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German Pages 215 [216] Year 2024
Rechtfertigungsspiele
Alexander Fischer, Mathis Lessau (Hg.)
Rechtfertigungsspiele Über das Rechtfertigen und Überzeugen in heterodoxen Wissensdiskursen
Umschlagabbildung: Following the Police strike passers by arguing with police men during their demonstration. Von IPPA Staff, 1979 ‒ The National Library of Israel, Israel ‒ CC BY. https://www.europeana.eu/de/item/318/ marc_nli_004606300
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2024 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. www.brill.com Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6817-8 (paperback) ISBN 978-3-8467-6817-4 (e-book)
Inhalt .
Von den Fallstricken der Vernunft zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . vii Alexander Fischer, Mathis Lessau
1.
Überzeugen und Rechtfertigen als argumentative Handlungen . . Anna Kahmen
2.
Erkenntnistheoretische Strukturen heterodoxer Wissensdiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Winfried Löffler
3.
Dialog über das Argumentieren. Oder: Was zwölf wütende Männer mit dem Ethos des Argumentierens zu tun haben . . . . . . 51 Falk Bornmüller, Mario Ziegler
4.
Die epistemische Funktion narrativen Argumentierens . . . . . . . . . 69 Kati Hannken-Illjes
5.
Die Psychoanalyse als Verlustmasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Peter Schneider
6.
Plausibilitätsstrukturen im heterodoxen Diskurs: Astrologie und hegemoniale Wissensordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Kocku von Stuckrad
7.
Glaubwürdigkeit als fragile Ressource? Strategien der Legitimation am Beispiel der deutschen Parapsychologie nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Anna Lux
8.
»C’était devenu un aller-de-soi.« Redundante Rechtfertigungsstrategien in autobiographischen Zeugnissen von Tätern im Rückblick auf den Genozid an den Tutsi 1994 . . . . . 127 Anne D. Peiter
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Inhalt
9.
Epistemisierung, epistemische Ungerechtigkeit und umstrittene Krankheiten: Der Streitfall Chronisches Fatigue Syndrom als Heterodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Svana Stemmler, Friedrich Kleffmann
10.
Zwischen übermenschlichem Diskurs und unmenschlichem 1984: Ein Plädoyer für Manipulation in der demokratischen Massengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Alexander Fischer, Christian Illies
.Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 .
Über die Beitragenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Von den Fallstricken der Vernunft zur Einleitung Alexander Fischer, Mathis Lessau Zum Einstieg möchten wir ein kleines Rätsel zitieren, das Hugo Mercier aufwirft (2020, 51, unsere Übersetzung): Paul schaut zu Linda Linda schaut zu John. Paul ist verheiratet, aber John ist es nicht. Schaut eine verheiratete Person eine unverheiratete an? Ja / Nein / Kann man nicht sagen.
Selbstverständlich würden uns Ihre Antworten nun brennend interessieren. Denken Sie, Sie haben die richtige Antwort? Wahrscheinlich aber, bitte nehmen Sie uns das nicht krumm, ist sie falsch, denn die richtige Antwort ist: »Ja«. Sie sind skeptisch, ob das stimmen kann?1 Lassen Sie uns kurz erklären, warum in diesem Fall tatsächlich eine verheiratete Person eine unverheiratete anschaut: Linda ist entweder verheiratet oder nicht. Wenn sie verheiratet ist, dann ist es richtig, dass eine verheiratete Person (nämlich Linda) eine unverheiratete (nämlich John) anschaut. Wenn Linda aber nicht verheiratet ist, bleibt es trotzdem richtig, dass eine verheiratete Person (nämlich Paul) eine unverheiratete anschaut (nämlich Linda). Es ist also in jedem Fall richtig, dass eine verheiratete Person eine unverheiratete anschaut und die richtige Antwort somit »Ja« ist. Verblüffend, oder? Wir zumindest hatten die Lösung nicht sofort parat. Nun aber liegt sie plötzlich auf der Hand, als hätte sie schon immer dort gelegen. Was ist gerade passiert? Haben Sie sich möglicherweise durch das Anführen von Gründen, also einen Akt der Argumentation, von einer Position überzeugen lassen, die Sie vorher nicht geteilt haben? Konnte die Demonstration triftiger, guter Gründe ein Gewicht erzeugen, unter dem Sie nicht anders konnten, als sich von der zur Debatte gestellten Proposition überzeugen zu lassen? »Ja, was denn sonst?« werden manche wohl achselzuckend sagen. Deswegen seien wir eben (wenn schon Tiere) vernünftige Tiere, denn unsere Vernunft – häufig gleichgesetzt mit unserer Fähigkeit zur Rationalität 1 Die meisten Menschen sind sogar »very confident«, dass ihre falsche Antwort doch richtig ist. Vgl. Trouche/Sander/Mercier 2014.
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Alexander Fischer, Mathis Lessau
bei meist dezidiertem Ausschluss unserer Affektivität (Fischer 2017) – lasse uns gute Gründe sehen, die uns dabei behilflich sind, uns in der Wirklichkeit besser zurechtzufinden.2 Wir seien doch deswegen auch das am besten angepasste und erfolgreichste Tier dieses Planeten! »Eher nicht!«, rufen uns dann aber manche Psycholog:innen zu, denn: Wir seien leider nicht so versiert darin, uns von guten Gründen überzeugen zu lassen (van der Linden 2022, Ecker 2022) und zeichneten trotz unserer angelegten Kapazitäten häufig eine verzerrte Karikatur der Wirklichkeit und kein getreues Abbild, auf das man sich vermeintlich verlassen kann. Jene hochverehrte und hochgehaltene differentia specifica, die uns von den bloßen Tieren absetzen und unterscheiden sollte, ist in Wahrheit Mangelware und hochgradig anfällig für biases aller Art (Fischer 2017). Wir sehen gekonnter Bestätigungen für unsere eigenen Positionen als die offensichtlichen Gegenargumente (confirmation bias), setzen beim Roulette höhere Summen auf Rot, wenn vorher über einen längeren Zeitraum Schwarz erschienen ist (gamblers fallacy) und sind entsetzt über einen positiven HIV-Test, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass wir tatsächlich krank sind, wahrscheinlich ›nur‹ bei etwa 10 Prozent liegt (base rate fallacy).3 Wieso aber, so könnte man fragen, setzt sich in der Evolution eine Eigenschaft durch, die so vielfältig fehleranfällig ist? Für Hugo Mercier besteht in dieser Frage das große Rätsel der Vernunft. Sein Antwortvorschlag auf die Frage ist verblüffend und provokant: Er nimmt an, dass die menschliche Vernunft gar nicht dafür ›gemacht‹ ist, einen möglichst adäquaten Zugang zur Wirklichkeit zu ermöglichen, sondern vielmehr dazu, in der Interaktion mit anderen Menschen Recht zu behalten. Wir haben als soziale Tiere einen Selektionsvorteil, wenn wir uns argumentativ behaupten und unsere eigenen Positionen verteidigen können. Rechthaben ist sexy, um es überspitzt zu sagen. Mercier und Sperber nennen diese Umdeutung der Funktion der Vernunft eine »argumentative theory of reasoning« (Mercier/Sperber 2011). Selbstverständlich ist die von den beiden vorgebrachte These kontrovers; sie ermöglicht es aber, viele der vermeintlichen Fehler unserer Vernunft in einem neuen Licht zu sehen. Wenn es die Aufgabe der Vernunft ist, Recht zu behalten, dann tut sie gut daran, wo sie nur kann nach Bestätigungen der eigenen Position zu suchen und potentielle Gegenevidenz nach Kräften zu ignorieren. Der vielbeklagte confirmation bias ist dann also eigentlich gar kein Fehler in unserer Kapazität zur Vernunft, sondern – es mag fast zynisch erscheinen – eher ein Gehilfe. 2 Man kann sich durchaus auch mit schlechten Gründen schlechter zurechtfinden – freilich auch bei gleichzeitigem Meinen, dass man sich nun besser als alle anderen zurechtfinden könne –, wie es der Austausch, z. B. in Social Media, durchaus abbildet; vgl. z. B. Fischer 2022. 3 Viele weitere schöne Beispiele unserer vermeintlichen Unvernunft findet man z. B. bei Pinker 2021.
Einleitung
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»Gott im Himmel!«, werden manche Philosoph:innen rufen (und vor lauter Entrüstung mitunter ihren Atheismus vergessen). Wenn das stimmte, dann müssten wir ja bis in alle Ewigkeit verdammt dazu sein, unseren verzerrten Wirklichkeitsbildern anzuhängen, und könnten uns niemals auf die Wahrheit zu bewegen. »Mais non!«, beschwichtigt Hugo Mercier (der zum Glück nicht nur Kognitionswissenschaftler, sondern auch Philosoph ist): Es stimme zwar, dass die Produktion von Gründen in der Regel biased und meist auch faul ist (wir suchen nach Bestätigungen unserer Positionen und sind mit den sich uns anbietenden Gründen schnell zufrieden). Dagegen seien wir aber äußerst anspruchsvoll, wenn es um die Evaluation fremder Gründe ginge. Für eine interaktionistische Theorie der Vernunft ist das eine Win-Win-Situation, denn sie führt zu einer fruchtbaren kognitiven Arbeitsteilung: Wir finden viele Gründe, um unsere eigene Position zu verteidigen, müssen uns aber mitunter auch von den sehr guten kritischen Evaluationen unserer Gesprächspartner überzeugen lassen: If we take an interactionist perspective, the traits of argument production typically seen as flaws become elegant ways to divide cognitive labor. The most difficult task, finding good reasons, is made easier by the myside bias and by sensible laziness. The myside bias makes reasoners focus on just one side of the issue rather than having to figure out on their own how to adopt everyone’s perspective. Laziness lets reason stop looking for better reasons when it has found an acceptable one. The interlocutor, if not convinced, will look for a counterargument, helping the speaker produce more pointed reasons. (Mercier/ Sperber 2017, 236)
Nun wollen wir es uns hier gar nicht zur Aufgabe machen, das Für und Wider einer Argumentative Theory of Reason zu diskutieren, sondern sie vielmehr einleitend als einen Interpretationsansatz anbieten, der eine passende Rahmung für die vielfältigen Beiträge in diesem Band abgibt. In den hier versammelten Aufsätzen werden die mannigfaltigen Möglichkeiten diskutiert, in Rechtfertigungsspiele verwickelt zu werden sowie die (eher begrenzten) Möglichkeiten, Überzeugungsarbeit zu leisten oder gar selbst überzeugt zu werden. Ganz ähnlich wie bei Hugo Mercier und Dan Sperber wird bei einigen unserer Autor:innen das prädestinierte Umfeld der Vernunft in der sozialen Interaktion und dem »Argumentieren im Gespräch« gesehen. Wenn im Rahmen einer »explorativen Argumentation« (Hannken-Illjes in diesem Band, 69) gemeinsam Probleme angegangen werden, dann kann die Vernunft erfolgreich Überzeugungsarbeit leisten. Ganz besonders gelingt ihr dies, Falk Bornmüller und Mario Ziegler zufolge, wenn sie sich dabei auf die ›Geschichten‹ einlässt, in die jeder Mensch verstrickt ist, und ein Gespür dafür entwickelt, wie diese narrativen Verstrickungen den Blick auf die Wirklichkeit
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Alexander Fischer, Mathis Lessau
prägen können. Kati Hannken-Illjes macht wiederum auf die besondere Fähigkeit von Narrationen aufmerksam, ›Erfahrungswissen‹ vermitteln zu können (in der Philosophie wird häufig von einer ›nicht-propositionalen‹ Erkenntnis gesprochen; vgl. Gabriel 2015), welches gezielt für eine besondere Form des ›narrativen Argumentierens‹ eingesetzt werden könne, um eine spezifische Form der Überzeugungsarbeit zu leisten. Wenn die Vernunft aber auf sich gestellt, ihr die Herausforderung einer argumentativen Interaktion verwehrt bleibt, so kann sie auf Abwege geraten. Es handelt sich dann, wenn man so will, um einen Betrieb unter anormalen Bedingungen. Die Verzerrungen, die im Rahmen einer sozialen Interaktion sinnvoll und hilfreich sein können, werden für einsame Denker:innen zum Desaster. Ohne Korrektur finden sie Bestätigung um Bestätigung für ihre Positionen und halten sie alle, ohne viel Umschweife zu machen, für überzeugend. So mögen sie sich mehr und mehr verlaufen und ihre Positionen immer radikaler und polarisierter werden (vgl. hierzu auch die Ausführungen von Mercier/Sperber 2017, 237ff.). Eindrückliche Beispiele für diese Formen des einsamen Denkens kann man im Beitrag von Winfried Löffler finden, der sich mit heterodoxen Wissensdiskursen beschäftigt, in welchen »eine auffällige Grundstimmung der Gewissheit« (Löffler, in diesem Band, 38) herrscht und dabei aufzeigt, mit welchen problematischen Rechtfertigungsstrategien die vermeintlichen Expert:innen dieser Diskurse operieren. Welche radikalen, ja geradezu perversen Rechtfertigungsformen unser Denken hervorbringen kann, zeigt der Beitrag von Anne Peiter auf, welcher sich mit dem Tutsizid im Jahr 1994 beschäftigt. Denn das soziale Wesen Mensch scheint nicht anders zu können, als selbst die grausamsten Taten vor sich und seinem Umfeld irgendwie zu ›rechtfertigen‹ und sei es in diesem Fall etwa durch den Versuch einer »Dehumanisierung« oder »Animalisierung« von Opfern (vgl. Peiter, in diesem Band, 136). In vielen Fällen aber ist es natürlich nicht so eindeutig zu bestimmen, dass die Vernunft auf (grausame) Abwege geraten ist. Besonders schwierig wird es etwa in solchen Fällen, in denen heterodoxe Wissensdiskurse über einen langen Zeitraum hinweg zum wissenschaftlichen ›Mainstream‹ gehörten, und auch Teil hatten an den öffentlichen Diskussionen und (zur jeweiligen Zeit) gängigen und anerkannten Prüfungs- und Korrekturmechanismen. Dies ist zum Beispiel für die Astrologie und die Psychoanalyse der Fall, aber auch für eine begrenzte Zeit und einen begrenzten Raum bei der Parapsychologie (z. B. in Freiburg i.B.). Kocku von Stuckrad beleuchtet in seinem Beitrag den Doppelcharakter der Astrologie »als sowohl empirisch-exakte als auch hermeneutisch-deutende Disziplin« (von Stuckrad, in diesem Band, 96) und fragt von einer soziologischen Warte aus nach ihren Plausibilitätsstrukturen.
Einleitung
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Peter Schneider verortet die Psychoanalyse irgendwo »zwischen Ortho- und Heterodoxie« (Schneider, in diesem Band, 89) und zeigt auf, welche merkwürdigen Rechtfertigungsspiele aus diesem Unort folgen. Anna Lux schließlich nimmt das Beispiel der ersten und einzigen Professur für Grenzgebiete der Psychologie in Freiburg i.B. zum Anlass, um die »fragile Ressource« der Glaubwürdigkeit näher unter die Lupe zu nehmen (Lux, in diesem Band, 107). Svana Stemmler und Friedrich Kleffmann hingegen setzen sich mit einem Beispiel auseinander, das nach der Covid 19-Pandemie an Aktualität gewonnen hat, aber dennoch hartnäckig als heterodoxer Streitfall im medizinischen Diskurs gesehen wird: dem Chronischen Fatigue Syndrom. Auch wenn es in all diesen Fällen schwierig ist, die komplexen Rechtfertigungsdynamiken unserer Vernunft zu durchschauen und es sogar noch schwieriger ist, sie zu bewerten – von einem Punkt wollen wir nicht abweichen: Gute Argumente können auch gute Überzeugungsarbeit leisten. Man mag uns diesen Standpunkt (wohl auch ein bisschen zu Recht) als Berufskrankheit auslegen, aber es gibt, wie Sie eingangs vielleicht selbst erfahren durften, wiederum auch gute Gründe für ihn. Heißt das nun, dass wir nur gute Argumente nutzen können und sollten, um zu überzeugen? Nein. Wäre dies der Fall müssten beispielsweise alle Eltern dieser Welt umgehend ihren Erziehungsauftrag an den Nagel hängen. Aber auch in der politischen Praxis darf und muss vielleicht mitunter Überzeugungsarbeit geleistet werden, die primär auf die Affektivität der Menschen abzielt. Dies ist zumindest die provokant anmutende These von Alexander Fischer und Christian Illies, die in ihrem Beitrag zu Demokratie und Manipulation ein Plädoyer für die »Machtform« Manipulation halten und herausarbeiten, dass auch Manipulation in einer Demokratie vernünftig eingesetzt werden kann: Dann nämlich, wenn sie auf eine bestimmte Art gestaltet ist und gut begründeten ethischen Zielen dient. Natürlich haben wir nun bereits auf diesen ersten Seiten schon viele Male von ›Rechtfertigen‹ und ›Überzeugen‹ gesprochen, ohne genauer zu bestimmen, was damit alles gemeint sein könnte. Zum Glück aber hat das Anna Kahmen in ihrem Beitrag übernommen. Und nun: Unsere kleine Rechtfertigung zur Relevanz dieses Bandes findet damit einen Abschluss. Überzeugen Sie sich selbst. Bibliographie Ullrich K. H. Ecker et al.: The psychological drivers of misinformation belief and its resistance to correction. In: Nature Reviews Psychology, 1/1 (2022), S. 13–29.
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Alexander Fischer, Mathis Lessau
Alexander Fischer: Manipulation and the Affective Realm of Social Media. In: Fleur Jongepier, Fleur/Michael Klenk (Hg.): The Philosophy of Online Manipulation. London 2022a, S. 327–352. Alexander Fischer: Manipulation. Zur Theorie und Ethik einer Form der Beeinflussung. Berlin 2017. Gottfried Gabriel: Erkenntnis. Berlin 2015. Sander van der Linden: Misinformation: susceptibility, spread, and interventions to immunize the public. In: Nature Medicine, 28/3 (2022), S. 460–467. Hugo Mercier: Not Born Yesterday. The Science of Who We Trust and What We Believe. Princeton/Oxford 2020. Hugo Mercier/Dan Sperber: The Enigma of Reason. Cambridge 2017. Hugo Mercier/Dan Sperber: Why do humans reason? Arguments for an argumentative theory. In: Behavioral and Brain Sciences 34 (2011), S. 57–111. Steven Pinker: Rationality. What it is, why it seems scarce, why it matters. New York 2021. Emmanuel Trouche, Emmanuel Sander, Hugo Mercier: Arguments, more than confidence, explain the good performance of reasoning groups. In: Journal of Experimental Psychology: General, 143/5 (2014), S. 1958–1971.
Überzeugen und Rechtfertigen als argumentative Handlungen Anna Kahmen Rechtfertigen und Überzeugen sind Handlungsvollzüge, mit denen wir im Alltag ständig zu tun haben. Wenn wir uns argumentativ miteinander austauschen, versuchen wir uns oder unsere Position zu rechtfertigen und unsere Gegenüber zu überzeugen. Dabei braucht es gar keinen philosophischpropädeutischen Unterricht, um diese Handlungen auszuführen: Von Klein auf lernen wir, wie wir unseren Standpunkt untermauern, wie wir andere überzeugen, etwas zu tun oder ihre Meinung zu wechseln; ob mit sorgsam ausgearbeiteten (formalen) Begründungen, unter Hinzunahme rhetorischer Mittel oder mithilfe emotionaler Beweisführung.1 Das Starkmachen der eigenen Auffassung sowie das im- oder explizite Auffordern anderer zur Meinungsänderung (mit eventuell damit einhergehenden Haltungs- und Handlungswechseln) sind vitale Bestandteile unserer kommunikativen Praxis. Im Bereich der (heterodoxen) Wissensdiskurse gelten teilweise spezielle Regeln für das argumentierende Handeln. Es geht in diesem Aufsatz also nicht (nur) um die Alltagsvollzüge dieser Redehandlungen, sondern um ihre Rolle in (semi-)wissenschaftlich geführten Diskursen. Dabei haben wir stets im Hinterkopf, dass insbesondere das wissenschaftliche Argumentieren besonderen Standards unterliegt: Streben wir in den Wissenschaften danach, statt bloßer Meinungen be-gründete, das heißt mit Gründen ausgestattete Argumente zu liefern, müssen wir uns auch mit der (faktischen und angestrebten) Praxis des Vorbringens argumentativer Sequenzen befassen.2 Andere Arten von Diskursen unterstehen anderen epistemischen Standards. Das muss, je nach Kontext, auch gar kein Problem darstellen. Argumentative Praxen kennen viele Gesichter, verfolgen unterschiedliche Ziele und dienen unterschiedlichen Zwecken, sodass sich hier auch keine Dichotomie zwischen Wissenschaft 1 In einigen Debatten im Bereich der Rhetorik werden die Begriffe der Rechtfertigung, der Überzeugung und Überredung anders konzeptualisiert als in meinen Ausführungen: Dort wird etwa als spezifische Differenz zwischen Überreden und Überzeugen die Involviertheit von emotionalen Mitteln im Argumentieren angegeben. Vgl. für eine Übersicht Fischer 2017. 2 Selbstverständlich werden auch im Bereich der Wissenschaft selbst noch weitere Unterscheidungen der Zwecke und Ziele unternommen. So ließen sich zum Beispiel auch noch die in intra-, inter- und transdisziplinären Kontexten angelegten Maßstäbe voneinander unterscheiden.
© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768174_002
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Anna Kahmen
und Nicht-Wissenschaft auftut, sondern ein Kontinuum, auf dem Diskurse bzw. Diskurstypen – je nach Zwecksetzung – Unterschiedliches leisten: Während für einige Diskurse das Anführen empirischer Beweise die zentrale Begründungs- und Rechtfertigungsressource ist, funktionieren andere (zum Beispiel das freundschaftliche Abstimmen über die gemeinsame Abendgestaltung) eher über die Angabe parteivarianterer Gründe und Aspekte, sie zielen eher auf die gemeinsame Beziehung als auf den Austausch allein über empirische Fakten. Dafür sind bestimmte Mittelbestände, die heranzuziehen in einigen Diskursen erlaubt oder sogar geboten ist, in ihnen wiederum fehl am Platze.3 In Bezug auf den Gegenstandsbereich dieses Bandes ist eine am Sprachgebrauch orientierte philosophische Untersuchung von Rechtfertigungs- und Überzeugungspraxen deshalb zentral, weil sie uns – so die These – ein besseres Bild davon geben kann, wie diese Praxen gewissermaßen ›unter der Oberfläche‹ funktionieren. Ich bemühe in Bezug auf diese Unterscheidung das Bild von Oberflächen- und Tiefengrammatik. Hier dient die Unterscheidung dazu, zu zeigen, dass die Ebenen der sprachliches Äußerungsform und der Bedeutung voneinander getrennt werden müssen, um sprachliche Handlungen analysieren zu können. Dazu an späterer Stelle mehr. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, die regelgeleiteten Vollzüge von Rechtfertigungs- bzw. Überzeugungspraxen genauer zu verstehen, um so weiterführende Untersuchungen in alltagssprachlichen, aber auch wissenschaftlichen Bereichen sprachlich zu präzisieren, mit Werkzeugen zu bereichern und letztendlich transparenter zu machen; auch, um sie in einem späteren Schritt epistemisch-normativ bewerten zu können. Es sollen im Folgenden mithilfe sprechakttheoretischer Werkzeuge anhand gewöhnlicher (im Sinne allgemein bekannter) alltagssprachlicher Gebrauchsbeispiele Unterschiede der beiden (Sprech)-Handlungstypen des Überzeugens und des Rechtfertigens herausgestellt werden. Im ersten Schritt werden die Regeln des Gebrauchs dieser Sprechhandlungen offengelegt. Dies bedeutet, dass geklärt wird, wer überhaupt Autor bzw. Rezipient dieser sein kann, was im Modus einer Rechtfertigung bzw. Überzeugung vorgebracht werden kann, mit welchen Mitteln etc. Des Weiteren werden Überzeugungs- und Rechtfertigungsvollzüge genauer in Hinblick auf die Bedingungen ihres korrekten Vollzugs (das heißt: ihres Erfolgs bzw. Gelingens) im sozial-sprachlichen Kontext unterschieden. Es wird sich herausstellen, dass es nicht die eine (jeweilige) Regel für den korrekten Vollzug der (jeweiligen) Sprachhandlung gibt, 3 Vgl. für den Vergleich verschiedener Diskursarten insb. das Kapitel »Fields of Argument and Modals« in Toulmin 2003.
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sondern dass in verschiedenen Redehandlungskontexten verschiedene Regeln und Ansprüche gelten können. Für die Untersuchung heterodoxer Diskurse bedeutet dies vor allem, dass bei der normativen Bewertung bestimmter argumentativer Züge kontextabhängige Maßstäbe angelegt werden müssen. Dennoch folgen die Vollzüge des Rechtfertigens bzw. des Überzeugens intersubjektiv festgelegten Regeln, sind nicht willkürlich, und können selbstverständlich scheitern. Ob etwas ein guter (etwa begrüßenswerter, adäquater etc.) Vollzug einer Handlung ist, ist zu trennen von der Frage, ob ein Vollzug generell als Vorkommnis unter einen Handlungstypen fällt (im Sinne einer type-token-Unterscheidung4). Abschließend wird ausblickend angedeutet, wie sich heterodoxe Diskurse mit hier eingeführtem Vokabular und Werkzeugen analysieren und bewerten lassen. 1.
Methodische Vorbemerkungen
Vor der Analyse seien noch einige wenige Bemerkungen angeführt. Ich lege in der Untersuchung ein Verständnis von (Sprech-)Handlungen zugrunde, nach dem für das Gelingen eines Rechtfertigungs- bzw. Überzeugungsakts nicht primär relevant ist, ob jemand eine eigene Äußerung oder Handlung als Rechtfertigung oder Überzeugung meint, oder ob ein Rezipient etwas als solches versteht. Vielmehr liegt ein Vorkommnis dieser Handlungstypen (nur) dann vor, wenn die Gelingensbedingungen, die in unserer Sprachgemeinschaft vereinbart sind, erfüllt sind: Wenn ich glaube, dass die Äußerung »Ich verspreche dir, dich zu heiraten« (geäußert unter bestimmten Bedingungen) kein Heiratsversprechen darstellt, aufgrund dessen mein Gegenüber Ansprüche bestimmter Art erheben kann (nämlich, dass ich ihn heirate), bin ich kein kompetenter Sprecher im Sprachspiel.5 Ich muss dann damit rechnen, dass mein Gegenüber (gerechtfertigte) Ansprüche erhebt, weil ich eine 4 Die type-token-Unterscheidung bezieht sich hier darauf, dass jede Redehandlung (als Ereignis) eine konkrete Realisierung eines Redehandlungstypen ist. Das Entschuldigen von Person P zu Zeitpunkt t ist Realisierung (token) des Handlungstyps des Entschuldigens. Typen von Redehandlungen sind abstrakte Schemata, die dann als tokens konkret realisiert werden. Der Typ ist in diesem Sinne an ›seine‹ Manifestationen, die Manifestationen aber gleichzeitig an die Charakteristika, die der Typ vorgibt, gebunden. 5 Einzelne Fehlvollzüge sind faktisch nicht zu vermeiden, werden dann aber mithilfe sozialer Sanktionsmaßnahmen eingefangen und therapiert. Jemand, der ständig fehlgehende Redehandlungen vollzieht, wird irgendwann nicht mehr als kompetenter Sprecher, d.h. als Mitspieler des (jeweiligen) Diskurses etc. angesehen. Vgl. dazu Gethmann 2023, 126.
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Äußerung getätigt habe, die unter den vorliegenden Kontextbedingungen als Versprechen zählt. Gegebenenfalls kann ich die Ansprüche abwenden, indem ich erläutere, dass ich meine Aussage nicht als Versprechen gemeint habe, dass ich die Äußerung nur aufgrund eines Fehlverständnisses der deutschen Sprache getätigt habe etc. Dies sind therapeutische Strategien, um einen (normativen) Dissens dieser Art auszuräumen. Der Anspruch meines Gegenübers wird aber nicht allein dadurch aufgelöst, dass ich mich darauf beziehe, es ›nicht so gemeint‹ zu haben. Die Vollzüge und ihr Gelingen als Vorkommnis eines Typs sind demnach intersubjektiv kontrollierbar. Wir als kompetente Sprecherinnen der deutschen Sprache können darüber urteilen, ob ein Vorkommnis einer Rechtfertigung oder eines Überzeugens vorliegt, wenn wir auf einen Kandidaten treffen. Dass es dabei im Zweifel selbstverständlich zu Unstimmigkeiten kommen kann, ist kein Nachteil dieser Konzeption, sondern vielmehr eine Art notwendigerweise eingekauftes, aber durchaus hilfreiches Nebenprodukt: Dass wir uns kommunikativ darüber verständigen können, wie etwas zu verstehen ist, ob etwas die Regeln eines Vollzugs erfüllt etc., ist Ausdruck dessen, dass es überhaupt so etwas wie intersubjektiv zugängliche und kontrollierte natürliche Sprachen gibt. Diese Feststellung ist auch deshalb relevant, da ich im Folgenden versuche, unsere (Sprach-)Praxis nachzuvollziehen und zu analysieren. Selbstverständlich kann es sein, dass mir dabei bestimmte Bedeutungsdimensionen entgehen, die ein anderer Sprecher dann vermisst. Der Anspruch dieser Analyse ist, dass es keiner besonderen Schulung bedarf, um den Normalsprachgebrauch einer natürlichen Sprache zu analysieren, weil die zu analysierende Praxis eine lebensweltlich bekannte ist. Weil wir uns in dieser Untersuchung argumentativer Praxen im Feld der Normalsprache bewegen, welche immer eingebettet in eine Lebenswelt ist, gehören zur Beurteilung bzw. Klassifizierung der Handlungen nicht nur das direkte Ereignis (sofern man ein solches überhaupt als vom Kontext zu trennen versteht), sondern auch die es umgebenden Kontextfaktoren. Man wird sehen, dass es für die Analyse nicht ausreicht, eine sprachliche Lautäußerung nur als Zitat in der Schriftsprache wiederzugeben. Man muss in den meisten Fällen auch die relevanten Kontextfaktoren benennen. Das wird allein schon dann deutlich, wenn gleichlautende Aussagen in unterschiedlichen Kontexten völlig unterschiedliche Handlungsvollzüge darstellen: Ironische Äußerungen (»Das hast du ganz toll gemacht.«) oder subtile Drohungen (»Ich komme morgen wieder.«) zum Beispiel funktionieren nur aufgrund der Unterschiede der Umgebungsfaktoren bei gleicher Oberflächenerscheinung. Damit die sprachlichen Äußerungen auch auf dem Seziertisch dieses Aufsatzes (also enthoben aus ihren lebensweltlichen Kontexten) noch verstehbar sind, werden alle relevanten Kontextfaktoren beschreibend explizit gemacht.
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›Rechtfertigen‹ und ›Überzeugen‹ sind hier tiefengrammatisch stets als Vollzugsperformatoren gemeint, also als (Sprech-)Handlungstypen. Das bedeutet, dass es nicht von der oberflächengrammatischen Gestalt z. B. einer Äußerung abhängt, ob etwas in eine der beiden Kategorien fällt. Mit ›Performation‹ meine ich den Teil eines Satzes, der den Modus des Vorbringens einer Proposition angibt. Die hier also zugrunde gelegte Standardform eines Satzes ist derart, dass Performation und Proposition notwendige Teilhandlungen jeder Sprechhandlung sind. Es muss immer einen Modus geben, in dem etwas vorgebracht wird (Performation), und es muss das geben, was vorgebracht wird (Proposition).6 Die Ausdrücke »Performation« und »Proposition« sind hier jeweils zweideutig: als Handlungen im Vollzugssinn sowie im Resultatsinn. Die Proposition ist nicht nur das Proponieren der Sprecherin, sondern eben auch das Resultat, nämlich die Proposition, in der Regel bezeichnet mit »p«. Zur Standardform des Satzes kann folgender als ein Beispiel gelten: S: »Ich behaupte, dass Paris in Frankreich liegt.« Im performativen Modus des Behauptens wird hier von S die Proposition vorgebracht, dass Paris in Frankreich liegt. Selbst wenn S den performativen Modus nicht explizit machen würde, die Äußerung also S: »Paris liegt in Frankreich.« lautete, wäre durch den Einbezug des Äußerungskontextes, der tiefengrammatischen Struktur der Aussage etc. noch deutlich, dass S mit dieser Aussage eine Behauptung vorgebracht hat. Der Satz könnte so zum Gegenstand der Analyse gemacht werden: S behauptet, dass Paris in Frankreich liegt.7 Zwischen Performatoren und Propositionen gibt es viele Kombinationsmöglichkeiten, die Verknüpfung ist aber nicht beliebig. S könnte p z. B. auch im Modus der Frage vorbringen: 6 Ich schließe mich bei dieser Standardform der Konzeption von Gethmann und Siegwart an, siehe 1991, 562–565. 7 Selbstverständlich hat auch dieser Satz wieder einen Sprecher, der ihn vorbringt. Das Vertrackte an der Analyse von Vollzügen ist, dass man sie, um sie zum Gegenstand der Analyse zu machen, notwendigerweise iteriert: Beim Darstellen eines Vollzugs in der Analyse entsteht wiederum ein neuer Vollzug, in diesem Fall der des Berichtens über eine Behauptung (wobei das Berichten ein Unterfall des Behauptens ist).
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S: »Liegt Paris in Frankreich?« S kann aber zum Beispiel nicht versprechen, dass Paris in Frankreich liegt.8 Nicht immer macht ein Sprecher explizit, welche Performation er vornimmt, dass er also zum Beispiel gerade eine Rechtfertigung oder Überzeugung vorbringt. »Ich rechtfertige, dass p.« klingt in der Normalsprache reichlich gestelzt und würde vermutlich nur mit der Absicht der deutlichen Betonung in dieser Form vorgebracht werden. Für uns bedeutet das, dass wir uns nicht ausschließlich an oberflächlichen Markern orientieren können, wenn es darum geht, Vollzüge der beiden Typen zu identifizieren. Der Bezug auf die tiefengrammatische Struktur in der Analyse erlaubt es uns aber, die Performation jederzeit explizit zu machen. Wir können auch Äußerungen, die keinen expliziten Performator aufweisen, als Rechtfertigungen oder Überzeugungen identifizieren, und auch oberflächengrammatisch andere Gestalten als tiefengrammatisch gleichbedeutend identifizieren. Ebenso kann aber auf der oberflächengrammatischen Ebene die Rede von »überzeugen« oder »rechtfertigen« sein, ohne, dass ein solcher Vollzug vorliegt. Auch wenn wir uns hier auf den Normalsprachgebrauch der deutschen Sprache beschränken, ist eine Analyse der tiefengrammatischen Struktur interlingual übertragbar.9 Der Bezug auf die tiefengrammatische Struktur erlaubt es uns außerdem, den Fokus weg von (künstlich) isolierten Einzelredehandlungen auch auf größere (Rede-)Handlungssequenzen zu lenken.10 Es liegt nahe, anzunehmen, dass Rechtfertigungen und Überzeugungen nicht an jeder Stelle einer Konversation als kommunikativer Zug vorgebracht werden können, sondern dass sie bestimmten vorgängigen Zügen bedürfen.
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Sofern wir hier die übliche Bedeutung von »versprechen« als Selbstverpflichtung auf eine bestimmte Handlung anlegen. Der Ausdruck »versprechen« könnte in diesem Satz auch als Beteuerung oder Behauptung gelesen werden: »Du kannst mir glauben, ich weiß das genau. Ich verspreche, dass Paris in Frankreich liegt!«. Hier wird nur das Kriterium der Übersetzbarkeit angelegt, also angenommen, dass sich natürliche Sprachen (teilweise mit größerem Aufwand) ineinander übersetzen lassen. Im Detail kann (und kommt!) es selbstverständlich zu kulturell geprägten Unterschieden in der Argumentationspraxis kommen. Thorsten Sander argumentiert in Redesequenzen zum Beispiel, dass es keine isolierbaren Redehandlungen gibt, sondern dass diese immer nur als Teil einer Redehandlungssequenz vorkommen und auch nur so sinnvoll auf ihre Regeln hin analysiert werden können: »Eine sinnvolle Rekonstruktion des sprachlichen Reglements […] darf nicht von vermeintlich autarken Redehandlungen ausgehen, sondern hat sich mit primär sprachlich verfaßten Verfahren zu beschäftigen, an denen mehrere Agenten beteiligt sind.« (Sander 2011, 27)
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Zum Rechtfertigen
Um die (Rede-)Handlung des Rechtfertigens aufzuschlüsseln, ist es sinnvoll, exemplarisch einige alltagssprachliche Vorkommnisse zu analysieren. Folgend also einige Sätze, die wir aus der Alltagspraxis kennen und in denen explizit die Rede von »rechtfertigen« ist. [R1] Er rechtfertigt gegenüber allen anderen den desolaten Zustand der Wohnung, indem er erklärt, dass eingebrochen wurde. [R2] Er denkt nicht im Traum daran, sich für seine Taten zu rechtfertigen. [R3] Die getroffenen Entscheidungen sollen wenigstens im Nachhinein gerechtfertigt werden. [R4] Die großartige Aussicht rechtfertigt die Mühen des Aufstiegs. [R5] Die Rechtfertigung dieser These ist nicht geeignet, das Argumentationsziel zu erreichen. Anhand dieser Sätze lässt sich schablonenhaft eine Standardform etablieren. Die Sätze weisen allesamt folgendes Schema auf: A rechtfertigt X gegenüber B (mittels Y). (reflexiv): A rechtfertigt sich gegenüber B für X (mittels Y). [R1] Er [A] rechtfertigt gegenüber allen anderen [B] den desolaten Zustand der Wohnung [X], indem er erklärt, dass eingebrochen wurde [Y]. [R2] Er [A] denkt nicht im Traum daran, sich [A] für seine Taten [X] zu rechtfertigen. [R3] Die getroffenen Entscheidungen sollen [X] wenigstens im Nachhinein gerechtfertigt werden. [R4] Die großartige Aussicht [Y] rechtfertigt die Mühen des Aufstiegs [X]. [R5] Die Rechtfertigung dieser These [Y] ist nicht geeignet, die These [X] zu stützen. Wir sehen also, dass jemand (A) in der Regel etwas (X) gegenüber jemand anderem (B) rechtfertigt, und das mittels (Y). Es reicht daher für unsere Zwecke, eine Vierstelligkeit anzunehmen. Eine Besonderheit stellt der Fall [R2] dar, in dem A nicht etwas, sondern sich für etwas rechtfertigt. Es scheint, als könne nicht nur etwas (z. B. ein Sachverhalt11) gerechtfertigt werden, sondern 11
Zur Unterscheidung zwischen Tatsache, Sachverhalt und (behauptender oder nichtbehauptender) Proposition sei in diesem Aufsatz nichts gesagt. Ich nehme an, dass mit
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auch eine Person. Hierbei ist erstmal noch nicht klar, ob sich jemand als Person oder als Verantwortlicher für das Vorliegen eines Sachverhalts rechtfertigt. Nun gilt es, die identifizierten Stellen näher zu beschreiben. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass sowohl A als auch B Teilnehmer eines mindestens minimal verstandenen epistemisch-ethischen Diskurses sein müssen, dass also eine (rationale, moralfähige) Person etwas gegenüber einer anderen (rationalen, moralfähigen) Person rechtfertigt. Denkbar wäre nämlich auch der Fall, dass A etwas der unbelebten Natur oder einem Tier gegenüber rechtfertigen kann, oder sogar, dass eine Nicht-Person etwas rechtfertigt. Ob dies eine nur entlehnte Verwendung des Vokabulars der Rechtfertigungspraxis darstellt, soll hier nicht näher behandelt werden. Wir nehmen also an, dass sowohl A als auch B in der Regel Teilnehmer des normativ-ethischen Spiels im weitesten Sinne – es unterliegt Geltungskriterien – sind und dass eine Rechtfertigungspraxis nur zwischen solchen gelingt.12 Es stellt sich die Frage, welche Art von Entität X sein kann, und was für Y angeführt werden kann. In [R1] ist X auf den ersten Blick ein Sachverhalt, nämlich, dass die Wohnung sich in einem desolaten Zustand befindet. In [R2] ist X eine Menge von Handlungen von A. In [R3] ist X das Resultat eines Handlungsverfahrens, sofern die Entscheidungen als Resultate eines Entscheidungsprozesses als einer (Gruppen-)Handlung zählen sollen. Es sollen also die Ergebnisse eines deliberativen Prozess gerechtfertigt werden. Bei [R4] hat X ebenfalls eine praktische Dimension: Es geht hier um das Vollziehen einer mühevollen Handlung, bei der es gewichtige Gründe dafür geben muss, sie überhaupt ausführen zu wollen. In [R5] sehen wir einen spezielleren Fall aus dem Feld der Argumentationstheorie: Hier soll übergeordnet ein argumentativer Zusammenhang, bzw. eine These als Teil eines Argumentationssystems gerechtfertigt werden. X kann also entweder eine vorangegangene (oder zukünftige) Handlung (zum Beispiel von A) sein, oder eine Handlung, für deren Akteurschaft A sich selbst rechtfertigt. X kann aber auch ein Sachverhalt sein, für den A sich zwar eine Beweislast oder Schuld auflädt, aber nicht unbedingt kausal verantwortlich sein muss. So ist A in [R1] zum Beispiel der Verwendung von »Sachverhalt« nichts über dessen Wahrheitswert ausgesagt wird. Wird ein solcher mit behauptender Kraft vorgetragen, geht damit natürlich ein Anspruch des Sprechers auf Wahrheit einher. Siehe dazu etwa das für diese Frage aufschlussreiche erste Kapitel von Dummett 2006. 12 Auch Fälle wie das Etwas-vor-sich-selbst-Rechtfertigen sehe ich nicht als Standardfälle, sondern als aus der interpersonalen Praxis entlehnte Beschreibung an. Ähnlich wie beim Mit-sich-selbst-ins-Gespräch-Treten wird eine dialogische Struktur, die aus dem Bereich des zwischenmenschlichen Miteinanders bekannt ist, als Beschreibung auf bestimmte Rationalitäts- und Entscheidungsfindungsprozesse einer einzelnen Person übertragen.
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gerade nicht für den Ereignischarakter aufweisenden Einbruch verantwortlich, kann aber so den Zustand der Wohnung rechtfertigen, was ihm sonst eventuell unter Umständen selbst (als Ausdruck z. B. von Faulheit durch das Auslassen einer Aufräumhandlung) vorgeworfen worden wäre.13 In [R5] ist nichts über die Beweislast oder Schuld einer Person gesagt, sondern es ist nur sachlich die Rede von einem Argumentationssystem, in dem die Stützung einer konstatierten nicht gelungen ist (was dann wiederum vielleicht dazu führt, dass das übergeordnete Beweisziel nicht erreicht wird, weil der Übergang auf die Konklusion scheitert), daher findet sich hier auch kein Agens der Rechtfertigung. Anstelle von Y findet sich in den gewählten Beispielen das erklärende Anführen eines Sachverhaltes [R1, R4]. Wenn auch oberflächengrammatisch verschleiert, ist das Nennen eines Sachverhaltes, der zum Beispiel auf ein Ereignis zurückzuführen ist, das Mittel der Rechtfertigung. In Satz [R5] wird die Rechtfertigung als solche stellvertretend selbst als Vehikel genannt; gemeint sind die argumentativen Schritte, die in der Argumentation vorgenommen wurden. Diese sind – so das Beispiel – nicht in der Lage, als (gelingende) Rechtfertigung zu fungieren. In Satz [R2] und [R3] finden wir keine explizite Nennung des Erklärungsgrundes. Wie in [R2] die Taten und in [R3] die getroffenen Entscheidungen gerechtfertigt werden sollen, bleibt unklar. [R1] und [R4] zeigen aber den Zweck von Y: Wir sehen, dass das Anführen des Sachverhaltes eine erklärende, argumentative Funktion hat. Y muss deshalb in geeigneter Weise mit X zu tun haben, damit die rechtfertigende Funktion erfüllt ist. Möchte A X B gegenüber rechtfertigen, kann er dazu nicht irgendeinen Sachverhalt anführen – die Rechtfertigung würde dann nach unseren sozial etablierten Maßstäben nicht gelingen. Wenn A in Beispiel [R1] den Zustand der Wohnung damit rechtfertigen möchte, dass er erklärt, dass er vor drei Wochen im Urlaub war, ›kaufen‹ wir die Rechtfertigung nicht. Wir verfügen in unserer Alltagspraxis über ein feines Sensorium dafür, welche Sachverhalte als Rechtfertigung dienen können und welche nicht. Dazu ist eine Kenntnis des (erweiterten) Kontextes relevant, der maßgeblich bestimmt, ob das Anführen eines Sachverhaltes rechtfertigende Kraft aufweist oder nicht. Insbesondere bei diesem Fall rückt nun das Entschuldigen als ethische Praxis in direkte Nähe zum Rechtfertigen: Als normativ fehlbare Personen finden wir uns mitunter in Situationen, in denen wir uns oder etwas erklären müssen. Wir verfolgen dabei, erstens, das Ziel, ein moralisch aufgeladenes, als Verfehlung zur Debatte stehendes Faktum für andere verstehbar zu machen. Anders als zum Beispiel beim Um-Verzeihung-Bitten verfolgen wir beim 13
Hier zeigt sich die Wichtigkeit, die vier Stellen genau auseinanderzuhalten: A rechtfertigt nicht (stellvertretend) den Einbruch, sondern den Zustand der Wohnung.
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Rechtfertigen ähnlich wie beim Entschuldigen nämlich, zweitens, das Ziel, uns durch Angabe nachvollziehbarer, also erklärender Umstände von etwas zu entschulden, zum Beispiel vom Vorwurf des schlechten Charakters (der Unordentlichkeit in [R1]) oder der Irrationalität [R3]. Anders als bei der Entschuldung muss aber nicht ein (moralisches) Fehlverhalten im starken Sinne vorliegen. Es reicht, wenn etwas grundsätzlich zur Debatte steht bzw. stehen kann: Ich kann zum Beispiel meine Entscheidung präventiv rechtfertigen, indem ich den Deliberationsprozess offenlege, ohne, dass jemand meine Entscheidung überhaupt schon angefochten hat, oder ich mich gar dafür entschuldigen müsste. Eine andere Bedeutungsdimension zeigt sich in einem weiteren (Spezial-) Bereich, in dem das Rechtfertigen eine Rolle spielt, stellvertretend vorgestellt in Fall [R5]. Wir finden den Begriff des Rechtfertigens in der argumentationslogischen Praxis, zum Beispiel in der Philosophie selbst, aber mindestens als philosophischen Mittelbestand in anderen Praxen. Hier dient eine Rechtfertigung der Begründung einer assertorischen Einheit, zum Beispiel einer Behauptung. Da im Bereich der formalen Argumentationstheorie die assertorischen Redehandlungen klassischerweise zentral stehen – auch wenn es alternative Modelle gibt – wird die Rechtfertigung insbesondere als Stützung ebensolcher angeführt.14 Hierbei spielt das normative Gewicht der ›Verfehlung‹ eine weniger große Rolle, es geht eher darum, für eine These oder ein Beweisziel gute und schlüssige Gründe anzuführen. Jemand kann ([R5]) einer Studentin in der Nachbesprechung ihrer Hausarbeit sagen, dass er die in der Arbeit angeführte Rechtfertigung der Hauptthese für ungeeignet hält, die These zu stützen (und damit ggf. das Argumentationsziel zu erreichen). Dann steht keinesfalls ein moralischer oder an die Rezipientin als Person gerichteter Einwand im Raum, sondern vielmehr die sachliche Kritik an einem Argumentationssystem. Das Ausblenden der ›Autorin‹ der Rechtfertigung und der Bezug allein auf die Sachebene ist im wissenschaftlichen Arbeiten ein angestrebtes Ideal: Wenn es um wissenschaftliches Argumentieren geht, soll der Fokus allein auf der argumentativen Rechtfertigung liegen, und die Autorin der Rechtfertigung als Person weitestgehend ausgeblendet werden.
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C. F. Gethmann zum Beispiel unterscheidet hingegen zwischen Rechtfertigungs- und Begründungsdiskursen. Erstere treten auf den Plan, wenn als Eröffnungshandlung eine direktive Redehandlung (zum Beispiel eine Aufforderung) vollzogen wurde, der der Opponent nicht unmittelbar nachkommt, sondern die er stattdessen anzweifelt. Für Gethmann sind es Begründungsdiskurse, die durch eine konstative Redehandlung eröffnet werden. Der Proponent muss also – im Gethmann-Vokabular – seine Aufforderung vor dem Opponenten rechtfertigen bzw. seine Behauptung begründen. Vgl. Gethmann 2023, 122–127.
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Durch die angeführten Beispiele konnten wir die verschiedenen Stellen offenlegen und isolieren, die ein Rechtfertigungsakt ausfüllt oder ausfüllen kann. Es ist wichtig festzuhalten, dass in den oben genannten Beispielen von einer Rechtfertigung die Rede ist. Die Beispiele verweisen auf Rechtfertigungen, sind aber selbst keine Äußerungen, mit denen (sich) jemand rechtfertigt. Die meisten Äußerungen, die genutzt werden, um etwas zu rechtfertigen, haben eine ganz andere Form. So könnte der in [R1] beschriebene Rechtfertigungsvollzug zum Beispiel auf As Äußerung der Art »Entschuldigt, dass es so chaotisch ist, aber es wurde eingebrochen.« ([R1a]) zurückgehen. Mit dieser Aussage vollzieht A dann eine Rechtfertigung. Für [R2] bis [R5] wären folgende Rechtfertigungsredevollzüge konstruierbar: [R2a] »Wieso, ich habe doch nichts falsch gemacht!« [R3a] »Wir hatten damals keine andere Wahl!« [R4a] »Schau doch, die Aussicht! Die ist es wirklich wert.« [R5a] »Das sehen wir doch alle so, deshalb ist es wahr.« Mittels dieser vier Sätze kann eine Rechtfertigung als Redehandlung vollzogen werden, wobei offenbleibt, ob diese Rechtfertigung gelingt. Da wir den Begriff der Redehandlung weit fassen, fallen darunter auch Vollzüge, die nicht durch lautsprachliche Äußerungen, sondern zum Beispiel durch Gesten vollzogen werden. In [R4a] könnte der Rechtfertigende auch anerkennend auf das sich nun vor den Wanderern auftuende Tal zeigen und dabei eine gewinnende Geste ausführen. Anschließend an etwaig vorangegangene Äußerungen der Art »Ich habe keine Lust mehr«, »Lohnt sich diese Anstrengung wirklich?« wäre das dann ebenfalls ein Rechtfertigungsakt. Je nach faktischem Kontext ist es denkbar, dass der im Raum stehende Vorwurf gegen A gerichtet war, der die Wanderung überhaupt erst vorgeschlagen hatte. Ist das nicht der Fall oder aber steht die Mühe des Aufstiegs ohne direkten, mit moralischem Gewicht aufgeladenen Vorwurf einer Person gegenüber im Raum, dann geht es eher um Rationalitäts- oder Klugheitsgründe: Lohnt sich der Aufstieg oder sollte man in seiner Freizeit lieber etwas Anderes unternehmen? Wäre die atemberaubende Aussicht am Berggipfel nicht, gäbe es vielleicht keinen (Klugheits-)Grund dafür, die Wanderung anzutreten. In dieser Hinsicht ähnlich gelagert ist Beispiel [R5a]: Die Rechtfertigung der These besteht aus einem ad-populumArgument, das im Beispiel [R5] als nicht-gelingend zurückgewiesen wird. Züge dieser Art sehen wir oft in argumentationslogischen Sprachspielen, weil hier die Anforderungen an gültige Schlüsse besonders hoch und meist explizit sind. Es ist hier weniger eine Frage des Für und Wider, ob eine Rechtfertigung
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gelingt, sondern es gibt klare Regeln dafür, welche Züge im Spiel gemacht werden dürfen und welche nicht. Noch strengere Regeln gibt es für den Bereich der formalen Logik; hier spricht man aber in der Regel nicht von »Rechtfertigung«, sondern eher vom Übergang von (bzw. Zusammenhang zwischen) Prämissen auf (bzw. und) Konklusionen. Ob eine versuchte Rechtfertigung gelingt, hängt daran, ob es A gelingt, (1), die auferlegte Schuld oder, (2), die weniger normativ aufgeladene Beweislast durch das Vorlegen guter Gründe abzuwenden, abzulegen oder ihr gerecht zu werden. Was ›gute Gründe‹ sind, ist in der Regel praktisch etabliert und situationsspezifisch festzustellen (s.u.). Wichtig ist aber, dass es bei einer Rechtfertigung um die intersubjektiv kontrollierte Güte der Gründe geht. Es liegt nicht allein im Ermessen des Einzelnen, ob eine Rechtfertigung erfolgreich war oder nicht. Jemand kann zwar sagen: »Mir reicht das als Rechtfertigung«. Das bedeutet aber nicht, dass eine andere Gruppe kompetenter Sprecherinnen und Teilnehmerinnen unserer ethischen Praxis zu dem gleichen Ergebnis gekommen wäre. Das persönliche ›Durchgehenlassen‹ einer Handlung als Rechtfertigung ähnelt auch eher einer Entschuldung: Wenn jemand mir gegenüber Gründe für ein Fehlverhalten anführt, kann ich ihn (mir gegenüber) entschuldigen, wenn mir die angeführten Gründe ausreichen. Bei einer Rechtfertigung in einem solchen Entschuldigungssinne würden wir vielleicht sagen, dass wir in Zukunft vom Vorwurf absehen – aber eine Rechtfertigung im Rechtfertigungssinne ist nur dann gelungen, wenn die Gründe intersubjektiv für hinreichend gehalten werden; wenn also die Rechtfertigung einer anderen Prüfung als nur der Bedingung der Haltungsänderung des Gegenübers standhält.15 Auch wenn der Bereich der formalen Argumentationstheorie sich in seinen Gelingenskriterien von dem Bereich des informellen Argumentierens unterscheidet, ist diese Unterscheidung nicht grundsätzlich, sondern relativer Art. Führt jemand ein ad-populum-Argument an, das seine Thesen rechtfertigen soll, kann jemand anderes das für eine gelungene Argumentation halten. Dennoch 15 Ich entferne mich mit diesem Verständnis von ›Rechtfertigen‹ konzeptionell zum Beispiel von den Ausführungen Toulmins, der anführt, dass auch solche Rechtfertigungen gelingen können, die gerade nicht formal gültig sind oder eine These nur unzureichend stützen. Je nachdem, welche Tragweite die zur Debatte stehende Rechtfertigung hat, wer Teilnehmer des (konkreten) Diskursumfelds ist etc., ist es durchaus denkbar, dass auch das einzelne ›Durchgehenlassen‹ der Rechtfertigung eines Proponenten für eine Rechtfertigung ausreicht (»Für mich reicht das als Rechtfertigung.«), einfach weil der Diskurs durch die Rechtfertigungshandlung von den Teilnehmern als befriedigend abgeschlossen wird. Anders als beim Überzeugen (s.u.) ist beim Rechtfertigen aber der potenzielle Einspruch, den die Gemeinschaft ethisch-rationaler Akteure erheben kann (»Das rechtfertigt X doch gar nicht (hinreichend)!«), zu beachten – ein Verweis auf die gelungene persönliche Überzeugungsänderung allein ist nicht hinreichend.
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verfügt unsere (wissenschaftliche) Argumentationspraxis über Qualitätsansprüche, die zum Beispiel informelle Fehlschlüsse wie ein ad-populum als nicht hinreichend für die Stützung einer Argumentation halten. Später werden wir auf die Wichtigkeit der Einschätzung des Rezipienten zurückkommen, wenn es darum geht, den Unterschied zwischen Rechtfertigungen und Überzeugungen deutlich zu machen. Das Paradigma einer Rechtfertigung ist also, dass A mit Y Gründe anführt, die X plausibel machen und A oder denjenigen, den A vertritt, von einem tatsächlichen oder drohenden Vorwurf moralischer oder rational-prudentieller Art befreien. Dieser Vorwurf kann mehr oder weniger stark normativ aufgeladen sein, ihm wohnt aber immer eine Geltungsdimension inne. Was letztlich für eine Rechtfertigung notwendig ist, gibt der praktische Kontext vor. In unserer Lebenswelt kennen wir mannigfaltige Arten von Rechtfertigungen bzw. Rechtfertigungsversuchen. Stephen Toulmin zum Beispiel hat gezeigt, wie unterschiedlich die Ansprüche an verschiedene Diskurse sein können.16 Es ist in diesem Aufsatz nicht mein Ziel, die Kriterien für die Güte der Gründe für die konkreten Fällen genauer zu spezifizieren. Vielmehr geht es hier darum, zu zeigen, wie die beiden Diskurse (unabhängig von ihrer konkreten Gestaltung) sich typmäßig zeigen. Ich gehe hier auch nicht ausführlich auf mögliche Erwiderungen der Art ein, ein kontext- und diskursabhängiges Feststellen der Güte von Gründen würde grundsätzlich in einen Relativismus führen, der gerade in moralischer Hinsicht freilich großes Gefahrenpotenzial bergen kann: Wie lassen sich ›schlechte‹ (weil zum Beispiel diskriminierende) Argumentationen von ›guten‹ belastbar abgrenzen? Es ist diesbezüglich festzuhalten, dass in einem Gründe-Relativismus, in dem alle Gründe letztlich gleich gut (oder gleich schlecht) sind, die Kategorie des Grundes überhaupt hinfällig würde. Gleichzeitig müsste ein Relativist, wollte er seine Position attraktiv machen, begründen, warum sie überzeugend ist, und sich damit selbst in einen Gründe-Diskurs begeben. In der Tat ist es aber so, dass es Debatten geben könnte, in denen es kein minimales prä-diskursives Einverständnis darüber gibt, welche Kriterien für die Bewertung von Gründen angelegt werden sollen. Gethmann etwa zeigt, dass für das Führen von (Rechtfertigungs-)Diskursen ein minimales Einverständnis darüber bestehen muss, wie der Diskurs geführt wird (s. z. B. den FanatismusEinwand).17 Gleichzeitig sind wir, und das soll hier betont werden, gemeinsam 16 Vgl. etwa Toulmin 2003. 17 Vgl. Gethmann 2023, 126: »Somit kann ein Rechtfertigungsdiskurs nur gelingen, wenn es bezüglich dessen, was zu tun ist, ein jeweiliges ›prädiskursives Einverständnis‹ gibt und P in der Lage ist, auf dieses zu rekurrieren. Somit wird P versuchen, O daran zu erinnern,
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eingeübt, in verschiedenen Praxen gute Gründe von weniger guten Gründen zu unterscheiden: Während das Zuspätkommen wegen eines Verschlafens für die Freundesgruppe meist ein hinreichend guter Entschuldigungsgrund ist, ist die Angabe desselben Grundes im Kontext des Zuspätkommens im beruflichen Kontext nicht valide. Insbesondere zeigt sich hieran, dass (praktisches) Wissen über gute und schlechte Gründe eben nicht nur durch Bücher, sondern primär durch die Teilnahme an Praxen erworben wird. 3.
Zum Überzeugen
Während es beim Rechtfertigen also vor allem um eine Vorwurfsbefreiung durch ›gute‹, intersubjektiv nachvollziehbare Gründe geht, scheint das Überzeugen18 mehr mit einem Versuch der Überredung zu einem Haltungs- oder Meinungswechsel zu tun zu haben: Jemanden zu überzeugen heißt, so nehmen wir an, ihn zu einem Meinungswechsel zu bewegen. [Ü1] Erst nach Vorlage der Beweise konnte ich ihn überzeugen. [Ü2] Die Schauspieler im Theater gestern überzeugten mich nicht. [Ü3] Ich konnte ihn auch mit guten Gründen nicht davon überzeugen, dass er falsch liegt. [Ü4] Die neue Dekanin überzeugt mit ihrer Tatkraft auch ihre Zweifler. [Ü5] Er konnte sie mit Engelszungen davon überzeugen, ihm zu helfen. [Ü6] Die Argumentation überzeugt. Aus diesen Alltagssätzen lässt sich wiederum schablonenhaft eine Standardform ausweisen. Auch hier ist es aber wichtig anzumerken, dass Sätze [Ü1] bis [Ü6] Sätze über Überzeugens-Vollzüge sind; sie sind nicht Tokens dieses Vollzugstyps selbst. Darauf werden wir später zurückkommen. A überzeugt B (mittels Y) von X. [Ü1] Erst nach Vorlage der Beweise [Y] konnte ich [A] ihn [B] überzeugen.
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daß er sich in einer kommunikativen Situation befindet, d.h. in einer Situation, die dadurch bestimmt ist, daß bestimmte Handlungsbedingungen geteilt sind.« Interessanterweise steht dies entgegen der Wortbedeutung des mittelhochdeutschen »überzuigen« als »Ablegen eines Zeugnisses« gegenüber jemandem. Weiter oben habe ich bereits angemerkt, dass in bestimmten Debatten in der Rhetorik das Überreden und das Überzeugen voneinander getrennt werden: Ersteres beinhaltet demgemäß konzeptuell emotive Momente, während bei letzterem das Angeben von Sachgründen zentral steht.
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[Ü2] Die Schauspieler im Theater gestern [A] überzeugten mich [B] nicht. [Ü3] Ich [A] konnte ihn [B] auch mit guten Gründen [Y] nicht davon überzeugen, dass er falsch liegt [X]. [Ü4] Die neue Dekanin [A] überzeugt mit ihrer Tatkraft [Y] auch ihre Zweifler [B]. [Ü5] Er [A] konnte sie [B] mit Engelszungen [Y] davon überzeugen, ihm zu helfen [X]. [Ü6] Die Argumentation [Y] überzeugt. A und B sind – wie schon beim Rechtfertigen – Teilnehmer des ethischargumentativen Diskurses. Es braucht einen Handelnden, der eine andere Person von etwas überzeugt. Ein besonderer Fall ist Satz [Ü6]: Grammatisches Subjekt ist hier »die Argumentation«. Genau genommen handelt es sich bei »die Argumentation« allerdings um das Werkzeug oder Vehikel der Überzeugungshandlung, also um ein Glied des Typs Y. Der Satz zeigt an, dass weder A noch B in jedem Fall explizit genannt werden müssen. Nichtsdestotrotz ist ein Überzeugen, genauso wie die Behauptung [Ü6], ein kommunikativer Akt, der von jemandem vorgebracht wird. Freilich ist es also nötig, dass auch »die Argumentation« aus Beispiel [Ü6] von jemandem ins argumentative Spiel eingebracht werden muss. Allein der Fokus ist hier ein anderer, ähnlich wie bei [R5]: Durch Ausblendung der argumentierenden Person wird ein besonderer Fokus auf die Sachebene gelegt. Egal, wer die Argumentation vorbringt – sie ist, so impliziert der Sprecher, in der Lage, B (als imaginären oder tatsächlichen Rezipienten) zu überzeugen. X ist bei [Ü3] ein Sachverhalt, nämlich, dass B falsch liegt. In einigen der genannten Beispiele ist X elliptisch verkürzt und muss daher über den Äußerungskontext erschlossen werden. Bei [Ü1] ist X eine Auffassung von A (zum Beispiel, dass Herr Meyer der Täter in einem Mordfall ist). Bei [Ü2] hingegen meint der Sprecher, dass er von der Leistung (propositional formuliert: »dass sie gut waren«) nicht überzeugt war. Dass er die Leistung und nicht etwa die persönlichen Eigenschaften der Schauspieler meint, gibt der hier angenommene Kontext vor: Es ist nicht gemeint, dass die Schauspieler jemanden von ihrer Charakterstärke, ihrer privaten politischen Meinung etc. überzeugen, sondern eben von ihrer Leistung als Schauspieler.19 Ähnlich 19
Es ist denkbar, dass mit »die Schauspieler« beschreibend auf eine extensional gleiche Gruppe in einer anderen Funktion referiert wird. Dies müsste dann in der Regel im Kontext klargestellt werden: Fahren »die Schauspieler« (zufälligerweise) im gleichen Zug, könnte auf diese Gruppe ebenfalls mit »die Schauspieler« verwiesen werden, sofern klar ist, welche Personen damit gemeint sind – auch wenn es inhaltlich gar keine Rolle spielt, dass sie Schauspieler sind. Auf die Schwierigkeiten der Austauschbarkeit von
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rollenspezifisch muss [Ü4] verstanden werden: Die Dekanin hat hier ihre Zweifler von sich, aber von sich als Dekanin überzeugt, nicht etwa von sich als Amateur-Tennisspielerin etc. Sie will davon überzeugen, dass sie ihre Arbeit gut macht, für den Job geeignet ist. In Satz [Ü5] ist die Änderung praktischer Art: B wurde überzeugt, eine Handlung des Helfens auszuführen. Hier geht es also nicht um eine Meinungsänderung in Form eines Wechsels der für überzeugend gehaltenen Propositionen, sondern um die praktische Dimension einer Überzeugung.20 Satz [Ü6] ist ein Spezialfall aus dem Bereich der (in-)formellen Argumentationstheorie: Hier wird die Güte eines argumentativen Systems vom Sprecher von [Ü6] als überzeugend behauptet. Es ist allerdings nicht klar, ob das der Fall ist, weil die Argumentation bestimmten Ansprüchen des logischen Argumentierens standhält, oder ob das Gelingen allein am tatsächlichen Überzeugtsein des (imaginären oder tatsächlichen) Rezipienten hängt. Es könnte, je nach Kontextfaktoren, damit gesagt sein: Ein (bzw. stärker: jeder) Rezipient finde die Argumentation so plausibel, dass er von den aus ihr resultierenden Konklusionen im Sinne einer Akzeptanz überzeugt wurde. Welche argumentativen Mittelbestände in der Argumentation herangezogen werden, ist nicht genannt. Die Ausblendung von A soll nahelegen, dass es keine Rolle spielt, wer die Argumentation vorbringt, oder wer, nämlich B, überzeugt worden ist – die Argumentation sei per se überzeugend. Der Satz könnte sich so aber etwa auch im Gutachten einer studentischen Hausarbeit finden: Dann gibt die Gutachterin damit an, dass sie die Argumentation für überzeugend hält, also annimmt, dass Leserinnen sich davon überzeugen ließen. Es ist damit aber nicht zwangsläufig gesagt, dass die Gutachterin selbst überzeugt worden ist. Es kann gegenläufige Gründe geben, warum die Gutachterin selbst nicht überzeugt ist, aber die Stärke der Argumentation anerkennt. Mindestens legen die Leerstellen nahe, dass es in diesem Kontext weniger um das tatsächliche Überzeugtsein von A oder B geht, sondern eher um die Überzeugungskraft der Argumentation (auf einer Sachebene). Es zeigt sich für die Praxis des Überzeugens: A und B sind Personen, also Teilnehmer am rational-ethischen Diskurs. X umfasst in den Beispielen Meinungen (verstanden im weiten Sinne, also auch in Gestalt (formal-)logischer
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Kennzeichnungen, Beschreibungen oder Eigennamen (insbesondere beim Referieren auf soziale Gruppen) sei hier aber nicht weiter eingegangen. Der Zusammenhang zwischen (propositionalen) Überzeugungen und Praktitionen als mit praktischer Absicht erwogene propositionale Gehalte bzw. die Frage nach der Übersetzbarkeit beider ineinander soll in diesem Aufsatz nicht geklärt werden. Vgl. dazu zum Beispiel Castañeda 1975, bei dem Präskriptionen (der dritten Person, in der Form »A (to) do X«) und Intentionen (der ersten Person, in der Form »I (to) do x«) zusammen die Menge der Praktitionen bilden.
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Konklusionen) aber auch praktische Handlungsvolitionen. Das Überzeugen als Person in einer Rolle kann ebenfalls auf das Ändern einer Meinung im Propositionssinne zurückübersetzt werden: Die Zweifler der Dekanin sind nun davon überzeugt, dass sie für den Job geeignet ist. Die Frage der Übersetzbarkeit von Propositionen in Praktitionen (und umgekehrt) haben wir ausgeklammert. Wichtig ist nur, dass es also in Bezug auf Haltungsänderungen einerseits eine theoretische Dimension, andererseits aber auch eine praktische Dimension gibt. Ein Überzeugungsversuch21 ist dann gelungen, wenn B am Ende zu ebendieser theoretischen oder praktischen Haltungsänderung gelangt ist. Zur Erreichung dessen stehen A verschiedene argumentative Mittelbestände zur Verfügung: Das Vorlegen von Beweisen [Ü1] etwa ist ein klassisches Beispiel für ein Hervorbringen von Gründen, die die alternative Überzeugung, die B vor Bekanntgabe der Beweise vielleicht hatte, überschreiben. Der Ausdruck »Beweise« deutet schon das hohe Maß an evidenzieller Qualität an, das hier vorliegt. Im genannten Fall sieht jemand seine vorherige Überzeugung also als überholt an, weil er nun Fakten kennt, die seine Überzeugung als unplausibel, unmöglich oder weniger adäquat ausweisen. Hier ist das Mittel der Wahl zum Überzeugen von B also eine an (empirische) Evidenzen geknüpfte Argumentation. Bei Beispiel [Ü3] ist nicht ganz klar, welche Arten von Gründen angeführt wurden, um B von der angenommenen Falschheit seiner Überzeugungen zu überzeugen. Ob Gründe als gut oder schlecht eingeschätzt werden, hängt im Alltag – anders als in der bestenfalls streng kontrollierten wissenschaftlichen Praxis – nicht zwangsläufig (nur) davon ab, ob Gründe zum Beispiel nachvollziehbar, systematisch plausibel, breit geteilt, durch Experimente gestärkt sind, sondern kann sich je nach Kontext stark unterscheiden. Hat B bei [Ü3] zum Beispiel die Auffassung, dass Star Wars: Episode IV ein schlechter Film ist, könnte A, der die gegenteilige Auffassung vertritt, ihn durch verschiedenste Gründe (den Publikumserfolg des Films, die originelle filmische Umsetzung, die weitere Karriere der darin vertretenen Schauspieler, aber auch As wertvolles cineastisches Geschmacksurteil (in Form eines Autoritätsarguments) etc.) vom Gegenteil zu überzeugen versuchen. Auch eine mitreißende Rhetorik (wie in [Ü5]), ein souveränes Auftreten (wie in [Ü4]) etc. können Mittel der Wahl für den Versuch einer Überzeugung sein. Mit »überzeugen« im engeren Sinne aber nicht gemeint ist der Fall des Zwangs, in dem As Überzeugen 21
Ob man unter ›Überzeugungen‹ nur die jeweils erfolgreichen Überzeugungsversuche (im Gegensatz zu den scheiternden Versuchen) versteht, oder ob man von gelingenden und scheiternden Überzeugungen spricht, ist eine konzeptionelle Festlegung. Wichtig ist, dass das konzeptionelle Vokabular beide Varianten (Gelingen und Scheitern) darstellen kann.
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darin besteht, B zu bestechen, damit dieser beim nächsten Gespräch in der Freundesgruppe bekundet, dass er den Film gern mag. Dann ist B zwar von außen betrachtet überzeugt, er wird die Meinung aber, sobald die Situation des Zwangs aufgelöst ist, vermutlich nicht mehr äußern.22 Das Überzeugen als kommunikativer Akt ist also gelungen, wenn die Rezipientenseite eine Meinungs- oder Haltungsänderung vorgenommen hat. Damit ist das Urteil über das Gelingen einer Überzeugungshandlung durchaus subjektiv und intersubjektiv nicht per se anfechtbar. Wenn B sagt, ihn habe As Argumentation überzeugt, kann C einwenden, dass ihn die Argumentation (aus Gründen g) nicht überzeugt hat. Er kann versuchen, B darüber aufzuklären, warum B besser auch nicht davon überzeugt sein sollte. Er kann B das Überzeugtsein aber erst einmal nicht absprechen. Es ist gerade der Witz des Überzeugens, dass auch intersubjektiv als gut eingeschätzte Gründe nicht in jedem Fall notwendig oder hinreichend für das Gelingen sind. B kann zum Beispiel vom charismatischen Auftreten eines Politikers P überzeugt werden und alle Versuche von C, B zu zeigen, dass P kein guter Politiker ist (was passenderweise selbst einen Überzeugungsversuch darstellt!), nur kompetent scheint etc. müssten nicht fruchten. B steht – anders als beim Rechtfertigen – mit seinem Überzeugtsein auch nicht im starken Sinne in einer normativen Beweislast, kann sein Überzeugtsein zwar rechtfertigen (müssen), aber verfügt über die Autorität darüber, diese Haltung trotz anderslautender Gründe beizubehalten. Er muss sich eventuell (starke) Vorwürfe der Ignoranz, Unklugheit oder der Naivität gefallen lassen, kann seine Haltung aber im Sinne eines »Aber ich finde das überzeugend!« beibehalten. Jemand, der sich stichhaltigen Argumenten vehement verweigert, sieht sich allerdings gegebenenfalls einem möglichen Ignoranz- bzw. Fatalismuseinwand ausgesetzt. 22
Ob es sich dann bei der unter Zwang sich ergebenden Äußerung um eine authentische Meinung handelt, hängt davon ab, wie wir »Meinung« verstehen wollen. Im in diesem Aufsatz herangezogenen anti-mentalistischen Framework ist es natürlich mitunter schwierig, zu entscheiden, was B wirklich über den Film denkt, wenn alle äußerlich erkennbaren und zugänglichen Marker darauf hinweisen, dass er den Film mag. Durch die Konstruktion unseres Beispiels ist uns aber klar, dass B diese Meinung nur äußert, weil er muss – nicht, weil er den Film gut findet. In einem Fall, in dem wir keine Anhaltspunkte darüber hätten, herauszufinden, ob Bs Meinungsäußerung durch Zwang hervorgebracht wurde, müssten wir uns mit den uns zugänglichen Markern zufriedengeben und annehmen, dass B den Film wirklich mag. Das aber nur gesetzt den Fall, dass es wirklich keine Hinweise darauf gibt, dass es auch anders sein könnte, und dass wir nicht von der Situation des Zwangs wissen. Das hat einfach mit der epistemischen Zugänglichkeit zu den Überzeugungen anderer zutun: Wir können nur die uns gegebenen Informationen dazu nutzen, auf die Überzeugungen anderer zu schließen – andere Wege, zu ihnen vorzudringen, haben wir nicht.
Überzeugen und Rechtfertigen als argumentative Handlungen
4.
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Fazit
Im Vorangegangenen ist erläutert worden, wie Rechtfertigungs- und Überzeugungsvollzüge in unserer sozialen Praxis ›funktionieren‹. Das Rechtfertigen ist stärker an die Güte der Gründe im Sinne intersubjektiver Akzeptanz oder Akzeptierbarkeit gebunden. Oft rechtfertigt man sich, das heißt seine eigenen Handlungen oder Zustände, für die man verantwortlich gemacht wird, zur Tilgung einer auferlegten Schuld oder eines ethisch relevanten Vorwurfs. Das Rechtfertigen findet sich in einer zweiten Bedeutungsdimension auch in der Praxis wissenschaftlichen Arbeitens, wenn es darum geht, argumentative Systeme zu entwickeln, die eine These stützen. Hier spielt, im Idealfall, die moralische Dimension keine Rolle, sondern nur die Qualität der (Sach-)Gründe. Sachrechtfertigungen sind außerdem, zumindest im Idealfall, personenunabhängig, das heißt, es ist egal, wer diese Rechtfertigung vorbringt. Ihr Gelingen ist an inhaltliche Gründe gebunden. Das Überzeugen wiederum ist dann erfolgreich, wenn das Gegenüber einen Meinungs- oder Haltungswechsel vornimmt oder etwas tut, zu dem er oder sie (implizit) aufgefordert wurde. Das Gelingen ist somit an die Rezipientinnenseite gebunden. Ein Überzeugen kann mithilfe unterschiedlichster (rhetorischer und argumentationslogischer) Mittelbestände vollzogen werden. Überzeugens- und Rechtfertigungsakte können außerdem auf vielfältige Weise miteinander verquickt sein: Beide sind Typen von Argumentationshandlungen und gehen in dialogischen Abfolgen oft miteinander Hand in Hand. Scharf trennen lassen sich die Vollzüge aber auf dem philosophischen Seziertisch. Dann können wir zum Beispiel folgenden durchaus komplizierten Fall analysieren: A, der von L überzeugt ist, kann sein Überzeugtsein mit Argumentation M rechtfertigen. Sein Gegenüber B kann dann M für stichhaltig halten und As Überzeugtsein von L nicht weiter anfechten, obwohl er selbst nicht von L, sondern nur von M überzeugt ist. Er kann aber durch M gleichzeitig auch von L überzeugt werden. Diese feine Unterscheidung zwischen Rechtfertigungs- und ÜberzeugungsVollzügen kann uns dabei helfen, Dissense in argumentativen Zusammenhängen aufzudecken: Wenn erst einmal klar ist, wer zu welchen Zwecken mit welchen Mitteln welchen Zug im Sprachspiel macht, und was die jeweiligen Gelingensbedingungen und Gütekriterien für diese Züge sind, können Ungenauigkeiten und Fehlzüge aufgedeckt und problematisiert werden – zum Beispiel im Bereich heterodoxer Wissensdiskurse. Insbesondere wenn es um die Beurteilung der Güte von Gründen geht, braucht es eine Gebrauchsanweisung, die die Philosophie zur Verfügung stellen kann. Gleichzeitig braucht es aber auch, das fordert das Leistungsangebot der ›Gebrauchsanweisung‹,
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Anna Kahmen
Teilnehmerinnen der (normativen und epistemischen) Sprachspiele, die zweckgerichtet über Gelingen und Scheitern sowie über die Bewertung der eingesetzten Mittel und die angelegten Verfahren diskutieren. In Bezug auf die Tugenden der Wissenschaft liegt es, das möchte ich abschließend als These in den Raum stellen, nahe, anzunehmen, dass es eine gewisse Pflicht zum Überzeugtsein bei gelungener Rechtfertigung gibt: Muss ich mich (in Wissensdiskursen) von guten Gründen überzeugen lassen oder darf ich – entgegen jeder Klugheit – eine Haltungsänderung verweigern? Welche argumentativen Vollzüge klassifizieren wir als ›gute‹ Wissenschaft und warum? Dies sind einige der relevanten Anschlussfragen, die diese Untersuchung offenlässt. Bibliographie Hector-Neri Castañeda: Thinking and Doing. The Philosophical Foundations of Institutions. Dordrecht 1975. Michael Dummett: Thought and Reality. Oxford 2006. Alexander Fischer: Manipulation. Zur Theorie und Ethik einer Form der Beeinflussung. Berlin 2017. Gottlob Frege: Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens. Halle 1879. (Originalabdruck in Matthias Wille: Gottlob Frege: Begriffsschrift, eine der Arithmetischen Nachgebildete Formelsprache des Reinen Denkens. Berlin/Heidelberg 2018.) Carl Friedrich Gethmann: Konstruktive Ethik. Berlin/Heidelberg 2023. Carl Friedrich Gethmann/Geo Siegwart: Sprache. In: E. Martens/H. Schnädelbach (Hg.): Philosophie. Ein Grundkurs. Band II. Reinbek 1991, S. 549–605. Thorsten Sander: Redesequenzen. Untersuchungen zur Grammatik von Diskursen und Texten. Paderborn 2011. Stephen E. Toulmin: The Uses of Argument. Cambridge 2003.
Erkenntnistheoretische Strukturen heterodoxer Wissensdiskurse Winfried Löffler 1.
Wo anfangen?
Seit dem Frühjahr 2020 hat sich für viele Menschen ein Eindruck unbehaglicher Unübersichtlichkeit in ihrer Wahrnehmung besonders der Medienwelt eingestellt – und wenn man sich den Dingen mit einem erkenntnistheoretischen Blick nähert, ist es schwer zu sagen, wo eine Analyse am besten beginnen könnte und wie man die Wahrnehmungen überhaupt korrekt beschreiben soll. Denn zu viele erkenntnistheoretisch besorgniserregende Phänomene zugleich scheinen es zu sein, die sich als erstaunlich präsent, robust, und auch einflussreich in Politik und Gesellschaft gezeigt haben, oft genug ihre Spur bis in den eigenen Verwandten- und Bekanntenkreis ziehen und mitunter auch die Ränder der Wissenschaft berühren: Privatfernsehkanäle und dubiose Internet-Informationsportale propagieren deutlich divergente Weltversionen; eine erstaunlich kritiklose Gläubigkeit gegenüber den oft sloganartigen Botschaften aus solchen ›alternativen Medien‹ verbindet sich aber just mit dem Anspruch des Selbstdenkens und Kritischseins; WissenschaftlerInnen werden von größeren und kleineren Medien als ›ExpertInnen‹ häufig und auch jenseits ihrer Kernkompetenzen befragt, und sie finden sich dann mitunter in ungewohnten Rollen wieder – von der Zielscheibe für Anfeindungen bis zur zeitweiligen Gewährsperson der Querdenker-Szene; Fachfremde und Laienpersonen betätigen sich plötzlich (aber meist mit absehbarer Ergebnistendenz) als Hobby-EpidemiologInnen, Politik-AnalystInnen o.a. und werden mitunter als Blog-BetreiberIn zum Star in den sozialen Medien; schlagzeilentaugliche Bruchstücke aus wissenschaftlichen Fachdiskussionen machen in Windeseile die Runde in nationalen und internationalen Medien, erweisen sich dann aber mitunter als vorschnell, prognostisch untauglich, aus dem Kontext gerissen oder missverstanden; medial inszenierte Panel-Diskussionen zwischen Fachleuten und ExponentInnen alternativer Standpunkte erwecken den Eindruck asymmetrischer Konflikte und des Aufeinanderprallens unterschiedlicher * Dieser Beitrag entstand im Kontext des Euregio-Science-Fund-Forschungsprojekts IPN 175-G Resilient Beliefs: Religion and Beyond (2022–2024). Ich danke Alexander Fischer und Mathis Lessau für zahlreiche hilfreiche Kommentare zu einer früheren Version dieses Aufsatzes.
© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768174_003
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Weltversionen; Thesen eines großräumigen Belogen- und Gesteuertwerdens durch ›die Mainstreammedien‹, ›die Pharmaindustrie‹, ›das System‹ oder einfach ›sie‹ werden zwar mit dem Brustton der Überzeugung ausgedrückt, können aber meist nicht näher begründet werden und haben (jenseits von Corona-Themen) auch wenig praktische Konsequenzen; allerdings finden parallel zur üblichen Heilkunde auch merkwürdige Formen von Alternativ- und Hybridmedizin, die ohne Wirkungsnachweis oder gar längst als gefährlich erkannt sind, erstaunlichen Absatz; wissenschaftlicher Konsens wird nicht als Anzeichen von Wahrheitsnähe, sondern als Hinweis auf Gleichschaltung, Korrumpierung oder intellektuelle Schwäche diskreditiert, stattdessen rückt robuster Dissens in den Rang eines Wahrheitsanzeigers auf; ›Faktenchecker‹Medien sind ein wachsendes Genre, werden aber ihrerseits mitunter wieder zum Objekt von Anfeindungen und Diskreditierungsversuchen; etc., etc. – die Liste ließe sich leicht verlängern. Zum Teil bereiten diese Phänomene schon in ihrer korrekten sprachlichen Bezeichnung Probleme: Gegen den pauschalisierenden Gebrauch von Ausdrücken wie ›Verschwörungstheorien‹ und ›Fake News‹ gibt es beachtenswerte Einwände mit verschiedener Stoßrichtung,1 ›Desinformation‹ trifft die Sache meist deshalb nicht, weil viele dieser Inhalte dezentral und ›von unten‹ erzeugt, nicht gesteuert und oft in subjektiv bester Absicht generiert und weitergegeben werden. Auch hat die Weitergabe solcher Inhalte ja oft weniger ›Informations‹- und Neuigkeitswert, sondern dient eher der Bekräftigung dessen, was man ohnehin schon glaubte, und der Bestärkung der dissentierenden Identität. ›Lügen im Netz‹ (oder anderswo) trifft nur Teile des Phänomenbereichs: Nicht jede faktische Falschaussage oder Fehlbeschreibung muss schon eine Lüge sein; viele Menschen generieren falsche und irreführende Inhalte ohne ihr Wissen und mit subjektiv besten Absichten, erst recht gilt das für die meist kurzentschlossene und leichtfertige Weitergabe solcher Inhalte, und schließlich kann man extrem verzerrende und irreführende Darstellungen auch dadurch gewinnen, dass Teilwahrheiten aus dem Kontext gerissen und neu eingeordnet werden. Im Folgenden soll als relativ neutraler und unbelasteter Ausdruck, der viele (wenngleich vielleicht nicht alle) dieser Phänomene abdecken sollte, das Leitthema des Bandes aufgegriffen werden: Ich schlage vor, sie zunächst einmal als ›heterodoxe Wissensdiskurse‹ anzusprechen und möchte in diesem Beitrag 1 Am Ausdruck ›Verschwörungstheorien‹ wird einerseits die abwertende Konnotation gerügt, andererseits aber auch bemängelt, er verleihe dem Phänomen bereits mehr an wissenschaftstheoretischer Dignität, als ihm zusteht. Der Ausdruck ›Fake News‹ legt nahe, dass es sich um bewusst fabrizierte Fehlinformation mit Nachrichtenqualität handelt – das gibt es zwar auch, es deckt aber nur einen kleinen Teil der Weisen ab, wie gegenwärtig problematische Informationsformen entstehen.
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den erkenntnistheoretischen Hintergründen einiger ihrer Formen nachgehen. Auch dieser Ausdruck bedarf aber (in allen seinen drei Teilen) einer Explikation, die in Abschnitt 2 skizziert wird. In den Abschnitten 3 bis 5 sollen einige Grundlagen aus der sogenannten sozialen Erkenntnistheorie2 bereitgestellt werden, die hilfreich sein können, um heterodoxe Wissensdiskurse zu verstehen. Diese Grundlagen betreffen die epistemische Arbeitsteilung, die generelle Rolle des Zeugnisses anderer und die spezielle Rolle epistemischer Autoritäten und ExpertInnen. In Abschnitt 6 soll kurz an einen klassisch gewordenen Vorschlag von Alvin Goldman zu den Kriterien für echte Expertise erinnert werden; mit mit diesem Maßstab als Grundlage soll in Abschnitt 7 untersucht werden, inwieweit sich die Rolle von ›ExpertInnen‹ in heterodoxen Wissensdiskursen von der in anderen Diskursen unterscheidet, und gefragt werden, ob Goldmans Kriterien auch dort ihre Abgrenzungswirkung entfalten können. Der Beitrag schließt mit einigen Beobachtungen und strukturellen Überlegungen zu jenen Diskursformen, wo ›Experten‹ mit heterodoxen Wissensansprüchen auf andere ExpertInnen treffen (Abschnitt 8).3 2.
Heterodoxe Wissensdiskurse: eine Arbeitsdefinition
Was sind also ›heterodoxe Wissensdiskurse‹? In erster Näherung könnte man als Arbeitsdefinition vorschlagen, es handle sich um Diskurse, in denen zumindest ein beteiligter Teil heterodoxe Ansichten vertritt und sich dessen auch bewusst ist, in dem aber alle Teile zumindest mit dem Anspruch des Wissens auftreten. Damit ist allerdings erst eine Vorstufe zur Klarheit geschaffen, denn die Ausdrücke ›heterodox‹, ›Wissen‹ und ›Diskurs‹ sind ihrerseits explikationsbedürftig. Als ›heterodox‹ seien Positionen bezeichnet, die in wichtigen Dingen vom deutlichen Mehrheitskonsens abweichen, wobei ihre VertreterInnen um diese Abweichung aber auch wissen und sie beizubehalten vorhaben. Diese 2 Während die traditionelle Erkenntnistheorie meist von der Frage ausging, wie das individuelle Subjekt zu seiner Erkenntnis über die Welt kommt, rückt die soziale Erkenntnistheorie stärker die Rolle der Anderen und der Erkenntnisgemeinschaft beim Erkenntnisprozess in den Vordergrund: Ihre klassischen Themen sind etwa Zeugnis, epistemische Autoritäten, Expertenwissen, rationaler und irrationaler Dissens sowie epistemische Ungerechtigkeiten. 3 Ein Thema, das ich hier weitgehend ausklammere, sind die ökonomischen Anreizstrukturen hinter manchen der geschilderten Phänomene und die Möglichkeiten von Desinformation als Geschäftsmodell: Unter anderem mit Vorträgen und Publikationen heterodoxen Inhalts, alternativen Heilmitteln, Spendenaufrufen und vor allem den Werbelinks auf Web-Seiten (›click-baiting‹) lässt sich auch einiges Geld verdienen.
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Art von Heterodoxie ist etwas anderes als das geläufige und wissenschaftstheoretisch interessante Phänomen, dass es vorübergehende Auffassungsunterschiede gibt, aus denen mittelfristig auch wissenschaftlicher Fortschritt entstehen kann;4 dabei gehen die Beteiligten aber ergebnisoffen vor, was bei den uns interessierenden Heterodoxie-Phänomenen typischerweise nicht der Fall ist. ›Wissen‹ soll hier in einem philosophisch-erkenntnistheoretischen Sinn als ›justified true belief‹ verstanden werden, also (so ungefähr) als ein Glauben, das auch wahr ist und (anders als das bloß wahre Raten) auch eine qualifizierte Begründung hat.5 Diese Wissensexplikation scheint hier insofern angemessen, als die TeilnehmerInnen in heterodoxen Wissensdiskursen ja durchwegs mit Wahrheitsanspruch auftreten. Wissensdiskurse sind also solche, in denen Wissen und seine Begründung zur Frage stehen. Was aber ist ein ›Diskurs‹? Dafür stehen mit Habermas und Foucault zwei deutlich unterschiedliche Explikationsangebote zur Verfügung, die gleichermaßen in den Bildungsjargon und ins breite Bewusstsein eingegangen sind (Habermas 1992, hier bes. 138 f.; Foucault 1981): Während im Habermas’schen Sinne ein Diskurs eine rationale Argumentationssituation über konfligierende normative Geltungsansprüche, ein Geben und Nehmen von Gründen mit dem (idealisierten) Fernziel allgemeinen Konsenses der Beteiligten ist, die bestimmten (und anspruchsvollen) kommunikationstheoretischen Spielregeln folgen sollte6, ist im Foucaultschen Sinn Diskurs alles, was faktisch an sprachlichen Gegenständen in einer Gesellschaft, Personengruppe o.a. zu einem Themenbereich eben ›kursiert‹, also im Umlauf ist, herumgereicht wird, en vogue ist, wiederholt wird, herrschende Sprech- und Beschreibungsweise ist etc. – also alle Arten von Texten, Veröffentlichungen, Begriffen, graphischen Darstellungen, Theoriebildungen, etc. Der Diskurs bestimmt aber nicht nur die Sprache, sondern auch die Denkweisen zum betreffenden Thema und letztlich auch die Handlungsweisen in Bezug auf bestimmte Objekte. Somit 4 Ein solcher Fall wären etwa die seit einigen Jahren forcierten Ansätze ›Heterodoxer Ökonomik‹, die bereits in der universitären Forschung und Ausbildung angekommen sind. 5 Auf dieser Genauigkeitsstufe muss ich es für die Zwecke dieses Beitrags bewenden lassen. Seit Edmund Gettiers kurzem, denkwürdigem Aufsatz Is justified true belief knowledge? (Gettier 1963) ist die Frage der richtigen Explikation von ›Wissen‹ in der Erkenntnistheorie notorischerweise hochkontrovers, aber ungelöst. – Konsens herrscht aber immerhin darüber, dass Wahrheit einen Teil der ›Wissens‹-Explikation ausmachen muss: Man kann Falsches zwar glauben, aber nicht wissen. Das unterscheidet den philosophischen vom soziologischen Wissensbegriff, der nicht wesentlich auf Wahrheit abstellt, sondern nur auf allgemein verfügbare Orientierung. Für die Zwecke dieses Beitrags scheint ein solcher soziologischer Wissensbegriff zu schwach zu sein. 6 Siehe hierzu den Beitrag von Fischer und Illies in diesem Band.
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geht vom Diskurs einerseits Deutungsmacht auf die Gesellschaft aus, insofern z. B. bestimmte Probleme, Krankheitsbilder etc. erst durch ihre sprachliche Fassung einflussreich werden, andererseits können Diskurse auch Machtverhältnisse in der Gesellschaft widerspiegeln: Wer in relevanter Weise am Diskurs teilnehmen darf und wer die Spielregeln festlegt, wie zu bestimmten Themen (nicht) geredet werden sollte, all das gibt auch Aufschluss über die herrschenden Machtverhältnisse. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags scheint es sinnvoll, ein mehr an Foucault als an Habermas orientiertes Verständnis von ›Diskurs‹ zugrunde zu legen, denn das verbreitert die Anwendbarkeit: Manche der heterodoxen Wissensdiskurse (man denke an die vielapostrophierten ›Blasen‹ in den sozialen Medien) sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass alle Beteiligten ohnedies ähnlicher Meinung sind. OpponentInnen oder RepräsentantInnen anderer Auffassungen sind gar nicht anwesend, sodass sozusagen in Abwesenheit des Beschuldigten verhandelt wird und gar keine konfligierenden Geltungsansprüche im Raum stehen. Andere heterodoxe Wissensdiskurse – dort, wo wirklich heterodoxe auf konfligierende andere, mehr der ›Orthodoxie‹7 verpflichtete Geltungsansprüche stoßen – sind dagegen von Habermas’schen Kommunikationsregeln häufig weit entfernt: Hier geht es meist weniger um Erkenntnisgewinn oder das sich-Einigen auf eine allgemein akzeptable normative Position, sondern vielmehr um strategische Kommunikation bzw. (in Foucaultscher Beschreibung) um die Gewinnung oder Behauptung von Diskursmacht.8 Zusammenfassend sei als Arbeitsdefinition für ›heterodoxe Wissensdiskurse‹ also festgehalten, dass darunter sprachliche Kommunikationsformen (und ihre Niederschläge in Form von Texten aller Art, Begriffen, Theorien, usw.) gemeint sind, an denen zumindest ein signifikanter Teil der Beteiligten mit dem Bewusstsein teilnimmt, dauerhaft Meinungen zu vertreten, die mit denen der etablierten Mehrheitsposition in wichtigen Punkten inkompatibel sind, wobei alle Beteiligten aber in dem Bewusstsein und mit dem Anspruch agieren, ihre Meinungen beträfen Gegenstände, über die es grundsätzlich Wissen geben kann.9 7 Wo ich gelegentlich vereinfachend von ›orthodoxen‹ Positionen, Meinungen oder Diskursen spreche, so soll damit nicht insinuiert werden, es gäbe in den betreffenden Themenbereichen jeweils ›die‹ klaren inhaltlichen Standards; gemeint sind einfach Positionen etc., die sich nicht als heterodox verstehen. 8 Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass auch bei Dissensen zwischen anerkannten WissenschaftlerInnen mitunter Gesichtspunkte strategischer Kommunikation mitspielen können. 9 DefinitionsexpertInnen werden monieren, dass diese Definition einige dehnbare und normative Begriffe enthält (›ein signifikanter Teil‹; ›Mehrheit‹, ›in wichtigen Punkten‹, ›es
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Über semantische und epistemische Arbeitsteilung
In heterodoxen Wissensdiskursen ist es regelmäßig so, dass viele der Beteiligten mit Wissensanspruch über Dinge reden, die sie nicht aus eigener Erfahrung und eigenem Umgang näher kennen und vermutlich auch nie kennenlernen werden. Das ist allerdings nicht etwa ein Charakteristikum bloß heterodoxer Wissensdiskurse und auch keine Schwäche, dies gilt vielmehr auch für einen Großteil des alltäglichen und auch des wissenschaftlichen Redens: Kaum jemand hat selber wissenschaftliche Experimente angestellt oder sämtliche Länder der Erde besucht, und dennoch glauben wir an die Inhalte der Wissenschaften, die Existenz von Neuseeland und der Chinesischen Mauer. Auch wenn etwa durchschnittliche PKW-BesitzerInnen über die Vor- und Nachteile von Steuerketten gegenüber Zahnriemen im Motor oder NichtmedizinerInnen über die Wirksamkeit verschiedener Impfstoffe reden, dann wird dies regelmäßig der Fall sein. Und obwohl sie die Bezugsobjekte ihrer Rede vielleicht nicht einmal lokalisieren oder identifizieren (»Wo genau sitzt eigentlich so ein Zahnriemen?«) oder mit ihnen umgehen könnten, kann man doch nicht sagen, ihre Rede bezöge sich auf nichts oder sei inhaltlich unbegründet. Und sogar medizinische WissenschaftlerInnen, die nicht unmittelbar mit Impfstoffforschung befasst sind, werden ihr Wissen darüber größtenteils aus den Äußerungen anderer beziehen. Es gibt also auch in den heute hochspezialisierten und in kleine Einzelgebiete gegliederten Wissenschaften so etwas wie eine epistemische, also erkenntnismäßige Arbeitsteilung. Diese sei im Umweg über ein verwandtes Phänomen, nämlich die semantische Arbeitsteilung, erläutert, auf das der prominente US-amerikanische Philosoph Hilary Putnam (1926–2016) 1975 in einem zentralen Text der Sprachphilosophie (Putnam 1990) hingewiesen hat. Wie kommt die Bedeutung unseres Sprechens über Dinge zustande, die wir nur sehr oberflächlich oder indirekt kennen? Wie können z. B. auch jene Menschen bedeutungsvoll über ›Ulmen‹ und ›Buchen‹ reden und erfolgreich auf sie Bezug nehmen, die selbst gar nicht fähig wären, eine Ulme von einer Buche zu unterscheiden? Oder wie können (um ein aktuelles Beispiel aufzugreifen) Menschen bedeutungsvoll die Eigenheiten verschiedener Impfstoffe erörtern, obwohl ihnen vielleicht nicht einmal der Unterschied zwischen Bakterien und Viren geläufig ist und sie nicht wissen, wie man eine Impfung genau verabreichen würde? Putnam meint, zusammengefasst, dass dies unter drei Bedingungen möglich kann grundsätzlich Wissen geben‹. Das ist einzuräumen und auch nicht leicht beseitigbar; die Heterodoxie eines Wissensdiskurses ist wohl tatsächlich eine graduelle und keine J/N-Eigenschaft.
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ist: (1) Man muss gewisse semantische Marker kennen, d.h. ungefähr wissen, welche Prädikatorenregeln für die betreffenden Wörter gelten: Eine ›Ulme‹ ist ein ›Baum‹, ein ›Baum‹ ist eine ›Pflanze‹, ›Ulmen‹ sind aber keine ›Birken‹ und auch keine ›Fichten‹ usw. (2) Man muss passende ›Stereotype‹ über die betreffenden Gegenstände haben: Man muss z. B. wissen, dass eine ›Ulme‹ ein größerer Laubbaum rundlicher Gestalt mit nicht allzu großen Blättern ist und ein ›Impfstoff‹ eine Substanz, die man zum Schutz vor Krankheiten in den Körper aufnimmt, und die im Körper bestimmte naturwissenschaftlich beschreibbare Wirkungen entfaltet. Wer sich unter einer ›Ulme‹ eine Pflanze mit langem, verholzten Stiel und oben hervortretenden meterlangen Blättern vorstellt (also offensichtlich an etwas Palmenartiges denkt), der bezieht sich nicht mehr erfolgreich auf Ulmen. (3) Es muss den Beteiligten klar sein, wo es ExpertInnen gibt, die die Referenzobjekte der Wörter genau kennen, also z. B. auch den Unterschied zwischen ›Ulmen‹ und ›Buchen‹, die also die genaue Bedeutung dieser Wörter stabilisieren und im Zweifelsfall gefragt werden könnten – in diesem Fall z. B. die Angehörigen botanischer, forstwissenschaftlicher und ähnlicher Institute. Die soziale Etablierung und Stabilisierung von sprachlicher Bedeutung – besonders dort, wo es um Gegenstände und Themen geht, die den Erfahrungskreis der meisten Menschen übersteigen, wie es etwa in der Wissenschaft der Fall ist – erfolgt also ›arbeitsteilig‹ in dem Sinn, dass Menschen ja nach Expertise und Spezialisierung in einem Thema unterschiedliche Beiträge dazu leisten: Das Sprechen der nur peripher Involvierten wird durch das Spezialwissen Einiger in seiner Sprachbedeutung gesichert, umgekehrt machen die zahlenmäßig überwiegenden Nicht-ExpertInnen mit ihrem bescheidenen Wissen um semantische Marker und Stereotypen das Spezialwissen der ExpertInnen sozusagen für die breite Masse fruchtbar. Etwas grundsätzlich Ähnliches (und auch sachlich Verwandtes) gilt nun für die arbeitsteilige Etablierung von epistemischer Rechtfertigung und von Wissen (wie immer man es genau explizieren möchte, siehe oben) in der Gesellschaft: Nicht nur die Bedeutung der Sprache, sondern auch unser Wissen und die Rechtfertigung unserer Behauptungen verdankt sich zu einem Großteil den Mitteilungen anderer. Näher betrachtet, basiert z. B. der Großteil unseres naturwissenschaftlichen Wissens auf den Mitteilungen anderer: Die Kugelgestalt der Erde, die Unlöslichkeit von Gold in Schwefelsäure, die Existenz von Neuseeland und die Wirksamkeit von Atropin als Gegengift gegen bestimmte Gifte hat kaum jemand jemals selbst überprüft, sie wurde aber in Schulbüchern, im Fernsehen etc. konstant so behauptet, und im Hintergrund dieser Behauptungen stand (meist nur vage erkennbar) ein Geflecht von ExpertInnen wie WissenschaftlerInnen, FachjournalistInnen,
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Schulbuchapprobierungsbehörden u. a.; und das ist für die meisten Menschen ein Grund, diese Behauptungen für gerechtfertigt zu halten, und sogar für sich in Anspruch zu nehmen, um die betreffenden Inhalte auch zu wissen: Von SchülerInnen bestimmter Altersstufen wird nach üblichem Verständnis erwartet, dass sie wissen müssen, (z. B.) welche Kontinente es gibt (und nicht bloß, dass sie gängige Behauptungen zu reproduzieren in der Lage sind). Für fast das gesamte historische Wissen gilt dies auf nochmals grundsätzlicherer Ebene: Was im ägyptischen Alten Reich oder während der napoleonischen Kriege vor sich gegangen ist, das wissen wir grundsätzlich nur aus dem (meist verschriftlichten) Zeugnis anderer und niemals aus eigener Kenntnis. Aber nicht nur das wissenschaftliche, sondern auch das alltägliche Dafürhalten beruht in hohem Maße auf den Zulieferungen anderer: Wenn uns jemand mitteilt, dass es in Südchina gerade eine Hitzewelle gibt, Juventus Turin gestern verloren hat, die Preise für Pellets schon wieder gestiegen sind oder es in der Mensa heute Gemüseeintopf gibt, dann halten wir das unter normalen Umständen (sofern z. B. nicht gerade der 1. April ist oder die mitteilende Person zur Flunkerei neigt), für begründet und meist auch wahr. Täten wir es nicht, wären z. B. unser Alltags-, Wirtschafts- und Rechtsleben schwer denkbar.10 Wissen funktioniert also ebenfalls arbeitsteilig, und es kann an andere weitergegeben werden: Auch wer das Juventus-Match nicht selbst beobachtet, sondern das Resultat nur mitgeteilt bekommen hat, kann wissen, dass Juventus verloren hat. Dasselbe wie für das Wissen gilt auch für die Rechtfertigung von Behauptungen: Auch wer nicht selbst wetterkundig ist und keine Beobachtungen angestellt, sondern nur im Fernsehen die Unwetterwarnung einer anerkannten Expertin verfolgt hat, der weiß zwar vielleicht nicht, dass es morgen ein Unwetter geben wird (es stellt sich ja erst morgen heraus, ob die Meinung wahr ist), aber er ist zumindest in seiner Meinung gerechtfertigt. Als Fachterminus für diese Verhältnisse hat sich dafür in der Erkenntnistheorie der (angesichts der Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit der Mitteilungspraxis etwas gestelzt-feierlich klingende) Ausdruck ›Zeugnis‹ (englisch: ›testimony‹) etabliert: Das Zeugnis anderer ist neben eigener Wahrnehmung, Erinnerung, Schlussfolgerung, logisch-begrifflicher Analyse u. a. eine der ganz wesentlichen Quellen nicht nur unserer Meinungen, sondern auch unserer Rechtfertigungen und damit unseres Wissens. Es gibt also so etwas wie testimoniale Rechtfertigung und testimoniales Wissen, beide kommen arbeitsteilig 10
Dies hat übrigens bereits Immanuel Kant bemerkt (Kant 1797). Entgegen einem verbreiteten Klischee argumentiert Kant in diesem berühmt-berüchtigten Text nicht nur rigoristisch, sondern auch aus den Folgen und thematisiert die grundsätzliche Wahrhaftigkeitserwartung an Zeugnisse anderer als Voraussetzung des Zusammenlebens.
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zustande. Anderseits ist allzu viel Zutrauen in das Zeugnis anderer auch wieder nicht rational, denn wir machen doch immer wieder die Erfahrung, dass sich Mitteilungen anderer als falsch herausstellen – sei es, weil sie uns bewusst irreführen, vielleicht gar manipulieren wollten11, sei es, dass sie selber Fehlinformationen aufgesessen sind, sei es, dass sie ihre epistemischen Fähigkeiten überschätzt haben, oder warum auch immer. 4.
Testimoniale Rechtfertigung und testimoniales Wissen
Die näheren Bedingungen testimonialer Rechtfertigung und testimonialen Wissens sind Gegenstand verästelter Debatten der gegenwärtigen Erkenntnistheorie.12 Im Kern geht es um die Frage, welche grundlegende Strategie RezipientInnen für einen rationalen Umgang mit Zeugnissen walten lassen sollten.13 Als die zwei großen Antworttendenzen zeichnen sich folgende ab: Entweder man sieht – im Sinne einer Art epistemischen Unschuldsvermutung – Zeugnisse anderer solange als glaubwürdig an, als nicht relevante negative Hinweise auf die Unzuverlässigkeit des Zeugnisses hindeuten, oder aber man verlangt bei den RezipientInnen doch mehr, nämlich gute positive Gründe dafür, dass das Zeugnis für glaubwürdig gehalten werden darf. Die erste Antworttendenz sieht das Zeugnis anderer als eine originäre Erkenntnisquelle sui generis ähnlich der Erinnerung oder der Wahrnehmung an, die andere betrachtet Zeugnisse dagegen eher als eine abgeleitete Erkenntnisquelle, die zu ihrer Brauchbarkeit noch der Einbettung in ein Netz aus Stützungsbeziehungen bedarf. Die einschlägige Debatte ist (wie auch sonst oft in der Erkenntnistheorie) dadurch gekennzeichnet, dass vielfach Regeln vorgeschlagen werden, die zwar für eine bestimmte Sorte von Beispielen plausibel sind, aber in verallgemeinerter Form schnell auf Gegenbeispiele stoßen. So wird etwa die Theorie der epistemischen Unschuldsvermutung z. B. im Fall des Zeugnisses von Erwachsenen gegenüber Kindern, im Fall von Unterrichtssituationen oder im Fall unverdächtiger Alltagskommunikation mit vertrauten Menschen über unproblematische und wenig deutungsoffene Sachverhalte plausible Resultate erbringen; dagegen ist bereits das Erfragen einer Busverbindung in einem kulturell unvertrauten 11 Vgl. hierzu z. B. Fischer 2017 und den Beitrag von Fischer und Illies in diesem Band. 12 Für eine einführende Übersicht über die Literatur siehe Mößner 2019. 13 Subsidiär geht es auch um die Frage, ob das Zeugnisgeben vielleicht schon auf Seiten der Zeugnisgebenden gewisse (Sorgfalts- u. a.) Bedingungen verlangt, um überhaupt ein Akt rationalen Zeugnisses zu sein; das wirft natürlich wiederum die Folgefrage auf, inwieweit die (Nicht-)Erfüllung dieser Bedingungen von den RezipientInnen überprüft und überhaupt überprüfbar sein muss.
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Urlaubsland eine Situation, die mit der Theorie der positiven Glaubwürdigkeitsgründe plausibler beschreibbar ist. Eine andere breit diskutierte Frage betrifft die genauen Modalitäten der Übertragung von Rechtfertigung und Wissen. Intuitiv mag zunächst die Vorstellung einer Art epistemischer Eimerkette naheliegen, in welcher Rechtfertigungen und Wissen immer nur von jemandem übertragen werden können, der selbst darüber verfügt. Aber Gegenbeispiele lehren, dass es nicht so einfach sein kann: Etwa kann eine Biologielehrerin, die Evolutionsbiologie zwar unterrichtet, aber an sie aus geheimen kreationistisch-religiösen Vorbehalten selbst nicht glaubt und um ihre Inhalte daher (im Sinne der obigen Definition von Wissen als gerechtfertigtem wahrem Glauben) auch nicht weiß, ihren SchülerInnen dennoch gerechtfertigte Meinungen oder auch Wissen über Biologie vermitteln.14 Ebenso kann jemand, der einem wissenschaftlichen Text nur ganz oberflächlich folgen kann, aber doch zufällig einige Kernaussagen daraus richtig wiedergibt (aber ohne zu merken, dass er/sie tatsächlich Kernsätze erwischt hat), dadurch sachkundigen RezipientInnen mehr an Rechtfertigung geben, als er/sie selbst hat. Solche Beispiele deuten darauf hin, dass es vielleicht nicht nur das Individuum ist, das Ursache der Rechtfertigung und des Wissens ist, sondern die mitgeteilten Inhalte selbst und/oder die Erkenntnisgemeinschaft, aus der sie stammen: Die kreationistisch gesinnte Biologielehrerin kann z. B. deshalb Wissen weitergeben, weil ihre Funktion als ernannte Lehrerin und die Inhalte ihres Unterrichts dies erlauben – ihre persönliche Mentalreservation tut nichts zur Sache. Manches spricht auch dafür, dass testimoniale Rechtfertigung und das testimoniale Wissen mitunter auch wesentlich von Faktoren in der Sphäre der RezipientInnen abhängen könnte: Etwa kann ein Zeuge vor Gericht, der zu seinen insgesamt unsicheren Wahrnehmungen eines Geschehens befragt wird, Wesentliches zur Aufklärung des Geschehenshergangs beitragen, weil seine Informationsbruchstücke gut in das Bild passen, das die Richterin aus anderen Indizien schon gewonnen hat. 5.
Grundsätzliches über epistemische Autoritäten, ExpertInnen und den Umgang mit ihnen
Besonders vielversprechende Quellen testimonialer Rechtfertigung und testimonialen Wissens sind sogenannte epistemische Autoritäten und ExpertInnen (wobei man ExpertInnen wiederum als Spezialfall von Autoritäten 14
Das Beispiel stammt von Jennifer Lackey (2008). Siehe dazu u. a. Carter/Nickel 2014 und Wright 2016.
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ansehen kann). Epistemische Autoritäten auf bestimmten Gebieten sind, in erster Näherung15 gesprochen, Personen oder andere Informationsquellen, von denen man mit hoher Wahrscheinlichkeit gerechtfertigte und in der Regel dann auch wahre Auskünfte auf jenem Gebiet erhalten kann. Das kann für renommierte Nachschlagewerke, den Automechaniker oder die Zahnärztin Ihres Vertrauens ebenso gelten wie für Leute, die (z. B.) die Lebensdaten aller wichtigeren KomponistInnen oder die Hauptstädte der Welt auswendig können. ExpertInnen dagegen sind – in Anlehnung an einen debattenprägenden Vorschlag von Alvin Goldman (Goldman 2001) – eine besondere Art von epistemischen Autoritäten, die über diese WahrheitswahrscheinlichkeitsBedingung hinaus noch eine zweite erfüllen: Sie können Ihre Fähigkeiten auch auf neu auftauchende Fragen und Problemstellungen anwenden. Diese zweite Bedingung gestattet z. B. das Phänomen von ›SekundärexpertInnen‹ besser zu verstehen, das während der Corona-Krise in den sozialen Medien häufig zu beobachten war: Es gibt Personen, die zwar selbst keine echte Expertise besitzen, aber akribisch eine Vielzahl Äußerungen echter (oder mitunter auch vermeintlicher) ExpertInnen notieren (»Prof. XY hat schon im März 2020 gesagt, […]«), und irgendwie zueinander in Beziehung setzen: etwa, indem sie selektive Zitatenmengen mit bestimmter Meinungstendenz zusammenstellen oder auf Spannungen und Widersprüche hinweisen. Diese Personen sind in der Regel deshalb keine ExpertInnen, weil sich ihr Zitatenwissen auf alte Problemkonstellationen bezieht und nicht auf neue umlegbar ist. ExpertInnen sind also zusammengefasst Personen,16 die in Bezug auf ihr Fachgebiet mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit wahre Aussagen zu machen imstande sind, und zwar auch dann, wenn Fragen aus diesem Gebiet 15 Auch die passende genauere Explikation dessen, was eine epistemische Autorität ist, ist Gegenstand komplexer Debatten, die hier nur erwähnt werden können. Vereinfacht gesagt, geht es um einen vernünftigen Mittelweg zwischen einem sehr breiten, losen Autoritätsbegriff (»A ist im Gebiet G eine Autorität gegenüber B« = »A ist in Gebiet G in einer besseren Erkenntnissituation und hat mehr Chancen auf wahre Meinungen als B«), und einem wohl zu anspruchsvollen Autoritätsbegriff, der bereits in Richtung Expertentum geht (etwa im Sinne ›sokratischer Autoritäten‹: »eine Autorität A gegenüber B auf Gebiet G ist jemand, der B zu besserem Verständnis von G verhelfen kann«). Nach dem losen Autoritätsbegriff wäre z. B. schon jemand, der momentan die bessere Aussicht auf das Spielfeld hat, eine Autorität in Bezug auf Aussagen über den Spielverlauf; der spezifizierte Begriff konfligiert mit der Intuition, dass es Leute gibt, die auf bestimmten Gebieten zwar sehr viel wissen und fast immer recht haben, aber deshalb noch keine ›ExpertInnen‹ sind. Das Auswendigkennen isolierter und wenig anwendungsrelevanter Wissensbestände (wie z. B. in den erwähnten Hauptstädte- und Lebensdaten-Beispielen) wäre so ein Fall von Autorität ohne Expertise. 16 Eine Randfrage ist, ob auch komplexe Datenbanken, KI-Systeme etc. Experten sein können (immerhin spricht man seit einigen Jahrzehnten von ›Expertensystemen‹!). Im Sinne
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in dieser Form vorher noch nicht aufgetaucht sind oder gestellt wurden. Goldmans Explikation ist plausibel und weithin anerkannt. Die Plausibilität dieser Explikation enthebt uns aber noch nicht zweier vertrauter faktischer Probleme, die mit der Rolle von ExpertInnen verknüpft sind und beide unter anderem während der Corona-Pandemie deutlich erkennbar wurden. Erstens das sogenannte ›ExpertInnen-Dilemma‹: Man ist als Laienperson einerseits auf ExpertInnen angewiesen und möchte sie sich nicht auf irrationale Weise aussuchen, andererseits muss man als Laienperson die Entscheidung, wen man wirklich als ExpertIn ansehen soll, meist doch wieder selber treffen, denn dafür gibt es (mit wenigen Ausnahmen17) wiederum kaum ›Meta-ExpertInnen‹ (vor diesem praktischen Problem standen in der unübersichtlichen Zeit im Frühjahr 2020 z. B. viele JournalistInnen, Medienredaktionen und auch Regierungen, als sie nach ExpertInnen zum Thema Corona-Virus Ausschau hielten). Das zweite Problem besteht in der grundsätzlichen Möglichkeit von ExpertInnen-Dissensen, die in unsicheren Gebieten der Wissenschaft durchaus vorkommen können. Auch in diesem Fall liegt die Entscheidung, wem letztlich zu glauben ist, tendenziell wieder bei den Laienpersonen: Denn ExpertInnen, die klar für eine Seite Partei ergreifen, werden eben als ParteigängerInnen einer Seite wahrgenommen und schwächen damit ihre Rolle als ›Meta-ExpertIn‹; viele werden sich in solchen Situationen aber ohnedies kollegial zurückhalten oder vorsichtig-abwägend äußern, und auf besondere MetaExpertInnen für die Handhabung von ExpertInnen-Dissens kann meist nicht zurückgegriffen werden.18 Dennoch: Völlig auf Bauchentscheidungen ist man als Laienperson nicht angewiesen, wenn man sich für ExpertInnen entscheiden soll. Goldman und die von ihm mitgeprägte erkenntnistheoretische Diskussion um Autorität und Expertise haben einige Kriterien erkennen lassen, die auch seitens Laienpersonen erfolgreich anwendbar sind, um mutmaßlich echte von vorgeblicher, angemaßter oder selbstüberschätzender Expertise zu unterscheiden. Vor einem näheren Blick auf Goldmans Kriterien (im nächsten Abschnitt)
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der Goldmanschen Definition scheint das nicht ausgeschlossen, gerade KI-Systeme zeichnen sich durch Anwendungsflexibilität aus. Ausnahmen betreffen etwa gerichtliche Sachverständigenlisten, Akkreditierungs- und Zertifizierungsagenturen oder Baubegleitungs- und -aufsichtsunternehmen bei Großprojekten. Aber das ExpertInnendilemma kehrt hier natürlich auf höherer Ebene wieder: Ob diese ›Meta-ExpertInnen‹ ihre Funktion erfüllen und man sich ihnen anvertrauen sollte, auch dafür gibt es keine ExpertInnen, sondern primär nur Kriterien wie soziale Anerkennung. Beide genannten Probleme gehören übrigens zu den Ermöglichungsgründen für die hartnäckige Präsenz von Pseudo-ExpertInnen vor allem in den sozialen Medien.
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sind aber ein paar allgemeinere Überlegungen zum vernünftigen Umgang mit epistemischen Autoritäten nützlich. Diesbezüglich konkurrieren in der Literatur Auffassungen, die irgendwo auf dem Spektrum zwischen einem radikalen ExpertInnenvertrauen (dem ›preemption view‹) und einem kritischeren ›special evidence view‹ zu verorten sind.19 Nach der ersteren Ansicht hat man als Laienperson sämtliche eigenen Gründe und Überlegungen hintanzustellen und quasi zu vergessen, sobald der/die ExpertIn gesprochen hat; diese hat quasi ein epistemisches Vorkaufs- (preemption) oder Vorentscheidungsrecht. Nach der zweiteren Ansicht ist auch die Meinung von ExpertInnen nur ein Urteilsgrund unter mehreren, wenngleich ein ganz besonders gewichtiger (daher: ›special evidence‹), den man aber in ein rationales Verhältnis zu den anderen Gründen setzen sollte: Das heißt, dass man ihn, so gut man eben kann, kritisch zu bewerten und einzuschätzen hat. Auch hier gilt wieder das oben Gesagte: Beide Positionen erklären bestimmte Arten von Beispielen besonders plausibel, aber sie eignen sich nicht als allgemeine Regel für jeden Fall. Wenn etwa die wiederholte DNA-Analyse aus gesicherten Proben die biologische Vaterschaft einer Person ausschließt, dann werden wohl tatsächlich alle laienhaften Gründe für und wider diese Vaterschaft irrelevant. Umgekehrt wird man aufgrund der Autorität der ärztlichen Diagnose »Sie sind klinisch unauffällig, ich finde einfach nichts, Ihnen fehlt nichts« nicht die eigenen Gründe zurückstellen, dass man eben doch beharrliche Schmerzen im Bauchraum hat. Insgesamt neigt sich die Mehrheitsmeinung in der Literatur aber klar in Richtung des ›special evidence view‹ – unter anderem deshalb, weil dieses Hintanstellen der eigenen Gründe beim ›preemption view‹ schwerwiegende erkenntnistheoretische und logische Probleme20 aufwerfen würde, und weil man eben im Fall von Autoritätendissens wieder ratlos wäre. Der ›special evidence view‹ würde dagegen – richtigerweise – sagen, dass man in so einem Fall eben das Gewicht und die Zuverlässigkeit der Autoritäten zu hinterfragen beginnen sollte, so gut man eben dazu in der Lage ist. 19 20
Siehe z. B. Jäger 2016 und Dormandy 2018. Kurz zusammengefasst: Die Idee des völligen Hintanstellens der bisherigen eigenen Gründe scheint ein unplausibles Ausmaß von ›epistemischem Voluntarismus‹ vorauszusetzen; was wir glauben, hängt aber nicht von unserem Willen ab, sondern von den Gründen, die wir zu erkennen meinen. Und sofern man Meinungsänderungen (belief revision) im Sinne sogenannter Bayesianischer Ansätze wahrscheinlichkeitstheoretisch modellieren kann, dann kann die frühere, aufgrund laienhafter Gründe zugeordnete Wahrscheinlichkeit nicht vollständig aus den Berechnungen verschwinden. Man kann also nicht einfach auf die Wahrscheinlichkeitszuordnung seitens der Autorität umstellen, sondern die Endwahrscheinlichkeit muss irgendwo dazwischen liegen. (Das ist, wohlgemerkt, keine empirisch-psychologische Aussage, sondern eine logisch-mathematische Konsequenz der gewählten Modellierung.)
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Fünf Kriterien für echte Expertise
Ebenso im Sinne des ›special evidence view‹ sind nun Goldmans fünf Kriterien für die Einschätzung von ExpertInnen durch Laienpersonen zu verstehen. Sie dürften zwar maßgeblich vom Beispiel der in der US-Kultur- und Schulpolitik einflussreichen, religiös motivierten EvolutionsgegnerInnen inspiriert und geprägt sein, haben aber unabhängig davon hohe Plausibilität und erweisen sich auch für andere aktuelle Dissense etwa in Bezug auf die Klimaerwärmung oder Pandemieentwicklung als fruchtbar: (1) Das erste Kriterium bilden für Goldman die Argumente der ExpertIn nen selbst, mit denen sie ihre eigenen Meinungen begründen und abweichende Meinungen anderer kritisieren: In vielen Fällen kann man sich auch als Laienperson zumindest einen begründeten Eindruck von der sachlichen Qualität und Stichhaltigkeit der Argumente von ExpertIn nen machen. (2) Das zweite Kriterium ist der Konsens mit anderen ExpertInnen, wobei dieser aber umso stärker wiegt, je unabhängiger diese (persönlich und institutionell) von der fraglichen Person sind. (3) Ein drittes Kriterium sind Anerkennungen dieser ExpertInnen seitens Institutionen, denen man wiederum aufgrund ihrer eigenen Tradition und sozialen Anerkennung zutraut, dass sie über die Qualität von ExpertInnen ein berufenes Urteil abgeben können: Etwa durch Vergabe von akademischen Graden seitens Universitäten, Berufungen in nationale wissenschaftliche Akademien, positive Begutachtungen von Arbeiten in renommierten Fachzeitschriften und Fachverlagen, und ähnliches mehr. (4) Ein viertes (negatives) Kriterium ist die Abwesenheit von Hinweisen auf potenziell äußerungsverzerrende Parteilichkeiten oder außerwissenschaftliche Interessen, seien sie persönlicher Art (wie übertriebenes Geltungsstreben und das Bedürfnis, mediengängige ›originelle Sager‹ zu platzieren) oder institutioneller Art (etwa erkennbare und thematisch relevante Verbundenheit mit bestimmten Wirtschaftszweigen, berufsständischen Interessenvertretungen, politischen Parteien oder religiös-weltanschaulichen Tendenzgruppierungen). Dieses Kriterium ist natürlich etwas heikel und sollte mit Augenmaß angewendet werden: Zum einen wird kaum ein/e ExpertIn völlig frei von irgendwelchen institutionellen Interessen sein (und seien es nur der gute Ruf und die Bekanntheit der eigenen Institution), und die völlige Freiheit von einem gewissen Aufmerksamkeits- und Belehrungsbedürfnis wäre keine günstige Grundlage für wissenschaftliche Berufe. Übertrieben angewandt, dürfte man nach diesem Kriterium dann z. B. über Impfstoffe niemals
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ExpertInnen aus Pharmafirmen oder zum Klimawandel niemals ExpertInnen von Greenpeace oder ähnlichen NGOs konsultieren, was sicher nicht zielführend wäre. Zum anderen sollte das vierte Kriterium nicht als Legitimierung einer grundsätzlichen Hermeneutik des Verdachts dienen, die vor der Beurteilung von Äußerungsinhalten immer zuerst die ›cui bono?‹-Frage nach dahinterstehenden Machtinteressen aufwirft und so das Vertrauen ebenso unterminiert wie das Interesse an inhaltlichen Fragen. Das Kriterium ist also so zu lesen, dass Parteilichkeiten und Interessenlagen nur dann die ExpertInnenqualität in Frage stellen, wenn es wirklich ernsthaft denkbar scheint, dass sich die betreffende Person ohne diese Parteilichkeit oder Interessenlage anders äußern würde, als sie es faktisch tut. (5) Das fünfte Kriterium schließlich ist die Erfolgsbilanz, soweit eine solche erkennbar ist: ExpertInnen, deren Beurteilungen sich in der Vergangenheit meist als zutreffend erwiesen haben, verdienen (ceteris paribus) mehr Zutrauen als solche, bei denen dies nicht der Fall ist oder bei denen keine Erfolgsbilanz erkennbar ist. 7.
ExpertInnen in heterodoxen Wissensdiskursen
Fragen wir uns nun, welche Relevanz die bisherigen Überlegungen für heterodoxe Wissensdiskurse haben könnten: Spielen testimoniale Rechtfertigung und testimoniales Wissen, spielen epistemische Autoritäten und ExpertInnen dort eine ähnliche Rolle wie anderswo, oder funktionieren solche Diskurse vielleicht grundsätzlich anders? Folgt die Anerkennung als ExpertIn dort denselben Kriterien wie auch anderswo, oder könnte heterodoxe ExpertInnenschaft an grundsätzlich anderen Eigenschaften hängen? Und könnten die im vorigen Abschnitt skizzierten fünf Kriterien Goldmans auch helfen, heterodoxe ExpertInnen aus der Außenperspektive kritisch einzuschätzen? Hier ist zunächst eine vorsichtige Sprachregelung zu treffen, um einerseits der Intuition, dass in heterodoxen Diskursen mehr Falsches und Ungerechtfertigtes als anderswo im Umlauf sein könnte, gerecht zu werden, und damit einen naheliegenden Einwand abzufangen: Denn da die Explikationen von ›epistemischer Autorität‹ und ›ExpertIn‹ wesentlich von dem Begriff der Rechtfertigung und der Wahrheit abhängig sind, könnte man ja meinen, dass es in heterodoxen Wissensdiskursen schon per definitionem kaum echte epistemische Autoritäten und ExpertInnen geben könnte. Das steht aber im Widerspruch zu der Beobachtung, dass es in heterodoxen Wissensdiskursen sehr wohl Personen gibt, die als Autorität und ExpertIn angerufen werden und
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mitunter geradezu in die Rolle von Stars geraten. Und viele Menschen fühlen sich durch das Zeugnis dieser Personen in ihren Meinungen gerechtfertigt und beanspruchen, von ihnen Wissen zu beziehen. Andererseits soll aber auch nichts darüber präjudiziert werden, inwieweit Autoritäten und ExpertInnen in heterodoxen Wissensdiskursen nicht doch zuweilen Recht haben könnten. Es scheint daher vernünftig, die Autoritäten- und ExpertInnen-Eigenschaft für die folgenden Überlegungen ganz neutral als zugeschriebene Autorität bzw. zugeschriebene ExpertInnen-Eigenschaft zu definieren, d.h. ohne Rücksicht auf die tatsächliche Rechtfertigung und Wahrheit der Äußerungen dieser Personen. Unter ›h-Autorität‹ und ›h-ExpertIn‹ sei daher im Folgenden eine Person verstanden, der in heterodoxen Wissens-Diskursen seitens einer signifikanten Anzahl der Beteiligten epistemische Autorität bzw. eine ExpertInnenRolle zugeschrieben wird, bzw. die in dieser Rolle fungiert.21 Wie wird man h-ExpertIn, bzw. was zeichnet solche Personen aus? Für die Deutung der Rolle und Anerkennung von h-ExpertInnen in heterodoxen Wissensdiskursen scheinen drei Modelle in Frage zu kommen, die man entlang der Goldman-Kriterien unterscheiden kann: Man könnte a) vermuten, dass die Anerkennung von h-ExpertInnen in heterodoxen Diskursen im Grunde denselben fünf Kriterien wie bei Goldman folgt, oder dass sie b) nach irgendwelchen völlig anderen Kriterien erfolgt, oder dass sie c) nur einer spezifisch modifizierten Goldman-Kriterienliste folgt (wobei die Abweichung am ehesten beim Konsenskriterium zu erwarten wäre, da sich heterodoxe Diskurse eben über den Dissens zu Mehrheitsauffassungen definieren). Für Modell b) spricht dabei, soweit ich sehe, sehr wenig: Was solche grundsätzlich anderen Kriterien sein könnten, ist schwer ersichtlich.22 Für das Modell c) spricht ebenfalls wenig: Auch heterodoxe Wissensdiskurse zeichnen sich, zumindest intern betrachtet, meist durch hohen Konsens, und gerade einen niedrigen Grad an interner kritischer Auseinandersetzung aus; h-ExpertInnen stehen mit ihren Äußerungen mit diesem Konsens im Einklang bzw. geben die Richtungen des Konsenses vor. Kritische Auseinandersetzungen werden vielmehr 21
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Bezeichnungen wie ›Pseudo-Autorität‹, ›Para-Experte‹, ›Schein-Expertin‹, ›angebliche Autorität‹ u. ä. werden hier nicht nur wegen ihrer wertenden und qualitätsvorwegnehmenden Bedeutungskomponenten vermieden. Eine neutralere Bezeichnung ist auch deshalb wichtig, da in heterodoxen Wissensdiskursen mitunter – oft ohne ihre Gutheißung – WissenschaftlerInnen als KronzeugInnen namhaft gemacht werden, die selbst gar nicht dem heterodoxen Diskurszusammenhang angehören (siehe dazu weiter unten). Diese als ›Pseudo-Autoritäten‹ etc. einzuordnen, wäre ungerechtfertigt. Zu denken wäre eventuell an stark einzelpersonenzentrierte heterodoxe Diskurse, wo h-ExpertInnen einzig durch Ernennung, Zertifizierung, Weihe oder ähnliche legitimierende Akte seitens Führungsfiguren kreiert werden.
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gebündelt nach außen, an die Grenzen des Binnendiskurses, verlagert, und die Abweichung von der Mehrheitsauffassung ist Kern des internen heterodoxen Konsenses. Heuristisch spricht also vieles dafür, das Modell a) zugrunde zu legen und danach Ausschau zu halten, ob und wie h-ExpertInnen die Goldman-Kriterien erfüllen.23 Das erste Kriterium für ExpertInnenschaft, die Nachvollziehbarkeit der Argumente selbst, ist aus der Innensicht in heterodoxen Wissensdiskursen leichter zu erfüllen als anderswo: Heterodoxe Wissensdiskurse finden primär in außerwissenschaftlichen und von der Meinungstendenz her homogenen Personenkreisen statt, daher sind Klarheit, Plakativität und einfache Zugänglichkeit auch für Laienpersonen einerseits die Voraussetzung dafür, jenes Wahrheitsgefühl (›truthiness‹) aufrecht zu erhalten, von denen heterodoxe Diskurse leben. Andererseits sind diese Qualitäten hier auch leichter erzielbar als in der Standard-Wissenschaft: Heterodoxes Schrifttum hat häufig den Charakter von Volksaufklärungs-Traktaten, kann daher plakativ sein und arbeitet – vor allem, wo es gegen herrschende Meinungen geht – viel mit eingängigen, grellen Beispielen. (Das kommt der in der Kognitionspsychologie bekannten Verfügbarkeitsheuristik entgegen: Was leicht verständlich und im Gedächtnis verfügbar ist, wird als glaubwürdiger eingeschätzt.) Vor allem ist heterodoxes Schrifttum frei von jenem Ballast, den man bei Beschäftigung mit orthodox-wissenschaftlicher Literatur zu schultern bereit sein muss: Es gibt in heterodoxen Diskursen kaum24 die übliche Schichtung des Schrifttums in ›Forschungsartikelwissenschaft‹, ›Handbuchwissenschaft‹, ›Lehrbuchwissenschaft‹ und ›Populärwissenschaft‹,25 die den Unsicherheits- und Unabgeschlossenheitsvorbehalt der Wissenschaft klar erkennen lässt: Forschungsartikelwissenschaft bringt bestehende Unsicherheiten direkt und klar 23
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Die folgenden, zugegebenermaßen etwas idealtypisierend-holzschnittartigen Überlegungen betreffen im Kern empirisch zugängliche, soziale Tatsachen, die für verschiedene Felder heterodoxen Diskurses eigentlich gesondert und im Detail zu erheben wären. Sie speisen sich aus meinen Wahrnehmungen primär zu heterodoxen Corona-Diskursen, die wegen ihrer Intensität und ihren vielen Berührungsflächen zur wissenschaftlichen Orthodoxie besonders aufschlussreich sind, sekundär aus jenen zu den oft von ähnlichen Personenkreisen, Medien und politischen Gruppen betriebenen Klimawandelskepsis- und Pro-Putin-Diskursen sowie zu den schon länger vor allem in den USA blühenden Anti-Evolutionsdiskursen. Ausnahmen gibt es hier am ehesten im Bereich kreationistischer Diskurse. Dort gibt es z. B. sogar mehrere heterodox-biologische Fachzeitschriften. Ein rares deutschsprachiges Beispiel ist Junker/Scherer 1998. Auf diese Schichtung und die Bedeutung von Populärwissenschaft für die Erzeugung von Gewissheit hat bereits Ludwik Fleck (Fleck 1935) hingewiesen. Siehe zu diesem Themenkreis Löffler 2013.
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zum Ausdruck, und Handbuch-, Lehrbuch- (und auch sogar seriös gemachte Populär-) Wissenschaft lassen zumindest durchscheinen, dass es hinter diesen Textgenres noch jede Menge an Details und Komplexitäten, aber auch Ungewissheiten zu entdecken gäbe. In heterodoxen Diskursen herrscht dagegen meist eine auffällige Grundstimmung der Gewissheit, und insgesamt ist heterodoxes Schrifttum in der Regel auch mengenmäßig überschaubar: Wer die immer wieder zitierten Hauptschriften und Fundorte kennt, kennt alles Relevante.26 Mit dieser Ferne von der üblichen Wissenschaftspublikationslandschaft ist übrigens durchaus das komplizierte und detailverliebte Stöbern nach Unstimmigkeiten und Spannungen in der Literatur vereinbar, das z. B. in Verschwörungstheorien zu 9/11 und bei Corona- und KlimakrisenSkeptikerInnen öfters zu beobachten ist: Hier geht es nicht um die Komplexität der eigenen Thesen (diese sind und bleiben ganz einfach und breitentauglich), sondern nur ein um Unterminieren der Glaubwürdigkeit des Gegners, das sich dann natürlich an dessen Komplexitätsgrad annähern muss. Man braucht diese Detailarbeiten aber auch nicht gelesen oder gar verstanden haben, um heterodoxen Thesen anzuhängen; bereits die Existenz solcher heterodoxer Literatursegmente trägt aber subsidiär dazu bei, die Glaubwürdigkeit heterodoxer Thesen und Argumente zu erhöhen (etwa im Sinne der Überlegung: »Ich habe das zwar nicht alles gelesen, aber es gibt da ja h-ExpertInnen, die die Mainstreamwissenschaft an so vielen Stellen problemlos widerlegen«). Der Konsens als zweites Kriterium für ExpertInnenschaft begründet zwar, warum man h-ExpertInnen aus der Außenperspektive mit Skepsis begegnen wird. Innerhalb heterodoxer Diskurse wird ein fundamentaler Konsens aber schon dadurch hergestellt, dass sich h-ExpertInnen als dissentierend zur Orthodoxie zu erkennen geben. Wer sich deutlich gegen den ›Mainstream‹ positioniert, macht sich als h-ExpertIn schon einmal grundsätzlich glaubwürdig, und im Schatten dieses heterodoxen Kernkonsenses ist durchaus etwas Spielraum für gewisse inhaltliche Diskrepanzen, die aber weniger wahrgenommen werden bzw. ins Gewicht fallen.27 Heterodoxe Diskurse zeichnen sich ferner durch eine hochgradige Repetitivität in Bezug auf Kernbotschaften aus, die besonders über die alternativen Medien in wortlautähnlicher Form breit gestreut und über die sozialen Medien im privateren Umfeld weitergegeben 26 27
Das uferlose heterodoxe Schrifttum in kleineren Internet-Foren, Telegram-Gruppen u. a. mag hier außer Betracht bleiben. Als Beispiel denke man z. B. an die unterschiedlichen Einschätzungen seitens h-ExpertInnen, ob die ersten Lockdowns in der Unsicherheitssituation des Frühjahrs 2020 berechtigt waren, oder die unterschiedliche Akzeptanz des Einsatzes von ergänzender ›Schulmedizin‹ durch AlternativmedizinerInnen.
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werden.28 Damit wird einigen der in der Kognitions- und Sozialpsychologie breit studierten Meinungsbildungsverzerrungen (biases) ein breites Wirkungsfeld eröffnet: Etwa dem ›familiarity bias‹ (Meinungsverzerrung durch Vertrautheit: Was man mehrfach gehört/gelesen hat (etwa in den zahllosen Websites mit inhaltlich ähnlicher Tendenz, die man durch die Algorithmen der Suchmaschinen empfohlen bekommt) wird als glaubwürdiger eingeschätzt, als es ist), dem ›confirmation bias‹ (Bestätigungsfehler: Belege, die die eigenen Voreinschätzungen zu bestätigen scheinen, werden in ihrer Relevanz überschätzt) und so genannter Ankereffekte: Wenn eine Vorabinformation als ›Anker‹ für das ungefähr zu erwartende Meinungsbild geworfen wird – etwa eine Person vorab als ›prominente/r h-ExpertIn‹ vorgestellt wird –, dann hat das Einfluss auf das Feld der über diese Person gebildeten Meinungen.29 All diese Mechanismen können den Eindruck eines heterodoxen Konsenses und damit die Anerkennung von h-ExpertInnen verstärken. Bezüglich des dritten Kriteriums, der institutionellen Anerkennung der ExpertInnenschaft von außen, zeigen heterodoxe Wissensdiskurse meist30 eine bemerkenswerte Konformität mit den sonst in der Wissenschaft geltenden 28
Beispiele aus der Corona-Pandemie wären Slogans wie »Die Intensivstationen waren nie voll« oder das erwähnte »In den Krankenhäusern liegen mehr Geimpfte«; gegenwärtige Beispiele aus der Klimawandelleugner-Szene sind »Klimazyklen wie die MilankovićZyklen, und natürliche Warmzeiten gab es immer«, »Der CO 2-Anteil in der Atmosphäre ist viel zu gering, als dass das Gas eine Wirkung hätte«, »Der Klimawandel kommt so oder anders, wir sollten uns auf Anpassung konzentrieren«, u. a. 29 Eine Übersicht über solche Effekte und ihre Relevanz für die Gläubigkeit gegenüber Fake News, die aber auch auf die Äußerungen von h-ExpertInnen umlegbar ist, bietet u. a. McBrayer 2021. 30 Ausnahmen bilden jene heterodoxen Wissensdiskurse, wo z. B. einzelne Medium-artige Figuren ohne jede fachliche Qualifikation und ohne Berührungsfläche mit dem wissenschaftlichen Nachbardiskurs die wesentliche, mehr divinatorisch funktionierende Erkenntnisquelle und die Grundlage des Selbstverständnisses der Gruppierung bilden. Beispiele sind etwa Rudolf Steiners Anthroposophie, der Bruno-Gröning-Freundeskreis, der auf die Lehren dieses Geistheilers setzt, die auf die Lehren von Ron Hubbard aufbauende Scientology-Organisation oder die sich auf die Lehren von Sun Myung Moon berufende Vereinigungskirche. – Keine echte Ausnahme von der obigen These dagegen bildeten jene Corona-Diskurse, in denen Menschen ihre Kompetenz gerade dadurch legitimierten, dass sie eben über keine relevante Ausbildung (außer der ›Schule des Lebens‹ o.a.) verfügen, aber gerade deshalb über einen unverbildeten, gesunden Hausverstand, der der Wissenschaft überlegen sei. Kernthema dieser Diskurse waren aber weniger Wissensansprüche, sondern der Widerstand gegen staatliche Maßnahmen. Und die Protagonisten gerierten sich dementsprechend auch weniger als h-ExpertInnen, sondern mehr als politische Widerstandsfiguren; soweit sie für Argumentationszwecke h-Expertise aufrufen mussten, wurde diese von anderen eingespielt. Es ist also fraglich, ob man es hier überhaupt mit heterodoxen Wissensdiskursen zu tun hat.
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Kriterien, bzw. sogar ein markantes Bestreben, an der Glaubwürdigkeit und den Legitimationsmechanismen der etablierten Wissenschaft zu partizipieren. Auffällig in heterodoxen Wissensdiskursen ist zunächst die besondere Betonung akademischer Grade, wissenschaftlicher Positionen und institutioneller Affiliationen ihrer h-ExpertInnen (wobei aber auffällig viele h-ExpertInnen WissenschaftlerInnen im bereits längeren Ruhestand, ehemalige MitarbeiterInnen wissenschaftlicher Einrichtungen oder unbedeutende Lehrbeauftragte sind, die daraus aber für die Zukunft erstaunliche Titulierungen ableiten). Das Betonen der externen Anerkennung geht mitunter so weit, dass die akademischen Grade häufig bereits auf Buchcovers und Video-Titelseiten genannt werden (was bei ExpertInnen im orthodoxen Wissenschaftsspektrum meist unterbleibt, weil dort der Besitz akademischer Abschlüsse selbstverständlich und nicht weiter erwähnenswert ist). Häufig fällt außerdem die Suggestion von überproportionalen Breitenkompetenzen aufgrund nur peripher relevanter Ausbildungen auf, etwa nach dem Muster: »Unser heutiger Studiogast, Herr X, ist promovierter Physiker« – ob ihn sein spezielles Promotionsthema auch bereits als h-Experten z. B. für epidemiologische Berechnungen oder Stellungnahmen zur Klimakrise kompetent macht, wird nicht thematisiert. Eine besonders deutliche Form solcher ›Wissenschafts-Mimikry‹ sind fantasievolle Kreationen von Emblemen und Logos ebenso fantasievoll ersonnener wissenschaftlicher Institutionen, professionell wirkende Imitationen von Wissenschaftstalkshow- und anderen Sendungsformaten, wie sie auch in Qualitätsmedien vorkommen, und ähnliches mehr – mit moderner Druck-, Überblend- und anderer Technik ist dies relativ kostengünstig umsetzbar. Solche Muster, externe Anerkennung vorzutäuschen, dürften bei einem Publikum außerhalb des Wissenschaftsbetriebs eher verfangen; für InsiderInnen sind sie meist leicht zu durchschauen. Schwieriger kann es mitunter bei den erwähnten Fällen sein, wo vereinzelte Äußerungen tatsächlich etablierter ExpertInnen zufällig heterodoxen Argumentationszwecken zupass zu kommen scheinen und daher in solche Diskurse zitierungsweise eingespielt werden. Das vierte Kriterium Goldmans, die Abwesenheit von Hinweisen auf Parteilichkeiten und meinungsverzerrende Interessen, wird aus der Außensicht häufig zur Glaubwürdigkeitserschütterung von h-ExpertInnen beitragen. Innerhalb heterodoxer Wissensdiskurse kann es zwar vom Grundsatz her gleich funktionieren wie anderswo, es hat dort aber faktisch weniger Bedeutung: Denn aus der Innenperspektive des heterodoxen Diskurses betrachtet, haben h-ExpertInnen insofern eine günstige Ausgangsposition bzw. einen Vertrauensvorschuss, als ja der Mehrheitsposition ein großräumiger Verblendungszusammenhang
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zugeschrieben wird: weil sie Wesentliches übersehe (wie es etwa in komplementärmedizinischen Diskursen über die ›Schulmedizin‹ gesagt wird), weil sie epistemisch gesehen von einigen grundlegend falschen Prämissen geleitet werde (wie es z. B. in kreationistischen und Intelligent-Design-Diskursen über die Standard-Evolutionsbiologie gesagt wird), weil sie durch verborgene politischwirtschaftliche Interessen gleichgeschaltet werde (als ›Systemwissenschaft‹, ›Staatswissenschaft‹, ›Politisch-wissenschaftlicher Komplex‹, ›Mainstreamwissenschaft‹ und dergleichen, wie es z. B. in den Corona-Debatten ein gängiger Topos war), und/oder ähnliches mehr. Wer – wie h-ExpertInnen – den Mut und die intellektuelle Redlichkeit aufbringe, sich diesem massiven Mehrheits- und Interessendruck entgegenzusetzen und die heterodoxe Position standhaft zu vertreten, scheint schon dadurch den Erweis der Unkorrumpierbarkeit durch Parteilichkeiten und meinungsverzerrende Interessen erbracht zu haben. Freilich: Es könnte natürlich auch innerhalb heterodoxer Wissensdiskurse Fälle geben, wo Eigeninteressen – etwa in Gestalt der offensiven Bewerbung spezifischer eigener medizinischer Angebote oder eigener Publikationen – so deutlich durchscheinen, dass sogar innerhalb heterodoxer Diskurse die Wahrnehmung als unabhängige/r h-ExpertIn in Gefahr gerät. Das letzte Kriterium, die Erfolgsbilanz in der Vergangenheit, birgt für h-ExpertInnen erstaunlicherweise kaum Gefahren. Heterodoxe Wissensdiskurse entfalten sich und gedeihen typischerweise nämlich nur dort, wo unmittelbare Erfolgsnachweise oder Widerlegungen schwer zu erbringen sind, oder dort, wo die Irrtumskosten nachweislich schlecht gestützter Theorien für ihre VertreterInnen nur sehr gering oder gar null sind. Es ist kein Zufall, dass es z. B. keine signifikanten heterodoxen Diskurse und auch keine h-ExpertInnen über Unfallchirurgie, den Bau von Brücken und Staudämmen, die Essbarkeit von Giftpilzen oder die Wartung von Verbrennungsmotoren gibt: Dort sind die Irrtumskosten nämlich hoch, schlecht gestützte Theorien hätten dort unmittelbare und gravierende gesundheitliche oder ökonomische Folgen. Sehr wohl aber gibt es heterodoxe Diskurse z. B. über Krebs, die Corona-Pandemie, die Wirksamkeit von Homöopathie, die Klimakrise oder die Ursachen des Ukrainekriegs. In all diesen Fällen sind die Irrtumskosten für ihre VertreterInnen niedrig bis null: Selbst wer hochgradig randständige Meinungen über den Ukraine-Krieg oder die Klimakrise hegt, hat dadurch persönlich keine direkten Nachteile oder Risiken (im Gegenteil, vielleicht gewinnt man sogar neue Freundschaften oder lukriert die identitätsstiftenden Wirkungen einer Gesinnungsgemeinschaft). Heterodoxe ImpfverweigererInnen ziehen sich – als Individuum betrachtet! – durch die Nicht-Impfung nur eine geringfügig erhöhte statistische Wahrscheinlichkeit zu, schwer zu erkranken oder zu
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sterben31; und selbst wenn einmal dieser Fall eintritt, kann man immer noch unwiderlegbar behaupten, er wäre wohl auch mit der Impfung eingetreten, oder das Risiko der Impfung sei höher gewesen. Falsche heterodoxe Meinungen über Krebs kann man normalerweise folgenlos bis zum Tod hegen, weil nur wenige Menschen selbst an Krebs erkranken. Und selbst wenn sie erkranken, sind die komplexen und vielfältigen Ursachen von Krebs im Einzelfall meist schwer zu ermitteln, nur statistisch ausdrückbar und nicht zur Widerlegung der heterodoxen Theorie geeignet. Und schließlich kann man ja auch im Erkrankungsfall doch noch sicherheitshalber in die schulmedizinische Therapie einwilligen: Spricht sie nicht an, dann sieht man sich im Glauben an ihre Unwirksamkeit bestätigt; spricht sie an, kann man immer noch unwiderlegbar behaupten, dieser Erfolg wäre wohl der eigenen inneren Stärke geschuldet und vermutlich auch ohne Therapie eingetreten. Für heterodoxe Meinungen über die Wirksamkeit von Homöopathie gilt zunächst dasselbe wie für jene über Krebs: Nur die wenigsten heterodox Denkenden kommen statistisch gesehen jemals in Situationen, wo diese ihre Meinungen einen überlebenswichtigen (bzw. tödlichen) Unterschied machen. Ansonsten können sie ihre Meinungen aber in leichteren Fällen durch Placebo-Effekte bestätigt sehen. Und in schweren Fällen lässt sich die Unwirksamkeit der Homöopathie dadurch kaschieren, dass man entweder doch noch auf begleitende Schulmedizin umsteigt oder aber, dass man die Erkrankung als derart schwerwiegend erklärt, dass sie auch schulmedizinisch behandelt sicher einen schweren Verlauf genommen hätte. Diese Beispiele ließen sich leicht fortsetzen; sie sind Anwendungsfälle der wissenschaftstheoretischen Diskussionen des 20. Jahrhunderts über die Schwierigkeiten, wissenschaftliche Theorien endgültig zu falsifizieren und die Möglichkeiten, wie sich mitunter (zumindest eine Zeit lang) sogar sogenannte Scheinbestätigungen (spurious confirmations) ergeben können. Das gilt erst recht für die erwähnten bevorzugten Themenfelder heterodoxer Wissensdiskurse, auf denen die Konsequenzen wahrer und falscher Theorien besonders schwer greifbar sind. Ertrag dieser Überlegungen sollte die Einsicht sein, dass sich h-Experten zumindest im heterodoxen Binnendiskurs keine allzu große Sorge wegen des Erfolgsbilanzkriteriums machen müssen, selbst wenn ihre Theorien diskursextern als wenig plausibel eingeschätzt werden. Zusammenfassend kann man also festhalten, dass für die Frage der Anerkennung als vertrauenswürdige h-ExpertInnen aus der heterodoxen Innenperspektive zwar dieselben Kriterien gelten wie auch sonst, aber dass 31 Anders ist es für Krankenhäuser, die ganze Bevölkerungen versorgen müssen: Dort zeigen sich individuell ganz geringfügig erhöhte Wahrscheinlichkeiten in deutlich erhöhten PatientInnenzahlen.
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h-ExpertInnen vor diesen Kriterien kaum Angst haben müssen: Einige Eigenheiten heterodoxer Diskurse machen es ihnen sogar leichter, diese Kriterien (diskursintern betrachtet) zu erfüllen und dort als ExpertIn zu erscheinen – und zwar selbst dann, wenn ihre Meinungen von außen betrachtet als sehr unplausibel erscheinen mögen (von außen betrachtet, empfehlen Goldmans Kriterien ja tatsächlich Skepsis gegenüber h-ExpertInnen). Für den nächsten Abschnitt legt sich die Frage nahe, welche Diskursstrukturen zu erwarten sind, wenn h-ExpertInnen sich in Diskurssituationen oder Publikationen mit ›orthodoxen‹ ExpertInnen begegnen. 8.
Out of context: Wissenschaft unter Zeit- und Mediendruck
Instruktive Beispiele für das Aufeinandertreffen heterodoxer und orthodoxer Wissensdiskurse unter der Aufmerksamkeit einer relativ breiten Öffentlichkeit hat die Zeit der COVID-19-Pandemie gebracht. Vermutlich war (zumindest in der westlichen Welt) in keiner vorherigen Menschheitsepoche über so lange Zeit eine derartige Dichte an wissenschaftlichen oder wissenschaftsnahen Inhalten in den medialen und politischen Diskursen, aber auch in den Diskursen der privaten Lebensumfelder präsent. Gleichzeitig ist das Ausmaß und die Wirksamkeit von Fehlinformationen vorher von kaum jemandem für möglich gehalten worden, sodass z. T. von ›Infodemics‹ gesprochen wurde. Schon länger existierende Beispiele solcher Diskurse sind die ›science wars‹ um den anthropogenen Klimawandel und das Verhältnis zwischen Evolutionsbiologie und Kreationismus; diese Debatten erreichten bislang aber niemals den Grad öffentlicher Aufmerksamkeit wie die COVID-Diskussionen32, sondern werden für ein Sonderpublikum mit spezifischen Interessen geführt.33 Ein Novum an den COVID-Debatten war auch, dass ExpertInnenmeinungen hier zum Zweck der Fundierung unmittelbar dringlicher politischer Entscheidungen und zu deren öffentlicher Legitimierung und Kommentierung eingeholt wurden. Das führte zu einer für wissenschaftliche Diskurse eher ungewöhnlichen Situation und hat auch h-ExpertInnen ungewöhnliche Einflussmöglichkeiten eröffnet: Sei es, dass sie selbst offensiv medial aktiv wurden, sei es, dass sie in Debattensituationen mit orthodoxen ExpertInnen einbezogen wurden. In diesem Abschnitt sollen einige Eigenheiten dieser Situation erläutert werden.
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Manches deutet darauf hin, dass sich dies derzeit (Sommer 2023) bei den KlimakrisenDebatten ändert. Was nicht heißt, dass die KontrahentInnen nicht versuchen würden, auf politische EntscheidungsträgerInnen Einfluss zu nehmen.
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Unter normalen Bedingungen sind wissenschaftliche Diskurse durch drei Rahmenbedingungen gekennzeichnet: Erstens die weitgehende Politikferne der diskutierten Inhalte34, zweitens die Beschränkung auf einen Teilneh merInnenkreis, der nach Goldmans drittem Kriterium für ExpertInnenschaft (also soziale Anerkennung) selegiert wird und nur eine kleinräumige Bereichsöffentlichkeit darstellt, und drittens durch die Abwesenheit von Zeitdruck bzw. die grundsätzlich beliebige Dauer und Fortsetzbarkeit.35 Viele Diskurse um Corona-relevante Fragen spielten sich allerdings unter Suspendierung aller dieser drei Rahmenbedingungen ab: Es ging um hochgradig politikrelevante Inhalte, die überdies mit Dringlichkeit in einer breiten Öffentlichkeit zu erörtern waren und unter verfrühten Gewissheitserwartungen litten (ein besonders deutliches Phänomen in dieser Richtung waren teils heftige und außerhalb von Fachkreisen geführte Diskussionen um Preprints, also Arbeiten, die noch vor dem Peer-Review-Verfahren in Umlauf gebracht werden und daher eigentlich besondere Vorsicht und Fachkenntnis zu ihrer Interpretation brauchen36). Und in vielen Staaten bildete sich eine wachsende heterodoxe Coronadiskurs-Szene mit expertInnenähnlichen Zentralfiguren, deren faktischer Einfluss (vor allem über Fernsehdiskussionen und -dokumentationen auf Privatsendern, aber auch über rechtspopulistische und zivilisationskritische politische Gruppierungen, sogenannte alternative Medien und private Themen-Blogs) weit über ihre wissenschaftliche Legitimation hinausging. Neben den genannten drei Merkmalen sind heterodox-orthodoxe Ex pertInnendiskurse, vor allem wenn sie vor Publikum stattfinden, meist durch ungleich verteilte Ergebnisoffenheiten geprägt: Für h-ExpertInnen gehört der Dissens mit der Orthodoxie zum schwer aufgebbaren inhaltlichen Kernbestand der Botschaft: Ihn zu reduzieren liegt nicht in ihrem strategischen Interesse. Dass das orthodoxe Bild im Großen und Ganzen auch richtig sein könnte, ist daher aus ihrer Sicht kein mögliches Ergebnis der Debatte. Umgekehrt haben orthodoxe ExpertInnen der gängigen Wissenschaftsethik zu folgen und daher allfällige triftige Einwände der h-ExpertInnen ebenso anzuerkennen wie die aktuelle Unklärbarkeit gewisser Fragen; und auch bei abwegigen Einwänden und Standpunkten tun sie gut daran, ihnen maßvoll und seriös zu begegnen, 34 35 36
Wobei dies (z. B.) auf Quantenphysik und Botanik nochmals deutlicher zutreffen mag als (z. B.) auf Krankenhausbetriebslehre, neuere osteuropäische Geschichte oder die volkswirtschaftliche Theorie der Geldmengen. Auf diese Problematik vorverlegter, unproduktiv beschleunigter und aus dem üblichen Milieu in eine größere Öffentlichkeit hinausverlegter wissenschaftlicher Diskurse hat u. a. Martin Carrier aufmerksam gemacht (Carrier 2022, 29–62, hier 50–54). Eine gute historische Übersicht und Einführung in die wissenschaftstheoretische Ambivalenz von Preprints bietet der englische Wikipedia-Eintrag.
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um nicht wieder das Klischee der machtgetriebenen herrschenden Wissenschaft zu bedienen. Das verleiht solchen Situationen oft den Charakter eines asymmetrischen Konflikts zwischen ungleichartigen Partnern, denen auch ungleiche Mittel zu Gebote stehen: h-ExpertInnen haben gegenüber ihren Communities nichts zu verlieren und tun gut daran, möglichst vehement die Orthodoxie anzugreifen und das Vertrauen in sie möglichst breitflächig zu unterminieren. Beliebte Mittel dafür sind z. B. die Anführung aus dem Zusammenhang gerissener, für die anderen Beteiligten überraschender, empirischer Einzelergebnisse oder Schilderungen tragischer Einzelschicksale. Eine seriöse wissenschaftliche Reaktion auf solche argumentativen Schachzüge ist (unter dem Zeitdruck beschränkter Sendezeit) grundsätzlich schwierig: Die Einräumung, die fragliche Einzelstudie nicht zu kennen, kann vor einem Laienpublikum leicht als Inkompetenz ausgelegt werden; der sachliche Hinweis, dass Einzelergebnisse immer mit Blick auf ihren Kontext und ihre Methodik zu diskutieren wären, wirkt in medialen Diskussionsformaten deplatziert, da unumsetzbar; und die ebenso berechtigte Belehrung, dass Einzelfälle keinen Schluss auf das Allgemeine zulassen, klingt nicht nur nach mangelnder Betroffenheit, sondern lädt auch zur naheliegenden Replik ein, es gäbe noch zahllose ähnliche solcher Fälle. ExpertInnen aus dem Bereich der Orthodoxie begegnen h-ExpertInnen daher häufig mit grundsätzlichem Misstrauen, vielfach weichen Sie solchen Konfrontationen – vor allem wenn ihre Settings eine deutlich heterodoxe Rahmenagenda erkennen lassen – auch von vornherein aus, weil sie die PartnerInnen als nicht satisfaktionsfähig empfinden und/oder nicht instrumentalisiert werden wollen. All das schafft keine guten Voraussetzungen für ein erkenntnisförderliches Gespräch; daher wirken z. B. gemischte Paneldiskussionen oft weniger als die Veranstaltungen zur Klärung und zum Erkenntnisgewinn, als die sie meist eingeleitet werden, sondern eher als strategische Gelegenheiten, Präsenz zu zeigen und das Ernstnehmen des jeweils eigenen Standpunktes einzufordern. Sprachpragmatisch betrachtet ist bereits die richtige Wahl des Settings für solche Diskussionen ein Problem, denn ihre personelle Zusammensetzung transportiert inhaltliche Botschaften: Lässt man h-ExpertInnen gar nicht oder nur am Rande und in kleiner Anzahl teilnehmen, bedient dies deren Narrativ, eine hegemoniale Wissenschaft unterdrücke in Zusammenarbeit mit ebenso hegemonialen Medien andere Meinungen. Lässt man sie dagegen paritätisch oder annähernd paritätisch teilnehmen, bildet dies Fälle der sogenannten ›false balance‹ oder des ›bothsideism‹, das heißt des unproportionalen Repräsentierens und Respektierens randständiger und wenig relevanter Meinungen: Gegenüber dem nicht fachkundigen Publikum wird durch solche Diskussionen (vor allem, wenn sie kurz, konfliktiv und ohne inhaltlichen Erkenntnisgewinn
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bleiben) der verzerrte Eindruck begünstigt, es träfen hier tatsächlich gleichermaßen plausible und vertretbare Meinungsoptionen aufeinander. Ein verwandtes Phänomen, wo in heterodoxen Diskursen indirekte Mitteilungen rein durch das Setting der Fragestellung zustande kommen können, ist der sogenannte ›toxische Zweifel‹, der vielfach als bewusste Technik eingesetzt wird: Statt riskante Behauptungen aufzustellen (und sich dadurch selbst schwer einlösbare Beweislasten aufzuerlegen), werden scheinbar bloß Fragen in den Raum gestellt, nach dem Motto »die bloße Frage muss doch erlaubt sein, eine gesunde Skepsis ist doch eine Tugend«. Sprechakttheoretisch betrachtet machen Fragen aber auch aussagenartige Präsuppositionen: Wer ernsthaft etwas fragt (und sich nicht als völlig unwissend bekennt, wie etwa Reisende in einer fremden Stadt), präsupponiert damit, dass die Antwort auf diese Frage nicht auf der Hand liegt. Wer eine etablierte Meinung ernsthaft in Frage stellt, präsupponiert damit, dass dieser Meinung und deren üblichen Rechtfertigungen eigentlich nicht zu trauen ist. Wenn – wie dies etwa heterodoxe ExpertInnen zu 9/11, zur COVID-19-Pandemie oder der Klimakrise häufig betreiben – eine Vielzahl von Einzelfragen zu angeblichen oder echten Ungereimtheiten in der gängigen Darstellung der Dinge gestellt wird, dann erweckt dies den Eindruck, dass diese gängige Darstellung in wichtigen Hinsichten unberechtigt sein könnte. All dies kann wohlgemerkt funktionieren, ohne dass man sich selbst auf klare Behauptungen festlegen muss. Dazu passt auch die häufige Praxis, irgendwelche ›Belege‹ aus der Hand Dritter zu zitieren, die eigentlich selbst erst wieder kritisch bewertet werden müssten – Studien, Videos, Interviews, zitierte Zeugenaussagen oder was auch immer. Insgesamt entsteht so eine opake Mitteilungssituation mit einer beeindruckenden Anzahl irgendwie darin involvierter Personen – und man hat zwar selbst nichts Angreifbares gesagt, aber doch durch die Weise der Frage und die Zusammenstellung des Materials eine klare Botschaft an die AdressatInnen gebracht. Ein weiteres häufig zu beobachtendes Merkmal strategischer Kommunikation in heterodox-orthodoxen Mischdiskursen ist das Spiel mit unterschiedlichen Begründbarkeits- und Beweisbarkeitsanforderungen. Auch hier hat die Corona-Krise reichliches Anschauungsmaterial geliefert, auch deshalb, weil sie einen besonders schwer zu verstehenden Sonderfall darstellte: Ein nur mittels komplexer Wahrscheinlichkeiten begreifbarer Gesamtvorgang mit regional und milieumäßig zum Teil extrem unterschiedlichem Infektionsgeschehen legte als politische Reaktion (vor allem anfangs noch auf äußerst unsicherer Datengrundlage!) ein ganzes Bündel von Gegenmaßnahmen nahe, die den Einzelnen zwar nur mit gewissen Wahrscheinlichkeiten nützten, aber in ihren belastenden Auswirkungen sofort alle betrafen. Und der spezifische Beitrag einzelner Maßnahmen zur Wirkung des Gesamtbündels ist bis heute ebenfalls schwierig zu identifizieren. Diese von multiplen Unsicherheiten
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geprägte wissenschaftliche Seite der Pandemiebekämpfung ist schwer zu vereinbaren mit den hohen Beweisbarkeitsforderungen und der Ja/Nein-Logik der Rechtsordnung – besonders wo es um die Rechtfertigung von Eingriffen in die Handlungsfreiheit anderer geht. Ein simples ›follow the science‹ verbietet sich für die Politik schon aus diesen unterschiedlichen Sachlogiken heraus; eine vernünftige politische Reaktion kann nur wissenschaftsbasiert sein in dem Sinne, dass sie sich für einen wissenschaftlich plausiblen und rechtlich haltbaren Lösungsweg entscheidet. Solche komplexen Situationen bieten nun eine Reihe von Ansatzpunkten für heterodoxe Diskursmuster, die – bewusst oder auch unbewusst angewandt – geeignet sind, die Glaubwürdigkeit orthodoxer Diskurse und der dortigen ExpertInnen vor allem in den Augen von Laienpersonen zu unterminieren. Ein erstes solches Muster ist die Aufstellung unerfüllbarer Beweisbarkeitsforderungen etwa nach dem Muster: Wenn etwas behauptet wird (und auf dieser Grundlage z. B. Maßnahmen verhängt werden), dann muss dies beweisbar sein. Wer dann entgegnet, dass strikte Beweise in empirischen Wissenschaften kaum zu erwarten sind, setzt sich dem Verdacht der eigenen Unsicherheit und Unfundiertheit aus. Dies beruht jedoch auf einem Denkfehler: Daraus, dass es keine strikten Beweise für eine Ansicht gibt, folgt nicht, dass es nicht doch gute Argumente für diese Ansicht geben könnte und es daher nicht rational wäre, ihr zu folgen. Zweitens (und oft damit verbunden) kommen Teil/GanzesFehlschlüsse vor, welche z. B. für die Kritik an Maßnahmenbündeln eingesetzt werden können: Aber auch wenn es tatsächlich für keine der Einzelmaßnahmen einen strikten, isolierten Wirksamkeitsnachweis geben sollte, folgt daraus noch nicht, dass es nicht für das Gesamtpaket von Maßnahmen und die dahinterstehende Theorie gute Argumente geben könnte. Ein drittes Diskursmuster hat mit der (absichtlichen oder irrtümlichen) Vertauschung der Reihenfolge logischer Wörter zu tun: Wenn es nicht bewiesen ist, dass eine Behauptung B gilt, so folgt daraus nicht, dass nicht-B bewiesen wäre; und wenn die Wirksamkeit einer Maßnahme nicht bewiesen ist, so folgt daraus nicht, dass ihre Unwirksamkeit bewiesen wäre. Eine vierte Gruppe von Mustern bilden probabilistische Fehlschlüsse, auf deren Aufdeckung untrainierte Menschen kaum vorbereitet sind.37 Der bekannteste dürfte der Grundverteilungsfehlschluss (base rate fallacy) sein: Wir neigen dazu, nur auf die zahlenmäßige Verteilung im Ergebnis zu blicken und die sogenannte Grundverteilung in 37
Die Vielzahl an Analysen der Schwächen untrainierter Personen beim probabilistischen Denken ist inzwischen kaum mehr überschaubar. Nach wie vor ein Klassiker ist der Sammelband Kahneman et al. 1982. Einige konkrete Anwendungen auf medizinische Kontexte bietet das Themenheft Probabilistic Thinking and Health (2013). Eine populärwissenschaftliche Einführung bietet Gigerenzer 2013.
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der Ausgangssituation zu ignorieren. Zeitweise ging etwa das Argument in heterodoxen Corona-Diskursen viral, dass in den Krankenhäusern gleich viele Geimpfte wie Nichtgeimpfte (oder sogar noch mehr) lägen, woraus die Unwirksamkeit der Impfung folge. Das ist allerdings nur vom sichtbaren Ergebnis her gedacht und geht einer base rate fallacy auf den Leim: In einer Bevölkerung mit einem hohen Anteil Geimpfter in der Grundverteilung werden nämlich auch viele Geimpfte im Krankenhaus landen (was ein Gedankenexperiment leicht ersehen lässt: Bei 100 % Durchimpfungsrate wären überhaupt nur mehr Geimpfte im Krankenhaus!); und bei denjenigen Bevölkerungsgruppen in der Grundverteilung, die am wahrscheinlichsten im Krankenhaus landen würden (nämlich Ältere und Vorerkrankte), war auch die Durchimpfungsrate höher als in anderen Gruppen. Der tatsächlich prima facie hohe Anteil von Geimpften an den Hospitalisierten hat also eine einfache mathematische Erklärung und lässt keine einfachen Schlüsse auf die Unwirksamkeit der Impfung zu. 9.
Zusammenfassung
Auch in heterodoxen Wissensdiskursen werden Rechtfertigungsspiele gespielt, nach innen wie nach außen, zum Teil wird auch Überzeugungsarbeit geleistet – nur teilweise eben mit problematischen Kommunikationsformen. Zum Verständnis dieser Kommunikationsformen haben sich die gängigen erkenntnistheoretischen Analysewerkzeuge (epistemische Arbeitsteilung, das Verweisen und Vertrauen auf das Zeugnis anderer, Kriterien für ExpertInnenschaft u. a.) als nützlich erwiesen. Es hat sich gezeigt, dass auch in heterodoxen Diskursen ExpertInnen eine zentrale Rolle spielen und (zumindest aus der heterodoxen Binnenperspektive) im Grunde nach ähnlichen Kriterien beurteilt werden. Aufgrund der inhaltlichen und strukturellen Eigenheiten heterodoxer Diskurse scheinen heterodoxe ExpertInnen aus dieser Binnensicht diese Kriterien auch zu erfüllen; aus der Außensicht dagegen erfüllen heterodoxe ExpertInnen diese Kriterien nicht. Das ist einer der Gründe, warum mit schneller Überredung oder ›Konversion‹ von TeilnehmerInnen an heterodoxen Diskursen nicht zu rechnen ist und heterodoxe Diskurse eine mitunter erstaunliche Stabilität zeigen. Bibliographie Andreas Bartels/Dennis Lehmkuhl (Hg.): Weshalb auf die Wissenschaft hören? Berlin 2022, S. 29–62.
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J. Adam Carter/Philip W. Nickel: On testimony and transmission. In: Episteme 11/2 (2014), S. 145–155. Katherine Dormandy: Epistemic Authority: Preemption or Proper Basing? In: Erkenntnis 83 (2018), S. 773–791. Alexander Fischer: Then again, what is manipulation? A broader view of a muchmaligned concept. In: Philosophical Explorations 25/2 (2022), S. 170–188. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Basel 1935 (Nachdruck Frankfurt 1980 und öfters). Michel Foucault: Archäologie des Wissens [1969]. Frankfurt 1981. Edmund Gettier: Is Justified True Belief Knowledge? In: Analysis 23/6 (1963), S. 121–123. Gerd Gigerenzer: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München 2013. Alvin Goldman: Experts: Which Ones Should You Trust? In: Philosophy and Phenomenological Research 63/1 (2001), S. 85–110. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992. Christoph Jäger: Epistemic Authority, Preemptive Reasons, and Understanding. In: Episteme 13/2 (2016), S. 167–185. Reinhart Junker/Siegfried Scherer: Evolution: Ein kritisches Lehrbuch. Gießen 1998. Daniel Kahneman/Paul Slovic/Amos Tversky (Hg.): Judgment under Uncertainty. Heuristics and Biases. Cambridge 1982. Immanuel Kant: Über ein vermeintes Menschenrecht aus Menschenliebe zu lügen. In: Berlinische Blätter 1 (1797), S. 301–314. Jennifer Lackey: Learning from Words: Testimony as a Source of Knowledge. Oxford 2008. Winfried Löffler: Welche Funktion hat Populärwissenschaft? Lektionen von Wittgenstein und Fleck. In: Thomas Schmidt et al. (Hg.): Herausforderungen der Modernität. Würzburg 2013, 187–210. Justin P. McBrayer: Beyond Fake News: Finding the Truth in a World of Misinformation. New York 2021. N.N.: Preprints, https://en.wikipedia.org/wiki/Preprint [Zugriff 2.8.2023]. Probabilistic Thinking and Health Risks. Themenheft von Health, Risk & Society 15/1 (2013). Hilary Putnam: Die Bedeutung von ›Bedeutung‹ (The meaning of ›meaning‹ [1975], übersetzt von Wolfgang Spohn). Frankfurt/Main 1990. Stephen Wright: The transmission of knowledge and justification. In: Synthese 193/1 (2016), S. 293–311.
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Oder: Was zwölf wütende Männer mit dem Ethos des Argumentierens zu tun haben Falk Bornmüller, Mario Ziegler Die beiden Dialogpartner Rudolf und Wilhelm treffen in der vorlesungsfreien Zeit an einem Institut für Philosophie aufeinander. Rudolf hat eine Entdeckung gemacht und möchte Wilhelm unbedingt davon erzählen. Rudolf: Wilhelm, in Vorbereitung auf mein Seminar »Logik und Argumentationstheorie« bin ich auf ein Lehrstück von [Bornmüller und Ziegler]1 gestoßen, der Titel war irgendwie interessant: »Über das Ethos des Urteilens und Argumentierens«. Die beiden Autoren nehmen den Film die Zwölf Geschworenen von [Sidney Lumet] zum Anlass, um über das Argumentieren und die Praxis des Urteilens nachzudenken. Ich habe mir deshalb auch gleich den Film angesehen. Aber weißt du was: Der Film ist wirklich ein verdammt schlechtes Beispiel für das Argumentieren, ich frage mich, wie man den überhaupt in einen Zusammenhang mit vernünftigem Argumentieren und Urteilen bringen kann. Wilhelm: Ich habe mir den Film auch angeschaut. Aber was ist denn für dich eigentlich vernünftiges Argumentieren und Urteilen? Rudolf: Jedenfalls nicht das, was im Film und im Lehrstück zu sehen ist. Sondern eine geordnete Form, die argumentationstheoretisch fundiert ist. Deshalb sollten die Geschworenen zunächst eine Argumentationsschulung durchlaufen, in der die zentralen Fähigkeiten des Argumentierens überprüfbar gelernt werden. Wilhelm: Aber die Zwölf Geschworenen sind doch zufällig ausgewählt worden. Und das aus gutem Grund, denn sie stellen einen gewissen Querschnitt der Gesellschaft dar und sie sollten an dem konkreten Fall kein Interesse nehmen. Ihre Aufgabe ist es, sich ein Urteil auf der Grundlage ihrer eigenen Lebenserfahrung zu bilden und sich über die vielfältigen Sichtweisen auszutauschen. Rudolf: Das mag zwar stimmen. Aber schau mal, hätte Nummer 8 nicht mit nicht-schuldig gestimmt, wäre der Junge bereits nach 5 Minuten zum Tode verurteilt worden – und das nur, weil bis auf Nummer 8 alle Geschworenen 1 Ein Dialog braucht keine Fußnoten. Aber Rudolf und Wilhelm beziehen sich implizit oder auch explizit auf [Autor:Innen und Texte], die im Anschluss an den Dialog in einem Epilog kurz erläutert und mit Literaturhinweisen versehen werden.
© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768174_004
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blind ihrem Vorurteil folgen. Da gibt es kein Reden, kein Abwägen, kein Argumentieren … Wilhelm: Da stimme ich dir zu. Denn das sagen ja sogar einige Geschworene ausdrücklich, dass der Junge schuldig ist. Und sind sich dabei erstaunlich sicher, obwohl sie dafür keine Gründe angeben können. Aber wenn wir uns Nummer 8 einmal genauer anschauen, dann können wir doch sehen, dass er auch kein stichhaltiges Argument parat hat. Mehr noch: Er gibt auf Nachfrage zu: »Ich weiß es nicht.« Das scheint irgendwie unvernünftig zu sein, aber vielleicht doch nötig, damit das Gespräch über den Fall überhaupt in Gang kommt. Rudolf: Ich würde nicht einmal sagen, dass Nummer 8 unvernünftig ist. Er unterläuft die Abstimmung aus Kalkül, damit die anderen Geschworenen nicht mehr umhinkommen, sich mit dem Fall noch einmal gründlich auseinanderzusetzen. Sein Plädoyer für nicht-schuldig entspricht zwar nicht seinen später dafür formulierten Kriterien, aber ich kann ihn dafür entschuldigen, weil er es um des rationalen Gesprächs willen getan hat. Aber mal ehrlich: Alles, was danach als vermeintlich rationales Gespräch folgt, verdient doch diesen Namen nicht. Nehmen wir zum Beispiel die Szene gleich nach der Abstimmung: Alle Geschworenen, die für schuldig plädiert haben, sollen ihre Entscheidung der Reihe nach begründen, um »den Herrn zu überzeugen, dass er Unrecht hat und nicht wir«. Aber mit Überzeugungsarbeit hat das kaum etwas zu tun, denn anschließend geht es ziemlich durcheinander: Jeder sagt irgendetwas, von dem er meint, es sei relevant – es wird auf die Zeugenaussagen verwiesen, dann wieder darauf, dass sich jeder Mensch auch irren könne; einer ergeht sich in seinen rassistischen Vorurteilen, ein anderer möchte lieber doch nichts dazu sagen und letztlich bleiben doch alle auf undurchsichtige, gleichwohl überzeugte Weise bei ihrer Meinung. Als Zuschauer überzeugt mich das jedoch keineswegs und ich habe mich ziemlich genervt gefragt, warum es keinen Gesprächsleiter gibt, der Ordnung in dieses argumentative Chaos bringt. Wilhelm: Du scheinst mir ein ziemlich klares Bild vor Augen zu haben, was ein rationales Gespräch ist, wodurch es sich auszeichnet und wie es zu verlaufen hat. Es gibt in deiner Vorstellung offenbar einen Katalog von Regeln, mit denen eindeutig vorgeschrieben ist, woran sich die Gesprächsteilnehmer zu halten und wie sie im Gespräch vorzugehen haben. Das erinnert mich an [Habermas und Alexy]. Aber mich interessiert eigentlich vielmehr, wieso die Geschworenen so schnell ein Urteil gefällt haben und was die Hinter-Gründe für diese Vorurteile sind. Und das kann in deiner Vorstellung eines ›sauberen‹ Argumentierens gar nicht in den Blick geraten – vielleicht, weil du deine eigenen Vor-Urteile verdrängst? Rudolf: Vorurteile? Ich habe keine Vorurteile. Weißt du, ich nehme schon für mich in Anspruch, dass ich genug in Argumentationstheorie und
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philosophischer Logik gelernt habe, um vor Vorurteilen gefeit zu sein. Deshalb sagte ich ja schon am Anfang: Wer in dieser Hinsicht eine gute Schulung erhalten hat, gerät gar nicht erst in Gefahr, einem Vorurteil aufzusitzen. Das ist für mich wirkliche Vernunft, und davon sind die Geschworenen im Film, selbst der ehrenwerte Nummer 8, sehr weit entfernt. Wilhelm: Holla! Nehmen wir mal an, wir würden die bereits gefällten Urteile der Geschworenen als Argumente rekonstruieren und eine Reduktion auf bestimmte Argumentationsformen, vielleicht sogar eine logische Formalisierung vornehmen ‒ was wäre denn damit erreicht? Rudolf: Eigentlich ziemlich viel. Denn wie Nummer 8 richtig sagt: Menschen können sich stets irren – und das tun sie leider auch ständig. Das fängt schon damit an, dass Menschen prinzipiell nicht gut darin sind, z. B. umfangreiche oder komplexe Datenmengen zu überblicken und adäquat auszuwerten – das können Maschinen oder entsprechende Technologien viel besser. Außerdem sind menschliche Wahrnehmungen oft unvollständig und bloß ausschnitthaft, weshalb viele Menschen auch nicht gerade gut darin sind, Argumente zu rekonstruieren, logische Probleme zu lösen, Wahrscheinlichkeitsverhältnisse sachgerecht einzuschätzen und auf der Basis von Daten eine wirklich objektive Entscheidung zu fällen. Das ist ein Defizit, das sich mit einer guten Argumentationsschulung beheben ließe, allerdings haben nicht unbedingt viele Menschen die intellektuellen Fähigkeiten dazu. Aufgrund dieser natürlichen Fehlbarkeit des Menschen sollten wir die meisten Entscheidungen doch besser intelligenten Maschinen überlassen, denn wenn eine KI die entsprechenden Daten hat, dann kann sie entlang von relevanten Parametern viel genauer und untrüglicher berechnen, was der Fall ist und eine entsprechende Lösung ausgeben. Wilhelm: Das macht mich etwas sprachlos. Das heißt ja, dass du den Menschen aus dieser Urteilspraxis am liebsten ganz herausstreichen möchtest. Wo kommen wir denn da hin? Jetzt verstehe ich erst richtig, was du unter einem hygienisch sauberen Argumentieren zu verstehen scheinst: Nämlich eine wortwörtlich ent-menschlichte Praxis. Aber das, worum es in dem Fall geht, ist doch die Folge eines menschlichen Handelns: Es wurde jemand umgebracht. Und über menschliches Handeln sollten sich doch wohl am ehesten auch Menschen miteinander verständigen. Denn es geht sie etwas an. Deshalb interessieren mich mit [Schapp] eben die menschlichen Individuen mit ihren Geschichten, in die sie verstrickt sind. Rudolf: Ganz herausstreichen möchte ich den Menschen doch nicht, aber ich bleibe dabei, dass man mit einer guten Argumentationsschulung die menschlichen Fehler, z. B. ihre Vorurteile, so weit als möglich vermeiden kann. Und ich sehe nicht, dass sich die Geschworenen in diesem Film irgendwie Mühe geben, die Art und Weise ihres Argumentierens konsequent zu
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verbessern. Aber sage mir mal, lieber Wilhelm, was meinst du jetzt mit dem Verstrickt-sein in Geschichten? Was ist das für eine merkwürdige Metapher? Wilhelm: Das werde ich dir an einem Beispiel aus dem Film erläutern. Schauen wir uns noch einmal den Fall, um den es hier geht, an. Es handelt sich um eine Fall-Geschichte, und dieser Fall wurde vor Gericht gebracht und wird jetzt im Jury-Raum nach und nach rekonstruiert und damit zum Vorschein gebracht. Laut [Hannken-Illjes] ist das auch notwendig, weil der Fall für diejenigen, die sich darüber ein Urteil bilden sollen, zunächst erst einmal ›erzählt‹ werden muss, bevor man sich damit argumentativ auseinandersetzen kann. Das ist aber nicht die einzige Geschichte. Fangen wir mit den Zeugen an, die selbst eine Geschichte haben und diese in die Betrachtung des Falles meist unbewusst mit einbringen. Und auch die Geschworenen sind auf diese Erzählungen angewiesen und bringen zugleich ihre eigenen Geschichten damit in Verbindung. Das ist ein Verstrickungsmuster von wechselseitig aufeinander sich beziehenden Eigen- und Fremdgeschichten. So wird zum Beispiel die Zeugenaussage des alten Mannes erst dadurch verständlich, dass einer der Geschworenen, Nummer 9, ebenfalls ein älterer Herr, die Motive des Zeugen für dessen womöglich nicht ganz wahrhaftige Aussage mit dem Verweis auf seine eigenen Erfahrungen als älterer Mann, der seit langer Zeit zum ersten Mal wieder eine öffentliche Aufmerksamkeit erfährt, verständlich machen kann. Rudolf: Ich hoffe, dich richtig verstanden zu haben: Wir brauchen natürlich eine Rekonstruktion des Falles, und das mag meinetwegen in Form einer Art ›Geschichte‹ geschehen. Aber meines Erachtens gehen diese beiden Momente im gesamten Film ziemlich durcheinander und werden nicht sinnvoll voneinander getrennt. Wenn Hannken-Illjes meint, dass eine Argumentation vor Gericht nicht ohne Narration auskommt, gebe ich ihr recht – aber die Reihenfolge muss gewahrt bleiben: Erst die rekonstruierende Narration des Falls und dann die argumentative Bearbeitung des sachlichen Gehalts. Denn die Geschworenen sollen ihr Urteil doch auf einer objektiven Grundlage bilden, und das heißt, dass sie gerade von diesen ganzen individuellen Geschichten, von denen du gerade gesprochen hast, vollständig absehen müssen. An dieser Stelle hat sicherlich schon der Richter während der Verhandlung versagt, denn ihm hätte die Zweifelhaftigkeit der Zeugenaussage des alten Mannes auffallen müssen – und dass diese Verworrenheit in der anschließenden Jury unter den Geschworenen fortgesetzt wird, gereicht dem vorgeführten Rechtssystem absolut nicht zur Ehre. Wilhelm: Aber wie kommst du denn darauf, dass die Geschworenen von ihren eigenen Geschichten vollständig absehen können müssen, um diesen individuellen Fall beurteilen zu können? Das leuchtet mir nicht ein. Die Geschichten lassen sich nicht auf einen rein objektiven Sachverhalt
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zurückführen, denn es geht doch darum, gerade diesem individuellen Fall gerecht zu werden und fairerweise alle möglicherweise relevanten Umstände mit einzubeziehen. Schließlich geht es hier um Leben und Tod des Angeklagten, dem wir es schuldig sind, sich seiner Geschichte sorgfältig anzunehmen, wie Nummer 8 ja auch bemerkt. Und aus diesem Grund muss auf die Geschichte des Jungen auch in der argumentativen Auseinandersetzung stets zurückgegriffen werden. Das Verfahren ist deshalb auch nicht verworren, sondern der wichtige Versuch, die Narration und die Argumentation auf eine angemessene Weise zusammenzubringen. Rudolf: Mein Lieber, ich ahne schon, wohin du mich führen willst – und ja, ich habe meinen Kant gelesen. Du scheinst mir auf eine sehr nachdrückliche Weise vom Besonderen des einzelnen Falls ausgehen zu wollen, der allein die gerechte Beurteilung dieses Falls ermöglicht. Aber das Allgemeine darfst du dabei nicht vergessen: Es braucht objektive begriffliche Bestimmungen und Schemata zu deren Anwendung, um – mit [Kant] gesprochen – das Besondere unter das Allgemeine subsumieren zu können. Die Geschworenen machen sich diesen Zusammenhang überhaupt nicht klar, sondern changieren munter von einer individuellen Geschichte zur anderen, ohne einen allgemeinen Standpunkt – und der muss doch gesichert sein! – einnehmen zu können. Das im Film vorherrschende Besondere bleibt bis zum Schluss willkürlich, weil es keinen Anschluss an allgemeine – und das heißt: objektive – Kategorien findet. Wilhelm: Du hast deinen Kant anscheinend nur zur Hälfte gelesen. Neben der bestimmenden Urteilskraft gibt es da noch die reflektierende Urteilskraft, die ausgehend vom Besonderen die allgemeinen Kategorien allererst ausfindig macht. Außerdem nehmen doch zumindest einige Geschworene, wie zum Beispiel Nummer 4, immer wieder Bezug auf allgemeine Kategorien und plädieren für einen rationalen Blick auf den Fall. Aber es gibt auch jemanden, der sich auf etwas Allgemeines beruft, und damit aber letztlich nur seine rassistischen Vorurteile zu begründen versucht: nämlich Nummer 10. Und deshalb braucht es beide Momente des Urteilens, bei dem das Allgemeine und das Besondere in ein stimmiges Verhältnis gesetzt werden. Ich sehe den Film nicht als willkürlich an, sondern es geht, um mit [Hannah Arendt] zu sprechen, in diesem zugegebenermaßen manchmal etwas chaotisch wirkenden Ringen darum, einen Maßstab des Urteilens zu finden und darum, vorhandene, aber unangemessene Maßstäbe des Urteilens kritisieren zu können. Rudolf: Stimmt schon, die reflektierende Urteilskraft hatte ich etwas aus dem Blick verloren – aber doch nur, weil ich die Rationalität für so wichtig halte, gerade in diesem Fall. Gut, dass du auf Nummer 4 zu sprechen kommst, das ist tatsächlich – neben Nummer 8 – einer der Vernünftigen in der Jury. Der lässt sich nicht durch irgendwelche Geschichten oder Befindlichkeiten kirre
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machen, sondern verfolgt – so sehe ich es jedenfalls – den Grundsatz, dass solche Entscheidungen mit kühlem Kopf und klarem Verstand zu treffen sind. Also: Die reflektierende Urteilskraft mag für die Würdigung der Besonderheit dieses Falls und meinetwegen auch als eine Art Korrektiv in Bezug auf allgemeine Kategorien dienen – aber die bestimmende Urteilskraft muss doch das Steuer in der Hand halten! Wilhelm: Da bleibe ich skeptisch, vor allem im Hinblick auf die von dir hochgelobte Vernünftigkeit einiger Jurymitglieder. Denn das, was du hier behauptest, gilt ja ebenso für Nummer 10: ein prototypischer Rassist, der deine Methode der bestimmenden Urteilskraft ähnlich gut beherrscht wie Nummer 8 und 4. Nur, was sein Temperament betrifft, ist er im Vergleich zu den anderen beiden eher unbeherrscht. Aber die Anwendung eines allgemeinen Wertmaßstabes beherrscht er im Schlaf. Nachdem Nummer 8 auf die schwierige Kindheit des Jungen hingewiesen hat und die Jurymitglieder dazu auffordert, über seinen Fall noch einmal ins Gespräch zu kommen, weist ihn Nummer 10 zunächst auf die ›Sauberkeit‹ des Verfahrens hin, um dann mit klarem Verstand sein verallgemeinerndes Urteil über den Jungen zu fällen, ich lese mal aus dem Reclam-Bändchen von [Rose] vor: »Wir haben die Tatsachen gehört – und jetzt wollen Sie uns weismachen, daß wir dem Bürschlein glauben sollen! Mir kann der nichts vormachen […]. Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen!« Wäre dieses Argument für uns vernünftiger, wenn es empirisch beweisbar wäre? Oder würden wir dann immer noch nicht sagen, dass sein Urteil vernünftig ist? Vielleicht ist dieses Verstecken hinter solchen allgemeinen Denkmustern eine Flucht, eine Welt-Flucht, die daher rührt, dass man sich bloß nicht ernsthaft mit den Fremdgeschichten, wie einige Jurymitglieder, oder mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen muss. Doch dann ist das allgemeine Urteil auch nur ein Vor-Urteil, dessen Maßstab nicht hinterfragt wird. Vielmehr verdrängt das allgemeine Denkmuster das individuelle Leben und die mannigfaltigen Geschichten, die daraus hervorgehen können. Sehr vernünftig scheint mir diese Verdrängungsleistung aber nicht zu sein. Rudolf: Etwas Wichtiges mutwillig zu verdrängen, kann niemals vernünftig sein, in diesem Punkt sind wir uns wohl einig. Es kommt aber schon darauf an, was als ›wichtig‹ erachtet wird. Natürlich wäre die Begründung von Nummer 10 plausibler, wenn sich der Zusammenhang von Herkunft aus einem bestimmten Milieu und Wahrscheinlichkeit einer Neigung zur Straffälligkeit empirisch nachweisen ließe, solche sozialwissenschaftlichen Studien liegen immerhin vor. Und wir sollten Nummer 10 natürlich dafür kritisieren, dass er seine individuelle Wahrnehmung des Milieus pauschalisiert und eben nicht auf solche Untersuchungen verweist. Denn letzten Endes bilden doch nur
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wissenschaftliche Tatsachen und Erkenntnisse den objektiven und allgemeinverbindlichen Maßstab, auf den wir uns vernünftigerweise beziehen können. Was mich bei der Situation im Geschworenen-Zimmer am meisten stört, ist diese unsägliche Heterogenität der Maßstäbe und Kriterien – jedes JuryMitglied scheint eine eigene Vorstellung davon zu haben, was in diesem Fall relevant ist und worauf es seiner Meinung nach ankommt. Wenigstens haben wir mit Nummer 3 jemanden, der von Anfang an auf die Tatsachen verweist und immer wieder darauf aufmerksam macht, dass im Gerichtsverfahren mehrere Zeugen gehört wurden und der Verlauf des Falls darüber rekonstruiert werden konnte. Insofern ist er – neben Nummer 4 – einer derjenigen, die mit der richtigen Orientierung an diese Urteilsfindung herangehen. Wilhelm: Die Orientierung an Tatsachen ist ein gutes Stichwort. Denn gerade Nummer 3 ist doch das beste Beispiel dafür, dass diese sogenannten ›Tatsachen‹ vor dem Hintergrund der eigenen Verstrickungen nur eine nebensächliche Rolle spielen. Er glaubt der Zeugenaussage des alten Mannes doch nur deshalb, weil sie sein Vorurteil gegenüber dem Jungen bestätigt. Und dabei beruft er sich bloß auf eine Geschichte eines Zeugen, die für ihn allerdings eine unumstößliche ›Tatsache‹ darstellt, die man nicht leugnen kann. Er hört die Geschichte des alten Mannes vor dem Hintergrund seiner eigenen Geschichte. Mit Schapp gesprochen: Er ist bereits mit-verstrickt in die Geschichte(n), und im Horizont dieser Verstrickung tauchen für ihn die ›Tatsachen‹ auf. Nummer 3 ist demnach geradezu ein paradigmatischer Fall für meine These, dass wir alle in Geschichten verstrickt sind. Wenn wir dieses Grundschema des Menschlichen nicht anerkennen, ist eine wirkliche Verständigung aussichtslos. Rudolf: Nummer 3 ist ein problematischer Fall, ohne Zweifel. Aber ob man deshalb deine Anthropologie gleich teilen muss, leuchtet mir nicht ein, weil man mit einer guten Argumentationsschulung die entscheidenden menschlichen Fähigkeiten, also Argumente entwickeln, objektiv Gründe abwägen und nachvollziehbare Rechtfertigungen entwickeln, gewährleisten kann. Jemanden wie Nummer 3 müsste es demzufolge gar nicht geben, wenn man auf diese Notwendigkeit achten würde. Insofern hat Nummer 3 einfach nur einen Mangel, den es zu beheben gilt. Wilhelm: Das ist eine starke anthropologische Behauptung! Du scheinst davon auszugehen, dass es quasi eine natürliche Bereitschaft und Offenheit für Argumente gibt, einen Normalzustand des Menschen. Diesen Normalzustand vergleichst du mit Nummer 3, der dir deshalb als ein mangelhaftes Wesen erscheinen muss, das es zu ›reparieren‹ gilt. Aber du kannst aus meiner Sicht noch nicht zeigen, wie diese Schulung des Argumentationsvermögens und damit das Offenwerden für Argumente wirklich sicher gelingen kann. Denn die Nachstellungsszene, die wir uns gemeinsam angeschaut haben, zeigt doch,
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dass Nummer 3 sich selbst von dieser objektiven Vorführung, die ja Teil einer Argumentationsschulung sein könnte und in diesem Fall sogar ist, offenbar nicht überzeugen lässt. Das heißt, diese Schulung an sich führt noch nicht zu der von dir geforderten Einsicht in das vernünftige Argumentieren. Rudolf: Noch einmal: Ja, Nummer 3 ist wirklich ein problematischer Fall und mit Blick auf sein ausfälliges Verhalten im Grunde nicht zurechnungsfähig. Deshalb müsste er eigentlich aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. Es gibt nun einmal Personengruppen, mit denen ein Gespräch, in dem es um das Überzeugen und die Rechtfertigung der eigenen Meinung, das heißt um das Geben und Nehmen von Gründen geht, einfach nicht möglich ist. Denn diese Personen sind nicht bereit, sich ergebnisoffen auf eine Diskussion einzulassen, in der nach gemeinsamer Beratung und Abwägung ein von allen Beteiligten akzeptiertes Urteil gefällt wird. Solche Leute sind in der Regel auch nicht daran interessiert, die anderen von ihrer Meinung zu überzeugen – ihnen geht es um bloße Überredung, die stets blind für die Gründe und Gegengründe einer wirklichen Überzeugung bleibt. Und damit ist eine Grenze gezogen, weshalb wir mit notorischen Rassisten wie Nummer 10, therapiebedürftigen Vätern wie Nummer 3 und völlig desinteressierten Hedonisten wie Nummer 7 nicht ernsthaft zu reden brauchen – und auch nicht sollten, denn sie erfüllen einfach nicht die Voraussetzungen dafür. Wilhelm: Oh, du legst sehr strikte Kriterien für die Zulassung zu einem Diskurs an, und ich frage mich, wie wir dann mit den Ausgeschlossenen überhaupt noch umgehen und auf sie zugehen können. Ich würde deshalb die Nachstellungsszene auch ganz anders interpretieren, nämlich als einen Versuch von Nummer 8, Personen wie Nummer 3 im dialogischen Spiel zu behalten und sie somit nicht aus dem Diskurs auszuschließen. Ich habe da kürzlich ein interessantes Kapitel bei [Rustemeyer] in seinem Film-Buch gelesen. Er macht darauf aufmerksam, dass für die Geschworenen in der szenischen Nachstellung der Zeugenaussage etwas zur Darstellung kommt, das ihren Blick auf die Situation öffnet und gegebenenfalls erweitert, weil sie sich auf die eigenen Beobachtungen verlassen können und nicht auf die Glaubwürdigkeit der Sätze des Zeugen vertrauen müssen. Das meine ich, wenn ich sage, dass es sich dabei auch um eine Argumentationsschulung handelt, die die eigene Wahrnehmung zum Ausgangspunkt hat und die darauf vertraut, dass sich aus der eigenen Beobachtung Urteile fällen und Argumente entwickeln lassen, die auch eine Begründungskraft besitzen, gerade weil sie aus der eigenen Beobachtung resultieren. Bei einigen Geschworenen wie beispielsweise bei Nummer 6 führt diese Wahrnehmungsschulung zu einem Überdenken ihres Standpunkts, weil sie sich durch die szenische Nachstellung der Zeugenaussage als Wahrnehmende selbst davon überzeugen konnten, dass die Geschichte des alten Mannes nicht
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plausibel sein kann. Dieses Offenwerden für das Überdenken des eigenen Standpunkts ist aus meiner Sicht das Ergebnis der szenischen Nachstellung der Zeugenaussage, sprich einer Wahrnehmungsschulung, die auch eine inklusive(re) Argumentationsschulung ist, weil sie es ermöglicht, gemeinsam eine Szene zu betrachten, sich über die verschiedenen Beobachtungen und Perspektiven auszutauschen und auf diesem wahrnehmungsgeleiteten Weg auch zu Einsichten zu gelangen, die als Argumente formuliert durchaus eine argumentative Überzeugungskraft entwickeln können. Doch dieses Offenwerden für Argumente ist nicht einfach da, sondern es entsteht häufig erst im [Dialog über die eigenen Beobachtungen], genau genommen dann, wenn alle Beteiligten etwas gemeinsam vor Augen haben, was sie untersuchen und dabei ihre Perspektiven zur Darstellung bringen können. Mein Bild vom Menschen ist deshalb sehr viel umfassender und inklusiver, weil ich den Menschen als sinnliches Wesen begreife und auch ernst nehme – ganz besonders dann, wenn es um das Wahrnehmen von Situationen geht, die rekonstruiert, geprüft und weiterentwickelt werden können. Rudolf: Hm, jetzt bin ich etwas im Zwiespalt: Einerseits verstehe ich, dass die Nachstellung der Situation und damit die kritische Prüfung der Zeugenaussage dazu beitragen kann, die Geschworenen mit ihren eigenen Vorurteilen und der Einsicht in die Bedeutung der eigenen Wahrnehmung zu konfrontieren. Andererseits scheitert diese Strategie ja gerade bei Nummer 3, denn er bleibt trotz der an Evidenz kaum zu überbietenden Nachstellung der Situation bei seiner einmal gefassten Meinung, der Junge sei unbedingt schuldig. Und während man sogar sagen könnte, dass es im Verlauf des Films zwischen den Geschworenen immer vernünftiger zugeht und tatsächlich verstärkt sachliche Argumente erwogen werden, hat es sogar den Anschein, als würde Nummer 3 trotzdem – oder gerade deshalb? – immer verbissener und offenkundig irrationaler werden. Diese Verirrung der Vernunft irritiert mich sehr, und für mich wäre spätestens mit der körperlich aggressiven Reaktion und der unverhohlenen Drohung – »Ich bringe ihn um!« – jegliche weitere Gesprächsmöglichkeit mit Nummer 3 ausgeschlossen gewesen. Die Jury hätte aufgelöst und neu bestimmt werden müssen. Wilhelm: In diesem Punkt stimme ich dir eigentlich zu. Im Grunde kommt diese ablehnende Haltung ja auch in der Reaktion der Jury-Mitglieder klar zum Ausdruck. Denn sie stellen sich am Ende dieser Filmszene als Gruppe geschlossen gegen Nummer 3, sodass er als Einzelner etwas verlegen und mit einem kurzen Anzeichen von Scham kleinlaut die Frage stellt: »Was gucken Sie denn alle so?« Dennoch lohnt es sich, die Kommunikationsdynamik, die zu diesem schamhaften Ausdruck von Nummer 3 führt, noch einmal genauer anzuschauen. Bitte entschuldige, dass ich deshalb vielleicht etwas weiter
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ausholen muss, aber manchmal ist es einfach erforderlich, eine Szene oder eine Geschichte en détail zu betrachten. Es entspinnt sich in dieser Szene nämlich ein dramatischer, in vielerlei Hinsicht unvernünftiger Dialog zwischen Nummer 3 und Nummer 8. Darin konfrontiert ihn Nummer 8 in seiner Rede nicht etwa mit der Falschheit seiner Gründe, die zu seinem Urteil geführt haben, sondern er greift ihn persönlich an – sprich: seinen ›Charakter‹, und damit auch seine eigene Geschichte, die den Hintergrund seines erstarrten Urteils bildet: »Dieser Junge soll sterben, nicht, weil er schuldig ist, sondern weil sie es wollen. Sie sind ein Sadist!« Rudolf: Das ist vollkommen ok! Ich teile die Diagnose von Nummer 8, dass Nummer 3 hier den Grund des argumentativen Diskurses verlassen hat. Deshalb kann er ihm das in einer Art Metakommentar auch zu Recht vorhalten, denn es geht Nummer 3 schon längst nicht mehr um die Gründe für das Urteil schuldig oder nicht schuldig! Und weil es nicht mehr um rechtfertigende Gründe geht, sondern um den eigentlichen Grund für diesen zügellosen Wutausbruch, ist die sehr emotionale Wertung »Sadist« durchaus angemessen. Wilhelm: Genau! Aber Nummer 8 drückt damit nicht nur unmissverständlich seine Verachtung gegenüber dem Gesagten aus. Noch mehr provoziert er dadurch Nummer 3 auf eine Weise, die ihn sprichwörtlich aus der Haut fahren lässt und eine Emotion hervorbringt, nämlich eine Wut, die ihn dazu bringt, zweimal in Folge diesen irrationalen Satz lauthals zu brüllen: »Ich bring den Kerl um!« Jetzt hätte der Obmann oder auch Nummer 8 selbst das Gespräch abbrechen und – wie du sagst – die Jury auflösen können. Das wäre sehr vernünftig gewesen! Aber dazu kommt es nicht – zumindest nicht im Film. Stattdessen ist die Antwort von Nummer 8 in ihrer Doppeldeutigkeit unschlagbar schlagfertig, und sie zeigt ihn als Ironiker, der souverän, verständnisvoll und überlegen den gewaltbereiten Angriff pariert: »Das war doch nicht ernst gemeint, dass sie mich umbringen wollen!« Diese Parade hat gesessen. Denn allen Geschworenen ist die Doppeldeutigkeit dieses Satzes klar, weil ihnen – wie auch uns Zuschauern des Films – die Szene in Erinnerung ist, in der Nummer 3 gleich in seinem ersten Plädoyer erklärt, dass die Zeugenaussage des alten Mannes doch eindeutig ›bewiesen‹ habe, dass der Junge schuldig sei. Schließlich habe der alte Mann gehört, wie der Junge seinen Vater angeschrien habe: »Ich bringe dich um!« Rudolf: Interessant, dass du mich darauf aufmerksam machst. Das hatte ich tatsächlich so gar nicht wahrgenommen – dieser identische Satz, der aber offenbar mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen sein kann. Da erinnere ich mich vage an [Wittgenstein] und seine Sprachspiele. Als Proposition wäre der Satz schließlich nur dann wahr, wenn der behauptete Sachverhalt den Tatsachen entspräche, also tatsächlich jemand im Moment der Äußerung
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umgebracht würde. Nun geht Nummer 3 zwar recht aggressiv auf Nummer 8 zu, aber der Satz »Ich bring den Kerl um!« ist doch vor allem ein Ausdruck seiner unbändigen Wut und kaum eine Absichtsbekundung, der unmittelbar eine Tötungshandlung folgen wird. Es reicht also nicht, sich bloß den Satz im Wortlaut anzuschauen – es kommt offenbar vor allem auf den Kontext an, denn genau so wie im Geschworenenzimmer könnte ja auch der angeklagte Junge diesen Satz bloß in der übertragenen Bedeutung des Ausdrucks von großer Wut geschrien haben. Insofern … Wilhelm: … legt Nummer 8 mit seiner Antwort nicht nur den naiven Tatsachenglauben von Nummer 3 schonungslos offen, sondern er baut ihm durch seine ironische Haltung zugleich eine Brücke, indem er sagt, dass das Gesagte doch sicher nicht ernst gemeint sei. In meinem Verständnis der Szene hält er so Nummer 3 weiter im dialogischen Spiel und schließt ihn nicht aus dem Diskurs aus. Vielleicht tut er das deshalb, weil er verstanden hat, wie vielfältig und komplex das Verstrickt-sein in Geschichten sein kann. Mitunter sind die Personen so sehr verstrickt, dass sie ihr eigenes Verstrickt-sein mit der Fremdgeschichte nicht von außen betrachten und auch nicht beurteilen können, obwohl sie dazu – so wie Nummer 3 in dieser Szene – ein vermeintlich eindeutiges Urteil haben und daran offenkundig irrational festhalten. Gerade die ironische Haltung von Nummer 8 ist aus meiner Sicht ein legitimes Stilmittel im Rahmen einer Argumentation, die emotional aus dem Ruder läuft und die somit ganz sicher nicht den von dir eingeforderten strikten Rationalitätsstandards entspricht, weil sie überhaupt erst einen taktvollen und konzilianten Umgang mit den menschlichen Verstrickungen und Gefühlsausbrüchen ermöglicht, und weil sie auch ein Ethos aufzeigt, das deutlich macht, wie mit solchen gewaltbereiten Ausbrüchen noch irgendwie verständnisvoll umgegangen werden kann. Eine solche respektvolle Rücksichtnahme auf die Gefühle und Verstrickungen, wie sie Nummer 8 als Ironiker in dieser Szene idealtypisch verkörpert, ist demnach ein zentraler Bestandteil eines Ethos des Argumentierens – vor allem auch deshalb, weil es anerkennt, dass die Gefühle und Geschichten der Menschen ebenso zur Kommunikation dazugehören wie seine Argumente, und dass darüber hinaus der ironische Umgang mit den Gefühlen auch eine Bedingung dafür darstellen kann, dass eine rationale Argumentation überhaupt erst oder wieder in Gang kommt. Rudolf: Du hast gerade mehrfach das Wort »Ethos« aus dem Titel des Lehrstücks angesprochen und da komme ich nicht umhin, über diesen Unterschied nachzudenken: Wie du weißt, bin ich ein großer Freund der Diskursethik, denn diese Disziplin bringt Ordnung und Regelhaftigkeit in die Auseinandersetzung zwischen Menschen, und sie ist rational! Eine philosophische Ethik sollte den Anspruch haben, das menschliche Handeln systematisch zu
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erfassen, wobei die Voraussetzungen und die Bewertung dieses Handelns in eine theoretische und das heißt: einheitliche Form zu bringen sind. Die Diskursethik erfüllt diesen Anspruch, denn wer die grundlegenden Prinzipien für einen rationalen Diskurs anerkannt hat, kommt nicht umhin – es sei denn um den Preis des Widerspruchs –, auch alle darauf aufbauenden Regeln und Folgebeziehungen anzuerkennen. In der Diskurspragmatik wird dieser Anspruch sogar auf die sprachliche Artikulation als solche angewendet, weil wir bereits im Akt des Sprechens und damit eo ipso implizit von bestimmten Annahmen ausgehen und entsprechende Voraussetzungen bereits akzeptiert haben müssen, wenn unsere Rede sinnvoll sein soll. Am Beispiel der Reaktion von Nummer 8 auf den nach dieser ethischen Theorie völlig unvernünftigen Wutausbruch von Nummer 3 ist mir klar geworden, dass sich diese Theorieform einer Ethik des rationalen Diskurses nicht von selbst versteht. Für mich ist das alles selbstverständlich, vielleicht, weil ich frühzeitig in diese Regeln eingeführt und mit dem Modus theoretischen Denkens vertraut gemacht wurde. Aber es brauchte diesen geschützten Rahmen, eine Art Vor-Schule, die ich wie jeder andere erst einmal durchlaufen musste, bevor ich die Prinzipien der Ethik eines rationalen Diskurses verstanden hatte und diese als verbindliche Voraussetzung vernünftigen Redens auf mein eigenes Sprechen anwenden konnte. Wilhelm: Aber wie stellst du dir eine solche Vor-Schule des argumentierenden Gesprächs eigentlich vor, in der sich ein derartiges Verständnis entwickeln kann? Es kann ja wohl nicht darin bestehen, dass man die Diskurs-Regeln auswendig lernt, oder sie so wie in der Grundschule als Poster an die Wand hängt, um die Schüler dann in den entsprechenden Situationen zu ermahnen, sich an die einmal ausgehandelten Regeln zu halten. Wer gegen die Gesprächsregeln verstößt, hat mit Sanktionen zu rechnen, z. B. einen Eintrag ins Hausaufgabenheft, den die Eltern unterschreiben müssen. Rudolf: Doch, an so etwas in der Art hatte ich tatsächlich gedacht, eine Schule, die auf die ›eigentliche‹ Schule vorbereitet. Was wäre denn daran so schlimm? Wilhelm: Weil ein Ethos des Argumentierens eben so nicht zu lehren und auch nicht zu lernen ist. Denn der eigentliche Clou an der Darstellung der Figuren im Film ist doch, dass die Figuren auf verschiedene Weise noch nicht zu einer Einsicht gekommen sind – und diese Einsicht kann ihnen niemand abnehmen. Aber ein verständnisvolles Ethos des argumentierenden Gesprächs kann ihnen den Raum lassen, selbstständig diese Einsicht zu erlangen. Rudolf: Ok, allerdings kann ich mir keine Vorstellung davon machen, wie das konkret geschehen soll. Es braucht doch immer eine Lehrperson, die einen Lernenden darin unterweist, wie eine bestimmte Praxis funktioniert. Oder?
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Wilhelm: Ja, das kann vielleicht auch in einer Schule gelernt werden. Aber es kommt vielmehr darauf an, eigene Erfahrungen zu machen! Es ist ganz entscheidend, dass solche Gesprächssituationen wie im Film, in denen Personen mit ihren leiblichen Ausdrücken und ihren Geschichten zum Vorschein kommen, sichtbar, erlebbar und erfahrbar werden. Für die Entwicklung eines Ethos ist das Erleben und Erfahren-Können von solchen Gesprächssituationen absolut unverzichtbar. Nur durch die praktische Erfahrung und die Reflexion dieser Erfahrung kann sich einem der Sinn von Diskursregeln überhaupt erschließen. Rudolf: Ja, aber wie sollen denn Lernende eine solche Erfahrung machen können? Ich kann doch als Lehrer nicht mutwillig einen Streit provozieren und dann die Leute aufeinander losgehen lassen! Wilhelm: Das wäre sicher nicht sinnvoll. Aber es ist doch so, lieber Rudolf: Auch wenn wir uns einen Film wie die Zwölf Geschworenen anschauen, machen wir Erfahrungen und schulen damit unsere Wahrnehmung. Denn die Darstellung der Figuren lässt uns als Zuschauer nicht kalt. Und das nutzen auch die Autoren des Lehrstücks: Die filmische Darstellung ist dort der Ausgangspunkt für eine gemeinsame phänomenologische Betrachtung des argumentierenden Gesprächs im Medium des Films. Rudolf: Aber Wilhelm! Dann schauen wir im Film also einer Handvoll verirrter Menschen dabei zu, wie sie versuchen, ein argumentierendes Gespräch auf die Reihe zu bringen, und dabei immer wieder scheitern? Welche Einsicht soll denn hierbei zu gewinnen sein? Wilhelm: Eine Einsicht wäre zum Beispiel, dass es eben nicht so einfach ist, sich miteinander zu verständigen. Sieh mal, wie unterschiedlich Menschen sein können – und im Film haben wir nur einige wenige Typen kennengelernt. Diese Pluralität ist eine große Herausforderung für jede Gesellschaft. Und gerade als demokratische Gesellschaft brauchen wir solche Übungsstätten wie die filmisch inszenierte Geschworenenjury, damit wir uns gegenseitig als Personen mit allen Verschiedenheiten überhaupt erst kennenlernen können. Dabei erfahren wir, wie die Protagonisten im Film, dass und inwieweit wir in Geschichten verstrickt sind. Das heißt: Wir lernen nicht nur andere besser kennen, sondern vor allem auch uns selbst im Umgang mit den anderen. Rudolf: Verstehe. Du denkst also, wir sollten den Leuten vor allem zu der Einsicht verhelfen, dass eine demokratische Gesellschaft am besten mit der herausfordernden Pluralität umgehen kann, wenn ein bestimmtes Ethos eingeübt wird – das meint doch deine Rede vom »Umgang mit den anderen«, nicht wahr? Wilhelm: Ja, irgendwie schon, aber so richtig hast du mich noch nicht verstanden. Es geht vor allem darum, dass der Umgang mit anderen nicht bereits
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nach vorab festgelegten Regeln geschieht, sondern von allen Beteiligten zu gestalten ist. Und das ist wesentlich eine politische und im Ergebnis offene Angelegenheit, nämlich die gemeinsame Beantwortung der Frage, wie wir trotz aller Verschiedenheit miteinander leben können und wollen. Die wichtige Frage ist dann, wie diese Haltung entwickelt werden kann. Es fängt damit an, dass wir immer wieder solche Geschichten der Auseinandersetzung gemeinsam durchleben. Der zweite Schritt ist die gemeinsame Betrachtung solcher Situationen wie z. B. im Film, in denen die zwischenmenschlichen Konflikte zur Darstellung gebracht und uns damit bewusst gemacht werden. Und schließlich kann daraus ein verständnisvoller und nachsichtiger Umgang mit anderen erwachsen, der nach und nach zu einer Haltung wird. Dieser Prozess ist das Entscheidende. Rudolf: Und das am Beispiel eines Prozesses dargestellt … Gut, lieber Wilhelm, ich danke dir für dieses Gespräch, das uns weit geführt hat. Ich habe den Eindruck, dass wir uns darüber noch besser kennengelernt haben. Wilhelm: Ja, vielen Dank, das finde ich auch. Und schau mal Rudolf, ist es nicht erstaunlich, wohin uns dieser Dialog geführt hat? Du hast dich selber mit deinen Wertvorstellungen und deinem anfänglichen Unmut über den Film ins Spiel gebracht. Und dann haben wir uns darüber ausgetauscht, unsere unterschiedlichen Positionen dargelegt und versucht, den anderen zu verstehen. Unser Dialog ist damit selbst zu einer Darstellungsform geworden und damit auch Teil einer Schulung des Ethos des Argumentierens. Auf diese Form der Verständigung muss man sich – so wie im Film zu sehen – einlassen können, was du wohl auch selbst erfahren hast. Und ich bin froh, dass dies gelungen ist.
Epilog
[Falk Bornmüller und Mario Ziegler] haben ein Lehrstück für den Schulunterricht entwickelt, wobei der Film die Zwölf Geschworenen zum Ausgangspunkt einer Erkundung der Bedingungen und Möglichkeiten des Urteilens und Argumentierens im Rahmen einer demokratischen Gesellschaft gemacht wird. Der von [Sidney Lumet] in Szene gesetzte Film basiert auf dem Theaterstück von [Reginald Rose], in der Textfassung werden die Geschworenen vorgestellt und kurz charakterisiert. Im Rahmen des Dialogs werden zentrale Aussagen der Geschworenen aus dieser Textfassung zitiert, wobei die Nummer des Geschworenen benannt und die entsprechenden Äußerungen in Anführungszeichen gesetzt sind. Im englischsprachigen Original trägt der Film die Zwölf Geschworenen den vielsagenden Titel 12 (Twelve) Angry Men. Das ist zugleich ein gutes Stichwort
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für den Titel des Dialogs, da die beiden Protagonisten Rudolf und Wilhelm hier die nur zu menschlichen Voraussetzungen, Möglichkeiten und auch Grenzen eines vernünftigen Diskurses ausloten und diskutieren. Sie setzen sich mit der Frage auseinander, was eigentlich ein rationales Gespräch ist und wie es zustande kommt bzw. kommen sollte. In diesem Zusammenhang gehen sie auch auf die Rolle und Funktion von Diskursregeln ein, die sie mit Blick auf die beiden philosophischen Positionen von [Habermas und Alexy] von verschiedenen Seiten aus betrachten. Von [Wittgenstein] erfahren wir in seiner späten Sprachphilosophie, auf die der sogenannte linguistic turn zurückgeht, dass die Bedeutung von Sprache aus ihrer Verwendung in Sprachspielen hervorgeht. Diese Sprachspiele werden erlernt, indem man Sprache in Kontexten des Sprachhandelns anwendet und nach und nach versteht, ob und wie sie funktionieren. Wittgenstein macht allerdings auch keinen Hehl daraus, dass wir in unserer Erziehung zuweilen ›abgerichtet‹ werden, bestimmte Sprachspiele so und nicht anders zu spielen. Wilhelm stellt im Dialog das Rationalitätsparadigma des argumentativen Diskurses und damit einer bestimmten Gesprächsform immer wieder in Frage. Dabei bezieht er sich vor allem auf die Geschichten-Philosophie von [Wilhelm Schapp], der den Menschen als ein in Geschichten verstricktes Wesen begreift. Das ist jedoch, anders als die Rede von ›Geschichten‹ vermuten lässt, kein Plädoyer für ein dezidiert narratives Argumentieren, hierzu bedarf es einer eigenen Konzeption. In seiner Metapher vom Verstrickt-sein-in-Geschichten bringt Schapp vielmehr grundlegend in anthropologisch-ontologischer Perspektive einen Seinszusammenhang menschlichen Lebens zum Ausdruck. Geschichten als Narrationen bzw. Erzählungen sind dann mögliche Artikulationsformen dieser wegweisenden Einsicht. Bei Schapp bilden die eigenen und fremden Geschichten wesentlich das ›Grundlegende‹, in denen alle ›Dinge‹ und auch die menschlichen Handlungen und Angelegenheiten erst hervortreten und als eigenständige ›Gebilde‹ heraustreten können. Das gilt besonders auch für die juristischen ›Fälle‹, die »nur als Geschichten volles Leben gewinnen.« Für Schapp ist deshalb klar: »Das ganze System des Rechts gründet in Geschichten.« (2015, 263 und 301) [Kati Hannken-Illjes] greift diesen Punkt auf und führt ihn in der Erörterung für ein narratives Argumentieren weiter aus, indem sie mit Blick auf Strafverfahren deutlich macht, dass Geschichten und Narrationen eine argumentative Funktion besitzen – und zwar nicht nur in dem Sinne, dass man sie ›erzählen‹ muss, damit man überhaupt eine Basis für eine argumentative Auseinandersetzung hat, sondern auch deshalb, weil »im Strafverfahren durch die Transformation von Geschichten zu Argumenten erstere als Produkte des Prozesses der Wahrheitskonstitution etabliert werden.« (2006, 212)
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Mit der Philosophie von [Kant] verbindet sich eine der wirkmächtigsten und einflussreichsten Traditionen für das Selbstverständnis des modernen Denkens – auch Rudolf und Wilhelm kommen an diesem philosophischen Schwergewicht nicht vorbei. Nach Kant ist Denken selbstbewusstes Wahrnehmen und Begreifen, das Denken ist als ein aktualer Vollzug somit sinnlich auf die Welt bezogen und intelligibel in Begriffen verfasst: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (1998, 130) Ausgehend von einer umfassenden Analyse der Bedingungen und Möglichkeiten menschlicher Erkenntnisfähigkeit hat Kant sich in der Kritik der Urteilskraft intensiv mit der Frage beschäftigt, welche Rolle das Urteilsvermögen bei der Art und Weise spielt, wie Anschauungen unter gegebene Begriffe subsumiert oder wie zu Anschauungen die passenden Begriffe gefunden werden. [Hannah Arendt] entwickelte diese Überlegungen fruchtbar weiter und bezieht ihre Theorie des Urteilens insbesondere auf die politische Dimension. Bei der gemeinsamen Auseinandersetzung und Klärung, wie Menschen in einer Gesellschaft zusammenleben wollen, kommt es laut Arendt vor allem darauf an, die Maßstäbe des eigenen Urteilens reflektierend in den Blick zu bekommen, um nicht unbewusst und ignorant die bestehenden Vor-Urteile einfach als gegeben hinzunehmen. Dafür führt sie die imaginierte Figur eines Zuschauers ein, die es uns ermöglicht, dass wir gemeinsam als Zuschauer auf unser eigenes Urteilen und unsere eigenen Wertmaßstäbe schauen können. Keiner der urteilenden Zuschauer hat einen weltlosen, allgemeinen oder ›archimedischen‹ Standpunkt, sondern urteilt stets von einer bestimmten Position in der Welt aus. Nach Arendt besteht das entscheidende Bemühen darin, von diesen ›Privatbedingungen‹ abzusehen und in einem intersubjektiven Verständigungsprozess zu einer Haltung der ›unparteilichen Parteilichkeit‹ zu gelangen. Mit Blick auf die Interpretation der Nachstellungsszene im Film wird auf die Überlegungen von [Dirk Rustemeyer] zurückgegriffen, der sich in seinem Buch intensiv und überaus vielschichtig mit dem Film die Zwölf Geschworenen auseinandersetzt. Von besonderem Interesse ist dabei gewesen, dass er anhand von einigen Filmszenen sehr deutlich zeigt, welche wichtige Rolle Beobachtungen und symbolische Darstellungen, wie die Nachstellung der Zeugenaussage, für das Argumentieren spielen können. So zieht er daraus den folgenreichen Schluss, dass »Argumente […] durch eine Haltung des Beobachtens ergänzt werden [müssen]« (2013, 368), oder auch dass »Tatsachen […] ihre kommunikative Härte erst aus den Argumenten [gewinnen], die verschiedene Beobachtungen verknüpfen.« (2013, 380) Für uns ist dieser Hinweis vor allem deshalb ganz zentral, weil wir davon überzeugt sind, dass
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eine Argumentationsschulung, z. B. in der Schule oder auch Universität, eng verbunden ist mit einer Schulung der Wahrnehmung und einer Sensibilisierung für den Kontext, in dem argumentiert wird – ganz besonders dann, wenn es im Rahmen einer solchen Schulung das Ziel ist, Haltungen und Tugenden zu entwickeln, die dem Argumentieren erst die Form geben, damit es sich in einem vernünftigen Rahmen abspielen kann. Zentral ist dabei der gemeinsame [Dialog über die eigenen Beobachtungen], weil so erst die eigenen Urteile in den Blick geraten und hinsichtlich einer Situation offengelegt und gegebenenfalls einer Revision zugänglich gemacht werden. Dieses Offen-Werden geschieht im gemeinsamen Gespräch über eine Situation, in dem es nicht darauf ankommt, den anderen zu überzeugen, sondern mit ihm gemeinsam eine Situation zu betrachten und die verschiedenen Sichtweisen deutlich zu machen (Ziegler 2021, 134–141). Die Haltung, die man dabei gegenüber dem Anderen und einer Situation einnimmt, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit weiteren Argumentierens – unabhängig von der Form, ob diskursiv oder narrativ. Insofern ist dieses Ethos grundlegend für jegliche Form des Argumentierens. Zudem ist eine solche wahrnehmungsgeleitete Argumentationsschulung in der Lage, viele und sehr verschiedene Personen miteinander ins Gespräch zu bringen und gemeinsam nach Gründen suchen zu lassen, die dann auch als Argumente formuliert und diskutiert werden können. Mit Blick auch auf gesamtgesellschaftliche Diskurse ist dabei entscheidend, dass diese ›symbolische Form der Argumentation‹ die verschiedensten Formen von Genese und Geltung (Heterogenität, -normativität, -doxität) einbeziehen kann. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, sich über den Status von Rechtfertigen, Überzeugen oder auch bloßem Überreden zu verständigen. Bibliographie Robert Alexy: Eine Theorie des praktischen Diskurses. In: Normenbegründung – Normendurchsetzung. Hrsg. v. Willi Oelmüller. Paderborn 1978, S. 22–58. Hannah Arendt: Was ist Politik? In: Fragmente aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Ursula Ludz. München 62017. Falk Bornmüller; Mario Ziegler: Über das Ethos des Urteilens und Argumentierens – Die zwölf Geschworenen, 2023: http://jenaerschule.de/2023/01/05/lehrstueck-zumfilm-die-zwoelf-geschworenen. Sidney Lumet: Die zwölf Geschworenen. Zweitausendeins Edition, 224, 1957. Jürgen Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M. 1983.
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Kati Hannken-Illjes: Argumentation. Einführung in die Theorie und Analyse der Argumentation. Tübingen 2018. Kati Hannken-Illjes: Mit Geschichten argumentieren – Argumentation und Narration im Strafverfahren. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie 27 (2006), Heft 2, S. 211–223. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. Heiner F. Klemme. Hamburg 2006. Reginald Rose: Die zwölf Geschworenen. Für die deutsche Bühne dramatisiert von Horst Budjuhn. Ditzingen 1982. Dirk Rustemeyer: Darstellung. Philosophie des Kinos. Weilerswist 2013. Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt a.M. 52012. Wilhelm Schapp: Philosophie der Geschichten. Frankfurt a.M. 32015. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 1999. Mario Ziegler: Ethik in Szene setzen. Die Nikomachische Ethik als Lehrstück in der Unterrichtspraxis. Hamburg 2021.
Die epistemische Funktion narrativen Argumentierens Kati Hannken-Illjes Die Herstellung einer gemeinsamen Geltungsbasis, von common ground und von geteiltem Wissen, ist die epistemische Funktion von Argumentation. Diese Funktion zeigt sich zum einen in bestimmten Aufgaben, die argumentativ erledigt werden. Wir argumentieren in manchen Kontexten um gemeinsam Probleme zu lösen und als Grundlage dafür Wissen zu etablieren; so zum Beispiel in explorativem Argumentieren (Ehlich 2014), das eher auf Kooperation denn Agonalität, also einen Kampf um das Gewinnen einer Auseinandersetzung, ausgerichtet ist (Hannken-Illjes/Bose 2019). Zum anderen zeigt sich die epistemische Funktion aber auch im Verfahren des Argumentierens selbst. Die Etablierung von common ground ist Argumentieren als Verfahren inhärent, da der Übergang vom Grund zur Konklusion sich immer auf Geltendes beziehen muss; auch wenn dieses Geltende natürlich selbst strittig werden kann. Dieser Aufsatz blickt auf die epistemische Funktion von Argumentieren und auf eine spezielle Form der argumentativen Herstellung von Geltung: Die Herstellung von Geltung durch narratives Argumentieren. Die damit unterstellte Kopplung von Narration und Argumentation ist nicht unumstritten; auch einige Linien dieser Kontroverse werden in diesem Aufsatz aufgezeigt und diskutiert. Die folgenden Überlegungen basieren auf Studien zum Herstellen, Mobilisieren und Aktualisieren von Aussagen in Strafverfahren, zur Argumentation in Kind-Kind Interaktion unter Vorschulkindern und zum Herstellen von Wissen in Gesprächen der Schwangerenberatung zwischen Hebammen und Schwangeren. All diesen Feldern ist gemein, dass zum einen Argumentieren auch an Erzählen gebunden ist und Erzählungen als Argumente fungieren und dass zum anderen Argumentieren und Erzählen in Interaktion stattfindet. Die Frage dieses Aufsatzes ist also was narratives Argumentieren in der Interaktion bestimmt und welche Bedeutung es für die Etablierung von geteiltem Wissen hat. Argumentieren in der Interaktion, unabhängig davon, ob es an Erzählen gebunden ist oder nicht, unterliegt anderen Bedingungen als schriftliches Argumentieren oder Argumentieren (mündlich oder schriftlich) im öffentlichen Diskurs. Diese Unterschiede sind relevant für die Frage, wie sich Argumentieren (in der Interaktion) und die Herstellung und argumentative Aufnahme von Wissen zueinander verhalten. Schriftliches Argumentieren weist eine stärkere
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Produkthaftigkeit auf, Streitfragen bleiben in der Regel eher stabil und ihre Verschiebung kann eher als Fehlschluss gewertet werden. Argumentation im öffentlichen Diskurs ist gegenüber Argumentation in der Interaktion sowohl translokal als auch transsequentiell ausgerichtet und hat so einen größeren Adressierungsraum. Argumentieren in der Interaktion wird leiblich vollzogen, ist situativ gebunden und prozesshaft, die Teilnehmerinnen der Interaktion beziehen sich aufeinander und richten sich aufeinander aus. Im Gespräch ist die Streitfrage oft ›fluide‹ und kann sich innerhalb der Interaktion verschieben (Deppermann/Hartung 2003, 7), ohne dass dies als Fehlschluss gewertet werden könnte; es ist vielmehr Kennzeichen mündlichen Argumentierens. Ebenso ist die Bearbeitung der Streitfrage nicht die einzige Handlungsaufgabe der Teilnehmerinnen. Sie bearbeiten parallel auch andere Aspekte der Interaktionskonstitution wie die Gesprächsorganisation, soziale Beziehungen und Identitäten und die Herstellung von Reziprozität (zu den Ebenen der Interaktionskonstitution vgl. Kallmeyers zentralen Aufsatz (Kallmeyer 1985)). Im Folgenden werde ich die drei Aspekte dieses Aufsatzes – Argumentieren, Erzählen und Wissen – genauer in den Blick nehmen. Dazu werde ich in einem ersten Schritt auf die epistemische Funktion von Argumentieren fokussieren, um dann die Verbindung von Erzählen und Wissen in der Interaktion zu beleuchten. Im dritten Teil füge ich beide Aspekte unter der Überschrift »narratives Argumentieren« zusammen. Der Anschaulichkeit halber werde ich kleinere Ausschnitte aus Gesprächen aus den oben genannten Projekten nutzen; damit ist kein empirischer, sondern ein illustrativer Zweck verbunden.
Die epistemische Funktion von Argumentieren
Argumentieren ist ein zentrales Verfahren zur Bearbeitung von Streitfragen und von Problemen. Es ist in vielen Ansätzen zur Diskursethik eng gebunden an die Herstellung von Legitimität, Konsens oder begründetem Dissens. Die besondere Bedeutung liegt dabei nicht nur in den diskurstheoretisch beschriebenen kontrafaktischen Bedingungen der idealen Sprechsituation und damit von Argumentation, sondern auch darin, dass Argumentation neben der Funktion, Strittiges zu Bearbeiten vor allem die Funktion hat Geltung zu aktualisieren und herzustellen und damit handlungsentlastend wirkt. Diese Doppelfunktion von Argumentieren – die Bearbeitung von Strittigkeit und die Herstellung von common ground – ist in der Definition von Argumentation bei Klein (1980, 19) abgebildet, der Argumentation definiert als den Versuch »mit Hilfe des kollektiv Geltenden etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen«. Die epistemische Funktion, das Herstellen von common ground, hat dabei zwei Aspekte: Das Aufrufen
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gemeinsamen Wissens durch die genutzten materialen (und auch formalen) Topoi und die Herstellung gemeinsamen Wissens durch das Geben und Nehmen von Gründen. Bevor ich nun genauer auf die epistemische Funktion von Argumentation in diesem Kontext eingehe, scheint ein genauer Blick auf die drei Begriffe: Wissen, common ground und Geltung notwendig. Wissen verstehe ich dabei Deppermann folgend als »Annahme, die eine Person für mehr oder weniger gewiss hält, sowie alle begrifflich (aber nicht unbedingt sprachlich) strukturierten Kenntnisse« (Deppermann 2015, 2). Dieses Verständnis nimmt zwar Gewissheit über Annahmen als Ausgangspunkt, allerdings ohne den Begriff des Wissens mit dem der Wahrheit zu koppeln. Hinzu kommt, dass ein Blick, der an Wissen in der Interaktion interessiert ist, auch die Situierung von Wissensproduktion in den Blick nimmt. Wissenssoziologische Ansätze haben betont, dass die Formen des Wissens abhängig sind von der sozialen Position der Akteure und daran, dass Wissen im Vollzug hergestellt bzw. aktualisiert wird (Knoblauch/Tuma 2015). Wissen in der Interaktion bestimmt sich auch durch die gemeinschaftliche Zuschreibung und Ko-Konstruktion von Wissen. Damit unterscheidet sich der Zugriff dieses Ansatzes von kognitiven Ansätzen durch den Blick auf das Wie? der Wissensherstellung. Deppermann fasst es folgendermaßen: »Wir fragen, wie Gesprächsteilnehmer selbst anzeigen, welches Wissen sie einander zuschreiben, wie sie Wissen im Gespräch vermitteln und welche Relevanz die Zuschreibung von Wissen für die Organisation der Interaktion und der Beziehungen der Interaktionsteilnehmer hat.« (Deppermann 2015, 2). Mit einem Interesse an Interaktion wird Wissen damit zu einer Ressource, die die Teilnehmerinnen nutzen, um Verstehen zu erreichen und Handlungen zu ermöglichen, Wissen wird aber auch zum Ergebnis von Interaktion (ebd., 4). Dieser Aspekt rührt direkt an die aktuelle methodologische Diskussion zur Rolle von Wissen und Kognition im konversationsanalytischen (und ebenso gesprächsanalytischen) Paradigma (Lynch/Macbeth 2016, Lynch/Wong 2016, Heritage 2018, Drew 2018). Die Grundfrage ist, ob und wie Kognitionen Interaktionsteilnehmerinnen zugeordnet werden können, wenn sie nicht beobachtbar sind. Damit verknüpft ist die Frage zur Rolle von Wissen innerhalb der Interaktion und damit auch innerhalb der Interaktionsanalyse. Diese Sicht auf Wissen als Ressource und Ergebnis von Interaktion, also beispielsweise als Grundlage für ein Gespräch zwischen Rechtsanwältin und Mandantin, die sich auf die gleichen Dokumente stützen, aber auch als dessen Ergebnis im Sinne neuer, gemeinsam etablierter Wissensinhalte, die vielleicht durch das Erzählen der Mandantin konstruiert werden, bildet die Klammer zum Konzept des common ground. Common ground ist nach Clark folgendermaßen bestimmt: »Two people’s common ground is, in effect, the sum of their mutual, common or joint knowledge, beliefs, and suppositions.« (Clark 1996, 93)
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Dabei ist common ground sowohl eine gemeinsame Basis als auch die Reflexion dieser Basis (ebd., 94f.). Diese Reflexion ist Grundlage für gemeinsames Handeln. Dieses reflexive Moment ist aber noch kein interaktionales, sondern sieht common ground als Grundlage, nicht als Ergebnis gemeinsamen Handelns. Die interaktionale Bedeutung von Wissen greifen Kecskes/Zhang (2013) in ihren Arbeiten auf und führen den Begriff des emergent common ground ein, der dann von Bigi (2018) auch für Arbeiten zum Argumentieren in der Interaktion aufgenommen wird. Emergent common ground ist hier »knowledge that is aroused, co-constructed, and/or involved as shared enterprises in the particular situational context that pertains to the interlocutors exclusively« (Kecskes/Zhang 2013, 380). Common ground ist hier auch das Wissen, das lokal, situationsgebunden geschöpft wird und als Grundlage für die Interaktion fungiert. Wissen und common ground sind als Begriffe eng gekoppelt, insbesondere dann, wenn sie aus einer interaktionalen Perspektive betrachtet werden. Mit dem Begriff der ›Geltung‹ kommt nun ein dritter hinzu, der zentral ist, wenn Wissen innerhalb von Argumentation betrachtet wird. Wenzel (1980) hat das in seinem zentralen Aufsatz zu den drei Perspektiven auf Argumentation deutlich gemacht. Die logische, dialektische und rhetorische Ebene unterscheiden sich u. a. durch ihr unterschiedliches Verständnis von ›Geltung‹; sie kann bestimmt werden über die logische Validität von Schlüssen, über die Adhärenz zu Verfahrensregeln des Argumentierens oder aber durch die Akzeptanz der Argumentierenden (Wenzel 1980, zur Einführung vgl. auch Hannken-Illjes 2018, 28ff.). Ein Beispiel aus dem Korpus zur Kind-Kind Kommunikation im freien Spiel mag dies veranschaulichen. In dieser Situation sind Nathanael (N) und Onno (O), zwei fünfjährigen Jungen, in ein Bauspiel vertieft, in dem sie Plastiktieren ein Gehege bauen. Der folgende Ausschnitt folgt auf die Frage, ob ein Teil des Geheges erst einmal abgerissen oder ausgebaut werden soll. 386 387 388 389 390 391 392 393 394 395
N:
O:
(--)aber es IS ja auch nich ^DEINS;| und ich DARF (.)und ich darf MAchen was ich ^WILL.||
dann DARF ich auch (DICH),| (-) dann darf ich dir WEHtun-| (-) ich darf MAchen was ich ^WILL.|| (1.4) ((gucken sich an)) ich darf ALles [machen-| ]
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In diesem Beispiel liegen zwei argumentative Schritte bzw. zwei Argumente vor: Wenn du machen darfst, was du willst, dann darf ich auch machen, was ich will. Aus logischer Perspektive wäre hier die Fragen, ob der Schluss über ein Vergleichsschema hier zwingend ist. Aus dialektischer Perspektive, in Wenzels Sinne, wäre die Frage, ob der argumentative Austausch zwischen den beiden Jungen an normativen Konzeptionen guten Argumentierens ausgerichtet ist. Hier wäre die Frage, ob Z. 392 – der zweite argumentative Schritt – nicht als argumentum ad bacculum zu werten wäre und damit als fehlschlüssig. Aus rhetorischer Sicht wäre die Frage, wie die argumentativen Sequenzen sich im Gespräch entfalten und welche Wirkung sie haben. Eine längere Analyse des gesamten Gesprächs findet sich in Hannken-Illjes/Bose (2019). Bei Klein (1980) ist das Verständnis von Geltung wohl am ehesten ein rhetorisches, besser ließe es sich aber wohl fassen als ein deskriptives. Dabei ist Kleins Verständnis von kollektiv Geltendem sehr eng an dem, was oben mit Clark als common ground eingeführt wurde. Dies wird deutlich, wenn er davon spricht, dass zum kollektiv Geltenden ›allgemeine Aussagen‹ ebenso zählen wie ›Normen‹ (ebd., 20) und dass das kollektiv Geltende auch institutionell gebunden sein kann. Hinzu kommt, dass auch bei Klein schon eine Form eines emergent common ground behandelt wird, wenn er davon spricht, dass es für die Argumentation notwendig sein kann, Neues einzubringen. »Um es auf einen Gemeinplatz zu bringen: das kollektiv Geltende ist dynamisch, es verändert sich während der Argumentation ständig.« (ebd.). Der zentrale Aspekt am Begriff der Geltung ist, dass er argumentationsspezifisch ist insofern, als er sich in der Regel auf die Geltung des Übergangs zwischen Grund und Konklusion bezieht. »Zum kollektiv Geltenden gehören nicht nur irgendwelche Aussagen über einzelne Sachverhalte, sondern auch das, was als legitimer Übergang zu gelten hat« (ebd., 19). Damit ist die Schnittstelle zwischen der Herstellung von Wissen in Gesprächen und dem Argumentieren im Gespräch die Topik. Für einen Blick auf die epistemische Funktion von Argumentation ist die Topik zentral. Als das »kollektiv Geltende« (ebd.) oder »Segment kollektiven Wissens« (Römer 2017, 101) bestimmt der Topos – formal und/oder material – den Übergang zwischen Grund und Konklusion. Dabei ist ein Topos an sich neutral und kann für jede Richtung einer Streitfrage genutzt werden. Die Rekonstruktion und Analyse von Topoi erlaubt es, das, was als gemeinsames Wissen in der Interaktion verhandelt wird, zu ›heben‹ (vgl. auch Knoblauch 2000). Zentral für die Analyse ist dann aber nicht nur, was als gemeinsames Wissen eingeführt und aktualisiert wird, sondern wie dieses interaktiv verfügbar und verhandelbar gemacht wird. Damit verknüpft ist die Frage zur Rolle von Wissen innerhalb der Interaktion und damit auch innerhalb der Interaktionsanalyse.
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Diese Perspektive lässt sich direkt an die Analyse von Topoi im Gespräch binden. Die Topoi selbst sind unverfügbar, werden aber von den Teilnehmerinnen im Rahmen von Begründungshandlungen genutzt und bearbeitet und markieren so gemeinsames Wissen. Die Funktion von Argumentation Geltung herzustellen ist also in einem zentralen rhetorischen Konzept reflektiert. Der Topos als Übergang zwischen der stützenden und der zu stützenden Aussage, als das kollektiv Geltende, stellt eine Form »verflüssigten Wissens« (Knoblauch 2000) her. In der Regel implizit, versichert es die Argumentations- und Interaktionspartnerinnen der gemeinsamen Geltungsbasis, des common ground. Die epistemische Funktion von Argumentieren wird dann besonders deutlich, wenn Argumentieren an seine Grenzen stößt und keine geteilte Geltungsbasis mehr vorhanden ist, unter den Bedingungen eines deep disagreement. Die Diskussion um die Möglichkeiten der Überbrückung möglicher deep disagreements ist Gegenstand des aktuellen Diskurses in der Argumentationswissenschaft. Zwei Antworten auf dieses Problem sind: Praxis und Rhetorik. Lueken (1992, 1995) stellt in seiner Arbeit zur Inkommensurabilität in der Argumentation heraus, dass diese möglicherweise eher ein theoretisches, denn ein praktisches Problem sei. Er argumentiert, dass sich sowohl die Vertreter einer Diskurstheorie, die Argumentation als spezifisches Verfahren zur Herstellung von Konsens verstehen, als auch deren Kritiker, die postulieren, dass argumentativer Austausch immer schon Ungerechtigkeit schafft, da sie bestimmte Perspektiven begünstigt, einen Fehler begehen: Beide Seiten gehen davon aus, dass es eine Metaregel geben muss, die argumentativen Austausch bestimmt und postulieren, dass Argumentation einen besonderen Status hat, da es diese Regel gibt, bzw. dass Argumentation als Verfahren Unrecht schafft, da die Metaregel nicht besteht. Lueken stellt – nicht empirisch, sondern theoretisch begründet – heraus, dass das vollkommene Scheitern eines argumentativen Austausches auf Grund mangelnder gemeinsamer Geltungsbasis im Gespräch so gut wie nicht passiert, wir kommen nicht an einen Punkt, an dem wir argumentativ nicht weiterkommen und Diskurse radikal unübersetzbar ineinander werden. Die empirischen Arbeiten zur Herstellung und Bearbeitung von Inkommensurabilität im Gespräch stehen noch aus. Die mit der Antwort ›Praxis‹ verbundene zweite Antwort ist ›Rhetorik‹ oder noch besser das, was Heidlebaugh als rhetorisches »stitching and weaving« (2001, 138) fasst. Durch nicht-argumentative Formen können dann im Diskurs Zwischenräume zwischen den verschiedenen Geltungsbereichen erarbeitet werden. Grundlage dafür ist, in der Interaktion im Vollzug neue Verbindungen zu schaffen und den common ground als dynamisch und in der Interaktion aktualisiert und geschöpft zu verstehen. So formuliert Knoblauch für die stärkere Pluralisierung der Wissensbestände, dass gerade die »kommunikative Topik« (Knoblauch 2000, 665) darauf eine Antwort geben könne:
Die epistemische Funktion narrativen Argumentierens
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Der Zerfall an Traditionen und Selbstverständlichkeiten zwingt nicht unbedingt zur Argumentation. Er zwingt eher zur (häufiger narrativ und konversationell als argumentativ organisierter) Kommunikation, in der Vielzahl der unterschiedlichen Perspektiven inszeniert, präsentiert und mehr abgeglichen als ausgehandelt wird. (2000, 665f.)
Eine dieser grundlegenden rhetorischen Formen, die den Höllenschlund zwischen verschiedenen Feldern überbrücken können, ist das Erzählen.
Erzählen und Wissen
Betrachtet man Erzählen in seinem Verhältnis zum Argumentieren und in diesem Verhältnis mit einem Blick auf die epistemische Position von Erzählen in der Interaktion, so sind insbesondere der umfassende rhetorische Ansatz von Fisher (1987) und der sozialpsychologische Blick von Bamberg und Georgakopoulou (u. a. 2008) relevant. Fishers (1987) Konzept der narrativen Rationalität und der Formulierung eines narrativen Paradigmas ist im engeren Sinne nicht argumentationswissenschaftlich, war aber sehr einflussreich für die Argumentationswissenschaft. Zudem hat Fisher selbst seinen Ansatz als grundlegend für die Argumentation gesehen und bindet ihn auch direkt an Wallaces (1963) Konzept von good reasons als Grundlage rhetorischen Argumentierens, das Argumentation über Werte, nicht Tatsachen in das Zentrum stellt. Ausgangspunkt für Fisher ist in Anschluss an MacIntyre (1981) die Annahme, dass Menschen ihr Leben und ihre Erfahrungen mit der Welt grundsätzlich als Geschichten verstehen. Erzählen ist demnach die grundlegende Tätigkeit und der grundlegende Verstehensmodus des Menschen. »Humans are essentially storytellers« (Fisher 1987, 64). Menschen bilden also Überzeugungen und Handeln auf Grund einer grundlegenden narrativen Rationalität in Abgrenzung zu bereichsspezifischen Rationalitäten. Narrative Rationalität ist nach Fisher durch zwei Gesichtspunkte bestimmt: Die narrative Kohärenz (probability) und die narrative Erklärmächtigkeit ( fidelity). Geschichten müssen entsprechend in sich kohärent sein, um zu überzeugen. Sie müssen aber auch zu den Geschichten passen, die die Adressatinnen bereits für plausibel halten. Diese narrative Rationalität kontrastiert Fisher mit dem rational world paradigm (ebd., 59ff.). Dieses bestimmt sich nach Fisher folgendermaßen: »rationality is determined by subject-matter knowledge, argumentative ability, and the skill in employing the rules of advocacy in given fields« (ebd., 59). Eine zentrale Kritik, die Fisher am rational world paradigm übt, ist, dass es sich nicht auf everyday argument, auf Alltagsargumentation übertragen lässt, diese Rolle sieht er beim narrative paradigm (ebd., 62). Fisher zielt mit seiner Formulierung einer narrativen
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Rationalität auf eine Verbindung von Logik und Rhetorik, diese Verbindung schlägt direkt die Brücke zur Verbindung von Argumentation und Narration. Nun ist dieses Konzept einer narrativen Rationalität zwar einflussreich, zugleich bietet es nur bedingt Konzepte für die Analyse von Interaktionen, nicht zuletzt da der Erzählbegriff mit »symbolic actions – words and/or deeds – that have meaning for those who live, create, or interpret them« (ebd., 109) außerordentlich weit gewählt ist und so jede Form von symbolischem Handeln zu Narration macht. Für eine Analyse von Erzählen und die Verbindung von Erzählen und Argumentieren ist es notwendig mit einem klaren Verständnis von Narration zu operieren. Dabei lassen sich grob ein weiter und ein enger Erzählbegriff unterscheiden. Für einen eher weiten Begriff stehen der Ansatz von Bamberg zu narrativer Praktik sowie das Konzept der small stories. So fasst Bamberg Erzählen in der Interaktion als narrative Praktik, die sich dadurch auszeichnet, dass sie eingebettet ist in vorhergehende und folgende Sequenzen und dass diese das Erzählen in der Interaktion relevant setzen (Bamberg 2020, 248). Ähnlich wie Argumentieren im Gespräch wird also auch Erzählen im Gespräch als in die Anforderungen der Interaktion verwobene Praktik aufgefasst, die alle Ebenen der Interaktionskonstitution adressiert und damit zugleich auch Identitäten und Beziehungen mit hervorbringt (ebd., 249). In vielen Situationen sozialer Interaktion werden Geschichten aufgerufen, ohne auserzählt zu werden oder die Geschichte wird innerhalb eines Gesprächs an verschiedenen Stellen aufgenommen und weitergeführt. Erzählen in der Interaktion, Erzählen im Gespräch tritt nicht immer, vermutlich sogar eher sehr selten als das Erzählen einer in sich geschlossenen Geschichte auf, die szenisch-episodisch präsentiert wird. Georgakopoulou (2006) hat diese Form der Geschichten als »small stories« (siehe auch Bamberg/ Georgakopoulou 2008) oder auch als narratives-in-interaction bezeichnet. Sie bilden eine Gruppe von Geschichten die beispielsweise nur Ankündigungen späterer Geschichten sind, Projektionen auf die Zukunft und Referenzen auf gemeinsam gekannte Geschichten. Dabei konzentriert sich Georgakopoulou in ihren Arbeiten auf die Rolle dieser Narrationen für die Herstellung von sozialer Identität über verschiedene Positionierungsaktivitäten. Im Rahmen eines rechtsvergleichenden, ethnographischen Projektes habe ich Geschichten im Rahmen von Strafverfahren als fragmentiert beschrieben; als Geschichten die nur aufgerufen und anerzählt werden, da sie auf geteiltes Wissen zurückgreifen oder Geschichten, die strategische Leerstellen lassen, um Unsicherheit über das Geschehen zu fördern (Hannken-Illjes 2006, 2008). Im Kontrast dazu ließe sich für eine Analyse auch ein engerer Erzählbegriff anlegen, der Erzählen klar als eine Praxis fasst, die von anderen Formen unterscheidbar ist.
Die epistemische Funktion narrativen Argumentierens
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Zentral ist hier, dass das Erzählen dann auch eine starke Erlebensdimension der Protagonisten beinhaltet. Deppermann fasst das Erzählen auch als »die ausgebauteste alltagsweltliche Form der Kommunikation von Wissen.« (Deppermann 2015, 6) Wenn Erzählen dadurch bestimmt ist, dass es auf spezifische Weise eine Erlebensdimension beinhaltet und damit subjektive Erfahrung einbezieht, so deutet dies schon darauf hin, dass durch das Erzählen verschiedene Wissensformen in den Blick kommen können. So koppelt Brockmeier (2015) das Erzählen und die Erfahrung in drei Formen bzw. Graden aneinander. »1. Die Erfahrung wird durch die Erzählung ausgedrückt und repräsentiert. 2. Die Erfahrung wird durch die Erzählung geordnet oder anderweitig organisiert oder geformt. 3. Die Erfahrung oder zumindest bestimmte Arten von Erfahrungen werden durch die (und in der) Erzählung selbst hervorgerufen.« (ebd., 2) Für diesen Aufsatz ist nicht entscheidend, welcher dieser Form der Kopplung man folgt, wichtig ist, dass durch das Erzählen Erfahrung für die Interaktion und den Diskurs verfügbar gemacht wird, und damit Zugriff auf eine bestimmte Form des Wissens – des subjektiven Erfahrungswissens – erlaubt. Brockmeier führt vier Aspekte komplexer Erfahrungen und ihrer Verbindung zum Erzählen auf: »1. ihre Verwobenheit mit Sprache und anderen Arten der Zeichenvermittlung, 2. ihre eingeschriebene Zeitlichkeit, 3. ihre Fähigkeit, die ›Wie es sich anfühlt‹-Qualität der Erfahrung einzufangen […] und 4. ihre interpretative Natur.« (Brockmeier 2015, 3). Insbesondere die Erlebensqualität ist für das Beispiel in diesem Aufsatz relevant. Es gibt Traumaberichte, in denen die gefühlte Qualität des traumatischen Erlebnisses, das Gefühl, was es bedeutet, eine Erfahrung durchlebt, von einem katastrophalen Ereignis heimgesucht worden zu sein, oft eindrücklicher ist als das Ereignis selbst. Nicht die Katastrophe, das Unglück, der Einbruch stehen im Mittelpunkt vieler Geschichten von Menschen, die ein solches Erlebnis durchgemacht haben, sondern ihre subjektive Qualität, das Gefühl, überwältigt, machtlos, betäubt, sprachlos, gedemütigt, gelähmt zu sein. (ebd., 8). Als Beispiel für die Kopplung von Wissen und Erzählen im Gespräch kann der folgende Gesprächsausschnitt aus dem Korpus des Projektes »Verstehen, Relevanzsetzung und Wissen in Gesprächen der Schwangerenberatung«, einem Projekt in Kooperation mit der Geburtshilfeklinik der Universität Marburg und dem Kollegen Siegmund Köhler, dienen (für einen Überblick über das Projekt vgl. u. a. Hannken-Illjes et al. 2021). Die Gespräche der Schwangerenberatung in diesem Korpus finden im Krankenhaus statt und umfassen einen anamnestischen und einen freien Teil. Letzterer umfasst oft auch beratende Sequenzen. In diesem Ausschnitt sind die Schwangere (FS) und die Hebamme
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und Hebammenschülerin (ML, HT) in einem Austausch darüber, ob die FS das Kind, dessen Geburt bevorsteht, stillen möchte. 0930 FS 0931 0932 0933 0934 0935 0936 ML 0937 HT 0938 FS 0939
[=ich hoffe ] DIEses mal gehts besser, also ÖHMes hat mega WEH getan,= =und dann irgendwann: °h hat die brust dann keine MILCH mehr gegeben,= =ich weiß AU nich warum,= =dann hatt ich [((hält die Hände in unterschiedlichem Abstand zur Brust))] [verSCHIEden große-] [hmHM ] [hehe ] und nur die EIne hat mi-= =da hab ich aber TROTZdem WEIter gemacht–=
Die Schwangere (FS) erzählt hier von ihrem ersten Kind und den Problemen mit dem Stillen. Sie tut dies nicht sehr konkret (Z. 0933 und dann irgendwann), es handelt sich eher um die Zusammenfassung verschiedener Situationen in eine generelle Beschreibung der Probleme. Diese ist aber bestimmt durch die körperliche Erfahrung, die hier mit vermittelt wird (Z. 0932ff.), die auch gestisch unterstützt wird (Z. 0935). Dieses Erleben vermittelt die Schwangere in einer Form, die keine voll ausgestaltete Erzählung ist. Die starke Bestimmung von Narration und Narrativität über ›Erfahrungshaftigkeit‹/experentiality ist besonders von Fludernik (1996) formuliert worden, wenn auch nicht unwidersprochen, weil nicht jede Narration zwingend subjektive Erfahrung vermittelt (Martinez 2017, 5). Für die Verbindung von Argumentation und Narration in der Interaktion bietet diese Position aber einen wichtigen Anknüpfungspunkt, wenn es um die epistemische Funktion von narrativem Argumentieren geht. Wenn nun Argumentieren im Gespräch eine epistemische Funktion hat und dazu dient, common ground zu etablieren – also Wissen in der Interaktion zu aktualisieren – und das Erzählen eine spezifische Form von Wissen, insbesondere Erfahrungswissen stark ›fördert‹, was macht dann die spezifische epistemische Form von narrativem Argumentieren aus und was unterscheidet es von anderen Formen des Argumentierens?
Narratives Argumentieren
Innerhalb der argumentation studies wird seit einiger Zeit diskutiert, ob es so etwas wie narratives Argumentieren gibt; also eine Form des Argumentierens,
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die dadurch charakterisiert ist, dass zumindest ein Teil des Arguments narrativ verfasst ist und sich dieser Teil nicht auf eine nicht-narrative Form reduzieren lässt, ohne das Argument an sich zu verändern. Dabei bezieht sich einige Forschung in diesem Bereich auf die Untersuchung fiktionaler Texte. So haben Govier/Ayers Parabeln daraufhin analysiert, ob sich aus ihnen stimmige (cogent) Argumente rekonstruieren lassen und ob die narrative Form bestimmend für das Argument ist (Govier/Ayers 2012, 167). Die Frage ist also nicht, ob sich Narrationen als Argumente reformulieren lassen – das ist sicher der Fall, sondern: Ist ein narratives Argument, da es auf eine Begebenheit verweist, eine Form von anekdotischer Evidenz und kann damit seinen Anspruch auf Geltung nur über den Trugschluss der hasty generalization realisieren? »One can offer arguments through narrative, but doing that has more risks than benefits, from an epistemic point of view« (ebd., 188). Kurzum: Sind narrative Argumente fehlschlüssig? Zu bemerken ist hier, dass fiktionale Narrationen insbesondere in Bezug auf ihren epistemischen Anspruch nur bedingt mit faktualen Erzählungen, die im Alltag oder institutionellen Gesprächen erzählt werden verglichen werden können. Sie bieten sich an für eine Analyse, da sie klar abgeschlossen sind, zugleich ist der Geltungsanspruch fiktionaler Texte grundlegend anders als der faktualer; ein Aspekt, der für die Diskussion von narrativem Argumentieren und seiner Kopplung an Wissen wichtig ist. Bei faktualen Erzählungen handelt es sich um das, was Klein/Martínez (2009) »Wirklichkeitserzählungen« nennen. »Anders als in den erfundenen Geschichten der Literatur bezieht man sich in diesen Erzählungen direkt auf unsere konkrete Wirklichkeit und trifft Aussagen mit einem spezifischen Geltungsanspruch: ›So ist es (gewesen)‹.« (ebd., 1). Für faktuale Narrationen etablieren die Erzähler also den Geltungsanspruch, dass das, was erzählt wird sich so zugetragen hat; dies gilt für fiktionale Erzählungen nicht. Klein/Martínez beschreiben diesen Geltungsanspruch anhand der Ansprüche an rhetorische Erzählungen: »Verfasser faktualer Texte schließen mit ihren Lesern eine Art Abkommen. Indem sie ihren Text als faktual markieren, sichern sie zu, dass sie wahrhaftig, knapp, klar und relevant berichten« (ebd., 3). Der Position Goviers/Ayers (2012) entgegen hat Olmos (2017, 2020) – ebenso aus wissenstheoretischem und philosophischem Interesse – narratives Argumentieren in wissenschaftlichen Erklärungen untersucht. Die Kopplung von Narration und Argumentation in Strafverfahren habe ich untersucht und argumentiert, dass im Verfahrensverlauf zentrale Aussagen aus einer narrativen in eine argumentative Form überführt werden und so als Gegebenes für das Verfahren behandelt werden, um dann im Verlauf auch wieder narrativ geöffnet werden zu können (Hannken-Illjes 2006, 2008). Die Verbindung von Narration und Argumentation ist hier eng mit der epistemischen Funktion im Verfahren verbunden; die Wahrheit über ein Geschehen festzustellen, um
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auf dieser Basis dann rechtliche Entscheidungen treffen zu können. Für die Verbindung von Narration und Argumentation im Gespräch haben Deppermann/Lucius-Hoene festgestellt, dass die Annahme von Narration und Argumentation als zwei distinkte Textsorten nur bedingt hält, da Narrationen zwar schon durch bestimmte Strukturmerkmale bestimmt seien und so in Texten und Gesprächen auch analysierbar sind, »Argumentieren hingegen ist prinzipiell nicht auf das Vorliegen irgendwelcher spezifischer Strukturmerkmale angewiesen« (Deppermann/Lucius-Hoene 2003, 142). Argumentation im Gespräch zeigt sich also eher über die Funktion, weniger durch bestimmte Strukturen und textuelle Mittel. In ihrer Analyse zeigen Deppermann/Lucius-Hoene auf, dass argumentatives Erzählen eine spezifische, epistemische Funktion hat, da es das Erlebte nicht einfach wiedergibt, sondern eine Interpretation von Erlebtem bietet. »Erzählen ist keine bloße Wiedergabe von Erlebtem, sondern in ihm vollzieht sich ein Interpretationsprozess von Erfahrungen.« (ebd., 143) Dabei erlaubt das argumentative Erzählen, wie die Autorinnen es fassen, dass auch widerstreitende Stimmen in der Erzählung zum Zuge kommen, Geltung beanspruchen und so zum einen argumentative Positionierungen realisieren aber zum anderen auch unterschiedliche, gegenläufige Stränge zusammenführen können. Auch Schwarze (2019) betont die Bedeutung des Erzählens, allerdings als Grundlage für das Argumentieren, weniger als mit dem Argumentieren verwoben. In ihrer Studie von Mütter-Töchter-Konfliktgesprächen zeigt sie, wie durch das Erzählen gemeinsames Wissen hergestellt bzw. aktualisiert wird, das dann als common ground auch als argumentative Ressource genutzt werden kann. Dabei verbindet Schwarze die narrative Vorbereitung von Argumentation mit Erfahrungswissen und einer subjektiven Erlebensebene: Dabei erfüllt es [das Erzählen, KHI] mehrere Funktionen, prominent sind Anschaulichkeitsherstellung, Wissensgenerierung und Überzeugung. Durch die Nutzung der Erfahrungsbasiertheit wird mehr Anschaulichkeit, Sinnlichkeit, persönliche Perspektive und Konkretheit beim Argumentieren hergestellt, zudem ist die Erlebensperspektive eine Glaubwürdigkeitsressource. (ebd., 67f.).
Diese Charakteristika narrativen Argumentierens werden auch in der Studie von Wala et al. (under review) deutlich, die sich der argumentativen Nutzung von second stories in einem Gesprächskreis von Vorschulkindern widmet. Die Kinder bearbeiten hier Probleme und entwickeln Lösungen – die explorative, epistemische Funktion von Argumentation steht also im Vordergrund – indem sie von der Problemschilderung ähnlichen, selbst erlebten Begebenheiten erzählen und diese dann explizit oder implizit mit dem Rat rahmen, ähnlich
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zu Handeln. Diese second stories haben – so argumentieren Wala et al. – zwei Funktionen: Die Unterstützung der Glaubwürdigkeit der ersten Geschichte und damit die Etablierung der ersten Geschichte als wahrscheinlich und die eines Beispielbeweises, in dem die eigene Geschichte als Indiz für die Viabilität der Lösung angeführt wird. Noch einmal ein Blick auf das Beispiel aus der Schwangerenberatung: 0930 FS 0931 0932 0933 0934 0935 0936 ML 0937 HT 0938 FS 0939
[=ich hoffe] DIEses mal gehts besser, also ÖHMes hat mega WEH getan,= =und dann irgendwann: °h hat die brust dann keine MILCH mehr gegeben,= =ich weiß AU nich warum,= =dann hatt ich [((hält die Hände in unterschiedlichem Abstand zur Brust))] [verSCHIEden große-] [hmHM ] [hehe ] und nur die EIne hat mi-= =da hab ich aber TROTZdem WEIter gemacht–=
Der Ausschnitt entstammt einem Gesprächsabschnitt, in dem die Hebamme gefragt hatte, ob die Schwangere wieder stillen wolle. Diese beantwortet die Frage mit einer narrativen Sequenz, in der sie die Probleme während des Stillens schildert. Dabei stellt sie zum einen das eigene Erleben in Bezug auf Schmerzen heraus (Z. 0932) und unterstützt dann über eine Zeigegeste und die gestische Darstellung von Größenunterschieden, die Schwierigkeit des Stillens. Die Gesten verweisen direkt auf die körperliche Erfahrung, die die Schwangere auch schildert. Aus dieser Erzählung von Widrigkeiten zieht sie dann einen Schluss: =da hab ich aber TROTZdem WEIter gemacht–= Dieser Schluss stützt in Form eines Vergleichsschemas zwischen vorheriger und jetziger Schwangerschaft die Aussage: Ich werde wieder stillen, auch wenn es schwierig sein sollte, denn das habe ich schon einmal geschafft. Zusammenführend zeigen diese Studien, dass Erzählen bestimmte Formen des Erlebens und damit eine bestimmte Form des Wissens verfügbar macht und zugleich eine argumentative Funktion haben kann. In der Kopplung von Narration und Argumentation kann hier so auch diese subjektive Erfahrungswissen argumentativ nutzbar gemacht werden. Daher ist narratives Argumentieren nicht reduzierbar auf nicht-narrative Formen, denn diese Erlebensdimension ist nicht reduzierbar.
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Die Psychoanalyse als Verlustmasse Peter Schneider Man könnte die Geschichte der Wissenschaften als eine Geschichte von Rechtfertigungen beschreiben. Rechtfertigen müssen sich wissenschaftliche Disziplinen zunächst in den Phasen ihres Entstehens und ihrer Verfestigung gegenüber bestehenden Wissensfeldern und etablierten Formen der Erkenntnisgewinnung. Eines der wichtigsten Merkmale der neuzeitlichen Wissenschaften ist der Abschied von der reinen Beobachtungstatsache zugunsten der Herstellung von experimentell erzeugten Tatsachen. Der epistemische Status dieser ›matters of fact‹ bedarf der Rechtfertigung.1 Etablierung schützt nicht vor Rechtfertigung: Rechtfertigung von Hypothesen, Methoden, Schlüssen, Theorien etc. gehören im akademischen Selbstverständnis zum unvermeidlichen wissenschaftlichen Handwerk und Business. Rechtfertigungen spielen aber nicht nur im innerwissenschaftlichen Bereich eine bedeutende Rolle. Rechtfertigen müssen sich Forschungsprojekte, akademische Felder und ganze wissenschaftliche Disziplinen mal mehr mal weniger auch nach außen: z. B. im Zusammenhang mit dem Anspruch auf und der Verwendung von Forschungsgeld und institutionellen Ressourcen, im Zusammenhang mit der Anerkennung politisch wirksamer Expertise, im Hinblick auf gesellschaftliche Nützlichkeit und bis hin zum Existenzrecht als Disziplin (denken wir an den Kampf gegen ›Gender-Studies‹ und ›Critical Race Theory‹) und damit auch in Bezug auf den Status als Wissenschaft. Dass Erkenntnisse, Theorien und Methoden keiner Rechtfertigung mehr bedürfen, sobald sie dem Korpus ›der‹ Wissenschaft einverleibt sind, ist somit ein wissenschaftstheoretischer Aberglaube. Die Grenzen zwischen heterodoxem Wissen, Pseudo-Wissenschaft, Bullshit-Science und richtiger bzw. ›guter‹ Wissenschaft sind auf der epistemischen Landkarte manchmal verschwommen, zuweilen gibt es auch Enklaven und Exklaven des jeweils einen im jeweils anderen (Gieryn 1983). Ein klassisches Beispiel für eine Disziplin, deren Grenzen auf dieser Landkarte immer wieder verschoben und bekämpft wurden, ist die Psychoanalyse, beziehungsweise bestimmte Gebiete der Psychoanalyse. Die umfassendste Zurückweisung der Psychoanalyse als Wissenschaft findet sich bei Karl Popper. 1 Vgl. dazu Steven Shapins und Simon Schaffers klassisches Werk Leviathan and the Air-Pump (1985), über die Auseinandersetzungen zwischen Thomas Hobbes und Robert Boyle hinsichtlich der Bedeutung der Experimente Boyles mit der von ihm entwickelten Vakuumpumpe.
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Poppers ›demarkatorische‹ Kritik der Nicht-Falsifizierbarkeit und daher Unwissenschaftlichkeit psychoanalytischer Hypothesen (Popper 2013 [1934]) war eigentlich schon mit Ludwik Flecks etwa zur gleichen Zeit entstandenen Buch über die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache (Fleck 2015 [1935]), das den Grundstein für eine neue Art ›realistischer‹ Wissenschaftsforschung (statt normativer Wissenschaftstheorie) gelegt hat, überholt.2 Versuche, mit Poppers Argumenten die Psychoanalyse der Heterodoxie zuzuordnen, sind darum ebenso steril wie die entsprechenden Rechtfertigungsversuche, mit denen von psychoanalytischer Seite solcher Kritik begegnet wird. An dieser Stelle könnte man freilich einwenden, dass mit der von mir als realistische Epistemologie bezeichneten Wissenschaftsforschung eine normative Wissenschaftskritik und Wissenschaftstheorie keineswegs obsolet geworden ist. Es fällt mir jedoch schwer, solche unverrückbaren Kriterien für Wissenschaftlichkeit anzugeben, Wenn ich Wissenschaften (im Plural) gleichzeitig als ein unhintergehbar soziales Unterfangen betrachte, dessen Historizität sich nicht auf Variationen einer überhistorischen Essenz kondensieren lässt. Allenfalls könnte man mit Wittgenstein auf eine Familienähnlichkeit aller Wissenschaften rekurrieren, ohne dass damit das Problem des Konflikts zwischen normativer Wissenschaftstheorie und historisch-sozialer Epistemologie, das sich für mich wie das Verhältnis zwischen Theologie und Religionsgeschichte stellt, gelöst wäre. Zudem verstellt diese Total-Kritik bzw. Total-Rechtfertigung psychoanalytischer Erkenntnis leicht den Blick darauf, dass innerhalb der Psychoanalyse selbst die Frage der Heterodoxie ständig behandelt wird, und zwar in der Formulierung: »Ist XY noch psychoanalytisch?« Es erweckt den Anschein, als ob darin eine orthodoxe Psychoanalyse ihre eigene theoretische Pluralisierung nach einem, wenn auch im Detail unklar bleibenden Konzept normativer Wissenschaftstheorie eindämmen wollte. Als etwa Carl Gustav Jung 1912 in Wandlungen und Symbole der Libido (Jung 1991 [1912]) eine einheitliche psychische Energie vorschlug, die nicht mehr Libido heißen sollte, stellte sich genau diese und seither oft wiederholte Frage »Ist das noch Psychoanalyse?« Sie wurde von der psychoanalytischen Orthodoxie mit einer gewissen Verzögerung schließlich mit Nein beantwortet – Psychoanalyse ohne Sexualenergie (die dann auch so heißen muss) ist keine Psychoanalyse mehr. Jung wurde innerhalb der Psychoanalyse heterodox. Zwei Jahre nach Jungs Einführung des Konzepts einer einheitlichen psychischen Energie antwortet Freud mit der Einführung des Narzissmus (Freud 1924), die das alte Triebmodell Ich- = Selbsterhaltungstriebe, Objekt- = Sexualtriebe 2 Siehe dazu Schneider (2012).
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konterkariert. Freud wählt den umgekehrten Weg wie Jung: Statt die psychische Energie durch Entsexualisierung zu vereinheitlichen, sexualisiert er sie, indem er sie im Narzissmus zusammenfasst. Das Ich wird zum Reservoir einer Narzissmus genannten primären Sexualenergie, die nun die gesamte psychische Energie dieses Ichs ausmacht. Das Ich kann nun selbst wie ein Objekt behandelt werden; es wird damit ›sexualisiert‹. Jungs Heterodoxie war mit dieser Volte Freuds einerseits marginalisiert worden, andererseits in der nunmehr orthodoxen Variante Freuds für die Psychoanalyse zurückgewonnen.3 Die alte ätiologische Formel, dass die Neurose ein sexueller Konflikt mit den Anforderungen der Welt sei, konnte nun für die in dieser Zeit so bitterlich nötige Analyse und die Behandlung der Kriegsneurosen fruchtbar gemacht werden. Diese läuft auf folgende Behauptung hinaus: Der Kriegsneurotiker leidet an einem Konflikt zwischen dem realen Erfordernis, gegebenenfalls sein Leben lassen zu müssen und dem Wunsch der (nunmehr) sexualisierten Selbsterhaltung – ein Konflikt der typisch ist für Rekruten-Armeen in Kriegszeiten. Damit ist die klassische Auffassung der Neurose als eines Sexualkonflikts gerettet. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs begann damit die Anerkennung der Psychoanalyse: Sie hatte ihre Fähigkeit bewiesen, Kriegsneurotiker zu behandeln; und zwar anders als nur dadurch, dass man die Behandlung quälender gestaltete als den Schützengraben. Zu den Methoden dieser Behandlungen gehörte zum Beispiel die ›Elektrotherapie‹ zu der Freud 1920, zwei Jahre nach Kriegsende, ein Gutachten verfasst hatte, in dem er zu den gegen den Wiener Psychiater Wagner-Jauregg erhobenen Vorwürfen der Anwendung einer Elektrofolter Stellung nahm. Dort heißt es: »Es schien zweckmäßig, den Neurotiker als Simulanten zu behandeln […] obwohl man wusste, daß er kein Simulant sei. […] Zu diesem Zwecke bediente man sich schmerzhafter elektrischer Behandlung, und zwar mit Erfolg. […] Die anfangs glänzenden Erfolge der Starkstrombehandlung erwiesen sich dann auch nicht als dauerhaft. Der Kranke, der, durch sie hergestellt, an die Front zurückgeschickt worden war, konnte das Spiel von neuem wiederholen und rückfällig werden, wobei er zumindest Zeit gewann und doch jener Gefahr auswich, die gerade aktuell war. Stand er wieder im Feuer, so trat die Angst vor dem Starkstrom zurück, wie während der Behandlung die Angst vor dem Kriegsdienst verblichen war. Auch machte sich die im Laufe der Kriegsjahre rasch zunehmende Ermüdung der Volksseele und ihre sich steigernde Abneigung gegen das Kriegführen immer mehr geltend, sodass die Erfolge der besprochenen Behandlung zu versagen begannen. In dieser Konstellation gab ein Teil der Militärärzte der für die Deutschen charakteristischen Neigung zur rücksichtslosen Durchsetzung 3 Siehe dazu Schneider (2005).
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Peter Schneider ihrer Absichten nach, was niemals hätte geschehen dürfen. Die Stärke der Ströme, sowie die Härte der sonstigen Behandlung, wurden bis zur Unerträglichkeit gesteigert, um den Kriegsneurotikern den Gewinn, den sie aus ihrem Kranksein zogen, zu entziehen. Es ist unwidersprochen geblieben, dass es damals zu Todesfällen während der Behandlung und zu Selbstmorden infolge derselben in deutschen Spitälern kam.« (Freud 1920, S.708f.)
Mit der Flucht jüdischer Psychoanalytiker in die USA und Großbritannien vor und während des Zweiten Weltkriegs wuchs der Einfluss der kontinentaleuropäischen Psychoanalyse weiter, wobei die Behandlung der Kriegsneurotiker (Freud 1919) ein wichtiger Faktor war, die Psychoanalyse in den psychiatrischen Mainstream zu integrieren, wenn nicht sogar eine Zeit lang mit ihm identisch werden zu lassen. John Hustons Film Let there be Light von 1946 (veröffentlicht allerdings erst 1981) ist ein anrührendes Dokument dieser durch die Psychoanalyse humanisierten Kriegs- und Nach-Kriegs-Psychiatrie. Die zu therapeutischen Zwecken benutzte Psychoanalyse nutzt in diesem Zusammenhang freilich Elemente ihrer Frühgeschichte wie die Trauma-Theorie der späten 1890er Jahre und der Suggestion, die ihrerseits innerhalb der psychoanalytischen Orthodoxie bereits wieder heterodox geworden waren. Die Psychoanalysierung der Psychiatrie hielt bis in die 1960er/70er Jahre an, bis schließlich 1980 mit dem DSM-III die psychiatrische Diagnostik ›entätiologisiert‹ wurde: Das heißt, die vormalig psychoanalytisch orientierte ätiologische Beschreibung von psychischen Erkrankungen wurde zugunsten der Neutralität gegenüber den Differenzen verschiedener ›Schulen‹ durch eine symptomatisch-phänomenologisch orientierte Klassifikation ersetzt. Damit wurde die bisherige Selbstverständlichkeit untergraben, in der psychoanalytische Ätiologie und psychoanalytische Diagnostik zusammenfielen Mit dieser Relativierung begann ein Prozess, durch den die Psychoanalyse in der Psychiatrie wieder zunehmend heterodox wurde, nachdem noch in den 1950er Jahren der Psychoanalytiker Leo Stone den »Widening Scope of Indications for Psychoanalysis« (Stone 1954) einerseits stolz verkündet, andererseits problematisiert hatte: Man müsse angesichts der therapeutischen Potenz die Psychoanalyse den wirklich ernsthaften Indikationen vorbehalten. Mit dem allmählichen Heterodoxwerden der Psychoanalyse innerhalb der Psychiatrie – in der Psychologie war die Psychoanalyse mit dem gleichzeitig mit ihr beginnenden Aufkommen der Experimentalpsychologie eigentlich immer marginalisiert –, geht jedoch ein wachsendes und anhaltendes Interesse an der Psychoanalyse in den humanities einher. Die Popularität der
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Psychoanalyse wird auf diese Weise in einen neuen Bereich der akademischen Wissenschaften verlagert. Hatte die akademische Psychologie sich aus den Geisteswissenschaften entwickelt und herausgelöst (ein Programm dem Freud sich dezidiert angeschlossen hatte) so kehrt sie nunmehr gleichsam an ihre Ursprünge zurück, wenngleich in Gestalt einer völlig neuen Rezeption, nicht zuletzt durch eine strukturalistische und poststrukturalistische Rezeption. Hatte Freud versucht, die ›philosophischen‹ Reste der Psychoanalyse möglichst abzuschütteln, so war es nun die philosophische Interpretation und die Interpretation der Psychoanalyse als Philosophie welche die Psychoanalyse auf eine neue Weise interessant werden ließ. Wenn die Psychoanalyse auch nicht (mehr) als allgemeingültige psychologische Wissenschaft des Unbewussten und therapeutische Königsdisziplin betrachtet wird, so wird sie doch von den Geisteswissenschaften als wichtiges kulturelles Erbe rezipiert, das nicht verloren gehen darf. Es geht nun nicht mehr vor allem um die Affirmation einzelner psychoanalytischer Inhalte, sondern um eine Interpretation der Psychoanalyse (oder Teile davon), wie man es auch aus der Rezeptionspraxis in der Philosophie kennt. Die mehr oder minder kanonischen Texte der Philosophie werden nicht nur einfach bejahend zur Kenntnis genommen oder linear weitergedacht, sondern als historisches Material behandelt, aus dessen Interpretation neues gewonnen werden kann. Gerade die vergleichbare Historisierung der Psychoanalyse bewahrte sie vor dem Schicksal z. B. der Homöopathie. Während die Psychoanalyse an den kryptopopperschen Kriterien, die sie sich zum Teil selbst auferlegt hat, wenn sie sich als science in progress versteht, scheitern muss, hält sich in alter neuer Frische in den humanities mit deren spezifischen epistemischen Interessen. Psychoanalyse als Verlustmasse – der Titel, den ich für meine Ausführungen gewählt habe – verweist nun auf ein ganz besonderes Rechtfertigungsspiel, das in der Psychoanalyse nach außen wie nach innen gespielt wird, ein Spiel, in dem dessen Exponenten beständig zwischen den Zuschreibungen von Ortho- und Heterodoxie wechseln: Die Heterodoxie ist die eigentliche Orthodoxie und die Orthodoxien sind eigentlich Heterodoxien. So lautet die Formel für den Nachweis ihres ›kritischen‹ Potentials. (In den Worten Adornos könnte man auch sagen: »An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen.« (Adorno 1951, 77)) Der stetige Switch erlaubt es, bisherige Essentials zur Peripherie zu erklären und bisher vernachlässigten Aspekten zu theoretischem Glanz und neuen konzeptuellen Würden zu verhelfen. Kurz: die Lektüre der Klassiker kann immer wieder von neuem beginnen oder dies doch zumindest vorgeben.
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In Derridas Verteidigungsschrift Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! (Derrida 1998) heißt es: Manche würden uns gern dazu bringen, die Psychoanalyse zu vergessen. Werden wir/möchten wir die Psychoanalyse vergessen? Das Vergessen der Psychoanalyse könnte nicht ein Vergessen unter anderen sein und kann nicht umhin, Symptome hervorzubringen. Das Vergessen der Psychoanalyse findet nicht notwendigerweise außerhalb der Psychoanalyse oder ihres institutionellen Raumes statt. Es kann mitten im Herzen des Psychoanalytischen vonstatten gehen. Wenn ich also sage: Werden wir/möchten wir die Psychoanalyse vergessen?, so ist dieses Wir, nicht ohne einige Psychoanalytiker miteinzubefassen. (Ebd., 7)
1988, als Einleitung eines Vortrags von René Major an einer Veranstaltung der Sorbonne über Denken in der Gegenwart, verknüpft Derrida in diesem Text das konstatierte Verschwinden der Psychoanalyse mit einer Diagnose des philosophischen sowie des ›öffentlichen‹ Meinungsklimas: Er schreibt, dass unter vielen Philosophen und in einer bestimmten ›öffentlichen Meinung‹ (eine weitere vage und freischwebende Instanz) die Psychoanalyse nicht länger in Mode ist, nachdem sie in den sechziger und siebziger Jahren exzessiv in Mode gewesen war, als sie die Philosophie weit aus dem Zentrum heraus gedrängt und den philosophischen Diskurs genötigt hatte, mit einer Logik des Unbewußten zu rechnen, auf die Gefahr hin, es zulassen zu müssen, daß seine grundlegendsten Gewissheiten aus den Fugen gehoben werden, auf die Gefahr hin, zu erleiden, seines Grundes, seiner Axiome, seiner Normen und seiner Sprache, kurz, all dessen enteignet zu werden, was die Philosophen gewohnt waren, als die philosophische Vernunft, als die philosophische Entscheidung selbst anzusehen, auf die Gefahr hin, noch zu erleiden, dessen enteignet zu werden – dieser sehr häufig mit dem Bewußtsein des Subjekts oder des Ichs, mit Freiheit, mit Autonomie verknüpften Vernunft (raison) –, was auch die Ausübung einer echten philosophischen Verantwortung zu gewährleisten schien. (Ebd., 8)
Das Vergessen der Psychoanalyse ist für Derrida das Symptom einer fatalen »flickschusterhaften Restauration«, so, »als ob es nur darauf ankäme, die vorausgesetzten Vernunftansprüche von allen Unebenheiten zu befreien in einem Diskurs, der rein kommunikativ informationell und glatt sein soll« (ebd., 9). Fünfundzwanzig Jahre zuvor, 1963, hielt Herbert Marcuse seinen viel zitierten Vortrag über Das Veralten der Psychoanalyse (Marcuse 1984). Darin charakterisiert er gerade das Unzeitgemäße der Psychoanalyse als deren eigentlich kritische Essenz. Die Psychoanalyse sei veraltet, weil sie ein gesellschaftliches Subjekt beschreibe, das es nicht mehr gibt: »So zieht die Psychoanalyse«, bilanziert Marcuse, »ihre Stärke aus ihrem Veralten: aus ihrer Insistenz auf den individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten, die von der gesellschaftlichen und
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politischen Entwicklung überholt worden sind.« (Ebd., 77). So verwundert es nicht, dass Marcuse gerade in Freuds Biologismus eines der stärksten Momente der Widerständigkeit der psychoanalytischen Theorie gegen schlechte zeitgeistige Anpassung – allen voran eine kulturalistische Interpretation der Psychoanalyse interpretiert. Marcuse kombiniert somit zwei unterschiedliche Rhetoriken des Verlusts, einerseits auf der Gegenstandsebene, andererseits auf der Ebene der Theorie: Zum einen verliert die Psychoanalyse durch die geschichtliche Entwicklung das klassisch ödipale Subjekt als seinen zentralen Gegenstand. Dies ist ein Verlust, der wiederum psychoanalytisch begriffen werden müsste, und zwar als Kritik der Entödipalisierung und ihrer psychischen und gesellschaftlichen Folgen. Doch in der modernisierenden Anpassung der Psychoanalyse an diesen nicht weiter hinterfragten Zeitgeist liegt zum anderen ein zweiter Verlust begründet: nämlich der des kritischen Potentials der Psychoanalyse. In Anlehnung an Mitscherlichs Terminologie aus dem gleichen Jahr (Mitscherlich 1996) könnte man sagen: Ein nicht mehr ödipales, ein ›vaterloses‹ Subjekt, das seine Oppositionskraft gegen die schlechten gesellschaftlichen Verhältnisse mehr und mehr einbüßt, weil es nicht mehr durch den ödipalen Konflikt mit dem Vater seine Position in der Kultur erlangt, sondern der direkten Manipulation durch die Erzeugnisse der Massenkultur ausgesetzt ist. Die psychoanalytische Theorie passt darum nicht mehr auf diese Subjekte: schlimm für die neuen Subjekte. Gut für die Psychoanalyse als kritische Theorie, die aus ihrer anachronistischen Position nun umso besser zur Chronistin eines zunehmenden Verfalls werden kann.4 Die alte Orthodoxie ist heterodox geworden; doch dieses Heterodox-Werden ist kein epistemischer Fort- sondern ein Rückschritt. Man könnte Marcuse (und Mitscherlichs) Position als die einer ahistorischen Historisierung der Psychoanalyse beschreiben. Kurz: der Verlust steht nicht für ein Obsoletwerden der Psychoanalyse oder gewisser Teile, sondern für ein epistemisches Blindwerden, das nicht hingenommen werden dürfte. Die Kritik des Verschwindens des ödipalen Subjekts macht die Psychoanalyse notwendiger denn je; ein Verlust der Psychoanalyse
4 Helmut Holzhey hat in einer sorgfältigen und ganz unpolemischen Kritik den wesentlichen Schwachpunkt der Marcuseschen Argumentation herausgearbeitet, nämlich die dezidierte A-, ja Anti-Historizität, in der Marcuse die Freudsche Theorie einschließt: »Die Historie in ihrer Gänze ist ›unwahr‹; und die Psychoanalyse selbst soweit ›unwahr‹, als sie sich am historisch Gewordenen und Gegeben orientiert, wie es die Revisionisten […] tun […] Diese radikal ungeschichtliche Auffassung der Psychoanalyse ist die Basis, auf der ihre radikal kritische Funktion […] behauptet werden kann, auf die hin Marcuse die Freudsche Theorie zu schärfen unternimmt.« (Holzhey 1970, 206)
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wäre gleichbedeutend mit der unkritischen Auslieferung an eine Gesellschaft, deren Lustprinzip allein noch in ›repressiver Entsublimierung‹ bestünde. Durch eine vergleichbare Verlustrhetorik zeichnet sich auch das Pathos des ›Zurück zu Freud‹ Lacans aus:5 Die Forderung, zu den Ursprüngen zurückzugehen, beruht ebenfalls auf der Annahme, dass in der Psychoanalyse etwas verloren gegangen ist, das es archäologisch zu rekonstruieren und zu nutzen gilt. Nachdem die Psychoanalyse kaum mehr wie von Freud als eine noch sehr junge Wissenschaft bezeichnet werden kann,6 verfängt das alte Argument nicht mehr, dass die Psychoanalyse gleichsam ihrem Wesen nach heterodox ist, weil sie den Menschen die schwer erträgliche Zumutung der dritten narzisstischen Kränkung nach Kopernikus und Darwin zugefügt hat – den Anthropodezentrismus. Die Rhetorik des Verlustes spielt innerhalb der Psychoanalyse ebenso eine bedeutende Rolle wie in der Rechtfertigung der Psychoanalyse nach außen. Gegenüber einer ›normalen‹ Rechtfertigungsstrategie mit klaren Fronten hat sie den Vorteil, das Spiel um Heterodoxie und Orthodoxie ganz anders zu spielen, als etwa Poppersche Kritiker der Psychoanalyse es erwarten würden. Fair is foul, and foul is fair … Oder It is just precisely the opposite, wie Slavoj Žižek sagen würde. Psychoanalytische Orthodoxie wird in diesem Spiel innerhalb der Psychoanalyse abgewertet, die psychoanalytische Heterodoxie aufgewertet; und gegenüber den ›Gegnern‹ der Psychoanalyse (wer immer das sein mag) als etwas gerechtfertigt, das nicht verloren gehen darf. Der Clou an diesen Spielregeln der Rechtfertigung ist, dass sie rein formal funktionieren und weitgehend indifferent sind gegen bestimmte Inhalte. Diese Art des Rechtfertigungsspiels kann von ganz unterschiedlichen Protagonisten im Hinblick auf sehr unterschiedliche Ziele hin gespielt werden. So kann zum Beispiel selbst die von anderen als szientistisch verschriene neurowissenschaftliche Deutung der Psychoanalyse sowohl Symptom eines Verlusts sein als auch in den Augen der Neuropsychoanalytiker einem solchen Verlust entgegenwirken, in dem sie an den frühen Versuch Freuds, die Psychoanalyse in neurologischen Termini zu formulieren, erinnert. Auf diese Weise bewahrt 5 Aber auch dieser Gewinn ist nicht ohne Verlust, nämlich den an Konkretion, zu haben. Vgl. dazu die Kritik, die Lévi-Strauss gegen Lacan vorbringt: »Lacan ist von konkreten Untersuchungen ausgegangen, von der Psychoanalyse, ist dann zu einer Philosophie und schliesslich zu einer Metaphysik übergegangen. « (Lévi-Strauss 1980, 256) 6 »Wissenschaft ist keine Offenbarung, sie entbehrt, lange über ihre Anfänge hinaus, der Charaktere der Bestimmtheit, Unwandelbarkeit, Unfehlbarkeit nach denen sich das menschliche Denken so sehr sehnt. Aber so wie ist, ist sie alles, was wir haben können. Nehmen Sie hinzu, dass unsere Wissenschaft sehr jung ist, kaum so alt wie das Jahrhundert.« (Freud 1926, 218)
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sich die Psychoanalyse eine ganz besondere Fluidität zwischen den Polen von Ortho- und Heterodoxie. Bibliographie Theodor W. Adorno: Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin/Frankfurt am Main 1951. Jacques Derrida: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! Frankfurt am Main 1998. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main 2015. Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzißmus. Leipzig 1924. Sigmund Freud: Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Leipzig/Wien 1919. Sigmund Freud: Gutachten über die Elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker Manuskript von 1920 in Gesammelte Werke Nachtragsband, S. 704–710, Zitat S. 708, 709 Sigmund Freud: Die Frage der Laienanalyse. In: Gesammelte Werke, Bd. 14. 1926. Thomas F. Gieryn: Boundary-Work and the Demarcation of Science from Non-Science: Strains and Interests in Professional Ideologies of Scientists. In: American Sociological Review, 48/6 (1983), S. 781–795. Helmut Holzhey: Psychoanalyse und Gesellschaft – Der Beitrag Herbert Marcuses. In: Psyche: Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 24/3 (1970), S. 188–207. Carl Jung: Wandlungen und Symbole der Libido: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. München 1991. Claude Lévi-Strauss: Mythos und Bedeutung: Vorträge. Frankfurt am Main. 1980. Herbert Marcuse: Schriften 8 – Aufsätze und Vorlesungen 1948–1969 – Versuch über die Befreiung. Frankfurt am Main 1984. Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft: Ideen zur Sozialpsychologie. München 1996. Karl Popper: Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft. Berlin 2013. Peter Schneider: (In) den Narzißmus einführen. Ein Kommentar zu Freuds »Zur Einführung des Narzißmus«. In: Psyche, 59. Jg. (2005), S. 316–335. Peter Schneider: Psychoanalyse und Wissenschaftsforschung. In: Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung, 16. Jg., Heft 3/4 (30) (2012), S. 324–334. Steven Shapin und Simon Schaffer: Leviathan and the Air-Pump. Princeton 1985. Leo Stone: The Widening Scope of Indications for Psychoanalysis. In: Journal of the American Psychoanalytic Association 2/4 (1954), S. 567–594.
Plausibilitätsstrukturen im heterodoxen Diskurs Astrologie und hegemoniale Wissensordnungen Kocku von Stuckrad »An den Grenzen des exakten Wissens knistert es.« Thomas Ring (1977, 5)
Schaut man sich das gegenwärtige Interesse für Astrologie in Europa und Nordamerika an, so entsteht der zunächst paradoxe Eindruck, dass viele Menschen der Astrologie ein hohes Maß an Plausibilität zuerkennen, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen der Astrologie diese Plausibilität regelmäßig in Zweifel ziehen. Man kann sogar sagen, dass die Astrologie – noch stärker als andere ›alternative Spiritualitäten‹ – zu den Wissenstraditionen Europas gehört, die als vollkommen unvereinbar mit aufgeklärten, kritischen und rational argumentierenden Weltanschauungen der europäischen Moderne gelten. Die Verunglimpfung der Astrologie sowie jener, die sich ernsthaft mit ihr beschäftigen, ist so fest im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass es Medien und Wissenschaft schwerfällt, das hohe Maß an Anerkennung zu erklären, das diese ›verworfene Wissenschaft‹ im 21. Jahrhundert genießt. Die Zahlen sozialwissenschaftlicher Erhebungen sind durchaus bemerkenswert. Wenn soziologische Forschungsprogramme heute die Menschen in Westeuropa und Nordamerika fragen, ob sie christlichen Überzeugungen anhängen oder vielmehr ›spirituelle‹ Auffassungen haben, die sich vom Christentum entfernt haben, zeigt sich eine klare Tendenz gegen christliche (und andere als ›religiös‹ wahrgenommene) Auffassungen und für Alternativen, die in der Selbstbeschreibung als ›spirituell‹ gelten (Pew Research Center 2018). Astrologie, oft in Kombination mit anderen Praktiken wie Tarotkarten-Legen oder spirituellen Ritualen, ist heute eine der beliebtesten Systeme, wenn Menschen die tieferen Schichten ihres Lebens erforschen und sich mit größeren, sogar kosmischen Sinnstrukturen verbinden wollen. Dem Pew Research Center zufolge beschäftigen sich mehr als 60 Prozent der amerikanischen Millennials mit New-Age-Spiritualität (einschließlich Astrologie), aber diese Gruppe glaubt seltener als frühere Generationen an Gott oder sieht Religion als einen wichtigen Teil ihres Lebens (Gecewicz 2018). Das Thema Astrologie boomt in den Medien, wo jedoch oft einseitig auf den vermeintlichen gegenwärtigen Trend unter ›Millennials‹ abgehoben wird, anstatt die heutige Situation als das jüngste Kapitel eines kontinuierlichen Interesses während des gesamten
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20. Jahrhunderts zu sehen, allerdings mit neuen Möglichkeiten, sich über Online-Apps und soziale Medien mit der Astrologie zu beschäftigen. Mit Nicholas Campion können wir demgegenüber festhalten: Astrologie »is part of the general mentality of the modern West, not an organized force« (Campion 2016, 143). Das war schon in den letzten 150 Jahren so, aber die Covid-Pandemie hat der Astrologie in Europa und Nordamerika weitere Popularität verschafft. Wie lässt sich die Attraktivität der Astrologie erklären? Ist sie Teil eines heterodoxen Diskurses, der sich gegenüber der hegemonialen Wissensordnung in weiten Teilen europäischer und nordamerikanischer Gesellschaften hartnäckig hält und sogar an Bedeutung gewinnt? Oder müssen wir angesichts der Tatsache, dass die Astrologie heute Mainstream ist, unsere Vorentscheidungen darüber, was heterodox und was orthodox ist, kritisch hinterfragen? Weist die Astrologie Plausibilitätsmuster auf, die sie von herrschenden naturwissenschaftlichen Anschauungen, aber auch von anderen spirituellen oder esoterischen Weltbildern unterscheidet? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen. Um die besondere Stellung der Astrologie im europäischen Wissensdiskurs herauszuarbeiten, werde ich den ›Doppelcharakter‹ der Astrologie als sowohl empirisch-exakte als auch hermeneutisch-deutende Disziplin erläutern und historisch einordnen. Vor diesem Hintergrund gilt es sodann, sich heutige Formen astrologischer Theorie und Praxis genauer anzusehen, um die unterliegenden Plausibilitätsstrukturen besser verstehen zu können. Wenn ich dabei von ›Wissen‹ und ›Wissenssystemen‹ spreche, dann geschieht dies in einem wissenssoziologischen und diskurstheoretischen Sinne (s. z. B. Keller/Hornridge/Schünemann 2018; von Stuckrad 2013), nämlich nicht als Aussage über die ›Wahrheit‹ der entsprechenden Wissensansprüche, sondern als gesellschaftlich geteilte Ansichten über die Welt, die zugleich gesellschaftliche Wirklichkeiten generieren; diese Ansichten sind dem Wandel unterworfen und sowohl Gegenstand als Instrument hegemonialer Machtstrukturen. 1.
Die Astrologie zwischen Empirie und Hermeneutik
Ganz allgemein kann man die Sternkunde oder Astrologie (von Griechisch astrologia, ›Lehre von den Sternen‹) als ein Wissens- und Deutungssystem beschreiben, das einen Zusammenhang zwischen den Bewegungen der Sterne und Ereignissen auf der Erde postuliert und zu ergründen sucht. Es geht also um die Frage: Wie ist menschliches Leben in die Rhythmen des Kosmos eingeschrieben, und wie kann man kosmische Rhythmen in menschliches Leben einschreiben? Auch wenn alle Formen der Astrologie von einer Korrelation zwischen Sternbewegungen (vor allem von Sonne und Mond, sowie
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der sichtbaren Planeten) und dem Geschehen auf der Erde ausgehen, gab es ganz unterschiedliche Erklärungen dafür, wie man sich diese Korrelationen genau vorzustellen hat. Neben der Ansicht, dass es einen kausalen Einfluss der Gestirne auf irdische Objekte und Personen gibt, hat es immer auch die Ansicht gegeben, dass sowohl Gestirne als auch irdisches Geschehen in einen gemeinsamen Kräftezusammenhang eingebunden sind, und dass die Sternbewegungen deshalb diese Kräfte nicht auslösen, sondern lediglich anzeigen. Auch wenn es daher sehr unterschiedliche ›Astrologien‹ (Campion/ Green 2017) gibt, lässt sich die Astrologie vor diesem Hintergrund am besten als Naturphilosophie beschreiben. Als Sternkunde umfasst diese Naturphilosophie einen rechnenden Teil (was wir heute ›Astronomie‹ nennen) und einen deutenden Teil (›Astrologie‹ im heutigen Sprachgebrauch). Man darf allerdings nicht übersehen, dass die radikale und oft polemische Trennung von Astrologie und Astronomie sich im Grunde erst im 19. und 20. Jahrhundert vollzogen hat. Von der Antike bis in die Neuzeit hinein wurde die Sternkunde als ein einheitliches Wissenssystem betrachtet, und was wir heute als Astrologie bezeichnen, wurde damals ars mathematica (die ›Kunst der Mathematik‹) oder schlicht astronomia (die ›Gesetze der Sterne‹) genannt.1 Die Tatsache, dass es der Astrologie immer sowohl um empirisch messbares Wissen – was wir heutzutage Astronomie nennen – als auch um die Deutung dieser empirischen Daten geht, hat wesentlich dazu beigetragen, dass man die Sternkunde ganz unterschiedlich eingeordnet hat. Je nach Perspektive wurde sie als Wissenschaft, als Religion, als Philosophie, als Divination oder als Psychologie betrachtet. Es ist gerade diese Vieldeutigkeit, die der Astrologie als kulturelle Erscheinung über Jahrtausende ihren Fortbestand sicherte. Das ›Messen‹ und ›Deuten‹ von Sternbewegungen war schon im Neolithikum ein fester Bestandteil der menschlichen Beschäftigung mit den Sternen, doch es waren Experten in Mesopotamien und Ägypten, die beides auf eindrucksvolle Weise weiterentwickelten und damit die ›klassische‹ Astrologie vorbereiteten, die im Römischen Reich zur führenden Interpretation von Kosmos, Geschichte und Politik wurde (s. Beck 2007; von Stuckrad 2007, 43–77). In Mesopotamien waren es die Priester, die für die Entwicklung von Astronomie und Astrologie verantwortlich zeichneten. Indem man den Himmel ordnete, verstand man auch die Welt der Göttinnen und Götter besser, und man konnte mit Ritualen und Gebeten entsprechend auf die Gottheiten einwirken. Die Gestirne galten als die Repräsentanten der Gottheiten. 1 Es kann hier nicht um eine historische Aufarbeitung der Astrologie gehen, sondern nur um konkrete Eckpunkte und grundsätzliche Überlegungen, die für die heutige Situation relevant sind. Zur Geschichte der Astrologie s. von Stuckrad 2007 und Campion 2008 und 2009.
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Unsere heutigen Begriffe von Wissenschaft, Religion und Philosophie lassen sich nicht ohne weiteres auf die mesopotamische Beschäftigung mit dem Himmel anwenden, da die Begriffe selber ihre Bedeutung erst in den letzten Jahrhunderten gewonnen haben. Die Beobachtung der Sterne war in einen Gesamtzusammenhang eingebunden, der ein wissenschaftlich-philosophischreligiöses Erkenntnisinteresse mit konkreten gesellschaftlichen und politischen Fragen verband. Zu Recht hält Francesca Rochberg fest: »[I]n full awareness of the anachronism, ancient divination, astrology, and magic are now readily classified as sciences, on the grounds that some characteristics of science are considered to be continuous over the course of history even while its content or aim is discontinuous« (Rochberg 2010, 409). Die Astrologie in Mesopotamien war also ein komplexes und dynamisches System, das hohe religiöse, öffentliche und politische Brisanz besaß. Den Spezialisten, die über die Deutungshoheit verfügten, kam eine nicht zu unterschätzende Macht im öffentlichen Bereich zu. Gleichzeitig waren sie oftmals in der prekären Situation, dass sie ihre Deutungen dem Willen des Herrschers anpassen mussten, um nicht in Ungnade zu fallen. Ein instruktives Beispiel für die Pendelbewegung von Messen und Deuten in Babylonien sind die sogenannten ›astronomischen Tagebücher‹, da sie einen wichtigen Hinweis auf die empirische Vorgehensweise einer an Korrelationen und Deutungen interessierten Sternkunde liefern. Diese Tagebücher gehören zu einer größeren Gruppe von Beobachtungstexten, die dezidiert alles festhalten, was im Laufe eines Jahres so geschieht. Die aus den Archiven der Königshäuser stammenden Tagebücher zeichnen meteorologische und astronomische Beobachtungen, Wasserstände, Naturkatastrophen und anderes auf; bekannt sind Texte aus den Jahren 652, 568, 454, 441, 419 und 418. Seit 385 sind Tagebücher für fast jedes zweite Jahr bis ins erste Jahrhundert v. u. Z. erhalten, wobei sich auch wichtige Hinweise auf konkrete Ereignisse wie die Schlacht von Gaugamela gegen Alexander den Großen finden. Die Tagebücher bildeten einen riesigen Datenbestand für die Suche nach Regelmäßigkeiten, Wiederholungen und allgemeinen Prinzipien. Man beachtete dabei den Lauf der Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, wobei alle ›Eckdaten‹ wie Auf- und Untergänge oder Kulminationen einbezogen wurden. Darüber hinaus finden sich Beschreibungen von Konjunktionen einzelner Planeten miteinander oder mit anderen Sternen des Tierkreises. Diese Daten waren von erstaunlicher Gründlichkeit, sodass selbst Ptolemaios, der berühmte ägyptische Astrologe des zweiten Jahrhunderts u. Z., auf sie zurückgriff. Ptolemaios wählte als Ausgangspunkt seiner Untersuchungen der Planetenbewegungen das Jahr 748 v. u. Z., weil von dieser Zeit an »uns auch die alten Beobachtungen im großen ganzen bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben sind« (Syntaxis III, 7; Übersetzung Manitius 1912, 183).
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In der römischen Kaiserzeit stieg die Astrologie zur bedeutendsten Deutungstechnik von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf (Cramer 1954). Die Arbeiten namhafter Astrologen wie Ptolemaios etablierten ein Wissenssystem, das bis heute als ›klassische Astrologie‹ gilt. Muslimische Gelehrte griffen diese Astrologie später auf, verbesserten die Berechnungstechniken und entwickelten auch die wissenschaftlichen Modelle weiter, mit denen die Astrologie in einen größeren naturphilosophischen Rahmen eingebettet werden konnte. Dieser Wissensschub erreichte Europa mit etwas Verzögerung, doch vom späten Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit fand auch hier eine Weiterentwicklung der Astrologie statt, die sich auf empirische Grundlagen stützte. Ein gutes Beispiel für die Zweigestalt der Astrologie als messende und deutende Disziplin sind die zahlreichen Horoskopsammlungen, die professionelle Astrologen erstellten, um die Lehrsätze der ›klassischen Astrologie‹ empirisch zu überprüfen und die aus der Antike überkommenen Deutungsregeln entsprechend zu verbessern. Derartige Horoskopsammlungen wurden von so einflussreichen Forschern wie Girolamo Cardano und Johannes Kepler angelegt und ausgewertet (s. vanden Broecke 2005; Oestmann 2022). Diese Beiträge waren Teil einer breit angelegten Debatte über die Wissenschaftlichkeit der Astrologie, wie Andreas Lerch anhand der lateinischen Lehrbücher zwischen 1470 und 1610 zeigt (Lerch 2015). Deutungstechniken und astrologische Lehrsätze wurden auch später weiter verbessert und an neue Umstände angepasst. Ab dem 18. Jahrhundert geschah dies oft in Zusammenhang mit astronomischen Entwicklungen wie der Entdeckung der Planeten Uranus (1781), Neptun (1846) und Pluto (1930). Es ist interessant zu verfolgen, wie die astrologische Zunft diese neuen Faktoren in ihr Deutungsarsenal aufnimmt und wie sich nach lebhaften Diskussionen und empirischen Prüfungen erst Jahrzehnte später eine allgemein akzeptierte Interpretation etabliert. Im 20. Jahrhundert kamen etliche weitere Faktoren hinzu, von Asteroiden wie Chiron bis zu berechneten Punkten wie Lilith. All diesen Beispielen ist gemeinsam, dass erst die Kombination von empirischem Material mit zunächst heuristischen Deutungen, die an zahlreichen Beispielen geprüft werden, ein ausreichendes Maß an Plausibilität generiert, um neue Deutungselemente in der astrologischen Theorie und Praxis zu verankern. 2.
Grundzüge der Astrologie im 20. Jahrhundert
Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung erlebte die europäische Astrologie im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung des 19. und 20. Jahrhunderts keineswegs einen Niedergang (s. zum Folgenden den Überblick bei von Stuckrad 2007, 287–368). Das Gegenteil ist der Fall. Während es in
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Großbritannien ohnehin eine durchgehende professionelle Beschäftigung mit der Astrologie gegeben hatte, wurde die Astrologie in Kontinentaleuropa gegen Ende des 19. Jahrhunderts in neuem Gewand wiedereingeführt. Die Astrologie reihte sich ein in eine Diskursordnung, in der Wissenschaft, Okkultismus, Psychologie und Philosophie neue Bedeutungen herstellten und breite Bevölkerungsschichten erreichten. Für den deutschen Kontext spricht Corinna Treitel um 1900 von Okkultismus als einer Massenbewegung, insbesondere in Metropolen wie München und Berlin. In Berlin boten zu dieser Zeit mehr als 600 spirituelle Medien ihre Dienste an, Tausende besuchten öffentliche Séancen in theosophischen und spiritistischen Clubs (von denen es etwa 15 in der Stadt gab), und Astrologinnen und Astrologen hielten Vorträge und verkauften Horoskopdeutungen auf belebten Plätzen der Stadt (Treitel 2004, 56–80; zum Ganzen s. auch von Stuckrad 2019). Ganz allgemein kann man sagen, dass sich die Wiedererstarkung der Astrologie im 20. Jahrhundert aus zwei Quellen speiste: Einerseits ist der große Einfluss der Theosophischen Gesellschaft (gegründet 1875) und damit verbundener okkulter Bewegungen zu nennen (Campion 2016); andererseits führten Arbeiten wie die von Carl Gustav Jung zu einer Psychologisierung der Astrologie, die sich von einer deterministisch orientierten Horoskopdeutung verabschiedete und die Astrologie als ein Mittel zur Selbsterkenntnis etablierte, wie sie noch heute populär ist (zu Jungs Arbeiten zur Astrologie s. Greene 2018). Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs entstanden in Europa, und vor allem in den deutschsprachigen Gebieten, zahlreiche neue astrologische Vereinigungen, und astrologische Theorie und Praxis waren Teil einer differenzierten intellektuellen Diskussion, die neue Ansätze und Methoden hervorbrachte. Nach 1945 waren es in Deutschland und der Schweiz individuelle Vertreterinnen und Vertreter einer anspruchsvollen Astrologie, die der Astrologie wichtige Impulse verliehen und zu einer weiteren Professionalisierung beitrugen (s. den Überblick bei Mayer 2020a). Beispielhaft sei hier der Maler, Dichter und Astrologe Thomas Ring (1892– 1983) genannt, dessen einflussreiches Werk ganz im Zeichen einer umfassenden Neuausrichtung der Astrologie als eines ›organischen‹ Wissenssystems steht, das die Ergebnisse der Wissenschaften mit tiefenpsychologischen und philosophischen Ansätzen, aber auch mit den Künsten vereinte. In zahlreichen Publikationen, die seit den 1920er Jahren erschienen, setzte er sich für eine ›revidierte Astrologie‹ ein, welche die fatalistische Prognose zugunsten einer organischen Gesamtdeutung der Horoskopkräfte als Symbole psychischer Dynamiken interpretiert. Das führt zur Bestimmung von ›Aussagegrenzen‹ der astrologischen Deutung: Ring betrachtet das Geburtsbild oder Kosmogramm
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als Ausdruck eines Flechtwerks von Kräften, die nicht starre Eigenschaften bezeichnen, sondern eine Gefügeordnung bilden, in die hinein sich ein Mensch entwickeln kann – oder auch nicht. Bei der Deutung muss man deshalb die Lebensumstände der jeweiligen Person und ihre soziale Prägung studieren, um die Verwirklichungsebene des Anlagegefüges zu verstehen. Programmatisch hält er für seinen Zugang zur Astrologie fest: Von Sternen ist hier weniger die Rede als von Grundkräften des Lebens, Kräften morphologischer Art, die Wesenskräfte genannt werden. Sie sind nicht zu verwechseln mit mechanischer Energie. Die Wirksamkeit und Plausibilität solcher Kräfte erweist sich an jedem Lebewesen, und ein bleibendes Gefüge, eine Komposition aus ihnen, hebt die Individualität des Menschen von den unpersönlichen, uns gemeinsamen Funktionen ab. Daß dies an der Geburtskonstellation meßbar ist, zeugt von der Einpassung des Erdenlebens in die Proportionen des Sonnensystems und dem Eingespieltsein seiner Kreisläufe. Das astrologische Problem erhält so einen zum Stigma der Wahrsagerei konträren Ansatz. (Ring 1977, 6f.)
Rings Ansatz ist – neben den Einflüssen der Psychologie – sehr stark von naturwissenschaftlichen Modellen und philosophischen Überlegungen geprägt. So beruft sich Ring auf Hans Driesch und dessen Rede von den ›Ganzheitskräften‹, auf die ›Allgemeinen Lebensgesetze‹ nach Raoul Francé und auf die ›Vier Ebenen des Seins‹, wie Nicolai Hartmann sie beschrieben hat. Sein Bestreben ist also durchaus ein naturwissenschaftliches Verständnis der Astrologie, deren Geltung den psychologischen Bereich übersteigen soll (auch wenn die von ihm angeführten wissenschaftlichen Theorien heute nicht mehr gängig sind). Deshalb unterscheidet er in der vierbändigen Astrologischen Menschenkunde (der erste Band erschien 1956) verschiedene Ebenen der Deutung: das ›allgemeine Prinzip‹, die ›psychische Ebene‹ und die ›geistige Ebene‹. Die ›revidierte Astrologie‹, so Ring, muss die reduktionistisch-mechanistische Wissenschaft ergänzen und komplettieren. Den Vorsprung mechanistischen Denkens hat das kosmologische Denken nunmehr aufzuholen aus einem neuen Wissenschaftsbegriff. Im Schlepptau dieser großen Aufgabe verwandelt sich auch die Astrologie von einer Auslegungskunst nach starren Rezepten in eine Forschung, deren Ergebnisse erst im Umriß abzusehen sind. Was aber ist kosmologisches Denken? Unterschiedlich zum summativen Vorgehen mißt es dem Zueinander von Einzelheiten eine Bedeutung bei. (Ring 1977, 48; Hervorhebung im Original)
Wenn Thomas Ring in seinem Vorwort zu Astrologie neu gesehen schreibt: »An den Grenzen des exakten Wissens knistert es« (1977, 5), und wenn er das ›Zueinander von Einzelheiten‹ als zentrale Perspektive dieses Wissens
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konzipiert, nimmt er Entwicklungen voraus, die die Wissenschaften seit der Wende zum 21. Jahrhundert kennzeichnen. Was heute disziplinübergreifend als relational turn bezeichnet wird (von Stuckrad 2023), stellt menschliches Wissen in einen Gesamtzusammenhang nichtmenschlicher agency und markiert eine Veränderung des Wissenschaftsbegriffs, die auch einer astrologischen Naturphilosophie neue Plausibilität verleihen kann (s. auch Hand 2005). 3.
Die hermeneutische Vieldeutigkeit der Astrologie
Die Entwicklung der Astrologie im 20. und 21. Jahrhundert zeigt eine enorme Zunahme an Komplexität, was die Deutungspraxis und die Deutungsfaktoren angeht. Nicht nur Thomas Ring besteht auf der Notwendigkeit, die Vieldeutigkeit der Horoskopfaktoren im jeweiligen individuellen Leben zu kontextualisieren – diese Verankerung ist ein Grundansatz psychologischer Astrologie. Vieldeutigkeit heißt außerdem, dass eine bestimmte Planetenstellung im Horoskop nicht durch einen schlichten Lehrsatz interpretiert werden kann, sondern als eine Art ›Signatur‹ von Kräften, die miteinander in Beziehung stehen. Deshalb ist eine quantifizierbare Prüfung der Astrologie prinzipiell schwierig (s. von Stuckrad 2007, 357–368; Ertel 2010; Mayer 2020b). Ein Beispiel wäre Mars als Anzeiger einer vorwärtsstrebenden und aggressiven Energie, die sich im Horoskop in einer herausfordernden Stellung zu Saturn befinden kann, wobei Letzterer eine bremsende und strukturgebende Energie repräsentiert. Mehr als eine solche allgemeine Problematik kann die Astrologie kaum identifizieren. Was das konkret im Leben des einzelnen Menschen bedeutet, hängt vom individuellen Umgang mit dieser Problematik ab: Dies kann von einem ›aggressiv-gehemmten‹ Persönlichkeitsmerkmal über ein dauerndes Problem mit Autoritätsfiguren bis hin zu einer positiven Fähigkeit gehen, die eigenen aggressiven und ungeduldigen Impulse in eine feste und verbindliche Struktur einzupassen. Man kann daran erkennen, dass die Deutung von ›Mars–Saturn‹ keineswegs willkürlich ist, aber doch in ihrer Konkretisierung überaus variabel. Was für die Horoskopeigner jeweils ›stimmig‹ und ›plausibel‹ ist, wird im astrologischen Beratungsgespräch gemeinsam ermittelt – dies macht die Beratungssituation selbst zum Ort der astrologischen Evidenz. Manchmal wird deshalb auf die divinatorische Qualität des Momentes abgehoben, um die Wirksamkeit der Methode zu erklären (Cornelius 2003; Willis/Curry 2004; Storm 2007; Curry 2010), auch in Abgrenzung zum viel diskutierten ›Barnum Effekt‹, einem psychologischen Mechanismus, in dem vage und allgemeingültige Aussagen über die eigene Person so interpretiert werden, dass sie als zutreffende Beschreibung empfunden werden. Dieses Phänomen ist
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in vielen psychologischen Kommunikationssituationen gut belegt. Im Unterschied zu anderen psychologischen Deutungsmethoden ist es in der Astrologie die Kombination von empirisch überprüfbaren Fakten (›Mars in Konjunktion/ Opposition/Quadrat zu Saturn‹) einerseits und der individuellen Konkretisierung andererseits, die zu einer Plausibilitätserfahrung führt. Eine ähnliche Plausibilitätsstruktur finden wir auch außerhalb des professionellen astrologischen Beratungsgesprächs, etwa in Chatrooms oder anderen Kommunikationsmedien im Internet. Astrologische Bedeutung wird somit in kommunikativen Prozessen hergestellt. Und je mehr sich Menschen mit der Astrologie beschäftigen, je mehr Wissen sie über die Astrologie erlangen, desto größer wird die Akzeptanz der Astrologie (s. die empirischen Daten bei Wunder 2002). Dies heißt im Umkehrschluss auch, dass radikale antiastrologische Ansichten – umso erbitterter vorgetragen je weniger Kenntnis vorhanden ist – die Anhängerinnen und Anhänger der Astrologie schwerlich überzeugen werden. Nur die interne Diskussion zwischen Menschen, die zumindest Grundkenntnisse über die Astrologie haben, führt zu ernstzunehmenden Revisionen von Ansichten auf beiden Seiten des Grabens. 4.
Heterodoxe Plausibilitätsstrukturen
Die meisten Menschen, die sich mit der Astrologie beschäftigen, wissen um das Wechselspiel von Empirie und Hermeneutik. Auch wenn die wenigsten der Praktizierenden an einer intellektuellen Auseinandersetzung mit den naturphilosophischen Grundlagen der Astrologie interessiert sind, sind sie sich darüber im Klaren, dass die Sternkunde auf eine jahrtausendealte Geschichte zurückblicken kann und unzählige Generationen an der Frage gearbeitet haben, wie die Korrelation zwischen Sternenbewegung und irdischem Geschehen zu verstehen ist. Dass diese Frage durch die hegemoniale Stellung einer bestimmten Wissenschaftsauffassung im 20. Jahrhundert von vielen heute als absurd betrachtet wird, tut der Attraktivität der Astrologie unter ihren Anhängerinnen und Anhängern keinen Abbruch – im Gegenteil: Die Ablehnung durch den hegemonialen Diskurs kann die Auffassung, es handle sich bei der Astrologie um ein altehrwürdiges, doch durch die Fixierung auf wissenschaftliche Messbarkeit von den meisten heute vergessenes Wissen, durchaus noch verstärken. Gerade bei jüngeren Praktizierenden der Astrologie kommt hinzu, dass der Zweifel an hegemonialem Wissen auch eine spielerische Erkundung von Wissens- und Deutungstechniken fördert, wobei dann Tarotkarten oder Hexenrituale ohne weiteres mit astrologischer Praxis verbunden werden können.
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Dass die Astrologie heute Mainstream ist und von großen Teilen der Bevölkerung als plausibel betrachtet wird, hat demnach interne und externe Gründe. Die internen Gründe haben mit der naturphilosophischen Tradition astrologischen Forschens zu tun, welche diese Technik der Wirklichkeitsdeutung in einen empirisch-wissenschaftlichen Kontext stellt, ein Kontext freilich, der im 20. Jahrhundert durch reduktionistische Wissenschaftsauffassungen weitgehend weggebrochen ist. Trotzdem eignet der Astrologie auch heute noch der Nimbus von Wissenschaftlichkeit, der sich nach wie vor in der Doppelbewegung von astronomischen Fakten und astrologischer Interpretationskunst manifestiert. Auch die Komplexität des astrologischen Wissenssystems, für dessen Beherrschung es jahrelange Ausbildung und Erfahrung braucht, sowie die damit zusammenhängenden Evidenzerfahrungen, können als interne Aspekte astrologischer Plausibilität betrachtet werden. Schaut man sich das weitere Feld astrologischer Tätigkeiten an, einschließlich der spielerischen Erkundung von recht oberflächlichen Formen der Astrologie, so zeigen sich auch externe Gründe für die Attraktivität und Plausibilität der Sternkunde. Dazu zählen heute insbesondere die Suche nach einer Verankerung des eigenen Lebens in größeren Sinnstrukturen, ohne dass man sich einer bestimmten religiösen Tradition anschließen muss; der persönliche Zugang zu tieferen Erkenntnissen, die von der hegemonialen Wissenskultur übersehen oder explizit abgewertet werden; und schließlich die Herstellung von Bedeutung in einer Zeit, in der die eigene Zukunft und die Zukunft der menschlichen Spezies – auch und gerade wegen der heute hegemonialen Form von Wissenschaft und Weltaneignung – auf dem Spiel stehen. Bibliographie Roger Beck: A Brief History of Ancient Astrology. Malden 2007. Steven vanden Broecke: Evidence and Conjecture in Cardano’s Horoscope Collections. In: Günther Oestmann/H. Darrel Rutkin/Kocku von Stuckrad (Hg.): Horoscopes and Public Spheres. Essays on the History of Astrology. Berlin/New York 2005, S. 207–224. Nicholas Campion: A History of Western Astrology. Bd. 1. The Dawn of Astrology: A Cultural History of Western Astrology. London 2008. Nicholas Campion: A History of Western Astrology. Bd. 2. The Medieval and Modern Worlds. London 2009. Nicholas Campion: Astrology and Popular Religion in the Modern West: Prophecy, Cosmology and the New Age Movement. London/New York 2016. Nicholas Campion/Liz Greene: Astrologies: Plurality and Diversity: Introduction. In: Nicholas Campion/Liz Greene (Hg.): Astrologies: Plurality and Diversity. The
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Proceedings of the Eighth Annual Conference of the Sophia Centre for the Study of Cosmology in Culture, University of Wales, Trinity Saint David, 24–26 July 2010. Lampeter 2011, S. 1–15. Geoffrey Cornelius: The Moment of Astrology: Origins in Divination (rev. and expanded 2nd ed.). Swanage 2003. Frederick H. Cramer: Astrology in Roman Law and Politics. Memoirs of the American Philosophical Society, V. 37. Philadelphia 1954. Patrick Curry (Ed.): Divination: Perspectives for a New Millennium. Aldershot 2010. Suitbert Ertel: Astrologie auf dem Prüfstand der Statistik. In: Gerhard Mayer/Michael Schetsche/Ina Schmied-Knittel/D. Vaitl (Hg.): An den Grenzen der Erkenntnis: Handbuch der wissenschaftlichen Anomalistik. Stuttgart 2010, S. 315–331. Claire Gecewicz: ›New Age‹ Beliefs Common Among Both Religious and Nonreligious Americans. Pew Research Center. www.pewresearch.org/fact-tank/2018/10/01/newage-beliefs-common-among-both-religious-and-nonreligious-americans/, 1.10.2018 (Abfrage: 23.11.2022). Liz Greene: Jung’s Studies in Astrology. Prophecy, Magic, and the Qualities of Time. London/New York 2018. Robert Hand: Towards a Post-Modern Astrology. Lecture at the Astrological Conference 2005 of the British Astrological Association in York, UK. Edited version available at https://www.astro.com/astrology/in_postmodern_e.htm (Abfrage: 11.3.2023). Reiner Keller/Anna-Katharina Hornridge/Wolf J Schünemann: The Sociology of Knowledge Approach to Discourse. Abingdon 2018. Andreas Lerch: Scientia astrologiae. Der Diskurs über die Wissenschaftlichkeit der Astrologie und die lateinischen Lehrbücher 1470–1610. Leipzig 2015. Karl Manitius: Des Claudius Ptolemäus Handbuch der Astronomie, Erster Band, Aus dem Griechischen übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Karl Manitius. Leipzig 1912. Gerhard Mayer: Astrologie und Wissenschaft – ein prekäres Verhältnis. Teil 1: Historischer Rückblick auf die deutschsprachige Astrologie im 20. Jahrhundert und gegenwärtige Entwicklungen. In: Zeitschrift für Anomalistik 20/1+2 (2020a), S. 86–117. Gerhard Mayer: Astrologie und Wissenschaft – ein prekäres Verhältnis. Teil 2: Überlegungen zu empirischen Untersuchungen zur Validität der Astrologie. In: Zeitschrift für Anomalistik 20/3 (2020b), S. 278–311. Günther Oestmann: Kepler und die Astrologie: Ein schwieriges Verhältnis. In: Wolfgang R. Dick/Jürgen Hamel (Hg.): Beiträge zur Astronomiegeschichte, 15 (= Acta Historica Astronomiae, 69), Leipzig 2022, S. 119–157. Pew Research Center: »Attitudes Toward Spirituality and Religion«. https://www. pewresearch.org/religion/2018/05/29/attitudes-toward-spirituality-and-religion/, 29.5.2018 (Abfrage: 31.5.2023). Thomas Ring: Astrologische Menschenkunde. Band 1: Kräfte und Kräftebeziehungen. 2. Aufl. Freiburg 1956.
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Thomas Ring: Astrologische Menschenkunde. Band 2: Ausdruck und Richtung der Kräfte. 2. Aufl. Freiburg 1956. Thomas Ring: Astrologische Menschenkunde. Band 3: Kombinationslehre. Freiburg 1969. Thomas Ring: Astrologie ohne Aberglauben. Düsseldorf/Wien 1972. Thomas Ring: Astrologische Menschenkunde. Band 4: Das lebende Modell. Freiburg 1973. Thomas Ring: Astrologie neu gesehen. Der Kosmos in uns. Freiburg 1977. Francesca Rochberg: In the Path of the Moon. Babylonian Celestial Divination and Its Legacy. Leiden/Boston 2010. Lance Storm: Psi, Divination and Astrology: A Brief Introduction. In: Australian Journal of Parapsychology 7/1 (2007), S. 47–51. Corinna Treitel: A Science for the Soul. Occultism and the Genesis of the German Modern. Baltimore 2004. Kocku von Stuckrad: Geschichte der Astrologie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neuauflage. München 2007. Kocku von Stuckrad: Discursive Study of Religion: Approaches, Definitions, Implications. In: Method and Theory in the Study of Religion 25/1 (2013), S. 5–25. Kocku von Stuckrad: Die Seele im 20. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte. Paderborn 2019. Kocku von Stuckrad: Undisciplining the Study of Religion: Critical Posthumanities and More-than-human Ways of Knowing. Religion (21 September 2023), DOI: 10.1080/0048721X.2023.2258705 (Open Access). Roy Willis/Patrick Curry: Astrology, Science and Culture: Pulling Down the Moon. London 2004. Edgar Wunder: Erfahrung, Wissen, Glaube – ihr Beziehungsgeflecht bezüglich der Astrologie. In: Zeitschrift für Anomalistik 2 (2002), S. 275–287.
Glaubwürdigkeit als fragile Ressource?
Strategien der Legitimation am Beispiel der deutschen Parapsychologie nach 1945 Anna Lux
Einleitung
An der Universität in Freiburg wurde 1954 die erste und einzige Professur für Grenzgebiete der Psychologie in der Bundesrepublik eingerichtet. Ihr Inhaber war der Psychologe und Parapsychologe Hans Bender (1907–1991). Gut 40 Jahre später, 1998, wurde die Professur in ihrer Denomination aufgehoben. Heute gibt es weder in Freiburg noch an einer anderen Universität eine ähnliche Professur. Rückblickend könnte man die Geschichte der Parapsychologie als gescheitert erzählen, als eine universitätsgeschichtliche Sackgasse. Zeitgenössisch jedoch war die Frage nach ihrer Zukunft keineswegs entschieden. Vielmehr lassen sich in den 1950er bis 1970er Jahren intensive Aushandlungsprozesse zu der Frage beobachten, ob die Parapsychologie eine legitime Wissenschaft ist oder nicht. Innerhalb dieser Debatten spielte die Frage nach Glaubwürdigkeit eine zentrale Rolle. Glaubwürdigkeit ist eine Ressource, die man nicht ›selbst herstellen‹ kann, sondern die einer Person oder Sache (Quelle oder Institution) zugesprochen wird. Mit dem Verb glauben bewegen wir uns zugleich in einem Feld, in dem es gerade nicht um (erfahrungsbasiertes) Wissen geht. Wenn man etwas oder jemanden für glaubwürdig hält, dann glaubt man – ohne Beweise zu haben – dass etwas wahr oder jemand wahrhaftig ist. Man weiß es nicht, man hat keine absolute Gewissheit. Aber man verlässt sich darauf, bis zum Beweis des Gegenteils. Erst wenn Glaubwürdigkeit erschüttert wird, erscheint der Glauben in die Sache oder an die Person nicht mehr als gerechtfertigt (vgl. Dernbach/ Meyer 2005, 15). Im wissenschaftlichen Feld, so Bruno Latour und Steve Woolgar, ist die Glaubwürdigkeit von wissenschaftlichen Akteuren maßgeblich dafür verantwortlich, dass ihre Forschungen, Methoden und Ergebnisse als zuverlässig anerkannt werden (Latour/Woolgar 1982). Im Sinne eines Cycle of Credibility (Glaubwürdigkeitszyklus) bedingen Glaubwürdigkeit und die Anerkennung als ›gute‹, also zuverlässige, oder grundlegender, legitime Forschung einander. Erst durch eine zyklisch verlaufende Anerkennung innerhalb wie außerhalb der Disziplin erhalten die Forschungsergebnisse ihren Wert. Dieser Wert
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kann sich dann wiederum positiv auf die Glaubwürdigkeit auswirken und neue Möglichkeiten der Finanzierung und Bildung von Strukturen eröffnen. Glaubwürdigkeit erscheint bei Latour und Woolgar als eine Art Währung im Wissenschaftssystem. Hat man viel davon, führt dies dazu, dass wissenschaftliche Erkenntnisse als Fakten anerkannt werden und man weitere Ressourcen mobilisieren kann.1 Im Rahmen meiner Forschungen zur Geschichte der deutschen Parapsychologie habe ich verschiedene Dimensionen herausgearbeitet, um die wechselhafte Geschichte des Fachs zu beschreiben (Lux 2021). Meine These ist, dass es jeweils ein komplexes Wechselspiel zwischen Entwicklungen innerhalb und außerhalb des Fachs waren, die seine Geschichte nach 1945 bedingte. Glaubwürdigkeit und der Versuch, Glaubwürdigkeit auf verschiedenen Wegen herzustellen, spielte dabei eine wesentliche Rolle. Ausgehend von diesen Befunden fokussiere ich in diesem Aufsatz auf drei Punkte: Erstens geht es darum, einige Legitimations- und Kommunikationsstrategien von Bender aufzeigen und zu diskutieren, inwiefern diese zugleich Strategien des Rechtfertigens und/oder Überzeugens sind. Zweitens gilt es am Beispiel der Finanzierung darzustellen, wie die zugesprochene Glaubwürdigkeit sichtbar wurde. Drittens ist ausgehend von dem skizzierten turn in der Fachgeschichte Mitte/Ende der 1970er Jahren zu diskutieren, was eigentlich passiert, wenn Glaubwürdigkeit erschüttert wird. Und warum das passiert. 1.
Parapsychologie als Disziplin und Grenzgebiete der Psychologie in Freiburg
In ihrer Selbstbeschreibung versteht sich die Parapsychologie als Zweig der Psychologie. Sie befasst sich mit Phänomenen, die neben den vertrauten, »mit den gewohnten Begriffen unseres Weltverständnisses« fassbaren Vorgängen auftreten und mit (natur)wissenschaftlichen Erkenntnissen (noch) 1 Der Glaubwürdigkeitszyklus nach Bruno Latour und Steve Woolgar ist ein Konzept aus der Wissenschaftssoziologie, das sich mit der Konstruktion und Bewertung von Wissen in wissenschaftlichen Gemeinschaften befasst. Latour und Woolgar argumentieren, dass die Glaubwürdigkeit von wissenschaftlichen Fakten nicht einfach eine inhärente Eigenschaft ist, sondern durch soziale Prozesse und Interaktionen hergestellt wird. Der Glaubwürdigkeitszyklus besteht aus mehreren Phasen: Konstruktion, Repräsentation, Legitimation, Institutionalisierung und Anwendung. Zentral ist dabei, dass der Glaubwürdigkeitszyklus nicht linear verläuft, dass die Glaubwürdigkeit von wissenschaftlichem Wissen immer wieder in Frage gestellt und neu verhandelt werden kann. Wesentlich sind dabei die sozialen und kontingenten Aspekte der Wissensproduktion.
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nicht erklärt werden können (Bender 1972, 29). Ihr Forschungsgegenstand sind Erscheinungen der außersinnlichen Wahrnehmung (Telepathie, Hellsehen, Präkognition) sowie Psychokinese (Materialisations- sowie Spukphänomene). Ihre Aufgabe sieht das Fach darin, diese Phänomene vorbehaltlos zu untersuchen und nach Theorien für ihre Erklärung zu fragen. Die Erforschung erfolgt mit qualitativen und quantitativen Methoden, das heißt durch die Untersuchung sogenannter Sensitiver, also von Menschen, die als paranormal besonders begabt gelten, oder von paranormal ›unauffälligen‹ Testpersonen. Ziel ist es jeweils, sog. Psi-Phänomene unter Laborbedingungen zu reproduzieren und zu analysieren. Zentrales Charakteristikum der Parapsychologie ist die ontologische Ungeklärtheit ihres Untersuchungsgegenstands sowie das Fehlen einer kohärenten Theorie zur Erklärung der angenommenen Existenz der Phänomene. Aus diesem Grund war und ist die Parapsychologie stets eine umstrittene Disziplin und ihre Geschichte immer auch die ihrer Kontroversen um Manipulation, Betrug und Täuschung. Vor diesem Hintergrund steht das Fach unter einem »höheren Legitimationsdruck« als etablierte Disziplinen, wie es bei Julian Bauer heißt. Und weiter: Orthodoxe und hochangesehene Disziplinen wie beispielsweise die Physik mussten ihre Vorgehensweise, die Bedeutung ihrer Arbeit und die Gültigkeit ihrer Ergebnisse zu dieser Zeit nicht im gleichen Maße und mit deutlich geringerer Intensität begründen, als es von Vertretern peripherer Felder verlangt wurde, die erst ihre eigene Institutionalisierung anstrebten und deshalb besonders gründlich und reflexiv ihr eigenes und das übrige wissenschaftliche Tun beobachteten und protokollierten. (Bauer 2014, 93f.)
Für das Verhältnis von Legitimation und Glaubwürdigkeit bedeutet dies für den Fall der Parapsychologie, wenn man Bauer folgt, dass die Glaubwürdigkeit von Personen auch Auswirkung auf die Anerkennung der Disziplin als legitime Wissenschaft hat. Beschreiben wir die Parapsychologie als eine umstrittene Wissenschaftsdisziplin, die sich selbst als Grenzwissenschaft beschreibt und als solche wahrgenommen wird und die unter besonderem Legitimationsdruck steht, gilt es auch nach der Rolle von Hans Bender zu fragen, ihrem wichtigsten Repräsentanten im deutschsprachigen Raum. Bender hatte früh das Ziel formuliert, die Parapsychologie als Wissenschaft im akademischen Rahmen zu verankern. Bereits in seiner Dissertation (1933) hatte er ein ambitioniertes anwendungsorientiertes Programm skizziert. Der Dissertation folgte eine zügige akademische Karriere. An der Universität Bonn habilitierte Bender 1941 und absolvierte parallel ein Medizinstudium in Freiburg. Wie viele Akademiker seiner Generation passte sich Bender politisch im
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Dritten Reich an und erlebte auf dieser Weise einen bruchlosen akademischen Aufstieg: 1941 wechselte er an die von den Nationalsozialisten gegründete Reichsuniversität Straßburg, wo er die Professur für Psychologie innehatte und an einem Grenzwissenschaftlichen Institut arbeitete (Hausmann 2006). Nach dem Krieg kehrte Bender in seine Heimatstadt Freiburg zurück, wo er die Umbruchssituation nutzte, um sein Ziel, die akademische Integration der Parapsychologie, weiter voranzubringen: 1946 gründete Bender in Freiburg die Forschungsgemeinschaft für psychologische Grenzgebiete, der einflussreiche Akteure aus Universität und Stadt angehörten. Die Forschungsstelle schuf die Voraussetzungen für die Einrichtung eines eigenen Forschungsinstituts, das 1950 unter dem Namen Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) gegründet wurde. Das IGPP besteht mit einer wechselvollen Geschichte bis heute und gehört zu den größten Einrichtungen seiner Art. Parallel zu seiner Arbeit an diesem privaten Forschungsinstitut war Bender seit Wiedereröffnung der Freiburger Universität 1946 an dem, wie es damals hieß, Institut für Psychologie und Charakterologie in der Lehre aktiv. 1954 erhielt er eine der umstrittenen Professuren nach §131, eingerichtet für Hochschullehrer, die nach dem Krieg nicht an ihre Universitäten hatten ›zurückkehren können‹ (Klein 2020, 67–74). Mit der Einrichtung dieser Professur für Grenzgebiete der Psychologie wurden die Grenzgebiete zu einem integralen Bestandteil des Psychologiestudiums in Freiburg. In den folgenden Jahren erfolgten die Stabilisierung dieser Stellung und ein bescheidener Ausbau. Im Zuge der Umstrukturierung des Psychologischen Instituts 1968 wurde eine eigene Abteilung »Grenzgebiete der Psychologie« eingerichtet; 1975 im Zuge der Emeritierung von Bender wurde die ursprünglich an seine Person gebundene Professur ›entpersonalisiert‹ und sein Nachfolger (und Schüler) Johannes Mischo (1930–2001) berufen. In den 1980er Jahren gab es in Freiburg also eine Art Doppelstruktur: das private IGPP mit Bender als Institutsleiter sowie die Professur unter Mischo. Im Lauf der 1980er/90er Jahre verlor das Fach innerhalb der Universität jedoch zunehmend an Rückhalt und eine Reihe von Konflikten führten zuletzt zur Umwidmung der Professur 1998. Heute besteht das IGPP als privates Forschungsinstitut und es gibt teilweise noch personelle Andockpunkte an die Universität. Strukturell jedoch sind die Grenzgebiete der Psychologie als Teil der Universität Geschichte. Die kurze Skizze zeigt Bender als einen Akteur, der – ein charismatischer Wissenschaftsakteur und erfolgreicher Netzwerker – die Fäden zusammenhielt, Ressourcen nutzte und sich anzupassen verstand, um seine Ziele zu erreichen. Zugleich zeigt sie die Geschichte eines Fachs, die wechselvoll und spannungsgeladen war, von Anpassungsleistungen im Dritten Reich ebenso geprägt wie vom Nutzen von Möglichkeitsräumen in der Nachkriegszeit. Bis
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in die 1970er Jahre erzählt sich die Geschichte aus Sicht der Disziplin durchaus als eine Erfolgsgeschichte, als die Geschichte der gelungenen Integration der Grenzwissenschaft Parapsychologie an die Universität. Diese Geschichte hängt eng mit den Legitimationsstrategien Benders zusammen, die unter bestimmten zeithistorischen Bedingungen fruchteten. 2.
Legitimationsstrategien und der Gewinn an Glaubwürdigkeit
Es können drei zentrale Strategien ausgemacht werden, die Bender nutzte, um die Parapsychologie als legitime Wissenschaft sowohl in der Academia als auch gegenüber der Gesellschaft darzustellen: erstens die Markierung der Parapsychologie als ›normale‹ Wissenschaft, zweitens ihre Beschreibung als ›nützlich‹, drittens eine von Bender auf die Öffentlichkeit hin ausgerichtete Wissenschaftspraxis, in dem Sinne, dass sie auf Transfer ausgerichtet war und in der Kommunikation über das wissenschaftliche Feld weit hinausreichte. Parapsychologie als ›normale‹ Wissenschaft Eine wichtige Legitimationsstrategie Benders war es, die Parapsychologie und ihre Forschungen als ›normal‹ in dem Sinne zu beschreiben, dass sie genauso wie ›etablierte‹ Disziplinen, wissenschaftlichen Standards verpflichtet ist.2 Immer wieder betonte er, dass die Parapsychologie mit gängigen sozialund naturwissenschaftlichen Methoden, Auswertungs- und Darstellungsformen arbeitet, ihre Untersuchungen unter Rückgriff auf moderne Technik und Apparate absolviert und strengen Kontrollmechanismen unterliegt. Die Inszenierung der Parapsychologie als ›normale‹ Disziplin diente dazu, sie von Bildern und Vorstellungen zu lösen, die mit der frühen Geschichte des wissenschaftlichen Okkultismus verbunden waren, also jener Erforschung 2 Zum Prozess einer gewissen ›Normalisierung‹ der Parapsychologie vgl. bereits Mauskopf/McVaugh 1980, die auf der Grundlage von Kuhns Konzept des Paradigmenwechsels (Kuhn 1962) argumentieren. Die Grundidee von Kuhns Konzepts liegt in der Vorstellung, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht nur durch eine allmähliche kumulative Entwicklung von Theorien erfolgt, sondern durch revolutionäre Umbrüche, bei denen ein etabliertes wissenschaftliches Paradigma durch ein neues Paradigma abgelöst wird. Nach Kuhn ist Wissenschaft nicht nur eine kontinuierliche Akkumulation von Wissen, sondern es gibt bestimmte Zeiträume, in denen eine bestimmte wissenschaftliche Denkweise, ein Paradigma, dominant ist. Ein Paradigmenwechsel tritt auf, wenn das bestehende Paradigma aufgrund von Anomalien, unerklärlichen Phänomenen oder internen Widersprüchen an Glaubwürdigkeit verliert. In dieser Phase der Krise kann ein neues Paradigma aufkommen, das eine alternative Sichtweise für die Anomalien bietet. Wenn genügend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das neue Paradigma akzeptieren, kommt es zu einem Paradigmenwechsel.
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von außergewöhnlichen Phänomenen um 1900 im Halbdunkel von Séancen (Wolffram 2009).3 Erst innerhalb dieser Inszenierung der Parapsychologie als ›normaler‹ Wissenschaft erfolgte bei Bender der Verweis auf die Besonderheiten des Fachs, wobei es ihm hier vor allem darum ging, ihren Pioniercharakter zu betonen: Die Parapsychologie sei ein noch »neue(r) Forschungszweig«, der sich erst spät und an wenigen Universitäten habe etablieren können. Die Akteure im Feld beschreibt Bender als forschende Entdecker auf unbekanntem Terrain. Parapsychologie als ›nützliche‹ Wissenschaft Zudem markierte Bender die Parapsychologie als ›nützliche‹, also gesellschaftlich relevante Disziplin. Damit begegnete er zum einen dem wachsenden Bedürfnis nach Expertise in dem Feld. In den 1950er Jahren spielte der Glaube an das Übernatürliche lebensweltlich eine große Rolle. Viele Menschen wandten sich nach dem Krieg in einer Mischung aus Scham, Schuld und Traumatisierung okkulten Ideen und magischen Praktiken zu. Sie suchten Geistheiler auf, gingen zu Wahrsagerinnen oder Wünschelrutengängern (Black 2021). Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach von 1958 ergab, dass die Hälfte der Menschen in der BRD an den »sechsten Sinn« glaubte. Bisher waren es vor allem Mediziner, Theologen, Juristen und Kriminologen gewesen, die sich zu dem Thema geäußert hatten. Doch seien ihre Strategien der Pathologisierung, Tabuisierung und strafrechtlicher Verfolgung der falsche Weg, so Bender. Es bedürfe einer Aufklärung, die durch empirische Forschung legitimiert und abgesichert sei. Und eine solche Aufklärung sowie eine damit verbundene Beratungstätigkeit könne nur von der Parapsychologie kommen. Unter dem Schlagwort einer »positive[n] Kritik des Aberglauben[s]« formulierte Bender eine Vorstellung von Aufklärung, die auf »die Vermittlung von Kenntnissen über Erscheinungsformen der Begegnung mit dem Ungewöhnlichen« basiert und in der es darum gehe, Begriffe und Konzepte für das Ungewöhnliche anzubieten, die »auch dem einfachen Menschen fasslich« sind; denn schon das »Nennen bannt bekanntlich die Dämonen.« (Bender 1950, 35) Die Strategie, die Parapsychologie als relevante und nützliche Wissenschaft zu legitimieren, verlief vor allem über das Leistungsangebot der Psychohygiene. Der Begriff war bereits im Namen des IGPP prominent platziert und 3 Ein wichtiger Vorläufer der wissenschaftlichen Untersuchung okkulter bzw. paranormaler Phänomene war die Society for Psychical Research (SPR), 1882 in London gegründet. Ihr gehörten namhafte Wissenschaftler:innen, Forscher und Interessierte an. Das Hauptziel der SPR war und ist es, wissenschaftliche Methoden zur Untersuchung von paranormalen Ereignissen zu verwenden. Sie führten Experimente und Studien durch, um Phänomene wie Telepathie, Hellsehen, Nahtoderfahrungen oder Geistererscheinungen zu erforschen.
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markierte die Grundausrichtung des Instituts als Verbindung von Forschung und Anwendungsorientierung. Über Psychohygiene als Leistungsangebot, also der Beratung von ›Betroffenen‹ sowie der allgemeinen Aufklärung, sollte parapsychologische Forschung eine zusätzliche Legitimität erfahren – jenseits der umstrittenen Frage nach der Existenz der Phänomene. Parapsychologie als öffentliche Wissenschaft Die Orte, an denen Bender die Parapsychologie als ›normal‹ und ›nützlich‹ inszenierte, waren keineswegs nur akademische Orte, wie etwa Lehrveranstaltungen, wissenschaftliche Publikationen oder Fachvorträge. Vielmehr agierte Bender öffentlichkeitswirksam und auf ganz unterschiedliche (Teil)Öf fentlichkeiten orientiert. Diese Kommunikationspraxis war zum einen eng verbunden mit dem skizzierten Gedanken, aufklärerisch zu wirken. Zum anderen ist die Strategie, sich auf mediale Logiken außerhalb der Wissenschaft einzulassen, vor dem Hintergrund der Disziplin als Grenzwissenschaft zu verstehen. Es ging auch darum, über diesen ›Umweg‹ im wissenschaftlichen Feld die eigene Position zu verbessern – dies im Übrigen generell ein Charakteristikum randständiger, (noch) nicht etablierter Disziplinen (Wessely 2007). In dieser doppelten Ausrichtung perfektionierte Bender im Laufe der Jahre seine Medienpräsenz. In einer, auch für Laien verständlichen Sprache und dem jeweiligen Medium angemessen, präsentierte er die Inhalte und Ergebnisse seiner Forschungen in reputablen Rundfunkformaten, in öffentlichen Vorträgen, in Beiträgen oder Interviews in Illustrierten oder Tageszeitungen sowie in dem in den 1950er Jahren noch neuen Medium Fernsehen. Damit erreichte er ganz unterschiedliche (Teil)Öffentlichkeiten und präsentierte die Parapsychologie als ›normale‹ Wissenschaft mit gesellschaftlicher Relevanz. Auf diese Weise konnte Bender den öffentlichen Diskurs über das Paranormale bis in die frühen 1970er Jahre wesentlich mitbestimmen. Für die Journalist:innen dieser Zeit galt er Autorität auf seinen Gebiet, als glaubwürdig und vertrauenswürdig. Rechtfertigen, Überzeugen – und die Bedeutung von Glaubwürdigkeit Die skizzierten Strategien können auch im Hinblick auf Rechtfertigen und Überzeugen diskutiert werden. Dabei scheint die Inszenierung der Parapsychologie als normale sowie nützliche Wissenschaft vor allem eine Form der Rechtfertigung zu sein, in dem Sinne, dass Bender hier Gründe, Erklärungen und Argumente anbot, um das Fach als wissenschaftliche Disziplin zu verteidigen und zu legitimieren. Das Ausgreifen auf andere Orte der Kommunikation, nämlich auf die Massenmedien und außer-wissenschaftliche Kommunikationsräume kann hingegen als Teil von Überzeugungsarbeit verstanden werden. Denn hier ging es
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nicht nur darum, an bestimmten Orten und auf bestimmte Weise Argumente und Wissen zu platzieren, sondern auch darum, lebensweltliche und damit auch emotionale Bezüge deutlich zu machen und auf diesem Weg die Überzeugungen und Vorstellungen der Adressaten zu beeinflussen und sie dazu zu bringen, Benders Perspektive anzunehmen oder zu teilen. Sowohl Rechtfertigen als auch Überzeugen sind eng mit Glaubwürdigkeit verknüpft. Beide Strategien dienten dazu, seine Glaubwürdigkeit zu stützen. Zugleich gilt, dass, um so mehr Bender als glaubwürdig wahrgenommen wurde, andere dazu bereit waren, seine Rechtfertigungs- und Überzeugungsarbeit anzuerkennen und sich darauf einzulassen. Fassen wir diesen Punkt zusammen, so zeigt sich, dass die von Bender praktizierten Legitimationsstrategien in dem Sinne erfolgreich waren, als dass sie sich in Glaubwürdigkeit ›übersetzten‹. Bender wurde auf Grund von Erfahrung und Sachkenntnis sowie seines Status als Wissenschaftler als kompetent anerkannt. Er galt innerhalb wie außerhalb des wissenschaftlichen Feldes als Experte für das Paranormale. Und seine Orientierung auf eine breitere Öffentlichkeit wurde gerade nicht als problematisch bewertet, sondern als Form von Aufklärung und der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung. Betrachten wir Kompetenz, Konsistenz und gesellschaftliche Verantwortlichkeit als wesentliche Faktoren bei der Entstehung von Glaubwürdigkeit (vgl. Dernbach/Meyer 2005), so konnte Bender auf all diesen Ebenen punkten. Er als Person wurde als glaubwürdig betrachtet, die Parapsychologie als legitime Wissenschaftsdisziplin bewertet. Mit der ihm zugesprochenen Glaubwürdigkeit gelang es Bender nicht nur, konkurrierende Positionen an den Rand zu drängen, sondern auch Ressourcen zu mobilisieren. 3.
Follow the Money. Förderung durch die DFG
Um das IGPP zu finanzieren, ging Bender verschiedene Wege. Neben der Akquise von privaten Spenden und Stiftungen warb er erfolgreich Drittmittel ein, unter anderem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Zwischen Anfang der 1950er und Ende der 1970er Jahre stellte Bender erfolgreich Anträge auf Sachbeihilfen für sieben Forschungsprojekte. Zudem erhielt eine Reihe seiner Schüler:innen Stipendien für Promotion und Habilitation, ihm wurden Mittel für internationale Tagungs- und Forschungsreisen bewilligt sowie für die Anschaffung von technischen Geräten. Nicht zuletzt wurde 1973 die Fachbibliothek des IGPP in das DFG-Förderprogramm für Spezialbibliotheken aufgenommen (diese Förderung bestand bis 2014).
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Die Bedeutung der DFG bei der Herstellung von Glaubwürdigkeit kann für die Wahrnehmung der Parapsychologie als legitimer Wissenschaft nicht unterschätzt werden. Sie wurde besonders dann sichtbar, als in den 1970er Jahren Benders Glaubwürdigkeit erschüttert und die Förderungen eingestellt wurden. Schauen wir jedoch zunächst auf die Kontexte der 1950er und 1960er Jahre, welche die oben genannte Förderung bedingten. Hier können drei Ebenen – eine strukturelle, eine förderstrategische sowie eine individuelle – unterschieden werden. 1951 als Nachfolgerin der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft gegründet, gehört(e) die DFG in Deutschland zu den wichtigsten Drittmittelgebern. Strukturell war die Förderpraxis zunächst vor allem auf renommierte Professoren orientiert, Patrick Wagner sprach entsprechend von der DFG als »Reservat der Ordinarien«. Dementsprechend war für die Bewilligungspraxis auch die Forscherpersönlichkeit vor dem Forschungsprojekt relevant. Das heißt Wissenschaftsakteure (Ordinarien), die bereits erfolgreich Projekte durchgeführt hatten, galten auch bei nachfolgenden Anträgen als besonders förderungswürdig (Wagner 2010a, 25). Ein dritter Aspekt, der für unseren Fall relevant ist, war, dass nur ein sehr kleiner Teil der Anträge von den Philosophischen Fakultäten kam (zu der auch die Psychologie gehörte), so dass vor diesem Hintergrund die Konkurrenz innerhalb der verwandten Fächer gering war. Waren diese strukturellen Bedingungen für Bender (wir für andere auch) günstig, so profitierte er explizit von förderstrategischen Entscheidungen innerhalb der DFG dieser Zeit. Denn seit den 1950er Jahren gab es die Bemühung, ausdrücklich Forschungen zu unterstützen, die als umstritten oder randständig galten. Ziel war es, wissenschaftlicher Innovation (oder gar revolutionären Entdeckungen) eine Chance zu geben. In einem Bericht von 1968 über die Förderpraxis der DFG heißt es zurückblickend, man habe verschiedene Maßnahmen ergriffen, um wissenschaftliche Außenseiter zu fördern und dabei »nicht versagt«: Der Hauptausschuss der DFG gab in Zweifelsfällen […] meist dem Außenseiter eine Chance. So ist kaum anzunehmen, daß die Forschungsgemeinschaft aus kleinlicher Bedenklichkeit oder in schulwissenschaftlicher Voreingenommenheit achtlos an bedeutenden Außenseitern vorübergegangen ist (Zierold 1968, 258f.).
Diese förderungsstrategische Richtungsweisung hat auch eine individuelle Dimension, die sich wiederum für Bender als günstig erwies. Der zitierte Text (und die Agenda, akademische Außenseiter zu fördern) stammten von Kurt Zierold (1899–1989), von 1951 bis 1964 Generalsekretär der DFG und einer der
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einflussreichsten Akteure in der DFG. Zierold vertrat nicht nur abstrakt eine Idee von der Förderung wissenschaftlicher Visionäre bzw. Grenzgänger, sondern unterstützte ganz konkret auch Hans Bender und dessen Forschungen. Zierold war davon überzeugt, »dass die Parapsychologie der wissenschaftlichen Behandlung bedürfe« und dass Bender »allein dafür in Frage« käme.4 Auf unterschiedlichen Ebenen profitierte Bender so von den Bedingungen der Förder- und Bewilligungspraxis der DFG der 1950er und 1960er Jahre. Auf diese Weise ermöglichte die DFG dem Institut bis in die 1970er Jahre eine mehr oder weniger kontinuierliche Forschungsarbeit. Mindestens ebenso wichtig war ihre Funktion als gatekeeper im wissenschaftlichen Feld. Ihre Förderung wirkte als eine »Art notarielle Beglaubigung« (Wagner 2010b, 351) für die Parapsychologie, seriöse und förderungswürdige Wissenschaft zu sein und für Bender, ein glaubwürdiger und zuverlässiger Wissenschaftsakteur zu sein. Entsprechend agierte sie gegenüber dem Fach in den 1950er und 1960er Jahren in ihrem Selbstverständnis als Innovationsmotor und stabilisierte/förderte damit den Status der umstrittenen Disziplin. Dies sollte sich in den späten 1970er Jahren ändern – bedingt durch tiefgreifende strukturelle und personelle Veränderungen innerhalb der DFG selbst5 sowie durch einen Wandel des Stellenwerts der Parapsychologie in Öffentlichkeit und Wissenschaft seit Mitte der 1970er Jahre. 4.
Turn Mitte der 1970er Jahre
Parapsychologie als die ›Wissenschaft der Stunde‹? Mitte der 1970er Jahre hatte sich die massenmediale Aufmerksamkeit für ›das Außergewöhnliche‹ deutlich erhöht. Hintergrund waren Medienereignisse wie der sog. Weltstar des Übersinnlichen, Uri Geller, Filme wie Der Exorzist sowie die wachsende Popularität der New-Age-Bewegung. Bender beobachtete diese Prozesse mit großem Interesse und sah sie als Chance bei der weiteren Etablierung der Parapsychologie. Er war davon überzeugt, dass sein Fach geeignet sei, mit den aktuellen Herausforderungen umzugehen: Mit Psychohygiene könne man der aktuellen »okkulten Welle« 4 Brief von Kurt Zierold an Hans Bender vom 5. Februar 1987, abgedruckt in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, Sonderheft: Professor Dr. Dr. Hans Bender zum 80. Geburtstag, Jg. 29, H. 1, 1987, o. S. [Hervorhebung AL]. 5 Bedingt durch einen Generations- und Mentalitätswechsel sowie durch Prozesse von Ausbau, Pluralisierung und Demokratisierung änderten sich Arbeitsweise, Förderlogik sowie Förderpraxis in der DFG grundsätzlich. Dabei wurde unter anderem auch der Einfluss einzelner Akteure zurückgedrängt.
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und den »abergläubische[n] Verzerrungen« in Folge von »Gellermanie« und Teufelsglauben begegnen (Bender 1977, 8). Die empirischen Erkenntnisse des Fachs könnten zudem zum Verstehen des in der New-Age-Bewegung formulierten Bedürfnisses nach Bewusstseinserweiterung beitragen. Generell sei die aktuelle Faszination für das Paranormale nichts Neues, sondern Ausdruck jener »uralten Fragen nach dem Wesen der Materie, nach der Existenz eines geistigen Prinzips, nach dem Verhältnis von Leib und Seele« (ebd., 10f.). Doch würden bisherige christliche und säkulare Deutungsangebote nicht mehr ausreichen. Der Schlüssel zur Beantwortung dieser ›alten‹ Fragen sei vielmehr die Psyche. Sie verweise auf eine ›andere Wirklichkeit‹ als Teil einer erweiterten Natur. Und gerade diese »neuen Dimensionen der Psyche«, die mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erfasst werden könnten, seien Gegenstand der parapsychologischen Forschung, so Bender. Entsprechend sprach er seiner Disziplin eine wesentliche Rolle in diesen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu (Bender 1989, 11). Die massenmediale Aufmerksamkeit für das Paranormale erhöhte zugleich die Aufmerksamkeit für die Parapsychologie und damit die Sichtbarkeit Benders. Seine Bücher erschienen bei Herder und Rowohlt. Er gab eine Vielzahl von Interviews für Zeitungen, im Rundfunk und Fernsehen. Auch im Feld der Wissenschaft standen die Zeichen auf Verstetigung. Nachdem Bender 1975 emeritiert worden war, hatte sein Schüler Johannes Mischo die Professur übernehmen und damit zunächst Kontinuität herstellen können. Auch interdisziplinär stieg das Interesse an den Forschungen der Parapsychologie. 1974 fand bspw. in Genf eine Tagung mit Physikern zum Thema »Quantenphysik und Parapsychologie« statt. Mitte der 1970er Jahre kann so als Höhepunkt der deutschen Parapsychologie betrachtet werden – und zugleich als turn. Denn nur wenige Jahre später stand Bender massiv unter Druck. Er wurde in der Presse angegriffen, die DFG hatte die Fördermittel eingestellt, und der Bundesgerichtshof sprach der Parapsychologie nicht nur ab, als Gutachterin in Gerichtsprozessen aufzutreten, sondern im Grunde überhaupt Wissenschaft zu sein. Innerhalb kurzer Zeit war die Glaubwürdigkeit Benders massiv erschüttert und die Legitimität der Parapsychologie als Wissenschaft grundsätzlich in Frage gestellt. Was war passiert? Rückkehr der Kontroverse Mitte der 1970er Jahre war die Kontroverse um die Parapsychologie – eine Kontroverse um Betrug und Täuschung – zurückgekehrt. Dies hing zum einen mit Fällen von Manipulation zusammen, die in der naturwissenschaftlichquantifizierenden Forschung der Parapsychologie im amerikanischen Durham aufgedeckt worden waren. Die Ereignisse führten zu einer großen
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Verunsicherung in der Fachcommunity und rückte die grundlegende Frage nach der Existenz von Psi wieder in den Fokus. Verliefen diese Debatten eher innerfachlich und ohne großes öffentliches Aufsehen, gilt dies nicht für die Diskussionen um das Phänomen Uri Geller. Der »Löffelbieger« wurde in den 1970er Jahren weltweit durch zahlreiche öffentliche Auftritte berühmt; er behauptete, durch außersinnliche Fähigkeiten Löffel verbiegen, Uhren reparieren und Kompassnadeln ablenken zu können. Gellers Popularität provozierte heftige Diskussionen über Betrug und Täuschung und stärkte die Position der sog. Skeptikerbewegung, die in den folgenden Jahren an Einfluss im Diskurs über das Paranormale gewinnen sollte.6 Dabei ging es den Akteuren dieser Bewegung nicht nur um die Aufdeckung von Betrug, sondern um die Deutungsmacht im Umgang mit dem Paranormalen an sich, und sie sagten der Parapsychologie und ihren Vertreter:innen den Kampf an. Im Zuge der Rückkehr der Kontroverse um die Existenz von Psi in den 1970er Jahren verschoben sich auch die Verhältnislagen in Bezug auf die Frage nach der Legitimität oder Delegitimität der Parapsychologie als Wissenschaft. Die Glaubwürdigkeit von Bender spielte dabei eine zentrale Rolle. Geller und die Folgen Das Phänomen Geller wurde ebenfalls in der Wissenschaft diskutiert.7 Bender war von den Effekten beeindruckt und versuchte Untersuchungen mit sog. »Mini-Geller« durchzuführen, die von sich behaupteten, ähnliche psychokinetische Effekte zu produzieren. Während andere in der parapsychologischen Community zurückhaltend und skeptisch waren, war Bender euphorisch und überzeugt, dass es nur den nötigen experimentellen Rahmen brauche, um die Effekte erfolgreich untersuchen zu können. In dieser Phase öffentlicher Erregtheit wurde Bender nun noch häufiger als zuvor von den Medien angefragt, um sich zu konkreten Fällen oder generell zum Thema Psychokinese zu äußern. Im Sinne seines Verständnisses von öffentlicher Wissenschaft und euphorisiert durch die öffentliche Aufmerksamkeit kam Bender diesen Anforderungen nach (auch wenn die Befunde keineswegs eindeutig waren). Damit machte er 6 In den USA entstand 1976 das Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal (CSICOP), dessen bekanntester Vertreter eine nicht weniger schillernde Persönlichkeit war wie Geller nämlich James »the Amazing« Randi. Im deutschsprachigen Raum entstand 1987 die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP). 7 Zu einem Teil des wissenschaftlichen Diskurses wurden die Darbietungen von Geller, nachdem 1974 die beiden Physiker Russell Targ (*1934) und Harold Puthoff (*1936) vom Stanford Research Institute Gellers angebliche hellseherische Fähigkeiten untersucht und einen Beitrag in der renommierten Zeitschrift Nature veröffentlicht hatten (Targ/Puthoff 1974).
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sich als öffentliche Person immer mehr angreifbar. Konnte er als Experte für das Paranormale in Zeiten einer weitgehenden öffentlichen Tabuisierung in den 1950er und 1960er Jahren Glaubwürdigkeit gerade aus dieser Randstellung generieren, so kippte das Verhältnis in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. In der Medienberichterstattung erschien er nun zunehmend nicht mehr als ›Vorkämpfer‹ und Entdecker auf unbekanntem Terrain, sondern als naiv und voreingenommen. Und dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf den Cycle of Credibility. Der bereits angekündigte Bruch in der Kooperation zwischen Bender und der DFG lässt sich auf ein konkretes Ereignis im Jahr 1977 zurückführen. Der Bruch hing zusammen mit Claus Rahn (*1947), einem Medium, das als ›besser als Geller‹ galt. Auch Bender hielt Rahn – trotz Vorwürfen der Täuschung – für ein »untersuchungswürdiges Versuchssubjekt«8. Gemeinsam mit dem Münchener Experimentalphysiker Hans-Dieter Betz (*1940) führte Bender Untersuchungen mit Rahn durch, die ohne eindeutigen Befund blieben. Anfang 1977 veröffentlichte dann allerdings eine Fernsehsendung im WDR Interviews mit Bender und Betz, in der sie von ihren Forschungen mit Rahn berichteten. In derselben Sendung wurde Rahn dann zugleich der Manipulation überführt.9 Der Fall wurde zu einem öffentlichen Skandal; die BILD-Zeitung titelte »Bremerhavens ›Uri Geller‹ beschwindelte Hunderttausende. Sogar Wissenschaftler fielen auf ihn herein – sein Löffel hing an einem Faden«. Infolgedessen standen jedoch nicht nur die beiden Forscher unter Druck, sondern auch die DFG. In der Sendung war sie als Geldgeber genannt worden und zog nun die Reißleine: Die Finanzierung des Untersuchungsprogramms über Psychokineseeffekte in München wurde gestoppt; weitere Anträge zu Forschungsprojekten des IGPP, aber auch kleinere Posten (z. B. Reisemittel), die zuvor unkompliziert bewilligt worden waren, wurden abgelehnt: »Wir kriegen überhaupt keine Zuschüsse mehr wegen dieser Sache«, so Bender im Mai 1977 in einem Gespräch, »schauderhaft«.10 Der Rückzug der DFG als Mittelgeber verschob innerwissenschaftlich den Status der Parapsychologie wieder stärker an den Rand. Er war aber auch Ausdruck eines breiteren Prozesses, innerhalb dessen die Legitimität des Fachs als wissenschaftliche Disziplin immer mehr in Frage gestellt wurde. Diese Ereignisse und vor allem ihre Auswirkungen müssen zugleich im Zusammenhang 8 9 10
Hans Bender in einem Brief an Claus Rahn, in: Archiv des IGPP, E/23, Nr. 851: PK: Claus Rahn, 1975–1977, unpag. Vgl. TV-Sendung Kraft durch Psi, Regie: Herbert Hübenthal, Erstausstrahlung am 2. Januar 1977, 19:15 Uhr, WDR 3. Abschrift eines Telefonats zwischen Hans Bender und Herrn Reiniger vom 2. Mai 1977, in: Archiv des IGPP, E/23: 851, PK: Claus Rahn, 1975–1977, unpag.
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mit größeren gesellschaftlichen Veränderungsprozessen gesehen werden. Dies betrifft zum einen die Veränderungen im religiösen Feld und in der Medienwelt sowie Verschiebungen im Feld der Justiz. New Age und Parapsychologie Generell gestaltete sich für Bender das Verhältnis von Religion und Wissenschaft nicht als etwas sich Ausschließendes, das in Konkurrenz steht. Es ging ihm nicht darum, Wissenschaft gegen Religion zu setzen, sondern darum, Fragen, die bisher religiös verhandelt worden waren, wissenschaftlich anzugehen und danach zu fragen, welche Funktion daraus entstehende Erkenntnisse für das Feld der Religion haben. Dies betraf zum einen die Phänomene selbst. Denn das, was die Parapsychologie als Psi untersuchte, war zuvor jahrhundertelang im Kontext christlicher Religionen als religiöses Wunder verhandelt worden. Überschneidungen zwischen Religion und Parapsychologie gab es zudem dort, wo es um letzte Fragen ging. Was im Feld Religion durch den Glauben an Gott oder ein Jenseits beantwortet wurde (also als Transzendenz), erfolgte in der Parapsychologie durch die Interpretation als Immanenz, basierend auf der Annahme von verborgenen menschlichen Fähigkeiten und weltlichen, also nicht spirituell-geistlichen, Strukturen (Sziede/Zander 2015). Die große Popularität der New-Age-Bewegung in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik (Knoblauch 2009) bedeutete für die Parapsychologie eine Veränderung ihrer Beziehung zum religiösen Feld. Denn die New-Age-Bewegung knüpfte ebenfalls an jene heterodoxen Wissensbestände an, die im Mittelpunkt parapsychologischer Forschung standen. Zudem bezogen sich ihre Vertreter:innen stark auf die Disziplin, eigneten sich ihre Erkenntnisse an und machten sie zum Bestandteil der eigenen Deutungsmuster (Eitler 2007). Bender beobachtete die Entwicklungen mit großem Interesse und agierte an seinen bewährten Strategien festhaltend weiterhin eher integrierend als exkludierend, eher Grenzen überschreitend als Grenzen ziehend, etwa wenn er dem Sprachrohr der New-Age-Szene Esotera ausführliche Interviews gab.11 Insgesamt betrachtete er die Dynamisierungsprozesse nicht als Bedrohung im Hinblick auf die Legitimität der Parapsychologie als Wissenschaft. Vielmehr sah er in ihnen eine Chance, Parapsychologie als ›neue Wissenschaft vom Menschen‹ zu etablieren und zusätzlich bzw. grundsätzlich zu legitimieren.
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Vgl. das Interview mit Prof. Hans Bender über seine Tests mit dem Medium Matthew Manning, in: Esotera, Jg. 26, Nr. 2/1975, 104–107. Weitere Interviews widmeten sich der Arbeit Benders mit Croiset (Esotera, Jg. 31, Nr. 9/1980, 828–829) oder waren Benders 75. Geburtstag gewidmet, in: Esotera, Jg. 33, Nr. 3/1982, 242–245).
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Zugleich hatten diese Prozesse aber Auswirkungen darauf, wie die Parapsychologie wahrgenommen wurde. Exemplarisch zeigen dies die Ausführungen des Münchener Soziologen Gerald L. Eberlein (1991), der die Disziplin als »Parawissenschaft«, als Hybrid aus Wissenschaft und Religion, beschrieb. Nach ihm erhebe die Parapsychologie den Anspruch auf ›wahres‹ Wissen. Sie ziele eben nicht auf die Generierung von objektivem Wissen, sondern sei »Religionsersatz« und ausgerichtet auf die Vermittlung von »Heils- und Orientierungswissen« (ebd., 114). Durch die Markierung der Parapsychologie als Teil des religiösen Feldes verloren die Aussagen von Bender im Diskurs über die Parapsychologie als Wissenschaft an Konsistenz und Glaubwürdigkeit. Dies galt für das wissenschaftliche Feld. Es galt aber auch für die Justiz und damit für jenes Feld, in dem jahrelang erbittert darum gestritten worden war, wer als Experte für das Paranormale gilt. Justiz und Parapsychologie In den 1950er und 1960er Jahren wurde Bender, wie oben skizziert, als Experte für das Paranormale wahrgenommen und in dieser Funktion auch von Polizei und Justiz angefragt. Konkret gab es bspw. Versuche, parapsychologische Kenntnisse zu nutzen, um Verbrechen (z. B. Vermisstenfälle) aufzuklären (Schellinger 2016). Dies änderte sich Ende der 1970er Jahre. In einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) von 1978 sprach das Gericht nicht nur Bender ab, als Sachverständiger geeignet zu sein, sondern urteilte vielmehr auch über den Status der Parapsychologie als Wissenschaft, wenn es hieß: Auch wenn man nicht so weit geht, die Parapsychologie für wissenschaftsfeindlich zu halten […], so gilt jedenfalls im Bereich des Strafverfahrens immer noch die Regel, daß die hier in Rede stehenden Kräfte nicht beweisbar sind, sondern lediglich dem Glauben oder Aberglauben, der Vorstellung oder dem Wahne angehören und daher, als nicht in der wissenschaftlichen Erkenntnis und Erfahrung des Lebens begründet, vom Richter nicht als Quelle realer Wirkungen anerkannt werden können […].12
Unter Rückgriff auf ein Urteil von 1900 (Dorn-Haag 2016) wurde mit dem BGHUrteil von 1978 die Parapsychologie dem Feld des Glaubens und Aberglaubens und damit der Religion zugeschlagen und ihre Legitimität als Wissenschaft grundsätzlich in Frage gestellt. Das Urteil verdeutlicht einen Wandel in der Positionierung der Juristen im Umgang mit ›dem Okkulten‹ (Lux 2021). In den 1950er und 1960er Jahren hatte in der Rechtssprechung auf dem Gebiet eine Position der Enthaltung 12 BGH-Urteil vom 21. Februar 1978 (AZ: 1 StR 624/77), Abs. 22.
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überwogen. Das heißt, die Gerichte hatten sich in Fällen von sog. Okkultkriminalität,13 der Frage enthalten, ob es die Phänomene tatsächlich gibt; sie erschien für das Verfahren als nicht relevant. Wenn es im Verfahren bspw. um Betrug durch einen Hellseher ging, bewerteten sie ausschließlich den Sachverhalt des Betrugs. 1978 markierte diesbezüglich eine Zäsur. Ab nun nahm das Gericht (und nimmt es bis heute) die Position der Entscheidung ein. Das heißt, in entsprechenden Fällen wird davon ausgegangen, dass die jeweiligen Phänomene nicht existieren, also nicht Teil von Wirklichkeit sind – und auf dieser Grundlage werden die Urteile bis heute gefällt (Kudlich 2004). Wesentlich ist zudem, dass sich die Richter im BGH-Urteil von 1978 auf die Aussagen von zwei sog. Okkult-Kritikern oder Skeptikern stützten. Der Mannheimer Richter Wolf Wimmer (1935–2004) und der Gerichtsmediziner Otto Prokop (1921–2009) waren beide erbitterte Gegner von Bender. Aus ihrer Perspektive war die Parapsychologie für die Verbreitung und Förderung von Hexenwahn und Aberglaube maßgeblich verantwortlich. Als Pseudowissenschaft habe sie sich in die Universitäten ›eingeschlichen‹ und betreibe dort »modernen Aberglaube im Gewand der Wissenschaft«.14 Seit den 1950er Jahren waren die Kritiker der Parapsychologie gegen das Fach und Bender vorgegangen. Doch erst unter den gewandelten Bedingungen der 1970er Jahre gelang es ihnen, sich im Diskurs gegen Bender durchzusetzen. Im Feld der Rechtsprechung, aber auch in den Medien, galten nun sie als die Experten für das Paranormale. Der Glaubwürdigkeitsverlust Benders ging mit einem Glaubwürdigkeitsgewinn der Skeptiker einher. Die Rolle der Medien Ein einflussreicher, im Vergleich zu den 1950er und 1960er Jahren nun allerdings zunehmend kritischer player im Diskurs um die Parapsychologie waren die Massenmedien. Ihre nun verstärkt kritische Positionierung hatte wesentlich mit der Entstehung eines eigenständigen Wissenschaftsjournalismus zu tun sowie mit der Etablierung eines dezidiert »kritischen Journalismus« seit den 1960er Jahren in Deutschland (Hodenberg 2006). Diese Prozesse veränderten auch die Position der Medien zu Wissenschaftsexperten und Fachautoritäten generell. Ihre Ergebnisse wurden zunehmend kritisch hinterfragt und eigene Recherchen angestellt. Dem »kritischen Journalismus« folgte Mitte 13
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Der zeitgenössische Begriff ›Okkultkriminalität‹ bezieht sich auf kriminelle Handlungen, die mit okkulten Praktiken, Riten oder Überzeugungen in Verbindung gebracht werden (z. B. Betrug im Zusammenhang mit okkulten Praktiken) oder Verbrechen, die im Namen des Okkulten begangen werden (z. B. ritueller Missbrauch). So der Titel eines Artikels im Neuen Deutschland von 1975, zitiert nach Schmied-Knittel/ Anton/Schetsche 2016, 231.
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der 1960er Jahre eine »Radikalisierung der Kritik« in der journalistischen Praxis (ebd.). Auch in Auseinandersetzung mit Bender verschärfte sich nun der Ton deutlich. Er geriet in seinem Status als wissenschaftliche Autorität massiv unter Druck, seine Glaubwürdigkeit wurde explizit in Frage gestellt. Vor allem war dies in einflussreichen Medien wie Spiegel, Stern oder Die Zeit der Fall und ging einher mit einer eine kritischen Positionierung gegenüber Religion und insbesondere der New-Age-Bewegung (Hannig 2010). Infolge einer skandalisierenden und stark auf die Person Benders ausgerichteten Berichterstattung änderte sich in kurzer Zeit das öffentliche Bild des Parapsychologen. Noch bis Mitte der 1970er Jahre war Bender in den Medien als Experte wahrgenommen und präsentiert worden. 1974 hatte der in der Regel kritisch zum Thema berichtende Spiegel die Arbeit der Parapsychologie als »diskutabel« bezeichnet ([Anonym] 1974). Der Wissenschaftsjournalist Thomas von Randow hatte in einer Ausgabe der Zeit aus demselben Jahr von der Parapsychologie als einer Wissenschaft gesprochen, »derer wir so dringend bedürfen« (von Randow 1974). Bender wurde von von Randow als »feinsinnig und klug« bezeichnet (ebd.). Wenige Jahre später überwog die kritisch-skeptische Position gegenüber der Parapsychologie, die nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit Bender war. Das Problem der Parapsychologie, so von Randow 1978 in der Zeit, seien die Parapsychologen, denn sie beschränkten sich nicht darauf, über ihre umstrittenen Befunde in Fachkreisen zu debattieren, sondern sind begierig darauf bedacht, die Laienwelt glauben zu machen, daß es das zwischen Himmel und Erde wabernde Unerklärbare tatsächlich gibt (von Randow 1978).
Auch im Spiegel erschien die Parapsychologie nun als »Kabarett der Täuschungen«, »bevölkert von leichtgläubigen Wissenschaftlern und fingerfertigen Scharlatanen« ([Anonym] 1983). Angesichts der veränderten Bedingungen wurde Bender nun zunehmend Glaubwürdigkeit abgesprochen. Seine Aussagen erscheinen nicht mehr als konsistent, sondern als unberechenbar (etwa im Fall Rahn). Indem er den Grenzbereich zwischen Religion und Wissenschaft nicht nur weiter durchlässig ließ, sondern sogar weitere Überschneidungszonen schuf, erschien er als Forscher zunehmend weniger kompetent, sondern als vorurteilsbelastet. Auch sein Streben nach Transfer und öffentlicher Wissenschaft erwies sich nun als Bumerang. Die öffentliche Präsenz wurde nun zunehmend als problematisch wahrgenommen, als ein unangebrachtes Buhlen um öffentliche Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt wurde in den Medien seine moralische Integrität in Frage gestellt, u. a. mit Verweis auf seine Karriere im Dritten Reich ([Anonym] 1977).
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Anna Lux
Schluss
Legitimationsstrategien und Glaubwürdigkeit sind etwas Vages, etwas, das oft implizit bleibt und nicht explizit kommuniziert wird. In dem Beitrag habe ich versucht, beide in ihrer Wechselwirkung genauer zu bestimmen und am Beispiel der Parapsychologie zu diskutieren. Dabei wurde deutlich, wie Strategien zur Herstellung von Legitimität, des Rechtfertigens und Überzeugens auch Glaubwürdigkeit ›herstellen‹ können, wie Glaubwürdigkeit wiederum als Ressource zur Herstellung von Legitimität wirksam werden kann und was passiert, wenn Glaubwürdigkeit ›abgesprochen‹ wird. Gerade am Beispiel der Parapsychologie ließ sich beobachten, wie innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums der Cycle of Credibility an Fahrt aufnahm, dann ausgebremst wurde und – um im Bild zu bleiben – ›rückwärts‹ lief, so dass der Verlust von Glaubwürdigkeit zur Delegitimierung des Wissenschaftsfelds beitrug. Zugleich waren für die Rasanz und Massivität des Legitimitätsverlusts neben innerfachlichen Entwicklungen die Veränderung der Kontexte verantwortlich, insbesondere im religiösen Feld, in der Justiz sowie in der Medienwelt. Eine wichtige Rolle spielten dabei jeweils Akteure ›mit Reichweite‹, die Bender Glaubwürdigkeit zu- oder absprachen, also einflussreiche Akteure aus dem Feld der Wissenschaft, aus der Politik, in der DFG sowie Journalist:innen. In nur wenigen Jahren hatte sich die Situation für die deutsche Parapsychologie massiv verändert. Anders als von Bender Ende der 1960er Jahre erwartet (und erhofft), war die Zukunft des Fachs Ende der 1970er Jahre keineswegs gesichert, sondern hochgradig unsicher. Der tiefgreifende Wandel, in dem sich die Gesellschaft der Bundesrepublik in den 1970er Jahren befand, hatte maßgeblichen Einfluss auch auf eine Disziplin, die in einem solchen Maße wie die deutsche Parapsychologie Grenz-Wissenschaft war. Glaubwürdigkeit erschien dabei als eine fragile Ressource – die einen hohen Wert hat für die Legitimität des eigenen Handelns, die aber nicht ›sicher‹ oder gesichert und damit dauerhaft verfügbar ist. Bibliographie [Anonym]: Parapsychologie: »Ich weiß nicht, wie«. In: Der Spiegel vom 28. Januar 1974. [Anonym]: Dr. psi. In: Der Spiegel vom 28. Februar 1977. [Anonym]: Radio Jenseits. In: Der Spiegel vom 5. September 1983. Julian Bauer: »Gerichtetes Wahrnehmen«, »Stimmung«, »soziale Verstärkung«. Zur historischen Semantik einiger Grundbegriffe der Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. In: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 22,1/2 (2014), S. 87–109.
Glaubwürdigkeit als fragile Ressource?
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Anna Lux
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»C’était devenu un aller-de-soi.«
Redundante Rechtfertigungsstrategien in autobiographischen Zeugnissen von Tätern im Rückblick auf den Genozid an den Tutsi 1994 Anne D. Peiter 1.
Gerechtes und sein Gemachtes
Der Tutsizid des Jahres 1994 ist das Ergebnis einer langen Geschichte von eskalierenden, innen- wie außenpolitischen Konflikten gewesen, die sich durch die ethnifizierende Separierung von drei Bevölkerungsgruppen schließlich zum Paroxysmus einer Gewaltwelle steigerten, die alle vorherigen Massaker und Pogrome übertraf. Innerhalb von drei Monaten fanden über eine Million Menschen den Tod. Im Folgenden soll es um die Frage gehen, wie Täter, denen nach dem Genozid der Prozess gemacht werden konnte, im Kontakt zu dem französischen Journalisten und Enkel von Shoah-Überlebenden Jean Hatzfeld ihre Morde zu rechtfertigen versuchten. Versucht wird eine Analyse ihrer Argumentationstechniken und ›Begründungen‹. Ziel der Interpretationen ist es, zu einer ›Innenperspektive‹ der Täter zu finden, um auf diese Weise Einblick in kollektive Mechanismen zu gewinnen, die den Schritt hin zur äußersten, systematischen Gewalt und ihrem Ziel der gänzlichen Vernichtung von vermeintlichen ›Feinden‹ befördern. Die Schwierigkeit wird darin bestehen, dass das, was den Tätern als ›Rechtfertigung‹ erschien, von Außenstehenden nur mit Distanz zur Kenntnis genommen werden kann. Dennoch scheint die Aufgabe, wahrzunehmen, dass Menschen, die sich an einem Völkermord beteiligt hatten, an der Idee sich ›rechtfertigen‹ zu können, festhielten, in präventiver Hinsicht von großer Bedeutung zu sein. Ohne Interesse für das, was bei dem passiert, was ich als die ›Verselbstverständlichung‹ des Mordens nennen möchte, ist der Frage kaum beizukommen, wie in neuen Kontexten diese extremste Form von Gewalt verhindert werden kann. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Spannung von Handeln und Wertung soll es mir nun um einen Extremfall gehen, bei dem die zukünftige Frage, ob diese Gewalt sich wird rechtfertigen lassen, von vornherein ausgeblendet * Hatzfeld 2003, 53. (Auf Deutsch: »Es war etwas Selbstverständliches geworden.«) [Übersetzung A.P.]
© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768174_009
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wird. Stärker noch: Es soll gehen um eine Gewalt, die sich als das Selbstverständlichste setzte, und zwar so, dass jede Frage nach ihrer Berechtigung durch den Vollzug der Gewalt sofort ausgelöscht wurde. Konkreter: Mich interessiert im Kontext eines Genozids die Abwehr der schieren Frage, warum die Mörder mordeten, welchen Grund sie anführten (wenn sie denn einen anführten), um zu erklären, aus welchen Motiven heraus sie taten, was sie taten.1 Während die historische Forschung dem Versuch gilt, die Genese und Funktionsweise solcher Katastrophen freizulegen, d.h. das komplexe Ineinander von Strukturen und Akteuren, ihren Motiven und späteren Rechtfertigungsversuchen aufzudecken, zeichnet sich in autobiographischen Zeugnissen von Überlebenden eine Einsicht ab, für die der lakonische Satz aus Primo Levis Se questo è un uomo beispielhaft steht. Levi hatte in Auschwitz, als er nach dem ›Warum‹ einer völlig willkürlichen Gewalt zu fragen wagte, die ebenso bündige wie denkwürdige Antwort eines SS-Mannes entgegennehmen müssen, »hier sei kein Warum« (Levi 1989). Heißt das automatisch auch, dass wir bei sich zum Genozid steigernden Gewaltakten mit einer wesentlichen Grundlosigkeit zu rechnen haben? Und wenn dies stimmt: Wie kann man dann dennoch Vorzeichen der Gefahr erkennen? Wie ist es möglich, vorbeugend zu agieren?2 2.
Fraglosigkeiten
Gehen wird es um den Genozid an den Tutsi Ruandas im Jahr 1994. Nutzen möchte ich die Selbstaussagen und -interpretation von Tätern, die im Gefängnis nach ihrer Lebensgeschichte befragt wurden. Der Blick in die Zeugnisliteratur, die nach dem Tutsizid von Überlebenden geschrieben wurde, verdeutlicht, dass in der von Levi konstatierten Verabschiedung des ›Warum‹ ein gemeinsamer Zug von Genoziden liegt. Die Unerträglichkeit, das in keiner Hinsicht zu Rechtfertigende der Gewalt, bestand nicht nur in dieser selbst. Vielmehr kam der jeweilige »Zivilisationsbruch« (Diner 1988) auch durch das Ziel der Mörder zustande, gar nicht erst nach dem ›Warum‹ gefragt zu werden. Das Tun musste sich fraglos vollziehen können, ein ›Danach‹ mit seinen Fragen war nicht vorgesehen. 1 Methodisch möchte ich von einem Ansatz ausgehen, den ich als ›closest reading‹ bzw. ›Radikalisierung von Genauigkeit‹ bei der philologischen Arbeit bezeichnen möchte. Diese Methode scheint mir besonders dann ertragreich zu sein, wenn es um die Analyse von so extremen Ereignissen wie einem Genozid geht, bei dem sämtliche bekannten Maße zerstört werden. Zu den ›Studien der Unverhältnismäßigkeit‹, die darauf reagieren: Peiter 2019. 2 Zur Definition des Begriffs ›Genozid‹ vgl. Bergmann 2010, 103–105.
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Die Abwehr gegenüber dem ›Warum‹ musste also auch in zeitlicher Streckung verstanden werden. Es war durchaus nicht so, dass nur dem Opfer im Hier und Jetzt des Mordens das Fragen ausgetrieben werden sollte. Vielmehr kam hinzu, dass das Fragen auch über den jeweiligen Mord hinaus aus der Interaktion mit anderen Menschen zu verschwinden hatte. Dass die Frage, d.h. die Überprüfung der Gerechtigkeit des Gemachten für alle Zukunft ad acta gelegt werden sollte, das geht aus dem Umstand hervor, dass in Genoziden nicht nur dieser oder jener, nicht nur hier und dort getötet wird, sondern allüberall, d.h. in einer Perspektive ausdrücklicher Totalität. Claudine SauvainDugerdil, eine Überlebende, die gleich noch ausführlicher zu Wort kommen soll, erzählt über ihren Versuch, im post-genozidalen Ruanda in ihr elterliches Haus zurückzukehren: Quand nous sommes arrivés, c’était incroyable. Comment pourrais-je le dire? Je ne comprenais rien: il n’y avait plus rien. Plus rien! (Sauvain-Dugerdil 2021, 72) Als wir ankamen, war’s unglaublich. Wie kann ich das nur sagen? Ich verstand überhaupt nichts: Es gab nichts mehr. Nichts mehr! [Übersetzung A.P.]3
Und wie ein Echo schreibt die heute in Frankreich lebende Romanautorin Scholastique Mukasonga, und zwar ebenfalls über die illusorische Hoffnung, im einstigen Zuhause noch Spuren zu finden: –Tu veux vraiment y aller? soupira le chauffeur. Tu sais, ça ne vaut pas la peine, il n’y a plus rien chez toi, ce n’est peut-être pas bien pour toi d’y aller, en tout cas d’y aller toute seule, on ne sait jamais. Tu peux tomber sur un fou et il y a ceux qui disent que le ›travail‹, il faut le terminer, alors, toi, toute seule, avec ceux qui sont morts là-haut … (Mukasonga 2010, 143). –Willst Du wirklich dahin gehen?, seufzt der Fahrer. Weißt Du, das lohnt die Mühe nicht, es gibt nichts mehr bei Dir zu Hause, es ist wirklich nicht gut für Dich, dahin zu gehen, auf jeden Fall nicht allein, man weiß nie. Du kannst auf einen Verrückten stoßen und es gibt die, die sagen, die Arbeit, die müsse man fertig machen, also Du, ganz allein, mit denjenigen, die da oben gestorben sind …
Das Umfassende von Genoziden, das im Begriff der ›Endlösung‹ in kondensierter Weise aufscheint (eine ›Lösung‹ wäre es für die Täter, wenn niemand mehr da wäre, um Fragen zu stellen, d.h. wenn auch letzte Zeuginnen wie hier Mukasonga verschwänden), ist mit Blick auf die Rechtfertigungsversuche ein zentraler Punkt. 3 Alle weiteren Übersetzungen stammen ebenfalls von A.P.
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Genozide sind Phänomene von Massengewalt, die das Machen von der Zukunft ihrer Wertung abschneiden wollen. Das Töten soll gemacht werden und dann ein für alle Mal zum Abschluss kommen. Es soll ›nicht mehr der Rede wert‹ sein, weil es niemand geben soll, der die Mörder zur Rede stellen, ihnen Rede und Antwort abverlangen, d.h. mögliche Rechtfertigungen von ihnen fordern könnte. Machen heisst hier immer schon, eine Zukunft vorzubereiten, in der man sich und das eigene Tun nicht rechtfertigen muss. Ein Täter formuliert es rückblickend so: »On devait faire vite, on n’avait pas droit aux congés, surtout pas les dimanches, on devait terminer.« (Hatzfeld 2003, 19). (»Wir mussten uns beeilen, wir hatten kein Recht auf Ferien, vor allen Dingen am Sonntag nicht, wir mussten’s zu Ende bringen.«) Es wird deutlich: Auf das Machen kam es an, auf das Machen der Tötungen, und auf sonst nichts. Die Gerechtigkeit sieht sich also auf perverse Weise verlegt in das Tun. Die Rechtfertigung in diesem speziellen Sinne setzt in dem Moment ein, in dem das Töten beginnt. Das Töten ist seine eigene Rechtfertigung, nämlich so, dass jeder Austausch über die Frage, was gerecht sei und was nicht, von vornherein einem von Gewalt untermauerten Verbot unterliegt. Was ist, das ist; was geschieht, das geschieht. Würde zugelassen, dass das Opfer fragt, warum ist, was ist und geschieht, könnte ein Zweifel in das Morden dringen und so seine Totalität in Gefahr bringen. Wenn Ausnahmen zugelassen würden, droht aus Sicht der Täter eine Situation, in der Fragen nach ›Warum‹ und Rechtfertigung wieder in den Raum treten. Genau dies aber soll unterbunden werden. Ein anderer Mörder gibt zu Protokoll, in wie hohem Grade sämtliche Mörder, verbunden durch das ›Wir‹, beschäftigt gewesen seien: »On avait à faire et on faisait du mieux qu’on pouvait.« (Ebd., S. 20). (»Wir hatten zu tun und wir taten’s, so gut wir konnten.«) 3.
›Absolute Gerechtigkeit‹
Der Grund für die Ineinssetzung von Tun und ›Gerechtigkeit‹ hat aber durchaus nicht nur mit der Zukunft zu tun. Es geht nicht allein darum, nach Abschluss des Genozids seine Ruhe zu haben. Wichtig ist auch, dass eine in Anführungszeichen zu verstehende ›Gerechtigkeit‹ nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass sich der Mörder schon im Tun selbst keine Fragen stellen muss. Dies betrifft also die Gegenwart, und nicht bloß die Zukunft. Unter ›Gerechtigkeit‹ ist hier zu verstehen, dass die Opfer nichts mehr zu fragen und auch nicht zu artikulieren wagen, dass zutiefst ungerecht ist, was ihnen geschieht. Die Perversität, die in der Absolutsetzung der Gewalthaber liegt, versuche ich, mit dieser schockierenden, da auf den ersten Blick missverständlichen
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Formel der ›Absolutheit‹ der ›Gerechtigkeit‹ zu fassen, weil nur so begreiflich wird, warum von Seiten der Verfolgten – darin mit Primo Levis oben zitierter Einsicht d’accord gehend – die Erfahrung gemacht werden musste, dass sie selbst jede Suche nach Gründen und Verstehen aufgaben.4 Wo als einzige Antwort auf die Frage nach dem ›Warum‹ der Exzess einer inkommensurablen Gewalt zu erwarten war, musste das Fragen gar nicht erst versucht und konnte gleich hingenommen (also in gewisser Weise ›verstanden‹) werden, dass nun einmal das war, was war. ›Absolute Gerechtigkeit‹ ist also gegeben, wenn die Mörder nicht einmal in Ansätzen befürchten müssen, sich rechtfertigen zu müssen. ›Gerechtigkeit‹ im schrecklichsten, willkürlichsten Sinne herrscht, wenn das Gerechte nicht mehr, wie noch beim Rechtfertigen, gemacht werden muss, sondern immer schon gemacht ist. Gerechtigkeit in ihrer höchsten Steigerung liegt vor, wenn jedes Gespräch, jeder Austausch zwischen Menschen aufgekündigt wird durch die Organisation und Umsetzung eines fraglosen Massentodes. »Hier ist kein Warum.« 4.
Von Angesicht zu Angesicht
Was ich jetzt analysieren möchte, ist die Erfahrung, absolut handeln zu dürfen – handeln jenseits jeder Frage –, und zwar aus der Perspektive der Täter. Ich gehe aus von einem Interviewprojekt, das dem bereits erwähnten französischen Journalisten Jean Hatzfeld zu verdanken ist. Er brach nach Ruanda auf, obwohl er das Kinyarwanda, die Sprache Ruandas, nicht beherrschte. Er wollte verstehen, was geschehen war (erneut geschehen, also geschehen nach und trotz der Shoah). Er ist er nach diesem ersten Aufbruch stets von Neuem in das stets gleiche Dorf gereist, um dort erst die Überlebenden, dann die Täter, dann deren Kinder und schließlich – in einem erst vor zwei Jahren erschienen Buch (Hatzfeld 2021) – die Hutu zu befragen, die es trotz aller Todesdrohungen, die sich gegen Helfer richteten, gewagt hatten, auf unterschiedliche, individuell variierende Weise rettend in Erscheinung zu treten.5 4 Zum Konzept der ›absoluten Gerechtigkeit‹ siehe auch: Peiter 2019, Kapitel Nationalsozialismus. 5 Zum Aspekt der Befreiung vgl. Peiter, 2024a). Der Artikel erscheint voraussichtlich 2024 in einem Sammelband zur Literaturdidaktik. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Artikel die folgende Autobiographie: Rurangwa 2006. Zur Selbstwahrnehmung führender Militärs in der FPR, die wesentlich an der Befreiung beteiligt waren, vgl. Nyirimanzi, 2023, 79–87).
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Es muss einleitend vorausgeschickt werden, dass der Tutsizid zu Recht als ›Genozid der Nähe‹ beschrieben worden ist, weil neben Polizei, Armee und den extremistischen Hutu-Milizen eben auch eine massenhafte Beteiligung von Zivilist:innen an den Morden zu verzeichnen war.6 Das bedeutete konkret, dass Nachbar:innen von Nachbar:innen getötet wurden, Freunde von Freunden, ja gar Verwandte von Verwandten.7 Der häufigste Fall, der diese letzte Steigerung – Verwandte töten Verwandte – ›erklärt‹, betraf Männer, die zur Gruppe der ›Hutu‹ gezählt wurden8, jedoch mit einer ›Tutsi‹-Frau in so genannter ›Mischehe‹ lebten. Diese Männer konnten, wenn sie beim Töten mittaten, hoffen, ihre Frau und Kinder zu retten. Der umgekehrte Fall hingegen duldete generell keine Ausnahme: Die Gewalt richtete sich gegen alle – also vom Neugeborenen bis zum Greis, vom Fötus im Mutterleib bis zur alten Frau –, doch besonderes Augenmerk wurde auf die Auslöschung der Männer gelegt. ›Hutu-Frauen‹, die mit einem Mann aus einer ›Tutsi-Familie‹ verheiratet waren, konnten sich das Leben des Mannes (und meist auch ihrer Kinder) nur selten ›erkaufen‹. Doch die ›Nähe‹ dieses Genozids betraf durchaus nicht nur die ›Hybriden‹, wie sie mitunter genannt zu werden pflegten. Vielmehr galt ganz allgemein, dass das nachbarschaftliche Neben- und Miteinander nach dem Abschuss des Flugzeugs des ruandischen Präsidenten am 6. April 1994, der als Fanal und Auftakt für die sich über das ganze Land ausbreitenden Massaker fungierte, aufgekündigt und sämtliche sozialen Bande, die bis dahin den Alltag bestimmt hatten, abgeschnitten wurden. Obwohl die Tutsi seit 1959, der so genannten, von den Belgiern unterstützten, ›sozialen Revolution‹, die die Machtverhältnisse hin zu den ›Hutu‹ verschoben hatte (Kabanda 2023, 61–78), stets von Neuem Erfahrungen mit schulischer Diskriminierung, Massenvergewaltigungen, Vertreibungen, Massakern und Gewalt jeder Art hatten machen müssen, stellten das Ausmaß und die Schnelligkeit, mit der sich die Gewalt ab dem 6. April ausbreitete, für die Betroffenen einen Schock dar.
6 Diese Nähe zeichnet sich in sämtlichen Zeugnissen ab, die in dem folgenden, sehr wichtigen Band versammelt sind: Prudhomme 2019. 7 Jean-Paul Kimonyo spricht von einem ›populären Genozid‹. Vgl. schon den Titel von Kimonyo 2008. 8 Da die kolonialgeschichtlich bedingte ›Ethnifizierung‹ der ruandischen Bevölkerung mit einer Essentialisierung von Zugehörigkeiten operiert, müssten die Begriffe ›Hutu‹, ›Tutsi‹ und ›Twa‹ eigentlich durchgängig in Anführungszeichen gesetzt werden. Ich beschränke mich auf den Hinweis, dass moderate Hutu gleich zu Beginn des Genozids ermordet wurden, der Begriff ›Hutu‹ also nicht automatisch mit einer Zugehörigkeit zu den Schergen korrelieren musste.
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Der Begriff der ›Nähe‹ kennzeichnet also zum einen, dass Opfer und Täter:innen sich vielfach von Angesicht zu Angesicht gegenüber sahen. Es wird geschätzt, dass die Massentötungen in Schulen, Kirchen, Krankenhäusern, Sportstadien und an Straßensperren ca. 10 Prozent der Toten gefordert haben. Dies waren meist Tötungen, die von Seiten der ›Gewaltprofis‹, z. B. der Interahamwe, einer terroristischen Hutu-Miliz, ausgingen. Daneben ist die massenhafte Beteiligung von Zivilist:innen – darunter auch Frauen, Jugendliche, ja, wie wir noch sehen werden, ›lern-‹ wie ›tötungsbereite‹ Kinder – zu konstatieren, was neben dem direkten, physischen Kontakt von Tötenden und zu Tötenden ein weiteres, wichtiges Charakteristikum dieses Genozids aufscheinen lässt. Es handelte sich auch in der Hinsicht um ein Töten ›der Nähe‹, dass dieses Töten ohne die gewaltsame Aufrechterhaltung dieser Nähe nicht mit gleicher ›Effizienz‹ hätte funktionieren können. Gemeint ist mit dieser Formulierung, dass, anders als in der Shoah, die Identifizierung der Opfer oft nicht mehr sichergestellt werden musste, weil man sich sowieso kannte (Chrétien 2023, 43–48). Das hieß gleichzeitig aber auch, dass man die Tutsi auf keinen Fall in andere Regionen entkommen lassen durfte, denn wenn ihnen die Flucht gelang, sah sich die Identifizierung erschwert und das Töten behindert. Es hat also in ganz Ruanda eine Aufrichtung von Barrieren und Straßensperren gegeben, die darauf zielten, dass die Nähe gewahrt und Bewegungen der Tutsi unterbunden wurden. Verstecke konnten demnach nur im allerengsten Umkreis des eigenen Zuhauses gefunden werden, ja mitunter auch nur im eigenen Haus. Es ist bezeugt, dass die engen Dachgeschosse in einer ersten Phase genutzt wurden, um sich den Mörder:innen zu entziehen. In einer zweiten Phase boten aber auch diese Orte keine Sicherheit mehr, denn es wurde nicht nur getötet, sondern auch geplündert, und das hieß, dass, sobald Häuser nicht nur ihr Mobiliar, sondern auch ihre Fenster, Türen und Dächer verloren hatten, das Feuer die Zerstörung zu einem absoluten Abschluss brachte. Um zu verstehen, was ich im Folgenden mit der ›absoluten Gerechtigkeit‹ und dem Verschwinden jedes Rechtfertigungsdrucks meine, muss daran erinnert werden, dass der Tutsizid sich nicht nur unter direkter Beteiligung von schätzungsweise 60 % der (insgesamt sehr jungen) Gesamtbevölkerung vollzog, sondern auch unter Anwendung von besonders grausamen, auf ein möglichst langsames Sterben zielenden Tötungsarten. Macheten waren vom Staat im Vorfeld des Genozids massenhaft gekauft und an die Zivilbevölkerung verteilt worden. Mit dieser Waffe und anderen, aus der landwirtschaftlichen Arbeit her vertrauten Werkzeugen wurden den Opfern die Gliedmaßen abgeschlagen, doch so, dass sie vielfach nicht gleich, sondern qualvoll langsam starben. Es ist der Hinweis auf die Absicht, einen ›schnellen Tod‹ zu einer
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Art von ›Gnade‹ zu machen, wichtig, weil sich hier erneut der Absolutheitsanspruch der Täter:innen zeigt. Ein Opfer mit einer Kugel zu erschießen, erschien plötzlich wie ein Akt der ›Menschlichkeit‹. Bis dahin übliche ethische Begriffe unterlagen einem radikalen Wandel. Die Überlebende Claudine Sauvain-Dugerdil, die sich zum Zeitpunkt des Genozids im burundischen Exil aufhielt und nur durch einen Zufall noch nicht auf der Reise war, die sie zur Hochzeit ihrer Schwester zurück nach Ruanda führen sollte, urteilt rückblickend: »Le pire, dans tout ça, ce n’est pas combien ils ont tué, c’est comment ils ont tué, la façon, la barbarie autour.« (SauvainDugerdil 2021, 63). (»Das Schlimmste bei dem Ganzen war nicht, wie viel sie getötet haben, sondern wie sie getötet haben, die Art, die Barbarei drumherum.«) Vor dem Hintergrund dieser Aussage – dass getötet wurde, erscheint fast (erneut in starken Anführungszeichen verstanden) als ›akzeptabel‹, nicht aber, wie getötet wurde –, ist es jetzt geboten, die Sprache zu analysieren, mit der die Täter beschrieben, wie sie zu ihrem Tun finden konnten und wie sich dieses Tun als etwas setzte, das man nicht weiter rechtfertigen müsse. Um eine philologische Annäherung also soll es gehen, erweitert durch Hinweise auf historische Hintergründe, die den Kontext für die Selbstdarstellung bilden und so allgemeine Muster erkennbar werden lassen. 5.
Sich-Kennen ohne Wieder- und Anerkennung
Ich beziehe mich in einem ersten Schritt auf einen Mörder, den Jean Hatzfeld im Gefängnis befragt hat. Er darf als Tötender gelten, der noch nicht einmal bemerkte, dass er tötete, und wenn er es merkte, dann nicht im Moment des Tötens selbst, sondern erst rückblickend, fast ein wenig erstaunt darüber, dass er die Person, die zu Tode kam, eigentlich hätte kennen und erkennen müssen, weil er sie schon zuvor im Leben intim gekannt und mit ihr vertraut gewesen war. Hören wir Pio, dem bescheinigt werden muss, dass er zumindest versucht, sich in einer Art von subjektiver ›Unschuld‹ den psychologischen Prozessen zu nähern, denen er unterlag, als er selbst zum ersten Mal eine Person ermordete. J’avais tué des poulets mais jamais un animal de la corpulence d’un homme, comme une chèvre ou une vache. La première personne, je l’ai accomplie dans la précipitation, sans rien penser de spécial, bien que c’était un avoisinant, tout proche sur ma colline. En vérité, c’est seulement après que j’ai remarqué que j’avais pris la vie d’un avoisinant. Je veux dire, au moment fatal, je ne l’ai pas distingué pour ce qu’il avait été auparavant, j’ai frappé une personne qui ne m’était plus intime ni étrangère. Elle n’était plus tout à fait une personne ordinaire, je veux dire comme on en rencontre tous les jours. Ses traits étaient bien semblants de
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ceux de la personne que je connaissais, mais rien ne me rappelait fermement que je l’avais côtoyée depuis une ancienne date. Je ne sais pas si vous pouvez bien me comprendre. C’était une reconnaissance, sans la connaissance. C’était la première victime que je tuais; ma vision et ma pensée s’étaient embrouillées. (Hatzfeld 2003, 28). Ich hatte schon Hühner getötet, doch niemals ein Tier von der Korpulenz eines Menschen, wie zum Beispiel eine Ziege oder eine Kuh. Die erste Person habe ich in Eile getötet, und, obwohl es sich um einen unmittelbaren Nachbarn auf meinem Hügel handelte, ganz ohne mir etwas Besonderes dabei zu denken. In Wahrheit habe ich erst im Nachhinein bemerkt, dass ich einem Nachbarn das Leben genommen hatte. Ich will sagen, im tödlichen Moment habe ich in ihm nicht das gesehen, was er zuvor gewesen war, ich habe einer Person Schläge versetzt, die mir weder intim vertraut noch fremd war. Sie war keine gewöhnliche Person mehr, ich will sagen, eine Person, wie man sie jeden Tag trifft. Ihre Züge ähnelten den Zügen der Person, die ich gekannt hatte, doch nichts erinnerte mich mit Deutlichkeit daran, dass ich schon seit langer Zeit Umgang mit ihr gehabt hatte. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen können. Es handelte sich um eine Wiedererkennung, ohne das Sich-Kennen. Das war das erste Opfer, das ich getötet habe; mein Blick und mein Gedanken waren durcheinandergeraten.
Dass das Töten ohne Tod und ohne Toten vor sich gehen kann, muss nach diesem Zeugnis in den Raum des Denkbaren geholt werden. Die Grundeinsicht, die sich aus Pios Zeugnis ableiten lässt, ist in der Formulierung »une reconnaissance, sans la connaissance« enthalten: Er kannte das Opfer, er war mit ihm vertraut, doch das Töten schob sich gleichsam vor die Erkenntnis, dass er selbst dabei war, den Tod auszuteilen. Die zu tötende Person war keine Person mehr, sie hatte ihren Status als Mensch eingebüßt, sie war nicht mehr der Nachbar, der sie zuvor gewesen war – vielmehr wurde sie zu einem Nichts, das man weder er-kennen, noch wieder-erkennen, noch als lebendiges Wesen mit dem Recht, zu leben, an-erkennen musste. Jeder Wert war dem Opfer abgesprochen worden. Die verschiedenen Formen von Kennen und Sich-gegenseitig-Kennen führten zu einer Aufhebung der Selbst-erkenntnis des Täters, sobald sich der Tod absolut setzte. Es ist offensichtlich, dass Pio Zweifel daran hat, ob Hatzfeld, sein Gegenüber, ihn wird verstehen können. Er fragt nach, ob der Franzose das Gesagte nachzuvollziehen vermöge, er fügt hinzu, dass sein Blick und seine Gedanken sich damals verwirrt hätten. Zugleich entsteht jedoch auch der Eindruck, dass sich der Täter zumindest in rhetorischer Hinsicht mit furchtbarer Präzision auf das zu besinnen versteht, was damals in ihm vorging. Es verhält sich durchaus nicht so, dass das, was er damals war und tat, nur damals war. Vielmehr wirkt die ›Intensität‹ des Den-anderen-nicht-mehr-erkennenMüssens bis in die Gegenwart fort.
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Die fehlende Anerkennung war zum Freibrief für das Töten geworden, und das heißt zugleich: Das Töten war praktisch kein Töten mehr, denn ein Töten konnte es nur sein, wenn klar war, dass der Nachbar das Recht hatte, zu leben. Doch genau dieses Recht wurde im Frühjahr 1994 aufgekündigt. Das Opfer hatte keinen Wert, also war das Töten etwas völlig Belangloses. Es wurde getötet, ohne dass dies Bedeutung gehabt hätte; es wurde jemand getötet, ohne dass dieser Jemand noch den Status eines Menschen gehabt hätte. Dass so keine Fragen mehr aufkommen konnten – weder Fragen von außen noch Fragen an sich selbst –, schien eine Tatsache darzustellen. 6.
Animalisierung und Dehumanisierung
In Bezug auf den Tod lässt sich aus dieser Konstellation der Schluss ziehen, dass zwar ein riesiges Propaganda- und Vorbereitungs-System auf das Töten, hin zur so genannten ›Endlösung‹, in Gang gesetzt werden musste, um den Anstoß zum Töten zu geben, dass aber, als dieses begann, dem Tod gar keine besondere Bedeutung zukam. Die Dehumanisierung entwertete die Fragen und den Tod zugleich; das Töten entsprach einer Geste, die sich gegen niemanden zu richten schien, weil die Person, gegen die sie sich richtete, selbst ein Niemand war – ein Niemand also, von dem auch keine Fragen mehr zu erwarten waren. Auf Seiten der Mörder bestand die Besonderheit darin, dass der Tod überhaupt erst als Tod erkannt zu werden hatte, weil in dem Moment, in dem das Bewusstsein für diesen zurückkehrte, zumindest in Ansätzen die Rückkehr des Bewusstseins zu erhoffen war, dass man beim Töten jemanden getötet, jemandem das Leben genommen hatte. Es hatte das Töten nicht nur ›an sich‹ gegeben, sondern das Töten hatte ein ›Objekt‹, ein Gegenüber, gehabt, das aber im Kontext der Massengewalt praktisch nicht mehr gesehen wurde. Es ist festhaltenswert, dass Pio den Namen der Person, die er tötete, nicht nennt. Es ergibt sich eine gewisse Abstraktheit, die in der distanzierenden Rede von der ›Person‹ seinen Ausdruck findet. In die gleiche Richtung weist die Unmittelbarkeit, mit der auf die Erwähnung von der Schlachtung von Tieren die Erwähnung der ›Schlachtung‹ von Menschen folgt. Auch Claudine Sauvain-Dugerdil berichtet, dieses Mal aber aus der Perspektive der Verfolgten: »Ils ont tué jusqu’aux chiens et aux chats. Pour dire combien c’était tordu et irrationnel.« (Sauvain-Dugerdil 2021, 63). (»Sie haben getötet, bis hin zu den Hunden und Katzen. Das zeigt, wie verrückt und irrational das war.«) Es scheint eine Praxis auf, die sich bemerkenswerterweise auch in der Shoah wiederfinden lässt. Die Nationalsozialisten verboten jüdischen Haushalten das Halten von Haustieren. Diese mussten, weil sie im Sinne der herrschenden
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Ideologie als ›verjudet‹ verstanden wurden, unter Androhung schwerer Strafen abgegeben werden. Und dieser Transfer bedeutete für die Tiere den ›Gnadentod‹. Victor Klemperer hat dem Widerstand gegen diese Gewalt berührende Zeilen gewidmet. (Klemperer 1999, 84 + 89–92) Sie vor dem Hintergrund der Ereignisse des Jahres 1994 zu lesen, bleibt eine uneingelöste Aufgabe. Die Insekten- und allgemein Tiermetaphern9, die als Invektiven den Verfolgten in Ruanda wie den Jüdinnen und Juden Europas beigelegt zu werden pflegten, sind in der Tat ein weiteres Element, das der Normalisierung des Prozesses der Dehumanisierung zuarbeitete. Dass Pio zu Protokoll gibt, die Züge seines Opfers hätten irgendwie Ähnlichkeiten mit den Zügen des Nachbarn gehabt, doch ohne dass die Identität beider ihm recht zu Bewusstsein gekommen sei, hat offenbar mit der fortschreitenden Animalisierung durch die herrschende Terrorsprache und -praxis zu tun.10 Als er an seinen ersten Mord zurückdenkt, kommen ihm denn auch als Erstes Tiere in den Sinn. Pio reiht sich in eine allgemeine Tendenz ein, die Gewalt an Tieren – vor allen Dingen den Rindern der Tutsis – nicht nur als ›Probe aufs Exempel‹, nämlich tötende Vorwegnahme des Schicksals ihrer Besitzer:innen verstand, sondern die zugleich auch durch die Überblendung von Menschen und Tieren die Ersteren für identisch erklärte mit den Letzteren. Tiere waren ›tötbar‹, und weil diese ›Tötbarkeit‹ in der ›Ordnung der Dinge‹ lag, lag es durch Analogieschlüsse nah, dann auch die Tötung von Menschen als etwas Ordnungsgemäßes, d.h. Normales wahrzunehmen. In Bezug auf die nachfolgenden Rechtfertigungsversuche ist das insofern wichtig, als in gewisser Weise die ›Schlachtungen‹ aus einer subjektiven ›Unschuld‹ heraus vorgenommen wurden. Wenn Menschen Tiere waren, brauchte man kein Wort darüber zu verlieren, dass man sie tötete. Man normalisierte es durch diese Analogie. 7.
Funktionierende Werkzeuge
Dass sich dies ›von selbst verstand‹, hatte jedoch auch damit zu tun, dass sich das Werkzeug von selbst verstand. Eine Art Zirkelschluss ergab sich, in dem verschiedene Elemente einander wechselseitig verstärkten. Ein weiterer Täter äußerte im Kontakt zu Hatzfeld:
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In linguistischer Hinsicht ist für das Verständnis von Invektiven relevant: Hermanns 2012. Vgl. auch Peiter 2024b). 10 Einschlägig hierzu Crary 2020.
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Anne D. Peiter Le gourdin c’est plus cassant, mais la machette est plus naturelle. Le Rwandais est familiarisé avec la machette depuis l’enfance. Attraper une machette à la main, c’est ce qu’on fait chaque matin. On coupe les sorghos, on taille les bananeraies, on défriche les lianes, on tue les poulets. Mêmes les femmes et les petites filles empruntent la machette pour de menues corvées, comme casser le bois de cuisson. C’est le même geste pour différentes utilités qui ne nous désoriente jamais. Le fer, quand tu t’en sers pour couper la branche, l’animal ou l’homme, il ne dit pas un mot. (Hatzfeld 2003, 41). Der Knüppel ist zerstörerischer, doch die Machete ist natürlicher. Der Ruander ist von Kindheit an mit ihr vertraut. Eine Machete zur Hand zu nehmen, ist etwas, was man jeden Morgen tut. Man schneidet den Sorgho, man schneidet die Bananen, man rodet die Lianen, man tötet die Hühner. Sogar die Frauen und kleinen Mädchen benutzen die Machete für kleinere Aufgaben wie das Spalten von Holz zum Kochen. Es handelt sich um eine Geste mit unterschiedlichen Zwecken, die uns niemals durcheinanderbringt. Das Eisen, das Du benutzt, um den Ast, das Tier oder den Menschen zu zerschneiden, sagt kein einziges Wort.
Während im Vorherigen hervorgetreten war, dass Fragen zur Legitimität der Massaker gar nicht erst aufkamen, weil sich die Fremdwerdung bzw. -machung der Nachbarn, die über Tiervergleiche funktionierten, 1994 nach einer jahrzehntelangen Vorgeschichte hinreichend radikalisiert hatten11, tritt jetzt auch die Eigenlogik der Hilfsmittel in den Blick, die beim Töten verwendet wurden. Über die Tiere – in aufsteigender Linie: Hühner, Ziegen und Rinder – hinaus, nennt der Zeuge zusätzlich Holz, Sorgho, Bananen und Lianen, um verständlich zu machen, dass die Geste des ›Bearbeitens‹ stets dieselbe blieb.12 Der Mensch war da nur ein ›Ding‹ unter anderen mehr. Es entsteht der Eindruck, dass die Allgegenwart der Machete den Blick verstellt habe für das, was da jeweils ge- und zerschlagen, ge- oder zerspaltet wurde. Weil die Machete ›kein Wort gesagt‹ habe, sei es, so wird impliziert, unmöglich gewesen, Unterschiede in den wiederkehrenden Gesten zu erkennen. Wenn das, was einem Holzscheit oder Huhn gegenüber ›funktionierte‹, auch in der Begegnung mit einem Menschen anwendbar blieb, ging von dem Werkzeug allein die Botschaft des ›Funktionierens‹ aus, unabhängig von der Frage, zu welchem Zweck da jeweils etwas zum Funktionieren gebracht worden war.13 Es war mithin, als brächte man die Machete nicht in Anwendung, sondern als erfolge die Anwendung selbsttätig, automatisch, gesteuert vom Funktionieren 11 12 13
Dazu Genaueres in Prunier 1995. Das Leben im Versteck ist in den Berichten von Überlebenden ein sehr wichtiges Motiv. Zur damit verbundenen Naturwahrnehmung von Verfolgten vgl. Peiter: 2024c). Ich habe an anderer Stelle versucht, ein Konzept plausibel zu machen, das man als die ›extreme Grundlosigkeit‹ von Genoziden bezeichnen könnte: Peiter 2023.
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selbst, und zwar wie an jedem anderen Morgen und zur Erfüllung jeder anderen alltäglichen Arbeit auch. Dass der Euphemismus des ›Arbeitens‹, der ›Töten‹ bedeutete, im Tutsizid gang und gäbe war, ist festzuhalten. Der sprachlichen Vernebelung dessen, was geschah, entsprach eine Vernebelung, die von der scheinbaren Alltäglichkeit des Werkzeugs und ihren beliebig wechselnden Kontexten ausging. Auch ein dritter Zeuge unterstreicht, dass Gewohnheiten bei der Feldarbeit für den Vollzug der Massaker eine entscheidende Rolle gespielt hätten. C’est bien naturel. Si à vous et à moi, on donne un Bic, vous allez vous montrer plus à l’aise que moi au travail d’écriture, sans jalousie de ma part. Pour nous, la machette était ce qu’on savait manier et aiguiser. Elle était, aussi, moins chère que les fusils pour les autorités. Raison pour laquelle on a appris le boulot avec l’instrument rudimentaire qu’on possédait. (Hatzfeld 2003, 42). Das ist natürlich. Wenn man Ihnen und mir einen Kugelschreiber gibt, werden Sie sich ohne Neidgefühle von meiner Seite wohler bei der Schreibarbeit fühlen als ich. Für uns war die Machete etwas, was wir zu handhaben und zu schärfen verstanden. Außerdem war sie für die Autoritäten weniger teuer als die Gewehre. Das war der Grund, warum wir die Arbeit mit dem rudimentären Instrument erlernt haben, das wir besaßen.
Dass Schreiben und Töten in der perfiden Rhetorik dieses Täters, eines gewissen Fulgence, gleichgesetzt werden, ändert nichts an der Tatsache, dass der Ökonomie der Gesten die Ökonomie des Ankaufs der Werkzeuge an die Seite trat. Wenn man das Werkzeug ohnehin hatte, brauchte man kein neues zu kaufen, sondern war bereit für sämtliche Nutzungen, bei denen sich dasselbe ›bewähren‹ konnte. Implizit argumentiert der Täter, dass Hatzfeld auf die Gewandtheit seines Gegenübers bei der Handhabung der Machete nicht neidisch sein solle – denn er, der Hutu, erkenne ja umgekehrt mit Blick auf den Kugelschreiber auch die Überlegenheit Hatzfelds an. Die Banalisierung der Verwendung von Werkzeugen aller Art – vom Stift bis hin zum Schneidewerkzeug – ist hier so weit fortgeschritten, dass noch nicht einmal die Gründe ins Bewusstsein treten, die Hatzfeld dazu veranlassten, mit dem Stift in der Hand den Aussagen des Mörders zu folgen. Dass Hatzfeld aufzeichnen wird, was Fulgence zu sagen hat, dass er sich interessieren wird für die Frage, wie der Befragte heute, also im Rückblick, sein Verhältnis zur Tötungswaffe einschätzt, bleibt bei Fulgence ausgespart. Die vermeintliche Alltäglichkeit des Schneidens wirkt weiter fort, eine Rechtfertigung bezüglich der Nutzung, die auf das Holzspalten und Hühnerschlachten folgte, wird nicht für nötig erachtet – kurz: Fulgence hält sich, obwohl mit Gefängnis bestraft, längst für gerechtfertigt. Ein weiterer Täter schlägt im Wortsinn in dieselbe Kerbe, als er berichtet:
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Anne D. Peiter Moi, je n’ai pris que la machette. Premièrement parce que j’en possédais une à la maison, deuxièmement parce que je savais l’utiliser. Pour celui qui est habile au maniement d’un outil, c’est facile de l’utiliser pour toutes les activités; tailler les plantations ou tuer dans les marais. (Ebd., S. 43). Ich selbst habe nur die Machete genommen. Erstens, weil ich eine zu Hause besaß, zweitens, weil ich mit ihr umzugehen verstand. Für denjenigen, der im Umgang mit einem Werkzeug geschickt ist, ist es einfach, es für alle Aktivitäten zu benutzen; Anpflanzungen zu beschneiden oder in den Sümpfen zu töten.
Die Gleichsetzung zwischen der ›Behandlung‹ von Pflanzen und der ›Behandlung‹ von Menschen funktioniert hier mit gleicher Leichtigkeit wie bei Fulgence; der bloße Umstand der Verfügbarkeit der Waffe scheint an sich ihren Einsatz zum Töten zu rechtfertigen; die Vorstellungslosigkeit bezüglich der Opfer ist intakt wie im Moment des Tötens selbst. 8.
›Kindliches‹ Lernen
Dennoch gibt es Zeug:innen, die zugeben, dass da über Bananen und Sorgho hinaus, nämlich bezüglich der zu ›spaltenden‹ Körper, etwas zu rechtfertigen sei. Clémentine, eine Hutu, die mit einem Tutsi verheiratet war, erinnert sich an die ›Lektionen‹, die männlichen Kindern erteilt worden seien, um sie in Sachen Landwirtschaft genauso ›voranzubringen‹ wie in Sachen Töten.14 J’ai vu des papas qui enseignaient à leurs garçons comment couper. Ils leur faisaient imiter les gestes de machette. Ils montraient leur savoir-faire sur des personnes mortes, ou sur des personnes vivantes qu’ils avaient capturées dans la journée. Le plus souvent les garçons s’essayaient sur des enfants, rapport à leurs tailles correspondantes. Mais le grand nombre ne voulait pas mêler directement les enfants à ces saletés de sang, sauf à regarder, bien sûr. (Ebd., S. 44–45). Ich habe Papas gesehen, die ihren Jungen beibrachten, wie man schneidet. Sie ließen sie die Gesten mit den Macheten nachahmen. Sie zeigten ihr Know-how an toten Personen oder lebenden Menschen, die sie tagsüber gefangen hatten. Meistens versuchten sich die Jungen wegen ihrer entsprechenden Körpergrösse an Kindern. Doch die meisten wollen die Kinder nicht in diesen Schmutz von Blut hineinziehen, abgesehen vom Zusehen natürlich.
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Die umgekehrte Perspektive, nämlich die von überlebenden Kindern, ist untersucht worden von Hélène Dumas (Dumas 2020).
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Diese Aussage zeigt, dass es eben doch, und zwar für die ›zu Iniitierenden‹, nicht nur Gewohnheiten und bereits Erlerntes gab, sondern auch Dinge, die, einem Schema der sich steigernden ›Schwierigkeiten‹ folgend, zunächst an zu tötenden Tutsi-Kindern, dann, zu einem möglichen späteren Zeitpunkt, an ›Größerem‹ auszuprobieren waren. Es ist kein Zufall, dass die männlichen Täter die Beteiligung von Kindern mit einem kollektiven Tabu belegen. Clémentine als eine – relativ verstandene – ›Unbeteiligte‹ bricht dieses Tabu und erwähnt mit furchtbarer Lakonie, dass der einzige Grund, Kinder nicht durchgehend am Töten zu beteiligen, in der ›Schmutzigkeit‹ dieser ›Arbeit‹ bestanden hätte. Die ›Natürlichkeit‹, die die männlichen Täter für ihre Taten unterstreichen, wirkt zugleich aber auch bei Clémentine weiter. Um die fehlende Einsicht in die Notwendigkeit und Unmöglichkeit der Rechtfertigung zu verstehen, ist kein Wort so entscheidend wie das nachgestellte ›bien sûr‹, ›natürlich‹, mit dem einerseits der Sprung in eine völlig andere Welt von ›Werten‹ zugegeben, andererseits aber die Eigenlogik dieser Welt zugleich aus der Perspektive des damaligen Erlebens heraus weiterhin als ›normal‹ dargestellt wird. 9.
Gewohnheiten und Mittagspause
Ein weiterer Täter eröffnet sodann Perspektiven auf die Entwicklungen, die sich bezüglich des Zusammenhangs zwischen Töten und Feldarbeit ergeben hätten. Au début, c’était une activité moins répétitive que les semailles; elle nous égayait, si je puis dire. Par après, elle était devenue tous les jours pareille. Plus que tout, ça nous manquait de rentrer manger à midi. A midi, on se trouvait souvent très éloignés dans les marais; raison pour laquelle, le déjeuner et le repos qui le suivait ordinairement nous étaient interdits par les autorités. (Ebd., S. 67). Anfänglich war das eine Tätigkeit, die nicht so voller Wiederholungen war wie die Aussaat; sie heiterte uns auf, wenn ich das mal so sagen darf. Später ist sie dauerhaft repetitiv geworden. Mehr als alles andere fehlte es uns, mittags zum Essen nach Hause zurückzukehren. Mittags befanden wir uns oft sehr weit draußen in den Sümpfen. Das war der Grund, warum uns gewöhnlich Mittagessen und Pause von den Autoritäten verboten wurden.
Dieses Beispiel für die Gewöhnungsprozesse, die die Massaker in den Sümpfen nicht länger als erwünschte ›Abwechslung‹ und ›Aufhellung‹ des bäuerlichen Lebens erscheinen ließen, sondern als etwas, was zunehmend langweilig
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wurde, sind für die Frage nach den Rechtfertigungsbestrebungen der Täter gleichfalls erhellend. Es ist, als hätte dieser Zeuge, Alphonse, die Beteiligung an den Massakern nur darum gern eingestellt, weil das Mittagessen nicht mehr auf gewohnte Weise eingenommen werden konnte und der Kitzel des Neuen peu à peu verschwand. Die Begründung, warum man die hundert Tage, die der Tutsizid andauerte, eigentlich irgendwann gern ›abgekürzt‹ hätte, legt plastisch offen, dass die Opfer auch im ›Danach‹ von juristischer Aufarbeitung und Gefängnis bei den Tätern nicht vorkommen. Alphonse bleibt völlig auf sich selbst bezogen, er präsentiert Hatzfeld die Mühen eines Alltags, in dem er auf sein Mittagbrot verzichten musste, d.h. er fordert quasi ein Gefühl des Mitleids darüber ein, dass er damals nicht mehr Zuhause hat speisen dürfen. Die Opfer bleiben unsichtbar, sie kommen im Kosmos der totalen Konzentration auf sich selbst, wie sie auf Seiten der Täter zu beobachten ist, nicht vor. Das, was Hannah Arendt in Jerusalem mit Blick auf die Phantasielosigkeit eines Adolf Eichmann festgehalten hat, kehrt hier in einem bäuerlichen Kontext wieder.15 Dass erst gar nicht versucht wird, sich so zu rechtfertigen, dass Hatzfeld als von außen kommender Beobachter diese Rechtfertigung auf irgendeine Weise nachvollziehen könnte, zeigt, dass Alphonse und alle anderen sich schlicht nicht vorstellen können, was sie angestellt haben. Der Zugang zum Gesprächspartner kann nicht funktionieren, weil ihnen der Zugang zu ihrer Tat verwehrt ist. Noch nicht einmal eine taktisch wache Rechtfertigung, die sich der Logik der Gegner des Genozids anpasst, erfolgt, denn es bleibt für die Mörder unvorstellbar, dass Fragen von Mahlzeiten und Gefühlen der Langeweile bei Fragenden wie Hatzfeld nicht nur Gefühle der Abwehr verstärken, sondern auch als Fortsetzung derselben Logik interpretiert werden können, die die Tötungspraxis ermöglicht hatte.16 Bei Eichmann war Ähnliches zu beobachten gewesen. Er erging sich in langen Tiraden über die Hindernisse, die man seiner Karriere in den Weg gelegt habe. Dass er vor Richtern saß, die seine Beteiligung am Genozid zu untersuchen hatten und außerdem von ihrer Familiengeschichte her selbst von diesem betroffen war, blieb durch Eichmanns Unfähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen, ausgeblendet.
15 Vgl. Arendt 2011. Ich beziehe mich hier auf die Idee, dass Tun und Phantasie bei Eichmann auf eklatante Weise auseinanderklafften. 16 Vergleichbares gilt für Eichmanns Klagen über Hindernisse, die ihm bei seiner Karriere in den Weg gelegt worden seien. Dass solche Dinge die Richter kaum interessieren konnten, war für Eichmann nicht begreiflich.
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Plünderungen
Ein letztes, wichtiges Element, das den Versuch, verständnislosen Verstehens auf die Selbstwahrnehmung der Täter zu intensivieren, zu unterstützen vermag, betrifft die Plünderungen, die die Zeit des Genozids zu einer Zeit der Überfülle und einer potlatschartigen Ausnahme machten. Da, wo kein Ackerbau mehr betrieben werden musste, weil der Besitz der Tutsi gleichsam zur ›freien Verfügung‹ stand, konnte trotz aller ›Mühen‹, die sich mit dem Töten verbanden, eine ›Pause‹ eingelegt und die normalen Aktivitäten des bäuerlichen Alltags eingestellt werden.17 La culture, c’est plus simple parce que c’est notre métier de toujours. Les chasses étaient plus imprévues. C’était même plus fatigant les jours de grandes opérations, à patrouiller autant de kilomètres derrière les interahamwe, à travers les papyrus et les moustiques. Mais on ne peut pas dire qu’on regrettait les champs. On était plus à l’aise dans ce travail de chasse, puisqu’il n’y avait qu’à se baisser pour récolter la nourriture, les tôles et le butin. La tuerie, c’était une activité plus brusquante mais plus valorisante. La preuve, personne n’a jamais demandé la permission d’aller débroussailler sa parcelle, même une demi-journée. (Ebd., S. 71). Der Ackerbau, das ist einfacher, denn er stellt von jeher unseren Beruf dar. Die Jagden waren hingegen etwas Unvorhergesehenes. Es war an den Tagen der großen Operationen sogar ermüdender, so viele Kilometer hinter den interahamwe zwischen Papyrus und Mücken patrouillieren zu müssen. Doch man kann nicht sagen, dass wir die Felder vermissten. Wir fühlten uns mit dieser Arbeit der Jagd wohler, weil wir uns nur bücken mussten, um Nahrung, Wellblechdächer und die Beute zu ernten. Die Tötung, das war eine schroffere, doch dem Ansehen förderliche Tätigkeit. Der Beweis: Niemand hat je auch nur für einen halben Tag um die Erlaubnis gebeten, auf seiner Parzelle das Gestrüpp entfernen zu dürfen.
Wie komplex sich das Verhältnis von Alltäglichem und Unalltäglichem, Gewohntem und Ungewohntem, Normalität und Außerkraftsetzung derselben gestaltete, das kann anhand der Plünderungspraxis verdeutlicht werden. Dass das Bedürfnis nach Rechtfertigung ausblieb, erklärte sich daraus, dass die Plünderungen das Töten (so die Logik des Genozids) je schon ›gerechtfertigt‹ hatten. Ein sozialer Aufstieg wurde erfahren. Mörder zu sein, schien mehr zu sein, als ein Bauer zu bleiben. Soziale Mechanismen traten in Erscheinung, die mit der Anerkennung durch die anderen zu tun hatten. 17
Zu den landwirtschaftlichen Hintergründen des Tutsizids vgl. Dumas 2014. Dumas zählt in Frankreich zu den wichtigsten Kennerinnen der modernen Geschichte Ruandas und des Tutsizids. Sie ist auch eine der wenigen Historiker:innen, die Dokumente wirklich in der Landessprache lesen und Interviews ohne übersetzerische Hilfe führen können.
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Da, wo man sich nur bücken musste, um zu ›ernten‹, kam die Frage, warum man denn ›ernten‹ könne, nicht mehr auf. Man ›erntete‹ ja, und in die ›Ernte‹ nicht nur Gemüse und Früchte einbeziehen zu können, sondern die Wellblechdächer der einstigen Nachbar:innen wie eine natürliche ›Beigabe‹, verstärkte eine Redundanz, die mir zum Zentrum genozidaler Prozesse zu gehören scheint. Das Autotelische, das hinsichtlich der Zeitstruktur des Tutsizids gleich noch zu befragen sein wird, zeichnet sich schon bei der Bereicherungslust ab, die die Massaker mit motivierte.18 Warum man getötet habe? Weil man (ohne Anführungszeichen) habe ernten wollen. Doch warum die Notwendigkeit, zu töten, nicht als Hemmnis für die Ernte wahrgenommen worden sei? Weil man, wie gesagt, sonst nicht hätte ernten können. Mit diesen Worten ließe sich der schwierige Versuch beschreiben, zu so etwas wie einer ›Innensicht‹ der Täterschaft zu gelangen. Die extreme Armut, die sich in Ruanda zum Teil aus der demographischen Struktur des Landes erklärte – das Land gehörte zu den am dichtesten besiedelten des gesamten Kontinents –, schien das Nachvollziehbare, den Mühen des bäuerlichen Alltags entkommen zu wollen, immer schon erwiesen zu haben. Dass zu den Objekten, die geplündert wurden, dann auch zentral die Rinderherden gehörten, verweist außerdem auf den sozialen Neid, der sich durch die Kategorien, nach denen ›Hutu‹ und ›Tutsi‹ unterschieden zu werden pflegten, noch verschärfte. Die ›Hutu‹, das waren tendenziell diejenigen, die sich allein dem Landbau widmeten, die ›Tutsi‹ hingegen die Hirten, die – wie hinzugefügt werden muss – selbstverständlich immer auch Bauern zu sein hatten. In der Wahrnehmung der Hutu stellten die Tutsi die Privilegierten dar, die man auszurauben habe, um eine Art ›Gleichgewicht‹ wiederherzustellen. Dass in Wirklichkeit die Armut die gesamte Bevölkerung betraf und die soziale Privilegierung, besonders was die Schulausbildung betraf, vor allen Dingen zugunsten der Hutu konstatiert werden musste, änderte nichts am Fortwirken rassistischer Stereotypen, die aus der deutschen und belgischen Kolonialisierung Ruandas stammten.19 Die deutsche und belgische Kolonialideologie, die zunächst, einer Logik der einseitigen Privilegierung folgend, die Tutsi zu fördern versucht hatte, weil sie bestehende soziale Strukturen auf diese Weise für sich nutzen konnte, hat hier noch nach Jahrzehnten ihre Spuren hinterlassen.20 Trotz der objektiven Vergleichbarkeit der Lebensbedingungen von Hutu und Tutsi wirkte
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Benachbarte Fragen werden diskutiert in Peiter 2024d. Unverzichtbar in diesem Kontext: Chrétien/Kabanda 2013. Zum allgemeinen Hintergrund der Kolonialisierung vgl. Wessling 1991.
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die Idee nach, die Letzteren hätten sich Rechte angemaßt, um die Hutu zu unterdrücken. Die Plötzlichkeit, mit der die Bauern ihre Felder verließen, um sich zu ›Jägern‹ von Menschen zu erklären, hat also eine lange Vorgeschichte, in der als eine Art ›Revanche‹ der materielle Überfluss gegen die vermeintliche Privilegiertheit der Tutsi gerichtet wurde. »On ne parlait plus de cultures entre nous. Les soucis nous avaient délaissés.« (Ebd., S. 68). (»Wir sprachen untereinander nicht mehr vom Landbau. Die Sorgen hatten uns verlassen.«), erklärt ein weiterer Täter im Gespräch mit Hatzfeld. Und ein weiterer Mann fügt hinzu: Personne ne descendait plus à la parcelle. A quoi bon bêcher, alors qu’on récoltait sans plus travailler, qu’on se rassasiait sans rien élever? La seule besogne était d’enterrer des bananes dans les fosses, au milieu de n’importe quelles bananeraies abandonnées, pour laisser fermenter l’urwagwa des prochaines soirées. On devenait très fainéants. On n’enterrait pas les cadavres, c’était peine gâchée. Sauf bien sûr, si par malchance un Tutsi était tué sur ta parcelle, à cause de la mauvaise odeur, des chiens et des animaux voraces. (Ebd., S. 67). Niemand ging mehr runter zu seiner Parzelle. Warum auch hacken, wenn wir ernteten, ohne zu arbeiten, wenn wir uns sättigen konnten, ohne etwas anzubauen? Das einzige Bedürfnis bestand darin, Bananen inmitten irgendeines verlassenen Bananenhains in den Löchern einzugraben, um das Urwagwa für die kommenden Abenden fermentieren zu lassen. Wir wurden Nichtstuer. Wir begruben die Leichen nicht, das war vergebliche Mühe. Eine Ausnahme bestand natürlich, wenn es das Unglück wollte, dass ein Tutsi auf Deiner Parzelle getötet wurde, und zwar wegen des schlechten Geruchs, der Hunde und der gierigen Tiere.
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Redundanzen des Autotelischen
Zum Abschluss möchte ich, wie angekündigt, der Zeitstruktur dessen nachgehen, was als das ›Autotelische‹ des Tutsizids zu bezeichnen ist. Hier liegt meines Erachtens ein verbindendes Element zu anderen Genoziden beschlossen. Die These lautet, dass Massaker darum als gerechtfertigt wahrgenommen werden, weil sie einmal begonnen haben. Mit ›autotelisch‹ meine ich, dass der Genozid zum Selbstzweck wird, der auch dann als ›selbstbelohnend‹ wahrgenommen werden kann, wenn Plünderungs- und Bereicherungsmöglichkeiten ausbleiben. Es bedarf keiner Bestätigung von außen mehr, dass richtig ist, was gerade geschieht. Das, was in der Spieltheorie als ›flow‹ bezeichnet zu werden pflegt, erfasst gleichsam auch die Tötungs-›Arbeit‹. Man tötet, weil man nun einmal tötet. Und das heißt: Das Töten geht weiter, weil Hemmungen, als ›es‹ begann, nicht funktionierten, nicht griffen.
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Diese auf den ersten Blick ebenso enigmatische wie redundante – also vermeintlich nichtssagende – Definition, Genozide gingen weiter, weil sie angefangen hätten, ist nur zu verstehen, wenn Genozide wie der des Jahres 1994 als etwas erkannt werden, was zwischen den Begriffen des ›Anfangs‹ und des ›Endes‹ eingespannt ist. Immer wieder findet sich in den Aussagen von Täter:innen (vor allen Dingen aber Tätern) der Gedanke, dass man die Tutsi ›bis zum Letzten‹ habe töten müssen.21 Doch dass man keine Ausnahme dulden durfte und mit dem schon erwähnten Begriff der ›Endlösung‹ ernst zu machen hatte, fand so etwas wie eine ›Erklärung‹ darin, dass die Tötungen nun einmal begonnen worden waren. Dass man sie begonnen hatte, implizierte, dass irgendwo, verborgen in sozialem Neid, rassistischer Abwertung der Nachbar:innen, entmenschlichender Konstrukte, materieller Gier, ideologischer Aufpeitschung durch Radio22 und extremistische Milizen sowie der Angst vor einer kriegsbedingten Bedrohung von außen23 ein Rest des Bewusstseins erhalten blieb, dass das, was man tat, etwas Bestrafbares sein könne. In dem Moment, in dem die Angst vor Bestrafung zu wirken begann, konnten die bereits vollzogenen Morde nur fortgesetzt werden, denn wenn sie nicht fortgesetzt wurden, war eine Situation zu befürchten, in der Überlebende, Übriggebliebene würden bezeugen können, dass und wie getötet worden war. Genozide zielen also auf Zeugenlosigkeit. Ihnen wohnt die Antizipation eines Geschichtsbildes inne, das man werde kontrollieren und von allem, was nicht gewusst werden dürfe, ›reinigen‹ könne. Die ›Rechtfertigung‹ von Genoziden besteht also darin, gar nicht erst Menschen zu hinterlassen, die bestätigen könnten, dass das Verbrechen stattgefunden hat. Dass im Anfang immer schon das prospektive ›Ende‹ der totalen Leere antizipiert wird, ist eine Feststellung, die als Eskalation von Gewalt beschrieben zu werden pflegte. In Wirklichkeit aber ist zumindest für Ruanda festzustellen, dass ein sehr einheitlicher, das gesamte Land umfassender Prozess mit verschiedenen, umfassenden Strategien der Rechtfertigung normalisiert wurde, kaum dass der Anlass – nämlich der Tod des Präsidenten – allgemein bekannt geworden war. Das heißt, dass gleichsam übergangslos, nämlich einer ungeheuren Beschleunigung folgend, ein Übergang stattfand von einer 21
Charles Habonimana beschreibt, was diese Erfahrung bedeuten konnte, in seinem Buch mit einem Titel, der auf Deutsch zu lauten hätte: »Ich, der letzte Tutsi« (Habonimana 2019). 22 Vgl. Dallaire 2008; Straus 2007, 609–637; Kellow/Steeves 1998, 107–128. Eine interessante Auswertung der Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung findet sich auch in der Bachelor-Arbeit von Rabensteiner. Diese Arbeit hebt hervor, dass in Deutschland häufig die Begriffe ›Bürgerkrieg‹ bzw. ›Stammesfehde‹ zur Beschreibung der Gewalt in Ruanda verwendet worden seien. 23 Für das Verständnis der Bedrohungsszenarien, die vor dem Hintergrund des Massenexils der Tutsi seit 1959 beschworen wurden, ist der folgende Roman wichtig: Mukasonga 2008.
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Situation, in der kriegsbedingt getötet wurde, hin zu einer Situation, in der sich alle Anstrengungen auf die Erreichung noch des ›letzten‹ Tutsi konzentrierten. Von Seiten der Verfolgten ist denn auch immer wieder von der Überzeugung zu lesen, der oder die ›Letzte‹ gewesen zu sein. Mitunter wurde ein solches Programm – nämlich eine:n ›Letzte:n‹ ›übrig‹ zu lassen – explizit verkündet. Dies ist der Fall gewesen bei Albert Nsengimana, der mit allen seinen Geschwistern von der eigenen Mutter verraten worden war. (Nsengimana 2019). Die Siegesgewissheit der Täter:innen war so groß, dass immer wieder davon ausgegangen wurde, irgendwann werde ›sowieso‹ jemand diesen ›Letzten‹ töten, im Hier und Jetzt müsse man sich also um ihn nicht ›kümmern‹. Ein anderer Tutsi, damals fünfzehn Jahre alt, berichtet Ähnliches. Révérien Rurangwa wurde mit schwersten Verletzungen am Leben gelassen, weil der Mörder seiner gesamten Familie davon ausging, mit so schweren Wunden werde das Überleben ›sowieso‹ nicht möglich sein. Die Gewissheit, dass Rurangwa als der ›Letzte‹ dann doch den Weg hin zum Tod nehmen werde, so wie alle anderen auch, verdeutlicht, dass die Masse von Toten, die, sofern sie nicht summarisch verscharrt worden waren, überall im Land herumlagen, die allgemeine Einschätzung, man sei dem Ziel nahe, stützten.24 In Bezug auf die Aufstachelungen von Gewalt hin zur Beendigung des Zusammenlebens mit den ›Tutsi‹ hält ein Mörder in Erinnerung an den Bürgermeister des Ortes fest: La seule réglementation était de persévérer jusqu’à la fin, de garder un rythme satisfaisant, de n’épargner personne et de piller ce qu’on trouvait. C’était impossible de cafouiller. (Ebd., S. 20). Die einzige Regel bestand darin, bis zum Ende durchzuhalten, einen befriedigenden Rhythmus zu behalten, niemanden auszusparen und zu plündern, was man fand. Es war unmöglich, da etwas zu vermasseln.
Ein weiterer Zeuge formuliert das Ganze aus einer anderen Warte, indem er die Kraft der Kontinuität hervorhebt. Doch auch er denkt vom prospektiven Ende des Genozids her, auch er zeigt, dass die Tötungen autotelisch auf die Fortsetzung ihrer selbst zielten. On n’écoutait plus les bons mots des radios et des autorités. On tuait pour continuer le boulot. Certains se montraient fatigués de ces corvées de sang. D’autres s’amusaient à faire souffrir les Tutsis qui les avaient fait suer tous ces jours. (Ebd., S. 57). 24
Die negationistische These vom ›doppelten Genozid‹ hat ihren Ursprung auch in der Behauptung, man müsse sozusagen das ›Gleichgewicht der Gewalt‹ zwischen den verschiedenen Akteur:innen in Rechnung stellen. Vgl. Hochmann 2023, 105–112.
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Anne D. Peiter Wir hörten nicht mehr auf die guten Worte des Radios oder der Autoritäten. Wir töteten, um den Job fortzusetzen. Manche waren von der Mühe des Blutes erschöpft. Andere amüsierten sich damit, die Tutsis zu quälen, die sie in all diesen Tagen zum Schwitzen gebracht hatten. [Hervorhebungen A.P.]
Das sprachliche Pendant zur Rede von der oder dem ›Letzten‹ ist das Wort der ›Ausnahmslosigkeit‹. Ein weiterer Täter drückte das aus, wie folgt: Là, le conseiller nous a annoncé que le motif du meeting était la tuerie de tous les Tutsis sans exception. C’était simplement dit, c’était simple à comprendre. (Ebd., S. 15). Der Berater hat uns da angekündigt, dass der Grund für das Meeting die ausnahmslose Tötung aller Tutsi sei. Das war einfach gesagt, das war einfach zu verstehen.
Und noch ein letzter Täter, sprachlich dem Vorgenannten ähnlich, betont, man habe nicht mehr wirklich daran gedacht, dass man dabei war, die Nachbar:innen in Gänze zu vernichten: Au début on était trop chauds pour penser. Par après, on était trop accoutumés. Dans l’état où on était, ça ne nous faisait rien de penser qu’on était en train de couper nos avoisinants jusqu’au dernier. C’était devenu un aller-de-soi. Ils n’étaient déjà plus nos bons avoisinants de longue date, ceux-là qui tendaient le bidon de boisson au cabaret, puisqu’ils ne devaient plus être là. Ils étaient devenus des gens à débarrasser, si je puis dire. Ils n’étaient plus ce qu’ils étaient auparavant et nous non plus. On n’était pas gênés d’eux, ni du passé puisqu’on n’était gênés de rien. (Ebd., S. 53). Am Anfang waren wir zu heiß, um nachzudenken. Nachher waren wir zu sehr daran gewöhnt. In dem Zustand, in dem wir waren, machte es uns nichts aus, zu denken, dass wir dabei waren, unsere Nachbarn bis zum Letzten zu zerschneiden. Das war etwas Selbstverständliches geworden. Sie waren schon nicht mehr die guten Nachbarn, die wir schon lange kannten, die also, denen wir in der Bar die Flasche zum Trinken hinhielten, denn sie sollten nicht mehr da sein. Sie waren zu Leuten geworden, die man loswerden musste, wenn ich das mal so sagen darf. Sie waren nicht mehr das, was sie zuvor gewesen waren, und wir auch nicht. Wir fühlten uns von ihnen nicht gestört, und von der Vergangenheit auch nicht, denn wir waren von nichts gestört.
Ich möchte den Versuch, den Redundanzen des Tutsizids auf die Spur zu kommen, mit diesem Zitat beenden. Der Blick auf die Gesamtheit der Aussagen zum ›Konzept‹ des:der ›Letzten‹ verdeutlicht, dass präventive Maßnahmen mit großer Umsicht und Schnelligkeit getroffen werden müssen. Wenn die
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Völkermordlogik einmal eingesetzt hat, nährt sie sich quasi aus sich selbst und ist zu keiner ›Selbstkorrektur‹ in der Lage. Der Stopp des Tötens kann nur von Außen kommen, anderes ist nicht zu erhoffen. 12.
Ausblick auf die Prävention
Die Erfahrungen von Ruanda zeigen, dass Beschleunigungsprozesse in die Verselbständigung der Tötungslogik eindringen können. So wie zum Beispiel die Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden ein Beispiel für das ungeheure Tempo der europäischen Vernichtungspraxis kurz vor Kriegsende darstellt25, so steht umgekehrt Ruanda für die Beschleunigung gleich zu Beginn. Es ist also kein Verlass darauf, dass internationale Beobachter:innen genügend Zeit haben, die sich vorbereitende Gewalt zu analysieren und ihr zum gegebenen Zeitpunkt Einhalt zu gebieten. Das soll nicht heißen, dass der Genozid in Ruanda keine Vorgeschichte gehabt habe, die als Warnung hätte dienen können. Das Gegenteil ist der Fall, denn es setzt sich in der Forschung immer mehr der Gedanke durch, dass man den Beginn des Genozids schon auf das Jahr 1959 datieren könne.26 Das würde bedeuten, dass das Jahr 1994 zwar den Höhepunkt einer Beschleunigung darstellt, dass aber genozidale Strukturen sich schon lange vorher verfestigt hatten. Gleichzeitig ist es aber so, dass die Schwergängigkeit des administrativen Apparats der UNO sowie die internationalen Koordinationsprobleme von Diplomatie und Militär keine adäquate Reaktion auf die geographische Reichweite der Massaker und ihre Schnelligkeit zu bewerkstelligen vermochten. Daraus ist zu schließen, dass mit einer großen Bandbreite an Tempi bzw. ›Rhythmen‹ (wie es einer der soeben zitierten Täter ausdrückte) zu rechnen ist. Es gibt keine ›Regel‹, keine Erwartbarkeit, die sich aus anderen Extremsituationen ableiten lassen würde. Kurz: Die zur Formel geronnene Forderung, man müsse ›den Anfängen wehren‹, erweist insofern seine Berechtigung, als die ruandischen Täter:innen selbst davon sprechen, es sei praktisch alles entschieden gewesen, als der Anfang gemacht worden war. In Bezug auf die Rechtfertigungsstrategien, die diese sich zurechtlegen, sobald es ›vorbei‹ ist, bleibt allein die furchtbare Selbsteinschätzung eines Täters zu zitieren, zu der sich jeder weitere Kommentar erübrigt. 25 Zu Ungarn vgl. Hilberg 1996. 26 Vgl. Mugesera 2014.
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Anne D. Peiter Je n’ai même pas compté. Ni pendant les activités, ni après puisque je savais que ça allait recommencer. Je ne peux vous dire, avec sincérité, combien j’ai tué, puisque j’en ai oublié en chemin. Ce monsieur tué sur la place du marché, je peux vous en raconter un souvenir exact, car il est le premier. Pour d’autres, c’est plus fumeux, je n’en ai plus trace dans ma mémoire. Je les ai considérés sans gravité; je n’ai même pas repéré, à l’occasion de ces meurtres, cette petite chose qui allait me changer en tueur. (Ebd., S. 31).27 Ich habe noch nicht einmal gezählt. Weder während der Aktivitäten, noch danach, weil ich ja wusste, dass es weitergehen würde. Ich kann Ihnen nicht mit Aufrichtigkeit sagen, wie viele ich getötet habe, denn auf dem Weg habe ich’s vergessen. Dieser Mann, den ich auf dem Marktplatz getötet habe, von dem kann ich Ihnen eine genaue Erinnerung erzählen, denn er war der Erste. Für die anderen ist’s stärker von Rauch verhangen, ich habe keine Erinnerungsspur mehr davon. Ich habe sie als etwas betrachtet, was nicht ins Gewicht fiel; ich habe bei der Gelegenheit dieser Morde noch nicht einmal diese kleine Sache bemerkt, die mich in einen Mörder wandeln würde.
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Sekundärliteratur
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Anne D. Peiter
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Epistemisierung, epistemische Ungerechtigkeit und umstrittene Krankheiten Der Streitfall Chronisches Fatigue Syndrom als Heterodoxie Svana Stemmler, Friedrich Kleffmann 1.
Einleitung
Als im Verlauf der Covid-19 Pandemie der Begriff ›Long Covid‹ geprägt wurde, und damit eine neuartige chronische Erkrankung langsam Gestalt annahm, brachte dies neues Leben in Diskussionen über die Beziehung zwischen der Institution der wissenschaftlichen Medizin und ihren Patient:innen. Der Begriff wurde von Betroffenen selbst in Umlauf gebracht, die anhand der Thematisierung ihrer Erfahrungen in sozialen Medien Bewusstsein für das Vorliegen eines ernsthaften Problems schufen und damit auch die Grundlage für eine wissenschaftliche Erforschung des Phänomens (Callard & Perego 2021). Dieser Vorgang stellt uns vor Fragen über die Rolle von Patient:innenpartizipation in wissenschaftlichen Prozessen und das Verhältnis von Alltagserfahrung zu Expert:innenwissen. Ähnliche Fragen wurden immer wieder auch durch eine weitere Krankheit aufgeworfen: Das Chronische Fatigue Syndrom (CFS) weist eine bemerkenswert ähnliche Symptomatik auf und wird schon seit Jahrzehnten unter obigen und verwandten Gesichtspunkten diskutiert. Wir wollen diese neue Aufmerksamkeit, die CFS durch das Aufkommen von Long Covid geschenkt wird, nutzen, um einen Schritt zurückzugehen und medizinphilosophische Fragestellungen behandeln, die für beide Erkrankungen relevant sind und denen aus unserer Sicht noch nicht genügend Beachtung geschenkt wurde. Uns interessiert in diesem Beitrag vornehmlich die Frage, warum die Diagnose CFS Gegenstand einer anhaltenden Kontroverse ist, in der noch immer kein Konsens in Aussicht steht. Diese Fragestellung könnte naiv erscheinen, da die Diagnose schon auf den ersten Blick Schwierigkeiten mit sich bringt. Sie hat zwar eine offizielle Klassifizierung als Erkrankung des Gehirns durch die WHO in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) erhalten, gilt allerdings als sogenannte ›umstrittene Krankheit‹, da bis heute nicht geklärt ist, wodurch sie ausgelöst wird und wie sie zu behandeln ist (White 2019). Trotz der offiziellen Anerkennung ist sie deshalb in einem Graubereich zu verorten, zwischen den Krankheiten, deren Legitimität sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich nicht ernsthaft angezweifelt wird, und denen, denen ihr
© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768174_010
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Krankheitsstatus allgemein abgesprochen wird. Das anhaltende Fehlen einer kausalen Erklärung gibt Hypothesen über die mögliche psychogene Natur der Erkrankung Raum. Dadurch sind Betroffene besorgt, dass ihnen die Realität ihres Leidens aberkannt wird, weshalb sie sich gegen eine vermeintliche ›Psychiatrisierung‹1 ihrer Symptome wehren – also gegen das Framing der Symptomatik als psychisch verursachte Beschwerden, die ausschließlich oder vor allem mit psychiatrischen Methoden behandelt werden sollten (Spandler & Allen 2018). In der philosophischen Literatur zum Thema liegt der Fokus auf der Thematik der ›epistemischen Ungerechtigkeit‹, auf die wir deshalb auch hier unsere Aufmerksamkeit richten wollen. Der Begriff stammt aus der sozialen Epistemologie und bezeichnet allgemein Diskriminierungen in der Teilhabe an Wissensprozessen (Fricker 2007), auch die durch Psychiatrisierung (Spandler & Allen 2018). Uns erscheint die Kontroverse um die Diagnose CFS trotz dieser offensichtlichen Probleme als erklärungsbedürftig. Wir verstehen die Erkrankung als Gegenstand eines Diskurses, in dem umstrittenes Wissen sich als wissenschaftlich etablieren will und dabei in Konflikt mit etabliertem, orthodoxem Wissen gerät (Lessau et al. 2021, VII). Auf dieser wissenschaftstheoretischen Ebene wollen wir hinterfragen, warum ein Streit entbrannt ist, durch den eine klare Front verläuft: Auf der einen Seite medizinische Institutionen, Forschende und Ärzt:innen, die vorwiegend daran festhalten, dass bisherige Forschung noch keine richtungsweisenden Ergebnisse liefern konnte, und auf der anderen Seite Betroffene und deren Vertreter:innen, die auf eine Einordnung als somatische Krankheit und entsprechende Behandlungsempfehlungen drängen und sich von der Medizin oft ungerecht behandelt fühlen. Vonseiten der Medizin wird weder ernsthaft auf die Wünsche der Betroffenen eingegangen, noch wird ihnen signalisiert, dass der Fall CFS ad acta gelegt werden sollte, weil bisherige Forschung eine psychiatrische Klassifizierung nahelegt. Es sollte unseres Erachtens Verwunderung hervorrufen, dass der Fall CFS nicht schon abgeschlossen ist, oder zumindest ein konfliktfreies medizinisches Rätsel darstellt, an dem Forschende, Ärzt:innen und Patient:innen kooperativ und ergebnisoffen zusammenarbeiten. Warum nimmt die Diskussion diese Form eines Streits mit klar abgegrenzten Positionen an? Weshalb gelingt es keiner
1 Den Begriff ›Psychiatrisierung‹ entnehmen wir der Debatte über den Versuch, psychologische Erklärungen für CFS zu finden (vgl. hierzu Spandler & Allen 2018). Er weist, anders als der vielleicht gängigere Begriff der ›Psychologisierung‹, auf die Rolle psychiatrischer Institutionen in der Diagnostik, Interpretation und Behandlung von Krankheiten hin.
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Seite, die andere von ihrer Meinung über die Art des vorliegenden Forschungsproblems zu überzeugen und kooperativ an einer Lösung zu arbeiten? Die Dauer und Art des Konflikts zeigen unseres Erachtens an, dass hier grundlegende begriffliche Probleme sowie verschiedene Konzeptualisierungen von dem, was Krankheit bedeutet, im Spiel sind. Es bedarf aus unserer Sicht deshalb einer philosophischen Analyse der Dynamik des Diskurses und in ihm befindlicher Argumentationsmuster und Überzeugungsstrategien. Unsere These ist, dass in dem Konflikt um CFS grundlegende epistemologische und normative Fragen über psychische Erkrankungen und Krankheit im Allgemeinen, deren Klärung zu einer Lösung des Konflikts beitragen könnte, ausgeblendet werden. Stattdessen werden offene Fragen in der Form eines Streits über Fakten ausgehandelt – ein Umstand, der sich mit dem Soziologen Alexander Bogner als ›Epistemisierung‹ des Diskurses bezeichnen lässt (Bogner 2021). Diese Tendenz, die er in verschiedenen öffentlichen Diskursen über wissenschaftliche Probleme konstatiert, kann auch hier helfen, zu erklären, warum eine produktive Diskussion ausbleibt und eine Lösung des Problems verhindert wird. Mit dieser Perspektive möchten wir Probleme des Fokus auf epistemische Ungerechtigkeit überwinden, welcher unseres Erachtens unglücklicherweise das allgemeinere Problem des Diskurses repliziert, wenn genuin epistemische Probleme im Forschungsprozess als Ungerechtigkeiten ausgelegt werden. Es könnte zwar so scheinen, als läge das Problem in einer Politisierung von epistemischen Gegebenheiten, wenn Anerkennung einer Krankheit verlangt wird, die aus wissenschaftlichen Gründen nicht gegeben werden kann. Tatsächlich trägt diese Sichtweise jedoch paradoxerweise zur Epistemisierung der Diskussion bei, weil vermeintliches Wissen über CFS unhinterfragt gegen als Diskriminierungen wahrgenommene Zweifel verteidigt wird. Unsere Fallanalyse ist somit nicht nur lohnend, weil umstrittene Krankheiten, für die CFS als typisches Beispiel gelten kann, ein in jüngerer Zeit relevanter werdendes Thema sind, sondern auch, weil wir anhand dieses Diskurses eine verbreitete Diskussionsdynamik besser verstehen können. Bevor wir zu der Verteidigung unserer Sicht auf die Probleme des Diskurses gelangen, wollen wir uns einen Überblick über das Phänomen CFS schaffen. Hierfür gehen wir knapp auf medizinische Perspektiven auf die Diagnose ein. Im Anschluss bewegen wir uns auf die Ebene der allgemeineren wissenschaftstheoretischen Betrachtung, indem wir die Thematik als Heterodoxie beschreiben. Dies soll zu einer Erörterung der Probleme führen, die den Konflikt am Leben halten, indem sie grundlegende Fragen ausklammern. Hier beschäftigt uns das Thema der epistemischen Ungerechtigkeit, welchem wir einen Ausblick auf tieferliegende epistemologische und normative Probleme des Diskurses gegenüberstellen wollen.
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Die Diagnose Chronisches Fatigue Syndrom aus Sicht von Medizin und Patient:innen
Der oben angedeutete Graubereich, in dem sich die Krankheit CFS befindet, lässt sich anhand folgender Szenarien veranschaulichen: Stellen wir uns erstens eine kranke Person vor, die zum Beispiel an einer Infektion durch einen Grippevirus leidet. Es wäre unstrittig, dass sie körperlich erkrankt ist, was Symptome mit sich bringen kann, die in bestimmten Hinsichten Rücksicht oder Pflege verlangen. Erzählt uns hingegen jemand, seine Kopfschmerzen und Schwindelattacken seien auf die Nähe zu elektrischen Geräten und Funktürmen zurückzuführen, da er an einer sogenannten ›elektromagnetischen Hypersensibilität‹ leide, würden wir dieser Erklärung sicherlich weniger Glauben schenken und spätestens nach einem Blick auf die Studienlage deutliche Zweifel anmelden wollen.2 Im Fall einer von CFS betroffenen Person scheint sich nun ein Bereich zwischen diesen beiden Situationen zu öffnen. Sicherlich wollen wir Berichte über Monate andauernde Erschöpfung, welche nicht nur ein produktives Leben, sondern oft auch simple alltägliche Handlungen unmöglich machen, ernst nehmen. Andererseits wird die fehlende medizinische Erklärung der Symptomatik unweigerlich Fragen darüber aufwerfen, welche Art von Krankheit uns hier begegnet. Dabei kommen gängige Vorstellungen von Krankheit, wie die klare Trennung zwischen psychischen und somatischen Ursachen, zur Anwendung: Ist CFS eindeutig als Erkrankung des Körpers einzuordnen, wie von Betroffenen und Patient:innenvertretungen oft eingefordert, oder deutet die fehlende somatische Ätiologie möglicherweise auf die psychogene Natur der Krankheit hin? Aus Sicht der medizinischen Diagnostik ist CFS schlicht eine Bezeichnung für chronische und schwere Erschöpfungszustände, die nicht durch andere Diagnosen erklärt werden können.3 Die weit verbreiteten Fukuda-Kriterien verlangen für die Anwendung des Begriffes, dass die betroffene Person mindestens sechs Monate andauernde Erschöpfung erlebt, welche sich nicht durch Ruhe verbessert und nicht das Ergebnis von Anstrengung ist. Außerdem 2 Siehe hierzu Rubin et al. 2011. 3 Die Bezeichnung CFS ist selbst kontrovers. Es gibt eine Vielzahl konkurrierender Bezeichnungen und Falldefinitionen für die Erkrankung, ohne dass ein eindeutiger Konsens in Sicht ist (Brurberg et al. 2014). Der Begriff Myalgische Enzephalomyelitis (ME), der mit CFS zu CFS/ME oder auch ME/CFS zusammengefasst wird, wird von einigen Interessenvertretungen von Patient:innen bevorzugt, unter anderem, weil er eine biologische Ursache der Erkrankung impliziert. Er wurde zuerst verwendet, da man eine durch ein Pathogen ausgelöste Krankheit des Muskel- und Nervensystems annahm (Sharif et al. 2018). Wir nutzen hier die Bezeichnung CFS, da dies die offizielle Klassifizierung als Chronisches Fatigue Syndrom im ICD widerspiegelt, sowie unsere agnostische Haltung gegenüber ätiologischen Erklärungen ausdrücken soll.
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muss die Symptomatik signifikante Konsequenzen für berufliche, soziale und persönliche Aktivitäten haben (Brown et al. 2013, 103). Da es für die Anwendung des Begriffs keine bessere medizinische Erklärung für die Symptome geben darf, ist die Diagnose in der Regel das Ergebnis eines langwierigen diagnostischen Prozesses, in dem bekannte Krankheiten als Ursachen der Symptome ausgeschlossen werden (Cournoyea & Kennedy 2014). Die Erkrankung kann Monate oder Jahre andauern, wobei sich nur einige Patient:innen erholen (Cheshire et al. 2021, 298f). Dass CFS eine solche Ausschluss-Diagnose darstellt, für die lediglich eine Liste an Kriterien erfüllt sein muss, grenzt es von solchen Diagnosen ab, mit denen eine ätiologische Erklärung einhergeht – man denke an obiges Beispiel einer Infektion mit einem Virus. Dieser Umstand ist normalerweise bezeichnend für psychiatrische Diagnosen, denn diese werden in der Regel anhand von Symptomclustern, die als Diagnosekriterien dienen, klassifiziert (Lovett & Hood 2011). Hier spiegelt sich unsere grundsätzliche Trennung von psychischen und somatischen Krankheiten wider. In bisherigen Kontroversen um CFS wechselten sich biologische Erklärungen und Hypothesen über eine mögliche Psychogenität in ihrer Popularität zeitlich ab (Aronowitz 1998, 19ff; Karfakis 2018). Biologische Erklärungsansätze umfassten verschiedene virale sowie komplexe systemische Ursachen, während Hypothesen über eine mögliche Psychogenität sich meist auf Konzepte wie das der Somatisierung eigentlich psychologischer Probleme stützten.4 Während das Feld der Psychosomatik zwar mögliche Wege zur Überwindung dieser strikten Trennung somatischer und psychischer Krankheiten bietet, liegt darin keine Lösung parat, weil keine Einigkeit in der Sicht auf diese Dichotomie und damit einhergehenden Krankheitsmodellen besteht (Van Oudenhove & Cuypers 2014).5 Weiterhin wurde vorgeschlagen, CFS als kausal heterogene Krankheitskategorie aufzufassen. Ein mögliches Ergebnis zukünftiger Forschung wäre die Aufspaltung der Kategorie CFS in verschiedene Klassifizierungen mehrerer Krankheiten (White 2019, Ulvestad 2008, Castro-Marrero et al. 2017). Obwohl diese Debatte bis heute nicht abgeschlossen ist, haben in jüngerer Zeit insbesondere US-Gesundheitsbehörden CFS als ernstzunehmende, bisher wesentlich nicht erklärbare biologische Erkrankung akzeptiert (Sykes 2002, 2010; O’Leary 2018). Diese Entwicklung wurde von vielen Patient:innengruppen unterstützt, welche sich gegen die Psychiatrisierung ihres Leidens verteidigen 4 Siehe zu biologischen Ansätzen: Komaroff 2019; zu psychogenen Erklärungen: Shorter 1992, Huibers & Wessely 2006. Für kritische Perspektiven siehe Wilshire & Ward 2016, Twisk 2017. 5 Die Einordnung von CFS als psychosomatisch wird außerdem nicht als Lösung des Problems angenommen, sondern als Ignoranz gegenüber der vermeintlich eindeutig somatischen Natur der Krankheit gesehen (O’Leary 2020).
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(Kirmayer et al. 2004). Auf der anderen Seite stehen viele Forscher:innen, die die wesentlich ergebnislose Erforschung biologischer Ursachen und die hohe Prävalenz psychiatrischer Komorbiditäten bei Patient:innen mit CFSDiagnose betonen (Hossenbaccus & White 2013, Sharpe & Greco 2019). Der aus diesen gegenteiligen Perspektiven resultierende Konflikt führt auch zu einem Streit über verschiedene Behandlungsmöglichkeiten. Es existieren zwar einige Belege für die Wirksamkeit symptomatischer Behandlung mit kognitiver Verhaltenstherapie, sowie sogenannter ›graded exercise therapy‹ und ›pacing‹, diese Behandlungsstrategien wurden jedoch teils heftiger Kritik unterzogen, wobei die Vorwürfe von vermeintlicher Unwirksamkeit bis hin zu Schädlichkeit reichen (Karfakis 2018; O’Leary 2018, 2020). Während Patient:innen im ›pacing‹ darauf achten sollen, ihre Aktivität an vorhandene Energieressourcen anzupassen, sollen sie in der ›graded exercise therapy‹ ihr Aktivitätsniveau langsam steigern. Letzteres sowie die kognitive Verhaltenstherapie wird von Patient:innenseite oft abgelehnt und als Infragestellung der Ernsthaftigkeit ihrer körperlichen Erschöpfung wahrgenommen (Goudsmit & Howes 2017, O’Leary 2020). Aufgrund dieser Probleme und offenen Fragen wird CFS zu den sogenannten ›umstrittenen Krankheiten‹ gezählt. Deren Eigenschaften werden von Swoboda (2005) in folgender Auflistung zusammengefasst: Umstrittene Krankheiten haben 1. eine uneindeutige Ätiologie; 2. Verbindungen mit anderen Diagnosen und Komorbiditäten; 3. unklare Behandlungsvorgaben; 4. eine umstrittene medizinische, legale und kulturelle Klassifizierung; und 5. einen kontroversen Status als legitime Krankheit (ebd., Abs. 2). Weil diese Kriterien allerdings zu ungenau sind, und auf Krankheiten zutreffen können, die wir intuitiv nicht als umstritten klassifizieren würden, hat Harry Schone sie in seiner Analyse von CFS anhand einer Gegenüberstellung mit der nicht umstrittenen Krankheit Asthma präzisiert. Zwecks einer Zusammenfassung der diversen Probleme der Diagnose wollen wir dies kurz wiedergeben. Hinsichtlich der ungeklärten Ätiologie liegen im Fall CFS nicht nur mehrere Erklärungsmöglichkeiten vor, über die keine Einigkeit besteht, weil man sich einfach noch nicht sicher sein kann, wie es im Beispiel Asthma der Fall ist. Den Erklärungsmodellen kommt jeweils eine große Bedeutung zu, weil sie Auswirkungen auf grundlegende Fragen des Konflikts haben (Schone 2019, 10f). Eine Erklärung von CFS als psychogen wird als Angriff gegen Patient:innen wahrgenommen, die sich gegen die Psychiatrisierung ihrer Symptomatik wehren, und weiterhin auf eine eindeutige Erklärung durch somatische Faktoren hoffen, die den Konflikt beenden könnte. Im Hinblick auf Verbindungen mit anderen Erkrankungen und Komorbiditäten werden zwar auch andere
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Krankheiten häufig mit weiteren Diagnosen in Verbindung gebracht, was zu medizinischen Unklarheiten führen kann, dies ist für CFS aber besonders problematisch. Denn diese anderen Krankheiten sind selbst oft umstritten oder psychiatrischer Natur (ebd., 11f). Bei der Behandlungsmethodik fehlt für CFS nicht nur eine eindeutige evidenzbasierte Behandlungsmethode, die bisher vorgeschlagenen Methoden liefen auf inkonsistente Ergebnisse hinaus und blieben zu einem großen Teil unwirksam. Außerdem sind sie, wie schon erwähnt, hochkontrovers, da sie jeweils Hypothesen über die Ätiologie von CFS implizieren können (ebd., 12f). Hinsichtlich der letzten beiden Kriterien lässt sich über CFS erstens sagen, dass negative Vorurteile sowohl aufseiten der medizinischen Autoritäten als auch der Gesellschaft von Patient:innen als gewichtiges Problem wahrgenommen werden und mit dem Konflikt um medizinische Klassifizierung interagieren.6 Diskriminierung und Stereotype über Patient:innen werden immer wieder im Streit um eine somatische oder psychiatrische Klassifizierung ins Spiel gebracht (ebd., 15f). Zweitens geht Schone davon aus, dass genuine epistemische Unsicherheiten bestehen, die die Erklärung und Klassifizierung der Krankheit auf einer grundsätzlichen Ebene offen halten, wie dies für andere Krankheiten nicht der Fall ist (ebd., 17). All diese Umstände führen also dazu, dass CFS als sogenannte umstrittene Erkrankung diskutiert wird. 3.
Der Streit um CFS als Heterodoxie
An dieser Stelle soll eine Einordnung der Streitfrage CFS in den Bereich der Heterodoxien helfen, die epistemische Beschaffenheit des Diskurses zu charakterisieren. Eine Betrachtung der Thematik anhand der Begrifflichkeit des Heterodoxen, als »ein von etabliertem, ›orthodoxem‹ Wissen abweichendes Wissen, das sich im Geltungskrieg mit dem orthodoxen Wissen befindet« (Lessau et al. 2021, VIII), soll den Fokus hin zu tieferliegenden konzeptuellen Problemen verschieben, die wir im nächsten Abschnitt anhand der Analyse des Themenbereichs epistemischer Ungerechtigkeit herausarbeiten wollen. In der Frage, was CFS als Heterodoxie ausmacht, ist zuerst herauszustellen, dass es sich hier offensichtlich nicht um ein oberflächliches epistemisches Problem handelt, welches durch zu erwartende Forschungsergebnisse gelöst 6 Siehe hierzu bspw. Dumit (2006), der eindrücklich beschreibt, wie Betroffene strategisch gegen verschiedene Diskriminierungen in der Begegnung mit medizinischen Institutionen vorgehen.
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werden wird. Diesen Umstand wollen wir betonen, da er unsere Frage motiviert, was CFS zu einem Streitthema macht. Ein Vergleich mit der Situation der Long Covid Erkrankung ist hier erhellend: Die Krankheit ist ein neu auftretendes Phänomen, welches zwar eine gewisse Kontroversität mit sich bringt, allerdings vor allem offene Fragen, die bisher noch keine verbreiteten gegenläufigen Positionierungen zur Folge hatten. Ob Long Covid ein ähnliches Schicksal wie CFS als umstrittene Erkrankung erfahren oder einer eindeutigen Ätiologie und Klassifizierung zugeordnet werden wird, kann nur durch den weiteren Verlauf der Forschung bestimmt werden. CFS hingegen besteht als Phänomen und als Forschungsproblem schon seit Jahrzehnten und hat in dieser Zeit klare Konfliktlinien zwischen systematisch unterschiedlichen Positionen hervorgebracht. Die Diskussion wird mit Begriffen wie »conceptual deadlock« (Blease & Geraghty 2018, 395) und »stalemate« zwischen Ärzt:innen und Patient:innen (Godlee 2011) versehen. Die Besonderheit der Konfliktlinien ist, dass sie vorwiegend zwischen Betroffenen und medizinischer Gemeinschaft verlaufen, nicht zwischen verschiedenen Forschenden oder wissenschaftlichen Schulen (Hossenbaccus & White 2013, Blease & Geraghty 2018). Auf Seiten der Patient:innengemeinschaft ist die Tendenz, CFS als somatisches Phänomen aufzufassen und als solches zu verteidigen am stärksten ausgeprägt, während unter Mediziner:innen vorwiegend an der Ambiguität des Phänomens festgehalten wird und Vermutungen über die psychosomatische Natur der Erkrankung vorherrschen (Schone 2019, 15; Hossenbaccus & White 2013, 3f). In diesem Streit spielen also grundlegende Zweifel an der Legitimität wissenschaftlicher Methodik keine relevante Rolle und die Institution der Medizin ist selten das Ziel einer grundlegenden Kritik. Das grenzt diese Diskussion klar von anderen Heterodoxien wie der Alternativmedizin ab. Das Phänomen CFS wird gezielt an wissenschaftliche Institutionen herangetragen, mit der Erwartung einer Einordnung in deren Konzeptualisierung von Krankheiten und einer spezifischen Vorstellung davon, wie es zu interpretieren sei. Auch wenn wir über die Heterodoxität einer Sichtweise als auf einer Skala befindlich denken (Lessau et al. 2021, VIIIf), ist CFS ein besonderer Fall. Im Vergleich zu anderen umstrittenen Krankheiten wie die oben schon herangezogene elektromagnetische Hypersensibilität, ist die Annahme, CFS sei eine somatische Erkrankung, sicherlich weniger heterodox. Die Möglichkeit einer somatischen Ätiologie wird als gleichberechtigte Hypothese des wissenschaftlichen Diskurses betrachtet, die keinen grundlegenden wissenschaftlichen Prinzipien widerspricht. Die Hypothese einer psychischen Verursachung kann keinen konkreten Gegenbeweis liefern, weil eine psychiatrische Diagnose keine Ätiologie mit sich bringt, die eine somatische Verursachung endgültig
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ausschließen könnte. Es wäre lediglich fraglich, ab welchem Zeitpunkt die weitere Erforschung irrational würde, weil die Entdeckung einer somatischen Verursachung zu unwahrscheinlich wird. Dieser Punkt scheint bisher zumindest aus Sicht der am Streit beteiligten Parteien noch nicht erreicht zu sein, was sich auch darin abbildet, dass anerkannte Wissenschaftler:innen sich des Problems annehmen und weiterhin mögliche somatische Ätiologien erforschen.7 Diese wissenschaftstheoretische Verortung des Konflikts, sowohl hinsichtlich der Konfliktlinien als auch der Stärke der Heterodoxität, wird in der Frage von Bedeutung sein, warum die Thematik die beschriebene konflikthafte Form annimmt. Denn dass die Hypothese einer somatischen Ätiologie weniger heterodox ist, heißt nicht, dass der Konflikt um CFS weniger polemisch geführt wird. Der Konflikt findet gewissermaßen direkt an den Toren der Wissenschaft statt und lässt die Hoffnung auf eine zukünftige Erklärung, die die bevorzugte Interpretation der Patient:innen bestätigt, nicht verblassen. Das spielt in der von uns identifizierten Epistemisierung des Diskurses eine bedeutende Rolle. Um zu verstehen, wie dies die Pattsituation des Diskurses erklären kann, wenden wir uns nun der Analyse epistemischer Ungerechtigkeit zu, die das Problem auf der philosophischen Ebene veranschaulicht. 4.
Epistemische Ungerechtigkeit im Fall CFS
In philosophischen Perspektiven auf das Thema CFS ist das Begriffswerkzeug der epistemischen Ungerechtigkeit, das von Miranda Fricker stammt (Fricker 2007), unumgehbar. Auch in der Long Covid Forschung wurde die Problematik schon thematisiert.8 Fricker wollte auf diese besondere Art der Ungerechtigkeit aufmerksam machen, die Personen in ihrer Fähigkeit zu wissen betrifft, wenn ihren Aussagen aufgrund von Vorurteilen keine adäquate Glaubwürdigkeit zugesprochen wird (›testimonial injustice‹ übersetzt ›Zeugnisungerechtigkeit‹ (Fricker 2023, 33)) oder ihnen bestimmte epistemische Ressourcen fehlen (›hermeneutical injustice‹) (Fricker 2007, 1). Bei der Übertragung dieser Analyse auf Fallbeispiele wie CFS handelt es sich nicht um eine zu vernachlässigende philosophische Nischendiskussion, sondern um eine Betrachtungsweise, die verbreitete Erfahrungen von Patient:innen aufnimmt und philosophisch reflektiert. Blease et al. (2017) stützen ihre Analyse epistemischer Ungerechtigkeit im Fall CFS auf eine breite Auswahl an empirischen Studien, die belegen, dass CFS-Patient:innen in ihrem Erleben 7 Siehe hierzu bspw. Rasa et al (2018), Wirth und Scheibenbogen (2020). 8 Siehe hierzu De Jesús et al 2022, Ireson et al 2022.
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des Gesundheitswesens regelmäßig negativen Vorurteilen, einem übertrieben scheinenden Maß an Skepsis, sowie Wissenslücken auf Seiten medizinischen Personals ausgesetzt sind.9 Es gilt also, diesen Erfahrungen argumentativ gerecht zu werden. In diesem Versuch kommt es unserer Meinung nach jedoch zu argumentativen Unstimmigkeiten, die die allgemeine Tendenz des Diskurses über CFS widerspiegeln: Die Analyse epistemischer Ungerechtigkeit sieht ein rein politisches Problem da, wo oft keines vorliegt, hat andererseits ein zu großes Vertrauen in vermeintliches Wissen über CFS und trägt so zur Epistemisierung des Diskurses bei. In diesem Abschnitt wollen wir die Begrifflichkeit epistemischer Ungerechtigkeit näher betrachten und ihre Übertragung auf den Fall CFS kritisch hinterfragen, indem wir die Grenzen der Politisierung des Problems aufzeigen. Das soll den Blick für die von uns identifizierten Probleme des Diskurses und der Rolle, die Epistemisierung darin spielt, öffnen. Der Fall der Zeugnisungerechtigkeit tritt in Situationen der Wissensvermittlung auf, bspw. in Gesprächen. Dabei wird dem Wissen einer Person aufgrund von negativen Vorurteilen weniger Glaubwürdigkeit zugesprochen, als ihr ohne die Existenz solcher Vorurteile zukommen würde (Fricker 2007, 9f). Bei hermeneutischer Ungerechtigkeit handelt es sich um Situationen, in denen es an Konzeptualisierungen des Erlebens fehlt, sodass eine Gemeinschaft in ihrem Verständnis bestimmter Situationen sowie in der Vermittlung von Wissen über diese eingeschränkt ist, zum Beispiel wenn eine Bezeichnung für eine bestimmte Art von Erfahrung fehlt (ebd., 147f). Ian James Kidd und Havi Carel haben die Konzepte Frickers auf den Bereich der Medizin übertragen. In diesem Kontext ist die zentrale These, dass negative Einstellungen und Vorurteile gegenüber kranken Personen zu epistemischer Ungerechtigkeit führen (Kidd & Carel 2017, 177). Zeugnisungerechtigkeit wäre hier zum Beispiel ein gemindertes Vertrauen in den Bericht von Symptomen in einem Anamnesegespräch zwischen Ärzt:in und Patient:in, etwa, weil kranken Menschen eine zu geringe Leidensfähigkeit zugesprochen wird und sie deshalb als ›wehleidig‹ wahrgenommen werden. Im Fall hermeneutischer Ungerechtigkeit beinhaltet die Analyse weitreichendere Thesen, die etwas mehr Erklärung bedürfen. Kidd und Carel erklären, dass die Ungerechtigkeit hier darin besteht, dass Betroffene zwar über epistemische Ressourcen für das Verständnis ihres Erlebens der Krankheit verfügen, diese jedoch von epistemischen Autoritäten nicht anerkannt werden. Die Behauptung, die hier aufgestellt wird, ist die, dass kranke Personen über eine eigene Art von Wissen verfügen, die jedoch aufgrund der Voraussetzungen in 9 Weitere Anwendungen auf den Fall CFS sind zu finden bei Blease & Geraghty 2018, Spandler & Allen 2017.
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Institutionen der Medizin aus dem Wissensprozess ausgeschlossen wird. Kidd und Carel charakterisieren dieses als auf persönlicher Erfahrung beruhendes, in unprofessioneller Sprache verfasstes und oft in emotionaler Weise ausgedrücktes Wissen. Es steht somit dem professionalisierten, an rein rationaler Erkenntnis interessiertem medizinischem Wissen gegenüber. (Kidd & Carel 2017, 183f) Im Fall hermeneutischer Ungerechtigkeit wird somit eine grundsätzlichere Kritik an medizinischer Forschung formuliert: Es ist diese Art des institutionalisierten Erkenntnisprozesses selbst, die Ungerechtigkeiten in der Kommunikation mit Patient:innen und ihrer Behandlung durch ihre Methodologie verursacht. Allerdings sind Kidd und Carel keine radikalen Systemkritiker:innen, wie auch die Vertreter:innen somatischer Erklärungen für CFS. Ihre Kritik hat nicht zum Ziel, jetzige medizinische Forschung durch eine neue Art der Erkenntnisgewinnung zu ersetzen, die wissenschaftliche Methodologie überwinden will und bspw. gänzlich auf persönlichem Erfahrungswissen beruhen würde. Kidd und Carel schlagen lediglich vor, darauf hinzuwirken, die gelebten Erfahrungen und persönlichen Erkenntnisse von Patient:innen in höherem Maße in den bestehenden Erkenntnisprozess einfließen zu lassen (Kidd & Carel 2018, 231). Es ist diese weiterentwickelte Analyse epistemischer Ungerechtigkeit, die an das Phänomen CFS herangetragen wurde, um die empirisch eruierten Erfahrungen von Patient:innen philosophisch greifbar zu machen. Blease et al. argumentieren folgenderweise: Ausgehend von zahlreichen Studien sei offenbar, dass negative Einstellungen gegenüber kranken Personen und insbesondere CFS-Patient:innen in der Gesellschaft und auch im medizinischen Bereich verbreitet sind. Solche Einstellungen würden nun auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu epistemischer Ungerechtigkeit führen. In diesem Sinne interpretieren sie Schwierigkeiten im Diagnoseprozess und der Kommunikation zwischen Ärzt:innen und Patient:innen als wahrscheinliche Kandidaten solch einer Ungerechtigkeit. Hierzu zählen lange Wartezeiten vor einer Diagnostizierung, Zögerlichkeit in der Überweisung an weiterbehandelnde Stellen bis hin zu grundsätzlichem Zweifeln an der Legitimität von CFS als Diagnosekategorie. Diese Phänomene verstehen Blease et al. als wahrscheinliche Evidenz für vorurteilshafte Zweifel an Patient:innenberichten sowie einen Widerwillen, Interpretationen aus Patient:innensicht in den Erkenntnisprozess aufzunehmen und vorhandene hermeneutische Ressourcen zur Verfügung zu stellen. (Blease et al. 2017, 553f) Die Argumentation verfährt also in zwei Schritten. Zunächst muss gezeigt werden, dass negative Einstellungen gegenüber einer Gruppe von Personen, hier CFS-Patient:innen, bestehen. Dass dies der Fall ist, wollen wir hier nicht
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anzweifeln; auch dass dies in bestimmten Situationen zu fehlendem Vertrauen in Patient:innenaussagen führt, halten wir angesichts der vielen Erfahrungsberichte für wahrscheinlich. Zweitens muss aber auch gezeigt werden, dass in den dargestellten Situationen negative Einstellungen für epistemische Ungerechtigkeiten verantwortlich sind. In diesem zweiten Schritt werden unseres Erachtens Unsicherheiten, die sich durch die derzeitige Forschungslage rechtfertigen lassen, stattdessen auf Vorurteile gegenüber Patient:innen zurückgeführt. So wird der Fokus auf vermeintlich politische Probleme gerichtet, das Wissen über CFS nicht weiter hinterfragt und das schwierige Unterfangen, die Krankheit zu konzeptualisieren, vermieden. Auch in der neueren philosophischen Diskussion epistemischer Ungerechtigkeit im Fall CFS werden erste Zweifel geäußert. Byrne (2020) kritisiert an den Analysen epistemischer Ungerechtigkeit, dass alternative Erklärungen für die oben beschriebenen Fälle von Zeugnisungerechtigkeit und hermeneutischer Ungerechtigkeit grundsätzlich ausgeschlossen werden. Wir wollen anhand von drei Punkten darstellen, wie genuin epistemische Probleme vorschnell als Ungerechtigkeiten interpretiert werden können und Wissen über CFS nicht hinterfragt wird: Bezüglich der Zögerlichkeit in der Diagnostizierung von CFS, des geforderten Einbezugs der Patient:innenperspektive, und der Einstellungen von Ärzt:innen gegenüber der Legitimität von CFS als Diagnosekategorie. Zunächst kann Zurückhaltung im Ausstellen einer Diagnose schlicht der Tatsache geschuldet sein, dass deren negative Effekte auf Patient:innen ernstgenommen werden (ebd., 375). Eine Krankheit ohne Ätiologie oder vielversprechende Therapiemöglichkeiten zu diagnostizieren hat nicht nur wenig Auswirkungen auf die Behandlung von Patient:innen, sondern könnte auch eine noch größere Belastung auslösen. Die Annahme, an einer schweren Erkrankung ohne große Hoffnung auf schnelle oder vollständige Heilung zu leiden, könnte zur Folge haben, dass die Beschwerden durch eben solche Vorstellungen verstärkt werden. Auch wenn Diagnosen positive Effekte zur Folge haben können, sollten Ärzt:innen also vorsichtig abwägen, wie nützlich eine CFS-Diagnose in einer gegebenen Situation sein kann.10 Hier wird schon sichtbar, dass der Vorwurf epistemischer Ungerechtigkeit nicht nur unangemessen politisiert, sondern auch zu großes Vertrauen in vermeintliches Wissen über CFS hat, das in der Diagnostizierung zur Anwendung kommen soll. Hinsichtlich der Ablehnung der Patient:innenperspektive gibt Byrne zu bedenken, dass nicht sicher ist, welcher Grad an Rationalität oder Objektivität ihr zuzuschreiben ist (ebd., 376f). Welche epistemischen Stärken und Schwächen sie allgemein gegenüber der ärztlichen Perspektive mit sich bringt, ist 10
Siehe hierzu Huibers & Wesseley (2006).
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eine komplexe Fragestellung, wie auch die oben dargestellte Analyse von Kidd und Carel im Fall hermeneutischer Ungerechtigkeit zeigt. Auch Byrne sieht auf beiden Seiten Probleme sowie Vorteile, die sich gegenseitig ergänzen können. Die ärztliche Sicht blickt von außen, und deshalb möglicherweise neutraler auf das Geschehen und bringt eine Menge an medizinischem Wissen mit sich. Ihr fehlt jedoch die von Kidd und Carel beschriebene alltägliche, detaillierte Erfahrung der Krankheit, die sich möglicherweise nicht gänzlich anhand medizinischer Begrifflichkeiten einfangen lässt (ebd., 377). Erstere bringt diese mit sich, ist jedoch weniger informiert und weniger neutral (ebd.). Byrne zieht daher den Schluss, dass der Erkenntnisprozess eine kollaborative Angelegenheit darstellen muss, wobei Vor- und Nachteile der verschiedenen Sichtweisen vorsichtig abgewogen werden (ebd.). Auch hier zeigt sich, dass die Analyse epistemischer Ungerechtigkeit nicht nur politische Probleme überbetont, sondern auch die Diskussion von grundlegenden epistemologischen Fragen ausklammert. Aus unserer Sicht sollte eine nuancierte Betrachtung dieser Thematik nicht nur Vor- und Nachteile verschiedener Erkenntnisprozesse abwägen, sondern auch die aufgemachte Dichotomie zwischen medizinischem Wissen und Erfahrungswissen hinterfragen. Die persönliche Erfahrung einer Krankheit ist nicht unberührt von der wissenschaftlichen Perspektive und somit zumindest in einer von dieser geprägten Gesellschaft theoretisch aufgeladen. Ob ich beispielsweise eine Symptomatik als psychisch oder somatisch einordne, ist von der gängigen Sicht auf solche Symptome und darauf, wie psychische und körperliche Phänomene überhaupt definiert werden, geprägt (Kleinmann 2004, Kirmayer & Bhugra 2009). Dass sich also in einem kollaborativen Vorgehen von Mediziner:innen und Betroffenen zwei grundsätzlich verschiedene Sichtweisen ergänzen, sollte nicht als gegeben angenommen werden. Die Analyse epistemischer Ungerechtigkeit problematisiert diese Annahme nicht, weil sie das Wissen von Patient:innen nicht weiter hinterfragt. Sowohl die Zögerlichkeit im Diagnoseprozess als auch die Ablehnung der Patient:innenperspektive werden von Blease et al. nun mit der Tatsache in Verbindung gebracht, dass Ärzt:innen scheinbar die Legitimität von CFS als Krankheit anzweifeln oder sogar ablehnen. Auch hier gibt Byrne die konzeptuellen Probleme der Diagnose zu bedenken, die solche Unsicherheiten bis zu einem gewissen Maß rechtfertigen (ebd., 374). In der Analyse von Blease et al. ergeben sich in diesem Punkt erhebliche sprachliche Ungenauigkeiten, die je nach Auslegung entscheidende Auswirkungen auf die Argumentation haben. Diese Problematik ist unseres Erachtens bezeichnend dafür, wie die Analyse epistemischer Ungerechtigkeit schwerwiegende epistemische Probleme übergeht.
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Blease et al. belegen ihre Aussage, dass es einen Widerwillen von Ärzt:innen gibt, die Legitimität von CFS anzuerkennen, zunächst mit einer Studie, die ihren Worten gemäß zeigt, dass nur die Hälfte der befragten Ärzt:innen glauben, CFS sei eine reale Krankheit (Blease et al. 2017, 553). Solch eine Aussage bedarf der Konkretisierung, da schnell auffällt, dass dies verschiedenes bedeuten kann. Es wäre sowohl vorstellbar, dass den Patient:innen im Extremfall Vortäuschung oder Übertreibung von Symptomen vorgeworfen wird, als auch, dass zwar reales Leiden erkannt, dies allerdings nicht einer medizinisch anerkannten Krankheit zugeschrieben wird. Unglücklicherweise vervielfältigen sich die möglichen Interpretationen bei einem Blick in die an dieser Stelle zitierte Studie. Diese habe ergeben, dass 56 % der Ärzt:innen glauben, dass eine Krankheit namens CFS existiert (Thomas et al. 2005, 4), was zunächst nicht mehr bedeuten muss als die Anerkennung der Existenz von Patient:innen, die ihre Erkrankung als solche benennen. Im Diskussionsteil der Studie wird dies so wiedergegeben, dass 56 % der Ärzt:innen glauben, CFS sei eine anerkannte Krankheit (ebd., 5). Dies würde Kenntnisse über die aktuelle Klassifizierung im ICD implizieren. Die größte Kluft befindet sich fatalerweise zwischen all diesen Formulierungen und der Frage, die den Ärzt:innen ursprünglich gestellt wurde. Diese lautete, ob sie daran glaubten, dass es »a single entity called Chronic Fatigue Syndrome (often known as Myalgic Encephalomyelitis)« (ebd., 3) gebe. Die Annahme einer einzigen Entität, die als CFS zu bezeichnen ist, steht unter anderem der Möglichkeit gegenüber, dass derzeit als CFS-Patient:innen behandelte Personen tatsächlich an verschiedenen Erkrankungen leiden und die Diagnose infolge zukünftiger Forschungsergebnisse durch mehrere andere Klassifikationen ersetzt wird. Die Realisierung dieser Möglichkeit ist, wie gesagt, von den derzeitig akzeptierten Diagnosekriterien noch nicht ausgeschlossen. Eine affirmative Antwort auf die gestellte Frage verlangt also deutlich höhere Zugeständnisse als es die Wiedergabe der Ergebnisse und deren Diskussion sowie die Formulierung von Blease et al. vermuten lassen.11 Wir sollten hier wohlwollend davon ausgehen, dass in der Studie befragte Ärzt:innen aufgrund der diversen von Byrne genannten epistemischen Unsicherheiten keine affirmative Antwort auf eine Frage mit solch hohen Maßstäben geben wollten, anstatt ihre Zweifel auf etwaige Vorurteile zurückzuführen. Auch hier wird also ein Problem 11
Eine weitere Studie wird von Blease et al. so zitiert, dass 25 % der befragten Ärzt:innen CFS nicht als klinische Entität anerkennen. In besagter Studie wurde untersucht, ob Ärzt:innen daran glauben, dass CFS eine wiedererkennbare klinische Entität sei. Wenn auch subtiler als die Ungenauigkeiten im Fall der Studie von Thomas et al., ergibt sich hier ein Unterschied, wenn Ärzt:innen dies als eine Frage nach alllgemeiner Wiedererkennbarkeit verstehen.
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unangemessen politisiert, indem dessen Zusammenhang mit weitreichenden konzeptuellen Schwierigkeiten ausgeblendet wird. Bei genauerem Hinsehen stellt sich also insgesamt heraus, dass die Autor:innen im Fall CFS zu leichtfertig auf epistemische Ungerechtigkeit schließen. Gerade in der Gegenüberstellung der verschiedenen Interpretationen der Frage, ob CFS eine legitime Krankheit sei, wird sichtbar, dass es in der Kommunikation zwischen Ärzt:innen und Patient:innen nicht darum geht, niedergeschriebene Diagnosekriterien, auf die sich einvernehmlich geeinigt wurde, schlicht anzuerkennen und auf einzelne Fälle anzuwenden. Dieses Bild, das hinter dem Vorwurf zu großer Zögerlichkeit und unangemessenem Zweifel steht, zeigt, dass die eigentlichen epistemischen Gegebenheiten von CFS hier nicht hinterfragt werden. Wie Byrne erklärt: Taking these descriptions to be clear evidence of negative stereotyping is suggestive of the idea that the relevant injustices can be prevented by simply confronting the attitudes of the medical professionals in question. It is problematic to attribute negative stereotyping to GPs who may be expressing concerns that require action of a different kind, namely more work committed to trying to address the conceptual problems with CFS/ME. (375f)
Wir wollen betonen, dass die Annahme genuiner epistemischer Unsicherheiten nicht nur eine zu diesem Zeitpunkt gleichwertige Erklärung, sondern eine adäquatere ist als die epistemischer Ungerechtigkeit. Wir bevorzugen diese wohlwollende Perspektive, da anzunehmen ist, dass alle Beteiligten ein Interesse daran haben, Uneindeutigkeiten zu beseitigen und die Wahrheit über CFS zu erfahren. So wie Patient:innen wissen wollen, woher ihr Leiden stammt, sind auch Ärzt:innen daran interessiert, dem auf den Grund zu gehen und Antworten sowie eventuell aus diesen resultierende Behandlungsmethoden anbieten zu können. Mit dieser Überlegung reduziert sich das Vorkommen epistemischer Ungerechtigkeit auf Fälle, in denen eindeutig negative Vorurteile gegenüber Patient:innen zutage treten. Die hier festgestellte Verschiebung des Fokus hin zu politischen Problemen, die sich auf vermeintlich sicheres Wissen über CFS stützt, wollen wir nun in unsere allgemeine Diskursanalyse einordnen. 5.
Epistemisierung im Diskurs über CFS
Wir wollen zunächst einem möglichen Missverständnis zuvorkommen, das sich aus unserer Kritik am Konzept epistemischer Ungerechtigkeit ergeben könnte. Es könnte so scheinen, als wollten wir nur eine unangemessene Politisierung
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eines eigentlich rein epistemischen Problems kritisieren. Aus diesem Blickwinkel wäre das Sprechen von epistemischer Ungerechtigkeit lediglich nicht zutreffend, da ein politisches Problem dort wahrgenommen wird, wo schlicht eine Wissenslücke besteht. Unsere Kritik wendet sich jedoch nicht grundsätzlich gegen das Aufdecken politischer oder normativer Aspekte epistemischer Angelegenheiten. Während die Erklärung von Problemen in der CFS-Diagnostik durch Vorurteile inadäquat ist, sollte die Analyse nicht an dieser Stelle stehen bleiben und schlicht auf offene Forschungsfragen verweisen. Dies wäre aus unserer Sicht eine flache Form von Kritik, die nicht zufriedenstellend erklären kann, woher die Konflikthaftigkeit dieser offenen Fragen stammt. Unseres Erachtens machen die argumentativen Probleme der Analysen epistemischer Ungerechtigkeit eine konzeptuelle Grenze dieser Herangehensweise sichtbar, die für die Grenzen der allgemeinen Diskussion über CFS bezeichnend ist. Zwar werden Probleme im allgemeinen Bereich epistemischer Phänomene, wie die Weitergabe von Wissen und der Zugriff auf hermeneutische Ressourcen beschrieben. Verursacht werden diese allerdings von außerhalb dieses Bereichs, nämlich durch diskriminierende Vorurteile, welche die eigentlich zustehende Glaubwürdigkeit oder vorhandene epistemische Ressourcen von Patient:innen einschränken. Das adäquate Maß an Glaubwürdigkeit der Patient:innensicht wird als gegeben betrachtet, indem der durch genuin epistemische Ungeklärtheit verursachte Zweifel ignoriert wird, und die hermeneutischen Ressourcen von Patient:innen werden nicht weiter hinterfragt. Die eigentliche epistemische Beschaffenheit der Thematik bleibt also, entgegen der Erwartungen, die die Bezeichnung epistemische Ungerechtigkeit auslöst, unberührt. Durch diese konzeptuelle Ausrichtung wird der Blick auf negative Vorurteile und Diskriminierung beschränkt, anstatt tiefergehende epistemologische und normative Probleme des Diskurses und Streitgegenstands in die Analyse einzubeziehen. Die Politisierung des Phänomens führt so paradoxerweise zu einer Epistemisierung der Diskussion: Die Lösung des Konflikts soll weniger Zögern und Zweifeln und mehr Vertrauen in Patient:innenwissen und wissenschaftliche Fakten sein. Was wir deshalb behaupten wollen, ist, dass in der Diskussion über CFS nicht die Politisierung das eigentliche Problem ist, sondern eine Epistemisierung. Mit diesem Begriff beschreibt Alexander Bogner, wie in verschiedenen öffentlichen Diskursen vermehrt auf die »Macht der Zahlen und Fakten« (Bogner 2021, 18) gesetzt wird, die offene Fragen für uns entscheiden sollen, ohne dass wir eine Diskussion über verbundene normative Fragen führen müssen (ebd., 18f). Dahinter steht die Annahme, dass es erstens solche faktischen Antworten auf die relevanten Fragen geben kann, und zweitens ein klarer Weg
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von diesen zu den richtigen politischen Entscheidungen führt (ebd., 19). Bogners Trennung von politischen und epistemischen Fragen hilft uns hier nur begrenzt, da die eigentlichen Fragen im Streitfall CFS nicht rein normativer, sondern auch konzeptueller Natur sind. Trotzdem trifft sein Begriff unseres Erachtens zu, was wir abschließend hinsichtlich der Patient:innenperspektive und der medizinischen Sichtweise beschreiben wollen. Unsere Einordnung von CFS als Heterodoxie, die gewissermaßen die Tore der Wissenschaft belagert, hat gezeigt, dass von Patient:innenseite ein klarer Anspruch an die Forschung gestellt wird: Sie soll das Problem CFS durch weitere Forschung und neue Erkenntnisse lösen. Hier findet also schon Epistemisierung vonseiten der Betroffenen statt, indem sich auf die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Lösung eingeschränkt wird. Dabei ist nicht gesagt, dass zukünftige Forschung eine somatische Erklärung überhaupt mit sich bringen kann. Dass diesem Auftrag nicht nachgekommen werden kann, wird von Patient:innenseite nicht als prinzipielles Problem gesehen. Wie auch Schone in seiner Analyse des Problems schreibt: »putting the issue to one side with an assertion of future identification of pathology assumes that all illlness can and will one day be explained biomedically.« (Schone 2019, 27) Das liegt unseres Erachtens unter anderem daran, dass CFS gewissermaßen als PlatzhalterDiagnose fungiert. Die Funktion der Diagnose und Kennzeichnung im ICD ist schließlich nicht, wie wir im Vergleich von somatischen und psychiatrischen Diagnosen festgestellt haben, eine Erklärung für die Erkrankung zu bieten. Wozu dient die Einordnung im ICD in den Bereich der Krankheiten des Gehirns dann? Eine mögliche Antwort wäre, dass durch die Einordung angezeigt werden soll, welcher Natur die richtige Art von Erklärung sein wird. Weil die Klassifizierung durch die Platzhalter-Diagnose tendenziell der bevorzugten Sichtweise von Patient:innen Recht gibt, wird ihnen signalisiert, dass ihr Problem in den Aufgabenbereich somatischer Medizin fällt. Andererseits bietet diese nicht die tatsächlich gewünschten Antworten – was, wenn wir ihr wohlwollend keine konträren Interessen unterstellen, durch die Evidenzlage gerechtfertigt ist. Somit wird die Entscheidung über die Legitimität von CFS als somatische Krankheit daran festgemacht, dass noch unentdeckte Fakten zutage treten könnten. Auch die Rolle als Platzhalter-Diagnose trägt also, hier vonseiten der Medizin, zum Problem der Epistemisierung bei und hat die derzeitige Pattsituation zur Folge. Die fehlende Beschäftigung mit grundsätzlichen konzeptuellen Problemen tritt vor allem in dem Kampf gegen die Psychiatrisierung von CFS zutage. Gegen diese wird so vehement angekämpft, weil sie vermeintlich einen Zweifel an der Wirklichkeit oder Ernsthaftigkeit des Leidens bedeutet. Eine Klassifizierung als psychiatrische Erkrankung bedeutet in den Augen vieler
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Betroffener, sie seien gar nicht wirklich krank (Spandler & Allen 2017, 133). Es erscheint offensichtlich, dass hier ein gedanklicher Schritt gemacht wird, der leicht umgangen werden könnte, wenn psychisch erkrankt zu sein nicht mit ›nicht wirklich krank sein‹ gleichgesetzt würde. Es ist sicher wünschenswert, diese Gleichsetzung zu überwinden, allerdings ist das an dieser Stelle kein Ausweg aus der Diskussion. Ob hier gesellschaftliche Vorurteile über psychische Erkrankungen unreflektiert übernommen werden, oder Betroffene schlicht sensibel gegenüber diesen festgefahrenen Ideen sind, ohne ihnen selbst zum Opfer zu fallen, ihre Bedeutung kann nicht einfach aus dem Weg geräumt werden. Hinzu kommt, dass zwar Argumentationen gegen diese Krankheitsbilder im Diskurs über psychische Gesundheit bereitliegen, die schon lange zur Anwendung kommen, um mehr Akzeptanz für die Realität psychischer Krankheiten zu gewinnen, sich die Lage jedoch im Fall chronischer Krankheiten mit starken somatischen Beschwerden verkompliziert. Betroffene wollen schließlich Erklärungen und damit einhergehendes Verständnis für die Tatsache, dass sie körperlich nicht fähig sind, ein annähernd normales Leben zu führen. Der Einwand, dass auch psychische Krankheiten wirklich sind, verlegt die Diskussion also einfach in den Kampf um Akzeptanz psychischer Krankheiten und die Frage, wie mit ihren somatischen Folgen umzugehen ist. An dieser Stelle wäre also eine noch weitreichendere Hinterfragung unserer Vorstellungen von Krankheit vonnöten, die weder die vermeintliche Ungerechtigkeit der Psychiatrisierung noch die Zweifel an der Realität psychischer Krankheiten als das vorwiegende Problem sieht. Die Diskussion über CFS ist schließlich nicht nur geprägt von der Annahme, dass es von klarem Vorteil wäre, die Symptomatik auf eine somatische Ursache zurückzuführen, sondern auch von der, dass alle Krankheiten überhaupt klar in eine dieser beiden Kategorien fallen. Der Fokus philosophischer Analysen von CFS sollte deshalb auf den Hindernissen liegen, die diese Dichotomie für unsere Beurteilung von Krankheitsphänomenen herstellt. Offensichtlich trägt sie im Fall CFS und auch anderen umstrittenen Erkrankungen nicht zu einem produktiven Erkenntnisprozess bei. Dies ist nur ein Teil der Fragen, die offen diskutiert werden könnten, wenn weniger an der Möglichkeit einer somatischen Erklärung von CFS durch die Wissenschaft festgehalten würde. Damit dies geschehen kann, müssen beide Seiten des Konflikts von einem unkritischen Vertrauen in eine wissenschaftliche Lösung des Problems abrücken, weil dies eben paradoxerweise zu dem zerrütteten Verhältnis zwischen Patient:innen und Medizin beiträgt. So könnten die Beteiligten ihre Aufmerksamkeit auf die von uns beschriebenen konzeptuellen Fragestellungen richten, die im Hintergrund den Diskurs antreiben.
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Schone schreibt über unsere gängigen Vorstellungen von Krankheit und wie sie umstrittene Diagnosen beeinträchtigen: [W]e consider ›contested illnesses‹, those which do not conform to our vision, those which lie outside of our expectations. The aim is not to show that people with these conditions are ›really‹ ill, or are deserving of sympathy, though this is in my view certainly true. Rather, I want to put it that we intuitively categorise disease according to certain predispositions, and when we encounter a phenomenon which contradicts these prejudices, a gap opens up between our expectations of disease and the condition itself, the thing before us. (Schone 2019, 2)
Es ist solch eine Herangehensweise, die empathisch mit dem realen Leiden von Betroffenen umgeht, jedoch auch Vorstellungen von Krankheit hinterfragt, die auf beiden Seiten des Konflikts den Diskurs prägen, und somit nicht selbst in dessen konzeptuelle Fallen tappt, die aus unserer Sicht in der zukünftigen Analyse von CFS und anderen umstrittenen Erkrankungen vonnöten ist. Bibliographie Robert A. Aronowitz: Making Sense of Illness. Science, Society, and Disease. Cambridge/New York. 1998. Charlotte Blease, Havi Carel, Keith Geraghty: Epistemic injustice in healthcare encounters: evidence from chronic fatigue syndrome. In: Journal of Medical Ethics 43 (2017), S. 549–557. Charlotte Blease und Keith Geraghty: Are ME/CFS Patient Organizations »Militant«?. In: Journal of Bioethical Inquiry 15 (2018), S. 393–401. Alexander Bogner: Die Epistemisierung des Politischen – Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Ditzingen 2021. Abigail A. Brown, Leonard A. Jason, Meredyth A. Evans, and Samantha Flores: Contrasting Case Definitions: The ME International Consensus Criteria vs. the Fukuda et al. CFS Criteria. In: North American Journal of Psychology 15/1 (2013), S. 103–120. Kjetil Gundro Brurberg, Marita Sporstol Fonhus, Lillebeth Larun et al.: Case definitions for chronic fatigue syndrome/myalgic encephalo-myelitis (CFS/ME): a systematic review. In: BMJ Open 4/2, (2014). Eleanor Alexandra Byrne: Striking the balance with epistemic injustice in healthcare: the case of Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic Encephalomyelitis. In: Medicine, Health Care and Philosophy 23 (2020), S. 371–379. Felicity Callard und Elisa Perego: How and why patients made Long Covid. In: Social Science & Medicine 268 (2021).
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Zwischen übermenschlichem Diskurs und unmenschlichem 1984
Ein Plädoyer für Manipulation in der demokratischen Massengesellschaft Alexander Fischer, Christian Illies 1.
Unvereinbarkeiten
Im Februar 2023, als sich die Kämpfe in der Ukraine jährten, rief der Philosoph Jürgen Habermas, Verfechter des Diskurses als einer idealen Kommunikationssituation, in der der zwanglose Zwang des Arguments zur Überzeugung rationaler Akteure führen soll, in der Süddeutschen Zeitung zu Verhandlungen aller der im Ukraine-Krieg involvierten Parteien auf. Das schließt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wie auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin ein, der den Angriffskrieg seit Februar 2022 vorantreibt (mit einer Vorepisode auf der Krim 2014). Putin scheint von Aufrufen dieser Art wenig beeindruckt (und beharrt drauf, dass vor einem möglichen Diskurs die Territorialgewinne Russlands anerkannt werden müssten). Aber auch Selenskyj hat Aufrufe zum Diskurs als aussichtslos zurückgewiesen, weil, so sagt er, mit einem propagandistischen Diktator keine Gespräche sinnvoll möglich seien. Selenskyi stellt sich so als Repräsentant einer diskursorientierten, demokratischen Politik dar, die aber die Grenzen des Möglichen nüchtern sieht – während Putin wie eine böswillige Figur aus George Orwells Roman 1984 erscheint, die Politik als reine Machtfrage betrachtet. Steht hinter Habermas’ Plädoyer bloßes Wunschdenken und Träumerei? Ein »Wunschdenken«, weil er das wünschenswerte Ideal einer friedlichen Konfliktlösung vertritt, aber zugleich eine »Träumerei«, weil die Hoffnung, die mit solchen Diskursen verbunden ist, doch realitätsfern scheint. Das Trommelfeuer der Geschütze übertönt jeden Ruf nach einem rational begründeten Überzeugungsprozess und argumentativ ausgehandelten Konsens. Die Rechtfertigung beider Seiten, nicht in einen Diskurs zu treten (bzw. treten zu können), ergeben nur aus den jeweiligen Perspektiven und Wertannahmen (staatliche Eigenständigkeit versus großrussische Zusammengehörigkeit) einen Sinn und begründen eine letztliche Unvereinbarkeit, da die jeweiligen * Für hilfreiche Anmerkungen danken wir Martin Barnickel, Mathis Lessau und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung »Rechtfertigungsspiele« an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg.
© Brill Fink, 2024 | doi:10.30965/9783846768174_011
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Alexander Fischer, Christian Illies
Realitäten nicht kongruent zu bekommen sind. Und doch wäre es in diesem furchtbaren Konflikt mehr als wünschenswert, beide Seiten bewegten sich auf dem aufklärerischen Boden rationaler Verhandlung und konsensfähiger Wertannahmen. Ein Ende der Gewalt und ein friedliches Zusammenleben sind unbestreitbare Ideale. Aber vielleicht ist der rationale Diskurs doch kein sicherer Weg, wenn man realistisch berücksichtigt, wie wir Menschen nun mal sind – manchmal vernunftbestimmt, aber ebenso oft interessegeleitet, affektiv getrieben, gelegentlich sachorientiert und friedlich, aber oft auch blind, wütend oder fanatisch. Der Mensch ist ein vernunftfähiges, kein unbedingt vernünftiges Naturwesen. Wir werden von komplexen Motiven bewegt, gerade auch im politischen Handeln, in dem noch massenpsychologische Affekte hinzutreten (Le Bon 1982). Von dieser anthropologischen Grundannahme sollte jede politische Philosophie und Theorie ausgehen, denn ideologische Träume, einen neuen, anderen Menschen politisch erschaffen zu wollen, verbieten sich angesichts der furchtbaren Großexperimente dieser Art des 20. Jahrhunderts.1 Was bedeutet das für das Ideal eines friedlichen Zusammenlebens in der modernen Massendemokratie? Wenn die Habermas’sche ideale Kommunikationsgemeinschaft kein realistisches Ziel ist, bleibt dann nur die Konsequenz der Gewalt, die in Orwells Roman 1984 beschrieben und in vielen Ländern von Russland über China bis Nord-Korea (um nur einige zu nennen) gegenwärtig praktiziert wird? Ist ein alles kontrollierender Machtapparat die einzige Alternative, einen gesellschaftlichen Frieden herzustellen? Wir hätten dann nur die Wahl zwischen einem übermenschlichen Diskurs und unmenschlicher Gewalt. In Aldous Huxleys Brave New World wird hingegen ein dritter Weg geschildert: Eine Befriedung durch eine staatliche Beglückungsstrategie, die zunächst Menschen zu nicht-aggressiven, affektgesteuerten Wesen abrichtet und konditioniert (teilweise auch züchtet), um anschließend gezielt über die Affektivität, also durch Manipulation, aber auch Drogen die Menschen zu einem sozialkonformen Herdenverhalten stumpfsinniger Sinnesfreuden zu lenken. Nun ist diese Welt Huxleys schon allein durch die dargestellte Menschenzucht hinreichend abschreckend, aber auch die starken Eingriffe in die menschliche Autonomie für einen demokratischen Staat sind inakzeptabel.
1 Das kann immer noch der mühsame Weg des Einzelnen durch Bildung und Arbeit am Selbst sein. Doch auch hier sollte man nicht denken, aus eigener Kraft wäre ein ganz neues, anderes Menschsein zu erreichen – vor allem, weil es durchaus fraglich ist, ob eine gefühlskalte Verstandesexistenz das tatsächliche Ideal des Menschseins ist.
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Es mag daher überraschen (und provozieren), dass wir dennoch bei Huxley Bausteine für eine sinnvolle Alternative zu Diskurs und Gewalt sehen: Eine bestimmte Ausprägung von Manipulation, die wir hier als eine gute bezeichnen wollen, bietet tatsächlich im Spannungsfeld von moderner Massendemokratie und radikaler Individualisierung eine sinnvolle Alternative, den inneren Frieden im Staat zu stärken. 2.
Schrille Vielstimmigkeit als Herausforderung der Massendemokratie
Was genau ist die Herausforderung? Die zunehmend multikulturell-diverse Welt ist unvermeidlich konfliktgeladen. Denn Diversität und Vielfalt bedeuten auch eine Vielfalt unterschiedlicher Meinungen und Interessen, die oft gesamtgesellschaftliche Fragen betreffen – man denke an die Verteilung sozialstaatlicher Leistungen, das Familienrecht, Klima- oder Wirtschaftspolitik, um nur einige Beispiele zu nennen. Da in einer modernen Demokratie alle Meinungen zählen, wenigstens Wahlen entscheiden, haben divergierende Überzeugungen ein besonderes Gewicht. Vor allem in Krisensituationen, wie momentan dem Ukraine-Krieg oder bei der Klimakrise, schwillt die Vielstimmigkeit schrill an – und wird leicht zu einem Problem der Repräsentation, der politischen Willensbildung aber auch von Governance. Dabei kann die Massendemokratie letztlich nur funktionsfähig bleiben, wenn sie hinreichenden inneren Einklang zeigt, um geeintes und entschiedenes Handeln der Entscheidungsträger zuzulassen. Warum tendieren gerade die Massendemokratien zu Divergenz und Heterogenität? Sie haben verschiedene strukturelle Merkmale, die Gegensätze verschärfen und Pluralität befördern. Nicht nur gibt es seit der Aufklärung einen dezidierten Rückgang homogenisierender Legitimationssysteme wie der Religionen in westlichen Demokratien. Panajotis Kondylis (2010) etwa argumentiert, dass die postmoderne Massendemokratie2 aufgrund des Verfalls und Untergangs der bürgerlichen Lebens- und Denkformen diesen Einklang verloren hat und inhärent instabil ist. In ihr versuchen immer wieder kollektive Kräfte Einfluss auszuüben und daher sei die Massendemokratie, auch weil sie es nicht schafft, ihren Anspruch allumfassender Gleichheit umzusetzen, stets der Gefahr von Populismus ausgesetzt: »Die Massendemokratie leidet […] unter 2 Die nach seiner Analyse auf eine, zunächst aufs Bürgertum beschränkte, ›oligarchische Demokratie‹ folgt, in der Entscheidungen entlang der Weltbilder von Liberalismus, Sozialismus und Konservativismus formuliert werden.
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dem Widerspruch zwischen erklärten Gleichheitsprinzipien und faktischer Herrschaft von Eliten, der in den Populismus mündet.« (2010, 201).3 Damit drohe mit der Tendenz zur Vermassung zugleich eine neue Form der Tyrannei. (Dem könne nur mit einem hinreichenden Einklang der Interessen begegnet werden, wobei demokratische Regierungen aber nur Wege beschreiten dürften, die mit demokratischen und moralischen Grundprinzipien und moralischen Anforderungen verträglich seien. Siehe dazu Abschnitt 6 unten.) Ein weiterer Grund für die Tendenz der Massendemokratien zu einer Vielstimmigkeit und Uneinigkeit sind wohl die stark betonten Werte und Ideale von Individualität, Autonomie und Heterogenität, die eine große Rolle im Verständnis westlich sozialisierter Bürgerinnen und Bürger spielen, und eine oft unvereinbare Pluralität der Interessen befördern. Andreas Reckwitz spricht hier von Singularitäten, die geschaffen werden und die Gesellschaft fragmentieren, so dass breitere kollektive Interessen nur noch unzureichend mobilisierbar sind. Dies geschieht auch, weil Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Nationalität – also traditionelle Orientierungen – vielfach an Bedeutung verlieren (was im Übrigen auch die Konjunktur solcher Kategorien in jüngster Zeit erklären kann). So sei die »Gesellschaft der Singularitäten« als eine Gesellschaft einer permanenten Beschleunigung von Unterschieden, einer Vielzahl von Identitäten und der Konkurrenz um Aufmerksamkeit zu verstehen (Reckwitz 2017). Dies auch durch den Wettbewerb als Strukturmerkmal einer kapitalistischen Demokratie, wodurch eine dezidiert konkurrierende Denk- und Lebenspraxis gefördert wird. Mittels der zunehmenden Technisierung und Mechanismen der Emotionalisierung und Polarisierung in den Sozialen Medien wird der Widerstreit verschiedener Positionen und Auffassungen noch weiter verstärkt (Fischer 2022a, Türcke 2019). Eine Konsequenz besteht in einem Vertrauensverlust zwischen verschiedenen Gruppen, hinsichtlich der Medien aber auch in Bezug auf Parteien und Regierungen. Vor allem die letzten Jahre haben so extreme Gruppierungen und schrillen Populismus virulent werden lassen. Bereits Thomas Hobbes’ Kritik an der Staatsform Demokratie bezieht sich auf die Problematik, dass durch die offene Adressierung von bestimmten 3 Kondylis‘ Einlassungen zur Verquickung von Liberalismus-Konservatismus-DemokratieMassendemokratie sind ohne Frage interessant, wenn sie auch Widerspruch bekamen. Kritisiert wurde, dass er nie die positiven Möglichkeiten der Massendemokratie würdigt, sondern nur als Diagnostiker eines selbst verschuldeten Untergangs bürgerlich-konservativer Werte auftritt. Die Massendemokratie bedarf, so analysiert er beispielsweise, »– als erste Gesellschaftsformation in der bisherigen Geschichte – hedonistischer Einstellungen und Werte, die den wirtschaftlich notwendigen massiven Verbrauch der massenweise produzierten Konsumgüter teils psychologisch nahelegen teils ethisch rechtfertigen. Der Breite des Spektrums hedonistischer Einstellungen und Werte entspricht die Breite der Konsummöglichkeiten.« (2010, 202f.)
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Gruppen mit unterschiedlichen Standpunkten es bei ihr letztlich nur darum gehe, auf Leidenschaften zu setzen statt auf Rationalität. Demokratie käme also nicht ohne Rhetorik aus, was sie instabil mache, da eine zu große Heterogenität kein Vorwärtsschreiten erlaube (Hobbes 2017). Und der Massenpsychologe Gustave Le Bon betont, wie solche irrationalen Dynamiken gerade in der Moderne zunähmen. Denn es komme in der gegenwärtigen Massengesellschaft zu einem »Schwinden der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen. Der einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat.« (Le Bon 1982, 17) Die Herausforderung besteht also einerseits darin, dass politische Einstellungen und das Handeln der Bürger stark gefühlsgesteuert sind, sich Einzelne und Gruppen immer stärker unterscheiden und voneinander abgrenzen und zugleich das atomisierte Individuum des liberalen Kapitalismus sich nach Zugehörigkeit sehnt und empfänglich für allerlei Gruppenrufe werden kann. Liberalismuskritiker wie Michael Sandel (1982) sehen gerade in dieser Atomisierung die eigentliche Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft, denn das atomisierte Individuum sei eine Person, die sich zwar als eigenständiges Wesen betrachte, sich aber gleichzeitig von anderen isoliert fühle, was zu einem Mangel an sozialer Bindung und Engagement führen könne. Doch nicht nur ein Mangel an Engagement, sondern auch – im Versuch der mangelnden Bindung zu entkommen – ein destruktives Engagement in besonders versiert lockenden Gruppierungen mit z. B. antidemokratischen oder systemkritischen Ressentiments kann die Folge sein. Angesichts solcher divergierender Dynamiken ist die moderne Massendemokratie auf Vorgehensweisen angewiesen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und damit letztlich das Funktionieren der Demokratie ermöglichen. Blicken wir genauer auf die schon genannten drei Möglichkeiten, wie sich Pluralität und Homogenisierung in der Massendemokratie in ein Verhältnis bringen lassen. Sie fallen mehr als unterschiedlich aus. 3.
Drei Antworten des 20. Jahrhunderts
Beginnen wir mit Aldous Huxleys Brave New World (1932). Wenn wir die Momente der Menschenzucht und biologischer Zurichtung weglassen, so wird Harmonie und Homogenität vornehmlich durch Bedürfnisbefriedigung, Verführung, Konditionierung und derart erzeugte Zustimmung hergestellt. Dabei geht es vor allem um die Zurichtung des Individuums, das sich der
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Gesamtgesellschaft unterzuordnen und gefühlsmäßig gleichzuschalten hat. Die gleichmütige Affektivität des Einzeln ist ein Zielpunkt und Mittel der Einhegung, denn sie muss ›passend‹ und darf nicht zu intensiv sein. Auf eine Bemerkung Bernards – »›I want to know what passion is,‹ […] ›I want to feel something strongly‹« –, antwortet Lenina im Ton der Verkündigung: »When the individual feels, the community reels« (Huxley 2000, 78). Die Gesellschaft ist in Huxleys Dystopie zudem in Kasten eingeteilt, wo »any given individual [is assigned] to his or her proper place in the social and economic hierarchy.« (2000, 10) Die Kontrolleure/Alpha-Plus-Menschen sind in dieser vorgegebenen Struktur die verehrten Herrscher. Sie führen ein totalitäres, aber nicht offen gewalttätiges System unter dem Label »Kollektivität, Identität, Stabilität«: »No civilization without social stability. No social stability without individual stability.« (Huxley 2000, 41) Homogenisiert wird die Masse durch den Mechanismus der operanten Konditionierung und eine beständige Aktivierung des Belohnungssystems. Die Droge Soma, Konsum und Sex sind dabei wesentliche Konditionierungsmittel, die durch stete Indoktrination gerahmt werden. Jeder eigenständige Wille oder individuelles Streben nach Veränderung soll erstickt werden. Es wird verführt statt verhaftet und der Mensch in einer ständigen Bedürfnisbefriedigung eingelullt. Der aktuell herrschende Konsumkapitalismus mag Züge hiervon tragen. (Herbert Marcuse vermutete, die immerwährende Bespielung der Libido der Bürger verhindere, dass es zu einer Revolution komme: »Die Kulturindustrie hat die Gesellschaft total eingeholt. Ihre Triumphfahrt, die einst als Befreiung begann, hat am Ende die Freiheit abgeschafft. […] Durch die Unterhaltungsindustrie wird das Bewusstsein der Menschen auf den passiven Empfang von Bildern, Klängen und Eindrücken reduziert. Sie erzielt das Resultat, das ihr wirtschaftlicher Zweck verlangt: die Reduktion des kritischen Bewusstseins und die Unterbindung des Widerstands gegen die bestehende Ordnung« (Marcuse 1991, 10)) Die Brave New World ist auf ihre Weise totalitär – und von Huxley als dystopische Übertreibung zur Abschreckung hingestellt. Sie nimmt den Menschen nicht mehr als eigenständiges, freies Vernunftwesen ernst, sondern raubt ihm um eines allgemeinen Friedens willen gerade das, was ihn eigentlich zum Menschen macht. Ganz anders versucht der Staat in George Orwells 1984 eine Homogenisierung zu erreichen, nämlich durch brutale Gewalt. In diesem Roman, der wohl mit Blick auf Stalins Sowjetunion geschrieben wurde, wird durch Umerziehung, peinigende Strafen und Folter eine Gleichförmigkeit des Denkens zu erreichen versucht. Die schiere Gewaltandrohung (und die Gewaltanwendung bei Vergehen) verschmilzt alle zu einer Masse, einem Kollektiv, bei dem sich niemand mehr traut, abweichend zu denken, geschweige denn Widerspruch
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zu artikulieren. Doppeldenk, Überwachung, Propaganda und Einschüchterung bewirken, dass die Menschen ihre Gedanken, ihre Affektivität und Handlungen dem Willen des Staates völlig unterordnen und keine Bedrohung für das Regime darstellen. Gegenwärtig finden sich Analogien zu Russland unter Putin oder Xi Jinpings China, die mit Unterdrückung und gewaltvoller Vernichtung oder Umerziehung ethnischer Minderheiten Homogenisierung zu erreichen suchen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es dann den dritten Typ, die Befriedung durch Diskurs. Eine Welt ohne Hierarchie, Herrschaft oder Machtverhältnisse soll letztlich zu einem friedlichen Zusammenleben in Vielfalt führen. Die Hippie-Bewegung suchte bereits nach solchen Formen der Gemeinschaft und Kommunikation. Sie träumte von einer Gesellschaft, die Freiheit, Gleichheit und Solidarität befördert auf Grundlage einer naturverbundenen, nicht konventionellen Lebensweise und einer Hinwendung zu spirituellen Erfahrungen. Es war dieses breitere soziale und intellektuelle Klima in den 1950er und 1960er Jahren, das sich gegen autoritäre und traditionelle Formen der Gesellschaftsorganisation wandte, in dem auch Habermas (zeitlich bereits vor der Hippiebewegung) seine zentralen Ideen formulierte. Er sieht die Schaffung einer »bürgerlichen Öffentlichkeit«, in der freie, offene und herrschaftsfreie Diskussionen zwischen Bürgern stattfinden können, als beste Basis für das stabile gesellschaftliche Miteinander. Dabei betont er die Rationalität, Kritik und Aufklärung – während die Hippiebewegung eher ein allgemeines Lebensgefühl, Emanzipation von Zwängen und sexuelle Befreiung als Voraussetzung für Friedfertigkeit betrachtet. Die in den Romanen geschilderten Methoden, die als die wichtigsten ideengeschichtlichen aber auch praktisch-politischen Angebote des 20. Jahrhunderts gelten können, haben offensichtliche Schwächen, aber doch auch (vorsichtig gesagt und mit Vorbehalt der Differenzierung) Stärken. Der Ansatz von Brave New World, der am ehesten in der konsumorientierten westlichen Industriegesellschaft verwirklicht ist, hat den Vorteil, den Menschen auch emotional anzusprechen und die Möglichkeit einer Beeinflussung durch Gefühle ernst zu nehmen. Aber er missbraucht sehr schnell (und offensichtlich in der fiktiven Brave New World) diese Seite des Menschen. Theodor W. Adorno spricht, ähnlich wie Marcuse, von einem »System, das die Freiheit der Einzelnen nicht nur nicht fördert, sondern sogar zerstört, indem es sie in immer engere Schranken einzwängt, [es] schläfert die Menschen ein, indem es sie mit einem Überfluss an Konsumgütern und unterhaltenden Angeboten betäubt« (Adorno 1974, 257). Er sieht einen Missbrauch, indem der Mensch in einen Wattebausch des Konsums eingefasst wird, um ihn letztlich zu lähmen. Die Einzelnen würden durch Konsum infantilisiert, nur noch sehr begrenzt und einseitig als
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Affekt- und Lustwesen wahrgenommen und über diese Seite gelenkt. In 1984 wird der geistig-denkende Mensch insofern noch ernst genommen, als gerade gegen diese Geistigkeit angegangen wird und sie gebrochen werden soll. Eine Konvergenz der Gedanken und geteilte Zielvorstellungen wird hier hergestellt. Beides sind in der Tat notwendige Aspekte von gesellschaftlicher Harmonie – aber sie werden in der 1984-Welt auf furchtbarem Wege erreicht: durch gewaltvollen Zwang, Überwachung, Umerziehung, Folter, Geschichtsfälschung, hermetische Propaganda, und eine politische Sprachreinigung zur Bewusstseinslenkung. Das ist totalitär, brutal und buchstäblich menschenverachtend. Das Geistwesen Mensch wird zwar ernst genommen, aber nicht geachtet, sondern reduziert, zugerichtet, geknebelt. In scharfem Gegensatz dazu, und auch als Antwort auf das im Dritten Reich selbst Erlebte, setzt Jürgen Habermas sein Ideal vernünftig miteinander kommunizierender Menschen. Die Würde des Einzelnen als freies Geistwesen steht im kantischen Sinne im Zentrum (weit mehr als bei der vernunftfernen Hippiebewegung, die die Rationalität gerne im Rauch der Joints aufgehen ließ). Aber Habermas muss sich, wie eingangs gesagt, vorwerfen lassen, sein Ideal erscheine naiv, weil selbst in einer idealen Kommunikationssituation Menschen weiterhin unversöhnliche Vorstellungen und Interessen haben werden. Die Möglichkeit rationaler Verständigung wird hier über-, die der affektiven Beeinflussbarkeit unterschätzt. Gibt es eine realitätsnahe Möglichkeit, eine friedliche, funktionierende Demokratie in der Massengesellschaft zu befördern, ohne den Menschen zu primitivieren (Brave New World), realitätsfern zu verklären (Diskurs) oder in menschenverachtender Weise zurichten zu wollen (1984)? Wir wollen hier ausloten, ob nicht die Machtform Manipulation einen Baustein für eine bessere Möglichkeit darstellen könnte. 4.
Edward Bernays’ Therapieempfehlung
Die Besonderheiten des Massenverhaltens wurden von Edward Bernays in den USA bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg politisch und wirtschaftlich berücksichtigt. Bernays begründete mit anderen die Public Relations, entwarf ikonische Werbekampagnen (etwa für das Zigarettenrauchen für Frauen die sogenannte Torches of Freedom-Kampagne), aber vor allem beriet er verschiedene US-Regierungen, denen er die Verwendung von Manipulation und umfassender Propaganda als effektivste und effizienteste Machtform dringend empfahl. (»If we understand the mechanism and motives of the group mind, it is now possible to control and regiment the masses according to our will
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without them knowing it.«; Bernays 2005, 71) Insofern kann er als ein Wegbereiter der Brave-New-World-Strategie gelten. Für Bernays ist das die einzig angemessene Antwort für unsere Demokratie: The conscious and intelligent manipulation of the organized habits and opinions of the masses is an important element in democratic society. […] We are governed, our minds are molded, our tastes formed, our ideas suggested, largely by men we have never heard of. This is a logical result of the way in which our democratic society is organized. Vast numbers of human beings must cooperate in this manner if they are to live together as a smoothly functioning society. […] [W]e are dominated by the relatively small number of persons […] who understand the mental processes and social patterns of the masses. It is they who pull the wires which control the public mind. (Bernays 2005, 37)
Die Meister der Manipulation sind also jene, die verstehen, wie beim Einzelnen, vor allem aber auch bei Massen, Gedanken, Affekte und Handlungen zustande kommen. Diese Meister sind damit für Bernays die eigentliche, wiewohl unsichtbare Regierung. Das klingt für uns wie eine große Verschwörungserzählung, erscheint ihm aber als politisches Ideal. Diese Experten als Machtzentrum sollen möglichst großen Einfluss haben, um unsere gedanklichen und affektiven Kapazitäten zu modulieren. Das sei die logische Konsequenz der Massengesellschaft mit ihrer Diversität, die es nüchtern anzunehmen gelte. Als Neffe Sigmund Freuds war Bernays mit dessen Psychoanalyse wohl vertraut, also mit der Annahme, dass der Mensch von meist unbewussten Trieben und Affekten gesteuert werde. Le Bon hatte ihm gezeigt, dass Menschen grundsätzlich instabil, gefühlsbestimmt und zur Irrationalität neigend sind, und in Massen besonders irrational und impulsiv handeln. Für Le Bon ist das beunruhigend, für Edward Bernays wird es eine nutzbare Disposition und Herausforderung (mit der sich auch viel Geld verdienen lässt). Nach Bernays droht »Chaos«, vor allem in Krisenzeiten, wenn man nicht eine manipulative Verschmelzung der Interessen und Wünsche der Bürger versucht. Manipulation gehöre daher zum Kern der Demokratie, argumentiert er: »The engineering of consent is the very essence of the democratic process, the freedom to persuade and suggest.« (Bernays 1947, 113) In vieler Hinsicht ist Bernays Entwurf kritikwürdig. Aus Sicht der politischen Philosophie ist sein Fokus auf »corporations« statt auf demokratisch legitimierte Regierungen ethisch bedenklich, teilweise abstoßend. Letztlich opfert er die Demokratie einem stabilen Staat. Aus ethischer Sicht ist falsch, wie er unmoralische Eingriffe und Einflüsse beschönigt oder verharmlost, ja durchaus auch Unwahrheiten billigend in Kauf zu nehmen scheint, wenn sie nur dem politischen Ziel dienen. Nach unserer Argumentation ist es keine
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gute, sondern eine wenigstens problematische Manipulation. (Siehe dazu die genauere Analyse in Abschnitt 6 unten.) Dennoch wollen wir überlegen, was von Bernays Antwort bzw. von dessen literarischen Vision in Brave New World zu lernen ist. Denn Manipulation hat auch offensichtlich positive Seiten: Sie kommt ohne den stets problematischen Zwang aus und nimmt den Menschen gerade in seiner affektiven Anfälligkeit ernst, die etwa Le Bon und (anders) Freud betont hatten. Daher sollte sie als Machtform für das ja tatsächlich große Problem der Massendemokratie nicht pauschal verworfen werden. Aber dafür muss es gelingen, die Manipulation mit einer Achtung vor dem Menschen als Vernunftwesen (wie in der Diskursvision) zu verbinden. Eine solche Synthese könnte vielleicht in einer moralischen Weise dazu beitragen, das Gemeinwesen zu stabilisieren. Um eine solche Synthese zu skizzieren, müssen wir zunächst genauer anschauen, inwieweit Manipulation eine Machtform ist und wie sie überhaupt funktioniert; auf dieser Basis können wir abwägen, ob es eine positive Manipulation geben kann. 5.
Manipulation als Machtform
Wir beeinflussen einander in vielfältiger Art und Weise. Dabei gibt es solche Formen, die als ethisch unproblematisch, ja gefordert gelten können, etwa wenn wir jemanden mit Argumenten von etwas Gutem überzeugen. Hier ruht der Einfluss auf dem »Gewicht der Gründe, die für die Wahrheit der betreffenden Proposition zeugen« (Hügli 2016, 38). Problematisch sind dagegen nackte Gewalt und Zwang, die nur selten gerechtfertigt sind (etwa wenn wir jemanden von der Bahnsteigkante zurückreißen, weil er vor den Zug zu stürzen droht). Zwang ist deswegen mitunter problematisch, weil er keine freie Entscheidung des Betroffenen mehr zulässt (wobei es natürlich einen Unterschied gibt zwischen einer Pflicht, anders gesagt, dem gesetzlichen Zwang zum Anschnallen, und einer buchstäblichen Pistole auf der Brust). Neben diesen beiden Extremen gibt es eine breite Palette anderer Machtformen, etwa technische Bahnung und Lenkung des Verhaltens (das Klavier erlaubt mir nur das Spielen von Tönen der chromatischen Tonleiter), Drohung von Zwang oder Verheißung von Belohnung (z. B. die Lenkung durch Gesetze und staatliche Anreize), Bestechung, bis hin zu Autorität, die vom Beeinflussten anerkannt werden muss. Auch die Machtform Manipulation ist in diesem Zwischenfeld zu verorten, da sie das Gegenüber weder rational-argumentativ zu überzeugen versucht, noch zu etwas zwingt. Sie moduliert die Affektivität, also die Gefühle, Emotionen und Stimmungen, und legt etwas affektiv, nicht als bewusst-rationale
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Entscheidung, nahe. Manipulation nutzt periphere Routen der Willensbildung und erreicht vor allem, dass wir uns irgendwie selbst (gefühlsmäßig) zu einer Handlung bewegen, also den Eindruck haben, ganz frei und intrinsisch dazu motiviert gewesen zu sein. Manipulation im Sine von affektiver Beeinflussung taucht in vielen Bereichen unseres Lebens auf, etwa der Werbung, Politik und bei zwischenmenschlichen Beziehungen. Durch die technologische Entwicklung, etwa den Social Media, und wegen der systematischen Nutzung durch Politik und Wirtschaft ist sie unterdessen allgegenwärtig und wird permanent weiter verfeinert (Fischer 2022b). Bis Mitte des 20. Jahrhunderts galt Manipulation durchaus als etwas Positives, wie auch das Zitat von Bernays zeigt. Aber im gegenwärtigen Alltagssprachgebrauch, den wir hier vorwissenschaftlich nennen wollen, wird Manipulation grundsätzlich als problematische Form der Beeinflussung verstanden.4 Manipulieren erscheint als raffinierte Machtform, die die eigentlichen, egoistischen Ziele der Manipulierenden verschleiern soll, und meist mittels Täuschung arbeitet. Manipulation fesselt den Verführten, damit er etwas tut, was letztlich nicht in seinem Sinne ist.5 Dagegen ist festzustellen, dass dieses vorwissenschaftliche Alltagsverständnis verschiedene Einflussformen allzu schnell unter den Begriff fasst (etwa Betrug und Täuschung, die aber keineswegs notwendig zur Manipulation gehören). Ein präziser Begriff der Machtform Manipulation sollte stattdessen deren charakteristischen Wirkmechanismus ins Zentrum des Verständnisses stellen und nicht notwendig mit anderen (wie der Täuschung) verbinden (vgl. für ausführlichere Analysen Fischer 2017, 2018, 2020, 2022a, 2022b und Fischer/Illies 2018, 2023). Denn der Wirkmechanismus ist das charakteristische, der Manipulation eigene und sie von anderen Machtformen abhebende Merkmal. Dieser Mechanismus besteht darin, primär durch die Modulation unserer Affektivität (unter primärem Ausschluss rationaler Abwägungen) so zu wirken, dass die Wahl einer Handlungsoption, eine Einschätzung, Urteilsbildung oder ähnliches nahegelegt wird. Bei einer erfolgreichen Manipulation wird eine Zielsetzung als derart angenehm (oder unangenehm) für den Manipulierten erfahrbar gemacht, dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit gewählt wird (Fischer/Illies 2018, Fischer 2022, 177). Die primäre Modulation unserer Affektivität durch eine Manipulation geht also mit einer Veränderung der (meist unbewussten) Bewertung bestimmter Zielsetzungen einher, wobei »Bewertung« im Sinne einer relativen Stärke entsprechender Handlungsmotive zu sehen ist. Dies hat dann komplexe, affektiv ausgelöste Reaktionen, auch Gedanken und letztlich ein Handlungsmotiv zur Folge, das sich in Gestalt 4 Vgl. für eine befragende Studie zu Manipulation im Online-Marketing: Fischer/Feurer 2024. 5 Vgl. Benesch/Schmandt 1979 für den deutschen Sprachraum.
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eines inneren, affektiven Angezogenseins von einer bestimmten Zielsetzung ausdrückt oder einfach in einem Bedürfnis, einer Begierde, oder einem plötzlichen Wunsch6, etwas zu tun. Wenn die Manipulation erfolgreich war, die ausgelöste Affektivität sehr stark ist, setzt sich dieses Motiv gegen alle konkurrierenden Motive durch. Wichtig bei diesem Wirkmechanismus ist, dass der Manipulierte frei während der Einwirkung bleibt, sich von dem Motiv nicht bestimmen zu lassen. Bei einer Manipulation kann der Freiheitsgebrauch allerdings schwerer, ja sehr schwer werden, weil das durch Manipulation affektiv nahegelegte Motiv heftig drücken und drängen kann (um es bildlich ausdrücken). Die affektive Versuchung oder Verführung kann extrem verlockend sein – aber es muss bei der Manipulation noch eine wenigstens minimale Freiheit geben, sich den affektiven Regungen zu widersetzen. Gibt es diese nicht, so wäre es keine Manipulation mehr, sondern ein Zwang, wie wir ihn vor allem bei der Sucht kennen: Die Alkoholikerin hat keine wirkliche Freiheit mehr, sich ihrem Bedürfnis zu trinken zu widersetzen, ebenso wenig wie die Spielsüchtige, der Sexsüchtige oder der krankhaft Pädophile. Sie alle folgen blind ihrem affektiven Drang und opfern dafür ihr Geld, ihre Familie und ganze Zukunft. Sie sind sogar, selbst wenn erfolgreich in eine Abstinenz gelangt, weiterhin besonders leicht manipulierbar, indem man sie bestimmten Reizen aussetzt, denen sie kaum widerstehen können. Der spezifische Wirkmechanismus ist die affektive Beeinflussung des Gegenübers. Nun ist das vorwissenschaftliche Verständnis zwar insofern nicht ganz abwegig, als sich häufig Manipulation mit Täuschungen und Betrug verbindet, wie auch mit der Verschleierung negativer Konsequenzen oder falschen Versprechen. Aber all das muss nicht zur Manipulation hinzutreten – es kann durchaus Einflüsse auf unsere Affektivität geben, die ebenso unverstellt, direkt wie ehrlich sind (vgl. in Bezug auf Liebe: Fischer/Illies 2023). Vielleicht will jemand sein Gegenüber einfach nur verführen und die eingesetzten aufreizenden Posen spielen genau zu diesem Zweck mit dessen Gefühlen? Die Verführte ist sich der affektiven Wirkung des Verführers vermutlich völlig bewusst und wird doch von ihren Empfindungen zum Nachgeben (bzw. Hingeben) gedrängt; ähnlich kann jemand durchaus erkennen, wie sein Gegenüber Eifersucht wecken will, und sich doch der Wirkung nicht entziehen. Manipulation wirkt zwar oft besser, wenn sie für den Manipulierten unbewusst bleibt, weil 6 Wünsche können freilich unterschiedliche Auslöser haben, zum Beispiel Triebe bzw. Instinkte, die auch das menschliche Verhalten beeinflussen und steuern. Man denke an den Wunsch nach Nahrung, der, vom Metabolismus ausgelöst, sich über Hormonspiegel im Blut unmittelbar als Bedürfnis ausdrückt – dem Hunger. Dann drängt es in uns zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, was aber nicht heißt, dass sie unkontrollierbar sind. Menschen können sich auch bewusst und aus freier Wahl zu Tode hungern.
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wir uns oft nicht gerne von unserer Affektivität lenken lassen und es verdächtig erscheint, wenn uns jemand so bestimmen will. Aber Verborgenheit ist genauso wenig ein notwendiger Bestandteil affektiver Wirkungen wie die Täuschung. Entscheidend ist vor allem, dass Manipulation für sehr unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden kann. Der Supermarkt manipuliert seine Kunden, um mehr zu verkaufen, der Politiker, um gewählt zu werden, der Ideologe, um die Massen zu gewinnen, Don Giovanni, um stets neue Eroberungen zu machen, oder die Sozialen Medien, um »traffic« zu generieren und damit Gewinn zu maximieren (Fischer 2022b). Aber auch der Kantinenbetreiber manipuliert, der seine Speisen so anordnet, dass die gesunden häufiger gewählt werden, wie auch die Kinderärztin, die das kleine Kind ablenken will, um es besser untersuchen zu können. Winston Churchill nahm affektiven Einfluss auf die Zuhörer in seinen Reden, manipulierte die Briten also, damit sie bereit waren, weiterhin Widerstand zu leisten gegen das nationalsozialistische Deutschland. Auch werden manipulative Techniken eingesetzt, um die Spendenbereitschaft für Transplantationsorgane zu erhöhen, Umweltbewusstsein zu stärken, aber auch bei Nichtraucher-Kampagnen (in solchen Fällen oft »Nudging« genannt, vgl Sunstein/Thaler 2008). Kurzum: Affektive Einflüsse können für neutrale (jemand verführt jemanden), negative (der Supermarkt bewirkt, dass ich in der Quengelzone an der Kasse viel zu viele Schokoriegel kaufe) wie positive Ziele (größere Umweltsensibilität) eingesetzt werden. Da es in all diesen Fällen der gleiche Wirkmechanismus ist, der zum Einsatz kommt (Churchill, Obama und Hitler benutzten alle eine manipulative Rhetorik), scheint es uns sinnvoll, der Machtform stets den gleichen Namen zu geben (Fischer 2022b, Fischer/Illies 2018). Wir verwenden den Begriff »Manipulation« in einem neutralen Sinne für die Einflussnahme über die Affekte des Gegenübers. Im deutlichen Unterschied zu der alltagssprachlichen, vorwissenschaftlichen Begrifflichkeit können so auch Manipulationen zu einem guten Zweck als »Manipulationen« bezeichnet werden. Wir verzichten bewusst auf die Neologismen wie »Public Relations«, »Nudging«, »Spin-Doktoren«, »Entscheidungs-Architektur« oder »Wirksam Regieren«, die alle verschleiern wollen, dass es bei guter wie schlechter Manipulation um denselben Wirkmechanismus geht.7
7 Daher verwenden wir auch »Manipulation« nicht als Kampfbegriff, wie heute oft üblich. Meist wird der Einsatz von Manipulation (wie auch Demagogie und Populismus) dem politischen Konkurrenten vorgeworfen, während man das eigene Wirken auf die Affekte als Öffentlichkeitsarbeit o.ä. verbrämt. So ist die Verwendung des Begriffs »Manipulation« gleichsam der Versuch einer Manipulation.
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Unser Begriffsvorschlag lautet also: Manipulation ist eine Machtform, die andere primär über die Affektivität beeinflusst, indem sie eine Handlungsoption als angenehm oder unangenehm erfahrbar macht. Dadurch wird die Attraktivität der Option erhöht oder erniedrigt und ihre Wahl entsprechend mehr oder weniger wahrscheinlich. Als Machtform ist sie nicht per se schlecht, sondern neutral; sie kann zu guten, schlechten wie neutralen Zwecken eingesetzt werden. 6.
Gibt es eine gute Manipulation in der Demokratie?
Ist eine Manipulation, die guten Zwecken dient, dadurch bereits eine gute Manipulation? Man könnte einwenden, dass ein guter Zweck nicht alle Mittel heiligt – und daher zunächst zu fragen sei, ob Manipulation als Mittel des Einflusses, als Machtform nicht schon an sich fragwürdig sein könnte. Selbst wenn wir sie von Täuschung abgrenzen und sie nicht verborgen wirken muss (und man dem verborgenen Einfluss eine gewisse Heimtücke unterstellt), so könnte man doch argwöhnen, dass das Modulieren unserer Affektivität an sich gefährlich sei, da diese, wenn geweckt, so schwer kontrollierbar sei. Das gilt, so ließe sich vermuten, vor allem für negative Affekte wie die Angst, aber möglicherweise auch für positive Affekte (wie die durch Barack Obamas berühmte »hope« und »change«-Rhetorik ausgelösten), da diese Menschen in einen rauschartigen Zustand bringen könnten. Und ist nicht das Hintergehen der Rationalität bei der Willensbildung ohnehin brandgefährlich, ja unmoralisch, weil mit dem Ausschluss der Rationalität die Kontrolle schwindet? All das würde die Machtform Manipulation an sich problematisch machen, unabhängig von dem Ziel, der sie dienen soll. Fragen wir also in diese Richtung, aber mit Blick auf unser Anliegen. Gibt es Merkmale der Manipulation als Machtform, die sie unabhängig vom Ziel für die Demokratie moralisch fragwürdig macht? Dazu müssen wir wissen, was plausible ethische Anforderungen an den Machtgebrauch allgemein in der Demokratie sind (vgl. Hösle 1997 und Mill 2003). Vittorio Hösle beschreibt den Ausgangspunkt unseres Nachdenkens wie folgt: Da jede komplexere Macht auf den nicht nur aus Angst hervorgehenden Gehorsam der Machtunterworfenen angewiesen ist, ist es für jeden politischen Verband unabdingbar, die eigene Gewalt zu legitimieren, sei es auf mehr emotionale, sei es auf mehr rationale Weise. Der Staat muß darüber hinaus aber versuchen, seine Bürger davon zu überzeugen, daß auch konkrete Entscheidungen, die er gefällt hat, sinnvoll sind, wenn er positives Engagement hervorbringen will. (1997, 637f.)
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Mit Hösle bestehen sodann die Grundfesten einer moralisch legitimierten Demokratie in einer Verpflichtung zu Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, politischer Freiheit und der Verwendung von Macht in Übereinstimmung mit diesen Werten. Die Legitimität politischer Macht hängt auch davon ab, ob sie in Übereinstimmung mit den moralischen Grundsätzen gehandhabt wird, die in der demokratischen Verfassung verankert sind. So erfordert die Ethik der Demokratie eine gründliche Reflexion über die ethischen Anforderungen an die Machtmittel, die in der politischen Arena eingesetzt werden können (Hösle 1997). Und selbstverständlich ist es eine eigene große Frage, die hier nur genannt, aber nicht gelöst werden kann, wer eigentlich entscheidet, welche Zwecke eine Manipulation rechtfertigen wie auch, welche Grundsätze zu beachten sind.8 Was sind nun die ethischen Anforderungen in der politischen Arena und kann die Manipulation bestehen? Allgemein gilt zunächst die ethische Forderung, dass jedes staatliche Handeln gerechtfertigt sein muss, also ein bestimmtes öffentliches Interesse in plausibler Weise schützt bzw. tatsächlichen staatlichen und sozialen Herausforderungen begegnet. Gerade weil jeder Machtgebrauch eine Einschränkung der Freiheit anderer beinhaltet, ist er besonders rechtfertigungsbedürftig. Es besteht außerdem ein ethisches Verhältnismäßigkeitsgebot. Daher darf (im moralischen Sinne) der Machtgebrauch nicht weiter reichen, als es gerechtfertigt und funktional ist, um bestimmte wichtige Ziele und Anliegen der Gemeinschaft zu erreichen.9 Das Handeln muss außerdem natürlich legal sein, also innerhalb des geltenden Rechts zulässig sein. (Die Beachtung der Gesetze ist selbst eine ethische Forderung, aber nur solange diese wiederum ethisch gerechtfertigt sind.) Daher kommt es auch zur folgenden Forderung: Um ethisch gerechtfertigt zu sein, muss staatlicher Machtgebrauch zudem rechtmäßig sein, also mit rechtsstaatlichen Prinzipien, insbesondere den grundlegenden Freiheiten und Rechten der Bürger im Einklang stehen. (Deswegen aber auch nur dann den geltenden Gesetzen folgend, wenn diese ethisch legitim sind.) Zur Rechtmäßigkeit, so wiederum Hösle, gehört vor allem die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten der Bürger. Daraus ergibt sich unmittelbar eine Forderung nach der Transparenz staatlicher Eingriffe: Der Staat sollte bei seinem Vorgehen intelligibel 8 Manipuliert werden soll ja die Masse und die Masse kann schwerlich selbst entscheiden, in welche Richtung sie manipuliert werden soll. Es muss hier also eine Elite geben, die das für sie tut und es ethisch rechtfertigen kann. Wie soll das vonstattengehen? Setzen sich da Philosophen mit Politikern zusammen? Es muss hier genügen, auf diese Probleme hinzuweisen. 9 So wird beispielsweise kontrovers diskutiert, ob ein staatlich oder institutionell verordnetes Gendern von Sprache legitim ist.
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und überprüfbar sein, damit die Öffentlichkeit sich über staatliches Handeln informieren kann, es kontrollierbar ist und sich schließlich eindeutige Verantwortlichkeiten ergeben. Und schließlich wird man ethisch fordern, dass Nachhaltigkeit in ökologischer wie sozialer Hinsicht angestrebt wird. Weder sollten beispielsweise Umwelt, Biodiversität und das Klima beeinträchtigt werden, noch der langfristige soziale Frieden und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie. Nachhaltig heißt im Sinne Melissa Lanes (2012, 6), dass sie sich nicht selbst unterminieren und sich selbst eine Zukunft geben können; sie ist ein ethischer und politischer Imperativ, der darauf abzielt, die Bedürfnisse der heutigen Generation zu erfüllen, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Auf dieser Basis ist konsequenterweise jede Manipulation ethisch auszuschließen, die illegalen, fragwürdigen oder auch nur nicht notwendigen Zielen dient. Ausgeschlossen sind auch Anwendungen, die in Täuschung und Betrug übergehen. (Ausnahmen sind nur begrenzt auf Notzeiten denkbar zur akuten Gefahrenabwehr.10) Grundsätzlich kann ethische Manipulation akzeptabel sein, wenn sie für allgemein anerkannte, gute Ziele eingesetzt wird, beispielsweise zur Gesundheitsförderung, für eine friedliche Koexistenz oder wechselseitige Unterstützung unterschiedlicher Interessensgruppen etwa in der Corona-Pandemie, oder für ein umweltfreundliches Verhalten.11 Schauen wir auf Beispiele guter Manipulation, etwa die Anti-RaucherKampagne. Für diese werden in Deutschland Bilder auf den Zigarettenschachteln eingesetzt, die auf die Gefühle wirken, indem sie abschrecken sowie Ekel und Angst vor Krankheiten wecken. Gehen wir die Kriterien im Einzelnen durch: Offensichtlich sind solche Kampagnen der Gesundheitsaufklärung legal; der Schutz und die Förderung der Gesundheit der Bevölkerung sind zentrale Aufgaben des Staates (so in allen europäischen Ländern, die von einem Sozialstaatsgebot ausgehen). Jugendliche vor dem Rauchen mit seinen schwerwiegenden Folgen von Abhängigkeit und körperlicher Versehrung auf diese Weise zu bewahren ist darüber hinaus rechtmäßig, weil es mit dem Recht der Bürger und Ihrer Freiheit im Einklang steht. (Es geht hier ja nicht um ein Rauchverbot, das wiederum gegen das Recht auf Selbstbestimmung abzuwägen wäre.) Die entsprechenden Kampagnen sind auch vollständig transparent. 10
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Bei einer nationalen Katastrophe wie einem Krieg mag es kurzfristig zu rechtfertigen sein, wie Extremsituationen auch Notlügen zulassen können, etwa um eine Massenpanik zu vermeiden. Allerdings scheint es dann ethisch gefordert, anschließend das Verhalten öffentlich zu machen und zu erklären. Man denke hier erneut Sunsteins/Thalers Nudge (2008), in dem sich zahlreiche Beispiele für gezielte Policy-Manipulationen finden.
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Nicht nur ging ihnen eine lange öffentliche Diskussion voraus, auch der Sinn und Zweck der abschreckenden Bilder, die zudem noch den Satz »Rauchen schadet ihrer Gesundheit« enthalten, ist völlig offensichtlich. Hier gibt es keine Täuschung und nichts ist verborgen. Dass Nichtrauchen zur Nachhaltigkeit des Lebens von Menschen beiträgt, ist ebenfalls evident. Schwieriger ist es, ob die genannte manipulative Kampagne wirklich funktional bzw. wirksam ist; also ob sie das Rauchverhalten junger Menschen tatsächlich stark beeinflusst. Das ist durchaus umstritten.12 Von der jedenfalls anzunehmenden Wirksamkeit hängt allerdings auch die Verhältnismäßigkeit der manipulativen Bilder ab – wenn keine signifikante Wirkung nachweisbar und zu erwarten ist, dürfte der finanzielle Einsatz unverhältnismäßig sein wie auch die Verstörungen, welche die Bilder auslösen können. Erreicht diese Anti-Raucher-Kampagne jedoch tatsächlich ihr Ziel, signifikant viele Menschen vom Rauchen abzuhalten, so handelt es sich unserer Meinung nach um eine ethisch gerechtfertigte, also gute Manipulation im Sinne der hier vorgeschlagenen Kriterien. Gerade die Forderung nach Offenheit und Transparenz macht deutlich, dass sich die gute Manipulation oft mit Reflexion und Appellen an das Denken verbindet. Ein eindrückliches Beispiel ist die neuseeländische Corona-Politik, vor allem die »Be Kind«-Kampagne. Es geht hier um das (gute) Ziel, einen sozialen Zusammenhalt in Krisenzeiten zu finden (womit wir zur Ausgangsfrage zurückkehren, dass in solchen Zeiten eine besondere Homogenisierungsnotwendigkeit besteht). Die damalige neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern rief die landesweite Kampagne mit dem Ziel ins Leben, dass die Menschen in Neuseeland zusammenkommen und einander unterstützen. Die Kampagne zielte bewusst auf die Affektivität der Menschen, vor allem die positive. Es war eines der zentralen Ziele, Freundlichkeit (»kindness«), Mitgefühl und Solidarität zu befördern, um das Wohlbefinden der Menschen zu verbessern, die wechselseitige Verantwortung zu stärken und so die gesellschaftlichen Auswirkungen der Krise möglichst zu minimieren. Menschen wurden affektiv ermutigt, füreinander zu sorgen, besonders auch für ältere Menschen und jene mit körperlichen Beeinträchtigungen, die besonders von Corona bedroht wurden. Plakate, die Sozialen Medien, Radio und Fernsehen dienten als Vermittlungskanäle, zahlreiche Aktionen und Veranstaltungen wurden 12
Studien, die für eine Wirkung sprechen, indem letztlich ein höheres Bewusstsein hervorgerufen wird, sind z. B. Wakefield et al. 2014 oder Hammond et al. 2015. Studien, die diesen Ergebnissen widersprechen, indem sie z. B. überprüften, ob sich das Rauchverhalten nach der Einführung drastischer Bilder änderten, wären: Fong et al. 2011 oder Cho et al. 2013. Insgesamt weist die Literatur wohl aber auf einen Effekt der Kampagnen hin.
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initiiert, von Kunstausstellungen bis hin zu Online-Yoga-Kursen. Die »Be Kind«-Kampagne stärkte dabei nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch Verhaltensweisen, welche die Ausbreitung von COVID-19 verlangsamten. Die Kampagne profitierte zweifellos von der Autorität der allseits beliebten und respektierten Premierministerin, aber nutzte auch offensichtlich manipulative Einflussformen, wie die mediale Omnipräsenz der einfachen Botschaft, die eingängig und schlicht war (»be kind«) und vor allem affektiv wirken konnte, weil sie gezielt das allgemein-menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft und wechselseitiger Hilfe ansprach (für solche Bedürfnisse siehe bspw. Tomasello 2016). Dafür nutzte die Kampagne etwa herzerwärmende Geschichten und Bilder, die positive Auswirkungen von Freundlichkeit und Mitgefühl anschaulich machten und nutzte unterschiedliche kreative Ausdrucksformen wie Gedichte, Lieder, Videoclips oder Kunstwerke, um auf diesen Wegen affektive Resonanz zu erzeugen. Nicht nur die Ziele waren also ethisch gerechtfertigt, sie war auch verhältnismäßig in Anbetracht der realen Krise, rechtmäßig, transparent als eine angekündigte und auch immer wieder referenzierte Kampagne, intelligibel als staatlich initiiertes und gestütztes Projekt. Gerade hier wurde von Anfang an eine enge Verbindung der manipulativen Momente der Kampagne mit Aufklärung und Appellen an die Vernunft gesucht, um ein einsichtsvolles Handeln wie eine Unterstützung der Kampagne zu befördern. Nicht zuletzt deswegen scheint sie auch nachhaltig gewirkt zu haben und sich so als gute Manipulation zu qualifizieren. (Dass die Kampagne auch Jacinda Ardern politisch genutzt hatte, disqualifiziert sie dabei keineswegs – idealerweise sollte gute Politik immer auch das Ansehen der verantwortlichen Politikerinnen und Politiker stärken.) Insbesondere der genannte Brückenschlag einer guten Manipulation zur Vernunft zeigt, wie ein gleichwohl bedenkenswerter Einwand gegen die Manipulation als Methode zurückgewiesen werden kann: Liegt nicht doch in dem Wirken über die Affektivität, so wurde immer wieder argumentiert (Wood 2014), eine Art Entmündigung des Menschen, weil ja dessen Rationalität umgangen und somit missachtet wird? Der über seine Affektivität gelenkte Mensch ist nicht ganz Herr im eigenen Haus (um Sigmund Freuds Bild aufzugreifen), ihm wird nicht zugetraut, eine rationale Entscheidung treffen zu können – ihm oder ihr wird also die Würde als freies Geistwesen abgesprochen und die vernünftige Selbstbestimmung durch eine paternalistische Manipulation wohl auch langfristig geschwächt. Aber dieser Einwand trifft nur dort zu, so meinen wir, wo die Manipulation sich nicht mit der Vernunft verbindet, sondern wie etwa in Brave New World gezielt gegen eine Bewusstwerdung arbeitet und in eine Konditionierung übergeht. In Huxleys Dystopie wird die
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Abrichtung und Konditionierung so mächtig, dass die Menschen tatsächlich jede Freiheit verlieren.13 Die Manipulation dagegen, die wir für ethisch legitim und auch gut halten, ist erstens wesentlich verhaltener: Es geht darum, Verhaltensangebote affektiv einladend oder abschreckend zu machen, nicht darum, zu einer Unfreiheit zu konditionieren. Natürlich kann dadurch auch ein Habitus entstehen, etwa der Nichtraucherin oder der mitfühlenden, unterstützenden Mitbürgerin. Aber dazu bedarf es der Verbindung von Verhalten und Reflexion, womit wir beim zweiten Grund sind, warum gute Manipulation keine Entmündigung des Menschen darstellt. Sie verbindet sich mit Transparenz, Offenheit und Reflexion – und das ist gleichsam eine Aufforderung zur Reflexion. Transparenz muss mehr sein als eine vage Möglichkeit. Mit anderen Worten: Eine gute Manipulation soll Verhaltensweisen für gute Ziele affektiv nahelegen, aber zugleich auffordern, dieses Verhalten und die Ziele zu reflektieren, um so als ganzer Mensch zu handeln – als fühlendes Geistwesen zu tun, was es auch als richtig einsehen kann. 7.
Fazit – Die gute Manipulation in der politischen Praxis
Schauen wir noch einmal auf die zu Beginn des Textes aufgegriffene Situation des Krieges und den Rat, zu einem Diskurs zurückzukehren. In dem gegenwärtigen Krieg dürfte er als rationaler Appell völlig wirkungslos sein und kaum ein Menschenleben retten. Es ist kaum möglich, zwei Personen an einen Tisch zu bringen, von denen mindestens eine die Realität der anderen Person aberkennt, damit sie sachlich miteinander reden. Der Krieg ist ein Hexensabbat der enthemmten Gewalt, bei dem die schwächeren Machtformen meist schweigen. Aber doch bleibt es nach dem hier entwickelten Argument sinnvoll zu fragen, inwiefern und zu welchem Zweck gute Manipulation im Umfeld eines Krieges möglich ist. Zunächst scheint es legitim, die eigenen Truppen und die 13
Es ist zu unterscheiden zwischen klassischer und operanter Konditionierung. (1) Die klassische Konditionierung ist wesentlich damit verbunden, dass der Konditionierte nicht mehr anders handeln kann als konditioniert – Pawlows Hund muss mit dem Sabbern beginnen, wenn die Glocke, die ein vom ursprünglichen Konnex Futter unabhängiger Reiz geworden ist, klingelt. (2) Die operante Konditionierung arbeitet wesentlich mit der Belohnung und Bestrafung von Verhalten. Sie ist weit verbreitet in unserer Gesellschaft. Hier können die Reize ebenfalls eine immer stärkere Kraft erlangen, die eine Wehrhaftigkeit dagegen stark erschwert. Aber doch bleibt hier eine Freiheit der Verweigerung möglich, ganz im Sinne unseres Verständnisses von Manipulation.
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eigene Bevölkerung affektiv zu motivieren, z. B. durch das Singen patriotischer Lieder, bildhafte Appelle an Solidarität und Einsatz, Heldengeschichten, die medial verbreitet werden u. a. Insbesondere um den Zusammenhalt zu stärken und die Hoffnung auf eine Rückkehr zum Frieden (und damit die relative Funktionalität einer Gesellschaft im Krieg) aufrecht zu erhalten, lässt sich in dieser Weise während eines Krieges sinnvoll manipulativ Einfluss nehmen. (Allerdings nur, wenn der Krieg gerechtfertigt ist.) Es ist dazu in einem engeren Rahmen auch legitim, den Feind negativ darzustellen – aber nur soweit er als Aggressor die internationalen Gesetze und Menschenrechte missachtet, wie es in unserem Beispiel Putins Russland tut. Diese Missachtung darf auch deutlich kommuniziert werden. Doch zeigen sich hier auch Grenzen legitimer Manipulation im Krieg. Eine Verteufelung des Gegners ist strikt abzulehnen, weil sie den Krieg weiter brutalisieren wird. Die Russen als »Orks« zu bezeichnen, wie mitunter auf ukrainischer (oder pro-ukrainischer) Seite geschehen, führt zu weiterer Entmenschlichung. Es kann eine Enthemmung der eigenen Truppen zur Folge haben, die dann keinerlei Respekt mehr vor dem «Ork» zeigen, wodurch Kriegshandlungen, die ohnehin einen schwierigen ethischen Status aufweisen, weiter verrohen und brutalisieren. Es darf kein Hass in den Herzen der eigenen Soldaten genährt werden (ihn ganz zu verhindern wird unmöglich sein), gerade auch, weil dieser einen langfristigen Frieden verunmöglichen wird. Ganz im Gegenteil wäre es sogar ein wichtiges Ziel guter Manipulation, selbst in der furchtbaren Grenzsituation des Krieges einen Respekt gegenüber dem Gegner, vor allem aber Achtung hinsichtlich der Zivilisten des Feindes zu befördern. Auch im Rahmen von Rhetorik dürfte es im Umfeld des Krieges gute Manipulationen geben. Ein Beispiel ist die Sprechweise des ausgebildeten Schauspielers Selenskyj, der mit seinen Reden die Einheit im Volk und auch die Solidarität des Westens wecken konnte (was bei der Krim-Annexion 2014 nicht gelang, wo Putins Narrative der Heimholung der Krim dominieren konnten). Und auch in der Diplomatie darf manipuliert werden, wenn es dem Frieden dient. Das heißt vor allem, dass gesichtswahrende Friedensschlüsse (mit symbolischen Zugeständnissen) legitim sein können, wenn sie dem Gegner affektiv die Annahme erleichtern. Aber es bleibt unbestreitbar, dass die gute Manipulation im Krieg nicht übermäßig viel erreichen kann. Letztlich bleibt sie, wie der Diskurs, eine eher eingeschränkte Macht, vor allem, wenn sie sich im Rahmen guter Manipulation bewegt. Manipulation ist nicht in der Lage, die Waffen zwingend zum Schweigen zu bringen. Wichtiger und wirkungsvoller dürfte der Einsatz guter Manipulation sein, um die Demokratie in der Massengesellschaft zu stabilisieren und funktionsfähig zu halten. Jenseits der Naivität eines reinen Diskursmodells und des brutalen Totalitarismus von 1984 kann sie positiv wirken, wenn sie den Impuls von Brave New World und von Bernays Methoden aufgreift und mit einer strengen
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ethischen Orientierung verbindet, also demokratischen und ethischen Kriterien gerecht wird. Wie wir gezeigt haben, kann es dann eine gute Manipulation geben, die so eingesetzt werden kann, dass sie die Würde des Einzelnen achtet und jedem die Freiheit lässt, weil sie Homogenität nicht erzwingt, sondern nur attraktiv erscheinen lässt. Diese gute Manipulation ist außerdem nicht naiv, da sie die menschliche Affektivität einbindet und mit der Vernünftigkeit vermitteln kann. Damit überwindet sie eine dichotomische Sichtweise auf Rationalität und Affektivität und nimmt das komplexe Wechselspiel dieser beiden Momente des Menschseins ernst. So sehr die Rationalität als Paradigma und Wert eine tragende gesellschaftliche Rolle spielen muss, deren erste Verteidigerin seit Sokrates und Platon immer die Philosophie war, so sehr muss gerade philosophisch auf die Komplexität menschlicher Motive und Handlungen hingewiesen, also ein Brückenschlag zwischen Kants und Humes Motivationstheorie versucht werden. Löst man dagegen die Rationalität zu sehr ab von dem Kontext und hebt sie von der organischen Natur des Menschen ab, so wird deren Bedeutung bald heruntergespielt und die Natur gnostisch-dualistisch abgewertet (vgl. Jonas 1977, 343ff.).14 Eine solche Natursicht und Anthropologie verstellt den neutralen oder auch positiven Blick auf die Manipulation, weil sie jeden affektiven Einfluss unter Generalverdacht stellt. (Verbunden mit der üblichen Selbstblindheit, nicht zu erkennen, dass wir selbst Teil eines steten Wechselspiels affektiver Einflussformen sind.) Wir haben argumentiert, dass es lohnt, die Manipulation als Machtform wohlwollender zu bewerten, können aber nicht enden, ohne deren Gefahren noch einmal zu betonen. Wie jede Machtform ist sie anfällig für spezifische Formen des Missbrauchs. Und in Grenzen sehen wir (in strikter Abtrennung von Bernays) in ihr nur eine Machtform im diversen Spiel der Mächte innerhalb einer Demokratie. Gewiss sind Argumente und der durch sie getragene Versuch zu überzeugen eine unproblematischere Machtform, die zu bevorzugen ist, weil ihr Missbrauch schwierig ist (im Unterschied zum Überreden, das offensichtlich böse wie gute Varianten kennt und damit der Manipulation nähersteht). Aber eben weil Überzeugen im Krieg wie im Frieden oft an Grenzen stößt – an zeitliche, intellektuelle, argumentative oder auch die der Bereitschaft, sich auf Diskurse einzulassen – wird die Demokratie nicht auf 14
Dadurch kam eine normative Aufladung der Rationalität zustande, die Konsequenzen für unsere Lebenspraxis hat. Deswegen wird beispielsweise unser Leben ›durchrationalisiert‹, also alles einem gewissen Rationalitätsideal unterworfen, was sich etwa an allgegenwärtigen Tendenzen zur Quantifizierung des Menschen – und damit auch in der Selbstoptimierung – zeigt (vgl. Fischer 2024). Das hat aber auch kontraintuitive Folgen für unsere Lebenspraxis und unser Selbstverständnis, etwa die Zurückweisung jeder biologischen Komponente bei Intelligenz oder Geschlecht.
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Manipulationen verzichten können. Doch sie kann und soll nur eingesetzt werden, wenn sie gut ist, das heißt: den Maßstäben der Demokratie und Ethik wirklich genügt. Bibliographie Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1974. Hellmuth Benesch/Walther Schmandt: Manipulation und wie man ihr entkommt. Stuttgart: 1979. Edward Bernays: Propaganda. Brooklyn/New York 2005. Edward Bernays: The engineering of consent. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science, 250/1 (1947), S. 113–120. Yoo Jin Cho/James F. Thrasher: Does the label ›graphic warning‹ transform the effect of warning labels on cigarette packaging? In: Journal of Health Communication 18/12 (2013), S. 1470–1483. Alexander Fischer: Ein Parasit im Kokon des Schmetterlings? Manipulation, Kommunikation und Ethik. In: Klaus Sachs-Hombach, Klaus/Bernd Zywietz (Hg.): Fake News, Hashtags & Social Bots. Neue Methoden populistischer Propaganda. Wiesbaden 2018, S. 14–49. Alexander Fischer: Im Schraubstock der Angst: Manipulation und unsere Disposition zur Ängstlichkeit. In: Hermeneutische Blätter 25/1 (2020), S. 20–37. Alexander Fischer. Manipulation and the Affective Realm of Social Media. In: Fleur Jongepier, Fleur/Michael Klenk (Hg.): The Philosophy of Online Manipulation. London 2022a, S. 327–352. Alexander Fischer: Manipulation zum Besseren. Selbstoptimierung in Therapie und Coaching. In: Zeitschrift für Semiotik (2024) [im Druck]. Alexander Fischer: Then again, what is manipulation? A broader view of a muchmaligned concept. In: Philosophical Explorations 25/2 (2022b), S. 170–188. [Online Open Access] Alexander Fischer: Manipulation. Zur Theorie und Ethik einer Form der Beeinflussung. Berlin 2017. Alexander Fischer/Sven Feurer: Proposition of a Pleasurable-Ends Model of Manipulation in Marketing, and Empirical Insights into Consumer Perceptions. 2024 [in Begutachtung]. Alexander Fischer/Christian Illies: »Halb zog sie ihn, halb sank er hin …«: Über die Verquickung von Liebe und Manipulation. In: Psychiatrische Praxis 50/S1 (2023), S. 38–43. Alexander Fischer/Christian Illies: Modulated Feelings: The Pleasurable-Ends-Model of Manipulation.” In: Philosophical Inquiries VI/2 (2018), S. 25–44. [Online Open Access]
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Geoffrey T. Fong/David Hammond/Sara C. Hitchman et al.: The impact of pictures of the effectiveness of tobacco warnings. In: Bulletin of the World Health Organization 89/11 (2013), S. 745–756. David Hammond/James L. Reid/Pete Driezen/Christian Bourdreau/Eric Pictou/ Scott L. Leatherdale: Pictorial health warnings on cigarette packs in the United States: An experimental evaluation of the proposed FDA warnings. In: Nicotine & Tobacco Research 17/8 (2015), S. 1000–1007. Thomas Hobbes: Leviathan. With an introduction and notes by Christopher Brooke. London 2017. Vittorio Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München 1997. Aldous Huxley: Brave New World. New York 2000. Anton Hügli: Von der Schwierigkeit vernünftig zu sein. Basel 2016. Hans Jonas: Das Prinzip Leben. Frankfurt a.M. 1977. Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Berlin 2010. Melissa Lane: Eco Republic: What the Ancients Can Teach Us about Ethics, Virtue, and Sustainable Living. Princeton 2012. Gustave Le Bon: Psychologie der Massen. Stuttgart 1982. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Frankfurt a.M. 1991. John Stuart Mill: Utilitarianism and On Liberty. Including Mill’s ›Essay on Bentham‹ and selections from the writings of Jeremy Bentham and John Austin. Second Edition. Edited with an Introduction by Mary Warnock. Oxford 2003. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017. Michael Sandel: Liberalism and the Limits of Justice. Cambridge 1982. Kai Strittmatter: We have been harmonized ‒ Life in China’s surveillance state. Custom House, New York 2020. Cass R. Sunstein/Richard H. Thaler: Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness. New Haven/London 2008. Michael Tomasello: Natural History of Human Morality. Cambridge, MA 2016. Christoph Türcke: Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft. München 2019. Melanie A. Wakefield/Lisa Hayes/Sarah Durkin/Ron Borland: Introduction effects of the Australian plain packaging policy on adult smokers: A cross-sectional study. In: BMJ Open 4/12 (2014), e005836. Allen W. Wood: Coercion, Manipulation, Exploitation. In: Christian Coons/Michael Weber (Hg.): Manipulation. Theory and Practice. Oxford 2014, S. 17–50.
Dank Die Herausgeber danken den Teilnehmer:innen der Tagung »Rechtfertigungsspiele« an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg für die spannenden Thesen und wertvollen Diskussionen, die den hier versammelten Beiträgen zugrunde liegen. Zudem möchten wir Svana Stemmler für ihre engagierte Organisationsassistenz und Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts danken. Danken möchten wir außerdem für die freundiche Betreuung der Mitarbeiter:innen des Brill Fink Verlags bei der Realisierung dieses Bandes. Nicht zuletzt gebührt ein Dank der Fritz Thyssen Stiftung, die das Projekt, aus dem die Tagung hervorgegangen ist, großzügig unterstützt hat.
Über die Beitragenden Dr. Falk Bornmüller ist Referent am Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. das Verhältnis von Philosophie und Literatur sowie die Fach- und Hochschuldidaktik der Philosophie mit einem Projekt zum »Philosophieren lehren« Dr. Alexander Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg sowie am dort angesiedelten Institut »Mensch & Ästhetik«. Seine Forschungsinteressen liegen an den Schnittstellen von Philosophie und Psychologie/therapeutischer Praxis, Philosophie und Literatur sowie im Bereich der normativen Ethik. Zusätzlich zu seiner akademischen Arbeit ist er in eigener Praxis psychotherapeutisch tätig. Prof. Dr. Kati Hannken-Illjes ist Professorin für Sprechwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Argumentieren in medizinischer Kommunikation, Argumentation und Narration und Entwicklung argumentativer Fähigkeiten bei Vorschulkindern. Prof. Dr. Christian Illies hat den Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Politischen Anthropologie, Architekturphilosophie und Ethik. Anna Kahmen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ethik und Praktische Philosophie an der Universität Münster. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Zeitlichkeit personalen Lebens. Andere Forschungsinteressen liegen in der Handlungstheorie, der Sprachphilosophie, der Institutionen- sowie der Umweltethik. Friedrich Kleffmann hat einen MPhil in History and Philosophy of Science and Medicine in Cambridge (UK) absolviert und studiert Humanmedizin in Leipzig. Er ist als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Geschichte und Wissenschaftstheorie der Medizin in Bielefeld angebunden und sein Forschungsschwerpunkt ist die Philosophie der Medizin, insbesondere Values-in-Science-Debatten.
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Über die Beitragenden
Dr. Mathis Lessau ist akademischer Mitarbeiter am Husserl-Archiv der Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wissenschaftstheorie und -geschichte sowie der Epistemologie. Zurzeit arbeitet er an einem Buchprojekt zu den philosophischen Rechtfertigungsstrategien der Alternativmedizin. Prof. Dr. Dr. Winfried Löffler ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck. Seine Forschungsinteressen umfassen die Logik, Wissenschaftstheorie, Religionsphilosophie und insbesondere die Untersuchung der Struktur von Weltanschauungen. Dr. Anna Lux ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. im Rahmen des BMBF-Projektverbunds »Das umstrittene Erbe von 1989«; 2011–2017 Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Geschichte der Parapsychologie, Populäre Geschichtskultur und Erinnerungskultur. Dr. habil. Anne D. Peiter hat die Fächer Germanistik, Geschichte, Philosophie und Italienisch in Münster, Rom, Paris und Berlin studiert. Seit 2007 ist sie Germanistikdozentin an der Universität von La Réunion. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich von Fragen nach Gewalt und Kolonialismus. PD Dr. Peter Schneider ist Privatdozent für Klinische Psychologie an der Universität Zürich und lebt und arbeitet in Zürich als Psychoanalytiker in eigener Praxis. Er ist Mitherausgeber der EPF-Essays. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der theoretischen Probleme der Psychoanalyse. Svana Stemmler studiert Philosophie im Master an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist seit 2021 wissenschaftliche Hilfskraft am Husserl-Archiv der Albert-LudwigsUniversität Freiburg und seit 2023 studentische Hilfskraft am Centre for Social Critique in Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind die Wissenschaftstheorie, insbesondere die Philosophie der Medizin und Psychiatrie, soziale Erkenntnistheorie sowie die Kritische Theorie.
Über die Beitragenden
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Prof. Dr. Kocku von Stuckrad ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Groningen (Niederlande). Er arbeitet zu den Querverbindungen zwischen Religion, Wissenschaft und Philosophie in historischer Perspektive, mit besonderem Interesse für naturzentrierte und alternative Spiritualitäten seit dem 19. Jahrhundert. Dr. Mario Ziegler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der FriedrichSchiller-Universität Jena. Er leitet den Bereich der Fachdidaktik der Ethik und Philosophie. Seine Forschungsinteressen liegen vor allem in verschiedenen Bereichen der Didaktik der Philosophie. Außerdem engagiert er sich im Rahmen der Jenaer Schule der Didaktik.