gilt dies natürlich für M. Gorbatschow. Jegor Ligatschow und Juri Afanassjew, Boris Jelzin und Leonid Abalkin, in gewissem Sinne auch A. Sacharow und A. Aganbegjan sowie T. Saslawskaja - sie alle sind Menschen einer Generation mit im Prinzip gleichen Vor-

- 28 Stellungen. Jedes Element dieser Generation ist, ungeachtet der mitunter sehr markanten Unterschiede, zum Funktionieren des Ganzen notwendig. "Während die am meisten an das System von Partei und Staat angepaßten Sechziger sich auf den Weg zur Macht begaben, verteidigten ihre Opponenten aus dem Lager der Intellektuellen ihre Dissertationen und wurden Doktoren der Wissenschaft. Beide entwickelten sich in gewisser Weise parallel zueinander: die einen vom Dozenten zum Lehrstuhlinhaber - die anderen vom Sekretär des Stadtparteikomitees zum ZK-Sekretär; die einen vom Assistenten zum Professor - die anderen vom Instrukteur des Apparats zum Mitglied des Politbüros."21 Eine große Rolle spielten hierbei die realen Kontakte und Lebensbeziehungen untereinander (einschließlich verwandtschaftlicher Verhältnisse). Nun wäre es sicher falsch, daraus den Schluß ziehen zu wollen, beide Gruppen führten lediglich gemeinsam ein gewaltiges Spektakel unter dem Namen "Perestrojka" auf. Trotzdem sollte man nicht außer acht lassen, daß die "offiziöse Macht" und die "Opposition" einander recht gut kennen und sich ein und derselben Welt zugehörig fühlen. Diese Generation hat ihre alte Ideologie, nachdem sie sich Mitte der 80er Jahre an die Spitze des gesellschaftlichen Lebens gearbeitet hatte, nicht geändert. Mehr noch: sie betrachtete die Niederlage der 60er Jahre keineswegs als immanente Folge der Schwäche des Sechzigertums an sich, vielmehr wertete sie diese als "Abwürgen" und "Sieg der Kräfte des Bösen". Jetzt wurde die Devise ausgegeben: Wir haben das Rennen gemacht! Die "Unsrigen" sind jetzt am Ruder und stellen das Signal auf Perestrojka.22 Die Ereignisse wurden als Startschuß zum sofortigen Handeln und sogar zum Kampf gewertet. Was folgte, war jedoch in Wirklichkeit weder ein "Kampf" noch ein konstruktives Ersetzen 21

22

A. Bystritzki, Eine andere Straße - oder: Wer hat sich die Perestrojka ausgedacht? (russ.), unveröffentlichte Studie, Moskau 1990, S. 7. Ebenda, S. 10.

- 29 der Bürokratie durch andere Strukturen. Stattdessen erhob sich ein unglaubliches Geschrei; es folgten "Pressegefechte", endlose Debatten und Dispute, Palaver über Sozialismus, "Stalinismus", die Geschichte, die Verantwortung usw. usf. Und dabei ging es nicht einmal darum, ob man seine Geschichte kennen müsse oder nicht - nein, im Vordergrund stand, daß all diese "Gespräche" ein "Widerhall des während der 60er Jahre nicht bis zu Ende Ausgesprochenen"2^ waren. Endlich konnte die "Bolschewigenzija" bei der Historiographie Satisfaktion einfordern und ihre "Väter" sowie "Großväter" rehabilitieren. Sie war damit beschäftigt, ihre ein halbes Jahrhundert alten Wunden zu lecken. Die Nation jedoch befand sich auf dem Weg in die 90er Jahre und eine neue Runde der "Modernisierung" stand ihr bevor. Die "Sechziger" sowie Fundamentalsozialisten aller Schattierungen sollten dabei an der Spitze der Gesellschaft stehen. Der Blick der Sechziger ist weder in die Gegenwart noch in die Zukunft gerichtet, sondern er weilt vor allem in der Vergangenheit, egal ob es sich dabei um die "Tauwetterperiode" der 60er Jahre oder um die bolschewistische Periode der sowjetischen Geschichte handelt. Bei letzterer fehlt es natürlich weder an einem Kult um die NÖP noch an Aufrufen, das Leninsche Erbe "auf's Neue zu überdenken" (M. Schatrow). Dazu gehört eine sorgfältige Historiographie des sogenannten "Stalinismus" (R. Medwedjew), der angeblich in völligem Gegensatz zum Marxismus und den ursprünglich "reinen" Plänen seiner Stammväter steht. Es ist keineswegs zufällig, daß sich seit 1985 bis zum Jahreswechsel 1988/89 die gesamte Generation mit der Reanimation von Heiligen und innerfamiliären historischen Diskussionen beschäftigte, um damit ihre durch die Epoche der Stagnation etwas heruntergekommene "Fa-

Ebenda.

30 milienangelegenheit" in "modernen" Kategorien neu formulieren zu können. Es wurde versucht, dem Volk einen erneuerten, sozialistischen Diskurs als "metaphysische Sanktion" vorzustellen. Obwohl die "Bolschewigenzija" der dritten Generation Anspruch auf die Rolle des Inspirators und einer treibenden Kraft zur "Modernisierung" des Landes erhebt, sollte man sie nicht für modern halten. Es scheint vielmehr so, als ob sie in Wirklichkeit mit "Modernität" überhaupt nichts zu tun haben will und auch nicht in der Lage ist, mit ihr umzugehen. Seit Beginn der Perestrojka schwebt über dem ganzen Unterfangen eine hysterische Spannung, und man spürt den ständigen Mangel an Vertrauen in die eigenen Kräfte. Es entsteht der Eindruck, ob sich die "Bauherren der Perestrojka" am meisten vor dem Erfolg ihrer Sache fürchten, d.h. Angst davor haben, das zu erreichen, was sie anstreben. Ihre größte Sorge gilt der Wiederherstellung der Tradition und ihrer Identifikation mit ihr sowie dem "Erobern" verlorengegangener Positionen. Sie werden immer noch durch "die Impulse, welche vom Oktober 1917 ausgehen" gesteuert, wie Ju. Afanasjew 1988 schrieb.24 T» Saslawskaja z»B. bemerkte über die "Sechziger" und damit gleichzeitig über sich selbst: "Heute finden wir unter den zu dieser Gruppe gehörenden Menschen viele von denen, welche die sozialistischen Werte durch alle Wirren der Zeit trugen und damit die Perestrojka vorbereiteten."25 Wenn man ihr Alter in Rechnung stellt (wir schreiben nicht mehr 1960, sondern 1990), verbleiben nur wenig Hoffnungen auf die Fähigkeit dieser Leute, sich qualitativ zu ändern oder die Kraft aufzubringen, ihrem seit Jahrzehnten formierten "Mikrokosmos" zu entfliehen und sich etwas Neuem anzuschließen. In diesem Zusammenhang darf man sich auch nicht durch betimmte Äuße24

Ju. Afanasjew, Die Perestrojka und das historische Wissen (russ.), in: Einen anderen Weg gibt es nicht, Moskau 1988, S. 191.

25

T. Saslawskaja, Über die Strategie der sozialen Leitung in der Perestrojka, in: Ebenda.

- 31 rungen blenden lassen, etwa die Lipppenbekenntnisse zum "Haß auf die Bolschewiki" oder etwa Sympathiebekundungen für die "Vechi". I. Kljamkin und viele andere zitieren heute ausgiebig die "Vechi", und N. Berdjaew wird es sehr bald im jährlichen Zitationsindex mit Lenin aufnehmen können. Solche Oberflächlichkeiten berühren nicht das Wesen der Sache, da die "Bolschewigenzija" aller drei Generationen (wie auch der Sozialismus überhaupt) eine beinahe phantastische Fähigkeit zur geistigen Adaptation besitzt, wodurch sie in der Lage ist, zum Erreichen ihrer eigennützigen Ziele die dominierenden gesellschaftlichen Werte der jeweiligen Epoche und jeweils modische Elemente der gesellschaftlichen Meinung in sich aufzunehmen. Diese Charakterzüge trug der "Industrialist" Marx, der "Demokrat" Lenin sowie auch der "Nationalist" Stalin, der im Augenblick existentieller Gefahr für das Regime an das russische Volk appellierte, nachdem er es in den 20er und 30er Jahren noch "denationalisieren" wollte. Ähnlich hat man die "Religiosität" und die "demokratische Einstellung" der heutigen "Bolschewigenzija" zu bewerten. Bei allem Wechsel von Idealen und Werten bleibt die Methode immer dieselbe. K. Leontjew bestimmt sie als "vereinfachende Vermischung" und I. Schafarewitch als "Sozialismus" mit seinen jahrhundertealten Merkmalen2**, vor allem dem Streben nach einer Nivellierung und Aufhebung von Hierarchien und Unterschieden, dem Auslöschen jeglicher Mannigfaltigkeit und im Endergebnis der Kultur überhaupt. Der Sozialismus des 20. Jahrhunderts kann als hypertrophierte Reflexion des "bolschewigenzlerischen" Bewußtseins auf den vorherrschenden industriell-ökonomistischen Geist der Epoche verstanden werden. Darauf haben schon M. Scheler, N. Berdjaew, /•6

I. Schafarewitch, Der Sozialismus als eine Erscheinung der Weltgeschichte (russ.), Paris 1976.

- 32 S. Bulgakow, S. Frank, B. Wyscheslawzew und andere hingewiesen. Die von diesem Geist niedergedrückten Sozialisten hingen gleichzeitig von ihm ab, nährten sich von ihm und verließen zu keiner Zeit dessen Grenzen. In ihrer damit keineswegs originären Position "geißelten" sie die Bourgeoisie nicht etwa wegen ihres Ökonomismus oder ihrer Geistlosigkeit, vielmehr prangerten sie die Bourgeoisie an, weil diese ihr gemeinsames Anliegen, das Erreichen (den Kult) einer maximalen Produktivität, hemmte. Mit seiner Methode der Vergesellschaftung aller Lebensformen (das einzige, was wirklich originär an ihm ist) hat der Sozialismus dieses Ziel nicht erreichen können. Ständig bemüht, die "materiellen Reichtümer" auf der Grundlage einer totalen Materialisierung des Lebens, eines umfassenden Kampfes gegen den Geist zu mehren, hat er letzten Endes eine schwere Niederlage erlitten. Die Völker jedoch, welche im Gegensatz dazu die Freiheit des schöpferischen Geistes erhalten und Kultur sowie Wissenschaft gegen die revolutionären Pogromhelden verteidigen konnten, hatten auch Erfolg in der effektiven Weiterentwicklung der "Produktivkräfte". Die historischen Tatsachen des 20. Jahrhunderts zeigen uns den Sozialismus in seiner ganzen geistigen Beliebigkeit und schöpferischen Unfruchtbarkeit auf dem Gebiet der Entdeckung wirklich neuer Wege und Alternativen gesellschaftlicher Entwicklung. Schnell und skrupellos übernehmen die Sozialisten alles in der Kultur schon Vorhandene. Sie sind in der Lage, alles nur erdenklich Mögliche auf ihre Fahnen zu schreiben: "Industrialisierung" (der Marxismus), "Nation" (der Nationalsozialismus), "Demokratie" (der demokratische Sozialismus), die "globalen Probleme" (das "neue Denken" Gorbatschows). Von den Verheißungen der Sozialisten jedoch wird keine einzige erfüllt; alles, was ihre Hand berührt, wird letzten Endes entweiht. Die Gründe hierfür muß man nicht in dem einen oder anderen "Modell" suchen, sondern im Wesen dieser Leute selbst.

- 33 Die Natur des Sozialismus schließt keineswegs aus, daß mitunter die Ladenschilder gewechselt werden. Genau dann nämlich kommt er wieder in Fahrt. Als ein gutes Beispiel hierfür mag die Findigkeit und Gelehrigkeit Lenins gelten, die bis zum Verrat an früheren Prinzipien und Wegbegleitern ging. Nur aus Mißverständnis kann man hier eine "Prinzipientreue" oder Folgerichtigkeit im Handeln bzw. etwas Ähnliches vermuten. Ein echter Sozialist muß in der Lage sein, mit "Programmpunkten" und parteilichen "Werten" auftrumpfen zu können und es vermögen, schnell und geschickt aus dem gegebenen gesellschaftlichen Umfeld die jeweils modischen Begriffe und Muster herauszuziehen. Nur dann kann er sich "nach vorn" bewegen. Es ist ungerechtfertigt, einen Dogmatiker für einen kosequenten Sozialisten zu halten. Die marxistisch-sozialistischen Dogmen Kautskys, der II. Internationale, Stalins, Nina Andrejewas und anderer waren immer der Anfang vom Ende des Sozialismus. Daher isolierte man im Endeffekt Dogmatisierungen immer. Nachdem dies geschehen war, erfolgte die Neutralisierung und anschließend das schrittweise Ersticken des jeweiligen "Krebsgeschwürs", wobei man die Treue zur Lehre beschwor. Um den (während der Stalin-Breshnew-Ära schon fast gestorbenen) Sozialismus heute auch nur irgendwie zu reanimieren, versucht die "Bolschewigenzija", das sogenannte "Stalinsche Dogma" zu "überwinden". Zu diesem Zweck hängt sie neue Ladenschilder aus, in deren Text unter anderem auch "Markt", "Demokratie", "globale Probleme", "Gott" und insbesondere auch das "Nationale" als Schlagworte vorkommen. Das erfolgt in ungewzungener Art und mit recht flotten Sprüchen, in Leninscher Manier. M. Gorbatschow hat kürzlich in einem Interview unterstrichten: "Die sozialistische Idee schließt weder die Marktwirtschaft, noch die parlamentarische Demokratie und auch nicht die Freiheit sowie die Men-

- 34 schenrechte aus".2^ Das Wichtigste dabei ist jedoch, auch nicht einen Fußbreit von dem abzuweichen, was die heutige "Bolschewigenzija" so sehr mit Lenin und den Bolschewiki gemeinsam hat: das, im Rahmen des Christentums - und, breiter gefaßt, im Rahmen der Kulturtradition - so unerklärliche Streben nach Vereinfachung und Nivellierung, nach physischer Gleichheit von allem und jedem, ausgenommen allerdings sich selbst. Durch ihr trauriges Schicksal haben das russische Volk und die anderen unter sowjetischer Kuratel stehenden Völker die Unhaltbarkeit einer gewaltsamen, mechanisierenden Vereinfachung und Gleichmacherei unter Beweis stellen müssen. Langsam haben sie sich von diesem Joch befreit und sogar begonnen, eine kompliziertere hierarchische - wenn auch illegale und von der Ideologie eigentlich verbotene - gesellschaftliche Struktur aufzubauen. Heute, so scheint es, brauchen diese Völker nichts dringender als die Legalisierung der bereits bestehenden Hierarchien und die effektive Vervollkommung einer gerechten Ungleichheit, auf deren Nenner man alle Ideen von Markt, Demokratie und nationaler Unabhängigkeit bringen könnte. Die "Bolschewigenzija" von heute ist nichts weiter als eine "dritte Generation" der Bolschewiki, sie ist darüber hinaus fundamentalistisch in den Farben ihres Sozialismus. Sie ist keineswegs eine qualitativ neue politische Erscheinung, welche im Stande wäre, sich vom "Erbe" ihrer Väter und Großväter zu trennen. Auf einigen Gebieten schickt sie sich sogar an, diese zu überflügeln. "Umverteilung der Privilegien" - so lautet im Prinzip das gesamte soziale Pathos des offiziellen und oppositionellen Lagers der Perestrojka in Rußland (und das, obwohl nur sehr wenig zu verteilen ist, vergleicht man es mit 1917). "Sozialistische Selbstverwaltung in der Produktion" - dieser Weg, der nur zu weitergehendem Verfall führt, der sich glücklicherweise 37

Prawda, 26.10.1990.

- 35 nicht durchzusetzen vermochte. Auf diese Weise gelingt es spielend, die in der sowjetischen Arbeiterschaft vorhandene dünne und miserable Halbelite der Verwaltung zu beseitigen. Wie durch den Hieb einer Axt wurden durch einen "Beschluß" die zahllosen "Schatten"Verbindungen, durch die sich die Wirtschaft über Jahre hinweg gerade so über Wasser gehalten hatte, zu Quellen "mühelos erworbenen Einkommens" deklariert und gekappt. Das Volk hat man gehörig aufgebracht und mit "Katzenwein" an der Nase herumgeführt. Glaubte man etwa an einen chimärenhaften, körperlosen "homo soveticus"? In Ergänzung zu all diesen Unannehmlichkeiten ist das Land durch die wohl gründlichste Methode zur Gleichstellung aller bedroht: durch Hunger und Massenarmut. Das moderne, maßlose "Westlertum" der "Bolschewigenzija" läuft auf den aberwitzigen Versuch hinaus, aus einem russischen Mushik oder einem Tadshiken innerhalb kürzester Frist einen Deutschen oder Amerikaner machen zu wollen. Und all das natürlich unter den Losungen des "Pluralismus", der "Demokratie" und der "nationalen Besinnung". Gorbatschow und seine "Bolschewigenzija" mögen durchaus für den Sozialismus unorthodoxe Werte und Programme aufgenommen haben, in ihrer unmittelbaren Praxis jedoch treibt sie ohne jeden Zweifel immer noch die alles profanierende Leninsche Methodik. Und ihr bleiben sie nicht nur dem Wort nach treu. Trotzdem werden sie die letzte Generation der "Bolschewigenzija" sein. Ihre ganze Energie während der letzten fünf Jahre war vor allem auf das "Behaupten der Position" und die "Verteidigung des Erbes" gerichtet. Ihre Unternehmungen glichen einem aussichtslosen Kampf zur Wiederbelebung einer "Ideenleiche", welche sich früher in Rußland nur mittels Gewalt auf der Höhe hatte halten können; nun sollte sie durch ihre "Anziehungskraft" die Menschen an sich binden. Der Blick der "Bolschewigenzija" ist nur auf sich, in die Vergangenheit und in die Gegenwart gerichtet, nicht jedoch auf Rußland und in die Zukunft.

- 36 Bemerkenswert ist, daß westliche Sowjetologen und Korrespondenten bis einschließlich 1990 den "sozialistischen" Charakter des durch die "Bolschewigenzija" vorangetriebenen Prozesses nicht aus den Augen verloren haben. Stephen White schildert die "Demokratisierungs"prozesse in der UdSSR wie folgt: "It is such difficult circumstances that an attempt is being made to construct a political form of an unprecented kind which combines Leninism with some elements of Western-Style limited government, or in the words of Feder Burlatsky, to establish 'socialist pluralist democracy under single party conditions'."2^ Ähnliches stellt auch in etwas erweitertem Sinne John Gooding über die Reformen Gorbatschows fest: "He is of course a 'within-system' reformer in the sense, that he works in the norms of an established political culture, introducing change gradually through the medium of existing institutions. He belongs within the system, too, in that his vision of change is expressed initially within the terms of Marxist-Leninist ideology,"29 Sicher haben sich im Verlaufe der Perestrojka vor allem bei der schreibenden Zunft aus dem Lager der "Bolschewigenzija" hier und dort die Akzente etwas verschoben. Ein Beispiel hierfür mag Ju. Afanasjew sein. Wenn er 1988 noch davon sprach, daß "... sich bei uns der Sozialismus leider nicht in der Form durchsetzen konnte, wie ihn sich Lenin und die Leninsche Garde während der 20er Jahre vorgestellt hatten..."30r s o hält er 1990 mit seiner Gereiztheit gegenüber den "Erben des Bolschewismus in der KPdSU", zu denen man "... durchaus auch Gorbatschow und seine Mannschaft zählen kann...", und die "kaum aufhören können, ständig ihre Treue gegenüber dem sogenannten 'wissenschaft-

White, S., Democratization in the USSR, in: Soviet Studies, vol. 42, No. 1,1990, S. 20. Gooding, J., Gorbachev and democracy, In: Soviet studies, vol. 42, No. 2, 1990, S. 196f. Ju. Afanasjew, a.a.O.

- 37 liehen Sozialismus' zu bekunden..."J1, nicht mehr hinter dem Berg. Obwohl es manchmal scheint, als ob sie die "Leninsche Schutzhülle" verlassen, so können sich doch die "Bolschewigenzler" nicht vollständig von ihrer Blut- und Geistesverwandtschaft trennen, die über Generationen hinweg gewachsen ist. Um etwas von Lenin bewahren zu können, opfern sie sogar seine "Garde", welcher sie gestern noch Hohelieder gesungen haben. Das Bild, welches dabei entsteht, ist natürlich völlig absurd und widerspricht den historischen Tatsachen: "Lenin vermochte es zwar, sich vor seinem Tode noch über den angerichteten Schaden zu entsetzen, aber die Kohorte der 'wahren Leninisten' schlug seine Warnungen in den Wind...".32 Insgesamt gesehen handelt es sich bei einer solchen Argumentation nicht um eine Entwicklung, sondern lediglich um den Versuch, alte Positionen zu halten. Heute ist man für den "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", "... hinter dem sich keineswegs die Züge des Marxschen Kommunismus verbergen, sondern in dem man deutlich die christlichen und allgemein humanistischen Ideale erkennen kann".33 D e r Ärger an der ganzen Angelegenheit besteht allerdings darin, daß ein solcher Sozialismus unbekannt ist, der Marxsche jedoch in die Tat umgesetzt wurde. Typisch bolschewistisch ist auch das Verhältnis der "Sechziger" zur Geschichte insgesamt und zu der Rußlands im Besonderen. Die epochale Pathetik und ausgeprägte Selbstbeweihräucherung als historisches Subjekt erreichte 1985 nicht das Ausmaß der "Großväter", die 1917 das Anbrechen einer "neuen Ära für die Menschheit" sowie den "Beginn der eigentlichen Geschichte" ankündigten und sich selbst in einem "transzendenten Durchbruch" wähnten. Die jetzige Generation mied derartige Extrema, verzichtete jedoch nicht ganz auf eine globalistische Selbstidentifikation 31 32 33

Ju. Afanasjew, Wir haben die Freiheit gewählt (russ.), in: Demokratisches Rußland (russ.), 1990, Nr. 1, S. 2. Ebenda. Ebenda.

- 38 innerhalb der gesamten Geschichte. Man fand eine gemäßigte Variante: Die Perestrojka ist "... die Erneuerung der Geschichte".34 Nimmt man diese Aussage ernst, dann müßte die Geschichte mit der Tätigkeit der radikalen Intelligenz identifiziert werden. Daher wird die Entfernung der "Bolschewigenzija" von der Macht durch die Bürokratie als eine "Pause in der Geschichte" begriffen, als "Zeitlosigkeit". F. Burlatzki z.B. beschreibt die Phase der "Stagnation" wie folgt: "Es war gerade so, als ob jemand ein ganzes Kapitel aus unserer Chronik herausgerissen hatte."35 In bezug auf die russische Geschichte und an die Adresse des russischen Volkes gewandt reproduziert man das alte bolschewistische Klischee: "eine große Masse mit ausgeprägt mittelalterlichem Bewußtsein", "Millionen analphabetischer Bauern mit archaischem, mittelalterlichem Bewußtsein"36, bringt öfter die seltsame Losung "Denkt daran, was vor 1985 war!" an oder äußert beispielsweise: "wie leicht es doch ist, die Ziffer 17 durch die Ziffer 85 zu ersetzen!".37 viel erinnert an alte Schlagworte, z.B. "Übergangsepoche", "Umgruppierung der Kräfte", "Neuer Kurs" oder auch "permanente Perestrojka der Perestrojka".38 Es gehört nicht zu den Tugenden der "Bolschewigenzija", eine adäquate Sicht der Wirklichkeit zu schätzen und nach ihr zu streben. Ihre gesamte Geschichte - auch die des Sechzigertums bestätigt immer wieder, daß das Wesen und das Maximalziel ihrer Tätigkeit in einer kognitiven und gesellschaftlichen Selbstartikulation bestehen, die nach den Maßstäben der von ihr rational konstruierten Modelle des sozialen Zusammenlebens erfolgt. Die Gesellschaft selbst wird von ihr als eine hierarchische Pyramide aufgefaßt, die nach diesen Maßstäben von oben nach unten verL. Batkin, a.a.O., S. 137. F. Burlatzki, Chruschtschow. Züge eines politischen Porträts, in: Einen anderen Weg gibt es nicht (russ.), Moskau 1988,

S. 424. D. Furman, Unser Weg zur normalen Kultur, in: Einen anderen Weg gibt es nicht (russ.), Moskau 1988, S. 579. M. Koshokin, Wer dann, wenn nicht wir? (unveröffentlichte Studie - russ.), Moskau 1990, S. 2. L. Batkin, a.a.O., S. 183.

- 39 waltet werden sollte. Die Wirklichkeit wird hierbei freilich nicht nur nicht gebraucht, sie stört sogar. Eine Orientierung an der Wirklichkeit oder eine Selbstentwicklung werden bewußtseinsmäßig gar nicht erst zugelassen. In diesem Sinne steht der persönliche Erfolg des "Bolschewigenzlers" in keinem Zusammenhang mit realen Umgestaltungen und Reformen, wenn auch darüber oft und ausgiebig darüber geredet wird. Persönlicher Erfolg wird bei der "Bolschewigenzija" nach dem Maß des Heroismus, dem Grad von Bezauberung und Charme gemessen. Was ihre Einstellungen zur äußeren Welt betrifft, so herrscht eine quantitativathletische Methode vor: den Jenissej umleiten, den Alkoholismus sowie das Trinken generell ausrotten, eine Demonstration auseinanderjagen - d.h. man handelt, indem man andere Lebensakte stört, unterbindet oder umdirigiert. Da das Verhältnis der "Sechziger" zur Realität derartig problematisch ist, entsteht die berechtigte Frage, auf der Grundlage welchen "Wissens" sie die Perestrojka durchführen. Immer mehr Menschen in Rußland sowie im Ausland fragen sich nämlich, ob hier nicht ein Tappen im Dunkeln vorliegt, welches die Steuerleute zwingt, die sehr schmerzhafte Methode "Versuch und Irrtum" zu nutzen. So schreibt A. Bystritzki: "Insgesamt gesehen versteht niemand auch nur irgendetwas, und es gibt keine auch nur irgendwie allgemein akzeptierte Meinung über die Ursachen der vonstatten gehenden Prozesse... Wenn sich die Leute treffen oder versammeln, beginnt man sofort einen langen und schleppenden Streit, dessen Ergebnisse im Endeffekt meistens im Sande verlaufen."39

A. Bystritzki, Eine andere Straße..., a.a.O., S. 5.

- 40 Sowohl "linke" als auch "rechte" Sechziger haben sich als ein Hemmschuh für die nächste Politikergeneration erwiesen. Bewußt oder unbewußt haben sie den Versuch einer Reform unternommen, welche für das Land ein Viertel Jahrhundert zu spät kam, wobei ergänzend erwähnt werden muß, daß "zu spät" hier im Sinne der politischen Kultur der linksradikalen Intelligenzija insgesamt gemeint ist. Für das Land und sein Volk war diese Reform - wie allgemein die gesamte Praxis der "Bolschewigenzija" für Rußland - ohne jeden Zweifel schädlich und möglicherweise sogar zerstörerisch. Der gegenwärtige Streit zwischen "Linken" und "Rechten" ist kein Streit zwischen Progressisten und Reaktionären, sondern zwischen Reaktionären unterschiedlicher Qualität. Alle genannten Erscheinungen innerhalb der Intelligenzija bestimmen auch die Haltung der anderen sozialen Gruppen ihr gegenüber. Einerseits ist das politische Prestige der demokratischen Intelligenzija auf der Grundlage der sehr verbreiteten Meinung, daß sie die Haupttriebkraft des gesellschaftlichen Fortschritts; und der wichtigste Träger geistiger Werte sei, im Lande gewachsen, vor allem unter der "gebildeten Schicht" und unter den Bewohnern der Hauptstädte - vgl. hierzu z.B. die Resultate der Meinungsumfrage unter den Leningradern, welche von der "Unabhängigen Humanistischen Akademie" im Juni 1990 durchgeführt wurde'*0, oder auch die Meinungsumfrage in Moskau vom Mai 1990, welche von "Sozeksi" unternommen wurde.^1 Gleichzeitig existiert jedoch auch eine gegenläufige Tendenz. Die politische Aktivisierung der Intelligenzija hat im einfachen Volk, welches der Politik wesentlich ferner steht, sowie auch in den unteren Schichten der Intelligenzija selbst immer mehr die Vorstellung genährt, daß eine bestimmte Gruppe der Intelligenzija mit der unpopulären Regierung gemeinsame Sache macht und für die deutli-

41

Vgl. N. Kopossow, Die InteHigenzija im Reich der Hohlspiegel: Abriß der sowjetischen Mythotogie (russ.), unveröffentlichte Studie, Leningrad 1990. Das meinten die Moskauer im Mai (russ.), in: Demokratisches Rußland (russ.), Nr. 1, 1990.

- 41 che Verschlechterung des Lebensniveaus mitverantwortlich ist. Diese Tendenz wird durch den Umstand verstärkt, daß die Kritik an die Adresse der Intelligenzija aus ihren eigenen Reihen kommt. Schon sehr früh und recht ausgiebig wurde durch die Intelligenzija die Meinung verbreitet, daß die sowjetische Wissenschaft und Kultur "zurückgeblieben" seien. Die radikale Intelligenzija erlaubt eine mitunter sogar sehr scharfe Kritik an nahezu allen ihren Unvollkommenheiten, allerdings nur unter einer Bedingung: der entscheidende Teil der Verantwortung darf nicht ihr, sondern muß dem "Regime" angekreidet werden. Mit dem Anwachsen der Krise und dem Zerfall der "Bolschewigenzija" bilden sich im Lande die zentrale Oligarchie der realen Macht und lokale Kraftzentren heraus. Im Kampf um die Macht stehen sich Industrie- und Handelskreise, Direktoren großer Produktionsstandorte sowie Leiter des staatlichen Handels einerseits und verschiedene populistische Gruppen vom Typ der Trawkin-Partei andererseit gegenüber. Letztere sind in noch größerem Maße an falsifizierte und unnötige Strukturen gebunden, so daß die "Bolschewigenzija" in ihnen - Randgruppen und lumpenproletarisierte Intelligenzler - noch am ehesten eine Stütze hat. Die schlechtbezahlten Ingenieure aus den zahlreichen Konstruktionsbüros und Brancheninstituten, aus Betriebslabors usw. - genau sie sind wohl am stärksten in ein Leben in Produktion und Gesellschaft eingebunden, welches unter der Sowjetmacht marginalisiert wurde. Daher sind von ihnen wohl auch die kühnsten Versuche zur Unterstützung einer "sozialen Revolution" zu erwarten. Keineswegs zufällig hat die populärste Partei im Lande - die Demokratische Partei Rußlands - zu ihrer wohl fast wichtigsten Losung den Kampf mit dem "Apparat", mit der "Partokratie" erklärt und vertritt einen "Antikommunismus", von dem unklar ist,

- 42 was er bedeutet, genau wie auch der "Kommunismus" völlig Undefiniert bleibt.42 Sicher beginnen Leute aus der Umgebung Trawkins auch schon damit, recht effektiv Krümel der Macht zu verkaufen. Dazu schreibt A. Bystritzki: "Und in eben diesem Moskau, vor den Augen des erstaunten Publikums... sind das neue Stadtexekutivkomitee (Ispolkom) und die neue Macht schon in bedeutendem Umfang in alle möglichen Umverteilungsaktionen verwickelt und treiben flotten Handel mit Immobilien und politischem Einfluß. Traurig daran ist keineswegs, daß die neuen Leute sich als Unternehmer betätigen. Der Ärger besteht nur in der Art, als welche Unternehmer sich diese Leute gebärden. Es scheint so, als ob niemand an normalen und offenen Besitz von Eigentum auch nur denkt... , im Gegenteil, sie bevorzugen die Eroberung von Verteilungszentralen, das Ausgeben von Sondergenehmigungen und den Handel mit Eigentum, das nicht ihnen gehört. Und dabei verhalten sie sich auch wie Besitzer von Fremdeigentum... Alle, die an der Produktion beteiligt sind, erhalten nichts, die Produktion wird nicht entwickelt, sondern - auf gut bolschewistisch - es wird nur das Recht, über Fremdes zu verfügen, umverteilt. Derartige Fakten gibt es Millionen..."43 Im Verlauf der letzten beiden Jahre hat es die radikale Intelligenzija geschafft, sich in mehreren Parteien (ungefähr 20) zu formieren und damit das bisherige Monopol der KPdSU zu brechen. Die neue Mehrparteienlandschaft erinnert an ein Theater mit mehrstöckiger Bühne für einen Schauspieler (die Intelligenzija), wobei jedes Stockwert eine eigene Dekoration hat (etwas Ähnliches konnte man auch in der DDR von 1989-1990 beobachten). Alle diese Parteien, ausgenommen die KPdSU, bestehen aus einem kleinen Aktiv (bis zu 30 Leute) und einigen hundert oder tau42 43

Vgl. hierzu den Artikel N. Trawkins, Treten die Bolschewiki die Macht an die Sowjets ab? (s. Anm. 3). A. Bystritzki, Macht 2000 (russ.), unveröffentlichte Studie, Moskau 1990, S. 3.

- 43 send Mitgliedern, die im Prinzip nicht viel mehr als eine Gruppe zur Unterstützung ihrer Führer sind. Nach den Wahlen fanden sich die Führer und ihre unmittelbare Umgebung in den verschiedensten Rollen der Staatsmacht in den Republiken wieder, als Referenten und in Sachverständigenkommissionen. Die erste Reihe dieser Parteien schied damit aus der unmittelbaren Parteiarbeit aus und räumte der zweiten Platz und Chancen ein. Undeutlich ist die Verbindung der entstandenen Parteien zu konkreten sozialen Gruppen, auch zu denen, deren Interessen diese Parteien eigentlich vertreten wollen. Unklar sind auch ihre Tradition und ihre "politische Kontinuität". Welches Recht hat z.B. die heutige Partei der Konstitutionellen Demokraten, ihre Genealogie von den alten "Kadetten" abzuleiten und in deren Namen aufzutreten? Unter den Bedingungen eines derartig verschwommenen Mehrparteiensystems übersteigt die Anzahl politisch aktiver Gruppen, Bewegungen und Führer die begrenzte Menge ideologischer und politischer Programme, in deren Namen man aufzutreten bestrebt ist, bei weitem. So sieht jeder in sich den jeweils einzig wahren "Testamentsvollstrecker" der betreffenden Idee, welche die Bewegung oder Partei zementieren soll. Als wohl radikalstes Beispiel zur "Aneignung" des betreffenden Erbes ist auf die Konstituierung der Sozialdemokratischen Partei Georgiens zu verweisen, die nicht durch einen Gründungskongreß, sondern durch den "4. Parteitag" erfolgte. Der 3. - illegale - Parteitag hatte zu Beginn der 30er Jahre stattgefunden; seine Teilnehmer waren umgebracht worden.44 Das Hauptproblem besteht darin, daß diese Parteien, welche den politischen Pluralismus entwickeln und stärken sollen, diesen nur imitieren und in der Tat nur eine kleine Schicht der radikal eingestellten Intelligenzija, die hauptsächlich im Zentrum des Landes und in den Hauptstädten der Republiken beheimatet Vgl. hierzu die interessanten Anmerkungen zur "Nachfolgeproblematik" bei M. Siwerzew: Bewegung, Führer, Partei: ein Bild unter den Bedingungen des "verschwommenen" Mehrparteiensystems, unveröffentlichte Studie, Moskau 1990.

«. 44 ist, vertreten.45 Dieses traurige Bild wird etwas durch Berichte aufgehellt, wonach gegenwärtig in Rußland Versuche zur Formierung von Parteien konkreter sozialer Schichten unternommen werden.

Die letzte Generation Die hier angestellten Betrachtungen zur Perestrojka und dem Platz der "Bolschewigenzija" in ihr erlauben keine erfreulichen Schlüsse. Andererseits sollte die besonders im Westen verbreitete Euphorie in bezug auf die neue sowjetische Führung uns doch etwas zu denken geben. Worin besteht das Geheimnis des Reizes, welchen die Perestrojka auf breite Kreise ausübt? Kann man, ohne mit eigenen Gefühlen und der historischen Wirklichkeit hadern zu müssen, in unserer Untersuchung schon einen Punkt machen? Eine Antwort auf diese Frage ist unmöglich, wenn man nicht versucht, tiefer in den Charakter der von niemandem mehr geleugneten und an Tiefe sowie Umfang beispiellosen Krise in der UdSSR und den Ländern Osteuropas einzudringen. Nicht das Absinken des Lebensniveaus, nicht die "Verschwendung und Ineffektivität des administrativen Kommandosystems" und auch nicht das "Zurückbleiben auf dem Gebiet des wissenschaftlich-technischen Fortschritts" waren die unmittelbaren Ursachen der Krise. Die sowjetischen Menschen haben durchaus schlechtere Zeiten gesehen. In den 20er und 30er Jahren waren sie periodisch dem Hunger ausgesetzt, danach erhöhte sich ihr Lebensniveau jeweils etwas. "Ineffektivität", "Verschwendung" und "Zurückgebliebenheit" gab es insofern immer; sie sind ständige Begleiter des sowjetischen Sozialismus. Der Sozialismus jedoch stand wie eine Mauer aus Stahlbeton und niemand sprach mit F. Burlatzki, in: Neues Denken, Moskau 1989: "In einigen Fragen haben wir nicht völlig übereinstimmende Ansichten, obwohl wir alte auf dem Boden des Sozialismus und der Sowjetmacht stehen".

- 45 solch absoluter Bestimmtheit wie heute von seiner "tödlichen Krise". Ohne jeden Zweifel liegt es auch nicht an einer Schwächung der organisatorischen, militärisch-politischen und finanziellen Möglichkeiten der Kommunistischen Partei. In den 20er und 30er Jahren waren die Bolschewiki vergleichsweise "bettelarm", und trotzdem gab es immer optimistische Töne. Woran also liegt es? Die Mehrzahl der sowjetischen Experten sucht die Erklärung hierfür im Zersetzungsprozeß der Partei aufgrund ihrer Bürokratisierung, Dogmatisierung und der Korruption in ihren Reihen etc. Jedem, der sich etwas mit der sowjetischen Periode in der Geschichte Rußlands befaßt hat, ist aber bekannt, daß schon die Parteiresolutionen der 20er und 30er Jahre und nach der Enthüllung des Personenkults von diesen Begriffen nur so strotzen. Der Sozialismus jedoch stand auf sicheren Füßen. Man könnte meinen, daß "das Volk heute so nicht weiterleben will" (wann jemals wollte es denn so leben?). Manchmal sagt man dann auch, daß es "so nicht weitergehen wird, weil es so nicht weiter gehen kann" . Solche Haltungen sind nicht viel mehr als eine Beschwörungsformel . Die Krise in diesem Land konnte gar nicht erst heute beginnen, da es sich seit 1917 in einer solchen befindet. Sie hat heute nur eine moderne Form angenommen und gestaltet sich besonders dramatisch. Ihre Ursache ist die "Bolschewigenzija", die letzte Generation der Bolschewiki. Diese neue Generation von Sozialisten ist krisenempfindlich. Sie hat dem alten Leitungsstil ade gesagt (wenn sie das auch noch nicht überall und mit letzter Konsequenz vermag). Dies hat sie vor allem deshalb getan, weil sie selbst es nicht will und weil sie zu bolschewistisch rücksichtsloser Härte nicht fähig ist, - sie ist unfähig, "schuldig zu werden" ("prestupit" im Sinne von F. Dostojewski). Auf irgendeiner Etappe ihrer Entwicklung entschied sich die junge hoffnungsvolle Generation der "Bolschewigenzija" für ihr Credos Sie begann, an den "demokratischen Sozialismus" zu glauben und

- 46 später, ihn zu verwirklichen. Als diese Tätigkeit die Ebene der offiziellen staatspolitischen Praxis erreichte (die Perestrojka), begann die heutige "Krise". Das früher existierende System wurde mit "Demokratie" angereichert (ausgehend von einem sehr engen Demokratieverständnis, zunächst als bloße Nichtanwendung von Gewalt) und entfernt sich auf diese Weise, ständig "modernisiert", mit immer stärkerer Tendenz von den ursprünglichen historischen sozialistischen Prinzipien und Werten. Neue, moderne und eigenständige Werte und Prinzipien, die sich von den "bourgeoisen" unterscheiden würden, hat man jedoch nicht. Welches wichtigste Prinzip ging nun verloren? Wenn der "demokratische Sozialismus" als konstruktives Handlungsprogramm bzw. soziale Wirklichkeit auch ein "totgeborenes Kind" ist, so hat er doch retrospektiv seine große Effektivität unter Beweis gestellt. Er war es, der dem wirklichen, dem realen Sozialismus Schaden zugefügt hat. Die Besonderheit des gegenwärtigen historischen Moments besteht darin, daß die demokratische "Bolschewigenzija", die Mitte der 80er Jahre an die Macht kam, bei dem Versuch, ihre alten Schemata weiter zu verfolgen, realiter auf die Anwendung von Gewalt verzichtete. Dabei hatte genau diese Gewaltanwendung früher das gesamte sozialistische System konstituiert und war von ihren "Vätern" und "Großvätern" heilig gehütet und ausgiebig praktiziert worden. Nun gab die Bolschewigenzija einer seltsamen Versuchung nach. Man meinte, daß es sich durchaus lohne, real auf Gewalt und Betrug zu verzichten (die Glasnost ist wohl eher der Verzicht auf die totale Lüge, als das Verbreiten neuer Wahrheiten und Entdeckungen). Damit verband man sicher die Hoffnung, auch weiterhin die politisch und gesellschaftlich dominierende Kraft bleiben zu können (und möglicherweise sogar weiter an Einfluß zu gewinnen). Die dritte Generation der "Bolschewigenzija" hatte ihre politisch prägenden Erlebnisse während der Chruschtschowschen "Tauwetterperiode" gehabt und dabei den Mythos akzeptiert, daß sich der Sozialismus und seine Macht nur halb auf Gewalt stütze, ins-

- 47 gesamt aber durchaus "legitimiert" sei. Folgte man diesem Mythos, so mußte der vollständige Verzicht auf Gewalt es durchaus gestatten, den Fortschritt "auf dem Weg eines erneuerten Sozialismus" zu beschleunigen. Von den "heroischen" Zeiten der "Großväter" und "Väter" war man historisch recht weit entfernt und damit kein lebendiger Zeuge von dem, worüber sich nach den Worten von Ju. Afanassjew sogar Lenin "entsetzte". Es sieht ganz so aus, als habe die dritte Generation die durch und durch falsche Historiographie der neueren Geschichte Rußlands und deren Mythen geglaubt. Mehr noch, man hat sich an der Produktion derselben fleißig beteiligt, indem man Mythen von einer "gerechten und sauberen Tscheka", einer "Leninschen Garde", von der "demokratischen NÖP" usw. usf. in Umlauf brachte. Mit der Zeit erhielt so Lenins eindeutiges "Wir haben Rußland erobert..."46 nur noch symbolische Bedeutung. Vertreter der dritten Generation reden seit 1989 sehr viel von einer möglicherweise "bevorstehenden Diktatur". Es ist sehr stark anzunehmen, daß sie sich dabei nicht darüber im Klaren sind, daß die "Diktatur" bisher überhaupt noch nicht verschwunden ist. Die Formen der Okkupation mögen sich gewandelt haben, die Art und Weise der Herrschaft ist geblieben. Statt einer nüchternen Rekapitulation der Grundlagen ihrer eigenen Macht und des Versuchs, sie auf ihrem Wege bolschewistisch zu befestigen, hat die letzte Generation der Bolschewigenzija ihren eigenen sentimentalen Mythos entwickelt. F. Burlatzki z.B. schrieb noch 1988: "Chruschtschow kam nicht zufällig und zugleich doch zufällig an die Macht. Nicht zufällig deswegen, weil er der Vertreter einer ganz bestimmten Richtung in der Partei war, welche zu einer anderen Zeit und wahrscheinlich auch auf eine andere Art durch so einander unähnliche Politiker wie Dsershinski, Bucharin, Rykow, Rudzutak, Kirow, vertreten wurde. 40

Vgl. Lenin-Werke, Bd. 36, S. 172.

48 Sie waren Anhänger einer Entwicklung der NÖP, der Demokratisierung und Gegner von Gewaltanwendung in der Produktion oder der Landwirtschaft und erst recht natürlich in der Kultur."47 An eine mögliche "Gewaltfreiheit" des Sozialismus scheinen die heutigen "Bolschewigenzler" ganz besonders fest zu glauben - und konnten von ihrem Glauben andere überzeugen. So entwickelt F. Burlatzki in seinem Buch "Das neue Denken" (1989) eine Legende über Lenin als "Friedensstifter": "Einen der größten Vorzüge des Sozialismus sah Lenin vor allem darin, daß er den Völkern den Frieden und gerechte Verhältnisse bringt und Kriege abschafft. "48 Möglicherweise wendet Burlatzki hier eine List an, um durch Falsifikation der kriegerischen Vergangenheit die friedfertige Einstellung zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu verstärken. Selbst dann aber entsteht die berechtigte Frage, ob man aus Gründen der Friedensliebe eine derartige Lüge in die Welt setzen kann. Der von Lenin inspirierte Sozialismus sowjetischer Prägung war die Fortsetzung und konsequente Verwirklichung von Krieg und - im breiteren Sinne - von Gewalt insgesamt. Das Problem der heutigen "Bolschewigenzija" besteht dabei nicht einmal so sehr in einer inadäquaten Sichtweise der Geschichte, sondern mehr noch in dem subjektiven Bestreben, den Leninschen (früheren) sowie den möglichen zukünftigen Sozialismus als einen gewaltfreien sehen zu wollen. Das aber ist gleichbedeutend mit einem Verzicht auf das eigene Erbe, wobei dieser Verzicht auf einem Mißverständnis beruht. Wie Lenin vermochte auch Gorbatschow, die Position des Westens in der Welt in einigen Bereichen zu stärken, was oft für eine friedensstiftende Tätigkeit gehalten wird. Über den Weiten Rußlands jedoch schwebt heute, wie auch zu Lenins Zeiten, die unheilvolle Wolke eines möglichen Bürgerkriegs und einer alle Bereiche des Lebens durchziehenden GeF. Burlatzki, Chruschtschow..., a.a.O., S. 425. F. Burlatzki, Neues Denken, a.a.O., S. 136.

- 49 wait. Die Ungeschicktheit und Inkonsequenz der Führung hat zum Aufflackern blutiger zwischennationaler Kriege innerhalb der UdSSR geführt. Metaphorisch kann man durchaus behaupten, daß die "Sechziger" den Versuch unternommen haben, eine "Okkupationszone" zu demokratisieren, was in etwa genau so sinnlos und gefährlich für ihre Initiatoren ist, wie der Versuch, ein Gefängnis zu demokratisieren. Wenn sich die Verhältnisse in diesem Geiste weiter entwickeln, so wird die "Bolschewigenzija" wohl das Schicksal der osteuropäischen "Linken" ereilen: kurzer Aufschwung - politisches Nichts - möglicherweise Verfolgung. In der gegenwärtigen Krise des Sozialismus kommt ihnen jedoch die Schlüsselrolle zu, welche im Blockieren des Repressionsapparates des totalitären Staates von "oben" besteht. Objektiv gesehen bedeutet "Gewaltfreiheit" das Ende des Systems sowie dessen Zerfall. Indem sie durch den Verzicht auf Gewaltanwendung den "Lebenszyklus" der "Bolschewigenzija" insgesamt seinem Ende zuführt, begeht die letzte Generation ihren politischen Selbstmord. Ihr heutiges Kapital, ihre Autorität und Popularität bezieht diese dritte Generation ausschließlich aus ihrer destruktiv-zersetzenden Rolle und natürlich daraus, daß sie das von ihren "Vätern" überkommene Erbe "verjubelt". Dieses Erbe jedoch ist nicht unerschöpflich. Die Intelligenzija hat ihre völlige Unfähigkeit zu einer "Synthese" eindeutig unter Beweis gestellt. Dafür hat sie sich jedoch bei der "Analyse" in geradezu blendender Form gezeigt. In einer Zeitspanne von fünf Jahren hat sie das sozialistische System eines großen Landes sowie von Osteuropa insgesamt zugrunde gerichtet. M. Koshokin beschreibt diesen Vorgang so: "Das Resultat ist folgendes: Die Demontage war erfolgreich - der Aufbau hat leider nicht geklappt. Wir sollten jedoch Gorbatschow und seiner heterogenen Mannschaft Genugtuung widerfah-

- 50 ren lassen. Sie haben es geschafft, ohne selbst richtig zu begreifen, was sie da tun."49 Die anderen europäischen Völker haben in der Tat allen Grund, dieser "Bolschewigenzija"-Generation für ihre nicht ganz bewußt vollzogene Umgestaltung dankbar zu sein. Das Schicksal des russischen Volks jedoch, einschließlich das der "Bolschewigenzija" als seinem Bestandteil, sieht ganz und gar nicht rosig aus. Die "Bolschewigenzija" hat die Erfahrungen ihrer Bruderparteien in Osteuropa direkt vor ihrer Nase. Die endlosen Debatten über die "drohende Diktatur", über den "Ausnahmezustand" usw. kann man daher als eine psychische Reaktion des Bewußtwerdens ihrer Gefahrensituation werten und als Merkmal eines beginnenden EntScheidungsprozesses für oder wider bestimmter Formen institutionalisierter Gewalt. Man freundet sich sozusagen wieder mit der Gewalt an. Die einen, wie z.B. I. Kljamkin und A. Migranjan, rufen mit aller Kraft nach der Einmischung des "tapferen Kriegers", nach der Anwendung von Gewalt - Gott sei Dank ist ja der "tapfere Krieger - Präsident" aus den eigenen Reihen, also ein "Bolschewigenzler". Andere wieder zögern noch, spielen nur in Gedanken alle Eventualitäten einer Gewaltanwendung durch. Wozu sollte die "Bolschewigenzija" also im fünften Jahr der demokratischen Perestrojka Gewalt nötig haben? M. Koshokin beantwortet diese Frage wie folgt: "Die Demontage kann nicht ins Unendliche fortgesetzt werden, ein Zerfall der Gesellschaft aber kann nur die Macht der Straße hervorrufen."50

M. Koshokin, a.a.O., S. 3. Ebenda, S. 5.

- 51 Die "Macht der Straße" bzw. die "Fratze des Pöbels"51 wirkt heute immer ernüchternder auf die "Bolschewigenzija". Sie ist nicht nur zur "Diktatur" bereit, sie wartet selbst mit einer überspannten Ungeduld und mit deutlichen Anzeichen von Ermüdung auf sie. Die "Diktatur" könnte in der Tat die soziale Verwirklichung des bei der "Bolschewigenzija" in den letzten Jahren gewachsenen Bedürfnisses nach einem "festen Boden unter den Füßen" sein - und das nicht nur im geistig-mentalen und philosophischen Sinne. Eine solche Wende würde die Schauspieler wieder in ihre altbekannten Rollen einsetzen: die Intelligenzija in die Rolle des kritisch-destruktiven Analytikers und die Funktionäre sowie die Bürokratie in eine synthetisierende Rolle, das heißt in die des Unterdrückers. Man kann nur hoffen, daß es auch andere sowohl friedliche als auch gewaltsame Varianten der weiteren Entwicklung gibt, welche diesen Teufelskreis zu durchbrechen vermögen.

A. Bystritzki, Eine andere Straße..., a.a.O., S. 1

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Alexei Stykov "Bolshevigentsia" and Perestroika Bericht des BlOst Nr. 18/1991 Summary In this study, Alexei Stykov examines the role of the Russian intelligentsia in the course of the history of Russia and of the Soviet Union in this century, which he understands primarily as being the modernization of the country. That he takes a sceptical view of this process is evident from his appraisal of the attempt at europeanization under Peter I - that a "spreading paralysis of the real Russia" had been making itself felt ever since the 18th century. By the 19th century, its one-sided orientation towards the West had already made the intelligentsia lose contact with the Russian people, reducing it to a marginal group. Religion and the notion of the Russian nation had been supplanted by the socialist utopia, science and globalism. Scientific relativism had given way more and more to a "scientific" view of the world, which however, had been accompanied by a trend towards mythologization. For Stykov, the history of Soviet Russia between 1917 and 1990 is that of a permanent confrontation between "traditional society" and an intelligentsia proceeding on the basis of ideocratic positions. Within this intelligentsia, a distinction can be made between the intellectual elite (the intelligentsia in the stricter sense, and the technocrats) and the political elite (Party, Soviet and State bureaucracy). Though these two elites have been in permanent conflict for the last seven decades, they are nevertheless two parts of the same whole which brought each other into and have kept each other in being. In Stykov's view, the perestroika launched by M. Gorbachev in 1985 in basically just the latest in a long line of attempts to modernize Russia. He identifies the inspirators and initiators of perestroika as members of the "Sixties" generation, that is to say intellectuals who have grown up since 1945 and who experienced their essential political shaping during the "thaw periods" of the fifties and sixties. Among the prominent protagonists of this generation he counts Andropov, Yeltsin, Gorbachev and Ligachev, but also Sakharov, the stage-manager Y. Lyubimov, the historians Y. Afanasiev and L. Batkin, and the economists L. Abalkin and A. Aganbegjan. In fact, all these persons were members of the leftist-radical Party intelligentsia, the third generation of the "Bolshevigentsia". The grandfathers of this group had constituted the Bolshevik intelligentsia in the years before and after the 1917 October Revolution but had later been supplanted by the internationalist intelligentsia. The current disputes between representatives of the political and the intellectual elite were to be seen as "domestic strife" within the

- 54 same family home, such as had recurred frequently throughout Soviet history. Stykov poses the question as to the reasons for the crisis in socialism, with reference also to the other countries of Eastern Europe, and as to the future prospects for perestroika, which he sees as the "political suicide of the Bolshevigentsia" . The present paper is the abridged outcome of an originally planned much larger-scale research project under the title "Soviet perestroika and left-radical political culture: an historico-sociological analysis of 'Bolshevigentsial' awareness", which Stykov and his Moscow colleague Andrey Ignatiev had intended to conduct in early 1990. Two scholars from the "Centre for Social Research 'Rossika'". founded in May 1990, M. Koshokin and A. Bystritski, were intended to be part of the project team. When it proved impossible to procure the funds required for the project, Stykov decided to concentrate on his own studies, which were to from the basis for a habilitation paper to be submitted at the Humboldt University in Berlin. The topic of his dissertation (presented in 1989 at the Dresden Paedagogic College) was "The social analysis of contemporary Western Marxism". The fact that Stykov arrives at some highly noteworthy findings in his study is no doubt attributable to the peculiarity of his methodological approach, which combines his profound knowledge of Russian cultural and intellectual history in the 19th and early 20th centuries with the latest politological and sociological methods (organisation and group theory, modernization theory, ethnosociological methods). Stykov makes no attempt to conceal his own personal standpoint, but this sincere commitment to his subject matter does not detract from the presentation in any way. Stykov had concluded a preliminary version of his manuscript in the autumn of 1990. He revised the manuscript and translated it into German following a lecture given at the BlOst. The editor of the present paper has endeavoured to preserve Stykov's style as far as possible. The essential findings of the study can be summarized as follows : - The first few years after 1985 have shown that many protagonists of the intellectual branch on the Bolshevigentsia have been primarily concerned with extracting revenge for the last 50 years, in which it was essentially the political elite that had the say. Despite their anti-Bolshevik statements, their professed support for "democracy" and for religion, these intellectuals have remained true to their underlying convictions. - In keeping with the pragmatic example set by Lenin, who had non qualms about betraying bygone principles and companions, socialism, too, had proved extremely adaptable: "The historical facts of the 20th century show us socialism in all its intellectual arbitrariness and creative infertility in the

- 55 field of the discovery of really new paths and alternatives for social development ... They (the socialists) are capable of writing anything conceivably possible on their banners: 'industrialization' (Marxism), the 'nation' (national socialism), 'democracy' (democratic socialism), 'global problems' (Gorbachev's 'new thinking')." - In the ongoing struggle for power, the intellectual subgroup within the Bolshevigentsia enjoys the support of various populist organisations, for instance N. Travkin's influential "Democratic Party of Russia". Since the people behind this party are primarily concerned with the redistribution of property, this party, too, is evidently committed to socialist ideals. Thus Stykov comes to the conclusion that: "The current dispute between 'Left' and 'Right' is not a dispute between progessists and reactionaries but between reactionaries of different qualities." - The Bolshevigentsia is incapable of comprehending reality; it does not even consider it as a possibility that reality could develop a dynamic momentum of its own. Society is seen as a pyramid that can be shaped by directives from above - a sure sign of undiminished "confidence in the Bolshevik sorcery of the magic power of the word". - This also helps to explain why the political prestige of the intelligentsia is particularly high among the educated classes and the residents of the major cities, where over 20 parties had been formed in 1989/90, most of them, of course, "one-man bands" by members of the radical intelligentsia. Most had no links with concrete social groups and had no right to claim an image as the successors to pre-revolutionary organisations. - If the Bolshevigentsia were to acknowledge the principle of "non-violence", this would mean the end of the system and the political suicide of the Bolshevigentsia itself; for it would then fare just as had the communists and other leftists in Eastern Europe, for: "The attempt to democratize the 'occupation zone' is just as senseless and dangerous for its initiators as the attempt to democratize a prison." Since all the phenomena now being blamed for the crisis had already been in existence throughout the over seventy-years history of Soviet Russia, the essential cause of the present existential crisis of socialism must be recognised as the Bolshevigentsia's attempt to implant elements of democracy into the socialist system. - While for many of the peoples of Eastern Europe this change had meant an opportunity for a new start, the prospects it brought for the Russian people and the Bolshevigentsia itself were almost tragic. The reforms introduced with perestroika were proving harmful, perhaps even destructive, for Russia.

- 56 In this situation, even leading members of the intellectual Bolshevigentsia were voting for a reinforcement of state authority, as they were afraid of the "power of the street". Others tended more towards a self-mystification of the Bolshevigentsia, claiming that there was a threat from nationalist extremists or fascists. In some cases, this had to be seen as a reaction to the emergence of a new generation that had disassociated itself from everything to do with socialism. Leading sovietologists (Kennan, Pipes, Cohen) were committing a fundamental error if they assumed there was a contradiction between the internationalist/cosmopolitanist intelligentsia and the national/nationalist "Soviet bureaucracy". In reality, these had been but two different approaches as part of one and the same method of modernization directed against the people - similar programmes were to be used to implement the social and economic transformation of society (the radical intelligentsia advocating the American approach, i.e. with greater influence from outside the country, the bureaucracy insisting on the Prussian approach, which did not provide for any such opening to the outside). Stykov sees the emergence of authentic social organisations only as of 1990. Although he does not comment expressis verbis on the nature or programmes of these organisations, the conclusion can be drawn from his general discussions that he feels that national and religious orientations will be prominent. Whether the link-up with Russian traditions rules out the adoption of quasi-socialist ideas remains to be seen. Stykov hopes for "both peaceful and forceful" alternatives to dictatorship.

Neuere Arbeiten aus dem Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Sowjetunion 1988/89 Perestrojka in der Krise? Carl Hanser Verlag, München/Wien 1989, 359 S. The Soviet Union 1988/89 Perestroika in Crisis? Westview Press/Longman, Boulder/London/San Fransicsco 1990, 410 S. Christopher Davis/Hans-Hermann Höhmann/Hans-Henning Schröder (Hg.) Rüstung - Modernisierung - Reform Die sowjetische Verteidigungswirtschaft in der Perestrojka. Bund Verlag, Köln 1990, 274 S. Carsten Herrmann-Pillath China - Kultur und Wirtschaftsordnung. Eine system- und evolutionstheoretische Untersuchung. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart/New York 1990, 420 S. Gerhard Wettig Changes in Soviet Policy Towards the West. Pinter Publishers/Westview Press, London/Boulder/San Francisco 1991,193 S. Osteuropa und der internationale Kommunismus: Band 18: Joachim Glaubite/Dieter Heinzig (Hg.) Die Sowjetunion und Asien in den 80er Jahren. Ziele und Grenzen sowjetischer Politik zwischen Indischem Ozean und Pazifik. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1988, 370 S. Band 19: Gerhard Wettig (Hg.) Die sowjetische Militärmacht und die Stabilität in Europa. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1990, 207 S.