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German Pages 201 [204] Year 2013
Peter Stemmer Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot
Peter Stemmer
Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot Studien zu Moral und Normativität
ISBN 978-3-11-030421-3 e-ISBN 978-3-11-030422-0 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Von den neun in diesem Band zusammengestellten Arbeiten erörtern sieben moralphilosophische Grundlagenfragen. Sie entwickeln die Moralkonzeption, wie ich sie in meinem Buch Handeln zugunsten anderer (de Gruyter 2000) vorgeschlagen habe, in verschiedene Richtungen weiter. Ein wesentlicher Schritt betrifft das Unterdrückungsverbot. Seine besondere Rolle in der Moral ist mir erst im Nachhinein so klar geworden, dass ich sie explizit thematisieren konnte. Damit einher ging eine genauere Klärung des Rechtfertigungsbegriffs und die ausdrückliche Unterscheidung von Rechtfertigen und Begründen, die mir inzwischen sehr wichtig zu sein scheint. Daher lag es nahe, den Titel des Aufsatzes, der diese Themen zusammenführt, auch zum Titel dieses Bandes zu machen. Meine Überlegungen zur Moral plädieren für eine Variante des moralischen Kontraktualismus. Deshalb steht am Anfang ein Beitrag, der zu klären versucht, welche Rolle die Vertragsidee in der Moralphilosophie spielen kann und wie ein über sich selbst aufgeklärter Kontraktualismus zu verstehen ist. Und am Ende steht die Frage „Warum moralischer Kontraktualismus?“ In diesem Beitrag lege ich noch einmal die Grundlinien dieses Moralverständnisses frei und vor allem die Impulse, die zu einer Konzeption dieser Art führen. Der Versuch, ein aufgeklärtes Moralverständnis zu entfalten, ein Moralverständnis, das ohne metaphysische Prämissen und ohne philosophische Erfindungen auskommt, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, und es ist eine eigene Frage, warum es so schwer ist, sich über die Grundlagen der Moral Klarheit zu verschaffen und zu einem Konsens zu finden. Hier fließt vieles zusammen. Aber zwei Elemente sind, so meine ich, besonders wichtig. Zum einen hängt von den Antworten, die wir geben, so viel ab. Es geht schließlich darum, wie weit wir unsere Freiheit einschränken, und wie weit der moralische Schutz reicht, auf den wir vertrauen dürfen. Und natürlich auch darum, wie weit der moralische Schutz derer reicht, die darin, jenseits jeder Reziprozität, ganz von den altruistischen Interessen und Idealen anderer abhängig sind. Zum anderen löst die Einsicht, dass wir es sind, die diese Grenzen ziehen müssen, dass wir es sind, die die Inhalte und die Reichweite der Moral festlegen, und dass sich deshalb alles daran entscheidet, was wir wollen, was unsere – egoistischen und altruistischen – Interessen sind, Unbehagen aus. Man sucht nach einem objektiven Anker für die Moral, nach einer Instanz, die uns die Moral, unabhängig von unserem Wollen, vorgibt, und sperrt sich gegen die unvermeidliche Einsicht, dass es diese Instanz nicht gibt. Zwei der Aufsätze, Nr. 7 und Nr. 8, behandeln Themen außerhalb der Moralphilosophie. In ihnen geht es um den Zusammenhang von Gründen, Wollen und Normativität. Sie hängen eng zusammen. Der erste versucht eine Antwort auf die Frage, wie Normativität in die Welt kommt und aus welchen Bausteinen die
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Vorwort
normative Realität entsteht. Im anderen geht es um eine Frage, die für unser Selbstverständnis von großer Bedeutung ist: ob unserem Wollen Gründe vorausgehen, so dass wir auch in dem, was wir wollen und letztlich wollen, von Gründen geleitet sind, oder ob es umgekehrt ist und das Wollen den Gründen vorausgeht, diese erst konstituiert oder mitkonstituiert und dem letzten Wollen deshalb keine Gründe vorausgehen können. In beiden Arbeiten wird die Auffassung vertreten, dass alle Formen des Normativen wollensrelativ sind und alles Normative daher eine subjektive Ontologie hat. Vor allem der zweite Aufsatz flankiert die Überlegungen, die ich in Normativität (de Gruyter 2008) vorgetragen habe. Mein erster Dank geht an Ernst Tugendhat. Er hat meine moralphilosophischen Arbeiten über mehr als ein Jahrzehnt mit Interesse und Widerspruch begleitet. In immer neuen Anläufen hat er mich, bei allem Verständnis im Grundsatz, davon zu überzeugen versucht, dass die kontraktualistische Theorie, wie ich sie für richtig halte, unzureichend ist. Da sein Urteil für mich besonderes Gewicht hat, hat mich seine Kritik, auch wenn ich ihr am Ende nicht zustimme, in einen dauerhaften Zustand neuerlichen Prüfens und Nachdenkens versetzt. Im letzten Aufsatz gehe ich zumindest auf einen wesentlichen, vielleicht auch den wesentlichen Aspekt seiner Kritik ein. Wichtige Anstöße verdanke ich auch Norbert Hoerster. Er hat mich an einem entscheidenden Punkt auf den richtigen Weg gebracht. Danken möchte ich auch Marcelo de Araujo, Thomas Diemar, Dunja Jaber, Jacob Rosenthal, Julius Schälike, Gottfried Seebaß und Holmer Steinfath für vielfältige Hilfe, Diskussion und Kritik. Besonderer Dank auch an Gertrud Grünkorn vom Verlag de Gruyter für die gewohnt konstruktive und reibungslose Zusammenarbeit. Konstanz, im Sommer 2012
Peter Stemmer
Inhalt Vorwort
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Moralischer Kontraktualismus
Der Begriff der moralischen Pflicht
Moralische Rechte als soziale Artefakte
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Die Rechtfertigung moralischer Normen
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Moral, künstliche Gründe und moralische Motivation
Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot
Die Konstitution der normativen Wirklichkeit
Was geht voraus: das Wollen den Gründen oder die Gründe dem 139 Wollen?
Warum moralischer Kontraktualismus?
Nachweise Literatur
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Personenregister
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1 Moralischer Kontraktualismus I Der Kontraktualismus ist in der Geschichte des Denkens hauptsächlich eine politische Theorie. Er gibt Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen politische Herrschaft legitim ist. Wer über politische Macht verfügt, kann die, die ihr ausgesetzt sind, zu bestimmten Handlungen nötigen, – in der Weise, dass er für den Fall des Anders-Handelns negative Konsequenzen androht und nötigenfalls auch zufügt. Die der Macht Unterworfenen müssen folglich mit Einschränkungen ihrer Freiheit leben. Angesichts dessen stellt sich wie von selbst die Frage, ob die Herrschaft der Mächtigen legitim, d. h. berechtigt ist oder ob sie unberechtigt und damit despotisch ist. Ist sie despotisch, heißt das nicht, dass es nicht rational wäre, zu tun, wozu man genötigt wird. Wegen der drohenden Sanktionen ist es häufig durchaus rational, das von einem Geforderte zu tun. Ist die Herrschaft hingegen legitim, ist es nicht nur – angesichts der Sanktionen – rational, das zu tun, was gefordert ist, es ist auch verpflichtend, so zu handeln. Der Legitimität der Herrschaft korreliert die Verpflichtung der ihr Unterworfenen. An die Stelle des bloßen Genötigtseins tritt das Verpflichtetsein, eine spezielle Art des praktischen Müssens. Legitim ist eine politische Herrschaft,wenn die, die über die Herrschaftsmacht verfügen, nicht nur die Macht haben, andere zu nötigen, sondern auch das Recht dazu. Dieses Recht wird nicht von Gott oder einer anderen höheren Macht verliehen, und es ist auch nicht naturgegeben. Es bedarf keiner Erläuterung, wenn ich sage, dass diese beiden Theorien, die man über viele Jahrhunderte für wahr hielt, nicht haltbar sind. Eine Alternative, die ohne religiöse und metaphysische Prämissen auskommt, bietet der Kontraktualismus. Das Recht, das eine Herrschaft legitimiert, kann, so sagt er, nicht „von oben“ oder aus der Natur, sondern nur „von unten“ kommen, nämlich von denen, die der Herrschaft unterworfen sind. Sie selbst müssen, soll die Herrschaft legitim sein, dem Herrscher das Recht zu herrschen verleihen. Über die Art, in der diese Autorisierung zur Herrschaft vonstatten geht, gibt es eine Reihe von kontraktualistischen Theorievarianten.¹ Gemeinsam ist ihnen die Vorstellung, die Autorisierung erfolge durch einen Vertrag. Wie immer dies im Einzelnen konzipiert wird, die Vertragsidee gibt in jedem Fall eine klare Antwort auf die Frage nach dem Woher des Herrscherrechts. Und
1 Vgl. hierzu v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 76 – 122; Hampton, Hobbes and the Social Contract Tradition, 114– 131; Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 217– 249; Hampton, Political Philosophy, 41 f.
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damit auch auf die Frage nach dem Woher und der Art der politischen Gehorsamspflicht. Es handelt sich um eine vertragliche Verpflichtung, wie sie jedem wohlvertraut ist. Sie ist damit eine selbstgewollte und selbstgeschaffene Verpflichtung. Die Leistungen der Vertragsidee in der Analyse politischer Herrschaft und politischer Verpflichtung machen sie auch für die Analyse der Moral und der moralischen Verpflichtung interessant. Tatsächlich ist der moralische Kontraktualismus alt. Schon in der Antike, bei den Sophisten und dann bei Epikur und seinen Schülern, sind moralische Normen als selbstgewollte, durch Verträge geschaffene Regelungen gedeutet worden.² Hobbes und dann im 20. Jahrhundert vor allem Rawls, Mackie und Gauthier sind den Alten hierin (in verschiedener Weise) gefolgt. Die Verwendung der Vertragsidee in der Moralphilosophie ist deshalb so naheliegend, weil auch die Moral in Form von Forderungen an uns herantritt, auch sie nötigt uns zu bestimmten Handlungen, auch sie schränkt damit unsere Freiheit ein. Hier ist es nicht ein politischer Herrscher, sondern die Gemeinschaft, in der wir leben, die von uns bestimmte Handlungen fordert und uns im Falle des Anders-Handelns sanktioniert, in Form von Ansehensverlust, Verlust von sozialer Einbindung, in Form von Distanzierung oder gar Ausstoßung. Wir müssen, wollen wir diese negativen Konsequenzen vermeiden, moralisch handeln. Natürlich stellt sich auch hier die Frage, was „den anderen“ das Recht gibt, die Freiheit und die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen in dieser Weise einzuschränken. Ist die Macht, die die Gemeinschaft auf diese Weise ausübt, bloß nötigend, oder stützt sie sich auf ein Recht, das ihr Legitimität verleiht und aufgrund dessen es (angesichts der Sanktionen) nicht nur klug ist, moralisch zu handeln, sondern auch verpflichtend? Auch hier ist die Idee, dass „die anderen“ das Recht, moralisch zu nötigen, nur „von unten“ verliehen bekommen haben können, also von denen, die dem moralischen Müssen ausgesetzt sind. Und zwar in Form eines Vertrages, den jeder mit jedem abgeschlossen hat und in dem alle sich gegenseitig autorisieren, moralische Ansprüche und Forderungen an die anderen zu richten und unmoralisches Verhalten zu sanktionieren, und zugleich alle die Verpflichtung übernehmen, wie gefordert zu handeln. Jeder ist damit in der doppelten Position des Verpflichteten und des zur Forderung Autorisierten. Die moralische Verpflichtung ist hiermit auch als eine vertragliche Verpflichtung gedeutet. Die Attraktivität des moralischen Kontraktualismus zeigt sich vor allem in folgenden Vorzügen: 1. Der Kontraktualismus sieht in der Moral etwas von Menschen Geschaffenes, nicht etwas durch die Natur oder transzendente Mächte Vorgegebenes.
2 Vgl. hierzu besonders Kahn, The Origins of Social Contract Theory.
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Der Kontraktualismus versteht die Moral als etwas, was im Interesse der Einzelnen liegt, obwohl sie von ihnen etwas fordert, was sie andernfalls möglicherweise nicht tun würden. Diese scheinbare Paradoxie wird durch die Idee des Vertrages auf überzeugende Weise aufgelöst. Denn ein Vertrag ist von den Beteiligten gewollt, obwohl er ihnen Handlungsmöglichkeiten nimmt. Die Beteiligten wollen ihn, weil ihnen das, was er bietet: dass die andere Seite etwas tun oder lassen muss, wertvoller ist als das, was sie selbst geben müssen. Die Einschränkung der eigenen Freiheit ist gewollt, weil sie der Preis für die Freiheitsbegrenzung der anderen ist. Der Kontraktualismus bietet eine klare Konzeption der moralischen Normativität. Die moralische Verpflichtung ist, wie gesagt, eine vertragliche – und damit eine rechtliche – Verpflichtung. Sie wird durch einen Vertrag künstlich geschaffen. Als solche ist sie eine selbstgewollte Verpflichtung. Das moralische Müssen erweist sich folglich als ein autonomes Müssen, in dem Sinne, dass der, der ihm unterliegt, zugleich sein (oder einer seiner) Urheber ist. Der Kontraktualismus bietet ein klares Kriterium für die Unterscheidung einer legitimen moralischen Ordnung und erpresserischem Zwang: Legitim ist eine moralische Ordnung, wenn sie und soweit sie aus einem Vertrag hervorgeht. Und legitim ist sie immer nur denen gegenüber, die an dem Vertrag beteiligt sind.
II So deutlich diese Vorzüge des moralischen Kontraktualismus sind, er hat mit zwei elementaren Einwänden zu kämpfen, die die Vertragsidee selbst betreffen und damit die innere Schlüssigkeit der Konzeption in Frage stellen. Der erste und ganz einfache Einwand lautet: Ein solcher Vertrag, der die Moral generiert, ist ja nie geschlossen worden. Er ist ja nur etwas Ausgedachtes und Erfundenes. Und deshalb ist das moralische Recht, zu fordern, und die moralische Verpflichtung, entsprechend zu handeln, auch nichts Wirkliches. Ein Vertrag, der nie geschlossen worden ist, schafft natürlich keine Rechte und Pflichten. – Dieser Einwand trifft, wie jeder sieht, ins Schwarze, und er zwingt dazu, die kontraktualistische Moraltheorie entweder fallen zu lassen oder aber einschneidend zu modifizieren. Es scheint, als bedürfe es hiernach des zweiten Einwandes gar nicht mehr. Ich gehe dennoch auf ihn ein, zum einen weil die Überlegung, die er anstellt, für das richtige Verständnis der moralischen Verpflichtung wichtig ist. Und zum andern, weil man ihn berücksichtigen muss, wenn man die Möglichkeiten, den moralischen Kontraktualismus zu modifizieren, ausmessen will. Der zweite Einwand besagt, die Idee, ein Vertrag kreiere die moralische Normativität, sei zirkulär oder
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führe in einen infiniten Regress. Hier werde das, dessen Zustandekommen erklärt werden soll, in Wirklichkeit schon vorausgesetzt. Dieses Argument ist nicht nur komplizierter, es ist in einer Hinsicht auch grundsätzlicher als der erste Einwand. Denn die Philosophen, die das erste Argument vorgebracht haben, waren in der Regel der Meinung, wenn ein Vertrag abgeschlossen worden wäre, dann wäre tatsächlich alles so, wie es der Kontraktualismus sagt. Sie finden die Vertragsidee also im Prinzip überzeugend, nur dass eben faktisch kein Vertrag geschlossen wurde. Gäbe es ihn, wäre die moralische Verpflichtung in der Tat etwas, was durch einen Vertrag entsteht. Genau diese Möglichkeit leugnet das zweite Argument. Es bestreitet damit nicht nur die Realität, sondern auch die Möglichkeit eines moralgenerierenden Vertrages. Wie sieht das Argument genauer aus? Wenn zwei Personen einen Vertrag schließen wollen, können sie das nur in einem Handlungsraum tun, in dem es schon die Pflicht gibt, Verträge einzuhalten. Den Pflichten, die Ergebnisse von Verträgen sind, geht immer schon die Rechtspflicht voraus, ohne die es keine Verträge geben kann: die Pflicht zur Vertragstreue.Verträge brauchen, mit anderen Worten, einen Rahmen, der diese Pflicht schon bereitstellt, weshalb Normen, die durch Verträge entstehen, in der Rechtswissenschaft auch „unselbständige Normen“ genannt werden. Sie sind überhaupt nur Normen in Verbindung und unter Voraussetzung anderer genereller Rechtsnormen.³ In einem Naturzustand, der keinerlei verpflichtende Normativität kennt, kann es folglich keine Verträge geben. Zumindest solange nicht, wie es nicht gelungen ist, die Rahmenpflicht der Vertragstreue aus dem Naturzustand heraus zu schaffen. Die Konstitution dieser Pflicht kann aber natürlich gerade nicht auf vertraglichem Wege erfolgen. Denn wollte man annehmen, die Pflicht zur Vertragstreue werde ihrerseits durch einen Vertrag geschaffen, bräuchte dieser „frühere“ Vertrag seinerseits einen Rahmen, der bereits die Pflicht bereithält, diesen Vertrag einzuhalten. Und so weiter. Wir sehen, solange der Ursprung und die Beschaffenheit der Rahmenpflicht – und mit ihr die Möglichkeit von Verträgen – nicht geklärt ist, ist auch die moralische Normativität durch die Idee, sie sei eine rechtliche, aus einem Vertrag stammende Verpflichtung, nicht erklärt. Verträge sind offenkundig nicht die soziale Institution, durch die die verpflichtende Normativität entsteht. Wer die Freiheit hat, Verträge zu schließen, hat zwar die Macht, bestimmte Handlungen verpflichtend zu machen. Er bewirkt aber nur, dass es dieser bestimmte Inhalt ist, der verpflichtend wird. Das Element der Verpflichtung selbst bringt der Vertrag hingegen nicht in die Welt. Dies geht voraus und wird von einer Rahmenordnung vorab zur Verfügung gestellt.
3 Vgl. z. B. Kelsen, Reine Rechtslehre, 152, 262.
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Man ist dieser Schwierigkeit enthoben, wenn man annimmt, es gebe eine natürliche, vorpositive Pflicht, Verträge einzuhalten, eine Pflicht also, die einfach als Teil der Welt (auch im Naturzustand) gegeben ist. Eine solche Verbindung von Vertragstheorie und Naturrechtslehre ist oft vertreten worden. Locke war der Auffassung, Verträge könne es nur geben, wenn Gott die Vertragstreue vorab zu einer moralischen Verpflichtung gemacht habe.⁴ Es ist klar, dass dieser Ausweg verschlossen ist; wir haben keine Gründe für die Annahme, dass es solche objektiv vorgegebenen Pflichten gibt. Eine andere Strategie, dem Zirkularitätsargument zu entkommen, besteht darin, den Vertrag durch etwas Informelles, nämlich durch ein gegenseitiges Versprechen zu ersetzen. Man dürfe die Rede vom Vertrag nicht so buchstäblich und eng juristisch verstehen. Was die verpflichtende Normativität aus dem Naturzustand heraus hervorbringe, sei ein gegenseitiges Versprechen, nicht ein Vertrag. Ein Versprechen setze nicht den Rahmen einer Rechtsordnung voraus. – Es ist leicht zu erkennen, dass dieser Vorschlag eine Sackgasse ist und an derselben Schwierigkeit scheitert wie die Vertragsidee. Denn wer ein Versprechen geben will, kann dies nur in einem Handlungsraum tun, in dem es bereits die generelle moralische Pflicht gibt, gegebene Versprechen zu halten. Die Pflichten, die aus einem Versprechen resultieren, setzen bereits die Existenz dieser generellen Pflicht voraus. Auch hier wird also das, dessen Zustandekommen erklärt werden soll, bereits vorausgesetzt. Auch hier bringt der, der ein Versprechen gibt, nur in die Welt, dass dieser bestimmte Inhalt, der Inhalt des Versprechens, verpflichtend wird. Das Element der Verpflichtung selbst bringt er nicht in die Welt. Dies geht auch hier voraus und wird ihm von der moralischen Ordnung, in der er handelt, bereits zur Verfügung gestellt. Es zeigt sich also, dass die verpflichtende Normativität ihren Ursprung auch nicht in gegenseitigen Versprechen haben kann. Das Ziel des moralischen Kontraktualismus, mit Hilfe der Vertragsidee zu erklären, wie es zur Legitimität moralischer Forderungen und damit auch zu moralischen Verpflichtungen kommt, wird, wie sich zeigt, nicht erreicht. Die gewiss naheliegende Idee, an Verträge oder Versprechen zu denken, wenn es um die Genese von Verpflichtungen geht, erweist sich als vordergründig. Der eigentliche Ursprung verpflichtender Normativität, aus dem auch Verträge und Versprechen ihre verpflichtende Kraft beziehen, ist damit noch gar nicht im Blick.
4 Vgl. Locke, A Letter Concerning Toleration, 92/93.
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III Wenn nicht Verträge oder Versprechen, was ist dann die Quelle der moralischen Verpflichtungen? Was gibt „den anderen“ dann das Recht, die Freiheit des Einzelnen einzuschränken und ihn zu bestimmten Handlungen zu nötigen? Dieses Recht und die korrelierende Pflicht, moralisch zu handeln, fallen nicht vom Himmel, sie werden von Menschen hervorgebracht. Es muss deshalb möglich sein, aus einem Naturzustand heraus ein moralisches Müssen, legitime moralische Normen und moralische Pflichten zu schaffen. Aber wie? Nehmen wir eine Naturzustandswelt mit fünf Bewohnern. Jeder von ihnen ist stark daran interessiert, von den anderen nicht verletzt zu werden, und jeder wünscht sich deshalb eine Regelung, die es zur Pflicht macht, die anderen nicht zu verletzen. Nehmen wir weiter an, den fünfen gelingt es, einen Roboter herzustellen, der die bemerkenswerte Fähigkeit hat, alles zu registrieren, was die Menschen tun, und nachhaltig bestimmte Handlungen zu sanktionieren, unabhängig davon, wer der Handelnde ist.⁵ Welche Handlungen er sanktioniert, legen die Menschen fest und programmieren den Roboter entsprechend. In unserem Beispielfall würden Verletzungshandlungen sanktioniert. Durch diesen Roboter und seine Aktivitäten kommt ein sanktionskonstituiertes Müssen (bzw. NichtKönnen) in die Welt: Wer den Sanktionen entgehen will, kann einen anderen nicht verletzen. Es ist klar, dass dieses Müssen nicht despotisch sein kann. Denn der Roboter ist nicht in der Lage, sich selbständig zu machen. Er sanktioniert nur die Handlungen, auf deren Sanktionierung er programmiert ist. Zur Sanktionierung dieser Handlungen ist er von den fünf Naturzustandsbewohnern, die ihn hergestellt und programmiert haben und die zugleich seinen Sanktionen unterworfen sind, quasi autorisiert. Infolgedessen ist das Müssen, das mit dem Roboter in die Welt kommt, ein verpflichtendes und kein despotisches Müssen. Es ist zudem ein selbstgewolltes, autonomes Müssen. Die, die ihm unterliegen, haben es selbst gewollt und selbst geschaffen. Despotisch und damit eben nicht verpflichtend könnte das Müssen nur sein, wenn eine bestimmte Handlung als Sanktionsgegenstand einprogrammiert würde, ohne dass die fünf sich hierüber einig waren. Die Sanktionierung wäre dann denen gegenüber, die nicht zugestimmt haben, erpresserisch. Die verpflichtende Normativität entsteht hier, wie wir sehen, nicht durch einen Vertrag oder ein Versprechen, sondern durch eine Sanktionspraxis, zu der die Sanktionsinstanz von den Betroffenen autorisiert (oder quasi autorisiert) ist.
5 Vgl. zu der Idee eines solchen Roboters Buchanan, The Limits of Liberty, 94 f., 131 f.; dt. Die Grenzen der Freiheit, 134 f., 187 f.
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Ich muss nicht sagen, dass es diesen Roboter nicht gibt. Dennoch hilft er uns, zu sehen, was die Gruppe der Naturzustandsbewohner tun muss, um ihr Ziel: die Etablierung der Pflicht, andere nicht zu verletzen, zu erreichen. Sie muss eine Sanktionsinstanz installieren, und das kann nach Lage der Dinge am ehesten sie selbst sein. Die Gruppe selbst muss sich zu der Instanz machen, die sanktioniert und damit das moralische Müssen schafft. Sie muss soziale Konventionen des Sanktionierens entwickeln. Die Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Konventionen liegt im Interesse jedes Einzelnen, weshalb jeder auch ein Interesse hat, das Seine zum effektiven Funktionieren der Sanktionspraxis beizutragen. Um die Praxis des sozialen Drucks zusätzlich zu festigen und möglichen Anreizen zum „Trittbrettfahren“ entgegenzuwirken, wird sich eine weitere Handlungsregel herausbilden: nämlich den, der angesichts eines geschehenen moralischen Unrechts unbeteiligt bleibt und nicht sanktioniert, seinerseits zu sanktionieren. Es ist an dieser Stelle wichtig, einen Punkt festzuhalten, den D. Hume, der die Entstehung sozialer Konventionen beschrieben und in ihrer logischen Struktur rekonstruiert hat, deutlich herausgestellt hat: Die Herausbildung solcher Konventionen setzt keine Versprechen und, wie man hinzufügen kann, auch keine Verträge voraus.⁶ Soziale Konventionen entstehen aus einer gemeinsamen Interessenlage und dem Wissen aller von den gleichen Interessen der anderen. Zwar blickt jeder auf das Verhalten der anderen, weil ohne deren Kooperation das gemeinsame Ziel nicht erreicht werden kann und das eigene Engagement ins Leere läuft. Insofern enthält der Prozess das Element der Wechselseitigkeit und des wechselseitigen Einverständnisses. Aber er enthält keine Versprechen und auch keine Verträge.⁷ Entstehen in der angedeuteten Weise soziale Konventionen des Sanktionierens, ist es richtig, „die anderen“, die jeweils sanktionieren, als dazu autorisiert zu betrachten. Sie sind durch jedes einzelne Mitglied der Gemeinschaft stillschweigend dazu autorisiert, auf bestimmte Handlungen mit sozialen Sanktionen zu reagieren. Das moralische Müssen, das durch das Sanktionsverhalten entsteht, ist deshalb ein verpflichtendes Müssen. Wobei die Verpflichtung näherhin eine selbstgewollte, in diesem Sinne autonome Verpflichtung ist. Liegt eine derartige implizite Autorisierung durch alle nicht vor, ist die moralische Ordnung hingegen
6 Vgl. Hume, A Treatise of Human Nature, III, ii, 2, p. 490: „This convention is not of the nature of a promise…It is only a general sense of common interest; which sense all the members of the society express to one another, and which induces them to regulate their conduct by certain rules.“ Vgl. auch An Enquiry Concerning the Principles of Morals, app. III, p. 306 f. – Siehe hierzu die erhellenden Ausführungen von Lahno, Versprechen. Überlegungen zu einer künstlichen Tugend, 135 ff., 170, 173 f. 7 Das spontane Entstehen kooperativer Strukturen hat in aufschlussreicher Weise R. Sugden untersucht; vgl. Sugden, The Economics of Rights, Co-operation and Welfare.
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(zumindest partiell) erpresserisch. Die Einigkeit der Mitglieder darüber, was sanktioniert werden soll, fixiert also die Inhalte der Moral. Die Inhalte einer legitimen moralischen Ordnung sind an diese Einigkeit zurückgebunden. Wir haben jetzt eine wesentlich überzeugendere Konzeption davon, wie es zu moralischen Verpflichtungen kommt. Moralische Pflichten entstehen nicht durch Vertrag oder Versprechen, sondern durch die Schaffung sozialer Konventionen des Sanktionierens.Wobei ihre Hervorbringung von gemeinsamen Interessen getragen und gesteuert wird. Erst innerhalb eines solchen Systems des Sanktionierens sind Versprechen und Vertrag möglich. Jemand kann ein Versprechen nur geben, wenn es bereits die soziale Konvention gibt, das Unterlassen der versprochenen Handlung sozial zu sanktionieren. Die Pflicht, Versprechen zu halten, besteht gerade darin, dass man, wenn man anders handelt, sanktioniert wird. Analog verhält es sich beim Vertrag; nur dass die sozialen Sanktionen hier einen formellen, rechtlich organisierten Charakter haben. Man könnte nach den vorangegangenen Ausführungen, an der Vertragsidee noch halb festhaltend, die Konstitution einer legitimen moralischen Ordnung so rekonstruieren, dass zunächst durch die Schaffung entsprechender Sanktionen die Pflicht, Verträge einzuhalten, etabliert wird und dann durch Verträge die Inhalte der Moral zu Vertragspflichten gemacht werden. Ein moralisches Unrecht (z. B. die Verletzung eines Menschen) würde dann als Vertragsbruch sanktioniert. Aber natürlich ist es viel einfacher, den Zwischenschritt des Vertrages wegzulassen und ein moralisches Unrecht direkt und als solches zu sanktionieren. Es entsteht gleich die Konvention, die Verletzung eines Menschen in der-und-der Weise sozial zu sanktionieren. Des Umweges über einen Vertrag bedarf es nicht. Man kann die Idee des Vertrages also ganz fallen lassen. Es ist leicht zu sehen, dass die jetzt skizzierte Theorie über die Konstitution moralischer Normativität nicht von dem Vorwurf der Zirkularität oder des infiniten Regresses getroffen wird. Sie konzipiert die Genese moralischer Verpflichtungen, ohne auf eine schon vorausgehende Verpflichtung ungeklärten Ursprungs zurückzugreifen. Der Vertrag spielt in ihr keine Rolle mehr. Die gemeinsame, von den Interessen der Beteiligten bestimmte Schaffung einer Sanktionspraxis und die in ihr enthaltene wechselseitige Autorisierung reicht aus, um den verpflichtenden Charakter der moralischen Normen zu erklären. Obwohl die neue Konzeption sich von der Vertragsidee löst, bewahrt sie wesentliche Elemente der originären kontraktualistischen Position. Sie sieht in der Moral auch etwas von Menschen Geschaffenes (oben Punkt 1). Sie versteht die Moral auch als etwas, was im Interesse der Einzelnen liegt, obwohl sie von ihnen etwas fordert, was sie sonst möglicherweise nicht tun würden (oben Punkt 2). Diese Paradoxie wird jetzt nicht mehr durch die Idee des Vertrages aufgelöst, sondern durch die Idee einer Sanktionspraxis, die, obwohl sie die eigene Freiheit
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einschränkt, dennoch im eigenen Interesse liegt, weil sie dasselbe auch bei den anderen tut. Es ist dieselbe Struktur wie bei einem Vertrag: Die Beteiligten wollen und schaffen die Sanktionspraxis, weil ihnen das, was sie bietet: dass die anderen etwas tun oder lassen müssen, wichtiger ist als die Freiheitsbeschränkung, die sie für sie selbst bedeutet. Wir sehen, der hier entscheidende Punkt, dass die Einschränkung der eigenen Interessen im eigenen Interesse ist und sich dies aus der Wechselseitigkeit der Freiheitsbeschränkung erklärt, bleibt in der neuen Konzeption voll gewahrt. Nur die, wie sich jetzt zeigt, diesbezüglich nachrangige Aussage, die wechselseitige Freiheitsbeschränkung entstamme einem Vertrag, wird verworfen. Die neue Konzeption bietet auch ein klares Kriterium für die Unterscheidung einer legitimen moralischen Ordnung von erpresserischem Zwang: Legitim ist eine moralische Ordnung, wenn und soweit die, die moralisch sanktionieren, durch jedes Mitglied dazu befugt sind (oben Punkt 4). Selbst hinsichtlich der moralischen Normativität (oben Punkt 3) bewahrt die neue Konzeption wesentliche Aussagen des originären Kontraktualismus: Die moralische Verpflichtung resultiert daraus, dass das Recht zur Sanktionierung von denen, die dem moralischen Müssen ausgesetzt sind, verliehen wird. Die moralische Verpflichtung ist deshalb eine selbstgewollte und selbstgeschaffene Verpflichtung. Die, die ihr unterliegen, sind zugleich ihre Urheber. Die neue Konzeption vermag diese Sachverhalte zu erklären, ohne die moralische Verpflichtung als vertragliche Verpflichtung zu verstehen. Dies zeigt, dass die Vertragsidee auch in diesem Punkt nur von nachrangiger Bedeutung ist. Wir sehen jetzt sehr deutlich, dass man die Idee des Vertrages fallen lassen und doch an allen anderen wesentlichen Aussagen des Kontraktualismus festhalten kann. Die Vertragsidee ist für diese Aussagen nicht konstitutiv. Man mag darüber streiten, ob es sinnvoll ist, die neue Konzeption, obwohl sie die moralische Verpflichtung nicht mehr als vertragliche Verpflichtung versteht, „kontraktualistisch“ zu nennen. Ich werde es, wie es üblich ist, aufgrund der weitgehenden und zentralen Übereinstimmungen tun. Die neue Konzeption bietet in dieser Sichtweise also eine modifizierte Version des Kontraktualismus. Nachdem jetzt gezeigt ist, dass der zweite Einwand gegen den moralischen Kontraktualismus die Theorie zwar in ihrer originären, aber nicht in der dargestellten modifizierten Form trifft, gehe ich zum ersten Einwand zurück. Er ist, wie wir sehen werden, durchaus noch von Interesse.
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IV Der erste Einwand lautet, ein Vertrag sei doch nie geschlossen worden. Und deshalb könne die Legitimität moralischer Forderungen und das korrelierende Verpflichtetsein nicht durch einen Vertrag entstanden sein. Wir haben gesehen, dass ein Vertrag ohnehin nicht die Konstitution einer legitimen moralischen Ordnung erklären kann. Aber natürlich kann der erste Einwand statt nach der Wirklichkeit des Vertrages auch nach der Wirklichkeit der gemeinsamen Schaffung eines Sanktionensystems und der darin liegenden gegenseitigen Autorisierung fragen. Hat es denn eine solche gemeinsame Aktion unter Beteiligung aller Betroffenen faktisch gegeben? Sicher nicht. Und selbst wenn die Moral auf diese Weise entstanden sein sollte, wäre das für die Frage nach der Legitimität ihrer Forderungen ganz unwichtig. Denn wie ein Vertrag, den andere in der Vergangenheit geschlossen haben, jemanden, der heute lebt, nicht binden könnte, so könnte auch eine nicht-vertragliche wechselseitige Autorisierung, die andere in der Vergangenheit vorgenommen haben und durch die sie die Moral geschaffen haben, keine Verpflichtungen für die heute Lebenden schaffen. Eine moralische Forderung, die andere an mich richten, kann, so scheint es, nur dadurch verpflichtend sein, dass ich die anderen zu dieser Forderung autorisiert habe.Wie sich damit zeigt, präsentiert uns die modifizierte, „vertragsfreie“ Geschichte über den Ursprung der Moral zwar einen denkbaren, in sich schlüssigen Weg vom Naturzustand zur Moral, aber auf die Frage nach dem Grund der Legitimität gibt sie keine Antwort. Denn die moralischen Normen sind gewiss nicht in dieser Weise entstanden. Und selbst wenn es die entscheidende wechselseitige Autorisierung gegeben haben sollte, haben die jetzt Lebenden sie nicht vorgenommen. Auch die modifizierte Variante des Kontraktualismus führt also nicht zum Ziel. Man kann versuchen, diese Schwierigkeit durch eine weitere Modifikation zu überwinden: indem man die wechselseitige Autorisierung nicht als etwas Vergangenes und als etwas, durch das die Moral erst entsteht, denkt, sondern als etwas Gegenwärtiges und Fortwährendes. Wer an einer bereits vorgefundenen Moral und den entsprechenden Konventionen des Sanktionierens partizipiert, stimmt hiermit, so die Idee, stillschweigend der Sanktionspraxis und ihren Inhalten zu. Und er autorisiert damit implizit die anderen, in dieser Weise zu sanktionieren. Die Teilnahme und die darin liegende Zustimmung ist gleichsam eine nachträgliche Autorisierung, die die Sanktionspraxis nicht schafft, vielmehr eine bestehende Sanktionspraxis nachträglich legitimiert. Wenn und soweit also die, die von den Sanktionen betroffen sind, an der Sanktionspraxis teilnehmen und ihr durch ihre Partizipation zustimmen, handelt es sich um eine legitime moralische Ordnung. Die Legitimität der moralischen Ordnung wird auf diese Weise auch an eine faktische gegenseitige Autorisierung gebunden, aber an eine,
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die tatsächlich stattfindet und von denen vorgenommen wird, die hier und heute in dieser Ordnung leben. Doch auch dieser Lösungsvorschlag überzeugt nicht. Man hat gleich das Gefühl, dass hier etwas erschlichen wird. Dabei ist es durchaus einleuchtend, eine Zustimmung als rückwirkende Autorisierung zu verstehen. Doch was zählt hier als Zustimmung? Das Mitmachen bei einer Praxis, in die man hineingeboren und hineingewachsen ist, ist etwas anderes als eine Zustimmung, die aus der Erwägung verschiedener Möglichkeiten und der Überlegung, welche von ihnen am besten realisiert werden sollte, resultiert. Die meisten Menschen fügen sich mit ihrem Verhalten in die bestehende Ordnung ein, aber sie votieren damit nicht für diese Ordnung. Wir kennen aus der politischen Philosophie die schon bei Platon diskutierte Vorstellung, dass, wer nicht emigriert, obwohl die Gesetze dies (bei Mitnahme des Besitzes) zuließen, die politische Ordnung, in der er lebt, anerkennt und ihre Gebote als verpflichtend akzeptiert.⁸ Doch diese Idee ist nicht überzeugend, und sie hat nie überzeugt.⁹ In der Nicht-Emigration liegt kein positives Votum für die bestehende politische Ordnung. Wenn es so wäre, wären alle politischen Systeme, die es gegeben hat, auch die auf nackter Gewalt und Grausamkeit gegründeten, legitim gewesen. Und wenn die Partizipation an einer moralischen Praxis schon Zustimmung und Autorisierung bedeutete, wären alle moralischen Ordnungen, auch die erpresserischen, legitim gewesen. Man muss hier auch bedenken, dass es, wie wir sahen, zu einer etablierten Sanktionspraxis gehört, dass, wer nicht sanktioniert, seinerseits sanktioniert wird. Es gibt also einen sozialen Druck, zu sanktionieren und an der bestehenden Praxis teilzuhaben. Wenn es so ist, kann die Teilhabe aber nicht als legitimitätsstiftende Zustimmung verstanden werden. Eine solche Zustimmung findet also nicht statt, und damit scheitert auch diese Modifikation des Kontraktualismus.
V Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass die Legitimität und die verpflichtende Kraft moralischer Forderungen nicht aus einem Vertrag oder einer anderen Form der Autorisierung hervorgeht, und auch nicht aus einer nachträglichen Zustimmung. Diesen verschiedenen Konzeptionen ist die Idee gemeinsam, dass moralische Normen dadurch Legitimität besitzen, dass die von ihnen Betroffenen etwas tun, nämlich die Normen – auf die eine oder andere Weise – schaffen oder sich
8 Vgl. Platon, Kriton 51c–53a. 9 Vgl. z. B. Hume, Of the Original Contract, 475 f. oder Rawls, Political Liberalism, 222; dt. Politischer Liberalismus, 324.
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ihnen gegenüber in bestimmter Weise verhalten. Hobbes hat diese für den traditionellen, faktischen Kontraktualismus charakteristische Idee knapp und prägnant formuliert: „there being no Obligation on any man, which ariseth not from some Act of his own.“¹⁰ Wir haben jetzt gesehen, dass diese Auffassung sich in ihren verschiedenen Varianten als nicht überzeugend erwiesen hat. Die Legitimität moralischer Normen ist, wie ich sagen werde, keine Handlungs-Legitimität, keine Legitimität aus vorausgehenden oder nachfolgenden Handlungen. Sie ist vielmehr eine Seins-Legitimität. Damit ist gemeint, dass moralische Normen dadurch legitim sind, dass sie eine bestimmte Eigenschaft haben. Und dass sie dadurch erpresserisch oder despotisch sind, dass sie diese Eigenschaft nicht haben. Der moralische Kontraktualismus hat diese Lektion gelernt; er reagiert auf die Einsicht, dass die verschiedenen Konzeptionen einer Handlungs-Legitimität scheitern, indem er sich vom faktischen zum hypothetischen Kontraktualismus entwickelt. Kant hat hierzu den entscheidenden Anstoß gegeben; der Vertrag, so sagt er, sei nicht „als ein Faktum“ zu verstehen, sondern als „eine bloße Idee der Vernunft“.¹¹ Rawls hat die Gedankenfigur des hypothetischen Vertrages dann wirksam entfaltet und für die Moralphilosophie fruchtbar gemacht. Man mag versucht sein, in dem Übergang vom faktischen zum hypothetischen Kontraktualismus nur einen kleinen Schritt zu sehen. Doch in Wahrheit ist mit ihm ein Wechsel zu einer völlig anderen Konzeption der Legitimität und damit der Verpflichtung verbunden. Der modifizierte Kontraktualismus hat in Abhebung von der originären Theorieform bereits eine andere, nämlich nicht-vertragliche Konzeption der Verpflichtung entwickelt, aber auch er versteht wie der faktische Kontraktualismus insgesamt die Legitimität der moralischen Forderungen als Handlungs-Legitimität. Der hypothetische Kontraktualismus löst sich ganz von diesem Typ von Konzeption, er versteht die Legitimität moralischer Forderungen als Seins-Legitimität. Die Grundidee des hypothetischen Kontraktualismus besagt, dass eine moralische Norm dann legitim und verpflichtend ist, wenn sie so beschaffen ist, dass sich, ganz gleichgültig wie sie faktisch entstanden ist, denken lässt, dass sie aus einem Vertrag – oder auf andere, nicht-vertragliche Weise aus den Interessen der Betroffenen – hervorgegangen ist. Wenn sich denken lässt, dass die Personen, die von einer Norm betroffen sind, in einem noch vormoralischen Zustand im Blick auf ihre Interessen und rational überlegend diese Norm schaffen, ist die Norm ver-
10 Hobbes, Leviathan, ch. XXI, p. 150. 11 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 297.
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pflichtend und die entsprechende Forderung legitim. Der Weg vom Naturzustand zu der fraglichen Norm ist jetzt nur noch eine Imagination, ein Gedankenexperiment. Mit seiner Hilfe prüft man, ob die Norm eine bestimmte Eigenschaft hat oder nicht. – Der Unterschied zwischen den verschiedenen Ursprungsgeschichten der Moral – der Moralkonstitution durch einen Vertragsabschluss und der alternativen Geschichte einer „vertragsfreien“ Moralentstehung durch die Schaffung einer Sanktionspraxis – verliert, wie im Folgenden noch deutlicher wird, im jetzigen Kontext seine Bedeutung. Denn auch wenn man die knappere und eingängigere, auf den einen Punkt eines förmlichen Vertrages zentrierte Geschichte imaginiert (und über ihre innere Unplausibilität hinwegsieht), ist klar, dass die Legitimität der moralischen Normen nicht aus dem Vertrag kommt. Ein hypothetischer, nur imaginierter Vertrag kann naturgemäß keine reale Legitimität und keine realen Verpflichtungen schaffen, ein nur ausgedachter Vertrag kann niemanden binden. Verschiedene Autoren haben dies gegen den hypothetischen Kontraktualismus vorgebracht und immer wieder betont, dass ein hypothetischer Vertrag überhaupt kein Vertrag sei und deshalb auch keine wirklichen Pflichten und Rechte generiere.¹² Doch dieser Einwand trifft, so richtig das ist, was er sagt, den hypothetischen Kontraktualismus nicht. Dieser sieht die Quelle der Legitimität und der Verpflichtung nicht in einem Vertrag, der niemals abgeschlossen wurde. Der hypothetische Kontraktualismus versteht die Legitimität moralischer Normen überhaupt nicht als Handlungs-, sondern als Seins-Legitimität: Die moralischen Normen sind nicht verpflichtend, weil sie aus einem (imaginierten) Vertrag kommen, sie sind verpflichtend, weil sie so beschaffen sind, dass es sich denken lässt, dass sie aus einem Vertrag stammen. Der Vertrag als Legitimitätsund Verpflichtungsgenerator kommt im hypothetischen Kontraktualismus gar nicht mehr vor. Welche Eigenschaft ist es nun genau, die einer moralischen Norm Legitimität und verpflichtenden Charakter verleiht? Welche Eigenschaft hat eine Norm, wenn sich von ihr denken lässt, dass sie aus einem Vertrag hervorgegangen ist? Der Norm muss, so die Antwort, eine bestimmte Interessenkonfiguration, eine bestimmte Interessenlage bei den Betroffenen zugrunde liegen. Diese Interessenkonfiguration ist durch zwei Elemente bestimmt. Denken wir uns eine Zwei-Personen-Welt mit den Personen A und B. A hat das Interesse, von B nicht verletzt zu werden. Und B hat umgekehrt das Interesse, von A nicht verletzt zu werden. Wir haben hier wechselseitige, jeweils an den anderen gerichtete Interessen. Dies ist
12 Siehe Hampton, Political Philosophy, 65 f.; auch Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 33 f.; Bittner, Moralisches Gebot oder Autonomie, 71 f. sowie Dworkin, The Original Position, 17 f.
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das erste Element der Konfiguration. Das zweite Element besteht darin, dass es für A wichtiger ist, von B nicht verletzt zu werden, als selbst die Möglichkeit zu haben, B zu verletzen. Und dass es für B genauso ist. Durch diese beiden Elemente entsteht eine bestimmte Interessenkonfiguration, und wenn sie gegeben ist, ist die moralische Norm, die von A und B fordert, den anderen nicht zu verletzen, legitim und für A und B verpflichtend. Die Legitimität der Norm resultiert aus der Eigenschaft, einer Interessenkonstellation der geschilderten Art zu entsprechen. Es handelt sich um eine Seins-, nicht um eine Handlungslegitimität. Die Norm ist legitim, unabhängig davon, wie sie entstanden ist, und unabhängig davon, wie A und B sich ihr gegenüber verhalten. Offensichtlich ist die Norm aus der Perspektive von A vernünftig (gleichgültig ob er das realisiert); dass es sie gibt, entspricht seinen Interessen. Und sie ist auch aus der Perspektive von B vernünftig; dass es sie gibt, entspricht auch seinen Interessen. Die Norm ist zum gegenseitigen Vorteil. Dabei liegt die Norm deshalb und nur deshalb in As Interesse, weil sie auch für B gilt, und sie liegt nur deshalb in Bs Interesse, weil sie auch für A gilt. Die Norm hat also aus der Sicht beider eine „do, ut des“-Struktur. Keiner von beiden hätte ein Interesse an der Norm, wenn sie nicht auch für den anderen gälte. Hierin spiegelt sich, dass die Interessen, die der Norm zugrunde liegen, an den anderen gerichtete Interessen sind: A hat ein Interesse daran, dass ein anderer, eben B, bestimmte Handlungen unterlässt bzw. tut. B hat umgekehrt ein entsprechendes an A gerichtetes Interesse. Interessen dieser Art sind die eigentliche Quelle der Moral. Wenn die moralische Norm, die Verletzungshandlungen verbietet, aus der Perspektive von A und B vernünftig ist, heißt das, dass jeder der beiden Grund hat, dieser Norm zuzustimmen (wobei es gleichgültig ist, ob sie faktisch zustimmen oder nicht). Das kann man ihnen – mit Argumenten, die sie vernünftigerweise nicht zurückweisen können – zeigen. Dies bedeutet, dass diese Norm nicht erpresserisch ist, dass sie vielmehr, eben weil sie dies nicht ist, verpflichtend ist.Wer von A fordert, B nicht zu verletzen, und für den Fall des Anders-Handelns mit sozialen Sanktionen droht, bringt eine Norm zur Geltung, die im Interesse dessen liegt, an den sich die Forderung richtet. Erpresserisch wäre die Forderung, eine Verletzungshandlung zu unterlassen, dann, wenn sie sich an eine Person richtete, die nicht das Interesse hätte, von anderen nicht verletzt zu werden. Dies ist bei diesem Beispielfall auszuschließen, aber natürlich nicht bei allen. Eine legitime Ordnung verlangt also immer eine Homogenität der Interessen bei den Betroffenen. Die Inhalte der Moral sind an diese Homogenität zurückgebunden. Es ist leicht zu sehen, dass die beschriebene Interessenkonfiguration, die mit ihren verschiedenen Elementen einer Norm zugrunde liegen muss, um ihr Legitimität zu verleihen, eine Interessenkonfiguration genau von der Art ist, wie sie einem Vertrag vorausgeht. Wenn A und B einen Vertrag darüber schließen, sich
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gegenseitig bei der Getreideernte zu helfen, dann hat A das an B gerichtete Interesse an dessen Hilfe und B hat umgekehrt das entsprechende an A gerichtete Interesse. Dies ist das erste Element. Und außerdem ist es, das ist das zweite Element, A wichtiger, die Hilfe von B zu bekommen, als selbst nicht helfen zu müssen. Und B hat umgekehrt dieselbe Präferenz. Wir haben hier genau die einschlägige Interessenordnung mit den zwei charakteristischen Elementen. Dies vor Augen wird klar, welche Funktion die Rede vom Vertrag im hypothetischen Kontraktualismus noch hat: Der Vertrag veranschaulicht eine bestimmte Interessenkonfiguration, eben die, die die Legitimität einer moralischen Norm begründet. Wenn sich denken lässt, dass die moralische Norm, Verletzungshandlungen zu unterlassen, aus einem Vertrag zwischen A und B hervorgegangen ist, dann heißt dies, dass dieser Norm die entsprechende Interessenordnung zugrunde liegt und dass sie aus diesem Grunde legitim ist. Der imaginierte Vertrag ist also nur ein Indikator einer bestimmten Interessenkonfiguration, mehr nicht. Natürlich ist er in dieser Funktion entbehrlich; was zählt, ist die Interessenlage.
VI Im Licht der vorangegangenen Überlegungen tritt deutlich hervor, dass die Idee des Vertrages im traditionellen Kontraktualismus immer zwei Kernaussagen transportierte, von denen allerdings stets nur eine im Vordergrund stand, während die andere, obwohl sie wesentlich die Attraktivität des Vertragsdenkens mit ausmachte, merkwürdig unausdrücklich und im Hintergrund blieb. Die Kernaussage, auf die immer geschaut wurde, war die Aussage, dass die moralische Verpflichtung eine vertragliche Verpflichtung sei. Die Idee des Vertrages erklärte den Ursprung und die Art der moralischen Verpflichtung. Die andere Kernaussage war die Aussage, dass die richtige Moral eine interessenfundierte Moral ist, eine Moral, die den gegenseitigen Interessen der Beteiligten entspricht und zu ihrem gegenseitigen Vorteil ist. Diese Aussage war mit der Idee des Vertrages verbunden, weil ein Vertrag aus den gegenseitigen Interessen der Vertragsparteien resultiert und zu ihrem gegenseitigen Vorteil ist. Die Anziehungskraft und Suggestivität der kontraktualistischen Theorie lag gerade darin, dass sie die Moral als etwas präsentierte, das einerseits aus den Interessen der Menschen kommt und zu ihrem Vorteil ist und andererseits doch verpflichtenden Charakter hat. Die für jede Konzeption einer rationalen Moral zentrale Frage, wie ein in den Interessen der Beteiligten fundiertes und damit prudentielles System von Regeln zugleich verpflichtend sein kann, schien hier durch die eine Idee des Vertrages auf eine überzeugende, ja geradezu zwingende Weise beantwortet zu werden. – Wir wissen
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allerdings, dass diese Antwort das Problem nur scheinbar löst. Denn die Idee, ein Vertrag sei die Quelle der moralischen Verpflichtung, scheitert, wie wir sahen. In einem Naturzustand, in dem es noch keine Verpflichtungen gibt, kann es keine Verträge geben. Und ein bloß hypothetischer Vertrag kann naturgemäß keine reellen Verpflichtungen generieren. Der Vertrag spielt als Verpflichtungsgenerator in einem über sich selbst aufgeklärten Kontraktualismus keine Rolle mehr. Man könnte vielleicht meinen, dass ein Kontraktualismus, der in dieser Weise die Hälfte seines ursprünglichen Aussagegehalts einbüßt, die Frage nach dem Ursprung und der Art der moralischen Verpflichtung offen lässt und sich auf die Aussage beschränkt, die richtige Moral sei eine Moral, die einer bestimmten Interessenlage der Betroffenen entspricht. Aber das wäre ein Irrtum. Denn die moralischen Normen sind, wie wir sahen, gerade dadurch verpflichtend, dass ihnen jeweils die entsprechende Interessenkonstellation zugrunde liegt. Es ist nicht so, dass ihnen die Interessen der Betroffenen zugrunde liegen und sie dann noch aus einem anderen Grunde verpflichtend sind. So dachte es der traditionelle Kontraktualismus. Hier waren der Interessenbezug der Moral und ihr verpflichtender Charakter zwei distinkte Elemente. Im hypothetischen Kontraktualismus konstituiert hingegen der Interessenbezug gerade den verpflichtenden Charakter der moralischen Normen. Denn der Bezug auf die Interessen bedeutet, dass die Normen nicht erpresserisch sind, und weil sie dies nicht sind, sind sie verpflichtend. Und die moralische Gemeinschaft ist deswegen berechtigt, diese Normen zu setzen und entsprechende moralische Forderungen an ihre Mitglieder zu richten. Es ist wichtig, sich den entscheidenden Punkt: dass der Interessenbezug selbst den verpflichtenden Charakter der moralischen Normen konstituiert, ganz klar zu machen.Wie wir sahen, setzt die moralische Gemeinschaft Normen, indem sie das Anders-Handeln sozial sanktioniert. Das moralische Müssen ist ein durch Sanktionen konstituiertes Müssen. Die Normativität, also die Tatsache, dass man die Handlung x tun muss, fließt daraus, dass, x nicht zu tun, unweigerlich soziale Sanktionen nach sich zieht.¹³ Zu dieser Normativität kommt dadurch, dass das moralische Müssen ein verpflichtendes Müssen ist, nicht noch eine zweite, verpflichtende Normativität hinzu.Was hinzu kommt, ist, dass der Norm, x zu tun, die geschilderte Interessenkonfiguration bei den von der Norm Betroffenen zugrunde liegt und dass die Norm deshalb aus der Perspektive jedes Betroffenen vernünftig ist. Aus diesem Vernünftigsein entspringt aber nicht so etwas wie eine zusätzliche bindende Kraft oder etwas anderes Mysteriöses dieser Art. Der Normativität, die aus den sozialen Sanktionen kommt, wird, wie gesagt, nicht noch eine zweite,
13 Vgl. hierzu eingehender Vf., Handeln zugunsten anderer, 91– 105.
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anders geartete Normativität hinzugefügt. Die sanktionskonstituierte Normativität ist vielmehr – wenn der durch die Sanktionierung entstehenden Norm die einschlägige Interessenkonfiguration unterliegt – die verpflichtende Normativität. Das verpflichtende Müssen ist somit ein prudentielles Müssen, und zwar ein sanktionskonstituiertes, also ein durch Menschen gesetztes, künstlich etabliertes Müssen, das nicht erpresserisch ist, vielmehr den Interessen der Betroffenen entspricht. Die verpflichtende Normativität ist also nicht eine Normativität eigener Art neben der prudentiellen Normativität, sie ist vielmehr eine spezifische Art der prudentiellen Normativität. Man muss den Mythos von einer eigenen bindenden Kraft der Verpflichtung aufgeben.¹⁴ Wie sich zeigt, gelingt es dem hypothetischen Kontraktualismus, den verpflichtenden Charakter moralischer Normen und die Legitimität moralischer Forderungen verständlich zu machen. Das Argument, wenn er den Vertrag zu einem Teil einer zwar nützlichen, aber durchaus entbehrlichen Imagination mache, könne er den verpflichtenden Sinn moralischer Normen nicht rekonstruieren¹⁵, geht ins Leere. Dieses Argument basiert, wie ich meine, seinerseits auf einer unaufgeklärten Vorstellung davon, was die Legitimität moralischer Forderungen und das Verpflichtende moralischer Normen konstituiert.
VII Nachdem nun geklärt ist, wie der hypothetische Kontraktualismus die Moral versteht, ist ohne Mühe zu erkennen, dass er von keinem der beiden Einwände gegen den ursprünglichen Kontraktualismus getroffen wird. Der Einwand der Zirkularität bzw. des infiniten Regresses trifft ihn offenkundig nicht. Und der Einwand, dass die legitimitätsstiftenden Akte nicht stattgefunden haben, trifft ihn auch nicht, weil er die Legitimität der moralischen Forderungen gar nicht als Handlungs-Legitimität deutet. Die Unterschiede, die den hypothetischen Kontraktualismus von der originären Form der Theorie trennen, sind also groß genug, um ihn den Einwänden zu entziehen; sie sind aber nicht groß genug, um ihn der vier oben genannten Vorzüge der kontraktualistischen Position zu berauben. Auch der hypothetische Kontraktualismus kann, wie ich abschließend festhalten will, diese Vorzüge für sich verbuchen:
14 Hierzu ausführlicher Vf., Der Begriff der moralischen Pflicht, in diesem Band. 15 So etwa Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 33 f.; auch Habermas, „Vernünftig“ versus „Wahr“ oder die Moral der Weltbilder, 101; ders., Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, 28.
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Der hypothetische Kontraktualismus macht keine Aussagen über die Genese der Moral. Aber natürlich sieht er in der Moral etwas, was den Interessen der Menschen dient und was nur im Rückgriff auf diese Interessen begründbar ist. Und nicht im Rekurs auf die Natur oder höhere Mächte. Der hypothetische Kontraktualismus macht verständlich, dass die Moral im Interesse der einzelnen Individuen ist, obwohl sie doch von ihnen etwas fordert, was sie andernfalls vielleicht nicht tun würden. Er löst diese scheinbare Widersprüchlichkeit durch seine Kernthese, dass eine moralische Norm eben dadurch Teil einer legitimen Moral ist, dass sie der einschlägigen Interessenkonfiguration entspricht. Tut sie dies, ist sie im Interesse eines jeden, obwohl sie jedem Freiheitsbeschränkungen auferlegt. Denn es gehört, wie wir sahen, zu der Interessenkonfiguration, dass As Interesse daran, dass B die Handlung x tun (oder lassen) muss, größer ist als das Interesse, selbst ungebunden zu sein und x nicht tun (oder lassen) zu müssen. A ist, mit anderen Worten, bereit, das eigene Gebundensein hinzunehmen, wenn dies die Bedingung dafür ist, dass B in derselben Weise gebunden ist. Tatsächlich ist dies die Bedingung; denn die Norm gilt für A und für B. Eine Norm, die nur für B gälte, wäre aus der Sicht von B nicht vernünftig, und eine Norm, die nur für A gälte, wäre aus der Sicht von A nicht vernünftig. Eine Norm, die für beide vernünftig ist, kann nur eine Norm sein, die für beide gilt, so dass jeder, wenn er die Norm und damit die Bindung des anderen will, das eigene Gebundensein als den unvermeidlichen Preis bezahlen muss. – Man kann diesen Punkt kurz auch so fassen: Die Interessen, die einer legitimen moralischen Norm zugrunde liegen, weisen eine „do, ut des“-Struktur auf. Und diese Struktur lässt sogleich erkennen, dass die Moral jedem etwas nimmt, damit sie ihm das geben kann, was er eigentlich und am stärksten will, nämlich dass der andere bestimmten Handlungsbeschränkungen unterliegt. Die Interessen, die die eigentliche Basis der Moral ausmachen, sind, so haben wir gesagt, an andere gerichtete Interessen. Auch der hypothetische Kontraktualismus kann, wie gezeigt, den verpflichtenden Charakter moralischer Normen erklären. Er erklärt ihn indes signifikant anders als der faktische Kontraktualismus. Die Normen sind nicht dadurch verpflichtend, dass die von ihnen Betroffenen sie schaffen oder ihnen zustimmen, sondern dadurch, dass sie den – in bestimmter Weise konfigurierten – Interessen der Betroffenen entsprechen. Tun sie dies, hat jeder Grund, ihnen zuzustimmen. Dies berechtigt, wie ich meine, dazu, das verpflichtende Müssen auch in dieser Konzeption „autonom“ und „selbstgewollt“ zu nennen. Es sind die eigenen Interessen, an denen sich bemisst, ob die moralischen Normen verpflichtend sind oder nicht. Die Verknüpfung des
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Pflichtbegriffs mit dem der Autonomie bleibt also gewahrt, trotz der ganz anderen Legitimitätskonzeption. Der hypothetische Kontraktualismus bietet ein klares Kriterium für die Unterscheidung einer legitimen moralischen Ordnung von erpresserischem Zwang: Legitim ist eine Ordnung, soweit die moralischen Normen der geschilderten Interessenkonfiguration entsprechen.
Wie wir sehen, erbringt der hypothetische Kontraktualismus alle Leistungen, die den faktischen Kontraktualismus auszeichnen. Er bietet, so können wir resümieren, eine interessenfundierte Moralkonzeption, die als solche von religiösen und metaphysischen Annahmen unabhängig ist und die dennoch unsere tiefverwurzelte Überzeugung, dass der Kern der Moral moralische Rechte, moralische Pflichten und moralische Forderungen sind, zu bestätigen und verständlich zu machen vermag.
2 Der Begriff der moralischen Pflicht I Die Idee der Pflicht ist für das, was wir „Moral“ nennen, konstitutiv. Moralische Normen sind, so unsere Überzeugung, verpflichtend. Hätten sie diesen Verpflichtungscharakter nicht, wären sie keine moralischen Normen. Wer verstehen will, was wir „Moral“ nennen und was die spezifisch moralische Normativität ausmacht, muss sich also über den Begriff der Pflicht und des Verpflichtetseins klar werden. In der Gegenwartsphilosophie gibt es zu diesem Thema freilich nur ganz wenige Arbeiten. Man hat vielfach die Vorstellung, der Pflichtsbegriff sei ein Relikt einer theonomen und damit autoritären Auffassung der Moral, in einer aufgeklärten Moral könne er keine Funktion mehr haben. Hinzu kommt, dass die Idee der Verpflichtung Bilder einer bindenden Kraft, eines fesselnden Bandes und des Gebunden- und Angebundenseins wachruft. Dies hat verschiedentlich den Verdacht entstehen lassen, mit dem Verpflichtungscharakter werde moralischen Normen eine irgendwie übernatürliche oder magische Kraft zugesprochen, – ebenfalls eine Vorstellung, die in einer aufgeklärten Moral keinen Platz haben kann. Ich halte diese Vorbehalte für oberflächlich, sie stützen sich nicht auf eine ausreichend gründliche Analyse der Funktion des Pflichtbegriffs. Ein Indiz für diese Diagnose ist, dass sich die Vorbehalte nicht ebenso auf den Begriff des moralischen Rechts beziehen. Obwohl doch die Begriffe der moralischen Pflicht und des moralischen Rechts unlösbar miteinander verbunden sind: Wenn die Person A die moralische Pflicht hat, der Person B gegenüber x zu tun (oder zu unterlassen), dann hat B gegenüber A das moralische Recht auf x, und umgekehrt. Wer die These vertritt, der Begriff der moralischen Pflicht sei ein Relikt einer unaufgeklärten, auf religiösen oder anderen metaphysischen Prämissen fußenden Moral, muss dasselbe für den Begriff des moralischen Rechts behaupten.Wer aber den einen Begriff für gerechtfertigt hält, hat das damit auch für den anderen zugestanden. Tatsächlich bietet, wer eine Konzeption der moralischen Verpflichtung entfaltet, damit zumindest indirekt auch eine Theorie moralischer Rechte. Ich werde mich im Folgenden freilich darauf beschränken, das Thema allein von der Seite des Verpflichtetseins aus zu untersuchen, und alle ausdrücklichen Bezüge auf die Frage der moralischen Rechte beiseite lassen.¹ Vorab möchte ich kurz daran erinnern, was die Funktion eines Begriffs ist.Wer einen Begriff verwendet, will damit in einem Feld gleichartiger Phänomene einen Unterschied markieren, einen Unterschied, der so wichtig ist, dass es, um ihn
1 Vgl. aber Vf., Moralische Rechte als soziale Artefakte, in diesem Band.
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sichtbar und fassbar zu machen, eben eines eigenen dazu bestimmten Begriffs bedarf. Man definiert einen Begriff darum nach alter Lehre durch die Angabe des genus proximum und der differentia specifica. Wenn wir erkennen wollen, welche Funktion der Begriff der moralischen Pflicht hat, müssen wir also nach dem Unterschied suchen, der das Verpflichtetsein von anderen gleichartigen Phänomenen unterscheidet, und verstehen, warum, diesen Unterschied zu markieren, für uns so wichtig ist, dass wir dafür einen eigenen Begriff geschaffen haben.
II Es dürfte zunächst unkontrovers sein, dass das Verpflichtetsein ein praktisches Müssen ist.Wer verpflichtet ist, x zu tun, muss x tun. Es besteht, wie Kant zu Recht sagt², eine „praktische Notwendigkeit“, x zu tun. Das praktische Müssen ist also eines der Genera, unter die das Verpflichtetsein fällt, freilich, wie wir sehen werden, nicht das genus proximum.Was heißt es nun, etwas praktisch zu müssen? Worin gründet eine praktische Notwendigkeit? Hier beginnen die Kontroversen. Kant hat die Auffassung vertreten, neben dem bedingten, auf ein Wollen dessen, der muss, bezogenen Müssen gebe es ein unbedingtes, von jedem Wollen unabhängiges, in diesem Sinne „absolutes“ praktisches Müssen. Und das moralische Verpflichtetsein sei ein absolutes Müssen dieser Art, ein, wie Kant auch sagt, kategorisches Müssen. Die Idee eines solchen Müssens ist von vielen Philosophen bejaht und aufgegriffen, von mindestens ebenso vielen jedoch abgelehnt und verworfen worden. Tatsächlich konnte sie, wie ich meine, niemals befriedigend expliziert werden. Meiner Auffassung nach gibt es ein solches absolutes praktisches Müssen nicht; es ist nur ein Konstrukt, – geboren aus dem Bestreben, die anti-eudaimonistische Stoßrichtung des Pflichtbegriffs konsequent zur Geltung zu bringen.³ Als es zu Beginn der Neuzeit, speziell im 17. Jahrhundert nicht mehr überzeugte, das moralische Müssen – wie es die eudaimonistische Ethiktradition und auch die insoweit selbst eudaimonistische christlich-theonome Ethik tat – als glücksrelatives Müssen zu verstehen, wurde es nötig, für das moralische Handeln ein anderes Müssen zu suchen, ein verpflichtendes Müssen, das zum moralischen Handeln nötigt, gleichgültig ob es den eigenen Interessen, Absichten und Neigungen entspricht, gleichgültig welchen individuellen Lebenszielen und Glücksvorstellungen man folgt. Dieses Element des Kategorischen gehört nach dem Niedergang der eudaimonistischen Ethik wesentlich zu unserem Begriff der Moral. Und gewiss wird keine Theorie der moralischen Verpflichtung Zustimmung
2 Vgl. z. B. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 425; Die Metaphysik der Sitten, 224. 3 Vgl. zur Begründung Vf., Handeln zugunsten anderer, 63 – 66.
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finden, die dieses Element nicht verständlich zu machen vermag. Kant ist hier freilich einen extremen Weg gegangen, der ihn nur zu etwas von ihm selbst Erfundenem führte. Das von jedem Wollen unabhängige, gewissermaßen „freistehende“ Müssen, von dem er spricht, ist nur die Erfindung eines Philosophen, der in der Wirklichkeit nichts entspricht. Das praktische Müssen ist, so meine Sicht, generell relativ auf ein Wollen dessen, der muss. Es ist generell von der Struktur: Wenn Paul den Mittagszug erreichen will, muss er jetzt aufbrechen. Das praktische Müssen gründet hier darin, dass Paul den Mittagszug erreichen will und dass, jetzt aufzubrechen, das einzige Mittel ist, das Ziel zu erreichen. Wenn Paul dieses Ziel nicht hätte oder wenn es eine Möglichkeit gäbe, noch zu bleiben und dennoch den Zug zu erreichen, müsste er natürlich nicht aufbrechen. Das Müssen, vor dem Paul steht, ist kein determinierendes Müssen; Paul hat durchaus die Freiheit, noch zu bleiben. Nur muss er dann unweigerlich die negative Konsequenz hinnehmen, sein Ziel nicht zu erreichen. Die Unausweichlichkeit der negativen Konsequenz im Falle des Anders-Handelns konstituiert das praktische Müssen. X tun zu müssen, bedeutet folglich, dass, x nicht zu tun, unweigerlich eine negative Konsequenz nach sich zieht.
III Dies vorausgesetzt, ist innerhalb des praktischen Müssens eine wichtige Unterscheidung zu machen. Die Verbindung einer Handlung mit einer negativen Konsequenz kann von der Art sein, dass sich die negative Konsequenz „von selbst“: aufgrund von Naturgesetzen oder aufgrund der gegebenen Konstellation der Umstände einstellt. Wenn Inge eine bestimmte Gymnastik machen muss, um nach ihrer Verletzung wieder ungehindert Tennis spielen zu können, sie die Gymnastik aber nicht macht, stellt sich die negative Konsequenz einer zurückbleibenden Beeinträchtigung von selbst: aufgrund medizinischer Fakten, also letztlich aufgrund von Naturgesetzen ein. Und im Falle von Paul ergibt sich aus der Konstellation der Umstände, aus dem Fahrplan, aus seinem Aufenthaltsort, aus der Zeit, die man braucht, um von dort zum Bahnhof zu kommen, etc., dass, jetzt nicht zu gehen, unweigerlich das Verpassen des Zuges nach sich zieht. Anders ist es, wenn man die Handlung x absichtlich zu etwas macht, was man tun muss, indem man, x zu unterlassen, künstlich mit einer negativen Konsequenz verknüpft. So macht man, jemandem in einer Notsituation zu helfen, zu etwas „Gemusstem“, indem man die Unterlassung der Hilfeleistung künstlich mit einer negativen Konsequenz, etwa mit einer Strafe, verknüpft. Jemandem nicht zu helfen, ist nicht „von selbst“ mit einer negativen Konsequenz verbunden. So wäre es, wenn durch
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eine kosmische Ordnung bestimmt wäre, dass, wer in einer Notsituation nicht hilft, von einer schweren Krankheit befallen wird. Tatsächlich aber ist die Strafe, die den trifft, der die Hilfeleistung unterlässt, eine künstlich geschaffene negative Konsequenz, geschaffen in der Absicht, die Hilfeleistung zu etwas zu machen, was man tun muss. Negative Konsequenzen dieser Art sind Sanktionen. Und das praktische Müssen, das durch sie künstlich geschaffen wird, ist ein sanktionskonstituiertes Müssen. Das moralische Müssen, das moralische Verpflichtetsein ist, wie ich meine, ein sanktionskonstituiertes Müssen. Die negativen Konsequenzen, die dieses Müssen konstituieren, sind nicht „von Natur aus“ oder infolge gegebener Umstände mit dem Anders-Handeln verbunden. Das moralische Müssen ist vielmehr ein künstlich geschaffenes Müssen, ein Müssen, das dadurch entsteht, dass das Anders-Handeln absichtlich mit negativen Konsequenzen, sprich: mit Sanktionen verbunden wird. Die moralkonstituierenden Sanktionen sind informelle soziale Sanktionen, sozialer Druck, dem der, der sich unmoralisch verhält, unweigerlich ausgesetzt ist.⁴ Es ist klar, dass diese Zuordnung des moralischen Müssens (vor allem, wenn man sie, wie ich es hier getan habe, nur mit wenigen Strichen skizziert) Einwände auf sich zieht. Dabei zielen die Einwände gar nicht primär auf die spezielle These, das moralische Müssen sei sanktionsbedingt, sondern eher auf die allgemeinere Annahme, es sei wie das praktische Müssen generell ein bedingtes oder, wie Kant sagt, hypothetisches Müssen. Hier stellt sich als erstes die Frage, wie eine solche Auffassung die Vorstellung von der Kategorizität des moralischen Müssens einzufangen vermag. Wie wir sahen, gehört zur Idee des moralischen Verpflichtetseins die Vorstellung, dass, wer zu etwas moralisch verpflichtet ist, es tun muss, gleichgültig was seine Neigungen, Absichten und Interessen sind. Wie also passt es zusammen, dass das moralische Müssen einerseits ein verpflichtendes, in dem genannten Sinn kategorisches und andererseits doch ein bedingtes und relatives Müssen ist? Eine andere Frage kommt hinzu: Das praktische Müssen ist, wenn es ein bedingtes Müssen ist, ein prudentielles oder, wie man auch sagen kann, rationales Müssen.Wenn Inge die Gymnastik machen muss, um wieder ganz gesund zu werden, ist es rational (im Sinne von: rational zwingend), die Gymnastik zu
4 Vgl. hierzu ausführlicher ebd., 91– 105. – Die Auffassung, das moralische Müssen sei ein sanktionskonstituiertes Müssen, hat eine lange und bedeutende Tradition hinter sich. Sie ist freilich durch Kants Moraltheorie weitgehend verdeckt worden. Einen Ausschnitt dieser Tradition zeigen die folgenden Ausführungen zu Lockes Theorie der moralischen Verpflichtung. Vgl. hierzu auch Hacker, Sanction Theories of Duty. – Zuletzt hat besonders E. Tugendhat das moralische Müssen als ein sanktionsbedingtes Müssen gedeutet (vgl. Vorlesungen über Ethik, 43, 48, 59; Probleme der Ethik, 74 f., 132).
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machen. Macht sie die Gymnastik nicht,verhält sie sich irrational. Etwas praktisch zu müssen, heißt also immer, dass es rational zwingend ist, es zu tun. Wenn das moralische Müssen ein bedingtes und damit prudentielles Müssen ist, bedeutet, sich unmoralisch zu verhalten, demnach, sich irrational zu verhalten. Wir reagieren allerdings, wenn jemand ein moralisches Unrecht tut, ganz anders. Wir nehmen nicht an, dass er einfach eine Irrationalität begeht. Er macht vielmehr einen Fehler anderer Art, einen Fehler, auf den wir stärker reagieren, weil er für uns von anderer Bedeutung ist.Wir können das Charakteristische dieser Situation gut fassen, indem wir sagen, dass er eben nicht bloß eine Irrationalität begeht, sondern gegen eine Pflicht verstößt. Und darauf reagieren wir mit moralischer Empörung. Diese Reaktion ist hingegen unangebracht, wenn jemand sich bloß unklug und damit zu seinem eigenen Nachteil verhält. Wie also ist die Besonderheit des moralischen Fehlverhaltens zu verstehen, wenn das moralische Müssen als bedingtes und damit als prudentielles Müssen verstanden wird? Ich werde diese Fragen nicht direkt angehen. Wir werden sehen, ob sie durch die folgende Analyse des moralischen Verpflichtetseins mitbeantwortet werden oder ob es zu ihrer Beantwortung weiterer Untersuchungen bedarf. – Ein wichtiger Punkt aber sollte an dieser Stelle herausgestellt werden: Eine Sanktionstheorie des moralischen Müssens greift die anti-eudaimonistische Intention des Pflichtbegriffs sehr genau auf und entfaltet sie. Denn eine Theorie dieser Art resultiert ja gerade aus der Einsicht, dass sich die Notwendigkeit moralischen Handelns nicht „von selbst“ ergibt. Sie ergibt sich nicht, wie es die eudaimonistische Ethik annahm, daraus, dass moralisches Handeln – gleichsam durch die Natur bestimmt – notwendige Bedingung des für alle Menschen gleichen Glücks ist. Dieses eine wahre Glück für alle gibt es nicht. Und deshalb kann das moralische Müssen kein Müssen sein, das durch den Glücksbezug für alle einfach „da“ ist. Es muss vielmehr ein künstlich geschaffenes Müssen sein, das durch die Androhung von für diesen Zweck eigens geschaffenen Sanktionen möglichst alle, und zwar unabhängig von ihren individuellen Lebenszielen und Glücksvorstellungen, dazu nötigt, sich moralisch zu verhalten. Eine Sanktionstheorie des moralischen Müssens ist also wie die Kantische Konzeption, nur auf ganz andere Weise, eine nach-eudaimonistische Theorie des Moralischen. Das moralische Müssen muss künstlich geschaffen werden, gerade weil moralisches Handeln und die individuellen Neigungen, Interessen und Glücksvorstellungen nicht unbedingt auf einer Linie liegen.
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IV Wenn wir einen Schritt weitergehen, müssen wir als Nächstes festhalten, dass nicht jedes sanktionskonstituierte Müssen ein verpflichtendes Müssen ist. Das durch Sanktionen konstituierte Müssen ist nur das genus proximum, innerhalb dessen das verpflichtende Müssen durch die Angabe der differentia specifica auszugrenzen ist. Dass nicht jedes sanktionskonstituierte Müssen verpflichtend ist, zeigt leicht die Situation, in der ein Straßenräuber einem Passanten die Pistole vorhält und mit den Worten „Geld ’raus, oder es knallt!“ die Herausgabe des Geldes fordert. Der Passant muss, wenn er nicht Gefahr laufen will, erschossen zu werden, das Geld herausgeben. Er steht unter einem praktischen „Muss“, und dieses Müssen ist klarerweise sanktionskonstituiert. Es ist aber ebenso klar nicht verpflichtend. Der Passant wird, wenn er vernünftig ist, das Geld herausgeben, aber er ist dazu in keiner Weise verpflichtet. Das Müssen,vor dem der Passant steht und das der Straßenräuber durch die Drohung mit der Pistole künstlich schafft, ist ein erpresserisches Müssen. – Meine These wird im Folgenden sein, dass der Pflichtbegriff die spezielle Funktion hat, ein Müssen auszugrenzen, das nicht erpresserisch ist, sondern eine Eigenschaft aufweist, infolge deren es verpflichtend ist. Die Funktion des Pflichtbegriffs ist gerade die Abgrenzung gegenüber dem Erpresserischen. Hierfür ist er über Jahrhunderte verwandt worden. Und hierin liegt nach wie vor, auch in einer aufgeklärten Moral, seine Bedeutung. Von welcher Art ist nun positiv dieses andere, nicht-erpresserische Müssen? Welche Merkmale weist es auf? Ich will diese Frage in drei Schritten beantworten. Zunächst werde ich zeigen, wie der Begriff der moralischen Pflicht in einer theonomen Moralkonzeption gefasst worden ist und welche Funktion er hier erfüllt (V), dann wie der parallele Begriff der rechtlichen Pflicht verstanden wird und welche Funktion ihm zukommt (VI–VII), um schließlich im dritten Schritt zu zeigen, wie in einer aufgeklärten Moralkonzeption das moralische Verpflichtetsein verstanden werden kann (VIII–XIII).
V Ein aufschlussreiches Beispiel für eine theonome Moral ist Lockes Moralphilosophie. Gott ist bei Locke der Dreh- und Angelpunkt der Moral. Die moralischen Regeln kommen, so Locke, von Gott; sie sind Ausdruck seines Willens. Er gibt sie den Menschen in Form moralischer Gesetze. Gott ist der „supremus legislator“, der höchste Gesetzgeber.⁵ Seine Gesetze gebieten den Menschen Handlungen, die zu 5 Vgl. Essays on the Law of Nature, 110. – Die Essays sind eine Sammlung von acht Traktaten in
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tun für sie nicht unbedingt angenehm ist und die nicht unbedingt mit ihren Neigungen, Interessen und ihrem Glücksstreben harmonieren. Mit der Diagnose dieses Konfliktes von Moral und Interesse erweist sich Locke, trotz der theologischen Fundierung seiner Moralphilosophie, als Vertreter einer modernen Moralkonzeption. Er geht nicht von einer prästabilisierten, metaphysisch gesicherten Harmonie zwischen dem aus, was man moralischerweise tun muss, und dem, was die einzelnen Menschen im Blick auf ihr eigenes, individuell bestimmtes Wohl tun wollen. Es gibt hier vielmehr Konflikte. Ist es so, stellt sich die Frage, warum man im Konfliktfall den moralischen Gesetzen gehorchen soll. Hier ist daran zu erinnern, dass Locke die subjektivistische und hedonistische Wert- und Motivationstheorie seines Vorgängers Hobbes teilt. „Good and Evil … are nothing but Pleasure or Pain, or that which occasions, or procures Pleasure or Pain to us.“⁶ Motive rationalen Handelns sind ausschließlich auf das eigene Wohl, auf eigene Neigungen und Präferenzen bezogen. Warum aber dann moralischen Gesetzen gehorchen, – wenn sie doch Handlungen verlangen, die nicht angenehm sind und nicht in der Spur des eigenen Glücksstrebens liegen? Lockes Antwort besagt, dass die Gesetze Gottes – wie auch alle anderen Gesetze – nur dadurch wirksam werden, dass sie mit Sanktionen verknüpft sind, die den treffen, der gesetzeswidrig handelt. Gesetze ohne Sanktionen sind bedeutungslos.⁷ Der Konflikt zwischen Moral und Interesse wird durch Sanktionen, also durch künstlich bestimmten Handlungen angeheftete negative (oder auch positive) Konsequenzen gelöst. Durch die Sanktionen wird das moralische Handeln künstlich zu etwas gemacht, was doch im Interesse des Handelnden liegt.⁸ Allein die Sanktionen machen es also vernünftig, gesetzeskonform zu handeln. Die Gesetze als solche, unabhängig von den Sanktionen, haben keine motivierende Kraft. Das gilt auch für die göttlichen Gesetze. Gott gibt den Menschen erst durch die Etablierung der
lateinischer Sprache, die zwischen 1661 und 1664 entstanden sind und vermutlich nicht zur Publikation bestimmt waren. Nach der Edition von v. Leyden (1954) ist 1990 unter dem Titel Questions Concerning the Law of Nature eine weitere Ausgabe und Übersetzung ins Englische von R. Horwitz, J. Strauss Clay und D. Clay erschienen. Ich zitiere nach der Ausgabe von v. Leyden. – Vgl. zu den Essays den instruktiven Aufsatz von Specht, John Lockes frühe Schrift über das Gesetz der Natur. 6 An Essay Concerning Human Understanding II, xxviii, § 5, p. 351. Schneewind notiert, Lockes einschlägige Aussagen zusammenfassend, „pleasure“ sei „simply a stand-in for ‘whatever you incline toward or prefer’.“ Vgl. Schneewind, The Invention of Autonomy, 143. 7 Vgl. Essay I, iii, § 12, p. 74; II, xxviii, § 6, p. 351; vgl. auch Essays, 174. 8 Die Künstlichkeit des von den Sanktionen ausgehenden Handlungsdrucks stellt Locke heraus, wenn er sagt, eine Sanktion sei nicht „the natural product and consequence of the Action it self“. Vgl. Essay II, xxviii, § 6, p. 352.
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Sanktionen Gründe, seinen Gesetzen zu gehorchen und damit moralisch zu handeln. Wir können, wenn wir Lockes Theorie so weit übersehen, feststellen, dass Locke das moralische Müssen eindeutig als ein sanktionskonstituiertes Müssen konzipiert. Das Müssen liegt darin, dass man, wenn man anders als „gemusst“ handelt, unausweichlich eine künstlich geschaffene negative Konsequenz hinnehmen muss. Das moralische Müssen ist damit als ein prudentielles (oder rationales) Müssen gedeutet. Es ist angesichts der Sanktionen rational zwingend, moralisch zu handeln. Es nicht zu tun, wäre irrational. Das moralische Müssen ist also bei Locke kein Müssen sui generis neben dem rationalen Müssen, es ist vielmehr eine besondere Art des rationalen Müssens. Dass man zu einer Handlung verpflichtet ist, heißt, dass es in bestimmter Weise rational zwingend ist, sie zu tun. Wäre mit den vorangegangenen Darlegungen Lockes Moralphilosophie, zumindest im Grundriss, vollständig skizziert, müsste man sagen, dass in ihr Gott den Menschen gegenüber strukturell dieselbe Position einnimmt wie der Straßenräuber dem Passanten gegenüber.Wie der Straßenräuber aufgrund der Pistole (und der Bereitschaft, sie entsprechend zu benutzen) die Macht hat, ein bestimmtes Handeln mit einer Sanktion zu verknüpfen, und so den Passanten zwingt, das Geld herauszugeben, so würde Gott aufgrund seiner Macht, Sanktionen zu setzen, die Menschen zwingen, so zu handeln, wie es ihm gefällt. Das moralische Müssen wäre ein erpresserisches Müssen, ein nackter, gewalttätiger Zwang. Und damit wäre es genauso wenig verpflichtend,wie es das Müssen ist, das den Passanten trifft. Der Begriff der Pflicht spielte in einer solchen Moralkonzeption überhaupt keine Rolle. – Locke ist sich dieser Sachlage bewusst. Er weiß, dass Sanktionen, obwohl sie in seiner Konzeption so wichtig sind, keine Verpflichtungen kreieren. Die Macht, andere durch die Setzung von Sanktionen zu etwas zu zwingen, schafft alleine keine Verpflichtungen. Verpflichtend wird das durch die Sanktionen konstituierte Müssen erst, wenn der, der die Sanktionen setzt, nicht nur die Macht dazu hat, sondern auch das Recht (jus, right), wenn er dazu berechtigt ist.⁹ Dies, das Recht, über andere zu befehlen, ist es, was Gott von einem Erpresser unterscheidet und was seine Befehle verpflichtend macht. Der Straßenräuber hat kein Recht, den Passanten zu zwingen, Gott hingegen hat das Recht, die Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu nötigen. Und deshalb ist das Müssen, das er setzt, ein verpflichtendes und kein erpresserisches Müssen. Wie kommt es, dass Gott dieses Recht hat? Wo hat er dieses Recht her? Es ist nicht einfach Ausfluss seiner Macht. Wäre es so, hätte auch der gewalttätige Ty-
9 Vgl. Essays, 184; Essay II, xxviii, § 8, p. 352.
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rann, der hinreichend mächtig ist, das Recht, die ihm Unterworfenen zu beherrschen. Das Recht Gottes ist, so sagt Locke, ein „jus creationis“¹⁰, ein Recht, das aus der Tatsache resultiert, dass Gott die Menschen geschaffen hat; er hat ihnen ihre Existenz gegeben und er nimmt sie ihnen auch wieder weg.¹¹ Sein Status als Schöpfer gibt Gott ein Eigentums- und Verfügungsrecht (dominium) über seine Geschöpfe.¹² Die Menschen sind, so heißt es ausdrücklich, sein Eigentum.¹³ Dieses „jus creationis“ ist der Schlussstein der Locke’schen Moralphilosophie. Nur weil Gott neben und unabhängig von seiner Macht dieses Recht besitzt, gibt es in unserer Welt moralische Pflichten; ohne dieses Recht gäbe es nur den nackten Zwang der Macht. Man fragt sich hier natürlich, wieso aus dem Faktum, dass Gott die Menschen schafft, das Recht folgt, sie zu bestimmten Handlungen zu nötigen. Wie kann es sein, dass dieses Faktum in etwas Normatives umschlägt? Und ist es nicht letzten Endes doch so, dass das Recht nur Ausfluss der Macht ist, wenn auch einer ganz speziellen Macht, über die nur ein omnipotentes Wesen verfügt? Locke gibt auf diese Fragen keine Antwort. Ihm scheint es evident, dass der Schöpfer das Recht hat, über seine Geschöpfe zu herrschen; in seinen Augen bedarf es hier keines Arguments. Damit bleibt der Ursprung der moralischen Normativität in seiner Theorie ein Geheimnis. Da Locke annimmt, es könne innerweltliche Verpflichtungen – die den positiven Gesetzen gegenüber wie auch die den Eltern gegenüber – nur geben, weil Gott dank des jus creationis die Potenz hat, die Menschen zu verpflichten¹⁴, bleibt in seiner Konzeption der Ursprung verpflichtender Normativität insgesamt im Dunkeln. Drei abschließende Bemerkungen möchte ich zu Lockes Theorie der moralischen Pflicht machen. Erstens. Das Verpflichtetsein ist bei Locke, wie gesagt, ein sanktionskonstituiertes Müssen, aber ein spezifisches Müssen dieser Art. Die differentia specifica liegt darin, dass Gott, der die moralischen Sanktionen setzt, dazu berechtigt ist. Der Begriff des Verpflichtetseins dient hier deutlich dazu, das moralische Müssen von einem in nacktem Zwang und bloßer Macht gründenden Müssen abzusetzen. Zweitens. Locke bindet die Moral an Gott. Die moralische Pflicht kommt von außen in die Welt. Wollte man Lockes Konzeption der moralischen Pflicht, so unmöglich Locke selbst das gefunden hätte, von ihren religiösen Voraussetzungen
10 Essays, 184. – Vom „jus creationis“ hat im gleichen Kontext bereits Calvin gesprochen; vgl. Institutio religionis christianae (1559), lib. I, cap. II, 2, p. 35. 11 Vgl. Essays, 152, 186. 12 Essays, 184; Essay II, xxviii, § 8, p. 352. 13 Two Treatises of Government, II, 6, p. 271. 14 Vgl. hierzu Essays, 188.
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ablösen, könnte man die Position Gottes zunächst unbesetzt lassen und sagen: Das Verpflichtetsein ist ein sanktionskonstituiertes Müssen, bei dem der, der die Sanktionen setzt und damit das Müssen schafft, dazu berechtigt ist. Wir werden sehen, ob mit dieser Definition der Pflicht außerhalb einer theonomen Konzeption etwas anzufangen ist. Drittens. Das Motiv, moralisch zu handeln und damit zu tun, wozu man verpflichtet ist, ist der Blick auf die Sanktionen. Hierin unterscheidet sich das verpflichtende Müssen nicht vom erpresserischen Müssen. Locke hat in den frühen Essays zunächst angenommen, die Einsicht, dass Gott das Recht hat, die Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen zu nötigen, schaffe eine spezifische Motivation zum moralischen Handeln.¹⁵ Später hat er dann sehr klar gesagt, dass die Einsicht, dass wir zu bestimmten Handlungen verpflichtet sind und diese Handlungen deshalb die moralisch richtigen sind, kein ausreichendes Motiv sei, entsprechend zu handeln. Das, was uns bewegt, ist immer direkt oder indirekt mit Lust und Schmerz verbunden; und was uns zur Moral bewegt, ist die Furcht vor Bestrafung und die Hoffnung auf Belohnung.¹⁶
VI Es ist, wie wir sehen werden, sehr hilfreich, in unserem Kontext auch auf den Begriff der Rechtspflicht einzugehen. Die rechtliche Pflicht kann als eine Unterart der moralischen Pflicht verstanden werden; sie ist dann einfach die moralische Pflicht, die das Recht auferlegt. Die Rechtspflicht kann aber auch als eine Pflicht eigener Art neben der moralischen Pflicht verstanden werden, so dass etwas rechtlich verpflichtend sein kann, ohne deswegen auch moralisch verpflichtend zu sein. In dieser Weise versteht der Rechtspositivismus den Begriff. Aus dem Bestreben, einen moralneutralen Begriff des Rechts zu konzipieren, resultiert hier die begriffliche Trennung von rechtlicher und moralischer Verpflichtung. „Der Begriff der Rechtspflicht“, so schreibt H. Kelsen, „bezieht sich ausschließlich auf eine positive Rechtsordnung und hat keinerlei moralische Implikation. Eine Rechtspflicht kann, muss aber nicht, dasselbe Verhalten zum Inhalt haben, das in irgendeinem Moralsystem geboten ist, kann aber auch das gegenteilige Verhalten zum Inhalt haben, so dass … ein Konflikt zwischen Rechtspflicht und Moralpflicht
15 Vgl. ebd. 16 Vgl. besonders Lockes mit „Voluntas“ überschriebene unpublizierte Notiz, abgedruckt in Locke, Political Essays, 321.
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besteht.“¹⁷ Ich werde auf die Auseinandersetzung über das Verhältnis von Recht und Moral und rechtlicher und moralischer Verpflichtung nicht eingehen. Ich werde mich aber bei der folgenden Analyse des Begriffs der rechtlichen Pflicht an den Lehren der Rechtspositivisten orientieren, und zwar an den Rechtstheorien von H. Kelsen und H. L. A. Hart. Die Theorien der Positivisten sind hier besonders aufschlussreich, weil sie, obwohl sie die Idee der moralischen Verpflichtung vom Recht fernhalten, dennoch glauben, auf den Verpflichtungsbegriff nicht verzichten zu können. Auch in ihren Augen ist es sehr wichtig, dass rechtliche Normen verpflichtenden Charakter haben. Das wirft wie von selbst die Frage auf, was den Pflichtbegriff so unverzichtbar macht. Was also ginge bei der Beschreibung eines Rechtssystems verloren, wenn man nicht über den Begriff der Pflicht verfügte? Wie wir sehen werden, liegt die differenzierende Leistung des Pflichtbegriffs darin, ein Rechtssystem von einem Gewaltregime abzugrenzen. Ein Rechtssystem ist nach Kelsen wesentlich eine „Zwangsordnung“¹⁸; das heißt, es ge- und verbietet bestimmte Handlungen dadurch, dass es für den Fall des Zuwider-Handelns Zwangsakte androht: die Zufügung eines Übels oder die Entziehung eines Guts wie des Lebens, der Freiheit, von Rechten oder Vermögenswerten. Die angedrohten Zwangsakte sind Sanktionen, die nötigenfalls unter Anwendung physischer Gewalt verhängt werden.¹⁹ Die rechtlichen Sanktionen sind keine informellen, sondern gesellschaftlich organisierte Sanktionen. Für ihre Anwendung setzt die Rechtsgemeinschaft arbeitsteilig funktionierende Gerichtsund Verwaltungsorgane ein. Das rechtliche Müssen, dem jedes Mitglied einer Rechtsgemeinschaft unterliegt, ist nach dieser Konzeption allein durch die Sanktionen konstituiert. Wo keine rechtlichen Sanktionen, da folglich auch kein rechtliches Müssen. Es ist mithin nicht so, dass eine Handlung, weil man sie nicht tun darf, sanktioniert wird, vielmehr so, dass eine Handlung nicht getan werden darf, weil sie mit einer Sanktion bedroht ist. Die Sanktion ist nicht die nachträgliche Strafe für etwas, was man aus anderen Gründen nicht tun darf. Kelsen hat diesen gegen naturrechtliche Vorstellungen gerichteten Punkt immer wieder betont.²⁰ Er konzipiert das rechtliche Müssen – und damit das rechtliche Verpflichtetsein – unmissverständlich als sanktionskonstituiertes Müssen. Der Begriff der rechtlichen Pflicht „steht“, so heißt es, „in einem Wesenszusammenhang mit dem der Sanktion.“²¹ Die Sank-
17 Kelsen, Reine Rechtslehre, 123; vgl. auch ders., Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 328; siehe auch Hoerster, Die rechtsphilosophische Lehre vom Rechtsbegriff, 185. 18 Reine Rechtslehre, 39, 45. 19 Ebd. 27, 35. 20 Ebd. 117; vgl. auch 26, 44, 55 f., 116, 123. 21 Ebd. 121.
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tionen sind, auch dies bemerkt Kelsen ausdrücklich, mit den von ihnen belegten Handlungen nicht naturnotwendig verbunden, es handelt sich vielmehr um künstlich an unerwünschte Handlungen geknüpfte negative Konsequenzen.²² Die Gesetzgeber schaffen mit der Etablierung eines Sanktionensystems künstlich Gründe, sich so zu verhalten, wie es der Rechtsordnung entspricht. Kelsen sieht indes sehr klar – nicht anders als Locke –, dass Sanktionen zwar zu einem bestimmten Handeln nötigen, aber noch keine Verpflichtungen kreieren. Wäre eine Rechtsordnung bloß eine Zwangs- und Sanktionenordnung eines Machthabers (oder einer Gruppe von Machthabern), wären ihre Ge- und Verbote nicht verpflichtend. Kelsen erläutert das an dem von uns schon herangezogenen und auch bei Locke ähnlich zu findenden Beispiel eines Gangsters, der jemandem befiehlt, sein Geld herauszugeben. Ihm stellt er einen Finanzbeamten gegenüber, der ebenfalls von jemandem verlangt, eine bestimmte Geldsumme zu zahlen. Die Forderung des Finanzbeamten ist, so Kelsen, verpflichtend, der Befehl des Gangsters hingegen nicht.²³ In derselben Weise argumentiert Hart gegen die Rechtstheorie des englischen Juristen J. Austin. Austin hatte in der Situation, in der ein Gangster einem Passanten die Pistole vorhält und mit dem Erschießen droht, falls er sein Geld nicht herausgibt, paradigmatisch die Funktionsweise des Rechts veranschaulicht gefunden. Denn die Essenz des Rechts sei es, dass ein politischer Machthaber bestimmte Handlungen ge- und verbietet und im Falle des ZuwiderHandelns Sanktionen verhängt.²⁴ Hart hält wie Kelsen eine solche Konzeption für falsch; er versucht gegen Austin zu zeigen, wie sich die Situation, in der ein rechtliches Gebot zu etwas nötigt, von der Gangster-Situation unterscheidet. Und eines seiner Argumente besagt, dass die Forderung des Gangsters in keiner Weise verpflichtend ist, während rechtliche Normen verpflichtend sind. Austin kann mit seiner Befehlstheorie des Rechts zwar die nötigende Kraft des Rechts verständlich machen, aber nicht seinen verpflichtenden Charakter.²⁵ Was ist nun das Plus, das hinzukommen muss, um das durch die angedrohten Sanktionen konstituierte Müssen zu einem Verpflichtetsein zu machen? Kelsen antwortet auf diese Frage genau wie Locke: Der, der die rechtlichen Sanktionen androht und verhängt, muss nicht nur die Macht haben, andere zu nötigen, er muss auch das Recht dazu haben. Da er das Recht – anders als im Falle eines göttlichen Gesetzgebers – von anderen verliehen bekommen muss, muss er ermächtigt sein, Vorschriften zu setzen und im Falle des Zuwider-Handelns zu strafen. So ist der Finanzbeamte aufgrund einer entsprechenden Ermächtigung 22 23 24 25
Vgl. Allgemeine Staatslehre, 48 Reine Rechtslehre, 8; vgl. auch ders., Allgemeine Theorie der Normen, 21 f. Vgl. Austin, The Province of Jurisprudence Determined, bes. lect. I. Vgl. Hart, Legal and Moral Obligation, 95 – 98; ders., The Concept of Law, 6 f., 82– 91.
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berechtigt, von den Bürgern die Zahlung bestimmter Geldsummen zu verlangen. Und weil er dies ist, sind seine Forderungen verpflichtend und die Bürger verpflichtet, ihnen nachzukommen.²⁶ Kelsen kommt, wie sich zeigt, zu derselben Bestimmung des Verpflichtetseins wie Locke: Das Verpflichtetsein ist ein sanktionskonstituiertes Müssen mit der spezifischen Differenz, dass derjenige, der die Sanktionen setzt, dazu nicht nur die Macht, sondern auch das Recht hat. Wie wir sahen, bringt die Frage, woher der Rechtsinhaber das Recht hat, Lockes Konzeption in Schwierigkeiten: Gott hat dieses Recht, so Lockes Auskunft, einfach aufgrund der Tatsache, dass er die Menschen geschaffen hat. Kelsen hat es zunächst leichter. Er antwortet auf diese Frage mit seiner Lehre von der Hierarchie der Ermächtigungen. Der Finanzbeamte ist durch die Steuergesetze und damit indirekt durch die Gesetzgeber zu seinen Forderungen ermächtigt. Und die Gesetzgeber sind ihrerseits durch die Verfassung und damit indirekt durch die Verfassungsgeber ermächtigt, Gesetze zu erlassen.²⁷ Die Ermächtigung erfolgt also jeweils „von oben“ durch die nächsthöhere Instanz im Stufenbau des Rechts. – Es ist nicht schwer zu sehen, dass die Idee der Hierarchie der Ermächtigungen in ein Regressproblem führt. Die Kette der Ermächtigungen kann sich nicht ad infinitum fortsetzen; sie muss bei einer obersten Instanz zum Stehen kommen, die ermächtigt, aber selbst nicht durch eine höhere Instanz ermächtigt ist. Dennoch muss sie in irgendeiner Weise normativ ausgezeichnet sein. Denn ist sie es nicht, bleibt nichts, was eine Rechtsordnung von einem Gewaltregime unterscheidet. Interne Ermächtigungen sind kein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal, weil auch Gewaltregime (oder organisierte Verbrecherbanden wie die Mafia) in aller Regel Ermächtigungen dieser Art kennen. Die Defizienz eines Gewaltregimes gegenüber einer Rechtsordnung muss darin liegen, dass in einem Gewaltregime die Befehlshaber auf der obersten Stufe der Hierarchie anderen ihren Willen allein aufgrund ihrer Macht und nicht aufgrund eines Rechts aufzwingen, während in einer Rechtsordnung die oberste Instanz über ein solches Recht verfügt. Kelsen gerät, was die oberste Quelle der Ermächtigungen angeht, offenkundig doch in dieselben Schwierigkeiten wie Locke. Hier wie dort stellt sich die Frage, woher die oberste normierende Instanz das Recht hat, andere zu nötigen. Hier wie dort drängt sich der Verdacht auf, dass doch nichts anderes als eine besondere Machtposition gegeben ist, der dann ein normativer Status, der Besitz eines Rechtes, angedichtet wird, ohne dass der Übergang von dem Faktum der Macht zum Besitz eines Rechts plausibel gemacht wird.
26 Vgl. Reine Rechtslehre, 8; Allgemeine Theorie der Normen, 22. 27 Vgl. Reine Rechtslehre, 47, 202 f.
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Kelsen unterscheidet sich von Locke dadurch, dass er dieses Problem thematisiert und eine Lösung versucht. Er sieht genau, dass die oberste Instanz normativ ausgezeichnet sein muss, ohne durch eine höhere Instanz ermächtigt zu sein. Natürlich auch ohne durch eine höhere transzendente Macht – durch Gott oder die Natur – autorisiert zu sein.²⁸ Auch kann, das betont Kelsen immer wieder, keine „Seinstatsache“ wie das Faktum der Macht oder der Wirksamkeit aus sich heraus Normativität hervorbringen.²⁹ Wie kommt es aber dann zu dem Befugtsein der obersten Instanz? Was berechtigt die Verfassungsgeber dazu, eine Verfassung zu setzen, was also macht die Verfassung verpflichtend? Kelsens Lösung besagt, dass man eine Norm annehmen muss, die die oberste Instanz ermächtigt. Diese letzte Ermächtigungsnorm ist der eigentliche „Geltungsgrund“ einer Rechtsordnung.³⁰ Das heißt, sie ist der eigentliche Grund des Verpflichtungscharakters aller eine Rechtsordnung ausmachenden Gebote. Kelsen nennt diese letzte Ermächtigungsnorm die „Grundnorm“ oder auch die „Ursprungsnorm“.³¹ Die Grundnorm ist nicht Teil des positiven Rechts, natürlich auch nicht Teil eines überpositiven Naturrechts, das Kelsen ablehnt.³² Sie ist vielmehr eine „nur gedachte“³³, nur „vorausgesetzte“³⁴, nur „fingierte“³⁵ Norm. Mit anderen Worten: Es gibt diese Norm nicht,wir haben es hier mit etwas Ausgedachtem, mit etwas Imaginiertem zu tun. Kelsen hat in späteren Arbeiten aus der Einsicht, dass eine Norm nicht ohne einen Normgeber gedacht werden kann, den Schluss gezogen, „dass mit der gedachten Grundnorm auch eine imaginäre Autorität mitgedacht werden muss“, die die Verfassungsgeber durch die Grundnorm ermächtigt und so die Verfassung verpflichtend macht.³⁶ Kelsens Grundnormlehre zieht die Einwände geradezu auf sich, sie ist, so scheint es, der verzweifelte Versuch, aus einer scheinbar ausweglosen Situation auszubrechen. Zwei Argumente gegen diese Konzeption liegen auf der Hand. Erstens löst sie offenkundig das Regressproblem nicht. Wenn hinter der obersten Instanz des positiven Rechts eine höhere, jetzt imaginierte Autorität steht, die sie ermächtigt, stellt sich sogleich die Frage, wer diese imaginierte Autorität ermächtigt, und der Regress setzt sich, jetzt im Reich der Imagination, fort. Ent-
28 Vgl. ebd. 206. 29 Vgl. etwa ebd. 196. 30 Ebd. 31 Ebd. 197; Allgemeine Staatslehre, 104 32 Reine Rechtslehre, 201, Anm. 223 ff. 33 Ebd. 206, 207, 208. 34 Ebd. 197, 206. 35 Allgemeine Theorie der Normen, 206. 36 Vgl. Die Funktion der Verfassung, 70.
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kommen könnte Kelsen dieser Konsequenz nur, wenn er so etwas wie eine Selbstschöpfung der Normativität annähme. Das ist aber ein Unding, so undenkbar, wie eine causa sui generell undenkbar ist. Zweitens steht gegen die Idee der Grundnorm, dass, wenn diese Norm etwas nur Ausgedachtes ist, auch die Ermächtigung, die sie leisten soll, etwas nur Ausgedachtes ist. Damit ist aber der Unterschied einer Rechtsordnung von einer bloßen Machtordnung, einem Gewaltregime und folglich der Verpflichtungscharakter des Rechts auch etwas nur Ausgedachtes, aber nichts Wirkliches. Die eigentliche Intention des gesamten Gedankenganges, die Abgrenzung einer Rechtsordnung von einem Gewaltregime, wird also verfehlt. Bei diesem zweiten Argument ist nicht so klar wie beim ersten, ob es Kelsens Theorie wirklich trifft. Denn Kelsen würde seinen Konsequenzen in gewisser Weise zustimmen. Er ist in der Tat der Auffassung, dass es Ermächtigungen, Befugnisse, Rechte und Verpflichtungen und damit Rechtsordnungen in gewissem Sinne nicht gibt; sie gehören nicht zu den wirklichen Dingen in Raum und Zeit.Was es wirklich gibt, sind Machtverhältnisse, Willensakte, Sanktionen, Nötigungen, Verhältnisse des Befehlens und Gehorchens. Was es wirklich gibt, sind im Großen und Ganzen wirksame Macht- oder Zwangsordnungen. Man kann solche Machtordnungen aber, so Kelsen, als Rechtsordnungen „deuten“ oder „ansehen“. Man kann eine Machtposition als Rechtsposition, einen Zwangsakt als Rechtsakt, ein Genötigtsein als Verpflichtetsein deuten.³⁷ Wobei dann, wenn man dies tut, notwendiger Inhalt der Deutung die Annahme einer Grundnorm ist, die die Folge von Ermächtigungen und Verpflichtungen von oben nach unten initiiert.³⁸ Die Grundnorm ist innerhalb dieser Deutung eine notwendige Voraussetzung, die Deutung selbst ist aber nur eine mögliche, nicht eine zwingende.³⁹ Eine Rechtsordnung ist also das Ergebnis einer Deutung. Als solches ist sie ontologisch auf einer anderen Ebene angesiedelt als die faktischen Machtverhältnisse, die der Gegenstand der Deutung sind. Eine Rechtsordnung hat, wie es heißt, „den Charakter einer gewissen Idealität“.⁴⁰ Diese Überlegungen zeigen, dass Kelsen – ohne dass er das selbst hinreichend deutlich macht – neben die begriffliche Klärung dessen, was eine Rechtsordnung ausmacht, eine ontologische Theorie darüber stellt, welchen Seinsmodus eine Rechtsordnung hat. Er stößt in eine, wie man sagen könnte, Ontologie des Normativen und damit auch des Rechts vor. Gewiss bleiben seine diesbezüglichen Ausführungen unbefriedigend. Vor allem bleibt der zentrale Begriff des Deutens 37 Reine Rechtslehre, 224. 38 Ebd. 204, 224 f.; vgl. auch Allgemeine Staatslehre, 250 f. 39 Reine Rechtslehre, 218, Anm.; 224. 40 Allgemeine Staatslehre, 6; vgl. auch Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 6.
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ohne Explikation und deshalb völlig unklar. Unklar bleibt auch, wovon es abhängt, ob man in bestimmter Weise geordnete zwischenmenschliche Beziehungen als eine Rechtsordnung deutet oder nicht. Kelsen sagt hier nur, dass die Ordnung „im großen und ganzen wirksam“ sein muss.⁴¹ Man könnte denken, dass es von der moralischen Qualität der Zwangsordnung abhängt, also davon, ob zu moralisch richtigen oder moralisch verwerflichen Handlungen genötigt wird. Aber diese Idee geht in die falsche Richtung. Kelsen lehnt sie ausdrücklich ab.⁴² Denn sie gibt dem Recht ein moralisches Fundament, was den Intentionen des Rechtspositivismus diametral entgegensteht. Auch wenn wichtige Fragen offenbleiben: klar wird aus Kelsens Ausführungen immerhin, dass nach seiner Auffassung eine Rechtsordnung und eine bloße Zwangsordnung auf der Ebene der Fakten nichts unterscheidet. Es geschehen hier wie dort dieselben Dinge. Nur dass sie im einen Falle in besonderer Weise gedeutet werden und diese Deutung im anderen Fall unterbleibt. Kelsen könnte deshalb, wie ich sagte, der Conclusio des zweiten Argumentes in gewisser Weise zustimmen: Der Unterschied zwischen einer Rechtsordnung und einer bloßen Zwangsordnung, einem Gewaltregime ist nichts Wirkliches, sondern etwas, was nur dadurch entsteht, dass man die eine Machtordnung als Rechtsordnung deutet und eine andere nicht. Rechtliche Verpflichtungen gibt es folglich nur für den, der einer Machtordnung den Rechtscharakter zuschreibt. Bleibt nach diesen Überlegungen noch etwas von dem zweiten Argument übrig? Trifft es etwas in Kelsens Theorie? Mir scheint, ja. Denn man kann auch innerhalb einer Deutung nicht einfach aus der Luft gegriffene ad hoc-Annahmen, wie die Annahme einer Grundnorm eine ist, machen. Setzt eine Deutung eine Annahme notwendig voraus, ist diese Annahme aber unplausibel, erweist sich daran die Deutung selbst als unplausibel. Wenn ich eine Spur im Sand als einen Fußabdruck eines Einhorns deute, ist die Annahme, dass es Einhörner gibt, eine notwendige Voraussetzung dieser Deutung. Aber das macht die Annahme nicht sinnvoll oder erlaubt. Im Gegenteil: Dass sie notwendiger Teil der Deutung ist, macht die Deutung unplausibel, in diesem Fall sogar falsch. So ist, dass die Annahme einer Grundnorm notwendig ist, wenn man eine Zwangsordnung als Rechtsordnung deutet, also noch kein Argument dafür, dass es vernünftig ist, diese Annahme zu machen. Tatsächlich handelt es sich um eine aus der Luft gegriffene Annahme, und das hat ungute Konsequenzen für die Beurteilung der Deutung selbst.
41 Reine Rechtslehre, 204. 42 Ebd.
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Doch selbst wenn wir diesen Punkt beiseite lassen, ist offenkundig, dass Kelsens Explikation dessen, was eine Rechtsordnung ist, scheitert. Sie scheitert bereits am Regressproblem. Die Deutung einer Zwangsordnung als Rechtsordnung gelingt nicht, weil es nicht gelingt, den Stufenbau des Rechts, die Hierarchie von Ermächtigungen und Verpflichtungen in einer obersten Instanz zu fundieren, die befugt ist, anderen ihren Willen aufzunötigen, und bei der klar ist, woher sie diese Befugnis hat. Dieses Woher der Befugnis bleibt gerade unklar. Wenn wir, bevor ich weitergehe, noch kurz einen Blick zurückwerfen und Kelsens Konzeption der rechtlichen Verpflichtung mit Lockes Theorie der moralischen Verpflichtung vergleichen, können wir sagen, dass die Theorien strukturell sehr stark übereinstimmen. Beide bestimmen das Verpflichtetsein, wie bereits gesagt, als ein sanktionskonstituiertes Müssen, das durch eine Instanz geschaffen wird, die nicht nur die Macht, sondern auch das Recht dazu hat. Beide grenzen das verpflichtende Müssen auf diese Weise vom erpresserischen Müssen ab. Beide konzipieren den Verpflichtungsbegriff voluntaristisch: Was Inhalt der Verpflichtung ist, bestimmt der Wille dessen, der in der entsprechenden normativen Position ist und die Normen setzt. Kelsen stellt dies mit aller Deutlichkeit heraus, wenn er sagt, „jeder beliebige Inhalt“ könne Recht sein.⁴³ Locke und Kelsen sind sich auch darin einig, dass die Verpflichtungen für die, die von ihnen betroffen sind, von außen kommen und dass die Betroffenen an ihrem Zustandekommen nicht beteiligt sind. Beide Konzeptionen sind heteronom. Schließlich kommen Lockes und Kelsens Konzeptionen auch darin überein, an derselben Frage zu scheitern, nämlich an der Frage des Woher des Rechts. Locke verweist hier einfach auf das Faktum der Schöpfung, Kelsen verirrt sich in seiner Grundnormlehre. Kelsen führt allerdings, weil er an eine normative Ordnung mit hierarchisch gegliederten Instanzen denkt, eine über Locke hinausgehende, möglicherweise weiterführende Idee ein, die Idee der Ermächtigung. Also die Vorstellung, dass dem, der ein Recht zu nötigen hat, dieses Recht von anderen verliehen wurde. Bei Kelsen führt diese Idee nicht zum Ziel. Wir müssen sehen, ob sie in einer aufgeklärten Konzeption der moralischen Verpflichtung von Nutzen sein kann. Sie wird freilich nur dann von Nutzen sein können, wenn es gelingt, das mit ihr verbundene Regressproblem zu lösen.
VII Eine weiterführende Alternative zu Kelsens Grundnormlehre bietet Harts Theorie der rechtlichen Verpflichtung. Hart nimmt zunächst nicht anders als Kelsen an,
43 Ebd. 201, auch 223 f.
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dass eine rechtliche Verpflichtung eine Befugnis dessen voraussetzt, der die verpflichtenden Vorschriften erlässt und im Falle des Zuwider-Handelns Übel zufügt oder deren Zufügung veranlasst. Wer andere zu bestimmten Verhaltensweisen zwingt, muss, wenn seine Gebote nicht nur nötigend, sondern auch rechtlich verpflichtend sein sollen, dazu durch eine höhere Instanz ermächtigt sein.⁴⁴ Natürlich führt diese Auffassung unweigerlich zu der Frage, wodurch die höchsten rechtlichen Normen, die Verfassungsnormen, verbindlich sind, wenn doch die oberste normsetzende Instanz, der Verfassungsgeber, nicht seinerseits durch eine noch höhere rechtliche Instanz ermächtigt sein kann. Kelsens Idee der imaginierten Grundnorm verwirft Hart. Seine Antwort lautet: Die Verfassungsnormen sind verpflichtend, wenn sie (1) wirksam sind, also im Großen und Ganzen befolgt werden, und wenn sie (2) innerhalb der Rechtsgemeinschaft akzeptiert werden.⁴⁵ Sie müssen nicht von allen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft akzeptiert werden, aber zumindest von dem überwiegenden Teil der Amtspersonen und des Rechtsstabes.⁴⁶ – Es sei ausdrücklich hervorgehoben, dass nur die Verfassungsnormen dadurch verpflichtend sind, dass sie akzeptiert werden. Alle anderen Normen sind dadurch verpflichtend, dass sie mit den Verfassungsnormen durch eine Folge von Ermächtigungen verknüpft sind.⁴⁷ Die Akzeptanz der höchsten Normen besteht in mehr als in normkonformem Verhalten. Normkonformes, durch die Sanktionsandrohung erzwungenes Verhalten findet sich in jeder wirksamen Zwangsordnung. Akzeptanz ist eine positive Haltung zu den Verfassungsnormen, eine Form von Zustimmung und Einverständnis. Sie manifestiert sich darin, dass man die Normen als für sich und andere verbindlich ansieht und entsprechend auf eigenes Zuwider-Handeln mit Selbstkritik, Bedauern, Selbstvorwürfen und auf fremdes Zuwider-Handeln mit Tadel, Ablehnung und sozialem Druck reagiert. Was die Gründe für die Akzeptanz sind, ist für den Rechtscharakter der fraglichen Zwangsordnung ohne Belang. Das Faktum der Akzeptanz ist das entscheidende, eine Rechtsordnung konstituierende Element. ⁴⁸ Hart verlängert also die von unten nach oben aufsteigende Folge von Ermächtigungen nicht über die oberste Instanz hinaus ins Reich der Imagination, er biegt die Folge der Ermächtigungen vielmehr gleichsam um und führt sie von oben nach unten zurück in die Rechtsgemeinschaft. Nur dass deren Mitglieder (oder ein Teil von ihnen) die oberste Instanz nicht ermächtigen, sondern sie und ihre
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Vgl. Legal and Moral Obligation, 98 f. The Concept of Law, 116. Ebd. Legal and Moral Obligation, 93. Vgl. ebd. 92 f.
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Vorschriften nur akzeptieren. Während eine Ermächtigung etwas in die Zukunft Gerichtetes ist, ist die Akzeptanz auf etwas schon Vorhandenes gerichtet. Die Mitglieder der Gemeinschaft legitimieren nachträglich die Inhaber einer Machtposition und schreiben ihren Vorschriften nachträglich verpflichtenden Charakter zu. Vielleicht kann man sagen, das Akzeptieren sei eine rückwirkende Ermächtigung zu den normativen Akten, die schon erfolgt sind. Es hat jedenfalls dieselbe Wirkung, wie sie eine vorgängige Ermächtigung hätte: Die Vorschriften sind verpflichtend. Möglicherweise schließt die Akzeptanz auch eine Ermächtigung für die Zukunft ein: Was die oberste Instanz vorschreiben wird, soll verpflichtend sein. Dabei wäre eine solche Ermächtigung kein völliger Freibrief, sie würde vielmehr nur zu Handlungen innerhalb bestimmter Grenzen ermächtigen, wobei die Grenzen durch die Gründe für die Akzeptanz bestimmt würden. Wenn die Vorschriften des Machthabers aufgrund ihrer moralischen Qualität akzeptiert werden, ist er nur zu moralisch unbedenklichen Vorschriften ermächtigt. Andernfalls würde die Akzeptanz schwinden. Gegen Harts Konzeption ist wiederholt eingewandt worden, die Akzeptanz durch die Rechtsgemeinschaft sei ein bloßes Faktum und als solches könne sie keine Normativität begründen; es könne hier wie auch sonst von einem Faktum keinen legitimen Weg zu etwas Normativem geben. Hieran scheitere Harts Konzeption. Hart hat diese Kritik gewiss durch eine Reihe unglücklicher Formulierungen nahegelegt. Dennoch ist sie meines Erachtens – zumindest in dieser nicht weiter differenzierten Form – unberechtigt. Will man Harts Theorie gerecht werden, ist es nützlich, einen externen und einen internen Standpunkt zu unterscheiden. Einen externen Standpunkt nimmt der ein, der von außen auf eine Zwangsordnung schaut und ihre wesentlichen Merkmale zu erfassen versucht, während einen internen Standpunkt der einnimmt, der unter der fraglichen Zwangsordnung lebt. Aus der externen Perspektive ist es vernünftig, zu sagen, dass die Zwangsordnung A sich von der Zwangsordnung B dadurch unterscheidet, dass sie nicht nur wirksam ist, sondern ihre höchsten Normen auch von denen, die in ihr leben, akzeptiert werden. Dadurch würden die Vorschriften dieser Ordnung verpflichtend. Und deshalb sei diese Zwangsordnung eine Rechtsordnung. Natürlich macht aber das Faktum der Akzeptanz die Vorschriften nicht für den außenstehenden Betrachter verpflichtend; er lebt nicht unter der Zwangsordnung, er betrachtet sie nur und wird nicht von ihren Normen erreicht. Die Akzeptanz schafft verpflichtende Normativität nach innen und nur nach innen. Und dies ist, wie es scheint, eine ganz und gar überzeugende Annahme. Denn wodurch gelangt jemand in eine normative Position, die seinen Anordnungen verpflichtenden Charakter gibt? Dadurch dass andere ihm diese Position zuweisen. Wir weisen bestimmten Personen bestimmte Befugnisse zu, und als Ergebnis dieser kollektiven Zuweisung haben sie die Befugnisse. Genau dies tun die Mitglieder einer sozialen
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Gruppe, wenn sie den obersten Machthaber als jemanden anerkennen, dessen Vorschriften verpflichtend sind. Sie billigen ihm eine bestimmte normative Position zu, indem sie sagen: Was er vorschreibt, soll verpflichtend sein (vorausgesetzt, es bewegt sich in den-und-den Grenzen). Hier kippt nicht auf geheimnisvolle Weise ein Faktum in etwas Normatives um; hier wird vielmehr ein normativer Status dadurch geschaffen, dass man ihn jemandem kollektiv zuerkennt. An diesem Vorgang ist nichts Mysteriöses. Mit der Zuweisung der Befugnis an den Machthaber, oberste Vorschriften zu erlassen, kommt für die, die diese Zuweisung vornehmen, ein wesentlicher Unterschied in die Welt. Zunächst stehen sie den Vorschriften des Machthabers anders gegenüber, als der Passant der Erpressung des Straßenräubers gegenübersteht. Der Machthaber hat nicht nur die Macht, sondern auch das Recht dazu, die Vorschriften zu erlassen. Und das gibt ihnen ihren verpflichtenden Charakter und unterscheidet sie von erpresserischen Nötigungsakten. Dieser Unterschied konkretisiert sich nun aber – anders als in den Theorien von Locke und Kelsen – in spezieller Weise. Denn die Befugnis des Machthabers ist für die, die unter seinen Vorschriften leben, nicht einfach ein Faktum, das sie vorfinden und zur Kenntnis nehmen müssen. Vielmehr ist dem Machthaber die Befugnis von ihnen selbst zugewiesen worden. Indem sie seine Gebote akzeptieren, bringen sie ihn erst in die Position des Befugtseins. Es mag sein, dass sie die Befugnis nur nachträglich und rückwirkend zuweisen, es mag auch sein, dass sie dies nur aus dem fragwürdigen Bedürfnis tun, ihren eigenen Willen einem fremden Willen unterzuordnen, oder aus der untergründigen Versuchung, in der faktischen Macht auch eine autorisierte Macht zu sehen und in dem, was ist, auch das, was sein soll. Doch selbst wenn es so ist, ist ein Element des Einverständnisses und damit ein Element von Autonomie im Spiel. Während man einer erpresserischen Nötigung in völliger Heteronomie gegenübersteht. Es zeigt sich also, dass sich der Unterschied verpflichtend – erpresserisch in einer Theorie, nach der das Recht des Machthabers „von unten“, aus der Gemeinschaft der Betroffenen kommt, mit dem Unterschied autonom – heteronom verbindet. Verpflichtende Vorschriften treffen nur die, die zuvor irgendeinen Akt des Einverständnisses und der Einwilligung vorgenommen haben, während bei erpresserischen Vorschriften die Betroffenen der entstandenen Situation in völliger Passivität ausgeliefert sind. Es bleibt für eine Akzeptanztheorie, wie sie Hart vertritt, ein, wie ich glaube, unlösbares Problem. Wie wir sahen, ist Hart der Auffassung, dass nicht alle die obersten Normen akzeptieren müssen, damit sie verbindlich sind, sondern nur ein Teil der Rechtsgemeinschaft. Wenn dieser Teil die Normen akzeptiert, sind sie freilich nach Hart für alle verpflichtend, für alle Mitglieder der Gemeinschaft (natürlich nicht für die Außenstehenden). Doch tatsächlich sind die obersten Normen für die, die sie nicht akzeptieren, heteronom und erpresserisch. Sie haben
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die normsetzende Instanz nicht autorisiert, und deshalb können die Vorschriften für sie nicht verpflichtend sein. Das Faktum, dass andere Mitglieder der Gemeinschaft die obersten Normen billigen, ändert hieran nichts. Dieses Faktum hat für die, die die Normen nicht akzeptieren, keine normative Bedeutung. An diesem Problem scheitert Harts Theorie. Die Zustimmung einiger macht eine Zwangsordnung für die, die auch unter ihr leben, ihr aber nicht zustimmen, nicht zu einer Ordnung mit verpflichtendem Charakter. Die Zustimmung einiger reicht nicht aus, um eine Zwangsordnung für alle verpflichtend zu machen. Man kann Harts Theorie, um mit diesem Problem fertig zu werden, wie es scheint, in zweifacher Weise modifizieren. Zum einen könnte man – das ist gleichsam die kleine Lösung – die Annahme fallen lassen, eine Rechtsordnung sei für alle, die unter ihr leben, eine verpflichtende Ordnung. Man könnte schon dann von einer Rechtsordnung sprechen, wenn nur ein Teil der Gemeinschaft, die Mehrheit oder ein besonders wichtiger Teil wie die Amtspersonen und der Rechtsstab, ihre obersten Normen akzeptieren, und einräumen, dass die Rechtsordnung für die anderen nicht verpflichtend, sondern nur nötigend sei. Man würde dann einräumen, dass eine Rechtsordnung immer auch eine erpresserische Seite hat, nämlich denen gegenüber, die ihre obersten Normen nicht anerkennen. Zum anderen könnte man – das ist gleichsam die große Lösung – eine sogenannte individuelle Anerkennungstheorie vertreten und annehmen, eine Zwangsordnung sei nur dann eine Rechtsordnung, wenn jedes Individuum, also alle, die unter ihr leben, ihre fundamentalen Normen akzeptieren. Diese Festlegung würde Harts Problem lösen, sie hätte aber offenkundig zur Konsequenz, dass der Begriff der Rechtsordnung gar keine Anwendung mehr fände oder doch nur in ganz wenigen Fällen. Denn es wird kaum Zwangsordnungen geben, deren oberste Normen von allen Betroffenen akzeptiert werden. Wenn wir auf Harts Theorie der rechtlichen Verpflichtung zurückschauen, verdienen vor allem folgende Punkte hervorgehoben zu werden: Erstens. Kelsen denkt, wie wir sahen, ein Ermächtigtsein immer als ein Ermächtigtsein durch eine höhere Instanz. Hart führt die Folge der Ermächtigungen hingegen von oben nach unten zurück. Die Legitimation der obersten Instanz kommt von unten, durch die Anerkennung eines Teils der Rechtsgemeinschaft. Auf diese Weise wird ein infiniter Regress vermieden. Zweitens. Hart kommt durch die Idee einer Legitimation „von unten“ als erster der untersuchten Autoren zu einer plausiblen Theorie darüber, wie die oberste Instanz in die normative Position gelangt, die sie befugt, Normen zu setzen. Sie gelangt in diese Position durch den Akt der Akzeptanz, in dem, so habe ich es interpretiert, eine Zuweisung eines normativen Status liegt. Hart hat damit im Unterschied zu Locke und zu Kelsen eine plausible Theorie über die Genese verpflichtender Normativität; zumindest kann man im Anschluss an Harts
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Überlegungen – seinen Begriff der Akzeptanz genauer entfaltend – eine solche Theorie entwickeln. Drittens. Hart legt damit eine – von ihm selbst nicht voll vertretene – Konzeption der Pflicht nahe, nach der die Pflicht, anders als bei Locke und bei Kelsen, nicht ganz von außen an den Verpflichteten herantritt, sondern für das Verpflichtetsein ein Akt des Einverständnisses, der Zustimmung konstitutiv ist. Er legt eine Konzeption der Pflicht nahe, nach der das Verpflichtetsein, um es vage zu sagen, ein Element der Autonomie einschließt. Der Begriff der Pflicht hängt, wie wir sahen, bei allen untersuchten Autoren definitiv daran, dass der, der die Normen setzt, nicht nur die Macht, sondern auch das Recht dazu hat. Auf dieser Ebene hat der Pflichtbegriff nichts mit der Idee der Autonomie zu tun. Die Abgrenzung, der er dient, ist die zwischen erpresserischer und berechtigter Nötigung. Die Autonomie kommt erst ins Spiel, wenn die Frage gestellt wird, woher der Normgeber das Recht zu nötigen hat. Dieses Recht kann nicht einfach ein Faktum aus sich heraus schaffen – wie bei Locke das Faktum, dass Gott die Menschen geschaffen hat, das Recht gebiert, sie zu bestimmten Verhaltensweisen zu nötigen. Und dieses Recht kann auch nicht – wie bei Kelsen – durch eine imaginierte Autorität verliehen werden. Und es entsteht auch nicht – wie Hart es für die annimmt, die die Autorität nicht akzeptieren – dadurch, dass andere es zuweisen. Man kann einem Machthaber nur das Recht zuweisen, einen selbst zu nötigen, aber nicht das Recht, auch andere zu nötigen. Und deshalb können Normen eines Machthabers nur denen gegenüber verpflichtend sein, die mit der Machtkonstellation und dem Gebrauch, der von ihr gemacht wird, in irgendeiner Weise einverstanden sind. Hierin gründet, so scheint es, die Verbindung des Pflichtbegriffs mit dem der Autonomie.
VIII Ich komme jetzt zurück zum moralischen Verpflichtetsein und zu der Frage, wie es in einer aufgeklärten Moral zu verstehen ist. Gelingt es, die Überlegungen zu Lockes theonomer Konzeption der moralischen Verpflichtung und zu Kelsens und Harts Konzeptionen der rechtlichen Verpflichtung für die Bestimmung des moralischen Verpflichtetseins in einer rationalen Moral fruchtbar zu machen? Wir haben bereits gesagt, dass das moralische Verpflichtetsein ein praktisches Müssen ist, das – wie jedes praktische Müssen – durch die Unausweichlichkeit einer negativen Konsequenz im Falle des Anders-Handelns konstituiert wird.Wir haben des weiteren gesagt, dass das moralische Verpflichtetsein speziell ein durch Sanktionen konstituiertes Müssen ist, wobei die Sanktionen in einer aufgeklärten Moral nur soziale Sanktionen sein können, verschiedene Formen informellen
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sozialen Drucks, den die anderen Mitglieder der sozialen Gemeinschaft ausüben. Wir haben schließlich gesehen, dass nicht jedes sanktionskonstituierte Müssen ein verpflichtendes Müssen ist; es gibt ein erpresserisches sanktionsbedingtes Müssen. Und natürlich kann auch sozialer Druck erpresserisch sein. Wie wir sahen, ist die Funktion des Pflichtbegriffs gerade die Abgrenzung vom Erpresserischen. Was aber unterscheidet das verpflichtende moralische Müssen positiv von einem erpresserischen Müssen? Was ist die differentia specifica, die das Verpflichtetsein von der erpresserischen Form des sanktionsbedingten Müssens abhebt? Die vorangegangenen Überlegungen legen hier folgende Antwort nahe. Das Müssen, das die soziale Gemeinschaft künstlich durch die Androhung und den Vollzug von sozialen Sanktionen schafft, ist dann verpflichtend, wenn sie nicht nur die Macht, sondern auch das Recht dazu hat. Die, die sanktionieren, müssen also dazu befugt sein. Sind sie dies, sind die, die dem Müssen unterliegen, nicht nur genötigt, sondern auch verpflichtet, wie „gemusst“ zu handeln. Natürlich stellt sich hier sofort die Frage, mit der sich Locke, Kelsen und Hart so schwer getan haben: Wie kommen die, die sanktionieren, in den Besitz des Rechts, dies zu tun? Dieses Recht kann ihnen nur verliehen worden sein. Aber nicht von Gott oder einer anderen transzendenten Macht. Auch nicht von höheren Instanzen innerhalb der moralischen Gemeinschaft. Solche Instanzen gibt es nicht. Eine rationale Moral kennt im Unterschied zu einer Rechtsordnung keinen Stufenbau von Instanzen. Die Autorisierung kann folglich nur „von unten“ kommen, von denen, die dem moralischen Müssen unterliegen. Ohnehin kann, wie wir im Anschluss an Hart sahen, nur eine Autorisierung durch die, die der Nötigung ausgesetzt sind, eine verpflichtende Normativität begründen. – Die Rede von einer Autorisierung oder Ermächtigung „von unten“ ist an dieser Stelle freilich missverständlich. Denn die, die dem moralischen Müssen unterliegen, sind auch die, die das Recht haben, moralwidriges Verhalten zu sanktionieren. Es gibt in einer rationalen Moral – anders als etwa in Lockes theonomer Moral, in der der göttliche Gesetzgeber selbst zu nichts moralisch verpflichtet ist – nicht eine einzelne Person oder eine Gruppe von Personen, die moralische Normen setzen, und andere Personen, die verpflichtet sind, die Normen zu befolgen.Vielmehr sind alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft verpflichtet, moralisch zu handeln, und zugleich sind alle auch berechtigt, moralwidriges Verhalten zu sanktionieren. Auf die Frage nach dem Woher des Ermächtigtseins scheint es folglich nur eine überzeugende Antwort zu geben: Die Ermächtigung kommt nicht „von oben“, sie kommt auch nicht „von unten“, sie erfolgt vielmehr in der Form des gegenseitigen Ermächtigens: Jeder Einzelne ermächtigt alle anderen und wird von allen anderen ermächtigt.
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Diese Antwort, so plausibel und naheliegend sie scheint, hat indes einen entscheidenden Nachteil: Eine solche Ermächtigung findet nicht statt. Die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft ermächtigen sich faktisch nicht gegenseitig, weder explizit noch implizit. Damit sind sie, das ist die unvermeidliche Konsequenz, auch nicht ermächtigt. Sie haben keine Befugnis, zu nötigen. Ist damit die Idee des Sich-gegenseitig-Ermächtigens gescheitert? Ist sogar generell die Idee gescheitert, das moralische Verpflichtetsein durch eine Befugnis, durch ein Recht, zu nötigen, zu bestimmen? Meines Erachtens, nein. Aber es sind noch einige Schritte nötig, um zu einer befriedigenden Theorie zu kommen.
IX Zunächst ist noch einmal in aller Deutlichkeit festzuhalten: Wenn die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sich nicht gegenseitig ermächtigen, gibt es den Unterschied zwischen dem Müssen, bei dem die, die nötigen, dazu ermächtigt sind, und dem Müssen, bei dem die, die nötigen, nicht dazu ermächtigt sind, nicht. An diesem Unterschied kann man den Unterschied zwischen dem verpflichtenden moralischen Müssen und einem erpresserischen Müssen folglich nicht festmachen. Es gibt aber einen anderen Unterschied. Es gibt den Unterschied zwischen dem Müssen, das zu setzen, sich rationale Individuen gegenseitig ermächtigen würden, wenn sie aus einem vormoralischen Zustand heraus eine Moral erst hervorbringen müssten, und dem Müssen, das zu setzen, sich rationale Individuen nicht ermächtigen würden, wenn sie eine Moral erst erfinden müssten. An diesem Unterschied kann man, so scheint es, den Unterschied zwischen dem verpflichtenden moralischen Müssen und einem erpresserischen Müssen festmachen. Das Unterscheidungskriterium ist hiernach nicht die faktische Ermächtigung, sondern die hypothetische Ermächtigung, die man in einer hypothetischen Situation vornehmen würde. Die Überlegungen derer, die in dem angenommenen vormoralischen Zustand leben, kann man sich so ausmalen, wie es die kontraktualistische Tradition immer getan hat. Denken wir uns also einen Zustand, der noch keine moralische (und auch keine rechtliche) Ordnung kennt. In diesem Naturzustand zu leben, ist, wie sich jeder leicht vorstellen kann, äußerst unangenehm. Weswegen die, die in ihm leben, es dringlich finden, ein System von Normen zu schaffen, die bestimmte Handlungen verbieten und gebieten. Ein solches System ist für jeden Einzelnen von Vorteil. Der Nachteil, infolge des Normensystems selbst einem Müssen zu unterliegen, wird durch den Vorteil überwogen, dass alle anderen demselben Müssen ausgesetzt sind. Wie kann man ein solches Normensystem oder, wie man auch sagen kann, eine moralische Ordnung schaffen? Man muss übereinkommen,
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bestimmte Handlungen zu „gemussten“ Handlungen zu machen; dies tut man, das ist nach den bisherigen Ausführungen klar, indem man das Anders-Handeln künstlich mit negativen Konsequenzen, sprich: mit Sanktionen verknüpft. Man muss ein System von Sanktionen etablieren, um so die Handlungsweisen, von denen man will, dass sie unbedingt unterlassen bzw. unbedingt getan werden, zu solchen zu machen, die man angesichts der drohenden Sanktionen rationalerweise nicht tun kann bzw. tun muss. Die Sanktionen werden von der durch die Etablierung des Normensystems entstandenen moralischen Gemeinschaft verhängt, beziehungsweise stellvertretend von den Mitgliedern der Gemeinschaft, die von einer moralwidrigen Handlung betroffen sind oder Zeugen einer solchen Handlung sind. Die moralische Ordnung, die auf diese Weise entsteht, ist ein Artefakt, von denen hervorgebracht, für die sie gilt. Die Urheber und die Adressaten dieser Ordnung sind dieselben Personen. Jeder einzelne von ihnen stellt sich durch die Aufrichtung der Moral unter ein „Muss“, und er tut dies, indem er die Gemeinschaft bzw. alle ihre Mitglieder autorisiert, ihn selbst im Falle eines moralwidrigen Verhaltens zu sanktionieren. Dieser – gegenseitige – Ermächtigungsakt ist der Grundbaustein, aus dem die moralische Ordnung erbaut ist. Zur Sanktionierung welcher Handlungen ermächtigen sich die im Naturzustand Lebenden gegenseitig? Was ist der Inhalt der gegenseitigen Ermächtigungen? Diese Frage kann ich hier nicht angemessen beantworten. Ich begnüge mich mit einigen grundsätzlichen Überlegungen. Nehmen wir an, die im Naturzustand Lebenden haben alle das Interesse, von anderen nicht verletzt zu werden. Sie werden deshalb ein Verletzungsverbot wollen und sich, um es zu etablieren, gegenseitig ermächtigen, Verletzungshandlungen zu sanktionieren. Auf diese Weise entsteht ein moralisches Gebot, das für alle verpflichtend ist. Nehmen wir weiter an, eine größere Gruppe von Personen, die in einem Teil der Naturzustandswelt zusammenleben, will ein Verbot der Abtreibung als Teil der Moral. Andere außerhalb dieser Gruppe wollen das nicht. Und nehmen wir an, dass die beiden Positionen in unterschiedlichen, tiefverwurzelten Sichtweisen des Lebens und des Zusammenlebens gründen und beide rational möglich, also kognitiv nicht zu kritisieren sind. Die, die ein Abtreibungsverbot nicht wollen, würden die anderen nicht zu entsprechenden Sanktionen ermächtigen. Würden Abtreibungen dennoch sanktioniert und solche Sanktionen angedroht, wäre das so geschaffene Müssen bloß ein erpresserisches, aber kein verpflichtendes Müssen. Denn die, die das Müssen durch die Sanktionen schaffen, hätten dazu keine Befugnis. Inhalt einer alle verpflichtenden Moral könnte ein Abtreibungsverbot bei der hier vorausgesetzten Lage der Dinge also nicht sein. Die, die ein Verbot der Abtreibung wollen, können ein solches Verbot allerdings innerhalb ihrer Gruppe etablieren, indem sie die jeweils anderen Gruppenmitglieder ermächtigen, entsprechend zu sanktionieren. Das Verbot wäre dann innerhalb der Gruppe verpflichtend, es wäre
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Inhalt einer begrenzten, regionalen Moral. Es wäre aber nicht Inhalt einer alle verpflichtenden, in diesem Sinne universalen Moral. – Diese Überlegungen zeigen meines Erachtens hinreichend deutlich, wovon es abhängt, was die Inhalte der Ermächtigungen und damit der Moral, wir können jetzt genauer sagen, einerseits der einen (rationalen) universalen Moral und andererseits der möglichen (rationalen) regionalen Moralen sind. Die Interessen und Ideale der Personen bestimmen, was moralisch verboten und geboten wird, wobei die Interessen und Ideale nur zu moralischen Normen führen, sofern und soweit sie in einer Gruppe geteilt werden.⁴⁹
X Kann man den Unterschied, der jetzt mit Hilfe der Fiktion des Naturzustandes freigelegt wurde, nicht auch direkt, ohne den Umweg über die Fiktion charakterisieren? Natürlich kann man das. Die kontraktualistische Imagination hat nur eine heuristische und veranschaulichende Funktion. Wenn eine Regelung in der tatsächlichen Welt von der Art ist, dass man sich denken kann, dass alle, die von ihr betroffen sind, in einem Zustand, in dem es diese Regelung noch nicht gibt, in Verfolgung ihrer Interessen oder Ideale rationalerweise übereinkommen, sie zu schaffen, ist die Regelung eine, der alle Betroffenen in der tatsächlichen Welt zustimmen können. Es ist ganz gleichgültig, wie die Regelung tatsächlich entstanden ist; wenn sich nur denken lässt, dass sie aus einem rationalen Agreement der Betroffenen hervorgegangen ist, ist die Regelung eine, der alle rationalerweise zustimmen können. Sie können ihr zustimmen, weil sie im Interesse eines jeden ist und folglich eine für jeden Einzelnen vernünftige Regelung darstellt. Weil sie vernünftig ist, würden die Betroffenen sie im Naturzustand schaffen und ihr in der tatsächlichen Welt vernünftigerweise zustimmen. Die Vernünftigkeit der Regelung bemisst sich an den Interessen der einzelnen Individuen und ihren Idealen (die eine besondere Form von Interessen sind). Sie ist eben dadurch für jedes einzelne Individuum vernünftig, dass sie der möglichst optimalen Realisierung der jeweiligen Interessen (genauer müsste man sagen: der jeweiligen rationalen Interessen) dient. Der Begriff der (praktischen) Vernünftigkeit, den ich hier voraussetze, ist strikt individuell und strikt auf die (rationalen) Interessen der Individuen bezogen. Es ist hiernach klar, dass eine Regelung nur dann für eine Anzahl von Personen vernünftig sein kann, wenn diese Personen in ihren Interessen oder Idealen übereinstimmen. Aus den angestellten Überlegungen folgt auch, dass,
49 Vgl. hierzu die detaillierteren Untersuchungen in Vf., Handeln zugunsten anderer, § 7 und § 11 sowie in Vf., Warum moralischer Kontraktualismus?, in diesem Band, S. 171– 178.
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wenn klar ist, was die Interessen einer Person sind, unabhängig vom Urteil dieser Person festliegt, ob eine Regelung für sie vernünftig ist oder nicht. Die Vernünftigkeit einer Regelung für eine bestimmte Person ist unabhängig davon, dass sie die Regelung als vernünftig erkennt und ihr deshalb zustimmt. Die Vernünftigkeit ist also im Prinzip von der faktischen Zustimmung unabhängig. Wir können, so zeigt sich, wenn wir die Charakterisierung einer Regelung, die sich der Fiktion des Naturzustandes bedient, durch eine direktere Charakterisierung ersetzen wollen, nicht nur auf die Rede vom Naturzustand, vom Übereinkommen und vom Hervorbringen verzichten, man kann auch auf die zunächst herangezogene Rede von der Zustimmung verzichten. Die Regelung, die zu etablieren die Betroffenen im Naturzustand vernünftigerweise übereinkommen und der sie in der tatsächlichen Welt vernünftigerweise zustimmen, ist einfach eine Regelung, die für sie, für jeden einzelnen von ihnen vernünftig ist. Dies ist der Kern der Sache und die richtige Übersetzung der kontraktualistischen Fiktion.⁵⁰
XI Was bedeuten diese Überlegungen für den Pflichtbegriff? Ich hatte zunächst in der Sprache der kontraktualistischen Fiktion gesagt, moralisch verpflichtend sei ein Müssen, das zu setzen, sich rationale Personen gegenseitig ermächtigen würden, wenn sie aus einem moralischen Vakuum heraus eine Moral erst hervorbringen müssten. Erpresserisch sei hingegen ein Müssen, das zu setzen, sich rationale Personen nicht ermächtigen würden. Das kontraktualistische Bild zurücklassend können wir jetzt sagen: Verpflichtend ist ein Müssen, dessen Konstitution durch Sanktionen im Interesse der Betroffenen liegt, das heißt: für jeden der Betroffenen vernünftig ist. Erpresserisch ist ein Müssen, für das dies nicht gilt. Die, die sanktionieren, tun im einen Fall, gemessen an den Interessen und Idealen der Betroffenen, etwas Vernünftiges, im anderen Fall tun sie etwas,was den Interessen und Idealen der Betroffenen oder eines Teils der Betroffenen nicht entspricht und was deshalb diesen gegenüber der Vollzug bloßer Macht und damit erpresserisch ist. Nehmen wir, um noch ein Beispiel zu haben, eine Gemeinschaft, die infolge eines sehr starken Zusammengehörigkeitsgefühls und darin wurzelnden weitgehenden altruistischen Idealen sehr anspruchsvolle Solidaritätsnormen etabliert und entsprechend sanktioniert. Das Problem ist allerdings, dass nicht alle Mitglieder der Gemeinschaft das ausgeprägte Gemeinschaftsgefühl und die daraus resultierenden altruistischen Ideale teilen; eine Minderheit von Mitgliedern hat
50 Vgl. hierzu eingehender Vf., Moralischer Kontraktualismus, in diesem Band.
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diese Ideale nicht. Und sie machen hiermit nichts falsch, sie sind anders. Sie haben eine andere Sicht des Zusammenlebens und vielleicht des Lebens überhaupt. Die weitgehenden Ideale der Mehrheit sind nichts, was man rationalerweise haben muss; man kann sie haben, aber man muss sie nicht haben. Die moralischen Normen sind in diesem Fall gegenüber den Mitgliedern der Minderheit nicht verpflichtend, sie sind erpresserisch. Die Mitglieder der Minderheit sind einem Müssen ausgesetzt, das nicht ihren Interessen und Idealen entspricht. Ihnen geschieht deshalb, indem sie durch die moralischen Sanktionen genötigt werden, sich so-und-so zu verhalten, im Namen der Moral ein moralisches Unrecht. Sie werden deshalb versuchen, den status quo zu verändern und auf einen Zustand hinzuwirken, in dem die anderen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft ihre altruistischen Ideale leben, ohne sie in ein moralisches Müssen für alle zu transformieren. Und in dem sie die, die diese Ideale nicht haben und nicht entsprechend handeln, nicht als solche behandeln, die gegen moralische Pflichten verstoßen und damit moralisches Unrecht tun, sondern als solche, die anders, in ihren Augen bedauerlicherweise anders sind. Wie bereits gesagt, liegt, wenn klar ist, was die Interessen und Ideale einer Person sind, unabhängig vom Urteil dieser Person fest, ob eine Regelung für sie vernünftig ist oder nicht. Das bedeutet, dass jemand zu Handlungen verpflichtet sein kann, ohne der Regelung, dass das Anders-Handeln sanktioniert wird, zuzustimmen und ohne die, die sanktionieren, dazu zu ermächtigen. Die jetzt entwickelte Bestimmung der moralischen Pflicht macht das Verpflichtetsein also von der faktischen Zustimmung und der faktischen Ermächtigung der die Sanktionen und damit das moralische Müssen setzenden Instanz unabhängig. Das ist meines Erachtens zwingend, weil die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft sich, wie schon gesagt, faktisch nicht gegenseitig ermächtigen und weil natürlich die meisten nicht über die moralische Ordnung, in der sie leben, nachdenken und ihre Regelungen nicht auf Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit hin prüfen. Allerdings ist es, wenn ein Müssen verpflichtend ist, möglich, jedem Betroffenen Gründe für eine Zustimmung oder eine Ermächtigung zu präsentieren, die er vernünftigerweise: im Blick auf seine Interessen und Ideale nicht zurückweisen kann. Und dies berechtigt, so meine ich, dazu, das moralisch verpflichtende Müssen „autonom“ zu nennen. Das verpflichtende Müssen der Moral ist autonom, denn es entspricht den Interessen derer, die es trifft. Und diese Entsprechung ist das Kriterium seines verpflichtenden Charakters. Die Verbindung des Pflichtbegriffs mit dem der Autonomie bleibt also gewahrt. Mit der Bindung der moralischen Verpflichtung an die Vernünftigkeit der Sanktionierung wird der Begriff der moralischen Pflicht aus dem „juridischen“ Kontext herausgelöst, in dem er steht, wenn zu seiner Definition die Begriffe Ermächtigung, Berechtigung oder Befugnis verwandt werden. Die traditionelle
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„juridische“ Konzeption der moralischen Verpflichtung wird so auf dem Wege schrittweiser Kritik und Weiterentwicklung in eine, wie man sagen könnte, Vernunftkonzeption der moralischen Verpflichtung überführt. Angesichts dieser Formulierung ist es angebracht, Folgendes in Erinnerung zu rufen: Das moralische Verpflichtetsein ist ein praktisches und näherhin sanktionskonstituiertes Müssen. Die Normativität, also die Tatsache, dass man die Handlung x tun muss, resultiert demnach daraus, dass, x nicht zu tun, unweigerlich eine Sanktion nach sich zieht. Zu dieser Normativität kommt im Falle des moralischen Verpflichtetseins nicht noch zusätzlich irgendeine verpflichtende Kraft hinzu. Was hinzu kommt, ist, dass die Regelung, das Unterlassen von x zu sanktionieren, für die von dieser Regelung Betroffenen vernünftig ist. Aus diesem Vernünftigsein entspringt aber nicht so etwas wie eine zusätzliche bindende Kraft oder etwas anderes Mysteriöses dieser Art. Der Normativität, die aus den Sanktionen kommt, wird nicht eine eigene, spezifisch verpflichtende Normativität hinzugefügt; die sanktionskonstituierte Normativität ist vielmehr – dadurch, dass die Sanktionierung vernünftig ist – die verpflichtende Normativität. Oder, um es gegen den Mythos von einer eigenen bindenden Kraft der Verpflichtung noch deutlicher zu sagen: Was wir haben, ist ein Unterschied in dem Phänomen: die Existenz des einen Müssens ist relativ auf die Interessen und Ideale der Betroffenen vernünftig, die Existenz eines anderen Müssens ist dies nicht. Dieser Unterschied ist uns sehr wichtig, und deshalb haben wir ein spezielles begriffliches Instrument, um ihn zu markieren und die Trennlinie deutlich zu machen. Wir tun dies, indem wir sagen, das eine Müssen sei verpflichtend, das andere sei es nicht. Aber an dem Ursprung und der Kraft des Müssens ändert sich dadurch nichts. Die Nötigung ist in beiden Fällen dieselbe.
XII Die vorgeschlagene Konzeption der moralischen Verpflichtung zieht eine Reihe von Fragen und Einwänden auf sich. Ich will auf einen wichtigen Punkt eingehen. Verpflichtend ist, so habe ich gesagt, ein Müssen, dessen Konstitution durch Sanktionen im Interesse der Betroffenen liegt, das heißt, für jeden der Betroffenen vernünftig ist. Nehmen wir das Beispiel zweier Personen A und B, die vom jeweils anderen nicht verletzt werden wollen, hierin nicht vom möglichen Wohlwollen des anderen abhängig sein möchten und deshalb einen möglichst wirksamen Schutz vor dem Verletztwerden haben wollen. Für beide ist es vernünftig, das Den-anderen-nicht-Verletzen durch die Etablierung einer entsprechenden Sanktionspraxis zu einem „Muss“ zu machen. Gelingt es, ein solches Müssen zu schaffen, ist es verpflichtend. A und B schaffen also ein verpflichtendes Müssen und damit eine
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moralische Normativität. – Es könnte nun jemand einwenden, wenn das verpflichtende Müssen in dieser Weise an die Vernünftigkeit gebunden sei, dann bedürfe es der künstlich geschaffenen verpflichtenden Normativität und der Sanktionen gar nicht. Denn es gebe in der Situation zwischen A und B bereits eine bloß prudentielle Normativität, die es zwingend macht, den anderen nicht zu verletzen. Diese Normativität werde durch eine künstlich geschaffene verpflichtende Normativität gleichen Inhalts nur verdoppelt. Eine solche Verdoppelung sei aber unnötig, die bloß prudentielle Normativität reiche für die Verhaltensregulierung völlig aus. Wenn der Einwender sagt, es gebe in der Situation zwischen A und B bereits ein bloß prudentielles Müssen, das es verbietet, den anderen zu verletzen, hat er Folgendes im Auge: A und B sind an einer moralischen Norm, die dazu verpflichtet, den anderen nicht zu verletzen, nur interessiert, weil die Norm auch den anderen dazu verpflichtet. Für beide ist die Norm, die die eigenen Handlungsmöglichkeiten begrenzt, nur vernünftig, weil sie auch die Handlungsmöglichkeiten des anderen begrenzt. Der Konstitution der Norm liegt also eine Interessenlage zugrunde, nach der die Sicherheit, von dem anderen nicht verletzt zu werden, für A wie für B wertvoller ist als die Möglichkeit, den anderen selbst zu verletzen. Jeder gibt das eine her, um dafür das andere zu bekommen. Bei dieser Konstellation der Interessen ist es aber auch ohne moralische Norm und ohne Sanktionen für jeden der beiden vernünftig, den anderen nicht zu verletzen, vorausgesetzt dieser tut dasselbe. Jeder gibt, so gebietet es die Klugheit, das eine her, um im Gegenzug das andere, das ihm wichtiger ist, zu bekommen. Beide erreichen damit einen Zustand der Handlungskoordination, in dem ihr gemeinsames Ziel, nicht verletzt zu werden, realisiert ist. Für beide ist es in der Verfolgung ihres Ziels also rational zwingend, ihr Verhalten in dieser Weise zu koordinieren. Dass es rational zwingend ist, heißt aber, dass es ein rationales, ein prudentielles „Muss“ ist, sich so zu verhalten. Wer es nicht tut, zerstört die gemeinsame Strategie, innerhalb deren es für den anderen allein zwingend ist, auf bestimmte Handlungsmöglichkeiten zu verzichten. Es besteht also, so zeigt diese Überlegung, in der Tat unabhängig von dem moralischen Müssen ein prudentielles Müssen mit demselben Inhalt. Deshalb erweist sich das verpflichtende moralische Müssen als ein nur hinzukommendes Müssen, und als solches scheint es tatsächlich überflüssig zu sein. Es pfropft auf ein bereits vorhandenes prudentielles Müssen noch ein zweites, künstlich geschaffenes Müssen gleichen Inhalts auf. Dadurch wird aber nichts zu etwas „Gemusstem“, was nicht vorher schon „gemusst“ war. So richtig es ist, dass das verpflichtende moralische Müssen, ist es durch Vernünftigkeit definiert, im Prinzip nur ein hinzukommendes Müssen ist, so wenig liegt darin ein Argument für seine Überflüssigkeit. Zwei Überlegungen zeigen das. Die erste: Das ursprüngliche Interesse von A und B ist es, möglichst sicher zu sein,
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nicht verletzt zu werden. Je sicherer, desto besser. A und B haben folglich ein Interesse daran, das bloß prudentielle Müssen zu verstärken. Sie möchten ihm zusätzliche Kraft geben, damit es nachteiliger und damit unwahrscheinlicher wird, dass der andere anders als „gemusst“ handelt. Vor allem zwei Tatsachen machen eine Verstärkung des bloß prudentiellen Müssens dringlich. Zunächst erkennt nicht jeder, dass es für ihn rational ist, sein Verhalten mit den anderen zu koordinieren. Nicht jeder durchschaut, dass es für ihn von Vorteil ist, sich Handlungsbeschränkungen aufzuerlegen, vorausgesetzt der andere tut es auch. Leichter ist es, zu erkennen, dass eine bestimmte Handlung bestimmte Sanktionen nach sich zieht. So wird es durch die Etablierung moralischer Sanktionen unwahrscheinlicher, dass jemand anders als „gemusst“ handelt. Ferner handeln die Menschen bisweilen infolge starker Affekte gegen ihre eigene Einsicht in das, was zu tun vernünftig wäre. Auch hier gilt, dass, je offensichtlicher und massiver die drohenden negativen Konsequenzen sind, es umso unwahrscheinlicher wird, dass jemand anders als „gemusst“ handelt. Wir sind daran, dass die anderen auf uns Rücksicht nehmen und uns in Notsituationen helfen, so stark interessiert, dass wir ein System des Müssens wollen, das möglichst unabhängig von der Einsichtsfähigkeit und der Selbstbeherrschung des Einzelnen effektiv funktioniert. Ein System bloß prudentieller Regeln tut dies weit weniger als eine moralische Ordnung, die durch die Schaffung künstlicher negativer Konsequenzen zusätzliche und möglichst unübersehbare Gründe für das Handeln zugunsten anderer schafft. Die Moral gleicht in diesem Punkt einer rechtlichen Ordnung; auch eine rechtliche Ordnung versucht, möglichst unabhängig von der Einsichtsfähigkeit, der Beherrschtheit und auch von sonstigen Eigenschaften der Einzelnen bestimmte Mindestregeln des Zusammenlebens durchzusetzen. Die zweite Überlegung, die zeigt, dass das moralische Müssen nicht überflüssig ist, ist diese: Das verpflichtende Müssen ist nicht in allen Fällen nur ein hinzukommendes Müssen. Es gibt Situationen, in denen es A und B nicht gelingt, in ein kooperatives Verhaltensmuster der beschriebenen Art zu finden. Die kooperative Strategie setzt sich nicht durch, obwohl beide einen Zustand wollen, in dem sich beide bestimmte Handlungsbeschränkungen auferlegen. Das Dilemma besteht darin, dass A und B zwar einsehen, dass es für sie das Beste wäre, wenn sie beide x unterließen, dass aber keiner von ihnen einen Grund hat, entsprechend zu handeln, weil sich keiner sicher ist, wie der andere handeln wird, und deshalb jeder befürchten muss, dass, wenn er vorleistet, der andere dies ausnutzen und nicht nachleisten wird.⁵¹ Häufig sind auch Situationen, in denen es umgekehrt ist,
51 Vgl. hierzu vor allem Axelrod, The Evolution of Cooperation, auch Mackie, Ethics, 115 – 120; dt. Ethik, 144– 151.
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in denen A sicher sein kann, dass B x unterlassen wird, und zwar ganz unabhängig davon, wie er selbst sich verhält. Unter diesen Umständen ist es für A im Blick auf sein Ziel nicht zwingend, seinerseits x zu unterlassen. Es kommt auch hier nicht zu der kooperativen Verhaltensstrategie, die es für beide zwingend macht, sich zugunsten des anderen zu verhalten. In all den Situationen, in denen es aus verschiedenen Gründen zu keinem bloß prudentiellen Müssen kommt und die keineswegs selten, sondern alltäglich sind, bedarf es der moralischen Norm, um das Handeln zugunsten des anderen zu etwas „Gemusstem“ zu machen. Das verpflichtende Müssen der Moral ist demnach nicht in jedem Fall nur ein hinzukommendes Müssen. Es hat nicht nur die – wichtige – Funktion, ein schon vorhandenes prudentielles Müssen zu verstärken, sondern auch die Funktion, dieses Müssen, wenn es nicht zustande kommt, zu ersetzen. – Das verpflichtende moralische Müssen ist also, auch wenn es in der vorgeschlagenen Weise durch Vernünftigkeit definiert ist, durchaus nicht überflüssig. Es hat vielmehr eine elementare doppelte Funktion für die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens.⁵²
XIII Ich kann meine Überlegungen in folgender Weise zusammenfassen. Das moralische Müssen ist ein sanktionskonstituiertes Müssen und damit ein prudentielles (oder rationales) Müssen: Es ist rational zwingend, sich moralisch zu verhalten, weil man sonst Sanktionen hinnehmen muss. Das Entscheidende ist nun, dass es auch bei diesem Verständnis der moralischen Normativität sinnvoll und nützlich ist, den Begriff der Pflicht und des verpflichtenden Müssens einzuführen bzw. an ihm festzuhalten. Auch eine aufgeklärte Moral, die ihre Basis allein in den Interessen und der Vernunft der Betroffenen hat und das moralische Müssen als eine besondere Art des prudentiellen Müssens versteht, kann auf den Begriff der Verpflichtung nicht verzichten, will sie nicht einen wichtigen, praxisrelevanten Unterschied übergehen. Dieser Unterschied ist der zwischen einem Müssen, das für die, die von ihm betroffen sind, vernünftig ist, und einem Müssen, das dies nicht ist. Diesen Unterschied markieren wir, indem wir das eine Müssen verpflichtend nennen und das andere erpresserisch. Es ist offenkundig, dass wir dem einen Müssen anders gegenüberstehen als dem anderen. Im einen Fall kann man sich als Autor des Müssens denken, als jemand, der dieses Müssen selbst will, im anderen Fall ist man in einer Situation bloßer Heteronomie; man muss etwas tun,
52 Vgl. zur doppelten Funktion des moralischen Müssens auch Vf., Handeln zugunsten anderer, 92– 101.
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weil ein anderer es einem abpresst. Im einen Fall kann man die sanktionierende Instanz als zur Sanktionierung ermächtigt betrachten, im anderen Fall kann man die, die sanktionieren, nur als Erpresser von der Art des Straßenräubers sehen. Und natürlich ist der Unterschied zwischen verpflichtendem und erpresserischem Müssen auch für uns in der Rolle des Sanktionierenden sehr wichtig. Ist das Müssen verpflichtend, können sich die Sanktionierenden als zur Sanktionierung ermächtigt betrachten, sie tun etwas, was sie gegenüber den von den Sanktionen Betroffenen rechtfertigen können, sie tun etwas, dem die Betroffenen vernünftigerweise zustimmen würden.Von all dem kann bei einem erpresserischen Müssen nicht die Rede sein. Eine Moralkonzeption, die den Begriff der Pflicht fallen ließe, hätte also nichts in der Hand, um eine legitime moralische Ordnung von einer erpresserischen Zwangsordnung zu unterscheiden.
3 Moralische Rechte als soziale Artefakte I Die Überzeugung, dass die Menschen, einfach weil sie Menschen sind, bestimmte moralische Rechte haben, – unabhängig von jedem menschlichen Handeln, von jeder sozialen Institution und von jeder politisch-rechtlichen Ordnung, ist eine weit verbreitete und tief verwurzelte moralische Kernannahme. Sie prägt die Weltsicht vieler Menschen und beeinflusst maßgeblich ihre moralischen Einschätzungen und Urteile; sie beherrscht die öffentliche Diskussion moralischer und politischer Fragen, sie trägt die Menschenrechtsidee und deren politische Durchsetzung, und sie liegt vielen Staatsverfassungen und internationalen Konventionen zugrunde. Ihren Hintergrund bilden häufig religiöse Vorstellungen, nämlich dass Gott die Menschen geschaffen und sie mit diesen Rechten ausgestattet hat. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 hieß es, die Menschen seien von ihrem Schöpfer mit „gewissen unveräußerlichen Rechten“ „ausgestattet“ worden. Diese Vorstellung ist ohne Zweifel bis heute – reflektiert oder untergründig – lebendig und von größtem Einfluss. Es lohnt sich, einen kurzen Blick auf die frühneuzeitliche Naturrechtstradition, die die Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts philosophisch vorbereitet hat, zu werfen und zu sehen, wie etwa Pufendorf die Vorstellung vom göttlichen Ursprung der moralischen Rechte ausgestaltet und den Rechtsstatus der Menschen erklärt hat. Pufendorf ist der Ansicht, dass die Menschen als natürliche Wesen, als Teil des physikalischen Universums keine Rechte haben, wie überhaupt nichts Natürliches als solches einen normativen Status besitzt. Die Rechte werden den Menschen vielmehr von einem intelligenten Wesen, sprich: von Gott verliehen, sie werden ihnen zugewiesen („impositio“ ist der übliche Ausdruck) oder, wie es auch heißt, ihnen hinzugefügt („superadditio“). Während die natürlichen Dinge (entia physica) durch die Schöpfung (creatio) entstehen, entstehen moralische Dinge (entia moralia) durch die Zuweisung (impositio) eines normativen Status an natürliche Dinge. Und diese Zuweisung nimmt, wie gesagt, ein intelligentes Wesen vor.¹ Dass die Menschen moralische Rechte haben, ist also keine Naturtatsache, sie ist eine künstliche, durch einen Akt der Zuweisung eigens hervorgebrachte und dem geschaffenen physikalischen Universum hinzugefügte Tatsache eigener Art. 1 Pufendorf, De jure naturae et gentium, I, i, § 4, Bd. 1, S. 14: „Porro uti modus originarius producendi entia physica est creatio; ita modum, quo entia moralia producuntur, vix melius possis exprimere, quam per vocabulum impositionis.“ Engl. Übers. in: Pufendorf, The Political Writings, 100.
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Wer die religiösen Annahmen, die diese und verwandte Konzeptionen tragen, nicht akzeptiert, aber an der Idee objektiver moralischer Rechte festhält, ist gezwungen, die Vorstellung, dass die Rechte verliehen oder zugewiesen werden, aufzugeben. Denn Gott hat sie dann nicht verliehen, und die Menschen haben sie, da es sich ja um objektive, von allem menschlichen Handeln unabhängige Rechte handeln soll, auch nicht verliehen.² Notgedrungen werden die moralischen Rechte so – in einer naturalistischen Variante des Naturrechts – zu Rechten, die die Menschen von Natur aus einfach haben. Sie haben sie, ohne dass sie ihnen verliehen wurden, ohne dass ein intelligentes Wesen Normen gesetzt hat, als deren Ergebnis die Menschen Rechte und Pflichten haben. Die Menschen haben diese Rechte vielmehr als Teil ihrer natürlichen Ausstattung. Ihr Rechtebesitz ist somit etwas der Natur selbst Inhärentes, eine Naturtatsache, nicht anders als die Tatsache, dass die Menschen bestimmte Körperorgane haben. Man sieht hier, glaube ich, sehr schnell, wie die Annahme solcher Rechte, abgerissen von ihrem religiösen Hintergrund, zu einer haltlosen, aus der Luft gegriffenen Behauptung herabsinkt. – Ein plausibilisierendes Umfeld erhält sie allenfalls durch die Vorstellung, die Menschen hätten kraft ihres Menschseins oder ihrer Vernunftbegabung oder kraft eines anderen empirischen Merkmals einen absoluten Wert oder eine exklusive Würde, die sie unantastbar macht und deshalb bestimmte moralische Rechte mit sich bringt. Wobei, dass die Menschen diesen Wert oder diese Würde besitzen, erneut als eine (ontologisch) objektive Tatsache gedacht ist, als etwas, was unabhängig von uns einfach so ist. Doch die Vorstellung, dass die Menschen einen absoluten Wert haben, lässt sich meines Erachtens ihrerseits nur im Rückgriff auf religiöse Annahmen verständlich machen und begründen. Es scheint also, als lasse sich die Vorstellung, die Menschen hätten, einfach weil sie Menschen sind, moralische Rechte, unabhängig von allem menschlichen Handeln, nur unter Voraussetzung religiöser Prämissen entfalten und verteidigen.³ Denn Rechte können nur verliehene Rechte sein, und wenn sie nicht von den Menschen verliehen sein sollen, können sie nur von einem anderen intelligenten Wesen, also von Gott verliehen werden. Nun sind aber die basalen religiösen Annahmen: dass es einen Gott gibt, dass er die Welt geschaffen hat, dass er sich für die Menschen interessiert, dass er will, dass sie sich in bestimmter Weise verhalten etc., mit erheblichen, in meinen Augen unlösbaren kognitiven Schwierigkeiten
2 „Objektiv“ ist hier im Sinne von „ontologisch objektiv“ verstanden. In diesem Sinne charakterisiert „objektiv“ die Existenzart von Dingen. Dinge sind ontologisch objektiv, wenn sie unabhängig von menschlichem Handeln, Erkennen, Fühlen existieren. Vgl. hierzu Searle, The Construction of Social Reality, 8 f.; dt. Die Konstruktion der gesellschaftlilchen Wirklichkeit, 17 f. 3 Vgl. hierzu die aufschlussreiche Untersuchung von Perry, Is the Idea of Human Rights Ineliminably Religious?
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behaftet, so dass es unmöglich ist, eine aufgeklärte Moral auf diese Prämissen zu stützen. Jedenfalls ist es nicht zwingend, diese Annahmen zu akzeptieren. Und dies bedeutet schon, dass sie nicht die Grundlage einer Moral sein können, die auch für die verbindlich ist, die diese Annahmen nicht teilen und sich damit nicht irrational verhalten. Aus dem Gesagten folgt, dass wir moralische Rechte nur als von Menschen verliehene Rechte verstehen können. Die Menschen geben sich moralische Normen und schaffen damit moralische Rechte und Pflichten; sie schaffen eine normative Struktur, ein normatives Relationengefüge, das sie den „entia physica“, die sie und ihre Handlungen sind, „imponieren“. Sie tun dies in Verfolgung ihrer Interessen und Ideale. Oder, anders gesagt, weil sie spüren, dass eine Welt, in der es moralische Rechte und Pflichten gibt, für sie besser ist als eine Welt ohne Moral. Die Akteure müssen sich dabei übrigens des tatsächlichen Geschehens nicht bewusst sein. Vielleicht denken sie, dass sie moralische Rechte und Pflichten haben, weil Gott es so bestimmt hat. Das änderte nichts daran, dass sie die Moral in Wahrheit in Verfolgung ihrer Interessen und Ideale selbst hervorbringen. Moralische Rechte sind also nicht vorgegebene und vorgefundene objektive Rechte, sie sind vielmehr von Menschen hervorgebrachte Artefakte. Sie sind wie juridische Rechte positive Rechte, obwohl sie anders als diese der staatlichen Ordnung vorausgehen. Auch diesseits ihrer möglichen juridischen Institutionalisierung sind moralische Rechte positive Rechte. Dies zu erkennen, ist der erste und wichtigste, wenngleich mit vielen Widerständen behaftete Schritt zum richtigen Verständnis moralischer Rechte.
II 1. Will man diese Erkenntnis in eine adäquate Konzeption moralischer Rechte umsetzen und genauer verstehen, was ein moralisches Recht ist und wann jemand ein solches Recht hat, kommt man nur zu Ergebnissen, wenn man sich in der zentralen Frage der Moralphilosophie Klarheit verschafft, in der Frage, von welcher Art das moralische Müssen ist und wie es in die Welt kommt. Der Zusammenhang ist folgender: Dem moralischen Recht auf der Seite des Rechtsträgers korreliert das moralische Verpflichtetsein auf der Seite des (oder der) Rechtsadressaten. Das moralische Verpflichtetsein ist aber nichts anderes als das spezifisch moralische Müssen. Eine moralische Pflicht zu haben, bedeutet, etwas moralisch zu müssen. Demnach bedeutet, ein moralisches Recht zu haben, dass andere dem Rechtsträger gegenüber bestimmte Dinge moralischerweise unterlassen (oder tun) müssen.Will man verstehen, was ein moralisches Recht ist, muss
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man folglich klären, was für ein Müssen dieses moralische Müssen ist und was die Bedingungen seiner Existenz sind. Da ich in Handeln zugunsten anderer eine ausführliche Analyse des moralischen Müssens gegeben habe⁴, hier nur ein knapper Abriss in vier Schritten. Der erste Schritt: Ein praktisches, auf ein Handeln bezogenes Müssen ist, so meine ich, generell ein relatives Müssen, relativ auf ein Wollen dessen, der muss. Es ist generell von der Struktur: Wenn Anna die Klausur bestehen will, muss sie etwas dafür tun. Das praktische Müssen gründet hier darin, dass Anna die Klausur bestehen will und dass, etwas dafür zu tun, das einzige Mittel ist, dieses Ziel zu erreichen. Würde Anna nichts tun, müsste sie unausweichlich die negative Konsequenz hinnehmen, die Klausur nicht zu bestehen. Die Unausweichlichkeit der negativen Konsequenz im Falle des Anders-Handelns konstituiert das praktische Müssen. X tun zu müssen, bedeutet also, dass, x nicht zu tun, unweigerlich eine negative Konsequenz nach sich zieht. Da Anna sich, wenn sie die Klausur bestehen will, aber nichts dafür tut, unklug, nämlich gegen ihr eigenes Interesse verhalten würde, kann man auch sagen, dass ein praktisches Müssen generell ein prudentielles Müssen ist. Der zweite Schritt: Die Verbindung einer Handlung mit einer negativen Konsequenz kann von der Art sein, dass sich die negative Konsequenz „von selbst“ einstellt, aufgrund von Naturgesetzen oder aufgrund der gegebenen Umstände. So stellt sich, wenn jemand über einen längeren Zeitraum eine Gymnastik machen muss, um wieder gesund und voll leistungsfähig zu werden, er die Gymnastik aber nicht macht, die negative Konsequenz einer zurückbleibenden Beeinträchtigung „von selbst“ ein, in diesem Fall aufgrund von medizinischen Fakten. Die Verbindung von negativer Konsequenz und Handlung kann aber auch absichtlich hergestellt werden, um auf diese Weise das Unterlassen der Handlung künstlich zu einem Muss zu machen. So belegt die Rechtsordnung Verletzungshandlungen mit einer Strafe, um dadurch ihre Unterlassung künstlich zu etwas „Gemusstem“ zu machen. Man macht die Handlung x zu einer Handlung, die man unterlassen muss, indem man das Tun von x künstlich mit einer negativen Konsequenz verknüpft. Negative Konsequenzen dieser Art sind Sanktionen, und ein durch sie konstituiertes Müssen ist ein sanktionskonstituiertes Müssen. Der dritte Schritt: Das moralische Müssen ist, so meine Sicht, ein sanktionskonstituiertes Müssen. Moralisches Handeln wird dadurch zu einem Muss, dass unmoralisches Handeln künstlich mit negativen Konsequenzen verknüpft wird. Das moralische Müssen ist also ein spezifisches, eben ein durch Sanktionen konstituiertes prudentielles Müssen. Die moralischen Sanktionen sind informelle
4 Vgl. Vf., Handeln zugunsten anderer, § 3 und § 4.
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soziale Sanktionen: sozialer Druck, den die moralische Gemeinschaft ausübt und dem jeder ausgesetzt ist, der unmoralisch handelt. Die Macht und Wirkung dieses informellen sozialen Drucks wird erheblich dadurch verstärkt, dass er über den Weg der Internalisierung auch die Gestalt inneren Drucks annimmt. Wer eine unmoralische Handlung erwägt, reagiert bereits mit einem mehr oder weniger starken Gefühl des Unbehagens; erst recht kämpft er gegen einen inneren Widerstand, wenn er das Unrecht tatsächlich begeht. Will man diesen äußeren und inneren Druck vermeiden, muss man moralisch handeln. Der informelle soziale Druck kann darüber hinaus auch juridisch verstärkt werden, indem nicht nur moralisch, sondern auch juridisch, das heißt nach einem formellen rechtlichen Verfahren und nötigenfalls auch unter Anwendung physischen Zwangs sanktioniert wird. – Es ist ausdrücklich hervorzuheben, dass das moralische Müssen allein durch die Sanktionen konstituiert ist. Eine Handlung ist nur dadurch moralisch „gemusst“, dass, sie nicht zu tun, mit einer moralischen Sanktion verknüpft ist. Es gibt kein den Sanktionen vorgängiges, von ihnen unabhängiges moralisches Müssen. Eine Handlung wird also nicht sanktioniert, weil man sie nicht tun darf, vielmehr darf man sie nicht tun, weil sie sanktioniert wird. Das moralische Müssen ist uns demnach nicht durch die Welt, die Natur oder durch Gott vorgegeben, sondern ein Ergebnis menschlichen Handelns, etwas künstlich Hervorgebrachtes, ein soziales Konstrukt. Wenn diese Analyse so weit richtig ist, können wir schon einige sehr wichtige Schlussfolgerungen bezüglich der moralischen Rechte ziehen. Wo keine informellen sozialen Sanktionen, da, so zeigt sich, auch kein moralisches Müssen. Und wo kein moralisches Müssen, da natürlich auch keine moralischen Rechte (und keine moralischen Pflichten). Moralische Rechte gibt es folglich nur dort, wo eine Gemeinschaft bestimmte Handlungen moralisch sanktioniert, wo also ein bestimmtes System des Sanktionierens sozial etabliert ist. Jemand kann das moralische Recht, von anderen x nicht zugefügt zu bekommen, nur haben, wenn Handlungen, die ihm x zufügen, von der moralischen Gemeinschaft, in der er lebt, informell sozial sanktioniert werden (und wenn, nicht zu sanktionieren, seinerseits sanktioniert wird). Moralische Rechte sind also nichts, was die Menschen unabhängig von allen sozialen Arrangements besitzen. Sie setzen vielmehr Kooperation und kollektives Handeln von Menschen voraus. Moralische Rechte sind an eine bestimmte soziale Wirklichkeit gebunden, sie sind, so können wir sagen, soziale Artefakte. Hiermit haben wir die zentrale Einsicht, dass moralische Rechte menschliche Hervorbringungen und deshalb positive Rechte sind, durch eine Analyse des moralischen Müssens eingeholt und bereits in wesentlichen Punkten konkretisiert. Es ist indes wichtig, noch einen vierten Schritt in der Analyse des moralischen Müssens zu tun und zu sehen, dass nicht jedes durch informelle soziale Sank-
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tionen konstituierte Müssen ein moralisches Müssen ist. Ein solches Müssen kann auch ein erpresserisches Müssen sein, dann nämlich, wenn der Zwang, den die sanktionierende Gemeinschaft durch die Androhung und gegebenenfalls die Verhängung der Sanktionen ausübt, ein nackter und nicht ein gerechtfertigter oder legitimer Zwang ist. Wenn eine Räuberbande einem Passanten die Herausgabe seiner Geldbörse mit der Drohung, sonst zusammengeschlagen zu werden, abpresst, muss der Passant die Geldbörse herausgeben, aber dieses sanktionskonstituierte Müssen ist ein erpresserisches Müssen. Der Passant ist hier ein Opfer nackter Gewalt und nicht der Adressat legitimen Zwangs. Es scheint klar, dass das moralische Müssen kein erpresserisches Müssen ist.⁵ Eine Moral ist zwar ein Macht- und Zwangssystem, das durch die Androhung sozialer Sanktionen zu bestimmten Handlungen nötigt; aber sie ist kein System nackten Zwangs, sondern eine Ordnung gerechtfertigten oder legitimen Zwangs. Ein moralisches Müssen liegt demnach nur vor, wenn die Gemeinschaft, die ihre Mitglieder zu bestimmten Verhaltensweisen nötigt, dies gerechtfertigterweise tut. Fehlt die Rechtfertigung, ist das Müssen erpresserisch und damit gerade nicht moralisch. – Hieraus folgt, dass moralische Rechte daran gebunden sind, dass die Sanktionspraxis, die sie konstituiert, gerechtfertigt ist. Das moralische Recht, x nicht zugefügt zu bekommen, hat jemand also nur dann, wenn (1) Handlungen, die ihm x zufügen, von der Gemeinschaft, in der er lebt, informell sozial sanktioniert werden und (2) wenn diese Sanktionspraxis gerechtfertigt ist. Natürlich stellt sich hier die Frage, was das Gerechtfertigtsein einer Sanktionspraxis ausmacht. Wenn wir religiöse und naturalistische Moralkonzeptionen zurückweisen, und auch, wofür ich hier nicht argumentieren kann, eine Vernunftkonzeption im Sinne Kants, kann es nur darin bestehen, dass die Sanktionspraxis den (rationalen) Interessen und Idealen der Betroffenen entspricht. Tut sie dies nicht, ist sie, zumindest partiell, erpresserisch.Wenn eine Sanktionspraxis in dieser Weise gerechtfertigt ist, ist sie eine – relativ auf die Interessen und Ideale der Betroffenen – vernünftige Praxis. Alle Betroffenen haben Grund, sie zu akzeptieren oder ihr zuzustimmen. Und alle haben, wenn es sie nicht gibt, Grund, sie hervorzubringen. Das Gerechtfertigtsein einer Sanktionspraxis liegt also, kurz gesagt, in ihrem Vernünftigsein, – „vernünftig“ im genannten Sinne verstanden. Nach dieser Klärung können wir genauer sagen, dass jemand dann das moralische Recht hat, x nicht zugefügt zu bekommen, wenn (1) Handlungen, die ihm x zu-
5 Vgl. zur Unterscheidung von moralischem und erpresserischem Müssen und auch zu ihrer Bedeutung in der Geschichte der Moralphilosophie Vf., Der Begriff der moralischen Pflicht, in diesem Band.
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fügen, von der Gemeinschaft, in der er lebt, informell sozial sanktioniert werden und (2) wenn diese Sanktionspraxis vernünftig ist. 2. Wenn das Gerechtfertigtsein eines gesellschaftlichen Sanktionensystems in dieser Weise bestimmt ist, kann es offenbar, je nach den zugrunde liegenden Interessen und Idealen, verschiedene gerechtfertigte Systeme informellen Sanktionierens, mit anderen Worten, verschiedene Moralen geben. Und damit verschiedene Ordnungen von moralischen Rechten (und Pflichten). So kann es eine Kernmoral geben, die sich auf Interessen stützt, die alle Menschen fraglos haben: auf basale nicht-altruistische Interessen, die zum Inhalt haben, dass die anderen einem bestimmte Dinge nicht antun und einem in bestimmten Situationen helfen. Eine Moral, die sich auf diesen engen Bereich allgemein unterstellbarer Interessen stützt, ist für alle Menschen vernünftig,vorausgesetzt sie haben über diese basalen Interessen hinaus auch das Interesse an einem Sanktionensystem, das es für jeden Einzelnen zu einem moralischen Muss macht, die entsprechenden Handlungen zu unterlassen oder zu tun. Gelingt es, diese Moral weltweit zu verwirklichen, haben alle Menschen bestimmte moralische Rechte, und sie haben diese Rechte allen gegenüber. Der Inhalt dieser Rechte ist allerdings, durch die zugrunde liegenden Interessen bestimmt, eng begrenzt. Über diese Minimalmoral hinaus kann es verschiedene Gruppen- oder Regional-Moralen geben, die sich auf in der jeweiligen Gruppe geteilte altruistische Interessen und Ideale stützen. Ich habe solche Moralen (aus Gründen, auf die ich hier nicht eingehe) „Quasi-Moralen“ genannt.⁶ Quasi-Moralen haben weitergehende Inhalte als die Minimalmoral, aber sie verpflichten natürlich nur die, die in ihrem Geltungsbereich leben. Genauso enthalten die Rechte, die eine Quasi-Moral schafft, keine Ansprüche gegenüber jedermann, sondern nur gegenüber den Mitgliedern der betreffenden Gemeinschaft. Es kann, wie gesagt, verschiedene Quasi-Moralen geben. So kann eine Gesellschaft das gemeinsame Interesse haben, menschliche Foeten vor Tötungshandlungen zu schützen und deswegen eine Sanktionspraxis ausbilden, die es zur Pflicht macht, Foeten nicht zu töten, und ihnen damit ein entsprechendes Recht „imponiert“. Eine andere Gesellschaft kann es unterlassen, eine solche Regelung zu praktizieren und zum Inhalt ihrer Moral zu machen. Eine Gesellschaft kann Tiere einbeziehen und ihnen bestimmte Rechte zuweisen, eine andere kann dies nicht tun. Es ist natürlich auch möglich, dass die Gruppe, die eine Quasi-Moral hat, die Gemeinschaft aller Menschen ist. Alle Menschen können bestimmte altruistische Interessen und Ideale teilen und sie zur Basis einer weltumfassenden Moral
6 Vgl. Vf., Handeln zugunsten anderer, § 11.
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machen, die in ihren Inhalten über die Minimalmoral hinausgeht und weitergehende Rechte und Pflichten zuweist. 3. Die vorangegangenen Überlegungen könnten den Einwand provozieren, es sei unklug und eine typisch philosophische Engführung, den Begriff des moralischen Müssens und damit den Moralbegriff selbst in der geschilderten Weise an das Gerechtfertigtsein zu binden und Moral immer schon im Sinne vernünftiger Moral zu verstehen. Und von moralischen Rechten folglich nur dann zu sprechen, wenn die entsprechende gesellschaftliche Sanktionspraxis vernünftig ist. Man brauche eine neutrale Begrifflichkeit, also einen Moralbegriff, den auch Anthropologen, Ethnologen und Historiker verwenden können und der es erlaubt, soziale Normensysteme bestimmter Art als Moralen zu identifizieren und zu beschreiben, ohne gleich über ihr Begründetsein zu urteilen. Und der es erlaubt, von moralischen Rechten zu sprechen, ohne gleich über das Vernünftigsein der einschlägigen Sanktionspraxis zu urteilen. Ein solcher neutraler Begriff bestimme die Moral in etwa als ein Normensystem, das sich auf informelle soziale Sanktionen stützt, das im Großen und Ganzen wirksam ist und das von den Betroffenen als gerechtfertigt angesehen wird. Wobei aber offen bleibe, ob es auch tatsächlich gerechtfertigt ist. Dieser Einwand ist berechtigt; die Notwendigkeit einer neutralen Begrifflichkeit liegt auf der Hand. Man sollte sich hier aber meines Erachtens nicht zu einem Entweder-Oder verleiten lassen. Wir können – und wir tun es auch – beide Moralbegriffe nebeneinander gebrauchen. Es wäre falsch, zu glauben, man könne auf den Moralbegriff, der den Aspekt des (tatsächlichen) Gerechtfertigtseins mit einschließt,verzichten. Denn der Unterschied zwischen Moral und bloßem Zwang, zwischen moralischem und bloß nötigendem, erpresserischem Müssen ist für unser Verständnis des Moralischen konstitutiv. Das moralische Müssen ist, so nehmen wir an, gerade kein bloß zwingendes, sondern ein gerechtfertigtes und darum auch verpflichtendes Müssen. Deshalb werden wir, wenn wir von einer informellen Sanktionsordnung, obwohl sie von den Betroffenen als gerechtfertigt angesehen wird, meinen, sie sei tatsächlich nicht gerechtfertigt, sie werde nur fälschlich für gerechtfertigt gehalten, sagen: Ja, die in dieser Ordnung Lebenden halten sie für eine Moral, aber tatsächlich ist ein Teil ihrer Regelungen nicht vernünftig zu begründen (ein faktisches Normensystem ist niemals in toto, sondern allenfalls in Teilen ungerechtfertigt); diese Menschen müssen bestimmte Dinge tun und unterlassen, ohne dass es dafür wirkliche Gründe gibt; die Regelungen sind deshalb zum Teil bloß nötigend und gerade nicht moralisch; sie sind folglich nicht verpflichtend, und sie schaffen deswegen auch keine wirklichen moralischen Rechte und Pflichten. – Es ist hier wichtig, zu sehen, dass der Moralbegriff, der den Aspekt des (tatsächlichen) Gerechtfertigtseins einschließt, dem
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neutralen Moralbegriff, wenn er wie in obiger Definition bestimmt wird, vorausgeht und ihm zugrunde liegt. Denn man nennt eine Normenordnung nur dann im neutralen Sinne eine Moral, wenn die in ihr Lebenden sie als (tatsächlich) gerechtfertigt ansehen und folglich annehmen, in einer moralischen Ordnung und nicht in einer bloßen Zwangsordnung zu leben. Das heißt, die in dieser Ordnung Lebenden setzen selbst einen an das (tatsächliche) Gerechtfertigtsein gebundenen Moralbegriff voraus. Und der Anthropologe, der diese Ordnung von außen beschreibt, zitiert gleichsam diesen Moralbegriff. Dadurch dass er ihn nur zitiert, zu der Überzeugung von dem Gerechtfertigtsein der Normenordnung aber nicht Stellung nimmt, wird der Moralbegriff, den er verwendet, erst zu einem neutralen Moralbegriff. Man könnte die neutrale Verwendung deshalb, wie es R. M. Hare in ähnlichem Kontext getan hat, einen Gebrauch in Anführungszeichen nennen.⁷ – Diese Überlegungen reichen, so glaube ich, aus, um zu zeigen, dass beide Moralbegriffe ihr gutes Recht haben und dass der Gebrauch des einen nicht dazu zwingt, den anderen aufzugeben.
III 1. Ich komme jetzt zu der Frage zurück, unter welchen Bedingungen jemand ein moralisches Recht hat. Man kann von der Frage nach den Existenzbedingungen moralischer Rechte sprechen: Unter welchen Bedingungen existieren moralische Rechte, unter welchen Bedingungen gibt es solche Rechte? Es ist eine Merkwürdigkeit der gegenwärtigen moralphilosophischen Diskussion, dass die Frage nach den Existenzbedingungen moralischer Rechte kaum ausdrücklich gestellt wird.⁸ Das mag verschiedene Gründe haben. Der entscheidende liegt, wie wir noch sehen werden, darin, dass viele, die naturrechtlich fundierte Moralkonzeptionen verwerfen und stattdessen bestimmte Varianten einer Vernunftmoral vertreten, sich das moralische Müssen, oft ohne es eigens zu thematisieren, als ein Vernunft-Muss vorstellen, das allem Sozialen vorgelagert ist. Wir haben bereits gesehen, dass jemand dann das moralische Recht hat, von anderen x nicht zugefügt zu bekommen, wenn (1) Handlungen, die x zufügen, von der Gemeinschaft, in der er lebt, informell sozial sanktioniert werden und wenn (2) diese Sanktionspraxis relativ auf die Interessen und Ideale der Betroffenen vernünftig ist. Es sind also zwei Existenzbedingungen eines moralischen Rechts: Es muss eine im Großen und Ganzen wirksame Sanktionspraxis existieren (gemeint ist jetzt immer eine Sanktionspraxis, die mit informellen sozialen Sanktionen
7 Vgl. Hare, The Language of Morals, 124 f. 8 Eine Ausnahme ist Sumner, The Moral Foundation of Rights.
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operiert), und diese Praxis muss vernünftig sein. Es ist nun wichtig, sich klarzumachen, dass die beiden Bedingungen voneinander unabhängig sind. Daraus, dass die eine erfüllt ist, folgt nicht, dass auch die andere erfüllt ist. Aus dem Zusammenkommen bzw. Nichtzusammenkommen der beiden Bedingungen ergeben sich vier mögliche Kombinationen. 1. Es existiert eine bestimmte Sanktionspraxis, und sie ist vernünftig. 2. Es existiert eine bestimmte Sanktionspraxis nicht, aber sie wäre vernünftig. 3. Es existiert eine bestimmte Sanktionspraxis, aber sie ist nicht vernünftig. 4. Es existiert eine bestimmte Sanktionspraxis nicht, und sie wäre auch nicht vernünftig. Es ist klar, dass bei der Kombination 1 moralische Rechte existieren, ebenso, dass in Fall 4 keine moralischen Rechte existieren. Nach dem, was oben in II. 3. gesagt wurde, ist auch klar, dass in Fall 3 keine moralischen Rechte existieren. Es besteht eine Sanktionspraxis, aber sie ist (in Teilen) unvernünftig. Die Normen sind deshalb bloß nötigend; folglich sind sie nicht verpflichtend und konstituieren auch keine Rechte. Es ist möglich, dass die Sanktionspraxis von den Betroffenen dennoch für gerechtfertigt gehalten, also als eine Moral angesehen und akzeptiert wird. Dann wäre es richtig, im neutralen Sinn des Anthropologen von einer Moral und auch von moralischen Rechten und Pflichten zu sprechen. Diese Bezeichnungen zitieren, wie wir sahen, nur die Einschätzungen der Betroffenen, und in diesem Gebrauch sind sie vollkommen korrekt. Die eigentlich interessante Kombination ist der Fall 2. Hier ist es für eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Interessen und Ideale haben, vernünftig, eine Sanktionspraxis zu haben und an ihr zu partizipieren. Aber die Sanktionspraxis existiert nicht, sie ist – aus welchen Gründen auch immer – nicht entstanden, die Menschen, für die sie von Vorteil wäre, haben sie nicht hervorgebracht. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Dinge, die vernünftig wären, nicht realisiert werden, zumal dann, wenn es um eine gesellschaftliche Praxis geht, die nur im Zuge kollektiver Übereinkunft und kollektiven Handelns entsteht und nicht durch Einzelne hervorgebracht werden kann. Wird das Verhalten, das vernünftigerweise sanktioniert werden sollte, faktisch nicht sanktioniert, gibt es kein moralisches Müssen. Und das heißt, es gibt keine moralischen Rechte (und Pflichten). Ich hatte bereits gesagt: Wo keine sozialen Sanktionen bestimmter Art, da kein moralisches Müssen, und wo kein moralisches Müssen, da keine moralischen Rechte. Es folgt also, dass bei der Kombination 2 keine moralischen Rechte existieren. Dies ergibt sich aus der Einsicht, dass das moralische Müssen ein durch soziale Sanktionen konstituiertes Müssen ist und dass moralische Rechte deshalb soziale Artefakte sind. Sie sind an eine bestimmte soziale Wirklichkeit gebunden. Gibt es diese Wirklichkeit nicht, gibt es
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auch keine Rechte. Dass es vernünftig wäre, bestimmte moralische Rechte zu haben, bedeutet also nicht, dass man diese Rechte auch wirklich hat. Diese Differenz ist uns in anderen Zusammenhängen selbstverständlich: Dass es für eine Familie vernünftig wäre, ein Auto zu haben, bedeutet offenkundig nicht, dass sie auch wirklich ein Auto hat. J. Bentham hat gesehen, dass diese elementare Differenz von Vernünftigkeit und tatsächlicher Existenz für das Verständnis subjektiver Rechte von größter Bedeutung ist. Er sagt: „… a reason exists for wishing that there were such things as rights. But reasons for wishing there were such things as rights, are not rights; – a reason for wishing that a certain right were established, is not that right – want is not supply – hunger is not bread.“⁹ Die Tatsache, dass jemand ein moralisches Recht hat, ist, so können wir jetzt sagen, eine soziale Tatsache. Es ist näherhin eine institutionelle Tatsache. Denn sie wird durch die kollektive Zuweisung eines Status an bestimmte Menschen (oder andere Lebewesen) hervorgebracht, und für ihr Fortbestehen ist es nötig, dass kollektiv akzeptiert wird, dass die betreffenden Menschen diesen Status haben. Die Rechtszuweisung ist Teil eines komplexeren Vorganges.Was eigentlich geschieht, ist die Konstitution eines moralischen Müssens. Hierdurch entstehen moralische Rechte, aber nicht nur Rechte, sondern eine gegliederte normative Struktur mit Rechten, korrespondierenden Pflichten, speziellen Sanktionspflichten und Berechtigungen (zur Sanktionierung). Diese gegliederte normative Struktur wird den „entia physica“, die die Menschen sind, durch die Gemeinschaft „imponiert“. Als eine institutionelle Tatsache ist, dass jemand ein moralisches Recht hat, eine ganz und gar objektive (wenngleich nicht ontologisch objektive) Tatsache. Genauso wie es ganz und gar objektive (wenngleich nicht ontologisch objektive) Tatsachen sind, dass ich verheiratet bin, dass mein Bruder Rechtsanwalt ist und dass dieses Stück Papier ein Zwanzig-Euro-Schein ist. Bei all diesen Tatsachen handelt es sich nicht um „Vernunftkonstrukte“, um „Idealentitäten“ oder was sonst die Verlegenheitsausdrücke sind. Dass jemand verheiratet ist, ist nicht eine „Idealentität“, sondern eine objektive Realität, eine soziale Tatsache, und genauso ist es eine objektive soziale Tatsache, dass jemand moralische Rechte besitzt. Es ist nicht etwas Zeitloses im Reich der Vernunft, sondern eine kontingente Tatsache, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufgrund konkreter Umstände entsteht und die natürlich auch infolge sich ändernder Umstände wieder vergehen kann.¹⁰
9 Bentham, Anarchial Fallacies, 501 a; ganz ähnlich auch in Pannomial Fragments, 221 b. 10 Die Überlegungen dieses Absatzes sind beeinflusst von Searle, The Construction of Social Reality.
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2. Aus dem Vernünftigsein moralischer Rechte folgt, so kann ich zusammenfassen, nicht deren Existenz. Und deshalb reicht der Nachweis, dass es vernünftig ist, bestimmte Rechte zu haben, nicht aus, um zu zeigen, dass diese Rechte auch existieren. Man kann demnach nicht durch bloßes Nachdenken a priori feststellen, wer welche Rechte hat, sondern nur, welche Rechte zu haben, – relativ auf dieund-die zugrunde liegenden Interessen und Ideale – vernünftig ist. Diesen Befund können eine Reihe von Moralkonzeptionen nicht einholen, weil sie das moralische Müssen in falscher Weise als Vernunft-Müssen deuten. Verschaffen wir uns, um dies besser zu begreifen, kurz einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten, das moralische Müssen als Vernunft-Müssen zu verstehen. Zwei Dihairesen reichen für unsere Zwecke aus. Die erste Dihairese teilt das Vernunft-Müssen in ein prudentielles, auf Interessen relatives Müssen und in ein nicht-prudentielles, nicht interessen-bezogenes Müssen. Dieses letzte Müssen ist von der Art, dass man vernünftigerweise etwas tun muss, aber nicht weil es notwendig ist, um etwas, was man will, zu erreichen. Es ist vielmehr absolut notwendig, so zu handeln. Man muss es vernünftigerweise tun, Punkt. Kant und viele seiner Nachfolger haben angenommen, dass es ein solches absolutes oder, wie Kant sagt, kategorisches Vernunft-Müssen gibt und dass das moralische Müssen genau ein solches Müssen ist. Das moralische Müssen ist demnach mit der Vernunft selbst gegeben, und da es verpflichtend ist, sind moralische Pflichten und damit auch moralische Rechte ebenfalls mit der Vernunft gegeben. Es gibt sie, ganz unabhängig von den Interessen der Menschen, von deren effektiver Verfolgung und der Schaffung von sozialen Arrangements, die der Erfüllung dieser Interessen dienen. Es ist klar, dass diese Theorie keinen Platz für die Differenz von Vernünftigkeit und tatsächlicher Existenz moralischer Rechte hat. Sie versteht das moralische Müssen nicht als etwas, was die Menschen erst hervorbringen müssen, vielmehr als ein Müssen, das ohne jedes menschliche Handeln mit der Vernunft einfach da ist. Die einzige Frage an die Menschen ist, ob sie dies erkennen und ob sie diesem Müssen in ihrem Verhalten entsprechen oder nicht. Ich habe bereits gesagt, dass meines Erachtens jedes praktische Müssen auf ein Wollen dessen, der muss, bezogen ist, also ein interessen-relatives und somit prudentielles Müssen ist. Wenn dies richtig ist, ist das von Kant gegen die eudaimonistische Tradition konstruierte absolute Vernunft-Muss eine aus der Not geborene bloße Erfindung.¹¹ Die zweite Dihairese unterteilt den einen Ast der ersten Dihairese, das prudentielle Müssen, wie oben (in II. 1) schon ausgeführt, in das bloß prudentielle Müssen, das sich aus gegebenen Interessen und bestimmten Umständen „von
11 Vgl. hierzu Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 44 f., 133 – 139 und Vf., Handeln zugunsten anderer, 63 – 66.
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selbst“ ergibt (man denke an das Gymnastik-Treiben-Müssen), und in das prudentielle Müssen, das künstlich, durch die Etablierung von Sanktionen geschaffen wird. Eine Reihe von Moralkonzeptionen verstehen das moralische Müssen als ein bloß prudentielles Müssen, so alle eudaimonistischen Theorien, die in der Moralität eine notwendige Bedingung des Glücks, der Selbstidentität oder der Selbstachtung sehen, so gewöhnlich auch die rational-choice-Theorien der Moral und mit ihnen bestimmte Varianten des moralischen Kontraktualismus. Das moralische Müssen ergibt sich nach diesen Theorien, gegeben bestimmte Interessen und Umstände, einfach „von selbst“; es ist einfach da, und da es verpflichtend ist, sind mit ihm moralische Pflichten und auch moralische Rechte einfach da. Man braucht sie nicht erst zu einer sozialen Wirklichkeit zu machen. Und deshalb haben auch diese Konzeptionen keinen Platz und keinen Sinn für die Unterscheidung von Vernünftigkeit und tatsächlicher Existenz moralischer Rechte. Diese Unterscheidung folgt, wie wir sehen, allein aus einer Moralkonzeption, die das moralische Müssen zwar als prudentielles, aber nicht als bloß prudentielles, sondern als sanktionskonstituiertes Müssen versteht. Es bestätigt sich hier, dass der eigentliche Kern der Moralphilosophie, an dem sich auch die Konzeption moralischer Rechte entscheidet, die Theorie des moralischen Müssens ist. Da es unmöglich ist, auf alle Konzeptionen, die das moralische Müssen als bloß prudentielles Müssen verstehen, einzugehen, möchte ich nur ein wichtiges und in unserem Kontext naheliegendes Argument zugunsten einer solchen Konzeption diskutieren. Ich werde dieses Argument in zwei Schritten zurückweisen, wobei die Überlegung des zweiten Schritts, wie ich glaube, zeigt, dass jede Konzeption, die das moralische Müssen als einfaches prudentielles Müssen versteht, verfehlt ist. – Das Argument geht von der hier entfalteten sanktionstheoretischen Konzeption moralischer Rechte aus und wendet sich gegen sie. Wenn moralische Rechte, so die Überlegung, in dieser Weise verstanden werden und ihre Vernünftigkeit durch den Bezug auf die Interessen der Betroffenen bestimmt wird, existiert, wenn ein bestimmtes moralisches Recht vernünftig ist, unabhängig davon, dass es dieses Recht auch gibt, ein Müssen, das genau zu den Handlungen zwingt, zu denen auch das Recht zwingt, wenn es existiert. Also selbst wenn ein moralisches Recht zwar vernünftig ist, aber nicht existiert, existiert ein Müssen, das zu den Handlungen nötigt, zu denen man auch genötigt würde, wenn das Recht existierte. Das Müssen, das mit der Existenz des Rechts in die Welt kommt, verdoppelt folglich nur ein Müssen gleichen Inhalts, das – gegeben die Interessenlage, die das Recht vernünftig macht – unabhängig von der Existenz des Rechts schon besteht. Man könnte sagen: Wo die Vernünftigkeit eines moralischen Rechts und nur die Vernünftigkeit, da auch die Existenz eines Müssens mit entsprechendem Inhalt. Versuchen wir, uns diese These klarzumachen! Wenn es ver-
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nünftig ist, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft das moralische Recht haben, x nicht zugefügt zu bekommen, und wenn es deshalb vernünftig ist, dass es eine Sanktionspraxis gibt, die dazu nötigt, x nicht zuzufügen, dann ist dies deswegen vernünftig, (1) weil alle Mitglieder der Gemeinschaft daran interessiert sind, dass andere ihnen x nicht zufügen, und (2) weil es ihnen wichtiger ist, dass die anderen ihnen x nicht zufügen, als selbst über die Möglichkeit zu verfügen, anderen x zuzufügen. Bei dieser Interessenlage dient die Sanktionspraxis und das mit ihr zugewiesene Recht den Interessen aller Betroffenen. Bei dieser Interessenlage ist es aber, so die Überlegung, ganz unabhängig von der Existenz einer Sanktionspraxis für jeden vernünftig, den anderen x nicht zuzufügen, vorausgesetzt sie verzichten im Gegenzug auch auf diese Handlungsmöglichkeit. Eine solche reziproke Freiheitsbeschränkung ist für jeden vernünftig, weil sie jedem mehr bringt als sie kostet und weil jeder durch sie sein Ziel erreicht, x nicht zu erleiden. Diese Handlungskoordination bedarf folglich zu ihrem Zustandekommen keiner Sanktionen. Es liegt unabhängig von künstlichen Arrangements im Interesse eines jeden, seinen Teil der gemeinsamen Strategie zu leisten und darauf zu verzichten, anderen x zuzufügen, vorausgesetzt die anderen steuern im Gegenzug ihren Teil bei. Es besteht demnach für jeden ein prudentielles Muss, anderen x nicht zuzufügen, unabhängig von allen sozialen Institutionen und von jeglicher Sanktionspraxis. Dieses Müssen ist kein künstlich geschaffenes sanktionskonstituiertes Müssen, es ergibt sich vielmehr, wenn man sein Ziel erreichen will, einfach aufgrund der gegebenen Umstände. Es ist ein Müssen wie in der Situation, in der jemand Gymnastik treiben muss, um wieder gesund und voll handlungsfähig zu werden. Es weist nur die Besonderheit auf, dass jeder nur dann die fraglichen Handlungen unterlassen muss, wenn auch die anderen dies tun, wenn also eine bestimmte Conditio erfüllt ist. Es zeigt sich also, so der Einwand, dass da, wo das Recht, von anderen x nicht zugefügt zu bekommen, vernünftig ist, bereits ein Müssen gleichen Inhalts existiert. Dieses Müssen ist in Wahrheit das moralische Müssen; und wenn es so ist, dann sind mit ihm auch bereits Pflichten und Rechte gegeben. Pflichten und Rechte sind also auf dieser Ebene anzusiedeln und nicht auf der Ebene einer Sanktionspraxis, die hinzukommen kann, aber nicht hinzukommen muss. Pflichten und Rechte entstehen nicht durch die Sanktionspraxis, sie gehen ihr voraus. Die Sanktionspraxis verschafft ihnen, wenn sie zustande kommt, nur zusätzliches Gewicht. Das sanktionskonstituierte Müssen ist nur ein hinzukommendes, verstärkendes Müssen. Soweit das Argument. Es weist zu Recht darauf hin, dass das sanktionskonstituierte Müssen ein hinzukommendes Müssen ist, dem ein vorhandenes Müssen anderer Art unterliegt. Es übersieht aber, dass dies nur dann der Fall ist, wenn die beschriebene Handlungskoordination wirklich zustande kommt. Denn das Müssen, auf das der Einwand aufmerksam macht, ist ein Müssen innerhalb einer solchen Koordina-
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tion. Kommt sie nicht zustande, gibt es dieses Müssen nicht. Und tatsächlich kommt sie in vielen, keineswegs seltenen Fällen nicht zustande. Dann nicht, wenn die anderen die Vorteile einer solchen Strategie des tit for tat nicht durchschauen und folglich nicht mitmachen. Auch dann nicht, wenn unsicher ist, wie die anderen sich verhalten werden. Das Dilemma besteht in diesem Fall darin, dass zwar alle einsehen, dass es das Beste wäre, wenn sie es unterließen, x zuzufügen, dass aber keiner einen Grund hat, entsprechend zu handeln, weil sich keiner sicher ist, wie die anderen handeln werden, und jeder deshalb fürchten muss, dass die anderen, wenn er vorleistet, dies ausnützen und nicht nachleisten werden. Das fragliche Müssen besteht auch dann nicht, wenn die anderen einem unabhängig vom eigenen Verhalten x nicht zufügen. In diesem Fall besteht kein Muss, sich seinerseits entsprechend zu verhalten; denn der eigene Handlungsverzicht ist nicht die Conditio für den Handlungsverzicht der anderen. In all diesen Situationen ist das sanktionskonstituierte Müssen kein hinzukommendes Müssen; denn in all diesen Situationen existiert das zugrunde liegende Müssen nicht. In all diesen Situationen bedarf es der Existenz einer Sanktionspraxis, um – künstlich – ein Müssen in die Welt zu bringen, das dazu nötigt, anderen x nicht zuzufügen. Das künstliche Müssen repariert gewissermaßen die Schwächen eines bloß prudentiellen Systems der Handlungskoordination. Und zu diesem Zweck – wie auch zur hinzukommenden Verstärkung – wird es und mit ihr die Moral erfunden und tatsächlich realisiert. Dies ist das Erste. Eine zweite Überlegung kommt hinzu. Man kann sich, wie ich glaube, ohne viel Mühe klarmachen, dass das Müssen, von dem der Einwand spricht, nicht das moralische Müssen sein kann. Denn es ist klarerweise kein verpflichtendes Müssen, und deshalb sind mit ihm keine moralischen Pflichten und Rechte gegeben. Es ist, wir haben es gesagt, ein prudentielles Müssen, wie es gegeben ist, wenn jemand eine Gymnastik machen muss, um wieder gesund zu werden. Ein prudentielles Müssen dieser Art, das nicht künstlich durch die Verknüpfung bestimmter Handlungen mit Sanktionen entsteht, ist aber niemals verpflichtend. Wenn jemand eine Gymnastik machen muss, um wieder gesund zu werden, ist er nicht verpflichtet, sie zu machen. Wenn er sie nicht macht, verhält er sich nur irrational, aber er begeht kein Unrecht, und er verstößt nicht gegen eine Pflicht. Ein verpflichtendes Müssen steht immer in einem Kontext des Hervorbringens und damit in einem personalen Kontext: Eine Person oder Personengruppe bringt Pflichten hervor, sie „imponiert“ bestimmten Menschen, über die sie legitime Macht hat, Pflichten und weist damit korrelierende Rechte zu. So tut es nach religiösem Moralverständnis Gott mit den Menschen, so verpflichtet eine Rechtsgemeinschaft die in ihr lebenden Bürger zu bestimmten Verhaltensweisen, und so „imponiert“ auch eine moralische Gemeinschaft ihren Mitgliedern bestimmte Pflichten und Rechte. Die Instanz, die die Pflichten schafft, tut dies, in-
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dem sie bestimmte Handlungen mit Sanktionen verknüpft und diese Sanktionen androht und damit eben ein verpflichtendes Müssen schafft. Die pflichtschaffende Instanz ist also zugleich die Sanktionsinstanz; und sie ist zugleich auch die Instanz, an die sich derjenige, dessen Recht verletzt wurde oder verletzt zu werden droht,wendet und die er zur Verhängung oder Androhung der Sanktion auffordert. Nur weil es diese Sanktionsinstanz gibt, kann der Träger eines Rechts das tun, was definitiv zu einem Recht gehört, nämlich von den anderen fordern, sich rechtsund pflichtkonform zu verhalten. Von anderen etwas fordern kann nur der, der ihnen gegenüber über gewisse Machtmittel verfügt. Wer etwas fordert, kann dies immer mit der Androhung von Übeln für den Fall des Anders-Handelns verbinden. Eine Forderung enthält als solche eine derartige Drohung. Und der, der moralische Rechte hat, kann von dem anderen nur deshalb fordern, seine Rechte zu achten und sich moralisch zu verhalten, weil er für den Fall des Zuwider-Handelns damit drohen kann, dass die Sanktionsgemeinschaft, wenn nötig durch ihn mobilisiert, ihm beispringen und die angedrohten Sanktionen verhängen wird. – Diese knappen Bemerkungen lassen, das sei hier nur am Rande bemerkt, etwas von allgemeiner Bedeutung erkennen: dass eine moralische Ordnung, die verschiedenartige normative Relationen und Positionen schafft, eine Ordnung von Machtbeziehungen ist. Und dass eine vernünftige Moral eine Ordnung legitimer, das heißt: gerechtfertigter Machtbeziehungen ist. Wer ein moralisches Recht hat, ist in einer Position positiver Macht dem Rechtsadressaten gegenüber; umgekehrt ist, wer eine moralische Pflicht hat, in einer Position negativer Macht dem Rechtsträger gegenüber. Die eigentliche Machtinstanz, die durch die Setzung des moralischen Müssens positive und negative Machtpositionen schafft, ist die moralische Gemeinschaft. Man kann sagen, dass die Schaffung einer Moral der Versuch ist, die nackten, natürlichen Machtbeziehungen zwischen den Menschen durch eine andere, künstliche und gesellschaftlich organisierte Machtordnung zu ersetzen.Wobei die neue Machtverteilung natürlich nur dann besser ist als die alte, wenn sie sich wirklich den Betroffenen gegenüber zu rechtfertigen vermag. Man sieht jetzt leicht, dass alle mit dem moralischen Müssen gegebenen Elemente: Pflichten, Rechte, Forderungen, bei einem bloß prudentiellen Müssen nicht vorhanden sind.Wenn Paul jetzt gehen muss, um den Zug noch zu erreichen, dann sind keine Rechte und Pflichten im Spiel, und es sind auch keine Forderungen im Spiel. Man kann Paul raten, jetzt zu gehen, man kann ihn kritisieren, wenn er noch bleibt, weil er sich dann irrational verhält; aber man kann von ihm nicht fordern, jetzt zu gehen. Was er tut, ist seine Sache, und man hat keinen Anspruch darauf, dass er jetzt geht. Manchmal werden Formulierungen gebraucht wie: Die Vernunft – oder die Klugheit – fordert, dass er jetzt geht. Aber man darf sich durch diese uneigentliche Ausdrucksweise nicht verwirren lassen. Die Vernunft ist genauso wenig wie die Klugheit eine Person, die auf irgendetwas An-
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spruch hat. Wenn, wie jetzt gezeigt, die für das moralische Müssen konstitutiven Elemente der Pflicht, des Rechts und des Forderns bei einem bloß prudentiellen Müssen nicht gegeben sind, dann ergibt sich, dass jede Konzeption, die das moralische Müssen als ein einfaches prudentielles Müssen deutet, verfehlt sein muss. Vielleicht ist es wichtig, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass alles, was hier über das bloß prudentielle Müssen gesagt worden ist, unabhängig davon ist, was der Gegenstand dieses Müssens ist. Das heißt, auch wenn sein Gegenstand ein Handeln zugunsten anderer ist (in unserem Beispiel der Verzicht, anderen x zuzufügen) oder ein Handeln, das die Bedingung der Unparteilichkeit erfüllt, bekommt es dadurch nicht verpflichtenden Charakter. Es bleibt weiterhin ein bloß prudentielles Müssen, dem die spezifischen Elemente eines verpflichtenden Müssens fehlen.Wer ein bloß prudentielles Müssen für das Müssen der Moral hält, verwechselt eine Moral mit einem System bloß prudentieller Handlungskoordination und konzipiert eine Moral ohne Rechte, ohne Pflichten und ohne Forderungen. Tatsächlich kennt auch eine aufgeklärte Moral moralische Rechte, moralische Pflichten und moralische Forderungen. Das moralische Müssen ist kein Müssen, das sich, bestimmte Interessen vorausgesetzt, aus der Konstellation der Umstände oder aufgrund von Naturgesetzen „von selbst“ ergibt. Es ist, wie wir sahen, eine soziale Hervorbringung, ein künstlich geschaffenes Müssen, das, da es für alle Betroffenen vernünftig ist, verpflichtenden Charakter hat. Moralische Rechte gibt es deshalb nur, wenn eine entsprechende Praxis sozialen Sanktionierens tatsächlich existiert. Moralische Rechte haben, so können wir jetzt bekräftigen, zwei Existenzbedingungen: die Existenz einer Sanktionspraxis und die Vernünftigkeit dieser Praxis. Und beide Bedingungen sind voneinander unabhängig. 3. Ich kann hier eine Überlegung anschließen, die mit dem Vorigen eng zusammenhängt und die das erreichte Ergebnis weiter stützt. Es wird bisweilen gesagt, subjektive Rechte seien wesensmäßig einklagbar. Wo es diese Möglichkeit nicht gebe, sich der, dessen Recht verletzt worden ist, also nicht an eine Instanz wenden könne, damit diese den Übeltäter mit den vorgesehenen Sanktionen bestraft, da gebe es keine Rechte. Und da moralische Rechte nicht einklagbar seien, sei, von solchen Rechten zu sprechen, nur ein Stück vertrauter, vielleicht auch nützlicher, aber tatsächlich irreführender Rhetorik. Mir scheint, die Annahme, subjektive Rechte müssten einklagbar sein, hat etwas Richtiges im Auge. Es hat in der Tat nur Sinn, von moralischen Rechten zu sprechen, wenn es ein Äquivalent zur Rechtsordnung im Fall juridischer Rechte gibt. Es ist aber nicht ganz richtig, den Akzent genau auf die Einklagbarkeit zu legen. Worauf es wirklich ankommt, ist etwas anderes: Wer ein Recht hat, kann, das gehört wie gesagt unablösbar zu einem Recht, das entsprechende Verhalten
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vom Rechtsadressaten fordern. Und dies kann er nur, wenn er für den Fall des Zuwider-Handelns mit negativen Konsequenzen drohen kann. Dazu muss er, wie wir sahen, in einer Machtposition sein, und dies ist er nur dadurch, dass er eine mächtige Instanz hinter sich weiß, die im Falle einer Rechtsverletzung – von sich aus oder auf Initiative des Rechtsträgers – gegen den Übeltäter vorgeht. Worauf es ankommt, ist mithin die Existenz einer Sanktions- und Durchsetzungsmacht. Von subjektiven und deshalb auch von moralischen Rechten zu sprechen, ist nur sinnvoll, wenn es diese Macht gibt.¹² Im Falle der Moral gibt es die mächtige Instanz, die den Träger eines moralischen Rechts schützt und ihn hierdurch erst zum Rechtsträger macht. Es ist die moralische Gemeinschaft, die auf ein moralisches Unrecht mit informellen sozialen Sanktionen reagiert.Wer ein moralisches Recht hat,weiß also eine mächtige Instanz hinter sich, an die er sich, wenn eines seiner Rechte verletzt wurde, wenden und die er zur Sanktionierung auffordern kann. Die Mitglieder der Sanktionsgemeinschaft sind verpflichtet, zu sanktionieren. In einer Moral gilt (vernünftigerweise) nicht nur die „primäre Norm“, dass man x nicht tun darf, sondern auch die „sekundäre Norm“, dass man das Tun von x moralisch sanktionieren muss. Das heißt, das Nicht-Sanktionieren wird selbst sanktioniert:Wer es unterlässt, auf ein Unrecht sanktionierend zu reagieren, und so tut, als sei nichts geschehen, zieht selbst moralische Missbilligung auf sich. Man empört sich über seine Gleichgültigkeit und sein Disengagement. Wer ein moralisches Recht hat, kann also von den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft fordern, ein ihm angetanes Unrecht zu sanktionieren. Er hat ein Recht den anderen gegenüber auf ihre Solidarität in der Reaktion auf die erlittene Rechtsverletzung. Dieser Anspruch der moralischen Gemeinschaft gegenüber entspricht auf der informellen Ebene der Moral der förmlichen Einklagbarkeit juridischer Rechte. Wir sehen, moralische Rechte sind wirkliche Rechte. Allerdings nur, wenn man sie als gesellschaftliche Artefakte versteht, deren Existenz an eine bestimmte soziale Ordnung gebunden ist. Moralkonzeptionen, die das moralische Müssen als ein absolutes Vernunft-Muss im Sinne Kants oder als bloß prudentielles Müssen verstehen und annehmen, mit diesem Müssen seien moralische Rechte (und Pflichten) gegeben, konzipieren hingegen Rechte ohne reale Existenz. Hier gibt es keine Macht- und Sanktionsinstanz, die den Rechten erst Wirklichkeit und Wirksamkeit verschafft. Hier gibt es natürlich auch keine Einklagbarkeit der
12 Vgl. hierzu die hervorragenden Analysen von Austin in The Province of Jurisprudence Determined, lect. VI, hier besonders 284 f. Austin stellt sehr klar heraus, dass subjektive Rechte drei Parteien voraussetzen, 1. einen Rechtsträger, 2. einen Rechtsadressaten, dem die korrelierende Pflicht auferlegt ist, und 3. eine Machtinstanz, die dem Recht und der Pflicht erst Wirklichkeit und Wirksamkeit verschafft.
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Rechte. Wo sollte der Anspruch auf eine strafende Reaktion gegen den Übeltäter herkommen, und an wen sollte er sich richten? Und hier wird auch nicht verständlich, dass es definitiv zu einem Recht gehört, seine Achtung von den anderen fordern zu können. Diese Konzeptionen sprechen von einem Recht, das man zwar hat, das einen aber nicht in die mit einem Recht gegebene Machtposition bringt; es verändert überhaupt nichts an der sozialen Position, die man den anderen gegenüber einnimmt. Es ist wie ein Licht, das nicht leuchtet, aber doch, wie versichert wird, da ist. Ein derartiges Recht ist eigentlich nur ein Wort, ein inhaltsleerer und bedeutungsloser rhetorischer Abglanz eines wirklichen Rechts. 4. Nach den vorangegangenen Überlegungen bedarf es kaum noch des ausdrücklichen Hinweises, dass die hier entfaltete Konzeption moralischer Rechte eine Unterscheidung verwirft, die in den herkömmlichen Theorien sehr wichtig ist und die auch unsere intuitiven Vorstellungen von moralischen Rechten nachhaltig bestimmt. Ich meine die Unterscheidung der Existenz moralischer Rechte und ihrer sozialen Wirksamkeit. Die Menschen besitzen – so die geläufige Vorstellung – bestimmte moralische Rechte, dies bedeutet aber nicht unbedingt, dass diese Rechte auch sozial garantiert werden und ihre Achtung sozial durchgesetzt wird. Die Existenz der Rechte geht nach dieser Vorstellung ihrer Positivierung durch die Menschen voraus und ist von ihr unabhängig. Die Eingängigkeit dieser Unterscheidung verdankt sich vermutlich in der Regel religiösen oder naturrechtlichen Hintergrundüberzeugungen: Wenn Gott oder die Natur die Menschen mit moralischen Rechten ausstattet, impliziert das nicht, dass es den Menschen gelingt, ihr Zusammenleben in einer Weise zu ordnen, die diesen Rechten soziale Realität verleiht. Die, wie man sagen könnte, „metaphysische“ Existenz wird dann nicht in eine soziale Realität transformiert, und die moralischen Rechte gewähren keinen wirklichen Schutz. Auch die kritisierten Vernunftkonzeptionen moralischer Rechte operieren mit der Unterscheidung von Existenz und sozialer Wirksamkeit. Rechte, die mit der Vernunft selbst gegeben sind, müssen nicht unbedingt auch sozial realisiert sein. Eine sanktionstheoretische Konzeption moralischer Rechte hält diese Unterscheidung für falsch. Moralische Rechte sind, so haben wir gesehen, soziale Artefakte. Sie existieren nur,wenn es eine entsprechende Praxis informellen sozialen Sanktionierens gibt.Wo keine Sanktionen dieser Art, da kein moralisches Müssen, und da auch keine moralischen Rechte. Die soziale Realität der moralischen Rechte ist deshalb ihre Existenz.
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IV 1. Die Auffassung, dass der Besitz moralischer Rechte eine soziale Tatsache ist, bringt erhebliche Revisionen im Verständnis des Moralischen mit sich. Das ist nicht überraschend. In meinen Augen ist es wishful thinking, zu glauben, man könne die religiösen oder naturrechtlichen Prämissen der traditionellen Moral aufgeben, ihre Konklusionen aber beibehalten. Man könne die metaphysischen Prämissen durch „nachmetaphysische“ ersetzen und durch einen solchen Austausch eine in ihrer Struktur und ihren Inhalten gleich bleibende Moral verteidigen. Eine solche Vorstellung entspricht einem tief sitzenden Wunsch, aber aus einiger Distanz betrachtet wäre es sehr verwunderlich, wenn man den Wegfall der religiösen oder auf andere Weise metaphysischen Fundamente der Moral durch einige Umbesetzungen im Begründungsgang ausgleichen könnte und ansonsten alles mehr oder weniger beim Alten bliebe. Nehmen wir, um uns die Konsequenzen einer sanktionstheoretischen Konzeption moralischer Rechte zu verdeutlichen, an, dass in einer Gesellschaft eine Minderheit durch die geltenden moralischen Normen diskriminiert wird. Denen, die dieser Minderheit angehören, werden moralische Rechte vorenthalten, die alle anderen haben. Ihnen gegenüber darf man folglich Dinge tun, die man den anderen gegenüber nicht tun darf. Wer die traditionelle Auffassung moralischer Rechte teilt, wird nun der Überzeugung sein, dass die Mitglieder der diskriminierten Gruppe die fraglichen moralischen Rechte sehr wohl besitzen, dass sie aber in dieser Gesellschaft sozial nicht geschützt, vielmehr missachtet und verletzt werden. Die Gruppenmitglieder können deshalb auf ihre moralischen Rechte pochen, und sie haben, so die Vorstellung, einen Anspruch darauf, dass die anderen und die Gesellschaft in ihrem kollektiven Handeln diese Rechte achtet und schützt. Sie haben freilich über die Behauptung des Rechtsbesitzes hinaus keine Möglichkeit, ihr Recht wirksam zur Geltung zu bringen und seine Durchsetzung zu bewirken. Die behauptete Existenz der Rechte und ihre soziale Wirksamkeit fallen auseinander.Wo, so die entscheidende Frage, kommen diese moralischen Rechte, unabhängig von aller sozialen Realität, her? Man kann ihre Existenz nur annehmen, wenn man glaubt, eine höhere Macht habe sie zugeteilt oder man besitze sie einfach kraft seines Menschseins wie ein natürliches Merkmal. Oder wenn man ihre Existenz vernunftrechtlich aus ihrer Vernünftigkeit erschließt. Lässt man diese Vorstellungen fallen, bleibt nur, wie wir sahen, moralische Rechte als soziale Phänomene zu verstehen, deren Existenz die Existenz einer entsprechend ausgestalteten Sanktionspraxis voraussetzt. Dies bedeutet, dass die Mitglieder der benachteiligten Gruppe die betreffenden moralischen Rechte nicht haben. Denn es gibt keine Sanktionspraxis, die sie schafft.
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Die Angehörigen der Minderheit haben die fraglichen Rechte nicht, was sie haben, ist das Interesse, so nicht behandelt zu werden. Sie wollen nicht, dass die anderen sie so behandeln, und sie wollen nicht, dass die Gesellschaft dies zulässt und sie nicht schützt. Die geltenden moralischen Normen sind also, zumindest in diesem Punkt, nicht in ihrem Interesse. Sie sehen sich einer gesellschaftlichen Ordnung ausgesetzt, die ihnen gegenüber (in Teilen) nicht gerechtfertigt ist, die folglich nackte Macht ausübt und deswegen gerade keine Moral ist. Die geltende Ordnung ist für die Angehörigen der Minderheit also ein Übel, und sie werden wahrscheinlich versuchen, sie dahingehend zu verändern, dass die Sanktionsmacht sie mit denselben Rechten ausstattet wie die anderen und hierdurch erst eine Ordnung entsteht, die im Interesse aller Betroffenen liegt und die sich auf diese Weise von einer bloßen Machtordnung zu einer moralischen Ordnung wandelt. Die Versuche, die geltenden Normen zu verändern, können verschiedene Formen annehmen: Man wird versuchen, falsche Überzeugungen, die im Hintergrund der Ungleichbehandlung stehen, aufzulösen, man wird versuchen, die anderen dazu zu bewegen, sich so konkret wie möglich in die eigene Situation zu versetzen, man wird versuchen, auf die eigenen Interessen und darauf, dass sie nicht beachtet werden, aufmerksam zu machen, und man wird klar zu verstehen geben, dass man erst dann Ruhe geben wird, wenn sich die gesellschaftlichen Normen zu seinen Gunsten geändert haben. Was diesem Widerstand zugrunde liegt, sind, wie gesagt, nicht moralische Rechte, sondern Interessen, das Interesse, bestimmte Dinge nicht zu erleiden, das Interesse, nicht Gegenstand nackter Machtausübung durch die Gesellschaft zu sein, und damit das allgemeinere und sehr umfassende Interesse, überhaupt nicht, weder durch die Gesellschaft noch durch Individuen, Objekt bloßer Macht zu sein. Man kann auch sagen: Was den Widerstand trägt, ist das Interesse, in einer Moral zu leben, in moralischen und nicht in bloßen Machtbeziehungen. Moralische Beziehungen sind, wie wir sahen, solche gerechtfertigter Macht. Man will also, wenn das Zusammenleben der Menschen schon Machtpositionen und Machtbeziehungen erfordert, nur solcher Macht ausgesetzt sein, die relativ auf die eigenen Interessen gerechtfertigt und vernünftig ist. Bedeuten diese Überlegungen, dass man eine geltende moralische Ordnung nicht moralisch kritisieren kann? Man kann von einer faktisch geltenden Moral sagen, dass sie keine wirkliche Moral ist, weil sie nicht im Interesse aller Betroffenen liegt und sie deshalb, zumindest in Teilen, eine bloße Machtordnung, also gerade das Gegenteil einer Moral, ist. Wer eine positive Moral in dieser Weise an einer vernünftigen Moral misst und Abweichungen feststellt, kritisiert sie als etwas,was nicht aus der Perspektive aller vernünftig ist, was deshalb vermutlich von den Benachteiligten abgelehnt werden wird und was wahrscheinlich den eigenen Idealen vom Zusammenleben der Menschen nicht entspricht. Aber diese Kritik
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kann nicht sagen, eine solche Moral sei unmoralisch, was sie tue, verstoße gegen moralische Normen und verletze moralische Rechte.Wo sollten diese Normen und Rechte herkommen? Es gibt keine vorpositive Moral, und deshalb kann der Schritt hinter eine faktisch geltende Moral zurück nicht der Schritt zu einer vorpositiven Moral sein. Es kann nur der Schritt zu den Interessen und Idealen der betroffenen Menschen sein. Die Moral kommt aus den Interessen der Menschen und entsteht infolge dieser Interessen durch menschliches Handeln. Deshalb gehen Interessen und Vernunft der Moral voraus, sie ist ihr Produkt und moralisches Handeln ein Segment im weiten Feld vernünftigen Handelns. Wenn wir die Moral in dieser Weise verstehen, versteht es sich von selbst, dass eine positive Moral letzten Endes an nichts anderem gemessen wird als daran, ob sie den Interessen der Betroffenen dient und ob sie in diesem Sinne vernünftig ist. Dies ist der letzte – moralexterne – Maßstab der Kritik. Die Kritik an einer geltenden Moral, die mit einem Teil ihrer Normen bloße Macht ausübt, kann freilich dann eine moralische Kritik sein, wenn es in der betreffenden Gesellschaft oder in der Gemeinschaft aller Menschen höherstufige moralische Normen gibt, die eine Diskriminierung der beschriebenen Art moralisch verbieten. So kann es eine allgemeine moralische Norm geben, die die Ausübung nackter, ungerechtfertigter Macht verbietet. Eine solche Norm würde die betroffenen Menschen mit einem moralischen Recht auf ausschließlich gerechtfertigte Machtverhältnisse ausstatten und ihnen zugleich die Pflicht auferlegen, ihrerseits – individuell und kollektiv – nichts zu tun, was sich gegenüber den Betroffenen nicht rechtfertigen lässt.¹³ Mit dieser Norm würde das Andere der Moral, die Ausübung bloßer Macht, gleichsam in die Moral hineingezogen und selbst zu ihrem Gegenstand gemacht, – und als unmoralisch beurteilt. Die Kritik an den geltenden moralischen Normen griffe in diesem Fall auf eine moralische Norm zurück, aber nicht auf eine vorpositive, sondern eine positive Norm, die als solche erneut an bestimmte soziale Realitäten gebunden ist. Die Kritik bliebe auf diese Weise innerhalb einer positiven Moral. So dass es weiterhin richtig ist, dass jede Kritik, die eine geltende Moral von außen auf ihre Richtigkeit prüft, eine nichtmoralische Kritik ist, deren – moralexterner – Maßstab die Interessen und Ideale der Betroffenen sind. Wenn es – in einem Teil der Welt oder überall – ein moralisches Müssen, das die Ausübung nackter Macht verbietet, und ein entsprechendes Recht auf ge-
13 Hier berühren sich meine Überlegungen mit – ansonsten anders gelagerten – Darlegungen von R. Forst, der von einem grundlegenden moralischen „Recht auf Rechtfertigung“ spricht, das allen Menschen zukommt und beinhaltet, dass keine Person „auf eine Weise behandelt werden darf, für die ihr nicht angemessene Gründe geliefert werden können“. Vgl. Forst, Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung, 300.
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rechtfertigte Machtbeziehungen gibt, ist es gelungen, das Interesse, nicht Objekt nackter Macht zu sein, in ein Recht gleichen Inhalts zu verwandeln. Es ist klar, dass ein Interesse nicht aus sich heraus in ein moralisches Recht umschlägt. Soll es gelingen, das Interesse in einen rechtlichen Anspruch zu transformieren, muss es gelingen, die dafür erforderlichen sozialen Arrangements zu schaffen. Es muss sich eine Sanktionspraxis entwickeln, die die Ausübung nackter Macht sozial ächtet, und die moralische Gemeinschaft muss sich selbst zu einer Sanktionsgemeinschaft machen, die genau dies sanktioniert, so dass der, dem in dieser Weise Unrecht geschieht, tatsächlich eine Instanz hat, die ihm beispringt und gegen den Übeltäter vorgeht. Gelingt es nicht, die soziale Welt in dieser Weise zu gestalten, ist es nicht ein moralisches Recht, sondern, wie gesagt, nur ein Interesse, das den Widerstand gegen geltende, aber ungerechtfertigte moralische Verhaltensnormen trägt. Vielleicht könnte jemand fragen, ob denn hier überhaupt ein großer Unterschied sei. Was unterscheidet eigentlich den, der ein moralisches Recht hat, von dem, der nur das entsprechende Interesse hat? Ist das ein bedeutsamer Unterschied? Der Unterschied ist groß, und er ist bedeutsam. Es ist, kurz gesagt, der Unterschied zwischen moralischer Welt und Naturzustand. Ich will nur zwei Aspekte ansprechen. Einen habe ich schon genannt: Wer nur das Interesse hat, einer Instanz nicht einfach nur untergeordnet zu sein, es aber doch ist, kann die Verhältnisse nicht moralisch kritisieren. Er kann gegen sie angehen als etwas, was ihm nicht passt, was seinen Interessen massiv entgegensteht, was seine Handlungsmöglichkeiten einschränkt und, schlimmer noch, ihn in seinem Selbstverständnis und seiner Selbstachtung trifft. Aber er kämpft nicht gegen etwas, was moralisch verwerflich ist. Denn dies setzte voraus, ein Recht darauf zu haben, nicht nackter Macht ausgesetzt zu sein. Der zweite und, wie mir scheint, tiefste Unterschied liegt darin, dass die, die nur das Interesse, aber nicht das moralische Recht haben, allein stehen. Sie müssen, auf sich gestellt, sehen, wie sie ihre Interessen durchsetzen und wie sie erreichen, was sie wollen. Die, die das moralische Recht haben, sind hingegen mit einer mächtigen Instanz, der moralischen Gemeinschaft, verbündet. Wenn ein moralisches Unrecht geschieht, ist die Gemeinschaft gewissermaßen zuständig: Sie tritt für den, dessen Recht verletzt wurde, ein; ihre Mitglieder sind, soweit sie von einem Unrecht erfahren, verpflichtet, tätig zu werden und die Unrechtstat zu sanktionieren. Wer ein moralisches Recht hat, lebt insofern in einer bereits geordneten Welt, in der für den Schutz seiner Interessen gesorgt ist. Die moralische Gemeinschaft tut etwas, um von Unrechtstaten abzuhalten, und sie sieht für den Fall, dass doch ein Unrecht geschieht, eine Reaktion vor und vollzieht diese auch. Es ist hiernach klar, dass jeder, der ein wichtiges an die anderen gerichtetes Interesse hat und zu seiner Durchsetzung der Hilfe der Gemeinschaft bedarf, gerne nicht nur dieses Interesse,
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sondern auch das entsprechende Recht hätte. In dessen Besitz bringt ihn jedoch nicht eine bloß postulierte vorpositive Moral, sondern nur eine entsprechende Umgestaltung der sozialen Wirklichkeit. 2. Abschließend möchte ich auf eine Schwierigkeit eingehen, die die jetzt angestellten Überlegungen für eine zuvor gemachte wichtige Unterscheidung aufwerfen. Ich meine die Unterscheidung von moralischem und erpresserischem Müssen.¹⁴ Das moralische Müssen ist, so habe ich gesagt, obzwar prudentiell, ein verpflichtendes Müssen, und das heißt, es ist kein erpresserisches Müssen, das den Adressaten mit Hilfe der Sanktionsgewalt bestimmte Verhaltensweisen bloß abpresst. Nun ist „erpresserisch“ ohne Zweifel ein Wort der Moral; wer sagt, ein Müssen sei erpresserisch, urteilt moralisch und gibt zu verstehen, dass es moralisch falsch ist, Menschen in dieser Weise zu etwas zu zwingen. Woher, so könnte jemand fragen, kommt dieses moralische Urteil und die in ihm vorausgesetzte moralische Norm? Das erpresserische Müssen ist das Müssen neben dem moralischen Müssen. Wie kann es dann selbst zum Gegenstand moralischer Normen werden? Moralische Normen (und moralische Urteile) kann es nur im Raum der Moral geben, und dessen Grenzen sind die des moralischen Müssens. Man kann nicht die Moral selbst zu etwas moralisch Richtigem machen. Es scheint also, als liege in der Rede vom erpresserischen Müssen ein Rückfall in eine objektivistische Position, nach der es einfach so ist, dass bloßer Zwang moralisch verwerflich ist. Wäre es nicht richtiger, ohne moralisches Urteil einfach zwei Formen des Müssens zu unterscheiden, das eine (moralische), das den Interessen der Betroffenen entspricht, und das andere (nicht-moralische), das dies nicht tut? Dies ist ein rein deskripter Unterschied. Es wäre dann hinzuzufügen, dass die Menschen, die ihr Zusammenleben nicht anders als durch die Aufrichtung von Normensystemen organisieren können, nur unter einem Müssen leben wollen, das ihren Interessen dient, und dass es ihnen widerstrebt, einem Müssen unterworfen zu sein, das nicht in ihrem Interesse ist. So kommt man ohne das Wort „erpresserisch“ aus, und tatsächlich hat dieses Wort an dieser Stelle kein Recht. Dieser Einwand ist meines Erachtens berechtigt. Ich kann ihm nur mit folgender Überlegung begegnen: Es gibt, wie wir sahen, einen Weg von dem bloßen Interesse, nicht Gegenstand nackter Macht zu sein, zu dem moralischen Recht gleichen Inhalts.Wenn, diesen Weg zu gehen, im Interesse aller ist und es gelingt, ihn zu gehen, dann kommt es zu einer moralischen Norm, die die Ausübung nackter Macht moralisch ausschließt. Eine solche Norm vorausgesetzt ist es gerechtfertigt, vom erpresserischen Müssen zu sprechen.
14 Die Unterscheidung findet sich auch in Vf., Handeln zugunsten anderer, bes. 108, 110, 365 f.
4 Die Rechtfertigung moralischer Normen I Eine Moral ist ein Korpus von informellen sozialen Regeln oder Normen, deren Befolgung die Mitglieder einer Gesellschaft voneinander fordern und auf deren Verletzung sie mit sozialem Druck reagieren. Der äußere Druck, der sehr verschiedene Formen und Intensitäten annehmen kann, wird gewöhnlich antizipiert und internalisiert, so dass die, die die Normen verletzen, auch mit inneren Widerständen und einem mehr oder weniger starken Unbehagen zu kämpfen haben. Was moralisch und unmoralisch ist, wird relativ auf die geltenden Normen bestimmt; moralisch sind die Handlungen, die den Normen entsprechen, unmoralisch die, die normwidrig sind. Die Normen sind von Menschen gemacht, sie gehen aus ihrem Zusammenleben, ihren Vorstellungen und Interessen hervor. Das gilt selbst dann, wenn sie glauben sollten, mit ihren Normen nur den Willen eines höheren Wesens oder eine objektive, durch die Natur selbst vorgegebene moralische Ordnung nachzuvollziehen. Ein wichtiges Charakteristikum einer Moral scheint zu sein, dass derjenige, der eine moralische Norm zur Geltung bringt und ihre Befolgung von anderen fordert, davon ausgeht, dass es legitim ist, dies zu tun. Es ist legitim, die anderen mit der Moral unter Druck zu setzen.Wer dies tut, nutzt nicht einfach ein Machtmittel, über das er verfügt, und er behelligt die anderen auch nicht einfach mit eigenen Wünschen und Präferenzen, mit denen sie nichts zu tun haben. Moralische Normen sind demnach aus der internen Perspektive derer, die in der jeweiligen moralischen Ordnung leben und ihre Regelungen vertreten, keine bloßen Machtnormen. Sie sind legitime oder gerechtfertigte Normen. Ihre Durchsetzung gegen alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft ist gerechtfertigt und ihre Befolgung deshalb für alle eine Pflicht. Wer eine Moral hingegen von außen, aus der Perspektive eines Anthropologen, Historikers oder Ethnologen betrachtet, kann sie auch dann als Moral beschreiben, wenn er einen Teil der Normen für ungerechtfertigt und deshalb – bestimmten Adressatengruppen gegenüber – für bloße Machtnormen hält. Die Vorstellungen darüber, was es rechtfertigt und legitim macht, eine Norm zur Geltung zu bringen, unterscheiden sich in den verschiedenen Moralkonzeptionen. In einer objektivistischen Konzeption, die annimmt, es gebe eine durch Gott, die Natur oder eine andere objektive Instanz vorgegebene Moral, ist die Vertretung einer Norm dann legitim, wenn sie der objektiven Normenordnung entspricht. Eine interessenfundierte Moralkonzeption leugnet, dass es eine solche objektiv vorgegebene Moral gibt. Eine sozial realisierte Moral kann deshalb nicht danach beurteilt werden, ob sie einem vorgegebenen Prototyp entspricht. Sie kann nur danach beurteilt werden, wie sie auf die Interessen der mit der Moral Lebenden
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bezogen ist. Am häufigsten wird hier die Auffassung vertreten, eine Norm und ihre Vertretung sei gerechtfertigt, wenn sie im Interesse aller Betroffenen liegt – und alle Betroffenen deshalb einen Grund haben, die Existenz der Norm zu wollen. Liegt die Norm nicht im Interesse aller Betroffenen, sondern nur im Interesse einer Mehrheit, ist es nicht gerechtfertigt, sie auch der Minderheit gegenüber zur Geltung zu bringen. Dies zu tun, hieße, nackte Macht auszuüben und der Minderheit mittels der Sanktionsmacht ein bestimmtes Verhalten abzupressen. Die moralphilosophische Tradition, die diese Auffassung am deutlichsten vertritt, ist die kontraktualistische. Dem Kontraktualismus geht es in seiner ursprünglichen und bis heute dominierenden politischen Variante um die Legitimation politischer Herrschaft und der damit verbundenen Machtausübung und Freiheitseinschränkung. Dem moralischen Kontraktualismus geht es um die Legitimation moralischer Normen und ihrer Durchsetzung. Auch die Moral nötigt zu bestimmten Handlungen, auch sie schränkt die Freiheit der Individuen ein. Hier ist es nicht ein politischer Herrscher, sondern die Gemeinschaft, die Macht ausübt. Sie fordert bestimmte Handlungen und sanktioniert im Falle des Anders-Handelns. In beiden Fällen ist die Kernaussage des Kontraktualismus dieselbe: Politische Herrschaft ist legitim, wenn sie den Interessen aller Betroffenen entspricht, und genauso sind moralische Normen legitim, wenn sie den Interessen aller Betroffenen entsprechen. Was die Legitimation der Norm generiert, ist – in der traditionellen Sprache der Vertragstheorie formuliert – die einstimmige Übereinkunft der Betroffenen darüber, dass es diese Norm geben soll.¹ Diese zentrale Idee des moralischen Kontraktualismus wird in ähnlicher Form auch außerhalb der kontraktualistischen Tradition vertreten. So ist etwa Habermas der Auffassung, eine moralische Norm sei dann legitim, wenn sie die Zustimmung aller finden könnte. Die Zustimmung resultiert hier allerdings nicht aus dem Blick des Einzelnen auf seine Interessen, sondern aus einer in einem Diskurs gewonnenen Einsicht in die Übereinstimmung der Norm mit bestimmten Moralprinzipien.² Die Diskursethik teilt also auf andere Weise die Einstimmigkeitsforderung.
1 Vgl. zur Bedeutung der Einstimmigkeit im traditionellen Kontraktualismus v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 111. 2 Vgl. z. B. Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, 46, 59; ders., Faktizität und Geltung, 138, 566.
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II Der Status und die Begründung dieser Forderung werfen eine Reihe von Fragen auf. Einigen von ihnen möchte ich im Folgenden nachgehen.³ – Als erstes muss man sich klarmachen, dass die Aussage, eine moralische Norm müsse im Interesse aller liegen, dann sei sie gerechtfertigt oder legitim, einen moralischen Anspruch an moralische Normen formuliert. Denn von einer Norm zu sagen, sie sei gerechtfertigt oder legitim, qualifiziert sie moralisch. Mit den Kategorien der Rechtfertigung und Legitimation bewegt man sich hier von vorneherein, unabhängig von jeder speziellen Rechtfertigungskonzeption, im Raum der Moral.Wenn eine moralische Norm nicht allen Betroffenen gegenüber gerechtfertigt werden kann, aber durch die Mehrheit dennoch allen gegenüber durchgesetzt wird, alle sie also befolgen müssen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, sozial sanktioniert zu werden, ist die Norm für die Minderheit erpresserisch. Sie nötigt zu einem Verhalten, und diese Nötigung ist ein nackter, aber kein gerechtfertigter Zwang. Erpressungen und die Ausübung nackten Zwangs sind aber unmoralisch. Die Annahme, die hier im Hintergrund steht, ist, dass die Ausübung von Macht und Zwang moralisch fragwürdig ist. Sie ist im Prinzip unmoralisch und nur in besonderen Fällen gerechtfertigt und legitim, und das heißt: moralisch in Ordnung. Die Begriffe der Rechtfertigung und der Legitimation sind defensive Begriffe. Wo Menschen über Menschen Macht ausüben, stehen sie vor der Frage, ob sie dies gerechtfertigterweise tun, ob also ihre Machtausübung moralisch unbedenklich ist oder nicht. Wenn E. Tugendhat sagt, moralische Normen seien, da sie den Freiheitsspielraum der Einzelnen einschränken, „legitimationsbedürftig“⁴, kann damit nur ein moralisches Erfordernis gemeint sein. Die Freiheit anderer einzuschränken, ist, so die Prämisse, moralisch bedenklich, und wer dies tut, steht vor dem moralischen Erfordernis, sein Tun zu legitimieren, also zu zeigen, dass es moralisch in Ordnung ist. Die Konzeption, dass eine moralische Norm dann legitim ist, wenn sie im Interesse aller Betroffenen liegt, spezifiziert, unter welchen Bedingungen die mit einer moralischen Norm einhergehende Nötigung gerechtfertigt ist. Folglich muss, wer zeigen will, dass eine Norm und ihre Durchsetzung
3 Ich antworte damit auch auf Einwände von Jacob Rosenthal, Holmer Steinfath und besonders Norbert Hoerster gegen einige Annahmen, die ich in Handeln zugunsten anderer gemacht habe. Vor allem in § 11 habe ich gesagt, die Vertretung von moralischen Normen, die nur im Interesse einer Mehrheit liegen, sei der Minderheit gegenüber ungerechtfertigt und erpresserisch – und damit selbst unmoralisch. Es war aber offen geblieben, was die Quelle und die Begründung dieses moralischen Urteils ist, und auch, ob es wirklich in jedem Fall richtig ist. Auf diese Fragen geben nun, so hoffe ich, die Überlegungen dieses Aufsatzes eine Antwort. 4 Tugendhat, Wie sollen wir Moral verstehen?, 163.
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moralisch unbedenklich ist, zeigen, dass sie im Interesse aller liegt. Die „Einstimmigkeit“ ist, das ist sehr deutlich, ein moralischer Anspruch an moralische Normen. Es geht hier folglich nicht darum, am Maßstab geltender moralischer Normen Handlungen, Motive, Personen als moralisch oder unmoralisch zu beurteilen. Vielmehr werden die moralischen Normen selbst einer moralischen Beurteilung unterzogen. Die Moral besetzt gleichsam eine zweite Stufe, auf der sie die moralischen Normen selbst ihrem Urteil unterwirft. Das hört sich vielleicht verwirrend an. Aber es ist genau der Sachverhalt, der in unserem Moralverständnis eine zentrale Rolle spielt. Moralische Normen unterstehen selbst einem moralischen Standard. Dies wird überall vorausgesetzt, wo gerechtfertigte und ungerechtfertigte Normen, verpflichtende Moral- und bloße Machtnormen unterschieden und entsprechende Abgrenzungskriterien benannt werden. Man darf den Aspekt der Rechtfertigung nicht mit anderen Aspekten, unter denen man moralische Normen beurteilt, verwechseln oder in eins setzen. So ist die Beurteilung einer moralischen Norm unter dem Aspekt des Gerechtfertigtseins zu unterscheiden von ihrer Beurteilung unter kognitiven Aspekten. Eine moralische Norm kann gerechtfertigt sein, aber sie kann kognitiv nicht in Ordnung und in diesem Sinne nicht rational sein. Nehmen wir an, eine Gemeinschaft von Menschen ist davon überzeugt, dass bestimmte Säugetiere heilig sind; alle haben deshalb das Interesse, diese Tiere vor jedem instrumentellen Umgang zu schützen. Infolge dieses geteilten Interesses entsteht eine moralische Norm, die eine solche Instrumentalisierung verbietet. Da alle diese Norm wollen, auch unter der unumgänglichen Bedingung, dass sie gegebenenfalls auch gegen sie selbst zur Geltung gebracht wird, ist ihre Durchsetzung allen gegenüber gerechtfertigt. Niemandes Freiheit wird gegen seinen Willen eingeschränkt. Die Norm ist also gerechtfertigt. Allerdings ist es, das sei hier vorausgesetzt, irrational, anzunehmen, bestimmte Tiere seien heilig. Deshalb ist auch das Interesse, sie vor jeglicher Instrumentalisierung zu schützen, irrational, und deshalb ist auch die Norm, die den Schutz gebietet, irrational. Sie hat eine Annahme zur Voraussetzung, die einer rationalen Kritik nicht standhalten kann. Und deswegen ist sie nicht Teil einer rationalen Moral. Die Norm ist also gerechtfertigt, aber nicht rational. Sie ist, so kann man auch sagen, moralisch in Ordnung, aber kognitiv nicht in Ordnung. Umgekehrt kann es, wie man sich leicht ausmalen kann, Normen geben, die kognitiv in Ordnung sind, aber nicht gerechtfertigt. Die Moral, mit der wir leben wollen, muss beiden Ansprüchen genügen. Hier geht es nur um die moralische Seite der Sache. Eine Moral, so habe ich gesagt, unterwirft ihre moralischen Normen selbst einer moralischen Beurteilung. Wenn es so ist, stellt sich die Frage, worauf sich das höherstufige moralische Urteil, das Urteil über moralische Normen stützt. Wo kommt der moralische
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Maßstab her, den es zur Geltung bringt? Natürlich ist hier nicht nur fraglich, wo überhaupt ein solcher höherer Maßstab herkommt, sondern auch, warum es genau dieser ist. Es versteht sich nicht von selbst, dass eine moralische Norm, um gerechtfertigt zu sein, im Interesse aller Betroffenen liegen muss. Es sind andere Auffassungen denkbar, schwächere, etwa die, dass eine Norm gerechtfertigt ist, wenn sie im Interesse der allermeisten oder einer Mehrheit liegt, und auch stärkere, etwa die, dass eine Norm gerechtfertigt ist, wenn sie gleichermaßen im Interesse aller liegt. Eine kontraktualistische Theorie muss diese Fragen beantworten können. Sie versteht moralische Normen als positive, von Menschen geschaffene Normen, die dann gerechtfertigt sind, wenn sie den Interessen aller Betroffenen entsprechen. Diese Konzeption setzt damit einen bestimmten moralischen Maßstab für moralische Normen voraus. In aller Regel geschieht dies unausdrücklich; es wird nicht einmal sichtbar gemacht, dass hier überhaupt eine moralische Prämisse im Spiel ist, und es wird nicht begründet, warum gerade diese und keine andere.⁵ Bevor ich zu diesen Fragen komme, ist es wichtig, zu sehen, dass hier eine weitere, noch grundsätzlichere Frage gestellt werden kann. Man kann angesichts der jetzt entfalteten Problemstellung noch einen Schritt weiter zurücktreten und fragen, warum man moralische Normen überhaupt dem Rechtfertigungserfordernis und damit einem moralischen Maßstab unterwerfen soll. Warum also überhaupt moralische Normen und bloße Machtnormen unterscheiden? Man kann sich eine Ordnung informeller sozialer Normen denken, die keine moralischen Restriktionen für die moralischen Normen selbst vorsieht und in der die Mehrheit deshalb frei ist, Normen gegen eine Minderheit, die diese Normen ablehnt, durchzusetzen. Eine interessenfundierte Moralkonzeption dieser Art hat N. Hoerster verteidigt.⁶ Es wäre hilflos, dem gegenüber darauf hinzuweisen, dass eine solche Ordnung nicht den Namen „Moral“ in dem oben bestimmten Sinne verdiente. Das ist zwar richtig, aber natürlich kann man das Wort „Moral“ auch so verwenden, wie es Hoerster tut. Man wird seiner Auffassung nur gerecht, wenn man überlegt, was dafür und dagegen spricht, eine Moral mit oder ohne moralische Metanorm zu konzipieren.
5 Dies gilt auch für die kontraktualistische Theorie von D. Gauthier. Gauthier teilt die Einstimmigkeitsforderung: Jeder Betroffene muss, so sagt er immer wieder, einen Grund haben, eine moralische Norm im Blick auf seine Interessen zu bejahen, ansonsten ist die Norm nicht gerechtfertigt, und das heißt: ausbeuterisch. Soweit ich sehe, setzt Gauthier, dass es so sein muss, aber mit der Tradition einfach voraus. Die Frage, was diese moralische Anforderung begründet, stellt er nicht. Vgl. zur Einstimmigkeit z. B. Gauthier, Morals by Agreement, 1, 11; auch: Rational Agreement and Morality, 92, 93 f., 99; dt. 101 f., 103 ff., 111. 6 Hoerster, Ethik und Interesse.
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III Was also ist die Basis für das moralische Erfordernis, dass moralische Normen im Interesse aller Betroffenen sein müssen? Es ist zunächst aufschlussreich, dass der klassische politische Kontraktualismus mit dieser Frage keine Schwierigkeiten hatte. Denn er erörterte die Frage der Legitimität politischer Herrschaft innerhalb eines moralischen Rahmens, der nicht seinerseits kontraktualistisch, sondern in der Regel naturrechtlich verstanden wurde. Dieser aus anderen Quellen geschöpften Moral konnte man entnehmen, dass die Menschen von Natur aus mit bestimmten moralischen Rechten ausgestattet sind, unter ihnen das Recht auf individuelle Handlungsfreiheit. „Die Menschen sind“, so sagt Locke, „alle von Natur aus frei, gleich und unabhängig.“⁷ Die Herrschaft von Menschen über Menschen kann folglich moralisch nur in Ordnung sein, wenn sie diese moralischen Rechte unangetastet lässt. Und dies ist nur möglich, wenn die Ausübung von Macht die Zustimmung aller Betroffenen findet. Tut sie es nicht, verletzt sie die natürlichen Rechte der Individuen und ist damit unmoralisch. Der moralische Kontraktualismus verfügt über solche von außen kommenden Ressourcen nicht. Er versucht gerade, objektivistische naturrechtliche Vorstellungen zu überwinden, und kennt deshalb keine natürlichen Rechte und Pflichten. Alles Moralische entsteht erst mit der Etablierung moralischer Normen. Es gibt keine diesen Normen vorausgehenden moralischen Rechte und Pflichten. Und deshalb ist die Frage, wie in dieser Konzeption Platz sein kann für die Annahme, dass die moralischen Normen ihrerseits einem moralischen Maßstab entsprechen müssen. Es ist leicht zu sehen, dass eine Reihe von Antwortversuchen scheitern. So ist offensichtlich, dass eine kontraktualistische Konzeption nicht an diesem einen Punkt in einen Objektivismus zurückfallen und annehmen kann, es gebe eine objektiv vorgegebene, vorpositive moralische Norm, nämlich die, dass eine Norm im Interesse aller liegen müsse. In die subjektivistische Konzeption des Kontraktualismus lässt sich nicht eine objektiv vorgegebene Norm einschleusen.Wäre der Kontraktualismus darauf angewiesen, diesen Schritt zu tun, wäre sein Versuch, objektivistische Moralkonzeptionen zu überwinden, gescheitert, und er erwiese sich selbst als eine Variante einer solchen Theorie. Es scheitert ebenso der Versuch, die Schwierigkeit mit Hilfe eines starken Vernunftbegriffs zu lösen und zu sagen, eine Norm, die nicht im Interesse aller liege, sei nicht vernünftig. Es wäre dann nicht eine moralische, sondern eine Vernunftforderung, dass eine Norm im Interesse aller liegen muss. Aber was soll es
7 Locke, Two Treatises of Government, II, 95, p. 330: „Men being … by Nature, all free, equal and independent, …“
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heißen, dass nur eine Norm dieser Art vernünftig ist? Man kann sagen, eine Norm sei vernünftig (oder begründet) für den, in dessen Interesse sie ist. Er hat einen Grund, sie zu wollen und sie zu bejahen. Von einer Norm aber zu sagen, sie sei vernünftig oder begründet, Punkt, ohne einen Personenbezug, ist, wie es scheint, unsinnig. Auch eine dritte Antwort scheitert. Sie versucht, sich der Schwierigkeit im Rückgriff auf den Begriff der Moral zu entwinden, und sagt, eine Norm, die nicht im Interesse aller liege, sei per definitionem keine moralische Norm, sondern eine Machtnorm. Und deshalb müsse eine moralische Norm diese Charakteristik aufweisen. Es wäre dann wiederum kein moralisches Muss, sondern ein bloßes definitorisches Erfordernis, dass eine moralische Norm im Interesse aller liegt. Doch selbst wenn man „Moral“ in dieser Weise definiert und sich deshalb das genannte definitorische Erfordernis ergibt, liegt hierin keine Lösung des Problems. Vermutlich ist der Grund für eine solche Definition die moralische Überzeugung, eine Norm sei nur dann moralisch unbedenklich, wenn sie im Interesse aller liege. Aber die Definition würde keine Begründung für dieses vorausgesetzte moralische Urteil bieten.Wie es überhaupt unmöglich ist, eine substantielle moralische Frage dadurch zu lösen, dass man den Begriff der Moral so oder so definiert. Der Moralbegriff kann, wie immer er bestimmt ist, nicht die Quelle substantieller moralischer Prinzipien sein.
IV Wie beantwortet der Kontraktualismus die Fragen? Aus seiner Sicht kann die höherstufige Norm, die bestimmt, dass moralische Normen im Interesse aller liegen müssen, selbst nur ein Ergebnis menschlichen Handelns sein, und nicht ein Stück moralischer Objektivität. Sie kann wie alle anderen moralischen Normen nur eine positive Norm sein, die ihren Grund in den Interessen der beteiligten Menschen hat. Eine Gemeinschaft von Menschen muss diese Norm wollen und sie in die Existenz bringen. Sie kann, mit anderen Worten, selbst nur kontraktualistisch fundiert sein. Versetzen wir uns also in den Naturzustand und sehen, ob eine Gemeinschaft, die dabei ist, sich eine Moral zu geben, vernünftigerweise eine höherstufige Norm vorsehen würde und, wenn ja, welche. Wir können davon ausgehen, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft das Interesse haben, nicht unterdrückt zu werden. Niemand will bloßes Objekt fremden Wollens, niemand will bloßer Spielball fremder Macht sein. Dieses Interesse inkludiert – da mit der Etablierung der Moral Normen entstehen – das Interesse, auch durch die Normen der Moral nicht unterdrückt zu werden. Deshalb will jeder, dass nur solche Normen geschaffen
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werden, deren Existenz in seinem Interesse liegt. Dies lässt sich durch eine höherstufige Norm sichern, die vorschreibt, dass moralische Normen im Interesse eines jeden Betroffenen liegen müssen. Mit einer solchen Norm wäre für jeden erreicht, dass es keine moralischen Normen gibt, die nicht in seinem Interesse liegen. Jeder würde bekommen, was er will: einen Schutz vor repressiven moralischen Normen. Jeder hat folglich ein Interesse an einer solchen höherstufigen Norm, und die Gemeinschaft wird, wie es scheint, ihre Etablierung vorsehen und betreiben. Man muss den Menschen im Naturzustand allerdings nicht viel Voraussicht zuschreiben, um sie erkennen zu lassen, dass die Einstimmigkeitsnorm ihren Interessen nicht in jedem Fall dient und deshalb bestimmter Einschränkungen bedarf. Das zeigt folgende Überlegung: Zu den vordringlichen moralischen Normen gehören ohne Zweifel das Tötungsverbot, das Verletzungsverbot, das Gebot der Hilfe in Notsituationen. Sollen diese Normen im Interesse aller liegen, muss ihnen eine bestimmte Interessenkonfiguration bei allen Betroffenen zugrunde liegen.⁸ Diese Interessenkonfiguration ist durch zwei Elemente bestimmt: Erstens müssen alle daran interessiert sein, nicht verletzt zu werden (um dieses Beispiel zu nehmen). Und zweitens muss es für alle wichtiger sein, von anderen nicht verletzt zu werden, als die Möglichkeit zu haben, andere zu verletzen. Nur wer auch diese zweite Präferenz hat, will das Verletzungsverbot, das ja nicht nur die anderen bindet, sondern auch einen selbst. Es spricht sehr viel dafür, dass man diese Interessenlage allen unterstellen kann. Dennoch bleiben, was das zweite Element angeht, gewisse Zweifel. Denn ist es wirklich so, dass alle, weil sie nicht verletzt werden wollen, auch die entsprechende Norm wollen, die ja, wie gesagt, auch sie selbst bindet? Kann es nicht einige geben, die lieber die Freiheit haben, zu verletzen, und sich auch ohne moralische Norm davor zu schützen wissen, verletzt zu werden? Es ist unwahrscheinlich, aber vielleicht kann es einige wenige mit solchen Interessen geben.Wenn, dann wäre das Verletzungsverbot nicht im Interesse aller. Und kann es nicht ebenso einige geben, die anderen nicht helfen wollen und dafür in Kauf nehmen, selbst keinen Anspruch auf Hilfe zu haben und in einer Gemeinschaft zu leben, die keine Hilfspflichten in Notsituationen kennt? Vielleicht kann es auch hier einige wenige von dieser Art geben. Wenn, wäre auch das Hilfegebot nicht im Interesse aller. Nehmen wir noch einen anderen, etwas greifbareren Fall. Eine weitere zentrale Norm, deren Etablierung die Bewohner des Naturzustandes vorsehen werden, ist das Verbot, zu stehlen. Doch diese Norm liegt nicht im Interesse aller Betroffenen (und schon gar nicht im gleichen Interesse aller Betroffenen), falls es
8 Vgl. hierzu eingehender Vf., Moralischer Kontraktualismus, in diesem Band, S. 13 ff.
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in der Gemeinschaft Mittellose gibt. Denn wer mittellos ist und nichts besitzt (und auch keine Hoffnung hat, dass sich das ändert), wird kein Interesse an einer Norm haben, die ihn davor schützt, bestohlen zu werden, ihm aber verbietet, anderen etwas wegzunehmen. Das Diebstahlsverbot muss also, soll es gelten, einer kleinen Minderheit ohne deren Zustimmung aufgezwungen werden. – Wie wird die Gemeinschaft in diesem und in den anderen Fällen verfahren? Sie wird die Normen etablieren und auch gegen mögliche Minderheiten durchsetzen, einfach weil sie sonst auf für das Zusammenleben essentielle Regelungen verzichten müsste. Sie ist zu stark an der Ordnung des Zusammenlebens interessiert, als dass sie sich von der Tatsache, dass kleine Minderheiten andere Interessen haben, davon abbringen ließe, diese Regelungen zu schaffen. Dies antizipierend werden die Naturzustandsbewohner, wenn sie über die Frage nachdenken, welchen moralischen Standards die moralischen Normen selbst genügen sollen, zu dem Ergebnis kommen, dass die moralische Forderung der Einstimmigkeit in jedem Fall zu weit geht. Es wäre eine untaugliche Regelung, an die man anfangs denken mag, von der sich aber schnell herausstellt, dass sie in eine Selbstblockade führte. Gäbe es diese Norm, wäre es möglicherweise moralisch nicht gerechtfertigt, das Diebstahlsverbot und andere zentrale Moralnormen zu etablieren. Die Moral würde, was sie leisten soll, gerade verhindern: eine vernünftige normative Ordnung des Zusammenlebens. Die Einstimmigkeitsforderung des traditionellen Kontraktualismus verabsolutiert, so zeigt sich, ein bestimmtes Interesse des Menschen, das Interesse, nicht bloßer Gegenstand fremden Wollens zu sein. Aber die Menschen haben noch andere elementare Interessen, und deshalb sind hier Abwägungen unausweichlich. Wenn die Einstimmigkeitsforderung zu weit geht, liegt es nahe, sie vorsichtig zu modifizieren. Beim jetzigen Stand der Überlegungen könnte man an die Norm denken, dass die moralischen Normen im Interesse aller sein müssen, oder aber in Fällen, in denen bei dieser Regelung für die Organisation des Zusammenlebens essentielle Normen nicht zustande kämen, im Interesse der meisten. Dabei meint „die meisten“ nicht unbedingt die allermeisten, die, wie in unseren Beispielen, einer verschwindend kleinen Minderheit gegenüberstehen. Man braucht sich nur vorzustellen, dass die Zahl der Mittellosen nicht sehr klein, sondern recht ansehnlich ist. Eine Mehrheit, die gerade groß genug ist, um das Diebstahlsverbot durchzusetzen, würde es durchsetzen, aus demselben Grund, aus dem es die übergroße Mehrheit tun würde. – Mit dieser modifizierten Einstimmigkeitsnorm wäre es gerechtfertigt, das Diebstahlsverbot auch gegenüber der Minderheit der Mittellosen durchzusetzen. Seine Durchsetzung wäre gegenüber jedermann gerechtfertigt, obwohl es nicht im Interesse aller wäre und deshalb nicht jeder Betroffene einen Grund hätte, die Existenz des Verbotes zu wollen. Mit dieser Norm würde man das Interesse, nicht bloßes Objekt fremden Wollens zu sein, nicht mehr
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zum alleinigen Maßstab einer vernünftigen Regelung machen. Man würde den Schutz vor Fremdbestimmung aufweichen, um das höhere Gut, die Etablierung einer für das gemeinsame Leben essentiellen Regelung, zu erreichen. Natürlich läuft bei dieser modifizierten Regelung jeder Gefahr, selbst in die Position der Minderheit zu geraten und seine Freiheit durch eine Norm eingeschränkt zu sehen, die nicht im eigenen Interesse liegt. Es wird hier erneut deutlich, dass man das Gerechtfertigtsein einer Norm nicht, wie es häufig geschieht, mit anderen Aspekten, unter denen moralische Normen beurteilt werden, verquicken darf. Der Aspekt der Rechtfertigung und der der Begründung sind, so zeigt sich hier, zu unterscheiden. Die Frage, ob eine Norm und ihre Durchsetzung gegenüber dem Adressaten A gerechtfertigt ist, und die Frage, ob A einen Grund hat, die Existenz der Norm zu wollen, sind verschiedene Fragen. Das Diebstahlsverbot wäre, wie wir sahen, unter Voraussetzung der modifizierten Einstimmigkeitsregel eine Norm, die gegenüber allen gerechtfertigt ist, obwohl sie nicht im Interesse aller liegt und folglich nicht alle einen Grund haben, ihre Existenz zu wollen. Für einige spricht nichts für diese Norm, sie haben keinen Grund, die Norm zu wollen. Dennoch ist es auch ihnen gegenüber gerechtfertigt, sie zur Geltung zu bringen. Es ist vielleicht wichtig, ausdrücklich festzuhalten, dass die Einstimmigkeitsnorm auch mit der jetzt vorgenommenen Modifikation moralische Normen ausschließt, die einer Minderheit bestimmte Rechte vorenthalten. Eine moralische Norm, die bestimmt, dass man andere nicht verletzen darf, mit Ausnahme derer, die das empirische Merkmal X haben, bleibt unmöglich. Eine solche Norm wäre nicht im Interesse aller Betroffenen. Und sie wäre für die Ordnung des Zusammenlebens nicht essentiell. Der Ausschluss einer Minderheit von bestimmten Rechten ist niemals etwas, was für eine funktionierende Ordnung des gemeinsamen Lebens notwendig ist. Und tatsächlich speist sich das Eintreten für diskriminierende Normen dieser Art aus ganz anderen Motiven. Ich gehe der Frage, ob man,wenn man die inhaltliche Ausgestaltung der Moral detaillierter antizipiert, zu einer weiteren Begrenzung der Einstimmigkeitsforderung kommt, nicht im Einzelnen nach. Es ist gewiss naheliegend, anzunehmen, man werde außerhalb des Bereichs, dessen Regelung für die Organisation des Zusammenlebens unumgänglich ist, strikt auf der uneingeschränkten Einstimmigkeitsregel bestehen. Doch auch hier scheint es vorsichtiger Einschränkungen zu bedürfen, wie das folgende Beispiel zeigt. Es betrifft den Umgang mit Tieren und liegt damit außerhalb des Kernbereichs der Moral, der unbedingt zu regeln ist. Dennoch wird die Agenda jeder moralischen Gemeinschaft eine Regelung vorsehen. Das Ausgangsinteresse ist in diesem Fall ein altruistisches Interesse, das sich auf das Wohl anderer richtet. Die Menschen im Naturzustand werden, so dürfen wir annehmen, etwas dagegen haben, Tiere zu quälen. Jenseits aller Un-
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terschiede in den Einstellungen zu Tieren wird es Formen des Umgangs mit Tieren geben, die sie abstoßen und die sie deshalb nicht wollen. Sie wollen nicht nur selbst Tiere nicht quälen, sie wollen auch nicht, dass es sonst jemand tut. Deshalb wollen sie eine Norm, die Tierquälerei verbietet.Was, wenn es nun einige gibt, die kein Mitgefühl mit Tieren empfinden und in deren Interesse eine solche Norm folglich nicht wäre? Darf man sie einer Norm unterwerfen, die sie nicht wollen? Man kann hier die, die einer solchen Norm indifferent gegenüberstehen, also kein Interesse an ihr haben, aber auch kein Interesse daran, dass es sie nicht gibt, von denen unterscheiden, die die Norm nicht wollen, weil sie zumindest die Option haben möchten, mit Tieren nach Belieben umzugehen. Die Frage, ob man die Minderheit der Norm unterwerfen darf, bezieht sich, wie es scheint, nur auf die letzte Gruppe. Und sie dürfte sehr klein sein. Darf man diesen wenigen die Norm aufzwingen? Auch in diesem Fall würde die große Mehrheit wohl die Norm durchsetzen und dies auch für moralisch gerechtfertigt halten, was eine entsprechende Modifikation der Einstimmigkeitsregel voraussetzt.Warum? Weil man annehmen würde, dass die Zahl derer, die die Norm nicht wollen, einfach zu klein ist, um eine allgemein gewollte Regelung durch ein Veto zu verhindern, oder dass die Haltung der kleinen Minderheit, ihre Empfindungslosigkeit und ihr aktives Interesse an der Option, Tiere nach Belieben zu behandeln, zu extrem und atypisch ist, um berücksichtigt zu werden.⁹ Beide Begründungen hängen offenkundig davon ab, dass die Minderheit verschwindend klein ist.Wäre sie größer, ließe sich weder so noch so argumentieren. – Dennoch sind beide Begründungen nicht ganz unbedenklich. Die genannten Kriterien sind dehnbar und können zu großzügigen und allzu großzügigen Auslegungen verleiten. Da eine Moral, anders als eine Rechtsordnung, keine schriftlich fixierten und bis ins Einzelne ausgearbeiteten Gesetze kennt, bleibt hier vermutlich eine Grauzone zwischen klaren Fällen auf der einen und klaren Fällen auf der anderen Seite. Ganz allgemein lässt sich für diesen Beispielfall wie auch für andere Situationen sagen, dass jede moralische Gemeinschaft ihre eigenen Kriterien und Grenzziehungen entwickeln muss. Jede moralische Gemeinschaft muss selbst entscheiden, wie sie das Interesse, nicht unter ungewollten Normen leben zu müssen, und das Interesse, mit großer Mehrheit gewollte Normen auch gegen eine Minderheit durchsetzen zu können, gewichtet und wie weit sie infolgedessen die Einstimmigkeitsnorm einschränkt. Natürlich wird die Gefahr, selbst unter ungewollten Normen leben zu müssen, umso größer, je mehr man die Einstimmigkeitsregel begrenzt. Je mehr es der jeweiligen Mehrheit moralisch erlaubt ist, von ihr gewollte Normen auch gegen die Minderheit durchzusetzen, und je mehr es
9 Eine ähnliche Überlegung bei Kavka, Hobbesian Moral and Political Theory, 190, 199.
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Normen dieser Art gibt, um so mehr wird jeder damit leben müssen, dass seine Freiheit durch Normen eingeschränkt ist, die er nicht will und von denen er wünscht, es gäbe sie nicht. Es gibt hier, wie ich meine, keinen fixen Punkt, an dem eine Gemeinschaft vernünftigerweise eine Grenze ziehen muss. Verschiedene moralische Gemeinschaften können verschiedene Abwägungen vornehmen und folglich verschiedene moralische Standards für moralische Normen herausbilden. Es versteht sich, dass es auch innerhalb einer Gemeinschaft unterschiedliche Abwägungen geben kann. Die einen können eine striktere Grenzziehung zugunsten der Minderheiten befürworten, andere eine weniger strikte. Da es um eine Frage des Mehr oder Weniger geht – soll die Einstimmigkeitsnorm mehr oder weniger eingeschränkt werden –, liegt es nahe, sich auf eine Kompromisslinie zu einigen, um so zu einem modus vivendi zu finden.
V Ich komme jetzt zu einem Punkt, den ich bisher beiseite gelassen habe, der aber nicht übergangen werden darf. Ich hatte gesagt, dass niemand verletzt werden will, bedeute nicht unbedingt, dass alle auch eine Norm wollen, die Verletzungshandlungen verbietet. Es könne vielleicht einige geben, die auf den Schutz durch die Norm verzichten, wenn sie nur die Möglichkeit behalten, andere zu verletzen. Sie würden den Naturzustand der moralischen Regelung vorziehen. Entsprechend bedeutet, dass niemand durch moralische Normen unterdrückt werden will, nicht unbedingt, dass alle, wie bisher vorausgesetzt, auch eine höherstufige Norm wollen, die diese Form der Unterdrückung verbietet. Auch hier könnten Einzelne den Zustand des Ungebundenseins der moralischen Regelung vorziehen. Die höherstufige Norm wäre, wenn es diese Minderheit gibt, folglich nicht im Interesse aller. Würde das die Mehrheit daran hindern, die Norm zu etablieren? Nein, sie würde sie etablieren und sie würde sich dazu auch für moralisch berechtigt halten. Aus demselben Grund, aus dem sie auch bereit ist, die Diebstahlsnorm, die Verletzungsnorm und andere zentrale Normen gegen eine Minderheit durchzusetzen: weil sonst – wenn man Einstimmigkeit verlangte – eine für das Zusammenleben essentielle Regelung nicht zustande käme. Und das Unterdrückungsverbot ist eine solche essentielle Regelung. Die Mehrheit würde auf diese Weise die von ihr vorgesehene Metanorm, die in bestimmter Weise eingeschränkte Einstimmigkeitsregel, auf die Entstehung dieser Norm selbst anwenden. Hier könnte nun jemand einwenden, es sei falsch, davon auszugehen, dass allenfalls eine sehr kleine Minderheit eine höherstufige Norm ablehnen und auf dieser Ebene das freie Spiel der Kräfte vorziehen würde. Denn so würden doch
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diejenigen optieren, die sich ausrechnen, sehr viel häufiger zu der jeweiligen Mehrheit als zu der jeweiligen Minderheit zu gehören. Dies könnten sich aber nicht nur ganz wenige ausrechnen, sondern die allermeisten. Und deshalb würden auch die meisten gegen eine höherstufige Norm sein, die es ihnen verbietet, mit der Mehrheit erpresserische Normen durchzusetzen. Folglich werde eine moralische Gemeinschaft, zumindest in der Mehrzahl ihrer Mitglieder, vernünftigerweise kein Interesse an einer höherstufigen Norm dieser Art haben. Wer genauer hinsehe, erkenne also, so der Einwand, dass die obige Annahme, eine moralische Gemeinschaft werde sich, was die moralischen Normen selbst angeht, auf eine stärker oder schwächer eingeschränkte Einstimmigkeitsregel einigen, falsch ist. Sie werde vielmehr überhaupt keine Metanorm installieren. Diese Überlegung führt zu der Konzeption, die N. Hoerster vertritt. Es sei, so meint er, das Vernünftigste, die moralischen Normen überhaupt keinem moralischen Maßstab zu unterwerfen und damit auf das Rechtfertigungserfordernis in jeder Form zu verzichten. Die Mehrheit wäre dann völlig frei, ihre Macht zu nutzen und Normen nach Gefallen gegen eine Minderheit durchzusetzen. Sie agierte in einem moralfreien Raum. Hoerster argumentiert mit zwei knappen Überlegungen für seine Auffassung. Zunächst nimmt er an, eine höherstufige Norm, relativ auf die man moralische Normen beurteilt, könne nur eine objektive Norm sein. Weshalb für eine solche Beurteilung auf dem Boden einer subjektivistischen Moralkonzeption jeder Maßstab fehle.¹⁰ „Es gibt“, so heißt es, „keine höhere Normenordnung“, die das Aufzwingen einer Norm mit der Macht der Mehrheit moralisch verbieten oder erlauben könnte.¹¹ Es ist nach den vorangegangenen Ausführungen klar, dass dieses Argument ins Leere läuft. Wie jede andere moralische Norm hat eine höherstufige Norm ihren Grund in den Interessen der Beteiligten. Das zweite Argument weist darauf hin, dass es „ein merkwürdiges Ergebnis“ wäre, „wenn wir in unserer Gesellschaft etwa das Verbot der Vergewaltigung von Frauen nicht gegenüber jedermann vertreten und durch Sanktionen stützen dürften, falls es einige Männer gibt, die von ihrem Interessenstandpunkt aus lieber in einer Gesellschaft ohne dieses Verbot leben und agieren würden … Warum sollten wir etwa Tierquälerei nicht verbieten dürfen und tatsächlich verbieten, nur weil es vermutlich einige Menschen gibt, denen jedes Mitgefühl mit Tieren fehlt?“¹² Dies ist eine Kritik an einer uneingeschränkten Einstimmigkeitsregel, aber es ist kein Argument gegen eine eingeschränkte Variante dieser Regel
10 Hoerster, Ethik und Interesse, 219. 11 Ebd. 12 Ebd. 220.
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und schon gar kein Argument gegen jeglichen Maßstab für moralische Normen. Hoerster bietet, wie sich zeigt, keine überzeugende Begründung für seine Position. Das stärkste Argument für die Position des völligen Verzichts auf eine höherstufige Norm scheint also der obige Einwand zu bieten, dass die meisten an einer solchen Norm nicht interessiert seien. Doch dieser Einwand ist, wie ich meine, nicht überzeugend, und es spricht insgesamt nichts für die Annahme, dass die Menschen im Naturzustand die Moral in dieser Weise ausgestalten würden. Ob sie eine höherstufige Norm wollen oder nicht und, wenn ja, wie weit sie die Einstimmigkeitsregel einschränken, ist eine Frage der Abwägung. Was ist ihnen wichtiger, ihr Freiheitsinteresse, das Interesse, nicht unter ungewollten Normen leben zu müssen, oder ihr Interesse an Dominanz, das Interesse, mit der Mehrheit von einer Minderheit nicht gewollte Normen als für alle verbindlich durchzusetzen? Vor dieser Abwägung stehen auch die, die davon ausgehen, öfter zur Mehrheit als zur Minderheit zu gehören. Denn auch sie müssen damit rechnen, gelegentlich zur Minderheit zu gehören und womöglich in Dingen, bei denen es ihnen sehr wichtig ist, nicht gezwungen zu werden. Sie müssen also überlegen, was ihnen ihre Freiheit wert ist, wie stark sie an einer Dominanz anderen gegenüber interessiert sind und wie sie diese gegenläufigen Interessen gewichten. Mir scheint, dass es, je weiter die möglichen Normen vom Kernbereich des unbedingt zu Regelnden entfernt sind, um so fraglicher und unwahrscheinlicher wird, dass die Menschen sich zu Lasten ihres Freiheitsinteresses für die Normdurchsetzung anderen gegenüber entscheiden. Es gibt hier für eine Gemeinschaft ein Kontinuum von Möglichkeiten, eine Grenze zu ziehen und die Durchsetzung von Normen durch die Mehrheit zu restringieren. Es mag denkbar sein, dass in einer Gemeinschaft die Interessen so beschaffen sind, dass ihre Mitglieder es prinzipiell vorziehen, mit der Mehrheit Normen durchzusetzen, auch wenn das bedeutet, sich in allen Fällen, in denen man zur Minderheit gehört, der Macht der Mehrheit auszuliefern und unter Normen leben zu müssen, die man selbst nicht will. Der Mehrheit würden hier also keine moralischen Fesseln angelegt. Doch selbst wenn man diese – extreme – Möglichkeit einräumt, ist sie nur eine unter einer ganzen Reihe von möglichen Varianten. Selbst wenn man sie einräumt, erweist sich also die These, oberhalb der moralischen Normen könne es vernünftigerweise keine höherstufige, die moralischen Normen selbst betreffende Norm geben, als falsch. Tatsächlich spricht indessen alles für die Annahme, dass die Bewohner des Naturzustandes diese Möglichkeit nicht wählen. Denn jeder hat, so kann man annehmen, das Interesse, dass bestimmte Bereiche seines Lebens solche einer freien, nicht normierten Lebensgestaltung sind. Niemand will hier durch ungewollte moralische Normen zu bestimmten Verhaltensweisen gezwungen werden. So will niemand unter moralischen Normen leben müssen, die ihren Grund haben in Idealen, Glücksvorstellungen, Sicht- und Deutungsweisen der Welt und des
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Lebens, die er nicht teilt, – und die zu teilen, von ihm weder rational noch moralisch gefordert werden kann. Und jeder ist, so darf man annehmen, bereit, zugunsten der Sicherung dieses Freiheitsraumes auf die Möglichkeit zu verzichten, anderen mit Hilfe moralischer Normen die von ihm favorisierten Verhaltensweisen aufzuzwingen. Wenn die Interessenlage so ist, ist es vernünftig, eine Norm zu etablieren, die moralische Normen, die in diese Lebensbereiche hineingreifen, ganz ausschließt oder aber Einstimmigkeit zur Bedingung macht. Die Durchsetzung von Normen, die dem nicht entsprechen, wäre folglich nicht gerechtfertigt, sie wäre illegitim. Es ist also plausibel, anzunehmen, dass es ein Interesse an einer „zweistufigen“ Moral gibt, an einer Moral, die ihre moralischen Normen selbst einem moralischen Standard unterwirft und sie deshalb als gerechtfertigt und legitim versteht und damit von bloßen Machtnormen abhebt. Eine zweite Überlegung kommt hinzu. Die moralische Norm, die erpresserische moralische Normen verbietet, ist, wie bereits gesagt, eine Teilnorm des allgemeinen Verbots, andere zu unterdrücken. Und dieses Verbot existiert in der einen oder anderen Weise in jeder Moral. Man kann zentrale Moralnormen, das Tötungs- und Verletzungsverbot etwa, als Konkretisierungen dieses Verbots verstehen. Denn, jemanden zu verletzen, bedeutet natürlich, ihm den eigenen Willen aufzuzwingen. Die höherstufige Norm kommt also nicht als ein neues Element zu den moralischen Normen auf der unteren Stufe hinzu, sie verdankt sich vielmehr nur der Anwendung des generellen Unterdrückungsverbots auf den speziellen Fall der Normvertretung und -durchsetzung. Und diese Anwendung ist ganz unausweichlich, weil eine Norm ihre Adressaten zu einem bestimmten Verhalten nötigt. Wenn eine Gemeinschaft dem Einzelnen gegenüber Normen zur Geltung bringt, üben Menschen Macht über andere Menschen aus. Und es ist nicht zu sehen, warum dies im moralfreien Raum stattfinden sollte und der Unterscheidung: gerechtfertigt oder erpresserisch entzogen sein sollte. Dies bedeutet, dass eine moralische Gemeinschaft gar nicht umhinkommt, zu bestimmen, wann die Durchsetzung moralischer Normen gerechtfertigt ist und wann nicht. Sie muss hier einen moralischen Maßstab festlegen, und solange ihre Mitglieder die Freiheit auch nur einigermaßen schätzen, werden sie, das ist meines Erachtens eine plausible Hypothese, von der Einstimmigkeitsregel ausgehen und sie dann, je nach ihren Interessen, stärker oder schwächer einschränken. Man darf nicht übersehen, dass eine Moral zu einem großen Teil ein Projekt der Freiheitssicherung ist. Es gibt Moralen unter anderem deswegen, weil die Menschen frei sein wollen. Wobei dieses Interesse natürlich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Wem es aber gleichgültig ist, ob er frei ist oder der Sklave eines anderen, hat an zentralen Teilen der Moral kein Interesse, und er hat naturgemäß auch kein Interesse an einer
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moralischen Metanorm, die die Unterdrückung durch moralische Normen verbietet.
VI Ich komme zu einer letzten Schwierigkeit für die Idee einer moralischen Metanorm, die die Durchsetzung bestimmter moralischer Normen verbietet. Auf sie stößt man, wenn man sich einige elementare Sachverhalte über moralische Normen und das mit ihnen entstehende moralische Müssen vergegenwärtigt. Dieses Müssen ist nach meiner Auffassung ein sanktionskonstituiertes Müssen: Man muss die Handlung x moralischerweise unterlassen, weil, x zu tun, unweigerlich Sanktionen nach sich zöge, also negative Konsequenzen, die künstlich mit dem x -Tun verknüpft sind, um von ihm abzuhalten.¹³ Die Sanktionen der Moral sind, ich habe es eingangs schon gesagt, informelle soziale Sanktionen: sozialer Druck und soziale Ablehnung in den verschiedensten Ausprägungen. Die äußeren, sozialen Sanktionen generieren gewöhnlich auf dem Wege der Internalisierung innere Sanktionen: Gefühle des Unbehagens, mit denen man auf eigenes Unrechttun reagiert. Die Sanktionsinstanz, die die äußeren Sanktionen androht und gegebenenfalls verhängt, ist die moralische Gemeinschaft. Sie tritt denen entgegen, die ein moralisches Unrecht tun. Wenn dies so ist, stellt sich die Frage, wie die moralische Metanorm, deren Adressat die moralische Gemeinschaft ist, existieren und Wirkung entfalten kann. Denn sie existiert ja nur dann, wenn die Gemeinschaft im Falle des AndersHandelns eine Sanktion zu befürchten hat. Welche Instanz aber sollte eine Sanktion gegen die Gemeinschaft verhängen können, wenn sie in ihrer Mehrheit repressive Normen gegen eine Minderheit durchsetzt? Wie also ist eine Sanktion gegen die Gemeinschaft möglich? – Man muss nicht lange überlegen, eine Sanktionsinstanz, die der Mehrheit von außen entgegentritt, gibt es nicht. Handelt die Mehrheit also doch, nicht weil keine höherstufige moralische Norm gewollt wird, sondern weil es nicht möglich ist, die gewollte Norm in die Existenz zu bringen, in einem moralfreien Raum? Ist die Idee einer moralischen Norm für moralische Normen also doch verfehlt? Die gewollte Metanorm hat das Spezifikum, dass sie eine Handlung verbietet, die man nicht alleine und auch nicht in einer kleinen Gruppe, sondern nur als Teil einer Mehrheit tun kann. Dies darf einen aber nicht dazu verführen, sich eine Mehrheit als eine Quasi-Person zu denken, die selbst ein Handlungssubjekt ist, an die deshalb eine moralische Norm adressiert werden kann und die, wenn sie
13 Vgl. zur Begründung Vf., Handeln zugunsten anderer, § 3 und § 4.
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anders handelt, von außen sanktioniert wird. Eine Mehrheit ist eine Menge von einzelnen Menschen, diese sind die Handelnden, und an jeden Einzelnen von ihnen richtet sich, nicht anders als beim Verletzungsverbot, die gewollte moralische Norm. Sie verbietet den Einzelnen, als Teil einer Mehrheit erpresserische Normen durchzusetzen. Und die Frage ist deshalb, was sie dazu nötigt, was es für sie zu einem Muss macht, dies zu unterlassen. Von zentraler Bedeutung sind hier die inneren Sanktionen. Jedes Mitglied der Gemeinschaft weiß, dass es, wenn es mit der Mehrheit der Minderheit moralische Normen aufzwingt, ein Unrecht tut, – ein Unrecht gemessen an der gewollten höherstufigen Moralnorm, gemessen aber auch an dem in jedem Fall geltenden allgemeinen Unterdrückungsverbot, von dem die gewollte Metanorm, wie wir sahen, nur eine Teilnorm ist. Nun reicht es für den, der den Druck der Gemeinschaft, mit dem sie generell auf moralisches Unrecht reagiert, internalisiert und innere Sanktionsmechanismen ausgebildet hat, aus, eine eigene Handlung für unmoralisch zu halten, um die inneren Reaktionen auszulösen. Wer eine eigene Handlung für ein moralisches Unrecht hält, reagiert, auch wenn keine äußeren Sanktionen drohen, mit Unbehagen und Widerwillen. Wer zusammen mit der Mehrheit eine erpresserische Norm durchsetzt (oder dies nur erwägt) und weiß, dass er damit etwas Unmoralisches tut, wird also mit inneren Widerständen und negativen Gefühlen sich selbst gegenüber zu kämpfen haben. Will er dem entgehen, muss er sich anders verhalten. Es gibt also ein moralisches Müssen, konstituiert durch innere Sanktionen. Die jeweilige Mehrheit agiert, wie sich zeigt, sehr wohl in einem moralischen Raum. Ihre Angehörigen stehen, auch ohne äußere Sanktionsmacht, unter einem moralischen Müssen. Die inneren Sanktionen stehen indes nicht allein, sie werden in bestimmter Weise durch äußere Sanktionen unterstützt.Wenn einzelne oder kleinere Gruppen sich dafür engagieren, eine Norm zu etablieren, die erpresserisch wäre, wird man sie darauf hinweisen, dass die Norm gegen die höherstufige Einstimmigkeitsnorm verstieße und dass, sie zu etablieren und gegen die anderen, die an dieser Norm kein Interesse haben, durchzusetzen, ein moralisches Unrecht wäre. Würden sie dennoch nicht ablassen und weiterhin die Norm propagieren und auch bereits denen, die sich anders verhalten, ein moralisches Unrecht vorhalten, würde man ihr Verhalten sozial sanktionieren. Sie würden von den äußeren sozialen Sanktionen der anderen getroffen, zu denen vor allem diejenigen aus der Mehrheit gehören, die die höherstufige Norm beachten und für sie eintreten. Der Widerstand gegen die, die sich dafür einsetzen, dass die Mehrheit Unrecht tut, kommt also zum größten Teil aus der Mehrheit selbst, er kommt nicht von einer Instanz, die ihr von außen gegenübersteht. Und er betrifft, das ist wichtig zu sehen, nicht das Unrecht, das die Metanorm verhindern will, eine Unterdrückungshandlung
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der Mehrheit, sondern das Vorfeld-Engagement dafür, dass dieses Unrecht überhaupt möglich und schließlich auch begangen wird. Dies zeigt aber doch, so könnte jemand einwerfen, dass hier wirkliche äußere Sanktionen, die sich nicht gegen irgendwelche Vorfeldaktivitäten, sondern gegen das Unrecht selbst richten, fehlen. Eine äußere Sanktionierung, die sich gegen das Unrecht selbst wendet, ist eben, das sei doch der entscheidende Punkt, nicht möglich, wenn die Mehrheit sich durch die inneren Sanktionen nicht daran hindern lässt, der Minderheit Normen aufzuzwingen. Wenn die, die die Mehrheit bilden, sich durch die inneren Sanktionen und die äußeren Vorfeldsanktionen nicht abhalten lassen und das Unrecht wirklich tun, folgt nichts mehr. Sie müssen keine äußeren Sanktionen befürchten, eben weil eine äußere Sanktionsmacht fehlt. Das ist richtig, aber es ist, wie man sich leicht klarmachen kann, nichts Spezifisches für die moralische Metanorm. Wenn eine Gemeinschaft im Naturzustand eine moralische Norm will, die Verletzungshandlungen verbietet, kann sie diese Norm in die Existenz bringen, indem sie sich selbst zur Sanktionsinstanz erhebt und die, die andere verletzen, informell sanktioniert. Natürlich würde die so etablierte Norm ihre Wirksamkeit (und damit auch ihre Existenz) verlieren, wenn eines Tages die Mehrheit begänne, andere zu verletzen, und darauf verzichtete, Normverstöße zu sanktionieren. Es gäbe dann keine äußere Sanktionsmacht mehr, und eine der Mehrheit von außen entgegentretende Sanktionsinstanz gibt es auch hier nicht. Die Gemeinschaft fiele in den Naturzustand zurück. Eine Moral kann offenkundig nur funktionieren, wenn es nur wenige sind, die sich unmoralisch verhalten, und die Mehrheit sich nicht nur normkonform verhält, sondern auch auf Normverstöße anderer negativ reagiert. Dies gilt auch für die moralische Metanorm. Sie richtet sich, wie gesagt, an jeden Einzelnen und verbietet ihm, als Teil einer Mehrheit anderen moralische Normen aufzuzwingen. Wenn nun nicht nur Einzelne sich für erpresserische Normen engagieren, sondern die vielen, die die Mehrheit bilden, tatsächlich erpresserische Normen durchsetzen, würde die Gemeinschaft in diesem Punkt in den Naturzustand zurückfallen. Eine äußere Sanktionsmacht, die das verhindern könnte, gibt es hier so wenig wie im Falle des Verletzungsverbots. Auch hier kann die Norm ihre Funktion nur erfüllen, wenn die Mehrheit sie trägt und es nur wenige sind, die versucht sind, gegen sie zu verstoßen.
VII Ich schließe mit einer allgemeinen Nachbemerkung: Wer nicht unterdrückt werden will, auch nicht durch die (vermeintlichen) moralischen Normen einer
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Mehrheit, muss wollen, dass die Menschen, mit denen er zusammenlebt, eine Sensibilität für das moralische Unrecht haben, das sie begehen, wenn sie anderen ungerechtfertigterweise moralische Normen aufzwingen. Nur wenn sie diese Sensibilität haben, können innere Sanktionen wirken. Wer sich nicht bewusst ist, ein Unrecht zu tun, wird auch nicht von inneren Widerständen geplagt. Ob die Menschen diese Sensibilität haben, hängt entscheidend von dem Bild ab, das sie sich insgesamt von der Moral machen. Viele, wenn nicht die meisten, haben ein objektivistisches Bild; sie nehmen an, es gebe eine objektiv vorgegebene Moral, die die menschlichen Normen gleichsam nur abbilden. Viele projizieren ihre persönlichen Interessen und Ideale in die objektive Welt, um sie sich dann von dort als vermeintlich objektive Prinzipien wieder vorgeben zu lassen. Auf diese Weise streifen etwa bestimmte Konzepte des Lebensschutzes, des Tierschutzes, bestimmte Ideale von Solidarität und Unparteilichkeit alle Hinweise auf ihre subjektive Herkunft ab und gewinnen den Status objektiver moralischer Prinzipien. Wer das Moralische in dieser Weise versteht, hält sich für gerechtfertigt, moralische Normen ganz unabhängig von den Interessen der Betroffenen gegenüber jedermann durchzusetzen. Denn die Durchsetzung einer Norm ist aus dieser Sicht gerechtfertigt, wenn die Norm den objektiven Gegebenheiten entspricht. Die Interessen der Betroffenen spielen hier überhaupt keine Rolle.Wer ein objektivistisches Bild von der Moral hat, ist, so zeigt sich, systematisch blind gegenüber einer elementaren Form moralischen Unrechts. Er hat kein Sensorium für das Unrecht, andere mittels moralischer Normen zu unterdrücken. Und er läuft deshalb Gefahr, dieses Unrecht zu begehen, in dem gutmeinenden Glauben, der Moral zu dienen. Diese Haltung ist besonders verhängnisvoll, weil das Unrechttun hier anders als sonst nicht von inneren Hemmungen und Widerständen begleitet wird, sondern von der erhebenden Überzeugung, das Gute zu tun. Wir können hier erkennen, dass philosophische Aufklärung über die Grundlagen der Moral nicht nur von theoretischem Interesse ist, sondern erhebliche praktische und moralische Bedeutung haben kann. Wer meint, moraltheoretische, insbesondere moralontologische Auffassungen und inhaltliche moralische Positionen seien völlig unabhängig voneinander, ist meines Erachtens im Irrtum. Wie die vorangegangenen Überlegungen gezeigt haben, ist es für die inhaltliche Ausgestaltung der Moral keineswegs gleichgültig, ob man meint, die Basis einer Moral seien die Interessen und Ideale der in ihr lebenden Menschen, oder ob man annimmt, es gebe eine objektive Instanz, sei es Gott, sei es die Natur oder sei es eine höhere Vernunft, durch die uns vorgegeben ist, was moralisch ist und was unmoralisch.
5 Moral, künstliche Gründe und moralische Motivation I Jeder hat ein starkes Interesse daran, nicht unmoralisch behandelt zu werden. Niemand will belogen und betrogen, niemand will verletzt, gedemütigt, benachteiligt werden. Jeder ist deshalb stark daran interessiert, dass die anderen ein Motiv haben, das sie dazu bewegt, sich moralisch zu verhalten. Eine Moral muss, wenn sie zu etwas gut sein soll, den Menschen, die mit ihr leben, Motive geben, moralisch zu handeln. Diese Motive können, wie wir sehen werden, nur Gründe sein. Eine Moral muss folglich Gründe geben, Gründe, die dazu motivieren, das Moralische zu tun. Eine an den Himmel geschriebene ideale Moral, die keine Handlungsgründe bietet, mag eine schön anzusehende Kreation edler Seelen sein, aber sie gewinnt nicht die für eine Moral unerlässliche Handlungsrelevanz. Diese Einsicht, dass eine Moral etwas sein muss,wofür es Handlungsgründe gibt, hat die Philosophie bereits früh zum Ausdruck gebracht. Platon hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es keinen Sinn hat, über die Gerechtigkeit zu philosophieren, wenn man nicht zeigen kann, dass es vernünftig, nämlich glückszuträglich ist, gerecht zu sein. Gerechtigkeit kann im Leben der Menschen nur etwas bedeuten, wenn es Gründe gibt, die dazu bewegen, gerecht zu handeln. Gründe welcher Art können das sein? Zunächst müssen es einfache, offensichtliche Gründe sein. Jeder muss sie ohne anspruchsvolles Nachdenken und ohne komplizierte Gedankenexperimente erkennen können. Denn wenn es zwar Gründe für das moralische Handeln gibt, sie aber nicht erkannt werden, können sie nicht motivieren. Gründe, die man nicht erkennt, sind motivational inexistent. Dann müssen es Gründe für möglichst alle sein. Denn jeder hat ein Interesse daran, dass alle anderen sich ihm gegenüber moralisch verhalten. Dies schließt aus, dass die Gründe bestimmte Ideale oder altruistische Einstellungen voraussetzen, die nur einige, aber nicht alle haben. Es schließt ebenso aus, dass die Gründe relativ auf individuelle, nicht allgemein geteilte Gesinnungen, Gefühle, Selbstbilder oder Glücksvorstellungen sind. Die Gründe für das Moralisch-Handeln stellen also gerade nicht besondere Ansprüche an Altruismus oder Selbstlosigkeit, sie müssen vielmehr auf etwas bezogen sein, was man bei allen voraussetzen kann. Kant gehört zu den Philosophen, die dies klar gesehen haben. Das moralische Handeln muss für alle vernünftig sein, auch für die, die, wie Kant sagt, „gleichgültig gegen die Leiden anderer“ sind.¹ 1 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 398.
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Worauf also können die Gründe für das moralische Handeln sich beziehen? Woran können sie andocken? Teilt man die Auffassung, dass etwas nur dann ein Handlungsgrund für eine Person sein kann, wenn es auf ein Wollen oder ein Interesse dieser Person bezogen ist, können es nur Interessen sein, die man bei allen voraussetzen oder finden kann. Gründe für moralisches Handeln müssen auf Interessen dieser Art bezogen sein. Man denkt hier gewöhnlich an basale auf das eigene Wohl gerichtete, also egoistische Interessen, die man allgemein unterstellen kann: an die Interessen an Selbsterhaltung, am eigenen Glück, an der Vermeidung von Übeln. Es gibt aber wohl auch begrenzte altruistische Interessen, die man bei allen voraussetzen kann, wie das Interesse am Wohl der eigenen Kinder und anderer mit einem eng verbundener Personen. Und es kann auch weitergehende altruistische Interessen geben, die aufgrund einer gemeinsamen kulturellen Prägung von allen (oder von allen in einer Region) geteilt werden. Drei Aussagen also sind es, die hier wichtig sind: Eine Moral ist auf motivierende Gründe angewiesen. Diese müssen offensichtlich sein. Und sie müssen bezogen sein auf Interessen, die man bei allen findet, von denen man will, dass sie sich moralisch verhalten.
II Fragt man weiter, ob es solche Gründe gibt, ob also das moralische Handeln tatsächlich für alle vernünftig ist, weil es in der Spur allgemein geteilter Interessen liegt, kann man zwei Typen von Antworten unterscheiden. Das eine Lager meint, die Welt, so wie sie ist, halte die Gründe für die Moral bereit, man finde sie in der Welt vor und deshalb lägen Moral und Interessen auf einer Linie. Das andere Lager meint, Moral und Interessen lägen keineswegs immer auf einer Linie. Nicht selten liege es im Interesse des Einzelnen, gerade nicht moralisch, sondern unmoralisch zu handeln. Moral und Interessen fallen also, so wie die Welt ist, wenigstens zum Teil auseinander, und deshalb müsse man erst künstlich Gründe schaffen, die das moralische Handeln durchgängig vernünftig machen. Es bedürfe also einer Veränderung der Welt, gewissermaßen einer künstlichen Hinzufügung, um moralisches Handeln erst zu etwas zu machen, das möglichst für alle in allen Situationen vernünftig ist. Eine primitive Variante der ersten Antwort ist die unter anderem im Alten und Neuen Testament zu findende Auffassung, die Welt sei so eingerichtet, dass, wer sich unmoralisch verhält, mit Krankheiten und Unglück rechnen muss. Es gibt in der Ordnung der Welt einen natürlichen Zusammenhang von Tun und Ergehen, so dass es für jeden im Blick auf sein eigenes Wohlergehen vernünftig ist, sich moralisch zu verhalten. Man muss diese Gesetzmäßigkeit in der Welt nur erkennen,
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um zu sehen, dass es vernünftig ist, moralisch zu handeln. Die Welt selbst hält hier den Grund für die Moral bereit. – Eine andere Variante dieses Antworttyps ist die eudaimonistische Moralkonzeption (zumindest in einigen ihrer Ausformungen). Nach dieser Konzeption ist moralisches Handeln eine notwendige Conditio des Glücklichseins der Menschen. Dies kann jeder erkennen, der nur weiß, worin das Glück für den Menschen liegt. Da jeder glücklich sein will, hat jeder einen äußerst starken Grund, sich moralisch zu verhalten. Auch in dieser Konzeption kommen Moral und Interessen restlos überein. Man kann allenfalls fragen, ob der Grund für das Moralisch-Handeln auch offensichtlich ist. Ist es wirklich für jeden ohne Mühe erkennbar, dass das Glück für die Menschen so-und-so zu bestimmen ist und dass moralisches Handeln eine notwendige Bedingung zu seiner Erlangung ist? Oder können nur wenige Philosophen erkennen, dass es so ist? Eine weitere Variante dieses Typs ist die kontraktualistische Moraltheorie, wie sie D. Gauthier vertritt. Nach ihr muss jeder, der von den Vorteilen sozialer Kooperation profitieren will, sich moralisch verhalten und sich zu gewohnheitsmäßigem moralischen Handeln disponieren. Für jeden ist es vernünftig, dies zu tun, vorausgesetzt allerdings, dass die anderen dasselbe tun. Durch diese Bedingung unterscheidet sich Gauthiers Theorie von den zuvor genannten. Nach ihnen ist es unabhängig davon, was die anderen tun, vernünftig, sich moralisch zu verhalten. Was die angesprochenen Varianten dieses Antworttypus eint, ist die Annahme, man müsse sich nur bestimmte Dinge in der Welt hinreichend deutlich vor Augen bringen, um zu sehen, dass das Moralisch-Sein letzten Endes im eigenen Interesse liegt und man deshalb einen Grund hat, sich moralisch zu verhalten. Man schaut und überlegt – und erkennt dann, dass es vernünftig ist, moralisch zu handeln. Man muss die Moral nicht erst künstlich durch einen Eingriff in die Welt vernünftig machen, sie ist, so wie die Welt ist, schon vernünftig. Eine Konsequenz dieser Sicht der Dinge ist, dass diese Moralkonzeptionen kein schwerwiegendes Problem in der Motivation zur Moral sehen. Die Gründe für das Moralisch-Handeln sind vorhanden, und weil sie auf Interessen bezogen sind, entfalten sie eine motivationale Kraft. Diese Kraft ist erheblich, sie entspricht der Stärke der zugrunde liegenden Interessen, und die sind, wie wir sahen, sehr elementar und stark. Bedingung für die motivationale Wirkung der Gründe ist indes ihr Erkanntwerden. Allenfalls hieran kann es hapern. Nicht das Fehlen von Gründen, sondern nur ihre fehlende Offensichtlichkeit kann also zu Motivationsdefiziten führen.
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III Es mag überraschen, wenn ich nun Kants Moralphilosophie trotz aller Unterschiede in die Reihe der angeführten Theorien stelle. Aber auch Kant lehrt, dass es für jeden vernünftig ist, moralisch zu handeln. Moral und Vernunft kommen, so wie die Welt ist, aufs Schönste zur Deckung. Um zu erkennen, dass es so ist, braucht man nur einige – allerdings nicht ganz einfache – Überlegungen anzustellen. Dies ist die Gemeinsamkeit, auf die es mir hier ankommt. Man überlegt – und erkennt, dass es einfach vernünftig ist, moralisch zu handeln. Es ist vernünftig, den kategorischen Imperativ zu befolgen und nur nach solchen Maximen zu handeln, die, wie sich in einem Gedankenexperiment feststellen lässt, seinem Kriterium genügen. Wobei es bei Kant nicht einmal nötig ist, das Verhalten der anderen mitzuberücksichtigen. Die anderen können tun, was sie wollen; moralisch zu handeln, ist für jeden Einzelnen unabhängig von ihrem Verhalten vernünftig. Was Kant von den anderen Theorien des ersten Antworttyps unterscheidet, ist seine Sonderlehre, dass das Vernünftigsein moralischen Handelns von eigener Art ist und von dem Vernünftigsein sonstigen Handelns grundsätzlich unterschieden. Sind Handlungen gewöhnlich dadurch vernünftig, dass sie einem Interesse des Handelnden dienen, so ist das Vernünftigsein moralischen Handelns von allen Interessen abgekoppelt. Moralisch zu handeln, ist nicht relativ auf bestimmte Interessen vernünftig, es ist einfachhin, absolut vernünftig. Mit der Abkoppelung von den Interessen geht auch die Verbindung zur Motivation verloren: Weil, dass moralisches Handeln vernünftig ist, nicht bedeutet, dass es im eigenen Interesse liegt, setzt die Einsicht in die Vernünftigkeit moralischen Handelns kein Motiv frei, so zu handeln. Man kann erkennen, dass es vernünftig ist, das Moralische zu tun, ohne dass man dadurch bewegt wird, auch entsprechend zu handeln. Es ist kein Wunder, dass diese Auffassung bei Kant und seinen Nachfolgern dazu führt, dass die Frage, was zum moralischen Handeln motiviert, ein völlig verändertes Gewicht und eine vorher nicht gekannte Schlüsselstellung gewinnt. Kant bringt das sehr deutlich zum Ausdruck, wenn er nach der Vorlesungsnachschrift Moral Mrongovius sagt, dass es „der Stein des Weisen“ sei, einzusehen, wie das Urteil, dass eine Handlung sittlich gut ist – was ja bedeutet, dass sie von der Vernunft unbedingt geboten ist –, eine Triebfeder werde, die zu dieser Handlung bewegt.²
2 Kant, Moral Mrongovius, 1428. – Wie sehr die durch die partielle Dissoziation von praktischer Vernunft und Interesse bestimmte Exposition des Motivationsproblems die kantische Tradition in der Moralphilosophie geprägt hat, verdeutlichen beispielhaft Habermas’ Ausführungen in Faktizität und Geltung, 145 f.; vgl. auch ders., Erläuterungen zur Diskursethik, 94.
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IV Ich komme jetzt zu dem zweiten Typus von Antwort auf die Frage, ob es Gründe gibt, die zum moralischen Handeln motivieren. Die Philosophen, die eine Variante dieser Antwort vertreten, weisen auf die, wie sie meinen, unabweisbare Tatsache hin, dass das, was man moralisch tun muss, und das, was die einzelnen Menschen im Blick auf ihr eigenes Wohl tun wollen, keineswegs immer auf einer Linie liegt. Und dass die Menschen deshalb keineswegs in allen Situationen einen Grund haben, moralisch zu handeln. Es gibt, so wird hier gesagt, keine in der Welt vorfindbare prästabilisierte, metaphysisch gesicherte Verbindung von moralischem Verhalten und Wohlergehen. Moralisch Guten kann es übel ergehen und moralisch Schlechten gut. Auch ist das Moralisch-Sein nicht eine notwendige Conditio des menschlichen Glücks, schon deshalb nicht, weil es, anders als die Alten glaubten, das eine Glück für alle Menschen nicht gibt. Die Menschen erstreben Verschiedenes als ihr Glück, und es ist keineswegs ausgemacht, dass für alle Glücksformen moralisches Verhalten eine Bedingung ist. Man kann diese Position ergänzen durch die Auffassung, dass selbst da, wo moralisches Müssen und eigenes Wollen übereinkommen, oft nicht sehr klar ist, dass es so ist. Es lässt sich nur schwer erkennen, es ist mit Ungewissheiten verbunden, es erfordert relativ komplizierte Abwägungen zwischen jetzigen Nachteilen und zukünftigen mehr oder weniger wahrscheinlichen Vorteilen sowie oft ziemlich schwierige Einschätzungen des Charakters und des zukünftigen Verhaltens anderer. Also selbst da, wo Gründe für das Moralisch-Sein existieren, kann oft nicht mit der nötigen Deutlichkeit und Sicherheit erkannt werden, dass es so ist. Deshalb muss man, so die Conclusio aus diesen Diagnosen, künstliche Gründe schaffen, die die Moral durchgängig in das Einflussfeld der Interessen manövrieren und die so offensichtlich sind, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie erkannt werden und infolgedessen auch zum moralischen Handeln motivieren, sehr groß ist. Einer der Philosophen, die eine Konzeption dieses zweiten Typs vertreten haben, ist John Locke. Lockes Moralkonzeption ist theonom: Gott will, dass die Menschen sich in bestimmter Weise verhalten, und er gibt ihnen deshalb entsprechende moralische Gesetze.³ Aber das, was sie gebieten, harmoniert nicht unbedingt mit den Neigungen, Interessen und dem Glücksstreben der Menschen. Es gibt also, so Lockes Befund, einen Konflikt zwischen Moral und Interessen, und es stellt sich die Frage, warum man im Konfliktfall den moralischen Gesetzen
3 Vgl. Locke, An Essay Concerning Human Understanding, I, iii, § 6, p. 69: „… the true ground of Morality … can only be the Will and Law of a God, who sees Men in the dark, has in his Hand Rewards and Punishments, and Power enough to call to account the Proudest Offender.“
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gehorchen soll. Locke geht davon aus, dass Handlungsgründe immer auf das eigene Wohl, auf eigene Neigungen und Präferenzen bezogen sind. Warum aber dann das tun, was moralisch ist? Locke formuliert hier die für die moderne Moralphilosophie zentrale Schwierigkeit, und er erneuert damit in einem anderen Kontext die Frage, mit der die Sophisten in der ersten europäischen Aufklärung die moralphilosophische Debatte eröffnet hatten. Die moralischen Forderungen stehen, wenigstens zum Teil, gegen das, was wir wollen. Wir sollen sie aber dennoch befolgen. Was kann uns bewegen, dies zu tun? So wie die Dinge liegen, gibt es keine Gründe, moralisch zu handeln. Gott muss erst, so Locke, etwas tun, um solche Gründe zu schaffen. Er muss das moralische Handeln mit Belohnungen und das Unrecht-Tun mit Strafen verbinden. Der Konflikt zwischen Moral und Interesse wird also durch Sanktionen, durch künstliche bestimmten Handlungen angeheftete negative oder positive Konsequenzen gelöst. Durch diese, wie Locke meint⁴, erst im jenseitigen Leben fälligen Sanktionen wird das moralische Handeln künstlich zu etwas gemacht, was doch im Interesse der Handelnden liegt. Gott schafft künstliche Gründe und schiebt dadurch das moralische Handeln in die Einflusszone der menschlichen Interessen. Locke hebt die Künstlichkeit der durch die Sanktionen geschaffenen Gründe hervor, wenn er sagt, eine Sanktion sei nicht „the natural product and consequence of the Action it self“.⁵ – Man kann Lockes Position zusammenfassend so beschreiben: Da die primitive Vorstellung, das Moralisch-Handeln ziehe natürlicherweise positive, das Unrecht-Tun negative Konsequenzen nach sich, unhaltbar ist, ersetzt er die natürlichen Konsequenzen durch künstliche, sprich: durch Sanktionen, die mit den entsprechenden Handlungen verknüpft werden.
V Man kann diese Konzeption Lockes leicht von ihren religiösen Prämissen lösen. Nicht nur Gott kann bestimmte Handlungen mit Sanktionen verknüpfen. Auch eine Gemeinschaft von Menschen kann das. Sie kann auf bestimmte Handlungstypen mit sozialen Sanktionen: mit verschiedenen Formen sozialer Distanzierung und Ausgrenzung reagieren und sie auf diese Weise zu Handlungen machen, die nicht zu tun, alle oder fast alle einen Grund haben. Die Gemeinschaft
4 Vgl. ebd. I, iii, § 12, p. 74; II, xxviii, § 8, p. 352. 5 Ebd. II, xxviii, § 6, p. 352; vgl. hierzu auch Lockes aufschlussreiche, mit „Voluntas“ überschriebene Notiz von 1693 (publiziert in Locke, Political Essays, 321), in der er von den „punishments and rewards“ spricht, die „God has annexed to moral rectitude or pravity as proper motives to the will …“
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schafft durch die Herausbildung eines solchen Systems sozialer Sanktionen künstliche Gründe dafür, moralisch zu handeln. Wer den negativen Sanktionen (um solche handelt es sich ganz überwiegend) entgehen will, muss sich vernünftigerweise moralisch verhalten. Wenn man in einer Gesellschaft eine Handlung tun muss, weil man sonst mit negativen sozialen Sanktionen rechnen muss, existiert die soziale Norm, die allen gebietet, so zu handeln. Die Moral ist also, wird sie durch soziale Sanktionen konstituiert, ein Geflecht sozialer Normen. Normen sind künstlich geschaffene soziale Phänomene. Sie haben in diesem Fall die Funktion, moralisches Verhalten und die Interessen der Menschen auch da auf eine Linie zu bringen, wo dies ohne sie nicht der Fall wäre. Sie haben weiterhin die Funktion, da, wo Moral und Interessen schon übereinkommen, den bereits bestehenden Handlungsdruck zugunsten des moralischen Verhaltens zu verstärken. Und sie haben auch die Funktion, da, wo es nicht deutlich ist, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, oder wo es erst komplexer Überlegungen bedarf, um zu erkennen, dass es so ist, einen einfachen und offensichtlichen Grund für das Moralisch-Handeln zu liefern. Jeder kann leicht einsehen, dass er einen Grund hat, sich moralisch zu verhalten, wenn er andernfalls mit negativen sozialen Sanktionen rechnen muss. Es ist nun wichtig, zu sehen, dass mit der Idee, eine Moral sei ein Set sozialer Normen, eine Konzeption des Moralischen entwickelt wird, die spezifisch ist für den zweiten Typus der Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Interessen. Normen sind menschliche Artefakte, und wenn eine Moral ein Gefüge von Normen ist, ist sie selbst ein menschliches Artefakt, eine soziale Institution, hervorgebracht, um künstliche Gründe für das Moralisch-Handeln zu kreieren. Eine solche Institution hat in den konkurrierenden Moralauffassungen des ersten Antworttyps keinen Platz. Moralische Normen im Sinne sozialer Normen gibt es in ihnen nicht. In der Vorstellung eines natürlichen Zusammenhangs von Tun und Ergehen, in eudaimonistischen Moralkonzeptionen wie auch in Gauthiers moralischem Kontraktualismus ist das moralische Handeln, wie sich im Blick auf die einschlägigen Interessen zeigt, einfach ein Segment der Handlungen, die vernünftig sind. Ganz ohne eine Institution, die durch ein spezielles soziales Arrangement künstliche Gründe für bestimmte Handlungen generiert.Wer die Moral institutionell als ein Gebilde von sozialen Normen versteht, würde deshalb meinen, dass es in all diesen Konzeptionen eine Moral eigentlich nicht gibt und es ihrer auch gar nicht bedarf. Es ist vielmehr so, dass einige Handlungen durch den direkten Bezug auf Interessen vernünftig sind, und zu ihnen gehören die, mit denen man Rücksicht auf andere nimmt und etwas zugunsten anderer tut oder unterlässt. Auch bei Kant hat die Moral keinerlei soziale Realität. Jeder überlegt für sich, wie es mit seinen Maximen bestellt ist, und handelt dann so oder so. Ge-
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sellschaftlich durch Normen generierte Gründe spielen in dieser Überlegung keine Rolle.
VI Wenn man, wie ich es tue, eine sozial-institutionelle Konzeption der Moral in der jetzt wenigstens grob erläuterten Form für richtig hält und folglich annimmt, die für eine Moral spezifischen Gründe seien künstliche, nämlich normgenerierte Gründe, – was bedeutet das für die Frage der Motivation? Man könnte versucht sein, zu sagen: grundsätzlich nichts Besonderes. Denn normgenerierte Gründe teilen mit allen anderen praktischen Gründen das in unserem Kontext entscheidende Merkmal: Sie sind auf Interessen bezogen und besitzen deshalb ein motivationales Potential. Die Sanktionen sind negative Konsequenzen, negativ relativ auf das Wollen der Betroffenen, und deshalb hat jeder, dem Sanktionen angedroht werden, einen motivierenden Grund, die entsprechenden Handlungen zu unterlassen. Das, was einen solchen Grund und sein motivationales Potential konstituiert, sind die gleichen Elemente wie bei allen anderen praktischen Gründen. Man kann allenfalls darauf hinweisen, dass normgenerierte Gründe besonders offensichtlich sind, so dass es besonders wahrscheinlich ist, dass sie auch tatsächlich motivierend wirksam werden. – Diese Antwort ist durchaus richtig. Man muss nur festhalten, dass die motivierenden Gründe in dieser Konzeption künstliche, gewissermaßen arrangierte Gründe sind und dasselbe für die erzeugte Motivation gilt. Will man die moralische Motivation über das Gesagte hinaus genauer analysieren, muss man deshalb die Frage stellen, wie moralische, also informelle soziale Normen wirken. Wie beeinflussen sie das Handeln der Menschen? Zunächst ist es hilfreich, normabhängige normgemäße und normunabhängige normgemäße Handlungen zu unterscheiden.Wer geliehenes Geld zurückgibt, handelt der entsprechenden moralischen Norm gemäß. Aber er kann so handeln, weil es unter dem Gesichtspunkt der Reziprozität klug ist.Würde er das Geld nicht zurückgeben, müsste er damit rechnen, dass der andere in Zukunft genauso verfährt und so für beide nützliche Leihgeschäfte unmöglich werden. Wer so handelt, handelt normunabhängig normgemäß. Auch wenn es die moralische Norm nicht gäbe, würde er das Geld zurückgeben. Dasselbe, wenn jemand einem anderen aus Mitleid in einer Notsituation hilft. Auch er handelt normunabhängig normgemäß. Auch er würde so handeln, wie er handelt, wenn es die moralische Norm, anderen in Notsituationen zu helfen, nicht gäbe. Es gibt, wie diese und weitere mögliche Beispiele zeigen, eine Reihe von Motiven, normgemäße Handlungen zu tun, die mit der Norm nichts zu tun haben. Die Moral und ihre Normen
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sind in diesen Fällen überflüssig. Klugheit und Gefühl motivieren zu dem auch moralisch geforderten Verhalten. Man könnte deshalb sagen, diese Menschen handelten gar nicht moralisch. Moralisch handeln sie nur, wenn die moralische Norm bei ihrer Handlungswahl eine Rolle spielt. Andererseits handeln sie moralgemäß, sie tun das, was moralisch gefordert ist, und es ist deshalb naheliegend, hier auch – freilich in einem anderen Sinne – von moralischem Handeln zu sprechen. An den Beispielen normunabhängigen normgemäßen Handelns zeigt sich noch einmal sehr deutlich, warum wir an moralischen Normen interessiert sind und was ihre Funktion ist. Jeder ist, so hatte ich anfangs gesagt, stark daran interessiert, nicht belogen und betrogen, nicht gedemütigt und verletzt und insgesamt nicht unmoralisch behandelt zu werden. Wenn es nun so wäre, dass die anderen dies durchgängig aus Mitleid unterlassen, wäre alles gut, und es bräuchte nichts zu geschehen. Aber es ist nicht so. Nicht jeder empfindet ausreichend Mitleid, jedem gegenüber und in jeder Situation. Die Menschen unterscheiden sich hierin stark. Und wenn es so wäre, dass die anderen die Handlungen, die partout nicht passieren sollen, generell aus Klugheit unterlassen,wäre auch alles gut. Aber so ist es auch nicht. Reziprozitätsgesichtspunkte nötigen keineswegs durchgehend zu dem gewollten Verhalten. Es besteht also eine Lücke zwischen dem, was das Mitleid und die Klugheit bewirkt, und dem, was bewirkt werden soll. Und andere Motive zum normunabhängigen normgemäßen Handeln wie persönliche Sympathie, individuelle Selbstkonzepte, Glücksvorstellungen oder andere Formen von Klugheitsüberlegungen können die Lücke zwar verkleinern, aber auch nicht schließen. Sie bleibt unerträglich groß, und deshalb muss man etwas tun, um sie zu schließen. Zu diesem Zweck etabliert man moralische Normen und schafft damit zusätzliche von Mitleid und Klugheit und anderen partikularen Motiven unabhängige Gründe, die nicht nur bei einigen und in besonderen Situationen, sondern bei möglichst allen in möglichst allen Situationen motivational wirksam sind. Dass diese Gründe überflüssig sind und motivational nicht wirksam werden, wenn Mitleid oder andere Gefühle oder normunabhängige Gründe dazu bewegen, das Moralische zu tun, ist nicht wichtig. Die durch die Moral generierten Gründe schaffen gewissermaßen „Reservemotive“, die zum Zuge kommen, wenn andere, voraussetzungsreichere Motive fehlen.⁶ Natürlich sind auch die Normen kein Allheilmittel, das wirklich in jedem einzelnen Fall sicherzustellen vermag, dass die ungewollten Handlungen nicht getan werden. Aber sie beeinflussen, wie wir sehen werden, das Verhalten der Menschen auf erstaunlich vielfältige und effektive Weise.
6 Der Ausdruck „Reservemotive“ stammt von G. Patzig; vgl. Patzig, Moralische Motivation, 51.
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Wie also wirken moralische Normen, welche Formen normabhängigen normgemäßen Handelns gibt es? Das ist eine empirische Frage; und ich werde mich auf einige Bemerkungen beschränken. Der klarste Fall ist gewiss gegeben, wenn Menschen moralkonform handeln, weil sie die mit der Norm verbundenen Sanktionen, also die Zurückweisung durch die anderen vermeiden möchten. Handeln sie in dieser Weise normabhängig, werden sie vermutlich in Situationen, in denen die Sanktionen sie nicht zu erreichen vermögen, so in Situationen des Unbeobachtetseins, normwidrig handeln, zumindest werden sie nicht durch die Norm motiviert, normgemäß zu handeln. Neben diesem Fall gibt es eine Reihe von derivativen Varianten, von denen ich einige nenne. So kann jemand nach einem Prozess der wiederkehrenden Antizipation des Protestes der anderen und der dadurch bewirkten Internalisierung der moralischen Norm das Moralische tun, weil er weiß, dass er ansonsten eine Zurückweisung durch sich selbst hinnehmen müsste. Er tut das Moralische, weil er sonst in einen Zwiespalt mit sich selbst geriete und ein mehr oder minder starkes Unbehagen über sein eigenes Handeln empfände. In diesem Fall dürfte die Norm auch in Situationen des Unbeobachtetseins wirken. Denn im Zuge ihrer Internalisierung stößt eine Handlung bereits auf einen inneren Widerstand, wenn andere, würden sie ihrer gewahr, negativ reagieren würden. Eine andere Variante liegt vor, wenn Menschen sich normkonform verhalten, einfach weil es eine Norm gibt und es für sie selbstverständlich ist, die geltenden Normen zu befolgen. Die Tatsache, dass eine Norm existiert, ist in diesem Fall bereits ein hinlängliches Motiv, entsprechend zu handeln. Man muss sich hier daran erinnern, dass unser Hineinwachsen in die Welt zu einem großen Teil darin besteht, Regeln und Normen, nämlich Sprach- und Verhaltensregeln, zu lernen. Wir nehmen deshalb, dass es Normen gibt und dass man ihnen folgt, zunächst einmal als etwas Unproblematisches und Selbstverständliches hin. Von dieser grundsätzlich ungebrochenen Haltung Normen gegenüber profitieren auch die moralischen Normen. Sie brauchen, wenn ihnen die Menschen in dieser Haltung begegnen, ihren harten Kern des Müssens gar nicht zur Geltung zu bringen. Eine weitere Variante liegt vor, wenn jemand von vorneherein entlang der moralischen Institutionen sozialisiert wird und sich infolgedessen moralkonform verhält, ohne überhaupt auf die Norm zu schauen und an sie zu denken. Er hat Dispositionen ausgebildet, die sein Verhalten steuern, ohne dass die moralischen Normen eine Rolle spielen. Die Normen werden hier gar nicht zu einem Gegenstand der Überlegung. Dennoch besteht eine Kausalität. Denn die Herausbildung der Dispositionen war an den Normen orientiert. Und deshalb handelt es sich hier auch um ein normabhängiges normgemäßes Handeln. Ein wichtiger Aspekt ist bislang noch unberücksichtigt geblieben: Man kann natürlich fragen, ob die moralischen Normen, die faktisch in einer Gesellschaft
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gelten, auch gelten sollten, oder ob sie eher nicht gelten sollten. Man kann folglich, dass es bestimmte moralische Normen gibt, gut und vernünftig finden und auch Normen als falsch und unvernünftig ablehnen. Findet man es gut, dass es eine Norm gibt, ist das in aller Regel ein starkes Motiv, entsprechend zu handeln. Hält man eine moralische Norm hingegen für ungerechtfertigt, empfindet man sie als heteronom, man fühlt sich einem ungerechtfertigten Zwang unterworfen. Das heißt freilich noch nicht, dass man keine Gründe mehr hat, sich normkonform zu verhalten. Es gibt die Sanktionen, den sozialen Druck der anderen, mit dem man rechnen muss. Dass man die Norm ablehnt, heißt auch nicht unbedingt, dass man den inneren Widerstand gegen normwidriges Verhalten zu überwinden oder ganz loszuwerden vermag. Es kann durchaus sein, dass man, auch wenn man eine Norm für ungerechtfertigt hält, bei ihrer Verletzung dennoch mit inneren Sanktionen zu kämpfen hat. Ich glaube, diese – notgedrungen recht groben – Bemerkungen zeigen hinreichend deutlich, in wie vielfältiger Weise moralische Normen wirken. Die verschiedenen Wirkungsweisen ergänzen sich und verstärken einander, so dass die künstlichen Gründe für moralisches Handeln, die durch die Herausbildung eines moralischen Normensystems entstehen, erhebliches Gewicht haben.
VII Es ist nun die Frage, ob man eine der möglichen Haltungen zu den moralischen Normen als besonders wertvoll, als moralisch wertvoll auszeichnen soll. Ist es überhaupt wichtig, aus welchem Motiv jemand moralkonform handelt? Kant hat bekanntlich moralkonforme und moralisch wertvolle Handlungen unterschieden und die moralisch wertvollen an ein bestimmtes Motiv gebunden. Nur eine moralkonforme Handlung, die aus Pflicht und nicht aus Neigung getan werde, sei moralisch wertvoll. „Der Wert des Charakters“ beginnt, so sagt Kant auch, erst da, wo jemand nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht das Moralische tue.⁷ Hilft jemand einem anderen in Not aus einem Reziprozitätskalkül oder auch aus Sympathie oder Mitleid, hat seine Handlung demnach keinen moralischen Wert. Ist es auch aus der Sicht einer sozial-institutionellen Moralkonzeption wichtig, aus welchem Motiv jemand das Moralische tut? Zwei Überlegungen sind hier meines Erachtens von Belang. Die erste ist diese: Wir wollen, dass die anderen nicht nur häufig, sondern dass sie durchgängig moralisch handeln. Wir wollen deshalb, dass sie ein Motiv zur Moral haben, das sichert, dass sie sich verlässlich moralisch verhalten. Nun wird der, der nur durch
7 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 398.
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äußere Sanktionen zum moralischen Handeln motiviert wird und von Einzelfall zu Einzelfall überlegt, was ihm mehr nützt, der Norm zu folgen oder es nicht zu tun, nicht sehr verlässlich moralisch handeln. Er wird, wenn es für ihn von Vorteil ist, unmoralisch zu handeln, das Unrecht tun. Anders ist es, wenn man die moralischen Normen verinnerlicht hat oder grundsätzlich tut, was moralisch geboten ist, oder wenn man disponiert ist, ohne überhaupt auf die Normen zu schauen, das zu tun, was den Normen entspricht. Auch der, der den Normen folgt, weil er sie für gut und gerechtfertigt hält, wird verlässlich moralisch handeln, zumindest soweit ihm die Normen einleuchten. Die verschiedenen normgenerierten Motivationen zur Moral sind also nicht gleich gut.Wir werden deshalb auf die, die nicht so zur Moral stehen, dass sie verlässlich moralisch handeln, mit Zurückweisung, Tadel, sozialer Ablehnung und Ausgrenzung reagieren.Wir sanktionieren also nicht nur einzelne Handlungen, sondern auch die Haltung zur Moral, wir tadeln nicht nur, was jemand tut, sondern auch, wie jemand ist. Dieser – sekundären – Sanktionierung sind freilich enge Grenzen gesetzt.⁸ Wir kennen viele Menschen, mit denen wir zu tun haben, nicht gut genug, um zu wissen, wie ihre Haltung zur Moral genau ist. Dispositionen sind epistemisch schlecht zugänglich, und man muss Menschen gut kennen, um zu wissen, welchen Charakter sie haben. Die sekundäre Sanktionierung ist deshalb nur selten möglich, aber selten ist häufiger als nie. Aus dem Gesagten geht hervor, dass es nicht nur ein Motiv gibt, das verlässliches moralisches Handeln bewirkt. Es gibt mehrere normabhängige Motive, die dies tun. Und welches davon dann faktisch motiviert, kann uns, so scheint es, gleichgültig sein. Wir sind an der Funktion interessiert, die das Motiv erfüllt, und jedes Motiv, das die Funktion erfüllt, ist uns recht.⁹ Man kann überlegen, ob auch Motive, die normunabhängig sind, also ein Motiv wie allgemeine Menschenliebe, bei einzelnen Personen zu verlässlichem moralkonformen Handeln führen. Wenn es so ist, ist es uns willkommen. Man muss hier grundsätzlich sagen, dass unser Interesse darauf geht, dass es möglichst für jeden in möglichst allen Situationen ein Motiv gibt, moralisch zu handeln. Ob jemand dann aus diesem oder aus einem anderen Motiv das Moralische tut, kann uns hingegen zumindest unter moralischen Gesichtspunkten gleichgültig sein. Ob jemand angesichts oder infolge der moralischen Normen oder, ganz unabhängig von den normgenerierten Gründen, aus Sympathie, Menschenliebe oder aufgrund einer bestimmten Glücksvorstellung das Moralische tut, – die Hauptsache ist, dass er moralisch handelt. Das ist es, worauf es ankommt. Das Ziel der Moral ist, so meine ich, dass bestimmte 8 Vgl. hierzu eingehender Vf., Handeln zugunsten anderer, 187 f. 9 Das funktionale Argument spielt auch bei Kant eine Rolle: Wer nicht aus Pflicht, sondern aus einer Neigung moralisch handelt, tut das Moralische, so sagt Kant, nur „zufällig“ und „glücklicherweise“. Siehe Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 390, 398, 411.
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Handlungen, von denen alle wollen, dass sie getan werden, tatsächlich getan werden, und dass bestimmte andere Handlungen, von denen alle wollen, dass sie auf keinen Fall getan werden, tatsächlich nicht getan werden. Das Ziel der Moral ist nicht, wie Kant meinte¹⁰, die Menschen zu bessern. Sie zielt deshalb nicht auf die Gesinnungen der Menschen, sondern auf das, was sie tun. Das Ziel, nicht nur die Handlungen der Menschen zu verändern, sondern auch ihren innersten Charakter, ist zu hochgesteckt, es ist illusionär, und es scheint, um das Zusammenleben erträglich zu machen, auch nicht nötig zu sein. Es ist wichtig, noch einen Moment bei der Frage zu bleiben, ob die verschiedenen Einstellungen, die verlässlich zum moralischen Handeln motivieren, wirklich moralisch gleichwertig sind. Es scheint, als sei der Unterschied zwischen einem konformistischen und einem kritischen Verhältnis zu den moralischen Nomen nicht hinreichend bedacht. Mir ist jemand, der eine kritische Haltung zu den geltenden Normen hat und überlegt, ob sie gerechtfertigt sind und gelten sollten, lieber als jemand, der zwar sehr verlässlich, aber doch nur konformistisch das tut, was moralisch gefordert ist. Man kann sagen, das sei eine Präferenz, die aus der Schätzung selbständigen Urteilens, eigener Reflexion und selbstbestimmter Lebensformen resultiere, die aber moralisch nicht relevant sei. Denn beide handeln ja durchgängig moralisch. Doch diese Einschätzung ist voreilig. Angenommen in einer faktisch geltenden Moral wird eine Gruppe benachteiligt; ihr werden moralische Rechte vorenthalten, die alle anderen haben. In einer solchen Moral würde der, der nur konformistisch den geltenden moralischen Normen folgt, zwar das tun, was als moralisch gilt, aber er würde damit selber benachteiligen und etwas tun, was moralisch verboten sein sollte, es aber nicht ist. Während der, der eine kritische Haltung hat, die Benachteiligung vielleicht als ungerechtfertigt erkennen und sich dementsprechend verhalten würde. Dies zeigt, dass der Unterschied zwischen kritischer und konformistischer Haltung keineswegs moralisch bedeutungslos ist. Und dies ist auch der Grund dafür, dass wir die kritische Einstellung zu den moralischen Normen und das Moralisch-Handeln, weil man die Normen, denen man folgt, gut und gerechtfertigt findet, den konformistischen Einstellungen vorziehen. Uns ist also doch, so scheint es, – und zwar aus funktionalen Gründen – ein bestimmtes Motiv zur Moral besonders willkommen. – Soweit die erste Überlegung.
10 Vgl. Kant, Handschriftlicher Nachlaß, Refl. 6722, S. 141: „Man muß aber auch, anstatt die triebfeder der Sittlichkeit zu verstarken und die der Sinnlichkeit zu schwächen, die letztere nicht mit der ersten aliiren, weil man dadurch wohl die Handlungen des Menschen, aber nicht den Menschen bessert.“ – Vgl. auch Moral Mrongovius, 1448: „Es kommt nicht darauf an, daß die Handlung geschehe, sondern aus was für einer Quelle sie geschehen ist.“
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Die zweite Überlegung weist darauf hin, dass wir uns auch jenseits ihrer funktionalen Bedeutung für die Motivation zur Moral interessieren. Nehmen wir an, eines der normabhängigen Motive stellt sicher, dass eine bestimmte Person verlässlich moralisch handelt. Und eine andere Person tut das moralisch Geforderte ganz unabhängig von den moralischen Normen und ihren unmittelbaren und mittelbaren Wirkungen, einfach weil sie ein Mensch ist, der anderen hilft und der anderen nichts antut. Nicht, weil man es nicht darf, sondern weil sie so ist, weil sie Anteil nimmt, mitfühlt, sich in den anderen hineinversetzt und sich mit ihm verbunden fühlt. Was das moralische Handeln angeht, ist der Unterschied zwischen den Personen irrelevant. Beide handeln durchgängig moralisch. Deshalb wäre es auch unpassend, zu sagen, die Handlungen der einen Person seien moralisch wertvoll, die der anderen hingegen nicht. Dennoch nehme ich an, dass uns die zweite Person lieber ist und dass wir sie höher schätzen als die erste. Warum? Ein Grund dürfte sein, dass eine Person dieser Art auch jenseits des moralisch Geforderten zugunsten anderer handeln würde.Wir können von ihr erwarten, dass sie mehr für andere tut, als moralisch gefordert ist. Ein anderer, vielleicht sogar stärkerer Grund ist der, dass ihre Haltung einem weithin geteilten Ideal einer besseren Welt entspricht. Einer Welt, in der die Liebe zu den Menschen und nicht das Müssen der Moral das Handeln anderen gegenüber bestimmt. Einer Welt also, in der die Institution der Moral überflüssig ist, weil alle aus Liebe, Anteilnahme und altruistischer Gesinnung das Gute tun. Nun wird häufig gesagt, die allgemeine Menschenliebe, die unmittelbare Anteilnahme am Ergehen der anderen sei das eigentlich moralische Motiv. Nur wer unmittelbar Anteil am Los der anderen nimmt, handelt deshalb im eigentlichen Sinne moralisch. Es ist klar, dass diese Sicht der Dinge nicht zu einer Moralauffassung, wie ich sie hier skizziert habe, passt. Denn wer auf diese Weise handelt, handelt normunabhängig normgemäß. Er würde genauso handeln, wenn es die moralischen Normen nicht gäbe. Für ihn ist die Hilfskonstruktion der Moral überflüssig, er handelt auch ohne sie wie allgemein gewollt. Wenn es so ist, kann man seine Motivation nicht die spezifisch moralische nennen. Spezifisch moralisch ist vielmehr die normabhängige Motivation.
6 Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot I Menschen haben die Fähigkeit, über ihr Verhalten nachzudenken, sie können überlegen, was dafür spricht, so oder anders zu handeln. Etwas, was für eine Handlung spricht, nennt man einen Grund, einen Grund für diese Handlung. Menschen haben also die Fähigkeit, zu überlegen, welche Gründe es für diese und jene Handlung gibt, und aus dieser Überlegung zu handeln. Dass sie diese Fähigkeit haben, ist eine biologische Tatsache, die von jeglichem Selbstverständnis und jeglicher Selbstinterpretation völlig unabhängig ist. Handeln die Menschen aus einer Überlegung, ist ihr Handeln, wie Aristoteles gesagt hat, von „einer Annahme über das Warum“ begleitet.¹ Wer aus einer Überlegung handelt, kann sagen, warum er so handelt. Handlungen sind also Phänomene, in Bezug auf die man „warum“ fragen kann. Wobei diese Frage hier nicht unspezifisch nach den Ursachen des Geschehens, sondern speziell nach den Gründen für die Handlung fragt, also danach, was dafür sprach, sich so zu verhalten. Die „Warum“-Frage zu beantworten, bedeutet, die Handlung zu begründen. Man legt denen, die so fragen, seine Gründe dar. Die Motive, jemanden nach den Gründen für eine Handlung zu fragen, sind vielfältig. Am häufigsten will man wohl etwas über die Tatsachen erfahren, aus denen die betreffende Handlung ihren Sinn gewinnt. So will ein Lehrling in einer Schreinerwerkstatt, der seinen Meister fragt, warum er für diesen Zweck dieses Holz, für einen anderen Zweck aber ein anderes verwendet, etwas über die Eigenart und Verwendbarkeit der Hölzer erfahren. Er interessiert sich für die Tatsachen, die für die Arbeit eines Schreiners wichtig sind, und nicht für die Persönlichkeit seines Meisters. Aber natürlich kann man die „Warum“-Frage auch stellen, weil man mehr über die handelnde Person, ihre Ziele und Orientierungen wissen will, sie besser verstehen will, sie besser einschätzen will. Man kann die Frage stellen, weil die Handlung anders als erwartet kam und sie einem unverständlich erscheint. Oder man mutmaßt, dass die Gründe, auf die der andere sich stützt, gar keine wirklichen Gründe sind, dass in Wahrheit also gar nichts für die Handlung spricht. Vielleicht will man dem anderen zeigen, dass er etwas falsch gemacht hat, dass er unüberlegt und vorschnell gehandelt hat. Wenn dies die Absicht ist, kann die Begründung den Charakter einer Verteidigung annehmen.
1 Aristoteles, Eudemische Ethik II, 10. 1226 b 23: ὑπόληψις τοῦ διὰ τί.
Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot
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Man zeigt dann, dass man sehr wohl Gründe hatte und zwar echte und nicht nur vermeintliche Gründe. Um fehlgehende Vorstellungen fernzuhalten, ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, dass die Begründung einer Handlung etwas ist, was bereits im Naturzustand möglich ist. In einem Zustand also, der noch keine moralische und rechtliche Ordnung wie auch keine sonstigen sozialen Normen kennt und in dem es folglich kein Geboten-,Verboten- und Erlaubtsein gibt, genauso wenig wie Rechte und Pflichten und andere normative Status. Natürlich kann ein Mann, der in einer solchen Welt zum Fluss geht, seine Handlung begründen: Er will Fische fangen, und das kann er nur am Fluss. Er kann ebenso begründen, warum er gerade diesen Köder wählt, und auch, warum er seinen Sohn in die Technik des Fischfangs einführt. Der Mann tut all dies mit „einer Annahme über das Warum“. Und deshalb kann er, wenn er danach gefragt wird, die Gründe, die ihn leiten, offenlegen. Die Imagination des Naturzustandes zeigt, dass das Begründen einer Handlung von allen normativen Phänomenen, die es in diesem Zustand noch nicht gibt, unabhängig ist. Die Tätigkeit des Begründens setzt, anders als häufig behauptet, diese Phänomene keineswegs voraus und ist nicht notwendigerweise in sie eingebettet. So haben, wenn jemand etwas tut, die anderen keineswegs einen Anspruch darauf, dass er ihnen seine Gründe nennt. Die anderen können nach den Gründen fragen, sie können ein Interesse haben, von diesen Gründen zu wissen, aber sie sind nicht in einer Position, diese Gründe zu fordern. Entsprechend kann die Person ihre Gründe offenlegen, aber es ist ihre Sache, ob sie das tut. Sie schuldet den anderen diese Gründe nicht. Dass sie gefragt werden kann, warum sie so gehandelt hat, bedeutet nicht, dass sie jemandem Rede und Antwort schuldet. Wollte jemand an eine solche Pflicht denken, könnte es sie nur jenseits des Naturzustandes geben. Aber auch unsere tatsächliche, moralisch und rechtlich differenziert ausgestaltete Welt kennt eine solche Begründungspflicht nicht, genauso wenig wie den korrelierenden Anspruch. Wenn ich einen ehemaligen Studenten frage, warum er sich damals für Oxford entschieden hat und nicht in Konstanz geblieben ist, frage ich nach seinen Handlungsgründen. Aber ich habe selbstverständlich keinen Anspruch darauf, dass er sie mir nennt. Und er schuldet mir diese Gründe nicht. Die Imagination des Naturzustandes lässt auch erkennen, dass es verfehlt wäre, zu meinen, eine Handlung zu begründen, bedeute, zu zeigen, dass man berechtigt ist, so zu handeln. Denn den normativen Status des Berechtigtseins gibt es im Naturzustand noch nicht. Ihn kann es nur geben, wo es soziale Normen gibt und mit ihnen das Verboten- und Erlaubtsein von etwas. Die Tätigkeit des Begründens setzt einen normativen Status wie den des Berechtigtseins offenkundig nicht voraus, und sie kann deshalb auch nicht durch ihn definiert werden.
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Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot
Ich erwähne nur, ohne darauf weiter einzugehen, dass das Gesagte genauso für das Begründen einer Meinung zu gelten scheint. Natürlich gibt es im Naturzustand Gründe dafür, etwas für wahr zu halten, und natürlich können die Menschen ihre Meinungen begründen. Aber damit ist nicht gegeben, dass die anderen einen Anspruch auf diese Gründe haben, sie fordern können und dass man sie ihnen schuldet. Und eine Meinung zu begründen, bedeutet auch hier, zu zeigen, dass etwas dafür spricht, sie zu haben, nicht aber, zu zeigen, dass man dazu berechtigt ist.
II Es ist wichtig, zu sehen, dass, eine Handlung zu begründen, etwas anderes ist als, eine Handlung zu rechtfertigen. Wer eine Handlung rechtfertigt, zeigt nicht, dass etwas für sie spricht, er zeigt, dass die Handlung – gegen einen anderslautenden Verdacht – nicht mit einer moralischen oder einer anderen Norm kollidiert. Er zeigt, dass die Handlung moralisch, rechtlich oder im Blick auf eine sonstige Norm in Ordnung ist und keine Norm verletzt.Wenn in einem muslimischen Land Frauen wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs gesteinigt werden, halten viele das für unmoralisch und protestieren dagegen. Die, die die Steine werfen, sind jedoch der Meinung, was sie tun, sei moralisch in Ordnung, es sei sogar moralisch geboten, weil Gott genau dies von ihnen verlange. Sie werden sich folglich gegen die Anklage, etwas Unmoralisches zu tun, verteidigen und ihre Handlungsweise rechtfertigen oder zumindest zu rechtfertigen versuchen. Ähnlich, wenn jemand Geld für andere verwaltet und in den Verdacht gerät, einen Teil für sich abgezweigt zu haben.Wenn er korrekt gehandelt hat, wird er sich gegen den Verdacht verteidigen und sein Verhalten rechtfertigen.Wie diese Beispiele zeigen, ist die Rechtfertigung einer Handlung etwas Defensives, ein Verteidigungsschritt. Man rechtfertigt sein Verhalten gegen den Verdacht eines Normverstoßes oder gegen einen entsprechenden Vorwurf. Ein solcher Verdacht, das sei wenigstens angemerkt, kann sich nicht nur gegen Menschen, sondern – in einer religiösen Vorstellungswelt – auch gegen Gott richten. Angesichts des endlosen Leids in der Welt ist es, wie es scheint, unausweichlich, dass Gott in Verdacht gerät, das Leiden der Menschen und der anderen Lebewesen zuzulassen und mitanzusehen, obwohl er es verhindern und den Betroffenen ersparen könnte. Es ist dann an Gott – oder seinen Verteidigern auf Erden –, sein Verhalten zu rechtfertigen, und das heißt, zu zeigen, dass es – wider den Anschein – sehr wohl moralisch in Ordnung ist und keineswegs gegen moralische Normen verstößt.
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Der Ort für die Praxis des Rechtfertigens ist nur ein schmaler Streifen. Denn wenn jemand sich normkonform verhält und kein Verdacht besteht, dass es anders sein könnte, bedarf es keiner Rechtfertigung. Und wenn jemand etwas Unrechtes getan hat, dies klar ist und ihm nichts bleibt, als es einzuräumen, gibt es auch nichts zu rechtfertigen. Der Ort des Rechtfertigens ist der schmale Streifen des Verdachts, der Unklarheit und der Meinungsverschiedenheit zwischen den klaren Fällen. Man kann den Unrechtsverdacht freilich institutionalisieren und damit vom faktischen Verdacht ablösen. So haben das antike Athen und andere griechische Stadtstaaten von Bürgern, die ein politisches Amt auf Zeit versahen, vor allem wenn sie mit öffentlichen Geldern zu tun hatten, am Ende der Amtszeit verlangt, darzulegen, dass sie mit den ihnen anvertrauten Geldern und Vollmachten rechtmäßig umgegangen sind. Sie mussten eine Abrechnung vorlegen, im Griechischen: logon didonai (λόγον διδόναι). Dieser Ausdruck hat dann im Zuge dieses Verfahrens die Bedeutung: „Rechenschaft ablegen“ und „sein Verhalten rechtfertigen“ angenommen.² Die Rechtfertigung einer Handlung setzt, das ist offensichtlich, immer eine Norm voraus. Relativ auf sie entsteht der Verdacht des Normverstoßes. Und relativ auf sie erfolgt die Rechtfertigung, die zeigt, dass das fragliche Verhalten nicht mit der Norm kollidiert. Aus dieser Normrelativität folgt, dass es die Praxis des Rechtfertigens im Naturzustand nicht geben kann. Das Rechtfertigen einer Handlung kann es, im Unterschied zur Begründung einer Handlung, nur in einer Welt geben, in der es Normen gibt. Die Existenz der Norm geht also voraus, die Rechtfertigung folgt nach. Und mit der Norm ist festgelegt, was im Zweifel rechtfertigbar ist. – Wenn dies stimmt, kann die Vorstellung von Rainer Forst, in der Moral gebe es ein „Grund-Recht“ auf Rechtfertigung und dieses Recht und die korrelierende Pflicht zur Rechtfertigung seien die Basis und der Beginn der Moral, aus dem sich erst alles Weitere entwickele, nicht richtig sein.³ Die Praxis des Rechtfertigens setzt, wie gesagt, bereits Normen voraus, und deshalb ist sie etwas Sekundäres, Nachträgliches. Und ein Recht auf und eine Pflicht zur Rechtfertigung, unterstellen wir, dass es sie gibt (ich komme darauf noch), würden andere Rechte und Pflichten voraussetzen. Nur so kann man in Verdacht geraten, ein Recht verletzt und gegen eine Pflicht verstoßen zu haben. Und nur so kann es eine Pflicht geben, sich angesichts eines solchen Verdachts zu rechtfertigen. Auch die
2 Vgl. hierzu Hoyer, Die Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht der Behörden in Griechenland; Bleicken, Die athenische Demokratie, 326 – 329. 3 Vgl. Forsts Aufsatzsammlung Das Recht auf Rechtfertigung, 10, 12, 14 f., 93, 108, 255, 300.
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Pflicht zur Rechtfertigung und das entsprechende Recht wären deshalb etwas Sekundäres, Nachträgliches. Dass, eine Handlung zu rechtfertigen und zu begründen, unterschiedliche Dinge sind, zeigt sich auch darin, dass es in vielen Fällen möglich ist, eine Handlung zu begründen, aber nicht, sie zu rechtfertigen. So kann ein Mächtiger Gründe haben, einem Schwächeren den gleichen Anteil zu verweigern; er kann das folglich begründen, es spricht etwas dafür, sich so zu verhalten. Aber ob er das Verhalten auch rechtfertigen kann, ist eine ganz andere Frage. Und es ist gut möglich, dass er es nicht kann. Umgekehrt ist es durchaus möglich, dass jemand keine Gründe hat, eine Handlung zu tun, die er ohne weiteres gegen den Verdacht des Normverstoßes rechtfertigen könnte. Rechtfertigen bedeutet also nicht, wie häufig gesagt wird, Gründe liefern. Man darf die beiden Tätigkeiten nicht ineinanderschieben und miteinander verquicken. Sie auseinanderzuhalten, wird freilich dadurch erschwert, dass „rechtfertigen“ häufig neben seiner originären Verwendung auch einfach im Sinne von „begründen“ gebraucht wird, sowohl in der Alltagssprache wie auch in der Philosophie, hier vor allem in der Epistemologie. Im Englischen gibt es keine geläufigen Äquivalente für die deutschen Wörter „begründen“ und „Begründung“. Deshalb werden an ihrer Stelle oft „to justify“ und „justification“ gebraucht. Besonders in Bezug auf Meinungen, aber auch in Bezug auf Handlungen bedeutet „to justify“ dann einfach begründen. In beiden Wörtern – „to justify“ und „justification“ – steckt allerdings das Adjektiv „just“, „gerecht“, genauso wie im lateinischen „iustificatio“ „iustus“. „Gerecht“ hat hier wie dort den Sinn von „rechtmäßig“, „normkonform“. Dieselbe Wortbildung hat das deutsche „rechtfertigen“. Auch wenn „to justify“ oder „rechtfertigen“ gleichbedeutend mit „begründen“ gebraucht werden, führen diese Wörter also ein aus einer anderen Quelle stammendes assoziatives Potential mit sich. Das begünstigt das Angleichen und Ineinanderschieben von Begründen und Rechtfertigen. Und es begünstigt auch philosophische Analysen des Begründens in Begriffen wie „rechtmäßig“, „normkonform“ und „berechtigt“ und damit Konzeptionen, die das Begründen fälschlich an einen voraussetzungsreichen normativen Kontext binden. Nicht so leicht zu beantworten ist die Frage, ob man sich in einer entsprechenden Situation den anderen gegenüber rechtfertigen muss, ob die anderen also ein Recht auf Rechtfertigung haben. Schuldet man den anderen – außerhalb solcher institutionellen Kontexte wie der logon-didonai-Verpflichtung in den griechischen Poleis – eine Rechtfertigung? Oder steht es im eigenen Belieben, ob man auf den Verdacht oder den Vorwurf, etwas Unrechtes getan zu haben, mit einer Rechtfertigung antwortet? Gäbe es eine solche Pflicht, sich zu rechtfertigen, wäre sie eine zusätzliche Pflicht zu den „eigentlichen“ Pflichten: Wir haben die moralischen Pflichten und müssen uns moralisch verhalten, und daneben hätten
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wir dann noch die Pflicht, wenn nötig, darzulegen, dass wir die moralischen Pflichten nicht verletzt haben. Zunächst kann man sagen, dass wohl die meisten ein Bedürfnis oder ein Interesse haben, sich zu rechtfertigen. Denn wenn sie es nicht tun, laufen sie Gefahr, dass ihnen ein Unrecht zugerechnet wird, obwohl sich zeigen ließe, dass sie nichts Unrechtes getan haben. Dieses Interesse bedeutet freilich nicht, dass man dazu verpflichtet ist, sich zu rechtfertigen. Vor Gericht ist niemand verpflichtet, sich zu verteidigen, obwohl die Gemeinschaft ein Interesse daran hat, aufzuklären, was geschehen ist. Jeder hat das Recht, nicht auszusagen. Und jeder Angeklagte ist ausdrücklich darüber zu belehren, dass er dieses Recht hat. Man kann also nicht sagen, dass es grundsätzlich eine Pflicht gibt, sein Handeln zu rechtfertigen. Die Moral ist im Unterschied zum Recht ein informelles Normensystem, sie kennt keine Richter, Staatsanwälte und Verteidiger und auch keine ausgefeilten Verfahrensregeln. Aber auch sie braucht um der eigenen Wirksamkeit willen zumindest einige rudimentäre „prozedurale“ Pflichten. So etwa die Pflicht, sich dem, der etwas Unmoralisches getan hat, entgegenzustellen und ihn die eigene Missbilligung und stellvertretend auch die der Gemeinschaft spüren zu lassen.⁴ Die Pflicht zur Rechtfertigung könnte auch eine solche prozedurale Pflicht sein. Aber es scheint, als kenne die Moral eine solche Pflicht nicht. Vermutlich weil es ihrer nicht bedarf, da ohnehin alle das erwähnte Interesse haben, sich zu rechtfertigen, und dem keine ernsthaften Interessen entgegenstehen. Die Moral macht sich das elementare Streben der Menschen nach Anerkennung und Akzeptanz zunutze. Sie belohnt moralisches Verhalten mit Anerkennung und bestraft unmoralisches Verhalten mit dem Entzug von Anerkennung. Da alle diese Anerkennung wollen, haben auch alle ein elementares Interesse, moralisch dazustehen und in diesem Punkt nicht ins Zwielicht zu geraten. Also werden sie, wo immer nötig und wo immer möglich, versuchen, zu demonstrieren, dass ihr Verhalten moralisch in Ordnung ist. Da es nicht nur um die Anerkennung durch andere, sondern auch um die Anerkennung durch sich selbst geht, ist die Rechtfertigung vor sich selbst dabei mindestens so wichtig wie die Rechtfertigung vor anderen. Wir haben also, so mein Eindruck, kein Recht auf Rechtfertigung. Dies wäre ohnehin nur in einem schmalen Streifen von Situationen von Bedeutung und hätte als prozedurales Recht zudem auch nur eine sekundäre Funktion. Was wir haben, ist vielmehr ein Recht darauf, dass die anderen sich rechtfertigbar verhalten, also so, dass sie sich rechtfertigen können. Das heißt aber nicht mehr, als dass sie die moralischen und rechtlichen Normen nicht verletzen dürfen, und wir genau dies voneinander verlangen können.
4 Vgl. hierzu Vf., Handeln zugunsten anderer, 155 f.
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Vielleicht wird man nach diesen Überlegungen das Gefühl haben, die Unterscheidung von Begründen und Rechtfertigen sei durchaus einleuchtend, aber doch überakzentuiert. Es sei richtig: eine Handlung zu rechtfertigen, bedeute, zu zeigen, dass sie, anders als angenommen, nicht mit einer Norm kollidiert. Aber das zu zeigen, bedeute, darzulegen, dass ein bestimmter Grund gegen die Handlung nicht gegeben ist. Denn wenn die Handlung mit der Norm kollidieren würde, wäre das ein Grund, sie nicht zu tun. Mit der Rechtfertigung zeige man also, dass dieser Grund nicht vorliegt. Man zeige, dass gegen die Handlung, moralisch oder rechtlich gesehen, nichts spricht. Es geht also – so der Einwand – beim Rechtfertigen auch um Gründe, nämlich um die Negation eines behaupteten GegenGrundes. Damit sei das Rechtfertigen zwar kein Begründen im Sinne von: zeigen, dass etwas für die Handlung spricht, aber doch eine Aktivität, die sich wie das Begründen im Für und Wider der Gründe vollzieht. Diese Überlegung scheint mir zutreffend zu sein; ich glaube aber nicht, dass sie etwas von den angeführten Unterschieden zwischen Begründen und Rechtfertigen nimmt und die Differenz einebnet. Zunächst ist festzuhalten, was der Einwand selbst schon sagt: Eine Handlung zu rechtfertigen, heißt nicht, einen Grund für sie zu präsentieren, sondern zu zeigen, dass ein bestimmter GegenGrund nicht vorliegt. Aber damit ist das Spezifische des Rechtfertigens noch gar nicht erfasst. Dies liegt darin, dass der Grund, von dem gezeigt wird, dass er nicht vorliegt, darin bestünde, dass die fragliche Handlung mit einer Norm kollidiert. Das Rechtfertigen hat es also mit dem Abweisen eines sehr spezifischen GegenGrundes zu tun, eines Grundes, der einen Normbezug impliziert. Nur daraus erklärt sich, dass wir dem, der eine Handlung nicht rechtfertigen kann, nicht einfach vorhalten, dass er das Pro und Contra der Gründe nicht richtig erwogen hat, sondern dass er etwas Unrechtes getan hat. Es bleibt also dabei, dass für das Rechtfertigen ein Normbezug definitiv ist, während dies für das Begründen nicht gilt.
III Es sind nicht nur Handlungen, die man begründen kann, sondern auch Normen. Und genauso kann man nicht nur Handlungen, sondern auch Normen rechtfertigen. An der Verschiedenheit von Begründen und Rechtfertigen ändert sich durch den Bezug auf Normen nichts; auch hier muss man beide Tätigkeiten unterscheiden. Die Ergebnisse der bisherigen Überlegungen lassen sich ohne große Mühe übertragen. – Die Formulierung „eine Norm begründen“ ist allerdings keineswegs klar, und wer fragt, was sie bedeutet, sticht in ein Wespennest auseinandergehender Intuitionen und Interpretationen. Die Formulierung ist erläu-
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terungsbedürftig, weil Normen nicht zu den intentionalen Phänomenen gehören, bei denen man nach ihren Gründen fragen kann. Begründen kann man deshalb nur auf Normen bezogene Handlungen oder Einstellungen, aber nicht die Normen selbst. Die Formulierung „eine Norm begründen“ lässt nun nicht erkennen, um welche Handlung oder Einstellung es sich handelt. Diese Leerstelle ist also auszufüllen. Das Begründen von etwas antwortet, wie wir sahen, auf eine „Warum“Frage. Welche auf eine Norm bezogene Handlung oder Einstellung ist der Gegenstand dieser Frage, und wer ist ihr Adressat? Der nächstliegende Kandidat für die Rolle des Adressaten ist, wie es scheint, der Normautor. Er hat die Norm gesetzt, auf ihn geht zurück, dass es sie gibt. Und natürlich kann man ihn fragen, warum er das getan hat. Was sprach dafür, die Norm zu etablieren? Oder bei einer Norm, die es noch nicht gibt, die nur erwogen wird: Was spricht dafür, sie zu setzen und in die Existenz zu bringen? Der Normautor kann dann, auf diese Fragen antwortend, sein Tun begründen und darlegen, warum er die Norm geschaffen hat oder eine bestimmte Norm schaffen will. So verstanden, gewinnt die Rede vom Begründen einer Norm einen klaren und plausiblen Sinn. Es gibt aber nicht nur Handlungen und Einstellungen des Normautors der Norm gegenüber, sondern auch der Normadressaten. Einzelne oder alle Normadressaten können bei einer Norm, die es gibt, gutheißen, dass es sie gibt. Sie setzen die Norm nicht, sie finden sie vor, aber sie können gleichsam nachträglich damit einverstanden sein, dass es sie gibt. Und auch bei einer bisher nur erwogenen Norm können sie wollen, dass es die Norm gibt und dass sie etabliert wird. In jedem dieser Fälle kann man fragen „warum?“, was spricht dafür, die Norm gutzuheißen? Und die Antwort auf diese Frage würde genau dies begründen. Auch in diesem Verständnis gewinnt die Kurzformel „eine Norm begründen“ einen klaren und plausiblen Sinn. Man muss allerdings einräumen, dass die erste Art, die Rede vom Begründen einer Norm zu verstehen, natürlicher und eingängiger wirkt. Der Blick richtet sich zunächst auf den Normautor. Nach diesen Klärungen könnte man sagen, dass eine Norm aus der Sicht des Normautors begründet ist, wenn er Gründe hat, sie zu setzen, und dass sie aus der Sicht einzelner oder aller Normadressaten begründet ist, wenn sie Gründe haben, die Norm gutzuheißen. Es versteht sich, dass diese Perspektiven sehr unterschiedlich sind oder zumindest sein können. Gründe sind wollens- und damit personenrelativ. Welche Gründe der Normautor hat, hängt davon ab, was er will, ebenso hängt, welche Gründe die Normadressaten haben, davon ab, was sie wollen. Wenn der Normautor Gründe hat, eine Norm zu etablieren, bedeutet das nicht, dass einzelne oder alle Normadressaten Gründe haben, ihre Existenz gutzuheißen. Und natürlich können einzelne Adressaten Gründe haben, andere aber
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nicht. Diese Verschiedenheit der Perspektiven ist immer zu berücksichtigen, wenn es um die Begründung von Normen geht. Das Setzen einer Norm (von Seiten des Normautors) und das Gutheißen einer Norm (von Seiten der Normadressaten) sind gewiss nicht die einzigen normbezogenen Handlungen oder Einstellungen, auf die sich eine „Warum“-Frage richten kann. Das Spektrum ist größer. So kann es neben dem Normautor diejenigen geben, die die Norm nicht geschaffen haben, sie aber zur Geltung bringen, ihre Befolgung einfordern und sie durchsetzen. Und vor allem stellt sich auf Seiten der Normadressaten nicht nur die Frage, ob es für sie Gründe gibt, die Norm gutzuheißen, sondern auch die Frage, ob sie Gründe haben, die Norm zu befolgen. Das eine impliziert das andere nicht. Es kann durchaus Situationen geben, in denen Normadressaten keinen Grund haben, eine Norm, die sie gutheißen, zu befolgen. Und umgekehrt kann es sein, dass man keine Gründe hat, eine Norm zu akzeptieren, aber doch Gründe, sie zu befolgen.
IV Eine Norm zu rechtfertigen, ist erneut etwas anderes als, eine Norm – aus der einen oder anderen Perspektive – zu begründen. Eine Norm zu rechtfertigen, bedeutet, ganz wie bei einer Handlung, gegen einen anderslautenden Verdacht zu zeigen, dass sie nicht gegen eine Norm verstößt, dass sie also moralisch oder rechtlich in Ordnung ist. Bei der Rechtfertigung einer Norm geht es also erneut um die Demonstration von Normkonformität, nicht um eine Begründung. Doch wo ist der Ort für eine solche Rechtfertigung? Wodurch gerät eine Norm in den Verdacht, gegen eine Norm zu verstoßen? Und vor allem: von welcher Art ist diese andere Norm, in Bezug auf die der Verdacht des Normverstoßes besteht und relativ auf die die Rechtfertigung erfolgt? Ich werde diese Fragen im Folgenden vor allem im Blick auf moralische Normen erörtern. Ich lasse offen, ob eine moralische Norm aufgrund ihres Inhalts mit einer anderen, maßgeblichen Norm kollidieren kann und ob es solche höherstufigen Normen in der Moral überhaupt gibt. Bei einer Rechtsnorm ist eine derartige Kollision klarerweise möglich. So kann eine Rechtsnorm aufgrund ihres Inhalts gegen die Verfassungsnorm verstoßen, die bestimmt, dass alle Bürger vor dem Gesetz als gleich anzusehen sind.Worauf es hier ankommt, ist, dass eine Norm als Norm, unabhängig von ihrem Inhalt, in Verdacht steht, mit einer Norm zu kollidieren. Eine Norm steht allein dadurch, dass sie eine Norm ist, in diesem Verdacht. Warum? Man muss, um diese Frage zu beantworten, einen Moment überlegen, was eine Norm ist. In der zeitgenössischen Moralphilosophie wird der Begriff gewöhnlich unreflektiert verwandt, ohne sich darüber klar zu sein, was Normen sind
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und welche Festlegungen man eingeht, wenn man von moralischen Normen spricht und eine Moral als ein Gebilde von Normen versteht. Eine Norm bedeutet, dass man etwas tun muss. Dieses mit einer Norm gegebene Müssen entsteht dadurch, dass das normwidrige Verhalten künstlich mit einer negativen Konsequenz, sprich: mit einer Sanktion verbunden wird. Den, der sich normwidrig verhält, trifft folglich eine Sanktion, zumindest läuft er Gefahr, dass dies passiert. Weil die Sanktion für die Adressaten der Norm etwas Negatives ist, etwas, was sie vermeiden wollen, müssen sie so handeln, wie es die Norm von ihnen will.⁵ Dies bedeutet, dass, wer eine Norm setzt, andere zu einem bestimmten Verhalten nötigt. Er zwingt sie durch die Norm, Dinge zu tun, die sie vielleicht gerne unterlassen würden, und Dinge zu unterlassen, die sie vielleicht gerne tun würden. Er zwingt sie, zu tun, was er will, sie aber möglicherweise nicht wollen. Wer eine Norm setzt, übt, so zeigt sich, Macht aus, er zwingt andere, und er nimmt ihnen damit einen Teil ihrer Freiheit. Es ist klar, dass dieses Verhalten in Verdacht steht, eine Form von Unterdrückung und damit unmoralisch zu sein. Es verstößt, wie es scheint, gegen die moralische Norm, die es verbietet, andere zu unterdrücken. Diese Norm, das Unterdrückungsverbot, ist also die höherstufige Norm, relativ auf die eine Norm als Norm in dem Verdacht steht, etwas Unmoralisches zu tun. Ein Normautor muss deshalb, will er sein Tun rechtfertigen, zeigen, dass es Normen gibt, die zwar zwingen, aber nicht unterdrücken, also nicht mit dem Unterdrückungsverbot kollidieren und deshalb moralisch unbedenklich sind. Und er muss zeigen, dass die Normen, die er etabliert hat oder zu etablieren gedenkt, genau von dieser Art sind.
5 Ich bezeichne also ein Müssen, das einfach mit einer Situation gegeben ist, aber nicht – mit der Intention der Handlungssteuerung – künstlich geschaffen wurde, nicht als Norm. Dass man die Hütte heizen muss, wenn sie bewohnbar sein soll, ergibt sich einfach aus den Gegebenheiten. G. H. v. Wright, von dem dieses Beispiel stammt, spricht im Blick auf diese Art des Müssens von technischen Normen (Norm and Action, 9 f.). Natürlich kann man das Wort „Norm“ so verwenden. Der Bedeutungskern ist dann ein allgemeines, für alle geltendes Müssen. Aber man darf die Unterschiede in den Phänomenen nicht übersehen (was v. Wright auch nicht tut). Eine Norm in dem Sinne, wie ich das Wort gebrauche, ist ein anderes Müssen, wie gesagt, ein künstlich geschaffenes Müssen, hinter dem eine Person oder Personengruppe steht und das an eine bestimmte Personengruppe adressiert ist, das also in einem zwischenmenschlichen Kontext steht und eine soziale Funktion erfüllt. „Norm“ wurde in der Bedeutung, in der man von moralischen Normen spricht, im 19. Jahrhundert zum Nachfolgewort von „Gesetz“, um praktische Gesetze besser von Naturgesetzen abheben zu können. Und ein (praktisches) Gesetz ist ein Artefakt, künstlich zum Zwecke der Handlungssteuerung geschaffen. – Zum Begriff der Norm ausführlicher Vf., Normativität, § 8.
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Wenn in dieser Weise zumindest grundsätzlich geklärt ist, was es heißt, eine Norm zu rechtfertigen, ergeben sich folgende Punkte ohne weiteres. Erstens: Auch die Rechtfertigung einer Norm ist, genauer betrachtet, die Rechtfertigung einer Handlung, einer normbezogenen Handlung: Der Normautor rechtfertigt, dass er die fragliche Norm setzt, zur Geltung bringt und durchsetzt. – Zweitens, ebenso offensichtlich: Der, der in Verdacht steht, mit einer Norm etwas Unmoralisches zu tun und dem es deshalb zufällt, sein Tun zu rechtfertigen, ist allein der Normautor. Die Normadressaten sind hier nicht gefragt. – Drittens: Die Frage, ob eine Norm gerechtfertigt ist, ist nur in einem moralischen Kontext möglich. Denn sie setzt das Unterdrückungsverbot voraus. In einer Welt, in der es dieses Verbot nicht gibt, kann es die Frage nach der Rechtfertigung von Normen nicht geben. Wer sagt, Normen bedeuteten Freiheitsbeschränkungen und bedürften deshalb der Rechtfertigung, bringt damit selbst bereits eine moralische Norm zur Geltung. Das wird häufig übersehen. Die Begründung von Normen setzt hingegen keinen moralischen Kontext voraus. – Viertens: Natürlich ist es, nicht anders als bei Handlungen, möglich, dass jemand die Setzung bestimmter Normen begründen, aber nicht rechtfertigen kann. Ein Tyrann hat gewiss Gründe, die Normen zu setzen, die er setzt. Aber ob er dies auch rechtfertigen kann, steht auf einem anderen Blatt. Zwei weitere Punkte sind hervorzuheben. Der erste: Das Unterdrückungsverbot ist zunächst eine moralische Norm neben den anderen moralischen Normen. So wie es verboten ist, jemanden zu verletzen und jemanden zu beleidigen, so ist es auch verboten, jemanden zu unterdrücken, ihm den eigenen Willen aufzuzwingen. Dieses Verbot gewinnt aber dadurch eine Sonderposition innerhalb der Moral, dass man auch mit Normen und ihrer Durchsetzung andere unterdrücken kann. Deshalb müssen die moralischen Normen selbst dem Unterdrückungsverbot genügen. Das Unterdrückungsverbot wird auf diese Weise auch zu einer Metanorm, es ist eine Norm neben, aber auch über den anderen Normen, weil diese ihm selbst zu genügen haben. Eine bestimmte moralische Norm wird hier auch zum Maßstab der anderen Normen. Zu dem Phänomen der Metanorm und damit zu einer Zweistufigkeit innerhalb der Moral kommt es ganz von selbst: durch die unvermeidliche Anwendung des Unterdrückungsverbots auf die moralischen Normen selbst.⁶ Der zweite Punkt: Eine Moral versteht sich, wie es scheint, selbst als ein Normengefüge, das nicht mit dem Unterdrückungsverbot kollidiert. Moralische Normen sind, so das Selbstverständnis und die Selbstdefinition der Moral, keine bloßen Machtnormen, sondern Normen, die gerechtfertigt werden können. Wer moralische Normen zu Geltung bringt, tut nichts Unmoralisches, er spielt nicht
6 Vgl. hierzu eingehender Vf., Die Rechtfertigung moralischer Normen, in diesem Band.
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einfach seine Macht aus, um den anderen seinen Willen aufzupressen. Wenn dies richtig ist, geht in die Definition einer Moral, noch vor allen inhaltlichen Festlegungen, schon das Unterdrückungsverbot ein: Eine Moral ist ein Ordnungssystem, das mit seinen Normen dieses Verbot nicht verletzt. Schon durch diese Definition gewinnt das Unterdrückungsverbot seine singuläre Position innerhalb der moralischen Normen. Normen, die als moralische Normen zur Geltung gebracht werden, tatsächlich aber dem Unterdrückungsverbot nicht genügen, sind demnach bloß vermeintliche oder vorgebliche moralische Nomen. Sie erheben einen Anspruch, den sie nicht erfüllen, und tragen den Namen der Moral deshalb zu Unrecht. Dasselbe gilt auch für das Recht. Ein Rechtssystem grenzt sich von einem Gewaltregime ab, es ist kein Instrument der Unterdrückung. Die rechtlichen Normen sind ebenfalls, so das Selbstverständnis, keine bloßen Machtnormen, sondern Normen, die zwar zwingen, aber nicht unterdrücken. Sie entsprechen der moralischen Anforderung des Unterdrückungsverbots. Die, die die Normen schaffen, sie zur Geltung bringen und ihre Befolgung durchsetzen, tun deshalb damit nichts Unmoralisches. Auch hier hat das Unterdrückungsverbot eine singuläre Stellung, weil es, wie in der Moral, bereits in die Definition eines Rechtssystems eingeht und so allen konkreten Ausgestaltungen vorausgeht.
V Welche Eigenschaften muss eine Norm haben, damit sie nicht mit dem Unterdrückungsverbot kollidiert? Wie kann es sein, dass eine Norm ihre Adressaten zu einem bestimmten Verhalten nötigt, sie aber nicht unterdrückt? Es hat in der Geschichte des Denkens verschiedene Antworten auf diese Frage gegeben. Wenn es um moralische Normen geht, ist in einer theonomen Konzeption Gott die Quelle der Moral und der Autor der Normen. Er ist es, der für die Menschen bestimmte Verhaltensweisen zu einem „Muss“ macht und ihnen damit Freiheitsräume nimmt. Folglich ist es auch Gott, der in Verdacht steht, mit der Normsetzung etwas Unmoralisches zu tun und die Menschen zu unterdrücken. Auch hier bedarf es also einer Theodizee. Gott muss zeigen, dass sein Verhalten moralisch in Ordnung ist. Die Menschen, die in einem Akt der Selbstbehauptung und der Abwehr bloßer Heteronomie die Rechtfertigungsfrage an Gott richten, bringen damit ihm gegenüber eine moralische Norm zu Geltung: das Unterdrückungsverbot. Ihr Verhalten setzt voraus, dass es dieses Verbot gibt und dass es auch für Gott verbindlich ist. Die Antwort, die am meisten überzeugte – natürlich von den Menschen selbst erfunden – bestand darauf, dass Gott den Menschen nicht wie ein Tyrann ge-
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genübersteht. Denn er hat nicht nur die Macht, die Menschen seinen Geboten zu unterwerfen, sondern auch das Recht dazu. Einfach aufgrund seiner überragenden göttlichen Stellung, oder weil er die Menschen geschaffen hat, sie also, genau besehen, sein Eigentum sind, oder weil er nur ihr Wohlergehen will und sie, wenn sie seine Gebote befolgen, das Beste für sich und ihr Zusammenleben tun. Gott agiert also bereits aus einer normativen Position heraus: Er ist berechtigt, Normen zu setzen, und verletzt deshalb damit kein moralisches Verbot. Die Menschen sind nicht puren Machtnormen unterworfen, vielmehr verpflichtet, die göttlichen Gebote zu befolgen. Wenn man religiöse Annahmen beiseite lässt, und auch andere metaphysische Konstruktionen, die die Quelle der Moral in der Natur oder in einer höheren, von allen menschlichen Interessen abgelösten Vernunft sehen, ergibt sich eine Auffassung, nach der die Moral eine Errungenschaft der Menschen ist, die aus ihren Interessen kommt und ihren Interessen dient. Nicht Gott ist der Normautor, es sind die Menschen selbst. Es ist die moralische Gemeinschaft, die die moralischen Normen dem Einzelnen gegenüber zur Geltung bringt und das entsprechende Verhalten fordert. Es gibt nicht den Normautor, der zu einem bestimmten Zeitpunkt die Normen setzt, die moralischen Normen entstehen in einem gesellschaftlichen Prozess. Und die Rechtfertigungsfrage richtet sich deshalb an die, die die Normen zur Geltung bringen, moralisches Verhalten einfordern und abweichendes Verhalten informell sanktionieren. Wer anders handelt, als es die Moral verlangt, muss die Sanktionen der anderen: Entzug von Anerkennung und Akzeptanz hinnehmen – und infolge von Internalisierung und Sozialisation auch die inneren Sanktionen durch sich selbst.Wann kann diese Form des sozialen Drucks gerechtfertigt werden, und wann ist es nur eine Form der Unterdrückung? Die grundsätzliche Frage, die hier zu beantworten ist, lautet: Wie kann, dass Menschen andere Menschen zu etwas zwingen, moralisch unbedenklich sein? Es ist offenbar dann unbedenklich, wenn die Adressaten des Zwanges damit einverstanden sind, in dieser Weise gezwungen zu werden. Volenti non fit iniuria lautet ein alter, auf Ulpian zurückgehender juristischer Grundsatz: Dem, der will, dem, der einverstanden ist, geschieht kein Unrecht. Ihm geschieht ja nichts, was er nicht will. Und sich jemandem gegenüber in einer Weise zu verhalten, die derjenige gutheißt, kann nichts Unmoralisches sein und keine Form von Unterdrückung. Hobbes hat es im Leviathan mit fast denselben Worten gesagt: „Whatsoever is done to a man, comfortable to his own Will signified to the doer, is no Injury to him.“⁷
7 Hobbes, Leviathan, ch. XV, p. 104. In De cive hat Hobbes explizit auf den tradierten Rechts-
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Aber wie, so die weitere Frage, ist es möglich, dass man damit einverstanden ist, zu etwas gezwungen zu werden? Eine Norm ist für den Normadressaten doch immer etwas Schlechtes, weil sie seine Freiheit beschränkt und ihm Handlungsmöglichkeiten nimmt! Nehmen wir als Beispiel das moralische Verletzungsverbot. Diese Norm gilt nicht nur für mich, sie gilt auch für die anderen. Und dass die anderen genötigt werden, mich (und auch andere) nicht zu verletzen, liegt in meinem elementaren Interesse. Die Quelle, aus der die Moral kommt, sind auf andere gerichtete Interessen: Man will, dass die anderen einen nicht verletzen, dass sie einen nicht auf andere Weise schädigen, dass sie einem in Notsituationen helfen. Und deshalb will man auch, dass sie, falls nötig, durch entsprechende Normen genötigt werden, sich so zu verhalten. Das Verletzungsverbot hat also, weil es auch für die anderen gilt,Vorteile für mich, und zwar in aller Regel so starke Vorteile, dass ich den unvermeidlichen Nachteil, dass es auch für mich selbst gilt, – falls das überhaupt ein Nachteil ist – in Kauf nehme. Dies ist dann der Preis, den ich dafür zahle, dass es für die anderen gilt. Die Norm ist folglich ein Instrument des Tausches: Ich gebe etwas, ich gebe ein Stück Freiheit auf, aber dafür bekomme ich etwas, das mir wichtiger ist: dass die anderen dasselbe tun. Ich tausche Freiheit gegen Freiheit und gewinne dadurch den Schutz der Moral. Diese Interessenlage existiert nicht nur für mich, sondern auch für die anderen Normadressaten. Deshalb kann jeder damit einverstanden sein, selbst durch diese Norm gezwungen zu werden. Der, der die Norm zur Geltung bringt, kann aber, wie gesagt, nichts Unmoralisches tun, wenn die Betroffenen einverstanden sind oder aufgrund ihrer Interessenlage einverstanden sein könnten. Die Norm zwingt, aber sie unterdrückt nicht. Wir können also sagen: Wenn alle Betroffenen mit einer Norm einverstanden sein können, ist die Norm moralisch unbedenklich, sie kollidiert nicht mit dem Unterdrückungsverbot und kann folglich gerechtfertigt werden. Die Betonung liegt hier auf „alle Betroffene“. Denn, wenn Einzelne die Norm nicht mittragen, ist sie ihnen gegenüber nicht zu rechtfertigen.⁸ Die jetzt wenigstens in den wichtigsten Zügen skizzierte Konzeption eines gerechtfertigten Zwanges steht offensichtlich in kontraktualistischer Tradition. Diese Tradition zeichnet sich aus durch ihre Sensibilität für die mit Herrschaft, Gesetzen und Normen verbundenen Gefahren der Unterdrückung und Unfreiheit. Wenn die Moral ein Set von Normen ist, ist sie in Gefahr, selbst ein bloßes Instrument der Macht zu werden und, zumindest zum Teil, ins Repressive abzu-
grundsatz zurückgegriffen: „Vetus est, volenti non fit iniuria. Veritatem tamen dicti liceat ex principiis nostris deriuare.“ Vgl. Hobbes, De cive, III, 7, p. 111. 8 Dass diese grundsätzliche Notwendigkeit der Einstimmigkeit dennoch gewisser Einschränkungen bedarf, versuche ich zu zeigen in: Die Rechtfertigung moralischer Normen, in diesem Band, S. 84– 88.
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rutschen. Wer für die Moral und für eine bestimmte Moral plädiert, muss deshalb nicht nur gegen den moralischen Skeptiker zeigen, dass es vernünftig ist, in einer moralischen Welt zu leben und sich für die Moral zu engagieren. Er muss auch gegen die von der Moral allzu Beseelten dafür eintreten, dass die Moral nicht „zuviel“ enthält, mehr als sie rechtfertigen kann. Dass sie also keine Normen enthält, die nur partikularen, aber nicht allgemein geteilten Interessen und Idealen entsprechen, und keine Normen, die auf religiösen, weltanschaulichen oder auch philosophischen Prämissen beruhen, die vielleicht allgemeine Akzeptabilität für sich reklamieren, aber faktisch nicht allgemein akzeptiert werden. Solche Normen wären erpresserisch, sie könnten nicht allen Betroffenen gegenüber gerechtfertigt werden. Die Moral würde dazu missbraucht, die eigenen partikularen Vorstellungen, Interessen und Ideale für alle verbindlich zu machen. Es ist hier nicht erforderlich, die kontraktualistische Rechtfertigungskonzeption weiter zu entfalten. Das Wichtigste ist, dass für sie nicht eine normativ ausgezeichnete Position des Normautors, auch nicht die an einer vorgegebenen objektiven Instanz bemessene inhaltliche Richtigkeit der Normen, sondern allein die Perspektive der Normadressaten der entscheidende Gesichtspunkt ist. Natürlich sind es der Normautor oder die, die die Norm zur Geltung bringen, an die sich die Rechtfertigungsfrage richtet, aber sie können, was sie tun, nur rechtfertigen, indem sie sich auf die Interessen der Normadressaten beziehen. An ihnen entscheidet sich, ob ihr Verhalten in Ordnung ist oder nicht. Ich habe oben gesagt, dass eine Norm aus der Sicht der Normadressaten – einzelner oder aller – begründet ist, wenn die Normadressaten Gründe haben, die Norm zu wollen und gutzuheißen.Wenn es so ist, kann man jetzt sagen: Eine Norm ist dann gerechtfertigt, wenn sie aus der Sicht aller Normadressaten begründet ist. Denn wenn die Normadressaten Gründe haben, sie zu wollen, kann ihre Durchsetzung keine Unterdrückung sein. Man kann das Begründen, allerdings nur das Begründen aus der Perspektive der Normadressaten, nicht das aus der Perspektive des Normautors, und das Rechtfertigen also in dieser Weise zusammenbringen. Das darf aber nicht dazu führen, die beiden Tätigkeiten nicht weiter auseinanderzuhalten. Es bleibt dabei, dass Rechtfertigen und Begründen zwei ganz unterschiedliche Tätigkeiten sind. Eine Norm zu rechtfertigen, heißt nach wie vor, zu zeigen, dass sie nicht mit einer anderen Norm kollidiert. Das Begründen einer Norm hat mit einem solchen Normbezug nichts zu tun. Hier ist der Bezug auf die eigenen Interessen das Entscheidende. Gründe, eine Norm zu wollen, haben die, in deren Interesse die Existenz der Norm ist oder wäre.
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VI Es ist wohl kaum nötig, zu betonen, dass die Besonderheit der Unterdrückungsnorm, nicht nur eine moralische Norm neben den anderen moralischen Normen, sondern auch eine Metanorm zu sein, keine Besonderheit in ihrer Beschaffenheit als Norm impliziert. Moralische Normen – und mit ihnen moralische Rechte und Pflichten – sind soziale Artefakte, und als solche haben sie, wie schon gesagt, ihre Basis in den Interessen der Menschen. Die Moral enthält ein Verletzungsverbot, weil die Menschen nicht verletzt werden wollen. Und dies gilt genauso für das Unterdrückungsverbot. Es ist eine durch und durch plausible Annahme, dass die Menschen nicht unterdrückt werden wollen. Sie wollen nicht der Sklave eines anderen sein. Sie wollen tun, was sie selbst wollen, und nicht, was andere von ihnen wollen. Im 18. Jahrhundert sprach man von der „independentia in agendo ab arbitrio alius.“⁹ Kant hat in diesem Sinne Freiheit als „Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür“ bestimmt.¹⁰ Das Interesse an dieser Unabhängigkeit ist eines der basalen Interessen der Menschen. Und weil sie dieses Interesse haben, haben sie – so darf man annehmen – auch das Interesse an einer Norm, die Unterdrückungshandlungen verbietet. Das Unterdrückungsverbot ist also genauso eine positive moralische Norm wie alle anderen moralischen Normen auch. Es wäre abwegig, anzunehmen, das Unterdrückungsverbot müsse wegen seiner besonderen Bedeutung eine andere, festere und „weniger kontingente“ Verankerung haben als die anderen Normen. Man hat oft gemeint, die Menschen hätten ein natürliches oder angeborenes Recht auf Freiheit, dessen Reflex dann das Unterdrückungsverbot wäre. Aber solche natürlichen Rechte und Normen gibt es nicht, und deshalb können das Unterdrückungsverbot und das Recht, nicht unterdrückt zu werden, auch nicht von dieser Art sein. Genauso aussichtslos ist es, anzunehmen, man könne auf eine höhere, nicht buchstäbliche Weise einfach „sehen“ oder „wahrnehmen“ oder „einsehen“, dass jedermann ein solches Recht und die entsprechende Pflicht hat.¹¹ Das Unterdrückungsverbot fällt weder in der einen noch in der anderen Weise vom Himmel.Wenn es tatsächlich so
9 So Achenwall, Ius naturae, § 70, p. 63. 10 Kant, Metaphysik der Sitten, 237. 11 R. Forst meint, man könne auf eine besondere Weise wahrnehmen oder erkennen, dass jeder das Recht auf Rechtfertigung hat, von dem er spricht und in dem er das „fundamentum inconcussum“ der Moral sieht. Wobei diese Art des Erkennens zugleich auch ein Anerkennen sein soll: Man „sieht“, dass der Mensch das Recht auf Rechtfertigung hat, und erkennt damit an, dass er in dieser Weise normativ ausgezeichnet ist. – Die aufschlussreiche Formulierung „fundamentum inconcussum“ findet sich in: Das Recht auf Rechtfertigung, 14; vgl. ansonsten 61– 63, 89, 91, 93 – 96, 108, 124, 307 f.
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ist, dass die Menschen nicht unterdrückt werden wollen, müssen sie sich dafür engagieren, dass eine der Normen, mit denen sie leben, das Unterdrückungsverbot ist. Dieses Verbot gibt es erst, wenn die Gesellschaft so eingerichtet ist, dass den, der andere unterdrückt, äußere und innere Gegenreaktionen treffen und seine Akzeptanz durch die anderen und durch sich selbst in Gefahr gerät. Nur so wird es zu einem moralischen „Muss“, Unterdrückungshandlungen zu unterlassen. Und nur so gibt es ein Recht, nicht unterdrückt zu werden, das mehr ist als eine leere Wunschvorstellung und das zu haben tatsächlich etwas anderes ist als, es nicht zu haben. Nach diesen Überlegungen lässt sich eine weitere Frage beantworten, die Frage, ob man die Rechtfertigungsfrage nicht auch an das Unterdrückungsverbot selbst richten könne, auch sie sei schließlich eine Norm, und ob es dann nicht zu einer merkwürdigen Selbstanwendung komme: das Unterdrückungsverbot müsste dann selbst dem Unterdrückungsverbot genügen. Kann das sein? Hieran ist, wie man leicht einsehen kann, nichts mysteriös. Es ist zweifellos möglich, die Rechtfertigungsfrage auch an das Unterdrückungsverbot zu richten. Es ist aber auch klar, wohin man schauen muss, um sie zu beantworten. Auch für das Unterdrückungsverbot gilt, dass es gerechtfertigt ist, wenn es im Interesse der Normadressaten liegt, dass es dieses Verbot gibt. Wenn es so ist, dass die Menschen nicht unterdrückt werden wollen und deshalb ein entsprechendes Verbot wollen, werden sie durch das Unterdrückungsverbot nicht unterdrückt.Wenn man will, kann man hier durchaus von einer Selbstanwendung der Norm sprechen.¹²
VII Ich möchte meine Überlegungen mit einer kurzen Nachbemerkung abschließen. Wenn wir überlegen, welche Moral wir wollen, dann können wir jetzt sagen: eine Moral, die ein Unterdrückungsverbot enthält, die mit diesem Verbot selbst nicht kollidiert und deren Normen sich deshalb gegenüber den Betroffenen rechtfertigen lassen. Dies ist aber nicht das einzige, was wir wollen. Wir wollen nicht nur, dass die Moral, mit der wir leben, moralisch in Ordnung ist, wir wollen auch, dass sie kognitiv in Ordnung ist, das heißt, sich nicht auf Annahmen stützt, die falsch
12 Man kann hier einwenden, die Tatsache, dass alle das Interesse haben, nicht unterdrückt zu werden, bedeute nicht, dass alle auch an der Norm interessiert sind. Das ist richtig. Das eine Interesse impliziert das andere nicht. Und man kann fragen, ob nicht Umstände möglich sind, in denen Einzelne oder auch die Majorität das erste, aber nicht das zweite Interesse haben, und wie wahrscheinlich solche Umstände sind. Ich gehe hierauf ausführlich ein in: Die Rechtfertigung moralischer Normen, in diesem Band, S. 88 ff.
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sind oder die für wahr zu halten unbegründet ist. So wäre eine Norm, die bestimmte Tiere schützt, weil sie, wie man glaubt, heilig sind, in dieser Weise kognitiv nicht in Ordnung. Sie stützt sich auf religiöse Vorstellungen, die nicht haltbar sind. Wenn nun eine solche kognitiv defiziente Norm von allen, die sie befolgen müssen, getragen wird, weil alle die zugrundeliegende Annahme für wahr halten und die Norm deshalb gutheißen, ist sie nicht moralisch zu kritisieren, sondern nur kognitiv. Es wird niemand unterdrückt, aber die Menschen leben unaufgeklärt. Es gibt für sie eine bessere Moral. Wenn man sich klargemacht hat, dass eine Moral moralisch und kognitiv defizient sein kann, hat man ein Kriterium in der Hand, richtige Moralen und falsche Moralen zu unterscheiden. Richtig ist eine Moral – oder zunächst eine Norm –, wenn sie moralisch und kognitiv in Ordnung ist, falsch, wenn sie dies nicht ist. Aber auch dieses zweifache Unterscheidungskriterium grenzt nicht notwendigerweise eine Moral als die allein richtige aus. Es kann mehrere unterschiedliche, aber doch richtige Moralen geben. So kann, um ein einfaches Beispiel zu geben, eine moralische Gemeinschaft Tieren einen weitgehenden Schutz gewähren, weil ihre Mitglieder sich den Tieren verwandt und verbunden fühlen. Während in einer anderen Gemeinschaft ein solches Gefühl der Verbundenheit weniger ausgeprägt ist und der Schutz der Tiere deshalb schwächer ausfällt. Hier wie dort sind keine kognitiven Annahmen im Spiel, die man kritisieren könnte, sondern Einstellungen, Sichtweisen, die so, aber auch anders sein können, ohne dass daran etwas zu kritisieren ist. Und auch moralisch ist nichts zu kritisieren, weil die jeweilige Norm hier wie dort von allen getragen wird.
7 Die Konstitution der normativen Wirklichkeit I „Normativ“ und „Normativität“ sind ziemlich junge Wörter, in ihrer Bedeutung häufig unklar und inzwischen fast uferlos gebraucht. Deshalb ist es vielleicht sinnvoll, zunächst deutlicher zu bestimmen, was damit gemeint ist.Vom Wort her bedeutet „normativ“, dass etwas von der Art einer Norm ist. Und von dieser Art ist etwas,wenn es uns sagt, dass wir etwas tun müssen. Denn die Leistung einer Norm besteht gerade hierin: sie sagt uns, dass wir etwas tun müssen. Eine Norm erzeugt einen Handlungsdruck und nötigt uns, uns in bestimmter Weise zu verhalten. Dies ist ihre Normativität. Nun gibt es neben den Normen auch andere Dinge, die bedeuten, dass man etwas tun muss. Es gibt also auch andere Dinge, die normativ sind.Von Normativität spricht man vor allem auch in Bezug auf Handlungsgründe. Denn auch Gründe sagen uns, dass wir etwas tun müssen. Gründe nötigen uns oder, um eine Formulierung Kants aufzugreifen, sie „necessitieren“ uns, in bestimmter Weise zu handeln. Gründe generieren einen Handlungsdruck. Und genau dies bringen wir zum Ausdruck, wenn wir sagen, dass sie normativ sind.Wenn man davon ausgeht – ich werde darauf noch kommen –, dass Normen nur eine bestimmte Sorte von Gründen sind, kann man sagen, dass Normativität eine Eigenschaft von Gründen ist. Und dass sie darin besteht, dass Gründe uns sagen, dass wir etwas tun müssen. Dieses normative, mit einem Handlungsdruck verbundene Etwas-tun-Müssen ist, das liegt auf der Hand, nicht determinierend. Eine Norm oder ein Grund determiniert einen nicht dazu, in bestimmter Weise zu handeln. Dass man bei „rot“ an der Ampel anhalten muss, determiniert nicht dazu, anzuhalten. Man kann auch durchfahren. Und dass man ein Versprechen halten muss, bedeutet nicht, dass man es nicht auch brechen kann.Wir stoßen hier auf das merkwürdige Phänomen, das ich „Paradox des normativen Müssens“ nenne: Man muss etwas tun, und das heißt: es ist unausweichlich, so zu handeln. Aber es ist offensichtlich, dass man doch anders kann. Viele Philosophen haben hieraus den Schluss gezogen, hier liege kein wirkliches Müssen vor, die Rede vom Müssen sei falsch. Man hat deshalb in der deutschen Tradition vom „Sollen“ gesprochen. So dass, wenn wir heute von Normativität sprechen, der traditionelle Terminus für dieses Phänomen das „Sollen“ ist. Kant hat vom „Sollen“ gesprochen und war hierin wohl prägend. Bei ihm findet man aber auch die Rede vom Müssen, von der praktischen Notwendigkeit, der necessitatio und dem Necessitieren wie auch die Rede von den Geboten der Vernunft. Meines Erachtens ist die Rede vom „Sollen“ immer dunkel geblieben. Wenn man das Phänomen der Normativität aufhellen will, ist es, so meine ich, essentiell, sich nicht am Sollen, sondern am Müssen zu orientieren. Nur
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so findet man den Schlüssel zum Verständnis. Und nur so kann man erkennen, dass wir es hier mit einem echten Müssen, mit einer echten Notwendigkeit zu tun haben.
II Von welcher Art ist nun dieses eigenartige Müssen – im Unterschied zum naturgesetzlich determinierenden Müssen und vielleicht anderen Formen des Müssens? Wie kommt das normative Müssen in die Welt? Wodurch entsteht es? Die Antwort, die ich gebe, ist sehr einfach: Das normative Müssen besteht aus zwei Elementen: erstens einem Müssen der notwendigen Bedingung und zweitens einem Wollen. Wenn diese beiden Elemente zusammenkommen, entsteht Normativität, also ein normatives Müssen und ein entsprechender Handlungsdruck. Lassen Sie mich das erklären. Ich muss dafür, einen Marathon laufen zu können, ein Training absolvieren. Dieses Müssen ist ein Müssen der notwendigen Bedingung. Das eine – das Training – ist eine notwendige Bedingung für das andere – einen Marathon laufen zu können. Dieses Müssen ergibt sich aus biologischen Gegebenheiten. Ein Mensch kann ohne Training keinen Marathon laufen, deshalb muss er dafür, dass er es kann, trainieren. Dieses Müssen ist ein echtes Müssen, ein echtes Nichtanders-Können. Dass ich trainieren muss dafür, einen Marathon laufen zu können, hat nun mit Normativität noch nichts zu tun. Es ist nicht mehr als eine biologische Tatsache, die mich wie andere biologische Tatsachen auch völlig kalt lassen kann. Diese Tatsache entwickelt als solche keinerlei Handlungsdruck. Das ändert sich aber sofort, wenn ein zweites Element hinzukommt, wenn ich nämlich einen Marathon laufen will. Wenn dieses Wollen hinzukommt, entsteht ein Druck, zu trainieren. Das Müssen der notwendigen Bedingung gewinnt durch das Hinzukommen des Wollens die Eigenschaft der Normativität. Es wird zu einem normativen Müssen, zu einem Müssen, das mit einem Handlungsdruck verbunden ist. Dieser Druck entsteht dadurch, dass ich, wenn ich anders als „gemusst“ handele, wenn ich also nicht trainiere, eine negative Konsequenz hinnehmen muss: ich erreiche nicht, was ich will. Die Unausweichlichkeit dieser negativen Konsequenz konstituiert den normativen Druck. Wobei die Negativität der Konsequenz relativ auf das eigene Wollen ist. Man kann diesen einfachen Sachverhalt vielleicht auch so zur Sprache bringen: Das Wollen ist der Motor, durch den die Bewegung, die Energie in die Situation kommt; und die Notwendigkeitsbeziehung ist der Transmitter, der die Bewegung an eine andere, möglicherweise ganz und gar ungelegene Stelle transportiert und sie dort in der Form normativen Drucks wieder entlässt.
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Ausdrücklich festgehalten sei noch, dass das Wollen, von dem hier die Rede ist, immer das Wollen dessen ist, der muss. Der Adressat des normativen Müssens steuert also immer selbst etwas zu der Existenz dieses Müssens bei: ein bestimmtes eigenes Wollen.
III Natürlich stellt sich die Frage, ob die jetzt beschriebene Struktur für alle Formen der Normativität typisch ist oder ob es Formen des Normativen gibt, die von anderer Art sind. Ich meine, ohne das hier begründen zu können, dass tatsächlich alle Normativität diese einfache Grundstruktur aufweist. Wobei diese Struktur allerdings, wie ich noch zeigen möchte, eine erstaunliche Variabilität, Plastizität und Produktivität besitzt. Wenn es so ist, kann ich sagen: Normativität entsteht durch das Zusammenkommen zweier Bausteine, die beide, für sich genommen, nicht normativ sind. Ein Müssen der notwendigen Bedingung ist, für sich genommen, nichts Normatives. Und ein Wollen ist, für sich genommen, auch nichts Normatives. Wenn sie zusammenkommen, entsteht aber, ohne dass noch etwas Weiteres hinzukommt, ein normatives Müssen. Hieran ist nichts mysteriös. Es hilft nichts, hier auf David Hume zu verweisen und darauf, dass es keinen Weg vom Sein zum Sollen oder vom Sein zum Müssen gibt. Es gibt ihn, wie man sich an einfachen Beispielen wie dem Marathonbeispiel klarmachen kann. Die ontologische These, dass Normativität aus einer Kombination von nicht-normativen Elementen entsteht, nimmt übrigens von Humes Einsicht nichts weg. Natürlich bleibt es dabei, dass aus der Tatsache, dass Tiere leidensfähig sind, nicht folgt, dass wir ihnen kein Leid zufügen dürfen. Es geht nicht darum, dies zu bestreiten, es geht darum, die Hilflosigkeit bezüglich der Ontologie des Normativen zu überwinden. Die Normativität fällt nicht vom Himmel, und wir können auch nicht in einen ontologischen Dualismus zurückfallen, der Nicht-Normativem und Normativem getrennte ontologische Welten zuweist. Eine Kernannahme dieser Konzeption ist offensichtlich, dass alle Normativität wollensrelativ ist. Wo kein Wollen, da keine Normativität. Normativität hat also eine subjektive Ontologie. In der ontologisch objektiven Welt, damit meine ich die Welt, die vom Erkennen, Fühlen und Wollen des Menschen unabhängig ist, gibt es keine Normativität. Mit dieser Feststellung, dass Normativität wollensrelativ ist, ist nicht nur die Vorstellung abgewiesen, dass es draußen in der Welt, unabhängig von uns, normative Tatsachen gibt. Es ist auch die kantische Idee abgewiesen, dass es ein kategorisches normatives Müssen gibt, das ohne jeden Wollensbezug allein durch die Vernunft generiert wird. Ich kann nicht sehen, wie eine Überle-
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gung – so übersetze ich die Rede von der Vernunft – zu der Einsicht führt, dass man etwas tun muss, ohne sich auf ein zugrunde liegendes Wollen zu beziehen.
IV Bevor ich weitergehe und zu zeigen versuche, wie aus der Grundstruktur der Normativität die vielfältigen Phänomene der normativen Realität entstehen, möchte ich auf einige Fragen aufmerksam machen, die das Element des Wollens betreffen. Die wichtigste Frage ist hier: Reicht zur Konstitution von Normativität ein faktisches Wollen aus, oder muss das Wollen qualifiziert sein? Ein Wollen kann begründet, unbegründet, rational, irrational, frei und zwanghaft sein. Reicht jede Art des Wollens für die Konstitution eines normativen Müssens aus, oder muss es irgendwie ausgezeichnet sein? Die amerikanische Philosophin Christine Korsgaard hat gesagt, ein Wollen könne nur dann Normativität konstituieren oder mitkonstituieren, wenn es selbst schon normativ ausgezeichnet sei. Sonst würde ja Normatives aus Nicht-Normativem entstehen, und sie verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf Hume und sein is-ought-Verbot. Aus dem, was ich zuvor gesagt habe, geht schon hervor, dass ich diese durchaus typische Argumentation nicht plausibel finde. Und insgesamt scheint mir tatsächlich ein faktisches Wollen auszureichen. Wenn ich etwas will, ist es, selbst wenn dieses Wollen, objektiv betrachtet, in irgendeiner Form defizient ist, dennoch ein Faktum, dass ich dieses Wollen habe. Und wenn ich etwas Bestimmtes tun muss, um das Gewollte zu erreichen, ist es ein Faktum, dass ein Handlungsdruck entsteht, dass ich unter einem „Muss“ stehe, das mich dahin drückt, das Gemusste zu tun. Es liegt also ein normatives Müssen vor. Das faktische Wollen generiert zusammen mit dem Müssen der notwendigen Bedingung den faktischen Handlungsdruck und damit Normativität. Die Frage „bloß faktisches oder qualifiziertes Wollen?“ erscheint noch dringlicher, wenn man sich klarmacht, dass man, wenn ein normatives Müssen vorliegt, immer auch vom Vorliegen eines Grundes sprechen kann. Wo ein normatives Müssen, da ein Grund, und wo ein Grund, da ein normatives Müssen. Wenn es regnet und ich nicht nass werden will, muss ich einen Regenschirm mitnehmen. Es existiert ein normatives Müssen. Stattdessen kann ich auch sagen, dass für mich ein Grund existiert, einen Regenschirm mitzunehmen. Kann man aber einen wollensrelativen Grund haben, etwas zu tun, wenn das zugrunde liegende Wollen selbst nicht begründet ist? Einige Philosophen sagen an dieser Stelle: Nein, das Wollen selbst muss begründet sein, nur so kann auch ein Handlungsgrund existieren. Ein faktisches Wollen reicht also auf keinen Fall aus. Man kann nicht bestreiten, dass diese Auffassung ihre Suggestivität hat. Doch bei
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näherem Hinsehen zeigt sich, dass sie von Prämissen lebt, die nicht zu halten sind. Ich will das wenigstens andeuten. Zunächst ist klar, dass wir fragen können, warum jemand etwas will. Was ist der Grund dafür, dass du dies willst? Wir antworten auf diese Frage gewöhnlich mit dem Verweis auf ein höheres Wollen. Ich will etwas, weil es zu etwas anderem verhilft, das ich will. Natürlich iteriert jetzt die Frage nach den Gründen und richtet sich auf das höhere Wollen und dann auf das nächsthöhere Wollen etc. Am Ende kommt man zu einem intrinsischen Wollen: man will etwas, nicht im Blick auf ein höheres Wollen, sondern intrinsisch. Wenn auch dieses – intrinsische – Wollen begründet sein soll, geht dies nur durch einen Grund, der nicht mehr wollensrelativ ist. Es muss dann also Gründe geben, die nicht wollensrelativ sind, Gründe also, die man in der Philosophie externe Gründe nennt. (Sie sind nicht auf ein Wollen bezogen und in diesem Sinne nicht intern.) Die Position, die nur dann von Handlungsgründen sprechen will, wenn das zugrunde liegende Wollen selbst begründet ist, lebt also von der Prämisse, dass es externe, wollens-unabhängige Gründe gibt. Die Philosophen Derek Parfit und Thomas Scanlon, zwei Exponenten dieser Position, haben diese Prämisse freigelegt und explizit akzeptiert. Doch von welcher Art sollen diese externen Gründe sein? Eine Idee könnte sein, dass es in der Welt, wie sie unabhängig von uns ist, objektive Werte gibt und dass diese Werthaftigkeit der Grund ist, die entsprechenden Dinge zu wollen. Diese Auffassung führt allerdings in eine ontologische Sackgasse. Objektive WertEigenschaften sind ontologisch abstrus, und wir haben keine Gründe, anzunehmen, dass es so etwas gibt. Und tatsächlich gehen Parfit und Scanlon diesen Weg ins ontologische Abseits auch nicht.Was in der Welt sind dann aber Gründe, etwas zu wollen? Parfit und Scanlon antworten: Ganz normale, ontologisch völlig unverdächtige Tatsachen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass Autofahren nach Alkoholgenuss gefährlich ist. Dies ist eine einfache Tatsache, und sie ist, so Scanlon, ein Grund, alkoholisiertes Fahren nicht zu wollen. Die Welt selbst, ganz ohne irgendwelche Werteigenschaften, gibt Gründe für das Wollen. Diese Vorstellung ist jedoch, so meine ich, unplausibel. Denn es liegt auf der Hand, dass die Gefährlichkeit alkoholisierten Fahrens nur unter einer bestimmten Bedingung ein Grund ist, in diesem Zustand nicht fahren zu wollen. Unter der Bedingung nämlich, dass man diese Gefahren für sich und andere nicht will. Wenn man die Gefahren nicht will, ist der Umstand, dass das Fahren in diesem Zustand gefährlich ist, natürlich ein Grund, es nicht zu wollen und es nicht zu tun. Wenn mir die Gefahren hingegen gleichgültig sind, habe ich auch keinen Grund, nicht in diesem Zustand fahren zu wollen. Das heißt, der Grund, den Scanlon hier im Auge hat, ist in Wahrheit selbst wollensrelativ. Und es zeigt sich, so meine ich, dass einfache Tatsachen in der Welt keine Gründe sein können. Gründe sind wollensrelativ, und das impliziert, dass das intrinsische Wollen selbst nicht begründet sein kann. Das
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intrinsische Wollen ist also ein faktisches Wollen. Und deshalb sind Gründe mittelbar oder unmittelbar auf ein faktisches Wollen bezogen. In diesem Punkt Einigkeit zu erzielen, ist deshalb so schwierig, weil mit ihm tiefliegende Fragen unserer Selbstdeutung als vernünftige Wesen berührt werden. Denn es geht hier um die Frage, ob wir in dem, was wir tun und wie wir leben, letzten Endes durch Gründe bestimmt sind oder durch unser Wollen. Oder, anders formuliert, ob das Wollen die Basis für unsere Gründe ist oder die Gründe die Basis für unser Wollen.¹
V Ich verlasse mit dieser Bemerkung die Fragen, die das Wollen betreffen. Im verbleibenden Teil meines Vortrages möchte ich erläutern, in welcher Weise aus der Grundstruktur des Normativen sehr viel komplexere normative Phänomene hervorgehen. Die Grundstruktur ist, wie wir sahen, sehr einfach: Es kommen ein Müssen der notwendigen Bedingung und ein Wollen zusammen. Doch trotz ihrer Einfachheit entsteht aus dieser Struktur eine reiche und äußerst vielfältige normative Wirklichkeit. Wie ist das möglich? Ein ganz wesentlicher Schritt ist die Erfindung künstlicher Normativität und künstlicher Gründe. Wenn man verstanden hat, was ein normatives Müssen und einen Grund konstituiert, kann man überlegen, ob es nicht möglich ist, Handlungsgründe künstlich herzustellen – in dem Bestreben, damit Handlungsdruck für andere zu schaffen und so ihr Verhalten zu beeinflussen und zu steuern. Tatsächlich ist dies nicht nur möglich, es ist eine aus unserem Leben gar nicht wegzudenkende beinahe allgegenwärtige Realität. Die Menschen haben zu allen Zeiten künstliche Gründe und künstliche Normativität geschaffen, mit dem Ziel, das Verhalten derer, mit denen sie zusammenleben, in die gewünschte Richtung zu lenken. Das zeigt, dass sie auf intuitive Weise, unabhängig von aller Theorie, immer wussten, was Gründe sind und was den normativen Druck, der mit ihnen entsteht, konkret konstituiert. Nur so konnten sie in der Lage sein, Gründe künstlich nachzubauen. Wie man künstliche Gründe herstellt, ist nicht schwer zu sagen. Man muss eine Handlung, die jemand tun könnte,von der man aber nicht will, dass er sie tut, künstlich mit einer negativen Konsequenz verknüpfen. Der Adressat dieses Manövers muss die Handlung dann unterlassen dafür, dass die negative Handlungsfolge nicht eintritt. Das Unterlassen der Handlung ist eine notwendige Be-
1 Vgl. hierzu ausführlicher Vf., Was geht voraus: das Wollen den Gründen oder die Gründe dem Wollen?, in diesem Band.
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dingung für die Vermeidung der negativen Konsequenz. Negativ ist die Konsequenz relativ auf das Wollen des Adressaten, so dass wir hier genau die beiden Elemente finden, die ein normatives Müssen konstituieren: ein Müssen der notwendigen Bedingung und ein Wollen. Durch das Vorhandensein des Wollens gewinnt – hier wie auch sonst – das Müssen der notwendigen Bedingung die Eigenschaft des Normativen. Es entsteht ein – nun künstliches – normatives Müssen, das seinen Adressaten dahin drückt, so zu handeln, wie er handeln soll. Es entsteht, so kann man auch sagen, ein künstlicher Handlungsgrund. Eine negative Konsequenz, die in dieser Weise in der Absicht, das Handeln anderer zu beeinflussen, künstlich an eine Handlung geheftet wird, nennt man „Sanktion“. Das künstlich geschaffene normative Müssen ist also ein sanktionskonstituiertes Müssen. Richtet sich ein solches Müssen nicht an eine einzelne Person, sondern an alle Mitglieder einer Gruppe oder einer Gesellschaft, spricht man von einer Norm. Eine Norm ist also ein allgemeines, an eine Allgemeinheit adressiertes sanktionskonstituiertes Müssen. Wer unter einer Norm steht, muss dafür, die Sanktion zu vermeiden, etwas tun oder unterlassen. Und da er die Sanktion vermeiden will, steht er unter einem Handlungsdruck, sich so zu verhalten, wie die Norm es will. Normen sind, wie sich zeigt, künstliche Handlungsgründe. Und sie sind, wie andere künstliche Gründe auch, Instrumente, anderen den eigenen Willen aufzudrücken. Sie sind, anders gesagt, Instrumente der Machtausübung. Nur wer die Macht hat, einen Sanktionsmechanismus zu setzen und durchzusetzen, kann künstliche Gründe für andere schaffen.
VI Mit Normen entstehen nun aufgrund ihrer Variabilität fast explosionsartig eine ganze Reihe neuer normativer Phänomene. Zunächst entstehen durch Normen bestimmte normative Status. Wenn eine Norm verbietet, Foeten abzutreiben, bedeutet das, dass die Foeten einen bestimmten rechtlichen oder moralischen, in jedem Fall normativen Status haben. Wenn eine Norm verbietet, Tiere zu quälen, bedeutet das ebenfalls, dass die Tiere einen bestimmten normativen Status haben. Ein solcher Status ist offensichtlich etwas künstlich Geschaffenes und nichts Naturales. Er kommt durch nichts anderes in die Welt als durch die künstliche Verknüpfung einer bestimmten Handlung mit bestimmten Handlungsfolgen. Denn der Status der Tiere besteht gerade darin, dass, wer sie quält, mit einer negativen Konsequenz, mit einer Sanktion rechnen muss. Ein normativer Status ist also, wie man traditionell sagt, imponiert; er ist, wie es Samuel Pufendorf ausgedrückt hat, ein super-additum, das zu der natürlichen Ausstattung eines Wesens hinzukommt. – Man kann sagen, dass auch die Adressaten einer Norm durch die
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Norm einen normativen Status erlangen. Sie haben durch das Entstehen der Norm eine bestimmte Position in der neu entstandenen normativen Wirklichkeit. Es gibt nicht nur einfache Verbots- und Gebotsnormen, es gibt auch differenziertere Normen. So z. B. eine Verbotsnorm, die bestimmte Personen von dem Verbot ausnimmt. Sie sind dann berechtigt, so zu handeln, wie es ansonsten verboten ist. So ist ein Torwart im Fußballspiel berechtigt, den Ball im Strafraum mit der Hand zu spielen, was allen anderen Spielern verboten ist. Das Berechtigtsein ist offenbar ein spezieller normativer Status. Er kommt ebenfalls durch eine bestimmte Norm in die Welt oder, anders gesagt, durch eine bestimmte Ausformung eines Sanktionsmechanismus und der entsprechenden Sanktionspraxis. Die Berechtigung des Torwarts besteht ja gerade darin, nicht sanktioniert zu werden, wenn er den Ball mit der Hand spielt. Da verschiedene Personen die Position des Torwarts einnehmen können, ist es nötig, eigens anzuzeigen, welcher Spieler sie einnimmt. Das geschieht mit Hilfe eines Statusindikators, in diesem Fall mit Hilfe eines andersfarbigen Torwartpullovers. Ein in unserem Zusammenhang besonders interessanter Typ von Normen sind Ermächtigungsnormen. Eine Ermächtigungsnorm bestimmt nicht, dass ihre Adressaten eine bestimmte Handlung tun müssen, sondern dass sie das tun müssen, was eine bestimmte Person will, wobei offenbleibt, was sie will. Die Norm enthält gewissermaßen eine Variable und sie ermächtigt eine Person, für diese Variable ihr Wollen einzusetzen. So kann in einem Betrieb die Norm gelten, dass alle Mitarbeiter das tun müssen, was eine bestimmte Person will. Das Wollen dieser Person wird auf diese Weise zu einem „Muss“ für die anderen. Durch eine Norm dieser Art entsteht offensichtlich eine besondere normative Position. Die Norm verleiht einer Person Macht über andere. Diese Person kann bestimmen, was andere tun müssen, ihr Wollen ist für die anderen verbindlich. Wer diese Macht hat, hat sie nicht aufgrund seiner natürlichen Eigenschaften, vielmehr durch die normative Position, die er einnimmt. Seine Macht ist keine rohe, physische Macht, sondern eine normgegebene, institutionelle Macht. Man kann sich leicht ausmalen, wie man mit Hilfe von Ermächtigungsnormen weit differenziertere Gebilde schaffen kann. Man kann nicht nur eine Machtposition schaffen, sondern viele, jede mit eigenen Zuständigkeiten und sich gegenseitig relativierend. Man kann Machtpositionen hierarchisch stufen, so dass sich eine Über- und Unterordnung verschieden limitierter Machtpositionen ergibt. All dies tut man, indem man eine Ermächtigungsnorm oder ein Set von Ermächtigungsnormen immer weiter ausdifferenziert. Interessanterweise sind innerhalb eines solchen normativen Gefüges Handlungen möglich, die es außerhalb der normativen Realität gar nicht geben kann. Es entstehen also durch Normen und die normgenerierte Wirklichkeit völlig neue Handlungsmöglichkeiten. Ein Beispiel ist die Handlung des Ernennens. Nur wenn
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es eine Machtposition gibt, zu der es gehört, zu bestimmen, wer eine Machtposition auf einer unteren Ebene einnimmt, kann es die Handlung des Ernennens geben. Nur in diesem Kontext kann jemand durch das Äußern eines bestimmten Satzes das Wollen eines Menschen zu einem „Muss“ für andere machen. Bisher hatte Herr Schmidt nichts zu sagen. Nachdem ein bestimmter Satz von einer bestimmten Person geäußert wurde, müssen die anderen nun aber tun, was derselbe Herr Schmidt will. Die Realität dieser Veränderung liegt darin, dass in der neuen Situation derjenige, der anders handelt als es Schmidt will, mit negativen Konsequenzen rechnen muss, was bisher nicht der Fall war. Die künstliche Verknüpfung von Handlungen und negativen Konsequenzen wurde also verändert. Eine normative Ordnung, wie ich sie jetzt anfangshaft beschrieben habe, schafft nicht nur neue Handlungsmöglichkeiten, sondern auch neuartige Möglichkeiten des Sanktionierens. Man kann jetzt jemanden dadurch sanktionieren, dass man seine normative Position, seinen normativen Status verändert. Innerhalb einer militärischen Hierarchie zum Beispiel kann man jemanden dadurch sanktionieren, dass man einen Hauptmann zum Leutnant degradiert. Das ist eine Form der Sanktion, wie es sie außerhalb einer normgegebenen Ordnung gar nicht geben kann. Ein anderes Beispiel ist die Sanktionierung durch den Entzug des Führerscheins und damit der Fahrerlaubnis. Auch in diesem Fall bestraft man den Betroffenen, indem man seine normative Position verändert. Ich hoffe, dass ich mit diesen Bemerkungen wenigstens andeutungsweise erläutert habe, auf welche Weise mit der Erfindung von Normen eine außergewöhnlich reiche, vielfältig in sich gegliederte neue normative Wirklichkeit entsteht. Wobei der entscheidende Mechanismus, aus dem alles entsteht, die künstliche Verknüpfung von bestimmten Handlungen mit negativen Konsequenzen ist. Dieser simple Mechanismus ist der Baustoff, aus dem die komplexere normative Realität entsteht.
VII Ich möchte noch eine letzte Überlegung anfügen. Eine Norm zu schaffen, ist, so habe ich gesagt, eine Form der Machtausübung. Der Normautor macht sein Wollen zu einem „Muss“ für andere, er nötigt andere, das zu tun, was er will. Anderen seinen Willen aufzudrücken, ist jedoch, so finden wir, etwas Unmoralisches, etwas, was moralisch nicht in Ordnung ist. Deshalb steht jede Norm eo ipso in Verdacht, etwas Unmoralisches zu tun. Der Normautor befindet sich deshalb immer in der Defensive. Er muss gegen den Verdacht, etwas Unmoralisches zu tun, zeigen, dass die Normsetzung in diesem speziellen Fall moralisch in Ordnung ist. Er muss zeigen, dass er zu dem, was ansonsten verboten ist: andere unter Druck zu
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setzen, in diesem Fall berechtigt ist. Oder, wie wir häufig sagen, er muss zeigen, dass die Normsetzung legitim ist. – „Legitim“ leitet sich vom lateinischen „lex“ ab und bedeutet soviel wie gesetzeskonform oder, moderner gesagt, normkonform. Zu zeigen, dass die Durchsetzung einer Norm legitim ist, bedeutet also zu zeigen, dass diese Durchsetzung selbst normkonform ist und nicht mit einer Norm kollidiert. Die Norm, die hier den Maßstab bildet, ist das Verbot, andere Menschen zu unterdrücken. Wenn es um die Legitimität einer Norm geht, geht es also immer darum, dass man mit der Norm die Adressaten nicht unterdrückt und deswegen nicht das Unterdrückungsverbot verletzt. Zweierlei ist hier hervorzuheben: Erstens, die Frage nach der Legitimität einer Norm setzt, wie sich zeigt, bereits die Existenz anderer normativer Gegebenheiten voraus, nämlich zumindest das Unterdrückungsverbot. Denn nur relativ auf dieses Verbot kann überhaupt von Legitimität gesprochen werden. Die Frage der Legitimität ist also nur im Kontext eines bestimmten normativen Rahmens möglich. Auch wenn wir sagen, ein Normautor sei berechtigt, eine bestimmte Norm zu setzen, setzt das eine Verbotsnorm voraus, die freilich unter bestimmten Bedingungen Ausnahmen erlaubt. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, ist der Normautor berechtigt, die Norm zu setzen. Zweitens ist vielleicht ausdrücklich festzuhalten, dass Legitimität und Normativität zwei sehr verschiedene Dinge sind, die man nicht ineinanderschieben darf. Die Normen eines Tyrannen können keinerlei Legitimität beanspruchen, aber sie haben offenkundig die Eigenschaft der Normativität. Die Normadressaten stehen unter einem Handlungsdruck, sie müssen so handeln, wie die Normen es vorgeben. Und sie haben offensichtlich einen Grund, sich normkonform zu verhalten. Denn wenn sie anders handeln, müssen sie negative Konsequenzen hinnehmen. Es wäre also ganz verfehlt, anzunehmen, Normativität komme aus Legitimität. Ich kann nicht darauf eingehen, wodurch eine Norm legitim ist, was also die Ausnahmebedingungen sind, bei deren Vorliegen eine Normsetzung nicht mit dem Unterdrückungsverbot kollidiert. Wichtig ist, dass sowohl eine Rechtsordnung wie auch eine moralische Ordnung wesensmäßig mit dem Anspruch verbunden sind, legitime Normenordnungen zu sein, also Ordnungen, die ihre Adressaten nicht unterdrücken. Wenn eine Norm moralisch in Ordnung ist, dann sagen wir mit der Tradition, dass sie verpflichtend ist. Der Begriff der Pflicht dient seit Jahrhunderten, obwohl das von Kant und seinen Nachfolgern verdeckt worden ist, der Abgrenzung vom Erpresserischen. Eine Norm, die nicht unterdrückt, ist verpflichtend. Die Normen eines Tyrannen sind hingegen zwar normativ, sie schaffen einen Handlungsdruck, aber sie verpflichten nicht.
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Dem Pflichtbegriff korrespondiert der Begriff des subjektiven Rechts. Wenn die Menschen in einer Normenordnung die Pflicht haben, Tiere nicht zu quälen, dann haben die Tiere das Recht, nicht gequält zu werden.Verpflichtet zu sein und ein Recht zu haben, sind offenkundig erneut normative Status, normative Status, die nun schon eine recht komplexe normative Wirklichkeit voraussetzen.²
2 Ich habe die Überlegungen, die ich hier nur skizzenhaft vorgetragen habe, eingehender entwickelt und begründet in Normativität.
8 Was geht voraus: das Wollen den Gründen oder die Gründe dem Wollen? I Wenn wir eine Tatsache – oder eine Kombination von Tatsachen – einen Grund nennen, geben wir damit zu verstehen, dass diese Tatsache in unserem Überlegen eine besondere Rolle spielt: sie spricht dafür, eine Handlung zu tun (oder zu unterlassen). Ein Grund ist etwas, was dafür spricht, etwas zu tun. Dies ist die Kerndefinition eines Grundes. Mit ihr verbinden sich andere wesentliche Bestimmungen. So hat ein Grund ein motivationales Potential. Wenn alles gut geht, motiviert er uns, die Handlung zu tun, für die er spricht. Ein Grund ist, so eine weitere Bestimmung, normativ: er sagt uns, wie es auch eine Norm tut, dass wir etwas tun müssen. Ein Grund setzt uns unter Druck, er nötigt uns, so wird manchmal gesagt, in bestimmter Weise zu handeln. Und schließlich hat ein Grund ein größeres oder kleineres Gewicht. Deshalb sind Gründe gegeneinander abwägbar. Jede Antwort auf die Frage, Tatsachen welcher Art Gründe sein können, auf welche Tatsachen also der begriffliche „Hut“ eines Grundes überhaupt passt, muss sich an diesen Bestimmungen orientieren und zeigen, dass die Art von Tatsachen, die sie ins Auge fasst, die genannten Leistungen zu erbringen vermag. Wie aber kann eine Tatsache – oder eine Kombination von Tatsachen – für eine Handlung sprechen? Wie, wodurch ist das möglich? Wie kann eine Tatsache zu einer Handlung motivieren, wie ein „Muss“, ein Etwas-tun-Müssen konstituieren? Und wie kann eine Tatsache ein Grund von diesem oder jenem Gewicht sein? Und wie kann eine Tatsache alle diese Leistungen zusammen erbringen? Um jede Person (wie auch um jedes andere Lebewesen) herum existieren eine Fülle von Dafür-dass-Tatsachen. So muss ich dafür, dass ich den 11-Uhr-Zug nach Zürich erreiche, jetzt aufbrechen. Ich muss dafür, dass der Missmut der Nachbarn nicht weiter wächst, die Hecke schneiden. Ich muss dafür, den Marathon im Herbst laufen zu können, mit dem Training anfangen. Ich muss dafür, dass heute Abend Wein im Hause ist, noch einkaufen. In all diesen und vielen anderen Fällen ist eine Handlung von mir eine notwendige Bedingung dafür, dass etwas geschieht oder eintritt. Doch keine dieser Tatsachen ist für sich genommen ein Grund, etwas zu tun. Es ist richtig, dass ich dafür, den Marathon laufen zu können, mit dem Training anfangen muss. Aber angenommen, ich habe nicht vor, den Marathon zu laufen: Dann interessiert mich diese Tatsache nicht, sie ist völlig ohne Belang für mich, und sie wird vermutlich niemals auf der mentalen Bühne meines Überlegens erscheinen. Das ändert sich allerdings, wenn zu dieser Dafür-dass-Tatsache eine
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zweite Tatsache hinzutritt, wenn ich nämlich den Marathon laufen will. Wenn ich dies will, habe ich einen Grund, mit dem Training zu beginnen.Wenn ich dies will, muss ich mit dem Training anfangen. Und dieses Müssen ist dann nicht mehr einfach ein Müssen der notwendigen Bedingung, das sich aus den Gegebenheiten ergibt, mich aber nichts angeht; es ist jetzt ein normatives Müssen, das mit einem Handlungsdruck verbunden ist. Wenn ich den Marathon laufen will, stehe ich unter einem Druck, mit dem Training zu beginnen. Und natürlich habe ich, wenn ich den Marathon laufen will, ein Motiv, das Training aufzunehmen. Genauso ist es in den anderen Fällen. Wenn ich den 11-Uhr-Zug erreichen will, habe ich einen Grund, ein Motiv und auch den Druck, jetzt aufzubrechen. Zwei Tatsachen, so legen diese Beispiele nahe, konstituieren einen Grund: eine Tatsache über die Notwendigkeit einer Handlung dafür, dass etwas geschieht. Und eine Tatsache über das Wollen dessen, wofür die Handlung notwendig ist. Wobei das Wollen immer ein Wollen desjenigen ist, für den der Grund besteht. Auf eine knappe Formel gebracht kann man sagen: Ein Müssen der notwendigen Bedingung und ein Wollen konstituieren einen Grund. – Diese Antwort auf die Frage, was für Tatsachen Gründe sein können, vermag die Kerndefinition eines Grundes wie auch die anderen genannten Bestimmungen auf überzeugende Weise zu erläutern: Wenn ich den Marathon laufen will und es dafür notwendig ist, mit dem Training zu beginnen, spricht offenkundig etwas dafür, dies zu tun. Denn wenn ich es nicht tue, erreiche ich nicht, was ich will. Wenn ich anders handele, muss ich also eine negative Konsequenz hinnehmen, eine Konsequenz, die ich nicht will. Die Negativität der Konsequenz erzeugt auch den Handlungsdruck, also die Normativität des Grundes. Ich muss mit dem Training beginnen, weil sonst etwas Negatives passiert. Und weil ich sonst nicht erreiche, was ich will, habe ich offenkundig auch ein Motiv, mit dem Training zu beginnen. Man sieht hier, wie eng das Sprechen-für, die Normativität und die motivationale Potenz eines Grundes zusammenhängen. All dies entsteht aus der Struktur: Wenn nicht, dann etwas Negatives. Oder, anders gesagt: Nur wenn, etwas Positives. Gründe kann es ohne diese Struktur nicht geben. In einer Welt, in der es nichts Negatives und nichts Positives gäbe, hätten wir keinen Grund, etwas zu tun. In einer solchen Welt könnte es kein Sprechen-für geben. Negativität bzw. Positivität ist relativ auf ein Wollen: Negativ ist eine Konsequenz, weil man sie nicht will, positiv eine, die man will. Gründe kann es deshalb ohne ein Wollen gar nicht geben. Diese Überlegung zeigt, dass es am Kern der Sache vorbeigeht, über den Wollensbezug von Gründen nur im Blick auf die motivationale Potenz eines Grundes zu diskutieren, wie es seit Bernard Williams’ Aufsatz „Internal and External Reasons“ (1980) üblich ist. Es ist richtig, dass die motivationale Leistung eines Grundes ohne den Bezug auf ein Wollen nicht zu erklären ist. Aber das ist
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nicht das grundlegende Phänomen. Das basale Phänomen ist, dass die zentrale Leistung eines Grundes, das Sprechen-für, ohne einen Wollensbezug nicht verständlich gemacht werden kann. Ein Grund impliziert als solcher, als etwas, was für etwas spricht, einen Wollensbezug. Und sein motivationales Potential ist dann etwas, was daraus folgt. Die Diskussion hat sich an der Frage, was es eigentlich heißt, für etwas zu sprechen, und wodurch es möglich ist, vorbeigemogelt. Und es ist nur ein aus der Not geborenes Ausweichmanöver, anzunehmen, die Relation des Sprechens-für sei primitiv und könne deshalb nicht expliziert werden,wie es T. Scanlon und D. Parfit tun.¹ Tatsächlich kann die Explikation des Sprechens-für nur gelingen durch den Bezug auf ein Wollen. Was dafür spricht, eine Handlung zu tun, ist der Umstand, dass, sie nicht zu tun, eine negative Konsequenz nach sich zieht, also etwas, was man nicht will. Es gibt eine Relation der notwendigen Bedingung zwischen der Handlung und dem Erreichen von etwas Gewolltem. Und deshalb erreicht man, wenn man die Handlung nicht tut, das Gewollte nicht. Und genau dies bedeutet, dass etwas dafür spricht, die Handlung zu tun. Auch die Tatsache, dass ein Grund ein bestimmtes Gewicht hat, ist durch diese Konzeption gut zu erklären. Das Gewicht spiegelt die Intensität des Wollens.Wenn man etwas sehr stark will, hat man einen starken Grund, das dafür Notwendige zu tun. Wenn man etwas nur schwach will, ist der Grund entsprechend schwächer. Und wenn die Gründe konkurrieren, würde der eine den anderen überwiegen.
II Eine Konzeption, wie ich sie jetzt wenigstens skizziert habe, zieht, was den Wollensbezug angeht, verschiedene Einwände auf sich. Auf zwei dieser Einwände möchte ich im Folgenden eingehen, auf den ersten nur kurz, auf den zweiten ausführlicher. Der erste Einwand besagt, die Konzeption, wie sie bisher entwickelt wurde, bedürfe noch einer entscheidenden Spezifikation. Nicht jedes Wollen könne ein Konstituens eines Grundes sein. Das Wollen müsse qualifiziert sein, es dürfe kein Wollen sein, das auf falschen Informationen oder Annahmen beruht, es müsse also ein informiertes Wollen sein. Es dürfe kein zwanghaftes, sondern müsse ein freies Wollen sein, kein bizarres oder pathologisches, sondern ein normales und plausibles. Es dürfe kein Wollen sein, das man bloß wie etwas Fremdes in sich vorfindet, sondern ein Wollen, das man bejaht und mit dem man im Reinen ist. Ein Wollen kann, so sagt also der Einwand, verschiedene Arten von Defiziten aufweisen. Und nur ein Wollen ohne diese Defizite könne einen Grund konstituieren oder mitkonstituieren. Ein defizientes Wollen sei hingegen in dieser
1 Scanlon, What We Owe to Each Other, 17; Parfit, Rationality and Reasons, 18.
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Hinsicht impotent. So könne ein bizarrer Wunsch wie der, die Grashalme im Garten zu zählen oder alle verfügbaren Radios anzustellen, nicht um etwas zu hören, sondern nur so, keine Handlungsgründe generieren. Dafür sei ein solcher Wunsch zu abstrus. Dieser Einwand appelliert an unsere Intuitionen, sagt aber nicht, warum ein defizientes Wollen nicht ein Teil eines Grundes sein kann. Das bleibt gewöhnlich unausgesprochen. Ich halte den Einwand nicht für stichhaltig und habe das in Normativität zu begründen versucht.² Meines Erachtens reicht ein faktisches Wollen, auch wenn es einen Makel hat, aus, um als eines von zwei Elementen einen Grund mitzukonstituieren. Ich begnüge mich hier mit einigen Bemerkungen. – Das Entscheidende ist, so meine ich, dass auch ein defizientes Wollen ein faktisches Wollen ist, ein Wollen, das eine Person wirklich hat. Damit besteht eine Situation, in der sie, wenn sie das, was für die Erlangung des Gewollten notwendig ist, nicht tut, etwas, was sie will, nicht erreicht. Das ist – relativ auf ihr Wollen – etwas Negatives. Wir haben hier also ohne Zweifel die Struktur: Wenn nicht, dann etwas Negatives. Und dies bedeutet, dass etwas dafür spricht, die notwendige Handlung zu tun. Die Person hat folglich einen Grund, so zu handeln. Und sie hat offenkundig ein Motiv, so zu handeln, und sie steht auch unter einem Druck, so zu handeln. Und natürlich hat dieser Handlungsgrund auch ein bestimmtes Gewicht. Die Bestimmungen, die einen Grund definieren, sind also erfüllt. Wer glaubt, hier nicht von einem Grund sprechen zu sollen, füllt den Begriff des Grundes offenbar mit zusätzlichen, anspruchsvolleren Kriterien. Vermutlich rührt der Impuls, dies zu tun, daher, dass man, wenn jemand zum Beispiel etwas infolge eines bizarren Wunsches tut, sagen würde, was er tut, sei fehlgeleitet, oder sogar, es sei unvernünftig und sinnlos. Es seien zwar die vier genannten Kriterien für die Anwendung des Begriffs des Grundes erfüllt, aber die Handlung erbe doch die Defizienz des zugrundeliegenden Wollens, und deshalb könne man nicht sagen, dass die Person einen Grund für die Handlung hat und begründet handelt. Die Idee ist also, dass, was aus einem Grund getan wird, aus einer höheren Perspektive vernünftig sein muss und deshalb, wenn bizarre Wünsche das Handeln leiten, nicht von einem Grund gesprochen werden kann. Diese Idee, so suggestiv sie sein mag, löst den Begriff des Grundes allerdings aus dem Kontext, in dem er seine Funktion hat und aus dem er seine Bestimmtheit hat, nämlich aus dem Kontext des Überlegens. Ich versuche, das an einem Beispiel zu verdeutlichen. Angenommen, eine Frau leidet an einer Agoraphobie und will deshalb den Marktplatz des kleinen Ortes, in dem sie lebt, nicht betreten. In dem Ort gibt es zwei Bäcker, einen am
2 Siehe Vf., Normativität, 121– 125 und 72– 77.
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Marktplatz gelegenen und einen abseits in einer anderen Straße. Die Frau wäre die Angst, die sie hat, gerne los und natürlich auch den Wunsch, nicht auf den Marktplatz zu gehen. Aber tatsächlich hat sie diesen Wunsch, und deshalb geht sie zu dem abseits gelegenen Bäcker Brot kaufen, obwohl sie eigentlich lieber zu dem am Markt ginge. In diesem Fall brauchen wir nicht einmal in die Perspektive der 3. Person zu wechseln, die Frau selbst findet, was sie tut, in gewisser Weise irrational, folgt es doch aus einem Wunsch, den sie selbst als irrational empfindet. Aber bedeutet das, dass sie keinen Grund hat, zu dem anderen Bäcker zu gehen? Die Frau stellt eine Überlegung an, und in dieser Überlegung ist der Ausgangspunkt, dass sie nicht auf den Marktplatz will. Wenn es so ist, muss sie zu dem anderen Bäcker gehen. Wie soll man nun die Funktion der Tatsache, dass sie so handeln muss, um das Gewollte zu erreichen, für die Handlungswahl beschreiben, wenn man nicht von einem Grund sprechen will? Der Begriff des Grundes hat genau diese Funktion, er markiert Tatsachen, die in einer Überlegung für eine Handlung sprechen.Wollte man hier nicht von einem Grund sprechen, würde man den Begriff und seine Funktion verändern und ihn mit neuen Inhalten füllen. – Dass wir von Gründen in dem erläuterten Sinn sprechen, zeigt sich auch an folgendem. Nehmen wir an, die Frau wird gefragt, warum sie zu diesem Bäcker da draußen geht. Würde sie antworten: „Es gibt keinen Grund, es spricht nichts dafür.“? Nein, sie würde sagen: „Der Grund ist, dass ich nicht auf den Marktplatz will und dann ja keine andere Möglichkeit bleibt als, zu dem anderen Bäcker zu gehen.“ Sie hat einen Grund, wenn auch einen Grund, den sie lieber nicht hätte. Und angenommen, der Frau gelänge es, ihre Angst loszuwerden. Dann wäre sie auch den Wunsch, den Marktplatz zu meiden, los. Und dann könnte sie sagen: „Jetzt habe ich auch keinen Grund mehr, zu dem anderen Bäcker zu gehen.“ Das Beispiel stößt uns auf zwei weitere wichtige Punkte. Erstens. Man muss zwischen den Ausgangspunkten und den Gegenständen des Überlegens unterscheiden. Eine Überlegung geht immer von bestimmten Dingen aus, die aber nicht selbst Gegenstand der Überlegung sind. Für die Frau ist, dass sie nicht auf den Marktplatz will, der Ausgangspunkt der Überlegung, aber nicht ihr Gegenstand. Sie überlegt vielmehr, wo sie, gegeben dieses Wollen, ihr Brot kauft. So kann dieses Wollen einen Makel haben und irrational sein, dennoch ist, was sie tut, – relativ auf diesen Ausgangspunkt des Überlegens – nicht nur begründet, sondern auch vernünftig. Und es mag sein, dass wir nicht verstehen, warum jemand den Wunsch hat, alle verfügbaren Radios anzustellen, aber wir können sehr wohl verstehen, warum er, wenn er diesen Wunsch hat, die Dinge tut, die notwendig sind, um das Gewollte zu erreichen. Zweitens. Ich hatte gesagt, dass die Frau einen Handlungsgrund hat, aber einen Handlungsgrund, den sie lieber nicht hätte. Sie fände es besser, diesen
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Grund nicht zu haben. Ihr Grund ist deshalb ein schlechter Grund.³ Genauso kann man aus der Perspektive der 3. Person über jemanden, der sich der Defizienz seines Wollens nicht bewusst ist, sagen, er habe Gründe aus diesem Wollen, aber Gründe, die er besser nicht hätte, also auch schlechte Gründe. Wobei schlechte Gründe echte Gründe sind. Auch schlechte Gründe sprechen für etwas. Es wäre naiv, nicht zu sehen, dass viele Gründe, aus denen wir handeln, schlechte Gründe sind, Gründe, die wir lieber nicht hätten. Eine Norm zum Beispiel, die ich als unsinnig ablehne, die mich aber nötigt, entsprechend zu handeln, ist ein Handlungsgrund: ich muss so handeln, wenn ich nicht eine Strafe riskieren will. Aber sie ist ein Grund, den ich lieber nicht hätte – also ein schlechter Grund. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass in diesem Fall nicht das Wollen defizient ist, sondern das andere Element des Grundes, die Notwendigkeitsbeziehung. Die Norm macht es notwendig, etwas Bestimmtes zu tun, um einer Strafe aus dem Weg zu gehen. Diese Notwendigkeitsbeziehung ist künstlich installiert. Und genau dies, dass gerade diese Handlung zu einer notwendigen Bedingung einer Strafvermeidung wird, finde ich unsinnig. Und deshalb wäre es aus meiner Sicht besser, wenn es den Handlungsgrund, der mit der Norm gegeben ist, nicht gäbe. Sie ist ein Handlungsgrund, aber ein schlechter. Auch in diesem Fall wäre es aber ganz falsch, zu sagen, hier liege gar kein Handlungsgrund vor.
III Der zweite Einwand geht weiter als der erste. Während der erste Einwand eine für Gründe konstitutive Rolle des Wollens anerkennt, freilich nur eines qualifizierten und purifizierten Wollens, bestreitet der zweite Einwand diese Rolle grundsätzlich. Das Wollen hat hiernach keinerlei Anteil an der Konstitution von Gründen. Die ganze Idee, dass das Wollen Gründe generiere, sei falsch. In Wahrheit seien die Elemente, die einen Grund konstituieren, andere. Der Einwand geht von der Annahme aus, dass es nicht nur Gründe für Handlungen gibt, sondern auch für Wünsche, fürs Wollen. Man kann nicht nur fragen, warum jemand etwas tut, sondern auch, warum jemand etwas will. Und die Schlüsselidee ist dann, dass die Gründe für das Wollen die eigentlichen Gründe sind und die Handlungsgründe sich aus ihnen nur ableiten. Die Handlungsgründe sind nur Abkömmlinge der Wollensgründe. Wenn die Person A, so die Vorstellung, einen Grund hat, y zu wollen und, x zu tun, eine notwendige Bedingung dafür ist, dass y eintritt, dann hat A einen Grund, x zu tun. Wenn A hingegen keinen Grund hat, y zu wollen, hat sie auch keinen Grund, x zu tun. Selbst dann nicht, wenn sie y faktisch will. Der
3 Vgl. zu dieser Redeweise von guten und schlechten Gründen Vf., Normativität, 124 f.
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Grund für das Wollen von y ist hier der primäre und eigentliche Grund, der Handlungsgrund nur ein derivativer Grund, der sich – über die Brücke der Notwendigkeitsrelation – aus dem Grund für das Wollen ergibt. Ohne Wollensgrund also kein Handlungsgrund. Die Konzeption praktischer Gründe, die ich zu Beginn eingeführt habe und die ich verteidige, sagt: Ein Wollen und ein Müssen der notwendigen Bedingung konstituieren einen Grund. Die alternative Konzeption des zweiten Einwandes sagt nun: Ein Grund für ein Wollen konstituiert (zusammen mit der Notwendigkeitsrelation) einen Handlungsgrund. Der Grund für das Wollen, nicht das Wollen selbst ist das konstitutive Element. Es bedarf nicht einmal des Faktums des Wollens. Selbst wenn die Person A y gar nicht will, aber einen Grund hat, y zu wollen, hat sie, die Notwendigkeitsrelation vorausgesetzt, einen Grund, x zu tun. So wie A umgekehrt, wie schon gesehen, wenn sie y will, aber keinen Grund hat, es zu wollen, auch keinen Grund hat, x zu tun. Dies zeigt sehr deutlich, dass das Wollen hier keinen Anteil an der Konstitution des Handlungsgrundes hat. Das Wollen ist in dieser Hinsicht ohne jede Potenz. Die Gründe gehen nach dieser Konzeption dem Wollen voraus, und nicht das Wollen den Gründen. Das impliziert, dass die Gründe für das Wollen wollensunabhängig sind oder, wie man sagt, extern. Jemand kann y wollen, weil er z will, und z wollen, weil er etwas Weiteres will, und so weiter; aber irgendwann muss dieser Regress bei einem intrinsischen Wollen, einem Wollen also, das nicht auf ein weiteres Wollen zurückgeht, zum Stehen kommen. Und dieses intrinsische Wollen muss begründet sein, wenn derjenige einen Grund haben soll, y zu wollen, und deshalb auch einen Grund, x zu tun, als Bedingung dafür, dass y geschieht. Und dieser Grund hinter dem intrinsischen Wollen muss offenkundig wollensunabhängig sein. Die Konzeption, aus der der zweite Einwand kommt, nimmt also notwendigerweise an, dass es externe, wollensunabhängige Gründe gibt, wollensunabhängige Wollensgründe und indirekt dann auch wollensunabhängige Handlungsgründe. Damit stellen sich eine Reihe von Fragen: Wie kann es solche externen Gründe geben? Welche Tatsachen sind es, die sie konstituieren? Und wie können diese Tatsachen die vier Leistungen erbringen, durch die ein Grund definiert ist? Sind also die notwendigen Hintergrundannahmen der alternativen Konzeption überhaupt auf eine plausible Weise zu explizieren? Bevor ich auf diese Fragen eingehe, sei zunächst festgehalten, dass für die „externe“ Konzeption häufig zwei Überlegungen ins Feld geführt werden, die von grundsätzlicher Bedeutung für unser Selbst- und Weltverständnis sind und deshalb auch, zumindest zum Teil, erklären, warum die Meinungsverschiedenheiten über die Konstitution praktischer Gründe so außerordentlich hartnäckig und scheinbar unauflöslich sind. – Die eine Überlegung weist darauf hin, dass, wenn Gründe wollensrelativ seien, unser intrinsisches Wollen nicht mehr begründet
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sein könne. Unser intrinsisches Wollen sei dann nur ein faktisches Wollen. Alle Gründe, alle Begründungen unseres Wollens und Handelns seien dann relativ auf dieses seinerseits nicht mehr begründete und begründbare faktische Wollen. Wir wären damit der Kontingenz unseres faktischen Wollens ausgeliefert, und die praktische Vernunft wäre nur ein Werkzeug im Dienste dieses ihr vorgegebenen Wollens. Dieses Bild stößt auf einen tiefverwurzelten intuitiven Widerstand, weil darin, so die Empfindung, eine Depotenzierung des Menschen liegt. Der Mensch versteht sich als animal rationale, als Vernunftwesen. Und zu den vornehmsten Aufgaben der Vernunft gehört es, so nahm man seit der Antike an, dass sie, an einer vorgängigen Erkenntnis des Guten orientiert, das Wollen lenkt und in seinen Inhalten bestimmt. Die Vernunft ist es, die die letzten Ziele des Menschen bestimmt und festlegt. David Hume hat dieser Sicht sein polemisches Wort von der Vernunft als „the slave of the passions“ entgegengesetzt, und das hat bis heute intellektuellen und emotionalen Widerstand ausgelöst. In einer detaillierten Konzeption praktischer Gründe, die annimmt, dass nicht das Wollen den Gründen vorausgeht, sondern umgekehrt die Gründe dem Wollen, scheint nun eine Sicht vom Menschen restituiert werden zu können, die der Vernunft ihre alte Aufgabe zurückgibt. Wenn die Gründe dem Wollen vorausgehen, ist es dem Menschen möglich, sein Wollen und Handeln in die Spur dieser Gründe zu bringen und ein Leben zu führen, das auch in den letzten Zielen vernunftgeleitet und an Gründen orientiert ist. – Ich werde auf diese Überlegung erst später zurückkommen. In der zweiten Überlegung, die zugunsten der „externen“ Konzeption vorgebracht wird, spielt der Begriff der Normativität eine zentrale Rolle. Gründe sind, wie wir sahen, normative Phänomene. Ein Müssen der notwendigen Bedingung ist aber, für sich genommen, nichts Normatives. Und ein Wollen ist, für sich genommen, ebenfalls nichts Normatives. Die Konzeption, die in diesen beiden Elementen die Konstituentien eines Grundes sieht, nimmt also an, dass zwei nichtnormative Elemente etwas Normatives, einen Grund, konstituieren. Genau dies sei, so nun die Gegenannahme, unmöglich. Aus Nicht-Normativem könne nichts Normatives entstehen. Von einem Sein komme man bekanntlich nicht zu einem Sollen und auch nicht zu einem normativen Müssen oder einem Grund.Wenn sich ein Handlungsgrund hingegen aus einem Grund für ein Wollen ableitet, sei man, was die Handlungsgründe angeht, aus dieser Schwierigkeit heraus. Der Wollensgrund sei selbst schon etwas Normatives und aus ihm und der Notwendigkeitsrelation entstehe der Handlungsgrund. Diese Überlegung ist vollkommen auf Sand gebaut. Zunächst verschiebt sie das Problem der Konstitution von Normativität offenkundig nur von den Handlungsgründen zu den Wollensgründen. Vor allem aber ist das Dogma, etwas Normatives könne nicht aus dem Zusammenkommen von nicht-normativen Elementen entstehen, falsch. Woraus sollte es sonst entstehen? Nehmen wir noch
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einmal das Marathonbeispiel. Dass ich mit dem Training beginnen muss dafür, dass ich den Marathon im Herbst laufen kann, ist eine einfache – man kann sagen: biologische – Tatsache. Sie ergibt sich aus den Gegebenheiten meines Körpers und den Anforderungen eines Marathonlaufs. Sie ist, für sich genommen, nicht normativ. Genauso ist, dass ich den Marathon laufen will, nichts Normatives. Und doch entsteht, wenn diese beiden Elemente zusammenkommen, offensichtlich ein normatives Müssen oder, anders gesagt, ein Handlungsgrund. Ich stehe unter Druck, mit dem Training zu beginnen. Und es spricht etwas dafür, dies zu tun. Denn wenn ich es nicht tue, erreiche ich nicht, was ich will. Wenn ich den Marathon laufen will, steht das Trainieren-Müssen in einem Kontext, der bewirkt, dass ich, wenn ich anders handele, eine negative Konsequenz hinnehmen muss. Ein solches Müssen, bei dem, wenn man anders handelt, etwas Negatives passiert, ist ein „normatives“ Müssen. Und wenn ein solches Müssen vorliegt, haben wir einen Grund, in bestimmter Weise zu handeln. Die Formel „Nichts Normatives aus Nicht-Normativem“ ist genauso falsch wie die längst verbrauchten Formeln „Nichts Lebendiges aus Nicht-Lebendigem“ und „Nichts Geistiges aus Nicht-Geistigem“. Die Welt besteht aus physikalischen Teilchen und Interaktionen zwischen ihnen. Diese Teilchen kennen weder Leben noch Geist noch Normativität. Dennoch gibt es auf diesem Planeten Leben, Geist und Normativität. Das ist nur dadurch zu erklären, dass zum Beispiel durch die Kombination und Komplexion nicht-lebendiger Teilchen Lebendiges entsteht. Und genauso ist es in den Fällen des Geistigen und des Normativen. Aber es scheint doch, so könnte man einwenden, eine unverrückbare Tatsache zu sein, dass sich zum Beispiel aus der Tatsache, dass Tiere (oder einige Tiere) schmerzempfindlich sind, nicht ergibt, dass man einen Grund hat, ihnen keine Schmerzen zuzufügen, oder dass es moralisch verboten ist, dies zu tun. Natürlich ist das eine unverrückbare Tatsache. Normativität entsteht nicht aus beliebigen nicht-normativen Elementen, es müssen ganz bestimmte sein. Wo ein Grund, da, so hatte ich gesagt, die Struktur: Wenn nicht, dann etwas Negatives. Gründe kann es nur geben, wo es Negativität bzw. Positivität gibt. Und diese Negativität und Positivität ist relativ auf ein Wollen. Negativ ist die Konsequenz, weil ich sie nicht will. Das bedeutet, dass Gründe und ihre Normativität nur aus Elementen entstehen können, die ein Wollen enthalten. Aus nicht-normativen Bausteinen ohne Wollenselement kann niemals etwas Normatives entstehen. Denn aus ihnen kann niemals eine Situation entstehen, in der gilt: Wenn du anders handelst, passiert etwas für dich Negatives. Dies entspricht im Übrigen durchaus der Intention des isought-Verbots von Hume. Hume wollte zeigen, dass man aus Beschreibungen von Dingen und ihren Eigenschaften, unabhängig von unseren Reaktionen auf sie, niemals moralische Prinzipien ableiten kann. Es kommt hier darauf an, dass diese Prinzipien einen subjektiven Anteil haben, dass mentale Einstellungen sie kon-
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stituieren oder mitkonstituieren. Ganz entsprechend kann man aus einer Tatsache, die unabhängig von uns besteht, wie der Tatsache, dass Tiere schmerzempfindlich sind, niemals auf eine Tatsache schließen, die ein Wollen impliziert, und deshalb niemals auf die Tatsache, dass jemand einen Grund hat, etwas zu tun. Wir sehen, nur aus der richtigen Art von nicht-normativen Elementen entsteht Normativität. Ich kann nach diesen Überlegungen das Argument: „Normativität nur aus Normativität“ beiseite lassen. Es ist verbreitet, aber falsch. Was ist unabhängig davon zu der Konzeption zu sagen, die Handlungsgründe an Gründe fürs Wollen zurückbindet und sie aus ihnen ableitet? Es ist noch offen, was es mit den Gründen fürs Wollen auf sich hat. Aber auch ohne eine Antwort auf diese Frage kann ich wiederholen, was ich oben (in Teil II) bereits dargelegt habe: Ein faktisches Wollen reicht für die Konstitution eines Grundes aus. Die Kombination einer Notwendigkeitsbeziehung und eines faktischen Wollens erbringt alle Leistungen, die wir mit der Rede von Gründen verbinden. Und deshalb ist es richtig, hier von einem Grund zu sprechen. Ein Handlungsgrund braucht nicht einen anderen vorausgehenden Grund, sondern, wie wir sahen, vorausgehende Negativität bzw. Positivität. Und sie ist bereits durch ein faktisches Wollen gegeben. Deshalb reicht, auch wenn es offen bleibt, warum ich den Marathon laufen will, das Faktum des Wollens aus, um mir einen Grund zu geben, mit dem Training zu beginnen. Niemand braucht zu wissen, warum ich das will. Im alltäglichen Leben wissen wir oft, dass jemand etwas will, aber nicht warum er es will. Dennoch schreiben wir – relativ auf ein solches Wollen – Gründe zu. Und auch unser eigenes Wollen ist in seiner Struktur und Genese für uns oft nicht hinreichend transparent. Wir können häufig nicht ausschließen, dass Irrtümer, unbewusste und vielleicht ungewollte psychische Mechanismen oder andere Faktoren, die keine Gründe sind, sondern einfach nur erklären, wie es dazu gekommen ist, das Wollen beeinflussen oder beeinflusst haben. In all diesen Fällen könnten wir, wenn die Existenz von Gründen an das Begründetsein des Wollens gebunden wäre, nicht mit einiger Sicherheit sagen, dass wir einen Grund haben, das-und-das zu tun. Das ist unplausibel.
IV Die vorangegangenen Überlegungen zeigen, wie ich meine, bereits, dass die Idee, Gründe fürs Handeln gingen auf Gründe fürs Wollen zurück, nicht überzeugend ist. Es scheint angesichts der Suggestivität dieser Idee und angesichts ihrer Verbindung mit einer attraktiv wirkenden Sicht des Menschen dennoch wichtig, zu überlegen, ob sie überhaupt plausibel zu explizieren ist. Und ob die Vorstellung
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wollensunabhängiger Gründe fürs Wollen überhaupt verständlich gemacht werden kann, – oder ob solche Gründe nur eine Schimäre sind. Wie also kann man die Frage, warum man etwas will, bei einem intrinsischen Wollen beantworten? Man muss sich hier als erstes klarmachen, dass die Frage, versteht man sie als Frage nach Gründen, also im Sinne von: aus welchen Gründen will man etwas, bei bestimmten Arten des intrinsischen Wollens gar keinen Sinn hat. Weil es hier keine Gründe gibt. Die „Warum“-Frage kann hier nur danach fragen, wie es kommt, dass man das-und-das will. Was sind die Ursachen davon? Ein Beispiel für ein solches Wollen ist das Weiterleben-Wollen. Die Menschen wollen weiterleben, das ist ein elementares, vielleicht das elementarste und machtvollste Wollen der Menschen. Es wäre vollkommen deplaciert, jemanden zu fragen, aus welchem Grund er dieses Wollen hat. Darauf gibt es keine Antwort. Weil es dafür keine Gründe gibt. Dieses Wollen ist nicht das Ergebnis von Überlegung und Nachdenken. Man hat es nicht, weil etwas dafür spricht, es zu haben. Es ist vielmehr Teil der menschlichen Natur, durch die Natur in uns eingerammt. Wir können nicht anders als, dies zu wollen, und es ist nicht möglich, dieses Wollen abzuwerfen. Genauso ist es bei einem anderen elementaren Wollen, dem Wunsch, von anderen anerkannt und akzeptiert zu werden. Das ist ebenfalls ein tiefliegendes und mit großer Energie geladenes Wollen, das wir nicht haben, weil etwas dafür spricht, es zu haben. Wir haben nicht überlegt, ob wir darauf aus sein sollten, von anderen akzeptiert zu werden. Wir haben dieses Wollen einfach, es ist ebenfalls in uns eingerammt, als Teil der menschlichen Natur. Wir haben es, weil wir die Wesen sind, die wir sind. Diese beiden Wünsche, die keine Gründe hinter sich haben, vielmehr grundlos da sind, generieren eine große Zahl anderer Wünsche und haben deshalb eine breite und vielgestaltige Resonanz in unserem Handeln. Und es scheint mir offenkundig zu sein, dass wir sehr viele Handlungsgründe haben, weil wir dieses Wollen haben und viel dafür tun müssen, das Gewollte zu erreichen. Die genannten Wünsche sind selbst nicht begründet, aber sie sind äußerst machtvolle Quellen von sehr vielen, unser gesamtes Leben prägenden Handlungsgründen. Sie sind nicht das Ergebnis praktischer Überlegung, sie entspringen nicht der Abwägung eines Pro und Contra, sie sind vielmehr Ausgangspunkte des praktischen Überlegens: Man überlegt, was man, weil man diese Wünsche hat, tun muss. All dies bestätigt, so meine ich, dass faktische Wünsche für die Konstitution praktischer Gründe ausreichend sind. Wäre es anders und bedürfte es hinter den Wünschen für sie sprechende Gründe, könnten die genannten elementaren Wünsche trotz der bedeutenden Rolle, die sie im Netz unseres Wollens haben, keinerlei Handlungsgründe konstituieren oder mitkonstituieren. Das wäre erneut unplausibel.
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Der Wunsch, am Leben zu bleiben, und das Streben nach Anerkennung und Akzeptanz sind nur Exempel. Es gibt mehr Wünsche dieser Art.⁴ Verschiedene Autoren nennen weitere Beispiele, so den Wunsch, einen zumindest minimalen Kontakt mit anderen Menschen aufrechtzuerhalten, das Interesse am Wohl der eigenen Kinder, das Glücklich-sein-Wollen oder den Wunsch, etwas zu haben, wofür man lebt. Harry Frankfurt spricht in Bezug auf Wünsche dieser Art von „fundamentalen Notwendigkeiten des Willens“.⁵ „Wir können“, so sagt er, „uns selbst nicht dahin bringen, diesen Dingen gegenüber völlig gleichgültig zu sein, und noch weniger dazu, sie kategorisch abzulehnen.“⁶ Hume handelt im Treatise ebenfalls von diesen Wünschen. Er spricht von Wünschen, die „unserer Natur ursprünglich eingepflanzt sind“ („originally implanted in our natures“) und auch von „Instinkten“. Als Beispiele nennt er „benevolence and resentment, the love of life, and kindness to children.“⁷ Mit „benevolence“ ist ein allgemeines Wohlwollen anderen Menschen gegenüber gemeint, mit „resentment“ das Übelwollen und Auf-Rache-Sinnen denen gegenüber, die einem etwas Übles angetan haben. In der Enquiry Concerning the Principles of Morals fügt er das Aussein auf Ansehen und Macht hinzu. Die Natur gibt uns, so sagt er über das Streben nach Ansehen, „by the internal frame and constitution of the mind, … an original propensity to fame.“⁸ Man kann überlegen, auf welchem Wege man zu einer möglichst vollständigen Liste der hier einschlägigen Wünsche kommt. Aber auch wenn wir diese Frage beiseite lassen, dürfte klar sein, dass es nicht zwei, sondern eine ganze Reihe dieser Wünsche gibt, die zu unserer Natur gehören, die grundlos da sind und die dennoch zusammen mit den entsprechenden Dafür-dass-Tatsachen die Quelle von einer Fülle von Handlungsgründen sind. – Wobei, daran sei wenigstens erinnert, dass diese Wünsche nicht begründet sind und, wie ich gesagt habe, grundlos da sind, natürlich nicht bedeutet, dass es keine Ursachen dafür gibt, dass wir sie haben. Natürlich gibt es diese Ursachen, und wir können, wenn wir hinreichend über unsere evolutionäre Vergangenheit aufgeklärt sind, wissen, welche es sind. Wir können also die Frage, warum wir diese Dinge wollen, beantworten, aber nicht indem wir sagen: weil das-und-das dafür spricht, sie zu wollen.
4 Ich verwende die Ausdrücke „Wunsch“ und „Wünsche“ nur als Vertreter für das fehlende Substantiv zu „wollen“. Ich unterscheide also nicht zwischen „wollen“ und „wünschen“, spreche vielmehr durchgängig vom „wollen“. 5 Frankfurt, Taking Ourselves Seriously and Getting It Right, 38; dt. Sich selbst ernst nehmen, 56. 6 Ebd. 7 Hume, A Treatise of Human Nature, II, iii, 3, p. 417. 8 Hume, An Enquiry Concerning the Principles of Morals, app. II, p. 301.
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Es gibt nicht nur Wünsche ohne Gründe, die alle Menschen teilen, sondern auch individuelle Wünsche dieser Art. Der eine will im Leben etwas erreichen und arbeitet und schafft, der andere will es sich eher bequem machen und gibt sich mit dem Nötigen zufrieden. Wie kommt es, dass man ein solches Wollen hat und die eine Art zu leben der anderen vorzieht? Darüber kann man lange nachsinnen. Ein solches Wollen speist sich vermutlich aus vielen Quellen und dem unauflöslich komplexen Prozess der Charakterbildung. Man entdeckt in diesen Fällen, möglicherweise erst spät im Leben, dass man so ist, man hat es nicht gewählt, man hat sich nicht aus Gründen dafür entschieden, diese Art des Lebens zu wollen. So kann es zumindest sein. Anders scheint es nur zu sein, wenn das Wollen nicht, wie hier vorausgesetzt, intrinsisch, sondern extrinsisch ist, wenn es also noch einmal in einem höheren Wollen fundiert ist. Auch Wünsche der jetzt beschriebenen Art sind also faktische Wünsche ohne für sie sprechende Gründe, dennoch entstehen aus ihnen, zusammen mit den Notwendigkeitsrelationen, eine Vielzahl von Handlungsgründen. Es gibt gewiss noch andere Arten individueller Wünsche ohne Gründe, solche, die im Netz unseres Wollens eine wichtige Rolle spielen, und solche eher punktueller und peripherer Bedeutung. Ich gehe dem nicht weiter nach, entscheidend für meine Überlegung ist, dass es jedenfalls bei einem Teil unseres Wollens deplaciert ist, zu fragen, aus welchen Gründen man dieses Wollen hat, weil es hier keine Gründe gibt. Und die angeführten Beispiele zeigen, dass dieses Wollen zum Teil so machtvoll ist, dass es unser Handeln und die Art unseres Lebens dauerhaft prägt. Mit dem faktischen Wollen ohne Gründe stößt man auf kontingente Determinanten unserer Existenz. Dieses Wollen ist da, es bestimmt uns, aber wir haben es nicht gewählt. Dennoch fällt es uns in der Regel nicht schwer, dieses Wollen als das zu akzeptieren, was es ohnehin ist, als unser Wollen. Es ist Teil unserer Natur. Wenn wir unsere Kinder lieben und auf ihr Wohl aus sind, ist dieses Wollen unser ureigenstes Wollen, und die Tatsache, dass wir es ohne Gründe haben, ändert hieran nicht das Geringste. Und auch bei den individuellen Präferenzen fällt es uns meistens nicht schwer, sie als Ausprägung unserer Individualität zu akzeptieren und zu bejahen. Es scheint mir ganz verfehlt zu sein, dieses Wollen zu expropriieren und es, wie es vielfach geschieht, so zu beschreiben, als sei es nur etwas „in uns“, aber nicht unser Wollen, etwas Fremdes, das wie ein Eindringling in uns sein Unwesen treibt.⁹ Tatsächlich ist dieses Wollen, auch wenn wir es nicht gewählt haben, sehr deutlich unser Wollen, wir sind es, die weiterleben wollen, wir sind es, die auf Anerkennung und Akzeptanz aus sind, wir sind es, die das Wohl
9 Vgl. zur Tendenz, Teile unseres Wollens zu „enteignen“, Vf., Normativität, 79 – 85.
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unserer Kinder wollen. Dieses Wollen schwimmt nicht subjektlos in uns herum. Es kann nur Macht über uns haben, weil es unser Wollen ist und wir es sind, denen diese Dinge wichtig sind. Es kann allerdings sein, dass uns ein faktisches Wollen, das wir haben und das einen Teil unseres Charakters bildet, nicht gefällt. Es kann mit der Vorstellung davon, was für eine Person wir sein wollen, kollidieren und sich nicht integrieren lassen. Wir werden deshalb versuchen, dieses Wollen nicht handlungsleitend werden zu lassen. Es gibt dann ein mächtigeres Wollen, das die Wirkung des anderen blockiert. Aber diese Distanzierung vom eigenen Wollen folgt nicht aus der Tatsache, dass dieses Wollen da ist, ohne aus Gründen gewählt zu sein, sondern aus der Tatsache, dass es in bestimmter Weise mit einem anderen Wollen kollidiert.
V In welchen Fällen ist es nun richtig, nach den Gründen für ein intrinsisches Wollen zu fragen? In welchen Fällen kann man die Frage, warum jemand etwas will, tatsächlich verstehen im Sinne von, aus welchen Gründen will er es? Und von welcher Art können diese – wollensunabhängigen – Gründe sein? – Die Hintergrundannahme, die die Idee von Gründen hinter dem Wollen trägt, ist die naheliegende Vorstellung, dass das Wollen sich auf bestimmte Gegenstände richtet, weil sie Eigenschaften haben, die sie für das Wollen attraktiv machen. So dass die Tatsache, dass etwas Eigenschaften dieser Art hat, der Grund dafür ist, es zu wollen. Diese Vorstellung kann, das ist nach dem Gesagten klar, nicht für alles intrinsische Wollen richtig sein. Es gibt, wie wir sahen, ein vielfältiges und äußerst machtvolles Wollen ohne Gründe. Für eine andere Art des intrinsischen Wollens könnte diese Konzeption aber zutreffend sein. Will man sie konkreter ausbuchstabieren, muss man angeben, welche Eigenschaften es sind, die eine Sache wollenswert machen und deren Vorliegen ein Grund ist, sie zu wollen. Klar ist, dass sie nicht ihrerseits wieder einen Wollensbezug implizieren dürfen. Ich möchte zunächst zwei einflussreiche Antworten auf diese Frage diskutieren – und zurückweisen. Die erste – traditionelle – Antwort sagt, dass diese fragliche Eigenschaft das Gutsein ist. Dass etwas gut ist, ist der Grund, es zu wollen. Dies ist, so die Konzeption, ein wollensunabhängiger Grund fürs Wollen. Damit findet die Frage, von welcher Art die Gründe hinter dem Wollen denn sein können, eine Antwort. Statt vom Gutsein kann man auch davon sprechen, dass etwas wertvoll ist. Aber das ist nur eine andere Formulierung.
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Doch mit einer Eigenschaft welcher Art haben wir es hier zu tun? Man kann annehmen, dass das Gutsein eine Eigenschaft ist, die Dingen unabhängig von uns und unserem mentalen Zugriff auf die Welt zukommt, dass es, mit anderen Worten, ontologisch objektive Werte gibt. Bestimmte Dinge sind demnach an sich selbst gut. So könnte jemand sagen, etwas im Leben zu erreichen und zu arbeiten und zu schaffen, sei an sich selbst gut, etwas objektiv Wertvolles. Diese Auffassung führt jedoch ins ontologische Abseits. Es gibt keine objektiven Werte, Werte sind nicht Teil der von uns unabhängigen Welt. Oder, vorsichtiger formuliert, wir haben keinerlei Grund, anzunehmen, dass es so etwas gibt. Wir haben nicht einmal eine Vorstellung davon, von welcher Art solche Eigenschaften sein könnten. Wenn das Gutsein nicht ontologisch objektiv ist, muss es in seiner Existenz subjektiv sein, das heißt, der menschliche Geist muss zu seiner Existenz beitragen. Nun ist, ein Medikament zu nehmen, gut, weil es meine Kopfschmerzen vertreibt, und das ist etwas, was ich will. Morgens kalt zu duschen, ist gut, weil es Erkältungen vorbeugt, und das ist wiederum etwas, was ich – und andere – wollen. Wäre es den Menschen gleichgültig, ob sie erkältet sind oder nicht, ja würden sie sogar danach streben, möglichst oft erkältet zu sein, wäre es nicht gut, morgens kalt zu duschen. Das Gutsein ist hier, wie es scheint, wollensrelativ. Es setzt ein Wollen voraus. So auch bei einer anderen Art des Gutseins. Eine Uhr ist gut, wenn sie das hat, was wir gewöhnlich von einer Uhr wollen. Und ein Arzt ist gut, wenn er das kann und tut, was wir von einem Arzt wollen und erwarten. Bei Dingen, auf die sich kein Wollen richtet, ist es hingegen unmöglich, vom Gutsein zu sprechen. Ein guter Stern, ein schlechter Stern, was sollte das sein? Eine gute Kaulquappe, ein schlechtes Zebra, was sollte das sein? Diese Dinge sind nicht Gegenstand unseres Wollens, und deshalb ist es nicht möglich, sie „gut“ oder „schlecht“ zu nennen. Anders ist es beim Wachhund oder Reitpferd. In diesen Fällen wollen wir etwas, und was wir wollen, ist das Kriterium des Gut- oder Schlechtseins. Es scheint also, als sei, dass etwas gut ist, eine ontologisch subjektive Tatsache und als sei die mentale Einstellung, die hier konstitutiv ist, das Wollen.¹⁰ Das Gutsein ist demnach selbst wollensrelativ. Wir unterscheiden Dinge nach gut und schlecht, weil wir Wesen sind, die etwas wollen, und weil es uns deshalb wichtig ist, zu wissen, wie sich die Welt und ihre Zustände, wie sich Personen und Handlungen im Lichte unseres Wollens ausnehmen, ob sie dem Wollen entsprechen oder nicht.Wenn das Gutsein selbst wollensrelativ ist, bedeutet das, dass das Wollen, das seinen Grund im Gutsein seines Gegenstandes hat, kein intrinsisches,
10 Vgl. zur Wollensrelativität des Guten ausführlicher Vf., Was es heißt, ein gutes Leben zu leben, 48 – 59 und Vf., Gutsein, 88 – 92.
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sondern ein extrinsisches Wollen ist und dass der Grund für das Wollen selbst nicht wollensunabhängig, sondern wollensabhängig ist.Wenn ich eine bestimmte Uhr kaufen will und der Grund dafür ist, dass sie gut ist, dann verweist dieses Gutsein auf ein anderes Wollen. Und der Grund dafür, die Uhr kaufen zu wollen, liegt am Ende darin, dass sie einem anderen Wollen entspricht. Genauso wenn ich kalt duschen will, weil das Erkältungen vorbeugt. Und auch wenn jemand danach strebt, im Leben etwas zu erreichen und zu arbeiten und zu arbeiten, und der Grund ist, dass dies etwas Gutes ist, verweist dieses Gutsein auf ein anderes Wollen. Er will es, weil er etwas anderes will. Das Wollen ist also extrinsisch. Die Frage, die uns interessiert, ist aber die Frage nach möglichen – wollensunabhängigen – Gründen für ein intrinsisches Wollen. Das Gutsein von etwas kann, so zeigt sich, ein solcher Grund nicht sein. Die zweite Konzeption, die ich zurückweisen möchte, nimmt an, es seien ganz normale natürliche, ontologisch völlig unverdächtige Eigenschaften, die wollensunabhängige Gründe für ein Wollen geben. Diese Position geht den ontologischen Problemen, die mit der Annahme objektiver Werte verbunden sind, aus dem Weg. Ein Beispiel, es stammt von T. Scanlon¹¹, ist die Tatsache, dass Autofahren unter Alkoholeinfluss besonders gefährlich ist. Diese Tatsache ist, so scheint es, ein Grund, in diesem Zustand nicht fahren zu wollen und es nicht zu tun. Hier ist eine natürliche Tatsache: dass etwas gefährlich ist, der Grund, hier sind keine evaluativen Eigenschaften im Spiel. Doch das Beispiel zeigt nicht, was es zeigen soll. Denn dass es gefährlich ist, alkoholisiert zu fahren, ist nicht für sich genommen ein Grund, es nicht zu wollen. Es ist nur dann ein Grund, wenn man sich der Gefahr nicht aussetzen will. Wem die Gefahr gleichgültig ist, für den ist, dass es gefährlich ist, kein Grund, es nicht zu wollen. Und für den, der die Gefahr gar sucht, ist es im Gegenteil ein Grund, in diesem Zustand zu fahren. Auch hier ist der Grund offensichtlich wollensrelativ. Das Beispiel tendiert dazu, das zu überdecken. Es suggeriert, die Gefährlichkeit allein, unabhängig von jeglichem Wollen, sei der Grund. Aber das wirkt nur plausibel, weil wir eine Gefahr gewöhnlich als etwas verstehen, was man nicht will.Wo von einer Gefahr die Rede ist, assoziieren
11 Scanlon, What We Owe to Each Other, 34. – Scanlon bietet in seiner Konzeption wollensunabhängiger Gründe mehrere Beispiele von der Art des Alkoholbeispiels. So sind in seinen Augen auch die Tatsachen, dass ein Hut rosa ist (56), dass eine Entdeckung neues Licht auf die Ursachen von Krebs wirft (97) oder dass ein Mitglied einer Gruppe, für die man ein Restaurant auswählt, ein italienisches Restaurant vorzieht, wollensunabhängige Gründe. Scanlon bietet aber auch Beispiele eines zweiten, ganz anderen Typs, in denen nämlich das Angenehmsein von etwas der Grund ist. Die natürliche Tatsache, dass etwas angenehm ist oder sein wird, ist, so sagt Scanlon mit dieser Art von Beispielen, ein – wollensunabhängiger – Grund, etwas zu tun oder zu wollen. Auf Theorien dieser zweiten Art werde ich in Teil VI. eingehen.
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wir sofort das Nicht-Wollen. Und nur deshalb scheint es einleuchtend, dass die Gefahr allein ein Grund sein kann. Tatsächlich kann sie nur ein Grund sein, wenn sie nicht gewollt (oder gewollt) wird. Die Tatsache, dass etwas mit größerer Wahrscheinlichkeit die-und-die Konsequenzen haben wird, kann für sich genommen kein Grund sein, es zu wollen oder nicht zu wollen. Eine natürliche, wollensunabhängige Tatsache wie diese betrifft mich nicht, ihr fehlt der Ich-Bezug, das Element des „für mich“. Sie gewinnt erst Bedeutung für mein Wollen und Handeln, wenn die Konsequenzen negativ oder positiv sind, wenn ich sie also will oder gerade nicht will. Dies führt direkt zu der grundsätzlichen Frage, wie es möglich sein soll, dass natürliche, wollensunabhängige Tatsachen die vier Leistungen erbringen, die, wie wir sahen, einen Grund definieren. Wie vor allem ist es möglich, dass eine solche Tatsache dafür spricht, etwas zu wollen? Es liegt in der Konsequenz dieser Theorie, dass die besonderen Gefahren, die das Fahren unter Alkoholeinfluss mit sich bringt, auch dann ein Grund sind, es nicht zu wollen, wenn jemand die Gefahr sucht und sie will. Aber wieso spricht, dass es gefährlich ist, auch für ihn dafür, es nicht zu wollen? Man könnte antworten, unter Alkoholeinfluss zu fahren, sei an sich selbst schlecht, etwas mit einem negativen Wert. Aber damit würde die Theorie ihre eigenen Prämissen aufgeben und in die erste Konzeption zurückfallen und wie diese in einem objektiven Schlechtsein und nicht mehr in naturalen Eigenschaften den Grund sehen. Wie also ist es möglich, dass eine natürliche, wollensunabhängige Tatsache dafür oder dagegen spricht, etwas zu wollen? Dieselbe Frage stellt sich im Blick auf das motivationale Potential eines Grundes. Wie kann eine natürliche Tatsache zu einem Wollen und indirekt zu einem Handeln motivieren? Und auch hinsichtlich der Normativität und des Gewichts eines Grundes stellt sich die Frage, wie sie erklärt werden können. Doch alle diese Fragen finden innerhalb einer Konzeption, die annimmt, dass das Vorliegen natürlicher, wollensunabhängiger Eigenschaften Gründe für ein intrinsisches Wollen sein können, keine Antworten. Deshalb kann ich auch diese zweite Konzeption zurückweisen. Sie scheint mir aussichtslos zu sein.
VI Den bisher betrachteten Theorien ist es nicht gelungen, die Vorstellung, dass es hinter dem intrinsischen Wollen noch Gründe für dieses Wollen gibt, verständlich zu machen. Es scheint auf erhebliche Schwierigkeiten zu stoßen, diese Idee plausibel zu entwickeln. Beide Vorschläge, die ich diskutiert habe, blieben erfolglos. Außerdem wurde gezeigt, dass es intrinsisches Wollen ohne Gründe gibt. Ist die Idee letzter Gründe hinter dem intrinsischen Wollen damit schon erledigt?
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Nein, es ist wichtig, noch auf einen weiteren Vorschlag einzugehen. Eine naheliegende Vorstellung, so hatte ich gesagt, ist, dass die Tatsache, dass eine Sache eine bestimmte Eigenschaft hat, der Grund ist, sie zu wollen. Und eine Eigenschaft, die noch zu berücksichtigen ist, ist die Eigenschaft des Angenehmseins. Etwas ist angenehm oder wird angenehm sein, und das ist, so diese Idee, der Grund, es zu wollen. Zum Beispiel wird,wenn einem kalt geworden ist, eine warme Dusche angenehm sein, und das ist der Grund, sie zu wollen. Diese Konzeption scheint attraktiv zu sein. Vielleicht kann sie die Vorstellung wollensunabhängiger Gründe für bestimmte Arten des intrinsischen Wollens doch noch verständlich machen. Warum wirkt sie aussichtsreich? Betrachten wir einige Eigenschaften des Angenehmseins. Zunächst ist, dass etwas angenehm ist, eine empirische Tatsache. Man gerät hier nicht aufs ontologische Glatteis. Es handelt sich also auch um eine natürliche Tatsache, aber – das ist der Unterschied zu der zuletzt betrachteten Konzeption – um eine Tatsache, die einen Ich-Bezug, ein „für mich“ enthält. Dann ist die Bedingung der Wollensunabhängigkeit erfüllt. Dass es jemandem angenehm ist, ein Stück Schokolade zu essen, den Duft von Rosen zu riechen, oder, wenn es ihm kalt geworden ist, warm zu duschen, sind Tatsachen, die wollensunabhängig sind. Sie setzen kein Wollen voraus. Auch wenn der, dem kalt geworden ist, warm duschen will, ist das Duschen nicht angenehm, weil er es will. Es gibt gewiss auch andere Formen des Angenehmseins, die ein Wollen voraussetzen. Aber generell gilt das nicht. Außerdem bedeutet, dass ein Angenehmsein ein Wollen voraussetzt, nicht unbedingt, dass dann das auf das Angenehme gerichtete Wollen nicht intrinsisch, sondern extrinsisch ist. Die Bedingung der Wollensunabhängigkeit für die letzten Gründe ergab sich daraus, dass es um Gründe für ein intrinsisches Wollen geht. Es ist deshalb nicht möglich, hier etwas als Grund zu offerieren, das impliziert, dass man, was man will, deswegen will, weil man etwas anderes will.Wenn ich nun eine Tätigkeit als angenehm empfinde, weil sie genau dazu passt, wie ich mich sehe und sehen will, dann ist dieses Angenehmsein zwar wollensabhängig, dennoch bleibt, wenn ich diese Tätigkeit will, weil sie angenehm ist, dieses Wollen intrinsisch. Extrinsisch ist es hingegen, wenn ich die Tätigkeit will, weil sie dem entspricht, wie ich sein will. Wenn dies richtig ist, würde diese Wollensabhängigkeit das Angenehmsein nicht daran hindern, ein Grund für ein intrinsisches Wollen zu sein. Dann ist – drittens – die Tatsache, dass etwas angenehm ist, ganz unabhängig davon, ob sie wollensunabhängig ist oder nicht, subjektiv. Es ist eine ontologisch subjektive Tatsache, weil etwas nur dadurch angenehm sein kann, dass es als angenehm empfunden wird. Ohne diese subjektive, mentale Komponente gäbe es nichts Angenehmes. Diese Subjektivität ist wichtig, weil mit ihr der Ich-Bezug gegeben ist, von dem ich bereits gesprochen habe: Etwas ist immer einer Person
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angenehm, es ist mir angenehm, und deshalb geht mich diese Tatsache an, sie affiziert mich. Damit hängt – viertens – zusammen, dass die Tatsache, dass etwas angenehm ist, nicht neutral ist. Man mag das, was angenehm ist, und man mag nicht, was unangenehm ist. Das Angenehme zieht einen an, das Unangenehme stößt einen ab. Das Angenehme ist etwas Positives, etwas, worauf sich das Wollen richtet, und das Unangenehme etwas Negatives, etwas, worauf sich das Nicht-Wollen richtet. – Mit der Tatsache, dass das Angenehmsein nicht neutral ist, stoßen wir auf ein für das menschliche Leben grundlegendes Phänomen. Leben heißt Tätigsein, und in welcher Weise die Menschen tätig sind, hängt zu einem großen Teil von ihrem Wollen ab und davon, worauf sich das Wollen richtet. Wer die Struktur und die Ausrichtung des menschlichen Handelns verstehen will, muss deshalb fragen, auf welche Weise das Wollen seine Gegenstände findet. Die Welt, wie sie unabhängig von unseren mentalen Einstellungen ist, ist neutral, sie bietet dem Wollen nichts, auf das es sich richten könnte. Nichts hat hier Eigenschaften, durch die es zu einem Gegenstand des Wollens würde. Hier herrscht völlige Indifferenz. Das intrinsische Wollen ohne Gründe bringt, wie wir sahen, seine Gegenstände gewissermaßen mit. Es ist hier nicht so, dass Gegenstände, unabhängig vom Wollen, in irgendeiner Weise positiv oder negativ ausgezeichnet sind und das Wollen dem dann folgt. Es ist nicht so, dass die Gegenstände des Wollens unabhängig vom Wollen eine Eigenschaft haben, aufgrund deren sie gewollt werden. Positiv und negativ werden die Gegenstände hier vielmehr allein dadurch, dass sie gewollt bzw. nicht gewollt werden. Das Wollen selbst schafft Positivität und Negativität und trägt sie in die neutrale Welt hinein. Wir können jetzt, nachdem gesagt wurde, das Angenehmsein sei nichts Neutrales, sondern etwas Positives, sehen, dass es noch eine andere Art gibt, in der das Wollen zu seinen Gegenständen kommt. Es gibt in der Welt an einer Stelle und, wie es scheint, nur an dieser einen Stelle dem Wollen vorausgehende Positivität und Negativität, nämlich da, wo etwas angenehm oder unangenehm ist. Hier bringt das Wollen seine Gegenstände nicht mit, sondern richtet sich auf Gegenstände, die von ihm unabhängig eine Eigenschaft haben, aufgrund deren sie gewollt werden. Wobei, daran sei erinnert, dass etwas angenehm oder unangenehm ist, selbst schon eine subjektive Tatsache ist, die eine mentale Komponente enthält, und keineswegs ein Element der objektiven, von unserer Mentalität unabhängigen Welt. Es scheint hiernach zwei Stämme des intrinsischen Wollens zu geben: den einen Stamm, bei dem das Wollen seine Ausrichtung mitbringt, generisch aufgrund unserer evolutionären Geschichte, individuell aufgrund persönlicher Prägungen und Lebensumstände. Und den anderen Stamm, bei dem das Wollen sich
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auf unabhängig von ihm ausgezeichnete Gegenstände richtet, eben auf das, was angenehm ist, und das, was unangenehm ist. Zuletzt – fünftens – ist noch festzuhalten, dass das Angenehmsein ein Mehr oder Weniger kennt. Was ist mit diesen Feststellungen gezeigt? In jedem Fall, dass das Angenehmund Unangenehmsein für die Ausrichtung eines Teils des intrinsischen Wollens eine zentrale Rolle spielt. Und auch, dass die Tatsache, dass etwas angenehm ist, Eigenschaften hat, die sie haben muss, wenn sie ein Grund für ein intrinsisches Wollen sein soll. Aber ist damit auch schon gezeigt, dass sie tatsächlich ein solcher Grund ist? Viele Autoren nehmen an, dass es so ist, ohne weitere Argumentation und ohne eine Alternative auch nur in Erwägung zu ziehen. Das mag verschiedene Gründe haben. Einer liegt möglicherweise darin, dass man auf diese Weise endlich das gefunden zu haben glaubt, was man lange suchte: Gründe für das intrinsische Wollen oder zumindest einen Teil des intrinsischen Wollens. Wichtiger ist aber etwas anderes. Nämlich dass, wenn man fragt, warum jemand dies oder jenes intrinsisch will, die Antwort „weil es angenehm ist“ so passend und plausibel ist. Dies scheint zu zeigen, dass das Angenehmsein der Grund für das Wollen ist. Wir haben aber schon gesehen, dass die „Warum“-Frage und entsprechend auch das „weil“ in der Antwort ambivalent sind. Mit „warum“ fragt man generell nach einer Erklärung, und manchmal hat die Erklärung mit Gründen zu tun. „Warum“ bedeutet dann: „aus welchen Gründen“. Manchmal hat die Erklärung hingegen nichts mit Gründen zu tun, und „warum“ bedeutet dann: „wie kommt es, aus welchen Ursachen“. Dasselbe gilt für das „weil“. Dieser Unterschied wird leicht verwischt,weil man im Deutschen auch im zweiten Fall von einem Grund sprechen kann. Wenn eine Brücke infolge eines Erdbebens zusammengebrochen ist, kann man sagen, dass das Erdbeben der Grund für das Zusammenbrechen der Brücke war. „Grund“ steht in dieser Verwendung ganz allgemein für das, was ein Ereignis erklärt. Und nicht für das, was für etwas spricht. Das Erdbeben sprach nicht dafür, dass die Brücke zusammenbrach. Ihr Zusammenbrechen war keine Handlung, und niemand hat überlegt, was dafür spricht, diese Handlung zu tun oder zu wollen. Das Erdbeben hat das Zusammenbrechen der Brücke vielmehr verursacht. Man muss also die spezielle Rolle von „Grund“ im Sinne des Sprechens-für unterscheiden von dem weiteren Gebrauch des Wortes für alles, was erklärt, warum etwas geschieht. Wenn wir von Gründen für Handlungen oder fürs Wollen sprechen, meinen wir Gründe im ersten Sinn. Wenn man nicht aufpasst, rutscht man allerdings unversehens in die andere Verwendung des Wortes hinein. Ein Grund ist dann nur noch etwas, was etwas erklärt. – Mit diesen Überlegungen zeigt sich, dass sich aus dem Umstand, dass wir auf die Frage, warum jemand etwas will, antworten: „weil es angenehm ist“, nicht ergibt, dass das eine der Grund für das andere ist, im Sinne davon, dass das eine für das andere spricht. Es ergibt sich nur
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– und das ist auch unfraglich –, dass die Tatsache, dass etwas angenehm ist, ein entsprechendes Wollen erklärt. Und tatsächlich könnte jemand angesichts der bisherigen Darlegungen die Gegenposition vertreten und sagen: Die Beziehung zwischen dem Angenehmsein und dem Wollen des Angenehmen ist keine Gründe-Beziehung, es ist keine normative Beziehung, sondern eine kausale Beziehung. Dass etwas angenehm ist, ist nicht der Grund, es zu wollen, sondern die Ursache davon, dass wir es wollen. Wenn etwas angenehm ist, ist es automatisch der Gegenstand des Wollens. Und wenn etwas unangenehm ist, ist es automatisch der Gegenstand des VermeidenWollens. Wenn man auf die angeführten Eigenschaften des Angenehmseins schaut, ist es mit der vierten Eigenschaft ja schon gesagt: Das Angenehme zieht einen, so hieß es da, an, das Unangenehme stößt einen ab. Das heißt nichts anderes als, dass man, was angenehm ist, eo ipso will und, was unangenehm ist, eo ipso nicht will. Das Wollen folgt hier kausal dem Angenehmen. – Soweit dieser Einwurf. Es gibt also, das wird häufig nicht gesehen, zwei Möglichkeiten, die Relation des Angenehmen zum Wollen zu verstehen. Einmal ist das Angenehmsein der Grund des Wollens, und das andere Mal erklärt es das Wollen kausal, ohne ein Grund zu sein. Im einen Fall würden wir unser intrinsisches Wollen im Zuge einer Überlegung und im Blick auf Gründe steuern, im anderen Fall würde unser Wollen, kausal bestimmt, dem Angenehmen folgen. Wenn der Unterschied soweit geklärt und verdeutlicht ist, wird es, so meine ich, auch möglich, die Frage zu entscheiden. Möglicherweise sind wir versucht, hier eine Gründe-Relation anzunehmen, – die Rede von „warum“ und „weil“ ist ohne Zweifel verführerisch.Vielleicht haben wir ohnehin eine Tendenz, im Bereich des Mentalen, dessen Verständnis für unsere Selbstdeutung so wichtig ist, Ursachen in Gründe umzuinterpretieren. Dennoch scheint mir, schaut man auf das Phänomen, deutlich hervorzutreten, dass die Relation eine kausale und keine normative ist. Wenn jemand aktuell an migräneartigen Kopfschmerzen leidet, ist es eine Automatik, dass er diese nicht will und ein Ende der Schmerzen wünscht. Dieses Wollen ist nicht das Ergebnis einer Überlegung, es ist nicht so, dass für dieses Wollen etwas spricht. Das Unangenehmsein der Schmerzen zieht das Wollen vielmehr notwendigerweise an. Das Unangenehmsein ist kausal verbunden mit dem Wunsch: Nicht weiter! und später mit einem: Nicht nochmal!, das Angenehme mit einem: Weiter so! und später mit einem: Noch einmal! Wobei das Wollen, von dem hier die Rede ist, natürlich ein pro-tanto-Wollen ist. Auch der Wunsch, etwas Angenehmes möge andauern – oder etwas Unangenehmes möge verschwinden, konkurriert mit all dem, was man sonst noch will. Die Auffassung, die fragliche Relation sei kausal und nicht normativ, wird durch weitere Überlegungen gestützt. Zunächst: Wenn jemand einen Grund hat,
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mit dem Marathon-Training zu beginnen, weil er den Marathon im Herbst laufen will, kann es sein, dass er dennoch nicht trainiert. Er verhält sich gegen den Grund, den er hat. Und diese Möglichkeit ist charakteristisch für das normative Müssen, das mit einem Grund gegeben ist: es ist nicht determinierend, man kann anders handeln. Ist es aber möglich, dass jemand, der Migräne hat, aus diesem Zustand nicht herauswill? Wenn das Unangenehmsein ein Grund wäre, diesen Zustand nicht zu wollen, müsste es möglich sein, indifferent zu sein und nicht aus diesem Zustand herauszuwollen. Tatsächlich scheint das aber nicht möglich zu sein. Zweitens und unmittelbar anschließend: In einem Kontext des Überlegens kann man zu jemandem sagen: Du solltest mit dem Marathon-Training beginnen. In einem Kontext des Überlegens und der Gründe können wir einen solchen Rat oder eine solche Aufforderung an jemanden richten. Aber dem, der unter Migräne leidet, zu sagen: Du solltest diesen Zustand nicht wollen, wäre bizarr, eine Bemerkung ohne jeden Sinn. Das zeigt nur, dass dieses Wollen überhaupt nicht in einem Kontext des Überlegens und des Gründebezugs steht. Drittens. Nehmen wir an, jemand hätte Migräne, würde aber nicht aus diesem Zustand herauswollen. Käme er uns vor wie derjenige, der mit dem MarathonTraining beginnen muss, es aber nicht tut? Würden wir sagen, dass er nicht überlegt hat, dass er etwas, wofür er einen Grund hat, nicht tut? Oder würden wir nicht viel eher sagen, dass mit ihm etwas nicht stimmt? Er ist in einem unangenehmen Zustand, will ihn aber nicht loswerden. Wir könnten das gar nicht verstehen. Diese Überlegungen zeigen, so meine ich, dass das Angenehme die Ursache des Wollens ist, aber nicht sein Grund. Das menschliche Wollen geht seiner Natur nach auf das Angenehme und Unangenehme. Diese Ausrichtung wird nicht durch eine Überlegung gesteuert, sondern ist durch die Natur vorgegeben. Wir können gar nicht anders als, das Angenehme zu wollen und das Unangenehme nicht zu wollen. Hume hat das Phänomen bereits in dieser Weise beschrieben. Er kennt, wie wir sahen, Wünsche, die von Natur aus auf einzelne Inhalte gehen, ohne dass sie dem Wollen vorausgehend und unabhängig von ihm positiv oder negativ ausgezeichnet wären. Beispiele sind die Liebe zum Leben oder das Aussein auf Ansehen. Daneben gibt es aber das generelle Streben nach dem Angenehmen und das generelle Nicht-Wollen des Unangenehmen.¹² Hier geht das Angenehm- und Unangenehmsein dem Wollen voraus. Aber auch hier ist es ein „original instinct“, der das Wollen auf das Angenehme ausrichtet. Der Geist strebt, so Hume, „by an 12 Hume, A Treatise of Human Nature, II, iii, 3, p. 417: „… the general appetite to good, and aversion to evil.“ Dass „good“ hier für „pleasure“ steht und „evil“ für „pain“, macht unter anderem eine Passage, p. 439, deutlich, wo Hume im selben Kontext von „good and evil“ spricht und hinzufügt „or in other words, pain and pleasure.“ Vgl. auch p. 276 und p. 399.
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original instinct“ danach, das Gute, das heißt hier: das Angenehme zu erreichen und das Schlechte, das heißt das Unangenehme zu vermeiden.¹³ Deshalb ist es, wenn jemand das Angenehme will oder das Unangenehme nicht will, sinnlos, nach einem Grund hierfür zu fragen.Wenn jemand etwas für seine Gesundheit tut, weil, krank zu sein, mit Schmerzen verbunden ist, kann die Frage, warum er keine Schmerzen haben will, keine Frage nach einem Grund sein. Denn es gibt keinen Grund („reason“), „why he hates pain.“ Hier nach einem Grund zu fragen, ist, so Hume, „an absurdity“.¹⁴
VII Wenn diese Überlegungen richtig sind, scheitert auch der dritte Versuch, die Idee letzter Gründe hinter dem intrinsischen Wollen verständlich zu machen. Und damit scheitert diese Idee, so meine ich, insgesamt. Es gelingt nicht, die Vorstellung, dass es hinter dem intrinsischen Wollen noch Gründe für dieses Wollen gibt, überhaupt plausibel zu explizieren.Wir hatten bereits gesehen, dass die Idee, Gründe fürs Handeln gingen auf Gründe fürs Wollen zurück und die originären Gründe seien deshalb wollensunabhängige Gründe fürs intrinsische Wollen, nicht überzeugend ist.Wir können jetzt hinzufügen, dass diese Idee mit Dingen handelt, die es gar nicht gibt. Diese Gründe hinter dem intrinsischen Wollen, mit denen hier argumentiert wird, die gibt es nicht. Das intrinsische Wollen ist ein Wollen ohne Gründe. Wir haben dieses Wollen, aber nicht aus Gründen. Ich kehre damit zu der Auffassung zurück, dass praktische Gründe wollensrelativ sind. Das Wollen geht den Gründen voraus, nicht die Gründe dem Wollen. Sind die Gründe wollensrelativ, sind sie letzten Endes auf ein intrinsisches Wollen bezogen, und damit auf ein Wollen, das seinerseits nicht mehr begründet ist. Wir haben gesehen, dass ein faktisches, nicht weiter qualifiziertes Wollen für die Konstitution von Gründen ausreicht. Ein faktisches Wollen und eine Notwendigkeitsbeziehung konstituieren einen Grund. Die Kombination dieser zwei Elemente erbringt, wie wir sahen, alle Leistungen, durch die ein Grund definiert ist.
VIII Vielleicht am Ende noch ein Wort zu dem Bedenken, dass, wenn diese „interne“ Konzeption praktischer Gründe wahr ist, das praktische Überlegen und unser
13 Ebd. II, iii, 9, p. 438. 14 Hume, An Enquiry Concerning the Principles of Morals, app. I, p. 293.
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Handeln insgesamt an die Kontingenz faktischer Wünsche ausgeliefert ist. Wir sind dann an eine Faktizität gebunden, und die Handlungsgründe haben hierin ihren letzten Ursprung. Gerade das, was dem Wollen und Handeln letzten Endes seine Richtung gibt, ist dann nicht gewählt, sondern gegeben. Es scheint, das legen die vorangegangenen Überlegungen nahe, zwei Stämme des intrinsischen Wollens zu geben. Bei dem einen Stamm gehen dem Wollen keine von ihm unabhängig positiv oder negativ ausgezeichneten Gegenstände voraus. Das Wollen bringt seine Ausrichtung, seine Gegenstände mit, und Positivität und Negativität haben die Gegenstände des Wollens allein dadurch, dass sie gewollt bzw. nicht gewollt werden. Bei dem zweiten Stamm gehen dem Wollen unabhängig von ihm bereits positiv oder negativ ausgezeichnete Gegenstände voraus, nämlich Dinge, die angenehm oder unangenehm sind. Das Wollen folgt dann automatisch dem Angenehmen und dem Unangenehmen. Wenn man bei einem intrinsischen Wollen der ersten Art gefragt wird, warum man das will, kann man nur sagen: Es ist so, dass ich es will; es ist Teil der menschlichen Natur oder Teil meiner Person, meiner Individualität. Bei einem Wollen der anderen Art kann man sagen, dass man es will, weil es angenehm ist. Wobei dass das Wollen auf das Angenehme geht, wiederum Teil der menschlichen Natur ist. All dies ergibt, so die Überlegung, ein Bild, nach dem wir in unserem Wollen an eine vorgegebene Faktizität gebunden sind. Es liegt auf der Hand, dass ein genaueres Eingehen auf diesen Einwand weit über diesen Aufsatz hinausführen würde. Er berührt offenkundig tiefliegende Fragen des menschlichen Selbstverständnisses. Da er aber großen, auch untergründigen Einfluss auf die Diskussion über praktische Gründe hat, – und auch damit das Bild, das hier entsteht, nicht allzu primitiv ist, möchte ich dennoch wenigstens einige Bemerkungen machen. Zunächst verliert der Einwand, wie ich glaube, schon viel von seiner Kraft, wenn man noch einmal konkret zum Beispiel das Weiterleben-Wollen betrachtet. Dieses Wollen schafft ohne Zweifel eine Vielzahl von Handlungsgründen. Wir haben, weil wir weiterleben wollen, Gründe, all das zu tun, was dafür notwendig ist. Dennoch ist dieses Wollen ein Wollen ohne Gründe. Wir haben hier also genau die vermeintlich problematische Struktur: Ein Wollen, das selbst nicht begründet ist, schafft eine große Zahl von Handlungsgründen. Und es fällt uns, wie schon gesagt, nicht schwer, sie als Handlungsgründe zu akzeptieren und ihnen ihr Gewicht in unserem Handeln zu geben. Denn wir sind es, die dieses Wollen haben, wir sind es, die weiterleben wollen. Dann: Jedes intrinsische Wollen, von dem die Rede war, ist nur ein pro-tantoWollen. Das heißt, es steht in der Konkurrenz mit anderem, was wir sonst noch wollen, und es ist offen, ob und in welchem Maße es handlungsleitend wird. Auch wenn wir ein Wollen haben, das zu unserer generischen Natur gehört und das wir
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nicht loswerden können, ist damit nicht entschieden, welche Bedeutung es für das Handeln gewinnt. Das ist eine Sache des Abwägens und Überlegens. Dann – drittens. Die Menschen können sich zu ihrem Wollen verhalten, sie haben ein reflexives Verhältnis auch zu ihrem Wollen. So können sie überlegen, wie es dazu gekommen ist, dass sie das wollen, was sie wollen. Und so kann jemand aufdecken, dass in der Genese eines für ihn charakteristischen und prägenden Wollens zum Beispiel eine falsche Form von Ehrgeiz eine entscheidende Rolle gespielt hat. Das Wollen wird im Zuge dieser Einsicht brüchig, es wird an Gewicht verlieren oder sogar ganz verschwinden. Genauso wenn sich jemand bewusst wird, dass ein Wollen seine Quelle in einer übertrieben starken Reaktion auf eine zurückliegende Verletzung hat. Man kann sich auch von vorneherein bewusst sein, dass ein Wollen, das man hat, ein fehlgeleitetes, schlechtes Wollen ist und dass die Gründe, die es schafft, schlechte Gründe sind. Man denke an die Frau, die unter einer Agoraphobie leidet. Sie will den Marktplatz nicht betreten, weil sie Angst hat. Aber sie weiß, dass die Angst irrational ist und das Wollen deshalb auch irrational ist. Sie möchte es loswerden oder sich zumindest möglichst wenig von ihm bestimmen lassen. – Diese Beispiele zeigen bereits, dass wir unser eigenes Wollen, auch das intrinsische, kritisch beurteilen können und dass das Folgen hat. Wir können ein Wollen modifizieren oder ganz zum Verschwinden bringen. Die Menschen sind – viertens – Lebewesen mit einem sehr weitreichenden Zukunftsbewusstsein und infolgedessen mit einer äußerst ausgeprägten Fähigkeit zur Imagination. Sie können sich deshalb ausmalen, dass ihr Leben so verlaufen könnte, aber auch so oder so. Und sie überlegen deshalb, welches Leben sie am ehesten wollen und in welcher Weise sie es führen wollen. Sie haben, mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger explizit, ein Wollen, das sich auf das Leben insgesamt richtet. Und sie haben, damit zusammenhängend, eine Vorstellung davon, eine Person welcher Art sie sein wollen. Sie haben also verschiedene, die einzelnen Situationen weit übergreifende Wünsche, und diese Wünsche haben im Netz ihres Wollens eine dominante Position und eine fast überall wirksame Präsenz. Die meisten unserer Wünsche messen wir an diesem Maßstab – passen sie zu dem, wie wir leben und sein wollen? – und verändern sie gegebenenfalls oder geben sie auf. So bildet, wenn jemand die Art seines Ehrgeizes als falsch empfindet und das daraus resultierende Wollen deshalb kritisch beurteilt, vermutlich eine Vorstellung davon, wie er sein und nicht sein will, den Maßstab für diese Einschätzung. Ein intrinsisches Wollen steht, so zeigt sich, nicht nur in Konkurrenz zu anderen Wünschen, es wird häufig zusätzlich, gleichsam von einer höheren Warte aus, an einem speziellen Maßstab geprüft. Das Gefüge des Wollens ist also auf eine für den Menschen typische Weise komplexer, und es bedarf einer entsprechend komplexen Abwägung, bevor die Entscheidung fällt, welches
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Wollen in welcher Weise handlungsleitend wird. Natürlich ist es eine schwierige und wahrscheinlich nur partiell zu beantwortende Frage, wie dieses weiterreichende, das eigene Leben und das eigene Sein betreffende Wollen entsteht und was seine Quellen sind. Klar ist immerhin, dass es von ganz anderer Art ist als das Weiterleben-Wollen. Seine Genese ist vielschichtiger, die jeweilige Person ist an ihr ganz anders beteiligt, und in sie gehen eine Reihe kreativer Elemente ein. Die Rede von der Faktizität und Kontingenz hat hier jedenfalls einen ganz anderen Klang. Zuletzt: Ein Teil des intrinsischen Wollens geht, wie wir sahen, auf das Angenehme bzw. Unangenehme. Wovon hängt aber ab, was uns angenehm ist und was nicht? In den Fällen des körperlichen Angenehmseins hängt es einfach von der Beschaffenheit unseres Körpers ab. Aber es gibt andere Formen des Angenehmseins. Bei ihnen gibt es häufig deutliche Unterschiede von Individuum zu Individuum; dem einen ist etwas angenehm und dem anderen nicht. Das deutet darauf hin, dass, was angenehm ist, auch von subjektiven Faktoren abhängt, auf die man Einfluss hat und die man steuern kann. Es war eine der Kernthesen der antiken Ethik, wie wir sie bei Platon und Aristoteles finden, dass, was uns angenehm ist, wenigstens zum Teil von unserer seelischen Disposition abhängt. Und auf diese Disposition haben wir durchaus einen Einfluss.¹⁵ Dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Ein anderer, nicht weniger wichtig, ist dieser: Das Wollen geht nicht nur auf das, was wir als angenehm empfinden oder als angenehm empfunden haben. Wir können Dinge als angenehm imaginieren. Wir können uns vorstellen und ausmalen, dass dieses oder jenes angenehm sein wird, und das Wollen folgt dann dem imaginierten Angenehmen. Hier öffnet sich ein weites Feld für Kreativität. Es wäre also falsch, anzunehmen, unser Wollen klebe an dem, was man bereits als angenehm kennengelernt hat. Es geht vielmehr weit darüber hinaus, dem folgend, was wir uns in der Imagination als angenehm vorstellen. Diese Bemerkungen mögen genügen, um wenigstens anzudeuten, dass die Ausrichtung des intrinsischen Wollens, auch wenn es keine Gründe hinter sich hat, durch erhebliche aktive Anteile mitbestimmt wird.Was wir wollen, wird nicht nur durch passive, sondern auch durch aktive Elemente bestimmt. Und es ist möglich, die aktiven Anteile zu vergrößern, – zum Beispiel dadurch, dass man sich die Genese des eigenen Wollens stärker bewusst macht, oder dadurch, dass man sich darum bemüht, dass einem nicht das Falsche angenehm oder unangenehm ist. Es ist nicht leicht, das Gewicht der aktiven und der passiven Elemente zu taxieren. Ganz falsch wäre es, die passiven Elemente zu leugnen oder kleinzure-
15 Vgl. Platon, Nomoi II, 653 a 5-c4; Aristoteles, Nikomachische Ethik II, 2. 1104 b 9 – 13; III, 6. 1113 a 31– 33; X, 5. 1176 a 10 – 24.
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den. Genauso falsch wäre es aber auch, die aktiven Elemente in ihrer Vielfalt und Komplexität zu unterschätzen.
9 Warum moralischer Kontraktualismus? I In jeder Gesellschaft gibt es eine Moral, also ein Ensemble von Regeln oder Normen, die man befolgen muss, wenn man nicht anecken will. Wenn man nicht will, dass die anderen sich über einen aufregen und man in ihren Augen an Anerkennung und Wertschätzung verliert. Und wenn man – da die Reaktionen der anderen über die Erziehung und das Hineinwachsen in die Gesellschaft internalisiert werden – nicht mit sich selbst ins Unreine kommen und an Selbstschätzung verlieren möchte. Die Moral macht sich ein elementares Streben der Menschen zunutze, das Streben nach Anerkennung und Akzeptanz durch andere und durch sich selbst. Die erstrebte Anerkennung wird zentral an moralisches Verhalten gekoppelt, so dass man sich, weil man anerkannt werden will, moralisch verhalten muss. Nun gibt es nicht nur in jeder Gesellschaft eine Moral, es gibt in verschiedenen Gesellschaften verschiedene Moralen. Es mag einen Kernbereich geben, in dem sie übereinstimmen, aber es kann daneben deutliche Unterschiede geben, so dass das Leben in der einen Gesellschaft ganz anders aussehen kann als in einer anderen. Hier ist es möglich, sich in einer Weise zu verhalten, die in einer anderen Gesellschaft anstößig wäre. Oder es kann hier etwas moralisch anstößig sein, was anderswo moralisch gebilligt ist und worüber sich niemand aufregt. Eine Moral, in dieser Weise als ein Set von informellen sozialen Regeln verstanden, ist offenkundig ein Artefakt, eine Hervorbringung der Menschen, die ihr gemeinsames Leben so oder so einrichten. Eine solche Institution kann natürlich auf gut und schlecht hin beurteilt werden. Eine Moral kann Vorzüge gegenüber anderen Moralen haben, und sie kann Mängel haben. Und auch ganz unabhängig vom Vergleich mit anderen Moralen kann man eine Moral kritisieren, in toto, im Blick auf ihre Fundierung, oder partiell, im Blick auf einzelne Normen. Dabei kann die Kritik von verschiedener Art sein. So kann man finden, dass einem die Moral zu viel abverlangt. Dass zu viele Handlungen moralisch verboten sind oder als moralisch falsch gelten. Moralische Normen nehmen einem wie alle Normen Freiheiten. Man kann nicht tun, was man vielleicht gerne tun würde. Und man muss tun, was man vielleicht gerne lassen würde. Wer findet, dass die Moral zu viel verlangt, meint also, dass sie zu sehr die Freiheit beschneidet. Sie geht weiter, als es einem recht ist. Ein Beispiel: Ich möchte eine Abtreibung vornehmen lassen, würde damit aber in der Gesellschaft, in der ich lebe, auf erhebliche Widerstände stoßen. Eine Abtreibung ist in dieser Gesellschaft moralisch (und deswegen vielleicht auch rechtlich) verboten. Das schnürt mich empfindlich ein, diese Freiheitsbegrenzung will ich nicht. Die Moral
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hat also eine Seite, die mit dem, was ich will, kollidiert. Diese ablehnende Haltung, die die Moral allein an den eigenen Wünschen misst, enthält genau genommen noch keine Kritik.Viele Dinge sind anders, als man sie gerne hätte. Das heißt noch nicht, dass man sie kritisiert oder kritisieren kann. Jemand kann einem mit seinen Eigenarten auf die Nerven gehen, aber das heißt nicht, dass man ihn kritisieren kann, dass man ihm vorhalten kann, dass er etwas falsch macht. Man kann nicht nur finden, dass die Moral zu viel verlangt, sondern auch dass sie zu wenig verlangt. Dadurch sind Handlungen moralisch möglich, von denen ich wünschte, sie seien nicht möglich. So kann es sein, dass ich Handlungsweisen ausgesetzt bin, vor denen ich geschützt sein möchte und vor denen mich eine bessere Moral schützen würde. Es ist also für mich schlecht, dass die Moral nicht mehr verlangt. Oder ich wünsche mir weitergehende Hilfspflichten in Notsituationen. Die Moral hat hier in meinen Augen eine beklagenswerte Lücke. Diese Ablehnung der Moral, weil sie zu wenig verlangt, muss nicht auf die eigene Person bezogen sein. Man kann sich wünschen, dass die Moral Regelungen enthält, die Tiere stärker schützen. Auch hier könnte man sagen, dass noch keine wirkliche Kritik vorliegt. Man hätte gerne eine andere Moral, aber es gibt, wie gesagt, viele Dinge, die einem nicht gefallen, die man deswegen aber nicht kritisieren kann. So wie die Moral ist, entspricht sie eben in verschiedenen Punkten nicht dem, was man will. So klar es ist, dass eine solche nicht-moralische Ablehnung der Moral – entweder in die Richtung des Zuviel oder in die des Zuwenig – aus einer bestimmten Sichtweise möglich ist, so klar ist auch, dass die Diagnose des Zuviel oder Zuwenig in aller Regel eine moralische Kritik enthält: Die Moral verlangt zu viel von mir, und das ist nicht nur etwas,was mir nicht gefällt, es ist moralisch nicht in Ordnung. Sie nimmt mir Freiheitsräume ohne Recht, ohne Legitimation. Das ist selbst etwas Unmoralisches. Diese moralische Kritik braucht offenkundig selbst schon eine moralische Norm als Grundlage, eine moralische Norm, an der sie die gegebene Moral misst. Sie kann diese Norm in der kritisierten Moral selbst finden, sie gewissermaßen aus der Moral herausziehen und sie dann gegen die Moral wenden. So etwa die Norm, dass man die Freiheit anderer nicht einschränken darf, es sei denn, dass besondere Bedingungen erfüllt sind. Oder aber die moralische Kritik stützt sich auf eine moralische Norm, die nicht aus der jeweiligen positiven Moral kommt, sondern von der angenommen wird, dass sie unabhängig von ihr existiert. Locke etwa nahm an, dass die Menschen von Natur aus ein grundlegendes Recht auf Freiheit haben und Einschränkungen dieser Freiheit deshalb nur unter besonderen Ausnahmebedingungen moralisch erlaubt sind. Ganz ähnlich bei der Kritik des Zuwenig. Auch in diesem Fall wird die Kritik häufig so vorgebracht, dass es moralisch nicht in Ordnung ist, in bestimmten Dingen durch die Moral nicht geschützt zu sein. Man hat, so die Idee, ein mora-
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lisches Recht darauf, dass man moralisch geschützt wird. Auch hier bedarf es natürlich einer moralischen Norm, die einem ein solches Recht gibt und auf die sich diese Kritik stützen kann. Und auch hier kann diese Norm aus der bestehenden Moral herausgezogen und gegen bestimmte Defizite in Anschlag gebracht werden. Oder aber man beruft sich wiederum auf eine überpositive Norm, auf ein Menschenrecht etwa, das man von Natur aus, ganz unabhängig von der positiven Moral hat, oder auf eine ebenso vorpositiv existierende Menschenwürde. Oder auf natürliche Rechte von Tieren oder eine Würde der Kreatur oder Ähnliches. Eine andere noch zu erwähnende Kritik der Moral könnte man kognitive Kritik nennen. Sie könnte kritisieren, dass eine Moral, ganz unabhängig von dem Ausmaß ihrer Forderungen, ihr Fundament in kognitiven Annahmen hat, die man nicht akzeptieren sollte. So könnte eine Moral ihre Basis in mythischen, religiösen oder metaphysischen Annahmen haben, für die es keine hinreichenden Gründe gibt. Eine andere Form der kognitiven Kritik könnte sein, dass das Gefüge einer Moral inkonsistent ist. Es könnte sein, dass sie an einer Stelle etwas verbietet (z. B. bestimmte Formen der Ungleichbehandlung), was sie an anderer Stelle in einem anderen Gewande erlaubt.
II Wie würde nun eine Moral aussehen, die diesen verschiedenen Formen der Kritik genügen könnte? Wie kann man prüfen, ob eine gegebene Moral die richtigen Normen enthält und deshalb die Mitte zwischen Zuwenig und Zuviel trifft? Wie, anhand welchen Maßstabs lässt sich das entscheiden? – Man könnte die Frage auch so stellen: Wenn es in der Gesellschaft, in der man lebt, noch gar keine Moral gäbe, wie sähe die Moral aus, die man für die richtige hielte und für deren Etablierung man eintreten würde? Man kann sich also eine Situation noch ohne eine sozial etablierte Moral denken und sich fragen, wie man dieses Vakuum füllen würde, mit einer wie beschaffenen Moral. Machen wir zunächst drei schnelle, aber schwerwiegende Schritte und weisen wir damit drei mögliche Antworten und die in ihnen enthaltenen Konzeptionen ab. Zunächst können wir die Vorstellung, dass ein höheres Wesen den Menschen eine Moral gegeben hat, von der wir wissen können und die wir dann in der von uns geschaffenen und praktizierten Moral abbilden, aus kognitiven Gründen beiseite lassen. Wir haben keine Gründe, eine solche Konzeption und ihre Prämissen zu akzeptieren. Eine von Gott geschaffene Moral, die der positiven Moral als Modell und Prototyp vorausginge, gibt es nicht, zumindest haben wir keine Gründe, anzunehmen, dass es sie gibt. Das ist ein erster wichtiger Schritt.
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Ebenso kann die Vorstellung zurückgewiesen werden, dass bestimmte Handlungen an sich selbst, unabhängig von uns, moralische Eigenschaften haben, also die Eigenschaften des moralischen Geboten-, Verboten- oder Erlaubtseins. Solche objektiven normativen Eigenschaften gibt es nicht. Es ist nicht so, dass eine Abtreibung an sich selbst die Eigenschaft hat, verboten oder erlaubt zu sein. An sich selbst hat sie weder die eine noch die andere Eigenschaft. Sie hat überhaupt keine normative Eigenschaft. Wir haben keinerlei Vorstellung davon, von welcher Art solche Eigenschaften ontologisch sein könnten. Zurückgewiesen ist damit auch die Vorstellung, dass Personen an sich selbst oder von Natur aus, unabhängig von menschlichen Handlungen oder Einstellungen, einen moralischen Status haben, etwa den, bestimmte Rechte zu haben oder eine Würde zu haben.Wir haben erneut keine Gründe, eine solche Idee zu akzeptieren. Auch hier haben wir nicht die geringste Vorstellung davon,von welcher Art ein solcher Status ontologisch sein könnte und wie man deshalb zum Beispiel erkennen könnte, welche Lebewesen einen normativen Status dieser Art haben und welche nicht. Wie wollte jemand, der behauptet, auch Tiere hätten bestimmte moralische Rechte oder eine zu schützende Würde, oder aber Tiere gerade nicht, eine solche Behauptung plausibilieren können? Dies zu versuchen, wäre ein aussichtsloses Unterfangen. Trotz dieser Feststellungen darf man sich meines Erachtens nicht darüber täuschen, dass viele oder sogar die meisten Menschen die Moral intuitiv objektivistisch verstehen. Die meisten Menschen, so schon die Diagnose von J. L. Mackie, sind moralische Objektivisten. Wenn man die politische Diskussion moralischer Fragen in Deutschland und anderen Ländern verfolgt, etwa über die moralische Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik, kann man erkennen, dass diese objektivistische Moralvorstellung vorherrschend ist. Man sucht danach, zu erkennen, ob diese Diagnostik und die mit ihr verbundene Auswahl von Embryonen an sich selbst verboten oder erlaubt ist. Oder danach, ob die Embryonen an sich selbst eine zu schützende Menschenwürde haben oder nicht. Man sucht nach einer moralischen Gegebenheit, die ganz unabhängig von Menschen existiert und die man nur entdecken muss. Nichtsdestotrotz müssen wir Vorstellungen dieser Art aus ontologischen Gründen über Bord werfen. Auch diese Form einer prototypischen Moral gibt es also nicht. Die Moralphilosophie wird bereits an dieser Stelle, gemessen an den weitverbreiteten objektivistischen Vorstellungen, revisionär. Und die bei Moralphilosophen häufig anzutreffende Angst vor revisionären Positionen erweist sich bereits an dieser Stelle als kleinmütig und den Tatsachen nicht gewachsen. Auch eine dritte, von Kant entwickelte und in verschiedenen Varianten weitergetragene Auffassung über die Basis der Moral können wir zurückweisen, – die Vorstellung, dass die Moral aus der Vernunft oder der reinen Vernunft kommt und
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aus praktischen Gesetzen besteht, die Gebote der Vernunft sind. Die metaphorische Rede von Geboten der Vernunft kann man sich zunächst noch verständlich machen. Man muss verschiedene Dinge, das ist die einfache Tatsache, um die es geht, vernünftigerweise tun.Wenn ich will, dass die Rose im Garten nicht verdorrt, muss ich ihr vernünftigerweise Wasser geben. Und dies kann man dann – etwas hochgestochen – auch so formulieren: Die Vernunft gebietet mir, der Rose Wasser zu geben. Dies ist nicht schwer zu verstehen. Ein Gebot der Vernunft, in dieser Weise verstanden, ist wollensrelativ. Man muss etwas tun dafür, dass etwas geschieht, was man will. Kant und seine Nachfolger sind nun allerdings der Auffassung, die Gebote der Vernunft, aus denen die Moral besteht, seien nicht wollensrelative, sondern wollensirrelative oder, so der Terminus, kategorische Gebote der Vernunft. Man muss nicht vernünftigerweise etwas tun dafür, dass man etwas Gewolltes erreicht, sondern man muss etwas vernünftigerweise tun, Punkt. Diese Konzeption knüpft durchaus an tiefliegende moralische Intuitionen an, so entscheidend an die Intuition, dass Moral und Interessen im Konflikt sind oder aber sein können.Wenn man moralisch handelt, verfolgt man, so die Vorstellung, nicht seine Interessen, ja, man tut etwas, was den eigenen Interessen gegebenenfalls empfindlich zuwiderläuft. Für Kant ist diese Intuition so stark, dass er das moralische Müssen völlig von jedem Wollensbezug ablöst.Wie aber etwas einfachhin, eben nicht bezogen auf das Erreichen von etwas Gewolltem, vernünftig sein kann oder, anders formuliert, wie die Vernunft etwas gebieten kann, einfachhin und nicht bezogen auf ein Wollen, bleibt ein Rätsel. Kant hat im Rückgriff auf Kernelemente seines transzendentalen Idealismus erhebliche Anstrengungen unternommen, dieses Rätsel zu lösen, aber ohne Erfolg. Die Idee einer kategorische Gesetze gebenden Vernunft konnte, so meine ich, niemals überzeugend entfaltet werden. So können wir auch diese Idee eines durch die Vernunft gegebenen Prototyps der Moral verwerfen. – Dass so viele Philosophen hier anderer Meinung sind, liegt in meinen Augen daran, dass sie sich nie der Aufgabe gestellt haben, die Idee kategorischer Vernunftgebote zu explizieren, oder in ihren Versuchen, dies zu tun, deutliche Fehler gemacht haben.
III Wie kommen wir nach diesen negativen Befunden weiter? Wie können wir die richtige Moral finden? Zunächst ist es wichtig, von den drei genannten Konzeptionen wirklich Abschied zu nehmen. Das ist nicht einfach. Selbst wenn man sie an der Vordertür verabschiedet hat, kommen sie durch die Hintertür leicht wieder hinein, weil unsere Vorstellungen vor allem durch die ersten beiden objektivistischen Ideen tief geprägt sind. Die Gestalt, in der die verabschiedeten Konzep-
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tionen wiederkehren, ist gewöhnlich die der „moralischen Intuitionen“, die in der Moralphilosophie eine so große und kaum problematisierte Rolle spielen. In diesen scheinbar unfraglichen Intuitionen verstecken sich allzu oft unaufgedeckte objektivistische Hintergrundannahmen. Es kommt hinzu, dass die Verabschiedung der drei Positionen erhebliche Konsequenzen hat, möglicherweise nicht nur für das Verständnis der Moral, sondern auch für ihre Inhalte. Es ist nicht leicht, sich dem zu stellen.Wenn es aber so ist, dass man diese Konzeptionen verwerfen muss, dann kann man eine aufgeklärte Moralkonzeption nicht kritisieren, weil sie nicht zu bestimmten moralischen Inhalten kommt, die man sich wünscht, weil sie den eigenen Intuitionen entsprechen, die man aber nur von Prämissen einer dieser drei Konzeptionen aus zu erreichen vermag. Man muss hier, wie gesagt, darauf Acht geben, dass diese Konzeptionen nicht doch wieder hineinkommen. Jedenfalls ist, sie wirklich über Bord zu werfen, der Ausgangspunkt des moralischen Kontraktualismus. Es ist der Schritt, ohne den diese Moralkonzeption gar nicht zu verstehen ist. David Gauthier hat, leicht polemisch, gesagt, der moralische Kontraktualismus sei eine „Moraltheorie für Erwachsene“.¹ Sagen wir es so: Eine kontraktualistische Konzeption ist der Versuch eines aufgeklärten Verständnisses der Moral. Wie also kann man zu der richtigen Moral kommen? Nehmen wir an, die Mitglieder einer Gemeinschaft, die bisher noch keine Moral hat, kommen zusammen, um die Grundzüge der Moral festzulegen, die in dieser Gemeinschaft oder Gesellschaft gelten soll. Es ist klar, dass nun niemand sagen kann: Die-unddie Handlungen sind – durch Gott, die Natur oder die Vernunft – verboten, und deshalb müssen wir sie auch in unserer Gemeinschaft sozial ächten und damit auch zu sozial verbotenen Handlungen machen. Es geht nicht darum,was bereits – vorpositiv – verboten ist, sondern darum, was in Zukunft – positiv – verboten sein soll. Vermutlich wird schon bald jemand sagen: Ich möchte, dass mir bestimmte Dinge nicht passieren, dass ich vor bestimmten Dingen geschützt bin. Ich will nicht verletzt, getötet, beraubt, hintergangen, gedemütigt werden, und ich nehme an, dass die anderen dies auch nicht wollen. Deshalb trete ich für Normen ein, die diese Handlungsweisen für alle von uns verbieten. Und ich will auch, dass die anderen mir in existentiellen Notsituationen helfen. Deshalb trete ich für eine Norm ein, die solche Hilfsleistungen verbindlich macht. Nehmen wir an, dass alle dem zustimmen, alle haben dieselben Interessen und plädieren deshalb ebenfalls für die Etablierung dieser Normen.Wird das umgesetzt, entsteht eine erste Gruppe moralischer Regeln. Sie kommen aus den faktischen Interessen der Beteiligten und sind auf vorgängige moralische Gegebenheiten nicht angewiesen. Wenn wir
1 Gauthier, Moral Artifice, 385.
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das Interessengefüge, das einer jeden dieser Normen zugrunde liegt, genauer auseinanderlegen, so ergibt sich Folgendes: Jeder will, dass die anderen ihn nicht verletzen. Und jeder will – das ist etwas Zusätzliches – eine Norm, die Verletzungshandlungen verbietet. Die angestrebte Norm bedeutet natürlich eine Freiheitseinschränkung auch für einen selbst. Doch selbst wenn man das als etwas Schlechtes empfinden sollte – meist wird das nicht der Fall sein, weil man ohnehin nicht vorhat, andere zu verletzen –, würde man diesen Nachteil in Kauf nehmen angesichts des Vorteils, den einem die Norm bietet: die Freiheitsbeschränkung der anderen. Man tauscht gewissermaßen seine eigene Freiheitsbeschränkung gegen die Freiheitsbeschränkung der anderen. Und da einem, was man bekommt, wichtiger ist als das, was man gibt, tritt man für die Etablierung der Norm ein. Und so auch die anderen. Wir haben also eine gleichförmige, von allen geteilte Interessenkonfiguration, die es für alle vernünftig macht, die Norm zu wollen und für ihre Etablierung einzutreten. Diese Interessenkonfiguration ist die kontraktualistische Grundkonstellation. Und es ist genau die Interessenkonfiguration, die einem Vertrag zugrunde liegt. Wenn A und B einen Vertrag wollen, tun sie das, obwohl er sie zu etwas verpflichtet. Er verpflichtet jeden, etwas zu geben, den jeweils anderen aber auch. Und weil einem, was der andere gibt und was man selbst bekommt, wichtiger ist als das, was man selbst gibt und der andere bekommt, ist es aus der Sicht beider Seiten vernünftig, den Vertrag zu wollen. Wäre die Interessenlage bei einem von ihnen anders, würde es nicht zu dem Vertrag kommen. Natürlich schließen die Mitglieder der Gesellschaft keine Verträge miteinander, das können sie ohne Moral gar nicht, und es ist auch vollkommen unnötig. Sie votieren einfach aufgrund der beschriebenen Interessenkonfiguration für die moralischen Normen. Die Moral, die in dieser Weise in den Interessen der Betroffenen fundiert ist, scheint nun den verschiedenen Formen der Kritik standzuhalten. Kognitiv ist an ihr gewiss nichts zu kritisieren. Sie hat ihre Basis allein in den Interessen der Betroffenen und stützt sich nicht auf anspruchsvolle kognitive Annahmen. Dass die Moral zu viel enthält, kann auch nicht sein. Sie enthält nicht mehr als jeder Einzelne will. Sie ist in allem von den Interessen der Beteiligten getragen. Niemand kann deshalb sagen, dass eine Norm nicht seinen Interessen entspricht und er es lieber sähe, wenn es sie nicht gäbe. Dies impliziert bereits, dass die erreichte Moral auch keinen Anlass für eine moralische Kritik bietet. Sie unterdrückt niemanden, weil jeder der Existenz der verschiedenen Normen zustimmt. Wenn eine Norm in meinem Sinn ist und ich selbst dafür eintrete, dass sie existiert, kann sie mich nicht unterdrücken. – Wir können folglich sagen, dass die bisher etablierten Normen auf jeden Fall Teil der richtigen Moral sind. Und sie sind richtig, weil ihnen die kontraktualistische Grundkonstellation, eine bestimmte Interessenkonfiguration, zugrunde liegt.
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Wobei es, obwohl die Imagination des Naturzustands das nahelegt, nicht darauf ankommt, wie eine Norm entstanden ist. Es kommt allein darauf an, dass sie in der beschriebenen Weise von den Interessen der Betroffenen getragen ist. Sie muss eine bestimmte Eigenschaft haben, nämlich einer Konfiguration von Interessen entsprechen, sie muss nicht eine bestimmte Geschichte haben.² Kritisieren kann man an der so weit erreichten Moral nur, dass sie nicht reich genug sei und zu wenige Regelungen enthalte. Aber es ist ja auch erst ein erster Schritt getan. Eine Eigenschaft der bisher entwickelten Moral sei noch hervorgehoben. Jeder der Beteiligten profitiert von jeder Norm, und jeder muss dafür mit einer Freiheitsbeschränkung bezahlen. Man kann auch sagen: Jede Norm schafft für jeden ein Recht, das Recht, dass einem bestimmte Dinge nicht angetan werden oder dass einem in einer Notsituation geholfen wird, und jede Norm schafft für jeden eine Pflicht, die Pflicht, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen.Würde man jedem Mitglied der Gemeinschaft für das Recht, das er hat, als Statusindikator einen grünen Punkt auf die Stirn malen, und als Zeichen für die Pflicht, die er hat, einen roten Punkt, dann hätten alle Mitglieder der Gemeinschaft einen grünen und einen roten Punkt auf der Stirn.³ Alle sind, das zeigt sich darin, in ihrem normativen, näherhin moralischen Status gleich.
IV Wir scheinen mit der Orientierung an den Interessen der Beteiligten einen Weg gefunden zu haben, die richtige Moral aus den vielen möglichen Moralen herauszufiltern. Aber wie geht es weiter? Bisher haben wir sehr basale und allgemein geteilte Interessen zugrunde gelegt, außerdem nur egoistische Interessen. Ich will, dass mir etwas nicht angetan wird, dass mir geholfen wird. Wenn wir zunächst noch bei der Prämisse geteilter Interessen bleiben, können wir einige weitere Schritte tun, die zeigen, dass die Grundlage der oder einer richtigen Moral keineswegs nur egoistische Interessen sein können. Angenommen, bei den Beratungen über die zukünftige Moral wird die Frage aufgeworfen, wie man sich Tieren gegenüber verhalten will. Soll man das Verhalten ihnen gegenüber in bestimmter Weise normieren und ihnen einen normativen Schutz gewähren? Es ist klar, dass wir in diesem Fall nicht die ursprüngliche Interessenkonstellation haben. Es ist nicht so, dass ich von Tieren nicht so und so behandelt werden möchte und deshalb für eine Norm eintrete, die
2 Hierzu genauer Vf., Moralischer Kontraktualismus, in diesem Band S. 11 ff. 3 Diese Idee der grünen und roten Markierungen stammt von E. Tugendhat.
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die Tiere bindet, diese Handlungen zu unterlassen. Tiere kann man nicht normativ binden. Sie können deshalb, kontraktualistisch formuliert, kein Vertragspartner sein. Deshalb besteht hier die für die Ausgangskonstellation typische Reziprozität nicht. Aber es existiert doch eine andere Form der Reziprozität.Wenn ich will, dass Tieren bestimmte Handlungen nicht angetan werden, dann impliziert das den Wunsch, dass die anderen sie nicht so behandeln. Ich habe also doch ein an die anderen adressiertes Interesse, und sie richten reziprok dasselbe Interesse an mich. So dass alle für eine entsprechende Norm eintreten. Der Unterschied besteht nur darin, dass das, was ich von den anderen will, eine Handlung ist, die nicht mir zugute kommt, sondern Dritten, nämlich den Tieren. Ungeachtet dieses Unterschieds wird die Norm von allen getragen, und es gibt keine Möglichkeit der Kritik, gegeben diese Interessenlage. – Würden wir wieder die mit der Norm entstehenden Pflichten mit einem roten Punkt markieren und die entstehenden Rechte mit einem grünen Punkt, hätten alle Mitglieder der Gemeinschaft einen roten Punkt, aber niemand hätte einen grünen Punkt. Grüne Punkte hätten alleine die Tiere, die hingegen keine roten Punkte hätten. In dieser getrennten Verteilung der farbigen Punkte spiegelt sich der Umstand, dass die der Norm zugrunde liegenden Interessen jetzt nicht egoistische Interessen sind, sondern altruistische. Es wäre, so zeigt sich, ein krasses Missverständnis der Moralkonzeption, die ich hier entwickele, wenn man glaubte, sie lege nur egoistische Interessen zugrunde oder funktioniere überhaupt nur bei Zugrundelegung egoistischer Interessen. Die Frage nach den Tieren ist wichtig, aber sehr viel wichtiger ist eine andere Frage, die Frage, wie man sich den Menschen gegenüber verhält, die mit in der Gemeinschaft leben, aber noch zu klein sind, um ihr Verhalten normativ steuern zu können, oder die zu krank sind, um dies zu können. Und die vielleicht auch gar nicht in der Lage sind, etwas zu tun, vor dem man sich schützen will. Auch in diesen Fällen liegt die ursprüngliche Interessenkonstellation nicht vor, es fehlt die typische Reziprozität. Aber auch in diesen Fällen existiert eine andere Form von Reziprozität. Wenn ich will, dass diese Menschen genauso wie die anderen normativ geschützt werden, will ich, dass die anderen sie entsprechend behandeln. Und dass sie, wenn nötig, durch eine Norm dazu angehalten werden. Und die anderen wollen dasselbe von mir. Es kommt also, gegeben diese Interessenlage, auch in diesen Fällen zu der entsprechenden Norm. Wollte man die normative Situation wieder mit Hilfe farbiger Markierungen sichtbar machen, ergäbe sich, dass ein Teil der Menschen nur einen grünen Punkt hätte, aber keinen roten. Darin zeigte sich erneut, dass die der Norm zugrunde liegenden Interessen nicht egoistische, sondern altruistische Interessen sind. Wir müssen an dieser Stelle nicht darüber spekulieren, aus welchen Quellen ein altruistisches Interesse kommt. Eine mögliche Quelle ist das Mitleid, das wir empfinden, wenn wir Menschen und andere empfindungsfähige Lebewesen lei-
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den sehen, oder wenn wir ihr Leiden nur imaginieren.Vielleicht möchte man sogar sagen, auch solchen Normen wie dem Verletzungsverbot liegen nicht wirklich egoistische Interessen zugrunde, sondern das Mitleid, das man empfindet, wenn man sieht, wie jemand verletzt wird, oder es sich nur vorstellt. Ich glaube nicht, dass das die Sache trifft. Das Interesse, nicht verletzt zu werden, ist ein sehr elementares Interesse, das man allen Menschen unterstellen kann. Es ist also in jedem Fall vorhanden und eine Quelle des Wunsches, dass Verletzungshandlungen unterbleiben und geächtet werden. Das Mitleid kann als weitere, freilich nicht in gleicher Weise verlässliche Quelle hinzukommen. Gewiss kann in manchen oder in vielen Fällen dieses Gefühl so stark sein, dass es allein schon ausreichte, den Wunsch, dass niemand verletzt wird, hervorzutreiben. – Einige Philosophen sehen im Mitleid die eigentliche Grundlage der Moral. Eine solche Konzeption zeichnet sich dadurch aus, dass sie ebenfalls die Vorstellungen, die Moral komme aus Gott, der Natur oder der Vernunft, verabschiedet hat.⁴ Dennoch scheint sie mir nicht überzeugend zu sein. Zwei Gründe seien wenigstens stichwortartig genannt. Zum einen unterscheiden sich die Menschen in dem Ausmaß, in dem sie Mitleid empfinden und in dem sie bereit und fähig sind, sich für die Art von Imagination zu öffnen, aus der das Mitleid oft kommt. Und ohne Zweifel kann man nicht fordern, dass jemand Mitleid haben muss. Hier scheint also die allgemein geteilte Basis, deren eine Moral bedarf, zu fehlen oder jedenfalls nicht ausreichend vorhanden zu sein. Und zum anderen – und wichtiger – : das Mitleid als solches schafft keine normativen Phänomene. Das Mitleid ist da, wo es vorhanden ist, die Quelle eines Interesses, des Interesses, dass bestimmte Handlungen unterbleiben, und aus diesem Interesse folgt dann das weitere Interesse, dass es zu einer Norm kommt, die die nicht-gewollten Handlungen verbietet. So dass auch eine Norm, die ursprünglich aus dem Mitleid kommt, eine interessenbasierte Norm ist. Wir haben hier keine Alternative zu einer interessenfundierten Moral. Das Mitleid ist eine der Quellen altruistischer Interessen, und diese spielen, wie gezeigt, in einer Moral, wie sie bisher entfaltet wurde, eine sehr wichtige Rolle.
V Gehen wir nun einen entscheidenden Schritt weiter und geben wir die Prämisse gemeinsam geteilter Interessen auf. Angenommen, man ist sich einig, den Tieren einen begrenzten Schutz zu gewähren. Aber ein Teil der Gemeinschaft will einen weitergehenden Schutz, die anderen wollen dies nicht. Was ist in dieser Situation
4 Dies wird zu Recht von U. Wolf hervorgehoben; vgl. Das Tier in der Moral, 69, 72– 78, 140 – 145.
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zu tun? Man kann einen weitergehenden Schutz etablieren, das ist Möglichkeit A, oder darauf verzichten, das ist Möglichkeit B. Betrachten wir zunächst Variante A, um zu sehen, ob sie der Kritik standzuhalten vermag. Die Mitglieder der Gemeinschaft, die diese Norm nicht wollen, werden sie ablehnen. Zunächst relativ auf die eigenen Interessen: Sie müssen eine Norm und damit eine Pflicht berücksichtigen, die ihnen Freiheitsspielräume nimmt, ohne dafür etwas zu bekommen. Sie sind nicht daran interessiert, dass die Mitglieder der anderen Gruppe Tieren gegenüber weitergehende Pflichten zu beachten haben. Ganz im Gegenteil, sie plädieren ja dafür, dass es nicht so ist. Die Norm ist also nicht in ihrem Interesse. Das ist das Erste. Das Zweite ist, dass sie die Norm auch moralisch kritisieren werden. Die Norm ist, gerade weil sie nicht in ihrem Interesse ist, repressiv; sie werden durch sie unterdrückt. Die Durchsetzung der Norm ihnen gegenüber ist ein Akt bloßer Macht und damit selbst etwas Unmoralisches. Diese Kritik setzt allerdings voraus, dass die bis dahin etablierte Moral bereits ein Verbot, andere zu unterdrücken, enthält. Dies hat eine plausible Wahrscheinlichkeit. Denn wie man nicht verletzt werden will, so will man auch nicht durch andere unterdrückt werden. Man will nicht der Spielball des Willens und der Macht der anderen sein. Wenn alle dieses Interesse haben, und wenn es allen wichtig ist, dieses Interesse in eine Norm umzusetzen, wird die Moral das Unterdrückungsverbot genauso enthalten wie ein Verletzungsverbot, weil die basale Interessenkonfiguration genau dieselbe ist. Auf ein vorpositives, natürliches Freiheitsrecht, wie es so oft behauptet wurde⁵, kann sich die Gruppe hingegen nicht berufen, weil es solche natürlichen Rechte nicht gibt. Die Basis der moralischen Kritik, das Unterdrückungsverbot, muss selbst Teil der bereits etablierten positiven Moral sein.Vorausgesetzt, das Verbot existiert, kann also die Gruppe, die keinen weitergehenden Tierschutz will, eine entsprechende Norm moralisch kritisieren. Ihr würde durch die Moral selbst Unrecht geschehen.⁶ Vergleichen wir mit diesem Befund Möglichkeit B. Das von einer Gruppe gewünschte Verbot wird nicht realisiert. Das geht gegen den Willen dieser Gruppe. Es ist nicht die Moral, die ihren Empfindungen und Idealen entspricht. Könnten sie die Situation, in der die gewünschte Norm nicht realisiert wird, auch moralisch
5 Vgl. z. B. Locke, Two Treatises of Government, II, 95, p. 330: „Men being … by Nature, all free, equal and independent …“ und deshalb – II, 123, p. 350: „… subject to no Body …“; vgl. auch II, 54, p. 304; II, 104, p. 336; II, 119, p. 347. – In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt es: „We hold these truths to be self-evident: That all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights; that among these are life, liberty, and the pursuit of happiness; …“ (Hervorhebung von mir). 6 Zur Bedeutung des Unterdrückungsverbots ausführlicher Vf., Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot, in diesem Band.
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kritisieren? Es scheint, als könnten sie das nur unter der Prämisse objektivistischer Annahmen, etwa der Annahme, dass Tiere entsprechende natürliche Rechte oder eine entsprechende Würde haben. Eine moralische Kritik ohne solche Annahmen wäre nur möglich, wenn die positive Moral selbst bereits etwas enthielte, was zu dieser Norm zwänge. Aber es ist nicht zu sehen, was ein solcher Inhalt sein sollte. Vergleicht man hiernach die Möglichkeiten A und B, so scheint klar, wie man zwischen ihnen wählen muss. Beide frustrieren gewisse Wünsche der verschiedenen Gruppen. Das liegt in der Natur der Sache und gründet einfach darin, dass sie unterschiedliche Interessen haben. Aber eine Variante, die Variante A, ist moralisch nicht in Ordnung.Variante A unterdrückt einen Teil der Gesellschaft und ist hierin unmoralisch. Variante B ist hingegen moralisch unbedenklich. Sie impliziert allein eine Frustration für die, die einen weitergehenden normativen Schutz wollen. Es ist also die Variante B zu wählen. Das heißt, die von einigen gewollte Norm wird nicht geschaffen. Die, die mehr wollen, unterliegen denen, die weniger wollen. Das ist das Ergebnis, das sich auch bei anderen strukturgleichen Beispielen einstellen wird. So zum Beispiel wenn ein Teil ein Abtreibungsverbot will und ein anderer Teil dies nicht will. Auch hier ist es so, dass die, die mehr wollen, denen unterliegen, die weniger wollen. Die, die einen weitergehenden Schutz der Tiere oder ein Abtreibungsverbot wollen, sind natürlich nicht daran gehindert, das für sich zu tun oder zu unterlassen, was sie gerne als für alle verbindlich sähen. Es ist nur so, dass keine allgemeine Verbindlichkeit geschaffen wird.Wie man sich verhält, bleibt eine Sache der persönlichen Lebensführung und der individuellen Maximen. Und natürlich können die, die weitergehen wollen, versuchen, die anderen für ihre Sicht der Dinge und für ihre Einstellungen zu gewinnen. Das kann freilich nicht durch den Verweis auf moralische Vorgegebenheiten gelingen, sondern nur durch die Veränderung der Einstellungen denen gegenüber, für deren normativen Schutz sie eintreten. Wenn ich gesagt habe, dass die, die mehr wollen, denen unterliegen, die weniger wollen, dann gilt das auch, wenn die, die mehr wollen sehr viele und die, die weniger wollen, sehr wenige sind. Dieses Prinzip ist von der Zahl ganz unabhängig. Offenkundig gilt dieses Prinzip nicht nur in den Fällen, in denen ein Teil der Gesellschaft bestimmte einzelne Normen will, sondern auch wenn er ein generelles moralisches Prinzip will, aus dem dann alle moralischen Normen abgeleitet werden sollen. So etwa das Prinzip, dass die Handlungen moralisch geboten sein sollen, die das Glück der meisten am besten fördern, wobei sich „die meisten“ vielleicht nicht nur auf die Menschen, sondern auf alle leidensfähigen Wesen bezieht. Mill hat von dem Wunsch „to be in unity with our fellow-creatures“ ge-
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sprochen, der einem solchen Prinzip zugrunde liege.⁷ Wenn eine Gruppe dieses moralische Ideal hat und vorschlägt, es zum Strukturprinzip der Moral zu machen, hängt erneut alles davon ab, ob die Orientierung an einem solchen Prinzip von den Interessen aller getragen wird oder nicht. Wenn das nicht der Fall ist, gilt wiederum, und wiederum aus den genannten Gründen, dass die, die mehr wollen, denen unterliegen, die weniger wollen. Sich ein weitgehendes altruistisches Ideal zur Richtschnur seines Handelns zu machen, ist lobens- und bewundernswert und auch gesellschaftlich nützlich. Aber das ändert nichts daran, dass es, solange nicht alle dieses Ideal teilen, nicht gerechtfertigt wäre, es für alle verbindlich zu machen, dadurch, dass man es zur Grundlage moralischer Normen macht. Der, der von seinem Ideal beseelt ist, sich mit ganzem Herzen für seine Umsetzung engagiert und darin nur Gutes sehen kann – und sich natürlich wünscht, dass auch möglichst viele andere sich so verhalten wie er selbst, darf diesen entscheidenden Punkt nicht übersehen.
VI Das Prinzip, dass im Konflikt die unterliegen, die mehr wollen, liegt genau in der Tradition der kontraktualistischen Idee. Der Kontraktualismus war in seiner Geschichte vor allem eine politische Theorie, und seine allem anderen zugrunde liegende Überzeugung besagt, dass es nicht in Ordnung ist, dass Menschen Macht über andere Menschen haben und die einen den anderen ihren Willen aufzwingen. Dies ist nicht in Ordnung, moralisch nicht in Ordnung, weil die Menschen, wie es Rousseau im ersten Satz des Contrat Social gesagt hat, frei geboren sind. Dabei wurde der Stand, frei geboren zu sein, bereits als ein moralischer Status verstanden, also als ein Recht, frei zu sein, dem dann die Pflicht korreliert, diese Freiheit zu respektieren und sie nicht wegzunehmen oder einzuschränken. Dieses Freiheitsrecht ist, so wurde oft angenommen, ein natürliches oder ein von Gott verliehenes Recht.⁸ Man kann sich allerdings nicht der Einsicht verschließen, Hobbes hat das im Leviathan eindrucksvoll demonstriert, dass die Menschen, um auf erträgliche Weise zusammenleben zu können, Macht, Gesetze und Normen brauchen. Wenn dies unumgänglich ist, muss diese Macht jedoch begrenzt sein, 7 Mill, Utilitarianism, ch. 3., par. 10. – Scanlon hat gesagt, das „ideal“ seiner Moralkonzeption, wie er sie in What We Owe to Each Other entwickelt, sei Mills Idee der „unity“ sehr ähnlich (154; vgl. auch 163). Er spricht im Blick auf seine eigene Theorie von einem „ideal of relations with others“ (155), einem „ideal of justifiability“ (155) und einem „ideal of justifiability to others“ (156). 8 Vgl. zur engen Verbindung des traditionellen Kontraktualismus mit Ideen des Naturrechts besonders Barker, Introduction, in: Social Contract. Essays by Locke, Hume and Rousseau.
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sie muss an bestimmte Bedingungen gebunden sein. Nur wenn sie diesen Bedingungen genügt, ist sie legitim, wenn nicht, ist sie illegitim. Das Legitimitätskriterium liegt in den Interessen der Betroffenen. Die Machtausübung, die Gesetze und Normen sind legitim, wenn sie von den Interessen der Betroffenen getragen sind und diese deshalb einen Grund haben, ihnen zuzustimmen. Denn eine Norm, die in meinem eigenen Interesse liegt, die meinem eigenen Wollen entspricht, kann mich, wie schon gesagt, nicht unterdrücken. Sie kann mir nicht gegen meinen Willen einen Teil meiner Freiheit nehmen. Wenn alle im Blick auf ihre Interessen einen Grund haben, zuzustimmen, kann man also sicher sein, dass niemand unterdrückt und niemandes Freiheitsrecht verletzt wird. Wir können in dieser Skizze die Kernelemente der kontraktualistischen Idee erkennen: 1. Zentral ist das Freiheitsrecht und das ihm korrespondierende Unterdrückungsverbot. Dabei ist klar, dass der Kontraktualismus, solange er dieses Recht naturrechtlich oder theonom versteht, noch mit einem Bein in einem voraufgeklärten Verständnis der normativen Welt steht. Das Freiheitsrecht muss in einer aufgeklärten Konzeption selbst ein positives Recht sein. Dies impliziert, dass es dieses Recht nur in einer Gesellschaft und durch eine Gesellschaft geben kann, und nicht unabhängig von ihr und ihr vorausgehend. Das Freiheitsrecht hat die Besonderheit, dass es, ist es etabliert, für die weitere Ausgestaltung der normativen Ordnung den entscheidenden Maßstab bildet. Es ist nicht nur ein moralisches Recht neben anderen, es hat eine besondere Stellung, weil die Moral selbst es nicht antasten darf. Es ist ein Recht neben anderen moralischen Rechten und zugleich ein Recht, das der Moral selbst Grenzen setzt. Entsprechend ist, von der anderen Seite her betrachtet, das Verbot, andere zu unterdrücken, nicht nur eine Norm neben anderen, es ist eine Norm, denen die moralischen Normen selbst genügen müssen. Ansonsten wären sie selbst erpresserisch und moralisch nicht in Ordnung. Die Norm, andere nicht zu unterdrücken, ist deshalb auch eine Metanorm. 2. Weil Macht, Gesetze, Normen im menschlichen Leben unumgänglich sind, muss die Machtausübung an bestimmte Bedingungen gebunden sein. Nur dann ist sie moralisch. Nur dann ist sie, anders gesagt, legitim. Oder, um an eine Formulierung anzuschließen, die in neueren Versionen des Kontraktualismus eine wichtige Rolle spielt: nur dann ist sie gerechtfertigt. Nur dann nämlich verstößt sie nicht gegen das Freiheitsrecht bzw. das Unterdrückungsverbot. 3. Das Legitimitätskriterium liegt, wie gesagt, im Bezug auf die Interessen der Betroffenen. Denn wenn eine Norm ihren Interessen entspricht und sie einen Grund haben, die Norm zu wollen, kann die Norm sie nicht unterdrücken.
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Dem, der die Norm selbst will, kann durch die Norm kein Unrecht geschehen. Die Norm darf, mit anderen Worten, das Freiheitsrecht des Einzelnen nicht verletzen. Zu berücksichtigen sind die Interessen aller. Nur so kann sichergestellt werden, dass keine Unterdrückung stattfindet. Das Einstimmigkeitsprinzip ist eine natürliche Konsequenz aus der kontraktualistischen Idee und findet sich deshalb in allen Varianten dieser Tradition. Es ist richtig, die Idee in dieser Weise auszubuchstabieren, dennoch wird man Einstimmigkeit in der realen Welt nicht in jedem Fall erreichen können. Jede moralische Gemeinschaft muss deshalb Regeln entwickeln, nach denen es möglich ist, die Notwendigkeit der Einstimmigkeit vorsichtig einzuschränken.⁹
Diese Elemente machen nicht nur die Theorie des politischen, sondern auch die des moralischen Kontraktualismus aus. In ihm geht es nicht um politische Macht und staatliche Gesetze, sondern um moralische Normen und die gesellschaftliche Macht, bestimmte Verhaltensweisen zu ächten und denen, die anders handeln, Anerkennung und Akzeptanz zu entziehen. Vielleicht ist es wichtig, auf einen Punkt ausdrücklich hinzuweisen. Es wäre ein Missverständnis, auch ein Selbstmissverständnis, würde man annehmen, die fundamentale Rolle des Freiheitsrechts im Kontraktualismus entspringe einer besonderen Wertschätzung der Freiheit bei den Vertretern dieser Konzeption. Das wäre dann eine subjektive Wertschätzung neben anderen möglichen, ein Standpunkt neben anderen. Tatsächlich gründet die zentrale Rolle des Freiheitsrechts darin, dass die Menschen selbst frei sein wollen, sie wollen das tun, was sie wollen, nicht was andere wollen. Es scheint, als sei dieser Freiheitswunsch sehr tief in der condition humaine verankert. Menschen sind Lebewesen, die etwas wollen. Und wer etwas will, will auch das tun können, was zur Erlangung des Gewollten nötig ist. Darin liegt, dass man all das nicht will, was einen daran hindert, und im Speziellen, dass man nicht will, dass andere einen daran hindern. Überhaupt etwas zu wollen, scheint also das Frei-sein-Wollen bereits zu implizieren.Wenn es tatsächlich so ist, dass die Menschen frei sein wollen, und dies ein geteiltes Interesse ist, ein Interesse, das man allen unterstellen kann, und wenn zusätzlich alle es vorziehen, in diesem Punkt auch selbst gebunden zu sein, als Preis dafür, dass die anderen gebunden sind, dann haben alle auch ein Interesse an einer Norm, die es verbietet, anderen den eigenen Willen aufzudrücken. Wenn es dann im Zuge dieser Interessenkonstellation zu der Norm kommt, ergibt sich
9 Vgl. zu diesem Punkt meine Überlegungen in: Die Rechtfertigung moralischer Normen, in diesem Band, S. 84– 88.
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alles Weitere von selbst. Dann ergibt sich die besondere Position und Bedeutung dieses Verbots von selbst. Sie ergibt sich aus dem einfachen Umstand, dass man auch mit Normen und gerade mit Normen anderen Menschen seinen Willen aufzwingen kann.
VII Aber führt, so könnte man fragen, diese Tendenz zum „Nein“, führt diese Regel, dass im Zweifel immer die den Ausschlag geben, die nicht wollen, nicht fast zwangsläufig zu einem Zuwenig, zu einem Zuwenig an Moral? Und damit zu einem Zuwenig an moralischem Schutz gerade für die, die diesen Schutz am dringendsten brauchen, also für die Schwachen? Betrachten wir, um schwierigere Fälle zunächst beiseite zu lassen, noch einmal die Frage des Tierschutzes und nehmen an, dass es in einer Gesellschaft nur zu einem begrenzten moralischen Schutz der Tiere kommt, weil einige nicht weitergehen wollen. Nun ist mir ein weitergehender Schutz der Tiere sehr wichtig, und ich finde es schrecklich, in einer Gesellschaft zu leben, die nicht zu anderen Regelungen kommt. Mir ist ein weitergehender Schutz der Tiere sogar sehr viel wichtiger als der Schutz der Freiheitsrechte derjenigen, die keine weitergehende Normierung wollen. Ich bin deshalb, sofern ich die Macht dazu habe, also in der Mehrheit bin, bereit, eine Norm zu etablieren und durchzusetzen, die die Tiere besser schützt. Ich würde damit meine Einstellung und meine Interessen über die Haltung der Minderheit stellen und die Macht, die ich habe, dazu nutzen, meine Haltung den anderen aufzunötigen und sie zu zwingen, Dinge zu tun, zu denen sie nicht gezwungen werden wollen. Wobei ich nicht beanspruchen kann, meine Haltung und die mit ihr verbundenen Interessen seien in irgendeinem Sinne „besser“ als die Haltung und die Interessen der anderen. Oder sogar, sie seien moralisch gefordert, etwa weil die Tiere einen objektiven moralischen Status oder etwas Ähnliches haben. Auf all dies kann ich nicht verweisen. Man kann wegen der vielen Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Tieren eine Verbundenheit mit den Tieren empfinden, man kann Mitleid mit ihnen haben und deshalb eine solche Haltung entwickeln. Man kann aber auch wegen der vielen Verschiedenheiten und vielleicht auch aufgrund der Meinung, dass wir uns von Tieren ernähren müssen oder es normalerweise tun, dass das eine Tatsache des Lebens ist, die auch eine gewisse Härte verlangt, eine andere Haltung einnehmen, die gegen einen weitergehenden Schutz der Tiere plädiert. Es stehen hier tatsächlich zwei verschiedene Sichtweisen gegeneinander. Solange das so ist, wäre, die eine mit Macht gegen die andere durchzusetzen, offenbar ein Zwang. Und wenn zu den moralischen Normen, die es bereits gibt, das Unterdrückungsverbot gehört,wäre es ein moralisches
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Unrecht. Natürlich kann man ein Interesse höher stellen als die Erfordernisse der Moral. Aber Leute, die das tun, sind gefährlich. Und die Moral sollte so mächtig sein, dass ein solcher Konflikt möglichst selten zu ihren Ungunsten entschieden wird. Man muss sich also in einer solchen Situation von der Vorstellung lösen, mit der Durchsetzung eines weitergehenden Tierschutzes würde man der Moral zum Sieg verhelfen, einer objektiven, vorpositiven Moral, und dies könne nichts Unmoralisches sein, ganz im Gegenteil. So kann man nur denken, wenn man an eine moralische Vorgegebenheit glaubt, an ein vorgegebenes Recht der Tiere. In Wahrheit kann man sich, so meine ich, auf nicht mehr stützen als auf eine bestimmte Sichtweise, die man selbstverständlich, natürlich, menschlich finden mag, die aber tatsächlich nur eine Haltung neben anderen möglichen ist. Ohne dass es möglich ist, zu demonstrieren, dass diese eine Haltung richtig und die andere falsch ist. Wer einen Schutz der Tiere will, sollte deshalb besser eine andere Strategie einschlagen: Er sollte sich dafür engagieren, dass die Gesellschaft, in der er lebt, sich in die von ihm gewünschte Richtung verändert. Also dahin, dass immer mehr und schließlich alle den Tieren gegenüber eine ähnliche Einstellung einnehmen und dass es dann, auf dieser Basis, zu der gewünschten moralischen Norm kommt. Ist die Norm erst einmal da, ist es wahrscheinlich, dass sich durch Erziehung und Sozialisation entlang der existierenden Normen dauerhaft die Haltung verfestigt, die den weitergehenden Schutz der Tiere will und die entsprechende Norm trägt. Offenkundig kann es auch bei anderen, im Zentrum der Moral angesiedelten Fragen strukturell die gleichen Probleme geben wie im jetzt diskutierten Fall. Sie sind dann, wie es scheint, auf derselben Linie zu beurteilen. Allerdings fällt es uns bei ihnen sehr viel schwerer, diese Beurteilung zu akzeptieren. So besonders deutlich in allen Fällen, in denen es um die normative Gleichheit der Menschen geht. Ich gehe wenigstens mit einigen Bemerkungen auf dieses Problemfeld ein. 1. Bei dem oben beschriebenen ersten Schritt in die Moral war es zu einer Konfiguration von Rechten und Pflichten gekommen, in der alle Beteiligten dieselben Rechte und dieselben Pflichten haben. Diese normative Gleichheit ist nicht das Ergebnis eines Gebotes, das die Gleichheit verlangt, sie ist vielmehr von selbst entstanden, und sie spiegelt nur die ihr zugrunde liegenden symmetrischen Interessen der Beteiligten. Auch die Einbeziehung der Menschen, im Verhältnis zu denen die ursprüngliche Reziprozität der Interessen nicht besteht, und die Einbeziehung der Tiere liefen nicht über ein Gleichheitsgebot, sondern über altruistische Interessen. Tatsächlich kommt es durch ihre Einbeziehung auch zu keiner vollständigen normativen Gleichheit. Denn die, denen auf diese Weise ein mo-
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ralischer Schutz gegeben wird, haben zwar moralische Rechte, aber keine moralischen Pflichten. Das ist unvermeidlich, weil sie ihr Verhalten nicht durch Pflichten zu steuern vermögen. Außerdem haben die Tiere nicht dieselben moralischen Rechte wie die Menschen. Ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang wichtig.Wenn die Moral, von der wir sprechen, das Unterdrückungsverbot – und damit das korrelierende Freiheitsrecht – enthält, folgt daraus, dass jede Norm im Interesse eines jeden Betroffenen liegen muss. Von jeder Norm muss jedem gegenüber gezeigt werden können, dass er einen Grund hat, sie gutzuheißen und zu wollen. Jeder ist in dieser Hinsicht gleich wichtig. Diese Gleichheit in der Wichtigkeit aller Beteiligten ist wiederum nicht, anders als gelegentlich angenommen wird, das Ergebnis eines Gleichheitsgebots, sondern das Resultat des Unterdrückungsverbots. Und dieses Verbot gründet allein in reziproken egoistischen Interessen. Ich will nicht das tun müssen, was ein anderer will, dass ich es tue. Und da die anderen das auch nicht wollen, und da es mir und den anderen wichtiger ist, davor geschützt zu sein, als es selbst tun zu können, haben wir das Interesse an einer Norm, die Unterdrückungshandlungen verbietet. Die Norm ist fundiert in egoistischen Interessen, aber sie hat zur Folge, dass jeder gleich wichtig ist, wenn es darum geht, ob eine Norm dem Unterdrückungsverbot entspricht oder nicht.¹⁰ In weiten Teilen der Moral bedarf es, so zeigen diese Überlegungen, keines Gleichheitsgebots. In welchen Kontexten kommt der Wunsch danach dann ins Spiel? Es scheinen zwei Arten von Situationen zu sein. Zum einen, wenn es darum geht, wie etwas Gemeinsames: gemeinsame Erträge oder gemeinsame Lasten verteilt werden sollen, und zum anderen, wenn es um die Möglichkeit geht, Einzelne oder eine Gruppe in der Moral nicht zu beteiligen oder sie nur in geringerem Maße zu beteiligen. Ich beschränke mich im Folgenden auf diesen zweiten Fall. Situationen, die man hier vor Augen hat, sind von der Art, dass eine Gruppe, die sich von der Mehrheit unterscheidet, sagen wir durch ihre Hautfarbe oder ihre Religion, moralisch schlechter gestellt ist. Die meisten Ausgrenzungen dieser Art, die wir aus der Geschichte – und aus der Gegenwart kennen, wurden
10 E. Tugendhat verkennt diese Sachlage, wenn er meint, eine interessenbezogene Begründung moralischer Normen setze voraus, dass jeder die Interessen der anderen „als … gleich wichtig ansehen muss wie seine eigenen“, dass also bereits vorab anerkannt werden muss, „dass jeder gleich viel ‚gilt‘“ (Noch einmal über normative Gleichheit, 227; ebenso in: Nazismus und Universalismus, 215). Doch tatsächlich stelle ich im Falle meines Interesses, nicht verletzt zu werden, nur fest, dass die anderen das auch nicht wollen. Ich stelle fest, dass alle dieses gleiche Interesse haben, mehr nicht. Ich muss nicht etwas über die Wichtigkeit der Interessen oder die Wichtigkeit derer, die diese Interessen haben, annehmen und den anderen nicht vorab einen normativen Status zugestehen. All dies trifft nicht zu.
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und werden damit begründet, dass die, die anders sind, einen geringeren Wert oder einen geringeren Status haben als die Angehörigen der Mehrheit. Die Einsicht, dass es keine natürlichen normativen Eigenschaften und keine objektiven normativen Status gibt, macht solche Annahmen über den höheren oder geringeren Status von Menschen unmöglich. Es gibt, wie gesagt, keine vorgegebenen normativen Status, und deshalb weder eine vorgegebene normative Ungleichheit noch eine vorgegebene normative Gleichheit. Diese Überlegung zeigt, nebenbei bemerkt, dass Fragen der Ontologie des Normativen keineswegs nur von theoretischem Interesse sind, sondern eine eminente praktische Bedeutung haben. Es kann aber, das wird merkwürdigerweise bisweilen übersehen, auch Ausgrenzungen geben, die nicht auf falschen oder unbegründeten Annahmen der beschriebenen Art gründen, sondern auf Interessen und Idealen. Stellen wir uns vor, die Angehörigen der Mehrheit nehmen es, wenn jemand aus der Minderheit Opfer eines moralischen Unrechts wird, mit dem Sanktionieren, damit, dem Übeltäter entgegenzutreten und ihm Ablehnung und Zurückweisung zu zeigen, nicht so ernst, sie handhaben das bewusst lax. Die moralischen Normen werden auf diese Weise, wenn es um die Angehörigen der Minderheit geht, löchrig, sie verlieren an Kraft und bieten nur einen verminderten Schutz. Die Minderheit wird in diesem Fall also dadurch schlechter gestellt, dass die Praxis der Normdurchsetzung verändert wird. Nehmen wir nun weiter an, die Mehrheit tut das nicht,weil sie annimmt, die anderen seien von minderem Wert, sondern weil sie, vielleicht aus einem Ideal der Homogenität, das Interesse hat, dass die anderen verschwinden, woanders hingehen. Die, die zur Minderheit gehören, werden in dieser Situation für eine Norm eintreten, die Gleichheit gebietet und eine solche Diskriminierung moralisch unmöglich macht, – lassen wir offen, ob sie das wollen, weil sie dadurch besser gestellt werden oder aus einem Ideal der Gleichheit, für das sie auch eintreten würden, wenn sie zur Mehrheit gehörten. Die Angehörigen der Mehrheit haben indessen andere Interessen. Und deshalb fällt es nicht schwer, die Schwierigkeit zu benennen, die der Etablierung der Gleichheitsnorm entgegensteht: Sie soll ein Gegenmittel gegen mögliche Ungleichheiten sein, die sich aus unterschiedlichen Interessenlagen ergeben, und doch muss eine Norm, soll sie zustande kommen und dem Unterdrückungsverbot genügen, von den gleichförmigen Interessen aller getragen sein. Wo es unterschiedliche Interessenlagen gibt, soll es also dennoch ein übereinstimmendes Interesse an dem Gleichheitsgebot geben. 2. Damit ist schon gesagt, was ohnehin klar ist: Das Gleichheitsgebot kann selbst nur eine positive Norm sein, eine Norm, die die Menschen im Ausgang von ihren Interessen und Idealen hervorbringen. Ich hatte erwähnt, dass in der frühen Neuzeit häufig angenommen wurde, der Mensch besitze von Natur aus ein Recht
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auf Freiheit. Genauso wurde angenommen, die Menschen seien von Natur aus gleich, gleich im Sinne einer moralischen Gleichheit.¹¹ Diese Annahme, die unser Denken sehr stark bestimmt, liegt in der Spur der Idee, dass Gott jeden Menschen gewollt hat und deshalb jeder – als Gottes Geschöpf – dasselbe normative Gewicht hat. 3. Wie also kann es zu dem Gleichheitsgebot kommen? Was kann in einer aufgeklärten Moralphilosophie seine Grundlage sein? Diese Frage wird von fast allen Moralphilosophen übergangen.¹² Normative Gleichheit wird vielmehr einfach vorausgesetzt, als ein Gebot, das, wie es scheint, vom Himmel fällt. Tatsächlich fällt es nicht vom Himmel. Es kann dieses Gebot nur geben, wenn es, wie alle anderen Gebote auch,von Menschen gewollt und gemacht wird.Wo die Frage doch gestellt wird, wird häufig gesagt, in einem Fall, wie er beschrieben wurde, könnten die, die die Mehrheit bilden, ihr Verhalten den Angehörigen der Minderheit gegenüber nicht begründen. Und diese hätten, so muss man offenbar ergänzen, einen Anspruch auf eine solche Begründung. Wir können diese zweite Annahme indes beiseite lassen. Denn der Fehler passiert schon beim ersten Schritt. Es ist ein Irrtum, dass die Angehörigen der Mehrheit ihr Verhalten nicht begründen können. Sie können es sehr wohl begründen: was sie tun, ist vernünftig relativ auf ihre Interessen. Das können sie ohne weiteres darlegen, und die, die zur Minderheit gehören, werden dem nicht widersprechen können. In diesem Licht zeigt sich, wie oberflächlich es ist, Macht und Gründe gegeneinanderzustellen und, wie es häufig geschieht, anzunehmen, wo Macht, da keine Gründe, und wo Gründe, da keine Macht. Natürlich haben die Mächtigen Gründe, wenn sie ihre Macht ausnutzen, und sie können diese Gründe auch denen gegenüber, die im Nachteil sind, darlegen. Auch das, so unsere Annahme, in der Moral bereits verankerte Unterdrückungsverbot hilft den Angehörigen der Minderheit,wie es scheint, nicht. Denn sie werden durch die Schwächung der moralischen Normen in den Fällen, in denen sie die Opfer sind, nicht gezwungen, etwas zu tun oder zu unterlassen, was nicht sie, sondern andere wollen. – Wie also, nochmal, kann es zu einem Gleichheitsgebot kommen? Es scheint nur einen Weg zu geben. Die Mitglieder der Gemeinschaft müssen, damit alle diese Norm wollen und mittragen, ein „Ethos“ der Gleichheit teilen, eine Haltung, die wie selbstverständlich für die normative Gleichheit der Menschen eintritt, dafür, dass Unterschiede der Hautfarbe, der
11 Vgl. oben Anm. 5. 12 Vgl. hierzu Waldron, God, Locke, and Equality. Christian Foundations of John Locke’s Political Thought, 1 ff.
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Religion, des Herkommens nicht mit normativen Ungleichheiten einhergehen. Dieses Ethos ist nicht von der Art, dass man es jemandem andemonstrieren könnte, sondern eine Haltung, die selbstverständlich geworden ist, die attraktiv erscheint und deren Gegenteil als abstoßend empfunden und abgelehnt wird. Diese Haltung vermag sich nicht auf objektive Gegebenheiten zu stützen, sie kommt, anders gesagt, nicht aus der Erkenntnis, sondern aus dem Wollen. Man erkennt nicht, dass die Menschen normativ gleich sind, man will, dass sie gleich behandelt werden und dass diese Gleichheit zum Inhalt der Moral wird. Man kann denen, die die Macht haben, eine Minderheit zu diskriminieren, gewiss einige Argumente präsentieren, die zeigen, dass es Vorteile mit sich bringt, sich auf eine Position der Egalität einzulassen. Man kann auch auf das Faktum verweisen, dass die Menschen in so vielen Hinsichten faktisch gleich sind, vor allem dass sie mit ganz ähnlichen Sorgen und Nöten des Lebens zu kämpfen haben und dass deshalb auch eine normative Gleichheit naheliegt. Doch beide Argumentationsweisen müssen die, die im Vorteil sind, wenn ihre andersgerichteten Interessen überwiegen, nicht überzeugen. Es bedarf eines zusätzlichen Elements, es bedarf des Ethos der Gleichheit, das trotz der Machtunterschiede die normative Gleichheit will. Dabei können die Menschen, wenn es ihnen gelingt, die normative Gleichheit zu verwirklichen, hieraus ein spezifisches Selbstbewusstsein ziehen. Diese Gleichheit ist nichts Vorgegebenes, nichts Vorgefundenes, dessen Urheber sie nicht sind, sondern etwas Gemachtes, etwas von ihnen selbst Hervorgebrachtes. Wir selbst sind es, so können sie sagen, die diese Lebensform kreiert haben und nun verwirklichen, allein deshalb, weil wir es so wollen. In dieser Autonomie, dieser Selbstgegebenheit gerade des Gleichheitsgebots können die Menschen ihre Würde, oder ein wesentliches Element ihrer Würde, sehen. Nicht darin, dass sie etwas erkennen oder dass sie Vernunftgeboten folgen, sehen sie dann ihre Würde, sondern darin, dass sie etwas Bestimmtes wollen.
VIII Was aber in einer Gesellschaft, in der das Ethos der Gleichheit nicht von allen geteilt wird? Wenn es, wie in unserem Beispielfall, eine Mehrheit ist, die nicht will, wird es allein aus diesem Grunde zu keinem Gleichheitsgebot kommen. Die Minderheit muss in dieser Situation darauf setzen und sich dafür engagieren, dass mehr und mehr Angehörige der Mehrheit ihre diskriminierende Praxis und die dahinter stehenden Absichten schrecklich finden, sich nicht mehr an ihr beteiligen und sich stattdessen ihrerseits für ein Gleichheitsgebot einsetzen. Die Praxis des Ausgrenzens würde so zerbröseln und könnte nicht aufrechterhalten werden.
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Und was, wenn umgekehrt eine Mehrheit ein Gleichheitsgebot will und eine Minderheit es nicht will. In diesem Fall führt, wie es scheint, das Freiheitsrecht wiederum zu dem Prinzip, dass die, die weniger wollen, sich durchsetzen. Es scheint, als müsse man auch hier sagen, dass ein mit der Macht der Mehrheit durchgesetztes Gleichheitsgebot die Freiheit derer verletzt, die nicht an diesem Gebot interessiert sind. Ich hatte schon bei der Diskussion desselben Problems im Falle des Tierschutzes gesagt, dass einige angesichts dieses Konfliktes mit dem Freiheitsrecht sagen werden, der Schutz der Tiere sei ihnen wichtiger als das Freiheitsrecht Einzelner. Sehr viele mehr werden, wenn es um die normative Gleichheit der Menschen geht, die starke Intuition haben, dass ihnen die Gleichbehandlung der Menschen wichtiger sei als das Freiheitsrecht derer, die kein Interesse an einer normativen Gleichheit haben. Nehmen wir also an, das Gleichheitsgebot werde aus einer solchen Gesinnung mit der Macht der Mehrheit durchgesetzt. Wie wäre diese Situation zu beurteilen? Drei verschiedene Herangehensweisen scheinen möglich zu sein: 1. Wenn die Moral in dieser Weise verfährt, muss man, so die erste Sichtweise, einräumen, dass sie selbst, zumindest zu einer Seite, bloße Macht einsetzt und mit der sozialen Macht der Mehrheit Menschen eine Norm aufzwingt, der sie selbst nicht zustimmen. Man verzichtet dann auf eine Legitimation des eigenen Tuns und bekennt sich dazu, dass man das eigene Wollen mit der Macht, die man durch die Mehrheit hat, in eine Norm umsetzt, die für alle verbindlich ist, auch für die, die dieses Wollen nicht teilen. So könnte man die Moral verstehen, aber nur die wenigsten verstehen sie wohl so. Impliziert diese Sicht doch eine schwere Selbstbeschädigung der Moral, die sie angesichts problematischen Machtgebrauchs entwaffnet. 2. Die zweite Sichtweise will sich mit dieser Beurteilung der Dinge nicht anfreunden. Sie sucht für das Verhalten der Mehrheit nach einer Legitimation. Die Idee ist, so etwas wie eine moralische Mehrheitsregel anzunehmen. Durch sie wäre eine Mehrheit legitimiert, Normen für alle zu setzen. Doch auch diese Idee scheint mit erheblichen Problemen behaftet zu sein. Offenkundig kann sie das Problem, das sie lösen will, nur lösen, wenn das Mehrheitsprinzip selbst von allen gewollt wird. Das aber scheint fraglich zu sein. Denn jeder, der zu einer Minderheit gehören kann, muss bei Geltung einer Mehrheitsregel damit rechnen, nach Normen leben zu müssen, die ihren Grund in Interessen, Idealen, Sicht- und Deutungsweisen der Welt und des Lebens haben, die er nicht teilt. Die Mehrheitsregel würde das Freiheitsrecht stark beschädigen und genau die Gefahren heraufbeschwören, vor denen dieses Recht schützt. Man muss sich hier auch die Erfahrung wohlorganisierter Staaten in Erinnerung rufen. In ihnen wird bei politischen Entscheidungen die Mehrheitsregel
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3.
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praktiziert, aber sie wird durch Grundrechte begrenzt. An den Grundrechten endet die Macht der Mehrheit. Und ohne Grundrechte wäre die Mehrheitsregel kaum zu ertragen. Aus diesen Gründen scheint es eher unwahrscheinlich zu sein, dass eine Gesellschaft diesen Weg geht und eine moralische Mehrheitsregel etabliert. Deshalb sucht die dritte Herangehensweise nach einer alternativen Konzeption der Legitimation, für die nicht mehr die Interessen der Betroffenen (aller oder der Mehrheit) das Entscheidende sind. Aber wie soll sie aussehen? Natürlich muss man an dieser Stelle aufpassen, dass man nicht unbemerkt in eine der drei verworfenen Konzeptionen zurückfällt und erneut an eine Moral vor der Moral denkt.Weder Gott noch die Natur noch die Vernunft diktiert uns die normative Gleichheit der Menschen. Sind die Interessen derer, die die Gleichheit wollen, in irgendeinem Sinne besser als die Interessen derer, die sie nicht wollen? Sie sind besser im Lichte einer schon vorausgesetzten egalitären Moral. Aber um deren Fundierung geht es erst. Auch die Idee, dass es für die Gesellschaft insgesamt besser sei, wenn es zu einer normativen Gleichheit kommt, hilft nicht weiter. Es ist für die Mehrheit besser, aber nicht für die Minderheit mit den Interessen, die sie hat.
Wenn die beiden zuletzt angeführten Sichtweisen nicht weiterführen, scheint man zu der ersten Einschätzung zurückgedrängt zu werden, zu der Auffassung, dass die Moral, wenn sie in der beschriebenen Situation die normative Gleichheit durchsetzt, sich selbst bloßer Macht bedient und mit dieser Macht das Wollen der Mehrheit durchsetzt. Und dass sie sich damit über ein zentrales Element ihrer selbst – das Freiheitsrecht – hinwegsetzt. Ich führe diese Überlegungen hier nicht weiter. Sie lassen, so meine ich, wie die zurückliegenden Ausführungen insgesamt, immerhin deutlich erkennen, dass, wie eine Moral, die aus den Interessen der Beteiligten kommt und in ihnen ihren Maßstab hat, inhaltlich ausgestaltet ist, welche Normen sie enthält und welche nicht, allein davon abhängt, welche Interessen die Beteiligten faktisch haben. Diese Interessen – egoistische und altruistische – sind die alleinige Quelle einer aufgeklärten Moral. Deshalb muss sich, wer eine bestimmte Moral will, dafür einsetzen, dass die Menschen die entsprechenden Interessen und Ideale ausbilden, in einer Kultur stabilisieren und weitergeben. Die Idee, die gewünschten Inhalte seien unabhängig von den Interessen der Menschen vorgegeben oder man könne sie an den Interessen vorbei aus einer reinen Vernunft oder, vermeintlich nachmetaphysisch, aus dem Faktum, dass wir unsere Handlungen oder Meinungen begründen können, herausdestillieren, ist auf Sand gebaut. Die Menschen können, was die moralischen Regeln ihres Zusammenlebens sein sollen, nicht irgendwo ablesen, sie müssen sie sich aus sich heraus, aus ihrem Wollen, selbst
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geben. Gerade darin, dass sie und nur sie die Autoren der Moral sind, können sie, wenn es glückt, eine vom Ethos der Gleichheit bestimmte, alle gleich stellende Moral zu schaffen, einen wesentlichen Grund ihrer Selbstachtung sehen.
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Warum moralischer Kontraktualismus?, unveröffentlicht.
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Personenregister Achenwall, G. 125 Aristoteles 110, 164 Austin, J. 31, 70 Axelrod, R. 50
Kavka, G. S. 87 Kelsen, H. 4, 29 – 37, 39 – 42 Kersting, W. 1, 13, 17 Korsgaard, Chr. M. 131
Barker, E. 178 Bentham, J. 63 Bittner, R. 13 Bleicken, J. 113 Buchanan, J. M. 6
Lahno, B. 7 Locke, J. 5, 23, 25 – 29, 31 ff., 36, 39 – 42, 82, 100 f., 167, 176
Calvin, J.
Mackie, J. L. 2, 50, 169 Mill, J. St. 177 f.
28
Dworkin, R. 13 Epikur 2 Forst, R. 74, 113, 125 Frankfurt, H. G. 150 Gauthier, D. 2, 81, 98, 102, 171 Gierke, O. v. 1, 78 Habermas, J. 17, 78, 99 Hacker, P. M. S. 23 Hampton, J. 1, 13 Hare, R. M. 61 Hart, H. L. A. 30 f., 36 – 42 Hobbes, Th. 2, 12, 26, 122 f., 178 Hoerster, N. 30, 81, 89 f. Hoyer, E. 113 Hume, D. 7, 11, 130 f., 146 f., 150, 160 f. Kahn, Ch. 2 Kant, I. 12, 21 – 24, 58, 64, 70, 96, 99, 102, 106 ff., 125, 128, 137, 169 f.
Parfit, D. 132, 141 Patzig, G. 104 Perry, M. J. 54 Platon 11, 96, 164 Pufendorf, S. 53, 134 Rawls, J. 2, 11 f. Rousseau, J.-J. 178 Scanlon, T. M. 132, 141, 154, 178 Schneewind, J. 26 Searle, J. R. 54, 63 Specht, R. 26 Sugden, R. 7 Sumner, L. W. 61 Tugendhat, E. 23, 64, 79, 173, 183 Ulpian 122 Waldron, J. 185 Williams, B. 140 Wolf, U. 175 Wright, G. H. v. 119