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German Pages 60 Year 1992
Berichte des Bundesinstituts für osrwissenschaffiche und internationale Studien „Ewiges Feuer" in Aserbaidschan Ein Land zwischen Perestrojka, Bürgerkrieg und Unabhängigkeit Eva-Maria Auch
Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FÜR OSTWISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN herausgegebenen Veröffentlichungen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wieder. © 1992 by Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln Abdruck und sonstige publizistische Nutzung - auch auszugsweise nur mit vorheriger Zustimmung des Bundesinstituts sowie mit Angabe des Verfassers und der Quelle gestattet. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Lindenbornstraße 22, D-5000 Köln 30, Telefon 0221/5747-0
Inhalt Seite Kurzfassung
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1. Nagorny-Karabach: Vom Grenzkonflikt zum Bürgerkrieg . . .. 2. Die Ursachen: Versuch einer Analyse
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2.1 "Stammesgebiete": ein Blick in die Geschichte
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2.2 Russische Kolonialherrschaft: Besonderheiten und Wirkungen
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2.3 Sowjetische Nationalitätenpolitik
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2.4 Gesellschaftskrise, ethnischer Konflikt und Unabhängigkeitskampf . . . . . . .
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3. Auf dem Weg zu sich selbst: Aserbaidschanische Identitätssuche . . . .
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4. Die "Volksfront Aserbaidschans"
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5. Ausblick
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Summary
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Januar 199 2
Die vorliegende Arbeit ist aus einem Forschungsauftrag des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien hervorgegangen. Die Verfasserin dieses "Berichts" ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Historischen Seminars der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Redaktion: Uwe Halbach
Eva-Maria Auch "Ewiges Feuer" in Aserbaidschan Ein Land zwischen Perestrojka, Bürgerkrieg und Unabhängigkeit Bericht des BlOst Nr. 8/1992 Kurzfassung Im Mittelpunkt des vorliegenden Berichts steht das "Land des ewigen Feuers" - A s e r b a i d s c h a n , dessen Streit mit Armenien um das Autonome Gebiet Nagorny Karabach zum Katalysator der Unabhängigkeitsbewegung wurde. Er verfolgt die armenisch-aserbaidschanischen Auseinandersetzungen von 1988 bis Mitte 1991 und beleuchtet ihre Hintergründe. Dabei werden sowohl historische als auch sozialökonomische und politisch-ideologische Faktoren, und die Wirkungen des Konflikts auf die aserbaidschanische Nationalbewegung dargestellt. Weitgehend ausgeklammert bleiben die außenpolitischen Konsequenzen der Veränderungen*), während die Rolle oppositioneller Kräfte am Beispiel der Volksfront Aserbaidschans (Narodny Front Aserbajdzana - NFA) erläutert wird. Neben den Ergebnissen der westeuropäischen und amerikanischen Kaukasus- und Islamforschung dienten Veröffentlichungen der sowjetischen Ethnographie, Wirtschaftsgeographie und Turkologie als Materialbasis, ebenso die sowjetische - insbesondere aserbaidschanische Publizistik. Erfahrungswerte durch ein fünfjähriges Orientalistikstudium der Autorin in Baku und mehrere Arbeitsaufenthalte in Transkaukasien fließen in die Analyse ein. Ergebnisse 1. Der Streit um Nagorny Karabach zwischen Aserbaidschan und Armenien provozierte seit seinem Ausbruch 1988 die Frage nach der Stabilität traditioneller Machtstrukturen. In dieser sensiblen Grenzregion zu Iran und der Türkei wurde erstmals ein ethnischer Konflikt unter den Augen der Weltöffentlichkeit mit massiver Gewalt seitens aller beteiligten Nationalitäten und der Zentralmacht ausgetragen und somit zum Gradmesser der Inkonsequenz Gorbatschowscher Reformpolitik. 2. Die Ereignisse in und um Karabach verdeutlichen die qualitative Wandlung der Situation in Transkaukasien: War der Streit um das von Aserbaidschan verwaltete und vorwiegend von Armeniern bewohnte Gebiet zum Katalysator national(istisch)er Selbstbesinnung auf beiden Seiten geworden, so stellten die Bakuer Ereignisse vom Januar 1990 mit ihrer blutigen Bilanz bereits eine Antwort der Zentralregierung auf die Konsolidierung der aserbaidschanischen Unabhängigkeitsbewegung dar, die vor allem über die "Volksfront" die traditionellen Positionen der KPdSU in Frage stellte.
- 23. Die Frage nach den Ursachen und Hintergründen der Auseinandersetzungen können einmal aus der Siedlungsgeschichte Transkaukasiens im allgemeinen und Karabachs im besonderen abgeleitet werden. Mehrere Einwanderungswellen aus dem Osmanischen Reich und Persien während der russischen Kolonialherrschaft vervielfältigten den armenischen Bevölkerungsanteil und führten seit der Jahrhundertwende immer wieder zu sozialen Spannungen zwischen den turksprachigen, muslimischen Aseri und den christlichen Armeniern. Erster Weltkrieg, Februar- und Oktoberrevolution und Bürgerkriege, in Transkaukasien von Versuchen eigenständiger Staatsgründungen begleitet, machten die ererbten Probleme sichtbar und vertieften sie durch blutige Übergriffe. Der Anschluß Nagorny Karabachs als Autonomes Gebiet an Aserbaidschan am 7. Juli 1923 wurde mit der historischen Zugehörigkeit und wirtschaftlicher Verflechtung begründet, stellte jedoch zugleich eine Geste gegenüber den islamischen Nachbarn Türkei und Iran dar - eine Verfahrensweise, die von armenischer Seite nie akzeptiert wurde, zumal sich die Stalinsche Idee der Verschmelzung von Nationen auf proletarischer Grundlage als völlig widersinnig erwies. 4. Wesentliche Ursache für den Ausbruch und die Art des Verlaufs des Konflikts ist die gesamtgesellschaftliche Krise des sowjetischen Systems in ihrer transkaukasischen Spezifik, die sich nach 1985 vertiefte und offensichtlicher wurde. Die wirtschaftliche und geistig-kulturelle Situation in Aserbaidschan ähnelt in vielem den Zuständen in Entwicklungsländern der Dritten Welt: Zeitlich geraffte und darum nicht tiefgreifende Industrialisierung, Mißverhältnisse in der Verteilung der Produktivkräfte, andauernde Bevormundung durch die übernationale Zentralmacht, RohstoffOrientierung und ökologischer Notstand gehen einher mit der Reproduktion vorkapitalistischer Denk- und Verhaltensweisen in deformierten Formen bzw. kritikloser Übernahme westlicher Lebensmodelle. Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems förderte die Desillusionierung breiter Volksschichten, Ethnozentrismus (Panturkismus), Islam und Nationalismus nehmen - unter den Bedingungen des Fehlens bürgerlich-demokratischer Traditionen - den Platz verlorener Wertvorstellungen ein. 5. Eine Untersuchung der Ereignisse um Karabach auf ihre politisch-ideologischen Wirkungen in Aserbaidschan führt zur Identitätssuche der Aseri, die bis 1918 über keinerlei neuzeitliche Staatlichkeit verfügten. Unter Bezugnahme auf die Aufklärung im 19. Jhd. wurden sie, nach heutiger aserbaidschanischer Sicht, eines Teiles ihrer Identität beraubt, äußerlich markiert durch die Einführung der Nationalität "Azerbajdzanec" 1934 anstelle der Bezeichnung "Turk", während die Sowjets keinerlei außenpolitische Schritte unternahmen, um Nord- und Südaseris zusammenzuführen. So bewegt sich die ethnische, religiöse und politische Eigendefinition zwischen den Attributen "muslimischturkisch-kaukasisch", wobei die unterschiedlichen politischen Gruppierungen den einzelnen Aspekten unterschiedliche Prioritäten einräumen.
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6. Karabach als Anlaß nationaler Selbstfindung brachte nicht nur Fragestellungen an die Geschichte, sondern auch oppositionelle Alternativen zur krisengeschüttelten Gegenwart. Getrieben durch die Ereignisse der Straße stellten ihre Vertreter, die Herrschaft der Kommunisten und die Zugehörigkeit zur Union ernsthaft in Frage, ohne bereits über genügend Reife und Geschlossenheit zu verfügen, um die Rettung des Systems durch die Zentralmacht 1990 zu verhindern. Der Schock des Militäreinsatzes vom Januar gab im Gegenteil den republikanischen Führungskräften Gelegenheit, eine "Umkleidung in nationale Farben" zu vollziehen, die eine tatsächlich tiefgreifende Demokratisierung auch nach dem gescheiterten Putsch vom 19. August 1991 und dem Zerfall der Union vorläufig verhindern wird.
- 51. Nagorny-Karabach: Vom Grenzkonflikt zum Bürgerkrieg Als Autonomes Gebiet nimmt Berg-Karabach (4.400 qkra) eine untere Stufe nationalterritorialer Selbstverwaltung innerhalb der Aserbaidschanischen Republik (86.600 qkrti, untergliedert in 61 Rayons) ein. Hier lebten zur Zeit der Volkszählung vom Februar 1989 etwa 188.000 Menschen1, davon waren ca. 3/4 armenischer Herkunft. Von armenischer Seite wird das 4.392 qkm große Gebiet ebenso wie Achalza und Achalkarak (2.800 qkm) in Georgien und die Aserbaidschan unterstellte Autonome Republik Nachitschewan (5.500 qkm, ca. 295.000 Einwohner, davon 2-3 % Armenier), als "fremdverwaltetes Gebiet" angesehen.2 wiederholt stellten Armenier an die Obersten Partei- und Regierungsorgane den Antrag, diese Territorien Armenien einzugliedern. So wiesen die Karabach-Armenier in Memoranden 1962, 1965, 1967 sowie 1986/87 auf ihre eingeschränkte kulturelle und politische Autonomie hin und baten um einen Anschluß an die "Mutterrepublik". Aserbaidschan verwies in der Gegenreaktion auf die 161.000 Aserbaidschaner in Armenien, für die keinerlei Sonderrechte in der Nachbarrepublik bestünden. Nachdem 1987 und Anfang 3 988 drei Delegationen aus Karabach auf eine Entscheidung über ihr Begehren in Moskau gedrängt hatten, kam es ab 12. Februar 1988 in Stepanakert, der Hauptstadt des Gebietes, zu Demonstrationen, denen sich schnell Menschen in anderen Orten Karabachs und Armeniens anschlössen. Am 18. Februar wurde die Zahl der aus Armenien vertriebenen Aseri bereits mit 4.000 angegeben. Auf einer Sondersitzung der Volksdeputierten Karabachs sprach sich eine Mehrheit für die erhobene Forderung nach Austritt aus der Aserbaidschanischen Republik und den Anschluß an Armenien aus, sechs Tage später wurde der russische Sekretär des Gebietsparteikomitees durch 1
0 predvaritel'nyoh itogaoh vsesojusnoj perepisi naselenija 1989 goda, in: Pravda, 22.4.1989, S. 2. G. Koutcharian, Der Siedlungsraum dar Armenier unter dem Einfluß der historisch-politischen Ereignisse seitdem Berliner Kongreß 1878: Eine politisch-geographische Analyse und Dokumentation, Berlin 1989, S. 201-220.
- 6den Armenier G. Pogosjan ersetzt. M. Gorbatschow sagte bis zum 26. März 1988 eine "gerechte Lösung" zu, warnte jedoch vor der Schaffung eines Präzendenzfalles, der eine Kette von Grenzrevisionen in der Union nach sich ziehen könnte und orientierte ausdrücklich auf die Lösung von wirtschaftlichen und sozialen Problemen in der Region. Doch die Ereignisse eskalierten bereits: Ende Februar 1988s Flüchtlinge aus Karabach treffen in der Chemiearbeiterstadt Sumgait bei Baku ein und berichten von blutigen Ausschreitungen in der umstrittenen Region. Als über einen Bakuer Sender die Nachricht verbreitet wird, daß dabei zwei Personen getötet wurden, setzt in Sumgait (223.000 Einwohner, darunter ca. 18.000 Armenier) ein Pogrom ein. Seine blutige Bilanz nach offizieller Meldung: 26 Tote auf armenischer, sechs auf aserbaidschanischer Seite. Die Inaktivität der örtlichen Sicherheitsorgane provoziert die Frage, ob der Staat überhaupt noch für die Sicherheit seiner Bürger sorgen könne. Aufrufe zum Selbstschutz werden auf beiden Seiten laut. März 1988: In Moskau sieht das ZK der KPdSU die Lösung des Problems in der Verbesserung der sozialen Lage und der internationalistischen Erziehung. Eine Grenzrevision wird aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt. Am 28. beschließen ZK und Ministerrat ein Wirtschafts- und Sozialprogramm für Nagorny Karabach: Im Zeitraum von 1988-1995 sollen 400 Mio. Rubel zur Verfügung stehen. April/Mai 1988: Ca. 1.000 Flüchtlinge aus Armenien treffen in Aserbaidschan ein. Die ZK-Sekretäre der beiden Republiken werden abgesetzt; Gewalttätigkeiten und Streiks bleiben auf der Tagesordnung. Juni-August 1988: Am 28. Juni bekräftigt der Unionsparteikongreß der KPdSU die Position, keine Grenzänderungen zwischen den
_ 7 Republiken zuzulassen. Am 12. Juli erfolgt auf Beschluß des Karabacher Gebietssowjets die Umbenennung Karabachs in "Autonomes Gebiet Artsach". Aserbaidschan sieht in der Austrittsentscheidung einen Verfassungsbruch und verhängt eine Verkehrsblockade. Das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR unterstützt die Haltung Aserbaidschans; A. Wolskij wird als Sonderbeauftragter des ZK nach Karabach entsandt. September-Dezember 1988: Am 21. September wird über die Gebiete Agdam und Stepanakert der Ausnahmezustand verhängt, Nagorny Karabach zum Sondergebiet erklärt. Vom 17. November - 5. Dezember findet in Baku ein "pausenloses Meeting" statt. Über 200 Betriebsgruppen zur Unterstützung der NFA werden spontan geschaffen. Das Militär räumt den Leninplatz: drei Todesopfer. - Am 7. Dezember kostet das Erdbeben in Armenien 25.000 Menschenleben; vier Städte, 50 Dörfer werden fast völlig zerstört. Ein Flugzeug mit 50 freiwilligen Helfern aus Aserbaidschan wird abgeschossen. Die Fronten verhärten sich. Januar 1989: Das Präsidium des Obersten Sowjet unterstellt am 12. Januar Karabach einem Komitee zur Sonderverwaltung und damit direkt Moskau, die regionalen Behörden werden von ihren Aufgaben suspendiert.3 Flüchtlingsströme bewegen sich in beiden Richtungen, soziale Probleme verschärfen sich. März 1989: Am 13. stellt die Initiativgruppe der NFA den Antrag auf offizielle Registrierung der Organisation. A. Wesirow begründet die Ablehnung des Antrages mit einer Übereinstimmung der Ziele von KP und Volksfront.
Vgl. Sondergebiet Nagorny Karabach, in: Neue Zeit, 39, 1989, S. 34-38; zu diesen und folgenden Daten vgl. auch Weltgeschehen 1987-1989, Sankt Augustin, IV, 1989, S. 151-158.
- 8Juli-September 1989: In Aserbaidschan kommt es auf Initiative der NFA zu einer Reihe von Streiks. Die Forderungen lauten: offizielle Anerkennung der Volksfront, wirtschaftliche Autonomie für die Republik, aserbaidschanische Kontrolle über Karabach und Rückzug der Moskauer Truppen. Im Ergebnis des am 4. September beginnenden einwöchigen Generalstreiks nimmt die Regierung Verhandlungen mit der NFA auf. Am 10. September verkünden Führungsmitglieder der Bewegung über das Fernsehen die offizielle Zulassung der Organisation, am 15. nimmt sie erstmalig an den Sitzungen des Obersten Sowjet Aserbaidschans teil und trägt damit entscheidend zur Annahme des "Gesetzes über die Souveränität" vom 23. September bei, dessen Artikel 5 festlegt, daß Nagorny Karabach untrennbarer Bestandteil Aserbaidschans ist, und Grenzveränderungen nur durch ein Referendum herbeigeführt werden dürfen.^ Anhaltende Verkehrsblockade gegenüber Armenien und Karabach. Der wirtschaftliche Schaden wird mit 150 Mio. Rubel beziffert. Von ca. 220.000 Armeniern in der Hauptstadt sind nur noch 40.000 geblieben, aus Armenien kamen bereits ca. 100.000 Aserbaidschaner. Am 19./20. September findet das Nationalitätenplenum des ZK der KPdSU statt. Eine Sondersitzung des Obersten Sowjet Armeniens vom 15.-23. September endet mit dem Appell an Moskau, für die Beendigung der Wirtschaftsblockade zu sorgen. Am 25. erfolgt die Übernahme der Aufgaben ziviler Behörden zur Grundversorgung Karabachs durch die Truppen des Innenministeriums . Oktober 1989: Der Schaden allein durch Streikaktionen in Transkaukasien wird mit dem Verlust von 2 Mio. Arbeitstagen angegeben .5 Am 5. Oktober übernimmt die Rote Armee die Kontrolle über die Transportwege zwischen Armenien und Aserbaidschan. 4
Signal aus Baku, NZ, 42, 1989, S, 26f. Azerbajdzan. (Gesellschaftspolitisch-historische Wochenzeitschrift; NFA Akademie der Wissenschaften der ASSSR), 5 (Spezialausgabe), 1989, S. 1.
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November 1989: Der Moskauer Oberste Sowjet verfügt am 29. November die Beendigung der Sonderverwaltung über Karabach, örtliche Organe sollen ihre Arbeit wieder aufnehmen. Der Beschluß provoziert neue Massendemonstrationen mit Todesopfern. Dezember 1989/Januar 1990: Zur Jahreswende kommt es an einem 160 km langen Grenzabschnitt, zwischen der von Aserbaidschan verwalteten Autonomen Republik Nachitschewan und Iran wie an der 12 km langen Grenze zur Türkei zu Übergriffen. Ein "Vereinigtes Aserbaidschan" wird gefordert. Am 7. Januar sagt die Regierung den "kleinen Grenzverkehr", die landwirtschaftliche Nutzung des 20.000 ha Ackerland umfassenden Grenzgürtels und verbesserte Reisebedingungen zwecks Familienzusammenführung zu. In Armenien nimmt der Oberste Sowjet Karabach in seinen Haushaltsplan auf, der aserbaidschanische Protest folgt. Zwischen dem 13. und 14. fordern blutige Zusammenstöße in den Gebieten Baku, Chanlar, Schaumjan und Lenkoran ca. 50 Todesopfer, am 15. verhängt der Oberste Sowjet das Kriegsrecht über Karabach, angrenzende Gebiete und in der Grenzzone,6 Über 11.000 Soldaten werden zusätzlich nach Transkaukasien verlegt, erhalten Schießbefehl. Auf Meetings in Baku wird der Rücktritt der Regierung gefordert und ein Generalstreik ausgerufen. Am 19. rollen um 24 Uhr die Panzer in die Hauptstadt. Das Radio verkündet am nächsten Morgen die Verhängung des Ausnahmezustandes. Die Bilanz der Nachts 131 Tote, mehr als 7 00 Schwerverletzte.7 Nachitschewan kündigt seinen Austritt aus der Union an, wenn sich Moskau weiterhin in aserbaidschanische Angelegenheiten einmischt. Einen Tag später protestiert auch der Oberste Sowjet Aserbaidschans gegen die Militärmacht, der ZK-Chef Wesirow wird seines Amtes enthoben, E. Siegel, Jetzt führt Aserbaidschan Klage in Moskau, in: Frankfurter Rundschau, 19.1.1990, S. 9. Iz materialov komissii verchovnogo soveta AzerbajdYanskoj SSR po rassledovaniju sobytij imevsich mesto v gorode Baky 19-20 janvarja 1990 goda, in: Azadlyg, Januar 1990 (Sonderfaltblatt, Opferliste).
10 A. Mutalibow zu seinem Nachfolger bestimmt. Es kommt zu öffentlichen Massenaustritten aus der KPdSU, die Zahl der Parteimitglieder reduziert sich von 384.000 (1987) auf ca. 250.000. Fast 1 Mio. Menschen begleiten den Trauerzug mit den Todesopfern zur Märtyrerbegräbnisstätte im Kirov-Park. Am Ende des Monats erreicht die Flüchtlingswelle aus Aserbaidschan Moskau. Russische und armenische Familien haben Baku -- teils über den Seeweg fluchtartig verlassen, insgesamt umfaßt die Flüchtlingswelle bereits 500.000 Menschen.8 Juli-August 1990s Die Auseinandersetzungen spitzen sich immer wieder zu. Übergriffe auf armenische und aserbaidschanische Ortschaften werden zunehmend mit militärischen Mitteln und durch nationalistische Verbände ausgetragen, weitere Opfer auf Seiten aller Beteiligten sind tägliche Realität. Am 25. Juli erläßt Gorbatschow ein Entwaffnungsdekret, welches die Auflösung der bewaffneten Einheiten innerhalb von 15 Tagen fordert. Vom armenischen Parlament werden 5-6.000 Mann starke "Abteilungen der Selbstverteidigung" gerechtfertigt.9 Im Ergebnis der August-Tagung des neugewählten Obersten Sowjet Armeniens tritt der Sprecher des 1987 gegründeten Karabach-Komitees L. Ter-Petrosjan sein Amt als Präsident an. Am 23. August verkündet das Parlament die Unabhängigkeit Armeniens. Beide Seiten bekräftigen die Gebietsansprüche gegenüber Karabach, sie kündigen Maßnahmen zur "Gewährleistung der Souveränität und Sicherheit" an und fordern zugleich von Moskau Unterstützung gegen die jeweils andere Republik. September 1990: Bei den Wahlen der Volksdeputierten in Aserbaidschan im September/Oktober können sich die Kommunisten durch-
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LL. Rybakovskij/N.V. Tarasova, Migraciorinye processy v SSSR: novye javlenija, in: Sociologiceskie ussledovanija, 7, 1990, S. 38. U barera, in: Literaturnaja gazeta, 31, 1991, 7.8.1991.
- 11 setzen. Mutalibow wird Präsident und verkündet einen
"harten
Kurs". Oktober 1990: Die mit zahlreichen aserbaidschanischen Flüchtlingen aus Armenien aufgefüllten OMON (1988 geschaffene Milizen des Innenministeriums mit besonderem Aufgabenbereich) übernehmen die Kontrolle über weite Teile Aserbaidschans. Das führt zu willkürlichen Gefangennahmen und zahlreichen Übergriffen mit denen vor allem die Bürger in den armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebieten durch die Einführung des Paßsystems unter Druck gesetzt werden.^ Januar
1991:
Im Kaukasus sollen nur noch Freiwillige der Roten
Armee eingesetzt werden. Allein in Armenien waren 1990 über 120 Angriffe auf Armeeobjekte registriert worden. An der Trauerfeier anläßlich des Jahrestages des Massakers vom 19./20. Januar nehmen
Tausende
teil.
Schlüssel zum Heil und
Mutalibow
verkündet,
Einheit
nationale
Harmonie die Lösung.
sei
der
März 1991: Trotz zahlreicher Gegendemonstrationen und Boykotts findet in Aserbaidschan das Referendum über den Verbleib in der Union statt. Die Republik beteiligt sich an den Verhandlungen um einen neuen Unionsvertrag. August 1991: Am 22.8. scheitert ein rechter Putschversuch in Moskau. Mutalibow wird von der Volksfront als Sympathisant des Putsches bezeichnet und zum Rücktritt aufgefordert. Am 30. wird der Ausnahmezustand aufgehoben. September 1991s Nagorny Karabach erklärt sich am 3. zur Unabhängigen Republik. Die bewaffneten Übergriffe halten an, allein am 7./8. September werden 13 Menschen getötet, mehr als 30 verI. Lagunina, Der Karabach-Knoten. Lady Cox über die Rechtlosigkeit, in: NZ, 33, 1991, S. 44ff.
- 12 letzt. Massendemonstrationen in Baku und anderen Städten fordern den Rücktritt der Regierung, nachdem die Kommunistische Partei ihre Tätigkeit einstellen mußte. - Am 5. September ist die alte Union endgültig zusammengeborchen, eine provisorische Staatsführung, in der auch Aserbaidschan vertreten ist, tritt ihr Amt an. November 1991: Die unter Vermittlung Rußlands und Kasachstans zustandegekommenen Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien scheitern. Aserbaidschan blockiert die Energieversorgung Armeniens, am 26. hebt das Parlament die Autonomie Karabachs auf.
2• Die Ursachen: Versuch einer Analyse Die Vielschichtigkeit der Hintergründe armenisch-aserbaidschanischer Feindschaft restlos aufzuklären ist unmöglich. Auf jeden Fall spielen bei der Entwicklung des Spannungsverhältnisses historische Faktoren eine wesentliche Rolle, zumal von beiden Seiten bei der Begründung ihrer territorialen Ansprüche auf die Geschichte zurückgegriffen wird.
2.1 "Stammesgebiete": ein Blick in die Geschichte Karabach leitet seinen Namen vom türkischen "kara" - "schwarz" und "bagh" - (Wein)garten ab, während die Armenier von Artsach sprechen. In der Antike gehörte das Gebiet u.a. zum kaukasischen Albanien. 11 Seine Christianisierung erfolgte im 4. und 5. Jahrhundert, während der Islam kaum in die Bergregionen vorstieß. Die armenische Geschichtsschreibung geht davon aus, daß im Verlauf von zwei Jahrhunderten eine solche Vermischung der V
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A.S. Sumbatzade, Azerbajdzancy - etnogenez i formirovanie naroda, Baku 1990, S. 59
- 13 Ethnien stattgefunden hat, daß "die Albaner im 7. Jahrhundert ihre eigenständige Identität verloren... und die Ländereien als Provinzen Utik, Sunik und Artsach Teile Armeniens wurden"1^. Davon zeugen angeblich mehr als 1.600 armenische Denkmäler, die auch Aserbaidschan als Erbe beansprucht. Von beiden Seiten findet die Tatsache kaum Berücksichtigung, daß Nagorny Karabach wie ganz Transkaukasien ein zentrales Durchzugsgebiet zwischen Nahem Osten, Schwarzmeergebiet, Mittelasien, Rußland und Persien bildete, und die religiös-ethnische Selbstbehauptung der Armenier über Jahrhunderte mit der Verflechtung kaukasischer, arabischer, persischer und türkischer Elemente, der An- und Umsiedlung von Völkerschaften oder auch ihrer Liquidierung in den umstrittenen Territorien einherging. So bestimmte seit dem 18. Jahrhundert die Rivalität zwischen dem Osmanischen Reich, Persien und Rußland immer deutlicher das Schicksal der Kaukasier. In ihren Machtkämpfen bedienten sich diese Mächte bald einzelner Volksgruppen, bald gingen sie untereinander Bündnisse gegen sie ein.1^ Als sich die armenische Kirche immer stärker für eine Selbständigkeit der Armenier einzusetzen begann, verschärfte Persien den Druck auf die gregorianischen Christen. Auswanderungen waren die Folge. Als "Schutzmacht" griff am Ende des 18. Jahrhunderts Rußland unter Katharina II. die Eroberungspläne von Peter I. im Kaukasus konsequent auf. Als Beweis der Ernsthaftigkeit von russischen Hilfsangeboten gegenüber den christlich-kaukasischen Völkern erhielt 1768 der Katholikos von Etschmiadsin auf seine Bitte hin Schutzbriefe für Armenier. Eine damit verbundene Privilegierung Einzelner v.a. im Handel und in der späteren Verwaltung Kaukasiens brachte den Armeniern den 12
G.B. Libaridian (Ed.), The Karabagh File: documents and facts on the question of Mountainous Karabagh 1918-1988, Cambridge, Massachusetts/Toronto 1988, S. 3; Vgl. auch: W.H. Balekjian, Konflikt im Transkaukasus, in: Politische Studien, 315, München 1991, S. 29. J. Stadelbauer, Arzach - Völker- und Verwaitungsgrenzen in Sowjet-Kaukasien, in: Tübinger Geographische Studien, 102, 1989, S. 414; vgl. auch E. Sarkisyanz, Geschichte der orientalischen Völker Rußlands bis 1917. Eine Ergänzung zur ostslawischen Geschichte Rußlands, München 1961, S. 51f.
- 14 Vorwurf der Kollaboration14, obwohl 17 83 auch der georgische Fürst Irakli II. sein christliches Reich Rußland unterstellte. In zwangsweiser Durchsetzung des Schutzvertrages wurde Georgien 1801 russische Kolonie und Ausgangspunkt für weitere Eroberungen .
2.2 Russische Kolonialherrschaft: Besonderheiten und Wirkungen Infolge des ersten russisch-persischen Krieges gelangten weite Gebiete, darunter 1805 Karabach, unter russische Herrschaft. Eine erneute Einwanderungswelle von Armeniern nach Karabach setzte 1809 ein. Der russische Gebietszuwachs (Daghestan, das nördliche Aserbaidschan u.a.) wurde 1813 im Vertrag von Gülestan von Persien akzeptiert. Im zweiten Krieg gegen Persien fielen auch Jerewan und Nachitschewan an Rußland. Die 1828 festgelegte Grenze entlang des Araxes teilte nunmehr das Siedlungsgebiet der Aseri in einen russischen Nord- und einen persischen Südteil. Zugleich erhielten die Armenier Persiens die Möglichkeit, in den russischen Norden umzusiedeln. Zehntausende nahmen das Angebot an und folgten den russischen Truppen. Mit dieser zweiten Zuwanderungswelle im 19. Jahrhundert sollen den ca. 8.250 Familien, die bis 1828 in Jerewan, Karabach und Schemacha eingetroffen waren, noch weitere 40.000 Menschen aus Persien und ca. 84.000 aus dem Osmanischen Reich gefolgt sein. 1 ^ Angewiesen auf die Loyalität örtlicher Autoritäten und in der Hoffnung, Ostarmenier und schiitische Aseri würden sich von ihren außerhalb des russischen Reiches lebenden Glaubensbrüdern "abnabeln", wurden armenische ebenso wie georgische und muslimi14
I. Jusubov, Pis'mo drugu, Baku 1990, S. 39-42. Vgl. Ch.D. Chalilov, Iz etnicfeskoj istorii Karabacha, in: Istorija Azerbajzana po dokumentam u publikacijam, Baku 1990, S. 39-40.
- 15 sehe Führer bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts an der zaristischen Machtausübung beteiligt. Die Kirchen - wesentliches geistig-kulturelles Integrationsmittel der Armenier und Georgier - wurden russischer Kontrolle unterstellt: 1810 ging die Georgische Orthodoxe Kirche als Exarchat in die russische ein, 1836 regelte eine Verordnung die Gebietshoheit der armenischen Kirche im Russischen Reich, wobei Karabach eine der insgesamt sechs Eparchen erhielt. Das Fehlen kirchlicher Institutionen bei den Muslimen erschwerte die Ausübung der Kontrolle über die Gläubigen. Seit 1778 existierte in Ufa eine zentrale islamische geistliche Behörde, welche die Institutionalisierung des Islam im Russischen Reich befördern und letztlich die Überwachungsfunktion übernehmen sollte; Einrichtungen in Tiflis, Kasan und Baku erhielten nun diese Aufgabe für den Kaukasus. Als äußerst kompliziert erwies sich der Aufbau der Verwaltung. Mit der russischen Eroberung waren die traditionellen Territorialstrukturen weitgehend aufgebrochen worden. Militärischen Gesichtspunkten gehorchend, befürchtete man eine Übernahme von Zonen, die traditionellen (georgischen, armenischen, persischen, osmanischen) Einflußgebieten entsprachen. Ausgehend von den Grundsätzen "teile und herrsche" und "vermische und herrsche" - je nach Bedarf angewandt - wurde mit der ethnischen und religiösen Vielfalt der kaukasischen Völkerschaften Politik gemacht. Umsiedlungen einheimischer Volksgruppen und Ansiedlungen von Kolonisten (Russen, Ukrainer, Deutsche) führten stets zu Spannungen. So dominierten bei der Schaffung von Verwaltungseinheiten nicht ethnisch-religiöse, sondern politische, militärstrategische und verwaltungstechnische Überlegungen bis wirtschaftsgeographische Entwicklungen neue Realitäten schufen und wiederholt Gebietsreformen brachten: Bereits 1822 war das Chanat Karabach liquidiert und das Territorium in eine Tiflis unterstellte Provinz umgewandelt worden. Ab 1840 gehörte es zum Kreisgebiet Schuscha innerhalb der Kaspischen (Chasarischen) Provinz. Auf der Grundlage des Erlasses vom 9. Dezember 1867 "Über die Umgestaltung der Verwaltung des Kaukasischen und
- 16 Transkaukasischen Gebietes"wurden mit Wirkung vom 19. Februar 1868 die acht transkaukasischen Verwaltungszonen in die vier Gouvernements Jerewan (einschließlich Nachitschewan), Tiflis, Jelisawetpol und Baku umgewandelt.1^ Letztere - bezeichnet als "Ostkaukasus" oder "Kaspische Region" - umfaßten auch das ehemalige Chanat Karabach und beheimateten den Großteil der transkaukasischen Muslime oder - wie in damaligen Statistiken aufgeführt - "Tatary"/"Turky". Armenier siedelten in 12 von insgesamt 13 kaukasischen Verwaltungseinheiten überwiegend als Minderheit, und selbst in der Jerewaner Provinz bildeten sie als Religionsgemeinschaft mit 54 v.H. (1984) nur eine schwache Mehrheit.17 Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Transkaukasiens stieg im 19. Jahrhundert stetig durch kriegerische Auseinandersetzungen Rußlands mit seinen südlichen Nachbarn: so nach den beiden russisch-persischen Kriegen, infolge des russisch-türkischen Krieges 1877/79 und antiarmenischer Pogrome im Osmanischen Reich ab 1890 und 1914/15, die weitere Einwanderungswellen nach sich zogen: Lebten 1846 in Transkaukasien ungefähr 200.000 Armenier bei einer Gesamtbevölkerung von ungefähr 1,5 Mio., so waren es 1908 bereits 1,35 Mio. und 1915 -1,68 Mio. Armenier.1° Die Verstärkung des armenischen Bevölkerungsanteils bei begrenzter landwirtschaftlicher Nutzfläche und Wasserknappheit, geringen Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten bot seit der Jahrhundertwende zunehmend Zündstoff für armenisch-aserbaidschanische Zusammenstöße. Wirtschaftliche (und kulturelle) Überlegenheit der Zugewanderten, der Gegensatz zwischen ländlichen Aseri und urbanisierten Armeniern waren wichtige Ursachen des Konfliktes zwischen den Volksgruppen, der schließlich im tatarisch-ar-
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17 18
Ob izmenenijach administrativno-territorial'nogo delenija Gruzii (1801-1921), in: Spravo&ik ZGIA, Tbilissi 1976, S. 345358. Vgl. Kavkazkij kalendar' na 1887 g., Tiflis 1886, S. 220f. Kavkazkij kalendar' na 1915, Tiflis 1914, S. 255, S. 227.
- 17 menischen Kriegzustand 1896-1905 gipfelte.!9 Die Verwandtschaft der Aseri den Türken, vor denen viele Familien aus dem Osmanischen Reich geflüchtet waren, war ein zusätzliches Moment, welches die brutale Art der Austragung der Konflikte bereits damals beeinflußte. Auch bestimmte Sitten aus dem kaukasischen Adat, wie Normen der Blutrache, des Gefolgschaftsprinzips und der Sippenhaftung, haben hier zweifellos die Form der Auseinandersetzung beeinflußt. Bis zur Oktoberrevolution 1917 war das Gouvernement Jelisawetpol mit den Kreisen Schuscha, Dschebrail, Dschiwanschir und Sangesur zum ethnisch und religiös heterogensten Gebiet geworden, auf welches ab Sommer 1918 die bürgerlichen Regierungen der jungen Republiken Armenien und Aserbaidschan gleichermaßen Anspruch erhoben. Armenien vertrat die Auffassung, daß Ober-(Berg-)Karabach geographisch und ethnisch im Gegensatz zu Unterkarabach stehe und darum Armenien angegliedert werden müsse. Die muslimischen Nomaden des Flachlandes sollten durch Sonderverträge weiterhin ihre Sommerwiesen im Gebirge aufsuchen können. Aserbaidschan beharrte auf der Untrennbarkeit des geographischen Raumes. Die Bekräftigung dieser Ansprüche erfolgte auf beiden Seiten in der Form von Massakern. Mit türkischer und zweitweise auch englischer Unterstützung für die Aseri und unter dem Eindruck der Gemetzel in armenischen und aserbaidschanischen Dörfern und Baku kam es am 22. August 1919 zur Unterzeichnung eines "Provisorischen Abkommens", das unter der Bedingung einer administrativen und kulturellen Autonomie für die Armenier, den Aserbaidschanern Karabach zusprach. Eine Friedenskonferenz sollte endgültig über das Schicksal der Re-
Vgl. T. Swietochowski, Russian Azerbaijan 1905-1920, London, New York 1985, S. 38-46.
- 18 gion entscheiden. 20 rjie Gebietsstreitigkeiten zwischen den jungen transkaukasischen Staaten nach dem Sturz des zaristischen Kolonialsystems, boten Eingreifmöglichkeiten von außen und behinderten die Konsolidierung der Staaten.
2.3 Sowjetische Nationalitätenpolitik Am 19. Juni 1920 telegrafierte Ordshonikidse an Lenin und Tschitscherin: "In Karabach und Sangesur ist die Sowjetmacht ausgerufen und beide Territorien betrachten sich als Teile der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik..."21 Am 29. November 1920 wurde die Sowjetmacht in Armenien errichtet. Damit ergab sich eine völlig neue Situation. Das Regierungsoberhaupt Aserbaidschans N. Narimanow erklärte am 1. Dezember 1920: "... Von nun an können irgendwelche Territorialfragen nicht Ursache gegenseitigen Blutvergießens zweier jahrhundertelang benachbarter Völker, der Armenier und Aserbaidschaner, werden...".22 stalin verkündete in der "Pravda" vom 4. Dezember 1920: "Am 1. Dezember verzichtet Sowjetaserbaidschan freiwillig auf die umstrittenen Provinzen und deklariert die Übergabe Sangesurs, Nachitschewans, Berg-Karabachs an Sowjetarmenien. . . " . 23 _ Doch daß dies mehr bolschewistisches Wunschdenken war, zeigten die anhaltenden militärischen Aktivitäten der Daschnaken und die Diskussionen über diese Frage in den transkaukasischen Parteibüros (am 25.2.1921 marschierte die Rote Armee auch in Tiflis ein) und der Parteizentrale in Moskau.24 Dieser war vor allem an einer Entspannung des Verhältnisses zur Türkei gelegen. Im russisch-türkischen Frie-
22 23 24
Vgl. A.I. Stavrovskij (red.), Ministerstvo inostrannych del, in: Adreskalendar'Azerbajdianskoj respubiiki na 1920 g., Baku 1920. S. 76-88. Archiv M!D SSSR, d. 54882,1. 20, in: Konflikt v Nagornom Karabache. Sbornik statej, Baku 1990, S. 27. N. Narimanov, Deklaracija glavy pravitelstva ot logo dekabrja 1920 g., in: Kommunist, 178, 2.12.1920. Obrazovanie SSSR. Sbornik dokumentov 1917-1924, Moskva 1949, S. 159. Vgl. Konflikt, a.a.O., S. 27 ff., Vgl. auch: I. Aliev, Nagomyj Karabach: Istorija, fakty, sobytija, Baku 1989, S. 80 ff.
- 19 dens vertrag von Moskau vom 16. März 19 21 kam es zu einem für die armenische Seite bis heute inakzeptablen Kompromiß: Im Artikel 1 verzichtete die sowjetische Seite auf Kars, Ardahan und Surmalu, Artikel 5 bestimmte einen autonomen Status für Nachitschewan unter aserbaidschanischer Oberhoheit, Artsach sollte bei Aserbaidschan bleiben, bis eine Volksabstimmung eine endgültige Klärung herbeiführte. Zugleich sicherte sich die Türkei das Recht auf Mitsprache bei einer Änderung des Status Nachitschewans beziehungsweise auf Intervention bei einem Angriff auf dieses Gebiet. Unter Berücksichtigung der Bündnisse mit den islamischen Nachbarstaaten Persien, Afghanistan und der Türkei stellte sich Moskau auf die Seite des bevölkerungsreicheren, turksprachig-schiitischen und vor allem ökonomisch durch sein Erdöl äußerst bedeutsamen Aserbaidschan. Trotz vielfacher Meinungsverschiedenheiten in der Karabach-Frage nahm am 5. Juli 1921 ein Plenum des Kaukasischen Büros der Bolschewiki den Entschluß an, "Nagorny Karabach in den Grenzen Aserbaidschans zu belassen". Zugleich sollte ein spezielles Komitee des Volkskommissariats der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik ein Projekt zur Lösung des Karabach-Problems vorlegen. Auf dessen Empfehlung und unter Bezugnahme auf das Provisorische Abkommen von 1919 wurde am 7. Juli 1923 per Dekret Nagorny Karabach als Autonomes Gebiet in die Aserbaidschanische SSR eingegliedert, das ehemalige Chankendy wurde zur Hauptstadt des Gebiets und in "Stepanakert" umbenannt (nach einem der "26 Kommissare von Baku", Stepan Schaumjan). Die Festlegung der Grenzen erfolgte auf der Grundlage kolonialrussischer Aufteilungen unter Einschluß von Gebieten der Bezirke Elisawetpol und Schuscha. Für Armenien blieb lediglich Sangesur und ein Teil des Kasacher Kreises mit insgesamt 9.000 qkm, gelegen zwischen Karabach und Nachitschewan. Doch auf der Grundlage des von Stalin vertretenen Prinzips der nationalen Autonomie und zentralen Macht, untermauert von Theorien über die Assimilation kleiner Völker, das Verschmelzen der Nationen auf Klassenbasis und das automatische Verschwinden nationaler Konflikte beim sozialistischen Aufbau, wurden will-
- 20 kürliche Grenzziehungen unter der Sowjetmacht zu einer Normalität mit dem Charakter von Zeitzünderbomben. Denn die Armenier haben sich mit dieser Lösung nie abgefunden. Der Kampf um den Anschluß "armenischer Siedlungsgebiete" wurde zu einem "beherrschenden Bestandteil des armenischen Nationalbewußtseins im 20. Jahrhundert".25
2.4 Gesellschaftskrise, ethnischer Konflikt und Unabhängigkeitskampf Die Frage nach den Hintergründen des Konflikts bleibt unbeantwortet, wenn nicht das sozialökonomische und politisch-ideologische Umfeld des Konflikts näher betrachtet werden. Waren es doch gerade die Krisenerscheinungen des gesamten gesellschaftlichen Systems, die den ethnischen Konflikt in einen Kampf gegen die kommunistische Zentralmacht hinüberwachsen ließen und der nationalen Bewegung damit eine neue Qualität verliehen. Die wirtschaftliche Bedeutung Aserbaidschans gründet sich vor allem auf die vorhandenen Bodenschätze und die Landwirtschaft. Erdöl, Eisenerz, Alunit, Schwefelkies, Baryt, Kobalt, Marmor und Molybdän werden gefördert, der Kupferbergbau, der die Gebrüder Siemens einst nach Kedabeg zog, ist heute unbedeutend. Die Situation ähnelt in vielem den Zuständen in Entwicklungsländern der Dritten Welt. Bedeutsame sozialökonomische Umwälzungen in historisch kurzer Zeit waren von einer andauernden Bevormundung durch die übernationale Zentralmacht begleitet, von Mißverhältnissen in der territorialen Verteilung der Produktivkräfte, Rohstoff Orientierung und ökologischem Notstand: So entschied z.B. Aserbaidschan bis 1990 nur über 7 % seiner Industrieproduktion eigenständig, der Rayon Baku-Sumgait erzeugte 50 % mehr Indu25
G. Simon, Die Unruhen in Armenien und Aserbaidschan. Eine historische Hintergrundanalyse, Baden-Baden 1988, S. 43 (Beiträge zur Konfiiktforschung, Heft 2).
- 21 striewaren als die übrigen neun Wirtschaftszonen zusammen, die 93 % des Territoriums und 70 % der Bevölkerung umfassen. Die Breiten- und Tiefenwirkung der Industrialisierung muß also angezweifelt werden. Über die größte Einnahmequelle der Republik, die Förderung von Erdöl (13,2 Mio. Tonnen durchschnittlich pro Jahr oder nach anderen Angaben 5 % der gesamten Fördermenge der Sowjetunion) und Erdgas, verfügte die Zentralregierung in Moskau, die auch über die jeweiligen Kapitalinvestitionen für die industrielle Entwicklung Aserbaidschans zu entscheiden hatte. Von 11,7 Mrd. Rbl Nationaleinkommen brachte das Land 2,5 Mrd. Rbl durchschnittlich in den "Unionstopf" ein, während in der gleichen Höhe nach Schätzungen von Ökonomen ein jährliches Handelsdefizit klaffte. Die in Aserbaidschan (Sumgait) hergestellten chemischen Produkte - darunter eine hohe Anzahl stark gifter Substanzen - verblieben nur zu 20 % in der Republik, 80 % wurden exportiert, während Fragen des Umweltschutzes lange Zeit weder in noch außerhalb der Republik interessierten und erst jetzt von den aserbaidschanischen Grünen langsam in die Öffentlichkeit gebracht werden.26 Mißstände zeigen sich auch in der Landwirtschaft, mit der immer noch 46 % der Bevölkerung verbunden ist. Die günstigen klimatischen Verhältnisse - 11 von 14 Klimazonen gibt es im Land - bieten gute Bedingungen für den Anbau verschiedener Kulturen. Ähnlich wie in Mittelasien wurde jedoch die Baumwolle zum Hauptanbauprodukt unter Verdrängung anderer Kulturen. Ihre Weiterverarbeitung erfolgte bis 1990 nur zu 15 % in Aserbaidschan. Durch die Preisspanne zwischen Rohstoff und Fertigprodukt gingen pro Tonne Baumwolle dem Land bis zu 900 Rbl verloren, während die Auswirkungen (Einschränkungen der Nutzfläche für andere Kulturen, Getreideimport, chemische Verseuchung mit Gesundheitsschäden usw.) allein von der Repu26
Daten zur Umweltverseuchung: Baku liegt mit 667.000 Tonnen Schadstoffauswurf (1989) auf dem 5. Platz unter sowjetischen Städten; 39,2 % aller Trinkwasserquellen sind in Aserbaidschan chemisch, 25,4 % bakteriologisch verseucht; 82 % alier kontrollierten Fäkaliengruben entsprechen nicht hygienischen Anforderungen, vgl. Socialnoe razvitie SSSR, 1989, Moskau 1991, S. 373-386.
- 22 blik getragen werden mußten Aserbaidschan ist der größte Lieferant von Weintrauben in der Union. Von 1981 bis 1985 lieferte die Republik durchschnittlich pro Jahr 1,83 Mio. t, 1988 waren es noch 1,03 Mio., von denen der Staat 1,03 Mio. aufkaufte. 27 Einerseits schöpfte das staatliche Spirituosenmonopol 120-200 mal mehr Profit ab, als die Weinbauern und -pflücker für ihre Arbeit erhielten, andererseits verringerte das "Antialkoholgesetz" des Minsterrats der UdSSR vom Mai 1985 die Absatzmöglichkeiten für Weintrauben, was direkte Auswirkungen auf die Produzenten, weniger auf die Händler hatte, die durch Preissteigerungen und Schwarzhandel ihre Verluste ausgleichen konnten. Ähnliche Eingriffe sind im Tabak- und Teeanbau, der Seiden- und Wollerzeugung zu beobachten.28 Auch hier wurde der Großteil in die Nachbarrepubliken exportiert, während die Fertigprodukte erworben werden mußten. Aufgrund ihrer unterentwickelten Wirtschaft sind die Budgets fast aller Gebiete der Republik in hohem Maße auf Subventionen aus dem Republikhaushalt angewiesen. Öffentliche Mittel für den Erhalt und den Ausbau der Infrastruktur, des Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens einschließlich des Wohnungsbaus wurden bei sinkenden Rohstoffpreisen und fallender Arbeitsproduktivität immer begrenzter, zumal die Einkommenssteuern bei durchschnittlich 17 Rbl monatlich lagen (Unionsdurchschnitt 25). Wachsende Verbraucherpreise bei einem - auch künst27
2
°
Die und folgende Daten wurden zusammengestellt nach: Sowjetunion heute, Moskau 1990, H. 5 (Mai), S. 41f. bzw. Sociainoe razvitie, a.a.O., bzw. unveröffentlichten Materialien der AdW Aserbaidschans. Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte pro Jahr in Tausend t
Tee Baumwolle Kartoffeln Getreide
1981-1985
1988
32,7 707 190 1240
34,5 616 165 1417*
* 26,3 Zentner pro Hektar. Vgl. Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1988 g., Moskau 1989, S. 454 ff.
- 23 lieh focierten - Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage führten in den vergangenen Jahren zu einer Verschlechterung des Lebensniveaus der Bevölkerung Modernisierung bedeutete aber auch Bevölkerungswachstum und Migration. Mit einer Wachstumsrate von 23,7 % (1970/79) und 23,1 % (1979/89) lagen die Aseris deutlich über dem Bevölkerungszuwachs der Armenier (16,9 % 1979/89), Georgier (7,6 % - 1979/89) und dem Unionsdurchschnitt, so daß sich die quantitative Stärke der Titularnation im Vergleich zu 1959 fast verdoppelte.29 i m Unterschied zu den europäischen Republiken war innerrepublikanische Migration eine Folge. Hunderttausende strömten in den vergangenen zwei Jahrzehnten in die Städte. Lebten 1979 in Nagorny Karabach noch 56 % der Bevölkerung auf dem Land, waren es 1989 nur noch 48 %. In Baku, wo die Einwohnerzahl offiziell mit 1,7 Mio. angegeben wird, gab es bereits vor dem Zustrom der Flüchtlinge aus Armenien, Karabach und Usbekistan das Problem akuten Wohnraummangels. Über 68.000 Familien waren als Wohnungssuchende registriert, über 200.000 lebten in so genannten "Samostrojkis" (Bidonvilles). Hier wie im gesamten sozialen Bereich müssen die Dunkelziffern weit höher angesetzt werden. Obdachlosigkeit ging einher mit einer Übersättigung des Arbeitsmarktes. Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit besonders unter den Jugendlichen waren die Folge, ca. 40 % der als arbeitslos Registrierten sind in Transkaukasien zwischen 18 und 29 Jahren alt.30 soziale Mißstände und Spannungen konzentrierten sich also besonders im städtischen Milieu, wo ca. 72 % der 475.000 in Aserbaidschan lebenden Armenier beheimatet und anteilmäßig in höheren Einkommensschichten stärker vertreten waren als die Titularnation. Die städtische Entwicklung war jedoch auch hier in vielem nur das Resultat ländlicher Prozesse. Besonders hohe Geburtenraten bei Fortsetzung der oft uneffektiven Bewirtschaftung innerhalb
"*
Demograficeskij ezegodnik SSSR, Moskau 1990, S. 184f.
3( >
L.M. Marseva, Raspredelenie truda v SSSR, in; Sociologiceskie issledovanija, 8, 1990, S. 5.
-
- 24 von Kolchosen brachte unter der arbeitsfähigen Bevölkerung einen Grad von Unterbeschäftigung, der 1979 mit bis zu 54 % angegeben wurde. 31 jjie m it der Perestrojka erweiterten Möglichkeiten privater bzw. "kooperativer" Bewirtschaftung von Acker- und Weideflächen bewirkte auch durch gesetzliche Inkonsequenzen schnelle Differenzierungsprozesse auf dem Lande, unkontrollierte Geldumläufe usw. Andererseits wurde damit die Frage des Anspruchs auf Landbesitz aufgeworfen, die - in Anbetracht der Begrenztheit erschlossenen Bodens oder von Wasserknappheit - in sehr engem Zusammenhang mit ethnischer (tribaler, religiöser) Herkunft beantwortet sein wollte. Die Abhängigkeit der Effektivität eines Familienbetriebes von der Anzahl der Beschäftigten führt wiederum zwangsweise zum Abwandern der meist Jugendlichen in die Städte. Als Verantwortliche für den Absatz landwirtschaftlicher Produkte, als "Studenten" an einer Fachschule oder eben nur als "ständige Gäste" (eventuell mit Pflichten der Haushaltsführung oder Kinderbetreuung bei jungen Mädchen) von städtischen Verwandten suchen sie ihr Glück im urbanen Milieu. Auf diese Weise werden traditionelle Denk- und Verhaltensweisen ins städtische Leben immer wieder transferiert, moderne Lebensansichten und -gewohnheiten mit ihren nicht nur positiven Seiten kaum verarbeitet, eventuell gefährlich kopiert oder auch radikal abgelehnt. Auf jeden Fall bilden diese sozialen Schichten ein breites Potential für mobilisierende, integrierende Ideen und Organisationen wie z.B. "gegen die Armenier", "für ein islamisches, vereintes Aserbaidschan". Aber auch die Perestrojka zeitigte bereits ungewünschte Nebenergebnisse: Losungen der Suche nach effektiven Marktmechanismen - insbesondere der individuell interpretierte "chosrastschot" (eigenverantwortliches Finanzierungen und Wirtschaften) - beseitigten nicht die erstarrten Strukturen des zentralen Wirtschaftsapparats, gaben aber F.S. Maniev: Voprosy social'no-demograficeskogo razvitija sovremennoj azerbajdzanskoj derevni, in: Izvestija Akademii nauk ASSR, Baku, 2, 1989, S. 6f.
- 25 erfinderischen Leuten (z.B. über die "Kooperativen" oder Joint Venture) Spielraum für die Jagd auf das schnelle Geld. Auch hier waren ethnische Kriterien von Bedeutung: "Die Gefahr des Lokalismus liegt auf der Hand" - umschreibt Zaslavsky die Situation. 32 Konkurrenz ließ sich mit der Motivation nationaler Selbständigkeit und Wiedergeburt leichter ausschalten. Auch das von der Perestrojka geforderte Vorgehen gegen Korruption und Spekulation führte im Hintergrund zu einer Umschichtung der Clans der Schattenwirtschaft nach nationalen Prinzipien, was der Atmosphäre zusätzliche Schärfe verlieh, ging es dabei doch um Beträge in Millionenhöhe. Vor dem Hintergrund zurückgebliebener oder radikal geänderter sozialer Verhältnisse wurde die "soziale Konkurrenz im Bereich der Beschäftigung, des sozialen Aufstiegs, der Verteilung materieller Güter auf den Bereich der nationalen Beziehungen projiziert"33# erhöhte Aggressivität, soziale Minderwertigkeitskomplexe, Unduldsamkeit gegenüber fremden Sitten, Gebräuchen und Glaubensüberzeugungen sind ebenso die Folge, wie die oft aus sippenorientiertem Sozialverhalten erwachsende Vetternwirtschaft und Korruption, ein extrem übersteigerter Ethnozentrismus oder religiöser Fanatismus. Diese Tendenz wurde noch befördert, indem landesdurchschnittliche sozialökonomische Rückständigkeit in Aserbaidschan - trotz unbestrittener Erfolge v.a. im Vergleich mit anderen islamischen Ländern - einherging mit einer Reproduktion kultureller Unterentwicklung eines Großteils der muslimischen Bevölkerung. Vor der Oktoberrevolution waren die Muslime trotz ihres höchsten Bevölkerungsanteils in Transkaukasien an den Bildungsstätten deutlich unterrepräsentiert, und ein Entwicklungsabstand hinsichtlich des durchschnittlichen Bildungsniveaus blieb im 32
V. Zaslavsky, Das russische Imperium unter Gorbatschow. Seine ethnische Struktur und ihre Zukunft, Berlin 1991, S. 30.
33
B. Balkarej, Das Drama im Fergana-Tal, in: NZ, 25, 1989, S. 17.
- 26 Vergleich zu anderen Nationalitäten erhalten. So kamen z.B. 1S70 auf 10.000 Einwohner Armeniens 69 Absolventen einer Hochoder Fachschule, 1980 waren es 87 und 1988 75. In Aserbaidschan betrug die Absolventenzahl 1970 62, 1980 66 und acht Jahre später 61 Studenten.34 Damit liegen Aserbaidschaner im gesamten Qualifikationsniveau der Bevölkerung immer noch hinter den Russen, Balten, Georgiern und Armeniern, jedoch vor ihren muslimischen Glaubensbrüdern in Mittelasien. Einer der Ursachen für den vorhandenen Entwicklungsabstand wird von aserbaidschanischen Wissenschaftlern u.a. im achtmaligen Wechsel des aserbaidschanischen Alphabets gesehen. Von inhaltlichen Fragen wird kaum gesprochen. Das Streben nach "Überholen", nach Quantität drängt trotz Perestrojka und Glasnost' nach wie vor die entscheidende Frage nach der Qualität von Bildung und Wissenschaft in den Hintergrund. So wird bei einer Bevölkerung von rund 7 Mio. mit Stolz darauf verwiesen, daß sich 2,271 Mio. in einer Ausbildung befinden und allein die Akademie der Wissenschaften Aserbaidschan über 4.616 wissenschaftliche Mitarbeiter verfügt. 35 jy|ag man über die Qualitäten streiten, steht doch fest, daß der Anteil der Bildungsträger in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen hat und gerade sie es sind, die als Hauptträger einer gemeinsamen, durch Bildung übermittelten Kultur und durch ihre strukturelle Position "hauptsächlich für die ethnische Politisierung verantwortlich sind und am ehesten dazu neigen, den Nationalismus im Konkurrenzkampf mit anderen ethnischen Gruppen um ökonomische und politische Privilegien zu instrumentalisieren" . 36 Ein weiteres Problemfeld rankt sich um die Sprachenpolitik. Als Nationalsprachen sind Armenisch und Aserbaidschanisch in den jeweiligen Verfassungen verankert. Mit "Erfolg" wehrten in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Aserbaidschaner 34
36
Narodnoe chosjaistvo, a.a.O., S. 204. G.M. Gusejnov, Kritika antikommunisticeskich fal'sifikacij razvitija nauki i obrazovanija v Azerbajdzane, in: Izvestije akademii nau, a.a.O., 2, 1989, S. 84, 86f. Zaslavsky, a.a.O., S. 17.
- 27 Fremdsprachigkeit ab: So sprachen zwar 65,2 % der ehemals in Aserbaidschan lebenden Armenier fließend Russisch, aber nur 28,9 % aller Aserbaidschaner beherrschten diesen Grad. Ca. 2 % der in Armenien lebenden Aserbaidschaner sprachen zugleich Armenisch, während 20 % der in Aserbaidschan lebenden Armenier auch die Landessprache beherrschten.37 y o n zwischennationalem, kulturellem Austausch konnte somit kaum die Rede sein. Ähnlich verhält es sich mit gemischten Ehen, der wohl intensivsten Stufe zwischenethnischer Kontakte. Hier wirken bewußt oder unbewußt die islamischen Ehegebote, die zwar einem Muslim gestatten, eine Nichtmuslimin aus den Reihen der "Buchbesitzer" zu freien, aber der Muslimin dies strikt verbietet. So bilden gemischte Ehen eher die Ausnahme als die Regel: 1989 wählten 4,3 % aller Aserbaidschaner eine Braut anderer Nationalität, aber nur 1,8 % aller aserbaidschanischen Bräute heirateten einen Mann anderer Nationalität. In Armenien lagen die entsprechenden Werte bei 2,2 bzw. 0,9 %.38
Ethnisch-kulturelle Gruppen bleiben somit relativ kompakt, klassifizierbar und in Konfliktsituationen als Gesamtheit angreifbar, wie die Boykottierung ganzer "armenischer oder aserbaidschanischer" Dörfer bzw. Stadtviertel zeigte. Doch die Krisensituation wirkte in analoger Weise auch auf der Gegenseite, denn für die 3,3 Mio. (1989) in Armenien lebenden Menschen gestaltete sich die Lage ähnlich. Einerseits war man bemüht, die Republik zur Heimat aller rd. 7 Mio. Armenier - darunter Zehntausende in Moskau und ca. 2 Mio. im Ausland - werden zu lassen, andererseits beklagte man die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und vor allem des Territoriums für weitere Immigration. Armenien ist mit 29.800 qkm die kleinste der 15 Unionsre-
38
Simon, a.a.O., S. 41f.; 1989 gaben 34,4% aller in der Sowjetunion lebenden Aseri Russisch als Zweitsprache an, nur 2,2 % eine andere. Bei den Armeniern waren es 47,1 bzw. 5 %. Vgl. Social'noe razvitie, a.a.O., S. 38. Ebenda, S. 309.
- 28 publiken und aufgrund der gebirgigen Beschaffenheit nur zu einem Drittel bewohnbar. Allein in Jerewan konzentriert sich unter teilweise katastrophalen ökologischen Bedingungen ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Hunderttausende wanderten seit Bestehen der Republik vor allem aus dem Nahen Osten und anderen Unionsrepubliken ein und machten Armenien zur ethnisch homogensten Einheit in der Sowjetunion (93,3 % der Bevölkerung sind Armenier). Die dort lebenden Aserbaidschaner stellten mit rd. 5 % der Bevölkerung (1988) die größte nationale Minderheit, gefolgt von Russen mit ca. 2 % und Kurden (1979: 63.700). Während 99,4 % aller Führungskader 1989 der Titularnation entstammten39 (in Aserbaidschan 93,8 % ) , waren die Aserbaidschaner in Armenien traditionell in der Landwirtschaft tätig. Als Bauern und Händler verfügten sie mit ihren Positionen auf dem "Grünen Basar" über Einnahmequellen, die soziale Mißgunst stimulierten. Steigende Lebenshaltungskosten, Nahrungsmittelverknappung, Spekulation und Korruption beförderten sozialen Unmut, der sich auf die "Fremden-Spekulanten" entlud. In dieser Situation, wo die materielle Krise sich täglich vertiefte, Unionsstrukturen zerbrachen, Dissidentengruppen zu öffentlich anerkannten Organisationen wurden und die Zentralmacht an Kraft und Ansehen verlor, fiel der Ruf nach einem starken und möglichst großen Armenien auf fruchtbaren Boden - besonders dort, wo Armenier in ihrem Nationalstolz verletzt, Autonomieerwartungen enttäuscht wurden. Letzteres wird von aserbaidschanischer Seite immer wieder für Karabach bestritten. Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften Bakus versuchen sogar, die besondere Förderung der Region im Vergleich zu republikanischen Standards Armeniens und Aserbaidschans zu beweisen.4 0 Ernste Mängel bei der Erteilung muttersprachlichen Unterrichts, bei der Pflege der armenischen Nationalkultur, fehlender Fernsehempfang aus Jerewan, man-
40
Rybakavskij, Tarasova, a.a.O., S. 40. Istorija Azerbajzana po dokumentam i publikacijam, a.a.O., S. 345, 354.
- 29 gelhafte Verkehrswege und wirtschaftliche Anbindung an Baku sowie ethnisch motivierte Personalentscheidungen wurden von armenischer Seite immer wieder beklagt. Übersiedlungen nach Armenien in der Hoffnung auf günstigere Ausbildungs- und Berufschancen führten bei andauernd höheren Geburtenraten der aserbaidschanischen Bevölkerung und einer deutlichen Verringerung des armenischen Bevölkerungsanteils in Berg-Karabach von 94,4 % (1923) auf nur noch 75,9 % (1979). Die Angst der Armenier vor "Übersiedlung durch die muslimischen Aseri" nahm entsprechend zu. So bildete die Forderung nach der "Wiedervereinigung armenischen Stammlandes" einen wesentlichen Kristallisationspunkt der armenischen Dissidentenbewegung. In Fortsetzung von Traditionen der 19 66 gegründeten "Nationalen Vereinigungspartei" unter P. Ajrikjan forderte auch das Jerewaner Helsinki-Komitee seit 197 7 die "Wiederherstellung der nationalen Staatlichkeit auf dem gesamten Territorium des historischen Armenien" und dessen nationale Wiedergeburt, hieran konnte 1988 das "Karabach-Komitee" anknüpfen. Die gleiche Zielstellung formulierte die Daschnaken-Partei 1985 auf ihrem 23. Parteitag, wobei Karabach als Ziel Nr. 1 deklariert wurde. Obwohl auch in Aserbaidschan familiäre Negativerfahrungen mit Armeniern stets wachblieben, wurde im Unterschied zu Armenien diese Problematik weder im Samisdat noch in der Öffentlichkeit diskutiert. Lediglich in Parteidokumenten wurde 1986 bereits auf Flüchtlinge aus Armenien verwiesen. Der Faktor "Karabach" wurde erst im Zusammenhang mit den Ereignissen in Stepanakert (1987/88) und Sumgait (1988) zu einem Katalysator nationaler und demokratischer Bürgerbewegungen in Aserbaidschan. So ist die Frage, wer den ersten Stein warf, bis heute heftig umstritten. Aber nach den Ereignissen von Sumgait zog das hochsensibilisierte Geschichtsbewußtsein der Armenier mit den schrecklichen Erfahrungen des durch Türken begangenen Völkermords von 1915 zwangsläufig eine Parallele zwischen den Ereignissen im Osmanischen Reich und Sumgait 1988, während die Aserbaidschaner
-30an die Massaker der Armenier 1919 und an 1948 erinnerten, als innerhalb von 48 Stunden rd. 100.000 Aserbaidschaner die Armenische Republik verlassen mußten.41 Aufrufe zur nationalen Solidarität und Selbstverteidigung fielen auf beiden Seiten auf fruchtbaren Boden, zumal die Flüchtlingsströme in beiden Richtungen Familien entwurzelten, soziale Mißstände verschärften und die Massen zu einer Zeit demoralisierten und radikalisierten, als die Fehler der Vergangenheit und die ausbleibenden Erfolge der Umgestaltung als Scheitern des Sowjetsystems und der ihm zugrundeliegenden Ideologie empfunden wurde. In das durch Desillusionierung hervorgerufene Vakuum strömten unter den Bedingungen der Unterentwicklung und des Fehlens bürgerlich-demokratischer Traditionen scheinbar sichere, vergangenheitsbezogene Wertvorstellungen und Gesellschaftskonzepte subnationaler, nationaler und supranationaler Herkunft, wodurch sich der Prozeß zumindest in Aserbaidschan von baltischen Entwicklungen unterscheidet. Insbesondere die nach wie vor lebendigen, engen Clanbindungen einschließlich ihres Gefolgschaftsprinzips, welche sich auch im städtischen Milieu reproduzieren, und ein vorwiegend als Lebensform und kulturelles Erbe praktizierter und dann erst als Glaubenslehre verstandener Islam, auf der anderen Seite der mit dem Christentum und der armenischen Kirche eng verbundene Nationalstolz der Armenier förderten Massenhysterie auf beiden Seiten und aggressiven Nationalismus, der sich sowohl gegen nationale Minderheiten in der eigenen Republik als auch gegen andere Titularnationen innerhalb der Union richtete. So trat neben Demonstrationen, Streiks und Blockaden immer wieder der Einsatz bewaffneter Gewalt nicht nur gegenüber dem scheinbaren nationalen Gegner, sondern auch gegenüber den übernationalen Sicherheitskräften. Ein sachlicher Dialog der Konfliktparteien, der Kompromisse nicht als ehrenverletzende Kapi41
I. Jusubov, a.a.O., S. 11.
- 31 tulation auffaßt, gelang nicht, eher verhärteten sich durch andauernde Gewalt die Positionen, da beide Regierungen die Haltung zu Karabach als Mittel der Machtlegitimation und -demonstration nutzten. Das mehrfache Scheitern einer Dialogpolitik verdeutlichte die Schwäche sowohl der kommunistischen als auch der demokratischen Bürgerbewegungen in den beiden Republiken. Gelang es in Armenien der Nationalbewegung mit Hilfe der Karabach-Frage die Macht in der Republik zu übernehmen, scheiterte dieser Ansatz in Aserbaidschan. Es stellt sich also die Frage, warum dort die demokratische Nationalbewegung in der Opposition blieb.
3. Auf dem Weg zu sich selbst: Aserbaidschanische Identitätssuche Wenn man die aserbaidschanischen Entwicklungen der letzten Jahre auf ihre Ergebnisse untersucht, muß man an erster Stelle die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte, die Suche nach der eigenen Identität und spezifischen Gesellschaftsmodellen angeführt werden. Ein Prozeß, der weit über den Karabach-Konflikt hinausgeht und nicht abgeschlossen ist. Paradoxerweise bewirkte die Einforderung armenischer Rechte in Karabach nicht die Rückdrängung aserbaidschanischer Vormundschaft, sondern im Gegenteil das Erwachen national(istisch)er Emotionen und Bewegungen unter allen Volksschichten Aserbaidschans, was letztlich ein neues Selbstbewußtsein hervorbrachte, das die völlige staatliche Unabhängigkeit und Reintegration Aserbaidschans in die islamische Welt fordert. Diese Wandlungen vollzogen sich neben den konkreten politischen Handlungen auf der Straße vor allem über die Auseinandersetzungen der aserbaidschanischen Intelligenz, die die Fragen nach der ethnischen, religiösen und politischen Identität ins Massenbewußtsein ihres Volkes zu bringen
32 verstand.4^ Nachfolgend können nur einige Schwerpunkte dieser Identitätssuche in der Geschichte skizziert werden: Hier nimmt die Frage nach den historischen Wurzeln, nach der Ethnogenese des aserbaidschanischen Volkes, einen breiten Raum in der wissenschaftlichen und publizistischen Diskussion ein. Neben den Darstellungen in den "Iswestija akademii nauk" Bakus und Publikationen der Volksfront fand die zusammenfassende Monographie von A.S. Sumbatzade "Die Aserbaidschaner - Ethnogenese und Nationsbildung" größte Aufmerksamkeit. Auf der Suche nach staatlichen und kulturellen Traditionslinien (für die es im Unterschied zu Armenien und Georgien keine neuzeitlichen gibt) steht vor allem das kaukasische Albanien43 ±m Mittelpunkt der Diskussion, dessen Erbe heute von Armeniern und Aserbaidschanern gleichermaßen beansprucht wird. Während armenische Wissenschaftler von einem "Aufgehen des albanischen Ethnos im armenischen im 5./6. Jahrhundert" sprechen, begründet F. Mamedova die Fortexistenz des albanischen Ethnos mit eigenständiger Sprache, Kultur und religiösen Institutionen trotz seines Rückzuges vor der Islamisierung und Turkifizierung in die "Schwarzen Berge" (Karabach). Die Übernahme der armenischen Sprache seit dem 12. Jahrhundert sei lediglich ein Anfang des Verlustes von albanischem Ethnobewußtsein gewesen und erst im 18./19. Jahrhundert in Karabach mit armenischem vermischt worden, während es in anderen Gebieten in das aserbaidschanische Volkstum eingeflossen sei.44 Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Zeit der russischen Kolonialherrschaft mit ihrer Siedlungspolitik, die eine Übersied42
Dieser Prozeß wurde zweifellos durch eine Vielzahl von Faktoren vorbereitet: neben der Verschlechterung der materiellen Lage und ideologischer Desillusionierung muß hier der KSZE-Prozeß, der scheinbar vor den Grenzen der Sowjetunion haltmachte ebenso genannt werden, wie die "Islamische Revolution" in Iran und der Afghanistan-Krieg, welche die alte Frage nach der geopgrahischen (Europa oder Asien), ethnischen und vor allem religiösen Zugehörigkeit neu aufwarfen, und die Aserbaidschaner in ein Spannungsfeld zwischen türkischer Herkunft, persisch-islamischer Vergangenheit und (außen-)politischer Unmündigkeit im Vielvölkerstaat brachte.
43
Vgl. zur Geschichte: K.V. Trever, Ocerki po istorii i kulture Kavkazkoj Albanii, Moskau, Leningrad 1959. Vgl.: Sumbatzade, a.a.O., S. 55-76; M. Mamedova, K voprosu ob albanskom (kvkazkom) 'etnose, in: Izvestija akademii nai&a.a.O., 3, 1989, S. 108-117.
- 33 lung traditioneller muslimischer Gebiete mit Armeniern und Kolonisten förderte, und durch die Grenzziehung von 1828 die Aseris in "persische" und "russische" teilte. Hier wurden auch analoge Praktiken der Bolschewik! unter Stalin (und Mikojan) angeklagt: die Strukturierung Transkaukasiens mit dem Erhalt umstrittener Grenzen, die politische Praxis, welche die Aseris von ihren Nachbarn isolierte und zu einer "Minderheit" abstempelte, die Vernichtung der bürgerlichen Bildungselite in den dreißiger Jahren^S^ das Verhalten der sowjetischen Führung bei den Ereignissen in Südaserbaidschan 1946, die Aussiedlung der Aseris 1948/ 49 aus Armenien.46 Einen dritten und entscheidenden Komplex bildet die Aufarbeitung der Traditionen der Aufklärung und nationalen Bewegung.47 Hier wird an die Diskussionen der Jahrhundertwende angeknüpft, die sich mit Pansiawismus, Panislamismus und Panturkismus auseinandersetzten.48 jetzt wie damals scheiden sich die politischen Kräfte.49 Eine Mehrheit spricht sich zunächst für die volle Wiederanerkennung des orientalischen (islamischen) Volkscharakters aus, wobei ein fundamentalistischer oder reformierter Islam, eine kulturhistorische Anbindung an die Türkei, Iran oder die anderen islamischen Republiken in der Union die einzelnen Gruppierungen unterscheiden. Welche Rolle spielt dabei der Islam? Er drang mit den arabischen Feldzügen 639-693 nach Aserbaidschan vor. Die arabischen Eroberer trafen dabei auf iranische Ethnien im Süden und ein Völkergemisch aus IraDi© genauen Wirkungen werden bisher nur an Einzelschicksalen deutlich. Die Zahl aller Gulag-Assri wurde 1939 noch nicht einzeln ausgewiesen, mit "Iranern" fielen sie unter "Sonstige": 76,055,1940 waren es 10.800,1945 4.338; vgl, V.N. Zemskov, Guiag (istoriko-sociologiceskij aspekt), in: Soclssl.; a.a.O., 6,1991, S. 17, 26. Gemeint ist die Position der Sowjetregierung bei den Ereignissen in Iranisch-Aserbaidschan und die Umsiedlungen, vgl.!. Jusubov, a.a.O., S. 10f.
48
Vgl. E.M. Auch, Zur Entstehung der aserbaidschanischen Aufklärungsbewegung im 19. Jahrhundert, in: Entwicklung durch Reform; Asien und Afrika im 19. Jahrhundert, Asien, Afrika, Lateinamerika (Sonderheft), 3, Berlin 1991, S. 75ff. Vgl. S.A. Zenkovsky, Pan-Turkism and Islam in Russia, Cambridge, Massachusetts 1960, S. 92 ff.; T. Swietochowski, Russian Azerbaijan, 1905-1920; The Shaping of National Identity in a muslim community, London, New York 1985. Unter den unzähligen Bewegungen sind in Erscheinung getreten neben der Volksfront: Sozialdemokratische Partei Aserbaidschans, ca. 200-300 Mitglieder, Leüa Junusova prominenteste Vertreterin; "Gardaslyk", Führer A. Achundov, Losung: Frieden-Einheit-Arbeit; die religiösen Organisationen: "Liga der freien Gläubigen" Führer Ali Akram, Einflüsse der Volksfront; "Sühne" - für moralische Läuterung mittels Islam, iranische und Regierungseinflüsse.
- 34 nern und Ibero-Kaukasiern im Norden, unter denen sowohl das Judentum und das Christentum in seinen Armeno-Gregorianischen Formen als auch Zoroastrismus und Manichäismus ihre Anhänger hatten. Nachdem die arabischen Einwanderer mehr oder weniger assimiliert wurden,, kam der entscheidende Einschnitt im 11. Jahrhundert: Unter den Seldschuken erfolgte nach der Eroberung Armeniens die Turkifizierung der ansäßigen Bevölkerung durch das Eindringen türkischer Stämme aus Zentralasien. Im 13./14. Jahrhundert wurde Aserbaidschan mit dem Eindringen der Mongolen zum Zentrum der II-Chane. Als Handels- und Kulturmetropole wurde Täbris zur Hauptstadt der Aseri (und ist es für viele bis heute geblieben). In Ardebil übernahm eine Scheichfamilie die Macht, deren Gründer Safi ad-Din (1252-1334) einen der Mystik verpflichteten islamischen Derwischorden ins Leben rief. Durch die enge Anlehnung seiner Lehren an Stammesideale der Gleichheit sollte diese spezifische Form islamischen Glaubens von bleibender Wirkung auf die Muslime in Nordaserbaidschan sein. Die Nachfolger Safis, die "Safawiden", führten ihre Herkunft auf den siebten Imam der "Zwölfer"-Schiiten zurück. Ihr Orden war militärisch organisiert, und ihre Führer beanspruchten als Murschid (Leiter) oder Pir (Ältester) absoluten Gehorsam. Nach der Eroberung durch Timur und seine Nachkommen begründeten die "Schwarzen Hammel" einen Turkmenenstaat, der mittelasiatische und iranisch-aserbaidschanische Traditionen miteinander verband, jedoch nur von kurzer Dauer war. Baku wurde neue Residenz der Schirwanschahs, während von Ardebil aus der militärisch disziplinierte Derwischorden unter Scheich Haidar gegen Schirwan zog. Doch erst sein Sohn Ismail sollte Baku erobern. 1501 ergab sich Täbris und wurde zur neuen Residenz des Schahinschah, des "Königs der Könige", unter dessen Herrschaft die eroberten Gebiete zentralisiert wurden und die schiitische Form des Islam als "Staatsreligion" etabliert wurde. Mit osmanischen und tatarischen Zwischenspielen blieb Aserbaidschan bis zum Ende des Safawidenreiches (1722) und unter Nadir Schah (1734-1747) Teil des Persischen Reiches. Auch danach blieb der schiitische Islam
- 35 dominierend, die ethnische Vielfalt, die geographischen und politischen Verhältnisse konservierten jedoch ein äußerst heterogenes Erscheinungsbild: Offiziell wurde in der Sowjetunion die Religionszugehörigkeit seit 1918 nicht mehr erfaßt, und so liegen westlichen Schätzungen die ethnische Herkunft und vereinzelt veröffentlichte, religionssoziologische Untersuchungen zugrunde. 50 Bis 1934 trugen die aserbaidschanischen Staatsbürger in ihren Dokumenten in der Rubrik "Nationalität" die Bezeichnung "tjurok", erst danach wurde der Begriff "Aserbaidschaner" eingeführt. Nach der letzten Volkszählung 1989 lebten 5,482 Mio. von insgesamt 6,77 Mio. Aserbaidschaner in der Republik.51 Hinzu kamen 205.000 Daghestaner (Lezginer, Awaren u.a.), 31.000 Tataren, ca. 10.000 Kurden, 15.000 Osseten, die überwiegend dem islamischen Glauben angehören. Das Sunnitentum hanafitischer Rechtssprechung ist vor allem unter den in Aserbaidschan siedelnden Abchasen, Kurden, Tataren und Mes'cheten vertreten. Schätzungen gehen davon aus, daß ca. 25 % der Bevölkerung sunnitisch sind. Regional konzentrieren sich die Sunniten in den nördlichen Regionen um Nucha, Sakataly, Schemacha und Kuba. Das Schiitentum ist unter ca. 75 % der Bevölkerung verbreitet. Sie Siebener- und Zwölfer-Schiiten leben vor allem in Mittel- und Südaserbaidschan, das religiöse Leben der Städte Baku, Lenkoran, Gandsha, Kasak wird durch sie geprägt. Vorhanden, aber kaum quantitativ faßbar, sind die Anhänger von Untergruppierungen wie die Bahais (Baku, Gandsha, Balachny), Jeziden (v.a. unter Kurden) oder Ali-Ilahis (Gandsha). Das religiöse Leben wird in starkem Maße von inoffiziellen Glaubenshaltungen und Kulthandlungen bestimmt. Koranische Ver- und Gebote (Almosengabe, Ernährungsgewohnheiten, Feiertage) sind in oft abgewandelter Form als "nationale Traditionen" in die Lebensweise der muslimischen Bevölkerung Aserbaidschans eingegangen. Mystische und BruVgl. A. Bennigsen/S. Enders-Wimbush, Muslims of the Soviet Empire. A giude, London 1985, S. 127 ff. Socialnoe razvitie, a.a.O., S. 38-41.
- 36 derschaftstraditionen (Naqshbandiya, Qadiriya) werden in der Literatur immer wieder als besonderes Merkmal des kaukasischen Islam genanntesf sind jedoch nur schwer belegbar. Selbst interne Forschungen des Lehrstuhls für Atheismus, der eng mit dem Rat für religiöse Angelegenheiten Aserbaidschans zusammenarbeitet, brachten hier kaum Ergebnisse. Das schiitische Zugeständnis, seinen Glauben in Gefahr zu verbergen (taqiya), erschwert hier sicher eine Analyse, sollte jedoch den europäischen Betrachter nicht, verführen, Erfahrungen und Beobachtungen aus dem 19. Jahrhundert - vor allem in Zusammenhang mit Muridismus und Schamil gemachte - in die heutige Zeit zu übertragen. Neben dem "offiziellen Islam", der vor allem über die ca. 1.000 Moscheen (ca. 120 alein seit 1988 wieder zugelassen) und die dortigen islamischen Würdenträger verkörpert wird, spielt die zweifellos größere Rolle der sogenannte "Volksislam". Auf der Basis einer höchst oberflächlichen Kenntnis des Korans, der eigentlichen islamischen Glaubenslehre insgesamt, wird er in starkem Maße von "Laienmullahs" oder in Frauenkreisen auch von "Kennerinnen der Schrift" mitgeprägt.53 ^n ^ e Stelle von Moscheen und ihrer offiziellen Vertreter trat vielfach die Verehrung Heiliger Plätze (mehr als 300 Grab- und Wunderstätten in Aserbaidschan) und Personen, wie z.B. der "Nachfahren des Propheten Muhammad", der Sayids. Ein stark ausgeprägter Fetischglaube markiert die Nähe zu animistischen Traditionen. Die nichtmuslimische Minderheit findet sich unter den Armeniern, Russen, Georgiern, Udinen (Christen) und unter den Tats ("Dagh Chufut" - "BergJuden"). Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Aserbaidschans ist sowohl absolut als auch prozentual seit 1959 rückläufig.
52
Vgl. H. Bräker, Die sowjetische Politik gegenüber dem Islam, in: Die Muslime in der Sowjetunion und Jugoslawien, Köln 1989, S. 134.
53
Vgl. A. Fatulla-ogly, slitskij kult segodnja, in: Nauka i reügija, 9,1985, S. 25-27; L.D. Movsumova, Osobennosti zenskoj reügioznosti, in: Izvestija akademii nauk, a.a.O., S. 99 ff.
- 37 Insgesamt muß zweifellos von einer Zunahme des Einflusses des Islam in Aserbaidschan gesprochen werden. Die Gründe liegen in der Suche nach dem eigentlichen Nationalcharakter, der nach aserbaidschanischen Auffassungen durch 70 Jahre UdSSR zwangsweise verändert wurde. Aber diese Hinwendung zum Islam ist vor allem Ergebnis des oben beschriebenen Prozesses der Desillusionierung. Zwangsläufig verbindet gegenwärtig jede politische Kraft in Aserbaidschan den Gedanken einer "nationalen (Wieder-)ge~ burt" mit der Aufarbeitung der "islamischen" Geschichte und der Vermittlung religiöser Bildung, die von Arabischkursen bis zu populären Broschüren über die richtige Ausübung des Gebets reicht. Die historische Entwicklung Aserbaidschans und die jahrzehntelange Abriegelung von der Weltöffentlichkeit, ließen weder bürgerlich-demokratische Gedanken und Erfahrungen der eigenen noch der europäischen oder amerikanischen Entwicklung Fuß fassen und so bewegen sich ethnische, religiöse und politische Identitätssuche54 zwischen den Attributen: muslimisch - türkisch - kaukasisch. Die islamisch-schiitische Identität vermittelt die Nähe zur Geschichte und Gegenwart des Iran, insbesondere zu den dort lebenden Aseri, aber darüber hinaus zur 'umma, der islamischen Weltgemeinschaft, überhaupt. Die panislamische Idee wird vor allem von der offiziellen Geistlichkeit und konservativen Kräften vertreten, hier scheinen auch innersowjetisch-islamische Bündnisse angesiedelt. Andererseits vermitteln Abstammung vom Westzweig des Türkentums, sprachliche Einheit, zahlreiche verwandtschaftliche und politische Bindungen ein besonderes Verhältnis zur Türkei und eine gewisse Distanz zum Osttürkentum Zentralasiens, wobei die pantürkische Idee traditionell über die Sunniten Nordaserbaidschans und Daghestans Verbreitung findet. Die kaukasische Identität schließt nicht zuletzt Distanz zu den anderen Muslimen Vgl. auch Ca. Lemerdier- Quelquejay, Islam and identity in Azerbaijan, in: Central Asian Survey, 2,1984, S. 30-55.
- 38 ein durch Gemeinsamkeiten ökonomischer und politischer Art mit den christlichen Nachbarn Georgien und Armenien. Die Konsequenzen sind verstärkte Kontakte zur Türkei, über die vor allem der wirtschaftliche Zugang zu Mittel- und Südeuropa gelingen soll, die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Iran vor allem auf religiösem und kulturellem Gebiet, und die Intensivierung der Kontakte mit den mittelasiatischen Republiken, um die spezifischen "sowjetisch-orientalischen" Probleme zu lösen. Kaukasische Bündnisse sind mit der historischen Altlast gegenwärtig nur mit Georgien möglich, aber auch hier problembeladen. Diese Identitätsfindung im geistig kulturellen und politischen Leben Aserbaidschans äußerte sich vor 1988 in verschiedenen Versuchen der Vergangenheitsbewältigung, wie sie bereits den Schriftstellerkongreß 1987 in Baku bestimmten.55 j m Dezember 1987 durchbrach ein Artikel der Zeitschrift "Elm vä Häyat" das Tabu, die zwei Jahre der Unabhängigkeit (1918-1920) in das Bewußtsein der Aserbaidschaner zurückzurufen und ihren geistigen Vertretern einen Platz zunächst in der Literaturgeschichte zurückzugeben. In langwierigen Diskussionen und Verfahren folgte der Aufarbeitung Stalinistischer Verbrechen die Rehabilitierung von Vertretern der als "bürgerlich" disqualifizierten Intelligenz. Doch grundsätzliche Umdenkungsprozesse im Massenbewußtsein fanden zu diesem Zeitpunkt noch nicht statt. Seitens der Führungskräfte in Partei und Regierung und Teilen der Intelligenz der fünfziger und sechziger Jahre wurde indessen - in Reaktion auf interne Diskussionen und politische Opposition in anderen Republiken Systemtreue offensiver zur Schau getragen. Diese "internen Diskussionen" betrafen bis zum Ausbruch des Karabach-Problems Minderheiten. Wissenschaftler und Studenten, Künstler, Journalisten und Schriftsteller vor allem der jüngeren Generation waren ihre Träger. Erst mit dem Ausbruch des Karabach-Problems wurde der "Volksnerv" getroffen, erfolgte eine Politisierung des NaVgl. A.A. Djavadi, Glasnost' and Soviet Azerbaijani Literature, in: Central Asian Survey, 1,1990, S. 97-103.
- 39 tionalbewußtseins breitester Massen, auf welche weder die kommunistische Führung noch irgendeine andere gesellschaftliche Kraft - geschweige politische Organisation - vorbereitet war. Zwangsläufig mußte sich die Profilierung der oppositionellen Kräfte nicht nur zeitgleich mit den aktuellen Ereignissen um Karabach vollziehen, sondern sie standen in direkter Abhängigkeit von den teilweise radikalen Stimmungen und Tagesnöten der Volksmassen. Daraus resultierten letztlich nicht nur Masseneinfluß, sondern auch die Schwäche der Volks frontbewegung auf dem bisherigen Weg des Unabhängigkeitskampfes. Besonders schmerzlich mußte sich hier das Fehlen demokratischer Traditionen und Erfahrungen auswirken; Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich durch den Aufstieg Bakus zur Erdölmetropole auch Ansätze einer einhemischen Bourgeoisie. In Anknüpfung an die "tatarische" Aufklärungsbewegung, die sich kritisch mit der Rolle islamischer Sitten auseinandersetzte, die aserbaidschanische Sprache propagierte (M.F. Achundow) und sich für Reformen im Bildungswesen für Muslime einsetzte, förderte diese junge soziale Schicht über die Presse (Äkinchi, Sharq-i Rus, Kaspij, Täräqqi u.a.), Literatur und Kunst "nationales" Gedankengut. Zahlreiche Aseris nutzten Ausbildungsmöglichkeiten nicht nur in Rußland, sondern auch in der Türkei und Mitteleuropa. Geistige Einflüsse unterschiedlichster Art beeinflußten den Emanzipationsprozeß der Aseris seit Beginn unseres Jahrhunderts, wobei sich Panislamismus und Panturkismus stärker als die sozialistische Ideologie im politischen Leben, bei der Parteienbildung, in der Duma, in den Disputen widerspiegelten. Bis 1917 blieben der Islam und die türkische Sprache wichtigstes Identifikationsmerkmal, wobei der Gedanke der Volksgruppenzugehörigkeit mit den Aseris im Iran höchst aktuell blieb, bis über Istanbul die Ideen der Jungtürken ihren Einfluß unter der aserbaidschanischen Intelligenz verstärkten. Befreiung der Muslime von kolonialem Joch und Vereinigung der Türken in diesem Kampf bildeten die Hauptformel politischer Plattformen auf der einen Seite, die Vereinigung aller Werktätigen zu diesem Ziel (Hümmet) die
- 40 der anderen Seite. Die 1912 begründete Mussawat-Partei favorisierte die islamische Wiedergeburt im Sinne wirtschaftlicher und kommerzieller Entwicklung und die Wiederherstellung der Unabhängigkeit muslimischer Staaten und legitimierte jegliche Kampfformen und Bündnisse für dieses Ziel. Mit der Februarrevolution 1917 brachen die Auseinandersetzungen um die Zukunft der transkaukasischen Muslime mit voller Kraft aus; Sollten sie ein eigenständiges Territorium beanspruchen oder genügte die kulturelle Autonomie? Sollte man den Anschluß an die Glaubensbrüder benachbarter Staaten anstreben oder für eine demokratische, föderative Republik innerhalb Rußlands? - Auf einen Konsens konnte man sich nicht einigen, aber konkrete Handlungen waren gefragt. Auf ihrem 1. Parteitag im Oktober 1917 legte die Mussawat-Partei ihr neues Programm vor: demokratische Grundrechte wie Rede-, Versammlungs-, Presse-, Gewissensfreiheit sollten erstmalig verfassungsrechtlich garantiert werden, alle Bürger sollten unabhängig von Religion, Nationalität, Geschlecht und politischer Überzeugung vor dem Gesetz gleich sein. Die Einführung des 8-Stunden-Arbeitstages und kostenlose Bildung für alle waren soziale Forderungen, die Erringung der Autonomie Aserbaidschans erklärtes Ziel.56 Nach den blutigen Märzereignissen 1918 in Baku, Gandsha, Schemacha, Kuba und zahlreichen Dörfern, die u.a. Zehntausende Aseris das Leben kosteten, schien die reale Autonomie Aserbaidschans in die Ferne gerückt, das kurze Zwischenspiel einer "Föderativen Transkaukasischen Republik" (22. April - 26. Mai 1918) beendete nicht die politischen Konflikte, die auf national-religiöser Ebene ausgetragen wurden. Am 27. Mai 1918 beschlossen die ehemaligen aserbaidschanischen Mitglieder der Transkaukasischen Duma die Bildung einer Provisorischen Nationalregierung mit M.E. Rasulzade an der Spitze. Einen Tag später wurde mit Stimmenmehrheit (24:2 Enthaltungen) 00
Vgl. A. Balaev, Azerbajdzanskoe nacional'no-demokraticeskoe dvizenie 1917-1920, Baku 1990 bzw. N. Näsibzadä, Azärbayjan demokratik respublikasi, Baky 1990.
- 41 Aserbaidschan als Demokratische Republik im Südosten Transkaukasiens ausgerufen. Im Jahr 1920 lebten hier 2,861 Mio. Menschen, von denen 68,2 % Muslime, 21,4 % Armenier und 7,5 % Russen waren. Vom beanspruchten Gesamtterritorium (113.895 qkm) waren 16.598 qkm umstritten. Doch für die nationale Selbstbesinnung und eine landesweite Durchsetzung bürgerlicher Reformen blieb während 23 Monaten Mussawat-Herrschaft keine Zeit. Die junge Demokratie zerfleischte sich in der schwierigen politischen Situation der Bürger- und Interventionskriege, bis am 27./ 29. April 1920 mit Unterstützung der 11. Roten Armee die Macht an die am 11./12. Februar 1920 in Baku gegründete "unabhängige" Kommunistische Partei Aserbaidschans ultimativ abgegeben werden mußte. Für die Entwicklung des Staats- und Nationalbewußtseins waren damit von Anfang an widersprüchliche Tendenzen verbunden: traditionelle, vorkapitalistische Sozial- und Wertstrukturen wurden durch klassen- und parteibezogene überlagert, wobei Nationalkommunismus und Sowjetpatriotismus im Sinne von Russifizierung und "nationaler Assimilation" einander je nach den Bedürfnissen der Zentralmacht ablösten.57 rjas "Nationale" in Literatur, Kunst und Kultur entwickelte sich erstmalig gefördert durch staatliche Institutionen, aber auf subnationaler und supranationaler Basis. Die Förderung nationaler Eliten war nicht nur positive Folge dieses Weges, sondern von Anfang an auch eine Notwendigkeit zur Sicherung zentralen Machteinflusses. Eine zwiespältige Rolle der Intelligenzija auf dem langen Weg zur Unabhängigkeit wurde bis in die Gegenwart als "Kinderkrankheit" übertragen, während die Volksmassen stärker dazu neigten, politische Forderungen aus aktuellen Tagesfragen abzuleiten bzw. durch den Zwangsapparat abgehalten wurden, ihre Meinungen zu entwickeln und zu artikulieren. Das Karabach-Problem berührte nun alle Seiten: Verwandte und Glaubensbrüder waren indirekt 57
Vgl. M. Saroyan, The "Karabakh Syndrome" and Azerbaijani Pilitics, in: Problems of Communism, September-Oktober 1990, S. 16.
- 42 betroffen, wirtschaftliche, soziale und. kulturelle Interessen wurden angegriffen. Die Idee, die territoriale Gesamtheit der Republik mit Karabach und Nachitschewan zu verteidigen, ging seit 1988 immer stärker im Ziel auf, gleichzeitig die reale Souveränität der Republik mit allen wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Konsequenzen zu erringen. Die dazu notwendige Massenorganisation sollte in der "Volksfront" entstehen:
4. Die "Volksfront Aserbaidschans" Im Sommer 1988 ging aus dem "Klub der Wissenschaftler der Stadt Baku" eine "Initiativgruppe zur Schaffung einer Volksfront Aserbaidschans" nach baltischem Muster hervor. Zunächst sollte die Souveränität der Republik innerhalb der Union errungen werden. Entwürfe eines Programms und Statuts der Volksfront Aserbaidschans (NFA) entstanden, Diskussionen mit anderen informellen Gruppen über wirtschaftliche Rechnungsführung und "weiße Flekken" der Geschichte wurden organisiert. Während der Tage des "ununterbrochenen Meetings" in Baku vom 17. November bis 5. Dezember 1988 entstanden über 200 Unterstützungskomitees in Betrieben und Institutionen der Republik. "Aber es zeigte sich, daß die Idee der Schaffung einer Volksfront noch nicht endgültig vom Großteil der Bevölkerung aufgenommen wurde. Die Massenbewegung in Aserbaidschan trug noch spontanen Charakter und auf Emotionen gründend - beschränkte sie sich auf Fragen, die mit dem 'Karabach-Problem' verbunden waren". 58 Nach der gewaltsamen Säuberung des "Platzes der Republik" durch Spezialeinheiten folgten Massenrepressionen gegen Aktivisten der Opposition, kam es Anfang März 1989 zu einer politischen Übereinkunft zwischen 58
A. Baiaev, Naradnyj front Azerbajdzana, in: Strana i mir, 4,1990, S. 105, die folgenden Ausführungen basieren auf diesen unveröffentlichten Materialien der NFA, die mir von Mitgliedern der Führung zur Verfügung gestellt wurden und Zeitungen der verschiedenen Rayongruppen der NFA.
- 43 der Initiativgruppe der Volksfront und einem Komitee der Bewegung "Varlyk". Geschaffen wurde ein Provisorisches Initiativzentrum der NFA mit einem Koordinationsrat aus jeweils fünf Mitgliedern der beiden Gruppierungen, das es verstand, den Souveränitätsgedanken auch in den Rayons der Republik zu popularisieren. Am 13. März 1989 wandte sich die Organisation an den Obersten Sowjet der Republik und die Führung der Kommunistischen Partei mit der Bitte um Registrierung. Eine breite Öffentlichkeit unterstützte den Antrag. Nach Ablauf der vierwöchigen Frist, am 14. April empfing der Generalsekretär der Aserbaidschanischen KP, A. Wesirow, eine Abordnung des Initiativzentrums, um ihr zu verdeutlichen, daß die Ziele der KP der Republik und die der Volksfront identisch seien, und deshalb keine Notwendigkeit bestünde, eine solche Organisation zu gründen. Es folgte die Verstärkung der Aufklärungsarbeit des Initiativzentrums, im Samisdat erschien das "Bulletin der NFA zur Unterstützung der Perestrojka" in russischer und aserbaidschanischer Sprache. Die Kampagne der republikanischen Führung nach dem April-Plenum des ZK der KPdSU 1989 gegen die Volksfrontbewegung verkehrte sich ins Gegenteil - die Popularität stieg. Gleichzeitig erweckte sie zunehmend internationale Aufmerksamkeit durch die Intensivierung der Kontakte zu anderen oppositionellen Gruppen im Baltikum und Mittelasien (Birlik/Einheit). Seit Etablierung der Sonderverwaltung unter Wolskij in Karabach (Januar 1989) wurde der aserbaidschanische Einfluß im Autonomen Gebiet zurückgedrängt, das Sonderprogramm der Regierung für die Region als "Moskauer Privilegierung der Armenier" abgelehnt. Die Unfähigkeit der zentralen und republikanischen Führung das Problem zu lösen, wurde immer offensichtlicher. In dieser Situation fand am 16. Juli 1989 in Baku die halblegale Gründungskonferenz der Volksfront Aserbaidschans mit 240 beratenden und 196 stimmberechtigten Vertretern aus 30 Rayons statt. A. Aliew, ein leitender Mitarbeiter des Handschriftenfonds der Akademie der Wissenschaften Aserbaidschans wurde zum Vorsitzenden der Volksfront gewählt. Der Leitung der NFA gehörten 15 Mitglieder, dar-
- 44 unter eine Frau, an, ein gewähltes Medschlis bildete die höchste beratende Versammlung. Das Programm59 definiert die Front als "gesellschaftliche Organisation, welche für eine grundsätzliche Umgestaltung und Demokratisierung aller Lebensbereiche der Republik eintritt", als Endziel wurde die Schaffung eines Rechtsstaates über die Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft deklariert. Für das Ziel "Erringung der politischen, ökonomischen und kulturellen Souveränität Aserbaidschans innerhalb der UdSSR" sah die NFA den Erfolg der Perestrojka und die Vervollkommnung der föderativen Strukturen als Voraussetzung an. Bei einem Scheitern der Reformpolitik wollte die NFA für die vollständige staatliche Unabhängigkeit Aserbaidschans kämpfen. Die wirtschaftlichen Vorstellungen gingen von der völligen Sicherung der Rechte der Republik über sämtliche Naturressourcen, wie Land, Wasser und Bodenschätze, und die Übergabe aller Betriebe und Institutionen in republikanische Hände aus. Obwohl im Programm die Frage des Privateigentums nieht im einzelnen gestellt wurde, ist die Rede von ökonomischem Pluralismus und der Zulassung vielfältiger Eigentumsformen, während der Schattenwirtschaft und dem Schwarzmarkt, ebenso wie ökologischen Sünden der Kampf angesagt wird. Die Herstellung sozialer Gerechtigkeit soll in Übereinklang mit historischen und nationalen Traditionen der Bevölkerung durch soziale Vorsorge und demographische Planung erfolgen. Als oberstes Menschenrecht wird nicht allgemeiner Wohlstand, sondern die individuelle Freiheit des Menschen eingefordert. Keinerlei gesellschaftlicher Nutzen kann zur Rechtfertigung der Eingrenzung der Rechte einzelner Persönlichkeiten dienen. Die NFA fordert volle Gewissens- und Glaubensfreiheit, die Beendigung atheistischer Angriffe gegenüber Religionen und Traditionen und die Wiederherstellung von religiösen Einrichtungen durch die Gesellschaft. Verständlicherweise wurde der nationalen Frage im Programm der NFA ein besondeBulletin NFA v podderzku perestrojki, 2-3,1989,
- 45 rer Raum eingeräumt. Auf der Grundlage der Anerkennung der Gleichheit aller Nationen, setzte sich die NFA für die Schaffung maximal günstiger Bedingungen für den Erhalt und die Entwicklung von Sprache, Kultur und nationalen Traditionen der Russen, Armenier, Lesghier, Talyshen, Kurden, Juden und anderer ethnischer Minderheiten in Aserbaidschan ein. Besondere Bedeutung wird der Entwicklung ökonomischer, politischer und kultureller Beziehungen zwischen Aserbaidschan und Iran mit dem Ziel des Erhalts der ethnokulturellen Einheit des aserbaidschanischen Volkes unter Anerkennung der Unverletzbarkeit der völkerrechtlich anerkannten Grenzen beigemessen. Mit der Propagierung dieses Programmes begann Ende Juli/Anfang August 1989 eine neue Etappe der Bürgerbewegung. Infolge von Massendemonstrationen und Streiks, die zeitweilig das wirtschaftliche Leben der gesamten Republik tangierten, konnten nicht nur am 10. September 1989 die offiziellen Verhandlungen zur Anerkennung der NFA durchgesetzt werden. Viel entscheidender war die Initiierung und Führung einer republikweiten Massenbewegung. Mit ihr wuchs nicht nur die Autorität der Volksfront in- und außerhalb Aserbaidschans, sondern auch das Selbstwertgefühl der Aseri. Als politische Folge dieses Druckes konnte die NFA ihre Vorstellungen in die außerordentliche Tagung des Obersten Sowjets der Republik Mitte September 1989 einbringen, noch bevor sie am 5. Oktober offiziell registriert wurde. Nach zähen Verhandlungen wurde auf dieser Tagung mit der Annahme des Gesetzes "Über die Souveränität der Aserbaidschanischen Republik" am 23. September ein entscheidender Sieg errungen, der damals internationales Aufsehen erregte. Doch die politische "Feuerprobe" sollte erst noch folgen. Unter den Bedingungen einer faktischen Doppelherrschaft brachen bereits Ende Oktober auf der ersten legalen Sitzung des Medschlis Meinungsverschiedenheiten über das weitere Vorgehen der Bewegung aus. Die mit Massenaktionen erreichten Erfolge bestärkten radikale Kräfte darin, den "Druck der Straße" auch für die folgenden Machtkämpfe mit der
- 46 kommunistischen Führung zu nutzen,- während ein gemäßigter Flügel für demokratische Formen der Auseinandersetzung eintrat. Das Ergebnis war eine zeitweilige Parallelisierung der Führung, die bis zum Austritt einiger Gründungsmitglieder der Volksfront führte und die Berufung eines fünfköpfigen provisorischen Führungskomitees zur Vorbereitung einer außerordentlichen Konferenz notwendig machte. So entstand eine Situation, die auch Freiräume für separate Aktionen, wie die Machtergreifung durch die örtliche Abteilung der Volksfront in Lenkoran im Dezember/ Januar 1990 oder die Unterstützung für Grenzdurchbrüche in Nachitschewan, ließ. Am 6./7. Januar fand in Baku die entsprechende "Organisationskonferenz" statt. Zwar konnten sich die liberalen Kräfte in der Führung durchsetzen, aber bewährte Kader wie Leila Junussowa und Jusif Samedogly - die späteren Begründer der Sozialdemokratischen Partei - , kehrten der Volksfront den Rükken. Ebenso verlor N. Panachow aus dem Lager der Radikalen seine Position. Die Auflösung der Volksfront gelang zwar nicht, aber die Atmosphäre hatte sich keineswegs entspannt: die Spaltung der Bewegung konnte nicht überwunden werden. Die angeheizten ethnischen Übergriffe und der Vereinigungstaumel an den Grenzen auf der einen Seite und zunehmende Furcht der Zentralregierung und der örtlichen Kommunisten vor einer Entmachtung spätestens bei den bevorstehenden Wahlen auf der anderen, ließen neue Verbindungen entstehen: Am 15. Januar 1990 rief der ZK-Sekretär A. Wesirow auf einem Treffen mit Arbeitern des Bakuer Kühlaggregatewerkes auf, sich in Wehrbrigaden einschreiben zu lassen, ähnliche Aufrufe folgten in zahlreichen Betrieben Bakus. Der radikale Flügel der Volksfront antwortete mit der Schaffung eines "Rates für nationale Verteidigung", mit welchem sowohl Vertreter des republikanischen als auch des zentralen Parteiapparates Verhandlungen führten. Damit wurden zugleich die offiziellen Vertreter der NFA von der Führung verdrängt, ein einheitliches Vorgehen der demokratischen Kräfte kaum mehr möglich. In der Stadt Baku standen 12.000 Mann starke Gruppen des Innenministeriums, als vom 13. bis 16. Januar 1990 antiarme-
- 47 nische Pogrome wüteten. Von der Volksfront gesammelte Aussagen von Zeugen und Dokumente belegen, daß die bewaffnete Kräfte Befehl hatten, nicht einzugreifen, was nach individueller Auslegung sogar einschloß, überstellte Mörder und Randalierer nach kurzer Zeit wieder freizulassen. Der 15. Januar wurde zum entscheidenden Wendepunkt: das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR erließ eine Verordnung über den Ausnahmezustand in Karabach und einigen anderen Regionen. Dieser Erlaß wurde als proarmenisch und Angriff auf die nationale Würde des aserbaidschanischen Volkes gewertet, die Führung der Volksfront forderte am 17. Januar die Einberufung einer außerordentlichen Sitzung des Obersten Sowjet Aserbaidschans für den 20., um den "ukas" als Eingriff in die Souveränitätsrechte der Republik abzulehnen. Den Aufruf begleiteten vor dem ZK-Gebäude Meetings mit Losungen, die den Rücktritt der Führung forderten. Die Idee der Sicherung nationaler Interessen über Reformen, innerhalb einer erneuerten Sowjetunion und mit der Kommunistischen Partei war übergegangen in die Forderung nach Unabhängigkeit um jeden Preis. Die Antwort der Regierung fiel entsprechend aus: militärische Gewalt mit der Bilanz von 131 Toten und 740 Schwerverletzten laut Regierungskommission (170 Tote, 400 Verletzte lt. NFA) . Der allgemeine Schock der Bevölkerung und ihrer demokratischen Kräfte folgte. Deren Vertreter wurden Repressalien ausgesetzt, Presseorgane verboten, die Büros überwacht, während die Kommunistische Partei die Zeit nutzte, um die unter dem abgesetzten Parteichef Wesirow begonnene Reorganisation (43 Gebietsparteisekretäre wurden umgesetzt, das ZK auf 6 Sekretäre reduziert) fortzusetzen und mit nationalen Losungen zeitgemäß anzupassen. 60 Mutalibow, der neue ZK-Chef, übernahm das Präsidentenamt. Die NFA zog aus den Ereignissen Schlüsse für ihr Programm
Vgl. Saroyan, a.a.O., S. 19 ff.
- 48 und den Wahlkampf vom Sommer 1990.bi Sie trat innerhalb des Blocks "Demokratisches Aserbaidschan" zusammen mit über vierzig Gruppierungen in 132 von 349 Wahlbezirken an. ^2 rj^e wahlplattforiri lautete: politische und ökonomische Souveränität Aserbaidschans außerhalb der Union, Sicherung der Menschenrechte, ökonomischer und politischer Pluralismus. Für die 360 Deputiertenmandate bewarben sich 166 Kandidaten, von denen jedoch nur 31 ins Parlament einzogen, 130 Mandate gingen wieder an Berufsfunktionäre aus Partei- und Staatsorganen, an Direktoren von Betrieben und Kolchosen, 21 Plätze blieben für offizielle Vertreter der Rechtsorgane. Mehr als 1.000 Beschwerden gingen vergebens über den Verlauf der Wahlen auch seitens auswärtiger Beobachter ein. Doch trotz der parlamentarischen Schwäche der Opposition, die auf ihre organisatorische Zersplitterung, aber vor allem auf die allgemeine Enttäuschung und Angst nach den Januar-Ereignissen zurückzuführen war, konnte das Machtmonopol der Kommunistischen Partei erstmalig gebrochen werden.
5. Ausblick Am 22. August 1991 scheiterte ein Putschversuch der konservativen Kommunisten in Moskau. Die Welt wurde tagelang in Atem gehalten mit Spekulationen über die möglichen Konsequenzen einer Machtergreifung durch "starke Hände". In Aserbaidschan jubelten nach Rußland, dem Baltikum und der Ukraine Tausende Menschen über den Sturz der Kommunisten und den Zerfall der Union. Am 30. August wurde die Unabhängigkeit erklärt, Präsidentschafts61
Ocet o vyborach, in: Azadlyg, 6 (36), 1991.
62
Inner- und außerhalb des Demokratischen Blocks traten im Frühjahr 1991 folgende politische Gruppierungen in Erscheinung: Milli Musawat (Nationale Gleichheit), Führungsmitglieder: M. Aliev, A. Rsa, M. Ijasi; Aserbaidschanische Sozialdemokratische Partei: L. Junusova, Z. Alizade; Partei der Volksfreiheit: J. Oguz; Volkspartei der Wiedergeburt: A. Kasimzade; Birlik (Einheit): M. Gusseinov; Ana Vatan (Mutter Heimat): F. Agamaliev, T. Ozal; Demokratische Partei Nordaserbaidschans: J. Samedogly; Gardasly (Brüderlichkeit): A. Achundov; Azad dindarlar (Freie Organisation der Gläubigen): G. Aliakram; Tövbe (Reue): o.N.
_ 49 wählen sollten die Regierung, deren Rücktritt gefordert worden war, neu legitimieren. Der einzige Kandidat Mutalibow ging erfolgreich aus den Wahlen hervor, die Hoffnung der Nationalbewegung auf einen grundlegenden Gesellschaftswandel erweist sich somit noch als Illusion. Auch wenn die Kommunistische Partei offiziell ihre Machtpositionen verloren hat, bleiben die "Apparatschiks", bleiben die traditionellen Strukturen der Verwobenheit von Kommandowirtschaft, Spekulation und Korruption. Die zwangsläufig entstehenden Freiräume einer noch nicht funktionierenden Marktwirtschaft und der nicht mehr existierenden Planwirtschaft werden diese sozialen Kräfte auf nationaler Basis noch weiter stärken statt schwächen, denn keine demokratische gesellschaftliche Kraft ist derzeit in der Lage, die Entwicklung zu steuern und zu kontrollieren. Die Leidtragenden werden bei einem weiteren Auseinanderdriften von arm und reich die Volksmassen sein. Kein günstiger Boden für den Abbau nationalistischer Ekzesse. Die demokratischen Bewegungen in Aserbaidschan verdienen jedoch deswegen nicht geringere Aufmerksamkeit, als die baltischen oder russischen. Der aserbaidschanische Verdacht, die europäische Öffentlichkeit toleriere im Kaukasus militante Formen der Machtausübung aus Angst vor einem "islamischen Aufbegehren" an der Peripherie Europas sollte sich keinesfalls bestätigen. Eine stärkere wirtschaftliche und kulturelle Öffnung des "Hauses Europa" auch in diese Region wird nicht nur Vorurteile abbauen helfen, sondern auch den Demokratisierungsprozeß in Aserbaidschan befördern.
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Eva-Maria Auch "Eternal Fire" in Azerbaijan A Country between Perestroika, Civil War, and Independence Bericht des BlOst Nr. 8/1992 Summary The present Report focuses on the "Country of Eternal Fire" Azerbaijan - where a dispute with Armenia over the Autonomous Region of Nagorno-Karabakh has become the catalyst for an independence movement. It traces the course of the Armenian-Azerbaijani controversies from 1988 to mid-1991 and uncovers their background, identifying both historical aspects and also contemporary socio-economic and politico-ideological factors and portraying the effects the conflict has had on the Azerbaijani national movement. It largely skirts the foreign-policy consequences of the changes that have taken place, but discusses the role played by oppositional forces, taking the People's Front of Azerbaijan (Narodny Front Azerbaidzhana - NFA) as an example. For its material base, the report draws upon the findings of Western European and U.S. studies on the Caucasus and Islam and upon Soviet specialist publications in the disciplines of ethnography, economic-geography and Turkology, but also upon Soviet - and especially Azerbaijani - media sources. The author is also able to incorporate in the analysis her personal experience from five years of oriental studies spent in Baku and from several work sojourns in Transcaucasia. Findings 1. Since first breaking out in 1988, the dispute between Azerbaijan and Armenia over Nagorno-Karabakh has provoked the question as to the stability of traditional power structures. By being the first to display an ethnic conflict carried on in full view of an international audience and with massive ferocity on the part of all nationalities involved and the central authorities, this sensitive region bordering on Iran and Turkey became a leading indicator for the inconsistencies of Gorbachev's reform policies. 2. The developments in and around Karabakh illustrate the qualitative change in the situation in Transcaucasia: if the dispute over this Azerbaijani-governed but largely Armenian-populated region had turned into a catalyst for national(ist) self-awareness on both sides, the bloody outcome of the events in Baku in January 1991 left no doubts as to the central government's response to the consolidation of the Azerbaijani independence movement, which, especially in the
- 52 form of the "Peoples Front", was challenging the traditional positions of the CPSU: 3. A first answer to the question as to the causes for and background to the disputes can be given with reference to the settlement history of Transcaucasia in general and Karabakh in particular. Several waves of immigration from the Ottoman Empire and Persia during the period of Russian colonial rule swelled the Armenian population in Azerbaijan to many times its original size and, since the turn of the century, have repeatedly given rise to social tensions beween the Turkic-language, Moslem Azeri and the Christian Armenians. The First World War, the February and October Revolutions, and civil wars, accompanied in Transcaucasia by attempts to set up separate states, visualized the hereditary problems and intensified them through sanguinary assaults. The incorporation of Nagorno-Karabakh as an Autonomous Oblast within the Azerbaijan SSR on 7th July 1923 was officially accounted for by reasons of historical precedence and economic interdependence, but at the same time it constituted a conciliatory gesture towards the Soviet Union's Moslem neighbours Turkey and Iran a course of action with which the Armenians have never come to terms, especially since Stalin's ideal of the fusion of nations on the basis of proletarian universality proved completely nonsensical. 4. The more immediate reason for the outbreak of and the nature of the course taken by the present conflict is the macro-social crisis of the Soviet system in general and under the specific conditions of the Transcaucasian region in particular, a crisis which deepened and became more and more evident as of 1985. The economic and cultural/intellectual situation in Azerbaijan is in many respects similar to conditions in Third-World developing countries: forced-pace and thus shallow-rooted industrialization, disproportions in the distribution of the productive forces, persistent tutelage by the supra-national central authorities, over-emphasis on raw materials production, and ecological deprivation go hand in hand with the reproduction of pre-capitalist patterns of thinking and action in deformed versions and the unquestioning adoption of Western lifestyles. The breakdown of the Communist system has added to the disillusionment of broad sectors of the population, ethnocentrism (pan-Turkism), Islam and nationalism are - in the absence of bourgeois democratic traditions taking the place of lost system of values. 5. A study of the events in Karabakh in terms of their politico-ideological impact within Azerbaijan ultimately leads to the quest for identity by the Azeri, a people who first achieved statehood in the modern sense only in 1918. With reference to the Enlightenment in the 19th century they were, from the present-day Azerbaijani viewpoint, robbed of a part of their identity, outwardly marked by the introduction of the
- 53 nationality "Azerbaidzhanets" instead of "Turk" by the Soviets in 1934, while on the other hand Soviet foreign policy made no effort to unite the Northern and Southern Azeri. Thus, the Azeri's own ethnic, religious and political self-definition ranges between the attributes "Moslem/Turkic/Caucasian", with the various political groups attributing different priorities to each of these facets. 6. Karabakh as a cause for national self-identification posed questions not just of the past; it also brought forth oppositional alternatives to a crisis-shaken present. Encouraged by the events taking place on the street, the opposition leaders posed a serious challenge to Communist rule and to the Republic's continued membership of the Union, but without yet possessing the maturity and the unity of purpose and action that would have been required to prevent the central authorities from saving the system in 1990. On the contrary, the shock of the military intervention in January of that year gave the Republic's establishment the opportunity to "change to clothes of natinal colours", thereby preserving a configuration which, for the time being at least, will prevent any really deep-going democratization even after the failed coup of 19th August 1991 and the disintegration of the Union.
Neuere Arbeiten aus dem Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Sowjetunion 1990/91 Krise - Zerfall - Neuorientierung Carl Hanser Verlag, München/Wien 1991, 416 S. The Soviet Union 1988/89 Perestroika in Crisis? Westview Press/Longman, Boulder/London/San Francisco 1990, 410 S. Gary K. Bertsch/Heinrich Vogel/Jan Zielonka (Eds.) After the Revolutions: East-West Trade and Technology Transfer in the 1990s. Westview Press, Boulder/San Francisco/Oxford 1991, 227 S. Gerhard Simon Nationalism and Policy Toward the Nationalities in the Soviet Union. From Totalitarian Dictatorship to Post-Stalinist Society. (= Westview Special Studies on the Soviet Union and Eastern Europe). Westview Press, Boulder/San Francisco/Oxford 1991, 483 S. Gerhard Wettig Changes in Soviet Policy Towards the West. Pinter Publishers/Westview Press, London/Boulder/San Francisco 1991,193 S. Schriftenreihe des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien Band 20: Karin Schmid (Hg.) Gesetzgebung als Mittel der Perestrojka. Wunsch und Wirklichkeit. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1991, 311 S. Band 21: Carsten Herrmann-Pillath Institutioneller Wandel, Macht und Inflation in China. Ordnungstheoretische Analysen zur Politischen Ökonomie eines Transformationsprozesses. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1991, 734 S.