Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus: Studien zu den Briefen an Timotheus und Titus 9783161543135, 9783161611537, 3161543130

Der Band versammelt Aufsätze von Jens Herzer, die in den letzten 20 Jahren im Zuge der Kommentierungsarbeit an den Pasto

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German Pages [581] Year 2022

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Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Vorwort des Herausgebers
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus. Eine Einleitung
I: Perspektiven der Forschung
Abschied vom Konsens? Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als Herausforderung an die neutestamentliche Wissenschaft
Fiktion oder Täuschung? Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe
1. Forschungsgeschichtliche Bemerkungen zur Diskussion um die neutestamentliche Pseudepigraphie
2. Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe – Die Entwicklung eines Paradigmas
3. Konkretisierung der Kritik
4. Fazit
5. Perspektiven für die Arbeit an den Pastoralbriefen – zusammenfassende Thesen
Zwischen Mythos und Wahrheit. Neue Perspektiven auf die sogenannten Pastoralbriefe
1. Forschungsgeschichtliche Aspekte: Die Entstehung eines Interpretationsparadigmas
2. Methodische Perspektiven
3. Kreta – Rom – Ephesus: Von der Paulusbiographie zur Paulushagiographie
4. Schlussbemerkung: Die Pastoralbriefe zwischen »Mythos und Wahrheit«
Die Pastoralbriefe im Licht der dokumentarischen Papyri des hellenistischen Judentums
1. Methodische Überlegungen
2. Materiale Beobachtungen
3. Schlussfolgerungen und Ausblick
Die Kommentierung der Pastoralbriefe in der Reihe »Kritisch Exegetischer Kommentar« durch Johannes Eduard Huther und Karl Philipp Bernhard Weiß
1. Überblick über die Kommentierung der Schrift
2. Inhaltliche Perspektiven
3. Resümee
II: Paulusgeschichte und Paulusrezeption
Paulustradition und Paulusrezeption in den Pastoralbriefen
1. Der methodische Rahmen der Fragestellung
2. »Alle haben mich verlassen« (2 Tim 4,16) – Die Trägerkreise der Paulusrezeption oder: Kontinuität und Diskontinuität in der Paulustradition
3. »Bewahre die gute Überlieferung« (2 Tim 1,14) – Das Selbstverständnis der Pastoralbriefe im Blick auf Rezeption und Bewahrung des paulinischen Erbes
4. Rezeption und Transformation der Überlieferung
5. Resümee
Den guten Kampf gekämpft. Das Ende des Paulus im Spiegel des Zweiten Timotheusbriefes und der frühchristlichen Überlieferung
1. Methodische Vorbemerkungen
2. Das Ende des Paulus im Spiegel des 2. Timotheusbriefes – eine exegetisch-theologische Skizze
3. Die Spanienpläne im Horizont paulinischer Missionsstrategie und des lukanischen Konzepts der Ausbreitung des Christentums
4. Röm 15 als Ausgangspunkt der Legendenbildung – außerneutestamentliche Hinweise auf das Ende des Paulus
5. Schlussfolgerungen und Ergebnisse
»Lukas ist allein bei mir« (2 Tim 4,11). Lukas, die Pastoralbriefe und die Konstruktion von Geschichte
1. Methodische Aspekte der Themenstellung
2. Beispiele für die Vernetzung der Überlieferungen
3. Resümee
Tradition und Bekenntnis. Die Theologie des Paulus im Spiegel ihrer Rezeption im Ersten Timotheusbrief
1. Einführende Bemerkungen
2. Die Sonderstellung des 1. Timotheusbriefes im Corpus pastorale
3. Was heißt Rezeption und Tradition? Methodische Aspekte
4. Pseudepigraphische Rezeption als situationsbezogene Transformation im 1. Timotheusbrief
5. Schluss
III: Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Rearranging the »House of God«. A New Perspective on the Pastoral Epistles
1. The thesis of the literary unity of the Pastoral Epistles in scholarship
2. Recent approaches to the topic of the »House of God«
3. The ecclesiological metaphor in 1 Timothy 3:15
4. Ecclesiological patterns in Titus and 2 Timothy
5. Conclusion: A new perspective on the interpretation of the Pastoral Epistles
Juden – Christen – Gnostiker. Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe
1. Vorüberlegungen
2. Die Charakteristik der Gegner in den Pastoralbriefen
3. Der Begriff μῦθοι als Identifikationsmerkmal der Gegner in den Pastoralbriefen?
4. Resümee
Was ist falsch an der »fälschlich so genannten Gnosis«? Zur Paulusrezeption des Ersten Timotheusbriefes im Kontext seiner Gegnerpolemik
1. Vorbemerkung und These
2. Forschungsgeschichtliche und methodische Aspekte
3. Die Paulusrezeption in den Gegneraussagen des 1. Timotheusbriefes vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit gnostischen Strömungen im 2. Jh. n. Chr
4. Zur theologiegeschichtlichen Standortbestimmung des 1. Timotheusbriefes in den antihäretischen Diskursen des 2. Jahrhunderts
Vom Sinn und Nutzen der Polemik. Zur Pragmatik der Gegnerinvektive in den Pastoralbriefen
1. Einführende Bemerkungen
2. Die Invektive gegen die Juden (Tit 1,10–16)
3. Die Gegnerthematik im 2. Timotheusbrief
4. Das Gegnerprofil im 1. Timotheusbrief
5. Resümee
»Von Gottes Geist durchweht«. Die Inspiration der Schrift nach 2 Tim 3,16 und bei Philo von Alexandrien
1. Die Fragestellung
2. Strukturelle und inhaltliche Beobachtungen
3. 2 Tim 3,16 und Philos Vorstellung von der Inspiration der Schrift
4. Konsequenzen für die Interpretation von 2 Tim 3,16 und die Funktion der Aussage im Kontext des Briefes
5. Zusammenfassung
IV: Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand
»Das Geheimnis der Frömmigkeit« (1 Tim 3,16). Sprache und Stil der Pastoralbriefe im Kontext hellenistisch-römischer Popularphilosophie – eine Problemanzeige
1. Vorüberlegungen
2. Methodische Fragen zum Einfluss griechischer Popular- bzw. Moralphilosophie auf Sprache, Begrifflichkeit und Stil der Pastoralbriefe
3. εὐσέβεια als Beispiel für die Adaption, Transformation und Inkulturation hellenistisch-römischer Vorstellungen in den Pastoralbriefen
4. Schlussbetrachtung
»Das ist gut und nützlich für die Menschen« (Tit 3,8) Die Menschenfreundlichkeit Gottes als Paradigma christlicher Ethik
1. Zum Kontext der Fragestellung
2. Tit 3,1–8 im Horizont neutestamentlicher Überlieferung
3. Die Struktur von Tit 3,1–8(9–11)
4. Die ethische Funktion der Mahnung zum Gehorsam
5. Hermeneutische Überlegungen
Titus 3,1–15: Gottes Menschenfreundlichkeit und die ethische Relevanz christlicher Hoffnung
1. Vorbemerkung
2. Die Grundstruktur von Titus 3 im Briefkontext
3. Exegetische Erschließung des Textes
4. Thematische Schwerpunkte in Titus 3
»Gefäße zur Ehre und zur Unehre« (2 Tim 2,20). Metaphorische Sprache und Ethik in den Pastoralbriefen – eine Skizze
1. Metaphorische Sprache in Ekklesiologie und Ethik – einige methodische Überlegungen
2. Die Funktion von Metaphern für die Plausibilisierung von Gruppenprozessen – Titusbrief und 2. Timotheusbrief
3. Die Funktion von Metaphern für Neucodierung von Gruppenidentitäten – der 1. Timotheusbrief
4. Schlussbemerkung
Die »Verheißung des Lebens« (1 Tim 4,8) im Spannungsfeld zwischen öffentlicher Verantwortung und persönlicher Hoffnung
1. Die »Verheißung des Lebens« (1 Tim 4,8) im Kontext der Argumentation
2. Die intratextuelle Vernetzung: 1 Tim 4,8 als Interpretation des Lexems »ewiges Leben«
3. Die Martyria als Konsequenz der »Verheißung des Lebens« (1 Tim 6,12)
4. Das sozialkritische Potenzial der »Verheißung des Lebens« – ein nachgetragenes Fallbeispiel (1 Tim 6,17–19)
V: Schluss: Wahrheit und Ethos
Ethik, Ethos und die Wahrheit. Ein Beitrag zur Frage nach der Individualität der Pastoralbriefe
1. Vorbemerkung
2. Ethik und Ethos
3. »Wahrheit« als Leitbegriff des Ethos in den Pastoralbriefen
4. Resümee: Ethos, implizite Ethik und Genre
Abstracts
Nachweis der Erstveröffentlichung
Register
Bibelstellenregister
Sach-, Personen- und Ortsregister
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Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus: Studien zu den Briefen an Timotheus und Titus
 9783161543135, 9783161611537, 3161543130

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber/Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)

476

Jens Herzer

Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus Studien zu den Briefen an Timotheus und Titus Herausgegeben von

Jan Quenstedt

Mohr Siebeck

Jens Herzer, geboren 1963; 1993 Promotion und 1997 Habilitation an der Humboldt Universität zu Berlin; seit 1999 Professor für Neutestamentliche Wissenschaft mit Schwerpunkt Exegese und Theologie des Neuen Testaments sowie Antikes Judentum an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Jan Quenstedt, geboren 1988; Studium der Ev. Theologie an den Universitäten Leipzig und Heidelberg; 2019 Promotion; seit 2020 Vikar der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens.

ISBN 978-3-16-154313-5 / eISBN 978-3-16-161153-7 DOI 10.1628/978-3-16-161153-7 ISSN 0512-1604 / eISSN 2568-7476 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nati­ onalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline aus der Minion gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Die hier versammelten Studien sind aus der Arbeit an einem Kommentar zu den Pastoralbriefen entstanden, die sich als deutlich komplexer erwiesen hat, als ursprünglich angenommen. Mit der konzeptionellen Zusammenstellung in diesem Band dokumentieren die Beiträge gewissermaßen eine Zwischenbilanz meiner bisherigen Forschungen über die Pastoralbriefe, die in den Abschluss des Kommentars münden soll. Ein großer Teil der Aufsätze wurde maßgeblich und dankenswerterweise ermöglicht durch eine Opus-Magnum-Förderung der Volkswagenstiftung in den Jahren 2011/12. Ein herzlicher Dank gilt an dieser Stelle vor allem Dr. Jan Quenstedt, der diesen Band mit einigen Mühen und sorgsamer Geduld herausgegeben hat. Dankbar bin ich auch für viele anregende Gespräche und intensive Debatten mit Studentinnen und Studenten, die sich in erstaunlicher Weise immer wieder in Übungen und Seminaren für die Pastoralbriefe interessiert haben, sowie vor allem auch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an meinem Lehrstuhl und am Institut in Leipzig über die vielen Jahre, in denen die hier gesammelten Beiträge entstanden sind. Stellvertretend nennen möchte ich jene beiden, die sich auch selbst erfolg- und ertragreich auf das Abenteuer Pastoralbriefe in ihren Dissertationen eingelassen haben, Dr. Michaela Veit-Engelmann und Dr. Joram Luttenberger; von beiden habe ich besonders viel gelernt. Mein Dank gilt auch meiner Sekretärin, Frau Sylvia Kolbe, die sich in bewährter Weise mit großer Sorgfalt und Geduld um die Vorbereitung der Manuskripte und die Korrekturen verdient gemacht hat, sowie Frau Anna Berting, die bei der Erstellung der Register mitgewirkt hat. Jörg Frey, der Herausgeber der Reihe »Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament«, hat mich zu diesem Band mehr als einmal freundschaftlich ermutigt und Zweifel zerstreut, wofür ich ihm ebenso dankbar bin wie dem Verlag Mohr Siebeck für die geduldige und professionelle Betreuung des Projektes. Leipzig, im Frühjahr 2021

Jens Herzer

Vorwort des Herausgebers Eine Frage habe ich so oder in ähnlicher Form viele Male von Studierenden im neutestamentlichen Repetitorium gehört: »Und was sagt Herr Herzer dazu?« Besonders häufig wurde diese Frage in Bezug auf die Pastoralbriefe gestellt, oft auf die sog. Einleitungsfragen verengt. Mit dieser Frage verbindet sich meist die Wahrnehmung eines vermeintlichen Defizits: Die Pastoralbriefe erscheinen im neutestamentlichen Curriculum allenfalls am Rande, und die Vielfalt an Perspektiven der Forschung ist nicht nur für Studierende, sondern auch in der Forschung selbst nicht immer einfach zu überschauen. Allein der Blick in die Einleitungsliteratur kann die Spannweite der theologischen und literarkritischen Problemfelder der Pastoralbriefe nicht erschließen. Zu knapp und zuweilen pauschal mutet ihre Betrachtung darin an. Für viele gilt dies als ein Hinweis darauf, dass der 1. und 2. Timotheusbrief sowie der Titusbrief überwiegend noch immer als Randerscheinungen im Corpus Paulinum gelten – zu Unrecht, wie der vorliegende Band zeigt. Hinter der studentischen Frage kann allerdings auch ein ernsthaftes Interesse an den vermeintlich »unzertrennlichen Drillingen« (Holtzmann) gesehen werden, welches sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengibt. Dieses Interesse unterstützt der vorliegende Sammelband mit seinen verschiedenen Perspektiven auf die Pastoralbriefe. Nicht wenige der in diesem Band dokumentierten Studien sind im kontinuierlichen Austausch mit den Studierenden in Leipzig entstanden. Der Band insgesamt dokumentiert damit einen Forschungsschwerpunkt an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, der die Arbeit am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft seit einigen Jahren nun schon maßgeblich mit geprägt hat. Vor diesem Hintergrund lädt er dazu ein, sich intensiv(er) mit den Pastoralbriefen auseinanderzusetzen, den persönlichen Blick auf diese neutestamentliche Schriftengruppe kritisch zu hinterfragen und sich anhand eigener Fragen mit den hier entfalteten Positionen auseinanderzusetzen. Damit verbindet sich mein Wunsch als Herausgeber, dass diese Aufsatzsammlung zu einer lebendigen Diskussion anregen möge  – in Vorlesungen, Seminaren, aber vor allem auch an den Schreibtischen derer, die über die Pastoralbriefe forschen. Oder anders gesagt: An diesen und allen anderen Orten, an denen in der Auseinandersetzung mit den neutestamentlichen Schriften lebendig Theologie betrieben wird. Zur Anregung des Forschungsdiskurses formuliert der vorliegende Band herausfordernde Antworten auf Fragen, die nicht nur die Pastoralbriefe selbst aufwerfen, sondern auch die Forschung zu diesen Briefen. Diese Antworten eröffnen mitunter auch überraschende Perspektiven, suchen ihrerseits den Dialog und legen zugleich Zeugnis über das langjährige Nachdenken des Autors über den 1. und 2. Timotheusbrief und den Titusbrief in ihrem theologiegeschichtlichen Kontext ab. Dabei zeigt

VIII



sich nicht zuletzt die bleibende Aktualität dieser drei neutestamentlichen Schriften, die sich nicht allein in Einleitungswissen erschöpft. Vielmehr sind die Pastoralbriefe selbst Zeugnisse eines theologischen Nachdenkens, das auch für die Gegenwart wertvolle Impulse und Anstöße bietet. »Und was sagen Sie dazu?« Die Umkehrung der eingangs notierten Frage der Studierenden als Frage an die Studierenden und an alle, die sich wissenschaftlich mit den Pastoralbriefen befassen, ist essentiell für eine theologische Standortbestimmung in Bezug auf diese Schriftengruppe. In der ernsthaften Beschäftigung mit den biblischen Schriften kommt es letztendlich auf den Schritt von der eigenen Frage hin zum eigenen begründeten Standpunkt an, der weit wichtiger ist als jedes bloße Kennen einer vorgefassten Meinung. Im Dreiklang von Wahrnehmung – Frage – Positionierung vollzieht sich exegetisch-theologische Urteilsbildung, durchaus im Wissen darum, dass »der Weisheit letzter Schluss« vielfach offenbleiben muss. Der vorliegende Band bietet somit eine substanzielle Grundlage für eine Auseinandersetzung mit den Pastoralbriefen, die eine eigene Verhältnisbestimmung hinsichtlich ihrer Verfasserschaft, ihrer Stellung im Korpus der frühchristlichen Literatur und in Bezug auf ihre theologische Dignität verlangt. Letztlich geht es darum, im kritischen Diskurs diesen Schriften gerecht zu werden – ganz im Sinne einer innovativen Bewahrung und hermeneutischen Transformation dessen, was Theologie und Kirche anvertraut ist (vgl. 2 Tim 3,14–17). Riesa/Leipzig, im Frühjahr 2021

Jan Quenstedt

Inhaltsverzeichnis Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  V Vorwort des Herausgebers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  VII Abkürzungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  XV Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus. Eine Einleitung  . . . . . . . . . 1

I  Perspektiven der Forschung Abschied vom Konsens? Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als Herausforderung an die neutestamentliche Wissenschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Fiktion oder Täuschung? Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Forschungsgeschichtliche Bemerkungen zur Diskussion um die neutestamentliche Pseudepigraphie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe – Die Entwicklung eines Paradigmas  . . . . . . 3. Konkretisierung der Kritik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Perspektiven für die Arbeit an den Pastoralbriefen – zusammenfassende Thesen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 41 50 62 64

Zwischen Mythos und Wahrheit. Neue Perspektiven auf die sogenannten Pastoralbriefe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Forschungsgeschichtliche Aspekte: Die Entstehung eines Interpretationsparadigmas  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Methodische Perspektiven  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kreta – Rom – Ephesus: Von der Paulusbiographie zur Paulushagiographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schlussbemerkung: Die Pastoralbriefe zwischen »Mythos und Wahrheit«  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 82 87 91

Die Pastoralbriefe im Licht der dokumentarischen Papyri des hellenistischen Judentums  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Methodische Überlegungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Materiale Beobachtungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Schlussfolgerungen und Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

X

Inhaltsverzeichnis

Die Kommentierung der Pastoralbriefe in der Reihe »Kritisch Exegetischer Kommentar« durch Johannes Eduard Huther und Karl Philipp Bernhard Weiß  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Überblick über die Kommentierung der Schrift  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Inhaltliche Perspektiven  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Resümee  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption Paulustradition und Paulusrezeption in den Pastoralbriefen  . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Der methodische Rahmen der Fragestellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Alle haben mich verlassen« (2 Tim 4,16) – Die Trägerkreise der Paulusrezeption oder: Kontinuität und Diskontinuität in der Paulustradition  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Bewahre die gute Überlieferung« (2 Tim 1,14) – Das Selbstverständnis der Pastoralbriefe im Blick auf Rezeption und Bewahrung des paulinischen Erbes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rezeption und Transformation der Überlieferung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Resümee  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156 160 162 165 177

Den guten Kampf gekämpft. Das Ende des Paulus im Spiegel des Zweiten Timotheusbriefes und der frühchristlichen Überlieferung  . . . . . . 185 1. Methodische Vorbemerkungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Ende des Paulus im Spiegel des 2. Timotheusbriefes – eine exegetisch-theologische Skizze  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Spanienpläne im Horizont paulinischer Missionsstrategie und des lukanischen Konzepts der Ausbreitung des Christentums  . . . . . . . . . . . . . . . 4. Röm 15 als Ausgangspunkt der Legendenbildung – außerneutestamentliche Hinweise auf das Ende des Paulus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schlussfolgerungen und Ergebnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

186 191 199 201 206

»Lukas ist allein bei mir« (2 Tim 4,11). Lukas, die Pastoralbriefe und die Konstruktion von Geschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Methodische Aspekte der Themenstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2. Beispiele für die Vernetzung der Überlieferungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3. Resümee  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

Tradition und Bekenntnis. Die Theologie des Paulus im Spiegel ihrer Rezeption im Ersten Timotheusbrief  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Einführende Bemerkungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sonderstellung des 1. Timotheusbriefes im Corpus pastorale  . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt Rezeption und Tradition? Methodische Aspekte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pseudepigraphische Rezeption als situationsbezogene Transformation im 1. Timotheusbrief  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schluss  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4.

247 250 252 255 265



Inhaltsverzeichnis

XI

III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit Rearranging the »House of God«. A New Perspective on the Pastoral Epistles  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. 2. 3. 4. 5.

The thesis of the literary unity of the Pastoral Epistles in scholarship  . . . . . . . . . . . . . Recent approaches to the topic of the »House of God«  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . The ecclesiological metaphor in 1 Timothy 3:15  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ecclesiological patterns in Titus and 2 Timothy  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusion: A new perspective on the interpretation of the Pastoral Epistles  . . . . . .

273 279 280 283 285

Juden – Christen – Gnostiker. Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe  . . . 293 1. Vorüberlegungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Charakteristik der Gegner in den Pastoralbriefen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Begriff μῦθοι als Identifikationsmerkmal der Gegner in den Pastoralbriefen?  . . 4. Resümee  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293 296 307 310

Was ist falsch an der »fälschlich so genannten Gnosis«? Zur Paulusrezeption des Ersten Timotheusbriefes im Kontext seiner Gegnerpolemik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 1. Vorbemerkung und These  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungsgeschichtliche und methodische Aspekte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Paulusrezeption in den Gegneraussagen des 1. Timotheusbriefes vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit gnostischen Strömungen im 2. Jh. n. Chr.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zur theologiegeschichtlichen Standortbestimmung des 1. Timotheusbriefes in den antihäretischen Diskursen des 2. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

315 317 320 332

Vom Sinn und Nutzen der Polemik. Zur Pragmatik der Gegnerinvektive in den Pastoralbriefen  . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 1. Einführende Bemerkungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Invektive gegen die Juden (Tit 1,10–16)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gegnerthematik im 2. Timotheusbrief  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Gegnerprofil im 1. Timotheusbrief  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Resümee  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

341 345 353 355 357

»Von Gottes Geist durchweht«. Die Inspiration der Schrift nach 2 Tim 3,16 und bei Philo von Alexandrien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Die Fragestellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturelle und inhaltliche Beobachtungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Tim 3,16 und Philos Vorstellung von der Inspiration der Schrift  . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für die Interpretation von 2 Tim 3,16 und die Funktion der Aussage im Kontext des Briefes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4.

363 365 368 371 375

XII

Inhaltsverzeichnis

IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand »Das Geheimnis der Frömmigkeit« (1 Tim 3,16). Sprache und Stil der Pastoralbriefe im Kontext hellenistisch-römischer Popularphilosophie – eine Problemanzeige  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 1. Vorüberlegungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Methodische Fragen zum Einfluss griechischer Popular- bzw. Moralphilosophie auf Sprache, Begrifflichkeit und Stil der Pastoralbriefe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. εὐσέβεια als Beispiel für die Adaption, Transformation und Inkulturation hellenistisch-römischer Vorstellungen in den Pastoralbriefen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schlussbetrachtung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

382 384 388 399

»Das ist gut und nützlich für die Menschen« (Tit 3,8) Die Menschenfreundlichkeit Gottes als Paradigma christlicher Ethik  . . . . . . . . 407 1. 2. 3. 4. 5.

Zum Kontext der Fragestellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tit 3,1–8 im Horizont neutestamentlicher Überlieferung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur von Tit 3,1–8(9–11)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ethische Funktion der Mahnung zum Gehorsam  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutische Überlegungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

407 410 411 414 420

Titus 3,1–15: Gottes Menschenfreundlichkeit und die ethische Relevanz christlicher Hoffnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 1. Vorbemerkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundstruktur von Titus 3 im Briefkontext  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Exegetische Erschließung des Textes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Thematische Schwerpunkte in Titus 3  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425 426 427 441

»Gefäße zur Ehre und zur Unehre« (2 Tim 2,20). Metaphorische Sprache und Ethik in den Pastoralbriefen – eine Skizze  . . . . . . 467 1. Metaphorische Sprache in Ekklesiologie und Ethik – einige methodische Überlegungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Funktion von Metaphern für die Plausibilisierung von Gruppenprozessen – Titusbrief und 2. Timotheusbrief  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Funktion von Metaphern für Neucodierung von Gruppenidentitäten – der 1. Timotheusbrief  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schlussbemerkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

470 474 481 484

Die »Verheißung des Lebens« (1 Tim 4,8) im Spannungsfeld zwischen öffentlicher Verantwortung und persönlicher Hoffnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 1. Die »Verheißung des Lebens« (1 Tim 4,8) im Kontext der Argumentation  . . . . . . . . 2. Die intratextuelle Vernetzung: 1 Tim 4,8 als Interpretation des Lexems »ewiges Leben«  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Martyria als Konsequenz der »Verheißung des Lebens« (1 Tim 6,12)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das sozialkritische Potenzial der »Verheißung des Lebens« – ein nachgetragenes Fallbeispiel (1 Tim 6,17–19)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

491 495 497 498



Inhaltsverzeichnis

XIII

V  Schluss: Wahrheit und Ethos Ethik, Ethos und die Wahrheit. Ein Beitrag zur Frage nach der Individualität der Pastoralbriefe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 1. Vorbemerkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ethik und Ethos  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Wahrheit« als Leitbegriff des Ethos in den Pastoralbriefen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Resümee: Ethos, implizite Ethik und Genre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

503 505 506 518

Abstracts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Nachweis der Erstveröffentlichung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Register Bibelstellenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Sach-, Personen- und Ortsregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557

Abkürzungen Die Abkürzungen erfolgen nach Siegfried M. Schwertner (Hg.), IATG3 – Inter­nationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/Boston 32014, sowie ergänzend nach Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG4, Tübingen 2007. Die Abkürzungen und Sigla der Papyri richten sich nach dem Heidelberger Gesamtverzeichnis (http://www.papyri.info/browse/hgv/).

Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus Eine Einleitung Als vor mehr als 20 Jahren der Auftrag an mich herangetragen wurde, die Pastoralbriefe für den Theologischen Handkommentar zu bearbeiten, war mir nicht bewusst, auf welches spannende forschungsgeschichtliche Abenteuer ich mich einlassen würde. Zu jenem Zeitpunkt hatte ich noch keine geschriebene Zeile zu den Pastoralbriefen vorzuweisen, und meine Vorstellungen von diesen dem Eindruck nach eher marginalen Schriften des Neuen Testaments gingen nicht maßgeblich über das übliche Examenswissen hinaus. Umso erstaunlicher war es, die bereits damals vorliegende Fülle neuerer Kommentierungen und Monographien zu den Pastoralbriefen einerseits und zugleich die große Diskrepanz in den grundlegenden Perspektiven auf diese Briefe andererseits wahrzunehmen, die in ihrer Disparatheit kaum miteinander zu vereinbaren waren. Beeindruckt hat mich damals nicht zuletzt der schiere Umfang der neueren Kommentare, die oft mehrbändig konzipiert waren und in der Regel mit deutlich mehr als 500 bis hin zu mehr als 1000 Seiten in einem für mich erstaunlichen Verhältnis zum vergleichsweise bescheidenen Umfang der Pastoralbriefe selbst standen. Es war schnell klar, dass der enorme Interpretationsaufwand nicht nur damit zusammenhing, dass es immer komplexere Forschungsdiskurse zu bewältigen galt.1 Die zunehmende Komplexität der Forschung auf diesem Gebiet war vielmehr auch ein Indiz dafür, dass sich die historischen und literarischen Voraussetzungen für das Verständnis der Pastoralbriefe sowie die methodischen Zugänge zu ihrer Auslegung keineswegs selbstverständlich als konsensfähig erwiesen. So hat sich dem »Seiteneinsteiger« in diese Diskurse auch im Blick auf die aktuelle Forschung jenes nunmehr fast 100 Jahre alte Urteil Adolf von Harnacks auf eindrückliche Weise bestätigt: »Das Rätsel, das über diesen Briefen schwebt, hat noch niemand wirklich gelöst und ist auch mit unseren geschichtlichen Hilfsmitteln unlösbar.«2 Dieses Zitat bzw. diese Einsicht ist gewissermaßen ein Grundtenor, der die Arbeit an den 1 Eine informative, ausgewogene und lesenswerte Forschungsgeschichte im Sinne einer Problemgeschichte bietet Michaela Engelmann, Unzertrennliche Drillinge? Motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe (BZNW 192), Berlin 2012, 10–117. 2  Adolf von Harnack, Die Briefsammlung des Apostels Paulus und die anderen vorkonstantinischen christlichen Briefsammlungen. Sechs Vorlesungen aus der altkirchlichen Literaturgeschichte, Leipzig 1926, 14.

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Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus

Pastoralbriefen begleitet hat und dementsprechend auch in den hier versammelten Beiträgen immer wieder anklingt. Auch wenn sich angesichts von Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Interpretationen der Pastoralbriefe an dieser Einsicht nicht viel geändert hat, so ist doch offenkundig, dass sich die Forschung dadurch nicht entmutigen ließ. Das Wesen von ungelösten Rätseln besteht letztlich in der steten Anregung zu neuen Lösungsversuchen. Im besten Fall lassen sich auch aus Holzwegen, die nicht in eine befriedigende Lösung münden, Aspekte gewinnen, die in andere Richtungen gewendet dann doch weiterführen und die Perspektiven der Erkenntnis erweitern. Am Ende wird Harnack Recht behalten: Die allgegenwärtigen Begrenzungen historischer Forschung werden es nicht erlauben, ein sicheres und konsensfähiges Urteil darüber zu gewinnen, was die Pastoralbriefe sind, wie und warum sie entstanden und wie sie sich zu dem verhalten, was wir sonst von jenem Apostel wissen, dem sie zugeschrieben sind. Es werden immer Fragen offenbleiben, es wird immer verschiedene Möglichkeiten des Urteils und der Interpretation in Detailfragen geben, je nachdem, unter welchen Voraussetzungen man die Dinge betrachtet. Aber das ist letztlich nicht mehr als eine historische Binsenweisheit. Spannend ist es jedoch, sich auf das gestellte Rätsel einzulassen, das inzwischen eher einem Puzzle mit immer noch zu vielen nur schwach konturierten Flächen gleicht – und zu versuchen, im Dialog mit möglichst vielen (vollständig ist das inzwischen unmöglich geworden) innovativen Ansätzen die Konturen auszuziehen und die einzelnen Teile zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzusetzen. Eine Grundvoraussetzung für jede Kommentierung ist es daher, in Einzelstudien wichtige Texte, Themen und Thesen zu bearbeiten und – um im Bild zu bleiben – jene Teile des Puzzles zusammenzustellen, die den Rahmen des Gesamtbildes konstituieren und somit die Voraussetzung für die kontinuierliche Auffüllung in anderen, noch unklaren und ungeordneten Bereichen darstellen. Unter diesem Vorzeichen sind die Studien der vergangenen Jahre meiner Arbeit mit und an den Pastoralbriefen entstanden, und die wichtigsten davon sind in diesem Band gesammelt. Es geht dabei nicht nur darum, die verstreuten und zum Teil auch an nicht ganz so prominenten Orten erschienenen Beiträge einfacher zugänglich zu machen. Es ist damit vielmehr auch die Absicht verbunden, in der Zusammenstellung der Beiträge die inhaltliche Entwicklung meiner Perspektive auf die Pastoralbriefe abzubilden und damit vielleicht auch plausibler zu machen. Dabei kommt es mir vor allem darauf an, die Spannung zwischen dem Vermächtnis des Paulus und dem, was in der Forschung mit dem schwer zu fassenden Begriff »paulinische Tradition« beschrieben wird, wahrzunehmen und die Pastoralbriefe als Zeugnisse für diese Spannung zu verstehen. Das Ziel muss stets sein, den Weg zu einem Verständnis dieser drei Briefe zu eröffnen, welches ihnen so gut wie möglich gerecht wird. Es kann weder darum gehen, zwischen den theologischen »Höhenflügen« des Paulus im Römerbrief und dem »Quark« der Pastoralbriefe als Ausdruck eines »bedeutend niederer gestellte[n] Niveau[s] der ganzen Denkart« – wie dies der für die Pastoralbriefeforschung einflussreiche Heinrich Julius Holtzmann im 19. Jahrhundert



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pointiert formuliert hatte3 – einen idealistischen Graben aufzureißen, noch darum, die Einheit der Pastoralbriefe entweder als echte oder fiktive Paulusschriften unter allen Umständen festhalten zu wollen. Die aktuellen Tendenzen der Forschung jedenfalls sind inzwischen deutlich differenzierter geworden und ermöglichen einen Neuansatz im kritischen Diskurs. Eine entscheidende methodische Voraussetzung für eine angemessene Sicht auf die Pastoralbriefe besteht aus meiner Sicht darin, ihre allzu enge »Verwandtschaft« (Holtzmann hatte von »unzertrennlichen Dillingen« gesprochen4) aufzulösen und die Briefe in ihrem je eigenen Profil wahrzunehmen. Dies ist zu einer maßgeblichen Perspektive der hier gesammelten Beiträge geworden und wird darin auf unterschiedliche Weise in der jeweils gesonderten Auswertung und Profilierung der drei Briefe thematisiert. Es hat sich gezeigt, dass sich grundlegende Probleme der klassisch gewordenen Theorie eines literarischen Corpus pastorale auflösen, wenn der 1. Timotheusbrief nicht mehr die inhaltliche und formale Norm darstellt, auf deren Grundlage auch die beiden anderen Briefe zu interpretieren sind.5 Darüber hinaus hat sich unter diesen Voraussetzungen die Option eines neuen Nachdenkens über die paulinische Verfasserschaft des 2. Timotheus- und des Titusbriefes eröffnet, weil maßgebliche Problemkonstellationen wegfallen, die sich vor allem aus dem 1.  Timotheusbrief ergeben. Das setzt voraus bzw. impliziert, dass die Behauptung der Authentizität wie der Pseudonymität nicht in einer gleichsam »dogmatischen« Weise jeweils für alle drei Dokumente gleichermaßen gelten muss, 3 Vgl. Heinrich J. Holtzmann, Die Pastoralbriefe, kritisch und exegetisch behandelt, Leipzig 1880, 60 f. (zum vollständigen Zitat s. u. 48 f.). 4  A. a. O., 7. 5  Die Problematik dieser Differenzierung hat die Forschung bereits im 19. Jahrhundert geprägt (s. dazu unten 31–50); vgl. dazu die Einschätzung bei Ferdinand Christian Baur, Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostels Paulus aufs neue kritisch untersucht, Stuttgart/Tübingen 1835, 4 f. (in Auseinandersetzung mit Schleiermachers Untersuchung zum 1 Tim), die es Wert ist, an dieser Stelle etwas ausführlicher zitiert zu werden: »Hiermit hängt sodann von selbst zusammen, was über das Verhältniß des ersten dieser beiden Briefe zu den beiden andern hier noch weiter in Betracht kommt. Obgleich unstreitig diese drei Briefe nach Inhalt und Form sehr ähnlich und verwandt sind, obgleich manche der kritischen Bemerkungen, die Schleiermacher gegen den ersten geltend gemacht hat, von selbst auch auf die beiden andern angewandt werden können, so kann doch nicht geläugnet werden, daß es sich mit dem ersten dieser Briefe in kritischer Hinsicht im Ganzen auch wieder anders verhält, als mit den beiden andern, und der von Schleiermacher in Beziehung auf jenen geführte negative Beweis kann in Beziehung auf diese wenigstens nicht auf dieselbe Weise geführt werden. Wenn daher neuere Kritiker die Aechtheit auch dieser Briefe in Anspruch nehmen zu müssen glaubten, und dabei von der Ansicht ausgingen, daß die drei Briefe, wie sie im Kanon zusammengehören und in Hinsicht des Inhalts und der Form so vieles mit einander gemein haben, auch in kritischer Hinsicht mit einander stehen und fallen müssen; so hängt alles davon ab, wie weit sie uns Verhältnisse vor Augen stellen, die wir mit der Zeit des Apostels, wie sie uns aus seinen übrigen anerkannt ächten Briefen bekannt ist, nicht in Einklang zu bringen wissen. Den sichersten Standpunkt für diese Untersuchung muß der erste Brief geben. Je bedeutender die Grundlage seiner apostolischen Auctorität an sich schon erschüttert ist, von desto größerem Gewicht muß auch jeder weitere Beweis gegen seinen apostolischen Ursprung seyn. Geben sich uns aber einmal in diesem Briefe Merkmale einer Zeit zu erkennen, die nicht für die apostolische gehalten werden kann, so müssen auch die beiden andern Briefe, so weit uns in ihnen dieselben Merkmale begegnen, unter denselben kritischen Gesichtspunkt gestellt werden.«

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Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus

sondern mit der Möglichkeit gerechnet wird, dass sie verschiedenen Entstehungssituationen zugeordnet werden können. In dieser neuen Perspektive einer individuellen Betrachtung – die in manchen Aspekten so neu nicht ist – und der damit einhergehenden Möglichkeit der Differenzierung hinsichtlich der Autorschaft sowie der literarhistorischen Beurteilung rückt der 1. Timotheusbrief nicht nur deutlich von Paulus selbst ab, sondern auch von den beiden anderen Pastoralbriefen und lässt sich recht plausibel in die antignostischen Diskurse des 2. Jahrhunderts verorten. In diesen Kontext sind oft die drei Pastoralbriefe insgesamt eingeordnet worden, was aber in dieser Form letztlich nie überzeugend plausibel gemacht werden konnte. Demgegenüber lassen sich der Titus- und der 2.  Timotheusbrief in die Spätphase der paulinischen Wirksamkeit einfügen, und zwar nicht als fiktive und literarisch-kohärente Konstruktionen, sondern als naturgemäß unvollständige Ausschnitte aus einer Zeit im Leben des Apostels, in der sein Konflikt mit den Gegenkräften gegen seine Missionsarbeit in Jerusalem eskaliert war und letztlich zu seinem Tod in römischer Gefangenschaft führte. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Titusbrief als ein Mandat, das den Paulusmitarbeiter mit einer konkreten und zeitlich befristeten Aufgabe im Kontext der Romreise aus einer situationsgebundenen Notwendigkeit heraus legitimiert. In entsprechender Weise ist der 2. Timotheusbrief nicht nur literarisch, sondern auch realiter als ein Vermächtnis des Apostels zu verstehen. Im Unterschied etwa zu jenem ganz andersartigen, literarisch-pseudepigraphischen »Vermächtnis« in Gestalt des Epheserbriefes6 bleibt dieses in Sachgehalten der paulinischen Theologie zwar unterbestimmt. Es nimmt aber in ganz anderer Weise genregemäß den Paulusschüler Timotheus – und vermittelt durch ihn andere Menschen seiner und folgender Generationen  – in die Pflicht, das Evangelium des Paulus (2 Tim 2,8: »gemäß meinem Evangelium«; vgl. Röm 2,16) angesichts des Todes des Apostels als »Überlieferung« (παραθήκη, 1,14) treu zu bewahren und mutig zu verkündigen. Dass in diesen Auftrag eine »evangeliumsgemäße« Rezeption und Pflege der paulinischen Verkündigung eingeschlossen ist, wie sie Paulus nicht allzu lange zuvor etwa im Römerbrief ausführlich reflektiert hat und die angesichts seiner aktuellen Lage im Konflikt mit Jerusalem eine umso größere Bedeutung erlangt, liegt auf der Hand. Für den 1.  Timotheusbrief gewinnt demgegenüber der Begriff der »Überlieferung« unter veränderten historischen Vorzeichen eine andere, daraus abgeleitete Bedeutung. Das »Vermächtnis des Paulus« konzentriert sich hier nun im Bekenntnis der »Gemeinde Gottes« (3,15 f.) und ihren organisatorischen Strukturen, welche die spezifische Funktion haben, dieses Bekenntnis angesichts seiner Infragestellung durch »heterodox Lehrende« (ἑτεροδιδασκαλεῖν, 1,3; vgl. 6,3) zu bewahren. Im Lichte des Vermächtnisses des Paulus, das er im 2.  Timotheusbrief seinem Vertrauten aufgibt, repräsentiert der 1. Timotheusbrief in der fiktiven Adressierung an eben diesen Schüler eine folgerichtige und im Sinne des Apostels legitime Form 6  Vgl.

etwa Michael Gese, Das Vermächtnis des Apostels. Die Rezeption der paulinischen Theologie im Epheserbrief (WUNT II/99), Tübingen 1997.



Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus 

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der Paulusrezeption angesichts der neuen Herausforderungen, auch und gerade darin, worin er sich (vermeintlich oder tatsächlich) vom »ursprünglichen« Paulus entfernt. Hermeneutisch wie entwicklungsgeschichtlich ist dies innerhalb einer religionssoziologisch vermutlich recht klar abgrenzbaren Paulusgruppe in Ephesus7 eine durch die neuen Umstände bedingte Notwendigkeit, der sich auch Paulus selbst nicht entzogen hätte. Die Überschrift dieser kurzen Einführung sowie der Titel des Bandes sind daher bewusst formuliert: »Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus«. Sie als das bzw. ein Vermächtnis des Apostels zu verstehen,8 wäre aufgrund der notwendigen Differenzierungen nicht sachgerecht. Das Vermächtnis des Apostels ist vielfältig, sowohl was ihn selbst angeht als auch die Rezeption seiner Schriften und seiner theologischen Vorstellungen. Die Pastoralbriefe in ihrem je eigenen Profil repräsentieren in sich bereits unterschiedliche Dimensionen dieses Vermächtnisses. Sie stehen zu Paulus in einem unterschiedlichen Verhältnis und daher auch in einem bestimmten Verhältnis zueinander; dem gilt es in der Auslegung und im Gesamtverständnis gerecht zu werden. An dieser Stelle ist zudem ein begrifflicher Aspekt zu reflektieren und zu klären. Aufgrund der notwendigen Differenzierungen und der Infragestellung einer zusammengehörigen literarischen Konzeption der Pastoralbriefe ist gelegentlich problematisiert worden, ob der Begriff »Pastoralbriefe« als Bezeichnung für die drei Briefe noch geeignet sei. Die Frage ist durchaus berechtigt, und die vorsichtige Formulierung von den »sogenannten Pastoralbriefen« in der Überschrift eines Beitrages geht beispielsweise auf entsprechende Vorbehalte eines Herausgebers zurück. Man muss allerdings berücksichtigen, dass der Begriff seinen Ursprung nicht in der Verbindung mit der Corpus-pastorale-Theorie hat, sondern aus der pastoralen Charakteristik der persönlichen Schreiben des Apostels an seine Mitarbeiter abgeleitet ist.9 Das pastorale Profil ist weder von literarischen Theorien noch von Autorschaftszuschreibungen abhängig, sondern hebt auf eine funktionale Bestimmung der Briefe ab. Da es in den Beiträgen dieses Bandes vielfacher um eine Verhältnisbestimmung der drei »pastoralen« Briefe geht, wird der Begriff »Pastoralbriefe« in dieser funktionalen Weise verwendet, wenn es um alle drei Schriften geht. 7  Vgl. dazu Paul Trebilco, The Early Christians in Ephesus from Paul to Ignatius (WUNT 166), Tübingen 2004, bes. 197–236, der davon ausgeht, »that there may have been in Ephesus, from sometime between 80–100 CE for at least some period of time, a separate identifiable group which had its roots in the Pauline tradition, but which developed new dimensions of belief and behavior« (235). 8  Vgl. z. B. Eduard Lohse, Das apostolische Vermächtnis – Zum paulinischen Charakter der Pastoralbriefe, in: Wolfgang Schrage (Hg.), Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments. FS H. Greeven (BZNW 47), Berlin u. a. 1986, 266–281; Lorenz Oberlinner, Die Pastoralbriefe. Erste Folge, Kommentar zum ersten Timotheusbrief (HThK XI/2), Freiburg i. Br. u. a. 1994, XXVII. 9  Vgl. dazu Hermann von Lips, Von den »Pastoralbriefen« zum »Corpus Pastorale«. Eine Hallische Sprachschöpfung und ihr modernes Pendant als Funktionsbestimmung dreier neutestamentlicher Briefe, in: Udo Schnelle (Hg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/New York 1994, 49–71.

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Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus

Das Konzept des Sammelbandes in der Zusammenstellung der ausgewählten Studien ergibt sich aus der skizzierten Gesamtperspektive auf die Pastoralbriefe. Jeder Beitrag spiegelt freilich die jeweilige Diskurslage, so dass auch ein gewisser Weg der Entwicklung meiner Arbeit an den Pastoralbriefen nachvollziehbar bleibt. Ordnungsprinzip ist jedoch nicht vordergründig eine einfache chronologische Abfolge der Beiträge in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Sie werden vielmehr in vier thematischen Rubriken unter sachlogischen Aspekten angeordnet. Eine erste Abteilung ist »Perspektiven der Forschung« gewidmet und beginnt mit jenem Artikel in der Theologischen Literaturzeitung, mit dem der Konsens der Forschung anhand einiger neuerer Kommentare infrage gestellt wurde, ein Beitrag, der in unterschiedlicher Weise recht breit rezipiert wurde. Die Auseinandersetzung mit der komplexen Forschungslage zu den Pastoralbriefen musste sich sehr bald um die Frage der Pseudepigraphie drehen, die im zweiten Beitrag ausführlich und vor dem Hintergrund klassischer und neuerer Beiträge zum Thema erörtert wird. Eine differenzierte Sicht auf diese Frage hat sich als eine wesentliche Grundvoraussetzung für die Beurteilung der Pastoralbriefe erwiesen – ein Problemfeld, das zu Recht in neuerer Zeit wieder zum Gegenstand kritischer Diskurse geworden ist. Die dritte Studie repräsentiert bereits einen fortgeschrittenen Stand der Arbeit und stellt programmatisch meine eigene Perspektive auf die Pastoralbriefe als voneinander zu unterscheidende Einzelschriften vor, die – wie oben bereits angedeutet – eine differenzierte Position zur Frage der Authentizität jenseits der gewohnten Alternativen ermöglicht. Der Aufsatz bietet in diesem Zusammenhang zugleich einige schlaglichtartige Deutungen bestimmter maßgeblicher Themenfelder, die diese Perspektive veranschaulichen und die in separaten Studien ausführlicher behandelt werden. Ergänzt wird in diesem Kontext ein Beitrag, der exemplarisch die Bedeutung der dokumentarischen Papyri als Zeugnisse antiker Alltagskultur für die Auslegung gerade der Pastoralbriefe vorführt. Forschungsgeschichtlich ist dieser spezifische Blickwinkel nicht nur für die Diskussion um die Genrefrage der Pastoralbriefe aufschlussreich, sondern auch materialiter ertragreich für eine differenzierte semantische Bestimmung von prägenden Konzepten (z. B. πίστις) und strittiger Begriffe (z. B. διπλῆ τιμή). Den Abschluss des ersten Teils bildet schließlich eine kritische Erörterung der Kommentierungen der Pastoralbriefe in der Reihe des KEK – ein ebenso spannendes wie weitgehend unbekanntes Kapitel aus der Forschungsgeschichte. Spannend deshalb, weil die weithin vergessenen Kommentare von Johannes Eduard Huther (1807–1880) und Karl Philipp Bernhard Weiß (1827–1918) in einer Zeit entstanden, die von den ersten Versuchen der kritischen Forschung geprägt war, die Pastoralbriefe als pseudonyme Schriften zu deuten, während Huther und Weiß selbst an deren Authentizität festhielten und sich mit den pseudepigraphischen Perspektiven auf hohem Niveau kritisch auseinandersetzen. Die zweite Rubrik thematisiert das Verhältnis von »Paulusgeschichte und Paulusrezeption« in dem oben beschriebenen Sinn. In zwei Beiträgen wird der Versuch unternommen, die letzte Phase der Geschichte des Paulus nachzuzeichnen, wie sie



Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus 

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sich nach dem Titusbrief und dem 2. Timotheusbrief darstellt; dabei steht zugleich das Verhältnis zur lukanischen Darstellung in der Apostelgeschichte auf dem Prüfstand. Besonders interessant daran ist, dass diese Konstruktion von Geschichte auch unter pseudepigraphischen Vorzeichen plausibel bleiben muss, eine Einsicht, die in neuerer Forschung eine größere Rolle zu spielen beginnt.10 Der 1. Timotheusbrief bietet in dieser Hinsicht allerdings kein weiteres Material und wird daher maßgeblich unter dem Aspekt der Paulusrezeption in den Blick genommen. Der dritte Teil des Bandes »Gemeinde zwischen Anspruch und Wirklichkeit« versammelt Studien zu ekklesiologischen Themen, die einerseits grundsätzlich das Verständnis von Gemeinde betreffen und andererseits in besonderer Weise das Profil der bzw. den Umgang mit abweichenden Lehren und »heterodox Lehrenden« (1 Tim 1,3) sowie die entsprechenden ekklesiologischen Implikationen analysieren und darstellen. In diesen Bereich gehören Fragen des Schriftverständnisses ebenso wie diejenige nach den religionsgeschichtlichen Verbindungen zur hellenistisch-römischen Welt, dem Judentum und zur Gnosis, die die Forschung in unterschiedlicher Weise immer wieder beschäftigt haben. Sachlich in Ergänzung dazu werden schließlich im vierten Teil Aspekte von Glauben und Frömmigkeit in fünf Beiträgen unter ethischer Perspektive thematisiert. Hierbei spielen in besonderer Weise die Verbindungen der Pastoralbriefe zu antiker Moralphilosophie eine Rolle, wobei auch in dieser Hinsicht der 1. Timotheusbrief deutlich herausragt. Abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag, der im Spannungsfeld von »Ethik«, »Ethos« und »Wahrheit« die Frage nach dem individuellen Profil der drei Briefe noch einmal in den Blick nimmt. Es liegt in der Natur einer solchen Konzeption, dass sich manche Themen und deren Entfaltung im Einzelnen mitunter überschneiden und sich manches, ursprünglich in unterschiedlichen Kontexten Geschriebene, auch wiederholt, müssen doch die Beiträge je einzeln lesbar und rezipierbar bleiben. Sie sind jedoch zum Zwecke der erneuten Publikation formal vereinheitlicht, sprachlich verbessert, inhaltlich präzisiert und mitunter  – allerdings sehr sparsam  – durch Literaturnachträge ergänzt bzw. aktualisiert; und natürlich sind Fehler korrigiert. Ebenfalls rezeptionsorientiert sind Querverweise zwischen den Beiträgen eingefügt, wo es sinnvoll erschien, um thematische Vernetzungen und Ergänzungen besser kenntlich und greifbar zu machen. Auf ein Gesamtverzeichnis der Literatur wurde verzichtet; stattdessen ist jedem Beitrag eine eigene Bibliographie der darin verwendeten Literatur beigegeben, die die jeweils separate Rezeption der einzelnen Studien vor allem im elektronischen Format erleichtert. Eine Zusammenstellung von englischen Abstracts zu den Beiträgen soll die inhaltliche Orientierung insbesondere für nicht deutschsprachige Leserinnen und Leser ermöglichen.

10  Vgl. die in vieler Hinsicht anregende Untersuchung von Timo Glaser, Paulus als Briefroman erzählt. Studien zum antiken Briefroman und seiner christlichen Rezeption in den Pastoralbriefen (NTOA/StUNT 76), Göttingen 2009.

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Abschied vom Konsens? Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als Herausforderung an die neutestamentliche Wissenschaft Seit 1990 zählen die Register mindestens 15 neue Kommentare zu den Pastoral­ briefen. Die hier anzuzeigenden von Lorenz Oberlinner1, Jerome D. Quinn2, Jerome D. Quinn/William C. Wacker3, Luke T. Johnson4 und Alfons Weiser5 bilden daher einen zwar begrenzten, aber repräsentativen Ausschnitt der neueren Forschung. Nach den kritischen Studien zum 1. Timotheusbrief durch Johann E. C. Schmidt (1804) und Friedrich  D.  E. Schleiermacher (1807) sowie der erweiterten Kritik Johann  G. Eichhorns (1812) und Ferdinand  C. Baurs (1835) steht für den überwiegenden Teil der Forschung die Pseudonymität der Pastoralbriefe und ihre kompositorische Einheit fest. Fragt man jedoch genauer, was die Pastoralbriefe seien, warum sie geschrieben wurden und wem sie galten, dann stößt man auf so divergierende Auffassungen, dass eine systematische Darstellung der aktuellen Forschung kaum möglich ist. Der Konsens in der Forschung zu den Pastoralbriefen besteht daher nur scheinbar, insofern er grundlegende Aspekte wie die pseudepigraphische Verfasserschaft, die einheitliche Konzeption und die doppelte Fiktionalität betrifft. Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass vor diesem Hintergrund die Bemühungen um eine angemessene Interpretation der Briefe zu einem Wettstreit subjektiver Empfindungen und phantasievoller Deutungen geworden sind. Dem hat Lorenz Oberlinner zu Recht und unmissverständlich Ausdruck verliehen, wenn er von »zwiespältigen Gefühlen« spricht, die eine Beschäftigung mit den Pastoralbriefen hervorrufe.6 Angesichts der sich zum Teil ausschließenden Ergebnisse der Forschung wird zunehmend fraglich, ob die Pastoralbriefe unter pseudepigraphischer Voraussetzung tatsächlich besser verstanden werden können und ob sie tatsächlich eine konsistente Theologie, Christologie oder Ekklesiologie aufweisen. Selbst die Art der Pseudepigraphie bleibt kontrovers, ist sie doch weit entfernt von dem, was man akzeptierte Schulpseudepigraphie nennen kann, sondern vielmehr der literarischen Fälschung mit einer auch im Altertum negativ beurteilten Täuschungsabsicht zu1 

Oberlinner, 1 Tim; ders., 2 Tim; ders., Tit. Quinn, Letter. Quinn/Wacker, Letters. 4  Johnson, First and Second Letters; ders., Letters to Paulʼs Delegates. Vgl. ferner ders., Timothy. 5  Weiser, 2 Tim. 6  Oberlinner, 1 Tim, VII. 2  3 

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zuordnen.7 Unter diesem Vorzeichen waren kanonkritische Tendenzen der älteren Forschung des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der Pastoralbriefe konsequent. Bis auf wenige Ausnahmen ist gegenwärtig die Auffassung verbreitet, dass diese Probleme einer grundlegenden Reflexion nicht bedürfen. Der interpretatorische Aufwand, zu dem die allgemein anerkannten Voraussetzungen führen, ist allerdings Indikator des Problems. Dies wird nicht nur in Kommentaren deutlich, sondern auch in den zahlreichen neueren Monographien zu den Pastoralbriefen, die sich mit unterschiedlichen Ergebnissen um deren thematische Geschlossenheit bemühen.8 Bevor auf verschiedene Werke näher eingegangen wird, sei auf ein interessantes Phänomen hingewiesen, das freilich keine inhaltlichen, sondern pragmatische Gründe hat. Die in der Forschung etablierte Auffassung der Pastoralbriefe als einer kompositorischen Einheit steht in gewisser Spannung zur Einzelkommentierung in bestimmten Reihen. Von den hier anzuzeigenden Kommentaren umfasst allein der von Oberlinner alle drei Briefe, wobei innerhalb seiner Kommentierung Unausgeglichenheiten stehen bleiben. Die von Jürgen Roloff im EKK mit dem 1. Timotheusbrief begonnene Auslegung9 hat Weiser mit dem Kommentar zum 2.  Timotheusbrief fortgeführt. Zwar stimmen beide Autoren in grundlegenden Entscheidungen überein, weichen aber im Detail erwartungsgemäß voneinander ab. In der Reihe der Anchor Bible ist 1990 – zwei Jahre nach dem Tod des Autors – in einem ersten Band die Auslegung zum Titusbrief von Quinn erschienen; 1. und 2.  Timotheusbrief sind in dieser Reihe von Johnson bearbeitet worden. Mit dem Wechsel des Autors hat sich das Konzept grundlegend geändert. Während Quinn selbstverständlich die Pseudonymität der Pastoralbriefe voraussetzte, geht Johnson von deren Authentizität aus. Wacker hat es in verdienstvoller Weise unternommen, die von Quinn bereits begonnene Auslegung der beiden Timotheusbriefe postum zu bearbeiten und in Eerdmans Critical Commentary herauszugegeben. Dies ist insofern ein interessantes Projekt, als Wacker – so ist bestimmten Äußerungen des Vorwortes zu entnehmen – hinsichtlich der Autorschaft der Pastoralbriefe durchaus anderer Meinung zu sein scheint als Quinn, dies aber aus Loyalität dem Lehrer gegenüber nicht in die Darstellung einfließen lässt.10

Im Folgenden ist die Konzentration auf die Darstellung der grundlegenden Ansätze unumgänglich. Die Kommentare von Oberlinner als Repräsentant der verbreiteten Auffassung und Johnson als Herausforderer dieses Konsenses sollen etwas ausführlicher zu Wort kommen. Dabei sollen die Grundlagen und Voraussetzungen der 7 Vgl.

Brox, Problemstand, 324: »Man kann nicht mit theologischen Motivationen darüber hinwegeilen, dass die sog. Past des Neuen Testaments […] vom literarischen Unternehmen her eine methodisch angelegte Täuschung, eine bewusste und künstlerisch raffiniert durchgeführte Autoritätsanmaßung darstellen.« Ferner Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule; Ehrman, Forgery, bes. 192–222; zur Problematik Baum, Pseudepigraphie, bes. 31–93 (vgl. ThLZ 128 [2003], 754–756); Luttenberger, Prophetenmantel, 181–202. 8  Angefangen von 1990 vgl. z. B. Kidd, Wealth; Schlarb, Lehre; Young, Theology; Redalié, Paul; Wagener, Ordnungen (vgl. ThLZ 121 [1996], 457–461); Lau, Manifest; Läger, Christologie (vgl. ThLZ 122 [1997] 806–808); Martin, Pauli Testamentum; Stettler, Christologie (vgl. ThLZ 126 [2001] 934–936); Häfner, Belehrung (vgl. ThLZ 130 [2005] 389–391); Merz, Selbstauslegung. 9  Roloff, 1 Tim. 10  Vgl. Wacker im Vorwort zu Quinn/Wacker, Letters, XI: »Even if Fr. Quinn is not correct about the authorship of the PE, I, at any rate, understand what it means to write in anotherʼs name and have some firsthand experience with using source material!« Vgl. auch a. a. O., XIII.



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pseudepigraphischen Interpretation der Pastoralbriefe und die damit verbundenen Probleme im Vordergrund stehen, da hierin eine besondere Herausforderung liegt, der sich die zukünftige Arbeit mit den Pastoralbriefen methodisch wie inhaltlich (erneut) zu stellen hat. Im Rahmen einer solchen Problemanzeige ist  – anders als in einer Rezension  – eine zusätzliche und ohnehin eher zufällige Erörterung einzelner Inhalte der jeweiligen Kommentierung nicht möglich und bleibt anderen Gelegenheiten vorbehalten.

I Die dreibändige Kommentierung der Pastoralbriefe durch Oberlinner auf insgesamt 776 Seiten bietet wenig Überraschungen. In der Einleitung zu den Pastoralbriefen im ersten Band werden die klassischen Fragen im Sinne des Forschungskonsenses dargestellt und im Anschluss an E. Lohse gleich zu Beginn festgehalten: »Auch wenn Vertreter der Authentizität mit dem Gewicht der Selbstvorstellung des Verfassers als ›Apostel Paulus‹ auf ihrer Seite den Bestreitern die Möglichkeit absprechen, eine Abfassung durch Paulus als ›unmöglich‹ nachzuweisen, so lassen es m. E. die bislang gesammelten Einzelbeobachtungen gerechtfertigt erscheinen, den ›pseudepigraphischen Charakter der Pastoralbriefe‹ als Ergebnis der kritischen Forschung zur Voraussetzung der Interpretation zu machen« (I, XXIf.).11 Dazu gehört, dass die Pastoralbriefe »abgefasst worden sind als ein zusammengehöriges Briefkorpus« (I, XXVI).12 Der literarische Charakter als Briefe wird dadurch bestimmt und zugleich relativiert: »Für die Past ist gerade nicht mehr die individuelle Zielsetzung bestimmend und charakteristisch, also der direkte Bezug zwischen den Adressaten und dem Briefschreiber, somit auch nicht mehr die Bindung an spezifische, von Gemeinde zu Gemeinde wechselnde und durch konkrete Situationen bedingte Probleme und Fragen« (I, XXIV ).

Im Unterschied zu den authentischen Paulusbriefen tragen sie eine »stärker normierende und direktive Note« und gegenüber dem »kerygmatisch-theologischen Akzent« bei Paulus ist »das kirchenrechtliche Moment als das bestimmende an[zu] sehen« (ebd.). »Die Past sind damit am besten zu charakterisieren als kirchenamtliche Lehr- und Mahnschreiben, gerichtet an die Vorsteher der Gemeinden, denen aufgrund ihres Leitungsamtes die Verantwortung und die Sorge für den Glauben und damit auch für das Heil der Gemeinden aufgetragen ist« (I, XXVI).

Dass der 2. Timotheusbrief aus diesem Rahmen fällt, wird immerhin vermerkt.13 »Der Apostel verabschiedet sich mit diesen Briefen von seinen Gemeinden (vgl. bes. 11 Vgl. Lohse, Vermächtnis, 266, der bereits angesichts der »erwiesene[n] Unechtheit der Pastoralbriefe« eine erneute Prüfung der Argumente für nicht mehr erforderlich hielt. 12  In Anlehnung an Trummer, Corpus. 13  Anders z. B. Häfner, Belehrung, 12 f.

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2 Tim) […]« (ebd.). Die Frage, warum für diesen Zweck ein solches »Triptychon« (Peter Trummer) mit persönlichen Adressaten gewählt wurde, lässt Raum für weitere Vermutungen: »Die Dreizahl der ›Briefe‹ sollte wohl die Bedeutung und das Gewicht dieses apostolischen Vermächtnisses unterstreichen« (I, XXVII). Die Mitarbeiter Timotheus und Titus als aus der Biographie des Paulus bekannte Personen bekommen »eine stellvertretende Funktion« im Blick auf den Gemeindeleiter: »In Timotheus und Titus werden im übergreifenden Sinn die Gemeindeleiter, die ›Hirten‹ angesprochen, wie die Beschreibung der Stellung und des Aufgabenbereiches der beiden Apostelschüler wie auch der zum großen Teil allgemein gehaltene Charakter der von ›Paulus‹ verfügten Anordnungen und Bestimmungen erkennen lassen« (I, XXIII, vgl. XXX).14 Im Anschluss werden die fünf klassischen Argumente gegen die paulinische Verfasserschaft erläutert: die geschichtlichen Bedingungen; Sprache und Stil; das Profil der Irrlehrer; die Struktur der Gemeinden; die Theologie, insbesondere die veränderte Eschatologie. Dies ist im Einzelnen hier nicht darzustellen, da die bekannten Aspekte benannt werden. Die Plausibilität ist kumulativ: »Bei den aufgezählten Differenzpunkten mag im Einzelfall eine Abfassung der Past durch Paulus unter besonderen Bedingungen noch als möglich und denkbar erachtet werden« (I, XXXIX). Allein die Summe der Unterschiede zeige, dass die Pastoralbriefe weder zu konkreten Situationen aus dem Leben des Paulus noch zu den Bedingungen der Gemeinden seiner Zeit noch zu seinen theologischen Positionen passen (I, XXXIXf.). Daher scheint eine Abfassung am »Übergang vom ersten zum zweiten Jahrhundert am überzeugendsten« (I, XLVI), wobei sich für den Ort keine genauen Angaben machen lassen. »Zu denken ist an einen Bereich, wo Paulus-Traditionen besonders lebendig waren und sich damit das Problem der Interpretation der paulinischen Überlieferung stellte. Das würde v. a. zutreffen für den kleinasiatischen Raum, in abgeschwächter Form auch für Griechenland« (ebd.).

Auch für Oberlinner erleichtert die Annahme einer pseudepigraphischen Verfasserschaft das Verständnis der Pastoralbriefe (I, XLII). Er verweist auf das »gemeinantike Traditionsdenken« und versteht »Pseudepigraphie als eine Art Personalisierung der Tradition«. »[I]m Wesen dieser Personalisierung von Tradition liegt es, daß die Wahrheit und die Unverfälschtheit einer Überlieferung garantiert gesehen werden in der Anbindung an eine Person aus der Geschichte, deren Autorität für einen bestimmten Bereich bzw. für bestimmte Personengruppen mit gemeinsamer (Glaubens-)Überzeugung unbestritten ist« (I, XLIII).

Wie schon zu Lebzeiten die apostolische Parusie durch einen Brief oder einen Mitarbeiter »ersetzt« werden konnte, so erst recht, nachdem der Apostel gestorben war. »In den von Paulus zurückgelassenen Briefen und in deren Auslegung sowie in der Verkündigung, die sich an Paulus orientiert, ist der Apostel weiterhin in den Gemeinden gegenwärtig« (I, XLIV ). Das gilt ohne Zweifel, schließt aber nicht die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit gefälschter Briefe ein, um diese Art der apostolischen Präsenz weiterzuführen. Zu erweisen wäre nämlich, inwiefern die 14 Vgl. Oberlinner, Titus, 76 f.: Sie sind »›Zwischenglied‹ zwischen dem Apostel und dem späteren Episkopos« und werden »paradigmatisch in der Funktion von Amtsträgern« vorgestellt. Darin »zeigt sich deutlich, wenn auch nicht ausdrücklich festgehalten und reflektiert, der Sukzessionsgedanke«.

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Pastoralbriefe eine sich an Paulus orientierende Verkündigung repräsentieren, wenn es stimmt, dass es inhaltlich um die Bewahrung der »in den Paulusbriefen vorliegenden Glaubensinhalte« geht. Dass dies aber nicht der Fall ist, nötigt zu der Erklärung: »Für die Past ist ›Kontinuität‹ der Verkündigung nicht gleichbedeutend mit ›Identität‹« (I, XLV ). Der Satz: »Auf dieser Linie der Aktualisierung und Interpretation des ›Paulus‹ liegen die paulinischen Pseudepigrapha, also auch die Past« (ebd.), bleibt aus meiner Sicht eine nicht begründbare Behauptung, da sich die Pastoralbriefe charakteristisch von anderen paulinischen Pseudepigrapha wie etwa dem Epheserbrief unterscheiden. Daher muss Oberlinner den Satz hypothetisch erweitern: »Im Vergleich zu Eph und Kol haben wir in den Past ein weiter fortgeschrittenes Stadium vorliegen; die Past blicken nicht nur auf Paulus zurück, sondern sie schauen auch schon zurück auf die Schüler und ›Nachfolger‹ des Paulus, so daß man mit gutem Recht von ›Tritopaulinen‹ sprechen kann« (I, XLV ).

In einem letzten Abschnitt nimmt Oberlinner zu den »Past im Urteil der Theologen« Stellung. Darin wendet er sich zu Recht gegen Tendenzen der älteren Forschung, die Pastoralbriefe »im Vergleich mit Paulus theologisch zu kritisieren« und sie als unpaulinisch zu charakterisieren (I, XLVII; gegen Siegfried Schulz, Helmut Köster, so schon grundlegend Heinrich J. Holtzmann). So wichtig die Kritik an dieser Sicht ist, so wenig überzeugend bleibt die Alternative: »Der Stellenwert der Past kann nicht bestimmt werden anhand der Übereinstimmung mit Paulus; wichtiger und aussagekräftiger für eine sachgerechte Beurteilung sind vielmehr gerade die Unterschiede. Die Beurteilung hat dabei zu bedenken, daß der Verfasser der Past zumindest einen Teil der paulinischen Briefe und damit in jedem Fall Grundzüge der paulinischen Theologie kennt, und daß die Differenz Paulus gegenüber eine bewußt getroffene Entscheidung darstellt, die allerdings gerade für Paulus Stellung bezieht« (I, XLVIII).

Wie kann aber die bewusste Differenz zu Paulus Ausdruck jener gegenwärtig bleibenden Verkündigung des Apostels sein, zumal wenn die Aussagen an den bekannten Paulusbriefen geprüft werden können und die Theologie des Apostels dort ohnehin viel besser zur Geltung kommt? Unter traditionsgeschichtlichen Aspekten überzeugt das nicht. Obwohl der 2.  Timotheusbrief mit seiner Bestimmung als »testamentarische Mahnrede« (II, 2)15 als Ausnahme benannt worden ist, muss er als Teil der Komposition interpretiert werden. Bei der in der Forschung nicht einheitlich beantworteten Frage nach der intendierten Anordnung der Pastoralbriefe geht Oberlinner in Band II davon aus, dass der 2. Timotheusbrief wegen seines Testamentscharakters sowohl auf den 1. Timotheus- wie auf den Titusbrief bezogen und daher die kanonische Reihenfolge mit dem 2. Timotheusbrief in der Mitte vom Verfasser intendiert sei (II, 5). Demgegenüber konnte es in I, XLII heißen:

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Im Anschluss an Wolter, Pastoralbriefe, 222 f.

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»Da die Abfassung als zusammengehöriges Briefcorpus anzunehmen ist, ist die Frage nach der Reihenfolge der Entstehung der einzelnen Briefe kaum mehr zu klären und letztlich für die Interpretation belanglos.«

Als vom Verfasser intendierte Lesereihenfolge vermutete Oberlinner hier dennoch Titusbrief – 1. Timotheusbrief – 2. Timotheusbrief.16 Für das Verständnis als pseudepigraphische Briefe sei es unumgänglich, »daß die drei Briefe je ihre Eigenart haben und sich so [!] insgesamt zu einem wohl konzipierten Ganzen zusammenfügen« (II, 4).17 Welcher Konzeption allerdings der Autor der Pastoralbriefe folgt, bleibt angesichts der Unsicherheit hinsichtlich der intendierten Reihenfolge unklar. Eine intendierte Lesereihenfolge kann für die Interpretation nicht »belanglos« sein. Daraus ergeben sich rezeptionstheoretische Fragen, die methodisch aufzuarbeiten sind. Der Kommentar zum Titusbrief bietet keine einleitenden Bemerkungen. Hier finden sich jedoch Exkurse zu den übergreifenden Themen der Irrlehrer (»Frühform christlicher Gnosis«, III, 84), der Ekklesiologie (ideale, episkopale Haus-Ekklesiologie) und der Christologie (als hellenistisch geprägte und durch die Begriffe des σωτήρ und ἐπιφάνεια bestimmte Soteriologie), die unter der Voraussetzung der einheitlichen Komposition notwendig sind und zusammen geradezu monographische Länge aufweisen. Unter den gegebenen Voraussetzungen bietet die fortlaufende Auslegung Oberlinners eine Interpretation der Pastoralbriefe, die die Probleme des Textes ausführlich erörtert und ein in sich geschlossenes Bild zeichnet. Oberlinner vermittelt somit einen repräsentativen Eindruck des Konsenses der gegenwärtigen Forschung. Ein bestimmter Fokus für die Auslegung wird  – im Unterschied zu den anderen Kommentaren – nicht formuliert.

II Quinn geht ebenfalls von den beschriebenen Voraussetzungen hinsichtlich der Abfassungsverhältnisse der Pastoralbriefe aus. Daher kann auf eine Darstellung dessen im Einzelnen verzichtet werden. In der Einleitung zu den Pastoralbriefen, die von Wacker aus dem ca. 380 S. starken Titus-Kommentar dem postum bearbeiteten und nochmals 945 S. umfassenden Kommentar zu den Timotheusbriefen erneut vorangestellt wurde, geht Quinn jedoch konzeptionell anders vor als Oberlinner, indem er zunächst eine Bestandsaufnahme der gegebenen Daten versucht, um daraus Hypothesen zur Erklärung der Pastoralbriefe plausibel zu machen. Das Interessante an dieser Vorgehensweise ist, dass sich bestimmte Inkonsistenzen zwischen den erhobenen Daten und den erklärenden Hypothesen ergeben, sieht man einmal davon 16  Anders z. B. Roloff, 1 Tim, 45: 1 Tim – Tit – 2 Tim (Ende des 19. Jh.s vermutete H. J. Holtzmann noch 2 Tim − Tit – 1 Tim). 17  Zitat aus von Lips, Sprachschöpfung, 64.



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ab, dass bereits das Erheben der Daten von bestimmten Voraussetzungen her geschieht. Wie Oberlinner weist Quinn zu Recht darauf hin, dass der individuelle Charakter der einzelnen Briefe nicht übersehen werden darf (118), wodurch sich die einheitliche Komposition in der Folge Titusbrief – 1. Timotheusbrief – 2. Timotheusbrief ergibt. Quinn betont dabei die primäre Ausrichtung auf die christliche Praxis (2), was freilich so gerade nicht auf alle Briefe gleichermaßen zutrifft, nimmt man ihren individuellen Charakter ernst. Einen hohen Stellenwert hat bei Quinn die Bestandsaufnahme von Sprache und Stil, die strukturell und terminologisch zwar hellenistisch und weniger semitisch geprägt seien als bei Paulus (4–6), inhaltlich aber Verwandtschaft mit der paulinischen Tradition im Kontext hellenistisch-jüdischer Traditionen aufweisen. In diesem Zusammenhang ist Quinns These der Pastoralbriefe als »the last volume of Luke« zu erwähnen.19 Aufgrund der oft beobachteten sprachlichen Nähe zur Apostelgeschichte des Lukas hatte er in den Pastoralbriefen jene Ergänzung des lukanischen Werkes vermutet, die den offenen und unbefriedigenden Schluss der Apostelgeschichte erkläre. Allerdings wird die These im Kommentar nicht erneuert, sondern nur als eine Möglichkeit unter anderen genannt (20). Auch in der Einzelauslegung ist die lukanische Perspektive nicht bestimmend.   Gewisse Spannungen ergeben sich ferner in der typologischen Charakterisierung der Gegner, des Absenders, der beiden Adressaten sowie bestimmten konkreten Angaben, wie z. B. den Orten Kreta und Ephesus. »Behind the figures of Paul, Titus and Timothy in the PE stand the unnamed leaders of the churches, leaders whose prerequisite qualities, particularly in verifiable good conduct, are spelled out in lists of vices and virtues« (16). Die am Anfang benannte Notwendigkeit der Beachtung der Spezifik der Briefe verflüchtigt sich in der Typologie. Selbst Kreta und Ephesus »may be understood typologically: but it is any large, Greek-speaking metropolis of the latter first century in which more or less established congregations of Jewish and Gentile Christians live close to one another« (17). Diese Typologie erlaubt – im Gegensatz zu Oberlinner – eine Lokalisierung der Entstehung in Rom, da von dort aus die Perspektive auf die gesamte zentrale Mittelmeerwelt plausibel sei, die durch die Ortsangaben in den Pastoralbriefen repräsentiert werde (21).20

Der zweifellos Maßstäbe setzende Kommentar21 von Quinn/Wacker zu den Pastoralbriefen bietet abgesehen von den einleitungswissenschaftlichen Problemen eine profunde lexikalische und quellenkritische Analyse, die trotz der grundlegenden Übereinstimmung mit den klassischen Voraussetzungen einer pseudepigraphischen Beurteilung eigene Akzente setzt. In weit stärkerem Maße als üblich wird der Einfluss hellenistisch-jüdischer Tradition, Qumran, sowie die antike Moralphilosophie herangezogen, letzteres allerdings nur insofern, als daraus eine bestimmte »pagane« Begrifflichkeit eingebracht wird, die aber – das ist bemerkenswert – nach 18 Die Seitenangaben beziehen sich auf die Einleitung im Kommentar zu den Timotheusbriefen. 19 Vgl. Quinn, Last Volume. 20  Wieder anders bei Weiser, 2 Tim, 59: Die Briefe seien auf Ephesus bezogen und wohl auch dort entstanden. Weiser kann sogar so weit gehen und vermuten: »Die Christengemeinden Kretas sind wahrscheinlich unter Mitwirken des Titus von Ephesus aus gegründet worden. Deshalb zeigt sich selbst in der Ortsangabe ›Kreta‹ (Tit 1,5) eine Beziehung zu Ephesus« (a. a. O., Anm. 91; vgl. Roloff, 1 Tim, 42 f.). Von »Wahrscheinlichkeit« kann freilich nicht die Rede sein. 21 Vgl. Béchard, Rezension.

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I  Perspektiven der Forschung

Einschätzung Quinns die paulinische und damit hellenistisch-jüdische Prägung inhaltlich nicht beeinflusst.

III An dritter Stelle soll die neueste, 345 Seiten umfassende Auslegung des 2.  Timotheusbrief von Weiser besprochen werden, die zwar zwei Jahre nach Johnsons Kommentar erschienen ist, aber dessen Herausforderung nicht annimmt und seinen Ansatz nicht diskutiert. Weisers Kommentar repräsentiert daher nicht umfassend die aktuelle Forschungslage.22 Auch Weiser geht grundlegend davon aus, dass die Pastoralbriefe als pseudepigraphisches »Corpus Pastorale aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit eine geschlossene und einander ›sinnvoll ergänzende Einheit‹ bilden« (29). Im Zentrum der Einleitung steht bei Weiser die Erörterung der Gattungsfrage des 2.  Timotheusbriefes. Weiser versucht eine Synthese zwischen der Topik des Freundschaftsbriefes23 und jüdisch-hellenistischer Testamentenliteratur plausibel zu machen.24 Der Hinweis auf die Topik des Freundschaftsbriefes im Handbuch des (Pseudo-)Demetrios, Typoi Epistolikoi 1 (31), taugt freilich nur bedingt, denn außer dem Aspekt des intensiven Gedenkens werden die von Weiser benannten Charakteristika dort nicht aufgeführt. Die weiteren Beispiele werden daher aus anderen Briefgattungen zusammentragen und es wird deutlich, dass Elemente des Freundschaftsbriefes auch in anderen Gattungen enthalten sein können (31–33). Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass es in der (freilich noch später anzusetzenden) differenzierteren Brieftheorie des Pseudo-Libanius das paränetische Genre ist, das dem Anliegen des 2. Timotheusbriefes nahe kommt.25 Dem entspricht, was bei Julius Victor im Rückgriff auf Cato über den persönlichen Brief zu lesen ist (Ars Rhetorica 27): »In familiaribus litteris primo brevitas observanda: ipsarum quoque sententiarum ne diu circumferatur, quod Cato ait […]«26 Die genretypisch gebotene Kürze von Freundschaftsbriefen dokumentieren die Briefe des Cicero Ad Familiares oder an seinen Freund Atticus; in dieses Muster passt der 2. Timotheusbrief nur bedingt.

Weiser kann zeigen, dass 2. Timotheusbrief keiner bestimmten Gattung zugeordnet werden kann und allenfalls Elemente des Testaments enthält, was der vorausgesetzten Situation entspricht.

22  Das Literaturverzeichnis enthält immerhin den älteren Kommentar Johnsons von 1987. In der (unvollständigen) Liste der Vertreter der Authentizität führt Weiser Johnson nicht auf (Weiser, 2 Tim, 55). Auch der Kommentar von Quinn/Wacker geht auf Johnsons Ansatz nicht ein, da er zwar 2000 erschienen ist, das nihil obstat und das imprimatur aber bereits 1995 datieren. 23  Vgl. dazu Wolter, Pastoralbriefe, 209–214. 24  Vgl. a. a. O., 222–235; Martin, Pauli Testamentum. Vgl. demgegenüber Johnson, First and Second Letters, 321 f.; Richards, Difference, 133–136. 25 Vgl. Malherbe, Theorists, 69. 26  A. a. O., 62; vgl. auch Demetrios, De Elocutione 231.

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»So führt die Untersuchung der Form- und Gattungsmerkmale zu dem Ergebnis, dass 2 Tim ein testamentarisches Mahnschreiben in Form eines Freundschaftsbriefes ist, dessen hauptsächlich symbuleutischen Ausdrucksformen auch epideiktische zugeordnet sind« (44).27

Was eine solche breite Charakterisierung für die Beurteilung und Auslegung des 2. Timotheusbriefes austrägt, wird nicht deutlich. Entscheidend für die Interpretation der Pastoralbriefe ist nach Weiser der für die paulinische Überlieferung charakteristische »Parusietopos« (41–43). Mit Gerhard Lohfink versteht er unter diesem Aspekt Timotheus und Titus als »die das apostolische Urbild abbildenden Verkörperungen der nachapostolischen Amtsträger, in denen allen Kirchen die Wege des Apostels aufleuchten, nachdem Paulus selbst nicht mehr kommen kann. Er kommt nun endgültig im Brief und in seinen getreuen Mitarbeitern« (43).28 Zwischen Timotheus und Titus bestehe nur ein fiktiver Unterschied; beide sind Typoi der Amtsträger (47). Das Fehlen von Amtsbezeichnungen begründet Weiser in Anlehnung an Norbert Brox damit, dass »sie ›als Apostelschüler nicht einen bestimmten Amtstyp verkörpern, sondern eine Überlieferung garantieren und das Ideal des Amtsträgers allgemein, nicht eine spezielle Funktion repräsentieren, oder aber weil sie Paulus selbst vertreten‹. Sie ›beziehen ihre Funktion einzig aus ihrer Existenz als fiktive Adressaten, denen als historischen Mitarbeitern des Paulus nun zeitgenössische Aufgaben zugeschrieben werden, weil sie selbst als Angeredete eben zur Situation der Briefe gehören, in denen sie dadurch Chiffren der apostolischen Überlieferung, aber nicht Beschreibungen eines tatsächlichen Amtstyps sind‹« (50 f.).   Ob und inwiefern dies den Lesern deutlich werden konnte, bleibt fraglich. Weiser zufolge sind die realen Adressaten des Corpus pastorale »Träger derartiger Dienstämter, die uns namentlich nicht bekannt sind […]. Dabei ist aber zu beachten, dass auch die Brief-Form aller drei Schreiben fingiert ist, und dass ein Großteil der Paraklesen auch den Gemeindegliedern vermittelt werden sollte, so dass teils auch die Gesamtgemeinde als die reale Adressatin angesehen werden muss. Dass es sich dabei um eine konkrete Ortsgemeinde, möglicherweise in Ephesus, handelt, ist wahrscheinlich. Trifft dies zu, dann ist der Ortsname Ephesus die einzige real zutreffende Angabe der ansonsten fingierten Briefrahmen aller drei Past« (54).29 Dementsprechend unpräzise fällt die Beschreibung des Entstehungsmilieus »um 100«30 aus: »Der Verfasser der Past und die Christen, denen seine Texte gelten, repräsentieren ein heidenchristliches Milieu ›mit judenchristlich grundierter Theologie, in der gleichwohl auch Paulus eine hohe Wertschätzung zuteil wird‹. Zugleich ist es ein Milieu, in dem schon früh gnostisierende Irrlehrer auftraten« (62 f.).31   Die Unklarheit ergibt sich zu einem großen Teil daraus, dass sowohl das Milieu als auch die Kennzeichnung der Gegner auf alle drei Briefe passen müssen. Methodisch wie inhaltlich wird man hier einiges neu zu bedenken haben.

Weisers Kommentar repräsentiert in eindrucksvoller Weise die »vorherrschende Sicht« (65) über die Pastoralbriefe. Die differenzierten Ergebnisse der Pseudepigraphiedebatte hinsichtlich der verschiedenen Arten von Briefliteratur, deren 27 

Vgl. auch Weiser, Freundschaftsbrief. Lohfink, Theologie, 117 (im Original kursiv). 29  S. o. Anm. 20. 30 Vgl. Roloff, 1 Tim, 46; anders in ders., Apostolat, 238: »[M]an wird […] kaum über das Jahr 80 hinausgehen dürfen.« Ähnlich Oberlinner, 1 Tim, XLVI; Quinn/Wacker, Letters, 19: zwischen 80–85. 31  Zitat im Zitat von Merkel, Pastoralbriefe, 13 (Hervorhebung J. H.). 28 Vgl.

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Höhepunkt das bisher unerreichte Werk von Wolfgang Speyer32 darstellt und die bis heute für die Forschung an den Pastoralbriefen nicht hinreichend aufgearbeitet sind,33 werden wie bei Oberlinner und Quinn nicht herangezogen. Die Bemerkungen Weisers dazu sind so gewählt, dass sie das zuvor aus dem Forschungskonsens Erhobene bestätigen. Dass im Lichte der Pseudepigraphiedebatte die Pastoralbriefe als Fälschung mit Täuschungsabsicht interpretiert werden müssen34, wird  – im Unterschied zu Oberlinner – nicht thematisiert und gilt nicht mehr als Problem. Unter den gegebenen Voraussetzungen ist jedoch die Kommentierung Weisers konsistent und befindet sich auf hohem philologischen und interpretatorischen Niveau. Für die Erklärung des 2. Timotheusbriefes im Einzelnen ist sie mit großem Gewinn zu konsultieren, auch wenn man im Blick auf die Einleitungsfragen anderer Meinung sein kann und sich daraus eine andere Perspektive ergibt, etwa für die Interpretation der persönlichen Notizen, die für den 2.  Timotheusbrief in besonderer Weise charakteristisch sind.

IV In ungewöhnlicher Deutlichkeit hat Johnson die gegenwärtige Forschung hinsichtlich der grundlegenden Voraussetzungen der Interpretation der Pastoralbriefe herausgefordert. Wer dies tut, mutet sich einiges zu. Die Einleitung zum 494 S. umfassenden Band der Anchor Bible ist entsprechend angelegt und stellt eine erweiterte Fassung der Einleitung des Kommentars von 1996 dar, ergänzt durch eine ausführliche Forschungsgeschichte. Während in der früheren Darstellung die Frage nach der Authentizität nur insofern eine Rolle spielt, als die Briefe nach ihrem eigenen Anspruch »as real rather than fictional letters« behandelt werden (1996, 32 f.), was nicht notwendig impliziert, die Briefe seien tatsächlich auch von Paulus geschrieben,35 ist im Kommentar von 2001 die Abfassung durch Paulus ausdrücklich vorausgesetzt (2001, 98). Aufgrund dieser Herausforderung ist es gerechtfertigt, 32 

Speyer, Fälschung. die verdienstvollen Arbeiten von Brox, auf die in der Regel rekurriert wird, haben dies bisher nicht in ausreichendem Maße leisten können; vgl. dazu die Problemanzeige bei Brox, Problemstand, der  – trotz der oben Anm. 7 zitierten Bemerkung  – hinsichtlich der Beurteilung der Fälschung Speyers Bestandsaufnahme widersprochen hat, m. E. jedoch nicht überzeugend. Die Arbeit von Baum, Pseudepigraphie, ist zwar um eine neue Bestandsaufnahme des Phänomens bemüht, im Blick auf die Relevanz für das Verständnis neutestamentlicher Schriften aber nicht hinreichend weiterführend; gleiches gilt für den Gesamtentwurf von Ehrman, Forgery (vgl. dazu Herzer, Rezension Ehrman). 34  Vgl. in dieser Konsequenz zu Recht auch Brox, Problemstand; ferner Speyer, Fälschung, 13–21.35–37; Baum, Pseudepigraphie, 80. 35  Vgl. etwa neuere Tendenzen, die unter pseudepigraphischer Voraussetzung die Pastoralbriefe als reale Briefe und nicht als literarische Fiktion beurteilen, so etwa Richards, Difference, der im Ergebnis seiner epistolographischen Analyse die Pastoralbriefe als Briefe von drei unterschiedlichen Autoren verstehen kann: Ein »Ältester« schreibt 70–80 an »Titus«, ein »Pastor« 90–95 den 2 Tim an »den geliebten Timotheus« und ein »Lehrer« im 2. Jahrhundert den 1 Tim an »Timotheus den Wahrhaftigen« (a. a. O., 238 f.). 1 Tim ist daher von Titus und 2 Tim abhängig. Sie sind auch als 33  Auch



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Johnsons Ansatz ausführlicher vorzustellen, auch wenn einer solchen Position oft apologetische Motive unterstellt werden und sie daher nicht mehr der Rede wert zu sein scheint.36 Gerade in Johnsons Darstellung treten Stärken und Schwächen dieses Ansatzes zu Tage, weil er zwar um eine stärkere Differenzierung bemüht ist, diesem Anspruch aber im Ergebnis nicht hinreichend gerecht wird. Johnson führt den Konsens über die Pastoralbriefe auf einen sozial-ideologischen Prozess zurück, der zu einer Konstruktion von Wirklichkeit (»construal«) geführt habe, die nicht mehr hinterfragt werde (55): »The more one construal is handed on to generations that have not examined its premises and arguments as a settled ›fact,‹ the more natural and self-evident it becomes. The textual evidence itself becomes less relevant. The social fact of consensus is the primary and convincing argument in favor of one position or another« (56).

Dabei ist Johnson mit großem Recht kritisch gegenüber einer fundamentalistischen Vereinnahmung der Pastoralbriefe als authentische Briefe zu ideologischen Zwecken (56 f.). In der methodologischen Diskussion der Frage der Authentizität werden fünf Aspekte näher betrachtet:   1. Autorschaft und paulinische Mission (58–62.65–68): Das Verhältnis von Paulus und den Mitarbeitern bei der Abfassung von Briefen muss präziser bestimmt werden. Nicht nur die bekannten Briefschlüsse, sondern auch die Nennung von Mitabsendern sowie der für hellenistischen bzw. jüdischen Schulbetrieb charakteristische diatribische und midraschartige Stil des Paulus lassen auf einen komplexen Entstehungsvorgang schließen. Johnson rechnet mit der Präsenz einer paulinischen »Schule« bereits zu Lebzeiten des Apostels. »The social context of the Pauline correspondence, in a word, is as complex as the social context of his entire ministry.« (60) Allerdings sei weder aus Apostelgeschichte noch aus den anerkannten Paulusbriefen die Mission des Paulus hinreichend präzise zu rekonstruieren, als dass alle Briefe unzweifelhaft eingeordnet werden könnten. Auch wenn gegenwärtig der Apostelgeschichte wieder ein größerer historischer Wert beigemessen wird, könne nicht behauptet werden, sie sei eine hinreichend zuverlässige Quelle für die Details der paulinischen Mission.37 Da weder Apostelgeschichte noch Paulus selbst einen konsistenten und adäquaten Bericht seines Wirkens geben (67 f.), können die Pastoralbriefe Informationen bieten, die die der Apostelgeschichte korrigieren oder ergänzen.38   2. Stil (60.68–72): Die Stilunterschiede zwischen den Pastoralbriefen und den unbestrittenen Paulusbriefen wären nur dann relativ aussagefähig, wenn Paulus für den Stil seiner Briefe allein verantwortlich wäre und dieser darüber hinaus konsistent wäre: »In fact, however, neither is true. […] Failure to acknowledge the significant stylistic differences among 1 Thessalonians, 1 and 2 Corinthians, Galatians, Romans, Philippians, and Philemon pseudepigraphische Briefe »echt« zu nennen, weil sie mit realen Umständen zu tun haben (a. a. O., 241). 36  Vgl. etwa die polemische Bemerkung bei Häfner, Belehrung, 2: »Wer die Past für Paulus reklamiert, erkennt auch sonst im NT keine Pseudepigraphie.« 37  Auffällig sei vor allem, dass in Apg an keiner Stelle davon die Rede ist, dass Paulus während seiner missionarischen Tätigkeit Briefe geschrieben habe, Johnson, First and Second Letters, 62. 38  Vgl. z. B. auch 2 Kor 11,23 f., wo Paulus von mehreren Inhaftierungen spricht, die Apg nicht abdeckt. Auch die Mission in Illyrien (Röm 15,19) wird in Apg nicht erwähnt, auf die in Phrygien (Apg 16,6; 18,23) fehlt ein Hinweis bei Paulus.

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is serious enough to call into question any conclusions drawn from such ›comparisons‹. More serious still, the romantic notion that ›the style is the person‹ is thoroughly anachronistic« (60).   Das ist ein Aspekt, der nicht übersehen werden darf und nicht nur eine Frage des Stilgefühls oder gar der Bereitschaft ist, etwas anzuerkennen oder nicht. Hellenistischer Briefstil ist wesentlich geprägt von der Variation im Stil, entsprechend der jeweiligen Situation oder Redeform. Der dafür klassische Begriff der »Prosopopoiïa« meint nicht, jeder Verfasser müsse immer denselben Stil aufweisen, um identifizierbar zu sein, sondern vielmehr, dass jeder Verfasser seinen Stil der Situation anpasst, in der er sich mündlich oder schriftlich äußert. Wer brieftheoretisch gebotene Stilunterschiede nicht beachtet, gilt als schlechter Rhetor oder Briefschreiber.39 Als größtes Problem der Stilanalysen benennt Johnson daher zu Recht nicht nur die methodische Durchführung, die auch bei einer gleichwertigen und isolierten Untersuchung einzelner Paulusbriefe im Vergleich zum Gesamtkorpus zu unterschiedlichen Urteilen führen würde und in der Vergangenheit ja auch geführt hat, sondern vor allem die daraus abgeleiteten Konsequenzen, die oft stark von subjektiven Urteilen geprägt seien (72).40   3. Die Identifizierung der Gegner (72 f.): Die Beschreibung der Gegner mit Aspekten aus allen drei Briefen ergibt keine plausible Charakteristik einer bekannten Häresie (vgl. 2 Tim 2,17 f.; 1 Tim 4,3.8; 1 Tim 1,7; Tit 3,9; Tit 1,10.15). Daher sind die Identifikationen widersprüchlich, angefangen von der marcionitischen Gnosis des 2. Jahrhunderts über Frühformen christlicher Gnosis41 bis hin zu judenchristlichen Visionären42, die zeitlich nicht festgelegt werden können. Aber jedes einzelne Element sei auch in den anerkannten Paulusbriefen zu finden (73: 1 Kor 7,1; 8,1–3; 15,17–19; Gal 4,8–10; Kol 2,20–22), bzw. entspreche rhetorischer Praxis in der Verwendung von Stereotypen für die Argumentation gegen andere Positionen.   4. Organisation der Kirche (74–76): Das verbreitete Bild der Kirche, die sich vom Leib Christi hin zum Haus/Haushalt Gottes (1 Tim 3,15) entwickelt habe, durch eine Hierarchie von Bischof, Diakon, Ältesten und Witwen geprägt sei und deren charismatische Struktur einer Institutionalisierung gewichen ist, »is actually one of the weakest arguments against authenticity« (75). Von einer Kirchenordnung zu sprechen sei unangemessen, da im 2. Timotheusbrief davon nicht die Rede sei und das im Titusbrief Beschriebene kaum zu dem im 1. Timotheusbrief Gesagten passt. Alles, was gemeindeordnend gesagt sei, bleibe auf die moralische Qualifikation der Führungspersonen bezogen. Auch in anerkannten Paulusbriefen werden Funktionen wie in den Pastoralbriefen sowie andere Führungspersonen erwähnt (Phil 1,1; Röm 16,1 u. a.). Die Parallelen der Gemeindestrukturen der Pastoralbriefe liegen weit näher zu Paulus als zu den (bekannten) Strukturen des 2. Jahrhunderts. Und selbst in Qumran gab es theologisch legitimierte Hierarchien.43

39  Cicero z. B. nennt die Unterschiedlichkeit seines Stils charakteristisch (Epistulae ad familiares II 4,1; IV 13,1). Vgl. Malherbe, Theorists, 7; Richards, Secretary, 92–97. 40  Das wurde bereits Schleiermachers Analyse des 1 Tim vorgeworfen und daran hat sich im Prinzip nicht viel verändert. Aber auch die Tatsache sei zu berücksichtigen, dass die alte Kirche die paulinische Autorschaft der Pastoralbriefe nie auf der Grundlage von Stilurteilen – im Unterschied zum Hebräerbrief ! – in Zweifel gezogen habe (Johnson, First and Second Letters, 72). Die Tragfähigkeit statistischer Argumente sind auch von Quinn/Wacker, Letters, 4, zu Recht infrage gestellt worden. 41 Vgl. Roloff, 1 Tim, 43; Oberlinner, Titus, 84; Häfner, Belehrung, 18–41. 42  Vgl. z. B. Goulder, Wolves. 43  Vgl. zur Bedeutung von Qumran im Vergleich zu den Pastoralbriefen auch den Ansatz von Quinn s. o.



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  5. Thematische Konsistenz (62 f.77 f.): Die einheitliche Behandlung eines Themas durch einen Autor in allen seinen Schriften sei nicht als selbstverständlich vorauszusetzen. Das ist innerhalb der anerkannten Paulusbriefe unbestritten, im Blick auf die Beurteilung der Pastoralbriefe untereinander sowie im Vergleich zu anderen Paulusbriefen jedoch nicht. Bei dem oft bemühten Thema der unterschiedlichen Eschatologie z. B. wäre präziser zu reflektieren, dass Paulus durchaus mit unterschiedlichen Akzentuierungen und beeinflusst von situativen Gegebenheiten ein solch zentrales Thema behandeln konnte (62 f.). Wie solche Unterschiede zu beurteilen sind, darüber besteht ohnehin kein Einvernehmen. Die umstrittene These von Wandlungen im paulinischen Denken ist ein Versuch, Differenzen plausibel zu erklären. Aber die Plausibilität ist nicht hinreichend überzeugend, wie die Debatte darum zeigt. In der älteren Forschung, angefangen bei Baur, haben gerade die Unterschiede in der Eschatologie etwa zwischen 1. Thessalonicherbrief und 1. Korintherbrief dazu geführt, den 1. Thessalonicherbrief für unecht zu halten.44 »These, then, are five tendencies in the discussion about authenticity that dramatically affect the integrity of the debate on the Pastoral Letters. They are of such fundamental importance that it is surprising, perhaps even shocking, that they have not been thematized and more frequently been made the subject of direct discussion. At the very least, readers of this commentary should be aware of the great and puzzling gap between the massive social fact of the present scholarly consensus and the quality of the methods and arguments purportedly used to support it. The cumulative effect of critical scholarship on every other aspect of Pauline studies over the past thirty years ought, at the very least, allow for a different way of approaching the entire question of the authenticity of the Pastorals« (64).

Insbesondere auf die Konsequenzen der mangelnden Differenzierung zwischen den einzelnen Pastoralbriefe und ihrer Gruppierung zu einem einheitlichen, geschlossenen Korpus weist Johnson zu Recht hin. »The first consequence is that characterizations are drawn from the evidence provided by all three letters as a whole and then (inappropriately) applied to each of them individually, even though a particular letter may lack a trait entirely« (63).

Im Blick auf die in neuerer Zeit zahlreichen Bemühungen um die Darstellung einer Christologie, Theologie oder Ekklesiologie der Past45 hätte eine solche Differenzierung weitreichende Auswirkungen, besonders auf die Behauptung einer im Vergleich zu Paulus differenzierteren Kirchenordnung, die im 2. Timotheusbrief nicht, im Titusbrief höchstens in ein paar undeutlichen Notizen zu finden ist46 und sich also im Wesentlichen auf Angaben im 1. Timotheusbrief stützen muss. Auch die Gegner werden stets mit Notizen aus allen drei Briefen charakterisiert, obwohl jeder Brief für sich genommen ein eigenes Profil zeichnet. Ebenso wird das abstrakte Paulusbild in einer Kombination verstreuter Notizen (mit stets unterschiedlichen Ergebnissen) herausgearbeitet. Die daraus abzuleitende Konsequenz ist klar formuliert: 44  Vgl. dazu Malherbe, Letters, 368 f., der insgesamt kumulative Beweisführungen – wie sie auch für die Arbeit an den Pastoralbriefen charakteristisch sind – für methodisch unzureichend hält. 45  Vgl. oben Anm. 8. 46  Vgl. dazu Malherbe, Paraenesis.

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I  Perspektiven der Forschung

»Contrary to the dictum first enunciated by Eichhorn and repeated endlessly since, it simply is not necessary do decide for the authenticity or inauthenticity of all three Pastorals together. It is possible to consider the letters separately as distinct literary productions« (64).

Hinter dieser berechtigten Feststellung bleibt Johnson jedoch selbst zurück, wenn er letztlich von der Authentizität aller drei Briefe ausgeht. Angesichts der zu Recht angemahnten differenzierten Verhältnisbestimmung der Pastoralbriefe ist dies inkonsequent und der vorhandenen Sachlage nicht angemessen, weil dabei deren unterschiedliches Profil nicht hinreichend zur Geltung kommt. William  A. Richards hat unter anderen Voraussetzungen und Schlussfolgerungen erneut auf den relativ großen Abstand des 1.  Timotheusbriefes und seiner Abhängigkeit sowohl vom Titusbrief als auch vom 2.  Timotheusbrief hingewiesen.47 Angesichts der berechtigten Differenzierung und unter zusätzlicher Berücksichtigung pseudepigraphischer Briefpraxis wird man bedenken müssen, ob die drei Briefe nicht auch hinsichtlich ihrer Authentizität unterschiedlich zu beurteilen sind, ohne mit komplizierten Fragmentenhypothesen rechnen zu müssen. Im Unterschied zu Titusbrief und 2. Timotheusbrief gibt es jedenfalls plausible Gründe, den 1. Timotheusbrief als Schulschreiben zu verstehen, das an vorhandene Mitarbeiterbriefe anknüpft, Timotheus als Adressaten wählt, um die Parallelität zum Titusbrief aufzunehmen, dessen Themen verschärft, Gemeindestrukturen deutlicher differenziert und zugleich ethische »Schulübungen«48 als Interpretation und Applikation paulinischer Ethik bietet. Ob man im Ergebnis Richards folgt, ist eher unwahrscheinlich, denn all das kann von 2. Timotheusbrief und Titusbrief nicht gesagt werden. Die Verhältnisbestimmung der Briefe bleibt ein offenes Problem.49 Dem Ansatz entsprechend versieht Johnson jeden Brief mit einer eigenen Einleitung, in der die Umstände der Abfassung konkret beschrieben werden. Kritisch hingewiesen sei nur auf die Argumentation zur historischen Verortung des 1. Timotheusbriefes in der paulinischen Mission, die weit mehr Probleme bereitet als diejenige des Titus- und des 2. Timotheusbriefes. Im Blick auf den 1.  Timotheusbrief ist Johnson gewillt und genötigt, mit vielen Variablen und Annahmen zu rechnen, was insgesamt nicht überzeugt. Die Problematik seiner Rekonstruktion zum 1. Timotheusbrief gesteht Johnson selbst zu, wenn er schreibt: »In any case, the mis-en-scène for 1 Timothy is plausible, if not probative. It matches perfectly the assignments given to delegates, and it reflects as well the busy traffic among Macedonia, Corinth, and Ephesus that is revealed in our other sources. There is nothing historically disqualifying or anachronistic in its self-presentation« (137). 47  S. o. Anm. 35. Letztlich ist die Unterscheidung zwischen Tit und 2 Tim einerseits und 1 Tim andererseits schon von Schmidt bzw. Schleiermacher Anfang des 19. Jahrhunderts begründet worden. Bemerkenswerterweise gibt auch die Kanon- und Rezeptionsgeschichte Anhaltspunkte in diese Richtung, die aber bisher nicht in die Diskussion eingeflossen sind. 48  Dies ist natürlich nicht im Sinne einer »Spielerei« gemeint, sondern als Begriff aus der Charakteristik antiker Schulpseudepigraphie aufgenommen. Die Neuinterpretation paulinischer Ethik mit Fokussierungen, die oft weit über Paulus hinausgehen und einzelne, situationsbedingte Äußerungen zu allgemeinen Grundsätzen erheben, ist auch im 1 Tim situationsbezogen und insofern Kennzeichen eines zwar literarischen Briefes mit pseudepigraphischer Fiktion, aber doch mit realen Bezugsgrößen. 49  Vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen.

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  Genau diese »Passgenauigkeit« ist aber ein wesentlicher Unterschied zwischen dem 1. Timotheusbrief sowie dem 2. Timotheus- und dem Titusbrief, denn für diese gibt es keine so passende Situation in der bekannten Missionsgeschichte des Paulus. Das aber wäre für einen pseudepigraphischen Autor wenig verständlich, da er – wie im Falle des 1. Timotheusbriefes – eine Situation hätte konstruieren können, in die hinein der fingierte Brief »passt«. Im Gegenteil gilt, dass angesichts der Unsicherheiten in der Rekonstruktion der paulinischen Missionsgeschichte nicht notwendig zu erwarten ist, dass für jeden authentischen Brief eine passende Situation gefunden werden kann.50   Ein wichtiger Anhaltspunkt für die Plausibilität der Authentizität des 1. Timotheusbriefes ist für Johnson das literarische Genre, das er mit den sog. »Königsbriefen« (mandata principis) vergleicht, die durch Inschriften und Papyri bekannt sind und als individuelle Briefe öffentlichen Charakter tragen (139 f.).51 Die Frage nach der Authentizität kann damit freilich nicht begründet werden, da auch ein pseudepigraphischer Autor dieses Genre hätten verwenden können.   Nicht überzeugend sind auch die Ausführungen zu der im 1.  Timotheusbrief vorausgesetzten Situation der ephesinischen Kirche, die Johnson vor allem mit dem Rekurs auf die οἰκοδομή-Passagen im 1. Korintherbrief beschreibt (144 f.). Aber die paulinische Vorstellung von der οἰκοδομή ist (noch) nicht die des οἶκος θεοῦ. Darüber hinaus müsste für Ephesus gelten, was an Korinth gerichtet ist. Warum sollte Paulus den für ihn so charakteristischen Begriff der οἰκοδομή mit dem des οἶκος austauschen? Im 2. Timotheus- und im Titusbrief begegnet dieses Konzept noch nicht, vielmehr werden – vor allem durch das Bild in 2 Tim 2,20 – Spuren gelegt, an die der 1. Timotheusbrief wie an andere Paulusbriefe anknüpfen konnte.52   Ähnliches gilt von der Identifizierung der falschen Lehre. Mit guten Belegen bemerkt Johnson, dass die Anklage mit verbreiteten Stereotypen formuliert ist. Entscheidend ist jedoch der Hinweis, dass sich dieses Profil der Gegner deutlich von dem im 2. Timotheus- oder Titusbrief unterscheidet. Johnson vermutet »an opposition that represents an intellectual elite that demands performance measured by law and asceticism rather than by grace and conscience« (146). Das gilt aber umso mehr unter pseudepigraphischer Perspektive, wobei hier freilich gefragt werden könnte, ob der pseudepigraphische Autor eine konkrete Gemeindesituation und ihre Gefährdung vor Augen hat oder ob sein Interesse an bestimmten inhaltlichen Problemen nur flankiert wird durch allgemeine Stereotypen von Gegnern, die nicht spezifisch identifiziert werden sollen, sondern auf eine latente Gefahr innerhalb der paulinischen Tradition anspielen, die – wie schon bei Paulus selbst – mit dem Gesetz zusammenhängt.53

Unter Berücksichtigung der benannten Probleme, die auch Johnsons Ansatz aufwirft, gilt freilich in der Tat: »The real demonstration is in the details« (146). In der 50 Vgl.

Herzer, Lukas (in diesem Band 215–246). Vgl. u. a. Fiore, Function; Wolter, Pastoralbriefe, 164–165. Die Inanspruchnahme des Tebtunis Payprus Nr. 703, der Anweisungen eines ägyptischen Beamten an einen Untergebenen enthält, für die Identifizierung des Genres von 1 Tim durch Johnson ist von Mitchell, Genre, einer grundlegenden Kritik unterzogen worden. Mitchell hebt zu Recht hervor, dass P.Tebt. III 703 kein Brief ist, und daher die Bestimmung als »mandata principis letter« durch Johnson falsch und für den Vergleich mit den Pastoralbriefen ungeeignet ist. Mit Wolter verweist Mitchell lediglich auf die »vergleichbare Kommunikationsstruktur« beider Texte (a. a. O., 362.368; vgl. Wolter, a. a. O., 163.169 f.). Eine Bestimmung des literarischen Genres des 1 Tim bietet Mitchell nicht (vgl. a. a. O., 344: »[…] the Pastorals are an odd mix of the personal and the public, of church order and personal exhortation, of instruction and command, of the particular and the general«). Vgl. dazu Herzer, Papyri (in diesem Band 99–124). 52 Vgl. Herzer, House of God (in diesem Band 273–291). 53 Vgl. Herzer, Juden – Christen – Gnostiker (in diesem Band 293–314). 51 

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I  Perspektiven der Forschung

Einzelauslegung ist Johnsons Kommentar stärker als die anderen auf die Berücksichtigung der antiken Moralphilosophie ausgerichtet und hat darin seinen besonderen Wert. Die Interpretation des 1. Timotheusbriefes ist im Unterschied zu der von 2. Timotheus- und Titusbrief unter authentischer Perspektive problematisch und im Blick auf die gegebenen Voraussetzungen nicht überzeugend.

V Als Konsequenzen der Bestandsaufnahme ergeben sich folgende Aspekte: 1.  Abgesehen von Johnsons kritischem Ansatz vermittelt jeder Kommentar für sich genommen den Eindruck, die entscheidenden Probleme der Pastoralbriefe seien gelöst und es bestehe ein zuverlässig begründeter Konsens. Doch abgesehen von den Grundannahmen der Pseudepigraphie, des konzipierten und einheitlichen Korpus sowie der doppelten Fiktionalität kann von einem Konsens nicht die Rede sein. In den Konkretionen gehen die Auffassungen so weit auseinander, dass dadurch die Grundannahmen selbst zweifelhaft werden. Johnson hat daher zu Recht den scheinbaren Konsens herausgefordert. Es wird sich zeigen, ob die Forschung in der Lage ist, diese Herausforderung anzunehmen. Unter der Voraussetzung der Pseudepigraphie wäre vor allem die rezeptionstheoretische Fragestellung nach der Verstehbarkeit der Fiktion und deren Auswirkungen auf die Interpretation aufzunehmen. Es konnte bisher nicht plausibel gemacht werden, dass das fiktionale Konzept des Autors von den Leserinnen und Lesern verstanden werden konnte, noch dazu unter der zumeist zugestandenen Täuschungsabsicht, die ein Entdecken der Pseudepigraphie vermeiden sollte. Dabei sind die Ergebnisse der Pseudepigraphieforschung präziser und differenzierter zu berücksichtigen, vor allem hinsichtlich antiker Brief- und Schulpseudepigraphie, literarischer und nichtliterarischer Briefe sowie Briefsammlungen. Insbesondere an diesem Punkt besteht die Möglichkeit, über die seit dem 19. Jahrhundert sich kaum verändernden Argumente, die auch die vorgestellten Werke prägen, hinauszukommen, während die oft zu findenden Pauschalurteile nicht weiterhelfen. Dabei wäre auch die Frage nach der Durchschaubarkeit von Schulpseudepigraphie einerseits und der Täuschung mit Fälschungsabsicht andererseits mit dem je eigenen Profil der einzelnen Briefe ins Verhältnis zu setzen. Quinn/Wacker nehmen das erstere immerhin als notwendige Voraussetzung für eine positive Aufnahme der Pastoralbriefe an. Auch hier fehlt aber bislang die rezeptionstheoretische Plausibilität. 2.  Die drei Pastoralbriefe müssen stärker von ihrem eigenen Profil und Anspruch her interpretiert werden. Der Grundsatz einer einheitlichen Beurteilung bzw. einer einheitlichen Komposition hat sich als nicht fruchtbar erwiesen und das Verständnis nicht – wie immer wieder behauptet – erleichtert. Bereits die Exegese der anerkannten Paulusbriefe zeigt, wie unterschiedlich die Ergebnisse selbst bei allgemein geteilten Voraussetzungen sein können. Insbesondere die inhaltlichen und stilistischen Differenzen der anerkannten Paulusbriefe untereinander führen



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heute nicht mehr, wie noch konsequent bei Baur und seinen Nachfolgern, zur Infragestellung der meisten dieser Briefe. Woher dafür positive Kriterien gewonnen werden sollten, die unzweifelhaft sind, bleibt ohnehin unklar. Mit dem gleichen Maß müssten die Pastoralbriefe gemessen und die Umstände antiken Briefeschreibens umfassender und differenzierter berücksichtigt werden. Dies gilt freilich ebenso für die Voraussetzung der Authentizität, die umgekehrt nicht von vornherein für alle drei Briefe gelten kann. In dieser Hinsicht bleibt auch Johnson hinter seinen Vorgaben zurück. 3.  Wie Weiser, Johnson und in gewissem Maße auch Quinn/Wacker gezeigt haben, ist insbesondere bei der Interpretation der Tugend- und Lasterlisten in stärkerem Maße die antike Moralphilosophie zu konsultieren, die das ethische Bewusstsein in der griechisch-römischen Welt maßgeblich geprägt hat.54 4.  Die besprochenen Werke sind – bis auf eine Ausnahme55 – Kommentare für die Wissenschaft und nicht für einen breiteren Leserkreis geschrieben, der ohnehin nur im Editorial des ECC überhaupt benannt ist. Da die Gattung Kommentar mehr und mehr zum Kompendium von Wissenschaft und Forschung wird, ist die damit verfolgte Absicht jenseits verlegerischer Interessen neu zu überdenken.

Literatur Baum, Armin Daniel, Pseudepigraphie und literarische Fälschung im frühen Christentum. Mit ausgewählten Quellentexten samt deutscher Übersetzung (WUNT II/138), Tübingen 2001. Béchard, Dean P., Rezension zu: Quinn, Jerome D./Wacker, William C., The First and Second Letters to Timothy. A New Translation with Notes and Commentary (The Eerdmans Critical Commentary), Grand Rapids/Cambridge 2000, in: CBQ 63 (2001), 161–163. Brox, Norbert, Zum Problemstand in der Erforschung der altchristlichen Pseudepigraphie (1973), in: Ders. (Hg.), Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike (WdF 484), Darmstadt 1977, 310–334. D’Angelo, Mary R., »Knowing How to Preside Over His Own Household«: Imperial Masculinity and Christian Asceticism in the Pastorals, Hermas and Luke-Acts, in: Stephen D. Moore/Janice C. Anderson (Hg.), New Testament Masculinities (Semeia Studies 45), Leiden/Boston 2003, 265–295. –, Εὐσέβεια: Roman Imperial Family Values and the Sexual Politics of 4 Maccabees and the Pastorals, in: Bibl.Interpr. 11 (2003), 139–165. Engelmann, Michaela, Unzertrennliche Drillinge? Motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe (BZNW 192), Berlin 2012. Fiore, Benjamin, The Function of Personal Example in the Socratic and Pastoral Epistles (AnBib 105), Rom 1986. Frenschkowski, Marco, Pseudepigraphie und Paulusschule. Gedanken zur Verfasserschaft der Deuteropaulinen, insbesondere der Pastoralbriefe, in: Friedrich Wilhelm Horn 54  Vgl. z. B. Wagener, Ordnungen; D’Angelo, Εὐσέβεια; dies., Household; Osiek, Pietas; Malherbe, Paraenesis; Herzer, Geheimnis (in diesem Band 381–405). 55  Johnson, Letters to Paulʼs Delegates.

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I  Perspektiven der Forschung

(Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte (BZNW 106), Berlin/New York 2001, 239–272. Goulder, Michael, The Pastor’s Wolves: Jewish Christian Visionaries Behind the Pastoral Epistles, in: NT 38 (1996), 242–256. Häfner, Gerd, »Nützlich zur Belehrung« (2 Tim 3,16). Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefe im Rahmen der Paulusrezeption (HBS 25), Freiburg i. Br. u. a. 2000. Herzer, Jens, »Das Geheimnis der Frömmigkeit« (1 Tim 3,16). Sprache und Stil der Pastoralbriefe im Kontext hellenistisch-römischer Popularphilosophie  – eine methodische Problemanzeige, in: ThQ 187 (2007), 309–329 (in diesem Band 381–405). –, Juden  – Christen  – Gnostiker. Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe, in: BThZ 25 (2008), 143–168 (in diesem Band 293–314). –, Rearranging the »House of God«. A New Perspective on the Pastoral Epistles, in: Alberdina Houtman/Albert de Jong/Magda Misset-Van de Weg (Hg.), Empsychoi Logoi – Religious Innovations in Antiquity. FS P. W. van der Horst (Ancient Judaism and Early Christianity 73), Leiden 2008, 547–566 (in diesem Band 273–291). –, Fiktion oder Täuschung?  Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe, in: Jörg Frey u. a. (Hg.), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen (WUNT 246), Tübingen 2009, 489–536 (in diesem Band 31–76). –, Die Pastoralbriefe im Licht der dokumentarischen Papyri des hellenistischen Judentums, in: Roland Deines/Jens Herzer/Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.), Neues Testament und hellenistisch-jüdische Alltagskultur. Wechselseitige Wahrnehmungen. 3. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, Leipzig, Mai 2009 (WUNT 274), Tübingen 2011, 319–346 (in diesem Band 99–124). –, Rezension zu: Bart D. Ehrman, Forgery and Counterforgery. The Use of Literary Deceit in Early Christian Polemics, Oxford 2013, in: ZAC 18 (2014), 512–517. –, »Lukas ist allein bei mir« (2 Tim 4,11). Lukas, die Pastoralbriefe und die Konstruktion von Geschichte, in: John S. Kloppenborg/Joseph Verheyden (Hg.), Luke on Jesus, Paul and Christianity: What Did He Really Know? (Biblical Tools and Studies 29), Leuven 2017, 27–58 (in diesem Band 215–246). Johnson, Luke Timothy, 1 Timothy, 2 Timothy (Knox Preaching Guides), Titus, Atlanta 1987. –, Letters to Paul’s Delegates. 1 Timothy, 2 Timothy, Titus (The New Testament in Context), Valley Forge 1996. –, The First and Second Letters to Timothy. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB 35A), New York u.a. 2001. Kidd, Reggie M., Wealth and Beneficence in the Pastoral Epistles. A »Bourgeois« Form of Early Christianity? (SBL.DS 122), Atlanta 1990. Läger, K aroline, Die Christologie der Pastoralbriefe (Hamburger Theologische Studien 12), Münster 1996. Lau, Andrew Y., Manifest in Flesh. The Epiphany Christology of the Pastoral Epistles (WUNT II/86), Tübingen 1996. Lips, Hermann von, Von den »Pastoralbriefen« zum »Corpus Pastorale«. Eine Hallische Sprachschöpfung und ihr modernes Pendant als Funktionsbestimmung dreier neutestamentlicher Briefe, in: Udo Schnelle (Hg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/New York 1994, 49–71. Lohfink, Gerhard, Paulinische Theologie in der Rezeption der Pastoralbriefe, in: Karl Kertelge (Hg.), Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften. Zur Paulusrezeption im Neuen Testament (QD 89), Freiburg i. Br. u. a. 1981, 70–121.



Abschied vom Konsens?

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I  Perspektiven der Forschung

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Fiktion oder Täuschung? Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe Seit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher 18061 die Echtheit des 1. Timotheusbriefes in Zweifel gezogen und Ferdinand Christian Baur fast 30 Jahre später2 diesen Zweifel zur grundlegenden Voraussetzung für die Interpretation aller drei Pastoralbriefe erklärt hatte, ist es zu keiner einhelligen Auffassung über diese Briefe mehr gekommen  – es sei denn, man beschränkt das, was man in der Forschung Konsens nennt, auf diejenigen Gelehrten, die der Grundannahme Baurs bis heute folgen.3 Schon für Adolf von Harnack stand allerdings fest: »Das Rätsel, das über diesen Briefen schwebt, hat noch niemand wirklich gelöst und ist auch mit unseren geschichtlichen Hilfsmitteln unlösbar.«4 Angesichts der disparaten Forschungslage ist der Schluss unausweichlich, dass sich daran trotz aller Bemühungen bis heute nichts geändert hat. Dieser Einsicht gilt es beim Entwickeln von Erklärungsmodellen für die Pastoralbriefe mit methodischer Vorsicht Rechnung zu tragen. Der Titel des vorliegenden Versuches, die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe vor dem Hintergrund der Geschichte dieses interpretatorischen Paradigmas zu beschreiben, zeigt das Spannungsfeld an, in dem sich ein solches Unterfangen bewegt. Erklärungsversuche unter der Voraussetzung der Pseudepigraphie der drei Briefe haben es mit dem Problem zu tun, sich zwischen theologisch legitimer, literarischer Fiktion einerseits5 und zweifelhafter, mit Täuschungsabsicht verbundener Fälschung andererseits6 entscheiden zu müssen. Der kanonische Rang der Pastoralbriefe scheint dabei nahezulegen, das erstere Modell zu bevorzugen – ungeachtet der konkreten literarischen Merkmale der Briefe, die bereits auf einen ersten oberflächlichen Blick zutage treten und darauf hindeuten, dass es sich dabei um unterschiedliche und im Einzelfall keinesfalls unproblematische Weisen im Umgang mit pseudepigraphischen Stilmitteln handelt.7 Da die Pastoralbriefe auf ihre Weise am Phänomen der Pseudepigraphie in der Antike partizipieren, soll es im Folgenden wesentlich um methodische Klärungen bzw. Bestandsaufnahmen der Diskussion zum Thema der Pseudepigraphie sowie 1 

Schleiermacher, Sendschreiben. Baur, Pastoralbriefe. 3 Vgl. Herzer, Abschied (in diesem Band 11–30). 4  Von Harnack, Briefsammlung, 14. 5  Vgl. dazu bes. die unter den gegebenen Voraussetzungen konsequente und umfassende Interpretation von Merz, Selbstauslegung. 6  Vgl. die Problemanzeige bei Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule. 7  Vgl. dazu vor allem Brox, Notizen; ders., Verfasserangaben; zum Problem Luttenberger, Prophetenmantel. 2 

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I  Perspektiven der Forschung

um daraus folgende Problemanzeigen im Blick auf die Pastoralbriefe gehen. Mehr ist angesichts der Komplexität der aktuellen Diskussionslage kaum zu leisten, aber wenn dies erreicht werden kann, dann ist schon viel gewonnen. Die aktuelle Forschung macht immerhin deutlich, dass Pseudepigraphie nicht pauschal abgehandelt werden kann, sondern ein so komplexes Phänomen darstellt, dass vor dem Hintergrund dieser Komplexität jede Schrift – und wegen des unbestreitbar autoritativen Anspruches besonders jede neutestamentliche Schrift – für sich betrachtet und beurteilt werden muss.

1.  Forschungsgeschichtliche Bemerkungen zur Diskussion um die neutestamentliche Pseudepigraphie Gleichsam als Bestandsaufnahme der Situation vor rund 100 Jahren sei den folgenden Ausführungen erneut ein Zitat von Adolf von Harnack vorangestellt: »Als ich vor 57 Jahren das theologische Studium begann, galt nur der Theologe als ein kritischer Kopf, der nicht mehr als vier Paulusbriefe als echt bestehen ließ. Seitdem ist es anders geworden. Neben I. und II. Kor., Galat., Röm. ist jetzt auch die Echtheit von I. Thess., Koloss., Philipp., Philem. so gut wie allgemein anerkannt. Kontrovers sind noch von den Gemeindebriefen – von den Pastoralbriefen wird später kurz zu reden sein – II. Thess. und Ephes. Ich verkenne nicht, daß hier Schwierigkeiten bestehen, besonders in Hinsicht auf Ephes.; allein sie sind m. E. nicht unüberwindlich, und die inneren Momente, die für die Echtheit sprechen, geben den Ausschlag. Dazu kommt, daß die Sammlung so alt ist, daß die Annahme, einer der Briefe sei eine Fälschung, große Bedenken erregen muß. Nicht, als ob nicht bereits falsche Briefe im Umlauf gewesen sein können […], aber daß falsche Briefe von Gemeinden in ältester Zeit widerspruchslos hingenommen worden sind, darin liegt die Schwierigkeit.«8

Diese Äußerung weist nicht zuletzt darauf hin, wie schwierig es im Einzelfall ist, die pseud­epigraphische Abfassung einer neutestamentlichen Schrift zu erweisen bzw. – etwas vorsichtiger formuliert – plausibel zu machen. Stellt man dem aktuellere Äußerungen zum Thema entgegen, so scheint es, dass die vorsichtige Annäherung, wie sie noch für von Harnack erforderlich schien, längst nicht mehr selbstverständlich zum wissenschaftlichen Diskurs über Pseudepigraphie gehört.

1.1  Der Ausgangspunkt für eine kritische Neuorientierung Als geradezu klassisch für eine nach wie vor weit verbreitete Auffassung im Blick auf das so genannte »Zeitalter der Pseudepigraphie« (wie Karl-Martin Fischer die Zeit zwischen 60 und 100 n.  Chr. bezeichnet hatte9) kann wohl gelten, was Udo Schnelle in der »Einleitung in das Neue Testament« schreibt – und ein Einleitungswerk, zumal ein solches, das inzwischen als »Standardwerk« bezeichnet werden 8  9 

Von Harnack, Briefsammlung, 11. Fischer, Anmerkungen.

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kann, präsentiert in erster Linie den breiteren, d. h. weithin akzeptierten Konsens der Forschung: »Die literarische Form der Pseudepigraphie war im letzten Drittel des ersten christlichen Jahrhunderts das wirksamste Mittel, um die neu aufgebrochenen Probleme aus der Sicht der Verfasser der Pseudepigraphen im Sinn der von ihnen jeweils in Anspruch genommenen Autoritäten zu lösen. Die moralische Kategorie der Fälschung ist deshalb ungeeignet, die Zielsetzungen der Pseud­epigraphie zu erfassen.«10

Die Absicht der Fiktion  – auch dies als weitgehender Konsens der Forschung  – besteht danach in der Sicherung und Bewahrung der apostolischen Tradition in einer sich verändernden Situation, aus »ökumenischer Verantwortung« heraus und damit in »gesamtkirchliche(r) Perspektive«.11 Bereits in der Einleitung von Alfons Jülicher in der Bearbeitung von Erich Fascher lässt sich als Ergebnis der Debatte des 19. Jahrhunderts Ähnliches lesen12 und man könnte viele andere Beispiele ergänzend hinzufügen.13 Petr Pokorný etwa begründet die positive Intention falscher Verfasserangaben mit der theologischen Aussage, Gott habe »sich auch zu den fiktiven Pseudepigraphen bekannt, ähnlich wie er sich zu Jakob in Bethel bekannte«.14 Ruben Zimmermann bietet trotz seiner berechtigten Kritik an Pokornýs Erklärung eine sehr ähnliche und pauschale Lösung: »Auch wenn den eigentlichen Autoren pseudepigrapher Schriften im NT die ›falsche Verfasserangabe‹ bewusst war, handelten sie nicht mit Täuschungsabsicht im Sinne einer bewussten Irreführung der Adressaten. Im Gegenteil. Die Verfasserangabe sollte nicht hinters Licht führen, sondern zum Licht hin.«15 10 

Schnelle, Einleitung 2007, 325. ausdrücklich gegen Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule. Schnelle hält es daher für sachgemäßer, statt von falschen »von ›entliehenen Verfasserangaben‹ zu sprechen, bei denen die apostolische Autorität als Bürge für die Gültigkeit des Gesagten auftritt« (ebd. in Anlehnung an und Modifikation von Brox, Verfasserangaben, 105). Vgl. ferner Wolter, Schriften, der den Stand der Forschung folgendermaßen zusammenfasst: »Die neutestamentliche Forschung hat sich in den letzten Jahren vor allem mit den pseudonymen Schriften befaßt und versucht, eine historische und theologische Erklärung zu finden. Am weitesten gekommen ist in dieser Hinsicht Norbert Brox, der davon ausgeht, daß es mit Ausnahme des Judasbriefes durchweg die Apostel sind, die als Verfasser der neutestamentlichen Pseudepigraphen fingiert werden. Dementsprechend sieht er – und dem stimme ich zu – die falschen Verfasserangaben dem Zweck dienen, die Kontinuität der apostolischen Tradition in der Zeit nach dem Tod der Apostel sicherzustellen. Es geht in den pseudonymen Schriften insofern darum, die Autorität der Apostel in ihrer jeweiligen Gegenwart verbindlich zu Gehör zu bringen.« 12  Die neutestamentlichen Autoren hätten »in bester Absicht und mit reinem Gewissen einem Apostel Worte in den Mund gelegt, die sie gerne mit apostolischer Autorität ihren Zeitgenossen zugerufen wissen wollten, und sich nicht im Geringsten als Lügner und Betrüger gefühlt« (Jülicher/Fascher, Einleitung, 54). 13 Vgl. Achtemeier/Green/Thompson, New Testament, 560: »Pseudonymity appears to have been primarily a literary technique, and not one meant to deliberately deceive its readers.« Vgl. in diesem Sinne auch Metzger, Forgeries, 21 f.; DeSilva, Introduction, 685; Pokorný/Heckel, Einleitung, 619–623 u. a. 14  Sc. zu Jakob, der sich sein Erstgeburtsrecht durch die Täuschung seines Vaters erschlich; Pokorný, Pseudepigraphie, 654; vgl. dazu Janssen, Namen, 240 f. 15  Zimmermann, Pseudepigraphie, 35; s. dazu auch unten Anm. 25. 11  Ebd.,

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I  Perspektiven der Forschung

Solche Formulierungen  – Marco Frenschkowski hat sie als »binnentheologische Schönfärberei«16 bezeichnet – machen immerhin deutlich, dass es in der Frage nach der Einschätzung und Beurteilung von Pseudepigraphie nicht mehr darum gehen kann, sich auf einen kritischen Konsens zu verlassen. Aus der Annahme der Pseudepigrahie bestimmter Schriften folgt stets die Notwendigkeit, von dieser Voraussetzung her nicht nur eine schlüssige Interpretation der entsprechenden Schriften vorzunehmen, sondern im Zuge dieser Interpretation immer auch die Legitimität und Plausibilität der Fiktion bzw. der Fälschung zu erweisen. Angesichts dieser Problematik wird deutlich, wie sehr Walter Bauer mit seiner zugegebenermaßen polemisch zugespitzten Äußerung Recht hatte, dass in Verfasserschaftsfragen »die sichere Entscheidung nur dem Ignoranten leicht« falle.17 Vor dem Hintergrund dessen, was auf dem Gebiet der altertumswissenschaftlichen Pseudepigraphieforschung bisher geleistet wurde, erweist sich die oben zitierte Auffassung zur Legitimität von Pseudepigraphie in dieser Form als unzutreffend;18 ganz abgesehen von der Tatsache, dass bisher keineswegs plausibel gemacht werden konnte, warum und inwiefern Pseudepigraphie »im letzten Drittel des ersten christlichen Jahrhunderts das wirksamste Mittel«19 zur Lösung der anstehenden Probleme gewesen sei. Ist speziell die neutestamentliche Pseudepigraphie tatsächlich ein so einheitlich zu beurteilendes Phänomen, wie zumeist behauptet bzw. vorausgesetzt wird? Wie »wirksam« im Sinne der ihnen unterstellten Absichten waren die als pseudepigraphisch eingestuften Schriften? In welchem Verhältnis steht ihre Wirksamkeit zu (zeitgenössischen!) Schriften jener lokal und überregional wirkenden Autoritäten, die unter ihrem eigenen Namen Probleme lösten? Und nicht zuletzt: In welchem Verhältnis steht die Wirksamkeit der als pseudepigraphisch eingestuften Schriften zur unumstrittenen und fortdauernden Wirksamkeit der authentischen Schriften des reklamierten Autors, von denen sie sich offenbar so grundlegend unterscheiden, dass man sie ihm absprechen muss? Die Fragen ließen sich vermehren. Die darauf zum Teil gegebenen Antworten setzen durchweg die Richtigkeit der behaupteten Auffassung von Pseud­epigraphie voraus und schon damit ist ihre Überzeugungskraft infrage gestellt.20 16  Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule, 242. Vgl. dazu den vehementen Einspruch bei Schnelle, Einleitung 2007, 325 Anm. 12. 17  Bauer, Holtzmann, 308 (Hervorhebung J. H.). 18  Vgl. auch Klauck, Briefliteratur, 303, der zu Recht einwendet: »Man darf nicht so weit gehen und behaupten, daß Pseudepigraphie in der Antike ein allgemein verbreiteter und anerkannter Vorgang gewesen sei, an dem niemand Anstoß nahm. Es gab im Gegenteil sehr wohl ein Gefühl für geistige Urheberschaft und für bewußte Fälschung.« 19  Schnelle, Einleitung 2007, 329; vgl. auch Beatrice, Forgery; vgl. dazu Janssen, Namen, 209–212; zur Kritik vgl. auch Zimmermann, Pseudepigraphie, 28.33. 20  Martina Janßen hat vieles davon als eine »kritische Forschungsbilanz« anschaulich dargestellt und die Schwächen vieler Erklärungsversuche aufgezeigt (Janssen, Namen). Zugleich wird daran sehr gut deutlich, wie viel oft an kreativer Phantasie nötig ist, um den Sinn und die Geltung des jeweils vorausgesetzten Paradigmas zu erweisen und die Texte entsprechend zu interpretieren (das gilt selbstverständlich keineswegs pauschal für alle dort referierten Arbeiten).

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1.2  Problematische Alternativen Freilich darf eine Kritik an der Annahme neutestamentlicher Pseudepigraphie nicht andererseits zu Ignoranz der offenkundigen Probleme führen, um Pseud­epigraphie im Neuen Testament grundsätzlich abzulehnen. Die Kontroverse um die Berechtigung der Annahme, dass es auch im Neuen Testament Pseudepigraphie gibt, hat die Diskussion seit Anfang des 19. Jahrhunderts erschwert und eine phänomenologisch differenzierende Wahrnehmung der Problematik behindert. Die Bestreitung von Pseudepigraphie im Neuen Testament wurde nicht zuletzt dadurch belastet, dass man die Kategorie der Moral ins Spiel brachte, die etwa so zusammengefasst werden kann: Vom ethischen Anspruch neutestamentlicher Autoren her sei es ausgeschlossen, dass diese auf das Mittel der Fälschung, d. h. auf bewusste Täuschung zur Durchsetzung ihrer Ziele zurückgegriffen hätten.21 Angesichts dessen, was in christlicher Tradition mit hohem moralischem Anspruch tatsächlich an Pseudepigraphie vorliegt (z. B. Epheserbrief, katholische Briefe), ist dieses Argument nicht nur naiv, sondern muss auch konkrete Tatbestände nivellieren bzw. ignorieren, um den aufgestellten Prämissen gerecht zu werden. Dies kann somit kein ernsthafter Beitrag zu einer konstruktiven Diskussion sein. Im Gegenzug dazu hilft es aber auch nicht, wenn man – um dem moralischen Einwand zu entgehen – entweder bestreitet, dass Pseudepigraphie auch Fälschung sein kann und aus diesem Grund nur pauschal behauptet, sie sei ein legitimes und allseits akzeptiertes Mittel antiker Schriftstellerei gewesen. Es überzeugt in diesem Zusammenhang auch nicht, die platonische Idee der »guten Lüge« bzw. die Vorstellung von der pia fraus oder des dolus bonus zu bemühen, wonach das Schreiben unter falschem Namen durch die gute Absicht gerechtfertigt wäre,22 oder eben  – wie etwa in dem bereits zitierten TRE-Artikel von Petr Pokorný – Pseudepigraphie im Neuen Testament theologisch zu legitimieren.23 In diese geistlich-theologische Kategorie von Legitimierungsversuchen gehört auch die Erklärung, die Angabe eines anderen Verfassers beruhe auf einem Inspirationsbewusstsein, durch welches im Zusammenhang der Traditionssicherung und Traditionsweitergabe die Fiktion gerechtfertigt und geradezu notwendig sei.24 Auch dieses Argument hat eine lange Tradition25 und entspricht etwa dem, was 21 

Vgl. in diesem Sinne z. B. Torm, Psychologie; Holtz, Pastoralbriefe, 12 f. Verwiesen wird hierbei in der Regel auf die Ausführungen zur erlaubten Lüge bei Xenophon, Memorabilia 4,2,14–18; Plato, Politeia 382C.389B.459C, oder auch Cicero, Brutus 11,42; vgl. dazu Speyer, Fälschung, 94–97, der die Legitimität dieser »Lösung« im Kontext der antiken christlichen Schriftstellerei zu Recht bezweifelt; ferner Brox, Verfasserangaben, 71.83 f. 23  S. o. Anm. 14. 24  Vgl. z. B. Gerlitz, Pseudonymität. Zur Funktion der Traditionssicherung s. o. Anm. 11. 25  Vgl. etwa Meyer, Pseudepigraphie, 108, der vom pseudonymen Autor annimmt: »[…] er kennt und spürt noch eine Macht, die mehr ist und mehr gibt als bloß fortgepflanzte Tradition, mehr auch als poetische Inspiration dem Dramatiker eingibt, den Geist Gottes und Christi.« Weiterhin etwa auch Merkel, Fälschungen (vgl. dazu Janssen, Namen, 50–53). Pointiert formuliert, die Dinge jedoch völlig auf den Kopf stellend und dadurch regelrecht ad absurdum geführt wird dieser geistliche Begründungszusammenhang vor allem bei Aland, Problem, 30: »Wer der Christenheit 22 

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I  Perspektiven der Forschung

Wolfgang Speyer als »echte religiöse Pseud­epigraphie« beschrieben hat (freilich in Bezug auf ganz andere Schriften und gerade nicht auf die neutestamentlichen Brieffälschungen).26 Es bleibt aber gerade für die besonders strittigen Fälle wie den 2. Thessalonicherbrief oder die Pastoralbriefe ein reines Postulat, das in den konkreten Texten nur schwer zu verifizieren ist.27 Nicht überzeugend ist ferner die konsequente Ableitung neutestamentlicher Pseudepigraphie aus dem Phänomen der Fortschreibung und textergänzenden und textproduzierenden Interpretation in der alttestamentlichen und frühjüdischen Überlieferung, wie sie Eckard Reinmuth vorgeschlagen hat.28 Trotz der berechtigten Forderung, dass jede der frühchristlichen Schriften »in ihrer speziellen Ausprägung gesondert betrachtet werden muß«, ließen sich nach Reinmuth vor dem Hintergrund der biblischen Überlieferung »allgemeine literaturtheoretische und -historische Aussagen zum Phänomen der neutestamentlichen Pseudepigraphie treffen und auf die pseudo-paulinischen Texte anwenden«.29 Dass die dabei vorausgesetzte Kontinuität pseudepigraphischer bzw. pseudonymer Textproduktion vom Alten zum Neuen Testament gerade aufgrund der je konkret zu betrachtenden literaturtheoretischen Umstände so nicht aufrecht zu erhalten ist, wurde bereits durch Speyers Klassifikation nachgewiesen.30 Die Fiktion eines 4. Esrabuches oder der syrischen Baruchapokalypse mit derjenigen pseudepigraphischer Paulusbriefe zu vergleichen, ist schon deshalb nicht überzeugend, weil sie literarische Formen miteinander vermischt, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu beurteilen sind.31 Die auf diesen »gewachsenen literarischen Konventionen« beruhende Legitimität jeder pseudepigraphischen jener Zeit allgemeingültige Weisungen gibt, tut das aus dem Heiligen Geist, er ist nur die Feder, die vom Geist bewegt wird. Derartige Schriften, sobald sie über den Charakter eines Briefes im engsten Sinne hinausgehen, können den eigentlichen Verfasser gar nicht nennen. Anonymität bzw. Pseudonymität sind m. E. keine Erscheinungen der frühchristlichen Literatur, die wir erklären oder gar rechtfertigen müßten, gerade umgekehrt ist es: Wir brauchen eine Erklärung, wenn der wirkliche Verfasser sich mit Namen nennt.« Zur berechtigten Kritik daran vgl. bereits Balz, Anonymität, 419 f. Zustimmend zu Aland neuerdings z. B. Standhartinger, Studien, 47. 26  Speyer, Fälschung, 36 f. (zur Definition von »echter religiöser Pseudepigraphie«); vgl. ders., Verfasserschaft. 27  Zum 2 Thess vgl. Malherbe, Letters, 349–375, der insgesamt kumulative Beweisführungen  – wie sie auch für die Arbeit an den Pastoralbriefen charakteristisch sind  – für methodisch unzureichend hält. Zur neueren Diskussion um den 2 Thess vgl. Thompson, As If Genuine. 28  Reinmuth, 2 Thess, 190–202 (Exkurs: Zur neutestamentlichen Paulus-Pseudepigraphie), bes. 196. 29  A. a. O., 191. 30 Vgl. Speyer, Fälschung; aber auch Hengel, Anonymität (= Fritz, Pseudepigrapha, 231–308). 31 Vgl. Reinmuth, 2 Thess, 194: »Dabei sind freilich auch Unterschiede nicht übersehbar. So beziehen sich die im NT gewählten Pseudonyme regelmäßig auf Personen der jüngsten Vergangenheit, im frühjüdischen Bereich indessen auf solche der ferneren Geschichte.« Dennoch setzt er fort: »Das kann als Hinweis auf das frühchristliche Selbstverständnis interpretiert werden, Gegenwart und Zukunft in der Vollmacht des eschatologisch wirkenden Geistes zu erfassen« (ebd.). Die Intention der Pseudonymität frühjüdisch-apokalyptischer Schriften wird dabei zum Verstehenshintergrund neutestamentlicher Pseudepigraphie erklärt, auch wenn dieser Grundsatz dann im Einzelnen zu differenzieren ist. Vgl. auch Malherbes Urteil im Blick auf den 2 Thessalonicherbrief: »2 Thessalonians is not an apocalypse but a letter that has concrete circumstances in view […]«



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Fiktion im Neuen Testament nennt Reinmuth einen »selbstverständlich gültigen hermeneutischen Kontrakt[.] zwischen Autoren und Adressaten«.32 Den Begriff der Fälschung vermeidet er daher konsequent.

1.3  Konsequenzen und mögliche Neuansätze Diese knappen Bemerkungen können keinesfalls das gesamte Spektrum der Positionen zur neutestamentlichen Pseudepigraphie erfassen. Die Übergänge sind oft fließend und schwer darstellbar. Als ein erstes Fazit ergibt sich dennoch Folgendes: Keine der drei benannten (und sich zum Teil ausschließenden) Perspektiven ist geeignet, das Problem und das Phänomen der neutestamentlichen Pseudepigraphie zu beschreiben und zu erklären. Sie kann weder als selbstverständlich legitim verstanden bzw. zum geistlich legitimierten Sonderfall erklärt werden (so z. B. Schnelle, Pokorný), noch kann sie pauschal – wie bei Marco Frenschkowski33 – als Fälschung bezeichnet werden, noch ist es gerechtfertigt, die Berechtigung der Kategorie »Fälschung« abzulehnen34 oder gar innerneutestamentliche Pseudepigraphie aus »moralischen« Gründen generell zu bestreiten. Die entscheidende Frage ist vor allem diejenige nach verlässlichen Kriterien, deren Relevanz und Geltung intersubjektiv im fachwissenschaftlichen Diskurs plausibel gemacht werden können. Eine wesentliche Voraussetzung für die Kriterienfrage ist die differenzierte Wahrnehmung der Durchführung der pseudepigraphischen Fiktion in den konkreten Texten und daraus folgend die Unterscheidung verschiedener Arten von Pseud­epigraphie (und nicht nur zwischen Anonymität und Pseudonymität!) auch im Neuen Testament.35 (Malherbe, Letters, 373). Das gilt natürlich auch für den Vergleich der Pastoralbriefe mit derartiger Literatur. 32  Reinmuth, 2 Thess, 196; vgl. auch die berechtigten kritischen Bemerkungen bei Janssen, Namen, 192 f.: Gerade im Fall des 2 Thess werde »Traditions- oder Schulbewusstsein […] zur inhaltlichen Konfrontation« (a. a. O., 193, Hervorhebung J. H.). Vgl. auch dies., Beweggründe. 33 Vgl. Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule, 251: »Es bleibt dabei, daß Pseudepigraphie eine bewußte und planmäßig durchgeführte Täuschung ist, welche – wenn sie erkannt worden wäre – damalige Leser im allgemeinen ebenso vor den Kopf gestoßen hätte wie heutige«; vgl. a. a. O., 262 zu den Pastoralbriefen: »geplante und raffinierte Fälschungen«. Grundsätzlich bewertet auch Ehrman, Forgery, bes. 128–132, pseudepigraphische Schriften unter der Kategorie der Fälschung, die eine Täuschungsabsicht impliziert. 34  Vgl. dezidiert Schnelle, Einleitung 2007, 325. In Duktus und Konkretion vergleichbar bei Reinmuth, 2 Thess; vgl. auch bes. Standhartinger, Studien, 31, wobei die Behauptung, Speyer begründe den Gebrauch des Begriffes Fälschung (sc. ausschließlich) mit dem Hinweis auf die Echtheitskritik des Altertums, so nicht stimmt. Seine Darstellung der Echtheitskritik und ihrer Methoden sind darüber hinaus sehr viel differenzierter, als Standhartinger dies referiert und kann daher auch nicht einfach in wenigen Zeilen erledigt werden – zumal sie selbst dann auf die Bedeutung von Echtheitskritik hinweist (a. a. O., 40). Kaum weiterführend sind in diesem Kontext – vor allem hinsichtlich der Intention der pseudonymen Autoren – die ansonsten instruktiven Ausführungen Standhartingers (a. a. O., 31–40) zu literarischen Schulübungen im antiken Bildungssystem als »Voraussetzungen für die Entstehung pseudepigrapher Werke« (a. a. O., 40), da nicht deutlich wird, wie von daher Intention und gewählte Mittel der pseudonymen Autoren plausibel werden sollen. 35 Auch die  – unter kirchengeschichtlicher Perspektive  – vorgenommene Unterscheidung von Wolter, Pseudonymität, in »pseudepigraphische Pseudonymität«, »anonyme Pseudo-

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I  Perspektiven der Forschung

Die Bedeutung einer solchen Unterscheidung ist insbesondere durch die Arbeiten von Josef A. Sint (1960)36 und vor allem Wolfgang Speyer (1972)37 als conditio sine qua non für die Erörterung der Problematik aufgewiesen worden, hat aber bisher kaum zu einer differenzierten Anwendung auf innerneutestamentliche38 Pseud­ epigraphen geführt.39 Speyer hatte seine umfassende monographische Darstellung der profanen und christlichen Pseudepigraphie der Antike einen »Versuch der Deutung« genannt. Dieser Versuch besteht im Wesentlichen darin, den zunächst wertfreien Begriff »Pseudepigraphie« so zu differenzieren, dass man dem Phänomen und seinen unterschiedlichen literarischen Formen gerecht werden kann.40 Erst auf dieser Grundlage ist es möglich, ein Urteil darüber fällen, unter welchen Kriterien und aufgrund welcher Merkmale eine Schrift etwa in den Bereich einer anerkannten »Schulpseudepigraphie« einzuordnen ist,41 die keine Täuschungsabsicht verfolgt und bei der die Verwendung des Pseudonyms auf einen offenen Konsens zurückgeführt werden kann, oder ob es sich um eine literarische (z. B. romanhaft fiktive) Schrift42 oder ob es sich um eine Fälschung handelt, die notwendig auf die Täuschung der Adressaten etwa durch Echtheitsbeglaubigungen (z. B. Unterschriftsfälschung), persönlichen Angaben und dergleichen43 angewiesen ist, weil sie sonst nicht akzeptiert werden würde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei Schriften, nymität« und »symbolische Pseudonymität« hilft im Blick auf das Neue Testament nicht weiter, da die neutestamentlichen (mit den altkirchlichen) Pseudepigraphen generell unter der Rubrik »pseudepigraphische Pseudonymität« subsummiert werden, wobei es im Kontext innerkirchlicher Auseinandersetzungen darum ging, »diese Ursprungsnorm ihrer jeweiligen Gegenwart mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit zur Sprache zu bringen« und somit um die »authentische Bewahrung der identitätsstiftenden Tradition« (a. a. O., 664 f.). 36  Sint, Pseudonymität. Ein Problem bei Sint ist jedoch, dass er unter der Feststellung, religiöse Pseudepigraphie stelle ein besonders großes Problem hinsichtlich ihrer Legitimität dar (a. a. O., 159), zu deren Begründung ebenfalls eine nur hypothetisch zu behauptende geistliche Haltung »echter religiöser Ergriffenheit« unterstellen muss, so »daß von bewußter Täuschung keine Rede sein kann, ja daß ihm [sc. dem pseudonymen Autor] die moralische Wahrheitsfrage gar nicht erst zum Problem wird und er darum seine Entlarvung nicht befürchten konnte« (a. a. O., 163). 37  Speyer, Fälschung; vgl. Ders., Art. Fälschung, literarische; ders., Pseudepigraphie. 38  Der Begriff »innerneutestamentliche Pseudepigraphen« legt sich in diesem Zusammenhang aus literaturgeschichtlichen Gründen nahe, insofern auch außerneutestamentliche Schriften auf Grund ihrer literarischen »Ursprungsrelation« als »neutestamentliche« Apokryphen und Pseudepigraphen bezeichnet werden. 39  Eine Ausnahme ist bis zu einem gewissen Grad die Monographie von Baum, Pseudepigraphie, obwohl er dazu tendiert, Pseudepigraphie im Neuen Testament eher negativ zu beurteilen und daher versucht, die Echtheit der neutestamentlichen Pseudepigraphen zu plausibilisieren. Leider ist er in dieser Hinsicht an vielen Stellen nicht eindeutig genug und bemüht stattdessen gern die Kirchenväter (vgl. a. a. O., 148). 40 Vgl. Speyer, Fälschung, 311: »Wichtig ist, daß klare Begriffe angewendet werden. Schon die antiken Echtheitskritiker haben nicht deutlich genug zwischen Irrtum, Fälschung und literarisch gemeinter Erfindung unterschieden.« 41 Nach Speyer, a. a. O., 32–35, gehört dies zur »Pseudepigraphie außerhalb der Fälschung«, wobei die sog. »[m]ythische oder ›echte religiöse Pseudepigraphie‹« (a. a. O., 35) als eigene Kategorie innerhalb dieser Rubrik behandelt wird. Dieser Abschnitt fällt bei Speyer relativ kurz aus, da diese Art der Pseudepigraphie kein eigentliches Problem darstellt. 42  Vgl. a. a. O., 21–25. 43  Vgl. a. a. O., 44–84.

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die in einem offenen Konsens pseudepigraphisch entstanden sind, im Verlauf der Überlieferung und der Verselbständigung der offene Konsens keine Rolle mehr spielt und ursprünglich daran nicht beteiligte Kreise das Pseudonym nicht mehr als solches wahrnehmen und insofern gewissermaßen erst indirekt bzw. irrtümlich44 »getäuscht« werden. Das Vorhandensein einer ursprünglichen Täuschungsabsicht bzw. die Funktion der Täuschung machen also den Unterschied in der positiven oder negativen Beurteilung der jeweiligen Schrift aus.45 Darin aber liegt historisch das eigentliche Problem, da diese Absicht in der Regel nur schwer verifizierbar ist und hier schnell mit Unterstellungen (positiver wie negativer Art) gearbeitet wird, die ihrerseits wiederum von bestimmten Faktoren beeinflusst sind. Norbert Brox kommt das Verdienst zu, unter anderem Speyers Ergebnisse für die Beurteilung der neutestamentlichen Pseudepigraphie fruchtbar gemacht zu haben und damit wichtige Impulse für die weitere und differenzierte Beschäftigung mit diesem Phänomen im Bereich der neutestamentlichen Forschung gegeben zu haben.46 Vor allem auf die Notwendigkeit, die Frage nach dem geistigen Eigentum oder auch dem Begriff der Fälschung ernst zu nehmen, hat auch Brox deutlich hingewiesen. Allerdings hat sich im Ergebnis seiner Arbeiten eine Tendenz entwickelt, die zu den oben zitierten und angesichts der Forschungen in den 70er Jahren erstaunlich wenig differenzierten Auffassungen von neutestamentlicher Pseudepigraphie geführt hat. Das mag auch daran liegen, dass Brox speziell im Blick auf die Pastoralbriefe zwar gesehen hat, dass die literarische Gestaltung durch übermäßige persönliche Notizen ein Problem darstellt, dies aber dadurch abmildert, dass er – entgegen der Klassifikation von Speyer – die fiktiven Angaben zu einem »Kabinettstück« einer noch legitimen Pseudepigraphie erklärte: »Traditionen, Namen, Erinnerungen aus der Umgebung des Paulus und sicher auch ausgesprochene Erfindungen werden im pseudepigraphischen Paulusbrief zu sehr variablen Mitteln, das fiktive Dokument literarisch und sachlich so auszustatten, daß es erfolgreich wird. Die Pastoralbriefe stellen nach Programm und Vielseitigkeit der Ausführung innerhalb des Neuen Testaments diesbezüglich wohl das Kabinettstück dar.«47   Peter Trummer hat dies noch verschärft, um letztlich ebenfalls die Art der Pseudepigrpahie der Pastoralbriefe als »noch« legitim erscheinen zu lassen. Insbesondere der 2. Timotheusbrief zeige, dass und inwiefern »eine sich als legitim verstehende[.] ›kirchliche[.]‹ Pseudepigraphie« an ihre »Grenzen und (ihr) Ende« gekommen sei. Dies gilt sowohl hinsichtlich der zeitlichen wie sachlichen Entwicklung, aber auch der literarischen Durchführung: »Sie [sc. die Pastoralbriefe] treiben die Fiktion und literarische Form bis ins äußerste, sie betreiben ›totale Pseudepigraphie‹ und sind wohl überhaupt das ›Kabinettstück‹ einer ntl Pseudepigraphie.«48

44 

Vgl. a. a. O., 24.33. 94: »[…] die Täuschungsabsicht, die jenseits eines literarischen Zweckes liegt, (macht) ein Pseudepigraphon zur Fälschung.« 46  Vgl. bes. Brox, Verfasserangaben. 47  Brox, Verfasserangaben, 24; vgl. auch Trummer, Corpus. 48  Trummer, Corpus, 122–145 (129: alle Zitate); ähnlich Donelson, Pseudepigraphy, 55. Was hier noch als äußerste Möglichkeit akzeptabler Pseudepigraphie bezeichnet wird, avanciert 45 A. a. O.,

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I  Perspektiven der Forschung

  Solche Auffassungen sind zu vereinfachend, als dass sie dem Phänomen gerecht würden, denn die Merkmale, die Brox aufzählt, gehören alle in den Bereich der Fälschung, wenn sie denn tatsächlich unter dem Vorzeichen der Pseudepigraphie verstanden werden sollten. Brox selbst hat dies immerhin deutlich gesehen: »Der Autor [sc. der Pastoralbriefe, J. H.] führt seine Fiktion sehr überlegt und einfallsreich durch, das heißt, ihm liegt deutlich am Gelingen der Täuschung, um seinen Briefen ihre Wirkung zu sichern.«49 »Man kann nicht mit theologischen Motivationen darüber hinwegeilen, dass die sog. Past des Neuen Testaments […] vom literarischen Unternehmen her eine methodisch angelegte Täuschung, eine bewusste und künstlerisch raffiniert durchgeführte Autoritätsanmaßung darstellen.«50   Angesichts dieser Einsicht bleibt unklar, warum Brox an einem positiven Verständnis dieser Art von Pseudepigraphie festhalten konnte; dies war jedoch wirkungsgeschichtlich äußerst bedeutsam. Das Problem jedoch wird nicht einfach dadurch erledigt, dass man den Begriff der Fälschung vermeidet.   Ruben Zimmermann hat demgegenüber im Blick auf die Frage der neutestamentlichen Pseudepigraphie bereits wichtige Fragen gestellt und sehr zu Recht vereinfachende Lösungen als unzureichend bezeichnet.51 Allerdings wird auch in seiner knappen Darstellung deutlich, wie unzureichend vor allem die bereits erkannten Differenzierungen auf die Betrachtung der Pastoralbriefe angewendet wurden. Zimmermann konzediert selbst, dass etwa die für bestimmte neutestamentliche Pseudepigraphen (er nennt 2. Thessalonicherbrief, Kolosserbrief und Epheserbrief ) sinnvolle Kategorie der »imitativen Pseudepigraphie« im Schulkontext der Paulusschule52 gerade für die Pastoralbriefe nicht ausreicht.53 Sein Lösungsversuch der Beschreibung des »spannungsvolle[n] Zusammenhang[es] zwischen fiktiver und realer Briefkommunikation bei den Pastoralbriefen« entspricht der These Frenschkowskis, die Adressaten seien in Wirklichkeit als die Verfasser anzusehen: »Die auffällige Autorisierung des Adressaten (2 Tim 3,10 f.; 4,1–8), die jenseits der in den Briefen genannten Ämter liegt, könnte so letztlich der Selbstlegitimation des eigentlichen Verfassers dienen, der als Stellvertreter des Paulus beauftragt wurde und sich als solcher verstand. Die Pseudepigraphie könnte somit gerade als eine literarische Erfüllung dieses Stellvertretungsauftrags erklärt werden.«54   Auch hier gelten die Pastoralbriefe als eine kompositorische Einheit, und die Frage nach legitimer literarischer Fiktion und illegitimer Fälschung wird nicht mehr gestellt bzw. für die Pastoralbriefe einseitig und ohne Wahrnehmung der literarischen Eigenheiten zugunsten der legitimen literarischen Fiktion entschieden. In Verkennung der literarischen Gegebenheiten kann daher nun in deutlichem Gegensatz zum Urteil von Brox resümiert werden: »Die fiktive Verfasserangabe erfolgte nicht mit Täuschungsabsicht, vielmehr stand eine theologische Intention, eine bestimmte Rezeptionsabsicht im Vordergrund, bei der die gegenwärtige etwa bei Standhartinger, Studien, 54, zur am »kunstvollsten« durchgeführten »Imagination des fiktiven Absenders«. 49  Brox, Verfasserangaben, 178; anders wiederum Standhartinger, Studien, 55: »Dabei dienen die persönlichen Notizen nicht nur zur Beglaubigung der pseudepigraphen Briefe, sondern zur exemplarischen Demonstration der philosophischen bzw. theologischen Lehre (vgl. I Tim 1,16; II Tim 1,13, vgl. auch I Tim 4,12; Tit 2,7).« Die petitio principii ist nicht zu übersehen; die genannten Belege lassen gerade keinen Zusammenhang mit den (fiktiven) persönlichen Notizen erkennen. 50  Brox, Problemstand, 324; vgl. dazu Ellis, New Testament Documents, 324. 51  Zimmermann, Pseudepigraphie, 27 f. 52  In Anlehnung an Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule, sowie Theissen, Entstehung. 53  Zimmermann, Pseudepigraphie, 33. 54  A. a. O., 34.

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Gültigkeit der Botschaft zum Ausdruck gebracht werden sollte. […] In welchem Maße die Adressaten diese fingierte Kommunikation durchschauten, wird unerheblich, sofern sie die Relevanz eines traditionellen Textes für ihre gegenwärtige Situation anerkannten.«55   Das geht nicht nur nicht über bisherige Erklärungsversuche hinaus, sondern mutet den impliziten Adressaten der Pastoralbriefe etwas zu, was sie den Texten selbst beim besten Willen nicht entnehmen konnten, wenn sie die Fiktion nicht durchschauten.

Auch wenn bei Speyers Ansatz vielleicht manche Begriffe – insbesondere derjenige der sog. »Schulpseudepigraphie«  – weiter zu präzisieren wären, ist eine grundsätzliche Kritik an dessen Differenzierungen, wie sie etwa Angela Standhartinger vorgenommen hat,56 kaum angemessen. Speyers Nachweis der Vielfältigkeit des Phänomens sowie der Schwierigkeit einer Begründung im konkreten Fall darf keinesfalls zu der Schlussfolgerung führen, die leider oft daraus gezogen wurde, dass nämlich die bloße Verbreitung des Phänomens der Pseudepigraphie ihre selbstverständliche Legitimität und Akzeptanz einschließe.57 Man ist fast geneigt zu sagen, das Gegenteil sei der Fall: Die Akzeptanz und Legitimität pseudepigraphischer Schriften ist in bestimmten literarischen Genres unter literaturhistorischen Aspekten eher als eine Ausnahme anzusehen und erfordert ganz bestimmte Voraussetzungen.

2.  Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe – Die Entwicklung eines Paradigmas Nach der Erörterung grundlegender Aspekte im Blick auf die Beurteilung von Pseud­ epigraphie im Neuen Testament sei diesem Abschnitt folgende These vorangestellt: Die für den aktuellen Konsens58 charakteristische Beurteilung der Pastoralbriefe als eines pseud­epigraphisch verfassten Korpus dreier zusammengehöriger Schriften eines einzelnen Verfassers zum Zweck der Traditionssicherung und -weitergabe in (spät)nachapostolischer Zeit beruht auf einem idealistischen Paradigma des 19. Jahrhunderts, welches – angestoßen von Friedrich D. E. Schleiermachers Arbeit zum 1. Timotheusbrief59 – zunächst von Ferdinand Christian Baur60 entwickelt und schließlich von Heinrich Julius Holtzmann61 in der kritischen Forschung etabliert wurde.

55 

A. a. O., 35. Standhartinger, Studien, 30 f. 57  So zu Recht Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule, 249. 58  Über die Problematik, im Blick auf die Beurteilung der Pastoralbriefe von einem Konsens zu sprechen, vgl. Herzer, Abschied (in diesem Band 11–30). 59  Schleiermacher, Sendschreiben. 60  Baur, Pastoralbriefe. 61  Holtzmann, Pastoralbriefe. 56 

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I  Perspektiven der Forschung

2.1  Die Anfänge der pseudepigraphischen Beurteilung der Pastoralbriefe: Friedrich D. E. Schleiermacher und Ferdinand C. Baur Im Detail kann an dieser Stelle die komplexe Entwicklung dieses Paradigmas62 der neuzeitlichen Pastoralbriefinterpretation nicht vorgeführt werden, so dass einige Schlaglichter genügen müssen. Nachdem Johann Ernst Christian Schmidt (1772–1831) in seiner »Historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament« von 180463 m. W. zum ersten Mal in der deutschsprachigen kritischen Forschung64 Bedenken gegenüber der Echtheit des 1.  Timotheusbriefes geäußert hatte (die ihm allerdings nicht stark genug waren, entsprechende Konsequenzen zu ziehen), hat Friedrich Schleiermacher wenige Jahre später eine ausführliche Begründung dafür geliefert, indem er im Wesentlichen inhaltlich-stilistische Gründen geltend 62  Mit der Einführung des Begriffes »Paradigma« in diesem Zusammenhang soll zugleich auf die Notwendigkeit seiner Konkretion hingewiesen werden, die ihn zur Beschreibung eines Phänomens hinsichtlich seiner ideengeschichtlichen Verankerung geeignet machen; vgl. zum Problemfeld Kinzig/Leppin/Wartenberg, Historiographie, darin insbesondere Muhlack, Theorie, der darauf hinweist, dass jeder konkreten Geschichtsschreibung eine methodentheoretische Reflexion inhärent ist und dass umgekehrt jede Theoriebildung nicht losgelöst von konkreter historischer Arbeit geschehen darf. Der Begriff des Paradigmas, wie er von Thomas S. Kuhn Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, spielt dabei eine nicht unerhebliche Rolle (a. a. O., 25 f.). Mit Recht beklagt Muhlack, »dass sozusagen jeder thematische oder methodische Einfall als Paradigmawechsel daherkommt« (a. a. O., 26). Seine These in Bezug auf die Inflation von Paradigmenwechseln geht von Kuhns Klassifikation aus, dass jedes Paradigma eine Grundausrichtung der Forschung bedeutet, die konkrete Forschungsprozesse aus sich heraus setzt, »bis sie durch eine andere traditionsstiftende Leistung abgelöst wird« (a. a. O., 25, vgl. dazu Kuhn, Struktur, 28–43). Muhlacks These lautet daher: »Das für die gegenwärtige Geschichtswissenschaft maßgebliche Paradigma ist durch die Grundlegung der modernen Geschichtswissenschaft seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gegeben; sie hat einen Problemhorizont eröffnet, dem auch wir noch angehören« (a. a. O., 26). Dies wird man nicht grundsätzlich bestreiten können; die Frage ist aber, was sich daraus für konkrete – und fortschreitende – Forschungsprozesse ergibt. 63  Schmidt, Einleitung 259 f.; vgl. Engelmann, Untersuchungen, 11–14. 64  Van Nes, Origin, hat darauf hingewiesen, dass bereits 1792 Edward Evanson (1731–1805) die Authentizität (u. a.) des Tit bezweifelt hatte, weil er in mancherlei Hinsicht mit paulinischen Auffassungen nicht vereinbar sei, vgl. Evanson, Dissonance, 318–320 (Evanson hielt u. a. auch den Röm für pseudonym, a. a. O., 307–312). Abgesehen wird hierbei von Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen in der Alten Kirche; auch dort waren die Pastoralbriefe gelegentlich Gegenstand der Kritik. Zu nennen wäre hier die Nichtannahme der Pastoralbriefe durch Marcion, wobei der Negativbefund hier oft mit Unkenntnis erklärt wird, vgl. etwa die Äußerung Tertullians in Tert.Marc. 5,21; dazu Looks, Rezeption, 221–228; von Harnack, Marcion, 170*–172*, bezweifelt den Wert der Aussage Tertullians zu Marcion gänzlich; vgl. auch Schmid, Marcion, bes. 284–298. Nach dem Zeugnis des Hieronymus hat Tatian (ca. 120–173) einige Paulusbriefe verworfen und nur den Tit anerkannt, vermutlich weil Tatian als Anhänger der Enkratiten asketisch lebte und die Ehe ablehnte (vgl. dagegen 1 Tim 4,1–5; 5,3–16). Nur vermuten kann man daher, dass sich unter den abgelehnten Schriften auch der 1 und 2 Tim befanden, da Hieronymus nicht überliefert, welche Paulusbriefe Tatian ablehnte; vgl. dazu schon Baur, Pastoralbriefe, 137. In der Vorrede zu Hieronymus’ Kommentar über den Tit heißt es: »Aber Tatian, der Vater der Enkratiten, der auch selbst einige Briefe des Paulus verworfen hat, glaubte, daß dieser am allermeisten, das heißt, der des Apostels an Titus, verkündet, öffentlich gemacht werden muß; die Erklärung des Marcion und anderer, die mit ihm in dieser Frage übereinstimmen, achtete er gering« (PL 26,555, Übers. zit. nach Looks, a. a. O., 262).



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machte.65 Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) bezieht in seiner Einleitung von 181266 diese Sicht unter nunmehr historischen – nicht stilistischen – Gesichtspunkten auf alle drei Pastoralbriefe.67 Der »schwäbische Mustertheologe«68 Ferdinand Christian Baur war es dann, der in Abgrenzung von konservativ kirchlichen Gegentendenzen69 die sich in der kritischen Forschung durchsetzende und mehrheitlich nicht mehr hinterfragte Sicht der drei Briefe als pseudepigraphische Schreiben begründete, die als ein zusammengehörendes Ganzes zu behandeln seien. Den – wie er es nennt – »objektiven« Grund für die Unechtheit aller drei Briefe sah Baur in der Charakterisierung der Gegner als Gnostiker des 2. Jahrhunderts und verband dieses konkret mit der marcionitischen Gnosis.70 Darauf weist für Baur nicht nur die Erwähnung der »fälschlich so genannten Gnosis« in 1 Tim 6,20 hin, sondern die durchgängige Beschreibung der Gegner als gnostische Häretiker.71 Wenn die Gnosis ein Phänomen des 2. Jahrhunderts ist (darin hatte Baur gegen andere Auffassungen immerhin Recht!) und alle drei Briefe als Einheit verstanden werden müssen, dann müssen sie unter der gegebenen Voraussetzung aus dem 2. Jahrhundert stammen.72 Trotz der frühen Einwände von Richard Rothe (1799–1867), der die Gnosis bereits Mitte des ersten Jahrhunderts ansetzen und so die Echtheit der Pastoralbriefe verteidigen wollte,73 ist bis auf die Verortung der Gnosis im 2. Jahrhundert keine der Voraussetzungen Baurs überzeugend. Das betrifft vor allem die bis heute weithin 65 Vgl. Schweitzer, Geschichte, 6: »Eigentlich ist nicht der Kritiker, sondern der Aesthetiker Schleiermacher am I Tim. irre geworden.« 66  Eichhorn, Einleitung. 67 Vgl. Baur, Pastoralbriefe, 5 Anm. *, sowie die ausführliche Darstellung bei Johnson, First and Second Letters, 42–54. 68 Vgl. Reventlow, Epochen, 269. 69  Vgl. dazu Köpf, Baur, 447–450; sowie z. B. Baur, Erklärung (gegen Ernst Wilhelm Hengstenberg). Zu Hengstenberg als »einflußreichste[m] Vertreter der Neuorthodoxie in Deutschland« vgl. Reventlow, Epochen, 278–290 (Zitat 281). Die im Titel der Schrift von Baur erwähnte Evangelische Kirchenzeitung war ein Organ der Erweckungsbewegung, das Hengstenberg, der u. a. auch scharfsinnig »[d]ie Authentie des Pentateuch« (so der Titel eines zweibändigen Werkes von 1836–39) unter der Verfasserschaft des Mose erweisen wollte, im Kampf gegen den aufklärerischen Rationalismus instrumentalisierte; vgl. Reventlow, a. a. O., 281. 70  Vgl. dazu bes. Baur, Gnosis. Diese Arbeit und ihre These, die Pastoralbriefe von dem Phänomen der Gnosis her zu erklären, beruht auf Baurs im Anschluss an die Hegelianische Philosophie der Geschichte gewonnene Grundüberzeugung vom Urchristentum als einer sich in zwei Gegensätzen entwickelnden Bewegung, wie er sie in seiner programmatischen Schrift »Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde«, entwickelt hat. »Auf Grund der inzwischen gewonnenen Kriterien bestritt Baur für die Pastoralbriefe die Verfasserschaft des Paulus: Die antignostische Tendenz der Briefe verweise sie eindeutig in eine spätere Zeit. Die kleine Schrift [sc. über die Pastoralbriefe, J. H.] ist ein Musterbeispiel der sogenannten Tendenzkritik und ihrer historischen Absicht« (Scholder, Baur, 355). 71  Zur Interpretation der Pastoralbriefe vor dem Hintergrund der Gnosis vgl. Herzer, Juden – Christen – Gnostiker (in diesem Band 293–314). 72  Baur, Pastoralbriefe, 8–39; ders., Ursprung, 335 f. 73  Rothe, Anfänge. Vgl. dazu die monographische Replik von Baur, Ursprung. Zu Rothe vgl. Krötke, Selbstbewußtsein. Baumgarten, Aechtheit, hatte ebenfalls gegen Baur für die Echtheit der Pastoralbriefe argumentiert, allerdings wollte er gegen die Gnosistheorie in den Häretikern eine kabbalistische Art des Judentums sehen, vgl. dazu Baur, Pastoralbriefe, 337 f.

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I  Perspektiven der Forschung

anerkannte Hypothese, alle drei Briefe müssten als kompositorische Einheit verstanden und demzufolge auch als solche interpretiert werden. In dieser Hinsicht war für Baur die ausschließlich auf den 1. Timotheusbrief bezogene Argumentation Schleiermachers ohne »Haltpunkt«74, denn »wir bleiben mit dem Briefe, wie er ist, doch immer mehr oder minder in der Nähe des Apostels, und die Unmöglichkeit, daß er der Verfasser des Briefes sey, ist nicht so groß, daß die Voraussezung des Gegentheils ihr nicht auch wieder wenigstens Gleichgewicht halten könnte.«75

Baur räumt immerhin ein, bei aller Verwandtschaft der Pastoralbriefe könne »doch nicht geläugnet werden, daß es sich mit dem ersten dieser Briefe in kritischer Hinsicht im Ganzen auch wieder anders verhält, als mit den beiden andern, und der von Schleiermacher in Beziehung auf jenen geführte negative Beweis kann in Beziehung auf diese wenigstens nicht auf dieselbe Weise geführt werden.«76

Erst unter der Voraussetzung, dass alle drei Briefe zusammengehören, kann Baur auch den 2. Timotheus- und den Titusbrief als unecht erklären.77 Dennoch gilt: »Den sichersten Standpunkt für diese Untersuchung muß der erste Brief geben.«78

2.2  Die Voraussetzungen der Theorie Ferdinand Christian Baurs Baur ist der erste, der aus inhaltlichen und literarischen Gesichtspunkten die Pastoralbriefe als Einheit verstehen will und im Blick auf die Unechtheit aller drei Briefe von der erwiesenen Unechtheit des 1. Timotheusbriefes ausgehen muss, obwohl er die Unterschiede zwischen dem 1. Timotheusbrief auf der einen und dem 2. Timotheus- und dem Titusbrief auf der anderen Seite festhält. Eine wirklich überzeugende Voraussetzung oder gar Begründung für die Behauptung der Einheitlichkeit ergibt sich daraus allerdings nicht. Baur begründet die Einheitlichkeit auch nicht, sondern setzt sie als gegeben voraus, und dies ist dann auch in der Baur folgenden Forschung nicht infrage gestellt worden.79 Der Versuch, gegen diese kritischen Ansätze an der Echtheit der Pastoralbriefe festzuhalten oder diese gar zu erweisen, hat sich daher in der Regel auch auf alle drei Briefe bezogen, was freilich ebenso auf die fragwürdige Voraussetzung der Einheitlichkeit hinsichtlich der Verfasserschaft gründet.80 74 

Baur, a. a. O., 3. A. a. O., 4. 76 Ebd. 77 Ebd. 78  A. a. O., 5; vgl. auch a. a. O., 54. 79  Vgl. etwa Oberlinner, 1 Tim, XLII: »Da die Abfassung als zusammengehöriges Briefkorpus anzunehmen ist, ist die Frage nach der Reihenfolge der Entstehung der einzelnen Briefe kaum mehr zu klären und letztlich für die Interpretation belanglos.« 80  Dabei spielen dann zumeist historische Argumente eine entscheidende Rolle. Selbst Baur hielt Eichhorns historische Argumente gegen die Echtheit aller drei Briefe nicht für überzeugend, 75 



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Ein Problem der Entstehung von Baurs Theorie und ihrer späteren Rezeption ist, dass die Ergebnisse seiner historisch-kritischen Arbeit sehr deutlich unter dem Einfluss des Idealismus stehen, der  – verbunden mit den Namen Schelling und Hegel  – im 19. Jahrhundert die Entwicklung eines bestimmten Geschichtsbildes prägte, das unter dem Stichwort des so genannten »Historismus« nicht nur eine sich stetig entfaltende Idee von Geschichte zugrunde legte,81 sondern auch von dem »Ideal vermeintlicher Objektivität«82 ausging. Auch für Baur war diese Vorgabe maßgeblich, und das unter diesen Voraussetzungen gewonnene geschichtliche Bild der Gnosis war für ihn entscheidend für die Beurteilung der Pastoralbriefe.83 Es war kein Geringerer als der Harnack-Schüler Ernst Troeltsch, der Baurs Beeinflussung durch die Philosophie Hegels würdigte, indem er ihn mit von Harnack in eine gemeinsame Tradition der »großen idealistisch-historischen Denkweise der deutschen Philosophie und Historie vom Anfang des letzten Jahrhunderts«84 verortet und im Blick auf Baur festhält: »Baurs Werk ist gegründet auf die besondere Fassung des Entwicklungsgedankens in der Hegelschen Dialektik. Er stellt die Geschichte des Christentums als die Selbstentfaltung und Selbstbewegung der christlichen Idee und die christliche Idee selbst als den Höhepunkt der in der Universal- und Religionsgeschichte sich entfaltenden religiös-metaphysischen Idee überhaupt dar.«85 vgl. Baur, Pastoralbriefe, 5–7, Anm. *: »Ist alles dieß etwas anderes, als dieselbe Hypothesensucht, die Eichhorn an den Vertheidigern der Aechtheit dieser Briefe rügt […]?« 81  Zu Begriff, Grundlagen und Kritik des Historismus vgl. z. B. Murrmann-K ahl, Heilsgeschichte, bes. 75–204, der dengrundlegenden Anstoß Friedrich Nietzsches für die Kritik des Historismus herausstellt (a. a. O., 168–170; vgl. Nietzsche, Betrachtungen). Auch wenn der Traktat Nietzsches eher Ausdruck eines Lebensgefühls denn konkrete wissenschaftliche Kritik ist und es ihm vor allem um die Bedeutung des historischen Fragens für das gegenwärtige Leben geht und diese letztlich in Frage stellt, da bloßes historisches Wissen letztlich das Leben zerstöre und töte (vgl. a. a. O., 187), so bringt doch der scharfe – und sarkastische – Blick des Philosophen das Grundproblem auf den Punkt, was angesichts des Erscheinungsdatums 1874 durchaus erstaunlich ist: »Jene naiven Historiker nennen ›Objektivität‹ das Messen vergangner Meinungen und Taten an den Allerwelts-Meinungen des Augenblicks: hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Arbeit ist, die Vergangenheit der zeitgemäßen Trivialität anzupassen. Dagegen nennen sie jede Geschichtsschreibung ›subjektiv‹, die jene Popularmeinungen nicht als kanonisch nimmt. Und sollte nicht selbst bei der höchsten Ausdeutung des Wortes Objektivität eine Illusion mit unterlaufen? Man versteht dann mit diesem Worte einen Zustand im Historiker, in dem er ein Ereignis in allen seinen Motiven und Folgen so rein anschaut, daß es auf sein Subjekt gar keine Wirkung tut: man meint jenes ästhetische Phänomen, jenes Losgebundensein vom persönlichen Interesse, mit dem der Maler in einer stürmischen Landschaft, unter Blitz und Donner, oder auf bewegter See sein inneres Bild schaut und dabei seine Person vergißt. Man verlangt also auch vom Historiker die künstliche Beschaulichkeit und das völlige Versunkensein in die Dinge: ein Aberglaube jedoch ist es, daß das Bild, welches die Dinge in einem solchermaßen gestimmten Menschen zeigen, das empirische Wesen der Dinge wiedergebe. […] Dies wäre eine Mythologie, und eine schlechte obendrein […]« (a. a. O., 197 f., Hervorhebung J. H.). 82  Reventlow, Epochen, 270. 83  Vgl. a. a. O., 270 f. 84  Troeltsch, Adolf von Harnack, 283. Vgl. auch das euphorische Votum von ders., Historismus, 271, u. a. in Bezug auf die Namen Baur, Strauß, aber auch Ranke: »Daß die deutsche Historie die Welt das historische Denken gelehrt, dankt sie, wenn nicht Hegel selbst, so doch seiner Epoche, deren Quintessenz er ja nur zu systematisieren und zu rationalisieren versuchte.« 85  Troeltsch, Adolf von Harnack, 284. Vgl. weiterhin z. B. Bultmann, Theologie, 591–593;

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I  Perspektiven der Forschung

  Karl Bauer urteilt, Baurs Arbeiten zu den Paulusbriefen seien »gleichsam die Ausführung der in der ›Christuspartei‹ gegebenen Skizze. Der Semlersche Gegensatz zwischen Judaismus und Paulinismus war hier durch die Hegelschen Kategorien in Bewegung gesetzt zu einem dialektischen Prozeß, dessen einzelne Stadien durch die Schriften des Kanons bezeichnet waren.«86

Das Bemerkenswerte der Objektivitätsvorstellung Baurs ist einerseits, dass er sie anhand überaus wichtiger Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Geschichtsschreibung gewinnt, wie sie für den nachaufklärerischen sog. Historismus maßgeblich und für den Erkenntnisfortschritt der historischen Wissenschaften entscheidend waren und bis heute von ihrer grundlegenden Relevanz nichts verloren haben: »Seitdem es auch eine Kritik des Erkennens […] gibt […], muss auch Jeder, der nicht ohne alle philosophische Bildung zur Geschichte herankommt, wissen, dass man zwischen den Dingen, wie sie an sich sind, und wie sie uns erscheinen, zu unterschieden hat, und dass sie zu Erscheinungen für uns eben dadurch werden, dass wir nur durch das Medium unseres Bewusstseins zu ihnen gelangen können. Hierin liegt der grosse Unterschied zwischen der rein empirischen und der kritischen Betrachtungsweise, und die letztere, welche eben darum die kritische heisst, weil es ihre Aufgabe ist, was an den Gegenständen des geschichtlichen Erkennens entweder objektiv oder subjektiv ist, streng zu scheiden und ausein­anderzuhalten, will so wenig an die Stelle des Objektiven etwas bloss Subjektives setzen, dass ihr vielmehr alles daran gelegen ist, nichts, was nur subjektiver Natur ist, für die reine Objektivität der Sache zu halten; sie will nur mit geschärfterem Auge der Sache auf den Grund ihres Wesens gehen.«87

Andererseits aber ist diese Verhältnisbestimmung zwischen objektiver Geschichte und subjektiver Geschichtsschreibung verbunden mit jenem idealistischen, geschichtsphilosophisch geprägten Bild einer sich entwickelnden Geschichte, die für Baur einen »Standpunkt der Objectivität«88 bot und in deren Konsequenz Baurs sog. »Tendenzkritik« steht, die seine Beurteilung der biblischen Schriften  – und eben insbesondere der paulinischen Briefe – prägt. Durch die Verbindung mit der Gnosis können speziell die Pastoralbriefe dem authentischen Paulus bereits von ihrer inhärenten Tendenz nicht zugeschrieben werden. Baur hielt bekanntermaßen ohnehin nur vier Paulusbriefe für echt (Röm, 1 Kor, 2 Kor, Gal) und gab damit u. a. den Anlass für Bruno Bauers Echtheitskritik, der schließlich alle Paulusbriefe zu Fälschungen einer späteren Zeit erklärte.89 Ellis, New Testament Documents, 441 f.; ähnlich Reventlow, Epochen, 269–278, der den Einfluss der idealistischen Philosophie Schellings auf Baur besonders hervorhebt. 86  Bauer, Baur. Vgl. weiterhin auch Scholder, Baur als Historiker; ders., Baur; ders., Ursprünge; Köpf, Geschichtsbetrachtung; ders., Baur; Nowak, Christentum, 26–36. Unter der Überschrift »Die Kirchengeschichte als Verwirklichung der ›Idee‹ der Kirche« behandelt Meinhold, Geschichte, 170–195, die Voraussetzungen und Bedingungen des historischen Urteils Baurs. 87  Baur, Lehrbuch, VIIf.; vgl. auch ders., Epochen, 3: »Die geschichtliche Darstellung scheint daher hier nur die einfache Aufgabe zu haben, dem objektiv gegebenen Gange zu folgen, um alles so aufzufassen und zusammenzustellen, wie es der Objektivität der Sache selbst entspricht.« 88  Baur, Gnosis, 668 f. 89 Vgl. Bauer, Kritik.

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Der »positive« Konstruktivismus, auf den Baurs Vorstellung von objektiver Geschichtsdarstellung zurückgeht, gründet – das hat Klaus Scholder gezeigt – in Barthold Georg Niebuhrs Überlegungen zum Verhältnis von (»negativer«) Quellenkritik und (»positiver«) Konstruktion: »[…] die Trennung der Fabel, die Zerstörung des Betrugs, mag dem Kritiker genügen […]. Der Historiker aber bedarf Positives: er muß wenigstens mit Wahrscheinlichkeit Zusammenhang und eine glaublichere Erzählung an der Stelle derjenigen entdecken, welche er seiner Überzeugung opfert.«90

Als Ziel dieses Konstruktivismus bestimmt Scholder »das reine und wahre Bild der Geschichte«91, das den sog. Historismus und eben insbesondere auch Baur bestimmt, wofür Scholder die aus seiner Sicht negative Bestimmung als »Positivismus« für ungeeignet hält, dem historischen Bemühen um die Darstellung geschichtlicher Gesamtzusammenhänge gerecht zu werden, allerdings nicht ohne selbst einem gewissen Idealismus das Wort zu reden.92 Natürlich ist auch die Behandlung der Pastoralbriefe bei Baur diesem Paradigma verpflichtet.93 In vielen Bereichen der neutestamentlichen Forschung ist die Problematik dieser Anfänge der historisch-kritischen Forschung erkannt und folgerichtig modifiziert und revidiert worden – ohne dass damit die grundlegenden Verdienste dieses kritischen Aufbruches zu leugnen wären.94 Hinsichtlich der Frage nach der neutestamentlichen Pseudepigraphie im Allgemeinen und den Pastoralbriefen im Besonderen steht dieser – wenn man so will »postmoderne« – Paradigmenwechsel noch aus.

2.3  Heinrich Julius Holtzmanns Verständnis der Pastoralbriefe Baurs grundlegende Sichtweise der Pastoralbriefe ist dann durch den in liberaler Tradition stehenden Exegeten Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910; sein wohl bekanntester Schüler war Albert Schweitzer95) endgültig in der Forschung eta90 

Niebuhr, Geschichte, IXf., zit. nach Scholder, Baur als Historiker, 438. Scholder, ebd. 92  A. a. O., 439–442; im Anschluss an Wilhelm von Humboldt und Leopold Ranke hält Scholder an der Bedeutung der Vorstellung von der »›Idee‹ hinter allem Geschehen« fest. 93 Vgl. Baur, Pastoralbriefe, IV; sowie zu Recht Scholder, Baur als Historiker, 446 f., immerhin nicht ohne darauf hinzuweisen, dass zumindest andere Eingriffe in die Überlieferung »zum Teil zweifellos über das Ziel hinausschießen« (a. a. O., 447). Die damit verbundene Aufgabe der Vorstellung von einer Heilsgeschichte, die Scholder als wesentliches Problem ansieht, spielt für unseren Zusammenhang im Blick auf die Pastoralbriefe keine Rolle, vgl. dazu auch Reinmuth, Historik, 11–16, unter der Überschrift: »Das Scheitern der Heilsgeschichte«. 94 Vgl. Schröter, Historizität; ders., Wissenschaft. Vgl. auch ders., Konstruktion, 217–219, im Blick auf den konstruktivistischen Charakter von Geschichte: »Jede historische Konstruktion ist vielmehr [sc. gegen Droysen] ein hypothetischer, falsifizierbarer Entwurf, Wirklichkeit zu verstehen, historische Wahrheit deshalb eine regulative Idee, der sich diese Entwürfe anzunähern suchen« (a. a. O., 219). Vgl. auch insbesondere Reinmuth, Historik, 35–47. 95 Vgl. Reventlow, Epochen, 297. 91 

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bliert worden.96 In seinem zu einem Standardwerk gewordenen Kommentar über die Pastoralbriefe von 1880 hat Holtzmann erneut sprachlich-stilistische Untersuchungen als Hauptgrund ausgewiesen und der historischen Problematik nur eine zweitrangige Rolle zuerkannt.97 Holtzmann hat damit zwar einerseits das idealistische Geschichtsparadigma Baurs in gewisser Weise relativiert.98 Andererseits aber wird aus dem Kommentar – trotz seines exegetischen Feingespürs im Detail – der eigentliche Grund für die Berechtigung der pseudepigraphischen Beurteilung der Pastoralbriefe unmissverständlich deutlich und dieser ist nicht minder Zeichen eines ungebrochenen idealistischen Geschichtsbewusstseins, das demjenigen Baurs nicht nachsteht: »Man trete an unsere Briefe heran, unmittelbar nach einer gründlichen Lectüre der Römer-, Galater- oder Korintherbriefe [nota bene: das ist der ›paulinische Kanon‹ Baurs! J. H.], und das plötzlich veränderte, bedeutend niederer gestellte Niveau der ganzen Denkart wird sich unabweisbar geltend machen. Zwar kennt man das Horazische Quandoque bonus dormitat Homerus, man weiss auch, dass Göthe neben Faust zuweilen ›Quark‹ producirt hat. Aber bei einem so stark ausgeprägten originalen Geiste wie Paulus erwartet man mit Recht in allen grösseren Auslassungen, die er schriftlich fixirte, ›seines Geistes einen Hauch zu verspüren‹. Ein Mann, welcher von der Ursprünglichkeit seines inneren Gehaltes selbst ein so bestimmtes Bewusstsein verräth (Gal. 1,11 f. 2,2 f. 2 Kor. 4,2. 11,4), wird Allem, was er in irgend einer Weise amtlich oder beruflich schreibt, auch den unverkennbaren Stempel seines Geistes aufdrücken. Nun braucht man aber noch keineswegs der Ansicht Schwabʼs zu sein, dass nur leeres Stroh in den Pastoralbriefen stecke, um die auch von ihm concedirten ›Glanzstellen‹ doch als secundären Charakters, als Nachwirkungen paulinischer Lectüre zu recognosciren

96 Vgl. Bauer, Baur, 819: Gegenüber Baur wies »Karl Hase (›Die Tübinger Schule. Sendschreiben an Herrn Dr. von Baur‹, 1855) mit Recht auf die von B. verkannte Spannung zwischen Idee und historischer Wirklichkeit hin. Doch haben Männer wie Hausrath, H. J. Holtzmann, Keim, O. Pfleiderer, Weizsäcker u. a. in veränderter Form die Tübinger Position verteidigt.« 97  Holtzmann, Pastoralbriefe, 84–118. Die Hochschätzung Baurs bei Holtzmann – trotz kritischer Bemerkungen im Detail – lässt sich klar zeigen; vgl. z. B. a. a. O., 9 f., wo zugleich eine illustre Schar von Kollegen genannt wird, in deren Reihe sich Holtzmann offenbar sieht: »Der eigentliche Begründer des kritischen Urtheils ist aber Baur in einem glänzend geschriebenen Werke, das zugleich für den damaligen Uebergangsstand seiner theologischen Ueberzeugungen ausserordentlich bezeichnend ist und von Hengstenberg sogleich als Prolog zur Verleugnung aller Paulusbriefe charakterisiert wurde […]. Seither ist die Unechtheit der Pastoralbriefe nicht blos in der älteren und eigentlichen Tübinger Schule eine ausgemachte Sache gewesen […], sondern auch Bruno Bauer, Hilgenfeld, Ewald, Mangold, Meyer […] Schenkel, Hausrath, Pfleiderer, Pierson, Renan, Immer, Beyschlag, Bahnsen sind demselben Urtheil beigetreten.« Baur ist übrigens auch der erste Autor, der im Kommentar Holtzmanns zitiert wird (a. a. O., 2). Die von Holtzmann präsentierte Forschungsgeschichte zeigt, dass kaum eine der bis heute vertretenen Positionen wirklich neu ist, sondern die gedanklichen Konstruktionen bereits im 19. Jahrhundert alle Möglichkeiten von Kritik und Gegenkritik und ihren jeweiligen Begründungszusammenhängen abgeschritten haben. 98 Vgl. Reventlow, Epochen, 297 f., der jedoch ausdrücklich den maßgeblich von Leopold von Ranke vertretenen »Historismus« als zeitgenössische Vorgabe festhält, dessen Grundprinzip die Frage nach der größtmöglichen Objektivität gewesen sei (zu »zeigen, wie es eigentlich gewesen« [R anke, Werke, VII]). Dazu Reventlow, Epochen, 297 f.: »Der Glaube an eine in der Geschichtswissenschaft erreichbare Objektivität – heute wissen wir, daß sie eine Illusion war – beherrschte von da an das gesamte 19. Jahrhundert.«



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und zu finden, dass in Bezug auf Gewicht des Gehaltes, Grossartigkeit und Geschlossenheit des Gedankenganges selbst die zweifelhaften Paulinen hoch über jenen stehen.«99

Die Pastoralbriefe reichen nach Holtzmann an die hohe Theologie eines Paulus nicht heran, sie ermangeln, des »Stempels seines Geistes« und würden die geschichtliche Größe des Apostels relativieren, ja regelrecht zunichte machen, würde man sie ihm zuschreiben wollen. Über die Frage der Legitimität der Fiktion reflektiert Holtzmann nicht mehr. Auf die relative Berechtigung seiner Einschätzung wird am Schluss zurückzukommen sein.

2.4 Zwischenbilanz Die Wirkung Holtzmanns auf die nachfolgende Forschung über die Pastoralbriefe ist evident und braucht nicht nachgewiesen werden.100 Dem im 19. Jahrhundert entwickelten Paradigma der Interpretation der Pastoralbriefe, dessen Entstehung forschungsgeschichtlich aufgezeigt werden kann, liegt nicht nur ein bestimmtes Verständnis von Geschichte im Allgemeinen zugrunde, sondern auch ein Verständnis von der Geschichte des frühen Christentums und der Entstehung seiner Literatur im Besonderen  – vom Einfluss binnenkirchlicher und konfessioneller Auseinandersetzungen auf die wissenschaftliche Diskussion101 und schließlich auch der Dimension der Wissenssoziologie102, wie sie bereits in dem Eingangszitat bei von Harnack unmissverständlich zum Ausdruck kommt, ganz zu schweigen. Die Folgezeit ist bis in die Gegenwart geprägt von dem Versuch, dieses idealistische Paradigma der Beurteilung der Pastoralbriefe – seine nicht mehr zu hinterfragende Gültigkeit und Berechtigung voraussetzend – auf unterschiedlichste Weise unter Rückgriff auf ebenso idealtypische Anschauungen von Pseudepigraphie zu begründen. Erst in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es – wie oben gezeigt  – neue Impulse in der Pseud­epigraphieforschung, die jedoch nicht oder nicht konsequent dazu geführt haben, die Voraussetzungen jenes Paradigmas der Pastoralbriefinterpretation auf ihre Berechtigung und ihren Sinngehalt erneut zu prüfen. Die grundlegende Kritik an den Voraussetzungen eines forschungsgeschichtlichen Paradigmas muss sich in der konkreten Auseinandersetzung mit den infrage 99  Holtzmann, Pastoralbriefe, 60 f. Holtzmann notiert es zwar nicht ausdrücklich, aber die als Zitat markierte Bemerkung, alle größeren Auslassungen des Paulus müssten »seines Geistes einen Hauch verspüren« lassen, ist wahrscheinlich dem Gedicht »Betran de Born« des schwäbischen Romantikers Johann Ludwig Uhland entlehnt, dessen letzte Zeile lautet: »Weg die Fesseln! Deines Geistes hab’ ich einen Hauch verspürt« (Uhland, Bertran, 345). 100 Vgl. Merk, Holtzmann, 521; Engelmann, Untersuchungen, 24–29. 101  Das beginnt bereits mit den Reaktionen auf Schleiermachers Arbeit zum 1 Tim; die harsche Kritik, die Baur seitens konservativer kirchlicher Kräfte entgegenschlug, hat u. a. seine Berufung nach Halle verhindert, vgl. Scholder, Baur, 356. 102  Zu Begriff und Methode der Wissenssoziologie, die sich mit den sozialen Voraussetzungen und Prozessen des Wissens bzw. der Konstruktion von Wirklichkeit befasst, vgl. Lampe, Wirklichkeit, bes. 63–65; ders., Annäherung; Kreinath, Wissenssoziologie.

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stehenden Texten erweisen. Es muss einsichtig gemacht werden, in welche Aporien die auf dem Paradigma beruhenden Erklärungsversuche führen und welche positiven Möglichkeiten sich unter anderen Voraussetzungen ergeben können. Das ist in einem solchen Rahmen natürlich nur begrenzt möglich, so dass materialiter im Folgenden exemplarische Hinweise genügen müssen. Speziell im Blick auf die Pseud­ epigraphie der Pastoralbriefe hat sich bereits abgezeichnet, dass die zur Diskussion stehenden grundlegenden Alternativen nicht tragfähig sind, weder die Behauptung einer unproblematischen und legitimen pseudepigraphischen Abfassung der drei Briefe, noch die pauschale Annahme der bewussten und damit konsequenter Weise illegitimen Fälschung, noch die diesen beiden entgegengesetzte Behauptung der authentischen paulinischen Verfasserschaft. Die Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit der Begründungsversuche in die eine wie die andere Richtung ist daher zunächst einmal Indikator des offensichtlichen Problems, den Charakter der Pastoralbriefe nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu begründen. Dieses Problem ist der Grund dafür, dass es bisher zu keinem inhaltlichen Konsens in der Beurteilung der Pastoralbriefe kommen konnte, insbesondere hinsichtlich der Intention und Absicht der pseudepigraphischen Schreiben, der Begründung der Wahl der literarischen Gestaltungsmittel sowie nicht zuletzt der Profilierung der Adressaten und deren Situation. Es nützt daher auch wenig, die Plausibilität des jeweils entworfenen Gesamtbildes zu optimieren. Wenn das Vorzeichen stimmt, ist alles plausibel zu machen – vorausgesetzt, man stimmt dem gesetzten Vorzeichen zu. Entscheidend für die Plausibilität historischer und literaturhistorischer Rekonstruktionen ist also stets die intersubjektive Verständigung (um nicht zu sagen: Einigung) über die zugrunde liegenden und als gültig anerkannten Voraussetzungen sowie über die Frage, welche Schlussfolgerungen daraus legitimerweise gezogen werden können.

3.  Konkretisierung der Kritik Eine umfassende Bearbeitung der relevanten Aspekte, die für eine differenzierte Beurteilung der Pastoralbriefe notwendig wären, ist an dieser Stelle nicht zu leisten.103 Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass eines der größten Probleme für die gegenwärtige Interpretation der Pastoralbriefe die Hypothese eines dreifachen Briefkorpus ist, wie es seit Holtzmann die Forschung beherrschte104 103  Dabei muss im Vordergrund stehen, das je eigene Profil der drei Briefe so präzise wie möglich herauszuarbeiten, um sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede angemessen interpretieren zu können und sie nicht zugunsten einer bestimmten Theorie entweder zu nivellieren oder übermäßig zu betonen. Verwiesen sei daher auf folgende Versuche, dies an zentralen Punkten durchzuführen, vgl. Herzer, Geheimnis (in diesem Band 381–405); ders., House of God (in diesem Band 273–291); ders., Juden – Christen – Gnostiker (in diesem Band 293–314). 104 Vgl. Holtzmann, Pastoralbriefe, 53: Die Pastoralbriefe seien »unzertrennlichere Drillinge, als Epheser- und Kolosserbrief Zwillinge sind«.



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und in neuerer Zeit wirkungsvoll von Peter Trummer etabliert wurde.105 Mit dieser Korpus-Hypothese ist nicht nur das nur spekulativ zu beantwortende Problem der Dreizahl der Briefe verbunden. Unter der Voraussetzung einer bewussten Komposition eines Corpus pastorale106 durch einen einzelnen Autor ist darüber hinaus notwendig vorausgesetzt, dass er mit dieser Komposition eine bestimmte Abfolge der Schriften und somit einen bestimmten Rezeptionsvorgang im Blick hatte. Es muss daher nicht nur plausibel gemacht werden, warum es drei Schriften an zwei Adressaten sind, sondern auch, warum es drei so unterschiedliche Schriften sind, wobei zwei  – 1. Timotheus- und Titusbrief  – dann auch wieder vom zumeist vorausgesetzten Anliegen her, nämlich der Etablierung von Gemeindestrukturen, unter der Korpus-These sehr nahe beieinander liegen und in ihrer Grundidee nicht kohärent sind. Weiterhin bleibt strittig, in welcher Weise diese drei Schriften gelesen werden sollen, damit die dem Autor zu unterstellenden Absichten nicht nur deutlich werden, sondern auch ihre Wirkung entfalten; ganz abgesehen von der Frage, wie unter diesen Voraussetzungen für die (im Blick auf die Verfasserschaft getäuschten!) Rezipienten erkennbar werden soll, worauf der Verfasser hinaus will. Im Folgenden sollen zwei Aspekte herausgegriffen werden, die über die Interpretation einzelner Topoi hinausgehend für die pseudepigraphische Beurteilung der Pastoralbriefe stets eine wichtige Rolle gespielt haben und nach wie vor spielen. Im Ergebnis  – soviel sei hier bereits gesagt  – werden diese Überlegungen die anderweitig bereits mehrfach begründete These unterstützen, dass die Pastoralbriefe nicht sinnvoll als einheitliches Briefkorpus interpretiert werden können und dieses Interpretationsparadigma aufgegeben werden muss. Die differenzierte Wahrnehmung der formalen literarischen, der sprachlichen und der inhaltlichen Unterschiede legen vielmehr nahe, jeden Brief individuell zu betrachten, um auf dieser Grundlage eine neue Verhältnisbestimmung vorzunehmen und die Frage nach Pseudepigraphie und Authentizität neu zu stellen.

3.1  Der Ertrag gattungskritischer Beobachtungen zur Plausibilisierung der Pseudepigraphie der Pastoralbriefe Als bedeutendes Problem für die Interpretation der Pastoralbriefe stellt sich die Frage nach der Gattungsbestimmung und ihres Einflusses auf die Gesamtbeurteilung der Briefe. Sieht man in den Pastoralbriefen ein pseudepigraphisch abgefasstes Korpus, dann bekommt die Bestimmung der zu dieser literarischen Komposition gewählten Gattung bzw. die Kombination verschiedener Gattungen ein umso größeres Gewicht, da damit zugleich gemäß der von Speyer erarbeiteten Kriterien (s. o.) die konkrete literarische Gestaltung und somit die Art der pseud­ epigraphischen Fiktion plausibel gemacht werden muss. 105  Trummer, Paulustradition, 73 f.; Ders., Corpus; vgl. aber bereits Barnett, Paul, 222.251; Houlden, Epistles, 18 f. 106  Vgl. dazu von Lips, Sprachschöpfung.

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Die Frage nach der Briefgattung und nach der konkreten Gestaltung der formalen Gattungsmerkmale gehört zu den kompliziertesten Problemen nicht nur der Pastoralbriefe, sondern antiker Briefe überhaupt. In der Forschung besteht Einigkeit darüber, dass auch in antiken Briefen Echtheit oder Unechtheit anhand der Gattungsbestimmung oft schwer oder gar nicht zu entscheiden sind.107 Schon die Zuordnung einzelner Briefe zu Einzelgattungen oder Gattungen von Sammlungen ist mitunter problematisch. David Trobisch unterscheidet – etwas vereinfachend108 – zwischen Einzelbrief und redaktionellen Briefsammlungen, wobei er für letztere den Vergleich mit literarischen Briefsammlungen für entscheidend hält.109 Erst die Briefsammlung erlange literarischen Charakter, weil sie ursprüngliche Privatbriefe (mit Überarbeitungen) einem größeren Publikum zugänglich mache und so die Briefe ihren privaten Charakter verlieren.110 Die Frage wäre, was daraus für die Beurteilung des einzelnen Briefes im Blick auf seine Echtheit – und damit eben auch im Blick auf seine Interpretation – folgt. Werden Briefe gesammelt und ediert, kommen kleinere Ergänzungen zum gesammelten Bestand, aber auch neue und damit pseudepigraphisch verfasste Briefe hinzu.

Doch nach welchen Kriterien kann im Blick auf eine derartige Zusammenstellung von Einzelbriefen eine Unterscheidung zwischen echt und unecht vorgenommen werden? Welche Funktion kommt dabei der Bestimmung von Gattungen zu? Gibt es vielleicht sogar Aspekte, die im Rahmen einer solchen Sammlung in Abhängigkeit vom Kontext und der Intention der Sammlung die Notwendigkeit einer Unterscheidung in echt und unecht obsolet werden lassen bzw. zumindest relativieren, z. B. bei der Sammlung in einem relativ geschlossenen Schulkontext? Gerade dies wäre für die Pastoralbriefe eine interessante Frage, wobei freilich präzise nach der Art der Durchführung, also formkritischen Kriterien gefragt werden muss. Darüber hinaus ergibt sich mit der Voraussetzung eines Wachstums von Briefsammlungen bereits die Möglichkeit, innerhalb einer solchen Sammlung zwischen echten und unechten Briefen zu unterscheiden, was auch für die (Unter-)Gruppe der Pastoralbriefe nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann.

3.2  Die Pastoralbriefe und die antike Brieftheorie Bei der Beurteilung solcher formaler Aspekte kann man sich zunächst nach den Kriterien antiker Brieftheoretiker richten, die für bestimmte Briefgattungen konkrete Merkmale formulieren. Wie solche Kriterien im Einzelnen  – z. B. die Verwendung formaler Stereotypen und Floskeln – aussehen, hat Abraham Malherbe in einer kleinen Studie anschaulich gemacht.111 Man kann damit rechnen, dass ein pseud­epigraphisch schreibender Verfasser sich nach solchen Kriterien richtet und daran erkennbar ist. Das wird etwa bei den Pastoralbriefen im Blick auf die persönlichen Notizen vorausgesetzt. Doch ist diese Voraussetzung, dass sich ein 107  Zum Ganzen vgl. z. B. Berger, Gattungen, 1031–1432; Klauck, Briefliteratur; Ellis, New Testament Documents, 50 f. 108 Vgl. Ellis, New Testament Documents, 50. 109  Trobisch, Entstehung, 85–88. 110  A. a. O., 88. 111  Malherbe, Theorists.



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pseudepigraphischer Autor nach gewissen Regeln verhält, tatsächlich selbstverständlich? Ein solches Kriterium ist bei Weitem nicht differenziert genug, weil es nicht berücksichtigt, dass brieftheoretische Kriterien natürlich auch für »echte« Briefe gelten, d. h. auch authentisch abgefasste Briefe Stereotypen, Floskeln und nicht zuletzt  – je nach Brieftyp  – auch persönliche Elemente enthalten.112 Es ist daher fraglich, ob aus der – noch dazu stets unsicheren – Gattungsbestimmung überhaupt Anhaltspunkte für die Begründung pseudepigraphischer Fiktion gewonnen werden können. Malherbe hat darüber hinaus auf die notwendige Unterscheidung zwischen aktueller Praxis des Briefeschreibens und antiker Brieftheorie aufmerksam gemacht. Man müsse sorgfältig unterscheiden zwischen »echten« Briefen, die ohne fiktiven Hintergrund aus aktuellem Anlass geschrieben werden und sich meist unbewusst und selbstverständlich brieflicher Stilelemente bedienen, woraus sich dann auch Mischformen verschiedener Gattungsmerkmale erklären, und literarisch konzipierten Briefen, für die nicht nur fiktive Elemente konstitutiv sind, sondern die in viel höherem Maße brieftheoretische Kriterien reflektieren und vor allem auch stilistisch variieren.113 Im Blick auf die Frage nach Pseud­onymität oder Authentizität ist daraus jedoch noch nichts abzuleiten und erst recht nicht zu begründen. Dabei beeinflusst der rhetorische bzw. im weiteren Sinne kulturelle Bildungsstand des Verfassers den Grad der brieftheoretischen Reflexion. Auch konkrete inhaltliche Anliegen können zu stilistischen Brüchen führen, so dass oft kaum eindeutig zu entscheiden ist, ob ein literarischer bzw. literarisch fingierter, ein gefälschter oder ein aktueller authentischer Brief vorliegt. Hinzu kommt weiterhin  – wie bereits angedeutet – die notwendige Unterscheidung zwischen literarischen Einzelbriefen und literarischen Briefsammlungen, die wiederum eigenen Kriterien unterliegen, an denen auch die Pastoralbriefe als pseudepigraphisch konzipierte Briefsammlung von drei Briefen gemessen werden müssten  – wenn man sie denn unter diesem Vorzeichen betrachten will. Diese Überlegungen deuten an, wie komplex die Beurteilung der Pastoralbriefe im Rahmen antiker Brieftheorie und -praxis tatsächlich ist und dienen daher zunächst nur zur Präzisierung der Problembeschreibung. Die Komplexität des Problems führt oft zu einseitigen und dadurch wenig brauchbaren Bestimmungen sowohl des einzelnen Briefes wie des dreifachen Korpus, wie etwa der Versuch Alfons Weisers zur Gattungsbestimmung des 2. Timotheusbriefes zeigt: »So führt die Untersuchung der Form- und Gattungsmerkmale zu dem Ergebnis, dass 2 Tim ein testamentarisches Mahnschreiben in Form eines Freundschaftsbriefes ist, dessen hauptsächlich symbuleutischen Ausdrucksformen auch epideiktische zugeordnet sind.«114

112  Vgl. dazu vor allem Berger, Gattungen, 1132–1138. Berger weist besonders auf das Vorbildmotiv als Kennzeichen echter Briefe hin (a. a. O., 1134 f.). 113  Malherbe, Theorists, 4, im Blick auf das »Handbuch« Τύποι Ἐπιστολικοί des Ps.-Demetrios von Phaleron (zwischen 200 v.  Chr. und 300 n.  Chr.): »The exact relationship of this manual to the actual practice of letter writing is difficult to determine.« 114  Weiser, 2 Tim, 44 (Hervorhebungen J. H.).

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Demgegenüber werden die Gattungen des 1. Timotheus- und des Titusbriefes zumeist mit den sogenannten mandata principis verglichen, d. h. autoritativen Mandatsbriefen aus dem Kontext politisch-ideologischer Machtausübung,115 wobei auch dies in seiner Bedeutung für die Frage nach der Pseudepigraphie umstritten bleibt. Was soll damit gesagt bzw. begründet sein? Welche Bedeutung hat diese unterschiedliche Bestimmung für die Beurteilung eines mutmaßlichen Corpus pastorale (Trummer)?116 Nach dem Maßstäben antiker Brieftheorie könnte man auch sagen: Es handelt sich bei den Pastoralbriefen (sowohl bei den je einzelnen wie auch im Korpus insgesamt) um einen schlechten Stilmix, wie dies etwa Margaret Mitchell formuliert hat: »[…] the Pastorals are an odd mix of the personal and the public, of church order and personal exhortation, of instruction and command, of the particular and the general.«117 Der pseudepigraphische Charakter der Pastoralbriefe lässt sich daher anhand von Gattungsmerkmalen ohne weiteres weder entscheiden noch begründen, zumal dabei auch die dreifache Verhältnisbestimmung zwischen Gattung des einzelnen Briefes, dem dreiteiligen Korpus sowie dessen Verortung im Kontext der Paulusbriefsammlung zu klären wäre. Wenn man darüber hinaus der These von Peter Trummer folgen will, wonach die Pastoralbriefe als Abschluss einer Neuedition des Corpus Paulinum verfasst wurden,118 wird die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung noch deutlicher. Entsprechend Trummers These könnten sie nämlich – und das ist vielfach getan worden – zunächst unabhängig von der Form des einzelnen Briefes als dreiteiliges Korpus formal der Gattung der antiken Briefsammlungen zugeordnet werden, von denen einige auch mit pseudepigraphischen Material erhalten sind, so z. B. die Sokrates- und Sokratikerbriefe, die Platonbriefe, die Briefe des Cicero, bzw. auch der Gattung des Briefromans, zu der etwa die Briefe Alexanders des Großen oder die Chionbriefe gerechnet werden. Innerhalb der christlichen Tradition wäre hier etwa der Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca (ca. 4. Jh.)119 zu nennen.

3.3  Die Pastoralbriefe und der antike Briefroman Insbesondere Richard I. Pervo hat versucht, die Pastoralbriefe auf dem Hintergrund der Gattung des antiken Briefromans zu verstehen und damit deren legitimen pseudepigraphischen Charakter zu begründen.120 Auch wenn man prinzipiell be115 Vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 164 f.; Johnson, First and Second Letters, 139 f. Die Inanspruchnahme des Tebtunis Payprus Nr. 703, der Anweisungen eines ägyptischen Beamten an einen Untergebenen enthält, für die Identifizierung des Genres von 1 Tim durch Johnson ist von Mitchell, Genre, 344–370, einer grundlegenden Kritik unterzogen worden: P.Tebt. III 703 sei kein Brief und daher für den Vergleich mit den Pastoralbriefen ungeeignet (a. a. O., 362.368; vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 163.169 f.). Vgl. dazu Herzer, Papyri (in diesem Band 99–124). 116  S. u. 117  Mitchell, Genre, 344. 118  S. o. 119 Vgl. hierzu Fürst u. a., Briefwechsel; Fürst, Pseudepigraphie; Römer, Briefwechsel; sowie Krauter, Pseudepigraphie. 120  Vgl. dazu Pervo, Romancing, der die Parallelen zwischen den Pastoralbriefen und antiken



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zweifeln kann, ob die Pastoralbriefe – wie dabei notwendig vorausgesetzt werden muss! – tatsächlich als Briefkorpus verfasst wurden (s. u.) und ob es eine in der Antike eine Gattung »Briefroman« überhaupt gab,121 nennt Pervo als deren spezifische Merkmale: Pseudonymität, historische Verankerung, Ausrichtung auf bestimmte Charakterzüge, philosophische bzw. moralische Absicht, Integrität und Kohärenz der Sammlung sowie, als entscheidendes Kriterium, die Präsentation einer Erzählung.122 Als Beispiele zieht Pervo die Briefe des Chion und die Sokratikerbriefe heran. Abgesehen davon, dass selbst diese Beispiele die idealtypisch konstruierten Gattungsmerkmale nicht hinreichend repräsentieren, ist auch der darauf beruhende Vergleich mit den Pastoralbriefen letztlich nicht überzeugend. Dabei spielt nicht zuletzt die relativ geringe Zahl der drei Pastoralbriefe gegenüber der deutlich höheren in den herangezogenen Briefsammlungen eine Rolle.123 Insbesondere jedoch das entscheidende Element der fortlaufenden Erzählung kann für die Pastoralbriefe nicht plausibel herausgearbeitet werden. Was Pervo am Schluss als Intention der Pastoralbriefe beschreibt, ist so hypothetisch und inkohärent, dass es letztlich sogar den von ihm selbst gesetzten Voraussetzungen nicht gerecht wird.124 Während man jedoch im Blick auf die genannten paganen Beispiele nicht im eigentlichen Sinn von pseudepigraphischen Kompositionen sprechen kann, sondern von Sammlungen ausgehen muss, die durch pseudepigraphisches Material ergänzt wurden, handelt es sich beim Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca wahrscheinlich um eine bewusste pseudepigraphische Komposition, deren Intention zwar nicht eindeutig bestimmt werden kann, die aber immer wieder als christliches Beispiel für ein literarisch fiktives Briefkorpus angeführt wird. Doch damit ist die Vergleichsmöglichkeit zu den Pastoralbriefen schon erschöpft, denn auch im Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca liegt  – wie bei den meisten Briefromanen herausstellt; sowie die Dissertation von Glaser, Briefroman (vgl. auch ders., Erzählung). Vgl. auch Speyer, Fälschung, 22; Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule, 262. 121  Pervo, Romancing, 27, nennt als – wohl kaum ernst gemeintes – Argument: »Epistolary novels obviously existed, for they are discussed in Pauly-Wissowa.« Zum Problem der Gattung Briefroman vgl. Holzberg, Briefroman, sowie Luchner, Pseudepigraphie. 122  Pervo, Romancing, 29 f. Vgl. dazu die Kriterien bei Holzberg, Gattungstypologie, 49–52. 123  Die Sokratikerbriefe umfassen immerhin 35 Einzelschreiben, die Chionbriefe 17 (die Datierungen schwanken jeweils zwischen dem 1. und 3. Jh.). Beide Sammlungen sind einer Persönlichkeit zugeordnet, die zum Zeitpunkt der Abfassung bereits in gleichsam mythischer Vergangenheit liegt: bei Sokrates (469–399 v. Chr.) handelt es sich um 400–600 Jahre, beim Platonschüler Chion (Mitte 4. Jh. v.  Chr.) immerhin um 300–500 Jahre; vgl. hierzu Luttenberger Prophetenmantel, 167–262. – Hierbei würde sich auch die Frage stellen, inwiefern die Pastoralbriefe als Briefroman in die Paulusbriefsammlung zu integrieren sind und ob die »Romanhandlung« durch diese intertextuelle Verortung nicht auch verändert würde oder überhaupt erst dadurch zustande käme. Aber dies bleibt genauso hypothetisch wie die Theorie, durch die solche Fragen erst aufkommen. 124  Pervo, Romancing, 43–45. Obwohl zuvor festgestellt wurde, dass die Pastoralbriefe am besten mit den Chionbriefen zu vergleichen seien (a. a. O., 36), schreibt Pervo: »The PE are rather more successfully read as a work like the Socratic Epistles, granting that the latter are, so to speak, letters written by Timotheus and Titus rather than to them« (a. a. O., 45), da die Sokratikerbriefe von den Schülern, nicht von der Schulautorität stammen.

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pseud­epigraphischen Briefen innerhalb anderer Sammlungen – nun tatsächlich ein rein literarisches Produkt vor, also im guten Sinne eine literarische »Erfindung«125, die keine erkennbaren gewichtigen, d. h. in ideologischer Weise durchzusetzende Absichten verfolgt und zu diesem Zwecke täuschen müsste.126 Der entscheidende Unterschied zu den Pastoralbriefen ist nicht nur, dass es sich um einen regelrechten Briefwechsel handelt, sondern auch, dass z. B. persönliche Notizen und Anspielungen außer allgemeinen stilistischen Floskeln gerade nicht in der Weise wie etwa im 2. Timotheus- und im Titusbrief vorkommen.127

3.4  Die Pastoralbriefe und philosophische Schulpseudepigraphie Unter dem Aspekt der Verwendung pseudepigraphischer Stilmittel ist weiterhin ein Vergleich der Pastoralbriefe insbesondere mit den Sokratikerbriefen oder auch den pseudopythagoreischen Briefen128 aufschlussreich, deren pseudepigraphische Absicht es ist, ein philosophisches Leben nach dem Beispiel des Sokrates oder Pythagoras zu propagieren.129 Charakteristisch für solche Briefe aus dem philosophisch-literarischen Schulbetrieb ist nun tatsächlich nicht die Täuschungsabsicht, sondern die Anknüpfung an vorhandene Schreiben gleicher Art, der sparsame Rückgriff auf bekannte Aspekte aus dem Leben des Lehrers und zugleich eine Verallgemeinerung persönlicher Züge, um Charakteristisches herauszuheben. Die Tendenz zur Verallgemeinerung dient dabei vor allem der Verschärfung bzw. Zuspitzung von 125 

Diesen Begriff benutzt Speyer, Fälschung, 21 f. u. ö. Speyer, Fälschung, 178–258, der hier leider nicht ganz entschieden ist; vgl. auch Römer, Briefwechsel, 45. Fürst, Einführung, 11, stellt fest: »Ohne die Existenz der genannten Einzelthemen in Abrede stellen zu wollen, gilt es die Einsicht ernstzunehmen, dass dieser Briefwechsel als ganzer eigentümlich inhaltslos ist. Auch aus der Philosophie Senecas und der Theologie des Paulus finden sich nur dürftige Spuren, die durchweg bis zur Banalität verformt sind und nichts weiter demonstrieren als den Dilettantismus des Verfassers. Eine verbreitete Intention antiker Pseudepigraphie, nämlich bestimmte Ansichten oder Lehren unter dem Deckmantel einer anerkannten Autorität zu propagieren, lässt sich am Text dieser Briefe nicht verifizieren. Die auffällige Eigenheit des Briefwechsels zwischen Seneca und Paulus ist die, dass es in ihm offenbar gar nicht um Inhalte geht, sondern um die Namen der Korrespondenten und nur um diese.« 127 Bemerkenswert ist allenfalls die Mahnung des Seneca in Brief XIII, Paulus solle doch mehr »auf den reinen lateinischen Stil« achten. Gerade an einer solchen Notiz wird deutlich, wie Schulpseudepigraphie »funktioniert«. Die eigentliche Absicht, die Tertullian bekanntlich hinter diesem Briefwechsel erkennt, ist kaum von ideologisch-autoritärem Charakter, wohl aber durchaus positiv: »Seneca saeper noster« (Tert.an. 20,1); vgl. dazu Fürst, Seneca, 85–88. Unter diesem Gesichtspunkt, d. h. der literarischen Charakteristik der Pastoralbriefe, die sie durch die ungewöhnlich hohe Zahl an persönlichen Notizen erhalten, versteht Speyer sie als »Gegenfälschungen«, weil sie mit dem Mittel der Täuschung im Kontext der Ketzerbekämpfung ideologische Interessen durchsetzen wollen. vgl. Speyer, Fälschung, 279. Leider ist dies zu wenig differenziert, vor allem im Blick auf die Einschätzung der Gegnerpolemik in Tit und 1 Tim, die nicht – wie Speyer dies offenbar voraussetzt  – auf einen Nenner zu bringen sind; unter den gegebenen Voraussetzungen aber ist Speyer hier konsequent und nimmt Frenschkowskis Einschätzung vorweg (s. o. Anm. 33). 128 Vgl. Brox, Verfasserangaben, 72 f.; Klauck, Briefliteratur, 303; Standhartinger, Studien; Zimmermann, Pseudepigraphie, 30. 129 Vgl. Donelson, Pseudepigraphy, 41; Speyer, Fälschung, 136 f.; zum Ganzen Fiore, Function, bes. 101–164. 126 Vgl.



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Grundpositionen, die auch zur Klärung bzw. Interpretation strittiger und in der bisherigen Überlieferung nicht eindeutig formulierter Themen beitragen sollen. Zu berücksichtigen wäre darüber hinaus auch, dass in Schultraditionen auch fingierte Briefe zu Übungszwecken verfasst werden, einerseits um verschiedene Briefstile einzuüben, andererseits um dabei die Lehren des Schuloberhauptes wiederzugeben bzw. weiterzuentwickeln.130 Die Absicht, den Eindruck der Echtheit zu vermitteln und damit zu täuschen, die bei den Pastoralbriefen in der Regel als Merkmal der pseud­epigraphischen Fiktion angesehen wird, steht bei der Schulpseudepigraphie nicht im Vordergrund und ist im Schulkontext auch nicht plausibel.131 Das bedeutet aber konkret, dass innerhalb eines Schulkontextes die Verfasserfiktion gerade nicht unentdeckt bleiben muss, um das Schreiben akzeptabel zu machen, d. h. dass die Fiktion tatsächlich legitim und unproblematisch ist, weil sie auf einem offenen Konsens beruhen konnte. Darauf hatte erstaunlicherweise bereits Schleiermacher aufmerksam gemacht.132 Gerade dies wird oft auch für die Pastoralbriefe insgesamt reklamiert, wobei aber die Frage bestehen bleibt, ob bzw. inwiefern die drei Schreiben aufgrund ihrer unterschiedlichen stilistischen Merkmale tatsächlich vor diesem Hintergrund verstanden werden können. An dieser Stelle ist man leider über die Behauptung, dass dies so sei, nicht hinausgekommen. Die Pastoralbriefe sind jedoch gerade im Blick auf Briefgestaltung so unterschiedlich, dass man hier auch nicht viel weiterkommen wird, wenn man diese Unterschiede nicht stärker in die Diskussion einbezieht. Dies betrifft sowohl inhaltliche als auch formale Aspekte hinsichtlich der Gestaltung des Briefformulars und der Verwendung von persönlichen Notizen, die etwa im 1.  Timotheusbrief im Unterschied zum (unter pseudepigraphischer Perspektive immer problematischen, da auf Fälschung hindeutenden!) Überfluss solcher Notizen der beiden anderen Briefe (fast) vollständig fehlen  – bis dahin, dass noch nicht einmal die bei Paulus auch sonst üblichen Schlussgrüße aufgeführt werden. Darin steht der 1.  Timotheusbrief in der literarischen Anlage (nicht im Inhalt!) dem Epheserbrief nahe, der nicht zuletzt aus diesem Grund plausibel als Schulpseudepigraphon im oben beschriebenen Sinn angesehen werden kann.133 130 Vgl. dazu Speyer, Fälschung, 34 f. Der Abschnitt zur pseudepigraphischen Produktion innerhalb von Schulkontexten fällt bei Speyer leider sehr kurz aus, vermutlich deshalb, weil hierin kein eigentliches Problem vorliegt; vgl. auch Luttenberger, Prophetenmantel, 198–201. 131 Mit Hinweis auf die pseudo-pythagoreischen Schriften oder rhetorische Schulübungen urteilt ähnlich Klauck, Briefliteratur, 303: »Am ehesten war man noch geneigt, im Kontext von festen Schultraditionen (Philosophenschulen, Ärzteschulen) hinzunehmen, wenn Literatur späterer Schulmitglieder unter dem Namen des Schulhauptes erschien.« Ähnlich Fiore, Function, 163; Frenschkowski, Erkannte Pseudepigraphie. 132  Schleiermacher, Glaube, 332 f.: »Ja auch gleich bei ihrer Erscheinung könnte eine Schrift den Namen eines Andern als ihres eigentlichen Verfassers an der Spitze getragen haben, wenn dabei nur eine von dem sittlichen Gefühl des Verfassers übereinstimmend mit dem sittlichen Gefühl seiner Zeitgenossen für unschuldig geachtete Fiction zum Grunde gelegen, könnte auch ein so beschaffenes Buch immer authentisch sein als Theil der Bibel. Nur wenn eine solche Bezeichnung ein absichtliches Irreleiten gewesen wäre, würde diese Schrift nicht berufen sein können, die normale Darstellung des Christenthums zu ergänzen.« 133  S. dazu unten die Thesen 6 und 7 in der Zusammenfassung. Zur Existenz einer religions-

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Allerdings wäre dabei auch zu klären, ob und inwiefern man überhaupt von einer »Paulusschule« sprechen kann, in der man die Produktion pseudonymer »Schulschriften« verortet.134

3.5  Sprache und Stil als Indikatoren pseudepigrapischer Verfasserschaft Ein wichtiger Ausgangspunkt der neuzeitlichen Kritik an der Echtheit der Pastoralbriefe waren zunächst wortstatistische und stilistische sowie später stylometrische Erhebungen, die vor allem seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts durch zum Teil computeranalytische Methoden verfeinert wurden.135 Statistische Erhebungen, insbesondere die von Kenneth Grayston und Gustav Herdan136, sind bis in neueste Untersuchungen hinein immer wieder Ausgangspunkt für die Begründung pseudopaulinischer Verfasserschaft gewesen und müssen daher hinsichtlich ihres grundsätzlichen Wertes erörtert werden.137 Gemäß der oft herangezogenen und in ihrer Methodik kaum infrage gestellten Statistik von Richard Morgenthaler enthalten die Pastoralbriefe mit 335 Hapaxlegomena mehr als der doppelt so lange Römerbrief.138 Das Vorkommen von Gräzismen in den Pastoralbriefen wird von Klaus Beyer ungleich höher veranschlagt als in anderen Paulusbriefen.139 Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Verwendung von Hapaxlegomena und Sondergutvokabeln stets auch thematisch bzw. durch Aufnahme traditionell geprägter Wendungen140 oder durch Begriffe soziologisch identifizierbaren und von anderen christlichen Gemeinschaften abgrenzbaren Paulusgruppe in Ephesus vgl. bes. Trebilco, Early Christians, 197–236. 134  Vgl. hierzu neuerdings wieder Vegge, Paulus, bes. 498 f., der in Aufnahme und Fortführung einer älteren These von Conzelmann, Schule, versucht zu begründen, dass Paulus selbst aufgrund seiner Vertrautheit mit und seiner Prägung durch hellenistisch-philosophische Schulbildung die Entstehung einer eigenen »Schule« betrieben bzw. eine solche »gegründet« habe. 135 Vgl. neben den Autoren des 19. Jh.s bes. Grayston/Herdan, Pastorals; Beyer, Syntax, 232.295.298; Johnson, Statistics; Kenny, Study; Mealand, Stylometry; ders., Extent; Neumann, Authenticity; Barr, Model. Kritisch gegenüber solchen Analysen bereits Metzger, Reconsideration; Michaelis, Pastoralbriefe; Robinson, Grayston; Ledger, Exploration, sowie (ohne konkreten Bezug zu biblischen Texten) Hilton/Holmes, Assessment, als Kritik an Morton/Michaelson, QSUM; vgl. Hilton/Holmes, Words. 136  Grayston/Herdan, Pastorals. 137  Vgl. z. B. Kümmel, Einleitung, 328 f.; Broer, Einleitung 2, 534 f.; Schnelle, Einleitung 2007, 371; sowie Brox, Pastoralbriefe, 46–49; Roloff, 1 Tim, 28–31 (der die vor allem gegen Harrison, Paulines vorgebrachten Einwände durch die Analyse von Grayston/Herdan widerlegt sieht); Oberlinner, 1 Tim, XXXVII u. a.; sowie neuerdings Baum, Variations. 138 Vgl. Morgenthaler, Statistik, 38, eine Referenz, die vor allem in Einleitungen regelmäßig angeführt wird (vgl. die in Anm. 137 Genannten); vgl. jedoch Metzger, Reconsideration; Kenny, Study, 5–9.13–16. 139  Beyer, Syntax, 232, gibt für das Verhältnis von Gräzismen gegenüber Semitismen in den Pastoralbriefen eine Zahl von 1100 % an; die höchste Zahl bei Paulus liege bei 300 % (Phil). Allerdings sind auch hier die Pastoralbriefe als Einheit herangezogen, wobei in Beyers Übersicht gut sichtbar wird, dass der Prozentsatz in höchstem Maße durch den 1 Tim verursacht ist. 140  Vgl. die zahlreichen Abschnitte im hymnischen Stil, die – wie auch bei Paulus selbst – von anderen geprägte Vorstellungen eintragen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die



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und Vorstellungen141 bedingt ist, die durch gegnerische Positionen vorgegeben sind – ein häufig erwähnter inhaltlicher Vorbehalt, der in der Statistik nicht oder nicht hinreichend abgebildet und im Übrigen oft ignoriert wird.142 Bereits in der einflussreichen Untersuchung von Percy Harrison143 wird deutlich, dass die Verhältnisbestimmung zum paulinischen Sprachgebrauch anders ausfällt, wenn man die Pastoralbriefe je einzeln bestimmt bzw. das Kriterium der Hapaxlegomena nur auf das Corpus Paulinum beschränkt. Dann ergeben sich bei 306 Wörtern der Pastoralbriefe, die nicht in den zehn authentischen Briefen des Corpus Paulinum vorkommen, für den 1.  Timotheusbrief mit Abstand die meisten (173), für den 2. Timotheusbrief 114, für den Titusbrief noch 81. Ordnet man die Briefe jeweils zu zweit, ergeben sich für 1. und 2. Timotheusbrief 17, für 1. Timotheus- und Titusbrief 20, sowie für 2. Timotheus- und Titusbrief nur 7.144 Eine weitere ausführliche Untersuchung hat Anthony Kenny 1986 vorgelegt.145 Obwohl er versucht, den positiven Beitrag der stylometrischen Analyse zum Verstehen der neutestamentlichen Traditionen unter Beweis zu stellen, ist sich Kenny der Grenzen und Unsicherheiten des Verfahrens bewusst: »The most serious limitation of the statistical study of literary texts concerns the difficulty of applying stylometric methods to short passages. This affects the confidence of conclusions both about short works (such as the Epistle to Titus) or about short passages alleged to be interpolations (such as the final chapter of Romans). The difficulty is not merely the general Pastoralbriefe an keiner Stelle auf Stücke zurückgreifen, die auch Paulus schon verwendet hätte, oder gar auf Zitate aus den Briefen des Apostels selbst. 141  Ein eindeutig übernommener Begriff ist z. B. in 1 Tim 6,20, wie aus dem Text selbst klar hervorgeht, derjenige der γνῶσις, von der der Verfasser selbst betont, dass sie fälschlicherweise – d. h. von anderen  – so genannt wird. Allerdings ist davon auszugehen, dass in vielen Fällen die Identifikation der Herkunft auffälliger Begriffe nicht sicher bestimmbar ist und daher notwendig strittig bleiben muss – einschließlich eventueller Schlussfolgerungen, die aus einem Urteil in die eine oder andere Richtung gezogen werden könnten. Vgl. ferner auch die Äußerung zur Bedeutung der Schrift in 2 Tim 3,16, die im Zusammenhang konkreter Auseinandersetzungen zu verstehen ist, vgl. dazu Häfner, Belehrung, bes. 279; Herzer, Inspiration (in diesem Band 363–378). 142  Vgl. etwa Barrett, Titus, 122, gegenüber der These, Gal 2,3–8 sei eine Interpolation aus der Feder des Titus vor allem wegen der Hapaxlegomena: »The hapax legomena are required in the description of circumstances which Paul did not have to describe elsewhere.« Das gilt cum grano salis generell für den Umgang mit statistischen Argumenten hinsichtlich von Hapaxlegomena. Als solche sind sie  – selbst in einer relativ ungewöhnlichen Konzentration  – kein sicheres Indiz zur Bestimmung von Texten. 143  Harrison, Problem, der aus seinen Beobachtungen eine Fragmententheorie entwickelt; vgl. die Kritik bei Michaelis, Pastoralbriefe, gegenüber der Zustimmung etwa in der Rezension von Lohmeyer, Rezension. 144  Zahlen nach Harrison, Problem, 137–140; vgl. dagegen Michaelis, Pastoralbriefe, mit dem Grundtenor: »Die Grundlage aller statistischen und graphischen Arbeit nach Verhältniszahlen ist die, daß die richtigen Größen in Beziehung zueinander gesetzt werden« (a. a. O., 74), sowie Grayston/Herdan, Pastorals, 4–8. Ausgehend von einer Kritik an der Argumentation Harrisons versucht Baum, Variations, die sprachlichen und stilistischen Unterschiede der Pastoralbriefe zu den anderen Paulusbriefen dadurch zu erklären, dass die Pastoralbriefe eine größere Affinität zu geschriebener Sprache hätten (der Autor also mehr Zeit zur Abfassung gehabt habe), während die anderen Paulusbriefe eher den Charakter der Mündlichkeit aufwiesen. 145  Kenny, Study.

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difficulty, in statistical studies, of drawing conclusions about large populations from small samples: there is also a peculiar problem inherent in the literary subject-matter.«146

Darüber hinaus stelle sich das bereits erwähnte Problem, die Verwendung von Zitaten für oder gegen den Stil eines Autors in Anschlag zu bringen, denn Zitate werden entweder stilistisch angepasst oder wörtlich übernommen und mit eigenen Worten ergänzt, so dass Kenny vorschlägt, wörtliche Zitate bei der Auswertung statistischer Ergebnisse nicht zu berücksichtigen.147 Von weit reichenden Konsequenzen jedoch suspendiert Kenny den Statistiker ausdrücklich: »What is to be said of the authorship of the Epistles is in the end a matter for the Scripture scholar, not the stylometrist. But on the basis of the evidence in this chapter for my part I see no reason to reject the hypothesis that twelve of the Pauline Epistles are the work of a single, unusually versatile author.«148

Eine erneute Analyse hat Kenneth J. Neumann 1990 vorgenommen.149 Seine Darstellung ist oft kaum durchschaubar, Voraussetzungen und Ergebnisse sind für den Laien in statistischer Methodik nur schwer nachvollziehbar. Interessant ist jedoch im Blick auf die Pastoralbriefe, dass für Kenny der 1. und 2. Timotheusbrief stilistisch Paulus zugewiesen werden können und der Titusbrief von den statistischen Mittelwerten zu stark abweicht und deshalb »unter Verdacht« steht. Für Neumann hingegen ist klar, dass aufgrund der von ihm definierten Maßstäbe der 1. und der 2.  Timotheusbrief (und damit die Pastoralbriefe insgesamt) einen nichtpaulinischen Stil aufweisen.150 Zum Titusbrief macht Neumann keine abschließende Aussage;151 Epheserbrief, Kolosserbrief und 2.  Thessalonicherbrief seien unter stilistischen Gesichtspunkten Paulus zuzuweisen,152 wobei Neumann es letztlich offen lässt, ob nicht auch ein anderer Autor im paulinischen Stil hätte schreiben können.153 Dann aber ist umso fraglicher, was die statistische Methode überhaupt 146 

A. a. O., 118. 119 f. Der Tit bildet für Kenny offenbar eine Ausnahme (vgl. a. a. O., 98.118), da dessen Kürze und die im Verhältnis dazu hohen Anteile traditionellen Gutes für eine statistische Auswertung sowie zuverlässige Aussagen über die Autorschaft große Probleme bereiten. 148  A. a. O., 100. Demgegenüber kommen Morton/McLeman, Paul, 94, zu dem Ergebnis, am Corpus Paulinum hätten neben Paulus als Verfasser der vier Hauptbriefe noch sechs weitere Personen mitgeschrieben. 149  Neumann, Authenticity. 150  A. a. O., 213; vgl. Grayston/Herdan, Pastorals, 15. Die Aussage Neumanns bezieht Oberlinner, 1 Tim, XXXVII Anm. 36, ebenfalls auf die Pastoralbriefe insgesamt, mit jedoch maßgeblicher Bezugnahme auf Beyer, Syntax, 229–232.293–295.299. 151 Vgl. Neumann, Authenticity, 213 f. Der Philemonbrief wird aufgrund seiner Kürze von der statistischen Analyse ausgenommen; als anerkanntermaßen authentisches Basismaterial werden Röm, 1 Kor, 2 Kor und Gal sowie 1 Thess und Phil zugrunde gelegt (vgl. 124). Zum Tit findet sich kein Hinweis – in der Auswertung und in den Tabellen ist nur von 1 und 2 Tim die Rede (vgl. auch 131). 152  A. a. O., 213; vgl. 215: »On the basis of the most effective indices discovered, the disputed letters, especially Ephesians, are found to be closest to the Pauline writing style […]. Of course, the use of hapax legomena so often cited has been shown to be among the least effective indices.« 153  A. a. O., 218 f.: »[…] skilled at imitating Pauline language and thought.« 147  A. a. O.,



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zur Frage der Autorschaft zuverlässig beitragen kann, zumal immer offen bleibt, wie Unterschiede erklärt werden bzw. mit welchen Differenzen unter bestimmten Umständen zu rechnen ist.154 Immerhin stellt auch Neumann fest, dass zwischen dem 1. und dem 2. Timotheusbrief unbestreitbar stilistische Unterschiede bestehen, was nicht zuletzt auf das unterschiedliche Genre zurückzuführen sei.155 Diese kurzen Referate genügen, um den Wert statistischer und stylometrischer Analysen deutlich zu relativieren, wenn nicht generell zu bezweifeln, so dass nach wie vor Jerôme Murphy-OʼConnor zuzustimmen ist: »An important implication […] is that the argument from style, which has been used to determine the authenticity and inauthenticity of certain letters, can no longer be considered valid.«156 Selbst Norbert Brox, der die Untersuchungen von Harrison und Grayston/Herdan positiv aufnimmt,157 weist die Kritik an den stylometrischen Analysen zwar als überzogen zurück, mahnt aber dennoch zur Vorsicht gegen eine Überschätzung dieses Befundes. Wichtiger seien die »begrifflichen Verschiebungen«, in denen sich »eine inhaltlich-theologische Verschiedenheit gegenüber Paulus« abzeichne.158 Im Ergebnis ist daher festzuhalten: Die vielfältigen statistischen Versuche, Sprache und Stil der Pastoralbriefe mit computergestützten Methoden zu analysieren, zu vergleichen und daraus Schussfolgerungen zu ziehen, müssen – jedenfalls nach dem gegenwärtigen Stand – als gescheitert gelten. Aus den vorliegenden, zum großen Teil widersprüchlichen Daten lassen sich keine zuverlässigen Konsequenzen hinsichtlich der Verfasserschaft ziehen bzw. anderweitige Annahmen in Verfasserfragen unterstützen.159 Problematisch ist vor allem die hypothetische Voraussetzung der 154  Für eine positive Heranziehung von Arbeiten zur Stylometrie muss man sich bewusst machen, dass sie aufgrund der zugrunde gelegten und als in sich geschlossenes Prinzip anzusehenden statistischen Methode nur insgesamt rezipiert und nicht beliebig selektiv »benutzt« werden dürfen, um eine bestimmte Auffassung zu einer bestimmten Schrift zu untermauern. Wer sich z. B. auf Neumann beruft, um den statistischen Nachweis gegen die Autorschaft der Pastoralbriefe aufzunehmen, muss dessen Ergebnisse für Eph, Kol und 2 Thess ebenso ernst nehmen und diese als echte Paulusbriefe ansehen, denn deren Analyse beruht auf denselben methodischen Grundsätzen wie diejenige der Pastoralbriefe. Und umgekehrt: Wer diesen Schritt nicht vollziehen will, stellt gleichzeitig die methodischen Voraussetzungen für die Analyse der Pastoralbriefe infrage  – und damit wäre das ganze Verfahren ad absurdum geführt. 155  Neumann, Authenticity, 200 f. Aus rein statistischen Gründen müsste man – so Neumann – Ignatius als Autor der Pastoralbriefe annehmen. 156  Murphy-O’Connor, Paul the Letter-Writer, 34. Vgl. a. a. O., 35, zu den Studien von Kenny und Neumann: »Both studies highlight their own lack of precision and, somewhat surprisingly in view of the current consensus, conclude that Ephesians, Colossians, and 2 Thessalonians have as much in common with Romans, Galatians, and 1 and 2 Corinthians as these latter have with each other. There is little doubt that a single mind lies behind most of the Pauline corpus. But the differences, even between letters universally accepted as authentic, are far from being negligible, and demand an explanation. Of the possible explanations a variety of secretaries and coauthers is the simplest (Prior 1989, 49; Richards 1991, 186).« Vgl. auch die kritischen Überlegungen bei Mounce, Epistles, XCIX–CXVIII. Zur Kritik an Kenny und Neumann vgl. auch Ledger, Exploration, 85. 157  Brox, Pastoralbriefe, 46 f. 158  A. a. O., 47. 159  Vgl. bereits Torm, Sprache, dessen Beobachtungen zum Vorkommen bestimmter Begriffe in zusammengehörenden Briefgruppen (die beiden Thessalonicherbriefe, die vier Hauptbriefe Röm, Gal, 1 und 2 Kor, die Gefangenschaftsbriefe Phil, Kol, Eph, Phlm sowie die Past) zwar auch

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einheitlichen Komposition der Pastoralbriefe bzw. ihr Zusammenschluss als eine einheitlich zu behandelnde Gruppe, was die statistischen Ergebnisse im Sinne einer Voraussetzung beeinflusst, die eine darauf aufbauende Argumentation zirkulär werden lässt. Darüber hinaus stellt sich das Problem, welche Texte bzw. Textabschnitte überhaupt sinnvoll verglichen werden können, was u. a. von Genretypen, vergleichbaren Themen, vorauszusetzenden Situationen, Adressaten, Gegnerprofilen – und nicht zuletzt von der Beteiligung anderer an der Abfassung abhängt. Der einzige sichere Ertrag statistischer Erhebungen ist daher die Tatsache, dass eine je separate Betrachtung der Pastoralbriefe nicht nur stylometrisch, sondern auch bereits in der einfachen Wortstatistik zu signifikant unterschiedlichen Ergebnissen führt, die ebenfalls die Zusammenordnung der Pastoralbriefe als Korpus problematisch erscheinen lässt.

4. Fazit Nach den forschungsgeschichtlichen, methodischen und inhaltlichen Überlegungen ergibt sich notwendig das Fazit, dass das etablierte Paradigma der Interpretation der Pastoralbriefe als ein einheitlich komponiertes, pseudonymes Briefkorpus dringend der Revision bedarf, anstatt immer neue und immer stärker divergierende Interpretationsversuche zu unternehmen, deren intersubjektive Plausibilität immer schwerer zu vermitteln ist. Nur nebenbei gesagt ist diese Konstellation im Blick auf die Pastoralbriefe auch deshalb verwunderlich, weil es bereits in vielen Bereichen der neutestamentlichen Forschung zur Revision solcher idealistischen forschungsgeschichtlichen Paradigmen des 19. Jahrhunderts gekommen ist, die unsere Sicht etwa auf das Judentum (Stichwort: Vielfalt des hellenistisch beeinflussten Judentums), auf die Jesusbewegung und die Jesusüberlieferung (Stichwort: »Third Quest«) oder auch auf Paulus (Stichwort: »New Perspective«) grundlegend verändert haben. Der entscheidende Schritt in die richtige Richtung zu dieser Revision wäre es, die Frage nach einer pseudepigraphischen Abfassung der Pastoralbriefe vor allem im Blick auf ihre konkrete literarische Gestalt differenzierter zu behandeln, als es bisher in der Forschung geschehen ist. Insbesondere sind die Briefsammlungen und die Merkmale pseudepigraphischer Schreiben innerhalb solcher Briefsammlungen stärker in den Blick zu nehmen, wenn die Charakteristika der drei Briefe erörtert werden. Einzelne Versuche dazu sind bereits unternommen worden, aber hier ist noch viel Arbeit zu leisten.160 Fragen hinsichtlich möglicher Überschneidungen aufwerfen, aber dennoch aufschlussreich sind und im Blick auf die unterschiedliche Bewertung der Pastoralbriefe größere Differenzierungen zulässt als reine Wortstatistik – und dies ausdrücklich gegen Holtzmanns Zuordnungen, der bei der Erwähnung des Fehlens bestimmter Begriffe nicht beachtet, dass solche auch in den anerkannten Paulinen nicht durchgängig vorhanden sind; vgl. ferner Michaelis, Pastoralbriefe, 69–76; Robinson, Grayston, 282–288; Metzger, Reconsideration, 94. 160  Vgl. die beiden sehr divergenten Ansätze von Richards, Difference, und Fuchs, Unterschiede; sowie nun bes. Engelmann, Untersuchungen. Klauck, Briefliteratur, 304 f., hat hierzu



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Vor allem ist stets methodische Vorsicht geboten: Man darf nicht erwarten, dass alle Spannungen in der Frage nach der pseudepigraphischen Abfassung neutestamentlicher Schriften aufzulösen sind. Das eingangs zitierte Diktum Adolf von Harnacks gilt nach wie vor. Selbst in anerkanntermaßen echten Paulusbriefen gibt es zahlreiche umstrittene Passagen, Begriffe und Vorstellungen, die nicht ohne Schwierigkeit zu dem passen, was man sonst von Paulus weiß oder meint, als »typisch paulinisch« ansehen zu müssen. Ähnliches gilt auch hinsichtlich des Problems einer plausiblen historischen Darstellung der Geschichte der paulinischen Mission und Literatur und ihrer Nachgeschichte sowie darin das schwierige Verhältnis der paulinischen Briefe – einschließlich der Pastoralbriefe! – zur Apostelgeschichte.161 Allzu spannungsfreie Konstruktionen stehen dabei immer im Verdacht, zu viel selbst aufzufüllen, wo Informationslücken offenkundig sind oder bestimmte Angaben in eine nicht aufzulösende Spannung treten.162 Im Blick auf das Verhältnis der Pastoralbriefe untereinander muss auch ernst genommen werden, dass die Briefe unterschiedliche Adressaten benennen und darüber hinaus unterschiedliche Situationen voraussetzen  – auch und erst recht unter pseudepigraphischen Vorzeichen. Wie dies allerdings als pseudepigraphische Fiktion rezeptionstheoretisch funktionieren sollte, ist nach wie vor unklar und bisher nicht plausibel gemacht worden. Beide Adressaten stehen zudem in einem unterschiedlichen Verhältnis zu Paulus, das unter pseudepigraphischer Voraussetzung sowohl dem Autor als auch den (realen) Adressaten vor Augen steht, und dies ist umso mehr ein Problem, wenn man in den fiktiven Adressaten die realen Autoren sieht, wobei damit die Unterscheidung zwischen fiktiv und real zu verschwimmen beginnt. Die Frage nach den unterschiedlichen Entstehungsbedingungen hinsichtlich der vorausgesetzten Adressaten sowie Einzelheiten im Detail können daher auch unter pseudepigraphischen Vorzeichen nicht einfach ignoriert oder zu geläufigen Stilmitteln stilisiert werden, die womöglich noch – um die negativen Implikationen des Begriffes Fälschung zu vermeiden – mit einem tieferen theologischen Sinn zu belegen sind.163 einen wichtigen Anstoß gegeben, der bisher nicht substantiell aufgenommen wurde: »Der Grad an Pseudepigraphie und ihre Realisierungsweise fällt bei den einzelnen neutestamentlichen Schriften, die davon betroffen sind, unterschiedlich aus […]. Differenzieren muss man auch hinsichtlich einer anderen Frage, inwieweit nämlich die Fiktion für die Adressaten durchschaubar war und inwieweit sie für bare Münze genommen wurde. Eine vom Autor eingeplante Transparenz der Pseudepigraphie für die Adressaten ist bei den Pastoralbriefen eher denkbar als beim Kol oder Eph, beim 2 Petr eher als beim 1 Petr. […] Vielleicht hat der Verfasser, sagen wir der Pastoralbriefe, mit verschiedenen Gruppen unter seinen Adressaten gerechnet, mit solchen, die über das gleiche Bildungsniveau wie er verfügten und die Pseudepigraphie durchschauten, und mit solchen, die sich mit der ausgeborgten Verfasserangabe ohne Rückfrage zufrieden gaben und die man mit den Feinheiten der Brieferstellung besser nicht behelligte. Daß dies für unser Empfinden etwas Anrüchiges an sich hat, sei gar nicht geleugnet. Aber […] man (wird) auch unter Einsatz aller apologetischer Kunst der urchristlichen Pseudepigraphie nicht alles Anstößige nehmen können […].« 161  Vgl. dazu Riesner, Luke-Acts. 162  Vgl. etwa die Rekonstruktionen bei van Bruggen, Einordnung, sowie im Anschluss daran Fuchs, Unterschiede. 163  Vgl. etwa die Interpretationen von »Mantel und Schriften« (2 Tim 4,13) bei Brox, Notizen, oder Trummer, Mantel; vgl. dazu Luttenberger, Prophetenmantel, 323–369.

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Wie gezeigt, haben andere inzwischen sehr viel klarer die Konsequenzen aus den unabweislichen Beobachtungen gezogen: Unter den gegebenen Umständen müsste man die Pastoralbriefe »geplante und raffinierte Fälschungen« nennen.164 Dahinter sollte man nicht zurück, dahinter kann man nicht zurück, wenn man die Pastoralbriefe insgesamt als pseudepigraphische Briefe beurteilen will. Doch gibt es hinreichende, an dieser Stelle nicht mehr darzulegende Gründe, dies nicht mehr vorauszusetzen und auf diese Weise Problemlösungen und Interpretationsperspektiven zu entwickeln, die jenseits falscher und aporetischer Alternativen liegen.

5.  Perspektiven für die Arbeit an den Pastoralbriefen – zusammenfassende Thesen Um in der Beurteilung der Pastoralbriefe angesichts der nach wie vor kontroversen Diskussion weiterzukommen, war es notwendig, die Entstehung des forschungsgeschichtlich begründeten Interpretationsparadigmas nachzuzeichnen, um die daraus resultierenden Probleme aufzuzeigen und mögliche Perspektiven zu benennen. Diese sollen im Folgenden thesenartigzusammengefasst werden. Auf dieser Grundlage gilt es, eine Neuinterpretation der Texte vorzunehmen, die hier nicht mehr zu leisten ist und an anderen Stellen zum Teil bereits vorgelegt wurde.165 1.  Die nach wie vor die Forschung prägenden Alternative zwischen Echtheit und Unechtheit der Pastoralbriefe ist zu einfach. Die unsachgemäße Einseitigkeit in der pauschalen Betrachtung führt auf beiden Seiten in Aporien, die nicht aufgelöst werden können. Es sind daher hinreichende Differenzierungen nötig, die eine angemessene Verhältnisbestimmung der drei Briefe untereinander wie zu anderen Schriften des Corpus Paulinum ermöglichen. 2.  Die Hypothese eines bewusst komponierten, dreiteiligen Corpus pastorale hat sich als nicht tragfähig erwiesen und muss aufgegeben werden. Auch unter pseud­ epigraphischer Perspektive sind die Pastoralbriefe als einzelne Schreiben anzusehen und erst unter dieser Voraussetzung sind eine sachgemäße Verhältnisbestimmung sowie eine Verortung innerhalb der Paulusbriefsammlung und der paulinischen Traditionsgeschichte möglich.166 3.  Die aus literaturhistorischen Gründen notwendige Unterscheidung zwischen Fiktion und Fälschung muss konsequent durchgehalten und damit die Frage der Täuschungsabsicht ernst genommen werden. Jede Fälschung beinhaltet notwendig eine Fiktion, aber nicht jede Fiktion ist auch Fälschung. Die Begriffe Fiktion und Fälschung liegen daher inhaltlich auf unterschiedlichen Ebenen und dürfen nicht vermischt werden, wie das oft und vor allem bei dem Versuch geschieht, die selbstverständliche und generelle Legitimität von Pseudepigraphie vorauszusetzen. Diese 164 

Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule, 262. S. o. Anm. 103. 166  Nicht zuletzt deshalb, weil auch eine hypothetische Fiktion genau das bei den Rezipienten voraussetzt. 165 

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Vermischung ist eine entscheidende Ursache für allzu spekulative Erklärungen der Pseudepigraphie der Pastoralbriefe, die an den Texten selbst und deren Vergleich mit antiken Briefkonventionen nicht verifizierbar sind. Fiktion ist dabei als überwiegend literarisch bezogener Begriff, Fälschung als ein Begriff mit ideologischen und damit in gewisser Weise moralischen Hintergründen auf die zu untersuchenden Briefe anzuwenden. Bei der Beurteilung einer Fälschung darf die »moralische« Frage nicht als irrelevant erklärt werden. Die Behauptung, mit moralischen Kategorien dürfe im Blick auf das Neue Testament nicht gearbeitet werden, ist unangemessen, weil sie nicht dem Befund der Beurteilung von Pseudepigraphie in der Antike entspricht. 4.  Bei der Beschreibung und Begründung einer Fiktion ist die Anwendung geschichtstheoretischer Erkenntnisse konsequenter durchzuführen, insbesondere im Blick auf das Problem von geschichtlicher Fiktion durch den pseudepigraphischen Autor auf der einen und der Fiktionalität moderner (Re-)Konstruktionen auf der anderen Seite.167 5.  Entscheidend ist dabei eine differenzierte Wahrnehmung verschiedener Formen von legitimer und illegitimer Pseud­epigraphie. Der begründbare Sachverhalt, dass eine sogenannte Schulpseud­epigraphie nicht nur einen anderen Charakter hat als die Fälschung, sondern auch in literarischer Hinsicht anderen Gestaltungskriterien unterliegt, kann zu einer differenzierten Beurteilung der Pastoralbriefe und ihrer konkreten literarischen Ge­staltung beitragen. 6.  Die Verhältnisbestimmung von Schulpseudepigraphie und Fälschung beruht auf der Unterscheidung literarischer und intentionaler Merkmale. Als Merkmale pseudepigraphischer Schreiben, die in einem positiven Sinne  – d. h. ohne Fälschungsabsicht  – zu beurteilen sind, können gelten: 1) Vorhandene Schreiben gleicher Art sind Ausgangspunkt für die Anknüpfung einer akzeptierten pseudepigraphischen Fiktion in einem Schulkontext.168 2) Der Stil der Vorlage bzw. des als Pseudonym verwendeten Autors wird nachgeahmt.169 3) Bekannte Positionen und Äußerungen der Schulautorität werden auf eine neue Situation bezogen und in einem neuen Kontext verortet. 4) Bekanntes Material an persönlichen Notizen bzw. unkonkreter Alltäglichkeiten wird zurückhaltend eingesetzt. 5) Die Pseudonymität beruht auf einem offenen Konsens, und es ist keine Voraussetzung für die Akzeptanz der Schrift, dass sie unerkannt bleibt.170 Die Akzeptanz einer solchen 167 

Vgl. z. B. Häfner/Backhaus, Historiographie. Speyer, Fälschung, 83 f.136 f. 169  Vgl. a. a. O., 82.85. 170  Vgl. a. a. O., 82. Entscheidend ist bei derartigen persönlichen Notizen, dass es sich um bekanntes bzw. unspezifisches Material handelt, das die offene Fiktion auch akzeptabel macht. Der im Zusammenhang mit den Pastoralbriefen als Illustration für die Selbstverständlichkeit erfundener persönlicher Notizen als pseudepigraphisches Stilmittel gern zitierte Satz Speyers: »Je genauer die Angaben sind, desto falscher sind sie« (ebd.) bezieht sich nicht auf erfundene, sondern auf bekannte persönliche Daten; er ist daher z. B. bei Brox, Verfasserangaben, 61 Anm. 19, gegen den ursprünglichen Sinn bei Speyer zitiert; ebenso bei Wolter, Pastoralbriefe, 17. Insbesondere die Sokratikerbriefe legen nahe, dass erfundene Details in der Regel Bekanntes verstärken. Vgl. zu Recht Looks, Rezeption, 32: »[…] erfundene Bemerkungen (bergen) die Gefahr, daß die Fälschung erkannt wird. 168 Vgl.

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gewissermaßen »offenen« Pseudonymität innerhalb eines engeren Traditionszusammenhanges bei der Entstehung einer Schrift wird im Übrigen nicht dadurch infrage gestellt, dass eine solche Schrift im Verlauf der Überlieferung aus diesem Entstehungszusammenhang heraustritt und (irrtümlich) für eine authentische, nicht-pseudonyme Schrift gehalten wird, weil der ursprüngliche Kontext nicht mehr bekannt oder nicht mehr von Bedeutung ist. 7.  Daraus ergibt sich im Blick auf die Pastoralbriefe folgende These: In dieses Muster akzeptierter und damit als legitim zu verstehender (Schul-)Pseudepigraphie passt aufgrund seiner spezifischen Merkmale nur der 1. Timotheusbrief, der darin dem Epheserbrief vergleichbar ist. In anderem Maße als der 2. Timotheus- und der Titusbrief setzt der 1. Timotheusbrief eine von einem Bischofsamt (ἐπισκοπή, 3,1) geführte Gemeindestruktur bereits als gegeben voraus und interpretiert vor diesem Hintergrund verschiedene Topoi paulinischer Überlieferung, die in der Tradition relativ offen geblieben sind, so z. B. die Rolle der Frau in der Gemeinde (1 Tim 2,9– 15) oder auch das Verständnis der Gemeinde als οἶκος θεοῦ (3,15).171 Anlass und Ziel ist dabei einerseits die Konsolidierung der Gemeinde nach innen als »Haus Gottes«, in dem die Wahrheit sicher bewahrt wird (3,15 f.), andererseits zugleich auch die Abgrenzung gegenüber sich herausbildenden gnostischen Gruppen (vgl. 6,20).172 Der Autor greift literarisch das bereits mit dem 2. Timotheus- und dem Titusbrief vorhandene Muster des Mitarbeiterbriefes auf, transformiert dieses aber ebenfalls, indem er es nicht in der auffälligen Weise mit Personalhinweisen und persönlichen Notizen gestaltet, wie es für den 2. Timotheus- und den Titusbrief charakteristisch ist, und kann deshalb unter allen diesen Voraussetzungen als eine Schulpseudepigraphon verstanden werden, bei dem die Pseudonymität gruppenintern auf einem anerkannten Konsens beruht. Eine Täuschungsabsicht und damit eine Fälschung kann aufgrund der literarischen Merkmale in diesem Fall ausgeschlossen werden. Es würde sich beim 1. Timotheusbrief aber auch nicht um eine literarische Fiktion im eigentlichen Sinn handeln, etwa wie bei Briefromanen, da das gruppeninterne Interesse deutlich erkennbar ist und damit das Element der Paulusfiktion deutlich relativiert wird. Das Pseudonym dient hier gewissermaßen als »identity marker« der eigenen Tradition. 8.  Versteht man den 2. Timotheus- und den Titusbrief ebenfalls unter pseudepigraphischen Vorzeichen, dann wären diese im Unterschied zum 1. Timotheusbrief aufgrund ihrer besonderen, mit Täuschungsabsicht zu verbindenden literarischen Merkmale als Fälschungen einzustufen. Allerdings lässt sich unter der VoraussetSomit würde sich die vom Verfasser beabsichtigte Wirkung – nämlich den Brief als Echt [sic] erscheinen zu lassen – kontraproduktiv auswirken. Wenn die Pastoralbriefe noch vor 100 datiert werden, dann ist davon auszugehen, daß noch eine größere Zahl von Menschen lebte, die den Apostel persönlich kannten. Sie hätten aufgrund ihrer eigenen Erlebnisse die Angaben der Pastoralbriefe überprüfen und gegebenenfalls als falsch erweisen können.« Freilich mit der Schlussfolgerung: »Wenn man die Briefe weit nach 100 ansetzt, ergibt sich dieses Problem nicht mehr« (ebd.). 171  Vgl. dazu Herzer, House of God (in diesem Band 273–291). 172  Vgl. dazu Herzer, Juden  – Christen  – Gnostiker, 157–162 (in diesem Band 293–314); sowie ausführlicher in ders., Gnosis (in diesem Band 315–339).

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zung einer differenzierten Wahrnehmung nicht nur der Unterschied zum 1. Timotheusbrief in der literarischen Eigenart feststellen. Es lässt sich auf dieser Grundlage auch eine Neubewertung sprachlicher, inhaltlicher und historischer Aspekte vornehmen, so dass auch die Diskussion um die Echtheit des 2. Timotheus- und des Titusbriefes im Unterschied zum 1. Timotheusbrief auf eine neue Basis gestellt würde, insbesondere wegen der erwähnten Tendenz des 1.  Timotheusbriefes der Fortschreibung und Verallgemeinerung wichtiger Aspekte, die im Titusbrief bzw. im 2. Timotheusbrief allenfalls ansatzweise erkennbar sind. Der 2. Timotheus- und der Titusbrief können so als Teil der Paulusüberlieferung angesehen werden, die der 1.  Timotheusbrief bereits voraussetzt; dieser ist daher deutlich davon abzusetzen und gehört sehr wahrscheinlich in die Zeit der Auseinandersetzungen mit der aufkommenden Gnosis in der späten ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts.173 Mit dieser Unterscheidung verschiedener Autoren in verschiedenen Zeiten würden viele Aporien gelöst, die sowohl unter der Voraussetzung der Echtheit aller drei Briefe als auch der pseudepigraphischen Abfassung eines Corpus pastorale erst entstehen. Rückt man den 1. Timotheusbrief von den beiden anderen ab, wie dies aus literarischen und inhaltlichen Gründen naheliegend ist, dann gibt es jedoch hinreichende Gründe, die paulinische Verfasserschaft des Titus- und des 2.  Timotheusbriefes historisch wie inhaltlich neu zu bedenken, ohne auf die üblichen Hilfskonstruktionen wie etwa die sog. Fragmententheorie zurückgreifen zu müssen. Dies wäre im Einzelnen weiter durchzuführen; die hier vorgelegten Überlegungen sollten vor allem dazu dienen, die Möglichkeit einer solchen Differenzierung und der daraus folgenden Neubewertung jenseits der bekannten »Fronten« plausibel und diskursfähig zu machen. 9.  Die Bedeutung oder gar Dignität der Pastoralbriefe ergibt sich jedoch weder aus der Tatsache, dass sie Teil des Kanons sind, noch daraus, dass sie Paulus zugeschrieben sind oder er sie geschrieben hat. Ihre Kanonizität würde, wenn sie alle drei pseudepigraphisch sind, auf einem Irrtum beruhen, der durch »raffinierte Täuschung« verursacht und durch die neuzeitliche Kritik aufgedeckt worden wäre. Das aber kann kein Grund sein, unter Absehung der Konventionen antiker Pseudepigraphie eine pseudepigraphische Fälschung nachträglich schön zu reden und für legitim zu erklären und den Briefen eine theologische Bedeutung beizumessen, die sie de facto nicht haben. Das heißt, wenn die Pastoralbriefe unecht sind, dann hätte Holtzmann durchaus Recht, wenn er sie theologisch als marginal beurteilt, weil sie an das »große Genie« eines Paulus des Römerbriefes nicht heranreichen. Aber dadurch wäre auch nicht viel verloren, es sei denn, man meinte, darauf angewiesen zu sein, eine kirchliche Hierarchie, die Ordination von Amtsträgern oder eine apostolische Sukzession unbedingt aus dem Neuen Testament begründen zu müssen. Wenn man sie hingegen für echt hielte, würde sich an ihrer Marginalität allerdings nichts ändern; auch dann blieben sie in ihrem theologischen Gewicht weit hinter 173  S. Anm. 172;

für den 1 Tim kann daher tatsächlich Baurs Einschätzung im Blick auf die Gnosis gelten (s. o. 43 f.); im literarischen Verbund mit 2 Tim und Tit ist dies nicht mehr plausibel.

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anderen Schriften nicht nur des Paulus selbst, sondern auch anderer »Schulschriften« der nach- oder nebenpaulinischen Tradition wie etwa dem Epheserbrief oder dem 1. Petrusbrief zurück. Zum Schluss soll noch einmal Adolf von Harnack zu Wort kommen, um das eingangs zitierte Diktum über die Pastoralbriefe in seinen Kontext zu stellen: »Das Rätsel, das über diesen Briefen schwebt, hat noch niemand wirklich gelöst und ist auch mit unseren geschichtlichen Hilfsmitteln unlösbar. Sie sind der Sammlung hinzugefügt worden, als noch Zeitgenossen des Paulus am Leben waren. Nicht nur das spricht für ihre Echtheit – doch ist es kein durchschlagendes Argument –, sondern auch zahlreiche geschichtliche Einzelheiten in den Briefen, die sich dagegen sträuben, als Fälschungen beurteilt zu werden, sowie einige persönliche Ergüsse und lehrhafte Stellen, größtenteils in II. Tim. Aber andererseits kann alles das, was den eigentlichen Charakter der Briefe darstellt […], in sachlicher und noch mehr in stilistischer Hinsicht nicht vom Apostel herrühren. Ohne einen kritischen Gewaltstreich kann man daher weder die Echtheit noch die Unechtheit dieser Briefe, so wie sie vorliegen, behaupten. Es bleibt also nichts übrig, als sie für pseudopaulinische Schriftstücke zu halten, in welche paulinisches Gut eingearbeitet ist, am meisten in II. Tim., der umgekehrt auch ein interpolierter Paulusbrief sein kann. Aber mit dieser Erkenntnis ist leider noch wenig gewonnen, da eine einfache Ausscheidung des paulinischen Guts nicht gelingen will und da uns alle Mittel fehlen, positiv die Entstehung dieser Briefe zu begreifen. Sie würden eine Hauptquelle für den Ausgang des Lebens des Apostels und für die Geschichte der paulinischen Gemeinden um das J. 100 sein, wenn nicht alles in ihnen so abgerissen und deshalb so dunkel wäre, daß man beim Versuch einer geschichtlichen Verwertung in große Verlegenheit gesetzt wird.«174

Vielleicht lässt sich mit Hilfe methodisch geschärfter und präziser als bisher gebrauchter »geschichtlicher Hilfsmittel« in dem oben beschriebenen Sinne doch weiterkommen, als von Harnack dies für möglich hielt.

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Von Harnack, Briefsammlung, 14 f.



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Zwischen Mythos und Wahrheit Neue Perspektiven auf die sogenannten Pastoralbriefe* Mythos und Wahrheit – das sind zwei für die Pastoralbriefe charakteristische Begriffe. Vor den »abscheulichen Mythen« wird gewarnt (1 Tim 4,7), die Wahrheit hingegen wird eingeschärft, von der »Gott will, dass alle Menschen sie erkennen« (1 Tim 2,4). Das Rangieren zwischen den Gleisen Mythos und Wahrheit kennzeichnet aber nicht nur die Pastoralbriefe selbst, sondern auch ihre Auslegung und die entsprechend kontroverse Forschungsgeschichte. Der magnus consensus über die Pastoralbriefe lässt sich mit folgenden Aspekten umreißen: Es handelt sich um ein dreiteiliges Briefkorpus, das ein pseudonymer Autor der zweiten oder dritten urchristlichen Generation angesichts von häretischen Herausforderungen zum Zwecke der Konsolidierung einer durch Ämter strukturierten Gemeinde sowie zur Sicherstellung der Bewahrung der paulinischen Überlieferung verfasst hat. Der sich mit der Herausbildung dieses Konsenses etablierende Begriff »Pastoralbriefe« steht in der Regel als Synonym für diese Sicht der drei Mitarbeiterbriefe unter dem Namen des Paulus, auch wenn er in der Sache für die Beschreibung des inhaltlichen Profils der Schriften keineswegs unangemessen ist.1 Doch gibt es durchaus Anlass zu einem erneuten Nachdenken über diesen m. E. nur scheinbaren Konsens.2 Insbesondere die These der Zusammengehörigkeit der drei Pastoralbriefe als ein Corpus pastorale3 ist bereits mehrfach einer substantiellen Kritik unterzogen worden, ohne die zweite wesentliche Voraussetzung der Pseudepigraphie der Briefe infrage zu stellen.4 In den letzten 30 Jahren sind nicht nur mindestens 20 neue wissenschaftliche Kommentare zu den Pastoralbriefen geschrieben, sondern auch eine kaum zu überblickende Fülle monographischer Versuche themenbezogener Interpretationen wie auch Gesamtdeutungen vorgelegt worden. Die Ergebnisse in der Erklärung der Pastoralbriefe gehen jedoch sowohl im Blick auf eine Gesamtperspektive als auch im Detail so weit auseinander, dass sich die Vermutung geradezu aufdrängt, die gemeinsame Prämisse könnte nicht hinreichend gesichert sein. Insofern ihre Begründungsmuster strittig bleiben, sind etablierte Denkgewohnheiten oft eher geeignet, selbst zum Mythos zu werden und *  Main Paper gehalten auf dem 71. General Meeting der SNTS 2016 in Montreal. Die Vortragsform ist weitgehend beibehalten und um Anmerkungen ergänzt. 1  Vgl. dazu von Lips, Sprachschöpfung. 2 Vgl. Herzer, Abschied (in diesem Band 11–30). 3  Vgl. immer noch grundlegend Trummer, Paulustradition; ders., Corpus. 4 Vgl. Richards, Difference; und bes. Engelmann, Untersuchungen.

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I  Perspektiven der Forschung

die Wahrheit des Gedachten und Vorgestellten allenfalls ansatzweise zu repräsentieren. Im Folgenden sollen daher 1. ein kurzer problemorientierter Blick in die Forschungsgeschichte geworfen, 2. exemplarisch zwei methodische Probleme thematisiert und 3. anhand eines konkreten Beispiels eine nicht nur vom vermeintlichen akademischen Konsens sondern auch von den klassischen Alternativpositionen abweichende Perspektive zur Diskussion gestellt werden. Auch ein solcher Versuch ist natürlich keineswegs von der Gefahr ausgenommen, der »Wahrheit« über die Pastoralbriefe nicht vollumfänglich gerecht zu werden, zumal in diesem Rahmen nur einige grundlegende Aspekte thematisiert werden können.

1.  Forschungsgeschichtliche Aspekte: Die Entstehung eines Interpretationsparadigmas Vor ziemlich genau 90 Jahren schreibt Adolf von Harnack über die Pastoralbriefe: »Das Rätsel, das über diesen Briefen schwebt, hat noch niemand wirklich gelöst und ist auch mit unseren geschichtlichen Hilfsmitteln unlösbar.«5 Das ist Harnacks Resümee nach mehr als 100 Jahren kritischer Forschung, die im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert begann und mit den Namen Johann Ernst Christian Schmidt6 und Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher7 verbunden ist. Im 19. Jahrhundert gab Ferdinand Christian Baur8 der Forschung über die Pastoralbriefe eine bis heute bestimmende Grundrichtung, die schließlich in dem grandiosen, 1880 erschienenen Kommentar von Heinrich Julius Holtzmann9 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Während Baur und Holtzmann bereits von der Unechtheit der Pastoralbriefe überzeugt waren, konnte Harnack ca. 50 Jahre nach Holtz­manns Kommentar deren Position nicht mehr mit dem gleichen Enthusiasmus nachvollziehen: »Ohne einen kritischen Gewaltstreich kann man daher weder die Echtheit noch die Unechtheit dieser Briefe, so wie sie vorliegen, behaupten.«10 Pauschal behaupten  – so muss man wohl betonen, denn Harnack hat bekanntlich im Sinne einer Fragmententheorie dafür plädiert, die sich gegen die Behauptung der Unechtheit »sträubenden« geschichtlichen Einzelheiten als Interpolationen in ansonsten pseudonyme Briefe anzusehen.11 Dennoch war er insgesamt pessimistisch: »[…] uns (fehlen) alle Mittel […], positiv die Entstehung dieser Briefe zu begreifen.«12 Überblickt man die neueren Kommentare und Monographien zu den Pastoralbriefen und die entsprechende Fülle der Erklärungsversuche, so entsteht der Ein5 

Von Harnack, Briefsammlung, 14. Schmidt, Einleitung. 7  Schleiermacher, Sendschreiben. 8  Baur, Pastoralbriefe. 9  Holtzmann, Pastoralbriefe. 10  Von Harnack, Briefsammlung, 14–15. 11  A. a. O., 15. 12  Ebd. 6 



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druck, dass die Forschung hier deutlich zuversichtlicher geworden ist. Ob sie auch des Rätsels Lösung näher gekommen ist, steht auf einem anderen Blatt. Nach einigen zögerlichen Ansätzen zuvor begann mit der philologischen Kritik Schleiermachers am 1.  Timotheusbrief die neuzeitliche Echtheitskritik an der Briefliteratur des Neuen Testaments  – ein »Donnerschlag für viele Theologen«, wie ein zeitgenössischer Rezensent mit einiger Dramatik notierte.13 Mit dieser Weichenstellung in Richtung Pseudepigraphie als eines philologisch begründeten Erklärungsmusters neutestamentlicher Schriften wurde in der Forschung ein Weg beschritten, der es letztlich erlaubte, ein differenzierteres Bild von der Entwicklung des frühen Christentums zu zeichnen und die Dynamik der Vielfalt christlicher Traditionen in den ersten beiden Jahrhunderten überhaupt erst zu verstehen. Die heute zu Recht wieder obsoleten Kategorien von »Rechtgläubigkeit und Ketzerei«14 spielten dabei ebenso eine Rolle wie die Entdeckung oder besser: Wiederentdeckung der Pseudepigraphie und ihrer Bedeutung für die Entstehung der vielfältigen christlichen Strömungen in den ersten beiden Jahrhunderten. Das Bemerkenswerte an Schleiermachers These ist aus heutiger Sicht nicht mehr die Einsicht in den pseudepigraphischen Charakter eines Paulusbriefes. Das ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Bemerkenswert ist vielmehr, dass damit die Frage nach dem sachlichen und literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe zueinander aufgeworfen und – wie ich angesichts der Diversität der Pastoralbriefforschung behaupten würde – bis heute nicht hinreichend plausibel beantwortet wurde. Schon Baur war sich der Bedeutung dieser Frage bewusst, hatte aber auch selbst keine Antwort darauf gegeben. Unter der Voraussetzung einer antignostischen Tendenz bezog Baur die Schleiermachersche Kritik am 1.  Timotheusbrief konsequent auf alle drei Briefe.15 Immerhin hatte er dabei noch etwas gesehen, was in der Folgezeit mehr und mehr nivelliert wurde: Bei aller Verwandtschaft der Pastoralbriefe könne »doch nicht geläugnet werden, daß es sich mit dem ersten dieser Briefe in kritischer Hinsicht im Ganzen auch wieder anders verhält, als mit den beiden andern, und der von Schleiermacher in Beziehung auf jenen geführte negative Beweis kann in Beziehung auf diese wenigstens nicht auf dieselbe Weise geführt werden«.16

Erst unter der Voraussetzung, dass alle drei Briefe zusammengehören, kann Baur auch den 2. Timotheus- und den Titusbrief für unecht erklären.17 »Den sichersten Standpunkt für diese Untersuchung muß der erste Brief geben.«18

13  So ein unbekannter Rezensent des Sendschreibens in den Neuen Theologischen Annalen 1809, zit. bei Patsch, Angst, 467. 14 Vgl. Bauer, Rechtgläubigkeit. 15  Für Baur war die ausschließlich auf den 1 Tim bezogene Argumentation Schleiermachers ohne »Haltpunkt«, denn »wir bleiben mit dem Briefe, wie er ist, doch immer mehr oder minder in der Nähe des Apostels« (Baur, Pastoralbriefe, 3–4). 16  A. a. O., 4. 17  A. a. O., 5. 18 Ebd.; vgl. auch 54.

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Der bereits erwähnte Heinrich J. Holtzmann war es dann, der die Devianz der Pastoralbriefe im Vergleich zu Paulus als den eigentlichen Grund ihrer Pseudonymität explizit auf den Punkt gebracht hat: »Man trete an unsere Briefe heran, unmittelbar nach einer gründlichen Lectüre der Römer‑, Galater- oder Korintherbriefe, und das plötzlich veränderte, bedeutend niederer gestellte Niveau der ganzen Denkart wird sich unabweisbar geltend machen. Zwar kennt man das Horazische Quandoque bonus dormitat Homerus, man weiss auch, dass Göthe neben Faust zuweilen »Quark« producirt hat. Aber bei einem so stark ausgeprägten originalen Geiste wie Paulus erwartet man mit Recht in allen grösseren Auslassungen, die er schriftlich fixirte, »seines Geistes einen Hauch zu verspüren«. Ein Mann, welcher von der Ursprünglichkeit seines inneren Gehaltes selbst ein so bestimmtes Bewusstsein verräth (Gal. 1,11 f. 2,2 f. 2 Kor. 4,2. 11,4), wird Allem, was er in irgend einer Weise amtlich oder beruflich schreibt, auch den unverkennbaren Stempel seines Geistes aufdrücken. Nun braucht man aber noch keineswegs der Ansicht Schwalbʼs zu sein, dass nur leeres Stroh in den Pastoralbriefen stecke, um die auch von ihm concedirten »Glanzstellen doch als secundären Charakters, als Nachwirkungen paulinischer Lectüre zu recognosciren und zu finden, dass in Bezug auf Gewicht des Gehaltes, Grossartigkeit und Geschlossenheit des Gedankenganges selbst die zweifelhaften Paulinen hoch über jenen stehen.«19

Der Maßstab, an dem sich die Pastoralbriefe messen lassen müssen, sind also die vier großen Episteln des Baurschen Kanons der als authentisch anerkannten Paulusbriefe, allen voran der Römerbrief. Die vergleichsweise theologische Banalität der Pastoralbriefe wird deutlich hervorgehoben; es fallen Begriffe wie »Quark« oder »leeres Stroh«. Als »concedirte Glanzstellen« gelten Holtzmann die hymnischen und traditionell geprägten Stücke, die zwar nicht originär paulinisch, aber theologisch noch einigermaßen akzeptabel sind. Hier ist derselbe Idealismus des 19. Jahrhunderts mit Händen zu greifen, dem sich auch die inzwischen längst nicht mehr diskutable Reduktion des Corpus Paulinum authenticum auf die vier Hauptbriefe (Römer-, Galater-, 1./2. Korintherbrief ) verdankt. Die Wirkung Holtzmanns auf die nachfolgende Forschung über die Pastoralbriefe kann nicht hoch genug veranschlagt werden.20 Das gilt in positiver wie negativer Hinsicht. Einerseits hat er mit seinem Kommentar den Weg gebahnt zu einer primär literarischen Sichtweise der Pastoralbriefe, die dann im 20. Jahrhundert mit der Theorie eines Corpus pastorale einen weiteren Höhepunkt finden sollte. Zudem hat Holtzmann die Gnosis- bzw. Marcionthese Baurs deutlich relativiert, damit aber zugleich die Problematik der Frage nach den sogenannten Gegnern verschärft. Deren Profilierung wird schwierig, will man alle Aspekte aus den drei Briefen zu ihrer Beschreibung heranziehen.21 Andererseits aber hat es die nachfolgende Forschung viel Mühe gekostet, das bei Holtzmann offenkundige Negativimage der Pastoralbriefe zu überwinden und ihnen gewissermaßen ihre Daseinsberechtigung innerhalb des Corpus Paulinum und ihre Bedeutung für die Kirche zurückzugeben. 19 

Holtzmann, Pastoralbriefe, 60–61. Merk, Holtzmann, bes. 521. 21  Vgl. dazu Herzer, Juden – Christen – Gnostiker (in diesem Band 293–314). 20 Vgl.



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Die Sensibilität im Hinblick auf die notwendige Differenzierung innerhalb der Pastoralbriefe, wie sie noch Baur bewusst war, ist der Forschung seit Holtzmann weitgehend verloren gegangen.22 Man könne sogar etwas zugespitzt behaupten, dass ein großer Teil der Forschung zu den Pastoralbriefen seit Baur den Versuch darstellt, die von ihm behauptete engste Zusammengehörigkeit der Pastoralbriefe formal und inhaltlich zu begründen. Dabei sind zweifellos viele wichtige und weiterführende Einsichten gewonnen worden. Doch wie schwierig eine solche Begründung im Einzelnen ist, zeigen die disparaten Ergebnisse dieser Versuche, angefangen von der eher schlichten Metapher Holtz­manns, die Pastoralbriefe seien »unzertrennlichere Drillinge, als Epheser- und Kolosserbrief Zwillinge sind«,23 über die enorm einflussreiche Erklärung des Corpus pastorale durch Peter Trummer als literarisches »Triptychon« zum Abschluss der Sammlung der Paulusbriefe,24 über Martin Dibeliusʼ »Vademecum für alle möglichen antignostischen Kämpfe«25 bis hin zum Vorschlag von Richard I. Pervo, den jüngst Timo Glaser in einer Marburger Dissertation expliziert hat, die Pastoralbriefe seien als Briefroman zu verstehen, der als narrativer Entwurf die Geschichte des Paulus gleichsam zu Ende schreiben wolle.26 Allen Erklärungsversuchen gemeinsam ist die Voraussetzung, dass die Pastoralbriefe literarisch so eng zusammengehören, dass man sie faktisch als ein Werk in drei Teilen verstehen müsse. Michaela Engelmann hat demgegenüber auf der Grundlage einer eingehenden Analyse der Forschungslage und der Pastoralbriefe mit hinreichender Plausibilität nachweisen können, dass die drei Briefe erst in der Rezeption zu einem Corpus pastorale werden und dies nicht bereits in der Konzeption eines einzelnen Autors angelegt ist.27 Da die Erklärungen der Pastoralbriefe unter der Voraussetzung ihrer Pseudonymität im Detail so disparat sind, dass sie oft einander ausschließen, verwundert es nicht, dass es seit den heftigen konservativen Protesten gegen den »Donnerschlag« Schleiermachers bis heute eine hartnäckige Verteidigung der Echtheit aller Pastoralbriefe durch »Kritiker und Fanatiker« gibt, wie Baur diejenigen nannte, die ihn so heftig angriffen.28 Doch auch in der Verteidigung der Echtheit müssen die Begründungsversuche nicht nur mit einem erheblichen hypothetischen Aufwand versehen werden, sondern geraten ebenfalls oft erstaunlich gegensätzlich und setzen zudem auch einen einzigen Autor  – nämlich Paulus selbst  – voraus. Meistens geschieht die Verteidigung der Echtheit unter der – ausgesprochenen oder 22  Vgl. dazu bes. die in Anm. 4 Genannten; darüber hinaus auch Fuchs, Unterschiede, allerdings unter der Voraussetzung, dass alle drei Pastoralbriefe von Paulus selbst geschrieben seien. Damit werden jedoch neue Probleme aufgeworfen, die schon die Debatten des 19. Jahrhunderts bestimmten, hier aber nicht zu diskutieren sind; vgl. dazu z. B. Herzer, Papyri (in diesem Band 99–124). 23  Holtzmann, Pastoralbriefe, 7. 24  Trummer, Paulustradition, 74; vgl. auch Houlden, Epistles, 19. 25  Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 54. 26  Pervo, Romancing; Glaser, Briefroman. 27  Engelmann, Untersuchungen, bes. 598–601. 28  Baur, Kritiker.

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unausgesprochenen – Prämisse, dass es Pseudepigraphie im Neuen Testament aus theologischen und moralischen Gründen nicht geben könne. Es dürfte außer Frage stehen, dass auch eine solche Auffassung den Realitäten nicht gerecht wird.29 Als Resümee dieses allzu knappen Blickes in die Forschungsgeschichte wird man das Gefühl nicht los, dass angesichts der enormen Disparatheit der Forschung beide der klassischen Alternativen – dass nämlich entweder alle drei Pastoralbriefe echt oder alle drei unecht seien – diesen Schriften weder historisch noch inhaltlich gerecht werden. Dieses »zwiespältige Gefühl« (Lorenz Oberlinner30) nimmt Gestalt an in der m. E. begründeten Vermutung, dass die Lösung des »Rätsels« der Pastoralbriefe auf einer anderen Ebene zu suchen ist als auf den eingefahrenen und nur scheinbar sicheren Gleisen eines magnus consensus.

2.  Methodische Perspektiven 2.1  »Leeres Stroh« oder geniale Fälschung? – Sprache, Stil und »die ganze Denkart«31 »Eigentlich«, so hatte Albert Schweitzer das Problem Schleiermachers mit dem 1. Timotheusbrief auf den Punkt gebracht, »ist nicht der Kritiker, sondern der Aesthetiker Schleiermacher an I  Tim. irre geworden.«32 Methodisch setzte Schleiermacher bei den sprachlichen Besonderheiten des 1. Timotheusbriefes an, und zwar im Hinblick auf spezifische Wendungen und Hapaxlegomena, die bei Paulus nicht oder – wenn es um eine ähnliche Sache geht – mit anderer Terminologie zu finden sind. Ausweislich der einschlägigen Kommentar- und Einleitungswerke sind für die deutero- oder tritopaulinische Einstufung der Pastoralbriefe ihre stilistischen und sprachlichen Besonderheiten im Vergleich zu den anerkannten Paulusbriefen nach wie vor eines der Hauptargumente,33 auch wenn inzwischen größere Vorsicht in dieser Hinsicht erkennbar wird. Nun ist eine detaillierte Beschäftigung mit wortstatistischen und stilistischen Fragen zugegebener Maßen ausgesprochen mühsam. Wer einmal versucht hat, sich durch das alte, aber immer noch verwendete Tabellenwerk Morgenthalers34 zu arbeiten, der mag einen Eindruck von dieser Mühe haben. Neuere digitale Methoden mögen uns auch auf diesem Gebiet in Zukunft weiterhelfen können.35 Wichtig ist mir an dieser Stelle zunächst nur, deutlich zu machen, woher die Skepsis den 29 

Vgl. dazu Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76). Oberlinner, 1 Tim, VII. 31  Holtzmann, Pastoralbriefe, 60. 32 Vgl. Schweitzer, Geschichte, 6. 33  Vgl. z. B. Broer, Einleitung 2, 534–535, der das Problem der Vergleichbarkeit erwähnt, allerdings nicht methodisch integriert; Pokorný/Heckel, Einleitung, 661; Schnelle, Einleitung 2013, 407. 34  Morgenthaler, Statistik. 35  Vgl. z. B. van Nes, Pauline Language. 30 

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Pastoralbriefen gegenüber kommt und in welchem Maße diese Skepsis die Versuche bestimmt hat, Harnacks »Rätsel« zu lösen. In methodischer Hinsicht ist nämlich sofort einsichtig, dass wortstatistische und stilanalytische Vergleiche stets gewisse Koordinaten voraussetzen, die das Ergebnis und damit auch die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen bestimmen. Werden diese Koordinaten (z. B. Textumfang, Genre, Abfassungssituation und die darin zu erwartende Wortsemantik) verändert, ändert sich auch das argumentative Gefüge. Eine entscheidende Koordinate ist dabei, ob die drei Pastoralbriefe in ihrem Gesamtumfang als ein literarisch zusammengehörendes Briefkorpus der statistischen Erhebung zugrunde gelegt oder ob sie als Einzelschriften behandelt und separat verglichen werden. Gerd Häfner hat auf dieses Problem ausdrücklich und zu Recht hingewiesen: »Mit rein statistischen Mitteln ist der unpaulinische Charakter der Sprache also nicht zu erweisen.«36 Wichtig sei vielmehr, diese wortstatistischen Beobachtungen mit den »inhaltlichen Eigentümlichkeiten«37 der jeweiligen Briefe zu verbinden, die eindeutiger gegen eine paulinische Verfasserschaft sprechen. Hier freilich beginnt das Problem, denn methodisch bemerkenswert ist die Unschärfe dieses Arguments, das letztlich einen zirkulären Anschein hat: Der Ausgangspunkt sind stilistische und statistische Auffälligkeiten, die als Hinweis auf sachliche Unterschiede gewertet werden, welche »eine Rückführung auf Paulus ausschließen«38 und auf diese Weise wiederum die Signifikanz der abweichenden Stilistik bestätigen. Das Problem ist die Auswertung der Befunde unter den jeweils als gegeben angenommenen Voraussetzungen – oder anders formuliert: unter den vorgegebenen Koordinaten, innerhalb derer die Befunde erhoben und interpretiert werden. Daher ist stets methodische Vorsicht geboten: Man darf nicht erwarten, dass alle Spannungen in der Frage nach pseudepigraphischer oder authentischer Abfassung neutestamentlicher Schriften aufzulösen sind. Das eingangs zitierte Diktum Harnacks über den »kritischen Gewaltstreich« gilt nach wie vor. Selbst in anerkanntermaßen echten Paulusbriefen gibt es zahlreiche umstrittene Passagen, Begriffe und Vorstellungen, die nicht ohne Schwierigkeit zu dem passen, was man sonst von Paulus weiß oder meint, als »typisch paulinisch« identifizieren zu können; Röm 13 etwa ist hier ein notorisches Beispiel.39 Ähnliches gilt auch hinsichtlich des Problems einer plausiblen historischen Darstellung der Geschichte der paulinischen Mission bzw. Literatur und ihrer Nachgeschichte sowie das ausgesprochen schwierige Verhältnis der paulinischen Briefe und insbesondere der Pastoralbriefe zur Apostelgeschichte.40 Das gilt umso mehr, wenn man eine fiktive und pseudepigraphische Konstruktion von Geschichte voraussetzt, wie dies z. B. in der Briefromanthese eine entscheidende Rolle spielt. Allzu spannungsfreie Konstruktionen jenseits der 36 

Häfner, Pastoralbriefe, 459. A. a. O., 460. 38 Ebd. 39 Vgl. Hüneburg, Relevanz; dazu Krauter, Weg, 289–293. 40 Vgl. exemplarisch die Sammelbände Moessner u. a., Paul, darin bes. Schröter, Paul (deutsch: Ders., Kirche); Kloppenborg/Verheyden, Luke. 37 

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I  Perspektiven der Forschung

vorliegenden Texte stehen dabei immer im Verdacht, zu viel selbst aufzufüllen, wo Informationslücken offenkundig sind. Vorsicht ist auch geboten bei den häufigen Harmonisierungsversuchen bestimmter historisch anmutender Angaben, die in verschiedenen Schriften in eine nicht aufzulösende Spannung treten. Solche Spannungen verdanken sich oft eher der konkreten literarischen Kontextualisierung und Geschichtskonstruktion, als dass sie einen realen historischen Widerspruch dokumentieren.41 Im Blick auf das sprachlich-stilistische Verhältnis der Pastoralbriefe zu anderen Paulusbriefen und auch untereinander muss zudem ernst genommen werden, dass die Briefe mit der Nennung zweier unterschiedlicher Adressaten in drei Briefen eine komplexe Abfassungssituation zumindest konstruieren. Darüber hinaus setzen sie explizit unterschiedliche Situationen voraus und weisen zudem unterschiedliche Genremerkmale auf.42 Die Notwendigkeit der Berücksichtigung dieser Aspekte gilt auch – und erst recht – unter pseudepigraphischen Vorzeichen. Beide Adressaten der Briefe stehen zudem in einem unterschiedlichen Verhältnis zu Paulus, was unter pseudepigraphischer Voraussetzung sowohl dem Autor als auch den (realen) Adressaten vor Augen steht und die Weise der Rezeption mit bestimmt. Das ist umso mehr ein Problem, wenn man etwa in den fiktiven Adressaten die realen Autoren sieht,43 wobei die Unterscheidung zwischen »fiktiv« und »authentisch« zu verschwimmen beginnt. Die Frage nach den unterschiedlichen Entstehungsbedingungen hinsichtlich der fiktiv vorausgesetzten Adressaten in ihrem Verhältnis zu den realen Adressaten oder die vielen persönlichen Notizen im Detail können auch unter pseud­epigraphischen Vorzeichen nicht einfach ignoriert oder zu geläufigen Stilmitteln erklärt werden, die lediglich in ihrer »Genialität« nicht durchschaut werden konnten. Um die negativen Implikationen des Begriffes Fälschung zu vermeiden, wurden gerade die persönlichen Notizen oft mit einem tieferen theologischen Sinn belegt.44 Mit solchen Interpretationen hatte die Forschung beherzt und entschieden einen Holzweg beschritten.45 Der entgegengesetzte Ansatz einer pauschalen Einstufung pseudepigraphischer Briefe als Fälschungen, wie sie derzeit von Bart D. Ehrman wieder vertreten wird, wonach persönliche und biographische Notizen grundsätzlich eine Täuschungsabsicht implizieren,46 wird dem komplexen Phänomen der Pseudepigraphie zwar auch nicht gerecht, macht aber immerhin auf das Problem aufmerksam.

41  Vgl. etwa die Rekonstruktionen bei van Bruggen, Einordnung, sowie im Anschluss daran Fuchs, Unterschiede. 42  Vgl. grundlegend Wolter, Pastoralbriefe, 156–241. 43 Vgl. Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule, 239–272. 44  Vgl. die Interpretationen von »Mantel und Schriften« (2 Tim 4,13) bei Brox, Notizen; oder auch Trummer, Mantel. 45  Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule, 242; zur Sache vgl. Luttenberger, Prophetenmantel. 46  Ehrman, Forgery.



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2.2  »Lukas ist allein bei mir« – Die Pastoralbriefe und die Paulusbiographie Bevor Schleiermacher seine philologischen Bedenken im Blick auf den 1.  Timotheusbrief äußerte, hatte  – wie bereits erwähnt  – Schmidt in seiner »Historischkritischen Einleitung in das Neue Testament« von 1804 Zweifel an der Echtheit des 1. Timotheusbriefes geäußert, und zwar in historischer Hinsicht: Der Brief war nicht mit den bekannten Daten der Paulusmission in Einklang zu bringen. In der Tat war es stets der 1. Timotheusbrief, der den Verteidigern der Echtheit Schwierigkeiten bereitet und zu weitreichenden Hypothesen nötigte. Im Unterschied zu den beiden anderen Briefen bietet er keine konkreten historisch auswertbaren Daten.47 Für den Titusbrief und den 2. Timotheusbrief sind die Dinge klarer, und unter einem pseudepigraphischen Vorzeichen würde sich dadurch auch eine andere Art der Fiktion als im 1. Timotheusbrief ergeben. Nach Tit 1,5 war Paulus auf Kreta; zudem macht der Brief konkrete Angaben über die Situation des Paulus und anderer Personen; der 2. Timotheusbrief setzt eine römische Gefangenschaft voraus und gibt Einblick in ein ganzes Netzwerk von Mitarbeitern vor dem Hintergrund einer besonderen testamentarischen Situation. Um aber den 1. Timotheusbrief historisch in der Paulusbiographie und vor allem in Relation zum Titus- und zum 2. Timotheusbrief zu verankern, müsste Paulus nach der auch in Apg 28 erwähnten Gefangenschaft in Rom frei gekommen und noch einmal in der östlichen Mittelmeerregion einschließlich Ephesus tätig gewesen sein, bevor er dann in einer zweiten römischen Gefangenschaft den Tod fand. Manche meinen sogar, Paulus hätte in dieser Phase dann auch auf Kreta noch missioniert.48 Diese Vermutung versucht zugleich ein Problem der Verortung des Titusbriefes zu lösen, da dessen fiktiver Charakter u. a. mit dem Argument begründet wird, dass von Paulus keine Kretamission bekannt sei (s. u.). Oft wird auch die Hypothese einer zweiten römischen Gefangenschaft mit der Realisierung der Spanienmission verbunden, die Paulus im Römerbrief in Aussicht genommen hatte. Doch derartige Szenarien beruhen lediglich auf Vermutungen, die mit den vorhandenen Quellen nur schwer begründbar sind. Ausgangspunkt ist dabei der Wunsch, alle drei Pastoralbriefe in der Paulusbiographie zu verorten. Das aber ist offenkundig nicht ohne die hypothetische Annahme von historisch nicht belegbaren Daten möglich.49 Weder die Spanienmission noch eine weitere Tätigkeit im Osten des Imperiums noch eine zweite römische Gefangenschaft sind aus den uns bekannten Quellen auch nur ansatzweise wahrscheinlich zu machen.50 47  Eine gewisse Ausnahme stellt die Erwähnung von Ephesus und Mazedonien in 1 Tim 1,3 dar (s. u.). 48  Neudorfer, Titus, 28–30. 49  Vgl. z. B. Neudorfer, 1 Tim, 25–32 (1 Tim und Tit nach einer ersten römischen Gefangenschaft); Thiessen, Paulusbriefe, 400–401 (Abfassung des 1 Tim Mitte der 60er Jahre, zwischen der ersten und zweiten römischen Gefangenschaft); anders Fuchs, Frühe Datierung, 373–387 (Datierung des 1 Tim Mitte der 50er Jahre vor der in Apg 28 erwähnten römischen Gefangenschaft). 50  Vgl. z. B. die Sammelbände Gavaldà Ribot u. a., Pau, bes. 47–190; sowie Tàrrech u. a., Last Years. Zum Problem vgl. Herzer, Ende des Paulus (in diesem Band 185–214).

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I  Perspektiven der Forschung

Macht man sich die historische Problematik des 1. Timotheusbriefes hinsichtlich der Paulusbiographie klar und sieht man zudem, dass die im Vergleich zum 1. Timotheusbrief ungleich umfangreicheren persönlichen und biographischen Notizen des 2. Timotheus- und des Titusbriefes für eine pseudepigraphische Deutung stets problematisch waren, so wird man zumindest in methodischer Hinsicht fragen dürfen, ob die Unterschiede zwischen 1.  Timotheusbrief einerseits und Titus/2.  Timotheusbrief andererseits nicht darauf hinweisen, dass diese beiden Briefe historisch anders zu beurteilen sind als der 1. Timotheusbrief. So ist etwa die Ortsangabe Ephesus in 1 Tim 1,3 historisch unauffällig, weil Ephesus oder eine ephesinische Kontextualisierung für das Anliegen des Briefes keine historische, sondern eine literarische bzw. traditionsgeschichtliche Bedeutung hat. Der Ortsname Ephesus ist als Zentrum der Paulustradition bekannt und plausibel und kann daher sogar für einen ansonsten fiktiven Brief einen authentischen Kontext benennen. Zudem lässt der Brief offen, wo konkret sich Paulus selbst befindet. Die beiläufige Notiz, Paulus sei nach Mazedonien gereist, nimmt ebenfalls nicht mehr als eine typische Ausrichtung der Paulusreisen auf. Auch personell gibt es im 1. Timotheusbrief keine Hinweise auf die Situation des Paulus. In der Fiktion wird mit alldem der Topos der Abwesenheit des Apostels aufgenommen, woran auch die Bemerkung in 3,14 über seine eventuelle Rückkehr (nach Ephesus) nichts ändert, da diese Option sogleich relativiert wird. Es wird auch kein Wunsch geäußert, Timotheus solle bald zu Paulus kommen, wie das für die anderen beiden Briefe geradezu konstitutiv ist. Im Gegenteil: 1 Tim 3,14 (vgl. 4,13) macht vor diesem Hintergrund explizit, dass Paulus nicht mehr kommen wird und Timotheus – exemplarisch für die im Brief angesprochenen Verantwortungsträger – dauerhaft für die Belange der paulinischen Gemeinde bzw. der paulinischen Tradition verantwortlich ist. Im Unterschied zum 1. Timotheusbrief sind die Lokal- und Personalnotizen im 2. Timotheusbrief sehr konkret. Hervor sticht insbesondere die Feststellung: »Lukas ist allein bei mir« (4,11). Das ist sehr wahrscheinlich auf den Autor der Apostelgeschichte bezogen, der ausweislich der »Wir«-Passagen Paulus auf der Romreise begleitet hat.51 Dies wiederum korrespondiert mit der Situation des Titusbriefes. Die Erwähnung Kretas in Tit 1,5 ist dabei insofern von Bedeutung, als der Brief nicht nur am Schluss diesen geographischen Rahmen mit der Erwähnung der sonst ganz unbekannten Stadt Nikopolis explizit aufnimmt (3,12), sondern auch in einer sehr polemischen Weise gegen »die aus der Beschneidung« als Kreter polemisiert und dafür ein kretisches Klischee verwendet (1,10–12).52 Hinzu kommt, dass Kreta für einen pseudonymen Autor als Fiktion keine geschickte Lokalisierung darstellt, weil über die Gründung paulinischer Gemeinden auf Kreta nichts bekannt ist. Selbst der Titusbrief gibt keinen Hinweis darauf, dass die dortigen Gemeinden paulinische Gründungen seien. Paulus erwähnt Kreta nie und auch bei Lukas spielt diese Insel nur am Rande eine Rolle, aber immerhin im Zusammenhang der Romreise. In noch 51 

Zur Problematik vgl. Herzer, Lukas (Lit.) (in diesem Band 215–246). Vogel, Kreterpolemik.

52 Vgl.



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höherem Maße als der 2. Timotheusbrief lässt der Titusbrief auch eine Bewegung von Mitarbeitern von und zu Paulus erkennen, die Rückschlüsse auf die Situation des Apostels erlaubt.53

3.  Kreta – Rom – Ephesus: Von der Paulusbiographie zur Paulushagiographie Weil dies in besonderer Weise heikel ist und gleichsam eine Probe aufs Exempel darstellt, soll an dieser Stelle anhand einer historischen Argumentation exemplarisch ausgeführt werden, wie eine Verortung des Titusbriefes in der Paulusbiographie möglich ist und wie sich von daher das Verhältnis der drei Briefe zueinander beschreiben lässt. Die Voraussetzung ist dabei, den Brief ohne eine literarhistorische Bindung an die beiden anderen Briefe zu beurteilen. Für den 2. Timotheusbrief – so viel sei hier dazu gesagt  – ist das deutlich einfacher, wenn man ihn unabhängig vom 1. Timotheusbrief behandelt und daher nicht mit einer zweiten römischen Gefangenschaft rechnen muss. Das ist mehrfach in der Forschung bereits diskutiert und vorgeschlagen worden.54 Für sich genommen ist der 2. Timotheusbrief in seinem testamentarischen Charakter55 als Vorbereitung für Timotheus zur Übernahme der Verantwortung für das Evangelium des Paulus im Sinne einer παραθήκη ohne weiteres verstehbar, zumal auch ein pseudepigraphischer Autor dieses Ziel intendierte. Selbst der Begriff παραθήκη, der zumeist als ein spezifischer Marker für eine nachpaulinische Zeit angesehen wird, markiert hier keine überlieferungsgeschichtliche Differenz zu Paulus, sondern ergibt sich geradezu zwangsläufig aus der testamentarischen Absicht und damit aus der Spezifik des Genres: Der Inhalt der Paratheke ist folgerichtig das Evangelium des Paulus, für dessen Bewahrung der Apostel angesichts seines Todes seinen engsten Mitarbeiter Timotheus in die Pflicht nimmt: Nur in Röm 2,16; 16,25 und 2 Tim 2,8 findet sich die Formulierung »mein Evangelium«. Mit diesem konkreten Bezug auf das Evangelium unterscheidet sich die Verwendung des Paratheke-Begriffs im 2. Timotheus- vom 1. Timotheusbrief, der ihn nur an einer Stelle in 1 Tim 6,20 in einer bereits transformierten und vor allem nicht genregemäßen Bedeutung verwendet: Dort ist die παραθήκη nicht mehr das Evangelium des Paulus, sondern das »anerkannte Bekenntnis«, das als »Geheimnis der Frömmigkeit« beschrieben wird und in der Gemeinde als einer »Festung der Wahrheit« (3,15–16) gegen die »Antithesen der fälschlich so genannten Gnosis« (6,20) zu schützen ist. Dementsprechend fehlt der Begriff der παραθήκη auch im Titusbrief, der im Genre 53  Die damit gestellte Frage nach dem historischen Wert der Apg im Vergleich etwa zu den Angaben in Paulusbriefen wird in der neueren Actaforschung intensiv diskutiert, vgl. exemplarisch Frey u. a., Apostelgeschichte. 54  Vgl. z. B. Prior, Paul; Murphy-O’Connor, 2 Timothy; ders., Paul. A Critical Life, 356– 359; vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen, 90–94. 55 Vgl. Weiser, Freundschaftsbrief.

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I  Perspektiven der Forschung

des Mandatsschreibens56 zwar dem 1.  Timotheusbrief vergleichbar ist, aber eine ganz eigene Situation beschreibt oder – wenn man an einer pseudepigraphischen Fiktion festhalten will – konstruiert. Was den 1. Timotheusbrief betrifft, so wurde bereits angedeutet, dass er unter pseudepigraphischem Vorzeichen die Stadt Ephesus gleichsam als Chiffre für die Paulustradition verwendet: Timotheus wird dort als eine bleibende Autorität bzw. auf seine stabilitas loci angesprochen. Die vagen Hinweise auf Mazedonien (1,3) und auf die mögliche, aber unwahrscheinliche Rückkehr des Paulus (3,14; 4,13) unterstreichen dies zusätzlich. An die Stelle des dauerhaft abwesenden Apostels tritt sehr prominent im ersten Kapitel (1 Tim 1,12–17), was die Forschung durchaus angemessen mit dem Begriff »Paulushagiographie« beschrieben hat, nämlich dass Paulus auf eine einzigartige und geradezu hymnische Weise (vgl. den Lobpreis in 1,17) zum Prototypen des Christusgläubigen stilisiert wird.57 Dieser den Apostel überhöhende Abschnitt steht briefrhetorisch an der Stelle, an der man eher die Danksagung oder den Lobpreis für die Gemeinde oder auch den Mitarbeiter Timotheus erwartet (vgl. etwa in 2 Tim 1,3–5). Damit ist zugleich der Mandats­ charakter des Briefes, wie er in 1 Tim 1,3–11 erkennbar wird, als ein literarisches Stilmittel relativiert – ein im Vergleich zum Titusbrief markantes Genremerkmal. Demgegenüber beschreibt der Titusbrief eine erstaunlich nüchterne räumliche und personelle Dynamik. Wie bereits erwähnt, macht sich die räumliche Dimension fest an den Ortsnamen Kreta am Beginn (1,5) und Nikopolis am Schluss des Briefes (3,12). Diese haben die Forschung seit jeher ebenso interessiert wie irritiert. Präzision und Umfang des Schlusses im Titusbrief lassen die Absicht nicht allein in der Beschreibung des Mandats des Titus bzw. der in Ansätzen haustafelartigen Paränese aufgehen. Selbst die theologischen »Glanzstellen« (Holtzmann) in Tit 2,11–14 und 3,4–7 gewinnen dadurch eine auf diese Situation bezogene Funktion, indem sie die Vergewisserung der Erwartung und der Hoffnung des Paulus in seiner Lage dokumentieren. Irritierend an Kreta und Nikopolis ist jedoch die Frage, wie diese Namen mit Paulus verbunden werden können. Den einzigen Ansatzpunkt dazu liefert die Tatsache, dass Kreta nur im Titusbrief (1,3) und in der Apostelgeschichte (27,7.12–13.21) erwähnt wird. In der Apostelgeschichte ist die Insel eine Station der Romreise des Paulus im Gewahrsam einer römischen Schutztruppe. In keinem anderen Brief des Corpus Paulinum ist von Kreta die Rede. Nikopolis kommt umgekehrt in der Apostelgeschichte nicht vor, was vor allem unter pseudepigraphischer Perspektive eine weitere Komplikation darstellt.58 56 Vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 164–165; Johnson, First and Second Letters, 139–140; Herzer, Papyri (in diesem Band 99–124). 57 Vgl. Collins, Image, hier 147: »traces of an emerging Pauline hagiography«; im Anschluss daran hat Dassmann, Stachel, 166, den Begriff der »Paulushagiographie« geprägt. Vgl. auch Engelmann, Paulusbilder, bes. 236–244, die den Begriff selbst nicht programmatisch aufgreift, jedoch die Bedeutung des Apostels im 1 Tim deutlich von dem Profil des Paulusbildes im 2 Tim und im Tit abhebt und Paulus als »Personifikation des Heilshandelns Christi« (a. a. O., 243) verstanden sieht. 58  Auch bei einem pseudonymen Autor muss man daher eine Beziehung zur Kreta-Tradition



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Ist aber der Kreta-Aufenthalt des Paulus nach der Apostelgeschichte mit der kretischen Situation des Titusbriefes59 kompatibel? Nach Tit 1,5 war Paulus nur kurze Zeit mit Titus auf Kreta und konnte nicht alles Notwendige in seinem Sinne selbst regeln. Deshalb lässt er bei seiner Abreise Titus zurück, um Presbyter mit episkopalen Aufgaben einzusetzen. Damit trägt der Brief klare Züge eines Mandatsschreibens, das Titus für seine Aufgabe legitimiert und autorisiert.60 Wichtig ist hierbei die bereits erwähnte Feststellung, dass der Titusbrief weder explizit noch implizit eine Missionsarbeit des Paulus auf Kreta voraussetzt. Dies entspricht dem, was wir sonst über die paulinische Mission wissen. Aufgrund von Apg 2,11 wird jedoch aus der Anwesenheit von (jüdischen) Kretern beim Pfingstereignis plausibel, dass es auf Kreta bereits vor der paulinischen Mission Judenchristen bzw. judenchristliche Gemeinden gegeben hat oder gegeben haben könnte.61 Vielleicht ist aufgrund dieser Relation von kretischen Juden zu jenem Ereignis am Wochenfest in Jerusalem mit einer Prägung durch das Jerusalemer Judenchristentum zu rechnen, mit dem Paulus wahrscheinlich bis zuletzt im Konflikt stand. Dem korrespondiert die harte Polemik des ausdrücklich unverrichteter Dinge (1,5) von Kreta wieder abreisenden Paulus im Titusbrief, die explizit gegen Widersacher »aus der Beschneidung« (μάλιστα οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς) gerichtet ist und an den im Galaterbrief erkennbaren Konflikt erinnert.62 Hinzu tritt die personelle Dimension. Während Kreta die Situation des Briefempfängers benennt, markiert die Ortsangabe Nikopolis in 3,12 diejenige des Absenders: Paulus werde dort den Winter verbringen.63 Paulus kündigt die Sendung eines unbekannten Artemas oder des Tychikos (vgl. 2 Tim 4,12; Kol 4,7–8; Eph 6,21–22; Apg 20,4) an, damit Titus so bald wie möglich nach Nikopolis nachkommen könne, und zwar vor dem Winter – d. h. selbst dann, wenn sein Auftrag (vgl. 1,5) noch nicht vollständig ausgerichtet sein sollte.64 Das Nachkommen des vermuten, wie sie auch in der Apg bezeugt wird. Daher nimmt z. B. die Theorie der Pastoralbriefe als eines Briefromans gerade solche Elemente als Bausteine für eine Paulusgeschichte ernst, die insgesamt den Leserinnen und Lesern plausibel sein muss, vgl. Glaser, Briefroman, bes. 16–23. 59  Vgl. a. a. O., 224–237. 60 Vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 183–184: Vor dem Hintergrund der mandata principis sind die Begriffe ἀπολείπειν und καταλείπειν »Termini technici, die den Vorgang der Einsetzung von Stellvertretern beschreiben« (a. a. O., 183). 61 Vgl. Pervo, Acts, 68: »›Cretans and Arabs‹ must then be left dangling, but they are difficult to fit in by any measure.« Zur jüdischen Bevölkerung Kretas vgl. van der Horst, Jews; vgl. insbesondere Philo, Legat. 282, der in der Beschreibung der Ausbreitung der jüdischen Diaspora explizit auch die Insel Kreta nennt, allerdings nicht die Arabia. Das ist bei van der Horst, a. a. O., 195, nicht berücksichtigt. Immerhin nennt Paulus die Arabia in Gal 1,17; 4,25. 62 Was Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, m. E. zu Recht als »Israelvergessenheit« in den Pastoralbriefen herausgearbeitet hat, kann in dieser markanten Weise nur vom 1 Tim her begründet werden. Spätestens mit Blick auf den Tit und seine Polemik gegen »die aus der Beschneidung« wird die Vorstellung einer Israelvergessenheit durchaus problematisch. 63  Vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen, 463–464. 64  Die Notiz in 2 Tim 4,12, Paulus habe Tychikus nach Ephesus gesandt, steht dazu nur dann in einem gewissen Spannungsverhältnis, wenn man es auf einer fiktiven Ebene unter der Voraussetzung eines Corpus pastorale liest, so zu Recht Engelmann, a. a. O., 462. Vordergründig lässt

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Titus vor dem Winter ist wichtiger als dessen dauerhafte persönliche Präsenz im Namen des Apostels auf Kreta.65 Die Reisebewegung von Kreta nach Nikopolis im Titusbrief ist zudem insofern ein realistisches Szenario, als nur das Nicopolis apud Actium in Epirus (Westgriechenland) gemeint sein kann. Aus antiken Quellen ist diese Stadt als Winterhafen auf der Reise nach Rom auch von Kreta aus für die Schifffahrt bekannt.66 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich die Konsequenz formulieren, dass die im Titusbrief vorausgesetzte Situation (ob fiktiv oder realiter) mit derjenigen vergleichbar ist, die Lukas als letzte Reise des Paulus nach Rom erzählt.67 Dabei muss freilich erklärt werden, warum der Titusbrief weder einen Schiffbruch (vgl. Apg 27,13–44) noch die Insel Melite (vgl. Apg 28,1) erwähnt, Lukas wiederum weder Nikopolis noch den Paulusmitarbeiter Titus. Das nötigt zu der begründeten Annahme, dass der Titusbrief im Detail einen anderen Verlauf der Romreise des Paulus voraussetzt, als sie Lukas unter seiner literarischen Absicht in der Apostelgeschichte konstruiert. Das betrifft insbesondere den Schifffahrtsbericht im engeren Sinn, der bei Lukas erkennbar theologisch aufgeladen wird.68 Der Titusbrief setzt voraus, dass Paulus von Kreta in Richtung des Winterhafens Nikopolis gereist ist, erwähnt die Umstände aber nicht im Einzelnen.69 Dabei wird deutlich, dass zwischen Apostelgeschichte und Titusbrief keine literarischen Abhängigkeiten erkennbar sind. Immerhin ist aber auffällig, dass Lukas mit der Lokalisierung der Insel der Strandung Melite »in der Adria« (Apg 27,27) durchaus eine geographische Nähe zu Nikopolis herstellt, wobei zugleich auffällt, dass die übliche Identifikation der Insel mit Malta problematisch ist, da Malta nicht in der Adria liegt. Generell ist also festzustellen, dass das Itinerar des Titusbriefes dem der Apostelgeschichte zumindest nicht widerspricht und die Differenzen durch die jeweiligen literarischen Bedingungen hinreichend erklärbar sind;70 und zwar selbst dann, wenn man in Lukas den Reisebegleiter des Paulus sieht. Ähnliches ließe sich 2 Tim 4,12 nur erkennen, dass Paulus Tychikus nicht nach Kreta geschickt hat, wie er es im Tit alternativ zu Artemas als Möglichkeit angekündigt hatte, sondern nach Ephesus, wo ihn dann auch der pseudepigraphische Eph voraussetzt (Eph 6,21), vgl. Sellin, Adresse. 65  Auch die Dringlichkeit, mit der Apollos und Zenas vorausgeschickt werden sollen, sowie die Tatsache, dass Zenas als νομικός wahrscheinlich als Jurist bzw. Anwalt bezeichnet wird (Niederwimmer, Zenas), kann auf eine Situation bezogen werden, in der Paulus einen Anwalt zu seiner Verteidigung nötig hat. 66  Vgl. auch Glaser, Briefroman, 233–237. Die Subscriptio in Majuskel H und im sog. Mehrheitstext liest ἐγράφη ἀπὸ Νικοπόλεως τῆς Μακεδονίας (ca. 50 km nördlich von Philippi; vgl. 945: ἀπὸ Μακεδονίας) wohl aufgrund einer Verwechselung oder einer geographischen Desorientierung hinsichtlich der Ausdehnung der makedonischen Provinz. Minuskel 81 verortet Nikopolis ἐν Κρήτη. 67  Vgl. auch Schröter, Kirche, 86, in Bezug auf die Anknüpfung des Tit an die Erwähnung Kretas in Apg 27. 68  Diese Problematik kann hier nicht erörtert werden; vgl. dazu näher Herzer, Lukas, 52–54 (in diesem Band 215–246). 69  Aufgrund der Schifffahrtsrouten ist dabei die Absicht impliziert, von dort nach Italien und Rom weiter zu reisen, vgl. Glaser, Briefroman, 236. 70  Zur literarischen Gestaltung von Apg 27 vgl. Reiser, Apostelgeschichte. Neumann, Rheto-



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z. B. auch im Hinblick auf die Erwähnung des bevorstehenden Winters in Apg 27 und Tit 3 erwägen. In Tit 3,12 erwähnt Paulus die Überzeugung, in Nikopolis überwintern zu müssen;71 nach Apg 27,9–10 warnt er vor einer Weiterfahrt aufgrund des hereinbrechenden Winters. In der Zusammenschau ergibt sich auch hier die wahrscheinliche Vermutung, dass Lukas diesen Aspekt literarisch ausgebaut und mit dem Schiffbruch für den Zweck seiner Darstellung dramatisiert hat. Folgt man dem in Tit 3 impliziten Szenario, dann war die Abreise von Kreta und die Überfahrt (nach Nikopolis) vielleicht nicht einfach, aber kaum so spektakulär, wie sie Lukas ausmalt. Seine Augenzeugenschaft in dieser Wir-Passage ist damit keineswegs ausgeschlossen; sie legitimiert vielmehr im Gegenteil seine literarische Freiheit.

4. Schlussbemerkung: Die Pastoralbriefe zwischen »Mythos und Wahrheit« In einem solchen Vortrag ist es nicht möglich, ein komplettes Bild der Pastoralbriefe zu zeichnen und die Konsequenzen ausführlich und vor allem auch in einer inhaltlich notwendigen Detailargumentation zu begründen. Mir ging es lediglich um die Plausibilisierung einer neuen Perspektive, die nicht mehr davon ausgeht, dass diese Briefe als ein literarisches Corpus pastorale entstanden sind. Diese Theorie hat sich aus meiner Sicht als Holzweg, um nicht zu sagen als Mythos erwiesen; und dies ist inzwischen vielfach akzeptiert worden. Doch darüber hinausgehend darf man m. E. nicht mit einem einzigen Autor rechnen – sei es ein pseudonymer Autor oder Paulus selbst. Die Unterschiede zwischen den Briefen sind bei allen Gemeinsamkeiten zu groß, als dass diese Konsequenz möglich wäre. Ich will daher meine Sicht am Schluss in Thesenform zusammenfassen, die zum Teil auch etwas über das Vorgetragene hinausgreifen, und dabei erneut an ein Zitat von Adolf von Harnack von 1926 anknüpfen: »Als ich vor 57 Jahren das theologische Studium begann, galt nur der Theologe als ein kritischer Kopf, der nicht mehr als vier Paulusbriefe als echt bestehen ließ. Seitdem ist es anders geworden. Neben I. und II. Kor., Galat., Röm. ist jetzt auch die Echtheit von I. Thess., Koloss., Philipp., Philem. so gut wie allgemein anerkannt. Kontrovers sind noch von den Gemeindebriefen – von den Pastoralbriefen wird später kurz zu reden sein – II. Thess. und Ephes. Ich verkenne nicht, daß hier Schwierigkeiten bestehen, besonders in Hinsicht auf Ephes.; allein sie sind m. E. nicht unüberwindlich, und die inneren Momente, die für die Echtheit sprechen, rik. Vgl. weiterhin Marguerat, Lukas, bes. 44–46; Rothschild, Luke, 264–267. Zur Forschung vgl. Börstinghaus, Sturmfahrt, 281–336. 71  Aufgrund der Perfektform κέκρικα in Tit 3,12 wird oft bestritten, dass sich Paulus hier auf der in Gefangenschaft stattfindenden Reise nach Rom befunden haben könne, da Paulus offenbar »völlig in Freiheit« (Neudorfer, Titus, 229) selbstbestimmt Beschlüsse habe fassen können. Doch sagt die Perfektform lediglich aus, dass Paulus zu der Überzeugung gelangt sei, in Nikopolis überwintern zu müssen. In einem vergleichbaren Sinn vgl. Apg 16,15; vgl. auch LXX Dan 4,26. Vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 3975. Zudem setzt selbst Lukas recht moderate Haftbedingungen voraus (vgl. Apg 27,3.9).

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geben den Ausschlag. Dazu kommt, daß die Sammlung so alt ist, daß die Annahme, einer der Briefe sei eine Fälschung, große Bedenken erregen muß. Nicht, als ob nicht bereits falsche Briefe im Umlauf gewesen sein können […], aber daß falsche Briefe von Gemeinden in ältester Zeit widerspruchslos hingenommen worden sind, darin liegt die Schwierigkeit.«72

Nur etwa 50 Jahre nach Holtzmanns Kommentar weist von Harnack zu Recht darauf hin, dass die Forschungsgeschichte mitunter Wendungen vollzieht, die sich aus veränderten Perspektiven und Voraussetzungen ergeben. Wir waren in unserem Gang von Beobachtungen aus der Forschungsgeschichte ausgegangen, die bereits wichtige Indizien für eine differenziertere Sicht auf die Pastoralbriefe liefern. Darüber hinaus haben auch die exemplarischen methodischen Überlegungen zu der Vermutung geführt, dass nur vom 1. Timotheusbrief überzeugend gesagt werden kann, was man gemeinhin inhaltlich, formal und historisch mit allen drei Pastoralbriefen in ihrer Unterscheidung und Absetzung von den anerkannten Paulusbriefen verbindet. In der Konsequenz ergeben sich folgende Thesen: 1.  Verbunden mit der eingangs formulierten Notwendigkeit, die Corpus pastorale-Theorie aufzugeben, ist eine weitere wichtige Voraussetzung für eine neue Perspektive auf die Pastoralbriefe, dass wir uns von den alten Grabenkämpfen zwischen dem Pseudonymitäts- und Echtheitsparadigma in Bezug auf diese Schriften verabschieden. Zugleich muss das Phänomen der Pseudepigraphie differenzierter beurteilt und spezifischer an den jeweiligen Texten überprüft und plausibilisiert werden. 2.  Der 1. Timotheusbrief hebt sich sehr deutlich von den beiden anderen Briefen ab und lässt erkennen, dass für ihn der 2. Timotheus- und der Titusbrief in Form, sprachlicher Semantik und Inhalt bereits zur rezipierten Paulustradition gehören.73 Dadurch kommt umso mehr zur Geltung, was in der Forschung immer schon gesehen wurde: Aus der Paulusbiographie wird im 1. Timotheusbrief eine Paulushagiographie als eine Voraussetzung für die Konsolidierung bereits gewachsener Leitungsstrukturen und der institutionalisierten Positionierung des Bekenntnisses gegen die »Mythen und Genealogien« der Gnosis, wie es in der späten ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts angesetzt werden kann. Zugleich begründet sich darin auch die Legitimität der pseudonymen Abfassung. 3.  Charakteristisch für den 1. Timotheusbrief ist insbesondere, dass ein festes Bekenntnis in den Mittelpunkt der Gemeinde rückt und auch ausdrücklich als solches benannt wird (καλὴ ὁμολογία, 6,12–13). Die drei als zusammenhängendes Bekenntnis lesbaren Abschnitte (2,5–6; 3,16; 6,15b–16) sind jedoch gerade nicht als paulinische Tradition identifizierbar.74 Das Bekenntnis nimmt vielmehr johanneische und antignostische Elemente sowie synoptische Evangelien­tradition auf und wird gleichsam gegen das »abscheuliche Geschwätz und die Widersprüche der fälschlich so genannten Gnosis« (6,20) in Stellung gebracht. 72 

Von Harnack, Briefsammlung, 11. Vgl. dazu bes. Engelmann, Untersuchungen. 74  Vgl. dazu z. B. Herzer, Tradition und Bekenntnis, bes. 264–270 (in diesem Band 247–270). 73 



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4.  Mit diesen Überlegungen zum 1.  Timotheusbrief ist über die Pseudonymität des 2. Timotheus- und des Titusbriefes a priori noch nichts gesagt. Auch diese könnten unter der Voraussetzung einer je verschiedenen Verfasserschaft pseudonym sein (Richards; Engelmann). Dann aber wären sie es wegen ihrer literarischen Charakteristik auf eine grundsätzlich andere Weise als der 1. Timotheusbrief und entsprechend zu interpretieren. 5.  Die Unterscheidung der Briefe und ein differenzierter Blick auf ihre inhaltlichen Aspekte eröffnet demgegenüber die Möglichkeit, den 2. Timotheus- und den Titusbrief unabhängig vom 1. Timotheusbrief zu bewerten. Dabei ist vor allem bei spezifischen Begriffen wie παραθήκη, ἐπιφάνεια, σωτήρ, μῦθος oder auch der οἰκονομία/οἶκος-Terminologie usw. festzustellen, dass deren Prägung im 1. Timotheusbrief sehr deutlich nicht nur die anderen Briefe vor­aussetzt, sondern vor dem Hintergrund der weiteren Paulustradition spezifische Transformationen erkennen lässt. 6.  Durch eine differenzierte Betrachtung der Briefe wird zudem auch ein erneutes Nachdenken über eine Verortung des 2. Timotheus- und des Titusbriefes in der Missionsbiographie des Paulus nahegelegt. Die Loslösung vom 1. Timotheusbrief macht es möglich, sie als authentische Briefe verstehen, die biographisch jeweils von einer besonderen Situation des Apostels geprägt sind. Dies ist nicht mehr die Auseinandersetzung mit seinen Missionsgemeinden. Es ist vielmehr die Situation eines Apostels, der in Jerusalem mit der Kollekte sehr wahrscheinlich gescheitert ist und der dadurch auch seiner eigenen jüdischen Tradition sowie auch der judenchristlichen Gemeinde von Jerusalem gegenüber noch einmal in eine deutliche Distanz gerät. (a) Der Titusbrief repräsentiert eine Momentaufnahme auf der Reise nach Rom, in der die Auseinandersetzung mit den Juden und Judenchristen in Jerusalem noch vor Augen steht und die kretische Erfahrung sowie die harsche Polemik im Brief prägt. Mit Blick auf die in Christus bereits erschienene Gnade Gottes hofft Paulus jedoch auf das erneute rettende Eingreifen des epiphanen Gottes in seiner misslichen und unsicheren Lage (2,13–14). (b)  Im 2. Timotheusbrief hingegen steht dem Apostel bereits jenseits aller Hoffnung auf den glimpflichen Ausgang der Auseinandersetzung mit den Jerusalemern sein Tod vor Augen, angesichts dessen er seinem Mitarbeiter Timotheus sein Vermächtnis (»mein Evangelium«, 2,8; vgl. Röm 2,16) anvertraut. Weil sie zum Genre des Briefes gehört, ist vor diesem Hintergrund auch die Paratheke-Terminologie unverdächtig, die im Titusbrief konsequenter Weise fehlt und im 2. Timotheusbrief einen anderen Bezug hat als in 1 Tim 6,20. Ein positiver Beweis der hier vorgetragenen Perspektive auf die Pastoralbriefe ist freilich kaum zu führen. Das haben Baur, Holtzmann und vor allem Harnack immerhin noch gewusst. Zu vieles an historischem Detail ist uns nicht mehr verfügbar und der Grat zwischen »Wahrheit und Mythos« bleibt schmal. Insofern ist das Rätsel, von dem Harnack sprach, vermutlich wirklich nicht endgültig lösbar. Aber so wie jeder Mythos auch Wahrheit enthält und das Verstehen von Wahrheit

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nicht ohne Mythos auskommt, so lassen sich viele Probleme, welche die klassischen Theorien aufwerfen, tatsächlich lösen, wenn man die Perspektive verändert. Nicht selten kommen viele Beobachtungen der Forschung mitunter sogar zu ihrem eigenen Recht, wenn man sie nicht auf alle drei Briefe gleichermaßen beziehen muss.

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Die Pastoralbriefe im Licht der dokumentarischen Papyri des hellenistischen Judentums Auf den ersten Blick scheint die Annahme, die sich mit dem gestellten Thema verbindet, nicht besonders naheliegend zu sein: dass die Pastoralbriefe etwas mit den jüdisch-hellenistischen Papyrusurkunden zu tun haben und diese zur Erklärung jener etwas beitragen könnten. Es ist in der Arbeit des Projektes »Corpus JudaeoHellenisticum Novi Testamenti«1 bereits an verschiedenen Stellen grundsätzlich herausgearbeitet worden, dass sich die Erforschung und Interpretation des Neuen Testaments im Kontext der hellenistisch-jüdischen Literatur und Kultur nicht auf das Auffinden von Parallelen beschränken kann, durch die eine Erhellung sachlicher und philologischer Befunde oder auch methodischer Fragestellungen im Blick auf das Neue Testament möglich wird. Es geht vielmehr darum, diese Parallelen in ihrer Wertigkeit angemessen zu beurteilen und dabei zu bedenken, inwiefern nicht nur die Interpretation des Neuen Testaments, sondern auch das Verständnis und die Interpretation der hellenistisch-jüdischen Literatur durch die Korrelation mit dem Neuen Testament befördert wird. Während die Frage nach dem Ertrag außerneutestamentlicher Quellen für die Interpretation des Neuen Testaments geläufig ist, erscheint die umgekehrte Interpretationsrichtung nach wie vor ungewöhnlich und bedarf daher einer besonderen methodischen Präzisierung. Das sich stellende Problem ist bereits hinsichtlich der Verhältnisbestimmung literarischer Texte nicht einfach zu beschreiben. Dies gilt umso mehr für die Auswertung nichtliterarischer Texte. Hinzu kommt, dass die Heranziehung nichtliterarischer Papyri als Dokumente der Alltagskultur für die Interpretation des Neuen Testaments einschließlich der dazu notwendigen methodischen Reflexion noch keineswegs so selbstverständlich ist wie diejenige literarischer Texte und daher gegenwärtig (noch) keine zentrale Rolle spielt. Dies steht jedoch in einem gewissen Widerspruch zum Ertrag, den die Einbeziehung derartiger Zeugnisse für das Verstehen neutestamentlicher Schriften haben kann, wie Peter Arzt-Grabner an konkreten Beispielen anschaulich demonstriert hat.2 Das hier im Hinblick auf die Pastoralbriefe gestellte Thema ist relativ offen formuliert, da es zunächst um die methodische Reflexion einer intertextuellen Perspektive geht: Was kann die Wahrnehmung von Form und Inhalt dokumentarischer Papyri als Dokumente des 1  Für einen Überblick über das Projekt »Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti« vgl. Deines/Niebuhr, Project. 2 Vgl. Arzt-Grabner, Formen.

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I  Perspektiven der Forschung

Alltagslebens und der Alltagskultur an Einsichten generieren, die für bestimmte philologische, literarische und theologische Aspekte der Pastoralbriefinterpretation bedeutsam sein können? Die methodischen Fragen dieser intertextuellen Perspektive sind vor allem deshalb wichtig, weil mit den dokumentarischen Papyri ein Genre in den Blick gerät, das im Unterschied zu den Pastoralbriefen kein literarisches ist und dennoch die Pastoralbriefe als zumeist literarisch charakterisierte Briefe einige Gemeinsamkeiten mit den Papyrusbriefen aufweisen. Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt zunächst auf diesen methodischen Fragen, um unter den damit gegebenen Voraussetzungen sowohl die Frage nach dem Genre der Pastoralbriefe als auch Einzelaspekte ihres Inhalts zu untersuchen. Das Folgende versteht sich dabei als eine erste Bestandsaufnahme und Annäherung an diesen Vergleich konkret im Blick auf die Pastoralbriefe. Die Bedeutung der Papyri für die Erforschung des Neuen Testaments zu erkennen und diese neben der selbstverständlichen Heranziehung der literarischen Texte des Altertums zu erschließen, ist schon aufgrund der Aufbereitung und Erschließung der textlichen Grundlagen schwierig, obwohl der Zugang zu den Papyrustexten durch moderne Datenbanken3 inzwischen erheblich erleichtert wurde.4

1.  Methodische Überlegungen Hinsichtlich der Untersuchung hellenistisch-jüdischer Papyri ist zunächst zu bedenken, dass sich diese als Dokumente der Alltagskultur in Form und Inhalt in der Regel – sofern sie in griechischer Sprache geschrieben sind – nicht oder nur unwesentlich von den Papyrusurkunden nichtjüdischer Provenienz unterscheiden. Oft sind sie als jüdische Papyri gar nicht unmittelbar erkennbar, sondern können lediglich durch bestimmte kontextuelle Beobachtungen und Daten bzw. Namen als solche identifiziert, gelegentlich auch nur vermutet werden. Diese Feststellung ist zugegebenermaßen sehr formal und allgemein. Mit ihr verbinden sich jedoch weitere methodische Überlegungen, zumal die Betrachtung der Pastoralbriefe im Licht der Papyrusurkunden nur einen Teilaspekt ihrer Interpretation darstellen kann. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der literarische Charakter der Pastoralbriefe und ihre komplexe Beziehung zur Paulustradition insgesamt nach wie vor sehr umstritten sind. In der Forschung dominiert darüber hinaus ein interpretatorisches Paradigma, wonach die Pastoralbriefe nicht nur als ein literarisch konzipiertes »Corpus 3 Vgl. bes. die Duke Data Bank of Documentary Papyri (DDBDP), erstellt von William H. Willis und John F. Oates, zugänglich über das Portal http://www.papyri.info/; vgl. auch http://www.papyrusportal.de/ (Zugriff jeweils September 2021). 4  Vgl. dazu vor allem das von Peter Arzt-Grabner initiierte und mit einem Band zum Philemonbrief eröffnete Projekt der »Papyrologischen Kommentare zum Neuen Testament« an der Universität Salzburg; vgl. Arzt-Grabner, Philemon; weiterhin sind bisher ein Band zum 1 Kor (ders., 1. Korinther), zum 2 Thess (Kreinecker, 2. Thessaloniker) sowie zum 2 Kor (Arzt-Grabner, 2. Korinther) erschienen.



Die Pastoralbriefe im Licht der dokumentarischen Papyri 

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Pastorale« eines Autors verstanden,5 sondern maßgeblich aus der Perspektive hellenistisch-römischer Popularphilosophie erklärt werden, ohne dass dabei speziell ein jüdischer Hintergrund vorausgesetzt wird.6 Unter pseudepigraphischer Voraussetzung ist zudem zu beachten, dass Paulus als ein jüdisch-hellenistischer Autor nicht tatsächlich, sondern lediglich fiktiv7 eine Rolle spielt und demgegenüber der (oder die) eigentliche(n) Verfasser nicht unbedingt als jüdisch-hellenistische Autoren angesehen werden müssen. Im Gegenteil: Aufgrund der hochgradig von griechischrömischen Kontexten und Intertexten geprägten Inhalte der Pastoralbriefe kann dies unter der gegebenen Voraussetzung mit guten Gründen bezweifelt werden. Wenn die Pastoralbriefe ein literarisches Korpus darstellen und ihre Bedeutung aus literarischen Zusammenhängen zu erschließen ist, dann spielen notwendig die Parallelen zu hellenistisch-römischer Literatur eine erhebliche Rolle. Das wiederum bedeutet, dass man für eine Interpretation der Pastoralbriefe im Licht nichtliterarischer Papyri zunächst einmal sehr gründlich reflektieren muss, inwiefern ein solcher Vergleich aufgrund der Verschiedenartigkeit der zu vergleichenden Korpora überhaupt möglich ist, was dabei eigentlich zueinander ins Verhältnis gesetzt werden soll und mit welcher Zielsetzung dies geschieht.8 Bei den als echt geltenden Paulusbriefen ist immerhin eine authentische Situation und Relation von Autor und Adressaten gegeben, wie sie auch bei Papyrusbriefen und -urkunden vorauszusetzen ist. Bei den Pastoralbriefen hingegen liegt – folgt man dem verbreiteten Konsens9 – beides auf einer fiktiven Ebene,10 auf der die Fiktion eines hellenistisch-jüdischen Autors (Paulus) mit den Absichten des oder der mutmaßlich nichtjüdischen Autors bzw. Autoren der Pastoralbriefe vermischt wird. Für die Adressaten gilt dies analog. Wenn allerdings die Pastoralbriefe einen tatsächlich aktuellen Briefcharakter besitzen, dann verschiebt sich notwendig auch die Interpretationsperspektive. Damit würden intertextuelle Bezüge zu literarischen Werken der Antike zwar keineswegs obsolet, aber sie wären doch insofern zu relativieren, als ein alltagshermeneutischer Aspekt für das Verstehen des Charakters der Schreiben 5 Vgl. dazu vor allem den maßgeblichen und programmatischen Aufsatz von Trummer, Corpus. 6  Vgl. exemplarisch im Blick auf konkrete Aspekte z. B. Malherbe, Imagery; Standhartinger, Eusebeia, sowie für eine Gesamtinterpretation Glaser, Briefroman. Bei der Frage nach der Identifikation traditionsgeschichtlicher Bezüge und Interpretationsvoraussetzungen spielt auch die differenzierte Betrachtung konkreter inhaltlicher Aspekte einerseits und eine generelle literarische Einordnung der Schriften andererseits sowie die Verhältnisbestimmung dieser unterschiedlichen Perspektiven eine Rolle. Zu berücksichtigen ist ferner, dass nicht auf jeden der drei Pastoralbriefe dieselben Kategorien in demselben Maße zutreffen wie auf die jeweils anderen, so dass auch innerhalb der Pastoralbriefe nochmals hinsichtlich Genre und Inhalten zu differenzieren wäre. Daraus resultiert eine sehr komplexe Ausgangslage für die Interpretation. 7  Vgl. dazu bes. Merz, Selbstauslegung; Engelmann, Paulusbilder. 8  Vgl. zu den methodischen Fragen besonders Arzt-Grabner, Philemon, 37.44–49 u. ö.; vgl. auch ders., Analyse; ders., Papyri. 9 Vgl. dazu kritisch Herzer, Abschied (in diesem Band 11–30); sowie das Themenheft ThQ 187 (2007). 10 Man spricht in diesem Zusammenhang von »doppelter Pseudonymität«; vgl. Stenger, Timotheus, 254 f.; Hegermann, Ort, 56.

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I  Perspektiven der Forschung

und ihrer Absicht hinzutritt. Wenn die bekannte Einschätzung Henry Meechams stimmt, ein nichtliterarischer Brief könne »only be adequately interpreted in close relationship with its writer and reader(s) and their circumstances«11, dann ist nicht nur für die Pastoralbriefe evident, dass es hier ein interpretatorisches Problem gibt, sondern erst recht auch für deren Vergleich mit nichtliterarischen jüdischen Papyri. Die Komplexität dieses Vergleichs und das Problem im Hinblick auf das hier gestellte Thema wird dadurch verstärkt, dass natürlich auch das hellenistische Judentum auf literarischer Ebene stark von popularphilosophischen Traditionen der griechisch-römischen Welt beeinflusst ist und auf nichtliterarischer Ebene an den sprachlichen Konventionen der griechischen Alltagskultur partizipiert, und zwar so selbstverständlich, dass eine scharfe Trennung beider Bereiche nicht möglich ist und allenfalls punktuell spezifisch jüdische Vorstellungen eine Rolle spielen. Die jüdischen Alltagspapyri bzw. nichtliterarischen Papyri sind selbstverständlich Teil der griechisch-römischen Alltagskultur insgesamt und folgen in Sprache und Briefformen unterschiedlichen Typs im Wesentlichen auch den allgemeingültigen gestalterischen Gesetzen und Konventionen. Wie in anderen Bereichen auch, so verwischen insbesondere im Blick auf das Genre der Alltagskorrespondenz die Grenzen zwischen jüdisch und pagan, so dass für viele der im Folgenden darzustellenden Aspekte selbstverständlich auch pagane Papyri herangezogen werden könnten.12 Dieser Umstand macht allerdings nur einmal mehr deutlich, in welch hohem Maße jüdisches Alltagsleben mit seinen unterschiedlichen Dimensionen in die hellenistisch-römische Kultur verwoben ist, und zwar sehr viel stärker als dies etwa bei literarischen Werken der Fall ist, die auf der Ebene des Literarischen jüdische Tradition entfalten und damit auf ganz andere Weise jüdische Identität reflektieren können. Damit hängt das bereits erwähnte methodische Problem zusammen, dass die Pastoralbriefe in der Forschung zumeist als ein literarisches Werk in Form eines literarischen Briefkorpus, einer Briefsammlung bzw. eines Briefromans angesehen werden und als solches vielfach eher mit literarisch-philosophischen Briefsammlungen wie etwa den Sokrates- und Sokratikerbriefen, Chionbriefen oder auch dem Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca verglichen und vor diesem Hintergrund interpretiert werden.13 Der pseudepigraphische Charakter und die damit verbundene Absicht können unter dieser Voraussetzung nur aufgrund von Vergleichen mit den literarischen Briefen und Briefsammlungen der Antike plausibel erklärt werden. Das bedeutet, dass der Vergleich der Pastoralbriefe mit den nichtliterarischen Papyri bzw. Alltagsdokumenten vor allem im Blick auf bestimmte Einzelaspekte sinnvoll erscheint, die sich  – wie Peter Arzt-Grabner gezeigt hat  – auf die Interpretation inhaltlicher Details, Stereotypen, Formeln, Clichés usw. beziehen – eine Perspektive, die die Pastoralbriefe allerdings mit allen anderen neutestamentlichen Briefen teilen. Für eine umfassende Einschätzung der spezifischen literarischen 11 

Meecham, Light, 37. Arzt-Grabner, Formen. 13  Vgl. dazu bes. Glaser, Briefroman, sowie Luchner, Pseudepigraphie, bes. 516–523. 12 Vgl.

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oder epistolographischen Charakteristik und Intention der Pastoralbriefe scheint der Ertrag eines solchen Vergleichs mit nichtliterarischen Dokumenten eher begrenzt zu sein. Schließlich ist damit die Frage aufgeworfen, ob bzw. inwiefern die Pastoralbriefe als »wirkliche« Briefe gelten können, die aus einer tatsächlich gegebenen, aktuellen Situation geschrieben wurden, oder ob sie vor allem aus der Perspektive der pseudepigraphischen Fiktionalität rein literarische Werke sind. Dann stünde ein aktueller Bezug gerade nicht im Vordergrund, sondern eine literarische Absicht, die auf Traditionssicherung, Traditionsweitergabe und Normativität ausgerichtet ist. Unter diesem Gesichtspunkt wäre der literarische Anspruch mit der Tatsache ins Verhältnis zu setzen, dass die Pastoralbriefe Elemente enthalten, die in literarischen Briefen eher ungewöhnlich sind, insofern sie auf Alltäglichkeiten verweisen, deren literarische Funktion nicht eindeutig bestimmt werden kann. Hier verbindet sich die Frage nach dem literarischen Anspruch und dem Ausmaß der Verwendung alltagsbrieflicher Elemente bei der konkreten Gestaltung einerseits mit der notwendigen und umstrittenen Unterscheidung zwischen Fiktion oder bewusster Täuschung andererseits.14 Es ist daher deutlich, dass mit den hier angerissenen methodischen Fragen die Interpretation der Pastoralbriefe vor dem Hintergrund literarisch-philosophischer Briefkorpora in eine gewisse Spannung tritt zu Vergleichen mit dokumentarischen Schreiben aus dem Alltagsleben. Diese Problematik hat insbesondere bei der Diskussion um das Genre der Pastoralbriefe eine Rolle gespielt. Hervorzuheben ist dabei etwa die Auseinandersetzung über die Bedeutung des Papyrus Tebtunis III 703, eines ptolemäischen Memorandums (ὑπόμνημα) aus der hellenistischen Zeit des 3. Jh.s v. Chr. mit Anweisungen eines Vorgesetzten an einen neu eingesetzten Verwalter, sowie die Verwandtschaft15 dieser Gattung mit den späteren römischen mandata principis, die seit den Arbeiten von Ceslas Spicq16 und insbesondere Benjamin Fiore17 als Vergleichstexte zu Form und Anlage des 1. Timotheus- und des Titusbriefes herangezogen wurden.18 Die Relevanz dieser Parallelen ist in der Literatur jedoch nicht durchgängig akzeptiert worden.19

Dennoch muss man natürlich sehen, dass auch literarisch-philosophische und vor allem auch diplomatische Korrespondenz zumindest bis zu einem gewissen Grad zur Alltagskultur gehört, auch wenn diese Art von »Alltag« nur bestimmte gesellschaftliche Kreise und Gruppen betrifft. Hierbei zeigt sich, dass die Definition des Begriffes »Alltagskultur« eine sozialgeschichtliche Relevanz hat, die nicht vernachlässigt werden darf und die im konkreten Fall recht differenziert zu beschreiben 14 Vgl.

Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76). Hunt/Smyly, Tebtunis, 72 f.; vgl. dazu unten 2.2. Zur Vergleichbarkeit von Papyrusdokumenten aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen vgl. Arzt-Grabner, Papyri; Ders., Philemon, 50–56. 16  Spicq, Épîtres Pastorales I, 33 ff. 17  Fiore, Function, 79–84. 18  Vgl. weiterhin z. B. Wolter, Pastoralbriefe, 161–177; Johnson, First and Second Letters, 139–142; Merz, Selbstauslegung, 180 f. 19  S. dazu unten 2.2. 15 Vgl.

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und zu beurteilen ist. Alltag ist nicht für jede gesellschaftliche Schicht auf dieselbe Weise definiert. Was für den Alltag der Aristokratie selbstverständlich ist, tangiert noch lange nicht den Alltag einfacher Handwerker, Tagelöhner oder Bauern, deren höchste literarische Leistungen sich möglicherweise in Quittungen für geliefertes Holz oder Getreide erschöpfen. Diese kurzen Bemerkungen müssen hier als eine methodische Problemanzeige genügen. Sie haben allerdings bereits deutlich werden lassen, dass die Beurteilung der Pastoralbriefe aufgrund ihrer literarisch-epistolographischen und inhaltlichen Eigenarten eine komplexe Herausforderung darstellt, die sich einfachen Lösungen entzieht. Die Perspektive auf ihr Genre und ihre Inhalte von den nichtliterarischen Papyri her ist dabei nur ein Aspekt unter anderen, der mit bisherigen Interpretationsansätzen zu korrelieren wäre und ihnen keinesfalls entgegengestellt werden darf. Im Folgenden sollen neben der Frage nach dem Genre der Pastoralbriefe einige konkrete Beispiele erläutert werden, die sich im Vergleich zu den dokumentarischen Papyri jüdischer Provenienz ergeben. Aus rein pragmatischen Gründen erfolgt hier eine Beschränkung auf das von Victor Tcherikover und Alexander Fuks edierte Corpus Papyrorum Judaicarum, obwohl darüber hinaus auch weitere Textkorpora zu berücksichtigen wären.20 Bei der Frage nach dem Genre der Pastoralbriefe ist auf den P.Tebt. III 703 zurückzukommen, auch wenn dieser nicht zu den jüdischen Papyri gehört.

2.  Materiale Beobachtungen 2.1  Zu Form und Genre der Pastoralbriefe Wie Peter Arzt-Grabner zu Recht hervorhebt, ist die »Abgrenzung der Textsorte ›Brief‹ […] insofern schwierig, als im antiken griechisch-römischen Alltag nahezu alles in Briefform abgefasst werden konnte, also nicht nur Briefe in unserem heutigen Sinn, sondern auch Verträge, Quittungen, Anträge an die Behörde usw.«21 Daraus ergibt sich das Problem der Unterscheidung von Privatbrief und Dokumenten mit mehr oder weniger offiziellem Charakter – eine Differenzierung, die auch für die Beurteilung der Pastoralbriefe wichtig ist. Während für den Privatbrief gilt: »Not a word of it is for the public eye«,22 ist es für die Plausibilisierung der pseudepigraphischen Absicht der Pastoralbriefe im Sinne der normativen Traditi20  Tcherikover/Fuks/Stern, Corpus. Zu den Papyri jüdischer Provenienz vgl. vor allem die Papyri des jüdischen Politeuma in Herakleopolis (P.Polit.Iud., 2. Jh.), dazu Arzt-Grabner, Formen, sowie den Überblick in: ders., Papyri, 22 f. 21  Arzt-Grabner, Philemon, 57 Anm. 4. 22  Meecham, Light, 37, in Anlehnung an Deissmann, Bible Studies, 3 (= Übersetzung von: ders., Bibelstudien); vgl. auch ders., Licht, 118: »Alle diese Texte, Mietsvertrag, Quittung, Eingabe, Brief und tausend andere, sind unliterarische Blätter, geschaffen nicht von der Kunst, sondern vom Leben, bestimmt nicht für die Öffentlichkeit und die Nachwelt, sondern für den Augenblick und den Alltag.«



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onssicherung entscheidend, diese Schreiben trotz der persönlichen Adressierung nicht nur als Privatbriefe anzusehen, sondern ihren quasi-offiziellen Charakter hervorzuheben. Es kommt daher darauf an, Analogien für einen solchen öffentlichen Charakter von an Einzelpersonen adressierten Schreiben zu finden. Unter dieser Voraussetzung hat man immer wieder den bereits erwähnten P.Tebt. III 703 als ein anschauliches Beispiel herangezogen, worauf noch näher einzugehen sein wird. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass unter gewissen Umständen auch eine solche Unterscheidung zwischen den Kategorien »privat« und »öffentlich« zu kurz greift, denn auch persönliche, familiäre Briefe können – nicht zuletzt mit einem zeitlichen Abstand zu ihrer ursprünglichen Entstehungssituation  – gesammelt und herausgegeben werden. Damit verlieren sie ihren ursprünglich privaten Charakter und bekommen eine andere, nunmehr literarische Bedeutung. Die Cicerobriefe etwa sind ein anschauliches Beispiel dafür. Von den paulinischen Briefen gilt der Philemonbrief als der, wie es Adolf Deißmann ausdrückte, »brieflichste Paulusbrief«, der auf ein einziges Papyrusblatt passe.23 Schon von seiner äußeren Gestalt sei er daher ein gutes Beispiel für einen Privatbrief und eigne sich hervorragend für einen Vergleich mit Papyrusbriefen als den »authentischsten Zeugnissen« der Alltagswelt.24 Nicht ohne Grund widmet sich der erste Band der Reihe »Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament« diesem Brief, von dem man im 19. Jahrhundert gerade wegen dieses nichtliterarischen Charakters der Meinung war, er müsse dem Paulus abgesprochen werden.25 Allerdings kann die Länge bzw. Kürze eines Briefes nur ein Aspekt sein, der für sich genommen keine konkreten Schlüsse zulässt.26

Immerhin sind unter diesem Aspekt auch die Pastoralbriefe interessant, weil sie in ihrer Gestaltung in unterschiedlichem Maße Privates und weniger Privates enthalten. Margaret Mitchell bezeichnete sie nicht zuletzt aus diesem Grund als »an odd mix of the personal and the public, of church order and personal exhortation, of instruction and command, of the particular and the general«, woraus sich nach Mitchell seit jeher die Frage ergeben habe, welche Art Text die Pastoralbriefe ei23  Deissmann, Paulus, 14 f.: »Wer den intimsten Charakter der Paulusbriefe am leichtesten kennen lernen will, darf nicht mit dem jetzt am Anfang des Corpus Paulinum stehenden Römerbrief beginnen. […] Man sollte besser mit dem Philemonbriefe beginnen. Dieser ist der kürzeste und wohl auch der brieflichste Paulusbrief, auf ein einziges Papyrusblatt geschrieben, wie zahlreiche gleichzeitige Briefe aus Ägypten auch. Bei ihm versagt die doktrinäre und literarische Auffassung völlig. Es ist eine Entgleisung des historischen Urteils nicht bloß, sondern auch des menschlichen Geschmacks, wenn man dieses köstliche Blatt als einen Traktat über die Stellung des Christentums zur Sklaverei bezeichnet hat.« Vgl. dazu auch ders., Licht, 16 f. 24  Arzt-Grabner, Philemon, 45. 25 Vgl. Baur, Vorlesungen, 40 f., der »das ächte Gepräge seines [sc. des Apostels, J. H.] Geistes« vermisst (a. a. O., 40); vgl. dazu jedoch bereits Holtzmann, Lehrbuch, 274 f., der die Unechtheit für nicht erwiesen hält. 26 Vgl. Arzt-Grabner, Philemon, 58, mit Hinweis auf P.Congr. XV 22 (Mitte 4. Jh. n. Chr.), einem Privatbrief aus Alexandria eines Aurelios Ammon an seine Mutter Senpetechensis, in dem es um das Familienvermögen und darüber hinaus um das Priesteramt für den Neffen geht und der in seiner Länge immerhin mit dem Gal vergleichbar ist; vgl. auch den ebenfalls alexandrinischen Privatbrief BGU IV 1141 (14–13 v. Chr.?).

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gentlich darstellen.27 Und in der Tat legt der Vergleich der Pastoralbriefe mit den dokumentarischen Papyri genau diese Frage nahe: Warum gibt es die Pastoralbriefe überhaupt? Was konkret stellen sie literarisch dar? Wie sind sie literarisch und epistolographisch zu beurteilen? Eine pseudepigraphische Interpretation unter den gegenwärtig vorherrschenden Voraussetzungen macht diese Fragen umso relevanter, je konsequenter von einer einfachen oder auch doppelten Fiktionalität ausgegangen wird. Daher muss man gerade in diesen Punkten mit einem hohen Aufwand argumentieren. Konkret besteht das Problem vor allem darin, dass  – im Unterschied zum 1. Timotheusbrief – der Titus- und der 2. Timotheusbrief am Schluss jeweils einen längeren Abschnitt enthalten, der über die im Briefkorpus erörterten Themen hinausgeht und persönliche, zum Teil eher banale und alltägliche Dinge anspricht, wie sie in vielfältiger Weise auch für dokumentarische Papyri typisch sind. Sowohl Tit 3,12–15 als auch 2 Tim 4,9–22 sind hinsichtlich ihrer Länge und ihres Inhaltes genau das, was man in den Papyrusbriefen zuhauf vorfindet: Ein kurzes persönliches Schreiben mit Anweisungen persönlichster Art, Beschwerden über Dritte (2 Tim 4,10), Auskünften über gemeinsame Bekannte (2 Tim 4,11 f.20), Warnungen vor gefährlichen Menschen (2 Tim 4,14 f.), Hinweisen auf juristische Auseinandersetzungen (2 Tim 4,16; Tit 3,13), der Bitte um persönliche Gegenstände (2 Tim 4,13), Grüßen an und von Freunden und Bekannten z. T. auch ohne Nennung von Namen (2 Tim 4,19–21; Tit 3,15) und eher vagen Andeutungen der persönlichen Umstände (2 Tim 4,11.16–18; Tit 3,12). Für jede dieser Notizen ließen sich zahllose Parallelen aus den Alltagspapyri anführen. Dieser Umstand ist so evident, dass an dieser Stelle der Hinweis darauf genügen kann. Die Parallelität dieser Textabschnitte zu Alltagsbriefen sorgte in der Auseinandersetzung um die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe immer wieder für Diskussionsstoff. Würde man Tit 3,12–15 oder auch 2 Tim 4,9–22 aus dem Kontext der Briefe herauslösen, hätte man zwei kurze Schreiben, die auf ein Papyrusblatt passen und deren Authentizität unter diesen Voraussetzungen genauso wenig infrage stehen würde, wie die der zahllosen Papyrusbriefe,28 und zwar deshalb, weil man ihre Existenz sonst nur schwer erklären könnte. Die Annahme, hier handele es sich um authentische Stücke, die den ansonsten fiktiven Schreiben angefügt wurden, erscheint vor diesem Hintergrund einmal mehr als eine Notlösung, die dem Problem abhelfen soll, dass diese Textabschnitte unter pseudepigraphischem Vorzeichen noch schwieriger zu erklären sind. Bereits Adolf Harnack hatte in den genannten Passagen der Pastoralbriefe authentische Fragmente erkannt, die der pseudepigraphische Autor an seine fiktiven Ausführungen angefügt habe.29 Für Harnack spielte vor allem die Unerfindlichkeit dieser persönlichen 27 

Mitchell, Genre, 344. Abgesehen vielleicht von möglichen gefälschten Quittungen oder Urkunden. Aber auch das ließe sich nicht nachweisen. 29 Vgl. Harnack, Geschichte, 480–485, der vermutete, dass aus der Zeit zwischen 59 und 64 stammende persönliche Passagen zwischen 90–100 in drei komponierte Briefen eingefügt wurden, 28 



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Notizen eine wichtige Rolle, verbunden mit der kaum zu beantwortenden Frage nach deren Funktion unter pseudepigraphischer Perspektive. Hans von Soden bezeichnete Tit 3,12 f. (14 f.); 2 Tim 1,1 f.15–18; 4,(6–8.)9–22 als »paul[inische] Reliquien«.30 Die Voraussetzung der Unerfindlichkeit der persönlichen Passagen, insbesondere der Schlussabschnitte des 2. Timotheus- und des Titusbriefes, ist seitdem freilich massiv infrage gestellt worden31 und man hat immer wieder mit unterschiedlichen Intentionen versucht, die persönlichen Notizen so zu deuten, dass sie das mutmaßliche Anliegen des pseudonymen Autors positiv unterstreichen.32   In einer für die Fragmententheorie maßgeblichen Arbeit hat Percy N. Harrison33 folgende Stücke identifiziert: Tit 3,12–15; 2 Tim 4,13–15.20.21a; 2 Tim 4,16–18a; 2 Tim 4,9–12.22b; 2 Tim 1,16–18; 3,10 f.; 4,1.2a.5b.6–8.18b.18.21b.22a, diese dann aber auf insgesamt drei Fragmente reduziert.34 Obwohl diese These weitere Modifikationen erfahren hat,35 wird ihre Überzeugungskraft durch die unterschiedliche Identifizierung der als authentisch angesehenen Stücke erheblich eingeschränkt. Norbert Brox hat darüber hinaus auf den Mangel an verlässlichen Kriterien für eine solche Rekonstruktion hingewiesen,36 zumal insbesondere die persönlichen Notizen wortstatistisch auch unter pseudepigraphischer Voraussetzung eher unauffällig sind.37 Jürgen Roloff hat daher zu Recht auf das überlieferungsgeschichtliche Problem aufmerksam gemacht und bestreitet unter Aufnahme einer inzwischen verbreiteten Indie schließlich ab 130 mit weiteren Interpolationen versehen wurden. Vgl. Ders., Briefsammlung, 19 f.: »Mischung von Paulinischem und Fremdem«. 30  Soden, Briefe, 181. 31  Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 97: »Allein da das Prädikat ›unerfindlich‹ hier nichts besagen kann – wie viele Todesnähe atmende Szenen alter und neuer Dichtwerke sind doch ›erfunden‹! –, so ist jenes Bedenken [sc. gegen die Erfindung von persönlichen Notizen, J. H.] kein Beweis.« 32  Vgl. dazu z. B. Brox, Notizen; Trummer, Mantel; zum Ganzen Luttenberger, Prophetenmantel. 33  Harrison, Problem; zustimmend z. B. Barrett, Pastoral Epistles; vgl. kritisch bereits Carrington, Problem; Brox, Notizen, 274. Vgl. dazu ferner Binder, Situation; Schmithals, Pastoralbriefe; Miller, Letters. 34  Harrison, Authorship, 80 f. 35  Vgl. z. B. Dornier, Épîtres, der davon ausgeht, dass die Pastoralbriefe eine später ausgearbeitete Fassung dreier ursprünglicher Schreiben des Apostels Paulus repräsentieren, vgl. dazu jedoch Weiser, 2 Tim, 55. Auch Wilson, Luke, konnte seine These, Lukas habe die Pastoralbriefe als Abschluss seines Werkes geschrieben, nur unter Annahme der Verwendung von »travel notes« des Paulus begründen (vgl. a. a. O., 130 f.). Dabei muss er freilich zugleich einige »Irrtümer« des Lukas korrigieren, z. B. dass 2 Tim 4,9 f. ursprünglich von Cäsarea und nicht von Rom aus geschrieben wurde (vgl. a. a. O., 131). Miller, Letters, bes. 149–151, versteht 2 Tim als eine Komposition aus Stücken, die als zwei authentische Notizen des Paulus gelten müssen: 2 Tim A (erste Notiz): 2 Tim 1,1 f.(3–5?).15–18; 4,6–8.22a; 2 Tim B (zweite Notiz): 2 Tim 4,9–21.22b. Obwohl dieser Versuch vor allem wegen des stilistisch problematischen Vergleichs mit hellenistisch-jüdischer Literatur, letztlich aber auch der fehlenden Einordnung der Fragmente in die paulinische Mission nicht überzeugt, ist die Feststellung Millers hervorzuheben, dass die Annahme eines einzelnen Verfassers für alle drei Briefe mehr Probleme mit sich bringt, als sie lösen hilft. 36  Brox, Notizen, 274; vgl. auch Moule, Problem. Brox, Notizen, 85.94, sieht in den persönlichen Notizen eine »typisierende Tendenz« und behauptet »in erheblichem Umfang einen literarischen Charakter«: »Die scheinbar konkreten, historischen Konstellationen sind in Wirklichkeit typische Situationen des kirchlichen Amtes […] und werden zu diesem Zweck ›historisiert‹, ›einmalig‹ und ›damalig‹ gemacht.« Aber auch diese Einschätzung bleibt ein bloßes Postulat. 37 Vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 3. Nach Cook, Fragments, stammen die Fragmente von derselben Hand wie der Rest der Briefe.

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terpretation der persönlichen Notizen von Peter Trummer die Annahme der Unerfindlichkeit der Fragmente, die eine wichtige Grundlage der Fragmentenhypothese bildet.38 Eine Kombination der Sekretärs- mit der Fragmentenhypothese hat Gottfried Holtz vorgeschlagen.39 Er setzt für den 1. Timotheus- und den Titusbrief voraus, sie seien von einem Sekretär verfasst worden, während der 2. Timotheusbrief aus zwei authentischen Brieffragmenten zusammengesetzt worden sei, deren erstes »einen ehemals selbstständigen, also dritten Timotheusbrief darstellt, der in den heutigen zweiten Timotheusbrief eingearbeitet ist«.40

Auch wenn neben 2 Tim 4,9–22 und Tit 3,12–15 noch einzelne Verse aus dem Briefkorpus aller drei Pastoralbriefe als mögliche authentische Fragmente vermutet wurden, ist doch formal auffällig, dass der 1. Timotheusbrief keinen solchen persönlichen Schluss aufweist wie die beiden anderen Briefe. Will man die genannten Abschnitte aus dem 2. Timotheus- und dem Titusbrief nicht im Sinne einer recht spekulativen Fragmententheorie beurteilen und sie als originären Abschluss der Briefe verstehen, dann ist auf jeden Fall deutlich, dass der 1. Timotheusbrief einen anderen Duktus aufweist und literarisch anders angelegt ist, insofern er offenkundig nicht den Anschein der Authentizität durch übertriebene persönliche Notizen im Stile echter Briefe erwecken will. Zwar ist der Unterschied zum 2. Timotheusbrief immer schon gesehen worden und vom Genre des 2.  Timotheusbriefes als eines testamentarischen Schreibens her evident,41 aber dies gilt immerhin auch für den Titusbrief, der mit dem 1. Timotheusbrief hinsichtlich des Genres zumeist in einem Atemzug genannt wird. Michael Wolter etwa hat in seiner Untersuchung zu den Pastoralbriefen von 1988 die notwendige Unterscheidung des 1. Timotheusbriefes vom 2.  Timotheusbrief im Blick auf das unterschiedliche Genre hervorgehoben, den Unterschied zwischen 1. Timotheus- und Titusbrief bei seinem Vergleich des 1.  Timotheusbriefes mit den offiziellen Behördenschreiben jedoch nicht eigens berücksichtigt.42 Fast zeitgleich mit Wolter hat John L. White in seinem Buch »Light from Ancient Letters« auf eine wichtige formale Differenzierung für die Einschätzung von Alltagsbriefen hingewiesen: »Generally speaking, if the opening and closing are full, the letter is a family letter or a letter between friends in which the ongoing maintenance of friendship is an important considera­ tion. By contrast, if the opening and closing are minimal, the letter is probably a business letter, a legal transaction in epistolary form, or a piece of administrative correspondence. When the above information is applied to the Christian letter tradition, it is evident that the preservation of friendly or ›family‹ ties was an important aspect of the correspondence.«43

Auch wenn dies zugegebenermaßen nur ein genereller Anhaltspunkt sein kann, so ist doch deutlich, dass man den 1. Timotheusbrief aufgrund des Fehlens (fast) 38 

Roloff, 1 Tim, 32; vgl. Trummer, Corpus, 126. Holtz, Pastoralbriefe, 13–17. 40  A. a. O., 17. 41 Vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 94–97. 42  Wolter, Pastoralbriefe. 43  White, Light, 19. 39 

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jeglicher persönlicher Bemerkung mit Schreiben wie den griechischen ὑπομνήματα oder den römischen mandata principis vergleichen kann. Für den Titusbrief ist dies jedoch aufgrund seines persönlichen Schlusses, der zumindest auch Merkmale eines freundschaftlichen Schreibens aufweist, sehr viel weniger plausibel. Dieser Befund macht es notwendig, den Titusbrief noch einmal anders zu bewerten – und zwar unabhängig davon, ob man ihn für authentisch hält oder ob man auch die persönlichen Notizen einer pseudepigraphischen Fiktion zuschreibt. Unter dieser Perspektive stellt der 1. Timotheusbrief in seiner literarischen Gestalt kein Problem dar, wohl aber der Titus- und der 2. Timotheusbrief. So hat Wolter sicher Recht, wenn er schreibt: »Briefe sind […] literarische Rahmengattungen, in die eine Fülle von Kleingattungen oder auch Einzelelementen anderer Rahmengattungen aufgenommen werden können, ohne daß die jeweilige Großform nur die Summe der in sie aufgenommenen Klein- und Teilgattungen wäre.«44

Allerdings müssen eben auch die Kleingattungen zueinander in ein angemessenes Verhältnis gesetzt werden, um dem Ganzen gerecht zu werden.

2.2  Hypomnemata und mandata principis als Vergleichsmuster für den 1. Timotheusbrief und Titusbrief Bereits Ceslas Spicq hatte in seinem materialreichen Kommentar zu den Pastoralbriefen45 auf die Form der griechischen ὑπομνήματα bzw. der römischen mandata principis hingewiesen, mit denen der 1. Timotheus- und der Titusbrief vergleichbar seien. Als herausragendes Beispiel gilt der oben schon erwähnte P.Tebt. III 703, dessen Gattung – wie Michael Rostovtzeff gezeigt hat46 – eine gewisse Verwandtschaft47 mit den späteren römischen mandata principis aufweist. Es handelt sich hierbei zwar nicht um jüdische Dokumente, aber derartige Schreiben werden immerhin auch in jüdischen Texten wie dem 2. Makkabäerbuch oder Philos Flaccus erwähnt.48 Michael Wolter hat dies als Vergleichsmuster für den 1. Timotheus- und 44 

Wolter, Pastoralbriefe, 133. Spicq, Épîtres Pastorales I, 33; im Anschluss daran Fiore, Function, 81–83. 46  Rostovtzeff, Instructions, bes. 71. 47  Vgl. a. a. O., 72 f., wonach eine Abhängigkeit vorauszusetzen wäre: »The influence of the Ptolemaic ὑπόμνημα is probably to be recognized outside the Roman administration of Egypt. As observed above, in the Gnomon of the idiologus Augustus evidently adopted an existing institution, and it seems most likely that in introducing the use of mandata principis into Roman administrative practice he was equally following the example of the Ptolemies. The mandata show the closest affinity not to the Ptolemaic ἐντολαί […] but to the ὑπομνήματα. The same style, the same expressions characterize them.« Vorsichtiger urteilt Wilcken, Urkunden, 149, der lediglich von einer Entsprechung und Parallelbildung ausgeht. 48  2 Makk 4,24 f. (von Menelaus): ὁ δὲ συσταθεὶς τῷ βασιλεῖ καὶ δοξάσας αὐτὸν τῷ προσώπῳ τῆς ἐξουσίας εἰς ἑαυτὸν κατήντησεν τὴν ἀρχιερωσύνην ὑπερβαλὼν τὸν Ἰάσωνα τάλαντα ἀργυρίου τριακόσια λαβὼν δὲ τὰς βασιλικὰς ἐντολὰς παρεγένετο τῆς μὲν ἀρχιερωσύνης οὐδὲν ἄξιον φέρων θυμοὺς δὲ ὠμοῦ τυράννου καὶ θηρὸς βαρβάρου ὀργὰς ἔχων  – »Er [sc. Menelaus] empfahl sich dem König, versicherte ihn persönlich seiner Wertschätzung und verschaffte sich 45 

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den Titusbrief aufgegriffen: »Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, daß es sich hier um den ptolemäischen Memoranda und den römischen Mandata principis vergleichbare Instruktionen für die Versehung eines neuen Amtes handelt.«49 Dem ist neuerdings auch Luke T. Johnson gefolgt: »Examples like the Tebtunis Papyrus 703 also help account for the odd mixture of personal and public elements in 1 Timothy and Titus, since the combination is found in such letters.«50 Margaret Mitchell hingegen hat zur Vorsicht gemahnt und darauf hingewiesen, dass Johnson den Begriff »Brief« zu Unrecht auf die memoranda (ὑπομνήματα) bzw. die mandata principis anwende, da diese keine Briefe im eigentlichen Sinne seien.51 Die mandata seien ein Genre administrativer bzw. juristischer Schreiben neben anderen.52 Man könnte die Kritik Mitchells dadurch erweitern, dass man neben der zeitlichen Differenz zwischen P.Tebt. III 703 (3. Jh. v. Chr.) und den Pastoralbriefen (1./2. Jh. n. Chr.) im Anschluss an die von Peter Arzt-Grabner erarbeiteten Kriterien auch auf die grundsätzlich anderen und daher nur schwer vergleichbaren Kontexte beider Überlieferungen hinweist.53 Die Aufnahme des Vergleichs bei Wolter und Johnson sowie die (schließlich) das Hohepriesteramt, indem er Jason um 300 Talente Silber überbot. Daraufhin empfing er zwar die königlichen Verfügungen (ἐντολαί) und kehrte zurück, hatte aber nichts vorzuweisen, was des Hohepriesteramtes würdig gewesen wäre, sondern hatte den Charakter eines rohen Tyrannen und den Grimm eines wilden Tieres.« Vgl. Philo, Flacc. 74 (in der Anklage gegen Flaccus erwähnt Philo schriftliche Verfügungen [ἐντολαί] des Augustus an Magius Maximus zugunsten der jüdischen Gemeinde Alexandrias): τῆς γὰρ ἡμετέρας γερουσίας, ἣν ὁ σωτὴρ καὶ εὐεργέτης Σεβαστὸς ἐπιμελησομένην τῶν Ἰουδαϊκῶν εἵλετο μετὰ τὴν τοῦ γενάρχου τελευτὴν διὰ τῶν πρὸς Μάγιον Μάξιμον ἐντολῶν μέλλοντα πάλιν ἀπ᾽ Ἀλεξανδρείας καὶ τῆς χώρας ἐπιτροπεύειν, ὀκτὼ καὶ τριάκοντα συλλαβὼν τοὺς εὑρεθέντας ἐν ταῖς οἰκίαις εὐθὺς μὲν δῆσαι κελεύει, καὶ στείλας καλὴν πομπὴν διὰ μέσης ἀγορᾶς πρεσβύτας δεσμίους ἐξηγκωνισμένους, τοὺς μὲν ἱμάσι, τοὺς δὲ σιδηραῖς ἁλύσεσιν, εἰς τὸ θέατρον εἰσάγει θέαν οἰκτίστην καὶ ἀλλοτριωτάτην τῷ καιρῷ – »Denn von unserem Ältestenrat, den nach dem Tod des Genarchen der Retter und Wohltäter Augustus zur Fürsorge für die jüdischen Angelegenheiten erwählt und in dieser Angelegenheit ἐντολαί an Magius Maximus (gesandt) hatte, welcher im Begriff war, erneut Gouverneur von Alexandrien und der Gegenden zu werden, nahm er [sc. Flaccus] 38 gefangen, die in den Häusern aufgefunden wurden und befahl, sie sofort zu fesseln, und veranstaltete ein großartige Prozession mitten über die Agora, die Ältesten mit den Armen auf dem Rücken gebunden – die einen mit Stricken, die anderen mit eisernen Ketten, und führte sie zum Theater als erbärmliches Spektakel, und zudem zu einer unmöglichen Zeit«. Vgl. dazu Wolter, Pastoralbriefe (s. Anm. 17), 164–170; zu Philos Text vgl. van der Horst, Philo, 168–170. 49  Wolter, Pastoralbriefe, 168 f. 50  Johnson, First and Second Letters, 141. 51  Mitchell, Genre, 363 f. 52 Nach Wenger, Quellen, 424–438, sind folgende Formen zu unterscheiden: leges datae, orationes et epistulae imperatorum, edicta, mandata, decreta et rescripta, adnotationes, leges generales sowie die sanctio pragmatica. 53  Vgl. dazu die Kriterien für einen sinnvollen Vergleich bei Arzt-Grabner, Analyse, 107–109: Zum Vergleich geeignet sind Texte aus dem geschichtlichen Umfeld des Neuen Testaments ohne erkennbaren Einfluss des Neuen Testaments, in zeitlicher Nähe und mit vergleichbaren geographischen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen; vgl. ders., Philemon, 45–49. All dies trifft auf den Vergleich zwischen den Pastoralbriefen und offiziellen Memoranda bzw. Mandatsbriefen nur bedingt zu. Vgl. dazu die vorsichtigen, aber im Ergebnis doch zuversichtlichen Bemerkungen bei Wolter, Pastoralbriefe, 169 f., mit Hinweis vor allem auf die vergleichbare Kommunikationsstruktur.

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Kritik bei Mitchell markieren somit zugleich das Problem: Während Wolter damit die pseudepigraphische Absicht der Pastoralbriefe plausibilisiert, untermauert die Parallele für Johnson die authentische Verfasserschaft des Paulus. Die Frage ist also auch hier: Was trägt der Vergleich der Pastoralbriefe mit dieser Art von Alltagspapyri zum Verstehen bei bzw. wo liegen die Grenzen dieses Vergleichs?54 Ὑπομνήματα bzw. lat. memoranda bezeichnen Erinnerungen, Ermahnungen oder Aufträge, etwas zu tun. Es gibt sie sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich. Bei offiziellen Memoranda handelt es sich um administrative Schreiben, in denen ein höher gestellter Beamter oder gar der Kaiser Anweisungen, Empfehlungen und Aufträge an einen anderen, zumeist im Rang tiefer stehenden Beamten gibt. Michael Rostovtzeff definiert das Genre folgendermaßen: »ὑπόμνημα is in fact what the word implies, a memorandum. It may be a memorandum for private use, a reminder of either some business to be carried out in the future (e. g. P. S. I. 429, 430) or dealt with in the past (e. g. P. Cairo Zen. 59218, 59297). Or it may be a memorandum addressed to another person in order to remind him of something or to ask him to remind somebody else; to this class, of which many instances occur in Zenonʼs correspondence, belong the various official and private reports and petitions or complaints.«55

P.Tebt. III 703, der in dieser Hinsicht einzigartig ist,56 beinhaltet administrative Anweisungen eines gewissen Zenodoros an einen Beamten, vielleicht einen οἰκονόμος (der Titel ist nicht genannt) des Distriktes (Nome) Arsinoïte, Ägypten (zitiert werden die Zeilen 254–280, verso, Kolumne III und IV ):57 […] Ταῦτα γὰρ ὑ[μῶν ποιούντων καὶ τοῖς πράγμασιν τὸ δέον τελέσεσθε καὶ ὑμῖν ἡ πᾶσ᾽ ἀσφάλεια ὑπάρξει. καὶ περὶ μὲν τούτων ἱκανῶς ἐχέτω: ἃ δὲ καὶ ἀποστέλλων σε εἰς τὸν νομὸν προσδιελέχ[θ]ην ταῦτα καὶ δ[ι]ὰ τοῦ ὑπομνήματος καλῶς ἔχειν ὑπέλαβον γ[ρ]άψαι σοι. ὤιμην γὰρ δεῖν τὸ μὲν [ἡ]γεμονικώτατον ἰδίως καὶ καθα[ρῶς κ]αὶ ἀπὸ τοῦ βελτίστ[ου ποιοῦντας ὑμᾶς προσπορεύεσθαι […]

Indem ihr nämlich dies tut, erfüllt ihr durch Taten das Erforderliche und (somit) wird für euch alle Sicherheit gegeben sein. Aber über diese Dinge soll es genug sein. Was aber deine Sendung in die Nome angeht, so hielt ich es für gut, das, worüber ich mich mit dir unterredet habe, auch in Form des Memorandums aufzuschreiben. Denn ich war der Meinung, dass ihr im Blick auf höchste Führungsqualitäten sorgsam, korrekt und auf das Beste handelnd vorzugehen in der Lage sein solltet.

[Z. 265–269 fragmentarisch] […]

[…]

54 

Mitchell, Genre, 367–370. Rostovtzeff, Instructions, 68. 56  Vergleichbare Beispiele sind P.Hib. 77; SB I 5675 (B. C. 184–3); UPZ I 110 (164 v. Chr.); vgl. Rostovtzeff, Instructions, 69; die Abkürzungen erfolgen nach Sosin u. a., Checklist. 57  Der griechische Text ist zitiert aus Rostovtzeff, Instructions, 81 f. Die Zitation erfolgt aus praktischen Gründen vereinfacht und weitestgehend ohne die Angabe von unsicheren Buchstaben oder Varianten. Bei den deutschen Texten handelt es sich (auch im Folgenden) um eigene vorläufige Übersetzungen. Für die Durchsicht und wertvolle Hinweise danke ich Annette Graeber und Dr. Christian Streibert. 55 

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I  Perspektiven der Forschung

εὖ μεμαρτυρημένης τῆς καθ᾽ ἡμας ἀναστροφῆς καὶ ἀγωνίας, μετὰ δὲ ταῦτα [ευ] εὐτακτ[εῖν] καὶ ἀκαμπτεῖν ἐν τοῖς τόποις, μὴ συμ[πλέ]κεσθαι φαύλος ὁμιλίας, φεύγειν [ἅπα]ντα συνδυασμὸν τὸν ἐπὶ κακία[ι] γενόμενον, νομίζειν ἐὰν ἐν τούτοις ἀνέγκλητοι γένησθε μειζόνων ἀξιωθήσεσθαι, ἔχειν τὰ ὑπομνήματα διὰ χειρὸς, καὶ περὶ ἑκάστων ἐπιστέλλε[ιν] καθὰ συντέτακται.

[…] wenn unser Wandel und Bemühen in gutem Leumund steht, darüber hinaus aber sollt ihr ordentlich und unnachgiebig in Distrikten agieren, euch nicht verstricken in schlechte Gesellschaft und überhaupt alle Intrige meiden, die auf Bosheit beruht (und) daran denken: Wenn ihr in diesen Dingen unbescholten seid, werdet ihr höherer (Ämter) gewürdigt werden. Habt stets die Mandate zur Hand und erstattet über alles Bericht, wie es angeordnet ist.

Aufgrund des eher allgemeinen Charakters besonders der Anweisungen in den letzten 24 Zeilen (257–280) beschreibt Rostovtzeff dieses Dokument als »a kind of vademecum for the oeconomus, who in the closing sentence is advised ἔχειν τὰ ὑπομνήματα διὰ χειρός, καὶ περὶ ἑκάστων ἐπιστέλλε[ιν] καθὰ συντέτακται. It is, so to say, his appointment-charter.«58 Es handelt sich also um eine Art Handbuch, ein Verhaltenskodex, der neben Konkretem auch Grundsätzliches und Allgemeingültiges thematisiert und auf dessen Basis der Beamte den konkreten Herausforderungen seines Amtes gerecht werden kann und soll (vgl. Zeile 234–239: »Es ist nicht einfach, alles zu erfassen und euch durch memoranda zu überbringen, wegen der vielfältigen Umstände der Dinge, die sich aus der Situation von Zeit zu Zeit ergeben«).59 In Zeile 257 wird deutlich ein Übergang markiert von den konkreten Handlungsanweisungen zur Aufsicht der Landwirtschaft, von Transporten und anderen konkreten Dingen zu eher allgemeinen Instruktionen. Zeile 258 erwähnt die Sendung60 in die Nome und die Erinnerung, sich an die gegebenen Anweisungen zu halten, die in Gestalt des Memorandums nochmals festgehalten werden (ἃ δὲ καὶ ἀποστέλλων σε εἰς τὸν νομὸν προσδιελέχθην ταῦτα καὶ διὰ τοῦ ὑπομνήματος καλῶς ἔχειν ὑπέλαβον γράψαι σοι, 258–261). Darauf folgen Ermahnungen zu einem aufrechten und unbescholtenen Verhalten (ἀνέγκλητος), schlechte Gesellschaft zu meiden und dergleichen (270–277).61 »In our view, then, 703 is one of the many copies of the standard instruction of the dioecetes to the oeconomi. Like the Gnomon of the idiologus, these instructions were modified from time to time, possibly, as the edicts of the praetors and of the governors of the Roman provinces were, by every new dioecetes; and the same will be true of instructions given by the king and other higher officials of the Ptolemaic administration. Similar instructions were doubtless issued by the dioecetes to other subordinates and by the king to the dioecetes himself. It seems

58 

A. a. O., 69. Anklang an Dibelius’ Charakterisierung der Pastoralbriefe als »Vademecum« der Ketzerbekämpfung ist sicher kaum zufällig; vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 54. 60  Ἀποστέλλειν ist in den Papyrusdokumenten terminus technicus für die mit einer Beauftragung verbundenen Sendung einer Person durch eine andere. 61 Zu kritischen Anmerkungen im Blick auf verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten vgl. Mitchell, Genre, 351–353. 59 Der

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likely that certain parts of these instructions were common to all of them, especially those of general character, which represented, so to say, the philosophy of the bureaucracy.«62

Für Rostovtzeff hat sich daher auch nahegelegt, die ὑπομνήματα als Vorläufer der römischen Mandatsschreiben zu verstehen,63 die dann wiederum zeitlich sehr viel näher bei den Pastoralbriefen liegen als der P.Tebt. III 703 aus dem 3. Jh. v. Chr., so dass Mitchells kritische Bemerkungen zur Rezeption von P.Tebt. III 703 in dieser Hinsicht durchaus berechtigt sind. Man muss sicher nicht so weit gehen, hier eine direkte Ableitung vorzunehmen, aber die Parallelen derartiger Dokumente in Struktur und Inhalt vor allem zum 1. Timotheus- und zum Titusbrief liegen auf der Hand und machen deutlich, dass diese beiden Briefe sich an das administrative Genre der ὑπομνήματα bzw. mandata anlehnen oder zumindest Aspekte dieses Genres aufnehmen und auch sprachlich Affinitäten dazu aufweisen. Wolter führt diese Affinitäten auf die vergleichbare Kommunikationsstruktur zurück.64 Die strukturelle Nähe der Pastoralbriefe zu diesen Dokumenten – das hat Wolter besonders betont – legt nahe, dass die Anweisungen (zumindest in Auszügen) veröffentlicht werden, wie dies in manchen Memoranda oder auch Inschriften ausdrücklich festgehalten ist. Dies weise darauf hin, »daß die Mandate nicht nur für die Lektüre der Adressaten bestimmt waren, sondern z. T. in Übersetzung publiziert und so in ihrem Wortlaut auch den Provinzialen zur Kenntnis gebracht wurden. […] Insofern ist es vielleicht auch kein Zufall, daß 1. Tim 6,13 die inhaltlichen Anweisungen des 1. Tim mit dem entsprechenden griechischen Äquivalent (ἐντολή) zusammenfaßt.«65

So kann die Heranziehung von Papyrusurkunden wie P.Tebt. III 703 durchaus zur Erhellung des Genres des 1. Timotheus- und des Titusbriefes beitragen und damit zur Beschreibung der Funktion dieser Schreiben, die sie in einer aktuellen und eben gerade nicht fiktiven Situation hatten,66 obwohl man freilich auch den aktuellen Bezug für eine Fiktion halten kann. Die Herausforderung, die sich daraus ergibt, ist vor allem die Verhältnisbestimmung solcher Genrevergleiche mit den dokumentarischen Papyri auf der einen und literarischen Texten auf der anderen Seite. Dies wird besonders beim Vergleich der Arbeiten von Wolter und Fiore deutlich: Wäh62 

Rostovtzeff, Instructions, 71. A. a. O., 73. Schwierig bleibt dennoch die Verhältnisbestimmung zwischen ὑπομνήματα und den sog. ἐντολαί bzw. mandata; vgl. dazu Fiore, Function, 81; Mitchell, Genre, 365, sowie die oben genannten Beispiele aus Philo, Flacc. 74 und 2 Makk 4,25; vgl. weiterhin z. B. Dio Cassius, Romanike Historia 53,15,4: »Der Imperator gibt Anweisungen (ἐντολάς) an die Prokuratoren, die Prokonsuln und die Proprätoren, damit diese genaue Anweisungen hätten, wenn sie in die Provinzen gehen«; P.Vind. 25824b: Mandat des Mettius Rufus unter Trajan. 64  Wolter, Pastoralbriefe, 163 f. 65  A. a. O., 169; vgl. a. a. O., 163–166, etwa mit Hinweis auf BGU VII 1768; IGLS 1998. 66  Vgl. etwa auch Roller, Formular, 409: »Die Mandate und Konstitutionen der römischen Kaiser z. B. wurden in den Formen eines echten Briefes erlassen und hießen darum auch epistulae, ebenso wie auch der dienstliche Bericht des Claudius Lysias an den Landpfleger Felix (Acta 23, 26–30), der ganz in das Briefformular gekleidet ist, darum auch (in Acta 23, 25) als ἐπιστολή bezeichnet ist. Für die Paulinischen Briefe ist dies alles insoferne von Bedeutung, als sich dadurch erweist, daß sie ihrem Formular nach als reine Briefe zu bewerten sind.« 63 

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rend Wolter das Genre des 1. Timotheus- und des Titusbriefes in Analogie zu den memoranda/mantata principis bestimmt, bleibt Fiore skeptisch und beschreibt die Pastoralbriefe primär in Analogie zu literarischen Briefen.67 Allerdings ist hinzuzufügen, dass aus dem Vergleich mit den memoranda und mandata principis über die konkrete Absicht und die Entstehungsverhältnisse des 1. Timotheus- und des Titusbriefes nichts abgeleitet oder begründet werden kann, wie es bisher oft geschehen ist. Mit der Bestimmung einer solchen Gattungsparallele ist die Aufgabe noch nicht gelöst, andere literarische Formmerkmale der Pastoralbriefe dazu ins Verhältnis zu setzen. Dabei ist vor allem deutlich, dass die Frage nach dem Genre im Blick auf den 1. Timotheus- und den Titusbrief unterschiedlich zu beantworten ist. Während der 1.  Timotheusbrief erkennbar dem Muster der mandata entspricht, kann der Titusbrief aufgrund seines deutlicher ausgeprägten persönlichen Charakters nicht unmittelbar als ein solches Schreiben gelten. Die Nähe zu Elementen des Genres ist hier vielmehr durch die Briefsituation und offenbar auch durch das im Vergleich zum 1. Timotheusbrief veränderte Verhältnis zwischen Empfänger und Absender veranlasst. Hierher gehört auch die Frage nach der Briefform als solcher: Inwiefern handelt es sich um wirkliche Briefe bzw. – wie bei den mandata – um administrative Schreiben in brieflicher Form, die gelegentlich von einem »cover-letter« begleitet wurden,68 und zwar aus primär pragmatischen Gründen (man muss auch solche Schreiben »senden«)? Dies könnte eine sinnvolle Differenzierung sein, die auch für die Pastoralbriefe neu zu bedenken wäre, insofern dadurch die persönliche Adressierung und die gemeindeöffentliche Perspektive gleichermaßen plausibel würde: Handelt es sich etwa bei Tit 3,12–15 um den »cover-letter« eines ansonsten (semi-)offiziellen Schreibens? Das wäre unter pseudepigraphischer Perspektive ebenso interessant wie unter der Voraussetzung, dass es sich um ein authentisches Schreiben handelt.

2.3  Zwei konkrete Beispiele: πίστις und διπλῆ τιμή Nach der Erörterung methodischer Fragen sowie der Relevanz des Genrevergleichs sollen zwei ausgewählte Beispiele angeführt werden, die in der Deutung umstrittener Begriffe der Pastoralbriefe inhaltlich bedeutsam sind. Damit kommen nun speziell die jüdischen Papyrusbriefe in den Blick. Allerdings ist erneut darauf hinzuweisen, dass in diesem Rahmen aus rein pragmatischen Gründen eine Beschränkung auf die in den Bänden des Corpus Papyrorum Judaicarum (CPJ) zusammengestellten jüdischen Papyri erfolgt und damit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird, zumal diese ohnehin nicht möglich ist. 67 Vgl. Fiore, Function, 84: »The difference lies largely in the rhetorical features of the Pastorals which characterize them as something different from the purely regulatory documents.« Für den Vergleich mit der sokratischen Brieftradition vgl. a. a. O., 163. 68 Vgl. Rostovtzeff, Instructions, 66. Anfang und Ende von P.Tebt. III 703 sind weitgehend korrumpiert bzw. fehlen.

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2.3.1 Πίστις Es ist in der Forschung bei der Begründung der pseudonymen Abfassung der Pastoralbriefe immer wieder hervorgehoben worden, dass wichtige paulinische Begriffe hier anders verwendet werden als in den authentischen Paulusbriefen. Da für Paulus der Begriff der πίστις einen hohen Stellenwert einnimmt, erscheint die Bedeutungsverschiebung in den Pastoralbriefen gerade an dieser Stelle besonders signifikant. Otto Merk hat in einem Aufsatz die enge Korrelation zwischen πίστις und Evangelium in den Pastoralbriefen betont und dabei im Vergleich zu Paulus insofern eine Erstarrung des Glaubensbegriffes konstatiert, als πίστις maßgeblich auf das Leben in den gegebenen Ordnungen ausgerichtet sei und damit als »Christentum« die bleibende Gegenwart des Evangeliums garantiere: »Die bleibende Gegenwart des Evangeliums ist ihm [sc. dem Verfasser der Pastoralbriefe, J. H.] in solchen Ordnungen auf dieser Grundlage gewährleistet und die πίστις als Christentum auch in dieser Form der ›Erstarrung‹ auf dem in seinem Bestand selbst nicht hinterfragbaren Evangelium gegründet.«69

Bereits für Heinrich Julius Holtzmann changierte die Bedeutung des Begriffes πίστις  – im Unterschied zu Paulus  – zwischen vertrauensvoller Aneignung der Wahrheit, der Tugend der Treue (»wenigstens 1 Tim. 5,12. Tit. 2,10«) und Rechtgläubigkeit (1 Tim 1,5; 2 Tim 1,5 wegen des Attributes »ungeheuchelt«) bzw. einer fides quae creditur (1 Tim 1,19; 4,1; 6,10.21; Tit 1,4).70 »Ihrer principiellen Stellung entrückt und zur blossen Rechtgläubigkeit geworden, muss die πίστις es sich freilich gefallen lassen, nur als ein Moment neben der nicht minder wichtigen praktischen Bethätigung des Christenthums, durch die sie wesentlich ergänzt wird, zu erscheinen.«71

Die wie auch immer zu beschreibende »Verobjektivierung« des Glaubensbegriffes gilt weithin als Ausweis einer nachpaulinischen Entwicklung.72 Allerdings stellt sich angesichts der semantischen Breite des Begriffes πίστις und der sich daraus ergebenden Abhängigkeit seiner Bedeutung von der konkreten kontextuellen Vernetzung die Frage, ob sich der Begriff in den Pastoralbriefen tatsächlich auf einen solchen einfachen bzw. eindimensionalen Nenner bringen lässt. Die folgenden Beispiele sollen den Gebrauch des πίστις-Begriffes in ausgewählten Papyrusurkunden veranschaulichen, in denen er durch die semantische Verknüpfung mit anderen Termini für die Pastoralbriefe besonders interessant erscheint. 69 

Merk, Glaube, 99; vgl. zum Ganzen Mutschler, Glaube. Holtzmann, Pastoralbriefe, 179 f. Vgl. auch Marshall, Commentary, 214–216. 71  Holtzmann, Pastoralbriefe, 180. 72  Von Lips, Glaube, 29. Vgl. demgegenüber Marshall, Commentary, 214 f., der für eine objektivierende Tendenz zumeist Belege aus dem 1 Tim anführt und im Übrigen der Meinung ist, dass die Pastoralbriefe insgesamt sich nicht so weit von Paulus entfernen, wie zumeist angenommen (vgl. a. a. O., 215: »[…] the usage is not significantly different from that of Paul«). 70 Vgl.

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1)  NCPJ III 490,4 (BGU III 887,4; Mitte 2. Jh., Arsinoïte): βεβαιοῦντος καὶ τῇ ἰδίᾳ πίστει κελεύον[το]ς Ἑρμείου Ἡφαιστᾶ ὑγιῆ ἐκ διατάγματος (s. auch Zeile 8: καὶ [τ]αῦτ[α] ὑπὲρ αὐτοῦ τῇ [ἰ]δίᾳ π[ίσ]τει καὶ βεβαιώσει εἶναι ἐκέλευσεν Ἑρμείας Ἡφαιστᾶ, u. ö.). »Hermeias bestätigt (sc. den Kauf ) und beauftragt mit eigener Sicherheit den redlichen/ korrekten Hephaistes auf Anordnung.« (Zeile 8: »Und dieses an seiner statt zu sein, mit eigener Sicherheit und Bestätigung, hat Hermeias dem Hephaistes aufgetragen.«)

In dieser Urkunde wird der Verkauf einer phrygischen Sklavin beschrieben. Dabei bezeichnet πίστις im juristischen Sinn die Sicherheit für einen Kaufvertrag. Die mehrfache Wiederholung der Wendung τῇ ἰδίᾳ πίστει – noch dazu durch unterschiedliche Hand  – lässt auf einen formelhaften bzw. stereotypen Gebrauch des Ausdrucks in diesen Kontexten schließen. 2)  Dieselbe juristische Bedeutung der Sicherheit bzw. Garantie der Rechtmäßigkeit des Geschäftes hat πίστις auch in CPJ III 508,5 (P.Ant. I 42; 6. Jh., Antinoopolis), einer Quittung über den Verkauf und die Auslieferung einer Sendung Weins: Αὐρήλιος Πει̣ ηυοῦτος ἐκ πατρὸς Ἀπολλῶτος μητρὸς Θέκλας μ̣ε̣[τ᾽] ἐγγυητοῦ τοῦ ἐγγυωμένου πρὸς πᾶσαν πίστιν καὶ ἀπόδοσιν ὑποκει̣ μ̣[ένη]ν σοι εἰς τοῦτο τὸ χρέος ἐμοῦ Αὐρηλίου Πέτρου. »Aurelios Peieuoutos, dessen Vater Apollos und die Mutter Thekla ist, mit dem Bürgen Aurelios Petros, der auf ›Treu und Glauben‹ und für die für dich hinterlegte Zahlung in dieser meiner Angelegenheit bürgt.«

3)  Bei CPJ II 143,16 f. (BGU IV 1151; Ende 1. Jh. v. Chr., Alexandrien) handelt es sich um einen Vertrag bzw. eine Quittung über die Auszahlung einer Geldsumme, wobei auch hier der Begriff πίστις im Sinne von »Sicherheit« verwendet wird: ἔκ τε αὐτοῦ Ἀλεξάνδρο(υ) καὶ ἐκ τῶν ὑπαρχ(όντων) αὐτῷ πάντ(ων) καθά[περ ἐκ δίκης] καὶ μὴ ἐπιφέρε(ιν) πίστεις […] ἀξ̣(ιοῦμεν). »[…] von Alexander selbst und von allem, was ihm rechtmäßig gehört, halten wir es für gerechtfertigt, dass er keine Sicherheiten erbringen muss.«73

4)  Interessant ist ein privater Brief in CPJ II 424 (P.Bad. II 35; datiert auf den 16. Dezember 87 n. Chr.), auch wenn dabei nicht klar zu identifizieren ist, worum es eigentlich geht. Doch auch hier wird der Begriff πίστις gebraucht und zwar im Blick auf eine persönliche finanzielle Angelegenheit. Eine gewisse Johanna schreibt an einen ihr offenbar nahestehenden Epagathos und beklagt sich, dass er ursprüngliche Vereinbarungen eine Geldsumme betreffend nicht eingehalten hat:

73 Vgl. auch CPJ II 146,42–45 (BGU IV 1106; 13 v.  Chr., Alexandrien, Vertrag mit einer Amme): καὶ ἐκ τῶν ὑπαρχόντων αὐτοῖς πάντων καθάπερ ἐκ δίκης, ἀκύρ[ω]ν οὐσῶν καὶ ὧν ἐ[ὰν ἐ]πενέγκωσιν πίστεων πασ[ῶ]ν σκέπ[ης] πάσης. – »Und von allem, was ihnen rechtmäßig gehört, auch wenn es nicht eigens autorisiert ist, und wovon – wenn sie alle Sicherheiten erbringen – jede (Kosten-) Deckung (vorhanden ist).«

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Ἰοά̣[νν]η Ἐπαγάθῳ τῷ ἰδίῳ πλ[εῖστα χαίρειν]· οὐ κ[αλ]ῶς ἐποίησας ἅπ̣α̣ντα ὑπ̣[αλλάξας] καὶ πα̣[ρ]αβάς σου τὴν συνταγὴ[ν τὴν] καὶ ἐπιδεξαμένην με κ[υρίαν εἶναι] (δραχμῶν) κ καὶ τῶν τόκων ἄφες κεφ̣[άλα]ι[όν με] ἴσχεσθαι θαυμάζω, πῶς τ̣ ὴν πίστιν σου ἤλλαξαι. »Johanna, ihrem Epagathos, beste Grüße! Du hast nicht korrekt in allen Dingen gehandelt, indem du deinen Vertrag verändert und nicht eingehalten hast, obwohl ich darin als Bevollmächtigte eingetragen bin. Veranlasse, dass ich von den 20 Drachmen und den Zinsen über den Hauptanteil verfügen kann. Ich wundere mich, wieso du deine Zusage/Verpflichtung/ Versicherung aufgekündigt hast.«

5) Etwas anders konnotiert  – dem Kontext entsprechend im Sinne politischer Loyalität – ist πίστις in CPJ II 450,32 (P.Oxy. IV 705; Anfang 3. Jh.), einer Petition eines alexandrinischen Mäzens namens Aurelius Horion an den Kaiser um eine Garantie zur Durchführung eines jährlichen Festes in Erinnerung an den Sieg über die Juden, wobei die Wohlgesonnenheit, die Treue bzw. Loyalität und die Freundschaft der Alexandriner Rom gegenüber im Kampf gegen die Juden betont wird: ἡ πρὸς Ῥωμαίους εὔ̣ν̣[οι]ά τε καὶ πίστις καὶ φιλία ἣν ἐνεδείξαντο κα[ὶ] κατὰ τὸν πρὸς Ἰουδαίους πόλεμον συμμαχήσαντες καὶ ἔτι καὶ νῦν τὴν τῶν ἐπινικίων ἡμέραν ἑκάστου ἔτους πανηγυρίζοντες. »Das Wohlwollen, die Treue/Loyalität und die Freundschaft zu den Römern, die sie auch im Kampf gegen die Juden erwiesen haben, indem sie mit uns kämpften und auch jetzt noch den Tag des Sieges jedes Jahr festlich begehen […].«

Als ein vorläufiges Resümee aus diesen beispielhaften Befunden lässt sich festhalten, dass die Bedeutung des Begriffes πίστις in den dokumentarischen Papyri mit ökonomischen Inhalt das semantische Feld Verlässlichkeit/Sicherheit/Zuverlässigkeit/ Lo­yalität abdeckt. Dabei stehen zwar in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Konnotationen im Vordergrund, die Grundbedeutung weist jedoch jeweils in eine vergleichbare Richtung. Im politisch-administrativen Bereich bezeichnet πίστις die Treue, Loyalität und Zuverlässigkeit von Personen, in juristisch-ökonomischen Kontexten die Sicherheit bzw. Beglaubigung für eine vertragliche Vereinbarung im persönlichen wie öffentlichen Verkehr, und zwar materiell wie ideell, etwa: »auf Treu und Glauben«.74 Für die Pastoralbriefe bzw. konkreter für den 1. Timotheus- und den Titusbrief lassen sich aufgrund ihres mit Mandatsschreiben des öffentlichen Lebens vergleichbaren Charakters daraus durchaus einige Schlussfolgerungen ziehen. Wenn in 1 Tim 1,4 f. der Begriff πίστις im Zusammenhang mit dem aus dem Wirtschaftskontext stammenden und theologisch transformierten Begriff οἰκονομία verwendet wird, so legt sich auch aufgrund solcher Parallelen an dieser Stelle die Bedeutung »Treue, Zuverlässigkeit« näher als die des »Glaubens«. Ein οἰκονόμος muss vor allem zuverlässig sein (vgl. 1 Kor 4,2; 1 Tim 1,12) und dementsprechend beruht die οἰκονομία auf dem Grundprinzip der Verlässlichkeit. Sie muss ungeheuchelt sein, d. h. sie darf nicht nur einen äußeren Anschein haben. Interessanterweise kommt die Verbindung πίστις ἀνυπόκριτος auch in 2 Tim 1,5 vor, allerdings in einem an74 

Arzt-Grabner, Philemon, 178 f.

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deren Zusammenhang, nämlich dem veränderten Genre entsprechend bezogen auf die persönlich-biographische Ebene, wo sehr deutlich der Gottesglauben selbst im eigentlichen Sinne angesprochen ist. Die Aufnahme dieser Wendung in 1 Tim 1,4 f. in einem veränderten Kontext und unter dem Vorzeichen eines anderen Briefgenres lässt daher eine semantische Transformation des πίστις-Begriffes erkennen. Es wäre zu prüfen, ob sich eine solche begriffliche Transformation auch an anderen Stellen wahrnehmen ließe. Das zumeist im Sinne von »treu, zuverlässig« verwendete Adjektiv πιστός (1 Tim 1,12; 3,11; 4,3.10; 5,16; 2 Tim 2,2; Tit 1,6) sowie die πιστὸς-ὁ-λόγος-Formel (1 Tim 1,15; 3,1; 4,9; 2 Tim 2,11; Tit 3,8) legen dies zumindest nahe (vgl. auch ἐπιστεύθην in 1 Tim 1,11).75 Der unter 4) aufgeführte Text CPJ II 424 (P.Bad. II 35) bietet weiterhin eine anschauliche Parallele zu 1 Tim 5,12, wonach Timotheus die jüngeren Witwen abweisen und nicht in die Versorgungsliste der Gemeinde aufnehmen soll, weil sie dann doch u. U. heiraten wollen und so ihre (frühere/primäre) Treueverpflichtung (τὴν πρώτην πίστιν), die sie offenbar mit ihrer Aufnahme in den Witwenstand der Gemeinde und damit Christus gegenüber (V. 11b) eingegangen sind, wieder aufkündigen. Gegen das Heiraten selbst ist ja nichts einzuwenden. Der Autor empfiehlt es ja selbst (V. 14!) und zwar als Konsequenz aus dem Vorherigen (οὖν). Aber er legt eben Wert darauf, dass eine eingegangene Verpflichtung auch eingehalten wird, weil sonst aus seiner Sicht die Gemeindeordnung in Gefahr ist (V. 13). Interessant sind darüber hinaus auch einige Details, wie z. B. die kontextuelle Verknüpfung von πίστις mit dem Wortstamm ὑγιής in dem unter 1) genannten Kaufvertrag CPJ III 490,4 (BGU III 887,4) in der Bedeutung »korrekt« bzw. »vereinbarungsgemäß«.76 Ähnliches findet sich auch in den Zeilen 5–7: ἐὰν δέ τι τούτων ᾖ [ἢ μὴ ᾖ ὑγιὲς ἢ ἐπαφ]ὴ αὐτοῦ ἢ ἐκ μέρους γένηται καὶ ἐκνικηθῇ, τότε διπλῆν τὴν τιμὴν χωρὶς παραγγελί[ας [καλῶς δοθῆναι] πίστει ἐπηρώτησεν Ἀρτεμίδωρος [Κα]ι̣ σ[ίου] πίστει δοῦνα[ι]. »Falls aber etwas davon eintreten sollte – sei es, dass es nicht korrekt oder anfechtbar sei oder teilweise auch (anderweitig) beansprucht ist, dann (ist) redlicherweise der doppelte Preis ohne (weitere) Ankündigung ›auf Treu und Glauben‹ zu zahlen. Artemidoros(, Sohn des) Kaisios, bittet, ›auf Treu und Glauben‹ zu zahlen.«

Insbesondere die Korrelation zum Adjektiv πιστός lässt erkennen, dass auch das Nomen πίστις neben dem von Paulus herkommenden Gebrauch im Sinne des Christusglaubens (vgl. Tit 1,1.4) die Bedeutung der Treue und Zuverlässigkeit 75 Vgl.

Mutschler, Glaube, 321–342 u. ö. S. o. Vgl. auch P.Oxy. I 82 (3. Jh.), wo von einem Strategos erwartet wird, dass er die öffentlichen Aufgaben ὑγιῶς καὶ πιστῶς (»korrekt und zuverlässig«) ausführt: ὥστε καὶ τὰς ἀναδόσεις τῶν λειτουργῶν ποιήσασθαι ὑγιῶς καὶ πιστῶς καὶ προσκαρτερῶν τῇ στρατηγίᾳ ἀδιαλείπτως εἰς τὸ ἐν μηδενὶ μεμφθῆναι, ἢ ἔνοχος εἴην τῷ ὅρκῳ. παρέσχον δ᾽ ἐμαυτοῦ ἐγγυητὴν Αὐρήλιον Ἀμμώνιο[ν .]. – »[…] so dass auch die Abgaben/Verteilungen für die Arbeiter korrekt und zuverlässig erfolgen. Und du sollst unermüdlich ausharren im Amt, damit du in keiner Sache getadelt wirst oder ich einer (falschen) Versicherung schuldig werde. Als meinen Bürgen benenne ich Aurelios Ammonos.« 76 



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annehmen kann. Darüber hinaus korrelieren die Begriffe ὑγιής und πίστις bzw. πιστός in einem sehr spezifischen Sinn. Eine ähnliche semantische Verbindung beider Wortstämme findet sich etwa in Tit 1,13–15, wo es um das Zurechtbringen der μεμιάμμενοι καὶ ἄπιστοι geht: ἵνα ὑγιαίνωσιν ἐν τῇ πίστει, sowie in Tit 2,2, wo von den älteren Frauen gefordert wird, sie sollen ὑγιαίνοντας τῇ πίστει sein. Nimmt man den semantischen Zusammenhang zwischen ὑγιής und πίστις/πιστός in den Papyrusdokumenten ernst, dann könnte dies auch jene Belege in den Pastoralbriefen erhellen: Es ist nicht der Glaube an Christus, der gewissermaßen zu »heilen« wäre, sondern es ist die Treue zur Gemeinschaft, die zurechtgerückt und im positiven Sinne korrigiert werden soll. In Tit 2,2 ließe sich daher sogar übersetzen: »sorgfältig/sorgsam/gewissenhaft in der Treue, der Liebe und der Geduld«.77 Dennoch ist damit das Potential der Begriffe für die Interpretation noch nicht ausgeschöpft, denn diese aus den nichtliterarischen Papyrusbriefen erhobene Konnotation wäre auch mit anderen Bezügen zu korrelieren, wie sie in literarischen Texten zu finden sind.78 Dies würde aber auch eine präzisere Semantik in die für die Pastoralbriefe typische Formel der »gesunden Lehre« eintragen, wonach »gesund« im Sinne von »korrekt«, »der Überlieferung treu bleibend« verstanden werden könnte. In der Wendung λόγον ὑγιῆ ἀκατάγνωστον (Tit 2,8) ginge es folglich um das Wort (sc. Gottes, vgl. 2,5), das dem Anspruch der Verkündigung gemäß korrekt und daher unantastbar und unverkennbar sein soll. 2.3.2  Διπλῆ τιμή Das letzte angeführte Beispiel aus CPJ III 490,5–7 (BGU III 887,5–7) ist nicht nur ein Beleg für die Zusammengehörigkeit des Wortfeldes πίστος und ὑγιής, sondern auch für den Begriff der διπλῆ τιμή, der im Kontext von 1 Tim 5,17 umstritten ist:79 Die ihren Leitungsaufgaben gut (καλῶς) nachkommenden Presbyter sollen einer διπλῆ τιμή gewürdigt werden. Unklar dabei ist, ob sich dies auf eine besondere (»doppelte«) materielle Versorgung der Presbyter bezieht80 oder ob damit eine eher ideelle Würdigung gemeint ist.81 Die ergänzende Präzisierung in 5,17b: »vor allem diejenigen, die sich um Wort und Lehre mühen«, klärt das Problem nicht. Dem alltäglichen Sprachgebrauch des Begriffes τιμή eignet eher die materielle 77 Anders Mutschler, Glaube, 225: Glaube sei hier zu verstehen als »Rahmenbegriff mit einem Akzent der Rechtgläubigkeit«. 78  Vgl. zu ὑγιής bes. Malherbe, Imagery. 79 Vgl. Schöllgen, διπλῆ τιμή, 232: »crux interpretum«; Schneider, τιμή, 178 Anm. 42, nennt lediglich Aelius Aristides, Orationes 32,3 als einzige Parallele zu διπλῆ τιμή. 80  Dafür plädieren z. B. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 61: »sicher ein Honorar«; Jeremias/Strobel, Briefe, 42: »Ehrerbietung mit Einschluß der Ehrenbezahlung«; Brox, Pastoralbriefe, 199; Towner, Letters, 363 f.; Schneider, τιμή, 178. Abwegig ist die aus einer Polemik Tertullians gewonnene These von Schöllgen, διπλῆ τιμή, 236–238, διπλῆ τιμή beziehe sich vor dem Hintergrund der Mahlpraxis antiker Vereine auf die doppelte Portion für die Presbyter beim Abendmahl. 81  So z. B. Oberlinner, 1 Tim, 253.

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I  Perspektiven der Forschung

Konnotation.82 Demgegenüber steht die Verwendung im Neuen Testament, wo der ideelle Aspekt in den Vordergrund tritt, ohne freilich den materiellen selbst in theologischen Zusammenhängen zu verdrängen (vgl. etwa 1 Kor 6,20; 7,23; 1 Petr 2,7). Ein solcher doppelter Gebrauch liegt auch im 1.  Timotheusbrief vor (vgl. 1 Tim 1,17; 5,3; 6,1.16). Blickt man vor diesem Hintergrund auf den Gebrauch der Wendung in den Alltagspapyri, so fällt zunächst die Fülle der Belege83 aus dem wirtschaftlichen Bereich auf. Nur einige Beispiele müssen hier zur Veranschaulichung genügen: 1)  BGU I 313,5–7 (vermutlich ein Pachtvertrag, 4.–7. Jh.): […] καὶ τὴν νομὴν καθαροποιήσωμεν [ἢ ἐκτίσειν σοι τὴν προγε]γραμμένην τιμὴν διπλῆν καὶ ποι[…] »[…] und die Weide werden wir von ›Schulden und Lasten‹ befreien oder dir den vorgeschriebenen doppelten Preis zahlen […]«

2)  BGU I 350,15 ff. (Kaufvertrag, Anfang 2. Jh. n. Chr., Arsinoïtes): [μηδὲ διαμφισβητήσειν τρόπῳ μηδενί. ὅ]τι δ᾽ αὐτῶν προγεγραμμένων παρασυγγραφήσει ὁ ὁμολογῶν ἢ ὑπὲρ αὐτοῦ προσαποτισάτω τῆι [Τανεφρέμμι καὶ τὰ ἀνηλωμέ]ν̣α διπλᾶ καὶ ἥν τε εἴ[λ]η[φ]εν τιμὴν διπλῆν καὶ ἐπίτιμον ἀργυρίου δραχμὰς διακοσίας πεντή[κοντα καὶ εἰς τὸ δημόσιον] τ̣ὰ̣ς ἴσας καὶ μηδὲν ἧσσον τὰ διωμολογημένα κύρια εἶναι. »[…] und in keiner Weise zu streiten. Denn wenn der Vertragspartner, nachdem sie eine Vereinbarung getroffen haben, den Vertrag brechen wird, so bezahle er oder der ihn Vertretende der Tan­ephremmis die doppelten Ausgaben, d. h. den doppelten Preis, den sie erhalten hat, sowie eine Strafgebühr von 250 Silberdrachmen, und in die öffentliche Kasse denselben Betrag und nicht geringer soll die zugestandene Vollmacht sein.«

3)  P.Dura 26,25 (Vertrag über Schadensersatz, 227 n. Chr.): ἐκτείσε̣ι̣ α̣[ὐτῷ τὴν] τ̣ [ι]μ̣ὴν διπλῆν καὶ τὸ βλάβος ὁμοίως »[…] er zahle ihm den doppelten Wert/Preis und ebenso den Schaden […]«

Es ließen sich leicht weitere Belege anführen,84 aber schon diese Auswahl zeigt, dass διπλῆ τιμή als ein terminus technicus für die Benennung des doppelten Wertes bzw. Preises einer Sache oder einer Dienstleistung gelten kann. Inwiefern dies für die Interpretation von 1 Tim 5,17 relevant ist, muss freilich noch geprüft werden. Der Kontext, in welchem es um die Regelung finanzieller Versorgungsleistungen geht, legt es zumindest sehr nahe, den materiellen Aspekt nicht zu unterschätzen. Dennoch muss »doppelt« nicht notwendig eine konkrete numerische »Verdoppelung« implizieren, sondern kann auch eine Verstärkung der Wertigkeit einer Sache bzw. einer Dienstleistung bezeichnen – eine Konnotation, die für 1 Tim 5,17 82 Vgl.

Schneider, τιμή, 170 f. In den Datenbanken werden insgesamt weit über 100 Belege ausgewiesen. 84  Vgl. weiterhin z. B. CPJ III 500 (P.Bad. IV 53, 4. Jh., Liste einer Weinrechnung); P.Amh. II 95,11 (109 n. Chr., Landverkauf ); II 96,10 (213 n. Chr., Landverkauf ); P.Ant. II 101,3 (3. Jh., Kaufvertrag); P.Coll.Youtie II 75,12 (3. Jh., Kauf einer Sklavin) u. a. 83 



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immer wieder vermutet wird. Der Kontext von 1 Tim 5,17, in welchem es um die materielle Versorgung der Witwen geht, legt allerdings auch im Blick auf besonders verdienstvolle Presbyter eine materielle Deutung von διπλῆ τιμή nahe.

3.  Schlussfolgerungen und Ausblick Im Ergebnis lassen sich zwei Aspekte festhalten. Zum einen ist deutlich geworden, dass die Heranziehung von Papyrusurkunden aus dem diplomatischen Bereich (memoranda/ὑπομνήματα, mandata) durchaus zur Erhellung des Genres des 1. Timotheusbriefes und in gewisser Weise auch des Titusbriefes beiträgt. Es lässt sich mit diesem Vergleich einmal mehr wahrscheinlich und plausibel machen, dass diese Briefe keine rein persönlichen Schreiben darstellen, sondern über den Empfänger hinaus in eine Gruppe hinein wirken bzw. den Empfänger in dieser Gruppe legitimieren sollten. Es hat sich aber auch gezeigt, dass dies für den 1. Timotheusbrief in besonderer Weise zutrifft, da er in seiner äußeren Gestaltung diesem Muster eher entspricht als der Titusbrief. Demgegenüber wäre beim Titusbrief noch einmal verstärkt nach der Bedeutung und der Funktion der persönlichen Gestaltung zu fragen. Daneben konnte zum anderen gezeigt werden, dass auch im Detail der sprachliche Vergleich der Pastoralbriefe mit den Papyrusurkunden hilfreich ist, um die Bedeutung von Begriffen und Vorstellungen zu erfassen, die auf der literarischen Ebene nur schwer zu interpretieren sind. Auch hier steht wieder der 1.  Timotheusbrief im Unterschied zum Titus- und zum 2. Timotheusbrief in besonderer Weise im Vordergrund. Wie in der Forschung hinreichend dargelegt wurde, ist vor allem dieser Brief mit seinem mandatsähnlichen Charakter und seiner gemeindeordnenden Absicht in hohem Maße von Vorstellungen aus der antiken Ökonomie geprägt, so dass es sinnvoll ist, zur Interpretation die im weitesten Sinne aus der Ökonomie und Administration stammenden Papyrusbriefe sowie auch Dokumente anderer Bereiche der Alltagskultur heranzuziehen.85

85  Weitere Beispiele wären (nicht nur im Blick auf die Pastoralbriefe) etwa die Bitte, schnell (ταχέως) zu kommen (2 Tim 4,9; vgl. Tit 3,12), vgl. CPJ III 469,5 (P.Princ. II 73; 3. Jh.); die Grüße an die »im Haus« (2 Tim 4,19), vgl. CPJ III 486b (P.Mich. VIII 466, Anfang 2. Jh.); die Bitte um bzw. der Hinweis auf die Sendung von Personen (2 Tim 4,9–12; Tit 3,13), vgl. P.Masada 741 (73/74 n. Chr.); BGU I 37 (50 n. Chr.; vgl. dazu Arzt-Grabner, Papyri, 24 f.); die Bitte um die Überbringung von Gegenständen (2 Tim 4,13), vgl. CPJ III 499 (P.Princ. II 103, 5. Jh.); die Bedeutung des semantischen Feldes von ὁμολογεῖν/ὁμολογία (1 Tim 3,16; 6,12 f.), vgl. P.Dura 13a; 30; 31; 32 u. ö.; BGU VIII 1736,11 u. a. (vgl. dazu a. a. O., 27–29). Speziell zum Begriff φαιλόνης (2 Tim 4,13), dessen Deutung schwierig und umstritten und der literarisch kaum belegt ist, gibt es in den Papyri erstaunlich viele (auch recht frühe) Belege (BGU XVI 2558 [12 v. Chr.]; P.Yale I 82 [2. Jh.]; P.Giss. Apoll 20 [113 n. Chr.]; P.Fam.Tebt. 49 [Anfang 2. Jh.]; P.Oxy.Hels. 40 [2. Jh.]; BGU III 816 [3. Jh.] u. a.). Vgl. auch Luttenberger, Prophetenmantel, 330–341.

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I  Perspektiven der Forschung

Dabei zeigt sich zugleich im Blick auf die Perspektive des Corpus JudaeoHellenisticum, in welch hohem Maße die jüdische Alltagskultur mit der paganen griechisch-römischen Alltagswelt verbunden war.

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Die Kommentierung der Pastoralbriefe in der Reihe »Kritisch Exegetischer Kommentar« durch Johannes Eduard Huther und Karl Philipp Bernhard Weiß 1.  Überblick über die Kommentierung der Schrift Die Kommentierung der Pastoralbriefe in der »Meyerschen Reihe« hat bisher insgesamt sieben Auflagen erreicht. Die erste Bearbeitung wurde von Johannes Eduard Huther (1807–1880) übernommen, der Kommentar erschien 1850 und ihm sind drei weitere Auflagen gefolgt (21859, 31866, 41876).1 Die 5. Auflage und Neubearbeitung wurde von Karl Philipp Bernhard Weiß (1827–1918) besorgt und ist bereits 1886 erschienen; ihr sind zwei weitere Auflagen gefolgt (61894, 61902). Zum Zeitpunkt des Erscheinens der 5. Auflage war Weiß bereits einige Jahre Oberkirchenrat in Berlin, was ihn an der wissenschaftlichen Arbeit offenbar zunächst nicht gehindert hat. Die relativ hohe Frequenz der Auflagen im Abstand von jeweils 8–10 Jahren ist bemerkenswert und spiegelt in gewisser Weise die intensive Beschäftigung mit den Pastoralbriefen im 19. Jahrhundert wider.2 Allerdings konnte Weiß die zweite Auflage seiner Bearbeitung aufgrund zunehmender Belastungen nicht selbst übernehmen, so dass sein Sohn Johannes Weiss aushelfen musste. Die 7. Auflage des Kommentars hat Bernhard Weiß »mit dankbarer Benutzung der in der 6. hinzugefügten Zusätze wieder durchweg selbst besorgt«.3 Die erste Kommentierung durch Huther im Jahre 1850 fällt in eine Zeit, in der wichtige Weichenstellungen der neuzeitlichen Sicht über die Pastoralbriefe erfolgen. Nur wenige Jahre zuvor hatte Friedrich Schleiermacher 18074 mit einem 1  Die Titelei der ersten Auflage (im Unterschied zu allen weiteren) besteht – etwas verwirrend – aus drei Titelblättern, s. dazu und zu den bibliographischen Angaben für die einzelnen Auflagen Koch, Chronologie. Das erste Blatt lautet: Das Neue Testament Griechisch nach den besten Hülfsmitteln kritisch revidiert mit einer neuen Deutschen Übersetzung und einem kritischen und exegetischen Kommentar von Heinr. Aug. Wilh. Meyer, Doctor der Theologie, Königl. Hannov. Consistorialrathe in Hannover, Ritter des Guelphen-Ordens. Zweiter Theil den Kommentar enthaltend. Eilfte Abtheilung. Die Briefe an Timotheus und Titus. Bearbeitet von Dr. Joh. Ed. Huther, Göttingen, bei Vandenhoeck und Ruprecht. 1850. Das zweite Blatt tituliert: Kritisch exegetischer Kommentar über das Neue Testament von Heinr. Aug. Wilh. Meyer, Doctor der Theologie, Königl. Hannov. Consistorialrathe in Hannover, Ritter des Guelphen-Ordens. Eilfte Abtheilung. Die Briefe an Timotheus und Titus. Bearbeitet von Dr. Joh. Ed. Huther, Göttingen, bei Vandenhoeck und Ruprecht. 1850. Und schließlich informiert das dritte Blatt: Kritisch exegetisches Handbuch über die Briefe an Timotheus und Titus von Dr. Joh. Ed. Huther, Gymnasiallehrer zu Schwerin. Göttingen, bei Vandenhoeck und Ruprecht 1850. 2  Vgl. zum Überblick Engelmann, Untersuchungen, 10–32. 3  Weiss, B., Briefe, 71902, 3. 4  Schleiermacher, Sendschreiben.

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I  Perspektiven der Forschung

»Donnerschlag für alle Theologen«5 für eine entscheidende Neuorientierung in der Pastoralbriefforschung gesorgt, indem er anhand philologischer und stilistischer Argumente die These begründete, dass der 1.  Timotheusbrief nicht von Paulus selbst stammen könne. Die Etablierung dieser pseudepigraphischen Perspektive für die Interpretation aller drei Pastoralbriefe durch Ferdinand Christian Baur6 ist eine der grundlegenden Voraussetzungen Huthers und gehörte zum Zeitpunkt der Erarbeitung der ersten Auflage seines Kommentars gewissermaßen noch zu den Neuerungen der damaligen Forschung. Huther freilich, der u. a. bei Schleiermacher in Berlin studiert hat, hält für seine Kommentierung an der Authentizität der paulinischen Verfasserschaft der Pastoralbriefe fest. In der Vorrede zu seiner ersten Bearbeitung weist Huther ausdrücklich auf seine Zeitprobleme hin und erklärt so die Tatsache, dass er nach seinem Kolosserkommentar7 zehn Jahre gebraucht habe, um die Pastoralbriefe fertigzustellen8  – eine Zeitspanne, die aus heutiger Sicht eher überschaubar wirkt. Die »Ereignisse […], die so plötzlich unser ganzes Leben erschüttert haben«,9 mögen sich auf die Umbrüche im Deutschland der späten 40er Jahre des 19. Jhahrhunderts beziehen. Huther stellt auch ausdrücklich den Unterschied im methodischen Herangehen an die Kommentierung im Meyerschen Kommentar im Vergleich zum Kolosserkommentar heraus: In diesem habe er mit einer »heuristische[n] Methode«10 den Weg der Auslegung für den Leser nachzeichnen wollen. In jenem allerdings gehe es mehr um die Darlegung der Ergebnisse als um den Aufweis des Weges ihrer Erreichung. Ausdrücklich verweist er auch darauf, dass es in vielen Fragen keine begründete Entscheidung geben könne: »Die Verhältnisse der christlichen Urzeit stehen uns nun einmal nicht so klar vor Augen, dass in den aus ihr uns aufbewahrten Dokumenten nicht manche Andeutungen und Beziehungen enthalten sein sollten, die für uns Räthsel sind, welche wir höchstens nur annäherungsweise zu lösen vermögen.«11

Eine berechtigte Mahnung zur Vorsicht vor weitreichenden Theorien, deren scheinbare Überzeugungskraft nur allzu schnell selbstverständlich wird. Huther liegt zudem daran, »eine Lösung so mancher wichtiger Fragen unserer Zeit über Kirchen- und Gemeinde-Organisation zu versuchen.«12 Vermutlich auch von Schleiermacher geprägt, versteht er dies allerdings nur als mögliche Konsequenz 5  So ein Rezensent in den Neuen Theologischen Annalen 1809; vgl. Patsch, Deuteropaulinismus, 467. 6  Baur, Pastoralbriefe. 7  Gemeint ist Huther, Commentar über den Brief des Pauli an die Colosser. 8  Huther, Briefe, 11850, VII. Eigentlich sind es nur ca. neun Jahre, da der Kolosserkommentar 1841 erschienen ist. Bemerkenswert ist ferner, dass Huther parallel dazu auch andere Kommentare in der Reihe geschrieben hat: 1/2 Petr und Jud: 1852; 1–3 Joh: 1855; Jak: 1858 sowie die entsprechenden Folgeauflagen. 9  Huther, Briefe, 11850, VIII. 10 Ebd. 11  A. a. O., IX. 12 Ebd.

Die Kommentierung der Pastoralbriefe



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aus der Kommentierungsarbeit speziell an den Pastoralbriefen, die nicht selbst in den Kommentar gehöre. Dabei vergleicht er durchaus die »freche[n] Schwätzer und Verführer«13 aus Tit 1,10 mit Problemen seiner Zeit. »Die Lüge hat eine furchtbare Macht gewonnen, und aus ihr sich das Verderben erzeugt, das zerstörend das Leben unsers Volkes durchströmt.«14 Ohne zu benennen, worauf er anspielt, schließt er die Vorrede emphatisch mit einem Aufruf zu einer »Rückkehr zur Wahrheit«, und dem »gute[n] Bekenntniss«.15 Dies spiegelt seine lutherisch-konservative und dem kritischen Rationalismus gegenüber skeptische, ja ablehnende Grundhaltung und sicher auch seine Erfahrungen im mecklenburgischen Pfarramt in Wittenförden bei Schwerin wider. In der nur wenige Jahre nach Erscheinen des Kommentars besorgten »Zweite[n] verbesserte[n] und vermehrte[n] Auflage« von 1859 versucht Huther, Kritik an seiner Auslegung aufzunehmen, seine Positionen entweder besser zu begründen oder aufgrund besserer Einsichten zu ändern. Wichtig war ihm dabei vor allem der »treffliche Commentar« von Johannes Tobias August Wiesinger (1818–1908), der zeitgleich mit Huthers Kommentar 1850 erschienen war.16 Bemerkenswert an der Vorrede zur zweiten Auflage ist die kurze Rechenschaft über die Methodik des Kommentierens. Huther unterscheidet eine »glossatorische« und eine »reproduktive« Methode, wobei erstere »den einzelnen Begriffen und Gedanken für sich einfach erklärende Glossen« beifügt und damit »dem wissenschaftlichen Bedürfnisse allerdings nicht« genüge.17 Die »reproduktive« Auslegung hingegen folge zwar auch dem Gedankengang im Einzelnen, aber es »wird das Einzelne doch nicht als Einzelnes, sondern als Glied des Ganzen aufgefasst und die Erklärung – unter Berücksichtigung abweichender Auffassungen – sowohl aus der Sprache, als auch aus dem Gedankenzusammenhange und den Grundanschauungen des Schriftstellers begründet«.18 Es sei »eine schon längst bekannte Wahrheit, dass ›auslegen‹ ohne ›reproduciren‹ unmöglich ist […] und auch bereits in früherer Zeit öfters die Forderung aufgestellt worden, dass der Commentar nicht sowohl die Resultate der reproduktiven Thätigkeit des Auslegers enthalten, sondern vielmehr das möglichst getreue Abbild derselben sein müsse.«19

Huther plädiert allerdings durchaus für eine Vielfalt von Kommentierungsarten, nicht zuletzt, weil die »reproducirende« und also eigentlich wissenschaftliche Kommentierung oft zu lang gerät, und »dadurch dem praktischen Gebrauche, den die Wissenschaft nicht geringschätzen darf, fast gänzlich entzogen wird«.20 Auch die Gefahr der Selbstdarstellung des Kommentators sieht er durchaus deutlich: »An 13 

A. a. O., X.

14 Ebd. 15 Ebd.

16  Wiesinger, Briefe. Wiesinger wird auch von Holtzmann, Pastoralbriefe, intensiv herangezogen, oft gemeinsam mit Huther. 17  Huther, Briefe, 21859, VI. 18 Ebd. 19 Ebd. 20  A. a. O., VII.

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I  Perspektiven der Forschung

Belegen hiezu hat es die neuere Zeit nicht fehlen lassen.«21 Hier wird erneut seine praktisch-theologische Perspektive erkennbar. Huther hält  – trotz aller Kritik  – auch in der zweiten Auflage an der Authentizität der Pastoralbriefe fest. Es habe, so resümiert er, »noch kein Kritiker in einigermassen genügender Weise nachgewiesen […], wie sich die Abfassung gerade dieser Briefe durch einen Falsarius könne begreifen lassen«.22 Die dritte, erneut verbesserte und vermehrte Auflage erscheint bereits 1866, sieben Jahre nach der zweiten Auflage. Im Wesentlichen hat sich am Text der Kommentierung und natürlich auch an der sachlichen Ausrichtung nichts geändert. Huther, immer noch Pastor in Wittenförden, hat hier insbesondere das 1860 erschienene Buch von Carl Wilhelm Otto über die »geschichtlichen Verhältnisse der Pastoralbriefe«23 eingearbeitet, nicht ohne es bereits im Vorwort grundlegend zu kritisieren. Unter Verweis auf eine Formulierung von Meyer meint Huther, »dass der Gelehrsamkeit und Combinationstüchtigkeit des scharfsinnigen Kritikers eine glücklichere Verwendung zu wünschen gewesen wäre«.24 Er wirft Otto bei aller Gelehrsamkeit vor allem Befangenheit in der Sache vor, die von einem festgefahrenen Bild »über das Wesen der Irrlehrer, gegen welche Paulus in seinen Briefen polemisirt«,25 ausgehe, das dem Profil der Irrlehrer in den Pastoralbriefen entgegenstünde. Die interessengeleitete Beweisführung Ottos sei »geschickt und blendend«,26 wobei »blendend« durchaus doppelsinnig zu verstehen ist.27 Huther hält weiterhin an der Authentizität der Pastoralbriefe und seiner Begründung dafür fest, fühlt sich sogar durch die Kritiken noch mehr bestätigt. In der Auseinandersetzung mit Otto ging es nicht um die Authentizität, sondern um die Frage nach der Verortung der Briefe vor bzw. in der ersten Gefangenschaft. Während Otto eine Zuordnung der Pastoralbriefe in die auch durch die Apostelgeschichte abgedeckte Lebensphase des Paulus plausibel zu machen versucht und eine zweite römische Gefangenschaft ablehnt, spielt für Huther genau diese Annahme eine entscheidende Rolle als ein historisches Argument für die Echtheit der Briefe.28 Aus heutiger Perspektive ist nicht zuletzt interessant zu sehen, wie die 21 Ebd. 22 

A. a. O., VIIf. Otto, Verhältnisse. 24  Huther, Briefe, 31866, V. 25 Ebd. 26  A. a. O., VI. 27  Huther sieht sich in seiner Kritik an Otto bestätigt durch die ausführliche kritische Rezension zu Ottos Buch von Weiss, B., Rezension, 575–597, die mit den Worten schließt (597): »Trotzdem wir wohl wissen, wie erfolglos solche Rathschläge sind und wie leicht sie mißdeutet werden, können wir den Wunsch nicht unterdrücken, daß der Verf. seine umfassenden Kenntnisse in den Dienst der unbefangenen biblischen Wissenschaft stellen möge, anstatt dieselben in der Vertheidigung unhaltbarer Lieblingsideen zu verschwenden.« 28  Huther, Briefe, 31866, VI, beruft sich hier explizit auf Meyer, nennt aber auch weitere Gewährsleute: Ewald, Geschichte; Bleek, Einleitung; Ruffet, Saint Paul; Laurent, Studien; und vor allem van Oosterzee, dessen Kommentar von 1864 (ders., Pastoralbriefe) er ebenfalls intensiv einarbeitet. 23 



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Auseinandersetzung über die Vorwürfe »subjektiver Kritik« und den Anspruch eigener Objektivität geführt worden ist.29 Die vierte und letzte Auflage von Huthers Kommentar stand unter dem Eindruck des Todes von Heinrich Meyer, worauf Huther in der Vorrede ausführlich Bezug nimmt und regelrecht ein Bekenntnis zu Meyers wissenschaftlichem Anspruch von Objektivität ablegt. Zugleich widmet er diese Auflage seinem Freund Hermann Karsten (1801–1882), seines Zeichens Superintendent in Schwerin zum 50. Ordinationsjubiläum, nicht ohne auf die Würde des Amtes »als einem καλῷ ἔργῳ« (1 Tim 3,1) hinzuweisen. Darin kommt erneut die nach wie vor prägende kirchliche Perspektive Huthers zum Ausdruck. Wie bereits in der 3. Auflage, so hat sich auch hier nichts Entscheidendes in Struktur und Ausführung bis hin zu den Anmerkungen geändert. Unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt ist es wiederum ein zuvor neu erschienener Kommentar, die Auslegung von Johann Christian Konrad Hofmann,30 an dem Huther sich abarbeitet, um seine Position umso überzeugter zu vertreten: »Die Missgunst, mit welcher die Pastoralbriefe früher öfters betrachtet wurden, ist allmählich mehr und mehr geschwunden, und mit Recht, denn je mehr man sich in ihren Inhalt vertieft, desto mehr erweisen sie sich als des Apostels würdig, dessen Namen sie an ihrer Spitze tragen.«31

Huther stirbt am 17. März 1880, in dem Jahr, in dem auch die weit einflussreichere Kommentierung von Heinrich Julius Holtzmann32 erscheint. Er konnte also selbst auf Holtzmanns Kritik nicht mehr reagieren, die von Bernhard Weiß als Huthers Nachfolger in der Kommentierung als ein Meilenstein der Pastoralbriefeforschung rezipiert wurde. Holtzmanns Kommentar gewinnt geradezu normative Kraft im 19. Jahrhundert, die so stark ist, dass sie de facto die meisten anderen Kommentierungen der Pastoralbriefe – so auch die in der Meyersche Reihe – fast vollständig verdrängt. Im Vorwort zur 5. Auflage bzw. zur ersten Auflage seiner Neubearbeitung (1886) beschreibt Weiß das Verhältnis zu Huthers Arbeit folgendermaßen: »Wenn ich darum den Huther’schen Kommentar in seiner 4. Auflage nur gewissenhaft benutzte, wie jede andre exegetische Vorarbeit, und im Uebrigen ganz meinen eignen Weg gehe, so soll darin keineswegs ein abschätziges Urtheil über die fleissige und besonnene Arbeit Huther’s liegen. Aber meine Ansichten über das, was für die Einleitung in die Pastoralbriefe und für ihre Auslegung heutzutage Noth thut, weichen von dem, was Huther darbietet, zu sehr ab, als dass eine Conservierung seines Textes auch da, wo ich mit ihm übereinstimme, irgend einen Nutzen gehabt hätte.«33

29 Vgl. Weiss, B., Rezension, 576 f. Vgl. auch Huther in der Vorrede zur vierten Auflage seines Kommentars von 1876, VIIf. 30  Von Hofmann, Briefe. 31  Huther, Briefe, 41876, VIII. 32  Holtzmann, Pastoralbriefe. 33  Weiss, B., Briefe, 51886, V.

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I  Perspektiven der Forschung

Weiß notiert ausdrücklich, dass die »Einleitungsfragen […] durch die von Holtzmann gegebene dankenswerthe Revision des ganzen kritischen Prozesses so sehr auf einen völlig neuen Boden gestellt« worden seien, »dass hier ein Neues gepflügt werden musste«.34 Weiß, der in seiner Rezension des Buches von Otto noch keineswegs für erwiesen hielt,35 dass die Pastoralbriefe Paulus abgesprochen werden müssten und diese Haltung als ein vorschnelles subjektives Urteil kennzeichnete, nimmt in seinem Kommentar nun ebenfalls eine differenzierte Position ein, obgleich auch er an der paulinischen Verfasserschaft festhält. Weiß klagt dabei über die problematische Kontroverse, »die bisher viel zu sehr von einseitig kritischen oder apologetischen Gesichtspunkten beherrscht gewesen, und selbst in dem scharfsinnigen und umfassenden Holtzmann’schen Werke doch nicht wesentlich gefördert worden« sei.36 Demgegenüber will er selbst versuchen, durch eine bessere Begründung »ihre Annahme als paulinische zu empfehlen«.37 Die beiden folgenden Auflagen bieten nur geringe Nachbesserungen. Die Bearbeitung der 6. Auflage (1894) übernimmt wegen anderweitiger Belastungen des Vaters sein Sohn Johannes Weiß (1863–1914), der seit 1890 in Göttingen außerplanmäßiger Professor ist. Dabei spielen ausweislich des Vorwortes nicht nur die üblichen Nachträge eine Rolle, sondern auch »Mittheilungen über die neueren Teilungshypothesen«.38 An der Gesamtperspektive des Kommentars ändert sich nichts. Dies gilt auch für die bislang letzte 7. Auflage (1902), die Bernhard Weiß wieder selbst bearbeitet hat.

2.  Inhaltliche Perspektiven 2.1  Der Diskurs um die Authentizität der Pastoralbriefe und die zweite römische Gefangenschaft des Paulus Struktur und Anlage der Kommentierung durch Huther und Weiß sind ebenso wie die Gesamtperspektive der Interpretation erstaunlich konstant geblieben. Mit dem Festhalten an der Authentizität der paulinischen Verfasserschaft stehen beide bewusst in einem Gegensatz zu der von Schleiermacher mit Blick auf den 1.  Timotheusbrief angestoßenen Tendenz zur Annahme einer pseudepigraphischen Verfasserschaft. Mit Baurs Kommentierung von 183539 setzt sich in der sich »kritisch« nennenden Forschung die Überzeugung durch, die Pastoralbriefe aufgrund ihrer Defizite dem »echten« Paulus gegenüber als epigonenhafte und pseudepigraphe Werke zu interpretieren, eine Tendenz, die mit Holtzmanns Kommentar einen weiteren Höhepunkt erreichte. Die damit im Vergleich zu Paulus 34 Ebd. 35 

S. o. Anm. 27. Weiss, B., Briefe, 51886, Vf. 37  A. a. O., VI. 38  Weiss, J., Briefe, 61894, IV. 39  Baur, Pastoralbriefe (s. Anm. 6). 36 



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verbundene Abwertung der Pastoralbriefe hat die »konservative« Gegenposition umso stärker herausgefordert. Sowohl Huther als auch Weiß geben von dieser Debatte einen anschaulichen Eindruck, von einer Seite, die sich in der Forschung nicht durchgesetzt hat und mehr und mehr zu einer Randposition geworden ist, die zunehmend weniger ernst genommen wurde.40 Das ist auch der Grund dafür, dass die Wirkung dieser beiden Arbeiten zu den Pastoralbriefen ausgesprochen gering ist, wenn man nicht gar zu dem Urteil kommen müsste, dass sie faktisch keine Wirkung entfalteten. Ein Blick in neuere Kommentare, in denen die Namen Huther und Weiß entweder völlig fehlen oder nur aus historischen Gründen der Vollständigkeit halber aufgelistet werden, verstärkt diesen Eindruck. Dabei können weder Huther und erst recht nicht Weiß einfach unter die »Kritiker und Fanatiker« subsumiert werden, gegen die sich Baur vehement und erstaunlich ausführlich auf über 100 Druckseiten41 zur Wehr setzt und die vor allem aus dem kirchlichen Lager kommen – einem Milieu, in dem sich der aus dem Pfarramt heraus schreibende Huther ja auch befand. Die Bestreitung der Authentizität führte in der akademischen Forschung immerhin dazu, dass auch diejenigen, die nach wie vor von der Authentizität überzeugt waren, sich der Herausforderung stellen mussten und dabei allerdings nicht weniger »kritisch«, aber doch mit einem größeren Aufwand versuchen, positiv das Verhältnis der Pastoralbriefe zu Paulus und seiner Biographie zu beschreiben. Nicht zuletzt durch die neue Herausforderung Holtzmanns hat Weiß dann ausdrücklich versucht, die Authentizität der Pastoralbriefe noch einmal mit besseren Argumenten als Huther zu begründen, und ist dabei – aus heutiger Sicht muss man sagen: zu Recht  – skeptisch gegenüber dessen speziellen Hypothesen, etwa der einer zweiten römischen Gefangenschaft. Sachlich von großer Bedeutung für die Verteidigung der Echtheit war die Notwendigkeit, alle drei Briefe in der Biographie des Paulus unterzubringen. Ein solches Unterfangen teilt folgerichtig nicht nur die generelle Schwierigkeit der Verhältnisbestimmung von biographischen Angaben der Paulusbriefe zur denen der Apostelgeschichte, sondern muss vor allem genügend Zeit finden, die Pastoralbriefe in Relation zueinander in der bekannten Paulusbiographie plausibel zu verorten. Diese Problematik spiegelt sich bei Huther bereits in seinen Vorreden, wenn er mehrfach die unvermeidliche Unsicherheit in der historischen Rekonstruktion aufgrund der unzureichend bekannten Daten und deren Widersprüchlichkeit betont.42 Darin wird eine methodische Vorsicht gegenüber allzu spekulativen Konstruktionen erkennbar, die bereits über den idealistischen Positivismus des Historismus hinausweist und heute selbstverständlich erscheint, auch wenn sie mit dem Anspruch des Objektivismus dem Paradigma faktisch selbst verhaftet bleibt. Für die Einordnung der drei Briefe in die Paulusbiographie hat sich insbesondere der 1.  Timotheusbrief als Problem erwiesen, der sich mit seinen vorausgesetzten 40  Dabei ist der Aufwand durchaus vergleichbar. Sowohl Weiß als auch Huther verwenden etwa 70 Seiten für die Einleitung (Huther, Briefe, 41876, 1–73; Weiss, B., Briefe, 71902, 4–71). 41  Baur, Kritiker. 42  Huther, Briefe, 11850, IX; 31866, VI.

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I  Perspektiven der Forschung

personellen Angaben über Paulus und Timotheus in Verbindung mit den Lokalnotizen zu Ephesus und Mazedonien nur schwer mit dem vereinbaren lässt, was über die Reisen des Paulus bekannt ist. Das Problem lässt sich dadurch relativieren, dass man über den aus der Apostelgeschichte bekannten Rahmen hinaus eine Freilassung aus der ersten römischen Gefangenschaft und eine erneute Tätigkeit des Paulus im Osten des Imperiums nach der Spanienmission annimmt.43 Anlässlich der vehementen Infragestellung seiner Position durch Otto (s. o.), skizziert Huther die kontroverse Lage: »Mit Recht sagt Meyer, dass der kritische Knoten, welcher sich um die Pastoralbriefe geschlungen hat, sich nur durch die Annahme einer zweiten römischen Gefangenschaft des Apostels lösen lasse und dass die Frage, ob eine solche stattgefunden, aus der Apostelgeschichte nicht beantwortet werden könne; während Meyer diese Frage eben so wie Otto verneint, ist sie in neuerer Zeit von Andern entschieden bejaht worden […].«44

An der Kontroverse über dieses Thema hat sich bis heute nichts geändert.45 Die Notwendigkeit, in der Verortung vor allem des 1. Timotheusbriefes über die Apostelgeschichte hinauszugehen, ergibt sich für Huther daraus, dass keiner der dort erwähnten Ephesusaufenthalte mit der Konstellation in Einklang zu bringen ist, die 1 Tim 1,3 voraussetzt, dass nämlich Paulus den Timotheus in Ephesus zurücklässt, während er selbst nach Mazedonien reist. Auch Weiß betont, die im 1. Timotheusbrief »vorausgesetzte Situation lässt sich in dem uns bekannten Leben des Paulus nicht nachweisen«.46 Versuche, 1 Tim 1,3 mit Apg 20,3–5 zu harmonisieren und/ oder sie mit jener Reise in Verbindung zu bringen, die Lukas nicht erwähnt (der sog. »Zwischenbesuch«), weist Huther ausdrücklich und gut begründet ab.47 Insgesamt versucht er nachzuweisen, dass die Pastoralbriefe keinesfalls nach dem Kolosser-, dem Philipper und dem Philemonbrief in Rom geschrieben worden sein können. Die komplexe – um nicht zu sagen komplizierte – Art der Argumentation Huthers ist hier nicht darzustellen, macht aber nicht den Eindruck, als hätte er tatsächlich gute Argumente. Wichtig ist nur, dass für Huther damit klar ist, »dass die Abfassung sämmtlicher drei Briefe nicht in die in der Apostelgsch. beschriebene Lebensperiode des Ap. P. hineinpasst, dass ihre Entstehung demnach in dieser Hinsicht unbegreiflich ist«.48 Der lange Exkurs in der 3. und 4. Auflage zu Ottos Verteidigung der ersten und Bestreitung einer zweiten römischen Gefangenschaft lässt die auf subjektives Urteil abhebende Argumentation Huthers sehr anschaulich werden. Darin 43  Vgl. unten die in Anm. 51 genannte Literatur. Auch Harnack, Geschichte, 240, hatte die Freilassung des Paulus aus einer ersten römischen Gefangenschaft sowie die anschließende Spanienmission für »eine gesicherte Tatsache« gehalten. 44  Huther, Briefe, 31866, VI. 45  Vgl. dazu bes. den Band Tàrrech/Barclay/Frey (Hg.), Last Years; Herzer, Kampf (in diesem Band 185–214). 46  Weiss, B., Briefe, 51886, 7. 47  Huther, Briefe, 11850, 13–16; in der Auflage von 1866 erweitert (12–16), in der Auflage von 1876 wieder gestrafft (12–14). Vgl. Weiss, B., Briefe, 51886, 7 f. 48  Huther, Briefe, 11850, 25; so durchweg in allen Auflagen.



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steht er allerdings anderen, zumal Otto, in nichts nach.49 Was erstaunlicherweise weder bei Huther noch bei Weiß in den Blick kommt, ist die Möglichkeit, dass unter Umständen nicht alle drei der Briefe authentisch sind. Zu stark wird offenbar der Zusammenhang der Briefe wahrgenommen, als dass diese Option überhaupt in den Blick gerät.50 Das gilt mit jeweils unterschiedlichem Vorzeichen allerdings für die Bestreiter wie die Befürworter der paulinischen Verfasserschaft. Die Bestätigung für die Annahme einer zweiten römischen Gefangenschaft sieht Huther den bekannten und einschlägigen Zeugnissen der Kirchenväter (Eus.h. e. II 22; 1 Clem 5,7; Canon Muratori), die schon seinerzeit in ihrem historischen Wert umstritten waren und die auch aus heutiger Sicht die Beweislast für eine solche weitreichende These nicht tragen können.51 Huther datiert den zweiten Aufenthalt in Rom auf das Frühjahr 64, also noch vor den Brand Roms, da er danach aufgrund der neronischen Christenverfolgung kaum denkbar sei. Die Abfassung der drei Briefe falle daher in die Zeit zwischen Frühjahr 63 und Sommer 64.52 Dass dann aber für Spanien nur ein Blitzbesuch möglich ist, da Huther die erste Gefangenschaft von 61–63 ansetzt, fällt ihm offenbar nicht auf. Die lokalen Konstellationen der Briefe muss Huther im letzten Jahr des Paulus unterbringen. Aufgrund von anderweitigen Zeugnissen für diese Zeit hat er sich damit alle Freiheiten für eine abenteuerliche Konstruktion geschaffen: Von Rom führt die Reise über Kreta nach Ephesus und Mazedonien nach Nikopolis, von dort aus nach dem Überwintern zurück nach Ephesus, dann über Milet nach Korinth. Von dort aus geht es dann (bereits weit im Jahr 64) nach Spanien. Erstaunlich ist ebenfalls speziell im Hinblick auf die Diskussion um die Situation des Titusbriefes, dass jene Möglichkeit nicht erwogen wird, die die Apostelgeschichte selbst nahelegt, wenn sie Kreta als zwischenzeitlichen Aufenthaltsort des Paulus erwähnt, wenngleich ohne von einer Missionsarbeit dort zu berichten.53 Auch da gälte, was Huther von den drei Briefen feststellt, dass die kretische Konstellation des Titusbriefes nicht deckungsgleich ist mit jenem Reisebericht, den Lukas bietet. Aber das ist auch nicht zu erwarten. Weiß bringt als Argument, dass »damals […] 49  Vgl. bes. Huther, a. a. O., 32–34. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung von Weiss, B., Past, 51886, 11: »Die exegetischen Gewaltthaten und die künstlichen Hypothesen, mit welchen Wieseler und Otto diesen einfachen Thatbestand fortzuschaffen gesucht haben und die sich grossentheils gegenseitig widerlegen, verdienen heutzutage die eingehende Berücksichtigung nicht mehr, die ihnen noch Huther 4. Aufl. S. 21–27 zu Theil werden liess.« 50 Vgl. Huther, Briefe, 11850, 26: »Die innere Verwandtschaft zwischen ihnen ist mindestens ebenso gross, wo nicht grösser, wie die zwischen dem Briefe an die Kolosser und dem an die Epheser.« Vgl. dazu das unter entgegengesetztem Vorzeichen vergleichbare Votum von Holtzmann, Pastoralbriefe, 7: »In der That sind die drei Briefe unzertrennlichere Drillinge, als Epheser- und Kolosserbrief Zwillinge sind.« 51 Vgl. Huther, Briefe, 11850, 27–32; vgl. dazu Riesner, Paul’s Trial and End. Vgl. als kritische Bestandsaufnahme auch Herzer, Mission; ders., Lukas (in diesem Band 215–246). 52  Huther, Briefe, 11850, 32 f. 53 Zu verschiedenen Möglichkeiten vgl. Huther, Briefe, 41876, 17–20; Weiss, B., Briefe, 51886, 13 f., woran deutlich wird, dass man – lässt man Apg 27 unberücksichtigt – stets an einer möglichst für die eigene Rekonstruktion geeigneten Stelle der Paulusbiographie einen Kretabesuch hypothetisch behaupten muss, für den es in der Überlieferung keinerlei Anhaltspunkte gibt.

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I  Perspektiven der Forschung

unsers Wissens Titus nicht in des Apostels Gesellschaft« gewesen sei, die Apostelgeschichte nichts »auch nur von einer Begrüssung der dortigen Christen« wisse und Paulus »keinesfalls […] als Gefangener Gelegenheit [hatte], die dortigen Gemeindezustände so umfassend kennen zu lernen, wie unser Brief es voraussetzt«.54 Auch hier verwundert es, dass die Frage nach einer authentischen Einordnung in die Biographie des Paulus davon abhängt, ob die Apostelgeschichte konform geht, zumal Maßstäbe angelegt werden, die in der Weise kaum angemessen sind und gerade nicht zur Begründung der These taugen, weil sie ausschließlich argumenta e silentio darstellen.55 Wenn aber keine Übereinstimmungen festzustellen sind, dann muss eine Situation außerhalb des Berichtsrahmens der Apostelgeschichte gefunden werden, da andernfalls – so offenbar das vorausgesetzte Kalkül – keine signifikante Differenz zu erwarten wäre. Das ist methodisch natürlich ein Fehlschluss, der dadurch zustande kommt, dass die genrespezifischen Charakteristika und ihre literarischen Konsequenzen nicht beachtet werden. Ohnehin ist auffällig, dass die Frage nach dem Genre sowohl der Pastoralbriefe als auch der Apostelgeschichte und deren Bedeutung für Gestalt, Inhalt und Absicht der Briefe bzw. der Geschichtsdarstellung der Apostelgeschichte weder bei Huther noch bei Weiß eine Rolle zu spielen scheint. Weiß formuliert in diesem Zusammenhang immerhin einen wichtigen Gedanken, den er allerdings selbst nicht weiter verfolgt: »Trotz alledem muss man zugestehen, dass nach dem eigenen Zeugnisse der Paulusbriefe das Leben des Apostels aus der Apostelgeschichte nur sehr lückenhaft uns bekannt ist, ja dass manche Ungenauigkeiten ihrer Darstellung aus den Pastoralbriefen ebenso ihre Correctur erfahren könnten, wie aus den älteren Briefen.«56

Allerdings verwirft er diese Möglichkeit sofort wieder, ohne ihr methodisches Potential ernsthaft zu erwägen, weil er aus der gemeinsamen Verfasserschaft aller drei Briefe durch Paulus auch notwendig eine zeitliche Nähe ihrer Abfassung voraussetzt.57 Da der 2. Timotheusbrief die Situation des Lebensendes des Paulus widerspiegelt, müssen mit ihm auch der 1. Timotheus- und der Titusbrief spät angesetzt werden.58 Darin ist sich Weiß mit Huther ganz einig, und folgende Äußerung macht die hypothetische und geradezu aporetische Problematik eines solchen Unternehmens deutlich: »Wie man aber auch den Zeitpunkt für dieselben zu bestimmen suche, immer kommen der erste Timotheus- und der Titusbrief in eine solche Nähe der Korintherbriefe oder des Römerbriefs, der zweite Timotheusbrief in eine solche Nähe der anderen Gefangenschaftsbriefe, dass man weder ihrer Verschiedenheit von diesen, noch ihre Verwandtschaft unter einander erklären kann. Wie man daher auch die Briefe in dem uns bekannten Leben des Apostels 54 

Weiss, B., Briefe, 51886, 13. zu Titus: Da die Apg generell die Existenz des Titus in der Paulusgeschichte verschweigt, kann er auch nicht auf der Reise des Paulus nach Rom genannt sein. 56  Weiss, B., Briefe, 51886, 15. Zur Problematik vgl. Herzer, Lukas (in diesem Band 215–246). 57  A. a. O., 15 f. 58 Vgl. Huther, Briefe, 11850, 27: »Der 2. Timotheusbr. zieht nothwendig die beiden andern nahe an sich heran.« 55 Etwa

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ansetze, immer wird ›Verschiedenartiges zusammengezogen und Gleichartiges auseinandergerissen‹ (Huther). Begreiflich werden die Briefe nur, wenn sie insgesammt einer späteren Lebensperiode des Apostels angehören als der, welche wir aus unsern Quellen kennen.«59

2.2  Die Deutung der »Gegner« in den Pastoralbriefen Die Problematik der Verortung der Pastoralbriefe in der bekannten Biographie des Paulus verbindet Huther mit dem Argument, die Gegner in diesen Briefen seien »ganz anderer Art, als die mit denen P. es namentlich in den Briefen an die Galater und an die Römer zu thun hat; sie sind denen ähnlich, die in dem Briefe an die Kolosser bekämpft werden […]«.60 Diese sogenannten »Irrlehrer«61 seien erst in späterer Zeit aufgekommen, für die Huther auf die Miletrede in der Apostelgeschichte verweist, wo auf sie im Modus der Zukunft hingewiesen werde. Diese Rede freilich ist bei Lukas zwar gegen Ende der paulinischen Mission platziert, befindet sich aber immer noch in der vorrömischen Zeit; und die Lesart Huthers ist dann doch allzu eindimensional. »Das Christenthum musste schon eine eingreifende Macht geworden sein, ehe sich eine solche Vermischung des Christlichen mit orientalischjüdischer Spekulation bilden konnte, wie sie sich bei jenen Irrlehrern zeigte.«62 Hier zeigt sich, dass Huther aufgrund der einheitlichen Verortung aller drei Briefe in einer späteren Phase der paulinischen Tätigkeit hinsichtlich der Charakterisierung der sog. »Irrlehrer« dieselben Probleme hat, die unter der Voraussetzung einer einheitlichen pseudonymen Abfassung auftreten, da alle Merkmale aus den Briefen ein Profil ergeben müssen.63 Aufgrund dieser Problematik hatte etwa Adolf von Harnack von einem »bunte[n] Repertoire fataler Erscheinungen«64 gesprochen, das in den Pastoralbriefen beschrieben sei, Dibelius nannte sie »Vademecum« der Ketzerbekämpfung.65 Eine Differenzierung innerhalb der Briefe aufgrund verschiedener Verfasserschaften und Abfassungssituationen ist dabei nur schwer möglich, es sei denn, man rechnet mit einer differenzierten biographiegeschichtlichen Imagination des pseud­onymen Verfassers bzw. mit der entsprechenden Raffinesse eines Fälschers. Weiß hat immerhin versucht, »von dem, was als gegenwärtig bekämpft wird, zu unterscheiden, was der Verfasser von der Zukunft befürchtet.«66 Während 1 Tim 4,1–3 auf eine zukünftige Irrlehre hin ausgerichtet sei, »welche offenbar auf grundstürzenden dualistischen Anschauungen beruhend gedacht wird, und 2 Tim. 59 

Weiss, B., Briefe, 51886, 17. Das Zitat von Huther stammt aus der 4. Aufl. 1876, 29. Huther, Briefe, 11850, 26. 61  Weiss, B., Briefe, 51886, 17, betitelt den entsprechende Paragraphen mit »Lehrverirrungen«. 62  Huther, Briefe, 11850, 26. 63  Vgl. a. a. O., 40–44; deutlich ausführlicher als eigener Paragraph in den weiteren Auflagen, vgl. ders., Briefe, 21859, 32–44; Briefe, 31866, 44–55; Briefe 41876, 41–52. 64  Harnack, Chronologie, 481. 65  Dibelius, Pastoralbriefe, 6; vgl. ders./Conzelmann, Pastoralbriefe, 54: Der Autor wolle »durch möglichst allgemeine Charakteristik ein apologetisches Vademecum für alle möglichen antignostischen Kämpfe schaffen«. 66  Weiss, B., Briefe, 51886, 17. 60 

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3, 1–5 […] für die letzten Tage ein greuliches Sittenverderben geweissagt«67 werde, läge insbesondere in 2 Tim 2,18–18 eine »ganz extreme Behauptung als Beispiel« für eine Lehrverirrung der Gegenwart des Apostels vor.68 Unter einer pseudepigraphischen Perspektive freilich ist es gerade die hier reflektierte Auffassung, die Auferstehung sei schon geschehen, welche eine markante Differenz zu Paulus markiere und eine Position repräsentiere, die erst in deuteropaulinischen Schriften wie dem Kolosserbrief und dem Epheserbrief zu finden seien.69 Auf der Ebene der gegenwärtigen Irrlehre sieht Weiß auch die in Tit 1,15 f. gespiegelten Auseinandersetzungen um rein und unrein als Auswuchs von »allerlei Menschensatzungen« (V. 14).70 Die verschiedenen Versuche, Identifikationen der Irrlehrer vorzunehmen oder gar diese Identifikationen zwischen den Briefen zu differenzieren, werden von Weiß explizit erwähnt und allesamt als irreführend abgelehnt. »Bei der selbst in den gleichen Ausdrücken wiederkehrenden Bekämpfungen der Lehrverirrungen in allen drei Briefen können in das Bild derselben nur künstlich irgend welche Unterschiede hineingetragen werden.«71 Die Kritik an anderen Versuchen der Profilierung der Gegner bezieht sich nicht nur auf die Unterscheidung von christlichen und/oder jüdischen Irrlehrern (Otto), sondern insbesondere auf die Verbindung der Irrlehre mit der Gnosis. Weiß hält dies allenfalls für jene o. g. Stellen für möglich, in denen Paulus in die Zukunft blickt. Das hängt natürlich auch an der schon im 19. Jahrhundert geführten Debatte, ob die Gnosis bereits in das erste Jahrhundert gehöre und also auch schon für Paulus vorauszusetzen sei, oder erst ein Phänomen des 2. Jahrhunderts ist, was die Pastoralbriefe deutlich von Paulus abrücken würde.72 Ausdrücklich lehnt er Baurs Bezug von 1 Tim 6,20 auf die markionitische Gnosis ab.73 Es dürfe »doch heutzutage als anerkannt gelten, dass principielle Bestreiter des Gesetzes nicht als νομοδιδάσκαλοι (1 Tim. 1,  7) und ihre Antithesen wider dasselbe nicht als μάχαι νομικαί (Tit. 3, 9) bezeichnet werden können, dass 1 Tim. 1, 8 keine Bestreitung des Antinomismus enthält und dass die Liebhaber jüdischer Mythen und Menschensatzungen (Tit. 1, 14), von denen dazu viele als οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς (1,  10) bezeichnet werden, nicht marcionitische Antinomisten sein können.«74 67 

A. a. O., 18.

68 Ebd. 69 

Vgl. z. B. Wolter, Pastoralbriefe, bes. 264; Engelmann, Untersuchungen, 419–422. Weiss, B., Briefe, 51886, 19. 71 Ebd. 72  A. a. O., 20. 73  A. a. O., 20 f. 74  A. a. O. 21. Weiß lehnt im Anschluss auch andere Identifikationen ab: vorvalentinianischer Ophitismus, Valentinianismus, Saturnianismus, Marcosianismus oder vorsichtiger auch »aufkeimenden Gnostizismus im Allgemeinen« (ebd.), wie Holtzmann die Irrlehre charakterisiert hatte, um dem auch die antijudaistischen Aspekte zuordnen zu können. Dazu bemerkt Weiß nicht ohne Ironie: »Dem Apostel, dessen Lebenswerk der Kampf mit dem Judaismus war, konnte nicht wohl ein Brief untergeschoben werden, der nicht auch gegen diesen seine Polemik wandte« (ebd.). Damit hat Weiß immerhin einen wesentlichen Aspekt benannt, der für die Deutung der »antijudaistischen« Züge der Irrlehre im Tit wichtig ist. Freilich schenkt auch Weiß den Unterschieden innerhalb der Briefe zu wenig Aufmerksamkeit. Zum Problem vgl. Herzer, Juden – Christen – 70 



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Obwohl Weiß mit dieser Auflistung bereits selbst die Unterschiede innerhalb der drei Pastoralbriefe andeutet, läuft es auch für ihn auf ein einheitliches, und zwar dezidiert christliches Profil der Irrlehrer hinaus, das – ähnlich wie bei den Bestreitern der Echtheit und Verfechtern einer Theorie des Corpus pastorale – alle Aspekte aus allen Briefen zu einem Konglomerat von Gegnercharakteristik zusammenstellt.75 Erstaunlich und bezeichnend ist, dass Huther das einheitliche Bild der Irrlehre maßgeblich aus dem 1.  Timotheusbrief erhebt, in welchem sie nach seinem Urteil eine doketisch-judaistische Profilierung bekommt. Demgegenüber findet er im 2.  Timotheusbrief nur die Auffassung, die Auferstehung sei schon geschehen (2,18), woraus er auf einen »Gegensatz gegen die christliche Auferstehungslehre«76 schließt. Eigentümlich erscheint die Behauptung, die Charakteristik der Häretiker im Titusbrief stimme »vollkommen mit der des 1. Br. an Timoth. überein«.77 Die beigefügte Einschränkung, »dass hier das judaistische Element derselben besonders hervorgehoben wird«,78 deutet doch selbst an, dass sich das Profil vom 1. Timotheusbrief abhebt, wo dieser Aspekt gerade keine Rolle spielt. Huther sieht demnach auch einen großen Gegensatz dieser Häretiker gegen die »Judaisten […], gegen die P. in den Briefen an die Galater und an die Römer polemisirt« und stellt sie zugleich in eine Nähe zu denen des Kolosserbriefes.79 Wichtig ist ihm allerdings, gegen Baurs These von der markionitischen Gnosis als Gegnerschaft der Pastoralbriefe festzuhalten, dass sie sich noch nicht im Gnostizismus bewegen, der aus dem zweiten Jahrhundert bekannt ist. Triftige Gründe dafür kann Huther jedoch nicht benennen.80 Im Unterschied zu heutigen Verteidigern der Echtheit aller drei Briefe vergibt sich Huther hier die Möglichkeit, aus der unterschiedlichen Abfassungssituation der Briefe in der Biographie des Paulus auch die offenkundigen Unterschiede der Briefe gerade im Blick auf das Gegnerprofil zu erklären. Erst ab der 2. Auflage von 1859 thematisiert er dieses Problem explizit in einem eigenen Paragraphen, indem er sich mit einigen differenzierteren Vorschlägen der Gegneridentifikation auseinandersetzt.81 Auch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Identifikationsversuchen der Irrlehre geht über die in der ersten Auflage geführten Auseinandersetzungen mit der Baurschen These der markionitischen Gnosis weit hinaus.82 Entsprechend könne sich etwa die Charakterisierung der Gegner in 1 Tim 6,20 durch die Wendung »Antithesen der fälschlich so genannten Gnosis« nicht auf Gnostiker beziehen, sondern benenne »Häretiker«, die »sich eines WisGnostiker (in diesem Band 293–314). Bemerkenswert ist immer wieder, mit welchen emphatischen Begriffen andere Positionen abgewiesen werden: »unhaltbar« erscheint dabei noch als das sachlichste Attribut, beliebt sind vor allem »künstlich«, »entbehrt jeder fassbaren Gestalt« (Weiss, B., a. a. O., 24), »gehört rein der Phantasie an« (ebd.). 75 Vgl. Weiss, B., a. a. O., 26–29. 76  Huther, Briefe, 11850, 41. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd. 80  A. a. O., 41 f. 81  Huther, Briefe, 21859, 33. 82  Vgl. a. a. O., 35–39.

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sens rühmten, einer φιλοσοφία (Kol. 2, 8), in der sie eine vollkommnere Erkenntnis von den göttlichen Dingen, als das Evangelium darbietet, zu besitzen wähnten«.83 Weiß ist an diesem Punkt weit weniger ausführlich. Für ihn besagt der Ausdruck ἀντιθέσεις τῆς ψευδωνύμου γνώσεως lediglich, »dass eine Gnosis (Röm. 2, 20 u. oft), welche nur solch leeres Geschwätz und sich widersprechende Aufstellungen zu Tage fördert, fälschlich den schönen Namen einer besonderen Erkenntnis sich beilegt und das Wesen derselben nicht besitzt«.84 Bemerkenswert ist die Breite der Rezeption und Diskussion anderer Positionen sowohl bei Huther als auch – in noch stärkerem Maße – bei Weiß. Die Ausführlichkeit ist jedoch dem Anliegen verpflichtet, die eigene Position umso stärker festzuhalten und zu profilieren. Bei Huther führt dies immerhin dazu, dass er in den späteren Auflagen zunehmend differenzierter als in der Erstauflage die Unterschiede reflektiert: Die Häretiker der Pastoralbriefe gehörten einem »speculativen Judenchristenthum« an, »jedoch nicht so, als wäre dieselbe ein einzelnes bestimmt ausgebildetes System […] – sondern der Verfasser hat vielmehr die, mannigfache Unterschiede in sich einschliessende, allgemeine Richtung im Auge, so dass nicht nothwendig alle einzelnen Züge, die er besonders hervorhebt, allen diesen Häretikern eigen gewesen sind«.85

Eine solche Tendenz lässt sich bei Weiß nicht erkennen; gerade die fehlende Differenzierung und die Unschärfe in der Benennung der Irrlehre ist für ihn ein Indiz für die authentische Situierung in der Zeit des Paulus: »Aber beides spricht nicht für, sondern gegen eine pseudonyme Composition. Wäre die Bekämpfung einer der uns bekannten Irrlehren des 2. Jahrhunderts der Zweck einer solchen, so würde irgend eine Hindeutung auf die concreten Irrthümer, um die es sich handelt, sicher nicht fehlen, während den Adressaten die allgemeine Hinweisung auf die herrschenden Lehrverirrungen, die sie so gut wie Paulus kannten, vollkommen genügte, da ja Alles, was dieser von ihnen sagt, eben nur zur Begründung seiner Ermahnungen dient.«86

2.3  Die Verortung der Ekklesiologie der Pastoralbriefe im Kontext der Paulustradition Die Differenz der Pastoralbriefe zu Paulus wird seit Baur vor allem an dem fortgeschrittenen ekklesiologischen Gemeindemodell festgemacht, das im Unterschied zur charismatischen Gemeindeordnung bei Paulus bereits in Richtung einer verfestigten hierarchischen Struktur weist. Dabei spielen die in den Briefen vorkommenden Ämterbezeichungen des Bischofs, der Presbyter und der Diakone eine besondere Rolle, die über das hinausführen, was bei Paulus zu finden sei. Demgegenüber versucht Huther deutlich zu machen, dass sich in den Pastoralbriefen 83 

Huther, Briefe, 41876, 242. Weiss, B., Briefe, 51886, 246. In der Auflage von 1902, 234, wird der Satz ergänzt: »[…] das nur ein einheitliches und zweifelloses sein kann«. 85  Huther, Briefe, 21859, 43 f. 86  Weiss, B., Briefe, 51886, 29. 84 

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»noch keine Spur der eigentlichen bischöflichen Verfassung zeigt […]. Wir treffen in unsern Briefen noch die einfachste Gestaltung der Gemeindeordnung an.«87 Den Kontrast dazu sieht er vor allem in den Strukturen, die in den Ignatiusbriefen vorausgesetzt sind. Dem entspricht, dass Huther z. B. dem Schlüsselbegriff der ἐπισκοπή in 1 Tim 3,1 keine weitere Bedeutung beimisst und ihn faktisch auch nicht erklärt, obwohl er dessen Singularität im gesamten Neuen Testament notiert.88 Zu sehr scheint es für ihn selbstverständlich zu sein, dass Paulus diesen Begriff einführt. Auch das Streben nach dem Amt, was dessen Etablierung unabhängig von den es bekleidenden Personen voraussetzt, wird nicht in einem amtsbezogenen Sinn verstanden, sondern mit dem »Eifer des Glaubens und der Liebe« begründet und geistlich idealisiert.89 Das aber steht der Intention des Textzusammenhanges ganz entgegen, in welchem es sehr deutlich auf die formale Handhabung der Besetzung eines solchen Amtes geht, gleichsam wie in einem Bewerbungsverfahren. Auch der signifikante Unterschied zur Aussage über die als Episkopoi fungierenden Presbyter in Tit 1,6 f. wird weder in der Kommentierung zu 1 Tim 3,1 noch zu Tit 1,6 f. notiert. Das Verhältnis zwischen Presbyter und Episkopos bliebt daher bei Huther unterbestimmt. Anders als Huther gibt Weiß dem Thema der »Gemeindeverhältnisse« deutlich mehr Raum90 und sieht darin eine besondere Eigentümlichkeit der Pastoralbriefe. Grundsätzlich liegt auch Weiß aufgrund der Perspektive der Authentizität daran, zu erweisen, dass die in den Briefen vorausgesetzten Gemeindestrukturen »zwar auf die spätere apostolische Zeit, nirgends aber über dieselbe hinausweisen«.91 Diese Einschätzung trägt dem Umstand Rechnung, dass zwar auch Paulus gewisse Ordnungsvorstellungen entwickelt habe,92 es aber dennoch »nicht zu leugnen« sei, »dass wir wenigstens in Korinth und Galatien, abgesehen von der Erwähnung der Diaconissin Phoebe (Röm. 16, 1) […], keine Spur eines festen Gemeindeamtes und keine Berücksichtigung eines solchen durch Paulus finden«.93 Erstaunlicherweise versteht Weiß die Nennung von ἐπίσκοποι καὶ διάκονοι in Phil 1,1 nicht unter diesem Vorzeichen, sondern weist dies einer späteren Zeit zu.94 Immerhin ist dieses Nichtwissen von der Beteiligung des Paulus an der Einsetzung von Gemeindeverwaltern Indiz dafür, die ausschließliche Zuweisung solcher Strukturen in die nachapostolische Zeit abzuweisen und die Fürsorge des Apostels für die Gemeinden herauszustellen. Das ist durchaus berechtigt: »Vielmehr hängt diese Fürsorge sichtlich damit zusammen, dass die das Gemeindeleben bedrohenden Gefahren eine festere Leitung der Gemeinde immer mehr nothwendig erscheinen liessen, und tritt keineswegs in unsern Briefen in dem Masse in den Vordergrund, wie es oft 87 

Huther, Briefe, 11850, 45. A. a. O., 114. 89 Ebd. 90  Weiss, B., Briefe, 51886, 29–40. 91  A. a. O., 40. 92  A. a. O., 29, mit Verweis auf 1 Kor 12,28; Röm 12,8. 93 Ebd. 94  A. a. O., 30. 88 

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dargestellt wird, da z. B. im zweiten Timotheusbriefe mit keiner Silbe von der Gemeindeordnung die Rede ist.«95

Die damit verbundene Kritik an dem Versuch Baurs, den Episkopos als eine über die Presbyter herausgehobene Funktion zu erweisen und damit den Beginn des monarchischen Episkopats in den Pastoralbriefen wiederzufinden, gerät dabei mit umgekehrten Vorzeichen ebenso pauschal und unangemessen wie Baurs Argumentation.96 Weiß stellt zwar zu Recht die Benennung der Presbyter als Episkopoi in Tit 1,5–7 heraus, bezieht dies aber in einer seltsamen Argumentation auch auf die in 1 Tim 3–5 vorausgesetzten Strukturen und beruft sich dabei sogar auf Holtzmann.97 Dass die in 1 Tim 3,1 vorgenommene explizite Voranstellung und damit Heraushebung der ἐπισκοπή als Amt bzw. besonders anspruchsvolle Aufgabe (καλὸν ἔργον) eines einzelnen Bischofs eine Besonderheit gegenüber den in Tit 1 vorausgesetzten Relationen darstellt, fällt Weiß und Huther ebenso wenig auf wie denen, welche die doch bereits monepiskopal zu nennende Struktur der Gemeindeleitung im 1. Timotheusbrief unbesehen auf den Titusbrief projizieren. Die Bemühungen, 1 Tim 3,1 entsprechend so zu interpretieren, dass es sich »hier noch nicht um einen term. techn. für das bestimmte Amt eines Bischofs handelt, sondern um die allgemeine Bezeichnung eines Aufseheramtes, wie es der ἐπίσκοπος führt«,98 geraten – um ein Lieblingswort von Weiß zu gebrauchen – eher künstlich. Trotz der Beobachtung, dass der 2. Timotheusbrief keine gemeindeordnenden Aspekte enthält, wird für alle Pastoralbriefe dieselbe Gemeindestruktur vorausgesetzt. Dass diese letztlich nur aus dem 1. Timotheusbrief überhaupt mit einiger Substanz herausgearbeitet werden kann, ist kein Anlass für weitere Differenzierungen. Dass sich daraus dann in hohem Maße spekulative Erörterungen über die konkrete Gestalt dieser Strukturen wie auch hinsichtlich des Verhältnisses der Apostelschüler zu den Ämtern ergeben, liegt auf der Hand.99 Dabei werden u. a. im Blick auf die »Ordination« des Timotheus 1 Tim 4,14 und 2 Tim 1,6 auf einer Ebene behandelt, obwohl die Stellen kaum dasselbe meinen können, auch wenn sie den Begriff des χάρισμα gemeinsam haben. Ausdrücklich lehnt Weiß aber ab, χάρισμα als Bezeichnung für »Amt« zu verstehen, sondern bezieht es »in beiden Fällen […] contextgemäss« auf »die Tüchtigkeit zur Verkündigung des Evangeliums«.100 Weiß verkennt dabei, dass zwar in 2 Tim 1,6–12 die Übertragung der Verantwortung für die Evangeliumsverkündigung als Inhalt der Paratheke im Zentrum steht, in 1 Tim 4,11–16 davon aber keine Rede ist, der Begriff des Evangeliums im gesamten 1. Timotheusbrief nur formelhaft in 1,1 vorkommt und sonst überhaupt keine Rolle spielt (übrigens auch im Titusbrief nicht vorkommt), während er den gesamten 2.  Timotheusbrief durchzieht. Dieser Einschätzung wäre entgegenzuhalten, dass 95 Ebd. 96 

Ähnliches gilt für Huther, Briefe, 11850, 114 f. Weiss, B., Briefe, 51886, 31; ähnlich Huther, a. a. O., 117. 98  Weiss, B., a. a. O., 130. 99  Vgl. etwa bei Weiss, B., a. a. O., 33–35. 100  A. a. O., 35 f. 97 

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χάρισμα »contextgemäss« in 2 Tim 1,6 und 1 Tim 4,14 Unterschiedliches bezeichnet: Während es in 2 Tim 1,6 die Gabe des Geistes als Zurüstung für den mutigen Verkündigungsdienst benennt, steht es in 1 Tim 4,14 als Bezeichnung der Aufgabe, zu der Timotheus – als stellvertretendes Paradigma für alle anderen Amtsträger – vom Presbyterium eingesetzt wird und um die er sich kümmern soll. Diese Aufgabe besteht nicht aus der Evangeliumsverkündigung, sondern explizit aus »Lesung, Ermahnung und Lehre« (4,13). Im Zusammenhang der Gemeindeordnung thematisiert Huther eigens das sog. »Wittwen-Institut«, das bereits Schleiermacher als Hinweis auf eine nachpaulinische Zeit gedeutet hat.101 Interessanterweise argumentiert Huther an dieser Stelle gar nicht gegen Schleiermacher und Baur im eigentlichen Sinn (obwohl er Schleiermachers Deutung der Witwen als Diakonissen zu Recht bezweifelt), sondern versucht nur deutlich zu machen, dass dieses »Institut« bereits in der apostolischen Zeit vorhanden gewesen sein könne.102 Weiß ist an dieser Stelle weniger dezidiert und spricht lediglich davon, dass die Witwen »in einer kirchlichen Ehrenstellung eine bestimmte Berufsthätigkeit ausübten, wahrscheinlich in der Beaufsichtigung und Leitung der jüngeren Personen weiblichen Geschlechts«.103 Die Auffassung Baurs, dass »Witwe« auch als Ehrenbezeichnung für unverheiratete junge Frauen galt, sieht Weiß als von Holtzmann »bis zum Ueberflusse widerlegt« an.104 Schließlich sei noch auf die Deutung der Gemeinde als οἶκος θεοῦ in 1 Tim 3,15 f. eingegangen, da diese Stelle gleichsam das ekklesiologische Epizentrum des 1 Tim ist, für die meisten Ausleger sogar der Pastoralbriefe insgesamt. Bemerkenswert ist zunächst, dass für Huther die Ekklesiologie des 1. Timotheus- und des Titusbriefes sich im Grunde nicht unterscheiden; auch diese Einschätzung teilt er mit denen, die die Pastoralbriefe für ein pseudonymes literarisches Korpus halten.105 Die sprachliche Signifikanz des Begriffes οἶκος θεοῦ wird weder bei Huther noch bei Weiß als Differenz zu Paulus wahrgenommen. Beide setzen die Kongruenz zur paulinischen Gemeindevorstellung stillschweigend voraus: »Die Gemeinde Gottes oder die Kirche wird demnach hier als dasjenige bezeichnet, wodurch die Wahrheit, nämlich die göttliche Wahrheit auf Erden, gestützt und erhalten wird; ein Gedanke, der nichts Auffallendes hat, sobald man nur bedenkt, dass die Kirche den Geist Gottes, der der Geist der Wahrheit ist, empfangen hat, und dieser das ihr einwohnende, sie durchdringende Lebensprincip ist, in welchem sie in unverkümmerter Gemeinschaft mit ihrem Haupte steht.«106

Es ist offenkundig, wie weit sich Huther hier von der eigentlichen Textaussage entfernt, denn pneumatologisch ist der 1. Timotheusbrief weitgehend unterbelichtet, bis auf zwei Aussagen, die ganz unpaulinisch sind (1 Tim 3,16; 4,1). Hinter der Aus101 

Huther, Briefe, 11850, 46. A. a. O., 47. Weiss, B., Briefe, 51886, 37. 104 Ebd. 105  Vgl. z. B. Horrell, Transformation; dazu Herzer, House of God (in diesem Band 273–291). 106  Huther, Briefe, 11850, 133; Weiss, B., Briefe, 51886, 157 f. 102  103 

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legung Huthers steht deutlich der pneumatologische Grundtenor des 2. Timotheusbriefes. Auch für den den οἶκος näher bestimmenden Ausdruck ἑδραίωμα verweist er auf die Parallele in 2 Tim 2,19, wo allerdings – deutlicher paulinisch geprägt – θεμέλιος gebraucht wird.107 In der Kommentierung von 2 Tim 2,19 f. wird nicht auf 1 Tim 3,15 verwiesen.

2.4  Die Bedeutung der Frauen in der Gemeinde (1 Tim 2,9–15) Zu den wahrscheinlich problematischsten Texten – zumindest aus heutiger Sicht – gehört zweifellos 1 Tim 2,9–15. Dazu zählt nicht nur das Verbot des öffentlichen Lehrens für Frauen in der Gemeinde (2,12), sondern auch die in vieler Hinsicht strittige, soteriologisch konnotierte Bemerkung über deren »Rettung durch Kindergebären« (2,15). Das Lehrverbot für Frauen ließe sich als eine Forderung des Paulus verstehen, mit der die überlieferte Spannung zwischen dem prophetischen Reden von Frauen in Korinth (1 Kor 11,2–16) einerseits und dem scheinbar generellen Gebot des Schweigens der Frauen in der Gemeinde (1 Kor 14,33b–36) andererseits aufgelöst und aufgrund offenbar aktueller Herausforderungen unter Berufung auf die Autorität des Paulus als Lehrverbot konkretisiert und damit entschieden wird. Im Kontext paulinischer Soteriologie aber lässt sich eine solche Rettungsaussage wie in 1 Tim 2,15 kaum angemessen interpretieren und setzt andere Maßstäbe in der Vorstellung von Rettung voraus, als sie von Paulus her plausibilisiert werden könnten. Die beiden Spitzenaussagen des Abschnitts lassen sich daher nicht ohne weiteres mit den Auffassungen des Apostels harmonisieren, und sie sind auch unter pseudepigraphischer Perspektive  – die ja den Bezug auf Paulus zumindest postuliert – nicht auf einer Ebene zu interpretieren. Während die Aspekte des »äussere[n] Anstand[s]« sowie der »innern Schamhaftigkeit und Züchtigkeit«108 nicht notwendiger Weise unpaulinisch genannt werden können und selbst noch die Forderung, Frauen sollten in aller Unterordnung und still lernen durchaus mit dem von Paulus her Überlieferten in Einklang zu bringen wäre (vgl. 1 Kor 14,35: von ihren Männern109), geht das Lehrverbot in dieser Konkretion doch darüber hinaus. Der Hinweis auf 1 Kor 14 fehlt daher bei Huther ebenso wenig wie bei Weiß, liegt ihnen doch daran, den Widerspruch zu Paulus nicht zu groß werden zu lassen.110 Während Huther jedoch die Unterordnung im Sinne von »ohne Widerrede« verstehen will,111 mildert Weiß dies ab, indem er 107 

Huther, a. a. O., 133. 104, der auf die Interpretation dieser Äußerlichkeiten als Ausdruck der inneren Haltung verhältnismäßig viel Raum verwendet (a. a. O., 102–106). Bei Weiss, B., Briefe, 51886, sind es nur drei Seiten (120–122). 109  Dabei ist unerheblich, ob 1 Kor 14,33b–36 eine sekundäre Glosse ist oder nicht; für den Autor des 1 Tim gehörte der Abschnitt zur Paulusüberlieferung. 110 Vgl. Huther, Briefe, 31866, 131, in pointierter Verstärkung des Verweises in den früheren Auflagen: »Der hier ausgesprochene Gedanke ist durch das zu ergänzen, was P. 1. Kor. 14, 35. (welche Stelle h. überhaupt zu vergleichen ist) sagt […]«; vgl. auch Weiss, B., Briefe, 51886, 123 f. 111  Huther, Briefe, 11850, 106. 108  A. a. O.,

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dem Lernen der Frau durchaus derartige Möglichkeiten von Nachfrage und Widerspruch einräumt, aber eben nicht in der Gemeindeöffentlichkeit. Geradezu ignorant gegenüber den verschiedenen sachlichen Ausrichtungen verweist Weiß ausdrücklich auf 1 Kor 14,34 f.: »Die völlige sachliche Uebereinstimmung mit 1 Kor. 14, 34 f. bei den mannigfachsten Abweichungen im Ausdruck zeigt, dass hier von einer Nachbildung nicht die Rede sein kann.«112 Im Hinblick auf das konkrete Lehrverbot von 1 Tim 2,12 verweist Huther auf die Emphase des im Unterschied zu μανθάνειν in V. 11 nun in V. 12 vorangestellte διδάσκειν und damit auf das Verbot des Lehrens im Unterschied zur Untersagung des öffentlichen Redens in 1 Kor 14,34.113 Zugleich erfolgt daran anknüpfend eine eigenartig zeitlose Verallgemeinerung, die auch im Ganzen des Kommentars aus dem Rahmen fällt: »[D]urch die Hinzufügung des οὐδὲ αὐθεντεῖν τ. ἀνδρ. wird jedoch das Verbot des Lehrens unter einen allgemeineren Gesichtspunkt gestellt und dadurch zugleich begründet […]. Mit Recht macht de Wette darauf aufmerksam, dass den hier aufgestellten Geboten nicht durch willkürliche Deutungen der klare, bestimmte Sinn genommen werden dürfe, um ihnen die Allgemeingültigkeit zu retten, dass sie aber auch nicht bloss als temporelle und locale Bestimmungen anzusehen seien, dass sie vielmehr als Vorschriften, die sich auf die öffentlichen Versammlungen beziehen, noch jetzt geltend zu machen sind.«114

Bemerkenswert sind schließlich auch die Interpretationen der im Kontext paulinischer Soteriologie nicht unproblematischen und notorisch schwierig zu verstehenden Rettungsaussage in 1 Tim 2,15. Aufgrund der Voraussetzung paulinischer Verfasserschaft wird das Problem umso gravierender und kann nur durch ein gehöriges Maß an Nivellierung gelöst werden. Für Huther ist diese Aussage »in keinem andern Sinne zu nehmen, als den es beständig im N. T. hat«,115 nämlich als Rettung der Frau vor den Sündenfolgen, und zwar dadurch (διά), dass die Frau durch das Gebären von Kindern damit ihre gottgemäßen Bestimmung gerecht werde. »Um nicht missverstanden zu werden, als wirke die τεκνογονία schon als rein äussere Thatsache die σωτηρία, fügt er [sc. Paulus] die folgenden Worte hinzu: ἐὰν μείνωσιν ἐν πίστει etc. […].«116 Das Subjekt von μείνωσιν seien nicht die Kinder, sondern als Kollektivum verstanden die Frauen, da mit dieser Aussage die Rettung als Ziel des Glaubens gleichsam befördert und sichergestellt werde. Damit stimmt die Deutung von Weiß weitgehend überein: Auch er sieht im Kindergebären den der Frau »speziell zugewiesenen Beruf«, was er mit einem Verweis auf 1 Kor 7,26– 34 unterstreicht und den von anderen117 zu Recht notierten Unterschied zu diesen 112 

Weiss, B., Briefe, 51886, 124. Huther, Briefe, 11850, 107; anders akzentuiert Weiss, B., Briefe, 51866, 124, der nicht so sehr die Emphase, sondern den Übergang vom privaten (V. 11) zum öffentlichen (V. 12) Verhalten der Frau markiert sieht. 114  Huther, Briefe, 11850, 107 f. 115  A. a. O., 110 f. 116  A. a. O., 112. 117  Genannt werden Schleiermacher, de Wette und Holtzmann. 113 

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paulinischen Äußerungen zur Ehe explizit bestreitet.118 Die Rettung könne daher auch hier »nur in seinem technischen Sinne der Errettung vom Verderben […] genommen werden, und nicht von der Erwerbung von Verdienst und Belohnung (de W.) oder vom irdischen Glücklichwerden (Leo).«119 Allerdings versteht Weiß anders als Huther διά nicht instrumental, als sei das Gebären von Kindern das Mittel der Rettung der Frau. Vielmehr sei nur eine lokale Bedeutung sinnvoll: »Es ist daher sprachlich vollkommen gerechtfertigt und contextmässig nothwendig, den Zusatz darauf zu beziehen, dass dem Weibe bei der Erfüllung ihres natürlichen Berufes […] die Errettung und damit das Heil zu Theil werden wird.«120

2.5  Zur Deutung des Epiphanie-Begriffes Huther vermerkt zwar, dass der Epiphaniebegriff außer in den Pastoralbriefen nur selten im Neuen Testament vorkommt, misst diesem Umstand aber keine Signifikanz bei. Das verwundert umso mehr, als er – wie auch Weiß – die meisten Stellen auf die Wiederkunft Christi bezieht, ausgehend von 1 Tim 6,14.121 Eine Ausnahme ist für ihn allein 2 Tim 1,10, weil hier explizit ein Bezug auf die »erste[.] Ankunft Christi im Fleisch«122 hergestellt wird. Für 2 Tim 4,1 scheint er das Problem zu sehen, dass die Beschwörungsformel normalerweise auf »wohl gegenwärtige Dinge, nicht aber zukünftige Thatsachen, wie die ἐπιφάνεια Christi, als Zeugen angerufen werden können«.123 Aber genau diesen Zusammenhang, mit dem de Wette hinsichtlich des grammatischen Bezuges von διαμαρτύρομαι argumentiert hatte, bestreitet Huther – und generiert damit ein zirkuläres Argument, zumal von 2 Tim 1,10 her ein präsentisches Verständnis von ἐπιφάνεια im Brief bereits verwendet wurde und ein solches dann auch in 4,1 kaum überraschen würde. Dementsprechend ist nach Huther das Perfekt Partizip ἠγαπηκόσι in 2 Tim 4,8 »im Sinne des Präsens: ›die lieb gewonnen haben‹ d. h. ›die lieben.‹ – τὴν ἐπιφάνειαν αὐτοῦ) nicht zu verstehen von der ersten Erscheinung des Herrn im Fleische Kap. 1, 10; sondern – dem Zusammenhange gemäß und in Uebereinstimmung mit V. 1., von seiner dereinstigen Wiederkunft […]«.124

Ähnliches gilt für Tit 2,13, wofür Huther auf 1 Tim 6,14 als Parallele hinweist, wo ἐπιφάνεια ebenfalls die Wiederkunft Christi als Inhalt der Hoffnung des Paulus bezeichnet sei.125 Dass in Tit 3,1, im unmittelbaren Anschluss an 2,13, der Epiphaniebegriff noch einmal anders gebraucht ist, nämlich auf die Erscheinung der Doxa Gottes im irdischen Auftreten Christi bezogen, bringt Huther damit nicht in 118 Weiss, 119 Ebd. 120 

121  122  123  124  125 

B., Briefe, 51886, 127.

A. a. O., 128. Huther, Briefe, 11850, 197. A. a. O., 197 f. A. a. O., 257 f. A. a. O., 264. A. a. O., 295.

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Verbindung, sondern notiert nur lapidar: »[…] ganz wie Kap. 2, 11«.126 Offenbar ist die verbale Form der Epiphanieaussagen für Huther deutlich vom nominalen Gebrauch des Begriffes unterschieden, ohne dass er dies eigens thematisieren würde. Auch die Ausnahme in 2 Tim 1,10 diskutiert er als solche nicht. Huther bezieht die Wendung ἡ χάρις τοῦ θεοῦ auf »den absoluten Grund des ganzen Erlösungswerkes«127 und kritisiert die bereits in der alten Kirche zu findende Deutung auf die Menschwerdung Christi als zu einseitig. Angesichts dieses Befundes ist offensichtlich, dass Huther keinen Unterschied zwischen dem Gebrauch des Begriffes παρουσία bei Paulus einerseits und ἐπιφάνεια in den Pastoralbriefen andererseits für dieselbe Sache entdeckt. Ein Bewusstsein für das Problem der Differenzierungen und Nuancen ist bei alledem nicht erkennbar. Die vorgegebene Perspektive der authentisch-paulinischen Verfasserschaft kommt an diesen Stellen sehr deutlich zum Tragen. Weiß, der dieselbe Perspektive hinsichtlich der Verfasserschaft wie Huther einnimmt, stellt die Interpretation von Tit 2,11–15 unter der Überschrift »Dogmatische Begründung dieser Vorschriften«128 – gemeint sind die Anweisungen aus Tit 2,1–10. Bei Huther hieß das noch – in Anlehnung an Bengel – »Begründung der sittlichen Vorschriften aus dem Wesen des Christenthums«;129 dabei sind ab der 2. Auflage die Verse 11–14 zusammengefasst. Erstaunlich an der Kommentierung von Weiß ist in dieser Perikope erneut die deutlich kritische Aufnahme von Argumenten Huthers, ohne sich ausdrücklich auf ihn zu beziehen. Dabei übernimmt er Huthers Gesamtperspektive: Auch für Weiß ist bei der »sichtbaren Erscheinung [der Gnade Gottes] […] nicht speziell an die Menschwerdung Christi […], sondern an seine gesammte geschichtliche Erscheinung und sein Erlösungswerk zu denken«.130 Da der Gebrauch des Personalpronomens »seine« unscharf bleibt, präzisiert Weiß in der Auflage von 1902: »die gesamte geschichtliche Erscheinung und das Erlösungswerk Christi«.131 Dahinter steht das Problem, das sich aus dem Zusammenhang mit Tit 2,13 ergibt, inwiefern nämlich Christus und Gott zu differenzieren sind und worauf in 2,13 die Erscheinung der Doxa gerichtet bzw. wessen Doxa eigentlich gemeint ist. Für Huther ist klar, dass Christus als »der große Gott und unser Retter« (2,13) zugleich bezeichnet ist, dessen Wiederkunft erwartet wird.132 Weiß hingegen, der für die Erschließung der Bedeutung des Epiphanie-Begriffs ebenfalls auf 1 Tim 6,14 verweist133 und ὁ μέγας θεός ebenfalls auf Christus bezieht,134 erklärt immerhin, warum hier der eigentlich zu erwarteten paulinische Terminus der Parusie nicht verwendet wird, weil nämlich auf dem Sichtbarwerden der Doxa das Gewicht liege, 126 

A. a. O., 302. Huther, Briefe, 11850, 293. 128  Weiss, B., Briefe, 51886, 379. 129  Huther, Briefe, 11850, 292. 130  Weiss, B., Briefe, 51886, 380. 131  Weiss, B., Briefe, 71902, 360. 132 Vgl. Huther, Briefe, 11850, 295 f. 133  Weiss, B., Briefe, 51886, 381 f. 134  A. a. O., 383. 127 

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was bei der Parusie geschehe und daher nicht mit ihr identisch sei.135 Dass dieser christologische Bezug der Erscheinung der Doxa in Spannung zur Erscheinung der Gnade Gottes in Tit 2,11 wie auch der Erscheinung von Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes in 3,4 tritt, sehen weder Weiß noch Huther. Dahinter steht die ohnehin wenig beachtete Beobachtung, dass in den Pastoralbriefen der Begriff des »Retters« (σωτήρ) durchaus unterschiedlich gebraucht wird. Während er im 1. Timotheusbrief ausschließlich auf Gott, im 2. Timotheusbrief ausschließlich auf Christus bezogen wird, findet sich im Titusbrief eine eigentümliche »Synthese«, sofern der σωτήρ-Begriff stets auf Gott und Christus gleichermaßen rekurriert.136 Diesen Befund auszuwerten setzt notwendig eine Differenzierung im Hinblick auf die Gesamtbeurteilung der Briefe voraus, die bei der Annahme einer einheitlichen paulinischen Verfasserschaft kaum möglich ist. Problematisch bei Weiß ist  – wie schon angedeutet  –, dass auch er den Epiphaniebegriff von 1 Tim 6,14 her an allen Stellen als Synonym zu Parusie versteht, auch wenn er im Einzelnen dann (vor allem bei Tit 2,13) Erklärungen dafür sucht, warum der Begriff der Parusie nicht verwendet wird, wo man ihn eigentlich von Paulus her erwarten würde. Aber das ist doch ein recht künstlicher Versuch, die unterschiedliche Akzentuierung innerhalb der Pastoralbriefe dann doch wieder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Gerade 1 Tim 6,14 zeigt, dass ἐπιφάνεια hier anders gebraucht wird als im 2. Timotheus- und im Titusbrief; es ist nicht nur die einzige Stelle im 1. Timotheusbrief, wo dieses semantische Feld überhaupt zur Sprache kommt, sondern auch die einzige Stelle in den Pastoralbriefen, die einen eindeutigen Bezug zur endzeitlichen Parusie Christi aufweist und daher der Epiphanie-Begriff zum Synonym für die paulinische Parusievorstellung avanciert.137 Die Frage, warum das so ist, beantwortet keiner der beiden Kommentatoren. Immerhin bildet auch für Weiß 2 Tim 1,10 eine Ausnahme und wird – das lässt der Text nicht anders zu  – auf die »geschichtliche Erscheinung Christi«138 gedeutet. Den Unterschied zu 1 Tim 6,14 notiert er zwar, kommentiert ihn aber nicht. Stattdessen versucht Weiß eine Harmonisierung: »Der 1 Tim. 6, 14 von der Parusie gebrauchte Ausdruck bezeichnet hier die geschichtliche Erscheinung Christi, weil derselbe in V. 9 bereits als unsichtbar bei Gott πρὸ χρόνων αἰωνίων existirend und zum Heilsmittler erwählt gedacht ist, also bei seinem Erscheinen auf Erden nur sichtbar wird, um mit der thatsächlichen Verwirklichung des göttlichen Gnadenrathschlusses zugleich das erfahrungsmässige Unterpfand desselben zu geben.«139

Anders als in 2 Tim 1,10 kann für Weiß in 2 Tim 4,8 »[n]atürlich […] nicht die erste Erscheinung Christi (1, 10) gemeint [sein] […], sondern wegen des abschliessenden 135 A. a. O., 382 f.: »Da eben auf diesem Sichtbarwerden der Nachdruck liegt, vermisst de W[ette]. mit Unrecht hier den paulinischen Terminus der Parusie« (382). 136  Vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen, 118–150. 137 Vgl. Weiss, B., Briefe, 51886, 239, zu 1 Tim 6,14: »Dieser in unsern Briefen häufige Ausdruck geht hier auf die Parusie, von deren ἐπιφάνεια auch 2 Thess. 2, 8 die Rede ist.« 138  A. a. O., 265. 139 Ebd.

Die Kommentierung der Pastoralbriefe



147

Rückblicks auf V. 1 die Erscheinung bei seiner Wiederkunft.«140 Doch ist mit dem Rückverweis auf 2 Tim 4,1 nichts gewonnen, denn hier ist keineswegs klar, welche Epiphanie gemeint ist. Die Perfektform des Partizips τοῖς ἠγαπηκόσι interpretiert Weiß allerdings ausdrücklich nicht, wie man erwarten würde, resultativ im Sinne einer liebgewonnenen Erwartung, sondern versteht es von der Furcht vor dieser Wiederkunft her: »Die Liebe zum Wiedererscheinen Christi ist einfach der Gegensatz zum Fürchten derselben, welches bei Allen, die sich ihrer Untreue bewusst sind, eintreten muss.«141 Davon ist freilich im Text nicht die Rede. Der Horizont des kommenden Gerichts, der in 4,1 wie in 4,8 vor Augen steht, legt vielmehr nahe, dass vor allem in 4,8 die im Modus der Liebe gewonnene Haltung zur seiner Erscheinung Kriterium des Gerichtes ist. Dass damit etwas anderes mit dem Begriff ἐπιφάνεια bezeichnet werden sollte, als es in 1,10 gleichsam als Perspektive auf die irdische Erscheinung Christi vorgegeben wurde, ist kaum plausibel zu machen.142 Diesem Gesamtbild fügt sich letztlich auch 2 Tim 4,1 ein, und zwar schon aus grammatischen Gründen hinsichtlich der Bedeutung der auf Christus bezogenen Akkusativkonstruktion καὶ τὴν ἐπιφάνειαν αὐτοῦ καὶ τὴν βασιλείαν αὐτοῦ, die als Accusativus graecus und daher als weiterer Bezugspunkt bzw. Grundlage der Beschwörung zu verstehen ist und nicht deren Inhalt repräsentiert.143

2.6  Das Ende des Paulus im 2 Tim Der Vorausblick auf den Tod des Paulus im 2. Timotheusbrief hängt sehr eng mit der Frage nach den missionsgeographischen Gegebenheiten der letzten Reisen des Paulus bzw. der Frage nach einer zweiten römischen Gefangenschaft zusammen. Davon war bereits unter 1. die Rede. Insbesondere Huther geht in der Auseinandersetzung mit Otto davon aus, dass Paulus tatsächlich nach einem ersten Aufenthalt in Rom erst bei einer zweiten Gefangenschaft den Tod fand. Von dieser Auffassung ist Huther in keiner Auflage abgewichen. Weiß hingegen ist diesbezüglich skeptisch, und dem entsprechend ist zu erwarten, dass die Deutungen insbesondere von 2 Tim 4,6–8 und 4,16–18 unterschiedlich ausfallen. Huther sieht zunächst in 2 Tim 4,1 f.144 eine eindringliche »Ermahnung zur treuen Amtsführung«, die durch den Hinweis auf das Gericht Gottes unterstrichen wird.145 Damit sei insbesondere das unbeirrte Auftreten εὐκαίρως ἀκαίρως gemeint, ein Hinweis, mit dem Huther erneut die Gelegenheit der aktualisierenden Verallgemeinerung ergreift: 140 

A. a. O., 334.

141 Ebd.

142 Vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen, 171: »Voraussetzung für die Erlangung des Siegeskranzes ist also die Liebe zur Epiphanie Christi, die von 1,10 her zu verstehen ist als die durch sein Leben und Sterben erfolgte Überwindung des Todes und die Verheißung neuen Lebens.« 143  Vgl. a. a. O., 166–172, bes. 168. 144  Zur Deutung der Epiphanie-Vorstellung in 2 Tim 4,1 s. o. unter 2.5. 145  Huther, Briefe, 11850, 257.

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I  Perspektiven der Forschung

»Für die Wahrheit ist es immer gelegene Zeit; wer warten will, bis die Zeitumstände ihm vollkommen günstig für sein Handeln erscheinen, der wird nie dazu gelangen, sondern in Unthätigkeit verharren. Dies gilt insonderheit auch in Betreff der evangelischen Amtsthätigkeit.«146

Den vieldeutigen Begriff σπένδομαι in 2 Tim 4,6 deutet Huther richtig auf den Tod des Paulus, ebenso wie den Begriff der ἀνάλυσις. Das ist deshalb hervorzuheben, weil mit dieser Stelle gelegentlich die Möglichkeit begründet wird, dass Paulus hier noch mit einer Freilassung rechne, da ἀνάλυσις auf die Lösung der Ketten zu beziehen sei.147 Auch bei seiner Annahme einer zweiten Gefangenschaft gehört für Huther der Brief in die Zeit unmittelbar vor dem Tod des Apostels, was im Übrigen auch durch das Perfekt ἠγώνισμαι zum Ausdruck komme.148 In der Auflage von 1876 fügt Huther eine längere Anmerkung zum Begriff σπένδομαι ein, in der er sich mit der Auffassung von Otto auseinandersetzt, Paulus habe den 2. Timotheusbrief bereits in der ersten Gefangenschaft geschrieben und meine mit σπένδομαι eigentlich seine Missionstätigkeit und ἀνάλυσις die Freilassung aus dem Gefängnis.149 Die Widerlegung Ottos geschieht mit guten Argumenten und ist insgesamt überzeugend; während Huther sich um eine solche Auseinandersetzung bemüht, bemerkt Weiß an dieser Stelle nur lapidar: »Die Missdeutung Otto’s auf die bevorstehende Hingabe seiner Missionsthätigkeit bedarf keiner Widerlegung.«150 Die Information über die »erste Apologie« (2 Tim 4,16) beziehen Huther wie Weiß gleichermaßen in Abgrenzung von Ottos Rekonstruktion nicht auf die erste Gefangenschaft.151 Die Dankbarkeit des Apostels für die »Rettung aus dem Rachen des Löwen« (4,17) interpretieren Huther in der Auflage 1850 wie auch Weiß nur metaphorisch im Sinne von »Todesgefahr« und nicht als buchstäbliche Bewahrung vor der »Strafe, den Löwen vorgeworfen zu werden« oder gar symbolisch als Andeutung auf Nero.152 In der Auflage von 1876 jedoch hält Huther dies für zu wenig: Es sei nicht nur einfach die Todesgefahr, vielmehr sei damit zum Ausdruck gebracht, Paulus sei »unversehrt an Leib u. Seele […] vor den Augen des Herrn als Sieger aus der ihm drohenden Gefahr hervor« gegangen.153 Dies sei dann auch der Grund für die in V. 18 ausgedrückte Zuversicht, die sich freilich nicht mehr auf die irdische Rettung, sondern auf die himmlische Herrschaft Christi richtet.

146 

A. a. O., 259. Vgl. z. B. Prior, Paul, 98–103. 148  Huther, Briefe, 11850, 262. 149  Huther, Briefe, 41876, 321–323. 150  Weiss, B., Briefe, 51886, 331; vgl. Huther, Briefe, 41876, 323 f. 151 Vgl. Huther, a. a. O., 24 f.; ders., Briefe, 41876, 26 f.; Weiss, B., Briefe, 51886, 341. 152  Huther, Briefe, 11850, 268 f. 153  Huther, Briefe, 41876, 331. Weiss, B., Briefe, 51886, 343, relativiert dies ausdrücklich. 147 

Die Kommentierung der Pastoralbriefe



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3. Resümee Obwohl er großen Wert darauf legt, »eine ganz selbstständige Neubearbeitung«154 vorzulegen, ist es erstaunlich, wie sehr Weiß in seiner Kommentierung den Gedankengängen Huthers folgt, auch und gerade wenn er ihn kritisiert. Huthers Kommentar hat Weiß offensichtlich nachhaltig beeindruckt, was der Tatsache entspricht, dass die Kommentierung zwar in vielen Details von der Deutung Huthers abweicht und diesen zumeist auch explizit kritisch aufnimmt, die Gesamtperspektive aber im Grunde vergleichbar bleibt und somit die Bearbeitung von Weiß keine entscheidenden Fortschritte in der Sache und in der Gesamtsicht der Pastoralbriefe bietet. Das gilt vor allem für die Auseinandersetzung mit solchen Kommentaren, die sehr grundsätzlich von einer pseudepigraphen Abfassung der Pastoralbriefe ausgehen. Huther wie auch Weiß bleiben in dieser Hinsicht weit hinter dem erforderlichen Maß einer präzisen Auseinandersetzung mit Positionen wie Baur oder Holtzmann zurück. Immerhin ist es vor allem Weiß, der auch auf die Defizite einer Pseudepigraphiethese hinweist, indem er je und je deutlich macht, dass die Ungereimtheiten mit der paulinischen Tradition, die gegen die paulinische Verfasserschaft angeführt werden, auch mit der vorauszusetzenden Kunst eines Pseudepigraphen nicht kompatibel seien. Demgegenüber überzeugen aber die eigenen Argumente in Bezug auf die historische Einbettung der Pastoralbriefe in die Paulusbiographie nicht und führen geradezu in aporetische Spekulationen, die auch im Detail der Exegese nicht an Überzeugungskraft gewinnen. Die Art und Weise, wie Weiß und Huther die Echtheit der Pastoralbriefe verteidigen und zu begründen versuchen, krankt an derselben Voraussetzung wie die von Baur herkommenden gegenteiligen Versuche, sie als »unzertrennliche Drillinge« (Holtzmann) konsequent als ein zusammengehöriges Schriftenkorpus zu erklären. Beide Perspektiven, so gegenteilig sie im Ganzen und im Detail sind, sind gezwungen, die Unterschiede der Briefe zu nivellieren und Differenzen im Detail zu harmonisieren bzw. hypothetisch abzuschwächen, um nicht nur eine einheitliche Abfassungssituation auszumachen, sondern auch ein einheitliches inhaltliches Profil behaupten zu können. Die dabei offen zutage tretenden Probleme sind nicht zuletzt Anlass dafür gewesen, dass die Pastoralbriefeforschung vor allem literaturwissenschaftliche Fragestellungen etwa der Pseudepigraphie- und Epistolographieforschung,155 der Genreproblematik156 bis hin zu narratologischen Ansätzen157 stärker einbezogen hat und dabei wichtige, weiterführende Erkenntnisse zu Tage förderte. Dennoch scheint es mir, dass dieser Weg noch nicht konsequent genug zu Ende gedacht und gegangen ist. Die in den letzten Jahren unternommenen Ansätze, die Unterschiede zwischen den einzelnen Briefen methodisch sensibler auszuwerten und daraus Rückschlüsse auf den his154 

Weiss, B., a. a. O., V. Frey/Herzer/Janssen/Rothschild (Hg.), Pseudepigraphie; Luttenberger, Prophetenmantel. 156  Vgl. z. B. Wolter, Pastoralbriefe. 157  Vgl. z. B. Glaser, Erzählung. 155 

150

I  Perspektiven der Forschung

torischen Ort und den sachlichen Charakter der Briefe zu gewinnen,158 sind wichtige Schritte, einer Lösung des vielzitierten »Rätsels« der Pastoralbriefe näher zu kommen, das Adolf von Harnack einst als unlösbar bezeichnete.159 Am Schluss seiner Bestandsaufnahme und Kritik der Argumente gegen die paulinische Verfasserschaft der Pastoralbriefe resümiert Huther: »Gegen alle mit sorgsamstem Fleisse aufgesuchten Ausstellungen gegen unsere Briefe behält seine Berechtigung was Guerike sagt: ›Die Pastoralbriefe sind allerdings nicht so frisch und lebendig, so auf alle einzelnen Verhältnisse eingehend geschrieben, als Paulus frühere Briefe. Sie zeigen uns den grossen Apostel als einen greisen, von Alter, Verfolgung, Anstrengung gebeugt, mit besonders geschärftem Hasse gegen die Feinde des Reiches Gottes, aber zugleich durchdrungen von um so tieferer, innigerer Wehmuth bei Anschauung des sich entwickelnden gegenwärtigen und noch mehr zukünftigen Reichs des Widerchrists und so offenbaren sie in der gebrechlichen Hülle um so herrlicher den Geist des Glaubens und der Liebe, der in ihm wohnte.‹«160

Bei aller subjektiven Ergriffenheit dieses idealistischen Bildes vom Ende der apostolischen Existenz des Paulus spiegelt diese Einschätzung doch einen wichtigen Aspekt, der in der Forschung bisher zwar ansatzweise, aber nicht hinreichend berücksichtigt wurde. Zugleich macht diese Einschätzung aber umso deutlicher, dass damit nicht »die Pastoralbriefe« pauschal charakterisiert werden, und zugleich erwächst daraus die Aufgabe, sie in ihrem jeweiligen Eigenprofil stärker wahrzunehmen. Die Tatsache, dass es seit mehr als einem Jahrhundert keine Neuauflage des Kommentars zu den Pastoralbriefen in der Meyerschen Reihe gegeben hat, bietet die Chance, nicht einfach die der Perspektive von Huther und Weiß entgegengesetzte Position einzunehmen, sondern dieser Aufgabe tatsächlich gerecht zu werden.

Literatur Baur, Ferdinand Christian, Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostels Paulus aufs neue kritisch untersucht, Stuttgart/Tübingen 1835. –, Der Kritiker und der Fanatiker, in der Person des Herrn Heinrich W. J. Thiersch. Zur Charakteristik der neuesten Theologie, Stuttgart 1846. Bleek, Friedrich, Einleitung in das Neue Testament, hg. von Johannes Bleek, Berlin 1862. Dibelius, Martin, Die Pastoralbriefe (HNT 13), Tübingen 21931. Dibelius, Martin/Conzelmann, Hans, Die Pastoralbriefe (HNT 13), Tübingen 41966. Engelmann, Michaela, Unzertrennliche Drillinge? Motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe (BZNW 192), Berlin 2012. Ewald, Heinrich, Geschichte des Volkes Israel, Bd. VI, Göttingen 21858.

158 

Vgl. z. B. Richards, Difference; Fuchs, Unterschiede; Engelmann, Untersuchungen. Harnack, Briefsammlung, 14: »Das Rätsel, das über diesen Briefen schwebt, hat noch niemand wirklich gelöst und ist auch mit unseren geschichtlichen Hilfsmitteln unlösbar.« 160  Huther, Briefe, 11850, 55; das Zitat stammt aus Guerike, Einleitung, 402. 159 



Die Kommentierung der Pastoralbriefe

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Frey, Jörg/Herzer, Jens/Janssen, Martina/Rothschild, Clare K. (Hg. unter Mitarbeit von M. Engelmann), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen (WUNT 246), Tübingen 2009. Fuchs, Rüdiger, Unerwartete Unterschiede. Müssen wir unsere Ansichten über »die« Pastoralbriefe revidieren? (Bibelwissenschaftliche Monographie 12), Wuppertal 2003. Glaser, Timo, Erzählung im Fragment. Ein narratologischer Ansatz zur Auslegung pseudepigrapher Briefbücher, in: Jörg Frey u. a. (Hg.), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen (WUNT 246), Tübingen 2009, 267–294. Guerike, Heinrich Ernst Ferdinand, Historisch-kritische Einleitung in das Neue Testament, Leipzig 1843, 402. Harnack, Adolf von, Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius, Teil II: Die Chronologie, Bd. I: Die Chronologie der Literatur bis Irenäus nebst einleitenden Untersuchungen, Leipzig 1897 (Nachdruck 1958). –, Die Briefsammlung des Apostels Paulus und die anderen vorkonstantinischen christlichen Briefsammlungen. Sechs Vorlesungen aus der altkirchlichen Literaturgeschichte, Leipzig 1926. Herzer, Jens, Juden – Christen – Gnostiker. Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe, in: BThZ 25 (2008), 143–168 (in diesem Band 293–314). –, Rearranging the »House of God«. A New Perspective on the Pastoral Epistles, in: Alberdina Houtman/Albert de Jong/Magda Misset-Van de Weg (Hg.), Empsychoi Logoi – Religious Innovations in Antiquity. FS P. W. van der Horst (Ancient Judaism and Early Christianity 73), Leiden 2008, 547–566 (in diesem Band 273–291). –, Den guten Kampf gekämpft. Das Ende des Paulus im Spiegel des Zweiten Timotheusbriefes und der frühchristlichen Überlieferung, in: Rudolf Hoppe/Michael Reichardt (Hg.), Lukas – Paulus – Pastoralbriefe. FS A. Weiser (SBS 230), Stuttgart 2014, 339–369 (in diesem Band 185–214). –, The Mission and the End of Paul Between Strategy and Reality. A Response to Rainer Riesner, in: Armand Puig i Tàrrech/John M. G. Barclay/Jörg Frey (Hg.), The Last Years of Paul. Essays from the Tarragona Conference, June 2013 (WUNT 352), Tübingen 2015, 411–432. –, »Lukas ist allein bei mir« (2 Tim 4,11). Lukas, die Pastoralbriefe und die Konstruktion von Geschichte, in: John S. Kloppenborg/Joseph Verheyden (Hg.), Luke on Jesus, Paul and Christianity: What Did He Really Know? (Biblical Tools and Studies 29), Leuven 2017, 27–58 (in diesem Band 215–246). Hofmann, Johann Christian Konrad von, Die Briefe Pauli an Titus und Timotheus (Die heilige Schrift neuen Testaments zusammenhängend untersucht 6), Nördlingen 1874. Holtzmann, Heinrich J., Die Pastoralbriefe, kritisch und exegetisch behandelt, Leipzig 1880. Horrell, David G., From ἀδελφοί to οἶκος θεοῦ. Social Transformation in Pauline Christianity, in: JBL 120 (2001), 293–311. Huther, Johann Eduard, Commentar über den Brief des Pauli an die Colosser, Hamburg 1841. –, Die Briefe Pauli an Timotheus und Titus (KEK 11), Göttingen 11850. –, Die Briefe Pauli an Timotheus und Titus (KEK 11), Göttingen 31866. –, Die Briefe Pauli an Timotheus und Titus (KEK 11), Göttingen 41876. Koch, Dietrich-Alex, Chronologie der Ausgaben des von H. A. W. Meyer begründeten Kritisch-exegetischen Kommentars, in: Eve-Marie Becker/Friedrich. W. Horn/Dietrich

152

I  Perspektiven der Forschung

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

Paulustradition und Paulusrezeption in den Pastoralbriefen Mit dem Bezug der Begriffe Paulustradition und Paulusrezeption auf die Pastoralbriefe impliziert die Überschrift dieses Beitrages komplexe Fragestellungen, die vielfach und auf unterschiedliche Weise behandelt worden sind. Was speziell die Pastoralbriefe angeht, so variiert der Grad an Komplexität je nachdem, welche grundlegenden Parameter in der Interpretation und literaturgeschichtlichen Einordnung dieser drei umstrittenen Briefe vorausgesetzt werden. Mit der Zuschreibung an Paulus stehen die Pastoralbriefe zunächst nominell ebenso in der Paulustradition wie alle anderen Briefe unter diesem Namen. Der Begriff »Paulustradition« erweist sich daher als hochgradig unscharf – zumal unter dem Vorzeichen, dass nicht alle Briefe unter dem Namen des Paulus auch von diesem selbst stammen. Damit ist aber zugleich der Rezeptionsvorgang umrissen, der bis in die Neuzeit die Wahrnehmung der Pastoralbriefe geprägt hat: Die Pastoralbriefe werden als Paulusbriefe und damit als Paulustradition rezipiert. Als Paulustradition gilt demnach zunächst das, was Paulus selbst als Überlieferung inhaltlich geprägt hat und was – mutmaßlich in seinem Sinne – eine Nachwirkung entfaltet und auch Texte produziert, die nicht mehr auktorial mit dem Namen des Apostels verbunden sind.1 Diese Nachwirkung spiegelt als Paulusrezeption die Vielfalt des hermeneutischen bzw. interpretatorischen Potentials, welches die Briefe des Paulus in sich bergen. Sie selbst und damit die Paulusüberlieferung im engeren Sinn stehen ihrer Rezeption gleichsam als Ursprungsrelation gegenüber. Mit der Einsicht in pseudepigraphisch entstandene Paulusschriften erhebt sich daher die Frage, inwiefern diese selbst Paulustradition repräsentieren oder nicht vielmehr in die Paulusrezeption einzuordnen sind, die dadurch gewissermaßen bereits traditionsintern beginnt. Die Unterscheidung zwischen Tradition und Rezeption wird damit deutlich schwieriger; die Bereiche sind nicht mehr ohne weiteres scharf abzugrenzen. Michael Wolter hat dieses Problem mit Bezug auf die Pastoralbriefe vor rund 30 Jahren in einer wegweisenden Studie unter dem Titel die »Pastoralbriefe als Paulustradition«2 beschrieben und dabei sehr grundlegende Einsichten unter der Verhältnisbestimmung von »Priorität und Tradition« erarbeitet. Charakteristisch sei für die Pastoralbriefe als pseudepigraphische Schriften, dass nicht mehr – wie noch bei Paulus selbst – »Einzeltexte als Tradition ausgewiesen […] oder einzelne Traditionsstücke übernommen und weitergegeben […] (werden)«, sondern »in den Pastoralbriefen wird die Tradition vielmehr 1  2 

Vgl. dazu grundlegend Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Wolter, Pastoralbriefe, bes. 95–130 (Hervorhebung J. H.).

156

II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

als eine und summarische begriffen, und zwar als alle Einzeltraditionen um- und übergreifende einheitliche Paulustradition. Ihrem eigenen Selbstverständnis nach enthalten die Pastoralbriefe nicht Paulustradition, sie sind dies vielmehr, insofern sie mit dem Anspruch auftreten, von Paulus für ihre eigene Gegenwart formulierte und deswegen verbindliche Inhalte zu vermitteln.«3

Paulus stehe  – vor allem von 1 Tim 1,15 f. her  – als »Norm am Anfang«, welche die paulinische Traditionslinie der Pastoralbriefe als solche bestimmt, insofern sie diese Tradition zugleich repräsentieren.4 Während sich nach Wolter der Begriff »Paulusrezeption« auf den »Bestand von literarisch oder mündlich vermittelten, auf Paulus zurückgehenden Traditionen« beziehe, sei »Paulustradition« (im Singular) demgegenüber als »die faktische Bestimmtheit der theologischen Identität des Verfassers der Pastoralbriefe und seiner Gemeinde durch Paulus als den Archegeten dieser Tradition« zu beschreiben.5 Paulusrezeption kann somit definiert werden als die Entfaltung des in den Briefen des Apostels überlieferten Sinnpotentials unter veränderten geschichtlichen, ekklesiologischen und theologischen Bedingungen. An die grundlegende Unterscheidung Wolters gilt es einerseits anzuknüpfen, andererseits ist sie weiter zu differenzieren, zumal sich das dieser Perspektive zugrundeliegende Paradigma der Pastoralbriefe als eines Corpus pastorale (meines Erachtens jedenfalls) nicht als tragfähig für eine Gesamtsicht der Pastoralbriefe erwiesen hat.6

1.  Der methodische Rahmen der Fragestellung Aus dem bisher Gesagten ergibt sich zunächst die Frage, ob die Rezeption von Paulusbriefen sowie die durch diese Rezeption geprägten Positionen und Überlieferungen durch den Bezug zu Paulus selbst zu Paulustradition werden oder davon zu unterscheiden sind.7 Die bereits angedeutete Unschärferelation in der Begrifflichkeit und in der Sache tritt umso deutlicher hervor, je weiter die Differenzierung zwischen Tradition und Rezeption in das Korpus der Schriften hineinreicht, die unter dem Namen des Paulus überliefert sind. Ein Spezialfall dieser Unschärferelation zwischen Tradition und Rezeption ist die Beurteilung der Autorzuschreibung als Pseudonym. Damit ändert sich die Perspektive, und die Größen »Tradition« und »Rezeption« werden in ihrem Verhältnis zueinander neu bestimmt. Sie stehen einander nicht mehr gegenüber als Ursprung und Wirkung, sondern treten in ein wechselseitiges Referenzsystem, das gleichsam durch eine intrapau3 

A. a. O., 96. A. a. O., 99–102.114 f. 5  A. a. O., 11 Anm. 3. 6  Vgl. dazu grundlegend Engelmann, Untersuchungen; Herzer, Mythos (in diesem Band 77–97). 7  Exemplarisch dafür ist z. B. die Diskussion um den paulinischen Charakter des 1.  Petrusbriefes; vgl. dazu Herzer, Petrus, hier 2–21. 4 

Paulustradition und Paulusrezeption in den Pastoralbriefen



157

linische Rezeption paulinischer Tradition die Koordinaten der extrapaulinischen Rezeption verschiebt. Das Profil der letzteren ist nämlich davon abhängig, ob sie die (mutmaßliche) innerpaulinische Rezeption als solche wahrnimmt und Paulus von »Paulus« unterscheiden kann. De facto kann dies für die kanonisch gewordenen pseudepigraphischen Paulusbriefe nicht vorausgesetzt werden. Weil und insofern die unter falschem Namen Schreibenden, die diesen Prozess der innerpaulinischen Rezeption bewusst instrumentalisieren,8 sind deren Texte als Paulustexte rezipiert worden. In der Forschung ist diese Problematik eindrücklich repräsentiert durch Arbeiten wie die von Annette Merz9 oder auch Michael Theobald.10 Beide haben die fiktionale Selbst­referentialität der die Paulustradition rezipierenden Autoren der Pastoralbriefe so beschrieben, dass diese sich selbst in die Paulustradition einschreiben, obwohl sie damit gleichsam »Paulus gegen Paulus«11 aufstellen und unter falschem Namen nur mehr eine Lesart paulinischer Überlieferung bieten, keine Tradition im ursprünglichen Sinn. Dass es dabei – wie apokryphe Schriften zeigen – mitunter auch sehr phantasievoll zugehen kann, ist hinreichend bekannt.12 Um das Problem an dieser Stelle in einer Frage zuzuspitzen: Was unterscheidet eigentlich eine Paulusrezeption unter dem Namen des Paulus von einer Paulusrezeption, die nicht unter dem Namen des Paulus erfolgt? Beide beanspruchen seine Autorität, aber die unterschiedliche Weise, in der das geschieht, zwingt dazu, die Rezeptionsweisen intertextuell und wohl auch sachlich (hinsichtlich der Entsprechung zu Paulus) und ideologisch (hinsichtlich der Legitimität des damit verbundenen Anspruches) voneinander zu unterscheiden. Ist also »Rezeption« immer schon Teil von Tradition und somit dem Begriff »Tradition« bereits inhärent? »Tradition« wäre dann als ein dynamischer Prozess und nicht oberflächlich als ein statischer Ausgangspunkt für verschiedene Arten von Rezeption zu verstehen, angefangen von theologisch bemühter Paulus­interpretation über ideologisch motivierten Missbrauch seiner Äußerungen bis hin zu Korrektur und Widerspruch. All das lässt sich in der Überlieferung aufzeigen und prägt auch die Forschung an den Pastoralbriefen. »Tradition« ist vor diesem Hintergrund zu verstehen als ein Prozess, der interne Rezeption im Sinne der authentischen Selbstreferentialität einschließt und auf eine externe Rezeption im Sinne einer fiktiven, pseudonymen Selbstreferentialität sowie einer authentisch-nichtpaulinischen Referentialität hin ausgerichtet ist. Damit ist ein zweites Problem aufgeworfen, das sich mit den Begriffen »Tradition« und »Rezeption« verbindet und insbesondere im Hinblick auf die Erklärung und Plausibilisierung des pseudonymen Charakters der Pastoralbriefe bedeutsam 8 

Vgl. dazu etwa Janssen, (Selbst-)Aussagen, 125–179. Vgl. z. B. Merz, Selbstauslegung; dies., Amore Pauli. 10  Vgl. z. B. Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit; vgl. weiterhin ders., Alt und Neu; ders., Werden. 11  Vgl. für die Pastoralbriefe die kurze Problemanzeige bei Theobald, Paulus; für Kolosserund Epheserbrief vgl. Hüneburg, Paulus, sowie für den 2.  Thessalonicherbrief Lindemann, Abfassungszweck. 12  Vgl. z. B. MacDonald, Legend; Lau, Enthaltsamkeit. 9 

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

ist, nämlich die Frage nach der Existenz, dem Profil und der mutmaßlichen Funktion einer Paulusschule. Dahinter steht  – vielfach in Anlehnung an das Vorbild antiker Philosophenschulen13 – die Vorstellung, dass Tradition auf einen engeren Trägerkreis zu beschränken sei, der sich über einen gewissen, am »jüngeren« Rand freilich ebenfalls kaum präzise zu bestimmenden Zeitraum hinweg in seinem Bezug auf eine führende Persönlichkeit konstituiert und auch über deren Tod hinaus in der Pflege des Erbes produktiv bleibt.14 Auch hier spielen die genannten Aspekte der internen und externen Rezeption in ihren differenzierten Referentialitäten eine Rolle. Dennoch ist die Erklärung pseud­onymer Paulusschriften und Paulusliteratur mit dem Modell der Schulbildung nicht unproblematisch. Das liegt nicht nur daran, dass die Annahme einer Paulusschule oft ein unterbestimmtes Verhältnis von »Tradition« und »Rezeption« voraussetzt, indem der »authentische« Paulus als Ursprungsrelation der Tradition verstanden wird, von der herkommend die »Paulusschule« als ein ebenso abgeschlossener Raum der Traditionspflege erscheint, durch deren Rezeption Paulus überhaupt erst zu einer Tradition im genannten Sinn wird. Doch ist ein solcher Trägerkreis nicht oder nur in undeutlichen Konturen auszumachen, weshalb etwa Marco Frenschkowski die Frage nach einer Paulusschule relativierend mit dem Hinweis auf eine mehr oder weniger zufällige literarische Tätigkeit des ehemaligen Missionsteams des Apostels beantwortet hatte.15 Unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten ist unter dem Begriff »Paulusschule« zumeist eine (relativ) geschlossene und inhaltlich einheitlich orientierte Gruppe vorgestellt.16 Allerdings hat sich inzwischen gezeigt und auch als Erkenntnis durchgesetzt, dass genau dies aus den mutmaßlich pseudonymen Exemplaren der Paulusbriefe gerade nicht abgeleitet werden kann. Nicht nur vermittelt etwa der 2. Timotheusbrief selbst ein Bild der personellen Zerstreuung bis hin zur Entzweiung des potentiellen Trägerkreises einer Paulustradition.17 Bekanntermaßen spiegeln auch der 2. Thessalonicherbrief in seinem oft beschriebenen Konkurrenzverhältnis zum 1. Thessalonicherbrief18 sowie der Epheserbrief in seinem ähnlichen Verhältnis zum gleichermaßen als pseudonym geltenden Kolosserbrief19 alles an13 Vgl. Alexander, Paul; Vegge, Paulus, hier 498 f. Vegge versucht darin anhand der Parallelen zu antiken Schulen zu begründen, dass die Paulusbriefe »im Rahmen einer von Paulus selbst gestifteten Schule verfaßt« worden seien (a. a. O., XV ). 14 Vgl. Schmeller, Schulen, der insgesamt im Blick auf die Existenz einer von Paulus gegründeten Schule deutlich vorsichtiger argumentiert. 15 Vgl. Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule; vgl. auch Schenke, Weiterwirken; Müller, Anfänge, bes. 325. 16  Vgl. zum Ganzen Conzelmann, Schule, 85–96; eher kritisch Schmeller, Schulen. 17 S.  u. 2. Anders etwa Schnelle, Einleitung 2013, 52: »Nachdrücklich bestätigen die Deuteropaulinen (Kol, Eph, 2 Thess, Past) die Existenz einer über den Tod des Apostels hinaus existierenden Paulusschule. Dieser Nachlass von vier Paulusschülern verdeutlicht, wie das Erbe der paulinischen Theologie in einer veränderten Situation weitergepflegt und angewandt wurde.« Weniger konturiert z. B. Wischmeyer (Hg.), Paulus, 347: »Paulus wirkte als schreibender Apostel ›schulbildend‹ und theologiebildend« (im Original kursiv). 18  Vgl. bes. Lindemann, Abfassungszweck, sowie bereits Hilgenfeld, Briefe, und Holtzmann, Thessalonicherbrief. 19 Vgl. Hüneburg, Paulus.



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dere als ein homogenes Bild einer Paulusschule, auf deren Fahnen die Bewahrung des paulinischen Erbes stünde. Vielmehr sehen wir ein Bild des Zerfalls der Paulusgruppe vor uns – bis hin zum offenen Widerspruch gegen den Apostel und seine Rezeption durch »andere«, uns weitgehend Unbekannte und anonym Bleibende, gegen die umso heftiger polemisiert wird.20 Damit sind in groben Strichen einige Rahmenbedingungen abgesteckt, unter denen nun materialiter nach der Weise der Paulusrezeption in den Pastoralbriefen gefragt werden soll. Mir geht es im Folgenden nicht einfach darum, literarische oder thematische Bezüge der Pastoralbriefe auf die übrige Paulusüberlieferung zu identifizieren. Das ist vielfach versucht worden, mit durchaus unterschiedlichem Erfolg und zum Teil sehr strittigen Ergebnissen. Angesichts der Bedeutung, welche die Pastoralbriefe für die traditionsgeschichtliche Identifizierung einer Paulustradition und Paulusschule haben, ist die eher marginale und kaum eindeutig erkennbare Rezeption von Paulusbriefen immer auffällig gewesen. Demgegenüber tritt, wie es Heinrich Julius Holtzmann einst pointiert charakterisiert hatte, »das plötzlich veränderte, bedeutend niederer gestellte Niveau der ganzen Denkart« der Pastoralbriefe deutlich zu Tage.21 Diese Einschätzung war im 19. Jahrhundert – cum grano salis und nicht immer so deutlich formuliert  – auch letztlich der Grund für ihre Beurteilung als pseudepigraphische Schriften. Doch ist dies auch eine Frage der Perspektive, und soll hier nicht weiter erörtert werden.22 Worauf es vielmehr ankommt, ist die Frage, wie sich die Pastoralbriefe gemäß dem skizzierten dynamischen Paradigma von Traditionsbildung in der wechselseitigen Durchdringung von Tradition und Rezeption in der Paulusüberlieferung beschreiben, verstehen und verorten lassen bzw. wo innerhalb dieser Überlieferung sie jeweils ihren genuinen Platz haben und ob sich Spuren einer bereits über die Paulustradition hinausgehenden Rezeption anderer frühchristlicher Traditionen erkennen lassen. Folgt man der eingangs benannten Definition der »Pastoralbriefe als Paulustradition« von Wolter, wonach der Begriff »Tradition« die grundlegende Bestimmung einer Schrift oder Schriftengruppe von einer sie prägenden autoritativen Größe bezeichnet, dann wird die Bestimmung der Pastoralbriefe als Paulustradition insofern problematisch, als ihr Verhältnis zu Paulus – zumindest unter pseudepigraphischem Vorzeichen – nicht mehr im Sinne von Tradition verstanden werden kann, sondern bereits als Paulusrezeption zu beschreiben ist. Der pseudonyme Anspruch, selbst Teil der Paulustradition zu sein, stünde dann gegen die literarhistorische Realität. Auch sollte – um Missverständnisse zu vermeiden – im Hinblick auf die Bezugsgröße von Rezeption nicht einfach der Plural »Traditionen« verwendet, sondern besser von »Überlieferung« gesprochen werden, weil im beschriebenen Sinne nicht 20  Diese widersprüchliche Paulusrezeption gleichsam auf der ganzen Linie spricht bekanntlich der 2 Petr offen an (3,16: οἱ ἀμαθεῖς καὶ ἀστήρικτοι στρεβλοῦσιν ὡς καὶ τὰς λοιπὰς γραφὰς πρὸς τὴν ἰδίαν αὐτῶν ἀπώλειαν), vgl. dazu Frey, Brief des Petrus, hier 361–363. Zum Phänomen der Polemik vgl. z. B. Mell/Tilly, »Gegenspieler«. 21  Holtzmann, Pastoralbriefe, 60. 22 Vgl. Herzer, Fiktion, bes. 490–513 (in diesem Band 31–76).

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eine Tradition »rezipiert« werden kann, sondern nur ihre Ausprägungen in konkreten schriftlichen (oder gegebenenfalls auch mündlichen) Überlieferungen. Darüber hinaus lassen sich in der Art und Weise der Rezeption von Überlieferungen in den Pastoralbriefen markante Unterschiede aufzeigen, wonach das von Wolter gezeichnete Bild einer »übergreifende[n] einheitliche[n] Paulustradition« kaum in dieser Weise überzeugend bleibt. Dies gilt umso mehr, als konkret danach zu fragen ist, was in den Briefen jeweils als die »weiterzureichende Tradition«23 – bzw. unter dem Stichwort παραθήκη besser: Überlieferung – identifiziert und wie das Verständnis eines Traditionsprozesses durch Rezeption beschrieben werden kann. Dies kann im Folgenden nur exemplarisch geschehen, wobei der Begriff und das Konzept von παραθήκη sachgemäß einen sinnvollen Ausgangspunkt bilden. Das impliziert zugleich eine Konzentration auf den 1. und 2.  Timotheusbrief, da das entsprechende Lexem im Titusbrief nicht vorkommt.24

2.  »Alle haben mich verlassen« (2 Tim 4,16) – Die Trägerkreise der Paulusrezeption oder: Kontinuität und Diskontinuität in der Paulustradition Bevor der in diesem Zusammenhang wichtige Begriff der παραθήκη und seine signifikanten Ausprägungen in den Pastoralbriefen in den Blick genommen werden, ist ein weiterer grundsätzlicher Aspekt zu bedenken. Der 2. Timotheusbrief ist als ein testamentarischer Brief konzipiert25 und dadurch in einem noch höheren Maße als der 1. Timotheus- und der Titusbrief prädestiniert für Hinweise auf eine Paulustradition und eine entsprechende Rezeption paulinischer Überlieferung. Unter den Voraussetzungen einer pseudonymen Abfassung würde man genau das erwarten: Wenn der Brief in einer – wie auch immer zu beschreibenden – Paulusschule entstanden und aus deren Perspektive als ein fiktives Testament des Paulus gestaltet ist, dann wäre es ausgesprochen verwunderlich, wenn in diesem Testament zum einen die Schule des Paulus als eine traditionstragende Institution nicht entsprechend etabliert oder zumindest als eine fiktionale Größe repräsentiert wäre und zum anderen nicht Paulus selbst mit Verweis auf von ihm überlieferte Inhalte oder Themen zu Wort käme. Davon kann jedoch kaum die Rede sein. Es ist vielfach und zu Recht darauf hingewiesen worden, dass unter religionssoziologischen Gesichtspunkten gerade 23 

Wolter, Pastoralbriefe, 98. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Befund, dass das im 1 Tim mit dem Lexem παραθήκη κτλ. (1,18: παρατίθημι, 6,20: παραθήκη) korrespondierende und für den Brief genretypisch charakteristische Lexem παραγγέλλω κτλ. (1,3.5.18; 4,11; 5,7; 6,13.17; s. u.) weder im Tit noch im 2 Tim vorkommt, obwohl ersterer im Genre mit 1 Tim vergleichbar ist und letzterer zweimal den Begriff παραθήκη (1,12.14) und einmal das entsprechende Verbum παρατίθημι (2,2) verwendet. 25  Vgl. dazu Wolter, Pastoralbriefe, 222–241, 236: »testamentarische Mahnrede«; Weiser, Freundschaftsbrief. 24 



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vom 2.  Timotheusbrief her alles andere als der Eindruck entsteht, dass es eine verlässliche Gruppe gegeben hätte, die sich der Bewahrung und Weitergabe der Paulustradition verpflichtet wüsste. Die pointierte und sicher übertriebene Aussage in 2 Tim 4,16, »alle« hätten Paulus verlassen, liefe einem solchen Anliegen deutlich zuwider. Im Kontrast zu dem alleingelassenen Apostel wird an den Personalnotizen in 2 Tim 4,10–13 umso deutlicher erkennbar, dass die potentiellen Träger der Paulustradition schon aufgrund ihrer räumlichen Zerstreuung kaum so etwas wie eine Paulusschule repräsentieren können; zumal im Sinne der forschungsgeschichtlich maßgeblich gewordenen Auffassung von der Existenz eines solchen Trägerkreises mit Sitz in Ephesus.26 Man kann dies – wie das gelegentlich versucht wurde – unter bestimmten Voraussetzungen positiv deuten als Indiz für ein »Netzwerk« von Personen, welche die paulinische Tradition und ihre weite Verbreitung repräsentieren.27 Aber das wäre in der Form, wie es der 2. Timotheusbrief nahelegt, ein anderes Traditionsbild als das einer Schule zum Zwecke der Traditionsbewahrung. Nun könnte man meinen, dass die Fokussierung der Frage nach der Gestalt einer Paulusschule auf den 2. Timotheusbrief dadurch obsolet wird, dass gemäß der verbreiteten Sichtweise alle drei Briefe im Sinne des Corpus pastorale und von daher in ihrer komplementären Verweisstruktur in diese Betrachtung einzubeziehen seien. Doch damit würde das Bild nur umso spannungsreicher und erst recht inkohärent. Auf Ephesus als Sitz einer paulinischen Gruppe oder gar Paulusschule im Sinne einer stabilitas loci, in Verbindung mit der Mahnung zur Abwehr falscher Lehren selbsternannter »Gesetzeslehrer« (1 Tim 1,7) sowie dem Auftrag zur Konsolidierung einer göttlich-ökonomischen Ordnung, verweist einzig der 1.  Timotheusbrief. Der Titusbrief, der im Unterschied zum 2.  Timotheusbrief schon aufgrund des Genres sehr viel enger mit dem 1. Timotheusbrief verwandt ist, bringt diesen Aspekt überhaupt nicht zur Sprache. Im Gegenteil: Er gibt Anweisungen zur Etablierung von Aufsichtsinstanzen auf einer Insel, auf der Paulus nie missionarisch tätig war, ohne konkrete Aspekte einer Gemeindeordnung zu nennen. Die knappen, haustafelähnlichen Ermahnungen über das Zusammenleben von verschiedenen Generationen in der Gemeinde in Tit 2,2–10 sind mit den Ordnungsstrukturen des 1. Timotheusbriefes nicht im Ansatz vergleichbar.28 Und schließlich sind die ebenso knappen und pragmatischen Bemerkungen zu hin und her reisenden Mitarbeitern in Tit 3,12–14 alles andere als indirekte Hinweise auf eine vernetzte Paulusschule mit einem lokalen Zentrum, die als stabiler Trägerkreis für eine Paulustradition infrage käme.

26  Vgl. etwa Schnelle, Paulus, 146: »Paulus war zweifellos der überragende Theologe seiner Zeit, der in eigenständiger Weise eine neue und wirkungsmächtige Theologie entwickelte. Zugleich entstammte er einer Schultradition und gründete selbst eine Schule, von der die Proto- und Deuteropaulinen in unterschiedlicher Weise Zeugnis ablegen.« Als Sitz der Paulusschule biete sich Ephesus an (a. a. O., 152, im Anschluss an H. Conzelmann). 27 Vgl. Weiser, 2 Tim, 327 f.; Engelmann, Untersuchungen, 531. 28 Vgl. Herzer, House of God (in diesem Band 273–291).

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3.  »Bewahre die gute Überlieferung« (2 Tim 1,14) – Das Selbstverständnis der Pastoralbriefe im Blick auf Rezeption und Bewahrung des paulinischen Erbes Als Ausgangspunkt für die Untersuchung der Überlieferungs- bzw. Traditionsbegrifflichkeit in den Pastoralbriefen sei hier erneut an Michael Wolter angeknüpft: »Das Proprium des Traditionsverständnisses der Pastoralbriefe wird durch den aus dem antiken Depositalrecht stammenden Begriff παραθήκη markiert.«29 Vor dem Hintergrund der notwendigen terminologischen Differenzierung markiert diese prägnante Formulierung Wolters zunächst ein weiteres Problem. Fragt man nach der Rezeption paulinischer Überlieferung in den Pastoralbriefen, dann kommt dem Begriff παραθήκη tatsächlich eine Schlüsselfunktion zu. Ein Problem ist das insofern, als mit diesem Begriff inhaltlich etwas bezeichnet wird, was nicht ohne Weiteres mit den Pastoralbriefen identisch sein kann, sondern worauf sie vielmehr verweisen. Versteht man aber wie Wolter die Pastoralbriefe selbst in ihrem literarisch-pseudepigraphischen Anspruch als Repräsentation der Paulustradition, dann fragt sich, was konkret der Begriff παραθήκη bezeichnen sollte bzw. worauf konkret er sich bezieht. Die Pastoralbriefe als Paulustradition können dieser Bezugspunkt der internen Logik nach zunächst nicht sein. Auch die Gattungsmerkmale der Pastoralbriefe legen dies nahe: Die an die mandata principis angelehnte Form des Titusbriefes und des 1. Timotheusbriefes30 sowie das testamentarische Genre des 2. Timotheusbriefes machen die Annahme wahrscheinlich, dass die παραθήκη nicht die Briefe selbst sind, sondern etwas, für dessen Bewahrung und Sicherung sie die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen formulieren. Sich dies klar zu machen, ist deshalb von Bedeutung, weil dadurch der Begriff παραθήκη für die Frage nach der Rezeption paulinischer Überlieferung in den Pastoralbriefen umso wichtiger wird. Wolter hat dies zu Recht auf die Frage zugespitzt: »Was ist der Inhalt der Paratheke: Nur das Evangelium oder die Gesamtheit des in den Pastoralbriefen begegnenden lehrhaften und paränetischen Materials?«31 Während man sich vermutlich recht schnell darauf verständigen kann, dass das Personalpronomen in der Wendung ἡ παραθήκη μου in 2 Tim 1,12 als ein Genitivus subjectivus aufzufassen ist und Paulus als Urheber der Paratheke bezeichnet,32 so ist die Frage nach dem Inhalt der Paratheke nicht einfach zu beantworten. Während manche den Inhalt der Paratheke in den Pastoralbriefen mit dem Evangelium identifizieren,33 ist es z. B. für Wolter dezidiert nicht das Evangelium, sondern »die 29 

Wolter, Pastoralbriefe, 115. Wolter, Pastoralbriefe, 164 f.; Herzer, Papyri, hier 342–346 (in diesem Band 99–124). 31  Wolter, Pastoralbriefe, 116. 32  A. a. O., 116 f. Daher ist παραθήκη in den Pastoralbriefen auch nicht als unpaulinischer Begriff gegenüber dem Begriff παράδοσις anzusehen, den Paulus für ihm überkommene Fremdüberlieferung gebraucht; vgl. dazu a. a. O., 125–128. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. 33  Vgl. z. B. Lohfink, Theologie, hier 96–105, 97: »Die παραθήκη deckt sich materialiter mit dem Evangelium.« 30 Vgl.



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Gesamtheit des in den Pastoralen vorgelegten ›Paulus‹-Gutes«.34 Dass der Inhalt dieses »Paulus-Gutes« unterbestimmt bleibt, ist dabei unschwer wahrzunehmen. Nach Wolter ist dies allerdings »bewußt unpräzise gehalten, weil die Paratheke an sich ein inhaltlich neutraler Interaktionsbegriff [sei]. Sie erhält«, so Wolter, »ihre Normativität nicht durch die ihr beigelegten Inhalte, sondern allein dadurch, daß sie unabhängig von jeglichen Inhalten eben Paratheke ist.«35 Diese Bestimmung von Paratheke unabhängig von jeglichen Inhalten scheint mir allerdings am Befund in den Pastoralbriefen selbst zu scheitern.36 Bemerkenswert ist zunächst, dass Wolter den Paratheke-Begriff vom 1. Timotheusbrief her definiert. Wenn es zu Beginn des Briefes in 1 Tim 1,18 heißt: ταύτην τὴν παραγγελίαν παρατίθεμαί σοι, τέκνον Τιμόθεε, und am Schluss in 6,20 dieser Gedanke verbunden mit der wiederholten vokativen Namensnennung in der Mahnung ὦ Τιμόθεε, τὴν παραθήκην φύλαξον erneut aufgegriffen wird, dann kann man in der Tat zu Recht davon ausgehen, dass damit der Brief selbst im Sinne einer παραγγελία  – einer »Anordnung« oder »Verordnung« – als Paratheke aufgefasst und gekennzeichnet wird. παραγγελία wird damit metonymisch gleichbedeutend mit jener ἐντολή, von der in 1 Tim 6,14 die Rede ist und den ganzen Brief bzw. dessen Inhalte als solche charakterisiert.37 Nicht zuletzt diese Rahmenstellung der Begriffe legt ein solches Verständnis von Paratheke im 1.  Timotheusbrief nahe. Zudem wird der Unterschied zum Titus- und zum 2.  Timotheusbrief dadurch markiert, dass das Lexem παραγγέλλω κτλ. in diesen Briefen nicht vorkommt.38 Schon dieser formale Aspekt lässt Zweifel aufkommen, dass die für den 1. Timotheusbrief signifikante Bedeutung von παραθήκη auch für die Pastoralbriefe insgesamt gelten könne. Obwohl es auch im Titusbrief in der Sache um die »gesunde Lehre« geht, spielt darin weder παραθήκη eine Rolle noch kommt der Wortstamm φυλασσ- vor. Auch die zweimalige Verwendung des Begriffes παραθήκη im 2. Timotheusbrief ist nicht einfach mit derjenigen im 1.  Timotheusbrief kompatibel. Wenn der 2. Timotheusbrief tatsächlich eine testamentarische Funktion hat, dann ist die Verwendung gerade dieses Begriffes genrebedingt zu erwarten, ohne das damit gleich eine literarische Strategie verbunden sein muss. Anders als im 1. Timotheusbrief und anders als in der Forschung behauptet, bezieht sich der Begriff παραθήκη im 2. Timotheusbrief jedoch nicht auf den Brief selbst, auch nicht auf die 34  Wolter, Pastoralbriefe, 118, im Anschluss an und hier als Zitat von Wegenast, Verständnis, 150. Schnelle, Einleitung 2013, 419 f., kann beides miteinander verbinden: »Das Evangelium erscheint in den Pastoralbriefen als παραθήκη, als der kostbarste Schatz der Kirche (vgl. 1 Tim 6,20 f.; 2 Tim 1,12.14). [… D]arüber hinaus bezeichnet aber παραθήκη die Gesamtheit dessen, was in den Pastoralbriefen als Verkündigung und ethische Unterweisung den Gemeinden aufgetragen wird.« 35  Wolter, Pastoralbriefe, 119. 36  Zum Problem vgl. Lohfink, Theologie, 98 f. 37  Wolter, Pastoralbriefe, 118 f.; anders etwa Roloff, 1 Tim, 352: »Nach alledem kann mit der ἐντολή nur der in der Ordination vermittelte Amtsauftrag gemeint sein.« Das aber ist eine zu starke Verkürzung und berücksichtigt zu wenig die pseudepigraphisch zu bestimmende literarische Funktion des Briefes, in dem es um deutlich mehr geht als nur die Ordination. Vgl. auch Oberlinner, 1 Tim, 296 f. 38  Zum Befund s. o. Anm. 24.

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Pastoralbriefe oder eine Paulusbriefsammlung. Die beiden relevanten Belege finden sich im ersten Kapitel (2 Tim 1,12.14) und werden am Anfang von Kapitel 2 mit der verbal formulierten Anweisung aufgenommen, Timotheus solle das von Paulus Gehörte – wie es von vielen anderen auch bezeugt und bestätigt werden kann (ἃ ἤκουσας παρ᾿ ἐμοῦ διὰ πολλῶν μαρτύρων, 2 Tim 2,2)39 – an verlässliche und zur Lehre im Sinne dieses Gehörten befähigte Menschen weitergeben. Schon diese verbale Formulierung spricht gegen einen rein technischen Gebrauch des Nomens παραθήκη im Sinne eines Depositums, weil dies der personalen Dynamik in Bezug auf den Inhalt und die Weitergabe des Gehörten kaum gerecht würde. Signifikant dabei ist, dass explizit auf das Gehörte und nicht etwa auf Geschriebenes abgehoben wird, was unter pseudepigraphischer Perspektive und unter der Vorgabe von 1 Tim 1,18 und 6,20 (wie oben beschrieben) zumindest ungewöhnlich und erklärungsbedürftig wäre. Der Unterschied zwischen dem Bezug des ParathekeBegriffes im 1. Timotheus- und im 2. Timotheusbrief besteht also darin, dass er im 1. Timotheusbrief den Brief und seine Anordnungen selbst umfasst, während er im 2. Timotheusbrief auf eine briefexterne Größe bezogen ist. Die Korrelation der beiden Belege von παραθήκη in 2 Tim 1,12.14 mit dem Imperativ παράθου in 2,2 macht es somit unwahrscheinlich, dass der Brief selbst als Inhalt der Paratheke gedacht ist. Die Aufforderung zur Bewahrung der »guten Überlieferung« (ἡ καλὴ παραθήκη) in 1,14 steht inhaltlich parallel und damit synonym zur Aufforderung in 1,13: Ὑποτύπωσιν ἔχε ὑγιαινόντων λόγων ὧν παρ᾿ ἐμοῦ ἤκουσας. Wie in 2,2 so geht es auch hier um das, was Timotheus von Paulus gehört hat. Seine Paratheke (1,12: ἡ παραθήκη μου) wiederum, von der Paulus überzeugt ist, dass Gott selbst sie »bis zu jenem Tage« bewahren kann und wird, kann sich vom Kontext her nur auf das Evangelium des Apostels beziehen, auf das er in 1,8 seinen Schüler hingewiesen hat, das er in den Versen 9–10 in nuce zusammenfasst, dessen Verkündiger er selbst ist (V. 11) und das damit auch zum Inhalt des zu bewahrenden Erbes wird. Dem entsprechend kann Paulus in 2,8 erneut auf »sein Evangelium« (τὸ εὐαγγέλιόν μου) verweisen. Ohne hier einen literarischen Zusammenhang ausmachen zu können, erinnert dies kaum zufällig an den Anfang des Römerbriefes, wo Paulus nicht nur eben dieses Evangelium selbst programmatisch entfaltet (Röm 1,3–5.16 f.), sondern die von ihm verkündigte Botschaft explizit als »sein Evangelium« (im Unterschied zu anderen Weisen der Verkündigung) 39  Hier geht es um Zeugenschaft in jenem Sinne, wie es Paulus in 1 Thess 2,10 im Hinblick auf die Gemeinde in Thessaloniki formuliert hatte: Zur Bestätigung der Richtigkeit von etwas – nämlich dessen, was Timotheus von Paulus gehört hat; vgl. zur Wendung Num 35,30 (διὰ μαρτύρων φονεύσεις τὸν φονεύσαντα); Philo, Post. 96 (πρᾶγμα δοκιμάζεται διὰ τριῶν μαρτύρων); Philo, Det. 138 (ἐπιδεδειχότες […] διὰ μάρτυρος ἀψευδεστάτου Μωυσέως). Es geht daher auch nicht darum, dass Timotheus das Gehörte »in Gegenwart vieler Zeugen« (so die Übersetzung in Bauer/ Aland/Aland, Wörterbuch, 361, s. v. διά III.2.a) vermittelt bekam; vgl. auch Neudorfer, 2 Tim, 118 f.; eine 2 Tim 2,2 vergleichbare Bedeutung könnte vorliegen in Philo, Legat. 187 (οὐ γὰρ ἕνεκα τοῦ διὰ μαρτύρων κλαίειν). Bei einem solchen Verständnis wäre in 2 Tim 2,2 aber eher eine Formulierung wie in 1 Tim 6,12 zu erwarten: ἐνώπιον πολλῶν μαρτύρων, hier bezogen auf das Ablegen eines Bekenntnisses. Damit ist auch die vielfache Suche nach konkreten Situationen, in denen Timotheus vor Zeugen etwas empfangen haben könnte, gegenstandslos.

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bezeichnet hatte (Röm 2,16).40 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die konstitutive Bedeutung des Hörens bei der Verkündigung, aus dem heraus Glauben entsteht, wie es Paulus in Röm 10 entfaltet (vgl. bes. Röm 10,17). Und schließlich korrespondiert damit die Kritik im 2. Timotheusbrief, dass manche sich nach ihren eigenen Bedürfnissen Lehrer »aufbürden«, die »das Hören angenehm machen« (κνηθόμενοι τὴν ἀκοὴν) und die Aufmerksamkeit des rechten Hörens von der Wahrheit abwenden (2 Tim 4,3 f.). Gegenüber diesem dynamischen, konsequent auf das Hören ausgerichteten Verständnis im 2. Timotheusbrief hat der Begriff εὐαγγέλιον in 1 Tim 1,11 als dem einzigen Beleg im 1. Timotheusbrief41 eine signifikant andere Funktion und Konkretion als das »Evangelium der Herrlichkeit des großen Gottes« im Kontext der gleichsam hagiographisch zu nennenden Vorstellung des Paulus als des Prototypen des begnadigten Sünders (1,12–17).

4.  Rezeption und Transformation der Überlieferung Nach den grundsätzlichen Überlegungen zum Thema gilt es, exemplarisch einige konkrete Aspekte von Rezeption paulinischer Überlieferung zu benennen, und zwar im Hinblick auf die Paratheke-Vorstellungen im 1. und 2.  Timotheusbrief. Auch im Titusbrief sind natürlich Anklänge an andere Paulusüberlieferungen zu erkennen, jedoch ohne wahrnehmbare Abhängigkeiten direkter literarischer Art.42 1. und 2. Timotheusbrief sind jedoch die beiden Briefe, die die Perspektive von Überlieferung und Bewahrung durch den Begriff der παραθήκη ausdrücklich signalisieren und damit eben auch die Leserinnen und Leser direkt auf diese Verbindung hinweisen – wenn auch je in verschiedener Weise. Das Fehlen dieses Begriffes im Titusbrief signalisiert, dass er für diesen Brief und sein Anliegen keine Bedeutung hat. Da der Titusbrief und der 2. Timotheusbrief nicht erkennen lassen, dass sie ihre apostolische Autorität anders konstituieren als durch den Bezug auf den Apostel als Verfasser, ist eine explizite Rezeption paulinischer Überlieferung auch nicht zu 40 Vgl.

Weiser, 2 Tim, 167 f.; Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, hier 362–365. Im Tit fehlt der Begriff erneut gänzlich. 42  Insbesondere auf die Nähe des Präskriptes des Tit zum Röm ist immer wieder hingewiesen worden, vgl. Oberlinner, Titus, 1 f.; Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, wonach der Verfasser des Corpus pastorale allen voran den Röm (neben weiteren Paulusbriefen) als bekannt voraussetzt; ähnlich bereits Lohfink, Theologie, 71–79. Bei der Einschätzung solcher intertextueller Relationen bzw. sogenannter Prätextbezüge (direkte literarische Kenntnis, Bekanntheit in der Sache usw.) spielt nicht zuletzt die Gesamtperspektive auf die Pastoralbriefe eine entscheidende Rolle. Zum methodischen Problem vgl. Merz, Selbstauslegung, bes. 5–71. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Prätexten, die dem Verfasser selbst vor Augen stehen und solchen, die er zugleich bei den Leserinnen und Lesern für das Verstehen seines Textes voraussetzt. Letzteres wiederum ist insbesondere für die Interpretation der Pastoralbriefe als Briefroman entscheidend, vgl. dazu – im Anschluss an Pervo, Romancing  – bes. Glaser, Briefroman, sowie jetzt auch Theobald, Von den Presbytern zum Episkopos. Abgesehen von der Rezeptionsproblematik einer briefnovellistischen Absicht sowie der deutlichen Unterschiede der Pastoralbriefe im Hinblick auf die für die Briefromantheorie wichtigen Analogien antiker Briefsammlungen und ihrer Genremerkmale, ist altertumswissenschaftlich die Existenz einer Gattung des Briefromans umstritten, vgl. Luchner, Pseudepigraphie. 41 

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erwarten. Das gilt – unter dem erwähnten fiktiven Vorzeichen – im Prinzip auch für den 1. Timotheusbrief. Im Prinzip deshalb, weil der 1. Timotheusbrief in seiner Paulusrezeption erkennen lässt, dass der 2. Timotheus- und der Titusbrief bereits zum Überlieferungsbestand hinzugehören. Bei der Suche nach Bezügen einzelner Verse und Textteile der Pastoralbriefe zu Stellen aus anderen Paulusbriefen sind unter dem Vorzeichen der »fiktiven Selbstauslegung«43 viele und zum Teil recht gegensätzliche Beobachtungen gemacht worden. Im Einzelnen sind solche Bezüge nicht mehr oder weniger signifikant als es Bezüge thematischer, begrifflicher und motivischer Art zwischen den anerkanntermaßen authentischen Paulusbriefen auch sind.

4.1  Paulusrezeption im 1. Timotheusbrief Drei signifikante Bereiche der Paulusrezeption werden hier in der gebotenen Kürze herausgegriffen: a) die Rezeption genretypischer Elemente im Hinblick auf die literarisch-strategische Anlage des Briefes; b) die hagiographische Rezeption biographischer Aspekte; sowie c) die Rezeption, Transformation und Konzeptualisierung der paulinischen Ökonomie-Thematik. Hervorzuheben wäre darüber hinaus auch als Besonderheit des 1. Timotheusbriefes, dass er neben z. T. wörtlichen Anklängen an paulinische Texte (etwa in 5,18a an 1 Kor 9,9, vielleicht sogar unter dem Vorzeichen der Rezeption des Prätextes als »Schrift«; auch wenn hinter beiden Stellen Dtn 25,4 als Referenztext erkennbar ist) auch explizit traditionsexterne Überlieferung in Gestalt von Bekenntnisfragmenten rezipiert, worin er sich deutlich von den beiden anderen Briefen abhebt. Diese traditionsexternen Texte lassen Bezüge zu synoptischer und johanneischer Tradition (2,5 f.; 3,16; 5,18b; 6,15 f.) erkennen. Die Rezeption von Paulusüberlieferung im 1. Timotheusbrief erfolgt also bereits in einem weiteren traditionsgeschichtlichen Umfeld, in welchem auch für einen sich der Paulustradition zugehörig verstehenden Autor nicht mehr nur die Überlieferungen der eigenen Tradition eine Rolle spielen.44 Spezifisch theologische Texte, die Topoi paulinischer Theologie reflektieren würden wie etwa in 2 Tim 1,9 f.; 2,8–13; Tit 2,11–14; 3,4–7, finden sich in vergleichbarer Weise im 1.  Timotheusbrief erstaunlicherweise nicht. 4.1.1  Rezeption genretypischer Elemente Bereits die gewählte Form des 1.  Timotheusbrief als Mitarbeiterschreiben sowie das dementsprechende Genre des Mandatsschreibens45 erweist sich als zweistufige Rezeption: der pastoralen Briefform des 2. Timotheusbriefes im Blick auf die Adressierung eines Mitarbeiterschreibens verbunden mit dem Namen Timotheus sowie die Verbindung dessen mit der Anlehnung an das Mandatum-Genre des 43 Vgl.

Merz, Selbstauslegung. Herzer, Tradition und Bekenntnis (in diesem Band 247–270). 45  Vgl. oben Anm. 30. 44 Vgl.



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Titusbriefes. Während der Titusbrief in der Form als echter Brief gestaltet ist, mit dem ein Mandat für einen konkreten und zeitlich begrenzten Auftrag vermittelt und legitimiert wird und somit Form und Inhalt einander entsprechen, geht es im 1. Timotheusbrief nicht mehr um ein Mandat in diesem Sinne, sondern vielmehr – wie wir gesehen haben – um eine Paratheke, deren zentraler Inhalt das Modell einer Ordnung der Gemeinde auf der Grundlage ihres Bekenntnisses ist (1 Tim 3,15 f.) und deren Bewahrung als οἰκονομία θεοῦ (so das inhaltliche Vorzeichen in 1,4) dauerhaft aufgetragen wird. Die aufgenommenen Genreaspekte werden also konzeptionell transformiert und einem eigenen Zweck angepasst. Damit verfolgt der Brief eine klare Strategie mit dem Ziel der Konsolidierung bestehender Gemeindestrukturen, und zwar in einem Umfeld, dass gerade nicht mehr ausschließlich als Paulustradition identifiziert werden kann, sondern sich bereits darüber hinausgehenden Herausforderungen durch andere »orthodoxe« wie auch »heterodoxe« Gruppen und Traditionen zu stellen hat.46 Innerhalb dieser auf die Form des Briefes bezogenen Strategie gewinnen die folgenden beiden Themen ihre Bedeutung, und zwar im Hinblick auf die Frage nach der paulinischen Identität im Kontext dieser Herausforderungen sowie im Blick auf den Bestand und das Selbstverständnis einer sich als »paulinisch« verstehenden Gemeinde. 4.1.2  Die hagiographische Rezeption der Paulusbiographie Eine besondere, man kann sogar sagen: einzigartige Weise der Paulusrezeption findet sich in 1 Tim 1,12–17. Biographische Reminiszenzen begegnen verschiedentlich in den Briefen des Paulus. Wenn es um seine vorchristliche Zeit geht, so sind diese zumeist mit einem negativen oder zumindest ambivalenten Vorzeichen versehen (vgl. z. B. Gal 1,13 f.; Phil 3,4–11; 2 Kor 11,21–29).47 Im Blick auf seine Lebenswende ist Paulus mit seinen Aussagen recht zögerlich und zurückhaltend, stellt sich jedenfalls an keiner Stelle selbst als Person so in den Vordergrund, wie dies in 1 Tim 1 geschieht. Selbst dort, wo er sich angesichts von Missständen in der Gemeinde mit starken Worten als Vorbild präsentieren muss und die Gemeinde auffordert, seine »Nachahmer« (μιμήται) zu werden (1 Kor 4,16; 11,1; vgl. 1 Thess 1,6), bezieht sich dies allein auf seinen Lebenswandel in Christus. Auch wenn die »Wende vom Verfolger zum Verkündiger […] ein fester Topos des paulinischen Selbstbildes als Apostel« ist,48 so lässt doch die geradezu als Verklärung im Rückblick zu lesende Betonung der exemplarischen Sündhaftigkeit in seiner vorchristlichen Zeit als Voraussetzung der ebenso exemplarischen Begnadigung in 1 Tim 1,12–17 eine deutlich veränderte Perspektive auf den Apostel erkennen. Paulus selbst hat seine »im Gesetz vollkommene« pharisäische Existenz zwar im Hinblick auf das Chris46  Vgl. dazu näher Collins, Female Body; Herzer, Juden – Christen – Gnostiker (in diesem Band 293–314); ders., Gnosis (in diesem Band 315–339). 47  Vgl. dazu grundlegend Hengel, Der vorchristliche Paulus; Niebuhr, Heidenapostel. 48  Niebuhr, Verfolger, hier 77.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

tusereignis als falsch und als Irrweg erkannt und dies auch mit z. T. heftigen Worten zum Ausdruck gebracht (Phil 3,7 f.). Als ein »Tun in Unwissenheit und Unglauben« (ἀγνοῶν ἐποίησα ἐν ἀπιστίᾳ, 1 Tim 1,13) hat er dies jedoch nie beschrieben.49 Auch wenn Paulus sich im Kontext seiner Lebenswende als ein von Gott Begnadeter verstanden hat (vgl. 1 Kor 15,9 f.; Gal 1,15), als »Prototyp«50 (πρῶτός εἰμι ἐγώ/ὑποτύπωσις) des begnadeten Sünders (1 Tim 1,15 f.) hat er sich selbst nie in den Vordergrund gerückt, ganz abgesehen davon, dass sein »Leben im Judentum« (Gal 1,13),51 das sonst zu diesem Topos genuin hinzugehört, im 1.  Timotheusbrief keine Rolle mehr spielt.52 Selbst der 2.  Timotheusbrief spricht hier (noch) eine erkennbar andere Sprache, insofern Paulus dem engen Mitarbeiter Timotheus gegenüber unter der gemeinsamen Voraussetzung der jüdischen Abstammung auf seinen Dienst für Gott »von den Vorfahren her« hinweist (2 Tim 1,3). Beides – sowohl die jüdische Abstammung als auch der Blick auf die Vergangenheit ohne Hinweis auf die Verfolgertätigkeit – spielt im 1. Timotheusbrief keine Rolle mehr und dies weist darauf hin, dass sich die Perspektive im 1. Timotheusbrief deutlich verändert hat. Darüber hinaus ist die »Begnadigung« in 1 Tim 1 offenbar von Christus aus gedacht, nicht von Gott wie sonst bei Paulus, auch wenn die passivische Form ἠλεήθην (1,13.16) in der Hinsicht nicht ganz eindeutig zu bestimmen ist.53 Es handelt sich also in 1 Tim 1,15 f. um eine personalisierte Rezeption paulinischer Topoi, insbesondere eine »prototypisch« auf den Apostel bezogene Projektion des vor allem im Römerbrief beschriebenen allgemeinen »Unglaubens«, unter den Gott alle Menschen, Juden wie Heiden, eingeschlossen habe, um sich aller zu erbarmen (Röm 11,30–32; vgl. die Argumentation über die Sündhaftigkeit aller in Röm 1–3).54 Im Hintergrund der Explikation seiner Gnadenvorstellungen schwingt 49 Vgl. Brox, Pastoralbriefe, 114; Wolter, Paulus, 61 f. Die in 1 Tim 1,13 vorausgesetzte Verbindung von Unwissenheit und Unglaube führt sachlich in die Nähe der lukanischen Paulusrede auf dem Areopag, wo der Apostel die Zeit der Verehrung falscher Götter als »Zeiten der Unwissenheit« (χρόνοι τῆς ἀγνοίας, Apg 17,30) umschreibt, vgl. auch von Lips, Paulus, 307. Affinitäten zur Apg beobachtet auch Wolter, a. a. O., 62–66, auch wenn er keine direkte Abhängigkeit der Pastoralbriefe von der Apg annimmt. Die Kenntnis der Apg setzen hingegen Hengel/Schwemer, Paulus, 165 f. mit Anm. 666, voraus. Vgl. dazu auch Weidemann, Erbarmen, 94, wonach »gerade die ›autobiographischen‹ Passagen der Pastoralbriefe in enger Anlehnung an wichtige Partien aus dem Römerbrief formuliert sind«. Zum Röm als »Prätext« der Pastoralbriefe vgl. auch Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit. 50  Brox, Pastoralbriefe, 111; Lohfink, Theologie, 79; Wolter, Pastoralbriefe, 61. 51 Vgl. Konradt, Wandel; Sänger, Ἰουδαϊσμός, bes. 166–170. 52  Ob Paulus damit jedoch spezifisch zum »prototypical Gentile sinner« stilisiert wird (so de Boer, Images, hier 363; vgl. auch Engelmann, Paulusbilder, hier 238) ist unwahrscheinlich, da die Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden (anders etwa als im Eph) im 1 Tim nicht thematisiert wird. Das Judentum spielt keine Rolle mehr, daher war es auch nicht nötig, diesen Aspekt der Vergangenheit des Paulus zu berücksichtigen. Für Michael Theobald ist genau dies Anlass, von einer »Israel-Vergessenheit« (s. Anm. 10 und 40) in den Pastoralbriefen zu sprechen. Für den 1 Tim trifft dies sicher zu. 53  So zu Recht von Lips, Paulus, 307. Vgl. auch im Zusammenhang 2 Tim 1,6–14, wo von V. 6 f. her Gott das Subjekt der auf Paulus bezogenen Aussagen in V. 11 f. ist. 54  Anders etwa Johnson, First and Second Letters, 181, der die Aussage deutlich schwächer im Sinne eines »example« interpretiert; vgl. dazu von Lips, Paulus, 309 f. Das entspricht allerdings



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bei Paulus immer auch seine eigene Erfahrung der Gnade Gottes mit, wenn er etwa mit einem ebenso verallgemeinernden wie inklusiven »Wir« in Röm 5,6–11 davon spricht, dass Christus »für Gottlose« (ἄσεβοι, 5,6; vgl. auch 4,5: die Rechtfertigung des Gottlosen) gestorben sei,55 und dies mit der Klimax »als wir noch Schwache (ὄντων ἡμῶν ἀσθενῶν) waren« (5,6), »Sünder waren« (ἁμαρτωλῶν ὄντων ἡμῶν, 5,8), ja sogar »Feinde waren« (ἐχθροὶ ὄντες, V. 10) anschaulich macht. Während sich Paulus jedoch hier inklusiv in das Sündersein aller einschreibt und dies auch noch im »Wir« von Tit 3,3–756 charakteristisch zum Ausdruck kommt, wird dies in 1 Tim 1 exklusiv, idealtypisch und prototypisch personalisiert.57 Zwar hat auch Paulus zeitlebens darunter gelitten, dass er die Gemeinde verfolgt hat, und man hat ihm das wohl auch gelegentlich vorgehalten (vgl. 1 Kor 15,9; Gal 1,13.23; Phil 3,6); die »produktive Wortbildung«58 διώκτης in 1 Tim 1,13 lässt das unmissverständlich anklingen. Doch in der gleichsam kumulativen Zusammenstellung βλάσφημος καὶ διώκτης καὶ ὑβρίστης wird dieser Aspekt gesteigert und mit zwei weiteren Begriffen zugespitzt, um den Kontrast zur Begnadigung durch Christus umso deutlicher  – eben prototypisch – herauszustellen.59 Vergleicht man dazu Texte wie 1 Kor 15,9 f.; nicht der grundlegenden Bedeutung des Begriffes ὑποτύπωσις, der zudem deutlich macht, dass πρῶτος nicht im eigentlichen Sinn zeitlich den Ersten unter Folgenden bezeichnet (vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 50 f.; Engelmann, Paulusbilder, 241 f.), sondern in erster Linie qualifizierend verstanden werden kann: An dem, was Paulus widerfahren ist, ermisst sich grundsätzlich, was ein begnadigter Sünder ist (vgl. Brox, Pastoralbriefe, 115). Weidemann, Erbarmen, 60, spricht von »Paradigmatisierung und Typisierung der Lebenswende des Apostels«. 55  Vgl. dazu Konradt, Wandel, 59. 56 Vgl. Weidemann, Erbarmen, 65–68, der jedoch die Differenz zum Paulusbild des 1 Tim nicht notiert. Dass inhaltlich hinter Tit 3,3–7 theologische Gedanken stehen, wie sie Paulus grundsätzlich im Röm erörtert hat, liegt auf der Hand, vgl. dazu auch Ders., Titus, bes. 36–42. Eine direkte literarische Abhängigkeit ist allerdings nicht erkennbar. 57  Vgl. dazu Löning, Schlüsselfigur; Weidemann, Erbarmen, 94: »Faktisch macht der Verfasser der Pastoralbriefe nichts anderes als die erste Person Plural von Röm 5,6–11, aber auch die Aussagen in Röm 11,28–30 über die Heiden, derer sich Gott erbarmt hat, in die erste Person Singular einer Paulusbiographie zu übersetzen.« Vgl. auch oben Anm. 42 sowie z. B. bereits Holtzmann, Pastoralbriefe, 110; Becker, Paulus, 61. Die Engführung auf den Röm als »Hauptbezugstext für die drei Pastoralbriefe« (Weidemann, a. a. O., 61) ist jedoch nicht unproblematisch, weil dabei unklar bleibt, in welcher Weise andere (auch außerpaulinische) Texte, Traditionen und Überlieferung tatsächlich eine Rolle spielen, da die Identifikation von Bezügen stets im Auge des Betrachters liegt. Die Frage, ob und inwiefern ein Verfasser literarische Vorlagen benutzt hat, Texte nur kennt, aber nicht literarisch benutzt oder welche Rolle insbesondere im Fall der Pastoralbriefe so etwas wie eine entstehende »Pauluslegende« (Becker, a. a. O., 60–66) spielt, lässt sich kaum mehr sinnvoll stellen, weil die Weisen der Überlieferung und Rezeption komplexer sind, als es in solchen Fragestellungen eingeholt werden kann. 58  Wolter, Paulus, 48. 59  Zur Besonderheit und zur Interpretation der Begriffe βλάσφημος und ὑβρίστης vgl. Wolter, Paulus. Wolter (a. a. O., 52) weist zu Recht darauf hin, dass die beiden Begriffe gemeinsam breit belegt sind und sachlich speziell den »Gottesfeind« charakterisieren. Nicht in den Blick kommt bei der Untersuchung, dass gerade das Aufbrechen dieses Zusammenhangs die Mittelstellung des aus der Paulustradition bekannten Verfolgungsmotivs durch die (an die beiden anderen angepasste) Wortbildung διώκτης für das Paulusbild des 1 Tim signifikant ist: »Dadurch daß Paulus die von Gott erwählte Heilsgemeinschaft der Christen verfolgt, wendet er sich gegen Gott selbst und wird dadurch zum Gottesfeind« (a. a. O., 53).

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

Gal 1,13.23 und Phil 3,5 f., dann ist die Abhängigkeit von diesem paulinischen Topos der biographischen Reminiszenz unverkennbar, aber zugleich auch dessen Transformation in ein geradezu übersteigert verklärtes Paulusbild.60 Für Paulus war ja gerade wichtig, dass er nicht der Erste (πρῶτος, 1 Tim 1,15.16) ist, sondern vielmehr der (unwürdige) Letzte (ἔσχατος, 1 Kor 15,8) bzw. der Geringste (ἐλάχιστος, 1 Kor 15,9). Gerade deshalb muss Paulus die Gleichwertigkeit seiner Autorität im Vergleich zu den anderen Aposteln Christi behaupten. Davon ist im 1. Timotheusbrief nichts mehr zu spüren. Die Perspektive hat sich vollständig verändert: Paulus steht im verklärenden Rückblick nicht mehr in der Konkurrenz zu den Aposteln und unter dem Druck der Selbstbehauptung, sondern ist unangefochten die einzig maßgebliche Autorität.61 Im Anschluss an Raymond Collins hat Ernst Dassmann dafür nicht zu Unrecht den Begriff der »Paulushagiographie« geprägt.62 Dem entspricht der Abschluss des Abschnittes mit einer geradezu liturgischen Doxologie (1,17), und darin liegt zugleich auch seine Programmatik: Nach der den Brief einführenden Anweisung an Timotheus (1,3–11) folgt nun nicht die eigentlich an dieser Stelle zu erwartende, an Gott gerichtete Danksagung für den oder die Adressaten, sondern ein an Christus gerichteter persönlicher Dank des Apostels, mit dem er selbst programmatisch dieses hagiographisch-doxologische Bild von sich zeichnet. Aufgrund der expliziten Übertragung des Erbarmungsschemas auf alle künftigen Generationen von Glaubenden (1,16) wird die auktoriale Bedeutung des Apostels für die Tradition festgestellt, in die man sich hineinschreibt, und damit als identitätsbildende Grundlage für die Gemeinde deutlich gemacht. Im Zentrum des Abschnittes wird ein bekenntnisartiger Spruch regelrecht zitiert, eingeleitet durch die für den 1.  Timotheusbrief charakteristischen Zitationsformel πιστὸς ὁ λόγος καὶ πάσης ἀποδοχῆς ἄξιος,63 ὅτι Χριστὸς Ἰησοῦς ἦλθεν εἰς τὸν κόσμον ἁμαρτωλοὺς σῶσαι ὧν πρῶτός εἰμι ἐγώ (1,15). Inhaltlich klingt die zitierte Aussage eher an synoptische als an paulinische Tradition an (vgl. bes. Lk 19,10; Mk 2,17 par.), wobei die Vorstellung des Gekommenseins Christi in die Welt zusätzlich einen johanneischen Unterton einbringt und bei Paulus in Bezug auf Christus sonst ganz fehlt (übrigens auch im 2. Timotheus- und im Titusbrief ).64 Dieses und andere Zitate zeigen, dass die Paulustradition nicht primär materialiter, sondern eher formal-auktorial für die Identitätsbildung der Gemeinde des 1. Timotheusbriefes eine Rolle spielt. 60 Vgl.

Engelmann, Paulusbilder, bes. 236–244. von Lips, Paulus, 305. 62  Dassmann, Stachel, 166; vgl. bereits Collins, Image, hier 147: »traces of an emerging Pauline hagiography«. 63 Im 1 Tim begegnet die Formel πιστὸς ὁ λόγος dreimal, zweimal davon in der o. g. erweiterten Form (1,15; 4,9). Der 2 Tim (2,11) und der Tit (3,8) verwenden sie jeweils einmal in der Grundform. 64 Vgl. von Lips, Paulus, 308 f.; demgegenüber z. B. Schlatter, Kirche, 61, zu 1 Tim 1,15: »Hier ist alles paulinisch gedacht.« Schlatter verweist als Parallele für die Wendung ἦλθεν εἰς τὸν κόσμον auf Röm 5,12, doch ist hier von der Sünde die Rede, die durch einen Menschen in die Welt gekommen sei. 61 Vgl.

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Was gemeinhin – m. E. zu Unrecht – auf alle Pastoralbriefe bezogen wird, gilt von 1 Tim 1,12–17 auf besondere Weise: »Aus dem verkündenden Paulus wird der ›verkündigte‹ Paulus.«65 Alles darauf Folgende im 1. Timotheusbrief steht unter diesem Vorzeichen. Die Wendung ταύτην τὴν παραγγελίαν παρατίθεμαί σοι in 1,18 wird damit zur Einleitung in den Hauptteil des Briefes.66 Dadurch bekommt dieser jenen Charakter der gleichsam »ewig gültigen« Paratheke als Anweisung des Apostels. Der unmittelbare Anschluss an den Schlussakkord der geradezu »hymnischen«67 Doxologie εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων, ἀμήν (1,17) lässt die dauerhafte Gültigkeit der brieflichen Anordnung gleichsam zu einem göttlichen Gebot werden. 4.1.3  Rezeption, Transformation und Konzeptualisierung der paulinischen Ökonomie-Thematik Im Rahmen der Strategie des 1.  Timotheusbriefes zur Konsolidierung einer paulinischen Gemeindetradition ist für die Charakteristik der Paulusrezeption ein Aspekt in besonderer Weise signifikant, an dem sich der im Zuge der Rezeption stattfindende Transformationsprozess anschaulich machen lässt.68 Nicht zuletzt wird hier in besonderer Weise deutlich, dass und inwiefern der 2. Timotheus- und der Titusbrief bereits zur Paulusüberlieferung gehören, die der 1. Timotheusbrief rezipiert. Dieser Aspekt ist nicht zuletzt auch deshalb für die Frage nach der Rezeption von Paulusüberlieferung anschaulich, weil die auf der Grundlage von 1 Tim 3,15 entwickelte »ökonomische« Ekklesiologie als das wesentliche Charakteristikum der Pastoralbriefe angesehen wird. Grundlegend hat dies Jürgen Roloff in seiner Ekklesiologie unter dem Stichwort »Gottes geordnetes Hauswesen«69 beschrieben: »Das Bild des Hauses, die zentrale ekklesiologische Metapher der Pastoralbriefe, hat nicht das Haus als Bauwerk, sondern vielmehr als gegliederte und nach bestimmten Regeln geordnete soziale Grundstruktur im Blick.«70 Nach Roloff liegt hier das theologische Zentrum der Pastoralbriefe.71 Rezeptionsgeschichtlich ist damit zugleich eine bewusste Transformation der paulinischen Ekklesiologie impliziert und zwar – wie es David Horrell formulierte: »from the model of an egalitarian community of ἀδελφοί toward the model of a hierarchical household-community, a community with masters and subordinates, structured according to 65 

Wanke, Paulus, 170. bereits Holtzmann, Pastoralbriefe, 300; ähnlich Oberlinner, 1 Tim, 51; anders z. B. Johnson, First and Second Letters 184; Neudorfer, 1 Tim, 94. 67  Wolter, Pastoralbriefe, 53, spricht von einem »Dankhymnus«. 68  Herzer, House of God (in diesem Band 273–291). 69  Roloff, Kirche, 250. 70  A. a. O., 254. Vgl. z. B. auch Verner, Household, 1: »coherent concept of the church as the household of God«; Fatum, Christ Domesticated; Wagner, Anfänge, 175–187. 71 Vgl. Roloff, 1 Tim, 190; vgl. ders., Pfeiler. 66 Vgl.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

the relative positions of different social groups […] from a charismatic form of domination toward a traditional form.«72

Während für die paulinische Ekklesiologie das Modell einer charismatisch bestimmten, geschwisterlich-gleichrangigen Gemeinde von 1 Kor 12–14 als charakteristisch angesehen wird, repräsentierten die Pastoralbriefe das Modell einer hierarchisch strukturierten Institution. Das ist freilich nur bedingt richtig. Abgesehen davon, dass ausweislich der in Phil 1,1 erwähnten »Aufseher/Verwalter und Diakone« (ἐπίσκοποι καὶ διάκονοι) auch für paulinische Gemeinden mit konkreten verwaltungstechnischen Leitungsaufgaben gerechnet werden muss73 und also das charismatische Modell, das Paulus im 1 Kor als ein Idealbild entwirft, nur sehr vorsichtig verallgemeinert werden darf, lässt sich die Vorstellung einer hierarchisch organisierten Institution nur für den 1.  Timotheusbrief plausibel machen. Nur hier ist dieses Modell auch explizit beschrieben; nur hier begegnet auch der theologische wie ekklesiologisch signifikante Begriff οἶκος θεοῦ, der sich bei Paulus selbst wie auch in den beiden anderen Pastoralbriefen nicht findet. Diesem Modell können weder die in Tit 1,5–9 beschriebenen πρεσβύτεροι, die als ἐπίσκοποι fungieren und sich so als »gute Ökonomen Gottes« (Tit 1,7; vgl. 1 Kor 4,1 f.) erweisen sollen, noch die in 2 Tim 2,20–21 verwendete Metapher von auf verschiedene Weise nützlichen Gefäßen eines Hauses ohne Weiteres eingezeichnet werden.74 Vielmehr erweist sich das ekklesiologische Konzept des 1. Timotheusbriefes bei näherem Hinsehen als eine konzeptionelle Transformationsleistung, die eine bestehende Gemeindestruktur konsolidieren soll und dabei verschiedene Aspekte paulinischer Ekklesiologie rezipiert. Ausgehend von der bereits unter haushaltsökonomischen Gesichtspunkten organisierten Struktur der Gemeinde wird deren »paulinische« Begründung gleichsam nachgeliefert, ohne dass der Verfasser auf in der Überlieferung vorgegebene Modelle zurückgreifen könnte. Schon 1 Tim 1,4 spricht programmatisch in Bezug auf die Ordnung und den inneren Zusammenhalt der Gemeinde von der οἰκονομία θεοῦ ἡ ἐν πίστει. Die attributive Zuordnung von ἐν πίστει durch den nachgestellten Artikel benennt ein entscheidendes Charakteristikum der Ökonomie Gottes, nämlich die Treue (so die Konnotation von πίστις aufgrund des ökonomischen Kontextes) derer, die dazu gehören. Dieses Ökonomie-Konzept wird in 3,15 theologisch auf den Begriff οἶκος θεοῦ zugespitzt. Der Verfasser nimmt damit die paulinische Vorstellung von der Gemeinde als »Tempel Gottes« (ναὸς θεοῦ, 1 Kor 3,16 f.; 2 Kor 6,16) auf und integriert sie in sein Ökonomie-Konzept, so dass aus dem Tempel Gottes das Haus Gottes wird. Diese Integration wird möglich durch die Tatsache, dass beide Begriffe insofern als Synonyme zu betrachten sind, als in der Septuaginta der Begriff οἶκος 72 

Horrell, Transformation. Zum Problem vgl. auch Koch, Einmaligkeit. Daran ändert auch die (umstrittene) Einordnung des Phil in die »Spätphase des paulinischen Wirkens« (Schnelle, Einleitung 2013, 421) nichts. Vgl. zu Phil 1,1 z. B. Müller, Philipper, 33–36: »Diese Übersicht zeigt, daß es möglich ist, beide Begriffe, ἐπίσκοπος wie διάκονος, im Rahmen der paulinischen Gemeindeauffassung zu verstehen.« Vgl. auch Wagner, Anfänge, 155–169, bes. 168 f. 74 Vgl. Herzer, Gefäße (in diesem Band 467–487). 73 



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θεοῦ eine feste Bezeichnung für den Tempel Gottes repräsentiert,75 eine sprachliche Konvention, die dem Verfasser offenbar vertraut ist. Sowohl die alttestamentliche Tradition wie auch die paulinische Überlieferung einschließlich der in Tit 1 und 2 Tim 2 verwendeten Terminologie waren also anschlussfähig und geeignet, das neu strukturierte ekklesiologische Konzept des 1. Timotheusbriefes gleichsam paulinisch zu begründen bzw. im Sinne der Paulustradition zu plausibilisieren. Es ist erkennbar paulinisch geprägt, geht aber in der Konzeption deutlich über Paulus hinaus.

4.2  Der Streit um die Auferstehung der Toten – Paulustradition im 2. Timotheusbrief Damit komme ich zu einem letzten Beispiel der Paulusrezeption, und zwar anhand der in 2 Tim 2,18 zitierten Auffassung, »die Auferstehung sei schon geschehen«. Vor dem Hintergrund einer Spätdatierung der Pastoralbriefe hat man diese Position mit gnostischen oder zumindest prä­gnostischen Auffassungen in Verbindung gebracht.76 Interessant in unserem Kontext ist die Dynamik der innerpaulinischen Traditions- und Rezeptionsgeschichte, die mit der in 2 Tim 2,17 f. zitierten und beurteilten Auffassung im Verhältnis zu anderen Schriften der Paulusüberlieferung zutage tritt. Es handelt sich um eine Aussage, die als innergemeindliches Problem anhand zweier Namen (Hymenäus und Philetus) identifiziert wird; es erfolgt keine Abgrenzung nach außen.77 Die Genannten sind offenbar zwei Exponenten (ὧν ἐστιν) einer langsam aber spürbar um sich greifenden (ὡς γάγγραινα νομὴν ἕξει) Tendenz in Sachen Auferstehung, die zwar nicht die ganze Paulustradition gefährdet, aber immerhin »einige« in ihrem Glauben verwirrt haben (ἀνατρέπουσιν τήν τινων πίστιν, 2,18). Ich sage bewusst hier »Paulustradition« und nicht »Gemeinde«, 75  Vgl. Gen 28,17 (Bethel); Ex 23,19; 34,26; Dtn 23,19; Jos 9,23 (einschließlich der Versammlung des Volkes); 1 Kön 5,17–19; 8,17–20; 1 Chron 9,27; 22; 28 u. ö.; Esra 1–10; Neh 1–13; Ps 42,5; 52,10; 55,15; 84,11; 92,14; 135,2; Jes 2,3; Jer 35,4; Ez 10,19; 11,1; Dan 1,2; 5,3; Joel 1,13–16; Mi 4,2; Hag 1,14; Tob 14,7; Bar 3,24; vgl. auch Mk 2,26; Lk 6,4. 76 Nach dem EvPhil 90a/b ist beispielsweise (wohl in Aufnahme von Eph 2,5 f.) die Auferstehung als Konsequenz der Taufe beschrieben und eine postmortale Auferstehung explizit als Irrtum abgelehnt: »Diejenigen, die behaupten, daß sie zuerst sterben und (dann erst) auferstehen werden, irren sich. Wenn sie nicht zuerst die Auferstehung erlangen, solange sie noch leben, werden sie, wenn sie sterben, nichts empfangen. Ebenso sagen sie auch über die Taufe folgendes: ›Die Taufe ist groß; denn, wenn sie sie empfangen, werden sie leben‹.« Vgl. auch 76b: »Die [Taufe] führt zur Auferstehung [in der] Erlösung« (Übersetzungen nach Schenke, Philippusevangelium). Bereits Tertullian, praescr. 33, bezieht – unter anderem Vorzeichen – 2 Tim 2,18 im Zusammenhang mit der Gegenposition in 1 Kor 15 auf die Lehre der Valentinianer, vgl. Dassmann, Paulus, hier 127–130 (speziell zum Verhältnis zur valentinianischen Gnosis); ähnlich auch im Rheginus-Brief 45,24–40 mit Anklang an Röm 8,17 und Eph 2,5 f. sowie Röm 6,3, vgl. Peel, Gnosis. Damit befänden wir uns allerdings bereits am Ende des 2. Jh., wohin wohl auch die Acta Pauli gehören, welche die Auferstehung als Auferstehung in den Kindern verstehen: »[…] was er [sc. Paulus] Auferstehung nennt ist bereits geschehen durch die Kinder, die wir haben« (ActPaul 3,14). Vgl. zum Ganzen auch Sellin, Auferstehung; sowie oben Anm. 46. 77 Vgl. Oberlinner, 2 Tim, 100.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

weil der Brief selbst den Bezug auf eine konkrete Gemeinde nicht erkennen lässt, sondern (fiktiv oder realiter) ein Gespräch zwischen Paulus und Timotheus über gemeinsam bekannte Dritte und ihre abwegigen Auffassungen widerspiegelt, die sich nicht lokal bestimmen lassen. Das fügt sich in den Gesamtduktus des Briefes ein, der keinen konkreten Ort des Wirkens des Timotheus nennt und dessen auf andere bezogene Ermahnungen eigenartig allgemein bleiben und damit dem testamentarischen Genre durchaus gerecht werden. Erst am Schluss wird der Text dann deutlich konkreter in Bezug auf die Situation des Paulus in Erwartung der »Vollendung seines Laufes« (4,6–22). Wichtig zu notieren ist zudem, dass die in 2 Tim 2,18 zitierte Auffassung von einer bereits realisierten Auferstehung offenkundig eine rhetorisch zugespitzte Verkürzung darstellt, bei der man berechtigterweise fragen kann, ob die genannten Protagonisten sich darin angemessen wiedergefunden hätten. In ihrer Zuspitzung bleibt letztlich unklar, was die zitierte Position konkret beinhaltet. Es handelt sich explizit nicht um eine generelle Bestreitung der Auferstehung, sondern um ein auf den Vollzug geistlicher Existenz ausgerichtetes Verständnis. Aber in Bezug worauf ? Die oben skizzierte Nähe der Aussage zu gnostischen Texten78 oder auch zu Eph 2,5 f. (s. dazu gleich) würde einen Bezug zur Taufe und deren Konsequenzen für das geistliche Leben nahelegen.79 Allerdings bietet der 2. Timotheusbrief keinen expliziten Hinweis auf die Taufe. Doch kann man die im Kontext ausgeführte Fundament- bzw. Siegel-Metaphorik verbunden mit den Schriftzitaten über die »Nennung des Namens des Herrn« (2,19) durchaus in dieser Hinsicht interpretieren.80 Auch 2 Tim 1,6 f. ruft mit der durch Handauflegung vermittelten Gabe des Geistes durch Gott Aspekte auf, die in den Kontext der paulinischen Tauftheologie gehören.81 78 

Vgl. Anm. 76. In Tit 3,5, wo sehr deutlich ein Taufbezug vorliegt (vgl. z. B. Oberlinner, Titus, 172–175; sowie Zimmermann, Wiederentstehung), gibt es im Gegenüber von 2 Tim 2,17 f. keinen Hinweis darauf, dass damit ein Problem hinsichtlich der Auferstehung verbunden wäre. Aber das ist angesichts der unterschiedlichen Kontextualisierung auch nicht zwingend zu erwarten. 80  Vgl. in diesem Sinn u. a. Roloff, Pfeiler, 244; ders., 1 Tim, 217; Oberlinner, 2 Tim, 102; anders Engelmann, Untersuchungen, 213 f., die einen Taufbezug wegen des inhaltlichen Bruches zum folgenden Bildwort ausschließt, was freilich kein zwingendes Argument ist. Wichtig zu notieren ist in Bezug auf das ekklesiologisch ausgerichtete Bildwort vom Haus mit verschiedenen Gefäßen in 2 Tim 2,20 f., dass dies nicht im unmittelbaren Zusammenhang zur θεμέλιος-Vorstellung zu interpretieren ist, da diese darin keine Rolle spielt. Es handelt sich in 2,19–21 vielmehr um eine Aneinanderreihung verschiedener ekklesiologisch konnotierter Aussagen, die allerdings kein kohärentes Bild-Konzept erkennen lassen. Daher lässt sich auch die Rede vom θεμέλιος τοῦ θεοῦ in 2 Tim 2,19 nicht mit 1 Tim 3,15 (οἶκος θεοῦ/στῦλος καὶ ἑδραίωμα) harmonisieren bzw. in sachliche Entsprechung bringen; vielmehr wird die ekklesiologische Zuspitzung in 1 Tim 3,15 auch (s. o. 4.1) von 2 Tim 2,20 her inspiriert sein. 81  Der Unterschied zur Vermittlung des Charisma durch das Presbyterium in 1 Tim 4,14 ist signifikant, insofern an letzterer Stelle nicht der Geist von Gott her, sondern eine Aufgabe bzw. ein Amt durch das Presbyterium vermittelt wird; man darf also nicht ohne Weiteres 2 Tim 1,6 f. von 1 Tim 4,14 her interpretieren und beides auf die »Ordination« beziehen, vgl. in diesem Sinn grundlegend von Lips, Glaube, bes. 161–172; sowie zum Problem auch Hofius, Ordination. Wolter, 79 



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Dass ein Taufbezug in 2 Tim 2,17 f. nur implizit angedeutet und nicht explizit reflektiert wird, könnte freilich auch ein Indiz dafür sein, dass die abgelehnte Auffassung von der bereits geschehenen Auferstehung tatsächlich ein auf die Taufe bezogenes Missverständnis repräsentiert, dem Paulus hier entgegentritt, das er aber nicht eigens thematisieren will, um ihm nicht unnötiges Gewicht zu verleihen. Die Problematik einer präsentischen Auferstehungsvorstellung in Bezug auf die Taufe ist innerhalb der paulinischen Überlieferung aus Eph 2,5 f. bekannt, und zwar als einer Haltung, die unter pseudepigraphischen Vorzeichen als eine genuin paulinische Auffassung präsentiert wird, gleichsam als paulinische Tauftheologie in nuce. Damit bezieht der Epheserbrief eine Position, die der 2. Timotheusbrief gerade bekämpft. Dabei ist die Tauftheologie des Epheserbriefes nicht ohne Weiteres unpaulinisch zu nennen. Da Eph 2,5 f. literarisch von Kol 2,12 f. abhängig ist, muss man annehmen, dass sich diese Vorstellung innerhalb der Paulustradition entwickelt hat.82 Paulus selbst hat mit seinen Äußerungen zur Taufe in Röm 6 zu dieser Entwicklung einen entscheidenden und angesichts von Kol 2 und Eph 2 offenkundig missverständlichen Anstoß gegeben, wenn er das metaphorische »Mitbegrabensein« mit Christus als Taufe auf den Tod Jesu mit der Vorstellung der Gewinnung eines neuen Lebens verbindet (6,4), Tod und Leben in starkem Kontrast gegenüberstellt (6,10 f.) und in 6,13 sogar die auf Christus Getauften auffordert, sich selbst zu verstehen ὡσεὶ ἐκ νεκρῶν ζῶντας.83 An einem möglichen Missverständnis jener Aussagen des Paulus über Mit-Sterben und Mit-Leben und besonders über ein »Leben aus den Toten« im Kontext der Taufe bzw. an deren Potential zur weiteren Entwicklung bis hin zu einer Aussage wie Eph 2,5 f. ändert auch die Tatsache nichts, dass Paulus in Röm 6 sehr klar von der Auferstehung in Bezug auf die Getauften als einer zukünftigen Realität spricht. Letzteres stellt auch 2 Tim 2,11 bekenntnisartig gegen die in 2,18 zitierte Auffassung sicher, die ja dann auch – gegen die Tendenz in der pseudepigraphischen Paulusüberlieferung – ausdrücklich als falsch gekennzeichnet wird.84 Pastoralbriefe, 218–222, unterscheidet die Handauflegung als Amtseinsetzung in 1 Tim 4,14 von der Handauflegung als Ritus der Amtsübergabe bzw. Sukzession in 2 Tim 1,6 f. 82  Kol 2,12 formuliert noch weit weniger konsequent präsentisch-eschatologisch, insofern der Auferstehungsgedanke im Glauben verortet wird und nicht bereits wie in Eph 2,5 f. von einer Einsetzung mit Christus im Himmel die Rede ist, vgl. Hüneburg, Paulus, 397 f., der u. a. darin zu Recht einen wesentlichen Grund dafür sieht, die Frage nach einer Paulusschule auf den Prüfstand zu stellen. Zum Verhältnis zwischen Eph 2,5 f. und Kol 2,12 im Sinne einer Entwicklung des Auferstehungsgedankens in Bezug auf die Taufe vgl. Gese, Vermächtnis; vgl. auch Sellin, Epheser, 176. 83  Dies wird in den einschlägigen Kommentaren zumeist übersehen bzw. unterbewertet; vgl. z. B. Sellin, Epheser, 176–181; Bormann, Kolosser, 135 f.; selbst Gese, Vermächtnis, dem daran liegt, dass auch in Kol 2 und Eph 2 (wie in Röm 6,1–11) noch futurische Aspekte impliziert seien, rekurriert nicht auf Röm 6,13. Vergleichbar ist die Entwicklung einer Auferstehungsauffassung wie Eph 2,5 f. und 2 Tim 2,18 aus einem Missverständnis der paulinischen Taufinterpretation mit jenem Missverständnis der Eschatologie des 1 Thess in dem Sinne, als sei der Tag des Herrn schon da, wie es in 2 Thess kritisiert und abgewiesen wird. Zum Problem einer präsentischen Eschatologie bei Paulus vgl. Eckstein, Auferstehung. 84  Unwahrscheinlich ist die Annahme, Paulus formuliere Röm 6 bereits »(g)egen eine schwär-

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Die Entstehung einer solchen missverständlichen Deutung paulinischer Auferstehungsaussagen kann zudem auch zeitlich nicht eindeutig spät verortet werden; nichts spricht dagegen, dass dies schon relativ früh geschehen ist, vielleicht sogar im Kontext der Leugnung einer eschatologischen, leiblichen Auferstehung der Toten bei »einigen« in Korinth (vgl. 1 Kor 15,12).85 Es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass die in 2 Tim 2,17 f. zitierte Auffassung in einem direkten Zusammenhang mit der Tauftheologie des Epheserbriefes oder auch der Position des Kolosserbriefes steht.86 Vor allem der Epheserbrief zeigt, dass sich der sog. »pneumatische Enthusiasmus« mit seinem geistlichen Vollkommenheitsbewusstsein (vgl. 1 Kor 4,887) in dem präsentischen Verständnis des Mit-Auferwecktseins und des Mit-Eingesetztseins im Himmel zumindest in einem Teil der Paulustradition durchgesetzt hat. Unter Berücksichtigung der signifikanten Unterschiede zwischen Kol 2 und Eph 2 wird man wohl zu Recht fragen, ob zumindest der Autor des Kolosserbriefes seine Vorstellung von der Taufe tatsächlich in der Formulierung »die Auferstehung ist schon geschehen« wiedergefunden hätte.88 Gerade von der Taufe her und aufgrund der Parallelität zur metaphorischen Aussage vom »Mit-Gestorbensein« (die im Epheserbrief signifikant fehlt!) hätte er vermutlich auf dieselbe metaphorische Bedeutung der Auferweckungsaussage hingewiesen, die eine Erwartung der noch ausstehenden eschatologischen Verwirklichung dieser bereits jetzt gegenwärtigen Heilswirklichkeit nicht ausschließt, wie es dann etwa in Kol 3,3 auch formuliert ist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll die These formuliert werden, dass in 2 Tim 2,18 ein Missverständnis paulinischer Tauftheologie ablehnend rezipiert wird, welches bereits Paulus selbst spätestens mit seinen Ausführungen in Röm 6 möglich gemacht hat. »Spätestens« deshalb, weil ein mit der Taufe verbundenes charismatisches Vollendungsbewusstsein bereits in Korinth zu Problemen hinsichtlich der Auferstehungsvorstellung geführt hat.89 Der dahinter zu postulierende Diskurs hat Paulus ausweislich von 2 Kor 5 immerhin theologisch veranlasst, seine Überlegungen zu präsentischen und futurischen Aspekten seines Heilsverständnisses mit der Vorstellung vom »Angeld des Geistes« (5,5; vgl. 1,22 sowie ferner Eph 1,13 f.) sowie der bereits (geistlich) realisierten Neuschöpfung in Christus zu präzisieren (καινὴ κτίσις  – γέγονεν καινά, 5,17 [im Perfekt]; vgl. Gal 6,15). Der Kolosserbrief hat trotz der Beibehaltung des eschatologischen Vorbehalts der Vollendung (vgl. Kol 3,3 f.) diesen Diskurs offenkundig unter einer bekenntnismerische Bewertung der Taufe, die diese als Unterpfand bereits geschehener Auferstehung (vgl. 2 Tim 2,18) begreifen möchte« (Lohse, Briefe, 156). 85 Vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 83; Towner, Gnosis. 86  Lindemann, Aufhebung, 125, erwägt, ob 2 Tim 2,18 nicht auch die »Irrlehre« des Epheserbriefes im Blick habe. 87  Vgl. dazu Wolff, 1 Kor 2011, 86 f. Schlatter, Kirche, 242 mit Anm. 1, verweist zudem auf Phil 3,12; Röm 13,11, sowie 2 Thess 2,7. 88 Vgl. Conzelmann, Auferstehung V, 695, der mit Bezug auf Eph 2,6 und Kol 2,12 festhält, dass »auch hier die Erwartung einer künftigen A.[uferstehung] nicht in gnostischer Weise aufgehoben« sei. 89  Vgl. dazu bes. Sellin, Streit; Wolff, 1 Kor 2011, 421–426.

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bildenden Absicht zugespitzt und damit dem Potential des Missverständnisses noch mehr Raum gegeben, eine Entwicklung, die ausweislich des Epheserbriefes zu einer theologischen Neuausrichtung der Paulustradition an diesem Punkt geführt hat. Damit ist zwar auch im Epheserbrief der Anspruch einer originären Paulusdeutung im Sinne des Vermächtnisses einer sich als paulinisch verstehenden Tradition verbunden,90 aber eben doch mit einer deutlichen theologischen Differenz zu Paulus, vor der der 2.  Timotheusbrief noch gewarnt hat und in die er selbst nicht einzuordnen ist.91

5. Resümee Die Paulusrezeption der Pastoralbriefe stellt sich als ein komplexes Phänomen dar, dessen Matrix von grundlegenden Voraussetzungen im Blick auf die Einschätzung dieser Briefe abhängt. Was hier präsentiert werden konnte, sind nur einige wenige Aspekte, die vielfach zu ergänzen wären, etwa durch einen Vergleich von Rechtfertigungsaussagen vor allem im Titusbrief (Tit 3,5; vgl. 2 Tim 1,9),92 soteriologischen Aussagen über Gott bzw. Christus als Retter93 oder auch begrifflichen Konzepten wie Parusie und Epiphanie,94 Glaube und Frömmigkeit,95 Bekenntnisformulierungen96 und dergleichen. Die ausgewählten und hier erörterten Beispiele sollten immerhin deutlich gemacht haben, dass die Frage nach der Rezeption von Paulusüberlieferung in den Pastoralbriefen – insbesondere auch bei relativ späten pseudepigraphischen Briefen des 2. Jahrhunderts wie dem 1.  Timotheusbrief  – nicht mit einfachen Modellen literarischer Abhängigkeiten zu lösen ist, wie das lange Zeit in der Pastoralbriefeforschung maßgeblich war und gelegentlich immer noch ist. Das gilt im Übrigen ja nicht nur für die Pastoralbriefe, sondern auch sehr grundsätzlich. Eine solche Weise rezeptionsgeschichtlicher Engführung wird der komplexen Vernetzung der Pastoralbriefe mit der sich intern und extern entwickelnden Paulustradition 90 

Vgl. die Grundthese des Buches von Gese, Vermächtnis. pseudepigraphischen Vorzeichen würde daher der 2 Tim an dieser Stelle tatsächlich eine Konkurrenzsituation der Paulusrezeption bzw. der Paulusdeutung gegenüber dem Anspruch des Epheserbriefes widerspiegeln. Doch lässt sich, wie dargestellt, die in 2 Tim 2,18 formulierte Schlagzeile als ein für die Situation des mit dem Tod konfrontierten Apostels theologisch und eschatologisch wichtiges Thema verstehen, das Paulus aus vergangenen Auseinandersetzungen kennt und das für ihn angesichts seines eigenen erwarteten Todes auf neue Weise noch einmal existentiell relevant wird. 92  Vgl. z. B. Lohfink, Theologie; Kretschmar, Glaube; Löning, Gnade; Heil, Rezeption, bes. 169–176. 93  Vgl. z. B. Böttrich, Gott, bes. 222–228; K arrer, Jesus; Jung, ΣΩΤΗΡ. 94  Vgl. z. B. Hasler, Epiphanie; Oberlinner, Epiphaneia; Lau, Manifest. 95  Vgl. z. B. Merk, Glaube; Standhartinger, Eusebeia; Herzer, Geheimnis (in diesem Band 381–405); Mutschler, Glaube; Theobald, Glauben. 96  Vgl. z. B. Metzger, Christushymnus; Herzer, Tradition und Bekenntnis (in diesem Band 247–270). 91  Unter

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nicht gerecht. Eine differenziertere Sicht auf die Pastoralbriefe beginnt mit der begrifflichen Unterscheidung zwischen Tradition und Überlieferung auf der einen sowie zwischen Rezeption und Transformation von Überlieferung zum Zweck der Traditionsbildung auf der anderen Seite. Eine besondere Herausforderung ist die Tatsache, dass diese Begriffe zwar zu unterscheiden, in der Sache aber nicht scharf voneinander abzugrenzen sind. Diese Differenzierung wird umso wichtiger, wenn man die Pastoralbriefe hinsichtlich ihrer Autorschaft unterschiedlich beurteilt und z. B. den Titusbrief und den 2. Timotheusbrief als authentische Paulusbriefe dem pseudepigraphischen 1. Timotheusbrief als Werk einer spezifischen Paulusrezeption gegenüberstellt. Das ist hier nicht mehr zu erörtern.97 Zur Paulusrezeption des 1.  Timotheusbriefes würden dann die beiden anderen Pastoralbriefe ebenso hinzugehören wie andere authentische und nicht authentische Briefe (insbesondere der Epheserbrief ). Zugleich und folgerichtig stellt sich die Frage nach der Rezeption paulinischer Tradition im Titusbrief und im 2. Timotheusbrief anders als für den 1. Timotheusbrief. Weniger der Begriff der Tradition als vielmehr der Begriff der Überlieferung impliziert hinsichtlich des Charakters von Rezeptionsprozessen zugleich die Dynamik eines Diskurses, der sich nicht nur auf der literarischen, sondern auch auf der Ebene der personalen Transmission und Transformation von Inhalten, Problemen und Auseinandersetzungen sowie deren jeweiliger sprachlichen Gestaltung stattfindet. Von diesem Diskurs ist mit den erhaltenen schriftlichen Äußerungen gleichsam nur die Spitze des Eisberges erkennbar. Diese Einsicht ist freilich zugleich Teil der methodischen Problematik, eine plausible Verhältnisbestimmung dieser Zeugnisse vorzunehmen und daraus ein angemessenes Bild der Paulustradition in ihren offenkundig verschiedenen Ausprägungen zu zeichnen. Die Engführung dieser methodischen Problematik auf idealtypische Vorstellungen einer Paulusschule, verbunden mit einem vereinfachenden Umgang mit dem Phänomen der Pseudepigraphie haben nicht zu deren Lösung beigetragen, sondern die Wahrnehmung der Dynamik jenes Diskurses eher behindert. Wenn es um die Rezeption von Paulusüberlieferung in den Pastoralbriefen geht, dann ist m. E. sehr viel stärker diskursanalytisch zu arbeiten, als dies bisher der Fall war. Anders gesagt: Mit der literarischen Analyse und dem Vergleich von Texten beginnt erst die eigentliche Arbeit an der Frage nach der Rezeption von Tradition und ihren Bedingungen.

97 Vgl.

Herzer, Mythos (in diesem Band 77–97).



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Paulustradition und Paulusrezeption in den Pastoralbriefen

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

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Den guten Kampf gekämpft Das Ende des Paulus im Spiegel des Zweiten Timotheusbriefes und der frühchristlichen Überlieferung Eine der herausragenden Arbeiten im Lebenswerk Alfons Weisers ist zweifellos sein großer Kommentar zum 2.  Timotheusbrief in der Reihe des Evangelisch-Katholischen Kommentars.1 Auch wenn die Autoren der bisher in dieser Reihe erschienen Bände zum 1.2 und 2. Timotheusbrief ein literarisches Corpus pastorale als Interpretationsparadigma zugrunde legen, so eröffnet doch die Einzelkommentierung auch unter dieser Perspektive für den 2.  Timotheusbrief die Möglichkeit, sein immer wieder zu Recht betontes Eigenprofil als »Testament des Paulus« bzw.  – in der Charakterisierung Alfons Weisers  – als ein »testamentarisches Mahnschreiben«3 herauszustellen. Der folgende Beitrag zu einer das Werk und den Wissenschaftler Alfons Weiser ehrenden Festschrift ist der Versuch einer historisch-literarischen Skizze, in der einige Aspekte des 2. Timotheusbriefes aufgegriffen werden sollen, die den Rückblick des Apostels auf sein Lebenswerk thematisieren. Auf der Grundlage einer Erörterung wesentlicher Aussagen von 2 Tim 4 in Bezug auf das Lebensende des Paulus soll es insbesondere um die Frage gehen, ob und inwieweit 2 Tim 4 als Reflexion der römischen Gefangenschaft auch unter historischen Gesichtspunkten für die Biographie des Paulus bedeutsam ist. Damit verbunden ist die Frage, wie sich unter diesem Vorzeichen die literarischen und historischen Relationen insbesondere zur Schilderung des Romaufenthaltes in Apg 28 sowie den sich mit Rom verbindenden Plänen des Paulus in Röm 15 beschreiben lassen, die ihrerseits auf das Ende des Paulus ausgerichtet sind bzw. aus der Perspektive seiner letzten Lebensphase geschrieben wurden. Die Frage nach den historischen Umständen des Endes des Paulus sowie nach der Beurteilung der entsprechenden literarischen Überlieferungen hat in den vergangenen Jahren besondere Aufmerksamkeit erfahren, wobei die Forschungen nach wie vor zu sehr kontroversen Resultaten hinsichtlich der Rekonstruktion der paulinischen Biographie führen.4 Dies hat nicht zuletzt mit einer sehr unterschiedlichen Bewertung der Quellenlage zu tun, wobei die Auffassungen hinsichtlich der Pastoralbriefe besonders divergieren, so dass zunächst einige methodische Überlegungen notwendig sind. 1 

Weiser, 2 Tim. Roloff, 1 Tim. 3 Vgl. Weiser, 2 Tim, 40; ders., Freundschaftsbrief. 4 Vgl. Horn, Ende; sowie u. a. Tajra, Martyrdom; Omerzu, Prozeß; Gavaldà Ribot/ Melgar/Tàrrech, Pau, 47–190; Heid, Petrus; Tàrrech/Barclay/Frey, Last Years. 2 Vgl.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

1.  Methodische Vorbemerkungen 1.1  Zwischen Fiktion und Wirklichkeit – Zur Bedeutung der persönlichen Angaben im 2 Tim Wie in keinem anderen seiner Briefe blickt der Apostel in 2 Tim 4 angesichts seines unmittelbar bevorstehenden Todes auf sein Lebenswerk zurück. Sei es unter dem reflektierenden Blickwinkel pseudepigraphischer Fiktion eines Paulusschülers5 oder als authentischer Eindruck aus dem letzten Lebensabschnitt des Paulus selbst6 – in jedem Fall gewinnt der Brief dadurch seine beeindruckende Kraft, dass er das Vermächtnis des Apostels festhält und über die Person des Timotheus als bleibende Verpflichtung an diejenigen weitergibt, die sich dem Apostel und seinem Evangelium verbunden wissen (2 Tim 2,2; 4,8c). Die Verbindlichkeit der Mahnung, das Evangelium des Paulus angesichts der dem Apostel wohl vertrauten Missdeutungen und Missverständnisse innerhalb der paulinischen Gemeinden7 (vgl. 2,18 f.) zu bewahren, kommt vor allem durch das ausgeprägte persönliche Profil des 2. Timotheusbriefes zum Ausdruck, welches ihn von dem eher nüchternen und auf Strukturen und Ordnungen ausgerichteten Duktus der beiden anderen Pastoralbriefe abhebt. Es ist hier nicht der Ort für eine umfassende Erörterung der literarischen und literaturgeschichtlichen Verhältnisse der Pastoralbriefe.8 Aufgrund der neueren Diskussion darüber ist aus meiner Sicht die Frage der Verfasserschaft der Pastoralbriefe erneut offen und auf der Grundlage einer präziseren Bestimmung und Applikation pseudepigraphischer Aspekte differenzierter zu beantworten, als es die klassischen alternativen Interpretationsmodelle vermocht haben.9 Anders als Alfons Weiser in seinem Kommentar sehe ich inzwischen gute Gründe dafür, dass sowohl der 2. Timotheus- als auch der Titusbrief als authentische Paulusbriefe verstanden werden 5 

Vgl. z. B. Malherbe, Paulus; Weiser, 2 Tim, 47–50. Vgl. z. B. Prior, Paul, bes. 68–84 (vgl. Weiser, Rezension, sowie Engelmann, Untersuchungen, 476–480); Murphy-O’Connor, 2 Timothy; ders., Paul. A Critical Life, 356–371; Riesner, Pastoral Epistles. Freilich fallen die Begründungen und die Einordnung in die Paulusbiographie unterschiedlich aus. Zur Verhältnisbestimmung zwischen Röm 15; 2 Tim 4 und Apg 28 vgl. auch ders., Romans; ders., Apostelgeschichte. 7  Die Frage, was eine paulinische Gemeinde im eigentlichen Sinn auszeichnet  – noch dazu unter dem Eindruck des Todes des Apostels oder gar unter pseudepigraphischen Vorzeichen in späterer Zeit – kann hier nicht erörtert werden. Entscheidend ist der bleibende Bezug auf die Autorität des Apostels und seine von ihm gedanklich vorgeprägte Auffassung vom Evangelium Gottes in Jesus Christus vor allem durch die Überlieferung und Interpretation seiner Theologie durch seine engen Vertrauten und Schüler, gestützt auf die in diesem Zusammenhang entstehende Sammlung der Paulusbriefe und deren Applikation auf sich verändernde Verhältnisse. Charakteristisch für den 2 Tim ist dabei, dass er nicht wie andere Schriften auf eine bestimmte Gemeinde hin ausgerichtet ist (wie etwa unter pseudepigraphischen Vorzeichen der 1 Tim), sondern Paulus darin ohne spezifischen Gemeindebezug seinem Mitarbeiter Timotheus die Verantwortung für das paulinische Evangelium überträgt, das in seinem Kern ohnehin keinen lokalen oder regionalen, sondern universalen Geltungsanspruch erhebt. 8  Vgl. dazu v. a. Engelmann, Untersuchungen. 9 Vgl. Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76). 6 

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können, während der 1. Timotheusbrief mit einem deutlichen Abstand und in Abhängigkeit von den beiden anderen als pseudonymer Brief in den antihäretischen bzw. antignostischen Diskursen des 2. Jahrhunderts entstanden ist.10 Diese Sicht ergibt sich nicht zuletzt aus m. E. begründeten Zweifeln an der literarischen Komposition des sog. Corpus pastorale, innerhalb dessen die Wahrnehmung und Interpretation der inhaltlichen Aspekte des Korpus von den Vorstellungen dominiert und bestimmt werden, wie sie im 1. Timotheusbrief entfaltet werden. Ein Problem der pseudepigraphischen Perspektive sind stets die persönlichen Notizen des Titus- und des 2.  Timotheusbriefes geblieben, zu denen auch die stilistische Prägung der Reflexion über das Ende des Paulus in 2 Tim 4 gehört.11 Will man – selbst unter einer pseudepigraphischen Perspektive – beides nicht nur der Veranschaulichung und Glaubhaftmachung der Fiktion12 bzw. der martyrologischen, den Apostel bereits zu einem Heiligen stilisierenden Tendenz zuschreiben,13 so stellt sich die Frage, ob und inwiefern 2 Tim 4 eine reale Situation widerspiegelt und insofern auch für die Frage nach den historischen Umständen des Todes des Paulus in Rom relevant wäre. Mit der literarischen Beurteilung dieses Briefes und seiner Autorschaft sind jedoch auf verschiedenen Ebenen methodische Schwierigkeiten verbunden, die seinen Wert für historische (Re-)Konstruktionen der letzten Jahre des Paulus entsprechend unterschiedlich beurteilen lassen. Sieht man im 2.  Timotheusbrief ein authentisches Schreiben des Apostels, wird er für den historischen Blick auf das Lebensende des Paulus naturgemäß höher bewertet, als wenn man die entsprechenden Abschnitte für ein fiktives und insofern idealisierendes Bild des Apostels hält. Daraus ergeben sich freilich erneut verschiedene Möglichkeiten der Wahrnehmung: Als authentischer Brief würde der 2. Timotheusbrief selbstverständlich authentische Umstände wiedergeben, wobei jedoch zu bedenken ist, dass auch in diesem Fall subjektiv-stilisierende bzw. idealisierende Aspekte die Darstellung beeinflussen, zumal wenn – wie (unter dieser Voraussetzung zu Recht) oft aufgrund 10 Vgl.

Herzer, Gnosis (in diesem Band 315–339). Luttenberger, Prophetenmantel. 12 Vgl. Brox, Notizen; Ehrman, Forgery, 33.122 f. Tsuji, Korrespondenz, greift ebenfalls die verbreitete Auffassung der älteren Forschung auf, wonach die persönlichen Notizen ausschließlich der »Vortäuschung von Entstehungsverhältnissen« (a. a. O., 263) dienten, wobei die Fälschung persönlicher Briefe »eine solche grundsätzlich leichter als ein Gemeindebrief (ermöglicht) und andererseits Raum für Erklärungen (lässt), warum der persönliche Brief bisher unbekannt und ohne externe Zeugnisse geblieben ist« (ebd.). Ziel sei es, »dem Inhalt des Corpus Pastorale […] Allgemeingültigkeit« zu verleihen, und zwar dadurch, »dass der Gültigkeitsbereich des 1 Tim räumlich durch den des Tit und zeitlich durch den des 2 Tim ausgedehnt« werde (a. a. O., 270). Voraussetzung ist auch hier das literarische Corpus pastorale, wodurch die Unterschiede in der persönlichen Gestaltung unberücksichtigt bleiben und lediglich eine Funktion innerhalb des Briefkorpus, nicht der Einzelbriefe haben (vgl. bes. a. a. O., 268–270). Tsuji geht jedoch zu Recht davon aus, dass fingierte Briefe mit Fälschungsabsicht im Falle einer Entdeckung nicht akzeptiert worden wären, so dass die Fälschung so intensiv habe ausfallen müssen und daher persönliche Briefe im Unterschied zu Gemeindebriefen für die Fiktion notwendig gewesen seien (a. a. O., 256–259). 13  Vgl. dazu die differenzierte Erörterung bei Engelmann, Untersuchungen, 433–458; dies., Paulusbilder. 11 Vgl.

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von 2 Tim 4,11a vermutet wird  – Lukas bei der Abfassung in nicht näher zu definierender Weise beteiligt war.14 Auch unter pseudepigraphischer Perspektive können sich in derartigen Notizen und Formulierungen authentische Erinnerungen bewahren, die im Kreis der Paulusschüler in die Fiktion einbezogen werden, wofür es unterschiedliche Gründe und Intentionen geben kann.15 Das hängt auch davon ab, wen man für die pseudepigraphischen Verfasser hält und wie eng man deren Verbindung zum »ehemaligen Missionsteam des Paulus«16 verstehen will. Selbst wenn man eine solche Beziehung für unwahrscheinlich hält und die persönlichen Notizen nicht einfach der pseudonymen Strategie zuschreibt,17 so besteht nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Notwendigkeit, die Beschreibung persönlicher Umstände als Konstruktion einer Pauluserzählung zu erklären, deren überzeugende literarische Funktion nicht zuletzt von der Plausibilität und der Glaubwürdigkeit der Angaben zu Personen, Beziehungsgeflechten, Orten, Anweisungen, Reisetätigkeiten usw. abhängig ist.18 Unter diesen Umständen spielt für die Frage nach der Glaubwürdigkeit und der Plausibilität einer pseudepigraphischen Fiktion umso mehr die Frage nach den literarischen Beziehungen zu anderen Schriften sowie auch deren Kenntnis bei den impliziten und expliziten Adressaten eine wichtige Rolle,19 und zwar insbesondere zu jenen, die ebenfalls über die letzten Jahre des Paulus Auskunft geben oder darüber reflektieren, allen voran der Römerbrief, konkret die in Röm 15,24.28 geäußerten Reisepläne nach Spanien, sowie die Apostelgeschichte mit ihrem offenen Schluss und dem Schweigen über den Tod des Paulus.20

1.2  Röm 15, 2 Tim 4 und Apg 28 – Das Problem der Quellen und ihrer Verhältnisbestimmung Auf begrenztem Raum ist die mit den unterschiedlichen Perspektiven verbundene Komplexität der Fragestellung kaum sinnvoll darzustellen, will man der For14  Vgl. u. a. Moule, Problem; Strobel, Schreiben; unter pseudonymer Perspektive u. a. Quinn, Last Volume; kritisch Brox, Lukas; Weiser, 2 Tim, 67 f. 15  Vgl. z. B. Eastman, Paul, 124 f. 16 Vgl. Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule, der die Verfasser der Pastoralbriefe im engeren Kreis der ehemaligen Mitarbeiter vermutet, allen voran Timotheus und Titus. 17  Vgl. Anm. 12. 18 Vgl. Pervo, Romancing; ausführlich entfaltet bei Glaser, Briefroman; ders., Erzählung. Abgesehen von dem Problem der Existenz einer antiken Gattung des Briefromans (vgl. Luchner, Pseudepigraphie), wird damit ein neues literarisches Paradigma in der Interpretation der Pastoralbriefe eingeführt, das mit dem klassischen Modell des Corpus pastorale nicht mehr kompatibel ist, vgl. kritisch Engelmann, Untersuchungen, 80–87. 19  Zur Bedeutung einer intertextuellen Perspektive bei der Auslegung der Pastoralbriefe als pseudepigraphischer Schriften vgl. v. a. Merz, Selbstauslegung. 20  Falls der Philipperbrief und der Philemonbrief ebenfalls in die römische Gefangenschaft gehören (vgl. Wick, Philipperbrief, 182–185; Schnelle, Einleitung 2013, 161–163.174 f.), dann wird diese Fragestellung unter authentischem wie pseudepigraphischen Vorzeichen noch komplexer. Allerdings ist diese Situierung der beiden Briefe zu Recht umstritten, da die dafür angeführten Gründe nicht zwingend sind und nach wie vor einiges für eine Abfassung dieser Briefe in einer früheren Phase der Paulusmission spricht.



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schungslage auch nur ansatzweise gerecht werden. Daher soll im Folgenden von der bereits erwähnten Voraussetzung ausgegangen werden, dass es sich beim 2. Timotheusbrief um ein authentisches Schreiben des Apostels handelt, das Paulus in der letzten Phase seines Lebens schreibt. Viele Aspekte stellen sich jedoch unter pseudepigraphischer Perspektive ganz ähnlich dar. So sind z. B. in beiden Fällen die Spanienpläne von Röm 15 vorausgesetzt, die einem pseudonymen Autor genauso vor Augen stehen wie Paulus selbst. Nur graduell anders verhält es sich mit der Apostelgeschichte: Ist der 2. Timotheusbrief authentisch, dann ist Lukas als Augenzeuge der letzten Lebensphase des Apostels vorauszusetzen und hat diese Erfahrung in der Erinnerung, als er die Apostelgeschichte schreibt. Ein pseudonymer Autor hingegen setzt sehr wahrscheinlich die Apostelgeschichte voraus und kennt also deren Abschluss über das Ende des Paulus.21 Bezieht man darüber hinaus die in der ActaForschung umstrittene Frage ein, ob Lukas zumal am Ende der Apostelgeschichte als Reisebegleiter des Paulus einen authentischen Eindruck wiedergibt22 oder vorwiegend unter literarisch-konzeptionellen Gesichtspunkten schreibt,23 so ergeben sich erneut verschiedene Konstellationen und Möglichkeiten nicht nur der Interpretation der einzelnen Überlieferungen, sondern auch ihrer Zuordnung. Dabei ist zudem davon abgesehen, dass Lukas auch als (zeitweiliger) Augenzeuge der Paulusmission sowie der letzten Monate bzw. Jahre des Paulus in Rom nicht einfach einen verlässlichen Bericht gibt, sondern das Erlebte der literarischen Gestaltung seines Werkes unterworfen ist. Daraus ergibt sich die Frage nach der historischen Zuverlässigkeit dessen, was Lukas an biographischen Angaben unter der Maßgabe seiner die Ausbreitung des Evangeliums und die Bedeutung des Paulus idealisierenden und damit auch literarisch orientierten Erzählabsicht in seinem Werk bietet. Die Frage nach den historischen Aspekten der letzten Jahre und der Umstände des Todes des Apostels Paulus ist also mit einer Reihe von Problemen verknüpft, die nicht nur die Darstellung dieser Aspekte im 2. Timotheusbrief betreffen, sondern auch die Art und Weise, wie Lukas in Apg 28 die römische Gefangenschaft des Paulus beschreibt, die wahrscheinlich mit der in 2. Timotheusbrief vorausgesetzten Situation identisch ist. Ein wesentliches Problem für die biographische Verortung des Todes des Paulus besteht ja bekanntermaßen darin, dass weder der 2. Timotheusbrief noch die Apostelgeschichte tatsächlich seinen Tod berichten. Lukas setzt nach Apg 20,24 f. lediglich voraus, dass Paulus bereits gestorben ist und somit nicht noch einmal nach Ephesus zurückkommen würde.24 Dass Paulus als ein Märtyrer 21  Zum Pro und Contra vgl. Weiser, 2 Tim, 69 f.; zur Relation von Apg und Pastoralbriefen vgl. Schröter, Kirche. 22  Vgl. z. B. Thornton, Zeuge, bes. 364–367; Riesner, Frühzeit, 366. Schröter, Lukas als Historiograph 2005, bes. 240, räumt die Möglichkeit einer Augenzeugenschaft ein (a. a. O., 252). 23 Vgl. Weiser, Apostelgeschichte, bes. 217–220.363 f.; Marguerat, Lukas, bes. 44–46; Rothschild, Luke, bes. 264–267. Zur Darstellung der Forschung vgl. Börstinghaus, Sturmfahrt, 281–336, der trotz seiner grundsätzlich literarischen Perspektive die Wir-Stücke hypothetisch auf ein Gemeindearchiv in Caesarea zurückführt, das Lukas nach dem Jahr 70 benutzt habe (a. a. O., 330). 24  Vgl. z. B. Weiser, Apostelgeschichte, 319 f.; Riesner, Apostelgeschichte, 154.

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gestorben ist bzw. mit dem Schwert hingerichtet wurde, wird erst auf eine ausgesprochen phantastische Weise in den Acta Pauli überliefert. Deren historischer Wert ist jedoch in hohem Maße fragwürdig, so dass für den Tod des Paulus letztlich keine verlässliche Quelle existiert.25 Für den 2.  Timotheusbrief ist zunächst nicht verwunderlich, dass über dieses Ereignis selbst nichts enthalten ist, da er (auch unter fiktiven Vorzeichen) ein von Paulus vor seinem Tod geschriebener Brief ist bzw. sein will und daher schwerlich den Tod selbst einschließen kann.26 In der relativen Offenheit des Briefschlusses bzw. einiger Bemerkungen darin hat man daher immer wieder Indizien finden wollen, die auf ein weiteres Wirken des Paulus nach einer ersten römischen Gefangenschaft gedeutet werden können. Diese werden zumeist mit der Vermutung verbunden, Paulus habe die Pläne von Röm 15 tatsächlich umsetzen können und sei nach Spanien gekommen. So wird vor allem die Erwähnung einer »ersten Verteidigung«, bei der Paulus von allen verlassen worden sei und auf die er in 2. Timotheusbrief zurückblicke, in dem Sinne gedeutet, dass zwischen dieser ersten Verteidigung und der aktuellen Situation eine weitere Phase der Mission gelegen habe. In diesem Zusammenhang wird dann auch die Wendung ὁ καιρὸς τῆς ἀναλύσεώς μου ἐφέστηκεν (2 Tim 4,6) nicht als Anspielung auf den bevorstehenden Tod,27 sondern auf die bevorstehende Freilassung gedeutet.28 Immerhin bliebe auch unter diesen Voraussetzungen der 2.  Timotheusbrief selbst noch ein Zeugnis, das  – in einer zweiten römischen Gefangenschaft – den Tod des Paulus bereits im Blick hat. Ähnlich verhält es sich mit der Apg, denn da Lukas aufgrund von Apg 20,24 f. den Tod des Paulus voraussetzt und sein Werk ohnehin nach dem Tod des Apostels schreibt, ist es umso mehr verwunderlich, warum er dessen Ende nicht als das 25  Vgl. v. a. Zwierlein, Petrus und Paulus, 132–145 (vgl. dazu Horn, Rezension). Zwar lässt Zwierlein Apg 28 als historisches Zeugnis für den Romaufenthalt des Paulus gelten; doch »weder für seinen Tod in Rom noch für sein Ende als Märtyrer gibt es ein belastbares historisches Dokument« (a. a. O., 146). Zur Diskussion um die Martyrien des Petrus und Paulus in Rom vgl. weiterhin Thümmel, Memorien; Zwierlein, Petrus in Rom; sowie zur Dokumentation zu der von Zwierlein angestoßenen Diskussion die Beiträge in Heid, Petrus. 26  Ein pseudepigraphischer Autor hätte allerdings Paulus einen Hinweis darauf in den Mund legen können. Eine Analogie bietet etwa die Prospektive des Ignatius auf die Art seines Martyriums (vgl. IgnRom 4,1–5,3). 27  So die verbreitete Deutung, vgl. Oberlinner, Titus, 160 f.; Weiser, 2 Tim, 56.206. 28  Vgl. z. B. Prior, Paul, bes. 68–84.92–103 (vgl. dazu die berechtigte Kritik bei Weiser, 2 Tim, 570), sowie bereits Spicq, Saint Paul est venue en Espagne; Metzger, Reise u. a. Die Einschätzung des 2 Tim als authentischen Brief ist jedoch nicht von dieser Interpretation von Prior abhängig, zumal Prior eine erneute Wirksamkeit im Osten voraussetzt, was aber für eine plausible Verortung des 2 Tim in der Biographie des Paulus nicht nötig ist, wenn man den 1 Tim als ein pseudepigraphisches Schreiben nicht in die Kalkulation einbeziehen muss. Eine ausführliche Argumentation zur Frühdatierung des 1 Tim und Tit in die vorrömische Phase der Mission, in welcher Paulus eine vierte Missionsreise im Osten durchgeführt habe, bietet Fuchs, Missionsreise; vgl. auch Neudorfer, 1 Tim 2004, 29–33. Kritisch zur These einer Rückkehr in den Osten äußert sich Riesner, Pastoral Epistles, 324 f. Unter pseudepigraphischen Vorzeichen entfällt dieser Aspekt für die Rekonstruktion des Endes des Paulus; anders jedoch Koester, Paul, wonach die Pastoralbriefe eine weitere Mission im Osten und den Tod des Paulus in Philippi voraussetzen. Zu den verschiedenen Theorien dieser Art vgl. Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 319–323.

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Martyrium um des Evangeliums willen beschreibt, als das es dann später in apokrypher Tradition geschildert wird. Dieses in der Apostelgeschichte literarisch und martyrologisch gewissermaßen unvollständige Schicksal teilt Paulus mit Petrus, dessen Tod Lukas ebenfalls nicht berichtet und der – anders als Paulus – aus der Geschichte der Apostel gleichsam unbemerkt verschwindet, obwohl er für deren Beginn eine so maßgebliche Rolle gespielt hat.29 Aufgrund solcher nur schwer zu erklärenden Auffälligkeiten hat man vermutet, Lukas habe nach dem Evangelium und der Apostelgeschichte noch einen dritten Band, einen τρίτος λόγος (vgl. die Bezeichnung πρῶτος λόγος in Apg 1,1 für das Evangelium), schreiben wollen,30 und gelegentlich wurde dies mit der Hypothese verbunden, die Pastoralbriefe seien dieser dritte Band des lukanischen Werkes.31 Doch damit werden die Probleme nur noch komplexer, denn wenn 2. Timotheusbrief eine weitere Wirksamkeit des Paulus nach einer ersten römischen Gefangenschaft andeutete, Lukas dies wusste und zugleich der Verfasser der Pastoralbriefe gewesen wäre, dann wäre gänzlich unverständlich, warum diese Phase der Wirksamkeit des Paulus im 2. Timotheusbriefes als Teil des »dritten Bandes« nicht einmal andeutungsweise erwähnt wird. Doch auch wenn solche Spekulationen abwegig sind, so ist damit einmal mehr das Problem benannt, inwiefern der 2.  Timotheusbrief und die Apostelgeschichte im Blick auf die letzte Lebensphase des Paulus zueinander ins Verhältnis zu setzen sind, zumal eine direkte literarische Verbindung zwischen beiden Texten schon deshalb nicht zwingend vorausgesetzt werden kann, weil es dafür keine Indizien in den Texten gibt. Setzt man das Wahrscheinliche voraus, dass das Ende der Apostelgeschichte auch das originäre Ende des lukanischen Werkes ist, dann bleibt es ein literarhistorisches Problem, dass Lukas das Martyrium des Paulus nicht erwähnt, es sei denn, man versteht den offenen Schluss als Hinweis auf eine Frühdatierung, die genügend Spielraum gibt, um die Spanienpläne in Röm 15 mit 2 Tim 4 und der Apostelgeschichte zu harmonisieren und das Schweigen des Lukas über den Tod der Apostel zu erklären.32

2.  Das Ende des Paulus im Spiegel des 2. Timotheusbriefes – eine exegetisch-theologische Skizze Eine wesentliche Voraussetzung für die Beantwortung der Frage nach dem Ende des Paulus liegt also maßgeblich in der Interpretation der entsprechenden Bemerkungen von 2 Tim 4. Dem soll darum ein eigener Abschnitt gewidmet werden, bevor 29 

Vgl. dazu die Überlegungen bei Riesner, Apostelgeschichte, 153–179. Vgl. bereits Zahn, Einleitung, 441. 31 Vgl. Quinn, Last Volume; Riesner, Luke-Acts; vgl. Strobel, Schreiben, 207: »Wie die Dinge liegen, muß dann aber die schon von H. von Campenhausen aufgestellte Alternative: Polykarp von Smyrna oder Lukas? zugunsten des letzteren entschieden werden.« 32 Vgl. Riesner, Apostelgeschichte, 155 f.159.178 (zwischen 63 und 70); ähnlich Prior, Paul, 79 (Apg 28 spiegele die Situation um 62). 30 

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dann die Frage nach den historischen Umständen des Lebensendes des Paulus noch einmal aufgegriffen wird.

2.1  Strukturelle Beobachtungen zu 2 Tim 4 Alfons Weiser hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der testamentarische Charakter des 2. Timotheusbriefes im letzten Kapitel des Briefes in besonderer Weise zum Ausdruck kommt.33 Auch wenn man 2 Tim 4,1–8 als eine thematische Einheit verstehen sollte,34 die mit einer »beschwörenden Beteuerungsformel«35 eingeleitet wird, um den Abschluss des Testaments mit V. 8 vorzubereiten, so werden doch die in V. 1–5 an Timotheus gerichteten Imperative in V. 6–8b durch Aussagen des Paulus über seinen bevorstehenden Tod abgelöst, um abschließend noch einen Ausblick auf die nachfolgenden Generationen anzufügen (V. 8c). Die Gerichtsaussagen in V. 1 und V. 8 bilden eine zusätzliche inhaltliche Klammer des Abschnitts.36 Strukturell ist darüber hinaus und im Blick auf die hier verfolgte Fragestellung auf die Korrespondenz zwischen 4,6–8 und 16–18 hinzuweisen. Beide Abschnitte sind mit den Umständen der Todesgefahr (4,6 f.16 f.) befasst und beide formulieren eine Hoffnungsperspektive, die sich auf die Zuversicht am Tag des Herrn bzw. die Rettung in die himmlische Königsherrschaft richtet (4,8ab.16), so dass dadurch die persönlichen Notizen in 4,9–15 gleichsam gerahmt werden.37 Die trotz der strukturellen Parallelität erkennbaren Unterschiede in Sprache und Duktus sind auf die unterschiedlichen Funktionen innerhalb des Briefes zurückzuführen. Während 4,6–8 das eigentliche Briefkorpus bzw. das Vermächtnis des Paulus abschließt, fungieren die V. 16–18 innerhalb des Briefschlusses als Mitteilung der konkreten Umstände, in denen Paulus sich befindet und seinen Mitarbeiter mit einiger Dringlichkeit (V. 9) erwartet. Der Fokus in den beiden nächsten Abschnitten soll auf denjenigen Aspekten liegen, die im engeren Sinn mit den Umständen des Endes des Paulus zu tun haben.

2.2  Das Resümee eines Lebens und die Todeserwartung in 2 Tim 4,6–8 In 2 Tim 4,6 spricht Paulus von einem καιρός und nimmt damit einen Aspekt aus 4,2 f. auf, der nun konkret auf die Todeserwartung bezogen ist, die durch die Begrif33 Vgl.

Weiser, 2 Tim, 297 f., mit einer Auflistung der entsprechenden Gattungselemente. Wolter, Pastoralbriefe, 227. 35  Weiser, 2 Tim, 298. 36  Oberlinner, 2 Tim, 153. 37  Nicht ohne Grund sind daher u. a. die V. 9–15 als paulinisches Fragment verstanden worden, die für sich genommen mit zahlreichen Papyrusdokumenten vergleichbar sind und auf ein Papyrusblatt passen; vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen, 50–53. Doch gibt es dafür keine Hinweise, zumal die Fragmententheorie letztlich in dem Versuch gründet, das Problem zu lösen, das die persönlichen Notizen bei der Annahme einer pseudonymen Verfasserschaft bereiten. Unter papyrologischen Gesichtspunkten ist hingegen aufgrund der strukturellen Beobachtungen zu Kap. 4 die Überlegung nicht abwegig, in 4,9–22 so etwas wie einen Begleitbrief zu dem Testament in 1,1–4,8 zu sehen, der in der Überlieferung angehängt wurde. 34 Vgl.

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fe σπένδομαι und ἀνάλυσις thematisiert wird. Das akut Bedrohliche der Situation wird durch die Verwendung von ἐφίστημι verstärkt, wie dessen Gebrauch vor allem im lukanischen Werk zeigt (vgl. Lk 4,39; Apg 6,12; 17,5; sowie Apg 22,20; 28,2 und bei Paulus 1 Thess 5,3). Wie oben bereits angedeutet, wurde die Aussage ὁ καιρὸς τῆς ἀναλύσεώς μου ἐφέστηκεν nicht als Umschreibung für den bevorstehenden Tod verstanden, sondern als Ausdruck der Gewissheit des Paulus, bald aus der Haft entlassen zu werden.38 Damit wird eine vermeintliche Spannung gelöst, die man zwischen einer Todesfurcht in 4,6–8 einerseits und den in 4,9–15 (bes. V. 11) geäußerten Zukunftsplänen und auch der Gewissheit der Rettung durch den Herrn in 4,18 zu erkennen meint. Paulus spreche daher nicht von seinem bevorstehenden Tod, sondern habe damit möglicherweise sogar einen bevorstehenden Aufbruch zu neuen missionarischen Aktivitäten im Blick. Doch spricht dagegen nicht nur der gesamte Duktus des Abschnittes 4,6–8, sondern auch die Tatsache, dass »Aufbruch« eine spezielle Bedeutung des Begriffes ἀνάλυσις darstellt, der metaphorisch für das Sterben als Aufbruch in die jenseitige Welt gebraucht wird (vgl. Phil 1,23; 1 Clem 44,5).39 Die auf das Sterben bezogene Verwendung in Phil 1,23 (»Aufbruch«, um bei Christus zu sein) legt nahe, diesen Sinn auch für 2 Tim 4,6 anzunehmen  – zumal unter Berücksichtigung der weiteren Affinitäten zwischen dem 2.  Timotheusbrief und Philipperbrief.40 Von künftigen Reise- bzw. Missionsplänen des Paulus ist hingegen im 2. Timotheusbrief nicht die Rede.41 Mit dem Begriff σπένδομαι verwendet Paulus zudem einen kultischen Begriff, der näherhin das Trankopfer bezeichnet.42 Die metaphorische Übertragung auf sein eigenes Sterben lässt vermuten, dass er seinen gewaltsamen Tod vor Augen hatte, insofern der Begriff unter diesem Vorzeichen das Vergießen des Blutes assoziiert. Der Dienst des Paulus am Evangelium wird somit in seiner Perspektive zu einem Opferdienst, jedoch nicht als ein kultisches Opfer oder gar Sühnopfer,43 sondern 38 

S. o. Anm. 28. sich also die Konnotation des Aufbruchs bezieht bzw. ob sie eigentlich oder metaphorisch gemeint ist, muss der Kontext ergeben. So findet sich etwa bei Philo, Flacc. 187 der Begriff in der Bedeutung »Sterben« (τὴν ἐκ τοῦ βίου τελευταίαν ἀνάλυσιν, im metaphorischen Sinn auch in Aet. 94), in 115 hingegen als Aufbruch von einem Symposion, was aber durch den Kontext klar definiert wird. Vgl. z. B. auch Jdt 13,1; 2 Makk 15,28; 3 Makk 5,44. 40  Prior, Paul, 102 f., erklärt aufgrund verschiedener Kontexte Phil 1,23 und 2 Tim 4,6 für nicht vergleichbar; ähnlich, allerdings unter anderen Voraussetzungen Engelmann, Untersuchungen, 478. 41 Gegen Prior, Paul, 164 u. ö., der insbesondere 2 Tim 4,11.17 so deutet, als habe Paulus ein neues Missionsteam zusammenstellen wollen. Im Gegenteil gewinnt man in 4,9–15 eher den Eindruck, das Missionsteam des Paulus sei in Auflösung begriffen. Die Notiz über die Nützlichkeit des Markus zum Dienst (4,11) lässt verschiedene Deutungen offen, ebenso die Bemerkung über die Erfüllung des Kerygma in V. 17. Schließlich ist in 4,18, dem letzten Satz vor den abschließenden Grüßen, zwar von Rettung die Rede, aber von der Rettung in die himmlische Königsherrschaft des Kyrios, weitergehende Pläne kommen auch hier nicht in den Blick. 42 Vgl. Otto, σπένδομαι (a. a. O., 531 einzelne Belege, an denen der Begriff auf einen Blutritus bzw. ein Menschenopfer bezogen ist); Citron, Untersuchung, bes. 49–69. 43  So z. B. Jeremias/Strobel, Briefe, 64. Eine sühnetheologische Bedeutung des Martyriums 39  Worauf

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im Sinne der Lebenshingabe für das Evangelium als ein Zeugnis (vgl. 2 Tim 1,8). Mit einer ähnlichen Begrifflichkeit hatte Paulus bereits in Phil 1,23 (ἀναλῦσαι) und 2,17 (σπένδομαι ἐπὶ τῇ θυσίᾳ) von seinem Tod angesichts einer bedrohlichen Haftsituation gesprochen.44 Das Bewusstsein, dass sein Dienst der Verkündigung auf einen gewaltsamen Tod zugeht, bringt Paulus schließlich mit der ihm geläufigen Wettkampfmetaphorik zum Ausdruck. Der dreigliedrige Satz in 2 Tim 4,7 verbindet dabei zwei Metaphern aus dem Sport mit dem Begriff der πίστις und macht damit die Sachebene deutlich, auf die sich die Sportmetaphern beziehen.45 Bereits in 1 Kor 9,24–26 hatte Paulus seine Mühen im Dienst am Evangelium mit Sportlern verglichen, die im Stadion um den Siegeskranz kämpfen. Insbesondere der Wechsel vom Begriff βραβεῖον (1 Kor 9,24; vgl. Phil 3,14) zu στέφανος (2 Tim 4,8; vgl. 2,5) markiert eine Akzentverschiebung, die nicht zuletzt mit der konkreten Gefährdungssituation zu tun hat und daher die Annahme einer literarischen Abhängigkeit der Formulierung in 2 Tim 4,7 f. von 1 Kor 9 nicht nahelegt.46 Mit dem Motiv des Siegeskranzes (4,8: στέφανος, vgl. 2,5 στεφανοῦται) bleibt Paulus in der Wettkampfmetaphorik. Entscheidend ist die Perspektive: Von der Gegenwart, die vom Perfekt des Vergangenen bestimmt wird, richtet sich der Blick auf das noch zu Erwartende. Hatte Paulus bereits in 1,18 für Onesiphoros den Wunsch geäußert, der Kyrios möge ihm am Tag des Gerichtes »Erbarmen« schenken, so rückt mit seinem bevorstehenden Tod nun auch für ihn selbst dieser Gerichtstag Gottes in greifbare Nähe.

2.3  Ein Einblick in die Lage des Apostels – 2 Tim 4,16–18 Mit der Thematisierung einer »ersten Verteidigung« (4,16) setzt Paulus einen Akzent, der den gesamten Abschnitt von 4,9–21 als eine aus der Situation erwachsende Aneinanderreihung für ihn wichtiger Mitteilungen erweist, die – wie es zur Eigenart derartiger Notizen in echten Briefen gehört – keiner stringenten Komposition folgt. Dem entspricht, dass die Aussage, keiner hätte ihm beigestanden und alle hätten ihn verlassen, in einer gewissen Spannung zu den Personalnotizen der Verse 9–12 sowie 19–21 steht. In 4,9–12 war zwar auch von Mitarbeitern die Rede, die Paulus verlassen haben (Demas, Kreszens und Titus), aber wie in V. 19–21 zugleich auch von solchen, die bei Paulus sind, es waren oder in Zukunft sein sollen. Die Einschätfindet sich erst bei IgnEph 8,1; 18,1; 21,1; IgnSm 10,2; Polyc. 2,3; 6,1, allerdings mit anderer Terminologie und unter völlig anderen Voraussetzungen. 44 Vgl. Müller, Philipper, 61–63 (mit Hinweis auf eine Grabinschrift über den Aufbruch des Verstorbenen zu den Göttern), sowie 120 f.; Engelmann, Untersuchungen, 478–480. Eine literarische Abhängigkeit des 2 Tim vom Phil (vgl. Oberlinner, 2 Tim, 160; Weiser, 2 Tim, 305 f.; Merz, Selbstauslegung, 125; Engelmann, Untersuchungen, 480, u. a.) ist m. E. nicht erkennbar. 45  Vgl. z. B. Philo, Abr. 133 f.; Cher. 80; Leg. 1,80; 2,108; zum Motiv vgl. Metzner, Wettkampf; Poplutz, Athlet. 46  Vgl. dazu etwa 1 Clem 5,5 f., der – obwohl er an dieser Stelle vom Martyrium des Paulus spricht – den Begriff βραβεῖον aufgreift. Philo, Sacr. 17, verwendet beide Begriffe parallel; vgl. auch MartPol 17,1; sowie Tertullian, Ad Martyras 3: corona aeternitatis parallel zu brabium angelicae substantiae.

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zung, die Paulus in V. 16 im Rückblick auf seine erste Apologie bietet, spiegelt also eher eine subjektive Wahrnehmung47 als die Realität, und als solche unterstreicht sie den (allein) durch den Herrn erfahrenen Beistand. Zugleich ergibt sich eine gewisse Korrelation zwischen 4,16–18 und 4,6–8, insofern beide Texte die Todesgefahr wie auch die Rettung thematisieren, wenn auch mit unterschiedlicher Begrifflichkeit. Literarisch kann dies, wie oben erwähnt, durchaus so gedeutet werden, dass 4,6–8 als Abschluss des eigentlichen Briefkorpus zu verstehen ist, der den Tod des Paulus in einem paränetischen Duktus thematisiert, der bewusst auf die nach ihm kommenden Generationen blickt (4,8c). Der korrelierende Text in 4,16–18 hingegen hat keine primär literarisch-paränetische Funktion, sondern bietet im Zusammenhang mit den anderen persönlichen Notizen zunächst in V. 16 eine über die Situation informierende Angabe und thematisiert erst dann die verbleibende Hoffnungsperspektive, hier allerdings ausschließlich bezogen auf Paulus. Dementsprechend ist die Aussage über diejenigen, die ihn verlassen haben, in diesem Kontext nicht als Vorwurf formuliert, sondern als Wunsch, es möge ihnen nicht angerechnet werden, nämlich als Verfehlung im Gericht.48 Ähnlich wie V. 6–8, so sind auch die V. 17–18 von einem gewissen situationsbedingten Pathos49 geprägt. Paulus sieht in der vom Herrn erfahrenen Stärkung die Absicht, dass durch ihn die Predigt des Evangeliums (τὸ κήρυγμα) erfüllt würde und »alle Völker« es hören sollten. Das lässt sich in diesem Kontext kaum als ein neues Missionsprogramm lesen, auch wenn die »erste Verteidigung« offenbar mit einer (vorläufigen) »Rettung aus dem Rachen des Löwen« endete. Von Rettungserfahrungen hat Paulus bereits in 2 Tim 3,11 gesprochen.50 Zwar geht die Bedeutung der Löwenmetapher im Kontext des 2.  Timotheusbriefes über den literarischen Topos der Rettung des Frommen aus Todesgefahr hinaus,51 doch lässt 47 Vgl.

Weiser, 2 Tim, 323. Ostmeyer, Kommunikation, 157, hat hierbei zu Recht auf die Nähe dieser rhetorischen Figur zu lukanischen Gebetsvorstellungen hingewiesen: »Die Fürbitte des zu Unrecht Angeklagten für die, die ihm Unrecht taten, ist auch im lukanischen Doppelwerk ein beliebter Topos (vgl. Lk 23,34; Apg 7,60).« 49  Weiser, 2 Tim, 305, spricht in Bezug auf 4,6 zu Recht von einer Formulierung »in Gewicht gebender Feierlichkeit«. 50  Vgl. 2 Kor 1,10; in 1 Kor 15,32 ist sogar davon die Rede, er habe in Ephesus mit wilden Tieren gekämpft, wobei dies wahrscheinlich metaphorisch zu verstehen ist. Wolff, 1 Kor 2011, 398 f., weist darauf hin, dass Paulus aufgrund seines römischen Bürgerrechtes nicht zum Tierkampf hätte verurteilt werden dürfen, vgl. dazu auch Hengel, Der vorchristliche Paulus, 193–208. In den Acta Pauli (ca. 185–195, vgl. Schneemelcher, Apokryphen Bd. II, 214) werden diese Stellen zum Anknüpfungspunkt für eine Legende von einem Löwen, den Paulus getauft habe und dem er später in der ephesinischen Arena wieder begegnet sei, wo der getaufte Löwe ihn verschont, vgl. Ders., Löwe; zum metaphorischen Gebrauch der Wendung vgl. Malherbe, Beasts. Vgl. demgegenüber die offenkundig das eigene Martyrium verherrlichende Übertreibung bei Ign.Rom 5,1: »Von Syrien bis Rom kämpfe ich mit wilden Tieren, zu Land und zu Wasser, bei Nacht und Tag, an zehn Leoparden gefesselt – eine Soldatenabteilung nämlich –, die auch durch erzeigte Wohltaten nur schlimmer werden. Unter ihren Misshandlungen aber werde ich immer mehr zum Jünger […]« (zit. nach Lindemann/Paulsen, Väter, 213). Zur Funktion von Löwen in der frühchristlichen Literatur vgl. Grant, Lions. 51  Vgl. 1 Sam 17,37; PsLXX 7,2 f.; 21,22; 34,17; 90,13; 1QH XIII, 9.11.13–14.18; vgl. Ober48 

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

der Rückblick nicht erkennen, in welcher zeitlichen Relation das Reflektierte zur aktuellen Gegenwart steht. Denkbar sind  – unter entsprechenden Voraussetzungen – verschiedene Szenarien: Entweder blickt Paulus auf eine erste Verteidigung in Rom zurück, wo er sich nach wie vor befindet und nicht mehr mit einem positiven Ausgang rechnet (vgl. 4,6 f.). Möglich ist ferner, dass er noch weiter zurückblickt, etwa auf jene Verteidigungsrede vor einer – ebenfalls kaiserlichen – Gerichtsinstanz am Sitz des Präfekten in Cäsarea, von wo aus er an das kaiserliche Gericht in Rom appellierte.52 Letztere Szenerie ist jedoch nur aus der Apostelgeschichte bekannt, und obwohl Lukas sie sehr ausführlich schildert (23,23–26,32), muss man mit historischen Schlussfolgerungen vorsichtig sein, zumal bei Lukas von mehreren Anhörungen die Rede ist, die sich nach Apg 24,27 über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren erstreckten. Und schließlich könnte man – wie schon bei Eusebius (h. e. II 22) zu lesen ist – auch an die Zeit einer ersten römischen Gefangenschaft denken, nach der Paulus doch noch einmal freigekommen ist und nun, in der zweiten Gefangenschaft, darauf zurückblicke.53 Dann aber hätte Paulus über die doch recht lange missionarische Wirksamkeit sowie die erneuten Umstände seiner Mission keinerlei Wort verloren und auch sonst keine Zeugnisse davon hinterlassen, so dass diese Möglichkeit m. E. am wenigsten überzeugt und auch im Kontext des 2. Timotheusbriefes nicht wahrscheinlich zu machen ist. Da Paulus selbst keine weiteren Umstände erwähnt und die Wendung πρώτη ἀπολογία für den Rückblick hinter ein doch eher komplexes Geschehen eines längere Zeit zurück liegenden Prozesses mit positiven Ausgang zumindest ungewöhnlich schwach wäre, ist wahrscheinlicher anzunehmen, dass sich 2 Tim 4,16–18 auf eine erste Anhörung in der aktuellen Situation in Rom bezieht,54 die Paulus vielleicht aufgrund einer fehlenden formalen Anklage (vgl. Apg 28,21) überstanden hat.55 In einer zeitlich nicht näher linner, 2 Tim, 179. Die Metapher führt im biblischen Kontext auf die Rettung des Daniel in der Löwengrube zurück (Dan 6; vgl. bes. V. 21.28[Theod]; 1 Makk 2,60; vgl. ZusEst 4,17), wird aber auch bereits in Am 3,12 für die Rettung aus lebensbedrohlicher Gefahr durch den Herrn verwendet. Bemerkenswert im Zusammenhang mit der in 2 Tim vorausgesetzten Situation der römischen Gefangenschaft und des Prozesses des Paulus vor dem kaiserlichen Gericht ist vielmehr die imperiale Konnotation der Löwenmetapher, vgl. z. B. in Offb 13,2. 52 Vgl. van Bruggen, Einordnung, 52. Binder, Situation, 79 f., vermutet hingegen, damit könne nur Jerusalem gemeint sein. 53 Allerdings knüpft Eusebius an nachneutestamentliche Überlieferungen an, die er weder nennt noch als sicher wiedergibt. Unter diesen Voraussetzungen legt er 2 Tim 4 aus bzw. harmonisiert diesen Text mit den Überlieferungen. Als Zeuge für historisch zuverlässige Daten kann Eusebius daher in diesem Punkt nicht gelten. 54  Vgl. u. a. Weiser, 2 Tim, 323; Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 373. 55  Zur lukanischen Sicht der Situation und der Beziehung zur jüdischen Gemeinde in Rom vgl. Taylor, Jewish Leaders, mit dem Ergebnis, der lukanische Paulus werde auch hier in einem positiven Verhältnis zum Judentum dargestellt, sehr wahrscheinlich im Unterschied zu den realen Gegebenheiten, vgl. Theissen, Paulus – der Unglücksstifter, bes. 241–244; Barclay, Last Years of Paul, u. a. mit Hinweis auf 1 Clem 5,5 (Eifersucht und Neid) sowie die fehlende Unterstützung in Rom, die der 2 Tim beschreibt. Gelegentlich wird sogar eine inhaltliche Nähe zwischen Röm 11 und der Paulusrede in Apg 28,25–27 vermutet, vgl. Taylor, Jewish Leaders, 321 f. Zur literarischen Stilisierung des lukanischen Paulusbildes vgl. ferner Lentz, Lukeʼs Portrait, 170: »By the end of



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bestimmbaren Prozesspause  – von der nie absehbar war, wie lange sie dauern würde (vgl. Apg. 24,27) – schreibt Paulus unter Mithilfe oder im Beisein des Lukas (4,11) an Timotheus und bittet ihn nicht nur um ein baldiges Kommen, sondern auch um Dokumente und Schriftstücke, die er möglicherweise für den Fortgang des Verfahrens braucht.56 Die Apologie seines Evangeliums vor dem Gericht des Kaisers versteht Paulus als die Erfüllung seines Kerygmas, denn der Kaiser bzw. das kaiserliche Gericht ist zugleich die weltliche Vertretung »aller Völker«.57 Damit ist zwar das Missionsprogramm nicht in dem Sinne verwirklicht, wie er es nach Röm 15,23 f. erhoffte. Wohl aber kann er offenbar damit seinen apostolischen Auftrag als erfüllt ansehen, nämlich »die Gesandtschaft (ἀποστολή) zum Gehorsam des Glaubens unter allen Völkern um seines Namens willen« (Röm 1,5), indem er nun wegen dieses Auftrags vor der höchsten richterlichen Instanz dieser Welt angeklagt ist und so den Glaubensgehorsam mit seinem Leben bezeugt.58 Die Aussage lässt sich also nicht als Indiz für die erneute Freilassung und eine weitere Missionsarbeit auswerten. Wie Acts, the Paul who has been described is, quite frankly, too good to be true«; R apske, Book, bes. 432–436; Labahn, Paulus. 56  Dass sich die Wendung τὰ βιβλία μάλιστα τὰς μεμβράνας speziell auf heilige (alttestamentliche) Schriften bezieht (vgl. z. B. Oberlinner, 2 Tim, 174; Weiser, 2 Tim, 321 f.), lässt sich dem Text nicht entnehmen und ist insofern problematisch, als die »heiligen Schriften« in 2 Tim 3,15 ausdrücklich mit dem Begriff ἱερὰ γράμματα bzw. πᾶσα γραφὴ (3,16) benannt werden und zwar in engem Bezug auf Timotheus und seine Unterweisung, so dass in 4,13 eine deutlichere Referenz zu erwarten wäre. Näher liegt daher die Vermutung, dass es sich um Schriften des Paulus handelt, wobei offen bleibt, welcher Art sie sind – Briefe des Apostels oder auch andere Dokumente, wobei der Begriff μεμβράναι, die durch μάλιστα eigens hervorgehoben werden, für die Interpretation besondere Schwierigkeiten bereitet; vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen, 491–493 (mit einer Deutung von τὰ βιβλία als biblischer Schriften sowie μάλιστα τὰς μεμβράνας als bezogen auf Schriften in Kodexform, näherhin Paulusbriefe, die der Apostel dem Timotheus anvertraut); sowie Luttenberger, Prophetenmantel, 343–367 (Unterscheidung zwischen den Pergamenten als vermutlich alttestamentliche Texte sowie den βιβλία als andere Schriften wie Vorstufen von Briefen, Notizen oder auch amtlicher Dokumente). Prior, Paul, 153, versteht 2 Tim 4,13 »in connection with the public hearing of Paulʼs case«, der Mantel sei dafür die passende Bekleidung und die Dokumente u. a. die Urkunde für das römische Bürgerrecht (a. a. O., 154); vgl. bereits Jeremias/ Strobel, Briefe, 65. 57  Vgl. die ähnliche Situation in Phil 1,7.16 (ἀπολογία τοῦ εὐαγγελίου) sowie Apg 22,1; 25,16; zu ἀπολογία bei Paulus ferner 1 Kor 9,3; 2 Kor 7,11. 58  Vgl. auch Apg 9,15, wo Lukas im Zusammenhang mit der Berufung des Paulus und im Blick auf Hananias eine ähnliche Perspektive eröffnet: »Aber der Herr sagte zu ihm: Geh hin, denn dieser ist für mich ein Gefäß der Erwählung, um meinen Namen zu tragen vor die Heiden und Könige und die Kinder Israels.« Engelmann, Untersuchungen, 496, verweist zu Recht auf die Korrespondenz dieser Perspektive des 2 Tim mit dem »im Röm zu beobachtenden Duktus, die Völker als Auditorium des paulinischen Missionswirkens zu betrachten«, interpretiert die Perspektivverschiebung aber nicht als Konsequenz aus einer veränderten Situation, sondern als Element der Pseudepigraphie. Zum »Römerbrief als dem maßgeblichen Prätext des Corpus Pastorale« vgl. u. a. Theobald, Israel-und Jerusalem-Vergessenheit (Zitat a. a. O., 331, im Anschluss nicht zuletzt an Weiser, 2 Tim, 65 f. u. ö.). Theobald verbindet damit seine These, das Itinerar der Pastoralbriefe sei »derart konsequent auf Rom fixiert […], dass es die Jerusalem-Orientierung des authentischen Paulus vergessen macht« (a. a. O., 334, vgl. bes. 372 f.376–379). Allerdings lässt das von Theobald rekonstruierte Itinerar der Pastoralbriefe, die mit dem Tit beginnen, Kreta aus, vgl. a. a. O., 372, sowie 407–410, wonach »das Kreta-Szenario des Tit […] nach wie vor ein Rätsel« sei (a. a. O., 407).

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

V. 18 zeigt, ist die »Rettung« im Zusammenhang der ersten Apologie nicht die Freilassung, die einen neuen Aufbruch ermöglicht, sondern sie eröffnet nicht mehr als eine Pause des Aufatmens, da Paulus für die Zukunft eine viel wichtigere Errettung in eschatologischer Hinsicht bereits im Blick hat, nämlich die Rettung durch den Herrn aus der Situation der Todesbedrohung »in sein himmlisches Königreich«.59 Bemerkenswert ist, dass Paulus für die Rettung »von allem bösen Tun (ἔργον πονηρόν)«  – womit neben den üblen Prozesserfahrungen durchaus vor allem die Hinrichtung im Blick sein kann  – den Begriff ῥύεσθαι gebraucht (vgl. auch Röm 15,31), für die parallel konstruierte Aussage der Rettung »in seine himmlische Königsherrschaft« jedoch den eher soteriologisch gefüllten Begriff σῴζειν. Auch darin kommt zum Ausdruck, dass die Rettung aus einer irdischen Gefahr im Unterschied zur endgültigen Rettung in Gottes Reich immer nur vorläufig sein kann.60 Der eschatologische Duktus des Briefes wird also bis in den persönlichen Schlussteil durchgehalten und prägt auch diesen Rückblick auf die Situation der Verteidigung. Zugleich ist damit angezeigt, dass der Prozess noch nicht beendet ist und Paulus nach der erwähnten ersten Apologie weitere Vernehmungen und schließlich auch einen Urteilsspruch zu erwarten hat. Seine Hoffnung richtet sich nicht mehr auf eigene Pläne, sondern ganz auf den Herrn und seine Königsherrschaft. Nach Ausweis von 2 Tim 4,6 f. hat Paulus aber bereits mit dem Leben abgeschlossen und rechnet mit einem negativen Ausgang des Prozesses, so dass die Hoffnung auf den Herrn und seine Herrschaft für ihn eine umso größere Bedeutung gewinnt. Die Hoffnung auf die Königsherrschaft Gottes bewährt sich für Paulus hier in der aktuellen Situation der Todesbedrohung.61

2.4 Ergebnis Die Auslegung von 2 Tim 4,6–8 und 4,16–18 liefert keine Anhaltspunkte für die Annahme, Paulus hätte in römischer Gefangenschaft auf eine Freilassung gehofft und sei nach einem ersten Prozess freigekommen, womit dann der Spielraum für weitere missionarische Aktivitäten geschaffen wäre, sei es in Spanien oder erneut im Osten. Darüber hinaus ergäbe sich bei einer solchen Interpretation das logische Problem, dass man die beiden Abschnitte im 2. Timotheusbrief unterschiedlichen Situationen zuordnen müsste: Wenn in 4,16–18 auf einen ersten Prozess zurück59 

So interpretiert bereits Eus.h. e. II 22,5–8. Vorstellung von der Königsherrschaft (Gottes bzw. des Herrn) verwendet Paulus insgesamt selten. In 2 Tim 4,18 nimmt er damit in veränderter Terminologie zunächst jene Hoffnung auf, die er bereits in 4,1 mit Bezug auf Christus thematisiert und in 4,8 inhaltlich als Erlangung des Siegeskranzes der Gerechtigkeit expliziert hat. Diese Hoffnung aber prägt auch seine Auferstehungsvorstellung, die nach 1 Kor 15,47–50 (vgl. 15,20–28) die Teilhabe an der (himmlischen  – ἐπουράνιος in 1 Kor 15,48 f. wie in 2 Tim 4,18; vgl. Phil 2,10) Königsherrschaft Gottes zum Ziel hat (vgl. 1 Kor 6,9 f.; Gal 5,21; 1 Thess 2,12; Kol 1,13; 4,11; ferner Eph 5,5). 61  Zur Ambivalenz der Vorstellung von der Königsherrschaft in Bezug auf Christus (2 Tim 4,1) und/oder Gott (4,17) vgl. Engelmann, Untersuchungen, 145 f. Die Rede vom Herrn als dem gerechten Richter in 4,8 erinnert daran, dass Paulus vom Richterstuhl Christi (2 Kor 5,10) wie vom Richterstuhl Gottes (Röm 14,10) gleichermaßen sprechen kann. 60  Die



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geblickt wird und in 4,6 die Freilassung erwartet wird, dann müsste zwangsläufig 2 Tim 4,6 sowie damit zusammen der 2. Timotheusbrief insgesamt während oder vor dem ersten Prozess geschrieben sein, während 4,16–18 aufgrund des rückblickenden Charakters nun tatsächlich während jenes mutmaßlichen zweiten Prozesses geschrieben wäre, in welchem Paulus nur noch die Hoffnung auf die himmlische Königsherrschaft bleibt. Aus diesem Problem wiederum folgt, dass man nur einen Text  – entweder 4,6 oder 4,16  – als Hinweis auf eine Freilassung interpretieren könnte, will man nicht zusätzlich die Integrität des 2.  Timotheusbriefes infrage stellen. Ein solches Vorgehen wäre allerdings methodisch insofern problematisch, als damit das erkenntnisleitende Interesse der Auslegenden offenbar würde. Zudem hätte eine zwischen der ersten Apologie und dem 2.  Timotheusbrief liegende Spanienmission (oder eine weitere Reise in den östlichen Mittelmeerraum  – oder beides?) gerade in diesem Brief Spuren hinterlassen müssen, vor allem in der geographischen Liste in 2 Tim 4,9–12. Dies gilt übrigens umso mehr, wenn die Spanienmission realisiert, damit Teil des paulinischen Erbes geworden wäre und der 2. Timotheusbrief als pseudepigraphischer Brief das Ende des Paulus reflektierte. Dann wäre nicht erklärbar, warum die fiktive Erinnerung neben all den persönlichen und geographischen Notizen Spanien ausgelassen haben sollte, zumal damit eine traditionsinterne Verbindung zu Röm 15 hergestellt wäre, welche die Fiktion zusätzlich plausibilisieren würde.

3.  Die Spanienpläne im Horizont paulinischer Missionsstrategie und des lukanischen Konzepts der Ausbreitung des Christentums Da die Frage nach den Umständen der letzten Lebensjahre des Paulus missionsstrategische Implikationen hat, ist etwa für Rainer Riesner ein entscheidendes Argument für eine Spanienmission, dass einerseits für Paulus selbst aufgrund einer bestimmten Interpretation der Völkertafel in Jes 6662 von Anfang an Spanien das Ziel seiner Missionsarbeit gewesen sei, andererseits Lukas diese Perspektive in der Ausrichtung der Mission der Apostel »bis ans Ende der Erde« (ἕως ἐσχάτου τῆς γῆς, Apg 1,8; 13,47, an letzterer Stelle als Zitat aus Jes 49,6) aufnehme und damit ebenfalls Spanien im Blick habe.63 Der Bezug dieser Wendung auf Spanien ergebe sich – ähnlich wie bei 1 Clem 5 – aus analogen Wendungen antiker Autoren mit 62 Vgl. Riesner, Frühzeit, 216–225, insbesondere aufgrund der Deutung der »fernen Inseln« in Jes 66,19 auf Spanien, was dann über Jes 49,6 in Apg 13,47 mit dem Konzept des Lukas konvergiert. In der verbreiteten Deutung von Jes 66,19, dem Riesner aufgrund der Anspielung auf Jes 66,20 in Röm 15,16 besondere missionsstrategische Bedeutung für Paulus zumisst, wird allerdings Tarshish auf Spanien bezogen (vgl. Aus, Paulʼs Travel Plans, der die Pläne des Paulus ebenfalls u. a. mit Jes 66,19 verbindet), das Riesner allerdings mit Tarsus gleichsetzt; vgl. ähnlich auch Spicq, Saint Paul est venue en Espagne, 50–54; dazu ausführlicher Herzer, Mission. 63 Vgl. Riesner, Romans, 108; ders., Pastoral Epistles, 322 u. ö.; ähnlich bereits Spicq, Saint Paul est venue en Espagne.

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Bezug auf Spanien als dem äußersten Ende der Welt.64 Willem C. van Unnik hat demgegenüber gezeigt, dass Lukas in Apg 1,8 nicht vordergründig ein geographisches Programm, sondern eine universale Perspektive entwirft, die biblischem Sprachgebrauch entspricht, wie letztlich das Zitat von Jes 49,6 in Apg 13,47 erweise.65 Im lukanischen Konzept partizipiert daher das Zitat aus Jes 49,6 am gesamtbiblischen Duktus dieser Wendung. Auch in der Missionspredigt des Paulus wird damit der universale Anspruch der paulinischen Mission zum Ausdruck gebracht, eine Mission für alle Nationen zu sein. Das macht zwar für Paulus seinem Vorhaben in Röm 15 entsprechend Spanien als Ziel im Westen des Imperiums plausibel.66 Über die Realisierung dessen ist damit freilich noch nichts gesagt. Mit dem universalen Anspruch der Mission ist m. E. auch die konzeptionelle Bedeutung von Apg 1,8 und 13,47 hinreichend erklärt, zumal mit dem expliziten Bezug zur biblischen Tradition.67 Entscheidend ist für Lukas, dass er mit der Notiz von Apg 1,8 die biblisch-universale Perspektive der Ausbreitung des Evangeliums benennt: Vom Ursprung in Jerusalem, Judäa und Samaria ausgehen wird es in die ganze Welt getragen, bis in den letzten Winkel. Auch wenn damit »die räumliche Gliederung der Apg ausgedrückt«68 wird, so ist doch eine darüber hinaus gehende, spezifische geographische Deutung der Wendung ἕως ἐσχάτου τῆς γῆς damit ausgeschlossen, und zwar nicht nur im Blick auf Spanien, sondern auch im Blick auf Rom, wo die Apostelgeschichte zwar räumlich gesehen endet, aber ihr universales Ziel doch erst mit der Bemerkung über die ungehinderte Verkündigung des Paulus erreicht.69 64  Es handelt sich insbes. um Strabon, Geographica II 5,14; III 1,8; Diodorus Siculus, Hist 25 10,1; sowie die lateinischen Autoren Juvenal, Saturae 10,1 f.; Lucanus, Pharsalia III 454; Vellius Paterculus, Historia Romana I 2,3. Strabon spricht in II 5,14 von den Ausdehnungen der bewohnten Welt, wobei die »Säulen des Herkules« in der Nähe von Gades die westlichste Ausdehnung der Ökumene (δυσμικώτατον μὲν γὰρ σημεῖον τῆς οἰκουμένης) markieren; die Wendung »Ende der Erde« fällt ebenso wenig wie in III 1,8. Juvenal benennt den Ganges und Gades als östliche und westliche Begrenzung der Welt, um zum Ausdruck zu bringen: »überall« (omnibus in terris, quae sunt a Gadibus usque Auroram et Gangen). Allein Lucanus spricht in seinem Epos Pharsalia über den Bürgerkrieg zwischen Cäsar und Pompeius von Spanien als acies extremaque mundi, bis wohin der Krieg getragen wurde. Erwähnt sei schließlich auch Philostr.vit.ap. 4,47 (τρέπεται ὁ Ἀπολλώνιος ἐπὶ τὰ ἑσπέρια τῆς γῆς, ἅ φασιν ὁρίζεσθαι ταῖς Στήλαις, τὰς ἀμπώτεις τοῦ Ὠκεανοῦ ἐποψόμενος καὶ τὰ Γάδειρα); 5,4 (Gades als κατὰ τὸ τῆς Εὐρώπης τέρμα). Zum Problem vgl. Löhr, PaulusNotiz; offen bleibt die Frage bei Wander, Spanien, 194. Koch, Spanien, 710–712, bestreitet grundsätzlich, dass Spanien tatsächlich als finis terrae galt, ebenso wichtig sei zumindest die Frage, welche Pläne Paulus über Spanien hinaus gehabt haben könnte (vgl. a. a. O., 710). Die Pläne erübrigen sich durch die Ereignisse in Jerusalem und Rom ebenso wie die Spanienpläne von Röm 15. 65  Van Unnik, Ausdruck, 394–399. Zum Verständnis der Grenzen der Welt in der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung vgl. Aus, Paulʼs Travel Plans, bes. 244 f. 66  Tajra, Martyrdom, 106 f. 67  Weiser, Apostelgeschichte, 22 f. 68  Weiser, Apostelgeschichte, 39. 69  Vgl. dazu auch Delling, Wort, bes. 202 zu Jes 49,6 in Apg 13,47: »Der Bericht des Lukas hat die konkrete Erfüllung dieser Zusage insbesondere an dem Wirken des Paulus aufzuzeigen; er vor allem trägt die christliche Botschaft in die Ökumene hinaus, in die Welt um das Mittelmeer, die der römischen Herrschaft untersteht.« Delling betont dabei die rechtliche Konnotation des Adverbs ἀκωλύτως.



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Damit wäre zugleich die Frage beantwortet, warum Lukas Spanien nicht erwähnt. Wenn Lukas die Spanienpläne des Paulus gekannt bzw. um eine Spanienmission gewusst hätte, dann bliebe unerklärlich, warum er diese Perspektive nicht zumindest programmatisch auch erwähnt, sondern es in einer alles andere als eindeutigen biblischen Anspielung gewissermaßen verstecken sollte. Für Lukas hingegen endet die Apostelgeschichte sehr plausibel dort, wo auch sein universales Missionsprogramm endet, nämlich in Rom, mit der ungehinderten Verkündigung in der Hauptstadt des Imperiums, das alle Völker der bekannten Erde in seinen Grenzen vereint. Ein wesentliches Indiz dafür ist die mehrfache und ausdrückliche Erwähnung Roms als Ziel des Paulus innerhalb der Darstellung. So erwähnt Lukas im Kontext des ephesinischen Konflikts in Apg 19,21 die Pläne des Paulus im Blick auf die Reise nach Jerusalem und lässt ihn ausdrücklich sagen: »Wenn ich dort gewesen bin, muss ich auch Rom sehen.« In 23,11 wird dies sogar als Spruch des Herrn nochmals wiederholt und autorisiert. Auch die Bemerkung über die Sendung zu den Heiden »in der Ferne« (22,21) lässt sich in diesem Kontext nicht anders als auf Rom beziehen. Und schließlich notiert Lukas in 28,14: »Und so kamen wir (sc. endlich) nach Rom.« Für Lukas ist also nicht Spanien, sondern ohne jeden Zweifel – und nach 19,21 und 23,11 sogar mit einem göttlichen Muss (δεῖ) versehen – Rom das erklärte Ziel seines missionarischen Konzepts, das in Anlehnung an den universalen biblischen Horizont der Völkervision Jesajas mit der ungehinderten Verkündigung des Apostels in der Hauptstadt des Imperiums zum Abschluss kommt. Dass Paulus über Rom hinaus selbst aktiv war, ist bei Lukas nicht (mehr) im Blick – vermutlich weil er wusste, dass Paulus diese Pläne nicht verwirklichen konnte.

4.  Röm 15 als Ausgangspunkt der Legendenbildung – außerneutestamentliche Hinweise auf das Ende des Paulus Da der 2. Timotheusbrief im Blick auf den Tod des Paulus eindeutig ist und m. E. – wie die Apostelgeschichte – nicht einmal ein indirektes Zeugnis für die in Röm 15 geplante Spanienmission bietet,70 ist die Theorie einer Freilassung und Spanienmission sowie einer zweiten römischen Gefangenschaft allein auf die wenigen Belege der altkirchlichen Überlieferung angewiesen (1 Clem 5,6 f.; Canon Muratori 34–37; Acta Petri [Actus Vercellensis 1–3]; Acta Pauli 11,3–5; Eus.h. e. II 22,2; 25,5).71 Methodisch ist diese Feststellung insofern bedeutsam, als alle altkirchlichen Überlieferungen die neutestamentlichen Quellen voraussetzen, was bei der Beurteilung der darüber hinausgehenden »Informationen« berücksichtigt werden muss, ins70 Vgl. Tajra, Martyrdom, 84–98, dessen Analyse von 2 Tim 4 keinen Hinweis erbringt; vgl. auch Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 382–385. Nach Theobald, a. a. O., 387 f., resultiere dies daraus, dass der Autor des Corpus pastorale den Röm in einer Kurzform ohne Kap. 15 (und 16) benutzt und daher die Spanienpläne nicht gekannt habe. 71  Zu weiteren Referenzen auf Spanien vgl. Eastman, Paul, 147 f.

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besondere bei eindeutig legendarischen Texten wie etwa den apokryphen Apostelakten. Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Auslegung von 2 Tim 4 und Apg 28 im Sinne einer weiteren Missionsarbeit des Paulus erst durch die Hinweise der späteren Überlieferung angeregt ist und damit bereits voraussetzt, was aufgrund der Abhängigkeit der altkirchlichen Überlieferung von den neutestamentlichen Texten erst zu erweisen wäre. Demgegenüber lässt sich zeigen, dass die in Röm 15 geäußerten Spanienpläne des Apostels hinsichtlich der Deutung und der Konstruktion des Endes des Paulus unter literarischen, martyrologischen und historischen Aspekten gleichsam als ein Katalysator zu wirken scheint.

4.1  Clemens von Rom Als eines der wichtigsten Zeugnisse für die Spanienmission des Paulus gilt nach wie vor der 1. Clemensbrief. Wahrscheinlich gegen Ende des 1. Jahrhunderts72 schreibt der römische Bischof Clemens an die korinthische Gemeinde, Paulus habe »(w)egen Eifersucht und Streit […] den Kampfpreis der Geduld aufgewiesen: Siebenmal Ketten tragend, vertrieben (φυγαδευθείς), gesteinigt, Herold im Osten wie im Westen, hat er den edlen Ruhm für seinen Glauben empfangen. Gerechtigkeit hat er die ganze Welt gelehrt, und er ist an die Grenze des Westens (ἐπὶ τὸ τέρμα τῆς δύσεως) gelangt und hat Zeugnis abgelegt vor den Führenden; so ist er aus der Welt geschieden und ist an den heiligen Ort gelangt – größtes Vorbild der Geduld« (1 Clem 5,5–7).73

Strittig ist in diesem Text insbesondere die Wendung ἐπὶ τὸ τέρμα τῆς δύσεως. Übersetzt man die Wendung im Sinne von »bis zur Grenze des Westens« und deutet dies zugleich als Hinweis auf Spanien,74 so scheint Clemens eine Spanienmission vorauszusetzen und damit indirekt auch eine zweite römische Gefangenschaft. Allerdings erwähnt Clemens weder das eine noch das andere, was für einen römischen Autor immerhin bemerkenswert ist. Entgegen anderslautenden Behauptungen kann die in dieser Form (ohne Ortsangabe) singuläre Formulierung ἐπὶ τὸ τέρμα τῆς δύσεως75 durchaus im Sinne von »an die Grenze des Westens« bzw. »an die Grenze zum Westen« verstanden werden, also bezogen auf Rom als den Ort, der gleich72 Die

Spätdatierung von Zwierlein, Petrus in Rom, 255–307 (vgl. Ders., Petrus und Paulus), in die Zeit Trajans (um 125) halte ich für abwegig, nicht zuletzt, weil der Jak, zu dem Zwierlein den 1 Clem korreliert, deutlich früher anzusetzen ist. Riesner, Pastoral Epistles, 318 f.; Ders., Apostelgeschichte, 166–169 (u. ö.), vertritt eine Frühdatierung in die Zeit Vespasians, die dem Zeugnis des Clemens mehr Gewicht verleihe, vgl. bereits Quinn, Seven Times, 574 Anm. 2 (69/70 n. Chr.). Doch hängt die inhaltliche Deutung des Textes nicht an der Datierung, denn auch bei einer Frühdatierung wird er nicht eindeutiger. Zum Problem der Datierung des 1 Clem vgl. Erlemann, Datierung. 73  Übersetzung in Anlehnung an Lindemann, Apostolische Väter I, 36, wo freilich die Übersetzung des Teilsatzes »und er ist an die Grenze des Westens (ἐπὶ τὸ τέρμα τῆς δύσεως) gelangt« fehlt und erst im Kommentar sinngemäß aufgenommen wird (ebenso in Lindemann/Paulsen, Väter, 87). 74  Vgl. neben Riesner, Pastoral Epistles, z. B. Spicq, Saint Paul est venue en Espagne, 58 f.; Tajra, Martyrdom, 111; zurückhaltender Löhr, Paulus-Notiz, 208 f. 75  Vergleichbar ist allenfalls die Formulierung bei Philostr.vit.ap. 5,4 (s. o., Anm. 63).



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sam die Grenze zwischen dem Osten und dem Westen des Imperiums markiert.76 1 Clem 5,7 ist daher keineswegs zwingend als Hinweis auf Spanien zu deuten. Die Formulierung des Clemens ist darüber hinaus nicht bedeutungsgleich mit der unter bestimmten Voraussetzungen auch auf Spanien zu beziehenden Wendung ἐσχάτον τῆς γῆς, sondern entspricht letztlich dem Duktus der lukanischen Aussage in Apg 1,8 von der Mission »bis an das Ende der Erde«, und zwar gerade nicht im Sinne der Spanienhypothese,77 sondern in einer vergleichbaren universalen Perspektive, wonach Paulus »Botschafter geworden (sei) im Osten und im Westen«.78 Sie ist zudem syntaktisch und inhaltlich so eng in die unmittelbar anschließende martyrologische Aussage eingebunden, dass sie aus der römischen Perspektive für die Adressaten in Korinth den Ort des Martyriums des Paulus bezeichnet.79 Auch sprachlich wäre für die Angabe eines Ortes, bis zu dem Paulus gelangt sei, eher eine Formulierung mit πρός, εἰς oder sogar  – wie in Apg 1,8  – mit ἕως eher zu erwarten als mit ἐπί. 1 Clem 5,5–7 ist daher historisch für eine Spanienmission des Paulus nicht belastbar, sondern eröffnet allenfalls die – aus den genannten Gründen freilich unwahrscheinliche  – Möglichkeit, dass Clemens Röm 15 entsprechend gedeutet haben könnte; das Wissen um eine Spanienreise kann der Formulierung des Clemens nicht entnommen werden. Darüber hinaus spricht er nicht einmal ausdrücklich von einem gewaltsamen Tod, denn die Wendung μαρτυρήσας ἐπί bezieht sich auf das Zeugnis vor den Machthabern, nicht das Martyrium durch oder unter den Machthabern. Im Blick auf die Frage nach dem Ausgang eines ersten Prozesses gewinnt der 1. Clemensbrief zusätzlich an Bedeutung, wenn man den Begriff φυγαδευθείς aus der Liste von 1  Clem 5,6 als Hinweis auf eine Verbannung des Paulus  – in Verbindung mit der Interpretation von 5,7  – von Rom aus nach Spanien verstehen will.80 Doch würde dies bedeuten, einen Begriff aus einem an die paulinischen Vor76 Vgl. Lindemann, Apostolische Väter I, 39; ders., Paulus in den Schriften, 259 f.; Omerzu, Probability, 115. Das Problem sieht auch Ellis, Ende, 282, behauptet aber ohne Belege, in »den Werken der klassischen Zeit« sei »der Ausdruck τὸ τέρμα τῆς δύσεως ein Äquivalent zu ἔσχατα τῆς γῆς«. Sein Hinweis ebd. Anm. 31 auf die sprachlich ähnlichen Parallelen bei Philo, Deus 79 (μέχρι τερμάτων γῆς); Mos. 1,2 (τῶν τῆς γῆς τερμάτων) sowie Eus.v. c. I 8,3 f. (οἰκουμένης τέρματα) ist verfehlt, da es an keiner dieser Stellen ausschließlich um die westliche Grenze der Erde geht, sondern – ganz entsprechend der biblischen Tradition (s. o.) – der umfassende ökumenische Horizont im Blick ist. 77 Gegen Ellis, Ende. 78 Vgl. Tajra, Martyrdom, 109 f. Das Argument von Riesner, Apostelgeschichte, 171, Rom läge, »von Rom aus gesehen, weder im Osten noch im Westen, sondern in der Mitte des imperium Romanum«, überzeugt angesichts der Briefperspektive nicht: Für die Korinther als Adressaten des 1 Clem liegt Rom im Westen; hier liegt also die Tragfähigkeit des Arguments an der Frage der Perspektive, die der Autor einnimmt und die nicht eindeutig entschieden werden kann. 79 Vgl. Lindemann, Apostolische Väter I, 39: »Vermutlich denkt der Vf. nicht an einen Aufenthalt des Paulus in Spanien oder an den ›Säulen des Herakles‹ […], sondern er meint den ›westlichsten Punkt‹ der Lebensreise des Paulus, also vermutlich Rom.« 80 Vgl. Gunther, Paul, bes. Kap. 6; Riesner, Paulʼs Trial and End. Anders z. B. Tajra, Martyrdom, 168, der den Begriff »from a legal point of view« als ein »internal exile« bezeichnet.

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gaben angelehnten Peristasenkatalog81 im Unterschied zu den anderen Begriffen derselben Liste auf eine sehr spezielle Bedeutung festzulegen. Daraus würden sich lediglich neue und nur spekulativ zu beantwortende Fragen bzw. Hypothesen ergeben, warum z. B. die Verbannung in eine bedeutende römische Provinz erfolgt, wo Paulus unter Umständen wieder für Probleme sorgen würde, warum Paulus trotz Verbannung (unter der Regentschaft desselben Kaisers) wieder nach Rom zurückkehren konnte usw. Der Begriff φυγαδευθείς ist zudem kein terminus technicus für ein aufgezwungenes Exil, sondern meint die Vertreibung, wie Paulus sie des Öfteren erfahren musste.82 Der 1.  Clemensbrief erweist sich also auch in 5,6–7 von der paulinischen Tradition abhängig. Diese Abhängigkeit verbunden mit der Unbestimmtheit der Aussage insgesamt sowie der erkennbaren Absicht, Paulus mit Petrus als Märtyrer zu zeichnen, lässt nicht darauf schließen, dass der 1. Clemensbrief hier eine von der Tradition unabhängige römische Überlieferung von der Spanienreise des Paulus und seinem Ende in Rom repräsentiert,83 sondern legt vielmehr die Vermutung nahe, dass selbst in Rom das Ende des Paulus (wie auch des Petrus) in seinen Details entweder nicht bekannt war oder von Clemens bewusst in einer sehr vagen Weise martyrologisch stilisiert wurde.

4.2  Der Canon Muratori Historisch ohne Aussagekraft ist auch die kurze Bemerkung im römischen Kanonverzeichnis Muratori (um 200 n. Chr.), Lukas habe zwar die Taten der Apostel zusammengefasst, dabei jedoch das Leiden des Petrus und die Spanienreise des Paulus bewusst ausgelassen (Z. 35–39): »Lukas faßt für den ›besten Theophilus‹ zusammen, was in seiner Gegenwart im einzelnen geschehen ist, wie er das auch durch das Fortlassen des Leidens des Petrus einsichtig klar macht, ebenso durch (das Weglassen) der Reise des Paulus, der sich von der Stadt (Rom) nach Spanien begab.«84

Bereits dem Kanonisten ist aufgefallen, dass Paulus zwar eine Spanienreise geplant hatte, diese aber in der Darstellung des Lukas fehlt. Da er die gesamte Apostelgeschichte als Augenzeugenbericht versteht, ist seine Verwunderung verständlich und er vermutet, dass Lukas nur das aufnehmen wollte, was er aus eigener An81 Vgl. bes. 1 Kor 4,11–13; 2 Kor 5,7–12; 11,23–33, die jeweils durchaus unterschiedliche Aspekte benennen, wobei insbesondere in 2 Kor 11,32 f. die Flucht aus Damaskus als Referenz für 1 Clem 5,6 zu nennen wäre. Quinn, Seven Times, 574 Anm. 5, vermutet die Flucht aus Jerusalem in Apg 9,30 »to be the best candidate for a source«. Die Notiz über das siebenfache Tragen von Ketten versteht Quinn, a. a. O., 575 f., als Hinweis auf die Erwähnung dieser Umstände in sieben neutestamentlichen Schriften (Apg, 2 Kor, Eph, Phil, Kol, Phlm und 2 Tim). 82 Vgl. Lindemann, Apostolische Väter I, 38; Omerzu, Probability, 123–125. 83 So Riesner, Apostelgeschichte, bes. 166–169, der dies auf personelle Kontinuitäten zurückführt. 84  Zit. nach Schneemelcher, Apokryphen Bd. I, 28. Zur Datierung vgl. Verheyden, Canon Muratori.



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schauung wusste (Z. 35 f.). Woher der Autor die Information hatte, ist nicht zu erkennen. Sie lässt sich aber problemlos aus der Kenntnis des Römerbriefes und/ oder apokrypher Traditionen erklären, was zumal in Rom sogar wahrscheinlich ist. Ein Bezug zu einer älteren stadtrömischen Überlieferung, die dem 1. Clemensbrief und dem Canon Muratori vorausgelegen habe,85 bleibt spekulativ, zumal damit die unwahrscheinliche Vermutung vorauszusetzen wäre, in 1 Clem 5 sei ein Spanienaufenthalt des Paulus im Blick.

4.3  Die Actaliteratur In den Acta Petri (Actus Vercellenses 1–3) wird auf ausgesprochen legendarische Weise erzählt, Paulus sei aufgrund einer Vision von Rom aus zur Spanienmission aufgebrochen. Diese Abwesenheit des Paulus wird gleich mehrfach erwähnt (Acta Petri 6 [Paulus sei nach Spanien abgereist], sowie Acta Petri 40 [die Rückkehr des Paulus wird erwartet]). Selbst wenn diese Schrift noch im 2. Jahrhundert entstanden sein sollte,86 lässt sich ihr historisch nichts entnehmen. Aufschlussreich ist demgegenüber, dass die nicht minder legendarischen und wahrscheinlich von Acta Petri abhängigen Acta Pauli (et Theclae) (Ende des 2. Jh.s n. Chr.)87 lediglich von einer Romreise und dem Martyrium des Apostels berichten, Spanien jedoch nicht erwähnen.88 Dies ist zumindest ein deutliches Indiz dafür, dass in der apokryphen Überlieferung unterschiedliche Szenarien entworfen werden konnten, je nach literarischer Absicht. Die Paulusakten (Acta Pauli 11,3–5/Martyrium Pauli 3–5) sind schließlich – abgesehen von den davon wahrscheinlich abhängigen späteren Notizen der christlichen Überlieferung – auch der einzige Text, der über das bloße Faktum des Todes des Paulus hinaus auch von seiner Enthauptung erzählt, doch in einer solch legendenhaften Weise, dass selbst dieser Notiz gegenüber Skepsis angebracht ist und manches dafür spricht, dass auch sie aus den bekannten Bausteinen der Überlieferung einschließlich des Wissens über das römischen Bürgerrecht des Paulus als Legende konstruiert sein könnte.89

85 Vgl. Tajra, Martyrdom, 112; vgl. Riesner, Pastoral Epistles, 319 (mit Bezug auf Canon Muratori 39): »This is probably a local Roman tradition, independent of 1 Clement, or, at the very least the most ancient witness to a contemporary understanding of the expression τὸ τέρμα τῆς δύσεως as ›Spain‹.« 86  Vgl. dazu Schneemelcher, Petrusakten: zwischen 180–190. 87 Vgl. Schneemelcher/K asser, Paulusakten: zwischen 185–195. 88  Tajra, Martyrdom, 117, erklärt dies mit der vagen Hypothese einer lacuna im rezipierten Text. 89 In diesen überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang gehört schließlich auch ein sekundärer Schluss der Apg in der äthiopischen Textüberlieferung, der geradezu meisterhaft verschiedene Überlieferungsfragmente biblischer und apokrypher Tradition verbindet: Paulus habe seinen Prozess gewonnen und sei nach einer größeren und nicht näher bestimmten Reise nach Rom zurückgekehrt. Erst aufgrund der Taufe von Mitgliedern der kaiserlichen Familie (vgl. Phil 4,22) sei er erneut angeklagt und enthauptet worden, vgl. Uhlig, Actaschluß.

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4.4  Eusebius von Cäsarea Als letzter in der »Wolke der Zeugen« steht Eusebius von Caesarea (3./4. Jh.), der nicht zuletzt auch im Blick auf das Verfahren nachneutestamentlicher Autoren im Umgang mit der Konstruktion bestimmter geschichtlicher Zusammenhänge aufschlussreich ist. In h. e. II 22,2 schreibt er in ausdrücklicher Anlehnung an Apg 28 und 2 Tim 4: »Nachdem der Apostel seine Sache vor Gericht verteidigt hatte, soll er wiederum auf Missionsreisen gegangen sein, um danach noch ein zweites Mal die gleiche Stadt zu betreten und in seinem Martyrium zur Vollendung zu kommen. Damals nun schrieb er in Ketten den zweiten Brief an Timotheus, in dem er sowohl auf seine frühere Verteidigungsrede als auf seine baldige Vollendung hinwies.«90

Eusebius unterscheidet die Situation des 2.  Timotheusbriefes als eine zweite römische Gefangenschaft insgesamt von derjenigen, die Lukas in Apg 28 erwähnt, gründet dies aber auf Spekulationen über die anfängliche Geneigtheit des Nero Paulus gegenüber (22,8). Ein Ziel der erneuten Mission nennt Eusebius nicht. Noch erstaunlicher ist, dass für Eusebius die ihm natürlich auch bekannte Erwähnung Spaniens in Röm 15,24.28 in diesem Kontext keine Bedeutung hat. Da es für Eusebius keinen Grund gab, dies zu verschweigen, wusste er selbst offenbar nichts von einer Spanienmission des Paulus und hat dies auch nicht aus 1  Clem 5 erschlossen, obwohl ihm dieser Brief nachweislich bekannt war (vgl. III 16). In seinem Resümee über die Ausbreitung der Mission verweist er stattdessen in h. e. III 4,1 auf Röm 15,19, wo Paulus selbst lediglich über seine Mission von Jerusalem bis Illyrien (nordwestlich von Mazedonien) spricht.

5.  Schlussfolgerungen und Ergebnisse Für eine auch nur ansatzweise verlässliche historische Rekonstruktion der letzten Lebensjahre des Paulus bieten somit weder die neutestamentlichen noch die apokryphen bzw. altkirchlichen Texte eine hinreichende Grundlage. Letztere füllen allenfalls Leerstellen in der Überlieferung aus und verbinden dies mit legendarischen Aspekten.91 Es lässt sich zeigen bzw. zumindest wahrscheinlich machen, dass alle altkirchlichen Autoren die nach dem Schluss der Apostelgeschichte liegende Geschichte des Paulus ohne Ausnahme aufgrund einer Kombination neutestamentlicher Texte konstruieren, und zwar aus klar erkennbaren martyrologischen Interessen. Vor diesem Hintergrund ist die These einer zweiten römischen Gefangenschaft mit vorangehender Spanienmission nicht nur ohne belastbare Quellengrundlage, sondern sie ist auch methodisch problematisch, da sie bereits vorausgesetzt werden muss, um die infrage stehenden Texte entsprechend interpretieren zu können, weil 90 

Zit. nach Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte, 141. Omerzu, Probability, 114–116.

91 Vgl.



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diese selbst keine Hinweise darauf geben. Die Untersuchung von 2 Tim 4,6–8.16–18 hat gezeigt, dass der Text keine Hinweise auf die Unterscheidung einer ersten und zweiten Gefangenschaft, geschweige denn einer dazwischen liegenden weiteren Reise des Paulus gibt. Entsprechendes gilt für Lukas. Bei der Paulusdarstellung der Apostelgeschichte ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass Lukas nicht historisch umfassend berichtet, sondern unter literarischen Gesichtspunkten ein missionsgeschichtliches Konzept entwickelt, das die universale Verbreitung des Evangeliums von Jerusalem »bis an das Ende der Erde« schildert (Apg 1,8). Der Ausgang des römischen Aufenthaltes des Paulus ist dem lukanischen Missionskonzept gemäß gestaltet, das mit dem Hinweis auf die ungehinderte Verkündigung des Evangeliums schließt (Apg 28,31) und damit die Verheißung von Apg 1,8 (vgl. 13,47) erfüllt. Auch wenn man grundsätzlich Spanien aufgrund antiker geographischer Konventionen als das westliche »Ende der Erde« ansehen kann, so spielt das im Konzept der Apostelgeschichte keine Rolle. Das Programm in 1,8 ist vielmehr der biblischen Bedeutung der Wendung entsprechend universal ausgerichtet und – wie zudem die mehrmalige explizite Nennung der Stadt (19,21; 23,11; vgl. 28,14) zeigt – eindeutig auf Rom bezogen als der Hauptstadt eines Imperiums vieler Nationen, von der aus nach dem Tod der Apostel das Evangelium ungehindert weiterlaufen wird. Nach Apg 20,24 f. setzt Lukas den Tod des Apostels voraus.92 Um des Konzeptes der Verbreitung des Evangeliums willen wird dieser aber nicht mehr berichtet, wie auch der Tod des Petrus nicht, über den sogar eine entsprechende Bemerkung in der Apostelgeschichte fehlt. So ist es historisch vor allem aufgrund von 2 Tim 4,16 f. wahrscheinlich, dass der Prozess gegen Paulus im Verlauf seines Romaufenthaltes eine negative Wendung genommen hat und dass »nach diesen zwei Jahren […] eine Veränderung ein[trat], deren Anlaß wir nicht kennen«.93 Vorauszusetzen ist, dass er mit seinem Appell an den Kaiser nicht erfolgreich war und die Gefangenschaft mit seinem Tod in den Jahren zwischen 62 und 64 n. Chr. während der Herrschaft des Nero (54–68 n. Chr.) endete. Da auch die Art seines Todes nur legendarisch bezeugt ist, bleibt selbst dies unsicher. Schwierig ist daher die Frage, welche Schlussfolgerungen aus diesem Befund zur Überlieferung vom Tod des Paulus zu ziehen sind. Möglich, wenn nicht sogar aufgrund des Schweigens der Quellen wahrscheinlich ist, dass Paulus unter wenig heroischen Umständen zu Tode kam, wie viele andere Gefangene Roms auch, 92  Zu Recht bemerkt Zwierlein, Petrus und Paulus, 143, dass Lukas in Apg 20 nicht Rom, sondern Jerusalem im Blick hat. Doch muss man dabei bedenken, dass Paulus nach Lukas nicht aufgrund eigener Pläne nach Rom kommt, diese auch gar nicht erwähnt, sondern aufgrund der Ereignisse in Jerusalem. Apg 20,24 f. muss also im Kontext des gesamten Erzählkonzeptes der Apg verstanden werden, in welchem Lukas mit der mehrmaligen Erwähnung Roms (19,21; 23,11) die Reise des Apostels als von Gott gewollt vorbereitet (s. o. Abschnitt 3). 93  Omerzu, Schweigen des Lukas, 148; ähnlich urteilt z. B. Jewett, Spanish Mission, 154; Weiser, Apostelgeschichte, 374.377. Zu bemerken ist, dass die Angabe der zwei Jahre in Apg 28,30 keine verlässlichen Rückschlüsse auf die tatsächliche Dauer des Romaufenthaltes zulässt, sondern innerhalb der Schilderung einer sich über längere Zeit erstreckende Anhörung bzw. eines Prozesses vor allem literarisch plausibel ist, vgl. dazu Omerzu, Schweigen des Lukas, 147–149.

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möglicherweise im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen die Christen unter Nero. Vielleicht liegt auch der Grund, warum Lukas weder den Tod des Paulus noch den des Petrus erwähnt, gerade darin, dass er um das Ende der Apostel bzw. zumindest das des Paulus wusste.94 Immerhin dauert es auch recht lange, ehe sich eine legendarisch-martyrologische Tradition etabliert. Unter dem Gesichtspunkt der missionsgeschichtlichen Intention des Lukas ist der offene Schluss der Apostelgeschichte jedoch hinreichend plausibel und daher auch die Entscheidung, den Tod der Apostel nicht in seine Darstellung aufzunehmen, literarisch gerechtfertigt.95 So wird es am Ende im historischen Urteil dabei bleiben müssen, dass die Vorstellung einer Spanienreise des Apostels wie auch seines vorbildhaften Martyriums der literarischen Absicht späterer Autoren und apokryphen Traditionen entspringt. Weder für die Freilassung aus einer ersten römischen Gefangenschaft, noch für eine weitere Missionsreise, noch für ein auf ein römisches Urteil zurückgehendes Martyrium gibt es substantielle Hinweise. Selbst die ohnehin wenigen frühkirchlichen Bemerkungen über eine Spanienreise kommen über die Feststellung des bloßen »Dass« nicht hinaus.96 Wenn es eine Spanienreise des Paulus gegeben hätte, dann bliebe unerklärlich, warum diese Reise bis auf vage und historisch nicht belastbare Andeutungen im Dunkel der Geschichte versunken sein sollte.97 Die Äußerung des 94 Anders Zwierlein, Petrus in Rom, 243, der annimmt, der Verfasser der Apg habe über das Ende des Paulus nichts gewusst. 95  Spekulationen darüber, dass die Mitteilung des Martyriums der Apostel der apologetischen Absicht des Lukas zuwiderlaufe, das Christentum Rom gegenüber in einem positiven Licht darstellen zu wollen, sind m. E. abwegig. So vermutet etwa Riesner, dass in einer unter Nero für die Christen bedrohlichen Situation »der Bericht von einer Hinrichtung des Paulus aufgrund eines kaiserlichen Urteils sehr hinderlich gewesen« wäre (Riesner, Apostelgeschichte, 159; vgl. Ders., Pastoral Epistles, 325 f.; Haehling, Mutmaßungen, 543 f.; ähnlich bereits Prior, Paul, 79). Allerdings wird auch hierbei als gegeben vorausgesetzt, was erst in der späteren Überlieferung Gestalt gewinnt, denn wie gezeigt gibt es in den frühen Zeugnissen weder einen überzeugenden historischen Hinweis auf eine rechtskräftige Verurteilung noch auf ein Martyrium des Paulus oder des Petrus. Im Übrigen müsste dann innerhalb des lukanischen Werkes dasselbe auch für die Exekution Jesu gelten, auch wenn Lukas literarisch versucht, die römischen Behörden zu entlasten. Dieselbe literarische Strategie wäre auch bei Paulus und Petrus möglich gewesen. Konsequenterweise verwandelt daher van Haehling im Anschluss an Riesners Loyalitätsargument den durchweg negativen Quellenbefund in ein argumentum e silentio: »So wird gerade das Schweigen der Quellen zum beredten Argument für den Aufenthalt und das Martyrium beider Apostel in Rom« (a. a. O., 547). 96  Es grenzt an eine gewisse Verwegenheit in historicis, wenn etwa Ellis, Ende, 285, behauptet, die »Freilassung des Paulus aus der ersten römischen Gefangenschaft« stelle »ein historisches Grunddatum dar, von dem jede kritische Rekonstruktion der Geschichte des Urchristentums ausgehen sollte« (Hervorhebung J. H.). Bereits Harnack, Geschichte, 240, hatte die Freilassung des Paulus aus der ersten römischen Gefangenschaft sowie die anschließende Spanienmission für »eine gesicherte Tatsache« gehalten. Die Zuversicht einer solchen Behauptung steht in einem umgekehrten Verhältnis zu dem, was die Überlieferung tatsächlich hergibt. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Formulierung bei Spicq, Saint Paul est venue en Espagne, 69: »Dans la mesure où l’histoire est la connaissance du passé sur document, on peut dire que la venue de saint Paul en Espagne est une certitude; non, certes, d’ordre métaphysique ni mathématique, mais selon la nature propre à cette discipline qui, à défaut d’attestation explicite d’un fait, reconstruit la conjoncture des événements par la multiplication des indices convergents, la vraisemblance psychologique et – dans notre cas – les exigences imprescriptibles d’une vocation religieuse.« 97  Dem entspricht, dass es erst relativ spät und erst auf der Grundlage der legendarischen Über-



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Paulus in Röm 15 bildet vielmehr den Ausgangspunkt für die Annahme, der Apostel habe auch diese Mission erfüllt. Ein von Röm 15 unabhängiges Zeugnis dafür gibt es unter historischen Gesichtspunkten nicht, sondern lediglich Vermutungen, die die traditionsgeschichtlichen Verhältnisse nicht sachgemäß berücksichtigen. Damit soll nicht bezweifelt werden, dass die entsprechenden Autoren der alten Kirche von der Spanienreise wie auch vom Martyrium des Paulus überzeugt gewesen seien. Aber eine Überzeugung schafft noch keine historischen Fakten. Nach allem bleibt der 2. Timotheusbrief ein eindrückliches und authentisches Zeugnis für einen Apostel, dessen Mission von widrigen Umständen verschiedenster Art geprägt war und der dennoch konsequent an »seinem Evangelium« (Röm 2,16; 2 Tim 2,8) festgehalten hat. Darauf blickt er am Ende seines Lebens in einer erneut lebensbedrohlichen Situation zurück, in der Zuversicht, den »guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet« (2 Tim 4,7) und den Auftrag seiner Predigt an alle Völker (4,17) erfüllt zu haben, der ihm vom Herrn gegeben war. Von ihm erwartet er nun den Siegeskranz (4,8), die Rettung in die himmlische Königsherrschaft, und ihm gibt er am Ende die Ehre (4,18). Im Unterschied zu anderen Überlieferungen ist es im 2. Timotheusbrief gerade nicht der Apostel, der verklärt würde, sondern sein Herr, dem – vor den Grüßen – das letzte Wort des Briefes gewidmet ist.

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»Lukas ist allein bei mir« (2 Tim 4,11) Lukas, die Pastoralbriefe und die Konstruktion von Geschichte Das Thema »Lukas und die Pastoralbriefe« ist vielfach und unter sehr verschiedenen Blickwinkeln behandelt worden.1 Im Mittelpunkt des Interesses stand dabei in den letzten Jahren zumeist ein Vergleich der verschiedenen Ausprägungen der lukanischen Rezeption der Paulustradition.2 Methodisch bleibt die Verhältnisbestimmung zwischen der Apostelgeschichte und den Pastoralbriefen ein notorisch schwieriges Thema und partizipiert darin an den Problemen der Verhältnisbestimmung zwischen der Paulusüberlieferung und der Apostelgeschichte generell.3 Der Vergleich speziell mit den Pastoralbriefen hängt nicht zuletzt von verschiedenen grundsätzlichen Entscheidungen zu bestimmten Problemen bzw. Fragen ab, die bei genauerem Hinsehen kaum eindeutig beantwortet werden können. Auf einer solchen unsicheren Basis ist ein Vergleich zweier Schriften(gruppen) daher nur dann überhaupt möglich, wenn man das Unsichere mit der gebotenen methodischen Vorsicht abwägt und damit die Voraussetzung für eine sachgemäße Interpretation der Überlieferung schafft. Unsicherheit steckt dabei nicht nur in der Fragestellung dieser Tagung, auf der der Beitrag ursprünglich präsentiert wurde: »What did Luke really know?« – nämlich über Paulus und die Anfänge des frühen Christentums, sondern auch im speziellen Fall der Pastoralbriefe: »What did the author or the authors of the Pastoral Epistles really know?« Die Verschränkung beider Frageperspektiven wird nicht zuletzt durch das Zitat aus 2 Tim 4,11 in der Überschrift deutlich: »Lukas ist allein bei mir.« Als Formulierung eines pseudepigraphischen Autors bekäme gerade diese Bemerkung ein besonderes Gewicht, insofern damit eine explizite Verbindung zwischen Paulus, Lukas und den Pastoralbriefen hergestellt würde.4 Die Komplexität der Problematik ist offenkundig: Wer die Pastoralbriefe für ein fiktives literarisches Werk der dritten frühchristlichen Generation hält, Lukas nicht für einen Paulusbegleiter und den historischen Wert der Apostelgeschichte daher (auch in den sog. »Wir-Passagen«) für gering, kann die Berührungen der Pastoralbriefe mit der Apostelgeschichte allenfalls auf literarischer Ebene behandeln. Dabei ergeben sich allerdings ebenfalls unterschiedliche Perspektiven  – von der Frage 1  Vgl. als exemplarische Auswahl: Wilson, Luke; Riesner, Luke-Acts; Schröter, Kirche (engl.: Ders., Paul). 2 Vgl. Jervell, Paul; Marguerat, Reception; ders., Paul in Acts; Moessner u. a., Paul. 3  Vgl. dazu z. B. Müller, Paulinismus; Löning, Paulinismus; Marguerat, L’image. 4 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 6–7.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

nach einem literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe zur Apostelgeschichte5 bis hin zur Frage nach Lukas als dem möglichen pseudonymen Autor der Pastoralbriefe.6 Wenn sich ein Parameter dieser Konstellation verändert – die damit ohnehin noch nicht hinreichend beschrieben ist  –, ändert sich entsprechend auch die Verhältnisbestimmung. Zudem sind aufgrund der vielschichtigen Kontroversen sowohl in der Acta- als auch in der Pastoralbriefe-Forschung die methodischen Fragen der Verhältnisbestimmung zwischen Apostelgeschichte und Pastoralbriefen noch einmal unübersichtlicher geworden, um nicht zu sagen kompliziert. Daher steht mein Beitrag weniger unter dem Vorzeichen des Vergleichs, sondern gerät eher zu einer mit Beispielen unterlegten Problemanzeige, an deren Ende vermutlich mehr Fragen offen bleiben als uns vorher bewusst waren.7 Bevor ich dennoch einige materiale Beobachtungen und Überlegungen zu dieser Verhältnisbestimmung versuche, ist es unumgänglich, zumindest andeutungsweise die methodische Komplexität anhand einiger konkreter Fragen zu benennen. Daran wird nicht zuletzt deutlich, dass einfache Antworten auf die sich stellenden Fragen leider nicht möglich sind, wie das frühere Generationen der Forschung mit oft bewundernswerter Gewissheit tun konnten und dies auch heute noch gelegentlich geschieht. Insbesondere wenn man danach fragt: »What did Luke really know?«, dann sind damit im Blick auf die Pastoralbriefe eine ganze Reihe besonderer methodischer Aspekte impliziert.

1.  Methodische Aspekte der Themenstellung Ausgehend von der Fragestellung der Tagung »What did Luke really know?« stellt sich natürlich zunächst nicht nur die Frage, ob die Pastoralbriefe die Apostelgeschichte (und das Evangelium) voraussetzen, sondern  – zumal wenn man versucht, die Perspektiven offen zu halten – auch die konkrete Frage: Kannte der Verfasser der Apostelgeschichte die Pastoralbriefe? Sie stellt sich ganz allgemein und im Besonderen. Allgemein, weil sie mit dem Verhältnis der Apostelgeschichte zur Paulustradition bzw. den paulinischen Briefen zu tun hat: Kannte Lukas einzelne oder eine Sammlung von Paulusbriefen,8 und zudem: Waren die Pastoralbriefe oder einzelne davon bereits Teil dieser Sammlung? Im Besonderen, weil die Pastoralbriefe bzw. manche Passagen daraus sowie bestimmte sprachliche Strukturen eine 5 

Vgl. etwa (zumindest in partieller Hinsicht) Glaser, Briefroman, 263–264.294–96. S. dazu unten Anm. 24. 7  Ähnlich urteilt Wolter, Lukasevangelium, 7. 8  So prononciert etwa Pervo, Paul, verbunden mit der These, die Apg sei 115 zu datieren und Lukas habe daher die Paulusbriefedition gekannt und benutzt, die auch für Marcion maßgeblich war; die Pastoralbriefe gehören damit nicht dazu. Differenzierend und zurückhaltend Schröter, Kirche, 80 u. ö., der von einer vergleichbaren Art der Rezeption paulinischer Traditionen in den Pastoralbriefen und der Apg, nicht jedoch von einem literarischen Verhältnis ausgeht; eher skeptisch auch Marguerat, Paul in Acts. 6 

»Lukas ist allein bei mir« (2 Tim 4,11)



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erkennbare Affinität zu Passagen und zur Sprache der Apostelgeschichte (bzw. »Luke-Acts«) haben.9 Wenn man voraussetzt, dass Lukas die Pastoralbriefe (und andere Paulusbriefe) kannte, dann muss man nicht nur erklären, warum er von paulinischer Korrespondenz nichts berichtet, sondern auch inwiefern er sie dennoch benutzte: Im Sinne einer heute wieder oft und m. E. zu Recht bestrittenen literarischen Abhängigkeit? Oder vielmehr in dem Sinne, dass sie ihm (als Vertrauter und Begleiter des Paulus?) vertraut war und ihm das, was man oft als »Paulinismus« versucht hat zu identifizieren,10 gleichsam in die Feder floss. Das ließe auch Spielräume für Variationen im Blick auf Angaben zu persönlich-biographischen Umständen, die sich aus heutiger Sicht mitunter anders darstellen, wenn man die Briefe am Schreibtisch direkt literarisch mit der Apostelgeschichte vergleicht.11 Anders ausgedrückt: Wenn Lukas als Paulusbegleiter dessen Briefe kannte (einschließlich der Möglichkeit, dass er darüber auch die oder einzelne der Pastoralbriefe kannte), dann ist es unter literarischen Gesichtspunkten nicht zwingend, dass er bei einer Abfassung der Apostelgeschichte mit deutlichem Abstand zur erzählten Zeit seine Darstellung in deckungsgleicher Übereinstimmung mit jenen biographischen Aspekten gestaltet, die den Briefen bei einer Benutzung als Vorlage zu entnehmen gewesen wären. D. h. als Autor mit historischen, literarischen und theologischen Interessen ist Lukas keineswegs sklavisch an die historischen Details der Überlieferungen gebunden, die er vielleicht sogar aus eigener Erfahrung kennt oder in welcher Form auch immer verwendet. Umgekehrt wäre aber ein pseudonymer Verfasser der Pastoralbriefe durchaus gut bedient, wenn er sich um der Glaubwürdigkeit seiner Fiktion an die bekannten Vorgaben halten würde, um nicht unnötig Zweifel an der Fiktion aufkommen zu lassen. Die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen der Apostelgeschichte und den Pastoralbriefen lässt daher auch die umgekehrte Fragstellung zu: Kannte der (nur fiktiv-literarisch produktive) Verfasser der Pastoralbriefe die Apostelgeschichte und hat er Angaben daraus zum Zwecke der biographischen Personalisierung seiner Paulusdarstellung herangezogen? Dies wie auch die zuvor genannte alternative Frageperspektive hängt gewiss auch an den Datierungen der Apostelgeschichte, die in der Forschung vom Anfang der 60er Jahre bis in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts reicht,12 sowie der Pastoralbriefe, deren Datierungen ein ähnliches Spektrum aufweisen. Wenn aber der Verfasser der Pastoralbriefe die Apostelgeschichte kannte, wie ließe sich der entsprechende Transformationsprozess dieser Tradition in den Pastoralbriefen erkennen? Wenn er sie nicht kannte, woher hat er dann all die biographischen Angaben, die er in seinen Briefen verwendet? Dabei ist zudem eine weitere Rezeptionsebene zu berücksichtigen, nämlich die Rezeption von Paulus9 

Schröter, Kirche, 78 u. ö. Vgl. z. B. Vielhauer, Paulinism; Flichy, Paul; Hays, Paulinism; Marguerat, Paul after

10 

Paul.

11  12 

Vgl. etwa auch Porter, Paul. Vgl. dazu Hemer, Book, bes. 365–382; Pervo, Dating Acts, der die Apg auf 115 datiert.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

briefen durch den Verfasser der Pastoralbriefe, die dann zusätzlich zur Rezeption der Apostelgeschichte in den Pastoralbriefen in Beziehung gesetzt werden müsste. Das gilt freilich nur unter einer literarischen Perspektive, die im Verfasser der Pastoralbriefe einen unbekannten Autor der dritten Generation sieht, einer Zeit, in der man in der Regel die Kenntnis anderer frühchristlicher Schriften wie der Paulusbriefe und der Apostelgeschichte voraussetzt.13 Diese Kenntnis ist allerdings nicht nur für die Autoren fiktiver Werke, sondern auch für deren Adressatinnen und Adressaten vorauszusetzen. Damit sind bereits eine ganze Reihe grundsätzlicher Fragen gestellt, die sich unter der Voraussetzung einer zumindest partiellen Authentizität der Pastoralbriefe perspektivisch noch einmal deutlich verschieben würden. Aber wie die zahlreichen Untersuchungen zur Thematik gezeigt haben, leuchtet selbst unter literarischem Blickwinkel ein, dass auch die Details der Briefe Fragen zum Verhältnis zur Apostelgeschichte und zu anderen Paulusbriefen aufwerfen. Und vielleicht noch ein letzter Satz in dieser Einleitung: Die Komplexität der Überlieferung ist das Ergebnis von Prozessen, die in ihrer historischen Dimension nicht vollständig durchschaut oder rekonstruiert werden können. Mit dem oft sehr streng angelegten Maßstab absoluter Stimmigkeit und Plausibilität in dem Versuch der (literar-)historischen Rekonstruktion der Entstehungsumstände der Überlieferung ist also ebenso vorsichtig umzugehen wie mit den oft notwendigen hypothetischen Überlegungen zur Überbrückung von Lücken in der Überlieferung. Im Ergebnis dieser allzu knappen methodischen Überlegungen ergibt sich, dass die Behandlung des Themas »Lukas und die Pastoralbriefe« auf begrenztem Raum nicht möglich ist, wenn man nicht die Koordinaten relativ klar im Sinne einer Arbeitshypothese absteckt. Dabei kann man sich nicht einfach nur auf die literarische Ebene beziehen, sondern muss auch die biographischen Fragen nach der Identität der jeweiligen Verfasser bzw. der Relation der literarisch genannten und erkennbaren Akteure stellen, nicht zuletzt deshalb, weil dies auch unter einer pseudepigraphischen Perspektive als intertextuelle Konstruktion des unbekannten Autors wahrgenommen werden muss. Die Frage nach dem Verfasser der Pastoralbriefe ist bekanntlich schwer zu beantworten, will man sie nicht generell Paulus zuschreiben. Aber auch die Identität des Verfassers der Apostelgeschichte14 birgt ein mehrfaches Problem: 1. Ist der Verfasser der Apostelgeschichte ein zeitweiser Reisebegleiter des Apostels Paulus (vgl. die sog. »Wir-Berichte«)?15 2. Ist der Verfasser der Apostelgeschichte und 13  Dies gilt insbesondere für die Theorie eines Corpus pastorale, mit dem die Paulusbriefsammlung abgeschlossen werden sollte, vgl. Trummer, Corpus. 14  Vgl. dazu grundlegend Thornton, Zeuge; Marguerat, Lukas; Mittelstaedt, Lukas; Schröter, Lukas als Historiograph 2007; sowie als Problembeschreibungen Frey, Fragen; Schröter, Stellung der Apostelgeschichte. 15  Vgl. positiv Harnack, Lukas, 56; Hemer, Book, 308–364; Thornton, Zeuge, 364–367; Wolter, Lukasevangelium, 7–9; Schröter, Lukas als Historiograph 2007, 225–226.243–244. Kritisch z. B. Plümacher, Apostelgeschichte, bes. 494.514; vgl. ders., Wirklichkeitserfahrung; Marguerat, Paul in Acts, 4–5; ders., Lukas, 44–46; nach Koch, Kollektenbericht, 328, gehörte



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Reisebegleiter identisch mit dem in Phlm 24 erwähnten »Mitarbeiter« sowie dem in Kol 4,14 erwähnten Arzt Lukas, wie es die altkirchliche Überlieferung voraussetzt?16 3. Ist dieser in Phlm 24 und Kol 4,14 erwähnte Lukas identisch mit dem in 2 Tim 4,11 erwähnten Lukas, der »allein« bei Paulus in Rom ist? Und mithin: Ist der in 2 Tim 4,11 erwähnte Lukas eben jener Reisebegleiter des Paulus? Unabhängig von der historischen Frage ist auch unter literarischen Gesichtspunkten vorauszusetzen, dass in Kol 4,14 und Phlm 24 mit dem Namen Lukas ein und dieselbe Person bezeichnet ist, was auch durch die gleichzeitige Nennung von Demas mit Lukas an beiden Stellen naheliegt. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass der Lukas des Kolosserbriefes und des Philemonbriefes identisch ist mit dem Lukas des 2. Timotheusbriefes, da er hier wie im Philemonbrief im Kontext mit den Namen Markus und Demas genannt wird. Man mag diese gemeinsamen Namensnennungen auf literarische Abhängigkeiten zurückführen, aber ob die Bedeutung und der Grund der Nennung dieser Namen damit bereits hinreichend geklärt ist, bleibt zu fragen, zumal dies auch auf eine bestimmte Konstruktion von Personalrelationen hinausliefe. Aus diesen zugegebenermaßen fragmentarischen Überlegungen ergeben sich folgende vier grundsätzliche Voraussetzungen im Sinne einer zu erprobenden Arbeitshypothese, unter denen ich versuche, das Verhältnis der Pastoralbriefe zur Apostelgeschichte zu beschreiben: 1. Mit neueren Forschungsansätzen gehe ich davon aus, dass der Verfasser der Apostelgeschichte ein (zeitweiser) Reisebegleiter des Paulus war, woraus sich die Wir-Stücke der Apostelgeschichte erklären. Er hat mithin Paulus auch auf der Romreise begleitet.17 Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch (partielle) Augenzeugenschaft eine literarisch idealisierende und konstruierende Darstellung der Paulusgeschichte nicht aus-, sondern sie vielmehr unter den Gegebenheiten antiker Historiographie sogar einschließt, so dass selbst Augenzeugenschaft nicht per se als Erweis für historische Detailtreue gelten kann.18 2. Auch wenn dies umstritten und letztlich ungeklärt bleiben wird, sehe ich keine hinreichenden Gründe anzunehmen, dass der Verfasser der Apostelgeschichte

der »Verfasser [sc. der ›Wir‹-Quelle 20,4–21,18; J. H.] zu dem Kreis derjenigen Reiseteilnehmer […], deren Aufgabe es ganz offensichtlich war, die Kollektenbeträge der jeweiligen Gemeinde an die Empfänger in Jerusalem zu überbringen«. Ungeklärt bleibt dabei die Relation zu anderen »Wir«Stücken der Apg. Vgl. auch Thornton, Zeuge, 305–313. Koch, Kollektenbericht, 337, vermutet, dass Lukas andere »Wir«-Texte (z. B. Apg 16) in Analogie zu der übernommenen »Wir«-Quelle literarisch bildet; ähnlich Porter, Paul, 10–66. Zur kritischen Problemanzeige und kritisch gegenüber dem authentischen Gehalt vgl. auch Wehnert, Wir-Passagen; Wedderburn, ›We‹-Passages. 16 Vgl. z. B. Iren.haer. III 1,1 u. ö.; Canon Muratori 2–8; Eus.h. e. II 24,7.15; V 8,3; dazu grundlegend Harnack, Lukas; Alexander, Preface; sowie bes. Hengel, Historiker; Hengel/ Schwemer, Paulus, 9–26, bes. 18–22. Zum Problem vgl. auch Thornton, Zeuge, 215. 17  Vgl. die oben in Anm. 15 Genannten. 18  Vgl. dazu insbesondere die Überlegungen bei Schröter, Lukas als Historiograph 2007, 243–244; sowie Backhaus, Lukas; ders., Asphaleia; ders., Apostelgeschichte.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

nicht identisch sei mit jenem Lukas, der in Phlm 24 als Mitarbeiter des Paulus genannt und nach Kol 4,14 von Profession Arzt (ἰατρός) gewesen ist.19 3. Wenn es diese persönliche Verbindung zwischen Lukas und Paulus tatsächlich gab, dann impliziert dies selbstverständlich, dass Lukas den Apostel auch als Briefschreiber kannte, mithin auch Paulusbriefe kannte, diese aber in seiner von einem späteren Standpunkt aus rückblickenden Geschichtskonstruktion offenbar bewusst nicht aufgenommen hat, wie er auch Titus als den doch prominentesten Mitarbeiter des Paulus neben Timotheus nicht nennt. Gründe für solche scheinbaren Defizite ließen sich durchaus benennen, bleiben aber letztlich spekulativ. Lukas benutzt also die Paulusbriefe nicht als Quellen und ist daher in seiner Darstellung der Apostelgeschichte davon auch nicht literarisch abhängig. 4. Darüber hinaus gehe ich inzwischen aufgrund anderer Untersuchungen davon aus, dass sich unter der Voraussetzung eines deutlichen Abstandes zum 1. Timotheusbrief der 2. Timotheus- und der Titusbrief als authentische Paulusbriefe verstehen lassen, die – im Unterschied zum 1. Timotheusbrief – in die uns bekannte Geschichte der Paulusmission eingeordnet werden können und deren jeweiliger Ort in der Paulusgeschichte mit der Apostelgeschichte abgeglichen werden müsste. Das kann hier aber nur ansatzweise thematisiert werden.20 Den 1. Timotheusbrief hingegen halte ich für einen späteren Brief, der andere theologische und ekklesiologische Voraussetzungen hat bzw. Intentionen verfolgt und in die Mitte des 2. Jahrhunderts datiert.21

19  Vgl. oben Anm. 14–16. Kritisch z. B. Plümacher, Apostelgeschichte, 520–521, der diese Identifizierung bereits der altkirchlichen Tradition als aus den einschlägigen Stellen in Verbindung mit den Wir-Berichten der Apg erschlossen versteht; ähnlich Pervo, Dating Acts, 5. Schröter, Lukas als Historiograph 2007, 225, hält die Frage offen und betont: »Die häufig vertretene These […] die Zuschreibung der Apg an Lukas sei über die Wir-Berichte erfolgt und von dorther dann auch auf das Evangelium übertragen worden, ist dagegen kaum plausibel« (ebd., Anm. 15). Vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 8–9, der letztlich die Identität des Autors des Evangeliums und der Apg mit dem Lukas der Briefe ebenfalls offenlässt. Für die Unterscheidung des Arztes Lukas (Kol 4,14) von dem in Phlm 24 und 2 Tim 4,11 Genannten, wie Bormann, Kolosser, 196, vermutet, gibt es m. E. keine überzeugenden Argumente. Auch lassen sich die Deutungen bei Iren. haer. III 1,1 und Eus.h. e. II 24,7.15; V 8,3 nicht einfach als »fromme Rekonstruktion« (ebd.) abtun. Immerhin entsteht – zumal unter einer pseudepigraphischen Perspektive – durch derartige innerneutestamentlichen Bezüge und Relationen zwischen Ereignissen und Personennamen eine Art Großerzählung, die als solche kaum bewusst fingiert ist, sondern in ihrem Gefüge eine gewisse Plausibilität gewinnt. Erst diese Plausibilität ist es, welche die altkirchliche Tradition zu jenen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Bestimmung von Identitäten geführt hat, die man als aus dem Neuen Testament heraus konstruiert sieht. Hier handelt es sich notwendig um eine wechselseitige, um nicht zu sagen zirkuläre Relation, deren unlösbarer Charakter dem nicht aufzuhebenden Mangel an weiteren notwendigen Informationen geschuldet bleibt. Das Argument einer nachträglichen Konstruktion ist zwar nicht von der Hand zu weisen und wohl auch in vielen Fällen zutreffend, kann aber den Blick auf Naheliegendes allzu schnell verstellen. 20  Vgl. unten 2.2 und 2.3. 21 Vgl. Herzer, Tradition und Bekenntnis (in diesem Band 247–270).

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Nach diesen methodischen Überlegungen hinsichtlich des Wie eines Vergleiches zwischen Lukas und den Pastoralbriefen soll es im Folgenden exemplarisch darum gehen, anschaulich zu machen, was man sinnvollerweise vergleichen kann.

2.  Beispiele für die Vernetzung der Überlieferungen 2.1. Personen Fragt man nach Beziehungen zwischen verschiedenen Überlieferungsbereichen, so gehören Personen zu den wichtigen Details, denn Geschichte wird von Menschen betrieben und geschrieben. Wer sich wie auf wen und warum bezieht, kann daher auch ein Indiz für die Zuordnung der entsprechenden Schriften sein.22 Ich beginne meine Beispiele mit diesem Punkt, weil er m. E. besonders anschaulich ist. Der wichtigste Name, der die Pastoralbriefe mit der Apostelgeschichte allerdings nur indirekt verbindet, weil die Apostelgeschichte ihn nicht nennt, ist der bereits erwähnte Lukas, von dem in 2 Tim 4,11 gesagt wird, er sei allein bei Paulus. Ganz gleich, ob man dies als historisch authentische oder nur literarische Angabe interpretiert, so erscheint dadurch Lukas als Reisebegleiter des Paulus.23 Es war bereits davon die Rede, dass unter fiktivem Vorzeichen diese Notiz sowie die sprachlichen Affinitäten zwischen den Pastoralbriefen und der Apostelgeschichte sogar Anlass gaben, in Lukas den eigentlichen pseudonymen Verfasser der Pastoralbriefe zu sehen.24 Man könnte die sprachliche Relation allerdings auch darauf zurückführen, dass Lukas Begleiter des Paulus auf der Romreise war, so dass er – ähnlich wie Ter22 

Vgl. zur Thematik immer noch grundlegend Ollrog, Paulus. wenn sie im Ansatz einige Probleme aufwirft, wird dies in der Theorie der Pastoralbriefe als eines Briefromans immerhin ernsthaft aufgenommen und trägt der Tatsache Rechnung, dass auch ein fiktiver Autor eine plausible Erzählung konstruieren muss, bei der zwischen Fiktion und historischen Details kaum zu unterschieden ist, vgl. dazu Pervo, Romancing; Glaser, Briefroman; vgl. jedoch kritisch gegenüber der Existenz einer solchen Gattung Luchner, Pseudepigraphie. 24  Vgl. bes. Strobel, Schreiben; nach Quinn, Last Volume, sei der Autor der Apg der später unter dem Pseudonym des Paulus schreibende Verfasser der Pastoralbriefe, die als »dritter Band« sein mit dem Evangelium und der Apg begonnenes Werk abschließen sollten. Wilson, Luke, begründet seine These, Lukas habe die Pastoralbriefe als Abschluss seines Werkes geschrieben, unter anderem mit der Annahme der Verwendung von »travel notes« des Paulus (vgl. a. a. O., 130–131). Allerdings hält er diesen Lukas nicht für identisch mit dem in 2 Tim 4,11 genannten. Dabei muss Wilson freilich zugleich einige Irrtümer des Lukas korrigieren, z. B. dass 2 Tim 4,9 f. ursprünglich von Cäsarea und nicht von Rom aus geschrieben sei (a. a. O., 131). Die These eines dritten Teils des lukanischen Werkes ist bereits älter, vgl. ferner mit unterschiedlicher Ausrichtung Zahn, Buch, der vermutet hat, Lukas habe einen dritten Teil seines Werkes schreiben wollen, da die Formulierung πρῶτος λόγος in Apg 1,1 auf einen δεύτερος und τρίτος λόγος hinweise, das Fehlen einer Notiz über das Schicksal des Petrus ungewöhnlich wäre sowie der offene Schluss der Apg ohnehin dafür spreche; leider sei der Autor darüber gestorben. An die Pastoralbriefe als dritten Teil hatte Zahn nicht gedacht. Zur Kritik vgl. z. B. Brox, Lukas; K aestli, Luke (»referring to concrete data and personal details is part of the common literary techniques in the Greco-Roman pseudepigraphal letters« [116]); Engelmann, Untersuchungen, 47–50. 23  Auch

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

tius im Römerbrief – als Schreiber bzw. »Sekretär« fungierte.25 Im Zusammenhang mit der häufig beobachteten, allerdings nur schwer zu deutenden Nähe der Ausdrucksweise, des Vokabulars und der Gedankenwelt der Pastoralbriefe zum Autor der Apostelgeschichte26 gibt die Notiz in 2 Tim 4,11 immerhin einen Anhaltspunkt, der unter diesen Voraussetzungen nicht ignoriert oder als bloßes Stilmittel beurteilt werden kann: »Lukas ist allein bei mir.«27 Was soll damit gesagt sein – außer der Verstärkung des ansonsten völligen Verlassenseins (vgl. 4,16: »alle hatten mich verlassen«)? Wenn Lukas ein besonderer Reisebegleiter des Paulus war, der zudem als einer der Wenigen noch in Rom bei ihm war, ist dann vorauszusetzen, dass er möglicherweise auch auf Stil und Inhalt der Pastoralbriefe Einfluss genommen hat? Oder war er es, der erst nach dem Tod des Apostels diese Briefe schrieb?28 Tat er dies vor29 oder nach30 der Abfassung der Apostelgeschichte? Und ist dies überhaupt wahrscheinlich, da Lukas sonst keine Paulusbriefe erwähnt und auch Titus als Mitarbeiter des Paulus völlig übergeht?31 Eine eigenständige, nachpaulinisch-pseudonyme Verfasserschaft der Pastoralbriefe durch den Verfasser der Apostelgeschichte ist m. E. aus verschiedenen (vorwiegend literarischen) Gründen ausgesprochen unwahrscheinlich.32 Doch die Pastoralbriefe und die Apostelgeschichte verbinden noch andere Namen. Der in Tit 3,12 genannte Tychikos (vgl. Kol 4,7; Eph 6,21) begegnet im Zusammenhang der Abschiedsszene in Milet in Apg 20,4, auf die noch kurz einzugehen sein wird; Apollos wird von Lukas in Apg 18,24–28 vorgestellt. Prisca und Aquila aus 2 Tim 4,19 (vgl. 1 Kor 16,19; Röm 16,3) sind auch aus Apg 18,2.18.26 bekannt; der in 2 Tim 4,20 erwähnte Erastus (vgl. Röm 16,23) aus Apg 19,22; der ebenfalls in 2 Tim 4,20 genannte Trophimos begegnet nur in der Apg (20,4; 21,29) und nicht in anderen Paulusbriefen.33 Den Markus von 2 Tim 4,11 (vgl. Kol 4,10; Phlm 24) lernen wir in Apg 12,12.25; 15,37–39 als Johannes Markus kennen, der eine nicht unproblematische Geschichte mit Paulus hat. Der in 2 Tim 4,14 genannte Alexandros der Schmied ( Ἀλέξανδρος ὁ χαλκεύς), vor dem Paulus warnt, begegnet auch in 1 Tim 1,20 als ein Abtrünniger, der zumindest eine gewisse Assoziation zum ephesinischen Alexander in Apg 19,33 nahelegt, insbesondere aufgrund des Kon25 

Vgl. z. B. Knight, Commentary, 50–52. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 7; Strobel, Schreiben; kritisch dagegen Brox, Lukas; Barrett, Critical, 964–965 (sprachliche Analyse der Nähe der Pastoralbriefe zur Miletrede des Paulus), u. a. 27 Vgl. Schröter, Paulusdarstellung, 551. 28  S. oben Anm. 24. 29 Vgl. Riesner, Luke-Acts. 30  Vgl. z. B. Quinn, Last Volume. 31 Vgl. Bartlet, Titus; vgl. auch Schröter, Kirche, 78. 32  Vgl. skeptisch auch Johnson, First and Second Letters, 88–89; Schröter, Kirche, 78. 33  Unter der Voraussetzung der Echtheit des 2 Tim ergäbe sich ein Problem bei einer Datierung von Phil und Phlm in die römische Gefangenschaft und der daraus resultierenden Spannung zu 2 Tim 4,9 f. (vgl. etwa Wilson, Luke, 131–132; zur Datierung von Phil und Phil nach Rom vgl. z. B. Wick, Philipperbrief, 182–185; Schnelle, Einleitung 2013, 161–163.174–175). Doch Phil und Phlm (und vielleicht auch Kol) gehören wahrscheinlich eher in eine frühere, ephesinische Gefangenschaft, vgl. Omerzu, Spurensuche, wofür dann indirekt auch 2 Tim ein Hinweis wäre. 26 Vgl.



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textes von Apg 19, wonach sich Alexander vergeblich in die Auseinandersetzung mit den Silberschmieden einschalten will. Andere Namen sind nur aus Paulusbriefen bekannt und kommen in der Apostelgeschichte nicht vor: neben dem Namen des Lukas selbst auch Demas (2 Tim 4,10; vgl. Kol 4,14; Phlm 24) und Titus (Titusbrief; 2. Korintherbrief; Galaterbrief ). Die vielen anderen in den Pastoralbriefen Genannten: Artemas, Zenas, Onesiphorus, Hymenäus, Philetus, Karpus, Kreszens, Eubulus, Pudens, Linus und Klaudia sind sonst nicht oder erst nachneutestamentlich bekannt. Polykarp von Smyrna empfiehlt in Phil 14 einen Kreszens mit dessen Schwester, der offenbar in Smyrna Gemeindedienste versah, Linus wird bei Irenäus und Eusebius34 als erster Bischof von Rom genannt; in den Apostolischen Konstitutionen (VII 46,6) wird Klaudia als dessen Mutter identifiziert; ein Eubulus erscheint im Präskript des 2. Korintherbriefes. Literarische Abhängigkeiten lassen sich aus diesem inkonsistenten Befund nicht ableiten, wohl aber der Eindruck eines Netzwerkes von Personen, deren Wirkungskreise sich offenbar z. T. mehrfach überschnitten haben und die nicht in allen Kontexten gleichermaßen präsent und bekannt gewesen sind.35 Nimmt man ernst, dass auch Überlieferungen sowie Traditionsbildungen und -weitergabe keine abstrakten Vorgänge sind, sondern stets von konkreten Personen und ihren sozialen Vernetzungen getragen werden, dann wird man mit den genannten Personen und deren Überschneidungen in den Paulusbriefen und der Apostelgeschichte auch bestimmte Beziehungen der literarischen Zeugnisse herstellen und voraussetzen können, die nicht notwendig bzw. ausschließlich auf literarischer Ebene zu suchen sind. Literarisch ist jedenfalls festzustellen, dass verschiedene Autoren mit manchen Namen Unterschiedliches verbunden haben. Betrachtet man etwa die Funktion des Alexander in Apg 19, der dort eher ein Fürsprecher für Paulus ist (obwohl seine Funktion ambivalent bleibt), während er in 2 Tim 4,14 und noch stärker in 1 Tim 1,20 deutlich negativ konnotiert ist, dann ist dies nicht durch den simplen Hinweis zu erledigen, es handele sich eben nicht um dieselbe Person (was natürlich theoretisch immer möglich ist). Die unterschiedliche Darstellung lässt vielmehr eine Verschiebung der Perspektive erkennen: Der zumal im Rückblick subjektive Eindruck des Paulus (2 Tim) auf schlechte Erfahrungen mit dem »Schmied« Alexander ist etwas anderes als eine deutlich spätere Schilderung einer komplexen missionarischen Konfliktsituation in der Apg, die von Lukas bei allem historischen Bezug sehr wahrscheinlich ohnehin stark stilisiert ist.36 Ähnliches gilt für Demas, der im Philemonbrief und Kolosserbrief sehr positiv als Mitarbeiter genannt wird und von dem 2 Tim 4,10 sagt, er habe »die Welt liebgewonnen« und sei nach Thessaloniki gegangen, was auch immer das heißen mag. Analoges gilt, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, für Markus, der angesichts des Konfliktes zwischen 34  Iren.haer. III 3,3 und – davon abhängig – Eus.h. e. III 2; VI 6,1 (u. ö.); vgl. Weiser, 2 Tim, 333–334. 35 Vgl. Schröter, Kirche, 85. 36 Vgl. Omerzu, Spurensuche, 317–325.

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ihm bzw. Barnabas und Paulus in der Apostelgeschichte im 2. Timotheusbrief eher positiv erscheint.

2.2  Die Reisen des Paulus in der Apostelgeschichte und den Pastoralbriefen Neben Personen sind auch geographische und missionsstrategische Aspekte für einen Vergleich geeignet, weil auch sie eine lebensgeschichtliche Plausibilität verlangen. Hier soll nur auf einige Dinge kurz hingewiesen werden. 2.2.1  2 Tim 3,11 – Spiegel der ersten Missionsreise? Angesichts der Tatsache, dass die sog. erste Missionsreise in ihrer Historizität umstritten ist und mitunter als literarisches Konstrukt des Lukas gilt, weil Paulus sie im Galaterbrief und auch sonst nicht erwähne,37 ist die kurze Notiz in 2 Tim 3,11 bemerkenswert: 2 Tim 3,10–11: »(10) Du aber bist mir gefolgt in der Lehre, der Lebensführung, der Motivation, dem Glauben, der Langmut, der Liebe, der Geduld, (11) in den Verfolgungen (und) den Leiden, was auch immer mir zugestoßen ist in Antiochia, in Ikonion, in Lystra – welche Verfolgungen habe ich ertragen! – und (doch) hat mich der Herr aus allem gerettet!«

Hier wird über die Verfolgungen und Leiden gesprochen, denen Paulus in Antiochia, Ikonion und Lystra ausgesetzt war und aus denen er gerettet wurde. Darin eine Reminiszenz an die Reiseroute von Apg 13–14 zu sehen, liegt zunächst auf der Hand, zumal die Orte in derselben Reihenfolge aufgelistetet werden wie in der Apostelgeschichte.38 Die Stadt Derbe, die Lukas als weitere Station auch nur in einer kurzen summarischen Bemerkung nennt (Apg 14,20b–21a), erwähnt der 2. Timotheusbrief nicht, vielleicht weil Paulus dort keine Bedrohung erfahren hat,39 oder weil sie in diesem rückblickenden Zusammenhang nicht wichtig war. Die deutlich erkennbare Emphase, mit der Paulus in 2 Tim 3,11 an seine Verfolgungen erinnert, entspricht der von Lukas geschilderten Bedrohung ebenso wie die anschließende Tröstung, der Herr habe ihn aus alledem errettet (3,11b; vgl. auch 4,17 f.).40 Problematisch bei einer allzu engen Verknüpfung zwischen Apg 13/14 37 Vgl. Conzelmann, Apostelgeschichte, 81–91; Haenchen, Apostelgeschichte, 342–345; dagegen und zum Problem Breytenbach, Paulus, 19–96. 38 Vgl. Pervo, Acts, 320–321. 39  Zum Problem Reinbold, Propaganda, 93–94, der von einer grundsätzlichen Fragwürdigkeit aller »für uns überprüfbaren Timotheus-Personaltraditionen in den Pastoralbriefen« ausgeht, wobei offen bleibt, anhand welcher Kriterien die Überprüfbarkeit festzustellen wäre. Dies kann aus methodischen und literarischen Gründen weder die Apg sein noch eine erst zu begründende Abhängigkeit der Pastoralbriefe von dieser. Anders etwa Haenchen, Apostelgeschichte, 416, der in 2 Tim 3,11 einen Beweis für die Lebendigkeit der Erinnerung an die Leiden des Paulus in den genannten Städten sieht. 40 Eine Erfahrung, die Paulus auch in 2 Kor 1,10 in vergleichbarem Kontext (bezogen auf Ephesus) thematisiert. Der Anklang der Rettungsaussage an Ps 34(33),20 ist kaum zufällig, sogar



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und 2 Tim 3 wäre aber, dass die Route bei Lukas deutlich ausführlicher ist und Timotheus Paulus auf der ersten Reise noch nicht begleitete; manche wollen dies auch 2 Tim 3,10 entnehmen. Allerdings ist dieser Einwand nicht zwingend, gerade weil die Reisebegleitung im 2.  Timotheusbrief nicht explizit thematisiert wird. Auch die Tatsache, dass Lukas diese erste Reise ausführlicher erzählt, spricht nicht gegen eine Verbindung beider Überlieferungen, da Genre und Absicht des Lukas eine solche perspektivische Verschiebung mehr als plausibel machen. Deutlich ist allerdings, dass die Texte nicht literarisch voneinander abhängig sind, weder in die eine noch in die andere Richtung. Die Unterschiede und der Duktus verdanken sich jeweils einer grundsätzlich anderen Perspektive. Für Lukas hat die erste Reise eine entscheidende narrative und konzeptionelle Bedeutung, während ein aus relativ großem Abstand zurückblickender Paulus nicht gezwungen ist, ausführlich zu sein, noch dazu gegenüber jemanden, der aus Ikonion/Lystra stammt und daher die Verhältnisse dort kennt – wie aus Apg 16,1–3 hervorgeht. 2.2.2  Paulus und Timotheus in 2 Tim 1,3–8; 3,14–17 und Apg 16,1–3 Damit kommt ein nächster Aspekt in den Blick, nämlich die Notizen über die persönliche Beziehung zwischen Paulus und Timotheus. Darüber geben 2 Tim 1,3–5 und eine kurze Notiz in 3,14 Auskunft: 2 Tim 1,3–5: »(3) Ich danke Gott, dem ich von (meinen) Vorfahren her mit reinem Gewissen diene, (ebenso) wie ich unaufhörlich an dich denke in meinen Bitten bei Nacht und bei Tag, (4) weil ich mich – eingedenk deiner Tränen – danach sehne, dich zu sehen, damit ich von Freude erfüllt werde. (5) Indem ich mich an den ungeheuchelten Glauben in dir erinnere, der zuvor (bereits) deiner Großmutter Loïs und deiner Mutter Eunike innewohnte, bin ich aber überzeugt, dass er auch in dir (wohnt).« 2 Tim 3,14: »Du aber bleibe bei den (Dingen), die du gelernt hast und (mit denen) du vertraut bist, weil du weißt, bei wem du (sie) gelernt hast, denn schon von Geburt an kennst du die heiligen Schriften.«

Hinzu kommt bei Lukas die biographische Notiz in Apg 16,1–3 über die Beschneidung des Timotheus: Apg 16,1–3: »(3) Er kam auch nach Derbe und Lystra; und siehe, dort war ein Jünger mit Namen Timotheus, der Sohn einer jüdischen Frau, die gläubig war, und eines griechischen Vaters. (2) Der hatte einen guten Ruf bei den Brüdern in Lystra und Ikonion. (3) Diesen wollte Paulus mit sich ziehen lassen und er nahm ihn und beschnitt ihn wegen der Juden, die in jener Gegend waren; denn sie wussten alle, dass sein Vater ein Grieche war.«

Überraschend ist im 2. Timotheusbrief die namentliche Nennung der Großmutter Loïs und der Mutter Eunike (1,5), was weit über die lukanische Darstellung hinausgeht. Die Bezeichnung ἡ μάμμη (Großmutter) ist darüber hinaus ein Hapaxlegomebis in den Wortlaut der Septuagintafassung hinein: »Vielfältig sind die Bedrängnisse der Gerechten, doch aus alledem wird er (sc. Gott) sie erretten (ἐκ πασῶν αὐτῶν ῥύσεται αὐτούς).«

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non in der gesamten biblischen Tradition und auch sonst selten.41 Hierdurch wird eine Vertrautheit des Paulus mit der Familie des Timotheus erkennbar, die nicht nur über die lukanische Information in der Apostelgeschichte hinausgeht, sondern zugleich den persönlichen Charakter des Briefes unterstreicht.42 Die Notiz, dass der Glaube des Timotheus »zuvor« (πρῶτον) bereits von Mutter und Großmutter geteilt wurde, lässt nicht erkennen, dass speziell der Christusglaube gemeint ist.43 Es ist aber auch keine rein chronologische Aussage, sondern weist Timotheus auf die in der Familie bereits verankerte Glaubenstradition hin.44 Das wird flankiert durch die Aussage in 3,14–15, Timotheus wisse, von wem er die Glaubensgrundlagen gelernt habe, indem er von Geburt an in den heiligen Schriften unterwiesen wurde. Die Tatsache, dass nur die weiblichen Familienmitglieder genannt werden und nicht – wie im gegebenen Falle zu erwarten – der Vater oder Großvater, könnte mit der Familienkonstellation zusammenhängen, die Lukas in Apg 16,1–3 voraussetzt.45 Dort schildert er, Paulus sei zu Beginn der zweiten Missionsreise in Lystra Timotheus begegnet, der als Sohn einer jüdischen Mutter und eines griechischen, d. h. wohl: nichtjüdischen Vaters, einer sog. Mischehe entstammt. Die Namen der Eltern 41 Vgl. Spicq, Loïs (Belege). Einen Beleg in der (bereits christlich beeinflussten?) jüdischen literarischen Überlieferung bietet 4 Makk 16,9; Josephus und Philo bieten je einen Beleg (Flav.Jos. Ant. X 237; Philo, Spec. 3,14). Spicq (a. a. O., 362) weist darauf hin, dass die Zusammenstellung von Mutter und Großmutter in Papyrusbriefen und Inschriften verbreitet ist, vgl. literarisch bei Plutarch, Agis IV,1: Agis »wurde aufgezogen/unterrichtet von zwei Frauen, seiner Mutter Agesistrata und seiner Großmutter Archidamia« (ἐντεθραμμένος δὲ πλούτοις καὶ τρυφαῖς γυναικῶν, τῆς τε μητρὸς Ἀγησιστράτας καὶ τῆς μάμμης Ἀρχιδαμίας). Weiser, 2 Tim, 97, hält die Namen in 2 Tim 1,5 im Rahmen der pseudepigraphischen Absicht für erfunden; ähnlich Hasler, Briefe, 56; Oberlinner, 2 Tim, 22; anders z. B. Hanson, Pastoral Epistles, 120 (der Autor habe die Namen der beiden gekannt und von ihrer Konversion vom Judentum zum Christentum gewusst); Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 48; Mutschler, Glaube, 345. 42 Vgl. Spicq, Loïs, 363. 43 Vgl. Weiser, 2 Tim, 95 Anm. 73. Auch die Namen Loïs und Eunike geben keine religiöse Prägung zu erkennen, sondern sind griechische Namen, die jedoch in der erhaltenen dokumentarischen Überlieferung selten belegt sind; zu Loïs vgl. SB 14 12002; SB 20 15061; zu Eunike vgl. P.Fay. 130; häufiger belegt ist die mask. Form in P.Tebt. 1 82; P.Cair.Zen. 1 59099; P.Cair.Zen. 4 59544; P.Lond. 4 1550; SPP 20 249 (die beiden letzteren Belege aber erst spät aus dem 8. Jh.). 44 Wenn Oberlinner, 2 Tim, 23, die auf diese persönliche Weise beschriebene Glaubenstradition als »kritische Norm für die Christen der Past« versteht, deren Maßstab »die Übereinstimmung mit der apostolisch legitimierten Glaubenstradition« sei, so geht dies deutlich über den Text hinaus und folgt einem bestimmten Bild der alles bestimmenden literarischen Fiktionalität, »einschließlich dieser Personennamen, die im Dienst der theologisch-paränetischen Zielsetzung des Verfassers stehen« (vgl. a. a. O., 24). 45 Vgl. Brox, Pastoralbriefe, 226. Abwegig ist die These Walkers, in Apg 16 sei ursprünglich in bewusster Abweichung von Gal 2,3–5 nicht von Timotheus, sondern von Titus die Rede gewesen und Lukas hätte bewusst den Namen verändert, da Timotheus nicht nur der bekanntere Mitarbeiter gewesen sei, sondern weil auch der Name des Titus vorwiegend mit Konfliktsituationen verbunden gewesen sei, was Lukas habe vermeiden wollen, vgl. Walker, Timothy. Glaser, Briefroman, 300, weist zu Recht darauf hin, dass das Lehren des Timotheus durch die beiden Frauen mit 2 Tim 3,14 f. korrespondiert und der »Rolle der Frauen in den vorausgehenden Briefen in dem zentralen Gedanken der positiv verstandenen Lehrtätigkeit« widerspreche. Allerdings gilt dies nur für 1 Tim 2,11–15. Im Tit ist dies kein Thema; Tit 2,3 spricht ältere Frauen als »Lehrerinnen des Guten« an (καλοδιδάσκαλοι).



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nennt Lukas nicht; sie sind für seine literarischen Absichten auch ohne Bedeutung. In der Einschätzung des Lukas schien Timotheus dem Paulus aufgrund seines »guten Rufes« (ἐμαρτυρεῖτο, 16,2) zur Mitarbeit in der Mission geeignet zu sein. Um aber unnötige Probleme den Juden gegenüber wegen seiner Herkunft aus einer Mischehe zu vermeiden, habe Paulus ihn beschnitten. Die für Paulus angesichts seiner Polemik gegen die Beschneidungsforderung etwa im Galaterbrief eher ungewöhnliche Notiz über die Beschneidung des Timotheus (zumal in Südgalatien!)46 ist insofern zu relativieren, als damit nur vollzogen wird, was Timotheus ohnehin aufgrund seiner jüdischen Mutter war, nämlich jüdischer Abstammung.47 Damit wird natürlich die Verbindung des Timotheus mit dem Glauben der Mutter (und Großmutter) verstärkt und – vor allem im Blick auf die jüdische Tradition und das Gesetz – verbindlich gemacht. Offen bleibt erstaunlicher Weise sowohl bei Paulus als auch bei Lukas, ob, wann und durch wen Timotheus getauft wurde.48 Ohne einen solchen Anhalt in der weiteren lukanischen und paulinischen Tradition findet sich immerhin in 2 Tim 1,6 f. eine Bemerkung, die sich aufgrund der semantischen Einbettung durchaus als Rückblick auf die Taufe des Timotheus verstehen lässt, und zwar durch Paulus selbst. Darauf deutet vor allem die Notiz über die »Auflegung meiner Hände« hin, durch die Timotheus das Charisma des Geistes49 empfangen 46  Zum Problem der Spannung zwischen der historischen Relevanz dieser Stelle und dem theologischen Problem der Beschneidung bei Paulus vgl. bereits Haenchen, Apostelgeschichte, 421– 423, der freilich meint, Lukas sei hier »das Opfer einer unzuverlässigen Überlieferung geworden« (a. a. O., 423). Auch Pervo, Acts, 388, hält die Beschneidung des Timotheus für die lukanische Erfindung einer eigenen Timotheus-Legende. 47  Vgl. z. B. Pesch, Apostelgeschichte (Apg 13–28), 96–99; Hengel, Geschichtsschreibung, 51; anders Cohen, Timothy; ders., Beginnings, 263–307; von Lips, Timotheus, 124–127. Das entscheidende Gegenargument, die matrilineare Definition der jüdischen Abstammung sei erst Anfang des 2. Jh.s n. Chr. in mischnischer Überlieferung nachweisbar, ist freilich wenig überzeugend, nicht nur aufgrund der Tatsache, dass die mischnische Definition auch bereits Tradition aufnimmt, sondern weil daraus nichts Gegenteiliges für die vormischnische Zeit abgeleitet werden kann, vgl. Levinskaya, Book, 15–17; Schröter, Diaspora, 361–362 mit Anm. 13. 48  Von Lips, Timotheus, 123, vermutet, Timotheus sei auf der ersten Missionsreise durch Paulus bekehrt worden und sei daher zum Zeitpunkt der in Apg 16,1 geschilderten Begegnung schon Christ gewesen. Das würde sehr wahrscheinlich seine Taufe durch Paulus implizieren. Sicher ist jedoch weder das eine noch das andere, zumal die lukanische Darstellung nicht den Eindruck erweckt, Paulus und Timotheus würden sich bereits kennen. Dass Paulus Timotheus in 1 Kor 4,17 als sein »geliebtes und treues Kind im Herrn« bezeichnet, könnte aufgrund des Kindschaftsmotivs auf dessen Taufe durch Paulus hinweisen, zumal Paulus im Kontext auch die Gemeindeglieder in Korinth als »geliebte Kinder« anspricht (4,14). Aber diese Anrede impliziert nicht, dass Paulus alle in Korinth selbst getauft habe (vgl. 1 Kor 1,14–17). Das Kindschaftsverhältnis wird nicht durch die Taufe, sondern durch die Tatsache begründet, dass die Gemeinde durch Paulus zum Glauben gekommen ist, vgl. Wolff, 1 Kor 2011, 94. Das aber bedeutet, das Paulus Timotheus auch dann als sein Kind im Herrn bezeichnen könnte, wenn er ihn nicht selbst getauft hätte. Das Verhältnis solcher Aussagen zur Timotheusdarstellung der Apg bleibt ein Problem. Zum Motivfeld insgesamt vgl. Gerber, Paulus, bes. 207–209 sowie 351–436. 49  Das wird aus dem Zusammenhang mit 1,7 unmissverständlich klar; vgl. bereits Chrysostomus, Homilien (z. St.); Towner, Letters, 458. Χάρισμα kann hier also nicht, wie es für 1 Tim 4,14 sehr wahrscheinlich ist, im Sinne von »Amtsgnade« (so Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 73) oder »Amtscharisma« (so Oberlinner, 2 Tim, 29; ähnlich Weiser, 2 Tim, 107) interpretiert werden. Engelmann, Untersuchungen, 303–305, sieht zwar die enge Verbindung mit der Geist-

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habe. Zwar ist die Taufe begrifflich nicht eigens erwähnt, aber der semantische Kontext spricht zumindest eine Sprache, die den Tauferzählungen der Apostelgeschichte verwandt ist.50 Im Kontext der Erwähnung von Mutter und Großmutter und dem durch diese vermittelten Glauben weist die Situation in 2 Tim 1 in eine ähnliche Konstellation wie Apg 16, ohne mit ihr literarisch deckungsgleich zu sein. Die Problematik, 2 Tim 1,6 und 1 Tim 4,14 miteinander zu harmonisieren und von 1 Tim 4,14 her das Charisma auf das Amt oder eine Beauftragung in Alternative zur Taufe zu beziehen,51 ergibt sich nur, wenn man eine einheitliche Verfasserschaft beider Briefe und damit die Notwendigkeit der sachlichen Kohärenz voraussetzt, sei es für Paulus selbst oder einen pseudonymen Autor. Im Blick auf 2 Tim 1,5 ist zudem bemerkenswert, dass auch Lukas die Mutter des Timotheus ausdrücklich als eine gläubige bzw. treue jüdische Frau (γυνὴ Ἰουδαία πιστή) bezeichnet. Umstritten bleibt, ob Lukas sie damit als eine gläubige Judenchristin charakterisiert oder – was aufgrund der Bedeutung des jüdischen Hintergrundes auch im Blick auf die Geschichte des Timotheus wahrscheinlicher ist – sie im Blick auf ihren jüdischen Glauben als »treu« (πιστή) darstellt. Die Bezeichnung des Timotheus als μαθητής (Apg 16,1) lässt zwar vermuten, dass Lukas ihn als christusgläubig versteht. Daraus lässt sich aber noch nichts im Blick auf den Glauben seiner Mutter und Großmutter ableiten,52 zumal die Möglichkeit offen bleibt, dass Lukas das Jüngersein des Timotheus ex post in die literarische Gestaltung der Szene einträgt. Dass auch Lukas die Mutter des Timotheus als Jüdin voraussetzt, ist insofern naheliegend, als die Tatsache, dass sie in einer Mischehe lebt, gerade diesen Aspekt der Treue zum jüdischen Glauben infrage stellt. Somit legt sich noch einmal mehr nahe, auch in 2 Tim 1,5 πίστις als jüdischen Glauben zu verstehen, den Timotheus von seiner jüdischen Mutter und Großmutter gelernt und in dem ihn Paulus – nach Apg 16 – durch die Beschneidung noch bekräftigt hat. Ob dieser jüdische Glaube bereits bei den beiden Frauen ein christliches Vorzeichen hatte und damit bereits drei Generationen christlichen Glaubens vorausgesetzt seien,53 geht begabung, hält aber einen Bezug auf die Taufe des Timotheus für unwahrscheinlich und bezieht die Aussage auf die »Indienstnahme des Timotheus durch Paulus« (a. a. O., 304); vgl. ähnlich bereits Marshall, Commentary, 696–698. 50  Der Begriff Charisma im Zusammenhang der Gabe des Geistes von Gott her, die Handauflegung und die Vermittlung durch eine Person (Paulus) – all das steht den Tauferzählungen der Apg nahe; vgl. dazu Avemarie, Tauferzählungen, bes. 129–174, darin 164–167 zum Zusammenhang von Handauflegung und Geistempfang bei der Taufe. Während aus den paulinischen Briefen zum praktischen Vollzug der Taufe nichts entnommen werden kann, ist aber auch für Paulus die Taufe grundlegend mit der Gabe des Geistes (genitivus objectivus) verbunden (vgl. 1 Kor 12,13). Die Vorstellung eines »Wiederentfachens« der Gabe des Geistes korrespondiert zumindest in der Sache mit der in 1 Thess 5,19 zum Ausdruck gebrachten Gefahr, dass der Geist »gelöscht« bzw. »gedämpft« (σβέννυμι) werden könnte; vgl. Marshall, Commentary, 696. 51  Vgl. oben Anm. 50. 52 Wohl aber scheint Lukas mit der Bezeichnung des Timotheus als μαθητής (Apg 16,1) vorauszusetzen, dass dieser bei der Begegnung mit Paulus bereits Christ war. Dies jedoch impliziert nicht die Notwendigkeit, das Attribut der Mutter πιστή als »christlich« zu verstehen und bereits in der Mutter eine Christin zu sehen; in diesem Sinne Pervo, Acts, 387. 53  So die verbreitete Auslegung, vgl. z.B Weiser, 2 Tim, 96: Hinweis »auf ein generationen-



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weder aus Apg 16 noch aus dem 2. Timotheusbrief hervor. Man wird beides – den traditionell jüdischen Glauben und die Christusperspektive eben dieses jüdischen Glaubens – für Timotheus und aus dem doch recht weit zurück blickenden Standpunkt des Paulus im 2. Timotheusbrief nicht alternativ verstehen dürfen, genauso wenig wie dies für Paulus eine Alternative wäre. Durch die historisch mit großer Wahrscheinlichkeit auch vorauszusetzende Taufe des Timotheus durch Paulus bekommt dessen Glaube als ein jüdischer Glaube – analog zu dem des Paulus »von seinen Vorfahren her« (1,3) – eine neue Perspektive im Blick auf die Verkündigung des Evangeliums, worauf 2 Tim 1,5–8 schließlich auch bezogen ist.54 Der Vergleich dieser beiden Timotheus-Überlieferungen in Apg 16 und 2 Tim 1 macht m. E. noch deutlicher, dass hier keine literarische Abhängigkeit vorliegt, erneut weder in die eine noch die andere Richtung. Ebenso wenig lässt sich aus dem Vergleich ein gemeinsamer Bezug auf traditionelle Überlieferungen festmachen. Vielmehr weisen die persönlichen Angaben zu Timotheus in Apg 16 und im 2.  Timotheusbrief eine sich ergänzende Kompatibilität auf, die als Rückgriff auf ein beiden Autoren gemeinsames Wissen um die persönlichen Umstände des Timotheus und den Ursprung seiner engen Beziehung zu Paulus plausibel wird.

2.3  Das Ende des Paulus in der Apostelgeschichte und in den Pastoralbriefen Unter diesem Punkt sollen einige Motive nur kurz skizziert werden, die im Blick auf die Themenstellung wichtig sind, um davon zwei Aspekte exemplarisch etwas näher auszuführen. übergreifendes christliches Familienleben«; Oberlinner, 2 Tim, 24–25; Glaser, Briefroman, 300–301; Engelmann, Untersuchungen, 302. 54  Vgl. die differenzierten Überlegungen bei Brox, Pastoralbriefe, 226–227; von Lips, Timotheus, 127 sowie 135: »Geht man davon aus, dass erstmals mit Paulus die christliche Botschaft in die Gegend von Lystra gekommen ist, dann können auch Großmutter und Mutter des Timotheus kaum früher Christen geworden sein.« Anders z. B. Oberlinner, 2 Tim, 22: »Entscheidend ist in der brieflichen Konstellation die Gestalt des Timotheus; und πίστις wird von ihm her eindeutig als christlicher Glaube festgelegt.« Die Zuordnung der Glaubensaussage im Text erfolgt freilich genau in die andere Richtung, von Mutter und Großmutter hin zu Timotheus, hinzu kommt die Korrespondenz zwischen den (jüdischen) Vorfahren des Paulus in 1,3 und denen des Timotheus in 1,5; vgl. etwas salomonisch, aber doch deutlich gegen eine christliche Erziehung des Timotheus die Argumentation bei Holtzmann, Pastoralbriefe, 383: »Nun kann aber unter letzterer (sc. der πίστις) nicht das Judenchristenthum […], sondern nur das Christenthum in seiner Präexistenz als Judenthum verstanden werden, und beide Frauen müssen in Analogie zu Vs. 3 als Jüdinnen gedacht sein. […] Auf keinen Fall aber ist Timotheus schon von der Grossmutter und Mutter im Christenthum erzogen worden […].« Die Problematik der Analogie zu den Vorfahren des Paulus in 1,3 beschreibt anschaulich Mutschler, Glaube, 345: Während das »Dienen« des Paulus auf eine jüdische Gottesverehrung zu beziehen sei, weise der »ungeheuchelte Glaube« von Loïs und Eunike auf eine christliche Gottesverehrung hin. »Die Analogie gegenüber den Vorfahren ist also strukturell gegeben, aber inhaltlich verschieden gefüllt, und die implizit entstehende Analogie zwischen Paulus und Timotheus stärkt die Stellung des Letzteren: Seine Vorfahren lebten bereits im christlichen Glauben« (ebd.).

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2.3.1  Die Abschiedsrede in Milet und der 2. Timotheusbrief Die Abschiedsrede in Milet (Apg 20,17–38) war immer schon in besonderer Weise ein Text, der zum Vergleich mit der Paulustradition angeregt hat,55 insbesondere mit dem 2.  Timotheusbrief aufgrund von dessen testamentarischen Charakter.56 Aus Zeit- und Raumgründen soll an dieser Stelle auf eine ausführliche Behandlung verzichtet werden, weil hier bereits andere hinreichend überzeugend vorgeführt haben, dass es keine literarischen Verbindungen zwischen der Miletrede und dem 2.  Timotheusbrief gibt.57 Hervorzuheben ist, dass sich die meisten der sachlichen und sprachlichen Affinitäten dem gemeinsamen Topos der Abschiedsrede verdanken und daher keine spezifische Verbindung implizieren. Jens Schröter z. B. geht daher zu Recht nicht von einer Kenntnis der Apostelgeschichte durch den Vf. der Pastoralbriefe aus, sondern vermutet den partiellen Rückgriff beider Autoren auf dieselben Paulustraditionen.58 Letzteres würde ich durch meine Sicht auf den 2. Timotheusbrief etwas anders konkretisieren, aber im Grundsatz ist dem zuzustimmen. 2.3.2  Die Romreise nach der Apostelgeschichte und dem Titusbrief59 Vor dem Hintergrund einer Augenzeugenschaft des Lukas hinsichtlich der »WirPassagen« der Apostelgeschichte sind die Verbindungen seiner Erzählung von der Romreise des Paulus mit dem Titusbrief insofern interessant, als die Insel Kreta nur in diesen beiden Überlieferungen mit Paulus verbunden wird. Mit der Erwähnung Kretas hat der Titusbrief immer wieder Fragen aufgeworfen, die vor allem unter dem Vorzeichen der Pseudepigraphie nur schwer zu beantworten sind, denn für einen pseudonymen Autor gibt der spezifisch kretische Kontext nichts Inhaltliches her, was man nicht auch »unproblematischer« hätte fingieren können. Der 1. Timotheusbrief ist das beste Beispiel dafür. Auch bei einem pseudonymen Autor muss man daher eine Beziehung zur Kreta-Tradition vermuten, wie sie auch in der Apos55 Vgl. Lindemann, Paulus, 182, der eine Nähe von V. 18 zu Phil 1,5 und 1 Thess 1,5 sowie weitere Parallelen zum Röm, 1 Kor, Phil und Kol herausarbeitet, aber auch zu anderen Traditionen des Neuen Testaments (z. B. 1 Petr) sowie literarisch-intertextuellen Bezügen zu antiker Literatur (vgl. a. a. O., 200, zu V. 35–36 [»geben ist seliger als nehmen«] etwa Thukydides 2.97.3–4; in Anlehnung an Plümacher, Thukydidesreminiszens). Direkte literarische Abhängigkeit von Paulustexten lassen sich nach Lindemann nicht erkennen (a. a. O., 202). Eine Rezeption der Paulusbriefe in der Miletrede vermuten u. a. Aejmelaeus, Rezeption; Walton, Leadership (zu 2 Tim bes. 192–198, mit dem Ergebnis, dass hier im Unterschied zur authentischen Paulustradition keine Verbindung vorliege). 56  Vgl. dazu vor allem Weiser, Freundschaftsbrief. Schmithals, Problem, geht z. B. davon aus, dass der Verfasser der ursprünglichen, von Lukas verarbeiteten Miletrede mit demjenigen der Pastoralbriefe identisch sei (vgl. a. a. O., 320). 57 Vgl. Walton, Leadership, 192–198; ferner Lambrecht, Paul; Dupont, Le discours; Gaventa, Theology; Schröter, Kirche, 98–100. Forschungsgeschichtliche Überblicke bieten Ballhorn, Miletrede; Schröter, Actaforschung, bes. 27–59. 58 Vgl. Schröter, Kirche. 59  Vgl. zu folgenden Ausführungen auch Herzer, Titus (in diesem Band 425–465).

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telgeschichte bezeugt wird. Daher nimmt z. B. die Theorie der Pastoralbriefe als eines Briefromans gerade solche Elemente als Bausteine für eine Paulusgeschichte ernst, die insgesamt den Leserinnen und Lesern plausibel sein muss.60 Doch lässt sich, wie zu zeigen sein wird, gerade aus dem Vergleich zwischen Titusbrief und Apostelgeschichte plausibel machen, dass der Titusbrief durchaus ein realistisches und mit der Apostelgeschichte zwar erneut nicht deckungsgleiches, aber doch kompatibles Itinerar voraussetzt. Im Titusbrief sind zunächst die Situationsangaben am Schluss des dritten Kapitels mit denen des Briefanfangs zu korrelieren. Die vorausgesetzte Situation ist bekannt und schnell skizziert.61 Nach Tit 1,5 hat sich Paulus kurze Zeit mit Titus auf Kreta aufgehalten, konnte aber nicht alles in seinem Sinne zu Ende führen, so dass er bei seiner Abreise Titus zurücklässt, um Presbyter mit einer »episkopalen«, d. h. für die Leitung der Gemeinde verantwortlichen Aufgabe einzusetzen.62 Während Kreta die Situation des Briefempfängers markiert, bestimmt die Ortsangabe Nikopolis in 3,12 die Situation des Absenders: Paulus werde dort den Winter verbringen. Unklar bleibt, wo konkret sich Paulus bei der Abfassung des Briefes befindet: Bereits in Nikopolis oder noch auf einer zuvor liegenden Station, wobei letzteres nach der Grundbedeutung von ἐκεῖ näher liegt.63 Hinzu tritt die personelle Dimension. Paulus kündigt die Sendung des sonst unbekannten Artemas oder des Tychikos (vgl. 2 Tim 4,12; Kol 4,7 f.; Eph 6,21 f.; Apg 20,4) an, damit Titus so bald wie möglich zu Paulus nach Nikopolis nachkommen kann, selbst dann, wenn sein Auftrag (vgl. 1,5) noch nicht vollständig ausgerichtet sein sollte.64 Mit aller Vorsicht lässt sich auch daran implizit noch einmal eine gewisse Distanz zwischen Paulus und den von ihm nicht gegründeten Gemeinden Kretas ablesen. Vorausgeschickt werden sollen Zenas und Apollos, wobei wie bereits bei Titus in V. 12 mit dem Adverb σπουδαίως eine gewisse Dringlichkeit oder gar Ungeduld zum Ausdruck kommt, wie überhaupt mit diesen doch recht komplexe Reisesituationen voraussetzenden Personalanweisungen. Vor diesem Hinter60 Vgl.

Glaser, Briefroman, 16–23. Vgl. a. a. O., 224–237. 62 Vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 183–184: Vor dem Hintergrund der mandata principis seien die Begriffe ἀπολείπειν und καταλείπειν »Termini technici, die den Vorgang der Einsetzung von Stellvertretern beschreiben« (a. a. O., 183). 63  Die Partikel ἐκεῖ wurde vielfach als Hinweis darauf interpretiert, dass sich Paulus noch nicht dort befinde, sondern noch auf dem Weg sei; vgl. z. B. bereits Holtzmann, Pastoralbriefe, 21.503; Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 114; Towner, Letters, 800–801, u. a. Zum Problem Engelmann, Untersuchungen, 463–464, wonach Nikopolis als Fiktion des Aufenthaltsortes des Paulus vorauszusetzen sei. 64  Die Notiz in 2 Tim 4,12, Paulus habe Tychikus nach Ephesus gesandt, steht dazu nur dann in einem gewissen Spannungsverhältnis, wenn man es auf einer fiktiven Ebene unter der Voraussetzung eines Corpus pastorale liest, so zu Recht Engelmann, Untersuchungen, 462; vgl. dazu auch Glaser, Briefroman, 227–228. Unter einem authentisch-lebensnahen Vorzeichen lässt 2 Tim 4,12 nur erkennen, dass Paulus offenbar Tychikus nicht nach Kreta geschickt hat, wie er es im Tit alternativ zu Artemas als Möglichkeit angekündigt hatte, sondern – vielleicht bereits von Nikopolis aus – nach Ephesus, wo ihn dann auch der pseudepigraphische Eph voraussetzt (Eph 6,21), der dort wahrscheinlich zu verorten ist, vgl. Sellin, Adresse. 61 

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grund ist zu vermuten, dass mit der Bezeichnung des sonst unbekannten Zenas als νομικός ein Aspekt verbunden wird, der mit der Dringlichkeit zusammenhängt. Wenn die – wahrscheinliche – Bedeutung von νομικός, nämlich Jurist bzw. Anwalt, richtig sein sollte65 und die Dringlichkeit auch mit der ausdrücklichen Nennung der Berufsbezeichnung zu tun hat, dann könnte das ein Hinweis auf eine Situation des Paulus sein, in der er einen Juristen bzw. Anwalt nötig hat (vgl. V. 14). Dabei ist auffällig, dass dieser Begriff neben Tit 3,12 und (textkritisch wahrscheinlich sekundär) Mt 22,35 ausschließlich im Lukasevangelium begegnet und dort jüdische Gesetzeskundige bezeichnet. Die Tatsache, dass die vorauszusetzenden Gegner im Titusbrief ebenfalls eine jüdische Prägung aufweisen und in Tit 3,9 von »Streitigkeiten und (heftigen) Auseinandersetzungen über das Gesetz« (ἔρεις καὶ μάχας νομικάς) die Rede ist, lässt diesen Hintergrund auch für Tit 3,12 wahrscheinlich werden.66 Die anwaltliche Funktion des Zenas als νομικός ist damit aber nicht aussondern vielmehr eingeschlossen, da sich Paulus im Kontext seines Prozesses nicht gegenüber dem römischen Recht zu verantworten hat, sondern mit einer Anklage seitens der jüdischen Kläger aus Jerusalem rechnet (vgl. Apg 28,17–24, bes. V. 21). Die lokale Konstellation bzw. Abfolge Kreta – Nikopolis lässt es schließlich plausibel erscheinen, dass damit das Kommen vor dem ausdrücklich erwähnten Winter impliziert ist, denn von Kreta aus kann man – bekanntermaßen – nur mit dem Schiff nach Nikopolis kommen, und dies eben geht  – ebenfalls bekanntermaßen  – nur vor dem Winter, ein Umstand, der nach der lukanischen Darstellung von Paulus auf Kreta in Apg 27,9–12 ausdrücklich reflektiert wird.67 Welchen Teil der Paulusgeschichte setzt der Titusbrief mit diesen einerseits recht konkreten, andererseits aber deutlich lückenhaften Angaben voraus? Einige dafür relevante Aspekte sind bereits angeklungen, aber um diese Frage präzisier zu beantworten, ist zunächst die weitere Beobachtung wichtig, dass der Titusbrief keinen Hinweis auf eine missionarische Verkündigung des Paulus auf Kreta gibt und eine solche auch nicht voraussetzt. Dies entspricht dem, was wir sonst über die paulinische Mission wissen, denn weder Paulus selbst noch die Apostelgeschichte berichten über eine Mission auf Kreta.68 Durch das Zurücklassen des Titus wird vielmehr nahegelegt, dass der ausdrücklich unvollendeter Dinge (1,5) wieder abreisende Paulus bereits christliche Gemeinden vorfindet, die sich nicht seiner eigenen Missionsarbeit verdanken. Warum dann aber Kreta? Hier sind wir erneut an die Apostelgeschichte gewiesen. In Apg 2,11 wird aus der Präsenz von Kretern beim Pfingstereignis plausibel, dass es auf Kreta bereits vor der paulinischen Mission Christen bzw. christliche Gemeinden 65  Vgl. u. a. insbesondere Niederwimmer, Zenas; sowie Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 114; Oberlinner, Titus, 197–198. 66 Vgl. Engelmann, Untersuchungen, 464–465. 67  Darauf ist noch näher einzugehen, s. u. 68  Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 115, halten einen Aufenthalt des Paulus in Nikopolis/Epirus für »wohl glaublich«, ebenso auf Kreta, wobei sie im Blick auf Kreta von einer missionarischen Arbeit ausgehen.



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gegeben hat bzw. gegeben haben könnte.69 Wenn in Apg 27,7–12 dann Kreta als Station der Rom- bzw. Italienreise (Apg 27,1) des Paulus genannt wird und davon die Rede ist, dass dort »viel Zeit« verstrich, dann ist damit nicht nur eine Korrespondenz innerhalb der Apostelgeschichte zu den Kretern von 2,11 hergestellt, sondern auch Spielraum für Kontakte, bei denen vielleicht Titus eine Rolle spielte. Da dieser grundsätzlich bei Lukas nicht erwähnt wird, ist eine diesbezügliche Notiz bei ihm auch nicht zu erwarten. Plausibel ist schließlich auch die geographische Ausrichtung, die der Titusbrief mit der Reiseabfolge Kreta – Nikopolis voraussetzt, wobei nur das Nicopolis apud Actium in Epirus (Westgriechenland) gemeint sein kann, welches aus antiken Quellen als Winterhafen auf der Reise nach Rom auch von Kreta aus für die Schifffahrt bekannt und bedeutsam ist.70 Unter diesen Voraussetzungen lässt sich folgende These aufstellen: Die Situation, die der Titusbrief (ob literarisch-fiktiv oder realiter) voraussetzt, ist mit derjenigen zu identifizieren, die Lukas als letzte Reise des Paulus nach Rom erzählt.71 Da aber der Titusbrief weder einen Schiffbruch (Apg 27,13–44), noch die Insel Melite (Apg 28,1) erwähnt, Lukas andererseits weder Nikopolis noch Titus, ist deutlich, dass der Titusbrief mit seinen persönlichen Angaben und unter – einem noch näher zu bestimmenden  – Bezug zu den Kreta-Überlieferungen der Apostelgeschichte im Detail ein anderes Szenario der Romreise des Paulus voraussetzt als Lukas bzw. genauer: als das, was man der Apostelgeschichte gemeinhin an historischen Daten entnehmen zu können meint. Auch hier ist die vorsichtige Überlegung von Bedeutung, inwiefern die Angaben des Lukas den historischen Gegebenheiten entsprechen bzw. wie sie aufgrund seiner literarischen Absicht im Einzelnen und im 69  Das Problem benennt Pervo, Acts, 68, nur kurz: »›Cretans and Arabs‹ must then be left dangling, but they are difficult to fit in by any measure.« Zur Problematik der Reihung »Juden und Proselyten, Kreter und Araber« in Apg 2,11 und die letzte Positionierung von Kretern und Arabern in der eigentlich mit »Juden und Proselyten« bereits abgeschlossenen Reihe vgl. etwa Eissfeldt, Kreter; Hengel, Ἰουδαία, 53: »völlig rätselhaft«; Stenger, Beobachtungen, bes. 101–102, der darin die universale Absicht des Lukas wiederfindet. Zur jüdischen Bevölkerung Kretas vgl. van der Horst, Jews; vgl. insbesondere Philo, Legat. 282, der in der Beschreibung der Ausbreitung der jüdischen Diaspora explizit auch die Insel Kreta nennt, allerdings nicht die Arabia. Das ist bei van der Horst, a. a. O., 195, nicht berücksichtigt. Immerhin nennt Paulus die Arabia in Gal 1,17; 4,25. 70 Vgl. Schober, Nikopolis, bes. 512; Strauch, Nikopolis. Eine andere Stadt dieses nicht seltenen Namens (der PRE-Artikel listet insgesamt acht Städte dieses Namens) kommt im Kontext der paulinischen Missionstradition nicht infrage; vgl. auch Glaser, Briefroman, 233–237. Die Information ἐγράφη ἀπὸ Νικοπόλεως τῆς Μακεδονίας (ca. 50 km nördlich von Philippi) in der Subscriptio der Majuskel H sowie im Mehrheitstext (vgl. 945: ἀπὸ Μακεδονίας) beruht wohl auf einer Verwechselung oder einer geographischen Desorientierung hinsichtlich der Ausdehnung der makedonischen Provinz. Andere Handschriften (A, P, 81) verzichten auf die genauere Lokalisierung von Nikopolis; 81 verortet Nikopolis ἐν Κρήτη. 71 Vgl. Schröter, Kirche, 86. Glaser, Briefroman, 229, bestreitet einen Zusammenhang an dieser Stelle, jedoch ohne Angabe von Gründen. Vgl. ferner Neudorfer, Titus, 25–26, der den Tit – wie auch den 1 Tim – aber erst in der Situation eines nur hypothetisch erschlossenen zweiten Kreta-Aufenthalts zwischen der ersten und zweiten römischen Gefangenschaft verortet; vgl. Ders., 1 Tim 2012, 29–33. Neudorfer geht dabei davon aus, Paulus habe die Gemeinden Kretas selbst gegründet, wofür auf der ersten Reise aufgrund der Gefangenschaft eine Möglichkeit gewesen sei (a. a. O., 28).

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Zusammenhang zu interpretieren sind (so z. B. die Deutung des durchaus nicht einzigartigen Inselnamens Μελίτη72). In seinem Brief an Titus erwähnt Paulus mit keinem Wort die Umstände, unter denen er nach Nikopolis gekommen ist bzw. kommen wird. Der Titusbrief setzt also voraus, dass Paulus von Kreta in Richtung Nikopolis gereist ist, wobei man mit einiger Vorsicht die Vermutung anstellen könnte, dass dies mit der Absicht geschah, von dort nach Italien und Rom weiter zu reisen.73 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist immerhin, dass Lukas die Irrfahrt des Schiffes und ihr Ende auf der Insel Melite ausdrücklich »in der Adria« lokalisiert (Apg 27,27) und damit – ohne dies explizit zu machen – eine lokale Nähe zu Nikopolis herstellt. Das geographisch-nautische Szenario des Titusbriefes widerspricht damit zumindest nicht dem der Apostelgeschichte. Mit dem Hinweis auf das Überwintern in Tit 3,12 verbindet sich ein weiterer Aspekt des Vergleichs zwischen Tit 3 und Apg 27. Auch die Erzählung vom Schiffbruch hängt ja mit der Warnung des Paulus vor dem Beginn des Winters und damit der widrigen Reiseumstände zusammen (Apg 27,9 f.). Man könnte daraus auch eine eigentlich unmögliche Situation konstruieren: Paulus, der nach Apg 27,9–12 vor einer Abreise vor dem Winter warnt und durch Seenot und Schiffbruch Recht behält, fordert Titus auf, noch vor dem Winter zu kommen – und sich damit eben jener Gefahr auszusetzen, der Paulus mit großer Not entkommen ist. Aber dieser mögliche Einwand ist dann doch deshalb problematisch, weil er den Dialog von Apg 27,9–12 in einer Weise historisieren würde, die dem Text nicht gerecht wird, insofern dies die Vorbereitung des lukanischen Schifffahrtsberichtes ist, von dem sehr wahrscheinlich anzunehmen ist, dass er – wie gleich zu zeigen sein wird – von Lukas nach antiken Vorbildern literarisch ausgestaltet wurde. Auch im Blick auf dieses Problem stellt sich also die Frage, ob bzw. inwieweit Tit 3 und Apg 27 in historischer und/oder literarischer Hinsicht miteinander zusammenhängen und wie »realistisch« das in Apg 27 beschriebene Schiffbruchszenario tatsächlich ist. Der lukanischen Darstellung lässt sich allenfalls entnehmen, dass der bevorstehende Winter ein Thema war, nicht, dass es wirklich bereits so 72 Vgl. Weiss, Melite, der eine weitere Insel mit dem Namen Melite in der Adria aufführt, vgl. Fluss, Melite. Weiß verweist auf die Möglichkeit der »Verwechslung der Insel mit der gleichnamigen (h. Mljet-Meleda) an der dalmatischen Küste« (a. a. O., 543). Dennoch ist fraglich, ob die Suche nach einer konkreten Insel überhaupt sinnvoll ist, vgl. zu verschiedenen Versuchen etwa Acworth, St. Paul (Identifizierung mit Mljet in der Adria); Warnecke, Romfahrt (Identifizierung mit einer Halbinsel Melite auf Kephallenia); Suhl, Bemerkungen. Dagegen und für eine Strandung der Schiffbrüchigen auf Malta vgl. Hemer, Euraquilo; Wehnert, These; ders., Insel; sowie Reiser, Caesarea; Börstinghaus, Sturmfahrt. Zumindest ist die Vermutung nicht unbegründet, dass auch dieses Element mit dem literarischen Interesse des Lukas an der Schiffbrucherzählung zusammenhängt. Dass er dafür einen Inselnamen wählt, der nicht eindeutig zuzuordnen ist und auch in literarischen Schifffahrterzählungen vorkommt, unterstützt diese Vermutung. Klar dürfte freilich sein, dass auch das literarische Interesse des Lukas »in die Adria« (s. o.) weist und damit in die Richtung, in der sich Paulus nach dem Tit von Kreta aus bewegt. Und schließlich: Von dem Aufenthalt auf der Insel weiß Lukas erstaunlicherweise nur einige wundersame Ereignisse zu erzählen, obwohl er immerhin drei Monate gedauert hat (Apg 28,11) und es sich um einen Bericht im Wir-Stil handelt. 73 Vgl. Glaser, Briefroman, 236.



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brisant war, wie Lukas es in Vorbereitung der Seenotszene schildert, da die Entscheidung zum Aufbruch nicht nur von dem Offizier, sondern auch von der Bereitschaft eines erfahrenen Schiffsbetreibers abhing (27,11 f.). Der Titusbrief selbst lässt jedenfalls nicht erkennen, dass Paulus gerade noch vor dem Winter bzw. auch nur unter widrigen Umständen nach Nikopolis gekommen sei. Wenn zudem – was ebenfalls nicht unwahrscheinlich ist – der Titusbrief nicht von Nikopolis aus geschrieben wurde, sondern dem Titus als Mandatsschreiben74 gleichsam mit auf den Weg gegeben wurde, dann ist der Wunsch, er möge (schnellstmöglich) vor dem Winter nach Nikopolis nachkommen, umso plausibler.75 Kaum zu bestreiten wird sein, dass Lukas diese letzte Schiffsreise literarisch ausgestaltet und theologisch auflädt; in welchem Grade, das wäre noch einmal zu prüfen. Zum Anteil der literarischen Fiktion gehört mit großer Wahrscheinlichkeit die Dramatisierung des Schiffbruches. Das schließt allerdings keineswegs aus, dass sich dieser insgesamt dem literarischen Gestaltungswillen des Lukas verdankt. Dazu gehört letztlich auch die vergleichsweise ausführliche Auseinandersetzung um die Gefahr einer Fahrt vor dem Winter, mit der Lukas die Schiffbrucherzählung vorbereitet und die damit zumindest diesem Gestaltungswillen entspricht. Deshalb ist der Vergleich von Apg 27 mit antiken Schifffahrtsberichten bis hin zur Hypothese, Lukas habe seine Darstellung daran orientiert und von daher gestaltet, durchaus berechtigt.76 Seine Augenzeugenschaft in dieser Wir-Passage ist damit nicht ausgeschlossen; beides ist  – wie bereits dargestellt  – stets ineinander verflochten. Auch hier gibt es kein Entweder-Oder, sondern nur die Notwendigkeit, beim Rückblick des Lukas auf die Ereignisse damit zu rechnen, dass manches perspektivisch zusammenfällt, was historisch zu differenzieren wäre, wie das bekanntermaßen auch anderswo bei Lukas deutlich zu erkennen ist (z. B. im Vergleich von Apg 15 zu Gal 2). Zusammenfassend lässt sich aus diesen holzschnittartigen Bemerkungen vorsichtig schlussfolgern, dass Lukas und der Titusbrief sehr wahrscheinlich dasselbe Ereignis mit gewissen Affinitäten, aber dann doch in unterschiedlicher Weise 74  Vgl. dazu Wolter, Pastoralbriefe, 164–170; Herzer, Papyri, 342–346 (in diesem Band 99–124). 75  Oft wird aus der Verwendung der Perfektform κέκρικα in Tit 3,12 gefolgert, dies könne nicht mit der Gefangenschaftsreise zusammenhängen, da Paulus »völlig in Freiheit« (Neudorfer, Titus, 229) selbstbestimmt Beschlüsse habe fassen können. Abgesehen von der offenen Frage nach der Passförmigkeit der Winternotizen in Apg 27 und Tit 3,12, ist die Wortform κέκρικα und die Aussage mit solchen Folgerungen überfrachtet. In diesem Zusammenhang ist damit nichts anderes ausgesagt, als dass Paulus zu der Überzeugung gelangt sei, in Nikopolis überwintern zu müssen. In einem vergleichbaren Sinn wird das Perfekt in Apg 16,15 verwendet; vgl. auch LXX Dan 4,26. Vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 3975: »urteilen, daß etwas sei«. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass selbst Lukas die sog. Haftbedingungen auf der Reise sehr moderat beschreibt: Paulus kann die Begleiter ermahnen (Apg 27,9) und wird vom leitenden Offizier »freundlich« behandelt, der ihm offenbar einige Freiheiten lässt (27,3; s. o.). 76 Vgl. Reiser, Apostelgeschichte. Vgl. weiterhin Marguerat, Lukas, bes. 44–46; Rothschild, Luke, bes. 264–267. Zur Darstellung der Forschung vgl. Börstinghaus, Sturmfahrt, 281–336, der trotz seiner grundsätzlich literarischen Perspektive die Wir-Stücke hypothetisch auf ein Gemeindearchiv in Caesarea zurückführt, das Lukas nach dem Jahr 70 benutzt habe (a. a. O., 330).

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

reflektieren. Bei Lukas spielt dabei die literarische Absicht eine große Rolle, die bis in die Details der Schiffbrucherzählung reicht, vermutlich sogar diese im Ganzen betrifft. 2.3.3  Der Prozess des Paulus: Apg 28 im Spiegel von 2 Tim 4,13.16–1877 Über die Aspekte der Romreise und den daraus sich ergebenden Vergleich zwischen dem Titusbrief und der Apostelgeschichte hinaus soll an dieser Stelle nur auf ein weiteres Detail hingewiesen werden, das für die personale Verbindung der Pastoralbriefe zu Lukas von Bedeutung zu sein scheint und bei der Erklärung des immer wieder als merkwürdig empfundenen Schlusses der Apostelgeschichte bisher meines Wissens kaum hinreichend berücksichtigt wurde. Wie am Schluss der Apostelgeschichte so ist auch im 2. Timotheusbrief von der römischen Gefangenschaft des Paulus die Rede, der hierin zwar in unterschiedlichem Grade seine Verlassenheit beklagt, dies aber ausweislich der persönlichen Notizen in 2 Tim 4 kaum der Realität entsprochen haben dürfte. Nicht nur Onesiphoros hat ihn aufgesucht und vermutlich über längere Zeit den Kontakt zum inhaftierten Apostel gehalten (2 Tim 1,16), sondern auch die Liste von Grüßenden am Schluss in 4,21 macht deutlich, dass Paulus durchaus Kontakte und Austausch hatte, von Lukas (4,11) einmal ganz abgesehen. Dies entspricht der Situation, die auch die Apostelgeschichte zeichnet – gleichwohl in einer erneut literarisch-idealisierenden Übertreibung des Lukas.78 Paulus befindet sich nach Apg 28 nicht im Gefängnis, sondern »nur« in einem Arrest in einem gemieteten (und von wem bezahlten?) Haus (28,30). Darüber hinaus notiert Lukas wiederholt, dass viele bei Paulus ein und aus gehen (28,23.30). Dabei ist in höchstem Grade auffällig, dass Lukas in Apg 28 nicht einen einzigen Namen nennt (außer den des Paulus natürlich). Bemerkenswert ist zudem in der Apostelgeschichte die Klage des Paulus über seine »Ketten« (28,20), wobei es sich ebenfalls um eine symbolische Überzeichnung handeln dürfte. Lukas selbst berichtet davon, das Erste, was der (unbekannte) römische Offizier nach Apg 22,30 getan hätte, als er hörte, dass Paulus römischer Bürger sei, war, ihm die Fesseln abzunehmen. In Apg 24,23 spricht Lukas von einer »leichten Haft«, womit deutlich eine wohlwollende Tendenz des Verhaltens der römischen Führung gegen Paulus angezeigt wird, die in 26,30–32 und 28,16 erneut und explizit benannt wird. Auch das Verhalten des namentlich nun sogar genannten Offiziers Julius auf der Romreise wird als »freundlich« (φιλανθρώπως, 27,3) beschrieben. Das »Tragen der Ketten«, von dem in 28,20 die Rede ist, kann daher bei Lukas nur symbolisch für die Untersuchungshaft stehen und ist möglicherweise von 2 Tim 1,16 her inspiriert, wo Paulus (unter Beisein des Lukas, 4,11) selbst in seinem Brief an Timotheus aller77 Vgl. dazu ausführlicher Herzer, Ende des Paulus (in diesem Band 185–214). Zu den speziellen juristischen Aspekten Omerzu, Prozeß. Die komplexe und kontroverse Diskussionslage ist an zahlreichen Sammelbänden zur Thematik erkennbar, vgl. z. B. Horn, Ende; Ribot/ Melgar/Tàrrech, Pau, bes. 47–190; Heid, Petrus; Tàrrech/Barclay/Frey, Last Years. 78  Vgl. z. B. Plümacher, Rom.

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dings kaum nur symbolisch von seinen Ketten als Ausweis seiner Gefangenschaft (»gebunden wie ein Verbrecher«, 2,9) spricht, die vermutlich in Wahrheit weit weniger »leicht« (24,23) und »ungehindert« (28,31) war, als Lukas dies am Ende seines Werkes darstellt.79 Die sachliche Parallele zwischen dem Schlussvers der Apostelgeschichte von der ungehinderten Verkündigung des Reiches Gottes und der Lehre von Jesus Christus in 28,31 und dem Gefangenen Paulus in 2. Timotheusbrief reicht aber noch tiefer. In 2 Tim 2,9 schärft Paulus dem Timotheus ein, im Gegensatz zu seiner Person sei das Wort Gottes nicht gebunden, nämlich »sein Evangelium« (2,8), zu dessen Inhalt auch nach dem 2.  Timotheusbrief die Erwartung der Königsherrschaft Gottes gehört (4,1.18). Auch nach der Apostelgeschichte (und dem Evangelium des Lukas) ist die βασιλεία τοῦ θεοῦ ein (statistisch signifikantes) Charakteristikum der Evangeliumsverkündigung. Bei Paulus selbst kommt es relativ sparsam vor, aber auch hier – wie in 2 Tim 4 – oft unter dem Aspekt der eschatologischen Erwartung bzw. des »Erbens« (vgl. 1 Kor 6,9.10; 15,50; Gal 5,21 u. ö.). Der literarisch bewusst gestaltete Schluss der Apostelgeschichte erscheint in diesem Vergleich wie eine literarische Adaption des Motivs aus 2 Tim 2,9, eine Adaption, die allerdings erneut nicht über eine literarische Abhängigkeit erfolgt.

2.4  Weitere sprachliche und inhaltliche Parallelen Wie sich gezeigt hat, ist der Vergleich zwischen Lukas und den Pastoralbriefen in zahlreichen Punkten ertragreich. Abschließend sollen exemplarisch drei weitere inhaltliche und sprachliche Aspekte wenigstens noch kurz und thesenartig benannt werden, die einer ausführlicheren Behandlung wert wären. a)  Die Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes wurde bereits im Kontext der Gefangenschaft benannt. Dieses Thema wird innerhalb der Pastoralbriefe nur im 2. Timotheusbrief entfaltet, und zwar in einem mit Paulus und der Apostelgeschichte vergleichbaren Duktus, ohne das damit direkte Abhängigkeiten auf literarischer Ebene erkennbar wären. b)  Auch die Thematik der Rettung bzw. des Retters in ihrem Bezug auf Gott und Christus80 ließe sich vergleichen: Die Apostelgeschichte bietet für den Stamm σωσ* insgesamt neun Belege, die Pastoralbriefe 13. Direkte Abhängigkeiten lassen sich auch hier nicht feststellen. c)  In einem kurzen Aufsatz hat kürzlich Christoph Heil81 einen Vergleich in der Rezeption der paulinischen Rechtfertigungstheologie in der Apostelgeschichte und den Pastoralbriefen vorgenommen, mit besonderem Blick auf Apg 13,38 f.; 15,9–11 sowie Tit 3,4–7 und 2 Tim 1,9. Nun ist genregemäß weder in den Pastoralbriefen noch in der Apostelgeschichte damit zu rechnen, dass die Rechtfertigungslehre zu einem zentralen Inhalt würde, zumal sie auch in den allgemein anerkannten 79 

Zur Funktion von Apg 28,31 vgl. Delling, Wort; Popkes, Worte. Vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen, 118–150. 81  Heil, Rezeption; zum Thema vgl. auch Marguerat, Paul in Acts, bes. 48–65. 80 

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Paulusbriefen nicht immer und überall im Zentrum steht.82 Erstaunlich ist dennoch, dass beide Schriften(gruppen) den Topos aufgreifen, wenngleich in einer angepassten Form. Dass dabei in den Pastoralbriefen »der jüdische Fragehorizont, der die Rechtfertigungstheologie ursprünglich prägte, verblasst«83 sei, ist insofern ein problematisches Argument, als es voraussetzt, dieser müsse überall und zwar in derselben Begrifflichkeit präsent sein, wo es um Rechtfertigung gehe, um als genuin paulinisch identifiziert werden zu können. Diese Messlatte liegt m. E. sehr hoch, vielleicht zu hoch. Hier ist doch stärker der situative Kontext der jeweiligen Texte zu berücksichtigen und zu sehen, dass Paulus auch nicht in jeder seiner anerkannten Schriften diesem Kriterium gerecht würde. Entsprechend hat auch Michael Wolter in einem neueren Aufsatz die Affinität des 2.  Timotheusbriefes zur paulinischen Theologie stärker herausgestellt, als das in der älteren Forschung bisher zugestanden wurde.84

3. Resümee What did Luke really know? Was wusste, was kannte Lukas wirklich? Dass er mehr wusste, als er in der Apostelgeschichte zu erkennen gibt, darüber ließe sich vermutlich schnell ein Konsens herstellen. Und er wusste mehr, als heute noch nachvollziehbar bzw. rekonstruierbar ist. Unter der Voraussetzung, dass er ein Reisebegleiter des Paulus war, den Apostel auch nach Rom begleitet und ihm dort maßgeblich beigestanden hat, lassen sich die Affinitäten zwischen der Apostelgeschichte und dem Titusbrief/2. Timotheusbrief aus dieser Konstellation erklären. Löst man diese beiden Briefe aus ihrer hypothetisch-literarischen Verbindung mit dem 1.  Timotheusbrief heraus, dann lassen sie sich in der Paulusbiographie verorten, wie wir sie aus der Apostelgeschichte kennen. Die sachlichen Verschiebungen ergeben sich aus zwei Gründen: Zum einen ist es derselbe Lukas, der Paulus begleitet hat, der in einem Abstand von ca. 20–30 Jahren, wenn nicht gar noch länger nach dem Tod des Apostels eine Geschichte der frühen Mission schreibt, die Paulus ins Zentrum rückt und in der Vieles dieser Fokussierung auf Paulus dienstbar gemacht wird. Zum anderen überlagern sich dabei gelegentlich historische Details, die eigentlich historisch nicht zusammengehören, andere werden literarisch überformt, idealisiert und dramatisiert, so dass eine historische Rekonstruktion stets unter diesen Vorbehalten und in Relation zu anderen Überlieferungen erfolgen muss. Insofern bieten der 2.  Timotheusbrief und der Titusbrief  – in der ihnen eigenen Unvollständigkeit – historische Spuren und Indizien der Endphase des Lebens des Paulus, die in ihrem Wert nicht unterschätzt werden dürfen, gerade weil sie im Vergleich zur Apostelgeschichte einige Verschiebungen der historischen Rekonstruktion not82  Zum inhaltlich-theologischen Vergleich zwischen Paulus und der Apg vgl. neben den oben in Anm. 2 und 3 Genannten weiterhin Pichler, Paulusrezeption; ders., Anliegen; Porter, Paul. 83  Heil, Rezeption, 177. 84  Wolter, Apostel.



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wendig machen. Wichtig ist jedoch, dass  – wie wir gesehen haben  – die Grundrichtung im Wesentlichen dieselbe ist, bis hinein in inhaltliche und theologische Aspekte der Verkündigung. Als Lukas die Apostelgeschichte schreibt, hat er vermutlich keine umfassende Sammlung von Paulusbriefen vor sich, allenfalls vielleicht einige Briefe.85 Wissen können wir das nicht, dazu ist die Apostelgeschichte nicht konkret genug, aber es ist schwer vorstellbar, dass ein Reisebegleiter des Paulus nicht von seiner epistolographischen Tätigkeit wusste86 und unter Umständen sogar selbst in gewissem Maße daran beteiligt war. Auch der 2. Timotheus- und der Titusbrief gehören wie andere Paulusbriefe zu jener Überlieferung, mit deren geschichtlichem Hintergrund Lukas vertraut ist, weil er diese Geschichte in Teilen sogar selbst miterlebt hat. Darum muss er diese Überlieferung auch nicht literarisch benutzen, um ihre Geschichte unter einem eigenen missionstheologischen Konzept neu zu schreiben. Den 1. Timotheusbrief konnte er m. E. noch nicht kennen; dieser ekklesiologisch-antihäretische Traktat87 ist erst nach der Apostelgeschichte entstanden, aber im Unterschied zum 2. Timotheus- und zum Titusbrief auch ohne erkennbare Relation dazu.

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85  Vgl. z. B. Plümacher, Rom, 154–158, der aufgrund der engen Relation des lukanischen Verstockungsmotivs zur Behandlung der Thematik in Röm 9–11 eine Kenntnis des Röm und eine literarische Orientierung des Lukas an diesem Brief annimmt. Vgl. weiterhin z. B. die Beiträge in Moessner u. a., Paul. 86 Vgl. Pervo, Acts, 12. 87  Vgl. dazu Herzer, Gnosis (in diesem Band 315–339).

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

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Tradition und Bekenntnis Die Theologie des Paulus im Spiegel ihrer Rezeption im Ersten Timotheusbrief 1.  Einführende Bemerkungen Schon der Untertitel dieser Ausführungen wirft Fragen auf, denn bekanntlich ist es schwierig, im Corpus pastorale so etwas wie paulinische Theologie auszumachen. Gerade die Unterscheidung der drei Briefe an Timotheus und Titus vom »echten« Paulus begründet in der Forschung ihre Eigenart und erweist sie der verbreiteten Interpretation nach als Briefe der zweiten oder gar dritten nachapostolischen Generation. Diese Perspektive beruht letztlich auf der Wahrnehmung, dass die Pastoralbriefe einerseits zwar den Anspruch erheben, die Bewahrung und Weitergabe der paulinischen Überlieferung als das Erbe des Apostels einzuschärfen. Andererseits hätten sie sich jedoch nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich so weit von Paulus entfernt, dass sie nur als pseudepigraphische Fälschung beurteilt werden könnten. Der massive Versuch, die Pseudepigraphie durch ein Übermaß an zwar nicht überprüfbaren, aber gleichwohl nicht unplausiblen persönlichen Angaben zu kaschieren,1 erscheint somit als Ausweis eben dieses Anspruches, dessen Legitimität im Falle einer Offenlegung der Fiktion durchaus infrage gestanden hätte.2 Die Frage nach dem Verhältnis zur weiteren paulinischen (und nichtpaulinischen) Tradition ist somit von jeher ein Problem der Pastoralbriefe-Forschung. Symptomatisch für dieses Problem sei hier die unter pseudepigraphischer Perspektive immerhin erstaunliche Tatsache benannt, dass gerade dort, wo Tradition explizit aufgenommen wird – und dies ist in besonderem Maße im 1. Timotheusbrief der Fall  – keine bekannten Texte aus der Paulusliteratur zitiert werden, sondern Fragmente aus dem ebenso unerschöpflichen wie schwer abzugrenzenden Bereich von sog. Gemeindetraditionen, die Georg Strecker in seiner von Friedrich W. Horn 1 Vgl.

Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 327 f. in diesem Sinne jetzt dezidiert auch Ehrman, Forgery, bes. 192–217, zu den Pastoralbriefen, folgend der verbreiteten Vorstellung ihrer pseudonymen Abfassung durch einen Autor, allerdings ohne damit ein kohärentes Corpus pastorale vorauszusetzen. Ehrman verhandelt Pseudepigraphie ausschließlich unter dem Vorzeichen der Fälschung mit Täuschungsabsicht, vgl. bes. a. a. O., 128–132. Zum Problem einer solchen undifferenzierten Sicht mit Blick auf die Pastoralbriefe vgl. Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76); vgl. weiterhin Frenschkowski, Erkannte Pseudepigraphie; zur grundsätzlichen Problematik der Intentionen von Pseudepigraphie vgl. Janssen, (Selbst-)Aussagen; Broer, Täuschungsabsicht. 2  Vgl.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

bearbeiteten Theologie einmal recht prononciert als »überkommenes, schon abgegriffenes Traditionsgut« bezeichnet hat.3 An dieser Stelle können die literarischen Probleme der Pastoralbriefe nicht ausführlich behandelt werden, sondern es muss bei einigen notwendigen Andeutungen bleiben, um vor allem die Fokussierung der Themenstellung auf den 1. Timotheusbrief und nicht auch auf die beiden anderen Pastoralbriefe zu plausibilisieren. Gegenüber der älteren Forschung zum sogenannten Corpus pastorale zeichnen sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren Tendenzen ab, die jenseits der alten Lagerkämpfe um Echtheit oder Unechtheit und in deutlicher Relativierung einer oft behaupteten Kohärenz eines Corpus pastorale die Unterschiede zwischen den Briefen bzw. ihr individuelles Profil ernster nehmen und zu erklären versuchen.4 Dass es auch dabei in Abhängigkeit von den jeweiligen Voraussetzungen große Differenzen in den Interpretationsperspektiven gibt, versteht sich von selbst. Immerhin sind aber solche Bemühungen ein deutliches Zeichen dafür, dass die Interpretation der Pastoralbriefe von so etwas wie einem tragfähigen Konsens weit entfernt ist. Das kann man beklagen. Darin liegt jedoch in gewisser Hinsicht auch eine Herausforderung, weil manche Fragen wieder offen sind oder überhaupt erst in angemessener Form ernst genommen werden. Einer dieser Aspekte, die schon seit längerem verstärkt reflektiert werden, ist etwa die Sonderstellung des 2.  Timotheusbriefes als eines Testaments bzw. Vermächtnisses des Paulus an seinen Schüler Timotheus.5 Freilich dient unter der Voraussetzung der Pseudepigraphie der Adressat Timotheus (wie sein Kollege 3 

Strecker, Theologie, 607 f. Vgl. z. B. Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 325 f.: »Es sind pseudonyme Schreiben, die von Anfang an ein zusammenhängendes Corpus bildeten. Widersprüche und Spannungen zwischen ihnen, die in jüngster Zeit verstärkt herausgestellt werden, um ihre jeweilige Eigenständigkeit zu behaupten, sind nicht derart, dass sie die Corpus-Theorie in Frage stellen, sondern deuten viel eher auf eine vom Autor gewollte innere thematische Dynamik der drei Schreiben hin.« Theobald führt die Unterschiede auf eine »innere Dynamik« zurück, die der Autor dem Corpus pastorale zugrunde lege und damit die Leserinnen und Leser zu einer »systematischen Aneignung« (Ders., Von den Presbytern zum Episkopos, 237) seiner Vorstellung von einer Entwicklung der Tradition anleite, die sich letztlich auch in einer Entwicklung verschiedener Aspekte innerhalb des Corpus pastorale widerspiegele. Von drei Schreiben eines Verfassers ohne dabei ein Corpus pastorale vorauszusetzen geht auch Ehrman, Forgery, aus. Zum Problem vgl. Engelmann, Untersuchungen, bes. 90–106. 5 Vgl. Weiser, Freundschaftsbrief; Engelmann, Untersuchungen, 90–94. Die Sonderstellung des 2 Tim gab schließlich den Anlass für die Annahme, dass dieser Brief als authentisch gelten könne, vgl. Prior, Paul; Murphy-O’Connor, 2 Timothy; Herzer, Ende des Paulus (in diesem Band 185–214). Nicht nachvollziehbar und noch weniger überzeugend ist der Einwand von Ehrman, Forgery, 209 f., der 2 Tim könne deshalb kein authentischer Brief sein, weil er »as a directive to the young Timothy« gerichtet (a. a. O., 209), Paulus aber bereits am Ende seines Lebens angelangt sei (a. a. O., 210). Timotheus, der nach 2 Tim 2,22 aufgefordert werde, die »jugendlichen Begierden zu fliehen«, müsste zu dem Zeitpunkt vielmehr schon »at least middle-aged« (ebd.) gewesen sein. Abgesehen davon, dass wir über das ungefähre Alter des Timotheus nicht das Geringste wissen und das Attribut »jugendlich« die Begierden charakterisiert und nicht das Alter des Timotheus indiziert, hätte diese Unausgeglichenheit – wenn sie so gravierend wäre, wie Ehrman behauptet – auch einem Fälscher auffallen müssen, was Ehrman aber mit der Bemerkung erledigt: »he probably did not bother« (ebd.). Das ist natürlich kein tragfähiges Argument. 4 

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Titus) bereits als Chiffre für eine Generation, die sich unter veränderten Bedingungen dem paulinischen Erbe verpflichtet weiß.6 Dieser Perspektive versucht die Theorie einer »doppelte[n] Pseudonymität«7 der Pastoralbriefe in Bezug auf Autor und Adressaten Rechnung zu tragen. Betrachtet man die Pastoralbriefe unter den so definierten pseudepigraphischen Vorzeichen, so könnte man sie vielleicht nicht so sehr als eine »fiktive Selbstauslegung des Paulus« verstehen, wie Annette Merz dies bezeichnet hat und wovon gleich noch zu reden sein wird.8 Man könnte vielmehr von einer durchaus nicht fiktiven Selbstverpflichtung eben dieser nachapostolischen Generation sprechen, für die offenbar in Abgrenzung von gegenläufigen theologischen Tendenzen das Festhalten an Paulus eine besondere Bedeutung hatte. Das setzt selbstverständlich eine konkrete Vorstellung davon voraus, was das paulinische Erbe denn sei bzw. wodurch es repräsentiert werde. Da die Pastoralbriefe selbst aber so wenig an konkreten Topoi paulinischer Theologie enthalten (der 1.  Timotheusbrief deutlich weniger als der 2. Timotheus- und der Titusbrief ), war es im Zuge der Corpus-pastorale-Theorie geradezu notwendig, die Briefe dieses Korpus literarisch und traditionsgeschichtlich mit dem Corpus Paulinum zu verknüpfen. Nur so konnte die »Paratheke« Substanz gewinnen, so dass die Pastoralbriefe nur in engem Bezug auf jenes theologische Erbe gelesen werden können, das im Korpus der Paulusbriefe zusammengefasst, gesammelt und als bleibendes Vermächtnis überliefert werden soll. Unter diesem Vorzeichen hatte bekanntlich Peter Trummer in einem ausgesprochen einflussreichen Aufsatz die Entstehung des Corpus pastorale mit dem Werden des Corpus Paulinum verbunden. Er sah im Corpus pastorale den literarischen Abschluss der Paulusbriefsammlung, wodurch zugleich die Normativität der Paulustradition festgeschrieben wurde.9 In der Folge war es dann durchaus konsequent, nach der Gestalt und dem Umfang des rezipierten bzw. vorausgesetzten Corpus Paulinum zu fragen. Dass gerade dies allerdings nach wie vor höchst umstritten ist, bedarf keiner besonderen Erwähnung.10 Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang auch das Problem der Bewertung der persönlichen Notizen der Pastoralbriefe, die etwa in dem von Richard Pervo vorgeschlagenen11 und jüngst durch Timo Glaser ausgeführten12 Modell des Briefromans nicht nur als pseudepigraphische Stilelemente (was im Übrigen immer 6 

Vgl. grundlegend Wolter, Pastoralbriefe; von Lips, Timotheus. Stenger, Timotheus, 253 u. ö.; vgl. Hegermann, Ort, 56; dazu Engelmann, Untersuchungen, 58 f. 8  Merz, Selbstauslegung. 9  Trummer, Corpus. 10  Vgl. dazu etwa Merz, Selbstauslegung, die »auf jeden Fall […] Röm, 1/2 Kor, Phil, Phlm« (a. a. O., 242) als Referenzgröße benennt, bei Kol und Eph eine Entscheidung für schwierig hält, weil sie daneben auch mit mündlicher Paulusüberlieferung rechnet. Der mutmaßliche Bezug der Pastoralbriefe auf ein wie auch immer zu bestimmendes Corpus Paulinum müsste also mit mehreren Unbekannten rechnen. 11  Pervo, Romancing. 12  Glaser, Briefroman. 7 

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

nur ein Notargument gewesen ist13), sondern konsequent als literarisch konstitutive Bausteine einer Paulusgeschichte gedeutet werden, die aus den Pastoralbriefen einen Briefroman werden ließen. Auch wenn man an der Briefromantheorie grundsätzlich Zweifel hegen kann,14 so ist damit ebenfalls die mehr als berechtigte Frage nach dem literarischen Verhältnis der drei Briefe zueinander aufgegriffen. Das betrifft ebenso die Frage nach der Dreizahl der Briefe selbst oder diejenige nach ihrer logischen Anordnung, die in manchen älteren Erklärungsversuchen auf der Basis des Corpus pastorale-Modells weitgehend unreflektiert geblieben war.15 Und schließlich gehört dazu auch die Frage der Authentizität, die zwar in der Forschung weitgehend erledigt scheint, angesichts der Vielfalt pseudepigraphischer Phänomene aber für diese drei Briefe unterschiedlich zu behandeln ist, will man ihrer konkreten literarischen Gestalt gerecht werden.16 Diese knappen Bemerkungen sollen hier zunächst genügen, um die Ausgangslage für die folgenden Überlegungen zu ausgewählten Aspekten des 1. Timotheusbriefes zu umreißen.

2.  Die Sonderstellung des 1. Timotheusbriefes im Corpus pastorale Die aktuelle Tendenz der Forschung, die spezifischen Eigenheiten der Briefe stärker zu beachten, ist gegenüber älteren Kohärenz- oder einfachen Fälschungstheorien zunächst zu begrüßen, denn sie bildet einen wichtigen Ausgangspunkt für das Verstehen jenes »Rätsels, das über diesen Briefen schwebt« – wie es Adolf von Harnack einmal formuliert hatte und das er für unlösbar hielt.17 Dabei ist es nachrangig, ob man die Pastoralbriefe weiterhin als literarisch konzipiertes Korpus oder als Einzelschriften verstehen will. Wie jüngst Michael Theobald herausgestellt hat, muss auch innerhalb des Corpus pastorale mit einer literarischen Strategie gerechnet werden, die auf eine Entwicklung der Konzeption hin ausgerichtet ist. Innerhalb dieser Konzeption gewinnt jeder Brief seine eigene Prägung und seine eigene Funktion.18 Allerdings ist der argumentative Aufwand für die Identifikation 13  So erneut wieder Ehrman, Forgery, 209, unter dem Stichwort »versimilitude« (vgl. a. a. O., 122 f.) und unter Anlehnung an die älteren Arbeiten von Brox, Notizen, sowie Donelson, Pseudepigraphy. 14 Vgl. Luchner, Pseudepigraphie. 15  Vgl. zum Problem z. B. Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 326 f., sowie umfassend Engelmann, Untersuchungen. 16 Vgl. Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76). Den Unterschieden zwischen den Briefen kann man nicht mit dem simplifizierenden Grundsatz gerecht werden: »if one of these books is forged, they all are forged« (Ehrman, Forgery, 205 u. ö.). Dahinter stehen die gängigen, längst zu Recht und gut begründet infrage gestellten Muster, dass etwa die »linguistic parallels« (a. a. O., 199) keine andere Schlussfolgerung zuließen, als dass die Schriften von einem Autor geschrieben seien, der lediglich verschiedene Absichten damit verfolgte. 17  Von Harnack, Briefsammlung, 14. 18  Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit.



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und Deutung einer solchermaßen zu bestimmenden Strategie relativ hoch. Sie ist in weit höherem Maße mit nur schwer zu verifizierenden Hypothesen verbunden als die konsequente Annahme von Einzelschriften, die erst unter rezeptioneller Perspektive in ein bestimmtes Verhältnis zueinander treten.19 Dass nicht nur der 2. Timotheusbrief aufgrund seines Genres als Testament ein eigenes Profil aufweist, sondern auch der 1. Timotheus- sich vom Titusbrief unterscheidet, hatte bekanntlich bereits Friedrich Schleiermacher herausgearbeitet und  – zumindest unter sprachlichen Gesichtspunkten – die Abhängigkeit des 1. Timotheusbrief von den beiden anderen aufgrund einer philologisch-stilistischen Analyse aufgezeigt.20 In der entwicklungstheoretischen Interpretation des Corpus pastorale bei Theobald spielt diese innere Abhängigkeit des 1. Timotheusbriefes zumindest vom Titusbrief ebenfalls eine gewisse Rolle, und auch in diesem Modell gehört der Titusbrief dezidiert an den Anfang des Corpus pastorale. Der 1. Timotheusbrief hingegen nehme darin angelegte Aspekte auf und entwickele sie weiter, was letztlich der vom Autor intendierten Leserichtung entspreche.21 Wenn daher von Rezeption paulinischer Theologie oder in einem weiteren Sinne paulinischer Tradition die Rede ist, so muss methodisch nicht nur der mögliche Bezug zu den anderen Paulusbriefen im Blick sein. Zu berücksichtigen ist vielmehr auch die literarische Relation der Pastoralbriefe zueinander, mit der eine zusätzliche Transformationsebene für die Aufnahme von Tradition ins Spiel kommt. Der Begriff der Transformation wird gleich noch zu erläutern sein und ist besonders für die Charakterisierung der Relation des 1.  Timotheusbriefes zur Paulustradition von Bedeutung.22 Darin liegt auch ein wesentlicher Aspekt der Sonderstellung des 1.  Timotheusbriefes innerhalb des Corpus pastorale. Er unterscheidet sich nicht nur formal dadurch von den beiden anderen Briefen, dass er nahezu vollständig ohne einen persönlichen Bezug auskommt, während sich der Titusbrief, mit dem er immerhin vom Genre her verwandt ist, und in noch stärkerem Maße der 2. Timotheusbrief durch sehr umfangreiche persönliche Notizen auszeichnen, die das Verhältnis zwischen Paulus und seinen Mitarbeitern anschaulich werden lassen.23 Dieser äußeren Form korrespondiert darüber hinaus ein anderer Umgang mit Überlieferung und ein anderer Bezug zur Paulustradition, zu der – wie an verschiedenen Stellen deutlich wird – für den Autor der Titusbrief und der 2. Timo­ theusbrief bereits hinzu gehören.

19 Vgl. Engelmann, Untersuchungen, mit dem Ergebnis, bei den Pastoralbriefen handele es sich »also nicht um ein konzeptionelles, sondern um ein rezeptionelles Corpus« (a. a. O., 600). 20  Schleiermacher, Sendschreiben; vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen, 11–16. 21  Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 326 f.397, gegen andere Festlegungen der Briefanordnung, die das Corpus pastorale mit dem 1 Tim beginnen lassen (s. u. bei Anm. 42). 22  Den Begriff der Transformation verwendet bereits Lohfink, Theologie. 23  Vgl. dazu Luttenberger, Prophetenmantel.

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3.  Was heißt Rezeption und Tradition? Methodische Aspekte In ihrer Untersuchung zu den Pastoralbriefen hat Annette Merz »(p)aulinische Pseudepigraphie als konstitutiv intertextuell strukturiertes literarisches Verfahren« definiert.24 Der Intertextualitätsbegriff ist bei Merz wesentlich mit dem Begriff der Selbstreferentialität oder auch Eigentextreferentialität verbunden; präziser muss man sagen: der fiktiven Selbstreferentialität. Als die vorausgesetzte Referenzgröße sei (mit Trummer) »ein in seinem genauen Umfang umstrittenes Corpus Paulinum« anzusehen: »Wenn aber die Pastoralbriefe Texte sind, bei denen der intertextuelle Bezug auf ein Prätextcorpus ein konstitutives Element ihrer Produktion und Rezeption darstellt, wenn sie also als notwendig intertextuell zu rezipierende Briefe konzipiert sind, hat das wesentliche Auswirkungen auf den von den Briefen selbst gesetzten Interpretationshorizont. Sie gewinnen die Möglichkeit, zu überzeugen und zu wirken grundsätzlich nur im literarischen Gesamtzusammenhang des zu ihrer Zeit vorliegenden und den Leser­Innen bekannten Corpus paulinischer Briefe und mündlicher Paulustraditionen.«25

Das Problem dieser Perspektive wurde bereits kurz angedeutet: Wenn die zum Verstehen der Pastoralbriefe notwendige Referenzgröße unbekannt ist, dann ergeben sich gewichtige Fragen hinsichtlich der Plausibilität des so vorgestellten Rezeptionsprozesses. Problematisch ist vor allem die Frage, warum der fiktive Paulus keine für die Leser identifizierbaren Hinweise auf seine Selbstreferentialität gibt, zumal wenn die Fiktionalität unerkannt bleiben soll. Nach Merz gehöre ja »zum spezifischen Charakter literarischer Fälschungen, dass ein wesentlicher Teil der für sie konstitutiven intertextuellen Bezugnahmen vom Autor intendiert und ihm bewusst ist, den LeserInnen in seinem eigentlichen Charakter als Bezugnahme auf fremde Texte aber verborgen werden muss, soll die Autorfiktion gewahrt bleiben.«26

Wie aber ist ein Verstehen möglich, wenn der Bezug auf Prätexte zwar konstitutiv ist, den Leserinnen und Lesern aber dieser Bezug der Fiktion wegen verborgen bleiben muss? Wie lässt sich ein solch komplizierter Rezeptionsvorgang bei den Adressatinnen und Adressaten plausibel vorstellen?27 Und nicht zuletzt: Wie sind 24  Merz, Selbstauslegung, 222; vgl. in diesem Sinne auch Burnet, La pseudépigraphie, der dabei zwischen unterschiedlichen pseudepigraphischen Strategien im Hinblick auf die jeweiligen Kommunikationsprozesse in 1 Tim und Tit einerseits und 2 Tim anderseits differenziert. In 2 Tim gehe es um eine »actualisation globale« (a. a. O., 90), während in 1 Tim und Tit der Kommunikationsprozess durch das strategische Mittel des Anachronismus zu charakterisieren sei. Das zeige zudem, dass 2 Tim einer anderen Situation zuzuordnen sei als 1 Tim/Tit: »Manifestement, 2Tm est le témoignage de la seconde génération, celle de Timothée, qui a été convertie au christianisme […] 1Tm–Tt, témoignage d’une période beaucoup plus tardive, où l’Église s’organise dans la longue durée et où se développe une certaine hiérarchie comme le prouve la liste de fonctions et le fait que Timothée n’est pas consacré par Paul« (ebd.). 25  Merz, Selbstauslegung, 223. 26  A. a. O., 224. 27  Merz geht u. a. davon aus, dass allen voran bereits die falsche Verfasserangabe für die Leser das Signal gibt, beim Lesen der Pastoralbriefe gewissermaßen Paulus mitzuhören bzw. seine Briefe



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die unbestreitbar verschiedenen literarischen Merkmale der einzelnen Pastoralbriefe in diese allgemeine Theorie pseudepigraphischer Intertextualität zu integrieren? Ähnlich wie Merz, allerdings bei weitem nicht so umfassend, hat jüngst Michael Theobald den Römerbrief »als de[n] maßgeblichen Prätext des Corpus Pastorale«28 hervorgehoben. Vor allem mit Blick auf das Präskript ist die Nähe des Titusbriefes zum Römerbrief immer schon gesehen worden,29 wobei die Einschätzung, inwiefern hierbei mit einer literarischen Vorlage zu rechnen ist, unterschiedlich ausfällt. Theobald sieht darin eine regelrechte literarische imitatio des Römerbriefpräskriptes. Doch bereits ein oberflächlicher Blick auf die Synopse beider Präskripte nährt Zweifel, ob die Parallelität und damit die literarische Abhängigkeit des Titusbriefes vom Römerbrief tatsächlich so zwingend ist, wie Theobald und andere vermuten.30 Signifikante Übereinstimmungen, wie sie Theobald hervorhebt, gibt es auch zwischen anderen Präskripten paulinischer Briefe bis hin zu einer gewissen Stereotypisierung.31 Die eigentlich interessante Frage ist, ob die Prämissen, die dieser pseudepigraphischen Theorie zugrunde liegen, tatsächlich stimmen, d. h. die Frage, ob und wenn ja in welchem Maße und auf welche Weise sowohl für den Vorgang der Produktion als auch der Rezeption die Referentialität auf Prätexte tatsächlich notwendig und charakteristisch ist. Darüber hinaus wäre zu bedenken, dass für jeden Autor, also auch für den authentisch schreibenden Paulus, eine Selbstreferentialität zu früher geschriebenen Texten vorauszusetzen ist, wie etwa die Parallelität der Präskripte des 1. und 2. Korintherbriefes nahelegen.32 Hat Paulus sich hier selbst imitiert? Eine solche Annahme dürfte den komplexen Abfassungsbedingungen solcher Briefe kaum gerecht werden und wird daher zu Recht auch nicht erwogen. Ein pseudepigraphisches Imitat hingegen liegt mit dem Epheserbrief vor. Hier kann man im Vergleich zum Kolosserbrief die Nachahmung des Präskripts klar erkennen, und auch der Grad der wörtlichen und sachlichen Übereinstimmungen ist hier sehr als Referenzgröße zu benutzen (vgl. a. a. O., 225 f.). Das lässt sich aber nicht verifizieren, wenn die Verfasserfiktion als solche unerkannt bleiben soll. Dabei wäre nämlich voraussetzen, dass unter der Voraussetzung des Gelingens der Täuschung z. B. der Name des Paulus die Paulustradition aufrufen würde, was allerdings bei authentischen Briefen kaum vorstellbar ist, weil dies nicht der literarischen Gewohnheit entspricht. Einen »echten« Brief – und daher auch einen nur als echt geglaubten – liest man als Einzelschrift, nicht im Vergleich zu anderen (vgl. dazu Schnelle, Auseinandersetzung), es sei denn, es finden sich explizite Hinweise des Verfassers auf andere Schriften, die für das aktuell Geschriebene relevant sind. Beispiele dafür finden sich etwa in 1 Kor 5,9; 2 Kor 7,8; 10,9–11; oder auch  – unter mutmaßlich pseudepigraphischen Vorzeichen  – Kol 4,16; 2 Thess 2,2; 2 Petr 3,15 f., nicht aber in den Pastoralbriefen. 28  Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 331. 29  Auffällig ist nicht zuletzt der Umfang des Titus-Präskriptes, was auch zur Begründung seiner Anfangsstellung im Corpus pastorale dient (s. u.). 30  Vgl. die ausführliche Tabelle bei Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 337–339. 31 So könnte z. B. unter denselben Voraussetzungen das Präskript des 2 Kor als Imitation des Pendants aus dem 1 Kor gelten, was wiederum eine Parallele im Vergleich des Präskripts des 1 Thess mit dem des 2 Thess hat; vgl. zum Problem grundlegend Schnider/Stenger, Studien. 32 Vgl. Wolff, 2 Kor, 16; Schmeller, 2 Kor, 50 f.

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viel größer als zwischen den Präskripten des Titus- und des Römerbriefes.33 Hinzu kommen beim Epheserbrief noch andere Merkmale, etwa die konkreten inhaltlichen Bezüge und Aufnahmen aus dem Kolosserbrief bis hin zum wörtlichen Zitat (Eph  6,21 f. aus Kol  4,7 f.).34 Die Referentialität des Epheser- zum Kolosserbrief widerspricht der oben zitierten Theorie von Merz und anderen, den Leserinnen und Lesern eines pseudepigraphischen Briefes müsse generell diese Strategie verborgen bleiben; m. E. ist sogar das Gegenteil der Fall, und in dieser Hinsicht ist der 1. Timotheus- mit dem Epheserbrief vergleichbar. Wollte man diese pseudepigraphische Theorie für die drei Pastoralbriefe als literarisches Korpus voraussetzen, so müsste man aufgrund ihrer signifikanten literarischen Merkmale zumindest verschiedene Interpretationsmuster für die jeweilige pseudepigraphische Strategie entwickeln. Innerhalb der Pastoralbriefe lassen sich demgegenüber Differenzierungen plausibel machen, die den 1. Timotheusbrief von den beiden anderen unterscheiden und ihn im Hinblick auf seine literarische Strategie und die kontextuelle Einbindung pseudepigraphischer Stilmittel etwa dem Epheserbrief vergleichbar machen. Das betrifft vor allem direkte Referenzen im 1. Timotheusbrief zu Inhalten anderer Paulusbriefe, die darauf hindeuten, dass dieser Brief die Referentialität nicht um einer Fiktion willen verbirgt. Vielmehr funktioniert die Fiktion gerade nur deshalb und ist auch nur deshalb legitimiert, weil dieser bewusste Bezug erkennbar und mit ihm zugleich die Transformation bestimmter Aspekte im Vergleich zu Paulus deutlich wird. Nur so lassen sich Anweisungen oder Problemlösungen als solche plausibilisieren, die im Sinne des Paulus auch dann noch legitim sind, wenn die sachlichen Differenzen zum »echten« Paulus erkannt werden. Damit muss man notgedrungen rechnen, wenn die Pastoralbriefe ein bekanntes Corpus Paulinum voraussetzen. Ein pseudonymer Autor kann zwar versuchen, über die Fiktion hinwegzutäuschen. Er kann aber nicht verhindern, dass die Leserinnen und Leser seine Inhalte mit dem »echten« Paulus vergleichen und die Differenzen wahrnehmen. Wenn der Autor – wie Merz und andere meinen  – darauf angewiesen war, dass seine Fiktion nicht erkannt wird, dann wäre er angesichts seiner Referentialität zu Paulus ein nicht zu kalkulierendes Risiko eingegangen. Und dabei geht es ja keineswegs um Probleme oder Inhalte allgemeiner Natur, sondern um die konkrete Situation der Gemeinde und Sachverhalte von einiger Tragweite und grundsätzlicher Art. Gerade unter der Voraussetzung, dass ein pseudepigraphisches Schreiben innerhalb eines größeren Korpus (und das wäre hier nicht nur das Corpus pastorale, sondern das der Paulusbriefe insgesamt) damit rechnen muss, dass die Leserinnen und Leser auf sachliche Differenzen stoßen – gerade unter dieser Voraussetzung muss die Transformation, d. h. die situationsbezogene und interessengeleitete Aufnahme sowie sachliche wie 33 Für Ehrman, Forgery, 196, ist etwa die Nähe der beiden Präskripte des Tit und des 1 Tim ein Aspekt für die Annahme desselben Verfassers, da »nothing like it is found anywhere else in the New Testament«. Angesichts der oben genannten Beispiele dürfte diese Einschätzung kaum haltbar sein. 34  Vgl. dazu z. B. Gese, Vermächtnis.



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sprachliche Anpassung von Inhalten innerpaulinisch plausibel bleiben und kann sich nicht davon abhängig machen, dass die Leser und Leserinnen die Referentialität nicht bemerken.

4.  Pseudepigraphische Rezeption als situationsbezogene Transformation im 1. Timotheusbrief 4.1  Kontextualisierung der Paulusrezeption: εὐαγγέλιον und παραθήκη Für die Kontextualisierung der Paulusrezeption im 1. Timotheusbrief ist vor allem die Absicht des Briefes bedeutsam, die der Situation entspringt, in die hinein er wirken will. Der Situationsbezug ist literarisch innerhalb des 1. Timotheusbriefes eindeutig und nachvollziehbar bestimmt durch seine antihäretische Grundausrichtung. Deren maßgebliche Bedeutung wird durch die polemisch-paränetische Rahmung des Briefes angezeigt, wodurch er sich erneut von den anderen beiden Pastoralbriefen unterscheidet. Dieser Rahmen besteht aus der in 1,3–7 den Brief eröffnenden Warnung vor den selbsternannten νομοδιδάσκαλοι,35 die »Anderes/ Abweichendes lehren« (ἑτεροδιδασκαλεῖν). Diese Warnung wird in 6,3 noch einmal bekräftigt und leitet den Schlussteil des Briefes ein. Am Beginn ist sie als literarisches Signal dadurch erkennbar, dass sie unter briefrhetorischen Gesichtspunkten die Danksagung verdrängt, was vergleichbar ist mit der polemischen Situation des Galaterbriefes. Der damit sachlich korrespondierende zweite Teil des Rahmens lässt sich in 6,20 f. identifizieren, zwei kurze Verse, mit denen der Brief unmittelbar abgeschlossen wird.36 Nachdem innerhalb des Briefes einige konkrete Charakteristika der Irrlehrer angesprochen und abgewehrt wurden (bes. 4,1–10, daneben auch der implizite Bezug durch die Ablehnung des Lehrens von Frauen in 2,9–11), macht der Autor am Schluss in 6,20 mit der Erwähnung der »fälschlich so genannten Gnosis« deutlich, dass »antihäretisch« konkret »antignostisch« meint. Daraus ergibt sich der deutlichste und im Übrigen auch für die Leserinnen und Leser zu identifizierende Hinweis auf die Situation, in welcher der Brief in dieser Form offenbar nötig wurde.37 Die Art und Weise der Paulusrezeption – auf die gleich anhand einiger Beispiele einzugehen sein wird – lässt sich in dieser Perspektive als Apologie des paulinischen Evangeliums gegen die Vereinnahmung durch die »Irrlehre« verstehen, und zwar 35  Der Begriff ist im Neuen Testament ausgesprochen selten und findet sich sonst nur noch in Lk 5,17 und Apg 5,34. 36  Auffälliger Weise schließt der 1 Tim ohne Grüße oder persönliche Bemerkungen, sondern lediglich noch mit einem kurzen Gnadenwunsch, wie er nur noch in Kol 4,18 zu finden ist, dort allerdings als Abschluss einer recht ausführlichen Liste von persönlichen Notizen. 37  Dabei ist vorausgesetzt, dass der Begriff »Gnosis« ähnlich wie bei Irenäus als Sammelbegriff für die entsprechenden als häretisch beurteilten Strömungen des 2. Jahrhunderts verwendet wird, ohne sich freilich – im Unterschied zu Irenäus – sachlich damit auseinanderzusetzen, vgl. Herzer, Gnosis (in diesem Band 315–339).

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vor allem hinsichtlich der ethischen und ekklesiologischen Konsequenzen für die Gemeinde. Es geht also nicht so sehr um die grundlegenden Inhalte des paulinischen Evangeliums, die in den Pastoralbriefen und allen voran im 1. Timotheusbrief bekanntlich relativ wenig aufgenommen und daher ohne einen Rückgriff auf andere Briefe nicht zu beschreiben sind. Es geht vielmehr um die Lösung konkreter Probleme vor dem Hintergrund eines umfassenderen Traditionsbezuges angesichts der Herausforderung durch anderslehrende Strömungen. Dieser Perspektive entspricht unter rezeptionstheoretischen Aspekten auch der terminologische Befund im Hinblick auf die für die Bewahrung der Tradition zentralen Begriffe εὐαγγέλιον und παραθήκη im 1.  Timotheusbrief, der gegenüber dem 2.  Timotheusbrief durchaus signifikant ist; im Titusbrief fehlen beide Begriffe, so dass in diesem Brief der Aspekt der Weitergabe von Tradition kein Gewicht hat.38 Im 2. Timotheusbrief als einem Vermächtnis hingegen hat die Vorstellung einer Paratheke ihren originären Ort, und dementsprechend wird auch die Weitergabe des Anvertrauten explizit thematisiert (2,2). Die enge Verknüpfung des Begriffes Paratheke mit dem des Evangeliums in 2 Tim 1,8–14 macht zudem deutlich, dass eben dieses Evangelium, und zwar ausdrücklich das Evangelium des Paulus (vgl. 2,8: τὸ εὐαγγέλιόν μου wie sonst nur in Röm 2,16; 16,25,39 parallel zu παραθήκη μου in 2 Tim 1,12), als Inhalt der Paratheke identifiziert wird. Demgegenüber ist im 1.  Timotheusbrief nur an einer Stelle im Eingang des Briefes vom Evangelium die Rede (1,11), und zwar in signifikant veränderter Weise. Wie sonst nirgends in paulinischer Tradition wird es als »Evangelium der Herrlichkeit des gepriesenen/seligen Gottes« bezeichnet (μακάριος auf Gott bezogen noch einmal in 6,15). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die Endstellung des einzigen παραθήκη-Belegs in 1 Tim 6,20. Während der Begriff παραθήκη im 2. Timotheusbrief in die anfängliche Paränese an Timotheus eingebunden ist und diesem die Verantwortung für das Evangelium programmatisch zuweist, gewinnt er in 1 Tim 6,20 seine Bedeutung ausschließlich im Kontext der antihäretischen Grundausrichtung des Briefes. Die Mahnung zur Bewahrung der Überlieferung beinhaltet die Abwendung von der Irrlehre und zugleich die Abwehr einer missbräuchlichen und von eigenen Interessen geleiteten Interpretation der paulinischen Überlieferung.40 Auf diese Weise stellt die Bewahrung der Tradition gleichsam die entscheidende Aufgabe in der antignostischen Auseinandersetzung dar. Daran zeigt 38  Anders verhält es sich mit διδαχή und διδασκαλία: διδασκαλία – 8 mal in 1 Tim, 3 mal in 2 Tim, 4 mal in Tit, 2 mal in Röm, 2 mal in 1 Kor; διδαχή – je 1 mal in 2 Tim und Tit; 2 mal in Röm, nicht jedoch in 1 Tim. 39  Vgl. ferner 1 Kor 2,4: ὁ λόγος μου καὶ τὸ κήρυγμά μου sowie 15,14: τὸ κήρυγμα ἡμῶν. Röm 16,25 gehört freilich zum mutmaßlich sekundären Schluss des Briefes, wobei gelegentlich auch für paulinische Autorschaft plädiert wird; eine Liste von Befürwortern der einen wie der anderen Theorie bietet Jewett, Romans, 998. Die Argumente gegen eine paulinische Autorschaft dieser Verse sind schwerwiegend, obwohl deren textliche Positionierung am Ende des Röm nach wie vor ein Problem darstellt. Offen hält die Frage nach der Authentizität etwa Hurtado, Doxology. 40  Vermutlich in einer mit 1 Tim vergleichbaren Situation wird dies auch in 2 Petr 3,16 explizit als Problem benannt.



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sich, dass es im 1. Timotheusbrief nicht um eine inhaltliche Rezeption paulinischer Theologie geht, sondern um den Auftrag bzw. die Selbstverpflichtung zu einer Lehre und damit einer Theologie, die sich der Paulusüberlieferung verpflichtet weiß und diese angesichts aktueller Herausforderungen ekklesiologisch transformiert. Die Konsolidierung von Gemeindestrukturen und Gemeindeordnungen bis hin zur Stärkung eines entsprechend strukturierten Leitungsgremiums werden zum entscheidenden Faktor für die Bewahrung der Tradition (s. u. 4.3).

4.2  Das Vorbild aller Glaubenden: Hagiographische Transformation des Paulusbildes Unmittelbar nach der einleitenden »Frontenklärung« bietet 1 Tim 1,12–17 die briefrhetorisch auffällig an zweiter Stelle platzierte Danksagung. Diese ist zudem spezifisch verändert, insofern der Dank nicht, wie eigentlich zu erwarten, auf die Gemeinde bzw.  – wie im 2.  Timotheusbrief  – auf den adressierten Mitarbeiter bezogen ist.41 Der Dank des »Paulus« richtet sich vielmehr auf sich selbst, auf seine eigene apostolische Existenz und die Gnade Gottes, die ihm zuteil geworden ist. Das Signal, das damit an dieser erneut prominenten Stelle gesetzt ist, darf in seiner Bedeutung für den 1.  Timotheusbrief nicht unterschätzt werden und ist dementsprechend auch für manche Anlass, den 1.  Timotheusbrief aufgrund der programmatischen »Verklärung« des Apostels innerhalb des postulierten Corpus pastorale an den Anfang zu stellen.42 Aufgrund seiner biographischen Ausrichtung ist zu erwarten, dass 1 Tim 1,12– 17 zahlreiche Referenzen zu anderen Paulustexten bietet. Dabei wird der Weg des Apostels im Wesentlichen in derselben Grundstruktur dargestellt, wie wir es aus den authentischen Briefen kennen. Zugleich sind aber auch Anklänge an einige weniger programmatische Bemerkungen im 2.  Timotheusbrief zu erkennen (bes. 2 Tim 1,11; explizit aufgenommen in 1 Tim 2,7). Ohne dies hier im Einzelnen vorstellen zu können, soll nur auf einige Besonderheiten aufmerksam gemacht werden, die in 1 Tim 1,12–17 eine gleichsam idealisierende Transformation des Paulusbildes erkennen lassen.43 Diese Transformation lässt sich an verschiedenen Aspekten festmachen: Zum einen wird nach der begrifflich Phil 4,13 und 2 Kor 3,4–6; 4,1 nahestehenden und daher wahrscheinlich von diesen Texten inspirierten Danksagung die 41  Im Tit fehlt das Element der Danksagung gänzlich, was wahrscheinlich in der Anlehnung des Briefes an das Genre des Mandatsschreibens (mandatum principis) begründet liegt. Das Fehlen des gattungstypischen Elementes der Danksagung ist daher für die Frage nach dem Charakter des Tit zu beachten. Zum Genre des Mandatsschreibens und seiner Bedeutung für die Pastoralbriefe vgl. z. B. Wolter, Pastoralbriefe, 161–177; Herzer, Papyri, 332–338 (in diesem Band 99–124); Mitchell, Genre. Auch der 1 Tim nimmt Elemente des mandatum-Genres auf, integriert sie aber in eine andere literarische Strategie, die sich zudem – trotz erkennbarer Modifizierungen – stärker an das paulinische Gemeindebriefformular anlehnt, so dass der eigentliche Mandatscharakter relativiert wird. 42  Vgl. z. B. Wolter, Pastoralbriefe, 21 f.; Häfner, Corpus; vgl. dazu kritisch Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit, 326 f. 43  Vgl. dazu Engelmann, Paulusbilder, bes. 506–519.

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Vergangenheit des Paulus in einer bemerkenswerten Weise negativ beurteilt. Zwar hatte sich Paulus selbst des Öfteren als früherer Verfolger der Gemeinde bekannt (Gal 1,13; Phil 3,6; 1 Kor 15,9), in 1 Kor 15,8 f. sogar mit dem Begriff »Fehlgeburt« (ἔκτρωμα) als den letzten und geringsten der Apostel bezeichnet und in Phil 3,7 f. die Ausrichtung seiner früheren Überzeugungen sehr drastisch negativ bewertet. Demgegenüber spitzt jedoch 1 Tim 1,13 diese Perspektive in einer steigernden Zusammenstellung der Begriffe »Lästerer«, »Verfolger« und »Frevler/Gewalt­täter« noch einmal rhetorisch zu, um zugleich das Übermaß des geschenkten Erbarmens Gottes zu betonen (V. 14). Zum anderen entwickelt 1 Tim 1,15 mit dem Hinweis auf Paulus als den ersten jener Sünder, die zu retten Jesus in die Welt gekommen sei, eine Paulustypologie, die so bei Paulus nicht zu finden ist.44 Sie lässt sich allerdings unschwer als eine Personalisierung paulinischer Auffassungen von der Sünde etwa in Röm 5 verstehen, die exemplarisch auf den Apostel fokussiert werden: »Wo die Sünde viel geworden ist, da ist die Gnade noch überfließender geworden, damit wie die Sünde durch den Tod geherrscht hat, so auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn« (Röm 5,20 f.).

Zwar ist der rechtfertigungstheologische Aspekt in 1 Tim 1 nicht explizit aufgenommen (der Wortstamm δικ- ist im 1. Timotheusbrief im Vergleich zum 2. Timotheusund zum Titusbrief insgesamt unterrepräsentiert),45 doch ist auffällig, dass neben der Sünden-Gnaden-Thematik auch die Ausrichtung auf das ewige Leben und die vermittelnde Wirkung Christi im Duktus von 1 Tim 1,12–17 mit Röm 5,20 f. übereinstimmt.46 1 Tim 1,12–15 erweist sich somit als eine prototypisch-biographische Personalisierung des Sünden- und Gnadenverständnisses, wie es Paulus in Röm 5 grundsätzlich entwickelt hat. Die Grundsätzlichkeit bietet für den 1.  Timotheusbrief die Möglichkeit, in der Verbindung mit biographischen Elementen Paulus als »Prototyp«47 des von Gott begnadigten Sünders zu zeichnen und damit letztlich seine herausragende Autorität für die Tradition der Gemeinde des 1. Timotheusbriefes zu unterstreichen. Als der Prototyp des Sünders wird Paulus schließlich auch zum Prototyp all derer, denen Christus auch in Zukunft Gnade erweisen wird.48 Diese prototypische Projektion paulinischer Sünden- und Gnadenvorstellungen auf den Apostel lässt ihn zudem in einem deutlich helleren Licht erscheinen, als Paulus selbst dies je für 44 Vgl. von Lips, Paulus, bes. 306–313. Von Lips interpretiert die dreifache Charakteristik des Paulus (»Lästerer – Verfolger – Frevler«) nicht als Steigerung, sondern sieht in der Mittelstellung des »Verfolgers« eine Relativierung dieses Begriffes (a. a. O., 307). 45  Vgl. im 1 Tim 1,9: »nicht für den Gerechten ist das Gesetz gegeben«; 3,16: »gerechtfertigt im Geist« (auf Christus bezogenes Bekenntnisfragment); 6,11: »verfolge aber Gerechtigkeit« (Tugendkatalog); vgl. demgegenüber den theologisch qualifizierten Gebrauch von δικαιωσύνη in Tit 3,5 und 2 Tim 4,8 sowie δικαιοῦσθαι in Tit 3,7; das Lexem weiterhin Tit 1,8; 2,12; 2 Tim 2,22; 3,16 (jeweils mit ethischem Bezug). 46  Der Bezug ist daher nicht nur durch die Art der Aufnahme der Gnadenthematik gegeben, vgl. z. B. Roloff, 1 Tim, 94 f.; Engelmann, Untersuchungen, 513 Anm. 350. 47  Brox, Pastoralbriefe, 111. 48 Vgl. Schröter, Kirche, 86.



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sich in Anspruch genommen hätte. Dies gilt umso mehr, als im 1. Timotheusbrief bei aller Betonung des Übermaßes des Gnadenerweises nicht der begnadigende Herr, sondern der begnadigte Sünder in den Mittelpunkt tritt. Doch ist diese rhetorisch ausgesprochen geschickte Paulusdarstellung durch den sachlichen Bezug auf das paulinische Verständnis von Sünde durchaus plausibel und daher auch legitim. Sie stellt eine geradezu hagiographisch zu nennende,49 auf die Person des Apostels fokussierte Transformation paulinischer Tradition dar, die Paulus als Urbild bzw. gleichsam als »Prägemuster«50 (ὑποτύπωσις) für alle zukünftigen Generationen zeichnet, dessen vorbildhafte Autorität im begnadigenden Handeln Gottes begründet ist.51 In 2 Tim 1,13 war der Begriff ὑποτύπωσις noch auf das Evangelium vom rettenden Gott und der in Christus gegebenen Gnade als der Grundlage aller »gesunden Worte« bezogen. Ganz ähnlich hat Paulus in Röm 6,17 vom τύπος διδαχῆς gesprochen, dem die Glaubenden gehorsam sind und der ihnen übergeben wurde. In 1 Tim 1 hingegen nimmt diese Stelle der Apostel selbst ein: »Aus dem verkündenden Paulus wird der ›verkündigte Paulus‹.«52 Für eine Vorbildfunktion des Apostels gibt es zwar ebenfalls Anknüpfungspunkte in der Tradition, die allerdings weniger die Person des Paulus in den Vordergrund stellen als vielmehr seine Art des gelebten Glaubens (vgl. Phil 3,17; 2 Thess 3,9). Dieser Aspekt ist in 1 Tim 4,12 aufgenommen als Mahnung an Timotheus, seinerseits zum Vorbild (τύπος) der Glaubenden zu werden (ähnlich Tit 2,7; vgl. auch 1 Petr 5,3).53 Die transformierende Fokussierung auf die Person des Paulus im 1. Timotheusbrief lässt sich durch die Verwendung des Begriffes ὑποτύπωσις statt τύπος gut nachvollziehen. Geradezu stilgerecht wird dieses hagiographische Paulusbild in 1 Tim 1,17 dann mit einer Doxologie abgeschlossen, wie sie Paulus auch sonst gebraucht, die durch ein »Amen« bekräftigt wird und im Wortlaut mit Gal 1,5 identisch ist.54 In 1 Tim 6,16 wird eine solche Doxologie in ähnlicher Form erneut als Abschluss einer Bekenntnistradition verwendet.

4.3  Das Haus Gottes: Ökonomisierende Transformation paulinischer Ekklesiologie Ein zweiter Aspekt, an welchem der Transformationsprozess paulinischer Topoi anschaulich gemacht werden kann, betrifft die besondere Ekklesiologie des 1. Timotheusbriefes. Diese ist maßgeblich und einmalig im Corpus Paulinum wie im Corpus pastorale durch den Begriff des »Hauses Gottes« (οἶκος θεοῦ) charakterisiert (1 Tim 3,14 f.): 49  In Anlehnung an Collins, Image, 147: »traces of an emerging Pauline hagiography«, hat Dassmann, Stachel, 166, dafür den Begriff der »Paulushagiographie« geprägt. 50 Vgl. Goppelt, τύπος, 246.248. 51 Vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 56–58; Oberlinner, 1 Tim, 45  f.; Engelmann, Untersuchungen, 518 f., u. a. 52  Wanke, Paulus, 170. Roloff, 1 Tim, 99, spricht von einer »Kerygmatisierung von Geschichte und Gestalt des Paulus«. 53  Vgl. dazu Ostmeyer, Taufe, 28; ders., Typos, bes. 221. 54  Vgl. neben Gal 1,5 noch Röm 1,25; 9,5; 11,36; 16,27; Phil 4,20; 2 Tim 4,18; Eph 3,21.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

Ταῦτά σοι γράφω ἐλπίζων ἐλθεῖν πρὸς σὲ ἐν τάχει. ἐὰν δὲ βραδύνω, ἵνα εἰδῇς πῶς δεῖ ἐν οἴκῳ θεοῦ ἀναστρέφεσθαι, ἥτις ἐστὶν ἐκκλησία θεοῦ ζῶντος, στῦλος καὶ ἑδραίωμα τῆς ἀληθείας. »Dieses schreibe ich dir in der Hoffnung, bald zu dir zu kommen. Falls sich aber mein Kommen verzögert, (so schreibe ich dies, damit) du weißt, wie man sich zu verhalten hat im Hause Gottes, welches ist die Gemeinde des lebendigen Gottes, Pfeiler und Fundament der Wahrheit.«

Bereits Paulus selbst hatte ökonomische Begrifflichkeit theologisch geprägt, indem er etwa in 1 Kor 4,1 f. für die Mitarbeiter am Missionswerk den Terminus οἰκονόμος verwendet. In derselben Konnotation wird οἰκονόμος auch in Tit 1,7 auf die Verantwortlichen in der Gemeinde bezogen und kommt sonst in den Pastoralbriefen nicht mehr vor. Der 1.  Timotheusbrief transformiert jedoch diese Begrifflichkeit konsequent ekklesiologisch und führt dazu verschiedene Vorstellungen zu einem neuen Konzept zusammen. Den Ausgangspunkt bildet in 1 Tim 1,4 der Begriff der οἰκονομία θεοῦ, der hier im Zusammenhang mit der Abwehr der Falschlehrer funktionalisiert wird, um deutlich zu machen, wie ernst die Auswirkungen falscher und verwirrender Lehren sind. Die Transformation paulinischer Begrifflichkeit zeigt sich darin, dass der Begriff der οἰκονομία zwar der paulinischen Tradition entlehnt ist,55 aber nicht wie etwa in 1 Kor 9,17 oder auch Kol 1,25 auf die Tätigkeit der Verkündiger bezogen wird, sondern – ganz ähnlich übrigens wie im Epheserbrief (1,10; 3,2.9) – auf die im Glauben (ἐν πίστει) gründende Heilsordnung Gottes, die durch falsche Lehren zerstört wird. Die Gefahr der »anderen Lehre« liegt also nicht darin, dass sie den Glauben selbst zerstören würde, sondern dass sie die Ordnung des »Hauses Gottes« bedroht.56 Die Idee einer »Heilsökonomie des Glaubens« manifestiert sich schließlich folgerichtig in der spezifischen Vorstellung von der Gemeinde als eines Hauses Gottes, das wie ein Schutzraum für die Wahrheit des Glaubens fungiert (3,15). In dieser Vorstellung fließen erneut mehrere Aspekte der Tradition zusammen. Entscheidend ist als Ausgangspunkt die paulinische Vorstellung von der Gemeinde als Tempel Gottes (ναὸς θεοῦ, 1 Kor 3,16 f.; 6,19; 2 Kor 6,16; ferner Eph 2,21) sowie darüber hinaus bzw. in Verbindung damit auch als θεοῦ οἰκοδομή (1 Kor 3,9). Angeregt wahrscheinlich durch die in 2 Tim 2,20 verwendete Haus-Metaphorik (ἐν μεγάλῃ δὲ οἰκίᾳ), greift der Verfasser des 1. Timotheusbriefes den Begriff des Hauses (hier jedoch οἶκος) auf, der vor dem Hintergrund des alttestamentlich geläufigen Verständnisses des Tempels als Hauses Gottes geeignet war, die haushaltsökonomischen Interessen des Autors in ein Gemeindekonzept umzusetzen.57 Mit der terminologischen Veränderung vom »Tempel Gottes« zum »Haus Gottes« 55 Die Lexematik kommt außerhalb des (und der Ausnahme 1 Petr 4,10.17) nur noch im Lukasevangelium vor (vgl. Lk 12,42; 16,1–8). 56 Vgl. zum Verhältnis von Ökonomie und Ethik z. B. Wagener, Ordnungen; Lehmeier, OIKOS; Zamfir, Men and Women. 57 Vgl. Herzer, House of God (in diesem Band 273–291). Unter der Voraussetzung eines Corpus pastorale vermutet u. a. Horrell, Transformation, eine sozialstrukturelle Transformation paulinischer Ekklesiologie »from the model of an egalitarian community of ἀδελφοί toward the model of a hierarchical household-community, a community with masters and subordinates,



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kann der Verfasser an paulinische Tradition anknüpfen und dennoch zugleich ein neues, auf Grundsätzen antiker Ökonomik basierendes Gemeindekonzept theologisch begründen, ohne damit in einen Gegensatz zu paulinischen Gemeindevorstellungen zu geraten. Rezeptionstheoretisch bemerkenswert ist, dass man zwar traditionsgeschichtlich diesen Transformationsprozess im Sinne und im Namen des Paulus nachvollziehen kann. Notwendig zum Verstehen der ekklesiologischen Kernaussagen und des entsprechenden Konzeptes im 1.  Timotheusbrief ist die Einsicht in diesen Zusammenhang jedoch nicht, da es auch aus sich selbst heraus plausibel ist.

4.4  Theologie als Bekenntnis: Homologische Transformation theologischer Inhalte Die Bedeutung des ekklesiologischen Konzeptes von der Gemeinde als Haus Gottes und damit gleichsam als »Festung der Wahrheit« (στῦλος καὶ ἑδραίωμα τῆς ἀληθείας) für die Bewahrung der Paratheke (wie sie allerdings erst am Schluss in 6,20 genannt wird) lässt sich in besonderer Weise am Kontext der ekklesiologischen Spitzenaussage von 3,15 ablesen. Im Anschluss daran wird genau das formuliert, was es im Haus Gottes als Wahrheit zu schützen gilt: nämlich jenes »Geheimnis der Frömmigkeit«, das in der Gestalt des Bekenntnisses expliziert wird (1 Tim 3,16): [Und anerkanntermaßen groß ist das Geheimnis der Frömmigkeit:] Der erschienen ist im Fleisch, wurde gerechtfertigt im Geist, ist erschienen den Boten,58 wurde verkündet unter den Völkern, fand Glauben in der Welt, wurde aufgenommen in Herrlichkeit.

[καὶ ὁμολογουμένως μέγα ἐστὶν τὸ τῆς εὐσεβείας μυστήριον·] ὃς ἐφανερώθη ἐν σαρκί, ἐδικαιώθη ἐν πνεύματι, ὤφθη ἀγγέλοις, ἐκηρύχθη ἐν ἔθνεσιν, ἐπιστεύθη ἐν κόσμῳ, ἀνελήμφθη ἐν δόξῃ.

Bemerkenswert an diesem Bekenntnisfragment ist in der Einleitung zunächst die Verwendung der adverbialen Form ὁμολογουμένως, die in dieser konkreten Verbindung auf eine gruppeninterne Übereinstimmung bzw. Anerkennung des zitierten Bekenntnisinhaltes abhebt.59 Als Fragment sind diese Zeilen dadurch erkennbar, dass das maskuline Relativpronomen ὃς in seinem Bezug problematisch ist: Sachlich sind die Aussagen ausnahmslos auf Christus zu beziehen, syntaktisch aber kann sich das maskuline Pronomen im Zusammenhang von 3,15 f. nur auf structured according to the relative positions of different social groups. […] In Weberian terms, we move from a charismatic form of domination toward a traditional form« (a. a. O., 310). 58  Dies ist eine der wenigen Stellen im Neuen Testament, an denen der Begriff ἄγγελοι sinnvollerweise auf menschliche »Boten« zu beziehen ist, nicht im spezielleren Sinn auf »Engel« als himmlische Wesen; vgl. etwa auch Lk 7,24; 9,52. Im Duktus des Bekenntnisses hebt die Aussage wahrscheinlich auf die Erscheinung vor den Aposteln ab und ist durch die Verwendung des Begriffes ὤφθη mit der Bekenntnisaussage von 1 Kor 15,5–8 verwandt. 59 Vgl. Roloff, 1 Tim, 191 f.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

Gott beziehen, da dieser als einziger in V. 15 genannt wird, nicht aber Christus.60 Diese Beobachtung wird für die Frage nach der Bedeutung der Bekenntnistradition im 1. Timotheusbrief noch eine Rolle spielen. Dem Begriff ὁμολογουμένως in 3,16 entspricht die weitere Verwendung des Wortstammes in der Verbindung τὴν καλὴν ὁμολογίαν in 6,12 f., und zwar zum einen bezogen auf diejenigen, die in der Paränese zum Bekenntnis ermutigt werden, zum anderen mit dem Hinweis auf das gute Bekenntnis, das Jesus vor Pilatus  – gleichsam das Bekenntnis der Gemeinde antizipierend  – abgelegt hat. Dass der Begriff der Homologie erneut im Schlussteil des Briefes aufgenommen ist, weist auf die grundlegende Bedeutung des Bekenntnisses im Kontext der Ekklesiologie des 1. Timotheusbriefes hin. Andererseits ist es vor diesem Hintergrund konsequent, wenn neben den bereits genannten Texten die wesentlichen theologischen Inhalte in sorgsam platzierten Bekenntnisformulierungen innerhalb des Briefes vermittelt werden. Dieses Vorgehen ist im 1.  Timotheusbrief bekanntlich so auffällig, dass man in verschiedenen Bekenntnisfragmenten (insbesondere 6,11–16) oder zumindest in Teilen davon ein regelrechtes liturgisches Formular vermutet hat, und zwar zur Ordination der gemeindlichen Amtsträger.61 Auch damit wäre eine enge Verbindung zwischen Bekenntnis und Ekklesiologie angezeigt. Nach allen bisherigen Beobachtungen verwundert es nicht, dass die drei als solche mehr oder weniger eindeutig zu identifizierenden Bekenntnistexte innerhalb des 1.  Timotheusbriefes den ekklesiologischen Hauptteil gleichsam als tragende Säulen durchziehen und somit ihrerseits auf ein strategisch-rhetorisches Konzept schließen lassen. Nach den programmatischen Eingangsabschnitten findet sich das erste Bekenntnisstück am Beginn des Hauptteils des Briefes in 2,5 f., das zweite im bereits erwähnten Zusammenhang der ekklesiologischen Zentralaussage in 3,15 f. und das dritte im Schlussteil des Briefes in 6,15 f. Der Hinweis auf den Willen Gottes zur Erkenntnis der Wahrheit für alle Menschen in 2,4 wird in den beiden folgenden Versen mit dem Bekenntnis begründet, das wahrscheinlich zugleich als Inhalt jener Wahrheit zu verstehen ist (1 Tim 2,5 f.): (5) Denn einer (ist) Gott, einer auch der Mittler Gottes und der Menschen, (der) Mensch Christus Jesus, (6) der sich selbst als Lösegeld für alle gegeben hat, als Zeugnis zur rechten Zeit.

εἷς γὰρ θεός, εἷς καὶ μεσίτης θεοῦ καὶ ἀνθρώπων, ἄνθρωπος Χριστὸς Ἰησοῦς, ὁ δοὺς ἑαυτὸν ἀντίλυτρον ὑπὲρ πάντων, τὸ μαρτύριον καιροῖς ἰδίοις

Der Anklang der εἷς-Formel an die bekenntnishafte paulinische Aussage über den einen Gott und den einen Herrn von 1 Kor 8,6 ist offenkundig,62 wie es übrigens 60  Vgl. die varia lectio θεός in den Korrekturen wichtiger Handschriften sowie im Mehrheitstext (s. Apparat zur Stelle); vgl. zum Problem Roloff, a. a. O., 190 f. 61 Vgl. K äsemann, Formular, der 1 Tim 6,11–16 als ein Zitat aus einer Ordinationsparänese gedeutet hat; vgl. auch die Modifikationen bei Roloff, 1 Tim, 343–345. Zum Ganzen von Lips, Glaube; kritisch Engelmann, Untersuchungen, 284–286. 62  Eine εἷς-θεός-Formel begegnet auch in Röm 3,30 (vgl. z. B. Roloff, 1 Tim, 120), allerdings



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auch in Eph 4,5 f. aufgenommen und weitergedacht wurde. Allerdings ist im 1. Timotheusbrief nicht nur die christologische Pointe einer funktionalen Parallelität zwischen dem Schöpfergott und dem Schöpfungsmittler Christus in 1 Kor 8,6 zugunsten einer klaren Subordination des Menschen Christus Jesus unter den einen Gott aufgegeben.63 Zugleich wird auch mit dem markanten Lösegeldwort ein Intertext eingespielt, der in Anknüpfung an das Stichwort ἀντίλυτρον außerpaulinische Überlieferung anklingen lässt (Mk 10,45; par. Mt 20,28).64 Schon 1 Tim 2,5 f. macht also deutlich, dass die Rezeption paulinischer Überlieferung eingebettet ist in einen breiteren Strom weiterer Traditionsbereiche. Interessanter Weise fungiert die paulinische Überlieferung als eine Art Filter, durch den andere Überlieferungen aufgenommen werden – Beispiele dafür gibt es einige im 1. Timotheusbrief.65 Das zweite Bekenntnisfragment steht  – wie bereits angedeutet  – im unmittelbaren Anschluss an die ekklesiologische Spitzenaussage von der Gemeinde als Haus Gottes in 1 Tim 3,16b (s. o.). In der Grundstruktur seiner Aussagen ähnelt dieses Fragment dem Christushymnus in Phil 2,6–11. Wie bereits notiert ist das Eigentümliche an 1 Tim 3,16b, dass der Bezug des maskulinen Relativpronomens am Beginn nicht eindeutig ist, da sich die Aussagen klar auf Christus beziehen müssen, dieser aber zuvor nicht genannt ist. Daran wird der fragmentarische Charakter des Stückes klar erkennbar. Auf diesem Aspekt ist gleich noch näher einzugehen. Als letztes Bekenntnisfragment ist schließlich die nun wieder eindeutig theologische, d. h. auf Gott ausgerichtete Doxologie als Abschluss des Briefes in 6,15 f. zu nennen: (15) (die) zur rechten Zeit zeigen wird der gepriesene und einzige Herrscher, der König der Könige, und Herr der Herren, (16) der allein Unsterblichkeit besitzt, wohnend in unzugänglichem Licht, den kein Mensch gesehen hat, auch nicht sehen kann; dem (sei) Ehre und ewige Macht! Amen.

(ἣν) καιροῖς ἰδίοις δείξει ὁ μακάριος καὶ μόνος δυνάστης, ὁ βασιλεὺς τῶν βασιλευόντων καὶ κύριος τῶν κυριευόντων, ὁ μόνος ἔχων ἀθανασίαν, φῶς οἰκῶν ἀπρόσιτον, ὃν εἶδεν οὐδεὶς ἀνθρώπων οὐδὲ ἰδεῖν δύναται· ᾧ τιμὴ καὶ κράτος αἰώνιον, ἀμήν.

in anderer Konnotation. Wie in 1 Tim 2,5 f. handelt es sich auch in 1 Kor 8,6 wahrscheinlich um ein von Paulus zitiertes Bekenntnis. Bemerkenswert ist schließlich der Kontrast zwischen 1 Tim 2,5 f. und Gal 3,20, wo dem einen Gott die Vielzahl der Mittler als defizitär gegenübergestellt wird. Zum weiteren religionsgeschichtlichen Hintergrund der εἷς-θεός-Vorstellung vgl. Peterson, Heis Theos; Bruno, God. 63  Vgl. dazu Hurtado, Lord, 514. 64 Vgl. Oberlinner, 1 Tim, 75 f. 65  So z. B. auch festzustellen in 5,17 f. beim Zitat von Dtn 25,4 und seiner Deutung, wie es in vergleichbarer Weise in 1 Kor 9,9; 2 Tim 2,6; 2 Thess 3,8 f. einerseits sowie Mt 10,10 und Lk 10,7 andererseits anklingt, in 1 Tim 5,17 f. aber eine im Vergleich zu 1 Kor und 2 Tim eindeutigere und spezifischere Interpretation erfährt; vgl. Merz, Selbstauslegung, 232 f. Nach Merz sind »2 Thess 3,8 f. und 1 Tim 5,17 f.; 2 Tim 2,2–7 als vermutlich voneinander unabhängige bewusste Versuche der Festschreibung der legitimen Auslegung von 1 Kor 9 gegen eine ebenfalls im paulinischen Traditionsbereich vorfindliche Auslegungsvariante« zu bewerten (a. a. O., 233).

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass die in diesem Text versammelten Gottesprädikate ganz unterschiedlichen Traditionen entstammen, wobei hier nicht zuletzt auf die – wie der 1. Timotheusbrief auch – in Kleinasien verankerten johanneisch geprägten sowie außerneutestamentlichen Überlieferungen hinzuweisen ist.66 Während der Begriff δυνάστης im Neuen Testament außer im 1.  Timotheusbrief nur noch zwei Mal im lukanischen Doppelwerk vorkommt (Lk 1,52; Apg 8,27), so verweist etwa das doxologische Prädikat »König der Könige und Herr der Herren« sehr signifikant auf Offb 17,14 (vgl. auch Offb 1,5), allerdings nicht im Sinne einer literarischen Abhängigkeit, sondern auch hier in einer theologisch-homologischen Transformation, da es in der Offenbarung sehr klar auf Christus und nicht auf Gott bezogen ist. Eine ähnlich zu bestimmende Affinität zu johanneischen Vorstellungen ließe sich für die Aussagen über das Wohnen in einem unzugänglichen Licht (vgl. der Intention nach Joh 3,21; 1 Joh 1,5; Offb 22,5), die Unmöglichkeit des Sehens Gottes (Joh 1,18) bis hin zur Abschlussformel (vgl. Offb 5,13) nachweisen. Demgegenüber ist der Begriff der ἀθανασία neutestamentlich nur noch in 1 Kor 15,53 f. belegt, allerdings nicht als Gottesprädikat (vgl. darüber hinaus Did 10,2 u. a.).67 Dass sich die Homologie in 1 Tim 6,15 f. mit den beiden bereits vorgestellten Fragmenten zu einem Bekenntnistext zusammenfügen ließe, braucht kaum noch erwähnt zu werden. Im Gegensatz zu manch anderen Rekonstruktionsversuchen von Bekenntnisfragmenten muss dafür lediglich das kontextuell bedingt hinzugefügte γάρ in der ersten Zeile von 2,5 gestrichen und nur ein einziges Relativpronomen verändert werden, das im Kontext des 1. Timotheusbriefes wahrscheinlich des Anschlusses wegen in 6,15 aus dem Maskulinum ins Femininum gesetzt wurde.68 Das Fragment in 3,16 lässt sich vor allem wegen des Christusbezuges der Aussagen sehr gut an das erste Fragment in 2,5 f. anschließen und ergibt damit einen plausiblen Zusammenhang, der darüber hinaus auch das oben benannte Problem des Bezuges des maskulinen Relativpronomens in 3,16 erklären würde. Der dritte Text, eine auf Gott bezogene Doxologie, fügt sich gut in den Duktus der anfänglichen Unterscheidung zwischen dem einen Gott und dem Menschen Christus ein, auf dessen (irdisches) Zeugnis vor Pilatus in 6,13 explizit hingewiesen und damit einen Aspekt aus dem ersten Teil der Homologie aufgenommen wird. Damit könnten die drei Fragmente zu einem Text kompiliert werden, der letztlich jene Paratheke als Bekenntnis zusammenfasst, von der dann in 6,20 in der Auseinandersetzung mit der Gnosis die Rede ist. Die Rekonstruktion soll hier der Übersicht wegen noch einmal rekapituliert werden:

66 

Vgl. z. B. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 68 f.; Roloff, 1 Tim, 355–357. Oberlinner, 1 Tim, 299, verweist auf die Nähe zu Röm 1,17. 68  Sachlich möglich wäre zudem, das feminine Relativum an den Begriff δόξα aus der letzten Zeile von 1 Tim 3,16 anschließen zu lassen. 67 

Tradition und Bekenntnis



1 Tim 2,4–6:

[(4) (Gott) will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.]

(5) [Denn] Einer (ist) Gott, einer auch Mittler Gottes und der Menschen, (der) Mensch Christus Jesus, (6) der sich selbst als Lösegeld für alle gegeben hat, als Zeugnis zur rechten Zeit. 1 Tim 3,16:

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Εἷς [γὰρ] θεός, εἷς καὶ μεσίτης θεοῦ καὶ ἀνθρώπων, ἄνθρωπος Χριστὸς Ἰησοῦς, ὁ δοὺς ἑαυτὸν ἀντίλυτρον ὑπὲρ πάντων, τὸ μαρτύριον καιροῖς ἰδίοις,

[Und anerkanntermaßen groß ist das Geheimnis der Frömmigkeit:] ὃς ἐφανερώθη ἐν σαρκί, ἐδικαιώθη ἐν πνεύματι, ὤφθη ἀγγέλοις, ἐκηρύχθη ἐν ἔθνεσιν, ἐπιστεύθη ἐν κόσμῳ, ἀνελήμφθη ἐν δόξῃ.

(16) Der erschienen ist im Fleisch, wurde gerechtfertigt im Geist, ist erschienen den Boten, wurde verkündet unter den Völkern, hat Glauben gefunden in der Welt, wurde aufgenommen in Herrlichkeit.

1 Tim 6,13–16: [(13) Ich gebe Weisung vor Gott, der alle Dinge lebendig macht, und (vor) Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis als Zeugnis abgelegt hat, (14) dass du das Gebot unbefleckt und unbescholten bewahrst bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus,] (15) den [oder: die] zur rechten Zeit erzeigen wird der gepriesene und einzige Herrscher, der König der Könige, und Herr der Herren, (16) der allein Unsterblichkeit besitzt, wohnend in unzugänglichem Licht, den kein Mensch gesehen hat, auch nicht sehen kann; dem (sei) Ehre und ewige Macht! Amen.

ὃν [oder: ἣν] καιροῖς ἰδίοις δείξει ὁ μακάριος καὶ μόνος δυνάστης, ὁ βασιλεὺς τῶν βασιλευόντων καὶ κύριος τῶν κυριευόντων, ὁ μόνος ἔχων ἀθανασίαν, φῶς οἰκῶν ἀπρόσιτον, ὃν εἶδεν οὐδεὶς ἀνθρώπων οὐδὲ ἰδεῖν δύναται· ᾧ τιμὴ καὶ κράτος αἰώνιον, ἀμήν.

Interessanterweise verbindet dieses Bekenntnis nicht nur Aspekte der paulinischen Tradition, sondern erscheint zugleich eingebettet in einen breiteren Strom frühchristlicher Überlieferungen, wobei hier die Bezüge zu weiteren altkirchlichen Texten des 2. Jahrhunderts weiterhin zu prüfen wären.69

5. Schluss Insgesamt lässt sich im 1.  Timotheusbrief ein hochkomplexer Rezeptionsvorgang erkennen, der auf unterschiedlichen Ebenen an paulinische Überlieferung anknüpft, diese aber vor dem Hintergrund theologischer Herausforderungen und mit einem deutlichen Blick auch auf Strömungen anderer theologischer Prägung 69  Vgl.

2,15.

etwa zu ἀθανασία Did 10,2; 1Clem 35,1 f.; Theophilus von Antiochia, Ad Autolykum

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

transformiert. In der vorliegenden Skizze konnten nur einige Aspekte dieses komplexen Prozesses nachgezeichnet werden. Ziel dieses Transformationsprozesses ist es, die Ekklesiologie so weiter zu entwickeln, dass die Gemeinde in ihren Strukturen zu einem Bollwerk gegen die Häresie wird. Als eine solche »Feste der Wahrheit« wird sie im Zentrum des Briefes in 3,15 durch eine kongeniale Zusammenführung paulinischer Gemeindeaussagen zur Vorstellung vom Haus Gottes beschrieben. Diesem konzeptionellen Ziel untergeordnet sind – ebenfalls in Anlehnung an paulinische Aussagen – die Korrektur bestimmter Aspekte, die für Missdeutungen offen waren, wie etwa das Problem der in der Gemeinde lehrenden Frauen (2,9–15). Eine Zusammenschau von 1 Kor 11,2–16; 1 Kor 14,33b–36 und Gal 3,28 konnte durchaus zu unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Auffassungen führen, was die Tätigkeit von Frauen angeht. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Frauen in häretischen Strömungen Kleinasiens musste hier also eindeutiger formuliert und entschieden werden, als Paulus dies getan hat.70 Ebenfalls dem ekklesiologischen Gesamtduktus untergeordnet ist die Klärung bestimmter Sachfragen, wie die Versorgung der Witwen (5,3–16), die Besoldung der Presbyter und der Umgang mit Beschwerden gegen sie (5,17–22), oder auch die Mahnung an die Reichen (6,6–19), mit ihrem Reichtum die Gemeinde gerade in diesen finanziellen Belangen zu unterstützen – allesamt Aspekte, in denen nicht zuletzt auch eine gewisse Aktualität des 1. Timotheusbriefes begründet liegt.71 Mit seiner Art der Paulusrezeption hat daher gerade auch dieser pseudepigraphische Brief ein nicht zu unterschätzendes Potential hinsichtlich der immer wieder aktuellen hermeneutischen Frage nach dem angemessenen Umgang mit normativ gewordener Tradition.

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II  Paulusgeschichte und Paulusrezeption

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Rearranging the »House of God« A New Perspective on the Pastoral Epistles Knowing Pieter Willem van der Horst and his outstanding scholarship for many years, one of the most interesting things to learn from him is that there is no topic or area in antiquity which is not worth of earnest consideration or reconsideration. This encouraged me to contribute to his Festschrift a fresh look or – using the now common terminology in New Testament research – a new perspective on the Pastoral Epistles, which historically and theologically appear to be rather marginal compared to other writings of the Corpus Paulinum. Admittedly, the expression »new perspective« should rather be read as »new old perspective«, since it in fact considers anew older views on the Pastoral Epistles, particularly on their relationship to each other challenging the actual communis opinio about them. Focusing on an exemplary analysis of the ecclesiological terminology of the letters, I will question the common »dogma«1 of the compositional unity of the Pastoral Epistles, which is broadly accepted at least in German scholarship, whereas English speaking research always acknowledged different approaches. Thus, in this article I propose a more differentiated perception of these letters which points to an alternative perspective on their relationship.2

1.  The thesis of the literary unity of the Pastoral Epistles in scholarship Despite of their rather marginal standing, it is impressive to see what huge commentaries have been written on the Pastoral Epistles over the last two decades.3 Given this comprehensive research, we actually should know everything about them, and many scholars think that we do have a broad consensus about their interpretation. The 1 

For this term see Johnson, First and Second Letters, 52. The thesis of this article has been first presented at the 2005 SBL Annual Meeting in Philadelphia and is part of a commentary project on the Pastoral Epistles. It might be mentioned that I consider this a »Problemanzeige« and not a comprehensive attempt to solve a question which has been neglected in scholarship for a long time. Some considerations presented here have already been made in Herzer, Abschied (in this volume 11–30). 3  Cf. for example Quinn, Letter; Oberlinner, 1 Tim; idem., 2 Tim; idem., Tit; Quinn/ Wacker, Letters; Johnson, First and Second Letters; idem., Letters to Paulʼs Delegates; Weiser, 2 Tim. For a critical overview see Herzer, Abschied (in this volume 11–30). Cf. also (among others) Marshall, Commentary; Mounce, Epistles; and most recently Towner, Letters. Mounce, Johnson, and Towner argue for authenticity of the Pastoral Epistles. 2 

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

most important element of this consensus is the assumption that the so-called Corpus pastorale forms a literary unity.4 The idea of a corpus has initially been brought up in German scholarship of the early nineteenth century by Ferdinand C. Baur in his dispute with Friedrich D. E. Schleiermacher.5 After Johann E. C. Schmidt (1804), Schleiermacher was the first critical scholar who argued extensively that the language and content of 1 Timothy differs from the Pauline letters (including 2 Timothy and Titus!) in such a high degree that it has to be identified as a pseudepigraphal writing which depends on Titus and 2 Timothy.6 Following Schleiermacherʼs view on 1 Timothy, Johann G. Eichhorn claimed in 1812 that all three letters have to be treated the same way, mainly because of their similarity in style.7 For Baur, too, Schleiermacherʼs argument referring only to 1 Timothy was of no »Haltpunkt«,8 because of the specific relationship between the three letters. Considering only 1 Timothy and separate it from 2 Timothy and Titus would put this letter as close to Paul as any other of them.9 Yet, despite of all their closeness, even Baur concedes that 1 Timothy has specific characteristics among the Pastoral Epistles. Therefore the proof of pseudonymity is not as easy and convincing for 2 Timothy and Titus as for 1 Timothy.10 Nevertheless, Baur argues that because the three letters have to be considered as a unity and because 1 Timothy is certainly pseudonymous, it is necessary to conclude that 2 Timothy and Titus must be unauthentic, too.11 In 1834, a year before Baur, Wilhelm M. L. De Wette in his Lehrbuch der historischkritischen Einleitung presented a similar view by combining Schleiermacherʼs and Eichhornʼs theory. He assumed that 1 Timothy is a compilation of 2 Timothy and Titus.12 Obviously, in nineteenth-century research, scholars were well aware of the differences in character of 1 Timothy on the one hand and 2 Timothy and Titus on the other hand, even though different scholars drew different conclusions. 4 

This term has been introduced by Trummer, Corpus (see below). Baur, Pastoralbriefe; idem., Erklärung. 6  Schleiermacher, Sendschreiben; cf., however, van Nes, Origin, who shows that already 1792 Edward Evanson (1731–1805) doubted the authenticity of Titus because of its theological differences to Paul, cf. Evanson, Dissonance, 318–320 (Evanson also regarded Romans as pseudepigraphical, cf. ibid., 307–312). 7  Eichhorn, Einleitung. Eichhorn, however, still assumed an indirect authenticity of the Pastoral Epistles. Cf. Holtzmann, Lehrbuch (1892), 274–276. 8  Baur, Pastoralbriefe, 3. 9  Ibid, 4. 10  Ibid.: »[…] mit dem ersten dieser Briefe (verhält es sich) in kritischer Hinsicht im Ganzen auch wieder anders […], als mit den beiden andern, und der von Schleiermacher in Beziehung auf jenen (sc. 1 Tim) geführte negative Beweis kann in Beziehung auf diese wenigstens nicht auf dieselbe Weise geführt werden«. 11  Yet, he still holds: »Den sichersten Standpunkt für diese Untersuchung muß der erste Brief (sc. 1 Tim) geben,« ibid., 5. 12  De Wette, Lehrbuch, 243–244: »So ist die Annahme Schleiermachers, dass er (sc. 1 Tim) aus den andern, besonders aus dem Br. an Titus, compilirt sei, so begründet, als nur eine Hypothese dieser Art seyn kann; sie lässt sich aber mit der Ansicht Eichhorns vereinigen, welcher alle drei Briefe für unpaulinisch erklärt. Freilich hat diese Hypothese noch mehr Wahrscheinlichkeit, wenn man die nachgeahmten Briefe für ächt hält, wie Schleiermacher thut.« 5 



Rearranging the »House of God«

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In his analysis of the Pastoral Epistles, Baur went far beyond Schleiermacherʼs critique of the authenticity of 1 Timothy by relating this issue to the problem of the opponents addressed in the letters. Unlike Eichhorn, Baur sees the »objective« reason for the assumption that all three letters are forgeries in his general identification of the opponents as Gnostics. Baur got this idea from 1 Tim 6:20, where the writer mentions the »falsely so called Gnosis«. Since Baur thought the Gnosis to be a phenomenon of the second century and evaluated all three letters as a unity in terms of composition and content, his conclusion necessarily led to a second century dating for all of them.13 Although acknowledging Baurʼs Gnosis theory, Richard Rothe objected to his forgery thesis from early on. Yet, Rothe tried to defend the authenticity of the Pastoral Epistles by pre-dating the Gnosis to the middle of the first century C. E.14 While Baurʼs dating of the Gnosis into the second century has convinced most scholars, all other arguments of his thesis are in my view unfounded, in particular his proposition of the literary unity of the three letters. Given the enormous impact of Baurʼs thesis on subsequent scholarship, it is remarkable that Baur grounds his argument for the pseudonymity of all three letters solely on 1 Timothy, although he recognizes the differences between 1 Timothy and the other two letters. Baur does not give any substantial reason for his assumption of the unity of the Pastoral Epistles, nor does the following scholarship.15 Being mostly unquestioned since Baur, the unity of the Pastoral Epistles as finally established by Heinrich J. Holtzmann16 became almost a dogma for modern interpreters, especially for comprehensive studies on the Pastoralsʼ theology, Christology, and ecclesiology. Unfortunately, scholars who argue against this view have mostly tried to prove the authenticity of all three letters.17 They, too, rely on the doubtful assumption of their homogeneous character in terms of authorship, even if they draw opposite conclusions.18 Furthermore, for the hypothesis of the authenticity of 13  Baur, Pastoralbriefe; idem, Ursprung, esp. 335–336. See also Ellis, Baur, esp. 441–442, on the influence of Hegelʼs philosophy on Baur. 14  Rothe, Anfänge. Baur, Ursprung, was actually the answer to Rothe. Baumgarten, Aechtheit, also argued for the authenticity of the Pastoral Epistles, yet understood the opponents not as Gnostics but as heretics of a cabbalistic way of Judaism, see ibid., 337–338. Baur only counted four letters of Paul as authentic (Rom, 1 Cor, 2 Cor, Gal) and gave reason for Bruno Bauerʼs critique who declared all of the Pauline Epistles as forgeries of a later time, see Bauer, Kritik. 15 See Oberlinner, 1 Tim, XLII: »Da die Abfassung als zusammengehöriges Briefkorpus anzunehmen ist, ist die Frage nach der Reihenfolge der Entstehung der einzelnen Briefe kaum mehr zu klären und letztlich für die Interpretation belanglos.« In the volume on 1 Tim, Oberlinner suggests Tit – 1 Tim – 2 Tim as intended order of reading, see also Quinn, Letter, 19–20. In the volume on 2 Tim, Oberlinner proposes the order 1 Tim – 2 Tim – Tit. For different assumptions see Roloff, 1 Tim, 45: 1 Tim  – Tit  – 2 Tim (so also Wolter, Pastoralbriefe, 21); in the 19th century, de Wette, Lehrbuch, assumed Tit – 2 Tim – 1 Tim, whereas Holtzmann, Pastoralbriefe, 253–256, assumed the order 2 Tim – Tit – 1 Tim. Interestingly, in the early critical research 1 Tim was mostly seen as the last. 16  Holtzmannʼs commentary was the most influential adaptation of Baurʼs theory for subsequent scholarship, see Schenk, Briefe, 3407. 17  Cf. for this constellation already Holtzmann, Pastoralbriefe, 53. 18  See for example the recent commentaries by Johnson and Towner. See also Fuchs, Un-

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

all three letters, historical arguments seem to be most important.19 I have already suggested elsewhere that assuming the authenticity of all three letters is obviously a false alternative that does not lead to a more appropriate understanding of the character of the Pastoral Epistles.20 Among scholars of the twentieth century, Peter Trummer revived Baurʼs thesis in his article »Corpus Paulinum – Corpus Pastorale«, which has been most influential on this issue.21 Trummer posits that the Pastoral Epistles have been written by a single author and that they were from the beginning related to a growing Corpus Paulinum.22 Relying on Baur and Holtzmann, Trummer simply states his thesis without providing any convincing arguments but analyses and interprets all the structural, literary, and theological aspects with regard to this presupposition. Although Trummer admits that the author would have been able to meet his intention also with a single, perhaps a little longer letter,23 he assumes that the number of three similar letters meets the authorʼs intention most appropriately: the ecclesiological orders addressed to Timothy and Titus are parallel to each other and the two letters to Timothy are linked together by their common addressee, and thus they build a »literarisches Triptychon«.24 Supposing their fictitious character,25 Trummer even argues that in choosing two single addressees the letters address in fact a broader audience.26 For Trummer, the local specifications of Ephesus and Crete also suggest an open and »catholic« validity that transcends any individual or time-bound horizon. Although Trummerʼs reconstruction consequently follows his presuppositions, it is by no means convincing, because it contains much circular reasoning. For example, the personal address and the concrete localisations hardly make sense under a pseudepigraphal perspective. An author who wanted to write in the name of Paul terschiede. Fuchs shows, however, in what degree the Pastoral Epistles differ from each other not only with regard to form and proposed situation, but also and more importantly in terms of content. He focuses on Christology, pneumatology, and ethics, but does not engage the issue of ecclesiology. 19  Interestingly, even Baur considered Eichhornʼs historical arguments against the authenticity to be unconvincing, see Baur, Pastoralbriefe, 5–7, note*: »Ist alles dieß etwas anderes, als dieselbe Hypothesensucht, die Eichhorn an den Vertheidigern der Aechtheit dieser Briefe rügt […]?« 20  Herzer, Abschied (in this volume 11–30). 21  Trummer, Corpus, but see already Hilgenfeld, Einleitung, 764, who – like Baur – proposed a date of the three letters in the middle of the second century related to the dispute with Marcionite Gnosticism. 22  Trummer, Corpus, 123: »Die Past sind nicht bloß als pseudepigraphe Paulusbriefe geschaffen, sondern als pseudepigraphes Corpus pastorale konzipiert, d. h. sie setzen nicht nur das pln Briefformular als solches oder eine disparate Anzahl von Paulusbriefen voraus, sondern ihre eigentliche Bezugsgröße ist das oder besser: ein bereits im Wachsen begriffenes Corpus paulinum.« Similarly already Holtzmann, Lehrbuch (1892), 274 and 290–291; see also (among others) Wolter, Pastoralbriefe, 18–20; Roloff, 1 Tim, 43–45; Oberlinner, 1 Tim, XXVI; Weiser, 2 Tim, 29; von Lips, Sprachschöpfung, 63. For a comprehensive critique on the Corpus pastoraletheory and an assessment of the specific profile of each of the Pastoral Epistles see Engelmann, Untersuchungen. 23  Trummer, Corpus, 126. 24  Ibid., 127. See already Holtzmann, Pastoralbriefe, 7: »unzertrennliche[.] Drillinge.« 25  See esp. Stenger, Timotheus; and recently Merz, Selbstauslegung. 26  Trummer, Corpus, 128.



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and at the same time in a »catholic horizon« would certainly not have reached his goal with a concept like the more concrete, the more fictitious, the more general.27 Such an enterprise – if considered to be accepted pseudepigraphy – would be unique not only in the New Testament but also within the literature of Late Antiquity. There are illuminating examples of pseudonymous letters in the New Testament which have highly general addressees as one would expect from this kind of literature (see esp. Eph; 1 Peter; James). Even recognized Pauline letters like e. g. Gal, 1 Cor, or 2 Cor offer a more general horizon than the Pastoral Epistles. Finally, one has to weigh in that the early church of the late first and the beginning second century accepted the Pastoral Epistles as private letters, not as »timeless« writings for the entire Christianity, and exactly for this reason used them rarely.28 Moreover, scholars so far provide opposing descriptions of the intention of this pseudonymous pupil of Paul creating such a Corpus pastorale. For Trummer, the purpose of the »triptychon« is to conclude the collection of the Pauline Epistles,29 whereas Lorenz Oberlinner assumes that the number of »three« was intended to corroborate the significance and importance of this apostolic legacy.30 Both assumptions raise the question whether and how these letters could fulfil the ascribed function for the readers. Are in fact the Pastoral Epistles an appropriate interpretation of Pauline theology in an (uncertain) later time? While this is certainly plausible for Ephesians as a characteristic pseudepigraphon,31 it does not pertain to the Pastoral Epistles, because they are not dealing with major topics of Pauline theology at all. Despite the seemingly broad consensus on the general understanding of the Pastoral Epistles, there have always been voices questioning the assumption of a coherent corpus. Pointing to differences between 2 Timothy on the one hand and 1 Timothy and Titus on the other hand, Jerome Murphy-OʼConnor and Michael Prior presented an alternative solution concerning the relationship of the three letters. Murphy-OʼConnor argues that the author of 2 Timothy can not be the same as of 1 Timothy and Titus because of major differences in style.32 According to Mur27 This formulation takes up the characteristic of precise data in literary forgery given by Speyer, Fälschung, 82: »je genauer die Angaben desto falscher sind sie.« See also Trummer, Corpus, 129, for the special profile of 2 Tim: the letter shows that »eine sich als legitim verstehende[.] kirchliche[.] Pseudepigraphie« reached its limits. »Dies gilt sowohl hinsichtlich der zeitlichen wie sachlichen Entwicklung, aber auch der literarischen Durchführung: Sie treiben die Fiktion und literarische Form bis ins äußerste, sie betreiben ›totale Pseudepigraphie‹ und sind wohl überhaupt das ›Kabinettstück‹ einer ntl Pseudepigraphie.« The term »totale Pseudepigraphie« was coined by Deissmann, Licht, 74–75; the term »Kabinettstück« by Brox, Verfasserangaben, 24. 28 Cf. Looks, Rezeption, esp. 77–129, who tries to prove a broad reception of the Pastoral Epistles very early in the second century. See also Knight, Commentary, 50–52. At least, Looks is aware of the fact that his thorough analysis brings up no case in which one could be absolutely sure (ibid., 122). Cf. also Barnett, Paul, 104: »no convincing traces«. 29  Trummer, Corpus, 127. 30  Oberlinner, 1 Tim, XXVII. See also Wolter, Pastoralbriefe, 19, who stresses the analogies of ancient letter collections; Roloff, 1 Tim, 44; von Lips, Sprachschöpfung, 63–64. 31 See Gese, Vermächtnis. 32  Murphy-O’Connor, 2 Timothy. On the contrary, von Lips, Sprachschöpfung, 64, could

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

phy-OʼConnor and also Prior, 2 Timothy may be authentic, whereas 1 Timothy and Titus are pseudonymous.33 The stylistic features of 2 Timothy point to its character as a private letter; it addresses a single person, an assistant of Paul, and it is highly personal as if written by Paul himself (without a secretary).34 Under different presuppositions, William A. Richards reaches similar conclusions in his analysis of the Pastoral Epistles.35 He argues that they are three distinct writings by different authors at different times: an »elder« writes to »Titus« between 70 and 80 C. E., a »pastor« writes 2 Timothy to »the beloved Timothy« between 90 and 95, and finally, a »teacher« writes 1 Timothy to »Timothy, the true« in the second century.36 Although assuming pseudonymity, Richards calls the letters »authentic,« because they deal with authentic circumstances.37 Richards comes to the conclusion that 1 Timothy depends on Titus and 2 Timothy. In my view, this differentiation – which after all goes back to Schleiermacher and de Wette38 – is the most promising perspective to reveal the »mystery« of the Pastoral Epistles. Over against Richards, I might add that taking the three letters separately provides new aspects to a differentiated view on authenticity, which in spite of the usual hesitation in critical scholarship deserve serious consideration. A new look at the Pastoral Epistles has to start out from the content of each letter. This essay seeks to establish such a differentiation with regard to one aspect of the important issue of ecclesiology. Yet, it is only under the presupposition of a Corpus pastorale that we are able to ask for the ecclesiology of the Pastoral Epistles. A close examination of some characteristics of these letters discloses that the issues are rather multilayered and at least more complex as scholars usually take into account. I will demonstrate this complexity by examining the common argument that the »House of God« forms the »center« of the Pastoralsʼ ecclesiology.

argue that the three letters »sich zu einem wohl konzipierten Ganzen zusammenfügen,« particularly because of their specific characteristics; see also Oberlinner, 1 Tim, 4; Weiser, 2 Tim, 29. 33  Prior, Paul, 84.89–90, arguing with the old but unlikely hypothesis of a release of Paul from the first imprisonment in Rome and another period of missionary activity; see already Harnack, Untersuchungen, 72. For the problem and its history see Wander, Spanien, esp. 177–187, and Löhr, Paulus-Notiz, esp. 206–212. 34  Like Prior, also Brown, Introduction, 640, states that »it is not inconceivable that II Tim was written first (perhaps by Paul) and that after his death an unknown writer composed Titus and I Tim, imitating the style of II Tim in order to deal with issues of church structure that had now become acute.« Yet he adds: »In short, any order of composition is possible« (which is in fact true with regard to the numerous propositions in scholarship, see also above note 15). Brown, by supposing the order 2 Tim – Tit/1 Tim, finally comes to the conclusion that each letter was written pseudonymously in a different situation reacting on different actual problems (a. a. O., 669.675). Against Prior see Weiser, Rezension; idem, 2 Tim, 56. 35  Richards, Difference. 36  Ibid., 238–239. 37  Ibid., 241. 38  See above.



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2.  Recent approaches to the topic of the »House of God« First of all, it is important to note that the lexeme οἶκος θεοῦ »House of God« appears only once within the Pastoral Epistles in 1 Tim 3:15. Despite its singularity, scholars have chosen this lexeme as a general characteristic of the Pastoralsʼ ecclesiology. I will explain the problem by presenting some characteristic positions. For example, in 2001 David Horrell published an article entitled: »From ἀδελφοί, to οἶκος θεοῦ: Social Transformation in Pauline Christianity.« Assuming the unity of the Corpus pastorale, Horrell proposed a significant change within Pauline ecclesiology, »from the model of an egalitarian community of ἀδελφοί, toward the model of a hierarchical household-community, a community with masters and subordinates, structured according to the relative positions of different social groups […] In Weberian terms, we move from a charismatic form of domination toward a traditional form.«39 This thesis takes not only the Pastoral Epistles as a unit (as most scholars do); it also assumes – as already Ernst Käsemann suggested in 194940 – that a charismatic profile of the church represents the typical pattern of Pauline ecclesiology. Yet, we find clear indications for a charismatic community only with regard to the Corinthian congregation. By mentioning »bishops and deacons« (Phil 1:1), the letter to the Philippians at least indicates that a Pauline congregation at an earlier time – to which Paul had perhaps the closest relation (cf. Phil 4)  – could have a very different and probably even »hierarchical« structure.41 Thus, the Corinthian situation was by no means per se representative for Pauline Christianity.42 Not to speak of the problems Paul had to address regarding the charismatic attitude in Corinth. In his Corinthian correspondence Paul pleaded for an adjustment to certain social structures and to the appreciation of apostolic authority as he was concerned about the impressions outsiders would get of an »untidy« Christian community.43 In German speaking scholarship, Jürgen Roloffʼs book on the Kirche im Neuen Testament has been most influential for the discourse on Pauline ecclesiology. Being also one of the major interpreters of the Pastoral Epistles,44 Roloff deals with them under the headline »Gottes geordnetes Hauswesen«45 (Godʼs settled household), stating: »Das Bild des Hauses, die zentrale ekklesiologische Metapher der Pastoralbriefe, hat nicht das Haus als Bauwerk, sondern vielmehr als gegliederte und nach bestimmten Regeln geordnete soziale Grundstruktur im Blick.«46 39  Horrell, Transformation. For an overview of the English speaking scholarship cf. also Harding, Epistles, 50–54. 40  Though with regard to a Gnostic background of the heresy, K äsemann, Amt, esp. 74–77. Cf. also Schlier, Ordnung. For an overview see Marshall, Commentary, 512–518. 41  With regard to a Christian community, however, the use of »bishops« and »deacons« does not necessarily implicate a hierarchical structure in terms of an authoritarian leadership. 42  On this issue see Fung, Ministry. 43 Cf. van Unnik, Rücksicht. 44  Cf. particularly his commentary on 1 Tim. 45  Roloff, Kirche, 250. 46  Ibid., 254.

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He further argues that »house« as the central ecclesiological metaphor implies that the church has already become an institution, solidly grounded in the truth (1 Tim 3:15).47 Whereas Ian Howard Marshall carefully limits the significance of 1 Tim 3:15 to 1 Timothy itself,48 Roloff understands the verse as the theological center not only of 1 Timothy, but of all the Pastorals.49 At this point, a brief examination of the text of 1 Tim 3:15 is necessary, although this article can not present a complete picture of all the ecclesiological aspects in 1 Timothy. After assessing the meaning of 1 Tim 3:15 in the context of the letter, I will explore whether the same meaning of οἶκος θεοῦ is also relevant for Titus and 2 Timothy and thus for the Pastoral Epistles as a whole.

3.  The ecclesiological metaphor in 1 Timothy 3:15 I have already mentioned that 1 Tim 3:15 is the only verse in the Pastoral Epistles, in which the lexeme οἶκος θεοῦ appears. After giving instructions for the social behaviour and the virtues of the bishop (singular!) and the deacons (plural!) – or rather »supervisor« (ἐπισκοπος) and »helpers«50 (διάκονοι) – in 1 Tim 3:1–13, the author constructs a situation of Paul being possibly late (3:14–5) and thus giving instructions to Timothy for appropriate behaviour in the congregation.51 With regard to the context, it is obvious that the ταῦτα at the beginning of v. 14 does not only refer to the behaviour of the church leader, but reaches back at least to 2:8 and thus includes also the instructions to other social groups.52 Yet, appropriate behaviour and the virtues of leaders are fundamental issues in 1 Timothy and they seemingly do not fit to such a simple concern like being late with trav-

47 

Ibid., 259. Marshall, Commentary, 498. 49  Roloff, 1 Tim, 190. See also idem, Pfeiler. See further Verner, Household. Verner holds that the Pastoral Epistles present a »coherent concept of the church as the household of God« (ibid., 1). Similarly and most recently  – with a meaningful title  – Fatum, Christ Domesticated, who uncritically relies on the established household theory and regards this as a strategic move in order to assimilate Christian communities to Roman society, though with specific interest in »the construction of gender through the re-sexualization of women in the Pastorals« (ibid., 204). Interestingly, Marshall notes that Margaret Davies in her 1996 book on the Pastoral Epistles does not discuss the issue of the church at all (cf. Davies, Epistles). In her PhD thesis, Ulrike Wagener takes Roloffʼs thesis as a starting point for her feminist sociological study on the ecclesiology of the Pastoral Epistles, and does not, however, analyse 1 Tim 3:15 (Wagener, Ordnungen, 1–2). 50  This terminology is preferred by Johnson, First and Second Letters, 212–237. 51  Assuming Pauline authorship of 1 Tim, Johnson states: »The judgement that this is all a fictional representation must deal with the fact that both the words and the modus operandi are recognizable Pauline« (ibid., 230). This is true, of course, but getting close to the masterʼs style is also a major characteristic of accepted school pseudepigraphy. 52  ταῦτα has to be understood as anaphoric pronoun, see Marshall, Commentary, 505, who even extends the reference of ταῦτα to the whole letter. Holtzmann, Pastoralbriefe, 323, relates it to the instruction from 2:1 onwards. 48 

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elling. This is not just »clumsy style«, as Marshall states.53 The note on travelling in this specific form and intention can be seen as typical for a pseudepigraphical letter style,54 which seeks to vivify the authorʼs main concern about the congregation as the »House of God.« The congregationʼs strength is fundamentally based on the appropriate behaviour of its members as well as on the virtues of its leaders, who shall not discredit the congregationʼs integrity and thus the truth of faith while the apostle remains absent. Although 1 Timothy clearly distinguishes the single ἐπισκοπος (3:1–2) from the group of the διάκονοι (3:8), the letter does not seek to establish a certain hierarchy in the community.55 Instead, the way the author speaks about these offices suggests that they are already established and structured. The problem is rather to find qualified persons in order to fill these positions. There is already an ἐπισκοπή, to »strive after« (3:1), as »the sentence supposes that the position is attainable through some process other than direct divine appointment.«56 The same applies to the deaconʼs office addressed in 3:8–13. Accordingly, in 1 Timothy we find no instruction to appoint leaders in the congregation like in Tit 1:5. Instead, the main interest of 1 Timothy and the duty of »Timothy« is not the installation of a hierarchy but to teach »Godʼs economy of salvation« (οἰκονομία θεοῦ ἡ ἐν πίστει) as laid out in 1:3–5. 1 Tim 3:15 refers to this goal with the term ἀλήθεια (»truth«), which shall not be discredited by an inappropriate behaviour of the congregation. Since the congregation is the place where Godʼs οἰκονομία becomes reality in social relations as well as in teaching, this place can certainly be called »House of God« and »a pillar and fortification of the truth« (3:15). Given this particular context, the lexeme οἶκος θεοῦ is not related to a certain structure but to a certain behaviour (πῶς δεῖ ἐν οἴκῳ θεοῦ ἀναστρέφεσθαι), which is identified by reference of ταῦτα in v. 14 with all the instructions for the life of the community (2:8–3:13).57 From this perspective I doubt that the lexeme οἶκος θεοῦ in this particular context functions as a metaphor of the community structured according to ancient household codes and that in this semantic framework the common translation of οἶκος as »household« is appropriate at all.58 In order to justify this translation, Luke T. Johnson, for example, points to the household theme in 1 Tim 3:4, 559 and 12, although he concedes that »the imagery of the temple is not entirely absent in Paulʼs reference to the stylos […].«60 Furthermore, it is not per se plausible to conclude from the instruction how 53 

Marshall, Commentary, 506. Stenger, Timotheus, 255–256; Wolter, Pastoralbriefe, 132; critically Marshall, Commentary, 506. 55  An often used keyword is »monarchischer Episkopat«, see e. g. K äsemann, Amt, 76. 56  Johnson, First and Second Letters, 212. 57  See above note 52. 58  For this understanding see for example Verner, Household; Oberlinner, 1 Tim, 151; Roloff, 1 Tim, 198–199 (»Hauswesen«); Brox, Pastoralbriefe, 157–159; von Lips, Glaube, 143–145 (»Hausgemeinschaft«); Marshall, Commentary, 508. 59  1 Tim 3:5, though, is uncertain. 60  Johnson, First and Second Letters, 231. See also – among others – Brox, Pastoralbriefe, 158. 54 See

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to lead oneʼs own house properly (1 Tim 3:4, 5 and 12) that the lexeme »House of God« in 3:15 also means »household,« especially as this verse identifies the »House of God« with the »congregation of the living God.« In order to understand the lexeme »House of God« properly, it is inevitable to look at the semantic field in which it appears, and thus first of all also to the addition »pillar and fortification of the truth.« The problem is: what is the reference point of this postposition? The lexeme οἶκος θεοῦ or the behaviour of the members of the church? The latter is preferred by Johnson: »It also makes better sense of the metaphorical point: the community is the oikos, and the members should behave so as to be supports and pillars for it.«61 But this is not what the sentence says, for it deals not with supports and pillars for the community but of the truth. Thus, it is the truth of which the community as οἶκος θεοῦ is a »support and pillar«,62 or as I would rather translate »a pillar and fortification.« The church should be like a strong fortress (NRSV: bulwark) where the truth of faith is preserved. The confession formulated in 1 Tim 3:16 finally states what constitutes the truth. Even Roloffʼs understanding of the church as grounded in the truth (see above) is in my view not supported by the text. With regard to the semantic field, I propose that οἶκος θεοῦ primarily evokes the idea of the congregation as Godʼs temple,63 which can also be found elsewhere in early Christian traditions.64 More importantly, in the Old Testament the expression οἶκος θεοῦ is the most common term to describe the real temple.65 In early Jewish traditions, for example in Qumran, either temple or »House of God« serve as a metaphor for Godʼs community.66 Paul himself uses the metaphor of the church as the temple of God (1 Cor 3:16–7; 2 Cor 6:16; see also 1 Cor 6:19 and 2 Thess 2:4) 61 

Johnson, First and Second Letters, 231. also Marshall, Commentary, 510. Thus, in 1 Tim 3:15 the term στῦλος is used differently to Gal 2:9 (against Johnson, First and Second Letters, 232–233). 63 See Marshall, Commentary, 509, 515. 64  See Heb 3:6, 10:21; 1 Peter 2:5, 4:17; cf. also Eph 2:21. 65  See for example Gen 28:17 (from Bethel); Ex 23:19, 34:26; Deut 23:19; Jos 9:23 (including the congregation); 1 Kings 5:17–19, 8:17–20; 1 Chr 9:27; 22; 28; Esr 1–10; Neh 1–13; Ps 42:5, 52:10, 55,15, 84:11, 92:14, 135:2; Jes 2:3; Jer 35:4; Ez 10:19; 11:1, 5; Dan 1:2, 5:3; Joel 1:13–16; Mi 4:2; Hag 1:14; Tob 14:7; Bar 3:24; Mark 2:26; Luke 6:4. Marshall, Commentary, 508, argues that »the shape of ethical thought in 1 Tim speaks against« the temple imagery which thus cannot be »the dominant thought.« Also Towner, Letters, 273, claims that οἶκος in 1 Tim 3:15 does not refer to the temple-motif. Neither Marshall nor Towner recognise the strong semantic field of the lexeme οἶκος θεοῦ with regard to the Septuagint, which – especially if one claims Paul to be the author of 1 Tim as Towner does – cannot be neglected here. 66  For Qumran see 1QRule of the Community 5:5–6, where the metaphor of the house is connected to the foundation of the truth: »Instead he should circumcise in the Community the foreskin of his tendency and of his stiff neck in order to lay a foundation of truth (‫ )מוסד אמת‬for Israel, for the Community of the eternal covenant. They should make atonement for all who freely volunteer for holiness in Aaron and for the house of truth (‫ )בית האמת‬in Israel and for those who join them for community […]« (transl. Martínez/Tigchelaar, Dead Sea Scrolls, 81); see further 1QRule of the Community 8:9, 9:3–8. See also Gärtner, Temple, 66, on 1 Tim 3:15: »a text reminiscent in certain of its forms of expressions of Qumran ideology […]«; Klinzing, Umdeutung, esp. 50–52; Schiffman, Community. 62  See

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in order to admonish the Christians to behave appropriately.67 Paul could also call the members of the church as οἰκεῖοι τῆς πίστεως (Gal 6:10, cf. Eph 2:19: οἰκεῖοι τοῦ θεοῦ). Accordingly, 1 Tim 3:15 parallels the οἶκος θεοῦ with the ἐκκλησία θεοῦ ζῶντος (cf. 2 Cor 6:16: »for we are the temple of the living God«).68 It is highly plausible that the pseudonymous author of 1 Timothy deliberately preferred the term »house« instead of »temple«, because it would better fit his purpose to include this Pauline idea into his concern of the οἰκονομία θεοῦ (1 Tim 1:5).69 In this perspective, the congregation represents the house of God – a new kind of spiritual temple, which should be solid and strong, a fortification to preserve and keep the truth of the faith,70 that is, the mystery of godliness exposed as a confession in the last verse of the chapter (3:16).

4.  Ecclesiological patterns in Titus and 2 Timothy How does this understanding of the »House of God« in 1 Timothy relate to the other two letters? I start with the letter to Titus because most scholars see its intention closely related to 1 Timothy. Whereas in 1 Timothy ecclesiology is indeed an important issue, the letter to Titus conveys a completely different picture. As to ecclesiology, there is only one short passage in Tit 1:5–9 about the appointment of presbyters and supervisors by Titus in Crete. Contrary to 1 Timothy, the author of Titus does not differentiate between πρεσβύτερος and ἐπίσκοπος, because the introduction of the ἐπίσκοπος in Tit 1:7 is in fact an explanatory extension to the list of virtues a leading presbyter generally should have. Thus, ἐπίσκοπος serves as another term for πρεσβύτερος, and the singular form ἐπίσκοπος refers to each single person of the same group of leading people (πρεσβύτεροι). One of their major characteristics mentioned in Tit 1:7 is the Pauline idea of a person in charge as οἰκονόμος θεοῦ (»Godʼs steward«), a term Paul uses in 1 Cor 4:1 in order to characterize himself and Apollos as deacons of the Corinthian community  – without implying a hierarchical structure. Some would further argue that also in Tit 2:1–10 ecclesiology is a main issue, but here the author deals primarily with the behaviour of the young and old people, thus with the relations between the generations. At the same argumentative level, the last admonition to the slaves (Tit 2:9–10) indicates that the author focuses on social relations rather than on ecclesiological hierarchies, though social problems could have ecclesiological consequences, indeed. Thus, I suggest that the social 67 See

Böttrich, Tempel. Roloff, 1 Tim, 198, assumes that the author used 2 Cor 6:16 as a »Vorlage.« 69 See Gärtner, Temple, 68. This has a strong equivalent in Eph 2:19–21, where also household imagery is linked with the idea of the congregation as Godʼs temple, see ibid., 60–66; Gese, Vermächtnis, 195–206. 70 See Marshall, Commentary, 511, who rightly refers to the difference to the θεμέλιος-imagery in 1 Cor 3:11 and Eph 2:20. 68 

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setting proposed and described in Tit 1–2 as well as its assumed ecclesiology differ considerably from 1 Timothy. From this perspective, it is not by accident that the metaphor »House of God« as a solid fortification of the truth does not appear in the letter of Titus. The next step would be to ask for ecclesiological terminology or patterns in 2 Timothy. It is broadly accepted in scholarship that the genre of 2 Timothy is unique within the pastoral corpus. 1 Timothy and Titus are mostly identified as so called mandata principis letters,71 whereas 2 Timothy is usually characterized as testamentum.72 While this difference in genre might not be a strong argument for the distinctiveness of 2 Timothy, it is interesting that in 2 Tim 2:20 the author also uses the metaphor »house« in order to describe a certain reality in the life of the community. Therefore, the conclusion seems likely that even though being of different genre, 2 Timothy attests to the same ecclesiological pattern as 1 Timothy. A closer look, however, reveals a different terminology in the two letters. Instead of the term οἶκος in 1 Tim 3:15, the author of 2 Timothy uses οἰκία. Scholars who presuppose the unity of the pastoral corpus may consider the difference as irrelevant and thus propose the same meaning for οἰκία in 2 Tim 2:20 and οἶκος θεοῦ in 1 Tim 3:15. Even Johnson, who pleads for the authenticity of the Pastorals and assumes different settings, explains 2 Tim 2:20 with regard to 1 Tim 3:15: »this ›great house‹ is, in fact, the oikos theou that is the living Temple of God.«73 However, this connection is not as natural as it seems. It would not only suppose the unity of the Pastoral Epistles at least in terms of authorship, but even if one would agree it also assumes a semantic synonymy between οἰκία and οἶκος θεοῦ, and most importantly that the reader would think of the same idea in both cases. Since the lexicographic significance of both terms may be relatively open,74 the addition θεοῦ as a genitivus subjectivus to οἶκος establishes a clear semantic notion of οἶκος, which cannot be claimed for οἰκία in 2 Tim 2:20. As I have argued, οἶκος θεοῦ primarily evokes the notion of the temple as the »House of God« represented by the community of believers.75 This does certainly not work for the term οἰκία, especially as the gen71 See Wolter, Pastoralbriefe, 164–165; Johnson, First and Second Letters, 139–140. Johnson refers to the Tebtunis Payprus no. 703 of the 3rd cent. B. C. E., which contains orders of an Egyptian official, but see the substantial critique of Mitchell, Genre. Mitchell rightly states that P.Tebt. III 703 is not a letter but a memorandum and therefore the identification as a mandata principis letter by Johnson cannot be confirmed and does not help to interpret the Pastoral Epistles, cf. also Wolter, Pastoralbriefe, 163.169–170. However, Mitchell does not provide an own proposal for the determination of the genre of 1 Tim; instead she holds (a. a. O., 344): »[…] the Pastorals are an odd mix of the personal and the public, of church order and personal exhortation, of instruction and command, of the particular and the general.« See also Herzer, Papyri (in this volume 99–124). 72  Weiser, Freundschaftsbrief, and Weiserʼs Introduction to 2 Tim in idem, 2 Tim. Wolter, Pastoralbriefe, 222–223, calls 2 Tim a »testamentarische Mahnrede«, cf. also Oberlinner, 2 Tim, 2. K äsemann, Amt, 76, argued that 2 Timothy is said to be a testamentum, but is »in Wahrheit ein Bischofsspiegel.« See also Martin, Pauli Testamentum. 73  Johnson, First and Second Letters, 388. See also Gärtner, Temple, 71. 74 See Danker, Lexicon, s. v. οἶκος and οἰκία. 75  Whereas in the Septuagint οἶκος θεοῦ always refers to the temple of God (see above with



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itive θεοῦ is missing.76 Moreover, 2 Tim 2:20 does not address the issue of right behaviour in the same way like 1 Timothy. The οἰκία with its various vessels being of different material serves as an illustration of the argument that not everyone in the congregation contributes positively to its growth (cf. 3:16–19) – it is not a metaphor identifying the church as οἶκος θεοῦ. The context of 2 Tim 2 focuses on two persons, Hymenaios and Philetos, who claim that the resurrection already happened (2:17–18) and thus disturb the faith of many. Introducing the different vessels used in a household, the author equates those two persons with vessels of shame and instructs others implicitly to cleanse themselves from such vessels, which means to exclude them from the community (cf. 1 Cor 5:7 with the same word ἐκκαθαρεῖν). Thus, in 2 Timothy the illustrating metaphor οἰκία serves a different purpose as the theological motif of the οἶκος θεοῦ in 1 Timothy, and it implies a different idea.

5.  Conclusion: A new perspective on the interpretation of the Pastoral Epistles The οἶκος/οἰκία-motif is only one aspect, but its analysis may indicate certain implications for an appropriate understanding of the Pastoral Epistles. It is not possible to assume a coherent ecclesiological pattern pertaining to all of the Pastoral Epistles on the basis of one single reference to the lexeme »House of God« in 1 Timothy. Proposing the »House of God« as the central ecclesiological metaphor of the Pastoral Epistles would not only need the assumption of their unity. It would also neglect and level out the specific profile of each letter. If my reading of the different ecclesiological terminologies and ideas is correct, there are clear indications that 1 Timothy relies on the other two letters77 and represents exactly the late situation of an already established congregation, which most scholars propose for all letters. In short, I would argue that the pseudonymous writer of 1 Timothy took the term οἰκία from 2 Timothy and linked it in a more general sense to other motifs taken from Titus. He also relates to the Pauline temple imagery in order to confirm a situation which already existed – a situation of a community struggling for the preservation of the truth in view of a new uprising movement called »Gnosis« (6:20). The distinction between Titus and 2 Timothy on the one hand and 1 Timothy on the other even allows considering anew the Gnosis-theory brought up by Baur,78 because it avoids the problems regarding the identification of the opponents which appear when the note 65), the term οἰκία exclusively relates to the household as a functional unit and is never used to translate words related to the temple or the house of God. 76  1 Tim 3:15 deals with the strength and solidness of the οἶκος. With regard to 2 Tim 2:20, Johnson relates the term θεμέλιος in v. 19 to the foundation of the οἰκία: »It simply has a foundation (themelios) with an inscription (sphragis), and within are various vessels« (Johnson, First and Second Letters, 387). This, however, is not supported by the text, because v. 19 is not directly related to the metaphor in v. 20. 77  See above. 78  See above.

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Gnosis-theory is applied to all three letters. Thus, the assumed order of the letters would be Titus, 2 Timothy, and – in a longer distance – 1 Timothy, as similarly Richards has suggested though with conclusions I would hesitate to follow.79 1 Timothy might then even be dated into the second century. In my interpretation of the Pastoral Epistles, I propose to suspend the scholarly consensus of their unity, and I hold that from this perspective we can reach a more appropriate understanding of these three small letters within the Pauline tradition, their social setting, and theological profile. What I have presented briefly in this article on ecclesiology is just one aspect which might illustrate my intention. There are, of course, many more. In order to maintain the assumption of a Corpus pastorale, it would not only be necessary to establish any possible reason for writing three similar letters – and the solutions for this are speculative enough and even occasionally contradict each other. In terms of reader-response criticism it must also become plausible how the reception of such a letter collection could have functioned the way it is supposed in modern scholarship. What was the intended order to read them?80 Was it possible and is it plausible to assume that ancient readers, who most certainly regarded these letters as authentic, would have been able to identify the ecclesiology, the Christology, the ethics of the three letters by collecting evidence back and forth and across the three letters as practiced in modern scholarly research? Is it plausible that these writings, which basically differ from the original Paul with regard to style and content as modern scholarship claims, could have been recognized as genuine Pauline by the original addressees, who possibly held other Pauline writings in hand? And last not least, would the original addressees have been able to recognize their own situation and problems within a corpus of letters, in which each letter assumes a different situation and addresses different problems, not to speak of the different locations of Ephesus and Crete? From all we know about ancient pseud­epigraphy we should be more skeptical about the common theories. The research on pseudepigraphy in Antiquity has to be more differentiated than it has been in New Testament scholarship so far. In particular, more attention should be paid to the difference of accepted pseudepigraphy within the context of a so called »school« and of a type of pseudepigraphy that must be identified as forgery – including the consequences this had even in Antiquity.81 In doing so, one would gain a more appropriate picture of the history and intention of the three letters, and one may also be able to deal anew and differently with the issue 79 

Richards, Difference, and also above note 15. This is perhaps the most difficult issue within scholarship, for even a single interpreter could suggest more than one order (see above note 15). 81  The important work of Speyer, Fälschung, was explicitly a first »attempt« to elaborate different types of pseudonymity and pseudepigraphy in Late Antiquity. Despite the honourable merits particularly of N. Brox in his various publications on this issue (see for example Brox, Verfasserangaben; idem, Problemstand), Speyerʼs research has not yet been sufficiently evaluated for the study of the New Testament. Instead, Broxʼ reception of Speyerʼs results has been the main reference for New Testament Scholarship. For a first but still not sufficient attempt to go further regarding this issue see for example Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule. 80 

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of authenticity, especially regarding 2 Timothy and Titus. Giving up the »dogma« of the literary unity of the Pastoral Epistles may even enable us to reconsider the issue of (probably partial) authenticity as well as pseudonymity in more detail. In order to clarify this last point: It is neither possible nor reasonable to claim authenticity for all three of the Pastoral Epistles in general as recently Johnson or Towner did, just as it is not reasonable to generally claim pseudonymity of a threefold Corpus pastorale. Assuming authenticity would, in fact, allow recognizing each letter as »independent literary entity.«82 Yet, as the interpretation of 1 Tim 3:15 and 2 Tim 2:20 by Johnson and Towner particularly shows, it would necessarily suppose more or less coherent ideas on similar issues because of the assumption of Paul as the single author of all three letters.83 It does also raise several other problems, and would therefore be a misleading alternative to the general assumption of the pseudonymity of the letter corpus.84 Thus, what I am suggesting is that even by supposing pseudonymity we are able to better understand the Pastoral Epistles if we receive them as distinct writings that are related to each other, but differ in their theological, historical, and social setting. Yet, I would even go beyond this. Supposing the legitimacy of the assumption of pseudonymity with regard to these letters would even allow reconsidering the issue of authenticity. Following this new – and old – methodologically differentiated perspective, it would now be the time to search more carefully for a new description of the inner relations between the Pastoral Epistles.85

Literatur Barnett, Albert E., Paul Becomes a Literary Influence, Chicago 1941. Bauer, Bruno, Kritik der paulinischen Briefe (1850–1852), Nachdruck Aalen 1972. Baum, Armin Daniel, Pseudepigraphie und literarische Fälschung im frühen Christentum. Mit ausgewählten Quellentexten samt deutscher Übersetzung (WUNT II/138), Tübingen 2001. Baumgarten, Michael, Die Aechtheit der Pastoralbriefe, mit besonderer Rücksicht auf den neuesten Angriff von Herrn Dr. Baur, Berlin 1837. Baur, Ferdinand Christian, Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostels Paulus aufs neue kritisch untersucht, Stuttgart/Tübingen 1835. –, Abgenöthigte Erklärung gegen einen Artikel der evangelischen Kirchenzeitung, herausgegeben von D. E. W. Hengstenberg, Prof. der Theol. an der Universität zu Berlin. Mai 1836, in: Ders. (Hg.), Historisch-kritische Untersuchungen zum Neuen Testament. Mit einer Einführung von Ernst Käsemann. (hg. von K. Scholder) (Ferdinand Christian Baur – Ausgewählte Werke in Einzelausgaben 1), Stuttgart/Bad Cannstatt 1963, 267–320 (= TZTh 1836, 179–232). 82 

Towner, Letters, 88. See also ibid., 53–68, although after all pointing out the awareness of the problem. 84  Thus I hold that the same applies to recent attempts to deny pseudepigraphy in the New Testament in general such as, e. g., Baum, Pseudepigraphie, or Wilder, Pseudonymity. 85  Manuscript finished in September 2006. 83 

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Juden – Christen – Gnostiker Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe 1. Vorüberlegungen »Man muss ihnen das Maul stopfen« – so lautet ein Spitzensatz der Gegnerpolemik im Titusbrief (Tit 1,10 f.). Der scharfe Ton der Pastoralbriefe in der Auseinandersetzung um die Bewahrung der »gesunden Lehre« ist immer wieder aufgefallen und als ein charakteristischer Unterschied zu Paulus benannt worden. Mit den Gegnern werde keine argumentative Auseinandersetzung mehr geführt, sondern jede Diskussion abgelehnt, weil das ohnehin keinen Sinn habe. Christentum und Judentum seien längst keine realen Alternativen mehr, vielmehr spiegele die Polemik bereits frühgnostische Tendenzen, die eigene, vom »traditionell« sich paulinisch verstehenden Christentum abweichende Lehren entwickeln, von denen man sich abgrenzen müsse. »Verhärtung der Fronten« könnte man diesen Zustand nennen. Doch um welche »Fronten« geht es hier eigentlich? Durch welche konkreten Positionen zeichnen sich die abgewiesenen Lehren aus und welchem geistesgeschichtlichen »Milieu« sind sie zuzuordnen? Was lässt sich über das Verhältnis zwischen Juden, Christen oder eben auch bereits gnostischen Strömungen im Spiegel der in den Pastoralbriefen erkennbaren Auseinandersetzungen sagen? Um diese Fragen soll es im Folgenden gehen. Dass die Problematik einer nur indirekt möglichen Erschließung gegnerischer Positionen durch den polemischen Charakter vieler Äußerungen verschärft wird, liegt auf der Hand und muss in methodischer Hinsicht Anlass zu vorsichtigem und differenziertem Vorgehen sein.1 Dies ist auch angesichts der offensichtlichen Tatsache geboten, dass die Aussagen der Gegnerpolemik kein klares Bild erkennen lassen. Setzt man die allgemein anerkannte pseudepigraphische Abfassung der Pastoralbriefe als ein aus drei Briefen bestehendes, einheitlich konzipiertes Corpus pastorale2 voraus, ist darüber hinaus zu erwägen, in welchem Maße die Fiktion auch die Gegnercharakteristik betrifft,3 wenn nicht nur der Verfassername, sondern auch die Adressaten Timotheus und Titus als literarisch-fiktive Angaben anzusehen sind, die zur »Paulusfiktion« gehören und dem speziellen Anliegen der Pastoralbriefe 1 

Vgl. dazu Wolter, Pastoralbriefe, 256–270. Vgl. exemplarisch Roloff, 1 Tim, 41–46; zur Theorie eines einheitlich konzipierten Corpus pastorale Trummer, Corpus. Dieser Grundkonsens wird gegenwärtig in unterschiedlicher Weise infrage gestellt, vgl. z. B. Prior, Paul; Murphy-O’Connor, 2 Timothy; Richards, Difference; Herzer, Abschied (in diesem Band 11–30); sowie ausführlich Engelmann, Untersuchungen. 3 Vgl. Bauer, Rechtgläubigkeit, 92 f. 2 

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

dienen.4 Das bedeutet, dass für die Bestimmung gegnerischer Positionen stets auch die pragmatische Funktion der entsprechenden Aussagen in den Pastoralbriefen präzise erhoben und zu den perspektivischen Voraussetzungen der jeweiligen Interpretation ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Sind die in den Pastoralbriefen angedeuteten Positionen reale Gegebenheiten, mit denen sich der Autor zusammen mit seinen Adressaten konfrontiert sieht oder ist die Polemik topisch, unter dem Vorzeichen der Fiktion nur auf literarischer Ebene zu interpretieren und dient lediglich dem Anliegen, das Festhalten an der eigenen Lehre umso klarer herauszustellen, ganz gleich was andere mit »unnützem Geschwätz« (1 Tim 1,6) anrichten? Handelt es sich im Fall realer Gegner um unterschiedlich profilierte Gruppen oder ist eine einheitliche Gegnerschaft vorauszusetzen? Selbst die Feststellung topischer Aussagen, die sich in unterschiedlichen Kontexten antiker Literatur in vergleichbarer Weise verifizieren lassen,5 spricht nicht notwendigerweise dagegen, dass mit solcher Polemik auch reale Gegner getroffen werden sollten. Auch eine authentische Polemik kann – gerade weil ihr nicht an einer inhaltlichen Auseinandersetzung gelegen ist – topische Elemente oder allgemeine Stereotype benutzen, um nicht die konkreten Positionen der (bekannten) Gegner über Gebühr durch ausführliche Darstellung zu »würdigen«. Die methodischen Probleme, die durch diese Überlegungen angerissen sind, drücken sich in den stark differierenden Beschreibungen der vermuteten gegnerischen Positionen aus. Unter der sehr breit in der Forschung anerkannten Voraussetzung eines einheitlichen fiktiven Abfassungskonzeptes des Corpus pastorale wird zumeist auch ein einheitliches Gegnerprofil angenommen. Die inhaltlichen Aspekte werden in der Regel durch eine Kombination von Aussagen aus den drei Briefen zu einer mehr oder weniger konkreten Charakteristik zusammengefügt. Je nach Gewichtung bestimmter Elemente fallen diese Beschreibungen unterschiedlich aus: War man im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck der Gnosis-Aussage von 1 Tim 6,20 noch von einer der marcionitischen Gnosis nahe stehenden Gruppe ausgegangen,6 so hat sich seither aufgrund der Kritik an der Gnosistheorie insgesamt auch das Gegnerprofil der Pastoralbriefe verändert. Die Gnosis spielt dabei in abgeschwächter Form immer noch eine Rolle, indem – so die verbreitete Formulierung – von einer »Frühform christlicher Gnosis« gesprochen wird.7 Formulierungen wie der besondere Hinweis auf »die aus der Beschneidung« in Tit 1,10 sind Anlass, der gnostischen Tendenz einen jüdischen bzw. judenchristlichen Anstrich zu verleihen, 4 

Stenger, Timotheus. Wolter, Pastoralbriefe, 138: »traditionelle Topoi der Antisophistenpolemik«. 6 Vgl. Baur, Pastoralbriefe, 10.25, der in den »Antithesen der fälschlich so genannten Gnosis« in 1 Tim 6,20 eine Referenz auf Marcions Werk »Antithesen« gesehen hat. Bauer, Rechtgläubigkeit, 228, verstand die Pastoralbriefe als gegen die Marcioniten gerichteten Versuch, »Paulus unmissverständlich in die antihäretische Front einzugliedern«. 7  Vgl. z. B. Brox, Pastoralbriefe, 38; Haufe, Irrlehre, 332 f.; Roloff, 1 Tim, 42 f.; ders., Kampf, 116 f.; Wolter, Pastoralbriefe, 263–267; Oberlinner, Titus, 64 (mit weiteren Hinweisen); Häfner, Belehrung, 34–41; Weiser, 2 Tim, 62. Söding, Mysterium, 505, nennt die gegnerische Position »im genauen Sinn des Wortes prägnostisch«. 5 

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so dass sich summierende Charakterisierungen wie »judenchristliche Gnostiker«8 oder »judaisierende Gnostiker« finden, die u. a. durch ein »enthusiastisches« Bewusstsein (vgl. etwa 2 Tim 2,18) und spekulativ-allegorische Schriftauslegung (vgl. 1 Tim 3,15 f.) gekennzeichnet seien.9 Dem gegenüber stehen solche Darstellungen, die die jüdische bzw. judenchristliche Prägung der Gegner in den Pastoralbriefen hervorheben, ohne damit Tendenzen gnostischer Art zu verbinden.10 In einer Studie zum Antijudaismus im Titusbrief hat Christine Gerber erneut und zu Recht infrage gestellt, dass die Pastoralbriefe eine einheitliche Gegnerfront erkennen lassen. »Fraglich ist […] prinzipiell, ob man der literarischen Fiktion der Briefe gerecht wird, wenn man, wie in der Auslegung üblich, die kritischen und polemischen Aussagen aus allen drei Briefen addiert und eine gemeinsame gegnerische Front rekonstruiert. Für sich gelesen, lässt Tit die jüdische Prägung der Bekämpften eindeutig erkennen an der Beschreibung als ›die aus der Beschneidung‹ (1,10), die voraussetzt, dass die Kritisierten die Beschneidung für wichtig erachten.«11

Dass sich insbesondere der Titusbrief mit derartigen Aussagen gegen eine Zuordnung der Gegner zu vor- oder frühgnostischen Auffassungen sträubt, liegt auf der Hand. Zugleich macht die Formulierung von Tit 1,10 (μάλιστα οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς) deutlich, dass selbst hier keine einheitliche Gruppe vorausgesetzt ist, sondern diejenigen mit jüdischer Herkunft einen Einfluss ausüben, vor dem man sich in besonderer Weise in Acht nehmen muss. Besonders Vertreter der Echtheit der Pastoralbriefe haben darauf hingewiesen, dass eine plausible Charakteristik einer bekannten Häresie aus den unterschiedlichen Aspekten der drei Briefe nicht gewonnen werden könne. Luke T. Johnson betont zu Recht, dass jedes einzelne Element auch in den anerkannten Paulusbriefen zu finden sei (vgl. 1 Kor 7,1; 8,1–3; 15,17–19; Gal 4,8–10; vgl. auch Kol 2,20–22) bzw. rhetorischer Praxis in der Verwendung von Stereotypen für die Argumentation gegen andere Positionen entspreche.12 Bereits Adolf Harnack hatte das Problem ähnlich beschrieben, kam aber zu anderen, eher vagen Vermutungen: »Die verworrenen Bilder, die man von den Irrlehrern gewinnt, gestatten keine genaueren Ansätze – jeder einzelne Zug ist zur Noth in der Zeit vor 64 unterzubringen –; aber eben die Ver8 

Häfner, Belehrung, 41. Haufe, Irrlehre, 328 f. Weiser, 2 Tim, 62 f., spricht von »judaisierende[n] Tendenzen« »gnostisierende[r] Irrlehrer« in einem insgesamt »heidenchristliche[n] Milieu ›mit judenchristlich grundierter Theologie, in der gleichwohl auch Paulus eine hohe Wertschätzung zuteil wird‹« (Zitat von Merkel, Pastoralbriefe, 13). 10 Vgl. Schlarb, Lehre, 59–141 (judenchristliche Lehrer der paulinischen Mission); Thiessen, Christen, 317–338 (judenchristliche Wandermissionare); Goulder, Wolves, 242–256 (jüdisch-christliche Visionäre); vgl. ferner Müller, Theologiegeschichte, 53–77, der immerhin zwischen judenchristlichen Wandermissionaren und paulinischen Enthusiasten unterscheidet. 11  Gerber, Antijudaismus, 351. 12 Vgl. Johnson, First and Second Letters, 72 f. Vgl. auch – unter Voraussetzung der Pseudonymität  – Söding, Mysterium, 502–504; zum Problem Herzer, Polemik (in diesem Band 341–361). 9 

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worrenheit und die Charakteristik der Irrlehrer von bloßen theologischen Klopffechtern bis hin zu Blasphemischen, von ›Gesetzeslehrern‹ bis zu Auferstehungsleugnern, Äonenlehrern und Dualisten zeigt, dass der Verf. bereits ein buntes Repertoire fataler Erscheinungen vor sich hat, die nicht mehr einzeln durch theologische Beweise, sondern nur generell durch nachdrückliches Betonen der ›gesunden Lehre‹ zu erdrücken sind. Wer möchte einen solchen Zustand vor c. 90 ansetzen?«13

Um ein angemessenes Bild der Gegner und der Auseinandersetzung mit ihnen zu gewinnen, kommt es darauf an, deren in den drei Briefen erkennbares Profil so differenziert wie möglich zu erheben. Der Raumbeschränkung entsprechend wird im Folgenden der Schwerpunkt auf den Titusbrief gelegt, da hier die jüdische Herkunft der Gegner konkret benannt und damit die Frage nach dem Verhältnis zwischen Judentum und Christentum ausdrücklich gestellt ist.

2.  Die Charakteristik der Gegner in den Pastoralbriefen 2.1  Der Titusbrief Die Aussagen über die Gegner im Titusbrief lassen sich klar eingrenzen. Die erste begegnet in 1,10–16, die zweite erst wieder am Ende des Briefes in 3,9–11. 1,10–16 hat durch die einleitende grammatische Konstruktion eine begründende Funktion im Hinblick auf voranstehenden Abschnitt 1,5–9. Dort geht es um den Auftrag des Titus, in den kretischen Gemeinden Älteste einzusetzen, deren wichtigste Aufgabe es ist, auf die »gesunde Lehre« zu achten (V. 9). Die Einsetzung dieser Autoritäten ist notwendig, weil es – so die Fortsetzung in V. 10 – »Schwätzer und Eingebildete« gibt, wobei »die aus der Beschneidung« besonders hervorgehoben werden. Der Begründungszusammenhang zwischen 1,5–9 und 1,10–16 legt nahe, die in V. 10 Genannten mit den in V. 9 als ἀντιλέγοντες bezeichneten Personen zu identifizieren.14 Doch ist damit keineswegs eindeutig bestimmt, ob das Gegnerpro­blem ein rein innergemeindliches bzw. innerpaulinisches15 ist oder ob es vielmehr Einflüsse von außen sind, die in den Hausgemeinden zu negativen Entwicklungen führen.16 Geht es um die Abgrenzung einer christlichen Gemeinde gegenüber dem Judentum und somit um eine antijüdische Polemik17 innerhalb der Gemeinde, oder sind »besonders die aus der Beschneidung« nur ein Faktor, der die Gemeinde aufgrund einer zu bestimmenden Außenrelation in besonderem Maße gefährdet?

13 

Harnack, Geschichte, 481. Oberlinner, Titus, 33 f. 15  Vgl. z. B. Roloff, 1 Tim, 233; Söding, Mysterium, 505: »aus dem Kreis der engagierten Paulusschüler selbst«. 16  Vgl. z. B. Schlarb, Lehre, 140. 17 Vgl. Oberlinner, Titus, 36; anders akzentuiert in ders., Antijudaismus, 290 f.: keine pauschale Ablehnung des Judentums sondern Diskreditierung von Christen wegen ihrer Nähe zum Judentum. Abwegig ist die Unterstellung von Antisemitismus bei Stegemann, Vorurteile. 14 Vgl.



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Erwähnenswert ist der sich zweimal verändernde Duktus der Passage: Nach dem schroffen Beginn (1,10–12) nennt V. 13 f. als Ziel der »scharfen« (ἀποτόμως) Zurechtweisung die Überführung sowie die Heilung des Glaubens derer, die sich von der Wahrheit abgewandt haben.18 Doch der Optimismus hält sich in Grenzen, denn in V. 15 f. fällt der Ton wieder in eine Beschimpfung zurück, die kaum Hoffnung auf Besserung zulässt. Der Hauptteil des Briefes 2,1–3,8 wird unter diesen Vorzeichen zu einer Ermahnung, durch die sich Titus und die mit ihm angesprochenen Gemeinden positiv von den »Schwätzern und Eingebildeten« abheben sollen, die »abscheulich sind und ungehorsam und unfähig zu irgendeinem guten Werk« (1,16). Erst in 3,9–11 wird das Thema erneut aufgegriffen, jedoch ohne schroffe Polemik, sondern um in einem eher resignierten Tonfall die Selbstverurteilung der Uneinsichtigen zu konstatieren (3,11). Doch steht auch hier grundsätzlich als Ziel die (Wieder-)Gewinnung des αἱρετικὸς ἄνθρωπος im Vordergrund (3,10).19 Welche Charakteristik der Gegner wird daran erkennbar? Im Unterschied zum 1. und 2. Timotheusbrief ist auffällig, dass im Titusbrief keine konkreten Namen genannt werden, die zu den πολλοί von 1,10 gehören würden.20 Ein erstes Merkmal ist die fehlende Bereitschaft zur Unterordnung (ἀνυπότακτοι), eine recht pauschale Behauptung, von der im Folgenden deutlich wird, dass sie sich primär im Hang zum fruchtlosen Disput äußert. Die zugeordneten Begriffe ματαιολόγοι und φρεναπάται benennen daher nicht von den ἀνυπότακτοι zu unterscheidende Personen, sondern charakterisieren die Ausdrucksformen des Ungehorsams: Durch leeres, nutzloses (μάταιος) Geschwätz und unangemessene Selbstein- bzw. -überschätzung (φρεναπάται  – »seinen eigenen Sinn [φρήν] täuschend [ἀπατεῖν]«; vgl. Gal 6,3) verwirren sie »ganze Häuser«, d. h. sie suchen mit ihren Absichten bewusst eine größere Öffentlichkeit in den betroffenen Hausgemeinden. Gegenstand der Verwirrung ist offenbar eine von der in 1,9 benannten »gesunden Belehrung« abweichende Lehre (διδάσκοντες), deren »nichtiger« Inhalt des Referierens nicht wert ist, außer der Bemerkung, dass »es nicht sein darf« (ἃ μὴ δεῖ)21. Daher ist diesen Leuten  – anschaulicher geht es kaum  – »das Maul zu stopfen« (ἐπιστομίζειν), um ihrem Treiben ein Ende zu setzen. Der Schluss des Verses nennt ein Motiv: »schändlicher Gewinn«, der sowohl materiell als auch ideell im Sinne 18  ἀποτόμως κτλ. findet sich auch sonst bei Paulus in Sinne des harten, kompromisslosen Vorgehens gegen Kontrahenten (vgl. 2 Kor 13,10). In Röm 11,22 begegnet das Nomen ἀποτομία in Bezug auf Gottes richterlichem Handeln. Im Hintergrund steht der weisheitliche Topos von Gottes strengem Zorn gegen die Frevler (vgl. Weish 5,20–22; 6,5; 11,10; 12,9; 18,15). 19  Tit 3,10 macht deutlich, dass die Auseinandersetzung noch mit Einzelfällen zu tun hat und keine häretische Gruppe im Blick ist. Auch ist nicht – wie im 1 Tim – von einem Ausschluss des »häretischen Menschen« die Rede (zum Begriff αἵρεσις vgl. 1 Kor 11,19). 20  Der Plural in 1,10 lässt keine konkreten Rückschlüsse auf die Größe einer ganzen Gruppe zu, sondern ist gerade in einem solchen polemischen Kontext Ausdruck subjektiven Empfindens. 21 Vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 4294. Oberlinner, Titus, 37, formuliert pointiert: »was ihnen untersagt ist«. Dies gilt eher für die partizipiale Konstruktion τὰ μὴ δέοντα in 1 Tim 5,13 in Bezug auf die Schwatzhaftigkeit junger Witwen, wenn man zudem im Kontext des 1 Tim das generelle Redeverbot für Frauen in 2,15 berücksichtigt. 1 Tim 5,13 wäre also eine verschärfende und konkretisierende Kontextualisierung der in Tit 1,11 gebrauchten Wendung.

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des steigenden Einflusses verstanden werden kann, der aber deshalb »schändlich« ist, weil damit nur ihnen selbst und nicht denen gedient ist, denen sie diesen »Gewinn« abringen. Ob mit diesem Motiv »zur lokalen Färbung der Stelle« speziell im kretischen Kontext beigetragen werden soll,22 lässt sich nicht ausmachen. Vom Presbyter-Episkopos war daher bereits verlangt worden, dass er solche Absichten nicht hegt (μὴ αἰσχροκερδής, 1,7). Im Blick auf den Ungehorsam ist zu berücksichtigen, dass dessen positives Pendant später mehrfach als Mahnung aufgegriffen wird (2,5.9; 3,1) und bereits für die Kinder des Presbyters gefordert war (1,6). Es geht also auch bei den πολλοὶ ἀνυπότακτοι nicht um einen Ungehorsam dem Apostel oder der Wahrheit gegenüber (vgl. 1,14), sondern Ungehorsam meint hier die fehlende Bereitschaft, sich in die Glaubensgemeinschaft einzufügen und positiv zu ihrem Bestand und ihrem Ansehen beizutragen. Mit der Einschaltung in V. 10 »insbesondere die aus der Beschneidung« werden die Kontrahenten als vornehmlich jüdischer Herkunft identifiziert. In V. 14 wird der jüdische Hintergrund durch den Hinweis auf die »jüdischen Legenden (μῦθοι) und Gebote von Menschen« erneut aufgenommen. Die Hervorhebung der Juden durch μάλιστα deutet an, dass die Kontrahenten sowohl jüdischer als auch heidnischer Herkunft sind und nur vor denen mit jüdischer Herkunft besonders gewarnt werden muss. Von diesen geht die primäre Gefährdung aus, ihrem Einfluss gilt die eigentliche Polemik. Die Bestimmung von οἱ ἐκ τῆς περιτομής als Judenchristen wird zumeist vorausgesetzt.23 Paulus verwendet diese Umschreibung auch in Gal 2,12 und Röm 4,12, wobei Gal 2,12 wahrscheinlich auf Judenchristen bezogen ist (vgl. Kol 4,11; Apg 10,45; 11,2), mit der Formulierung in Röm 4,12 jedoch Juden von Heiden unterschieden werden. Ein Hinweis auf die Zugehörigkeit der in Tit 1,10 Genannten zur christlichen Gemeinde ist die Aussage über deren mangelnde Unterordnung, da dies für Außenstehende kaum gelten kann. Dabei ist nicht auszuschließen, dass »die aus der Beschneidung« deshalb auf »jüdische Mythen und Menschengebote« (Tit 1,14) Wert legen, weil ihnen an der bleibenden Verbindung mit dem Judentum bzw. konkret mit den Synagogengemeinschaften gelegen ist und sie dadurch »ganze Häuser durcheinanderbringen« (1,11).24 Das 22  Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 101, unter Hinweis auf Polybius, Historiae VI 46, wo die allgemeine Bekanntheit der kretischen αἰσχροκερδία hervorgehoben wird. 23  Vgl. z. B. Müller, Theologiegeschichte, 58–67; Oberlinner, Titus, 34; Gerber, Antijudaismus, 350. Sachlich falsch ist die Bezeichnung als »ehemalige Juden« bei Holtz, Pastoralbriefe 1980, 211 f.: »Ehemalige Juden fallen besonders unliebsam auf. Sie werden einen Teil ihres Judentums bewahrt und einen Teil Heidentum und auch ein wenig Christentum hinzugetan haben.« Judenchristen sind keine »ehemaligen« Juden, sondern Juden, deren jüdischer Glaube durch Christus maßgeblich geprägt ist, vgl. dazu bes. Gal 2,14 f., wo Paulus dem Petrus im Präsens vorhält: »Wenn du, der du der Herkunft nach ein Jude bist (ὑπάρχων) und nicht jüdisch lebst, warum zwingst du die Heiden, jüdisch zu leben? Wir (sind) Juden von Natur aus und nicht Sünder aus den Heiden […].« 24  Präsenz und gesellschaftlicher Einfluss der jüdischen Bevölkerung Kretas sind auch anderweitig bekannt. Philo von Alexandrien (ca. 25 v. – 40 n. Chr.) zitiert einen Brief Herodes’ Agrippa I. an Caligula, in dem davon die Rede ist, dass u. a. Kreta voller jüdischer Siedlungen sei (Legat. 282);



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unterstellte Motiv des »schändlichen Gewinns« sowie die polemische Äußerung in V. 16, sie beteuerten Gott zu kennen, verleugneten ihn aber durch ihre Werke, sind dabei nichts anderes als Stereotype der Polemik, die zur inhaltlichen Charakteristik der Gegner nichts beitragen.25 Die inhaltlichen Anspielungen auf »jüdische Mythen und Menschengebote«26 (1,14), auf das Problem Reinheit und Unreinheit (1,15)27 sowie der später nachgeschobene Hinweis auf sinnlose Fragen nach Genealogien und Streit um das Gesetz in 3,9 legen nahe, dass es sich um einen jüdischen Einfluss auf noch nicht gefestigte christliche Gruppen handelt, wodurch sich – so der Begründungszusammenhang – die Notwendigkeit ergibt, hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Ansehens unbescholtene, glaubwürdige und in der διδασκαλία geübte Leiter zu bestimmen (1,9), weil weder Paulus noch Titus (vgl. 3,12) dauerhaft dafür zur Verfügung stehen. Die Kontrahenten erhalten hier also ein spezifisch jüdisches Profil, das weder im 2.  noch im 1.  Timotheusbrief erkennbar ist.28 Eine grundsätzliche Abwertung29, Verurteilung30 oder gar Beschimpfung31 des Judentums, wie sie oft in Tit 1,10 hineingelesen wird, ist allerdings abwegig. Das wird nicht nur Apg 2,11 nennt jüdische Pilger aus Kreta in der Pfingstgeschichte, die sich offenbar eine solche Reise leisten konnten; Josephus’ zweite Frau war eine Jüdin aus Kreta, »eine Tochter sehr edler und angesehener Eltern« (Flav.Jos.Vita 427) und in Ant. XVII 327 sowie Bell II 103 erwähnt er einen sich als Herodessohn ausgebenden Mann, der sich die Unterstützung der wohlhabenden Juden Kretas erschwindelt. Vgl. auch 1 Makk 15,23. 25  Die Wendung θεὸν εἰδέναι ist kein »für gnostische Frömmigkeit wesentlicher Gedanke« der »›Erkenntnis‹ des höchsten Gottes, die befreit von der Bindung an die Materie und an die Welt und damit Heil und Erlösung bewirkt« (Oberlinner, Titus, 48; vgl. Brox, Pastoralbriefe, 35; Roloff, 1 Tim, 236). Das trägt zu viel in den Text ein und setzt bereits voraus, dass die Kontrahenten Gnostiker sind. Mit Wolter, Pastoralbriefe, 258 u. a., ist vielmehr der jüdische Kontext dieser Aussage festzuhalten, der im Zusammenhang ausdrücklich benannt wird. 26  Der Begriff μῦθοι kommt im Neuen Testament außerhalb der Pastoralbriefe nur noch in 2 Petr 1,16 vor, wo er erfindungsreiche, aber unglaubwürdige Geschichten bezeichnet, denen die auf Augenzeugenschaft beruhende und daher glaubhafte Verkündigung entgegen gestellt wird. Vgl. unten Abschnitt 3. 27  Ob aufgrund des wörtlichen Bezuges zu Röm 14,20b (πάντα μὲν καθαρά, ἀλλὰ κακὸν τῷ ἀνθρώπῳ τῷ διὰ προσκόμματος ἐσθίοντι) auch in Tit 1,15 an das gemeinsame Essen zu denken ist, lässt sich aus dem Kontext des Tit nicht wahrscheinlich machen. Offenbar richten sich darauf in besonderer Weise die Menschengebote, von denen in V. 14 die Rede ist. Dass es um kultische Reinheit gehe (vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 103, wobei das erste καθαρός in Tit 1,15 auf kultische, das zweite auf sittliche und das dritte erneut auf kultische Unreinheit zu beziehen sei), ist unwahrscheinlich, da sich die Unreinheit ausdrücklich auf die Innerlichkeit des Verstandes und des Gewissens bezieht. Dadurch ist auch die Konnotation sexueller »Befleckung« fraglich, die Schierse, Pastoralbriefe, 155 f., vor gnostischem Hintergrund in Tit 1,15 für möglich hält; vgl. zu Recht Oberlinner, Titus, 46: »[…] der Grund für ihre ›Unreinheit‹ liegt in ihrem Unglauben.« Unter der Voraussetzung, dass Lukas vielleicht doch einen gewissen Einfluss auf die Formulierungen der Pastoralbriefe hatte (vgl. 2 Tim 4,11), wäre es nicht zufällig, dass »das Jesuswort Lk 11,41b (καὶ ἰδοὺ πάντα καθαρὰ ὑμῖν ἐστιν) […] beinahe wie eine Vorlage für unseren Vers (klingt)« (a. a. O., 44). 28  Vgl. bereits Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 101; s. u. 29 Vgl. Holtz, Pastoralbriefe 1980, 211 f. 30 Vgl. Oberlinner, Titus, 36: Den Juden werde »die Schuld für Spaltungen in den christlichen Gemeinden zugesprochen.« 31 Vgl. Hasler, Briefe, 90: Jude und Heide werden als »Schimpfworte« gebraucht; ferner Oberlinner, Titus, 36 Anm. 10.

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durch die Verwendung polemischer Gemeinplätze deutlich,32 sondern das polemische Pathos unterscheidet sich auch nicht von anderen Äußerungen des Paulus gegen Juden (vgl. 1 Thess 2,14), den »Judaismos« (Gal 1,13 f.) oder konkurrierende Judenchristen (vgl. 2 Kor 11; Phil 3,2–11), ohne diese freilich einfach zu wiederholen. Weder sein eigenes Jude-Sein noch das anderer Judenchristen hat Paulus mit solchen Äußerungen grundsätzlich infrage gestellt.33 Erst unter diesen Voraussetzungen gewinnt das ein erneutes Stereotyp einwerfende Zitat in Tit 1,12 seine Bedeutung innerhalb des polemischen Kontextes:34 »Einer von ihnen hat gesagt, (und sich damit als) ihr eigener Prophet (erwiesen): ›Kreter sind allezeit Lügner, böse Tiere, faule Bäuche.‹« Die Ironie dieser Aussage »ihres eigenen Propheten« darf nicht überhört werden, gerade weil sie mit dem zuvor erwähnten jüdischen Hintergrund der Kontrahenten ursprünglich nichts zu tun hat, sondern diese mit einer »allgemein bekannten« Wesensart der Kreter in Verbindung bringt. Es handelt sich um eines der wenigen Zitate aus der klassischen Literatur im Neuen Testament und wird dem vorsokratischen Philosophen und Orakelpriester Epimenides von Kreta bzw. Phaistos (um 600 v.  Chr.) zugeschrieben; Hieronymus nennt konkret die Schrift De oraculis/περὶ χρησμῶν (Über die Orakelsprüche).35 Der »Liebling der Götter« (θεοφιλής)36 war als einer der sieben Weisen des Altertums bekannt. Platon (428–349 v. Chr.) weiß von prophetischen Aktivitäten des Epimenides zu erzählen, der die Invasion der Perser und den Sieg Athens voraussagte (Nomoi 642d). Nachweisbar ist der in Tit 1,12 zitierte Spruch in den bekannten Fragmenten jedoch nicht, so dass die Zuschreibung eine Vermutung bleibt, wohl weil Epimenides in der klassischen Literatur ein Prominenter kretischer Herkunft war. Im Zeus-Hymnus des Kallimachos (3. Jh. v. Chr.) begegnet bereits der Topos als Zitat (In Jovem 8): Κρῆτες ἀεὶ ψεῦσται, bezogen auf die Behauptung der Kreter, das Grab des Zeus befinde sich auf ihrer Insel; von Epimenides ist dabei nicht die Rede.37 Plutarch kennt schließlich das Wort κρητίζων im Sinne von »lügen« (Aemilius Paullus 23,10), und nach dem Historiker Polybius (ca. 200–120 v.  Chr.) sind die Kreter im privaten und öffentlichen Leben »verschlagener/hinterlistiger« (δολιώτερα) als alle anderen Völker (Historiae VI 47,5).38

Es muss nicht notwendig vorausgesetzt werden, dass der »Prophet« bekannt ist – weder beim Autor noch bei den Adressaten; der Spruch scheint als eine Art 32 

Vgl. dazu Stegemann, Vorurteile. der Voraussetzung der Orthonymität des Briefes mag für den Adressaten Titus, den Paulus ja im Unterschied zu Timotheus ausdrücklich nicht beschnitten hat (Gal 2,3), eine Aussage wie Tit 1,10 mit weiteren Assoziationen – vielleicht an gemeinsame Erlebnisse mit dem Apostel und dessen Anfeindungen durch Juden oder Judenchristen – verbunden gewesen sein. Titus hätte als Heide eine Außenperspektive auf solche Erfahrungen, während Paulus sie als Jude bzw. Judenchrist aus einer – zumindest subjektiv vorhandenen (vgl. Gal 2,15; 2 Kor 11,22; Phil 3,5; Röm 9,3–5) – Binnenperspektive reflektiert. 34  Oberlinner, Titus, 39, wendet ein, dies wäre »nur für den Fall passend […], daß die Kreter auch als Adressaten des Tit in Frage kämen«, was aber aufgrund der pseudepigraphischen Fiktion nicht vorausgesetzt werden könne. 35  Hieronymus, Commentarius in epistula ad Titum VII 706 (PL 26,571–572). 36  Plutarch, Solon 12,7. 37  Zitiert bei Athenagoras, Legatio sive supplicatio pro Christianis 30,3. 38  Weitere Belege für Vorurteile gegen die Kreter bei Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein II/2, 1018–1023. 33  Unter



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geflügeltes Wort kretischer Herkunft geläufig zu sein. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass nicht die alttestamentliche Gerichtsprophetie gegen Kreta bzw. die Kreter bemüht wird (vgl. Ez 25,16; Ez 30,5 LXX; Zeph 2,5 f.), sondern die Kreter auf einer anderen, allgemein »bekannten« Ebene als ohnehin unzuverlässig, faul und gefährlich charakterisiert werden. Die Absicht ist, deutlich zu machen, dass sich Titus über die Auseinandersetzungen mit ihnen nicht wundern muss – Kreter sind eben so – und mit entsprechender Härte darauf reagieren soll (Tit 1,13). Dass sich der Spruch ursprünglich nicht auf Juden bezieht, spielt dabei keine Rolle; in der Perspektive der Polemik sind auch die Juden Kretas solche »Kreter«. Dem entspricht, dass es bei der Bestätigung der »Wahrheit« des Zitats in V. 13 nicht um die Aussage als solche und ihre Herkunft von einem Kreter geht, sondern um die Situation, mit der Titus konfrontiert ist. Daher stellt sich auch nicht das Problem fehlender Logik, wie ein Kreter, der von den Kretern pauschal sagt, sie seien immer Lügner, selbst die Wahrheit mit dieser Behauptung sagen kann.39 Das scheinbare Paradoxon verstärkt lediglich den polemisch-ironischen Unterton in der Auseinandersetzung mit den jüdischen Einflüssen im kretischen Kontext und der dadurch gegebenen Gefährdung der – so die offenbar vorausgesetzte Situation – noch jungen Gemeinden.

2.2  Der 2. Timotheusbrief Der 2.  Timotheusbrief unterscheidet sich hinsichtlich seiner Gattungsmerkmale deutlich vom 1. Timotheus- und vom Titusbrief. Während diese beiden als mandata principis o. ä.40 die Vermittlung bestimmter Anweisungen des Paulus an seine Mitarbeiter als Hauptanliegen verfolgen, ist jener ein von den Gattungen Testament41 und Freundschaftsbrief42 geprägtes Schreiben, von dem nicht notwendig zu erwarten ist, dass er das Problem von Gegnerschaften ausdrücklich benennen, geschweige denn im Zusammenhang einer Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum erörtern würde. Zu erwarten sind allenfalls Anspielungen, die im Dienst der Situationsbeschreibung des Verfassers stehen. Anfeindungen und Gefährdungen, von denen oft die Rede ist, bleiben daher folgerichtig auf den Apostel bezogen und dürfen nicht vorschnell verallgemeinert werden. 39  Man hat dies als »logischen Unsinn« (Thiselton, Liar Paradox, 213), »Lügner-Paradox« (vgl. Oberlinner, Titus, 39 f.) oder »Lügner-Antinomie« (Zimmer, Lügner) bezeichnet, wonach sich der Wahrheitsanspruch der Aussage selbst widerlegen würde. Die Antinomie besteht darin, dass ein Kreter, der sagt, alle Kreter seien Lügner, selbst ein Lügner und seine Aussage daher falsch wäre. Für das Verständnis der Pragmatik dieser auf Titus gerichteten Aussage tragen diese Überlegungen nichts aus. Der Fortgang des Textes zeigt, dass der Autor genau das nicht zum Ausdruck bringen will, denn er bestätigt ausdrücklich die Wahrheit der Aussage (1,13). 40 Vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 161–177, bes. 164–170; dazu Herzer, Papyri, 332–338 (in diesem Band 99–124). 41  Wolter, Pastoralbriefe, 236–241 u. ö., spricht vom 2 Tim als einer »testamentarische[n] Mahnrede« (a. a. O., 236) bzw. einem »testamentarische[n] Sinngefüge« (a. a. O., 265). 42 Vgl. Weiser, Freundschaftsbrief.

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Der Brief beginnt mit einer an Timotheus gerichteten persönlichen Erinnerung (1,3–5), verbunden mit einer Reflexion der Situation des Apostels, in der von Furcht bzw. Verzagtheit (δειλία) die Rede ist (1,7): »Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.« Zwar wird hier eine Aufforderung an Timotheus begründet (1,6), aber sogleich auch das Leiden des Apostels als Gefangener angesprochen (1,8), so dass Paulus mit V. 7 gewissermaßen sich selbst Mut zuspricht. Diese persönliche Grundsituation des Leidens zieht sich durch den gesamten Brief und spiegelt sich auch in den Passagen, die als Aussagen über Gegner betrachtet werden können. Allerdings stellt sich deren Charakteristik anders dar als im Titusbrief. Während dort ein unbestimmtes Gegenüber unmissverständlich als »jüdisch« benannt und auf die Folgen dieses jüdischen Einflusses in den Gemeinden hingewiesen wurde, ist ein spezifisch jüdisches Profil im 2. Timotheusbrief nicht erkennbar. Abgesehen vom allgemeinen Charakter der inhaltlich wenig aussagefähigen Passagen in 2,23 und 3,1–9 gibt es nur eine konkrete Warnung in 2,17 f. (im Zusammenhang von 2,16–26), die zumeist als Kern der Gegnercharakteristik der Pastoralbriefe insgesamt angesehen wird:43 »(16) An gottlosem, leerem Gerede aber beteilige dich nicht, denn (solche Leute) werden immer mehr fortschreiten zur Gottlosigkeit, (17) und ihr Wort wird sich verhalten wie ein wucherndes Geschwür. Unter denen sind Hymenäus und Philetus, (18) welche  – was die Wahrheit angeht  – vom Weg abgekommen sind, wenn sie sagen, die Auferstehung sei schon geschehen und (auf diese Weise) den Glauben einiger durcheinander bringen (ἀνατρέπουσιν44).«

Zwei Aspekte werden hieran deutlich: zum einen, dass es nicht um eine Auseinandersetzung mit jüdischen Einflüssen geht, sondern um ein konkretes Problem der christlichen Lehre von der Auferstehung der Toten, und daraus folgend zum anderen, dass an dieser Stelle allein innerchristliche Probleme angesprochen sind,45 die aus der persönlichen Erfahrung des Paulus heraus formuliert bzw. exemplifiziert werden.46 Die Auffassung von einer – so ist vorauszusetzen – in einer vom Geist 43  Vgl. etwa Oberlinner, Titus, 54 f., der 2 Tim 2,18 als »theologische Mitte der ›Irrlehre‹« versteht und als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der gegnerischen Position in den Pastoralbriefen insgesamt ansieht; vgl. bereits Schlarb, Lehre, 93, u. a. Gerber, Antijudaismus, 351 Anm. 78, bezeichnet dies zu Recht als eine »petitio principii«. 44  »Zerstören« (so Oberlinner, 2 Tim, 90) ist hier zu stark; vgl. in ähnlichem Sinn auf die Häuser bezogen in Tit 1,11, wo auch nicht an die regelrechte Zerstörung der Häuser gedacht ist. Im Blick ist vielmehr die Verunsicherung, die eine bestimmte Auslegung paulinischer Auferstehungshoffnung mit sich bringt, s. u. 45  Hierzu gehört auch die »Prophezeiung« in 2 Tim 4,3 über die Suche nach Lehrern, die reden, was man gern hört, nicht das, was der Wahrheit entspricht. In diesem Zusammenhang fällt in einem Nachsatz (4,4b) auch der Begriff μῦθοι (vgl. Tit 1,14), hier jedoch nicht als »jüdisch« qualifiziert, sondern allgemein gehalten. Die Aussage enthält keinen Hinweis, dass der Leser sie mit Tit 1,14 in Verbindung bringen soll, s. u. Abschnitt 3. 46  Die »distanzierende Funktion« der Namensangaben in 2 Tim 2,18, die Wolter, Pastoralbriefe, 258 Anm. 6, gegenüber einem historisierenden Verständnis betont, ist deutlich, widerspricht Letzterem aber nicht, da auch die Fiktion eine historische Gegebenheit konstruiert (vgl. Brox, Pastoralbriefe, 248). Müller, Theologiegeschichte, 67–77, sieht hinter 2 Tim 2,18 »enthusiastische Pauliner«, die er von judenchristlich-enkratischen Wanderpredigern anderer Passagen unterschei-



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geprägten Existenz bereits realisierten Auferstehung der Toten musste als Problem einiger Leute (τινες) schon in 1 Kor 15 erörtert werden (1 Kor 15,12).47 Der korinthischen Gemeinde legt Paulus dar, dass besondere geistliche Erfahrungen die Erwartung der endzeitlichen Totenauferstehung nicht aufheben, da die leibliche Existenz erst eschatologisch durch den Geist vollendet wird; gegenwärtig ist der Geist, auf den man sich in Korinth beruft, lediglich das »Unterpfand« zukünftiger Vollendung (vgl. 2 Kor 1,22; 5,5). Da es in 2 Tim 2,17 f. bei der Andeutung dieser Position bleibt, ist eine vergleichbare Struktur vorausgesetzt. Neben 1 Kor 15 belegen Texte wie Röm 6,1–11 im Vergleich zu Kol 2,12; 3,1 und Eph 2,6, dass es innerhalb der paulinischen Tradition einen diskursiven Prozess um die Auferstehungsvorstellung gegeben hat, in den auch 2 Tim 2,17 f. hinein gehört, wo der das Sterben vor Augen sehende Apostel die Verunsicherung thematisiert, die eine bestimmte Auslegung paulinischer Auferstehungshoffnung mit sich bringt. Insofern steht 2 Tim 2,17 f. Paulus’ Position näher als der Kolosserbrief bzw. der Epheserbrief. Bereits in 2 Tim 2,11 wird an das »zuverlässige Wort« erinnert, welches die zeitlichen Relationen klarstellt: »Denn wenn wir mitgestorben sind, werden wir auch mitleben« – ganz so, wie es Paulus ausführlich in Röm 6,1–11 begründet hatte, worauf vielleicht sogar bewusst mit dem »zuverlässigen Wort« hingewiesen wird.48

2.3  Der 1. Timotheusbrief Gegenüber dem Titusbrief und dem 2. Timotheusbrief tritt das Problem der Gegner im 1. Timotheusbrief ungleich stärker in den Vordergrund. Das beginnt bei der Tatsache, dass bereits der erste Abschnitt in 1,3–11 dieses Thema aufgreift, noch bevor der Verfasser die übliche Danksagung in 1,12–17 anstimmt. Daran wird ersichtlich, dass das große Thema der Leitungsstrukturen im 1. Timotheusbrief keinesfalls dominiert, sondern zumindest neben die Ausein­andersetzung mit denen tritt, die vom überkommenen Glauben abweichen. Die Festschreibung bzw. »Ratifizierung«49 bereits bestehender Strukturen ist gerade dieser Auseinandersetzung geschuldet. det (vgl. die Tendenzen zur Enthaltsamkeit in 1 Tim 4,1–3, s. u.); zugleich notiert er die Probleme in der Zuordnung einzelner Aspekte. Zur Kritik vgl. Wolter, a. a. O., 263 f. 47 Vgl. Müller, Theologiegeschichte, 70–72. Dass in 1 Kor 15 keine Namen genannt werden, ist im Zusammenhang eines Gemeindebriefes ebenso wenig auffällig wie die konkrete Nennung von Hymenäus und Philetus in einem persönlichen Schreiben des Apostels an seinen Mitarbeiter. Hierzu gehört auch der Name des Alexander in 2 Tim 4,14, vor dem Paulus aufgrund einer nicht näher bezeichneten persönlichen Erfahrung eigens warnt. 48 Vgl. Merz, Selbstauslegung, 237: »regelrechtes Selbstzitat (aus Röm 6,8)«. Vgl. dazu auch Herzer, Paulustradition, 511–516 (in diesem Band 155–184). 49  Vgl. vor allem das Episkopenamt, das nach 1 Tim 3,1 als bereits bestehendes Amt angestrebt werden kann und von der allgemeinen Funktion der Presbyter unterschieden wird (vgl. 5,17–19). Auch von allen anderen Funktionen ist vorausgesetzt, dass es sie in den Gemeinden bereits gibt. Hierin liegt ein deutlicher Unterschied zu Tit 1,5–9, wo Presbyter erst einzusetzen sind und zwischen Presbyter und Episkopos nicht unterschieden wird, sondern beide Begriffe für dieselbe Funktion stehen. Anders als Titus in Tit 1,5 erhält Timotheus in 1 Tim auch nicht den Auftrag, Älteste usw. erst einzusetzen; die Gemeindestruktur besteht bereits und wird in der Auseinandersetzung um die rechte Lehre und den rechten Glauben erneut bestätigt und gefestigt.

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In 1,4 ist an prominenter Stelle von »Legenden (μῦθοι) und endlosen Genealogien« die Rede, »welche (eher) zu Streitereien führen als zur Heilsordnung Gottes, die auf Glauben (gegründet ist)«. Der Anklang an die μῦθοι von Tit 1,14 ist deutlich, aber das Attribut »jüdisch« fehlt. Darüber hinaus ist auch hier – wie im 2. Timotheusbrief, jedoch mit anderen Schwerpunkten – eine innerchristliche Perspektive im Blick, die besonders in 1 Tim 1,6 f. deutlich wird, wo von Leuten die Rede ist, die sich offenbar für besonders schriftkundig halten, deren »nutzloses Gerede« vom Verfasser jedoch als Ausdruck der Abwendung vom Glauben und des Unverständnisses gewertet wird. 1 Tim 1,8 legt darüber hinaus nahe, das Gesetz als ein besonderes Thema solcher Auseinandersetzungen zu vermuten, das von den sogenannten »Schriftkundigen« offenbar negativ bewertet wurde, da der Verfasser betonen muss, dass das Gesetz im rechten Gebrauch gegen Ungerechtigkeit und Ungehorsam durchaus gut sei (1,9 f.). Der Notiz über die Abwendung vom Glauben in 1,6 entspricht die Aussage in 1,19 f. über diejenigen, die »Schiffbruch im Glauben« erlitten haben. Bemerkenswert ist, dass 1 Tim 1,20 Hymenäus und Alexander gemeinsam als Beispiele nennt, verbunden mit einer in Anlehnung an 1 Kor 5 formulierten »Gemeindezuchtpraxis« (vgl. auch 1 Tim 5,8 mit 1 Kor 5,1). Von Philetus, der in 2 Tim 2,18 neben Hymenäus genannt wird, ist nicht die Rede, auch die Auferstehungsfrage spielt keine Rolle, während umgekehrt das Übergeben an den Satan weder in 2 Tim 2,18 im Blick auf Hymenäus (und Philetus) noch im Blick auf Alexander in 2 Tim 4,14 erwähnt ist. Da ein Gemeindeausschluss dieser beiden eine im Vergleich zu 2 Tim 2,18 und 4,14 fortgeschrittene Maßnahme darstellt, der 1.  Timotheusbrief aber unter dem Vorzeichen der Fiktion vor dem 2. Timotheusbrief anzusetzen wäre, bereitet diese Konstellation einige Probleme, die hier nicht weiter verfolgt werden können.50 Zur Charakteristik derer, die vom Glauben abfallen und damit zu »Gegnern« aus den Reihen der Gemeinde werden, gehört auch 1 Tim 4,1–3. Hier tauchen nicht nur neue Begriffe wie πνεύματα πλανοί, διδασκαλίαι δαιμονίων oder ὑπόκρισις ψευδολόγων auf, sondern diese Verhaltensweisen bzw. Haltungen sind mit asketischen Forderungen verbunden, nicht zu heiraten und bestimmte Speisen zu meiden. Was konkret dahinter steht, ist nicht zu ermitteln; auf einen jüdischen Kontext kann hier verwiesen werden, wobei aber zu berücksichtigen ist, dass dies im Text  – anders etwa als im Titusbrief  – nicht ausdrücklich festgehalten wird. Der Anspruch von Schriftkenntnis (1,7) und die zumindest ambivalente Haltung dem Gesetz gegenüber (1,9) passen dabei durchaus zu 4,1–3 und charakterisieren 50  Die Lösung liegt m. E. darin, dass der 1 Tim pseudepigraphisch nach dem 2 Tim entstanden ist, und zwar mit einem erheblichen zeitlichen Abstand, dass die Fiktion ihn dann aber vor den 2 Tim verlegt und dabei aus der Überlieferung (einschließlich Tit und 2 Tim) bekannte Namen in eine Verbindung mit anderen paulinischen Aussagen gebracht werden. 1 Tim 1,20 ist also in Anlehnung an die Namensangaben in 2 Tim von einem pseudonymen Autor zur Veranschaulichung einer paulinischen Gemeindezuchtpraxis zum Zweck der Abgrenzung von anderen christlichen Gruppen formuliert.



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eine sich absondernde christliche Gruppe, für die »irrende Geister, Lehren von Dämonen« (4,1) eine Rolle spielen. Dies geht immer wieder einher mit Stereotypen unterschiedlicher Art (vgl. etwa 4,7; 5,24; 6,3–5; 6,10), die aber nicht dagegen sprechen, dass letztlich eine konkrete Gruppe im Blick ist. Da es sich im 1. Timotheusbrief um innerchristliche Auseinandersetzungen handelt, liegt es nicht nahe, eine spezifisch jüdische Haltung hineinzulesen. Im Kontext des Briefes ist eher an einen Zusammenhang mit der in 1 Tim 6,20 genannten Gnosis zu denken. In 1,19 f. wird exemplarisch gezeigt, wie mit solchen Abweichlern nach paulinischem Vorbild umzugehen ist. Erst ganz zum Schluss legt der Autor gleichsam die Karten auf den Tisch und gibt zu erkennen, auf wen die Auseinandersetzung in besonderer Weise zielt (6,20–21a): »O Timotheus, bewahre die Überlieferung und wende dich ab von dem gottlosen leeren Gerede und (den) Widersprüchlichkeiten der fälschlich so genannten ›Erkenntnis‹ (ἀντιθέσεις τῆς ψευδωνύμου γνώσεως), die einige verkünden und, was den Glauben angeht, vom Weg abgekommen sind.«

Das Motiv der Abweichung vom Weg des Glaubens, das sich gleichsam als roter Faden der Auseinandersetzung durch den 1. Timotheusbrief zieht, macht deutlich, dass es sich um Christen handelt, die einen anderen – falschen – Weg beschreiten. Auch hier erfolgt  – wie im Titusbrief  – keine inhaltliche Auseinandersetzung, es findet sich jedoch auch keine scharfe Polemik, sondern der Duktus aller bisher genannten Stellen, die durchweg mit Aorist- oder Perfektformen51 konstruiert sind, lässt den Schluss zu, dass die wesentlichen Kämpfe bereits gefochten und die Abgrenzungen längst vollzogen sind. Selbst die scheinbar prophetische Äußerung in 4,1–3 ist keine echte, in die Zukunft weisende Aussage, sondern konstatiert den beschriebenen Zustand letztlich bereits für die Gegenwart, die damit als »letzte Zeit« qualifiziert wird. Der einzige konkrete Hinweis auf eine bestimmte abweichende Lehre ist also 6,20. Was aber verbirgt sich hinter den »Antithesen der pseudonymen Gnosis«? In der Einleitung wurde bereits darauf hingewiesen, dass 1 Tim 6,20 vor allem von Baur mit der marcionitischen Gnosis des 2. Jahrhunderts in Verbindung gebracht wurde. Die Auseinandersetzung um das Für und Wider dieser These kann hier nicht geführt werden. Die Einwände dagegen hängen vor allem damit zusammen, dass sich unter der Voraussetzung der Pastoralbriefe als konzeptioneller Einheit eine Spätdatierung aller drei Briefe in das 2. Jahrhundert ergeben würde52 sowie darüber hinaus die Notwendigkeit, die gnostische Charakteristik der Gegner in allen drei Pastoralbriefen wiederzufinden, wobei jüdische, judenchristliche und 51  1,6: ἀστοχήσαντες ἐξετράπησαν, 1,19: ἀπωσάμενοι […] ἐναυάγησαν, 6,5: διεφθαρμένων […] ἀπεστερημένων, 6,10: ἀπεπλανήθησαν […] περιέπειραν, 6,21: ἠστόχησαν. Die Unterschiede zwischen 1 Tim und Tit hinsichtlich der Zeitebenen könnten freilich auch als vom Autor konstruierte Fiktion angesehen werden, was allerdings das zu Begründende (die einheitlich-fiktive Konzeption) schon voraussetzen würde. 52 Vgl. Oberlinner, 1 Tim, 310 Anm. 9.

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gnostisch-christliche Aspekte additiv nebeneinander gestellt werden und versucht wird, damit das spezielle Profil dieser Art von Gnosis zu bestimmen.53 Schon früh werden die Pastoralbriefe im Zusammenhang mit gnostischen Strömungen des 2. Jahrhunderts genannt. Tertullian bezieht 2 Tim 2,18 und 1 Tim 1,4 auf die gnostische Lehre der Valentinianer, 1 Tim 4,3 auf Marcion (praesc. 33; vgl. Iren.haer. I 30,1).54 Irenäus stellt 1 Tim 1,4 seiner Widerlegung der zeitgenössischen gnostischen Lehren voran (haer. I Vorrede). Eusebius von Caesarea referiert in h. e. III 32 das Zeugnis des Hegesipp, wonach nach dem Ende der apostolischen und nachapostolischen Zeit Irrlehrer auftraten und es wagten, »erhobenen Hauptes der Predigt der Wahrheit die fälschlich sogenannte Gnosis entgegenzuhalten (τῆς ἀληθείας κηρύγματι τὴν ψευδώνυμον γνῶσιν ἀντικηρύττειν)«. Die fast wörtliche Aufnahme der Formulierung von 1 Tim 6,20 zeigt, dass Hegesipp bzw. Eusebius diese Stelle mit der aufkommenden Gnosis des 2. Jahrhunderts in Verbindung brachten.   Für Baur war für den konkreten Bezug zu Marcion die Tatsache von besonderer Überzeugungskraft, dass von diesem eine Schrift mit dem Titel »Antithesen« bezeugt ist, worauf die Äußerung in 1 Tim 6,20 anspiele.55 Die auffällige Koinzidenz bleibt auch dann beachtenswert, wenn die marcionitischen Antithesen andere Dinge zum Thema gehabt hätten, als aus dem 1.  Timotheusbrief oder den Pastoralbriefen über die abweichende Lehre erschlossen werden können.56 Leider ist Marcions Schrift nicht erhalten; klar ist nur, dass sie gegen die vorherrschende kirchliche Orthodoxie gerichtet war.57 Die Formulierung in 1 Tim 6,20 setzt nicht voraus, dass der Autor die »Antithesen der Gnosis« selbst kennt. Das beigefügte Attribut ψευδώνυμος disqualifiziert vielmehr die abgelehnte Position pauschal; weder an einer inhaltlichen Auseinandersetzung noch an überzogener Polemik besteht Interesse, da die Abgrenzung bereits vollzogen ist.58 Mehr als dass der Autor offenbar von einer sich als »Gnosis« bezeichnenden Strömung wusste, die gegen die »gesunde Lehre« der Kirche gerichtet war, lässt sich nicht sagen.59 Doch das reicht aus, um vor ihr zu warnen. Vielleicht lassen sich unter solchen Voraussetzungen aufgrund von Äußerungen wie 1 Tim 1,7 f. über den (unter53  Vgl. das Zitat von Adolf von Harnack in der Einleitung. Das additive Verfahren für die Beschreibung inhaltlicher Aspekte in den Pastoralbriefen ist besonders anschaulich bei Söding, Mysterium. 54  Nach Tert.Marc. 5,21, hat Marcion die Pastoralbriefe abgelehnt, vgl. von Harnack, Marcion, 170*–172*, der den Wert der Aussage bezweifelt. Vgl. dazu ausführlich Schmid, Marcion, bes. 284–298. Zum Problem vgl. Herzer, Gnosis (in diesem Band 315–339). 55 Vgl. Baur, Pastoralbriefe, 26. 56  Vgl. die Bedenken bei von Harnack, Marcion, 89–92; dazu auch Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 378–395. Im Exkurs »Die Reaktion der Kirche auf Marcion« (a. a. O., 390–395) erwähnt Lindemann die Pastoralbriefe nicht. 57  Eine Rekonstruktion der »Antithesen« des Marcion hat von Harnack, Marcion, 89–92. 256*–313*, versucht. 58  Vgl. u. a. Brox, Pastoralbriefe, 104; Oberlinner, 1 Tim, 20. Zum Begriff »Gnostiker« als Sammelbezeichnung in den antihäretischen Diskursen des 2. Jahrhunderts vgl. Brox, Γνωστικοί, der von Irenäus schreibt: »Um Mißverständnisse auszuschließen, kann Irenäus das Wort [sc. γνῶσις bzw. γνωστικοί] auch kaum einmal ohne den Zusatz ψευδωνύμως niederschreiben« (a. a. O., 108). 59  Wolter, Pastoralbriefe, 265 f., nennt alle »explizit genannten Elemente der gegnerischen Position« in den Pastoralbriefen gnostisch, verweist dabei aber an erster Stelle auf 1 Tim 6,20 f. (vgl. a. a. O., 257), wo durch den Begriff ἐπαγγέλλεσθαι eine »Selbstcharakterisierung« impliziert sei (mit Brox, Γνωστικοί, 108). Wolter, ebd., nennt weiterhin Tit 1,16 (verbunden mit der Einschränkung, dies lege eher einen judenchristlichen Charakter nahe); 2 Tim 2,18; 1 Tim 1,4 sowie die enkratischen Elemente in 1 Tim 4,3. Bemerkenswert ist nicht nur das Überwiegen von Belegen aus dem 1 Tim, sondern auch die Tatsache, dass beide Belege aus den anderen Briefen nun gerade keinen gnostischen Hintergrund nahelegen, sondern dieser erst unter der Voraussetzung hinein-



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stellten60) Selbstanspruch der Gegner, »Gesetzesgelehrte« (νομοδιδάσκαλοι) zu sein, sowie der Bemerkung über den rechten Gebrauch des ausdrücklich als »gut« bezeichneten Gesetzes, was eine ablehnende Haltung der Gegner gegenüber dem Gesetz61 impliziert, eine Verbindung zur »Kanonreform« des Marcion und seiner Ablehnung jüdischer Einflüsse und damit vor allem des Alten Testaments ziehen.

Das Problem, aufgrund einer Verbindung von 1 Tim 6,20 mit den Antithesen des Marcion alle drei Pastoralbriefe in die späte erste Hälfte des 2. Jahrhunderts datieren zu müssen, entfällt, sobald man die Theorie eines konzipierten Corpus pastorale aufgibt. Dann ist es lediglich der 1. Timotheusbrief, der in die Zeit der Auseinandersetzung mit der aufkommenden Gnosis datiert werden muss (und ohne Schwierigkeiten datiert werden kann), nicht jedoch der Titus- und der 2.  Timotheusbrief, deren Gegnercharakteristik  – im Unterschied zu der des 1.  Timotheusbriefes  – nicht in diese Zeit und nicht zur Gnosis »passt«.62 Die konzeptionelle Zusammengehörigkeit der drei Briefe ist auch hier Ursache für Fehleinschätzungen und eine verwirrende und undifferenzierte Gegnercharakteristik.

3.  Der Begriff μῦθοι als Identifikationsmerkmal der Gegner in den Pastoralbriefen? Als Merkmal der gegnerischen Lehre begegnet in allen drei Briefen der Begriff μῦθοι – je einmal im Titusbrief (1,14) und 2. Timotheusbrief (4,4) sowie zweimal im 1. Timotheusbrief (1,4; 4,7). Angesichts der sonst sehr differierenden Elemente ist die Frage berechtigt, ob dieser Begriff geeignet sein könnte, eine einheitliche Position der Gegner zu begründen. Erwähnenswert ist, dass er stets im Plural steht gelesen werden kann, dass alle drei Briefe zusammengehören und die Gegner von 1 Tim 6,20 f. als Gnostiker zu identifizieren seien. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass präsentische Auferstehungsvorstellungen auch in gnostischen Texten nachweisbar sind. Im Blick auf 1 Tim 4,1–3 meint Oberlinner, Antijudaismus, 294, dahinter könne zwar auch eine gnostisch-dualistische Weltsicht stehen, wahrscheinlicher aber sei ein jüdischer Hintergrund. Doch der Text bietet dafür keinen Anhaltspunkt; vgl. salomonisch Brox, Pastoralbriefe, 167: »sicherlich im Anschluß an jüdische Speisegesetze, nun aber mit spezifisch gnostischer Motivation«. Irenäus, haer. I 28,1, nennt speziell die Ehelosigkeit als Merkmal der gnostischen Enkratiten. 60 Vgl. Oberlinner, 1 Tim, 19. 61  Das Stichwort νόμος stellt einen engen Zusammenhang zwischen V. 7 und V. 8 her, so dass die Bezeichnung »Gesetzesgelehrte« in V. 7 ironisch gemeint ist und kaum im Sinne von »Gesetzesrigoristen« (Oberlinner, 1 Tim, 20) verstanden werden kann. 62  So sieht z. B. Kümmel, Einleitung, 334, in 1 Tim 6,20 eine antignostische bzw. antimarcionitische Interpolation, kennzeichnet die Irrlehre aber gleichzeitig als »judenchristlich-gnostisch« (a. a. O., 333), welche auch »zu Lebzeiten des Paulus an sich durchaus vorstellbar« sei (a. a. O., 334). Auch Brox, Pastoralbriefe, 38, sagt von den erkennbaren gnostischen Elementen, »daß sie eine Frühdatierung der Häretiker der Pastoralbriefe in die Lebenszeit des Paulus oder in das Ende des ersten Jahrhunderts zumindest gestatten, wenn nicht gar empfehlen.« Nicht die Irrlehre selbst, wohl aber die Art und Weise, wie gegen sie argumentiert wird (»Vermeidung sachlicher Auseinandersetzung«, a. a. O., 39), spreche jedoch gegen paulinische Verfasserschaft. Söding, Mysterium, 506 f., hebt hervor, dass die gnostische Lehre auf Frauen eine besondere Anziehungskraft habe; das kann allerdings nur aus dem 1 Tim herausgelesen werden.

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und daher nicht als Abstraktum verstanden werden kann, sondern offenbar konkrete »Ur-Geschichten« meint.63 Unter der Perspektive des Corpus pastorale müsste dabei vorausgesetzt werden, dass es sich stets um dieselben »Mythen« handelt.64 Ein differenzierter Blick aber zeigt auch hier, dass der Begriff jeweils unterschiedlich gefüllt ist. In Tit 1,14 ist er durch das Attribut Ἰουδαϊκοί näher bestimmt, was der Charakterisierung οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς von V. 10 entspricht und einen spezifisch jüdischen Hintergrund für das Verständnis der μῦθοι vorgibt,65 verstärkt durch die Ergänzung ἐντολαὶ ἀνθρώπων.66 Was konkret damit gemeint ist, wird nicht gesagt und daher als bekannt vorausgesetzt. In 2 Tim 4,4 steht der Begriff ohne Attribut und bezeichnet das Gegenteil der Wahrheit, von der die Ungehorsamen ihr »Gehör« (ἀκοή) ab- und sich den »Mythen« zuwenden, die man zwar gern hört (4,3), die aber mit der Wahrheit nichts zu tun haben. An beiden Stellen des Titusbriefes und 2. Timotheusbriefes bleibt das Profil letztlich unscharf. Ein anderes Bild ergibt sich für den 1. Timotheusbrief. Nach 1 Tim 1,4 stehen die »Mythen« in engem Zusammenhang mit Genealogien, deren Erörterung nutzlose Streitereien bringt und nicht der Glaubensökonomie Gottes (οἰκονομία θεοῦ ἣ ἐν πίστει) dienen. Besonders die Zusammenstellung von μῦθοι und γενεαλογίαι ist es, die auf ein gnostisches Milieu verweist67 und daher mit 1 Tim 6,20 f. korrespondiert. Während also der 1.  Timotheusbrief durch die ausdrückliche Erwähnung einer »fälschlich so genannten Gnosis« (6,20) auch für die »Mythen und Genealogien« einen gnostischen Kontext vorgibt, bleibt die Wendung »jüdische Mythen und Menschengebote« in Tit 1,14 ausdrücklich im Horizont der Auseinandersetzung mit jüdischen Einflüssen in christlichen Gemeinden.68 Entsprechend werden nach 1 Tim 4,7 die »gottlosen und unsinnigen69 Mythen« den »Worten des Glaubens und der guten Lehre« einerseits (4,6) und der wahren Frömmigkeitsübung andererseits (4,7b) gegenübergestellt, bekommen also letztlich einen allgemeineren Charakter als die spezifisch jüdischen in Tit 1,14. 63  Haufe, Irrlehre, 329, vermutet mythologische Äonenspekulationen vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Urgeschichte. 64  Vgl. bereits Stählin, Art. μῦθος κτλ., s. v. E II. 65  S. o. Abschnitt 2.1; zur Verwendung des Begriffs vgl. Gal 2,14: Ἰουδαϊκῶς ζῆν. 66  Vgl. TestDan 7,3–5, wo das Nichteinhalten der Gesetze Gottes den Menschengeboten gegenübergestellt wird; nach Sir 20,19 LXX ist der μῦθος ἄκαιρος Kennzeichen des Toren; vgl. auch Sib 3,226. 67  Wolter, Pastoralbriefe, 258. 68  Der Begriff der Gebote (wie in Tit 1,14) fehlt daher auch im 1 Tim – allein in 1 Tim 6,14 wird der Singular positiv auf das Gebot bezogen, das Timotheus zur Bewahrung anvertraut wird. Der Begriff ἐντολαί, im Plural wird von Paulus selten verwendet  – in 1 Kor 7,19 spricht er von der Bedeutung des »Haltens der Gebote Gottes«, eine in alttestamentlich-frühjüdischer Tradition geläufige und selbstverständliche Vorstellung, vgl. Gen 26,5; Ex 15,26; Lev 4,13; Dtn 6,1 f.; 28,13; Ps LXX 118; Spr 7,1 f.; 1 Makk 4,19; Sir 23,27; 32,23 f. u. v.a.; vgl. Schrenk, Art. ἐντολή, 542 f. In diesem Sinne ist bei Paulus auch der Singular ἡ ἐντολή verwendet (Röm 13,9), der daher synonym für das Gesetz stehen (Röm 7,10–12; vgl. Ex 24,12) oder sogar für eine Anweisung des Apostels verwendet werden kann, die als »ein Gebot des Herrn« zu verstehen ist (1 Kor 14,37). 69  γραώδεις, wörtlich: »von der Art, wie sie alte Frauen erzählen«, abgeleitet von γραῦς – »alte Frau«. Gemeint sind in polemischer Absicht Geschichten, die zwar faszinierend sein können, die aber ohnehin keiner glaubt.

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Das Problem der näheren Bestimmung liegt darin, dass über den Inhalt der »Mythen« nichts mitgeteilt wird, so dass viel Raum für Spekulationen bleibt. Wie oben angedeutet, war besonders der 1.  Timotheusbrief für antihäretische Schriftsteller des 2. Jahrhunderts wie Tertullian oder Irenäus Anlass, die »Mythen und Genealogien« auf die verschiedenen gnostischen Gruppen zu beziehen, zumal in 1 Tim 6,20 der Begriff γνῶσις im Sinne einer sich in Antithesen äußernden Strömung verwendet wird und die in 1 Tim 1,4 mit den μῦθοι verbundenen Genealogien mit gnostischen Archonten- und Äonenspekulationen in Verbindung gebracht werden können.70 Der Zusammenhang von Mythen und Genealogien in 1 Tim 1,4 lässt in der Kombination mit dem Attribut Ἰουδαϊκοί in Tit 1,14 die meisten Ausleger eine jüdisch geprägte Frühform der Gnosis vermuten.71 Andere wiederum denken bei den μῦθοι eher an die jüdische Haggada, d. h. an Formen der neu erzählten und gelegentlich allegorisch gedeuteten biblischen Geschichte.72 Analog zur Bedeutung von μῦθος in der griechischen Antike hatte Johannes Chrysostomus darin antike Göttergeschichten verstanden, die christlich allegorisiert und so Teil der häretischen Verkündigung wurden.73

Leider führen derartige Vermutungen zu keinem klaren Ergebnis. Es ist umso dringlicher darauf hinzuweisen, dass der Begriff μῦθοι in den Pastoralbriefen mit unterschiedlichen Konnotationen verwendet wird. Entscheidend bleibt der Kontext, mit dem der Begriff verbunden ist – im Titusbrief der jüdische und die »Menschengebote«, im 1. Timotheusbrief der gnostische und die »Genealogien«. Weder sind die »jüdischen Mythen und Menschengebote« von Tit 1,14 auf die in 1 Tim 6,20 erwähnte Gnosis zu beziehen, noch ist davon auszugehen, dass insgesamt 70 

S. o. Abschnitt 2.3. Vgl. Brox, Γνωστικοί; Roloff, 1 Tim, 64; Oberlinner, Titus, 42. Stählin, Art. μῦθος κτλ., 790; Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 14 f., die Tit 1,14 mit 3,9; 1 Tim 4,3; 6,20; 2 Tim 2,18 und Tit 1,16 erläutern; vgl. auch Oberlinner, Antijudaismus, 293, der die Mythen generell als »im Anschluss an die alttestamentlichen Stammbäume und Namenslisten gestaltete[.], gnostisch geprägte[.] Spekulationen über die Entstehung der Welt und der Menschen« definiert. Ob dies aber für alle Stellen gleichermaßen gelten kann und muss, bleibt zu fragen. Dass Genealogien auch in Tit 3,9 in einem Summarium pauschaler Gegnerpolemik genannt werden, ist nicht hinreichend, um den religiösen Hintergrund von Tit und 1 Tim gleichermaßen als jüdisch und gnostisch zu charakterisieren. Erst die Zusammenstellung von »Mythen und Genealogien« in 1 Tim 1,4 lässt angesichts der antihäretischen Diskurse des 2. Jahrhunderts eine gnostische Bestimmung zu. Irenäus, auf den Oberlinner verweist, stellt seiner Widerlegung gnostischer Lehren also nicht ohne Grund 1 Tim 1,4 voran. Eine jüdische Prägung spielt bei Irenäus – wie im 1 Tim(!) – keine Rolle. 72  Vgl. dazu Stählin, Art. μῦθος κτλ., 790, der etwa auf Ambrosiasters Auslegung zu 1 Tim 1,4 verweist: »fabulae quas narrare consueti sunt Judaei de generatione suarum originum«. In diesem Sinne hat bereits Theodoret von Kyros (393 – ca. 460) Tit 1,14 mit Hinweis auf Mt 15,13 interpretiert: »Als ›jüdische Mythen‹ bezeichnet er (sc. Paulus) nicht das Gesetz, sondern die bei den Juden überlieferte Auslegung des Gesetzes« (Μύθους Ἰουδαϊκοὺς, οὐ τὸν νόμον κέκληκεν, ἀλλὰ τὴν παρὰ Ἰουδαίων προσφερομένην ἑρμηνείαν τοῦ νόμου, PG 82 861,32–37). Doch ist bei diesen Aussagen der im Vergleich zu Tertullian und Irenäus erhebliche zeitliche Abstand zu berücksichtigen. Oberlinner, Titus, 44, lehnt zwar sowohl den Bezug auf das Gesetz als auch auf dessen halachische Auslegung ab, doch klingt seine positive Vermutung (in Anlehnung an Brox, Pastoralbriefe, 289), ähnlich: »In jedem Fall ist damit zu rechnen, daß aus der jüdischen Tradition Einflüsse da sind, auch Einflüsse aus den gesetzlichen Überlieferungen sowohl des Alten Testaments als auch der mündlichen Tradition, allerdings in einer neuen, eigenständigen und z. T. gegen die ursprüngliche Intention des Judentums gerichteten Form als gnostische Inanspruchnahme der Heiligen Schrift in den christlichen Gemeinden.« 73 Vgl. Stählin, Art. μῦθος κτλ., 789. 71 Vgl.

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ein einheitliches Verständnis in den Pastoralbriefen vorliegt. Belässt man die Briefe auch in diesem Punkt in ihrer Eigenständigkeit, so ergibt sich die Möglichkeit, die in 1 Tim 1,4 genannten »Mythen und Genealogien« ausdrücklich mit der »fälschlich so genannten Gnosis« in Verbindung zu bringen, die seit der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts in christlichen Kreisen an Einfluss gewann und Anlass zu umfangreichem antihäretischen Schrifttum war. Der 1.  Timotheusbrief würde sich dann auf seine eigene Weise in diese Zeit der polemischen Auseinandersetzung einfügen, wobei hier noch keine präzise Kenntnis gnostischer Schriften wie etwa bei Irenäus oder Tertullian vorausgesetzt sein muss.74 Dadurch wäre auch verständlich, warum sich diese beiden Apologeten besonders auf den 1. Timotheusbrief beziehen, aber auch, warum Marcion die Pastoralbriefe ablehnte.75 Diese Zusammenhänge lassen weder der Titus-noch der 2. Timotheusbrief erkennen, sondern erst der 1. Timotheusbrief nimmt den Begriff Mythos aus diesen beiden Briefen auf, verbindet ihn mit dem ebenfalls dem Titusbrief entnommenen Begriff der Genealogien, um so auf eine spezielle theologiegeschichtliche Situation in der Auseinandersetzung mit der aufkommenden Gnosis zu reagieren. Bemerkenswert ist, dass der 1. Timotheusbrief das Problem bereits in 1,4 zur Sprache bringt, wodurch sich mit 6,20 ein Rahmen ergibt, der die antignostische Zielrichtung des Briefes umso deutlicher hervortreten lässt.

4. Resümee Im Ergebnis ist festzuhalten, dass das Problem der Gegnerpolemik in den Pastoralbriefen nur dann angemessen erfasst und beschrieben werden kann, wenn die drei Briefe jeweils gesondert betrachtet werden und nicht durch die Behauptung einer 74 

Wobei freilich auch dies nicht per se ausgeschlossen werden kann. Die Bemerkung Tertullians in Tert.Marc. 5,21 über die Ablehnung der Pastoralbriefe durch Marcion ist nicht hinreichend klar. Tertullian wundert sich, warum Marcion den Philemonbrief übernimmt, die Pastoralbriefe aber verwirft, obwohl auch diese an Privatpersonen gerichtet sind. Tertullians ausdrückliche Vermutung ist, dass die Aussonderung der Pastoralbriefe mit der Zahl der Paulusbriefe zusammenhängt, die Marcion in das Apostolikon aufnehmen wollte – also keine inhaltlichen Gründe hatte. Man darf daher an diese Äußerung Tertullians nicht allzu viele weitere Spekulationen knüpfen, so dass die Skepsis von Harnacks (s. o. Anm. 54) durchaus verständlich ist. Tertullian wusste es im Grunde nicht, und seine Vermutung lässt keine Rückschlüsse zu, wie Marcion selbst die Pastoralbriefe einschätzte und ob er – wenn die Datierung bis Mitte des 2. Jahrhunderts wahrscheinlich ist – den 1 Tim überhaupt kannte. Wollte man eine inhaltlich begründete Ablehnung mit Blick auf 1 Tim 6,20 plausibel machen, entstünde darüber hinaus bei einer differenzierten Betrachtung des Gegnerprofils der Pastoralbriefe das Problem, dass 2 Tim und vor allem Tit mit seiner antijüdischen Polemik auch für Marcion eher unproblematisch gewesen sein dürften. Man müsste dann vermuten, dass eine inhaltlich begründete Ablehnung des 1 Tim (wenn er diesen kannte) auch die beiden anderen in den Augen des Marcion diskreditiert hätte, die mit diesem ja unstrittig in gewisser Weise verwandt sind. Aber alle diese Vermutungen gehen bereits über das verantwortbare Maß hinaus. Falls der 1 Tim erst im Zusammenhang der Ablehnung einer mit Marcion vergleichbaren gnostischen Strömung entstanden ist, muss man gar nicht voraussetzen, dass dieser ihn kannte. Der Bezug Tertullians auf alle drei Pastoralbriefe würde dann nur dessen eigene Perspektive spiegeln, nicht die tatsächlichen Bedingungen Marcions. 75 

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einheitlichen Konzeption auch eine einheitliche Gegnercharakteristik erarbeitet werden muss, die in sich ebenso widersprüchlich wie unklar bleibt. Es hat sich gezeigt, dass in den drei Briefen ein je unterschiedliches Profil erhoben werden kann. In einer These zusammengefasst ließe sich kurz sagen, dass die Gegner der Pastoralbriefe Juden, Christen und Gnostiker sind: Juden im Titusbrief, Christen im 2. Timotheusbrief und schließlich Gnostiker im 1. Timotheusbrief. Im Titusbrief wird die Auseinandersetzung mit einer übrigens auch für Paulus selbst nicht ungewöhnlichen76 Polemik geführt, die in ihrer Schärfe den Eindruck einer authentischen Auseinandersetzung sich konsolidierender christlicher Gemeinden mit jüdischen Einflüssen macht, die von außen auf die Gemeinden einwirken, wobei vielleicht der Kontext des kretischen Judentums für die die Häuser verwirrenden Judenchristen eine gewisse Rolle spielt. Die Aggressivität ist Ausdruck für die Tatsache, dass die Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum bzw. um den Einfluss jüdischer Tradition in mehrheitlich wohl heidenchristlichen Gemeinden tatsächlich noch geführt, wenn auch im Brief selbst inhaltlich nicht weiter verfolgt wird. Der 2. Timotheusbrief ist in einer anderen Situation des Apostels in Erwartung seiner Hinrichtung und damit der rückblickenden Reflexion auf die Leiden als Kennzeichen seines Apostolats geschrieben. Sowohl die erkennbaren Aspekte abweichender Lehren als auch die Art des Umganges damit unterscheiden sich vom Titusbrief. In einem eher resignativen und auf Besonnenheit ausgerichteten Ton nimmt Paulus Bezug auf Probleme innerhalb seines eigenen Wirkungskreises. Tendenzen, die er aus seiner eigenen Tätigkeit bereits kennt, sieht er sich ausweiten, insbesondere hinsichtlich der Auferstehungshoffnung. Dass das Festhalten an der auf die Zukunft gerichteten Auferstehungshoffnung dem Apostel in seiner lebensgefährlichen Lage besonders am Herzen lag, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Das Problem war bereits in Korinth aufgekommen und hat später – gegen die Warnung des Paulus – im pseudepigraphischen Epheserbrief einen genuinen Ausdruck gefunden, der damit eine bereits im Kolosserbrief angelegte Tendenz verstärkt. Eine Auseinandersetzung mit jüdischen Einflüssen wie im Titusbrief ist nicht erkennbar. Wieder anders verhält es sich mit dem 1. Timotheusbrief. Hier ist von Anfang an ein Bild der Gegner gezeichnet, das sukzessive auf die Identifizierung als »Gnosis« (6,20) zuläuft, deren Legitimität grundsätzlich infrage gestellt wird. Bleibt man mit dieser Charakteristik innerhalb dieses Briefes, dann lassen sich dem alle Aspekte zuordnen. Es ist darüber hinaus wahrscheinlich, dass der Autor in der konkreten Ausgestaltung der Auseinandersetzung Elemente aus den beiden anderen Briefen aufgreift und sie literarisch und argumentativ auf eine neue, christlich-gnostische Strömung zuspitzt, die nicht mehr zur eigenen christlichen Gruppe gehört. Ob dahinter die marcionitische Gnosis zu sehen ist, könnte durch den Begriff »Antithesen« nahe liegen, der auch Titel einer Schrift Marcions war; aber daran hängt nicht viel, zumal der Autor keine inhaltliche Auseinandersetzung führt. Dem ent76 

Vgl. Phil 3,2–11; 2 Kor 11,12–15.

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spricht, dass ausnahmslos alle Aussagen über die Gegner im 1. Timotheusbrief erkennen lassen, dass die Trennung bereits vollzogen ist, dass es sich um eine bereits entfremdete, neue Gruppe handelt und sich die Gemeinde angesichts solcher Entwicklungen innerhalb der christlichen Tradition ihrer Wurzeln vergewissern soll. Zu dieser Vergewisserung gehören auch sämtliche Ordnungsstrukturen, die nicht erst – wie im Titusbrief – installiert werden müssen, sondern bereits etabliert sind. Die Entstehung des 1. Timotheusbriefes ist daher in der Zeit der aufkommenden Gnosis Anfang bis Mitte des 2. Jahrhunderts anzusetzen als Werk eines unter dem Namen des Paulus schreibenden Autors, dem auch der Titus- und der 2. Timotheusbrief bereits bekannt sind. Letztere Briefe hingegen gehören in eine sehr viel frühere Zeit und können, wenn man die Theorie eines einheitlich konzipierten Corpus pastorale aufgibt, auch als authentische Briefe des Apostels verstanden werden. Beide Konstellationen – die des Titus- wie des 2. Timotheusbriefes – sind in dieser Weise natürlich auch unter pseudepigraphischem Vorzeichen denkbar und wären dann Ausdruck der Kreativität eines Autors, der so gut es irgend geht authentisch wirkende und plausible Situationen aus dem Leben des Apostels nachzeichnet. Die Briefe selbst jedoch legen unter den genannten Voraussetzungen, vor allem hinsichtlich der Unterschiede zum 1. Timotheusbrief, nicht mehr nahe, dass diese pseudonyme Voraussetzung überhaupt notwendig ist und die authentische Autorschaft des Paulus für den Titus- und den 2. Timotheusbrief infrage gestellt werden muss. Da die Gegnerproblematik jedoch nur ein Aspekt eines äußerst komplexen Begründungszusammenhanges ist, muss es an dieser Stelle bei der These bleiben.

Literatur Bauer, Walter, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (Beiträge zur historischen Theologie 10), Tübingen 1934. Baur, Ferdinand Christian, Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostels Paulus aufs neue kritisch untersucht, Stuttgart/Tübingen 1835. Blass, Friedrich/Debrunner, Albert/Rehkopf, Friedrich, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 171990. Brox, Norbert, Γνωστικοί als Häresiologischer Terminus, in: ZNW 57 (1966), 105–114. –, Die Pastoralbriefe (RNT 7.2), Regensburg 41969. Dibelius, Martin/Conzelmann, Hans, Die Pastoralbriefe (HNT 13), Tübingen 41966. Engelmann, Michaela, Unzertrennliche Drillinge? Motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe (BZNW 192), Berlin 2012. Gerber, Christine, Antijudaismus und Apologetik. Eine Lektüre des Titusbriefes vor dem Hintergrund der Apologie Contra Apionem des Flavius Josephus, in: Christfried Böttrich/ Jens Herzer (Hg.), Josephus und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. II. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum, 25.–28. Mai 2006, Greifswald (WUNT 209), Tübingen 2007, 335–363. Goulder, Michael, The Pastor’s Wolves: Jewish Christian Visionaries Behind the Pastoral Epistles, in: NT 38 (1996), 242–256.



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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

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Was ist falsch an der »fälschlich so genannten Gnosis«? Zur Paulusrezeption des Ersten Timotheusbriefes im Kontext seiner Gegnerpolemik 1.  Vorbemerkung und These1 Für die historische und literarische Einordnung der Pastoralbriefe in die Geschichte des frühen Christentums bestand seit jeher das Problem, ein konkretes Gegnerprofil zu erheben, auf das sich die Polemik innerhalb des fiktionalen Corpus pastorale bezieht. Da die drei Mitarbeiterbriefe unter dem Namen des Paulus »ein buntes Repertoire fataler Erscheinungen«2 bieten, werden die Gegner bzw. Irrlehrer zumeist in der Weise charakterisiert, dass jüdische, christliche und/oder gnostische Merkmale nebeneinander gestellt werden. Daraus ergeben sich dann je nach Gewichtung der einzelnen Elemente Bezeichnungen wie »Frühform christlicher Gnosis«3, »judenchristliche Gnostiker«4, »gnostisierender Judaismus«5 oder dergleichen. Dem gegenüber stehen die vehemente Bestreitung einer gnostischen Prägung6 sowie die Betonung des jüdischen bzw. judenchristlichen Hintergrundes.7 1  Die folgenden Überlegungen knüpfen an eine 2008 publizierte Problemanzeige zur Gegnerpolemik der Pastoralbriefe an, vgl. Herzer, Juden  – Christen  – Gnostiker (in diesem Band 293–314), und wurden in der Seminargruppe »The Receptions of Paul« auf dem SNTS-Meeting 2008 in Lund vorgetragen. Unter dem Aspekt der Bedeutung von Frauen in der Gnosis und im 1 Tim vgl. jetzt auch Collins, Female Body. 2  Harnack, Geschichte, 481. 3  So u. a. Brox, Pastoralbriefe, 38. Söding, Mysterium, 505, nennt die gegnerische Position »im genauen Sinn des Wortes prägnostisch«. 4  So u. a. Häfner, Belehrung, 41. Anders akzentuiert ders., Polemik, wonach keine spezifische Charakteristik der Gegner erkennbar sei und aufgrund von Tit 1,10–16 allenfalls »jüdische Merkmale« (a. a. O., 323) eine Rolle spielen. 5  Kittel, γενεαλογίαι, 69: »nicht eine judaisierende Gnosis, sondern ein gnostisierender Judaismus«. 6  Vgl. z. B. Thiessen, Christen, 317–319. Exemplarisch für das Problem ist etwa der Vergleich der Argumentation von Thiessen mit derjenigen von Wolter, Pastoralbriefe, 256–267. Im Ergebnis finden sich etwa die fast gleichlautenden, in der Aussage jedoch gegensätzliche Formulierungen: »Keine der aus den Pastoralbriefen erkennbaren Eigenschaften und Lehren ist innerhalb einer judenchristlichen Gruppe unmöglich oder auch nur schwer unterzubringen« (Thiessen, a. a. O., 337) bzw. »[…] keines der weiteren genannten Elemente der gegnerischen Position (wäre) innerhalb einer gnostischen Gruppe unmöglich oder auch nur schwer unterzubringen« (Wolter, a. a. O., 266). 7  Vgl. z. B. Schlarb, Lehre, 59–141 (judenchristliche Lehrer der paulinischen Mission); Goulder, Wolves (jüdisch-christliche Visionäre mit protognostischen Zügen nach Art des Barbelo-Gnostizismus); Vertreter der Echtheit der Pastoralbriefe bestreiten grundsätzlich Affinitäten

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

An dieser Kontroverse wird immerhin deutlich, wie unklar die Äußerungen über Gegner in den Pastoralbriefen sind, wie vielfältig dadurch die Interpretationsmöglichkeiten werden und wie differenziert angemessene Deutungen in methodischer wie inhaltlicher Hinsicht sein müssen. Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse soll im Folgenden anhand einer spezifischen Fokussierung auf den 1. Timotheusbrief gezeigt werden, dass weder eine Bestreitung gnostischer Einflüsse noch die Nivellierung des Gegnerprofils auf eine wie auch immer zu definierende Mischform der Irrlehre angemessen ist, sondern dass die Plausibilität der Gnosisperspektive in dem Maße zunimmt, wie man den 1. Timotheusbrief von den beiden anderen Pastoralbriefen zeitlich und damit auch inhaltlich abrückt. Diese doppelte Differenzierung in zeitlicher wie inhaltlicher Hinsicht ermöglicht nicht nur eine präzisere Profilierung der impliziten Gegner, sondern auch eine plausible Verankerung des 1. Timotheusbriefes in den antihäretischen Diskursen des 2. Jahrhunderts.8 Ein besonderes Gewicht kommt der Frage zu, wie unter diesen Vorzeichen die Paulusrezeption im 1. Timotheusbrief erfolgt und warum sie unter pseudepigraphischem Vorzeichen geschieht – zwei Fragen, die bisher nicht überzeugend beantwortet wurden. Zur Profilierung des Problems sollen dazu zunächst einige forschungsgeschichtliche und methodische Aspekte dargestellt werden, um dann die Hinweise auf eine gegnerische Position im 1.  Timotheusbrief mit Blick auf die Paulusrezeption zu analysieren sowie nach möglichen Verbindungen zu antignostischen Auseinandersetzungen insbesondere bei Irenäus von Lyon zu fragen. In einem letzten Schritt wird eine Standortbestimmung des 1. Timotheusbriefes versucht, in der auch eine Begründung für die besondere Art der Instrumentalisierung des Apostels im Kampf gegen den Einfluss als häretisch beurteilter Gruppen gegeben wird. Die These, die dabei entfaltet und begründet werden soll, lautet: Anders als im Titus- und im 2. Timotheusbrief setzen die inhaltlichen Andeutungen des 1. Timotheusbriefes bei der Abgrenzung von gegnerischen Gruppen einen gnostischen Hintergrund voraus, der durch den Begriff der »pseudonymen Gnosis« in 1 Tim 6,20 ausdrücklich benannt wird. Jüdische Einflüsse der Gegner, wie sie vor allem für den Titusbrief charakteristisch sind, spielen im 1. Timotheusbrief als solche keine Rolle mehr. Das Ziel der Gegnerpolemik ist zudem nicht eine inhaltliche Auseinandersetzung, etwa mit der Absicht, die »Andersgläubigen« wieder zu gewinnen, sondern vielmehr die Begründung der bereits bestehenden und notwendigen Abgrenzung nach außen und damit verbunden eine Konsolidierung der eigenen paulinischen Tradition nach innen.

des Gegnerprofils zu gnostischen Positionen, vgl. Towner, Gnosis, der die Gegner mit Hinweis auf 2 Tim 2,18 in die Nähe der sog. Enthusiasten in Korinth stellt und den Gnosisbegriff in 1 Tim 6,20 auf eine »realized eschatology« bezieht; vgl. auch Pietersen, Polemic, 138. Einen jüdischen Hintergrund der Gegner von 1 Tim und Tit vermutet Murphy-O’Connor, 2 Timothy, bes. 415. 8  Vgl. auch Collins, Female Body.

Was ist falsch an der »fälschlich so genannten Gnosis«? 



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2.  Forschungsgeschichtliche und methodische Aspekte Für die Identifizierung der Gegner der Pastoralbriefe spielt die in 1 Tim 6,20 formulierte Warnung an Timotheus eine herausragende Rolle: »O Timotheus, bewahre die Überlieferung und wende dich ab von dem gottlosen Geschwätz und den Widersprüchen der fälschlich so genannten ›Erkenntnis‹ (ἀντιθέσεις τῆς ψευδωνύμου γνώσεως), welche einige verkünden und damit im Blick auf den Glauben Schiffbruch erlitten haben.«

Die Strittigkeit des Gnosisbegriffes in 1 Tim 6,20 hat in Verbindung mit Tit 1,10 (μάλιστα οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς), Tit 1,14 (Ἰουδαϊκοὶ μῦθοι)und 1 Tim 1,7 (θέλοντες εἶναι νομοδιδάσκαλοι) dazu geführt, deren jüdisches bzw. judenchristliches Profil hervorzuheben, woraus die eingangs genannten terminologischen Notlösungen resultieren. Ein gnostisches Verständnis der Gegnercharakteristik ist hingegen schon sehr früh in zeitlicher Nähe zu den Pastoralbriefen zu belegen. Während sich die meisten Schriften der frühen Kirche des 2. Jahrhunderts9 auf unterschiedliche Weise mit der Autorität des Amtes und der damit verbundenen Einheit der Kirche befassen, ist Irenäus von Lyon (ca. 140–200) der erste, der sich in seinem vermutlich zwischen 180 und 185 geschriebenen Werk Adversus Haereses10 ausführlich und systematisch mit den gnostischen Strömungen seiner Zeit befasst. Dabei kann er wie selbstverständlich 1 Tim 6,20 heranziehen, um mit dem Lexem ψευδώνυμος γνῶσις nicht nur die unterschiedlichen Richtungen der γνωστικοί generell zu charakterisieren,11 sondern er formuliert auch den – bei Eus.h. e. V 7,1 überlieferten – Titel seines Gesamtwerkes in Anlehnung an 1 Tim 6,20: ἔλεγχος καὶ ἀνατροπὴ τῆς ψευδωνύμου γνώσεως.12 Auch wenn aus der Rezeption durch Irenäus noch keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Intention von 1 Tim 6,20 zu ziehen sind, so lässt sich damit zumindest die Frage legitimieren, ob ein Bezug des 1. Timotheusbriefes auf gnostische Strömungen tatsächlich mit dem Hinweis auf ein mutmaßlich dominierendes jüdisches Profil ausgeschlossen werden kann. Bemerkenswert bei der antignostischen Rezeption von 1 Tim 6,20 durch Irenäus ist, dass er den Begriff der »Antithesen« in diesem Zusammenhang nicht mit zitiert. Dieser Sachverhalt relativiert z. B. die umstrittene These von Ferdinand Christian Baur, die antignostische Polemik von 1 Tim 6,20 richte sich speziell gegen Marcions 9 

Vgl. besonders Did, 1 Clem, Ign. Die Zitate von Irenäus folgen in Text und Übersetzung ohne weitere Nachweise der Ausgabe: Brox, Irenäus; zur Datierung vgl. a. a. O., Bd. 8/I, 17. 11 Vgl. Brox, Γνωστικοί, 110; Noormann, Irenäus, 71 f. Zur Paulusrezeption bei Irenäus vgl. auch Norris, Irenaeus; Balás, Use. Noormann, Norris und Balas messen der Bedeutung der Pastoralbriefe für Irenäus geringere Bedeutung bei; vgl. demgegenüber White, Ireneaus, 128, der zu Recht »a programmatic, intertextual relationship between Adversus haereses and the Pastoral Epistles« (vgl. a. a. O., 146–148) sowie die intensive Benutzung der Pastoralbriefe bei Irenäus aufzeigt. 12  Vgl. auch haer. IV pr. 1; 2 f. u. ö., zur Anknüpfung an 1 Tim 6,20 vgl. Noormann, Irenäus, 70–73; Looks, Rezeption, 335; White, Irenaeus, 126; vorsichtiger Brox, Γνωστικοί, 108 Anm. 15. 10 

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

(nicht erhaltenes) Werk der »Antithesen«,13 wogegen eingewandt wurde, dass Marcion darin keine gnostischen Spekulationen, sondern eine Gegenüberstellung alt- und neutestamentlicher Aussagen vorgenommen habe.14 Mit diesem konkreten Bezug war für Baur zugleich die Abfassung aller drei Briefe in die Mitte des 2. Jh.s n. Chr. festgelegt, wenn man Marcions Wirksamkeit neben Valentin in Rom zwischen ca. 135/140 und 165 n. Chr. ansetzt.15 Immerhin bleibt dabei ein erheblicher Spielraum für die tatsächliche Abfassungszeit der »Antithesen« des Marcion – und damit eben auch für die davon abhängige Datierung der Pastoralbriefe. Während Adolf von Harnack die Verbindung der Gegnerpolemik des 1. Timotheusbriefes zu Marcion ablehnte (s. u.), sah auch Walter Bauer in Marcion den entscheidenden Anstoß zur Abfassung der Pastoralbriefe und verstand die Briefe als gegen die Marcioniten und andere, Paulus für sich beanspruchende Irrlehrer gerichteten Versuch der Kirche, »Paulus unmißverständlich in die antihäretische Front einzugliedern«,16 mit der Konsequenz der Datierung in das 2. Jahrhundert, und zwar nach Polykarp und vor Irenäus.17 Noch Hans von Campenhausen ging bekanntlich – ähnlich wie Bauer – in der Zuschreibung der Pastoralbriefe an Polykarp von Smyrna davon aus, dass 1 Tim 6,20 auf die Antithesen des Marcion zu beziehen sei, »den gefährlichsten Gegner, den die Kirche im ganzen Altertum gehabt hat«.18 Die antignostische Interpretation von 1 Tim 6,20 setzte sich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert weitgehend durch, wobei die Engführung auf Marcion zu Recht problematisiert wurde.19 So bezog Otto Pfleiderer 1 Tim 6,20 zwar ebenfalls 13  Baur, Pastoralbriefe, 10.25; sowie Bauer, Rechtgläubigkeit, 229; Hoffmann, Marcion, bes. 281–305. 14  Vgl. Tert.Marc. 3,5; s. dazu die Rekonstruktionsversuche bei Hahn, Antitheses, sowie von Harnack, Marcion, 256*–313*. Vgl. auch Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 378–395. Zur Kontroverse zwischen Marcion und Tertullian vgl. Lieu, Apostle. Zum Marcionbild Adolf von Harnacks vgl. Kinzig, Harnack; weiterhin Engelmann, Untersuchungen, 394–396. Ein Bezug des Begriffes speziell auf Marcions Schrift der »Antithesen« muss diesen als einen literarischen interpretieren, was jedoch weder sachlich noch von der Satzkonstruktion in 1 Tim 6,20 her naheliegt, vgl. dazu Schlarb, Miszelle, 277. 15 Vgl. Cancik, Gnostiker, 175, der die Hauptvertreter der Gnosis in Rom lokalisiert, z. T. mit eigenen Schulen (a. a. O., 175–178). 16  Bauer, Rechtgläubigkeit, 228. 17  Vgl. a. a. O., 229. 18  Von Campenhausen, Polykarp, 206. Im Blick auf die Ermahnung der Frauen im 1 Tim vermutet auch Collins, Female Body, 161–163, eine Reaktion auf Marcion, insbesondere dessen Verbot der Ehe, wie es sich in 1 Tim 4,3 sowie in der Anweisung zur Ehe für die jüngeren Witwen in 5,14 spiegelt. 19  Ablehnend bereits Jülicher, Einleitung, 166; vgl. die Zusammenfassung der Argumente bei Schnelle, Einleitung 2007, 374. Als wesentliche Aspekte nennt Schnelle, dass die Irrlehrer der Pastoralbriefe das Alte Testament positiv beurteilen würden und spätere Marcioniten die Briefe in das Corpus Paulinum aufgenommen hätten. Während das Letztere im Blick auf das Verhältnis der Pastoralbriefe zu Marcion kaum aussagekräftig ist, ist auch das erste Argument nicht zwingend, da die Bedeutung des Alten Testaments zwar von 2 Tim 3,16 her für den Autor als positiv vorausgesetzt werden kann, nicht aber ohne weiteres für die Gegner; zu Bedeutung und Bezug des Begriffes νομοδιδάσκαλος in 1 Tim 1,7 s. u. Auch von Harnack, Marcion, 132*, ist skeptisch, ob Marcion bzw. seine Nachfolger die Pastoralbriefe tatsächlich ablehnen. Andere gehen davon aus, dass Marcion die Briefe nicht gekannt habe, vgl. z. B. Trummer, Corpus, 124.

Was ist falsch an der »fälschlich so genannten Gnosis«? 



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klar auf Marcion, wies aber zugleich dar­auf hin, dass der Verfasser der Pastoralbriefe darüber hinaus ganz unterschiedliche häretische Lehren seiner Zeit vor Augen hatte, u. a. die valentinianische Gnosis, ohne diese Strömungen klar voneinander zu unterscheiden.20 Auch für Adolf von Harnack war klar: »Daß die Pastoralbriefe antimarcionitisch sind, ist längst widerlegt«; allerdings fügt er im Blick auf 1 Tim 6,20 hinzu, dass dies »höchstwahrscheinlich ein Zusatz (ist); er könnte antimarcionitisch sein und auf die ›Antithesen‹ anspielen«.21 Diese literarkritische Lösung schafft zwar das Problem von 1 Tim 6,20 im Bezug auf die sonstige Gegnercharakteristik der Pastoralbriefe aus der Welt, beruht aber auf einer unbeweisbaren Vermutung.22 Ein entscheidendes Problem der Annahme eines gnostischen bzw. marcionitischen Hintergrundes der Gegner in den Pastoralbriefen wie auch seiner Bestreitung ist und bleibt neben der Interpretation von 1 Tim 6,20 die Vielfalt der Einzelaspekte, die unter der forschungsgeschichtlich maßgeblich gewordenen Voraussetzung der einheitlichen Abfassung des Corpus pastorale gewissermaßen auf einen Nenner gebracht werden müssen. Wie die knappen Einblicke in die Forschungsgeschichte zeigen, fallen die Lösungen dieses Problems aufgrund der unterschiedlichen Beurteilung und Gewichtung der argumentativen Voraussetzungen sehr verschieden und sehr oft gegensätzlich aus – ein Umstand, der darauf hinweist, dass die Ausgangslage aufgrund der gegebenen Textbasis keineswegs klar ist.23 Methodisch soll nicht nur angesichts der Forschungsgeschichte, sondern auch aufgrund berechtigter – an dieser Stelle nicht zu thematisierender – Zweifel an der Theorie eines einheitlichen Corpus pastorale24 der 1. Timotheusbrief als eigenständiges Schreiben betrachtet werden, dessen antignostisches Profil umso deutlicher zutage tritt, wenn man ihn von den beiden anderen Pastoralbriefen unterscheidet. Allerdings sind 20 Vgl.

Pfleiderer, Paulinismus, 467–469. Von Harnack, Marcion, 3* Anm. 1. Auch Kümmel, Einleitung, 334, sieht in 1 Tim 6,20 eine antignostische bzw. antimarcionitische Interpolation, kennzeichnet die Irrlehre aber gleichzeitig als »judenchristlich-gnostisch« (a. a. O., 333), welche auch »zu Lebzeiten des Paulus an sich durchaus vorstellbar« sei (a. a. O., 334). Auch Brox, Pastoralbriefe, 38, sagt von den erkennbaren gnostischen Elementen, »daß sie eine Frühdatierung der Häretiker der Pastoralbriefe in die Lebenszeit des Paulus oder in das Ende des ersten Jahrhunderts zumindest gestatten, wenn nicht gar empfehlen.« Nicht die Irrlehre selbst, wohl aber die Art und Weise, wie gegen sie argumentiert werde (»Vermeidung sachlicher Auseinandersetzung«, a. a. O., 39), spreche jedoch gegen paulinische Verfasserschaft. 22  Ähnlich spekulativ Schenk, Briefe, 3428, der zwar einen Bezug von 1 Tim 6,20 auf Marcion für möglich hält, zugleich aber notiert, der Rest der Gegneraussagen scheine dazu nicht zu passen, weil der pseudonyme Paulus wegen der Fiktion nicht zu konkret habe werden dürfen. 23 Für Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 54, war bekanntlich diese Unschärfe Anlass dafür, dahinter eine bewusste Strategie des Verfassers zu erkennen und in den Pastoralbriefen eine Art Handbuch der Irrlehrer-Polemik, ein »apologetisches Vademecum« zu sehen, mit der die Verantwortungsträger der Gemeinden »für alle möglichen antignostischen Kämpfe« ausgerüstet werden sollten. Vgl. dagegen zu Recht Häfner, Polemik, 322: »Die Gegner sind real und kein Platzhalter für alle möglichen antihäretischen Kämpfe oder nur Negativfolie für die eigene Position. Wer derart stark auf Polemik setzt, hat ein Gegenüber, auf das sie sich richtet.« 24  Vgl. dazu umfassend Engelmann, Untersuchungen. 21 

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

unter diesem Vorzeichen Differenzierungen nötig und möglich, die auch eine konkretere Einordnung des 1. Timotheusbriefes als eines sich auf Paulus berufenden pseudepigraphischen Schreibens in die theologiegeschichtlichen Entwicklungen des 2. Jahrhunderts erlauben. Insbesondere die Paulus-Pseudepigraphie ist im Kontext der Paulusrezeption des 2. Jahrhunderts zumindest ungewöhnlich und muss eigens begründet werden in einer Zeit, in der Paulus von gnostischen und anderen Gruppen beansprucht wurde und die orthodoxe bzw. sich als normativ verstehende kirchliche Paulusrezeption diesen Apostel inhaltlich erst nach und nach für sich entdeckte. Eine Schrift, die sich in einer solchen Zeit unter den Namen des Paulus stellt, ragt aus der Literatur des 2. Jahrhunderts mindestens genauso hervor wie die Ignatiusbriefe mit ihrer nur schwer einzuordnenden und sicher von 1. Timotheusbrief beeinflussten Betonung des Monepiskopats, das bereits starke monarchische Züge trägt.25

3.  Die Paulusrezeption in den Gegneraussagen des 1. Timotheusbriefes vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit gnostischen Strömungen im 2. Jh. n. Chr. Während die Polemik des Titusbriefes ausdrücklich vor allem jüdische Irrlehrer im Blick hat (Tit 1,10.14), lassen die wenigen Aussagen im 2. Timotheusbrief ein jüdisches Profil nicht erkennen, sondern thematisieren unterschiedliche Auffassungen über christliche Glaubenstopoi, die nicht vorschnell auf einen jüdischen oder gnostischen Hintergrund eng geführt werden dürfen, auch wenn eine Aussage wie in 2 Tim 2,18, die »Auferstehung sei schon geschehen«, zu bestimmten gnostischen Auffassungen passt. Doch reicht das nicht aus, um den 2.  Timotheusbrief in die antignostische Polemik des 1.  Timotheusbriefes einzuschließen, da gerade diese konkrete Aussage auch im innerpaulinischen Diskurs früherer Zeit plausibel verankert werden kann und daher für sich genommen nicht auf einen gnostischen Hintergrund verweist, zumal der 2. Timotheusbrief dafür keine weiteren Hinweise gibt. Demgegenüber kann gezeigt werden, dass sich das Profil der Gegner im 1. Timotheusbrief eigentümlich verändert. Anders als im Titus- und im 2. Timotheusbrief tritt die Auseinandersetzung mit den Gegnern im 1. Timotheusbrief ungleich stärker in den Vordergrund. Bereits der erste Abschnitt in 1 Tim 1,3–11 greift dieses Thema ausführlich auf, noch bevor der 25  Zur Datierung der Ignatiusbriefe vgl. Hübner, Thesen, der eine Spätdatierung in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts vertritt (zwischen 160 und 180). Zu Hübners Versuch vgl. die Kritik von Schöllgen, Ignatianen; Edwards, Ignatius, die aber beide m. E. die Argumente Hübners nicht vollständig entkräften können. Das größte Problem bei Hübner scheint die behauptete Abhängigkeit der Ignatianen von Noët von Smyrna zu sein. Vgl. kritisch auch Dassmann, Entstehung, 71 f., der weitere Vertreter der Spätdatierung anführt. Zur verbreiteten Datierung zwischen 135–140 vgl. Lindemann/Paulsen, Väter, 243; offener allerdings bei Lindemann, Antwort, in der Reaktion auf R. Hübners Spätdatierung der Ignatianen.

Was ist falsch an der »fälschlich so genannten Gnosis«? 



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Verfasser die übliche Danksagung in 1,12–17 anstimmt. Daran wird ersichtlich, dass das große Thema der Leitungsstrukturen im 1. Timotheusbrief in enger Korrelation zu den Ausein­andersetzungen mit denen steht, die vom überkommenen Glauben abweichen. Dem entspricht die Tatsache, dass zur Kennzeichnung der Gegner in 1,4 ihre Abweichung von der οἰκονομία θεοῦ unmittelbar dazu gehört. Die Erörterungen zur Ämterstruktur sind im 1. Timotheusbrief dadurch eigentümlich verwoben mit den Aussagen über die Gegner, die letztlich durch die Bemerkungen in 1,4 und 6,20 sogar einen Rahmen für den Briefinhalt vorgeben. Die Festschreibung bzw. »Ratifizierung« bereits bestehender Strukturen26 ist vor allem dieser Ausein­ andersetzung geschuldet. In diesem Kontext ist die Frage nach der Paulusrezeption nicht nur auf inhaltliche Aspekte zu beziehen, sondern insbesondere darauf, wie sie sich in den Gegneraussagen niederschlägt und welche Bedeutung der Bezug auf Paulus gewinnt.

3.1  Die Paulusrezeption in den Gegneraussagen des 1. Timotheusbriefes27 Angesichts der Tatsache, dass die wenigen infrage kommenden Belege im 1.  Timotheusbrief inhaltlich wenig präzise sind, ist die Kontroverse um das Profil der Gegner verständlich. Dennoch lassen sich innerhalb des 1.  Timotheusbriefes alle Aussagen auf ein einheitliches Gegnerbild zurückführen. Bereits aus der Erwähnung von μῦθοι καὶ γενεαλογίαι ἀπεράντοι in 1 Tim 1,4 ist die Bedeutung der Gegner als Anlass des Briefes zu entnehmen.28 Die Begriffe kommen in den anerkannten Paulusbriefen nicht vor. Der Begriff μῦθοι (in den Pastoralbriefen nur im Plural) ist in Tit 1,14 noch unmittelbar auf einen jüdischen Kontext bezogen, der darüber hinaus auch in Tit 1,10 durch die besondere Warnung vor οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς explizit vorgegeben ist. Die Gegner des Titusbriefes sind damit unmissverständlich als von jüdischer Herkunft gekennzeichnet, und die Deutlichkeit, mit welcher der Verfasser darauf hinweist, stellt die weiteren Aussagen über die Gegner des Titusbriefes in diesen Kontext. Der Begriff μῦθοι in 1,14 wird sogleich mit dem Hinweis auf »Menschengebote« konkretisiert, und auch die γενεαλογίαι von Tit 3,9 stehen damit unter einem jüdischen Vorzeichen, was durch die Erwähnung von μάχας νομικάς unterstrichen wird.29 In 2 Tim 4,4 ist μῦθοι als Gegenbegriff zur Wahrheit verwendet, ohne dass ein konkreter jüdischer Hintergrund erkennbar wäre. Die spezifische lexematische Zusammenstellung von »Mythen und Genealogien« kommt jedoch nur in 1 Tim 1,4 vor, so dass an dieser Stelle mit einer programmatischen Formulierung des Autors zu rechnen ist, mit der er die aktuelle Auseinandersetzung in pauschaler Weise auf den Punkt bringt und sich dabei offenbar aus dem Titus- und dem 2.  Timotheusbrief vorgegebener  – dort 26 

Vgl. bes. 1 Tim 3,1 im Unterschied zu Tit 1,5–9. Vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen, 364–535, bes. 505–521; dies., Paulusbilder. 28 Vgl. Engelmann, Untersuchungen, 379–385. 29 Vgl. Herzer, Juden – Christen – Gnostiker (in diesem Band 293–314). 27 

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aber noch anders kontextualisierter – Begriffe bedient. In dieser programmatischen Perspektive ist alles, was im 1.  Timotheusbrief inhaltlich entfaltet wird, zu lesen und zu verstehen – insbesondere die Abschnitte, die mit der Gemeindestruktur und dem Gemeindeverständnis als »Haus Gottes, Säule und Fundament der Wahrheit« (3,15) zusammenhängen.30 Damit ist zugleich die Binnenperspektive des Briefes angezeigt: Es geht nicht um eine argumentative Auseinandersetzung über konkrete Inhalte, sondern um die abwertende Kennzeichnung der Gegner als Gefährdung für den Bestand der eigenen Gemeinde.31 Aus 1 Tim 1,6 f. geht hervor, dass sich die Gegner offenbar für besonders schriftkundig halten und sich in einer nicht näher bestimmbaren Weise mit der Auslegung des Gesetzes beschäftigen. Die Art und Weise, wie der Verfasser darauf eingeht, lässt an seiner Haltung keinen Zweifel: Die »selbsternannten Gesetzesgelehrten« (θέλοντες εἶναι νομοδιδάσκαλοι, 1,7) bringen nur »nutzloses Gerede« hervor, welches ihre Abwendung vom Glauben und ihr Unverständnis dokumentiert. Der unmittelbar anschließende Vers 1,8 legt nahe, dass das Gesetz ein besonderes Thema solcher Auseinandersetzungen war und von den »selbsternannten Gesetzesgelehrten« offenbar negativ bewertet wurde, da der Verfasser betonen muss, dass das Gesetz im rechten Gebrauch gegen Ungerechtigkeit und Ungehorsam durchaus gut sei (1,9 f.). In Verbindung mit Tit 1,14 ist der seltene Begriff νομοδιδάσκαλοι in 1 Tim 1,7 immer wieder als Hinweis auf die jüdische Prägung und Herkunft der Gegner verstanden worden.32 Doch muss man die kontextuelle Verankerung des Begriffes innerhalb des 1. Timotheusbriefes stärker beachten und dessen Aussagen nicht vorschnell vom Titusbrief her relativieren. Aus 1 Tim 1,3–11 lässt sich gerade keine besondere Wertschätzung des Gesetzes als jüdisches Gesetz und damit ein spezifisch jüdisches Profil der Gegner ableiten, sondern es unterstellt den Gegnern einen verfehlten Umgang mit dem Gesetz, der auf einer offenbar als unangemessen beurteilten Selbsteinschätzung beruht.33 Der unter dem Namen des Paulus schreibende Verfasser begibt sich hier angesichts der Bedeutung des Gesetzes für Paulus selbst auf relativ dünnes Eis, da sich die Häretiker mit ihrer Bewertung des Gesetzes vermutlich durchaus als konsequente Pauliner hätten verstehen können bzw. sogar verstanden haben. Ohne dies eigens argumentativ zu erörtern, spiegelt sich hier jener Diskurs, der schon Paulus dazu gebracht hat zu betonen, dass das Gesetz selbst als Gottes Gesetz selbstverständlich »heilig, gerecht und gut« sei (Röm 7,1234), und als solches die Sünde aufdecke, aber deshalb nicht mit ihr verwechselt werden dürfe (Röm 7,7).

30 Vgl.

Herzer, House of God (in diesem Band 273–291). Wolter, Pastoralbriefe, 266 f. 32  Vgl. a. a. O., 259; Häfner, Polemik, 304. Der Begriff νομοδιδάσκαλος findet sich sonst nur noch in Lk 5,17 und Apg 5,34. 33  Vgl. dazu Collins, Female Body, 169, die dies u. a. auf den Umgang und die Deutung der Schöpfungsgeschichte in gnostischen Mythen bezieht. 34  Vgl. Röm 7,16: καλός wie in 1 Tim 1,8, statt ἀγαθός wie in Röm 7,12. 31 Vgl.

Was ist falsch an der »fälschlich so genannten Gnosis«? 



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Nach der – verspäteten – Danksagung wird an prominenter Stelle in 1 Tim 1,20 das einzige konkrete Beispiel für die Abwendung bzw. den »Schiffbruch« im Glauben geschildert. Zwei Personen, deren Namen aus 2 Tim 2,18 und 4,14 auf andere Weise bekannt sind, sind dem Satan übergeben worden, womit unübersehbar auf einen Vorgang Bezug genommen wird, wie ihn Paulus in 1 Kor 5,1–5 der korinthischen Gemeinde empfohlen hatte. In 1 Tim 1,20 ist dies allerdings nicht als Auftrag an Timotheus formuliert, sondern als etwas konstatiert, das Paulus bereits vollzogen habe.35 Dies entspricht der Gesamttendenz des 1. Timotheusbriefes, der sich nicht nur nicht mit den Gegnern inhaltlich auseinander setzt, sondern auch deutlich werden lässt, dass die Abgrenzungen bereits vollzogen sind36 und es nunmehr darum geht, die dadurch entstehende Herausforderung bzw. Infragestellung der eigenen Identität zu bewältigen. Dem Anliegen der Vergewisserung der eigenen, gruppeninternen Identität dienen die sich anschließenden Ausführungen zunächst bis zum Ende von Kap. 3, bevor in 1 Tim 4,1–3 erneut pauschale Charakterisierungen der Gegner (πνεύματα πλανοί, διδασκαλίαι δαιμονίων bzw. ὑπόκρισις ψευδολόγων) sowie konkretere Verhaltensweisen bzw. Haltungen der Gegner benannt werden, die mit asketischen Forderungen verbunden sind, nicht zu heiraten und bestimmte Speisen zu meiden.37 Der Anspruch von Schriftkenntnis (1,7) und die zumindest ambivalente Haltung dem Gesetz gegenüber (1,9) passen dabei durchaus zu 4,1–3 und charakterisieren eine sich absondernde christliche Gruppe, für die »irrende Geister, Lehren von Dämonen« (4,1) charakteristisch sind. Dies geht immer wieder einher mit Stereotypen unterschiedlicher Art, wenn etwa in 4,7 pauschal die βεβήλους καὶ γραώδεις μύθους verurteilt werden oder in 5,24 von den Sünden einiger die Rede ist, denen andere hinterherlaufen. Der eingangs noch mit μῦθοι verbundene Terminus γενεαλογίαι wird in 4,7 und auch sonst im 1. Timotheusbrief nicht wieder aufgegriffen, so dass der Begriff μῦθοι als primäre Charakterisierung der Irrlehre hervortritt. Hierher gehören schließlich auch die Schlagworte, die in 6,3–5 den Abfall von der gesunden Lehre mit Streitsucht und dergleichen explizieren und in 6,10 schließlich unlautere Machenschaften (φιλαργυρία) unterstellen. Die Verwendung polemischer Stereo35  Da

ein Gemeindeausschluss dieser beiden eine im Vergleich zu 2 Tim 2,18 und 4,14 fortgeschrittene Maßnahme darstellt, der 1 Tim aber unter dem Vorzeichen der Fiktion vor dem 2 Tim anzusetzen wäre, bereitet diese Konstellation einige Probleme, die hier nicht weiter verfolgt werden können. Die Lösung liegt m. E. darin, dass der 1 Tim den 2 Tim literarisch bereits voraussetzt und dabei aus der Überlieferung (einschließlich Tit und 2 Tim) bekannte Namen in eine Verbindung mit anderen paulinischen Aussagen gebracht werden. 1 Tim 1,20 ist also in Anlehnung an die Namensangaben in 2 Tim von einem pseudonymen Autor zur Veranschaulichung einer paulinischen Gemeindezuchtpraxis zum Zweck der Abgrenzung von anderen christlichen Gruppen formuliert, vgl. Engelmann, Untersuchungen, bes. 408–414.581–597. 36  Die Gegneraussagen in 1,6.19; 6,5.10.21 sind durchweg im Aorist oder Perfekt formuliert. 37  Auf einen jüdischen Kontext kann hier verwiesen werden, vgl. Thiessen, Christen, 326 f., mit Hinweis auf die Bedeutung der Reinheitsgebote in Tit 1,15. Da es aber – anders als im Tit – im 1 Tim nicht ausdrücklich notiert wird, liegt dem Verfasser daran also nichts Entscheidendes. Da es sich im 1 Tim um innerchristliche Auseinandersetzungen handelt, ist ein spezifisch jüdischer Hintergrund unwahrscheinlich.

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typen spricht allerdings nicht dagegen, dass eine konkrete Gruppe bzw. konkrete Gruppen im Blick sind.38 Im Gegenteil, der Rückgriff auf polemische Topoi lässt sich durch zwei korrespondierende Motive erklären: Entweder vermeidet der Autor bewusst eine konkrete inhaltliche Auseinandersetzung, um die Irrlehren nicht unnötig noch bekannter zu machen, oder er hat selbst keine detaillierte Kenntnis von den Irrlehren, sondern sieht lediglich die Gefahr, die von ihnen für den inneren Zusammenhalt seiner Gemeinde ausgeht. Eine Entscheidung in dieser Frage lassen die Aussagen des Briefes nicht zu, doch allein die Gefahr ist für den Autor Grund genug, pauschal jeden Umgang und jede Auseinandersetzung zu meiden und sich stattdessen um den strukturellen Zusammenhalt der eigenen Gruppe zu bemühen. Schließlich ist auf jene Stellen hinzuweisen, aus denen in einem indirekten Schlussverfahren gegnerische Positionen erhoben werden können.39 Dabei kommt den einzelnen Äußerungen durchaus unterschiedliches Gewicht zu, denn nicht jede positive Aussage muss ein negatives Pendant vermuten lassen. So könnte etwa die in einen sonst wahrscheinlich traditionell geprägten Abschnitt eingefügte Betonung des Menschseins Jesu Christi in 1 Tim 2,5 durchaus gegen eine doketische Christologie gerichtet sein, während die Aufforderung zum Gebet für die Obrigkeit (1 Tim 2,1 f.) aus den die Gruppe nach innen konsolidierenden Prozessen plausibel zu machen ist (vgl. 1 Tim 2,2: »[…] damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen […]«) und nicht etwa auf eine staatskritische Auffassung der Gegner zurückgeführt werden kann. Immerhin konnte der Autor dabei nicht nur auf Röm 13 (vgl. auch Tit 3) zurückgreifen. Ähnliches gilt auch für weitere paränetische Weisungen wie etwa die Sklavenparänese in 1 Tim 6,1 f.40 Diese korrespondiert zwar nicht ausdrücklich, aber doch sachlich mit den Ermahnungen an die Reichen in 6,17–19 und spricht ein dezidiert gruppeninternes Problem an. Insbesondere bei der Mahnung an die Sklaven wird ein Bezug nicht nur auf Phlm 16, sondern auch auf 1 Kor 7,21 f. erkennbar, allerdings erneut in einer veränderten Weise. Was Paulus in 1 Kor 7 noch als Möglichkeit offen hält, nämlich dass der christliche Sklave eine Möglichkeit zur Freilassung auch ergreifen sollte,41 ist in 1 Tim 6 nicht mehr im Blick. Die gehorsame Unterordnung unter die Herren wird zur selbstverständlichen Haltung, um den »Namen Gottes und die Lehre« vor Verleumdung zu schützen. 1 Tim 6,2 könnte darüber hinaus nahelegen, dass diese Haltung bei den Sklaven nicht selbstverständlich war, sondern sie sich ihren christlichen Herren eher gleichgestellt sahen und auch so behandelt werden wollten. Dieser Anspruch konnte aus einer Missdeutung von Phlm 16 abgeleitet werden, wo Paulus dem Philemon nahe legt, Onesimus »nicht mehr wie einen Sklaven, sondern über das Sklavesein hinaus als 38 Vgl. Bauer, Rechtgläubigkeit, 92 f.; sowie Wolter, Pastoralbriefe, 263, für den trotz der Feststellung »traditionelle(r) Topoi der Antisophistenpolemik« feststeht, dass es die »in den Pastoralbriefen bekämpften Gegner […] wirklich gegeben« habe. 39  Zur Problematik des Verfahrens und der entsprechend gebotenen Vorsicht vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 259–261. 40  Vgl. a. a. O., 260, der dahinter »einen gegen das Christentum allgemein gerichteten Vorwurf« sieht. 41 Vgl. Wolff, 1 Kor 1996, 150 f.

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geliebten Bruder« zu behandeln. Unter diesen Vorzeichen gelesen würde die Sklavenparänese des 1. Timotheusbriefes auf gewisse Freiheitsbestrebungen von Sklaven hinweisen, die die gegebenen Verhältnisse und damit das Ideal des »ruhigen und stillen Lebens« infrage stellten. Durch eine definitive Entscheidung der bei Paulus noch offenen Möglichkeiten soll solchen Fehlentwicklungen entgegengewirkt werden. Woher der mögliche Anstoß zu einer missbräuchlichen Verallgemeinerung eines konkreten Rates des Paulus an einen Freund in späterer Zeit kam, bleibt offen. Unter dem Vorzeichen der Pseudepigraphie wäre es in fiktiver Weise Paulus selbst, der diese Dinge klärt und entscheidet – bzw. jene Gruppe, die sich in ihrer Paulusfiktion darüber einig ist, wie Paulus selbst diese Fragen entschieden hätte.42 Ganz ähnlich ist die Frage nach der Rolle der Frau in der Gemeinde (1 Tim 2,9– 15) als eine Reaktion auf Tendenzen zu verstehen, die bereits einen emanzipatorischen Einfluss von außen erkennen lassen, der für die eigene Gruppe aber strikt abgelehnt wird, indem eine paulinisch vorgegebene Tendenz verschärft und endgültig geklärt wird.43 Während Paulus einerseits das prophetische Reden von Frauen in der Gemeinde für möglich hält und lediglich die Umstände kritisiert, unter denen dies in Korinth geschieht (1 Kor 11,2–15),44 verbietet er andererseits das Reden von Frauen in der Gemeinde scheinbar generell (1 Kor 14,33b–36). Ungeachtet der Möglichkeit, dass es sich in 1 Kor 14,33b–36 um eine Interpolation aus späterer Zeit handeln könnte, die zuweilen auch dem Verfasser der Pastoralbriefe zugeschrieben wird,45 muss doch festgestellt werden, dass sich im Kontext des 1 Kor auch eine derartige Interpolation angesichts von 1 Kor 11 relativieren würde. Darüber hinaus liegt in 1 Kor 14,33b–36 kein Lehrverbot vor, sondern es wird lediglich den (oder einigen) Frauen das Schweigen in der Gemeindeversammlung nahe gelegt. Allerdings muss dabei nicht nur die Kontextualisierung im Zusammenhang der Erörterung charismatisch-prophetischer Phänomene von 1 Kor 14 beachtet werden, sondern auch die konkrete Formulierung, denn diese geht zunächst von einem allgemeinen Brauch in den Gemeinden aus, der auch in Korinth Anwendung finden soll. Dadurch entsteht zumindest der Eindruck, als solle damit ein Zugeständnis, das ausnahmsweise für Korinth gelten könnte (vgl. 1 Kor 11), zurückgenommen werden. 1 Tim 2,9–15 geht hier noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem Paulus nun gewissermaßen selbst die Dinge ein für allemal klärt und den Frauen ausdrücklich das Lehren verbietet, um das es in 1 Kor 14 gar nicht ging.46 Das aber würde bedeuten, dass der 1. Timotheusbrief Frauen im Blick 42 

Vgl. grundlegend Merz, Selbstauslegung; dies., Amore Pauli. dezidierte Lehrverbot für Frauen ist nicht nur auf das »allgemeine Zurücktreten des Geistes in den Pastoralbriefen« zurückzuführen (Wolter, Pastoralbriefe, 43 f.; vgl. a. a. O., 260 f.), sondern lässt eine aktuelle Herausforderung erkennen, die im Kontext des Briefes mit den Tendenzen der Abgrenzung und Konsolidierung zusammenhängt; vgl. Collins, Female Body. 44  Vgl. dazu Böhm, Beobachtungen; Merz, Selbstauslegung, 334–339. 45  Vgl. in diesem Sinn Lang, Briefe, 200 (mit weiteren Vertretern); vorsichtiger Conzelmann, 1 Kor, 290; vgl. auch die kritischen Bemerkungen bei Lietzmann, Korinther I.II, 75; Merz, Selbstauslegung, 334 f. 46 Vgl. Wolff, 1 Kor 1996, 432; auch Trummer, Paulustradition, 145 f., erkennt in 1 Tim 2,11– 43  Das

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hatte, die für sich Kompetenzen speziell in der öffentlichen Lehre beanspruchten; eine Tendenz, der im interpretierenden Rückgriff auf Paulus begegnet wird.47 Dass diese Frauen der eigenen Gruppe angehörten, wird nicht ausdrücklich gesagt; der Ton der Formulierungen macht es nicht unmöglich, hier Tendenzen zu vermuten, die von außen auf die Frauen in der Gemeinde gewirkt haben könnten, so dass der Text gewissermaßen präventiv verstanden werden müsste. Zu nennen ist schließlich auch die Ablehnung der Ehe und die Vermeidung bestimmter Speisen durch die Gegner als ein Aspekt, der in 1 Tim 4,3 ausdrücklich hervorgehoben wird und mit der Abwertung der σωματικὴ γυμνασία (4,8) korrespondiert, so dass man mit einiger Wahrscheinlichkeit eine asketische Tendenz voraussetzen kann. In diesem Zusammenhang ist die in 1 Tim 5,23 eingestreute Aufforderung zum mäßigen Weingenuss der Gesundheit wegen zu Recht als ein anschauliches Stilmittel anzusehen, mit dem die Selbstverständlichkeit der antiasketischen Grundhaltung des Autors und seiner Gruppe unterstrichen wird. Unter den genannten Gesichtspunkten bekommt die Formulierung in 1 Tim 6,20 ein besonderes Gewicht, da der Autor damit am Schluss erkennen lässt, worauf seine Darlegungen zielen. Dass diese abschließende Bemerkung über die Gnosis – will man sie nicht (wie Harnack) spekulativ literarkritisch ausscheiden – mit den Aussagen im Brief zusammenhängen muss und diese letztlich auf einen konkreten Begriff bringt, darüber sollte kein Zweifel bestehen. Das Motiv der Abweichung vom Weg des Glaubens zieht sich wie ein roter Faden durch den 1.  Timotheusbrief und lässt nicht nur den inneren Zusammenhang der Gegneraussagen deutlich werden, sondern bestätigt zugleich, dass es sich um Christen handelt, die einen vom »gesunden Glauben« abweichenden Weg beschreiten, der mit dem Begriff »Gnosis« charakterisiert wird. Es ist vielfach zu Recht darauf hingewiesen worden, dass es sich hierbei um eine Selbstbezeichnung der Gegner handeln muss. Dafür spricht nicht nur die enge Verknüpfung zwischen V. 20 und 21,48 sondern auch die Disqualifikation der Gnosis als einer Geistesströmung, die diese Bezeichnung zu Unrecht trägt. Daher kann der Begriff nicht vom Autor selbst kommen, sondern muss seinen Ursprung bei den Gegnern haben.49 Der Begriff der »Antithesen« lässt dabei nicht erkennen, dass es sich um einen in besonderer Weise geprägten Terminus handelt, auch nicht um den Titel eines schriftlichen Werkes (s. o.), sondern er kennzeichnet die Inhalte, die in dieser »Gnosis« eine Rolle spielen bzw. die Art und Weise, wie sie 14 ein späteres, von 1 Kor 14,34 f. herkommendes Stadium der Aus­einandersetzung um den Status der Frauen in der Gemeinde. 47 Vgl. Merz, Selbstauslegung, 339; Collins, Female Body, 157. Vor allem im Blick auf das Lehrverbot für Frauen wird oft eine konkrete Verbindung zu den (im Blick auf Thekla) positiven Aussagen in Acta Pauli et Theklae 4,16 vermutet, vgl. MacDonald, Legend; dazu eher kritisch Häfner, Gegner; den Dulk, Woman. 48 Vgl. Brox, Γνωστικοί, 108; Wolter, Pastoralbriefe, 265 f., mit ausführlichen Nachweisen, insbesondere für die Bedeutung und Verwendung von ἐπαγγέλλεσθαι in vergleichbaren Zusammenhängen. 49  So grundsätzlich zu Recht Thiessen, Christen, 334, der allerdings den Gnosisbegriff als Selbstanspruch, nicht als Selbstbezeichnung versteht (a. a. O., 335 f.).



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sich präsentiert (ἐπαγγελλόμενοι, 6,21), als widersprüchlich.50 Daraus folgt, dass zwischen »Antithesen« und »Gnosis« insofern zu unterscheiden ist, als mit dem ersteren Begriff die Inhalte charakterisiert werden, mit dem zweiten hingegen die Gruppe bzw. Gruppen, für die diese Inhalte gelten und die ihre Selbstbezeichnung daher fälschlicher Weise tragen.

3.2  Die Gegneraussagen im 1. Timotheusbrief vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit gnostischen Strömungen im 2. Jh. n. Chr. Ist der argumentative und inhaltliche Zusammenhang der Gegneraussagen des 1.  Timotheusbriefes deutlich, der auf die abschließende Charakterisierung in 1 Tim 6,20 f. hinausläuft, dann kann nun weiter gefragt werden, was sich hinter den »Antithesen der pseudonymen Gnosis« verbirgt. Im Folgenden sollen einige der oben beschriebenen Gegneraussagen des 1. Timotheusbriefes vor dem Hintergrund gnostischer Vorstellungen reflektiert werden, um zu zeigen, dass insbesondere das Profil der Gegner im 1. Timotheusbrief in seiner Gesamtheit eine bestimmte Art von Verbindung zu gnostischen Auffassungen nahe legt und es angesichts der antignostischen Polemik des 2. Jahrhunderts nicht erstaunlich ist, dass hinter den Aussagen des 1. Timotheusbriefes keine konkrete gnostische Gruppe – und daher auch nicht Marcion – identifizierbar ist. Wie bereits angedeutet, wird dabei Irenäus von Lyon eine besondere Rolle spielen, der sich mit unterschiedlichen gnostischen Strömungen des 2. Jahrhunderts intensiv auseinander gesetzt hat und einen Eindruck über den Umgang mit diesen Häresien aus der Sicht der »Orthodoxie« vermittelt.51 3.2.1  »Die Antithesen der fälschlich so genannten Gnosis« (1 Tim 6,20) Interessant ist bei Irenäus zunächst die Deutung des Begriffes »Antithesen«. Seine Verwendung des Begriffes für seine gnostischen Gegner entspricht dessen inhaltlicher (nicht literarischer) Bedeutung in 1 Tim 6,20. Auch bei Irenäus spielt der Begriff »Antithesen« (contradictiones) eine besondere Rolle für die Charakterisierung der Gnostiker, und zwar einschließlich des Marcion, ohne dass Irenäus die Schrift des Marcion ausdrücklich erwähnen würde oder müsste. So nennt er z. B. in haer. III 11,1 die Nikolaiten als einen »der (vielen) Ableger der fälschlich sogenannten Gnosis [falso cognominatur scientiae]«. In IV 35,1 ist von den Anhängern des Valentin und anderen die Rede, »die sich fälschlich Gnostiker nennen [a Valentino et reliquos falsi nominis Gnosticos]«.52 Und schließlich werden in V 50 Entsprechend der Grundbedeutung von ἀντίθεσις, vgl. Balz, ἀντίθεσις (für 1 Tim 6,20 wird jedoch eine abweichende Bedeutung vorausgesetzt). 51  Zum ursprünglichen Titel von Adversus Haereses s. o.; vgl. ferner IV 41,4 (wohl als Bezeichnung des Werkes insgesamt): opus exprobrationis et eversionis falso cognominatae agnitionis; IV pr. 1; V pr. 1. 52  Vgl. weiterhin haer. I 11,3; 25,6; II 13,10; 35,2; III 4,3; IV 6,4.

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26,2 Marcioniten, Valentinianer et omnes qui falso dicuntur esse Gnostici in einem Atemzug genannt.53 Die Auseinandersetzung des Irenäus mit den Gnostikern beginnt mit einem ausführlichem Aufweis (ἔλεγχος) von widersprüchlichen Aussagen (haer. I 11,1): »Wenn man bloß zwei oder drei von ihnen nimmt, so haben sie zur gleichen Sache nicht dieselbe Meinung, sondern geben an Inhalten und Bezeichnungen ganz Gegensätzliches von sich [ἐναντία ἀποφαίνονται]«.54 In II 5,2 schreibt Irenäus in der Argumentation zur Pleroma-Vorstellung Valentins: »Denn sie müssen den Ausdruck ›außerhalb des Pleroma‹ entweder als Ortsangabe verstehen, aber dann bekommen sie mit allen Widersprüchen zu tun, die ich oben genannt habe […] [et omnia quae praedicta sunt contraria occurrent eis].« In II 17,1 heißt es: »Die Ordnung in ihrem Pleroma und speziell die in der ersten Ogdoas bietet also enorme Widersprüche und Schwierigkeiten [tantas contradictiones et aporias habentis]«; hier verbunden mit einem ironischen Hinweis auf die Erkenntnis der Wahrheit in 1 Tim 2,4.55 Die Rezeption von 1 Tim 6,20 und die pauschale Charakterisierung der gnostischen Auffassungen als widersprüchliche Lehren zeigt, dass Irenäus die negative Bestimmung der Gnosis in 1 Tim 6,20 vor allem auf die Widersprüchlichkeit ihrer inhaltlichen Auffassungen bezogen hat. »Sich in theologische Widersprüche zu verwickeln aufgrund unvereinbarer Schriftstellen, war ihre geringste Sorge.«56 Daher ist es konsequent, wenn Irenäus den Begriff der Antithesen aus 1 Tim 6,20 nicht in unmittelbarer Verbindung zum Gnosisbegriff zitiert, da er jenen offenbar nicht im literarischen Sinn als Titel eines schriftlichen Werkes verstanden hat. Ein Bezug von 1 Tim 6,20 auf die Antithesen des Marcion ist auch von daher noch einmal mehr unwahrscheinlich; jedenfalls hat Irenäus diesen Begriff so nicht verstanden, obwohl er die »fälschlich so genannte Gnosis« ausdrücklich auch auf Marcion bezieht, indem er ihn in die Reihe der Gnostiker stellt. Insgesamt wird aber deutlich, dass 1 Tim 6,20 durchaus auf gnostische Strömungen unterschiedlicher Couleur (einschließlich des Marcion) bezogen werden konnte und es liegt die Vermutung nahe, dass er auch ursprünglich in dieser Ausrichtung formuliert wurde. Vorsichtiger 53  Zum

Begriff »Gnostiker« als Sammelbezeichnung in den antihäretischen Diskursen des 2. Jahrhunderts vgl. Brox, Γνωστικοί, 108, der angesichts der aufgeführten Belege zu Recht schreibt: »Um Mißverständnisse auszuschließen, kann Irenäus das Wort [sc. γνῶσις bzw. γνωστικοί] auch kaum einmal ohne den Zusatz ψευδωνύμως niederschreiben.« 54  Zum methodischen und inhaltlichen Problem der Valentin-Referate des Irenäus vgl. Markschies, Valentinus, 363–387. 55  Vgl. weiterhin haer. IV 32,1: »Wenn man sich nämlich nur einmal vom Schöpfer des Alls wegbegibt und die Meinung gelten läßt, diese Welt, die uns entspricht, sei von irgendeinem anderen oder durch einen anderen gemacht, dann stürzt man unweigerlich in lauter Ungereimtheiten und zahllose Widersprüche [multam incongruentiam et plurimas contradictiones] derart, daß man dafür keine Argumente anbieten kann, weder solche, die Wahrscheinlichkeit, noch solche, die Wahrheit für sich haben«; haer. V pr.: »[…] ich werde mich auf jede erdenkliche Art mit allen Kräften bemühen, dir möglichst viel Unterstützung gegen die anderslautenden Argumente der Häretiker zu verschaffen [adversus contradictiones haereticorum].« 56  Dassmann, Paulus, 127.



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ausgedrückt: Angesichts des Umganges mit den Gnostikern bei Irenäus sprechen weder die Formulierung von 1 Tim 6,20 noch die weiteren, damit im Zusammenhang stehenden Gegneraussagen des 1. Timotheusbriefes, noch die relative Unkonkretheit der einzelnen Aspekte gegen einen Bezug auf gnostische Gruppen. Dies ist aber – um nicht methodisch eine Rezeptionsmöglichkeit in den Text einzutragen – an anderen, inhaltlich konkreten Stellen zu überprüfen. 3.2.2  »Mythen und endlose Genealogien« (1 Tim 1,4) Das Syntagma »Mythen und endlose Genealogien« in 1 Tim 1,4 wurde bereits als programmatische Zusammenfassung des Gegnerbildes herausgestellt. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Irenäus sein Werk gegen die Gnostiker mit dem Zitat aus 1 Tim 1,4 über die γενεαλογίας ἀπεράντους beginnt (haer. I pr. 1), um damit die häretischen Lehren zusammenfassend zu charakterisieren. Angesichts der genealogisch angelegten gnostischen Emanationsspekulationen erscheint dieser eher allgemeine Begriff auch dem heutigen Leser keineswegs unangemessen.57 Warum jedoch Irenäus den Begriff des Mythos in seinem Zitat auslässt, ist nicht deutlich; vielleicht ist er ihm zu allgemein oder zu wenig polemisch, weshalb er ihn ersetzt durch ein polemisches λόγους ψευδεῖς.58 Der Begriff des Mythos spielt darüber hinaus für Irenäus in besonderer Weise als Charakteristik des Schriftbezuges der Gnostiker eine Rolle, wenn er in haer. I 8,1 auf 1 Tim 4,7 anspielt: »Genau so machen sie es: Sie schustern Altweibermärchen [γραῶν μύθους] […] zusammen und reißen dann von überall her Texte, Sätze und Parabeln an sich und wollen ihren Geschichten [τοῖς μύθοις αὐτῶν] die Worte Gottes anpassen« (vgl. auch I 16,3).

In II 30,1 bezeichnet er die Spekulationen über die Weltschöpfung und den Demiurgen als Unsinn: »Da zeigen sie zweifelsfrei und wahrhaftig, dass sie blanken Unsinn [insaniam] reden. Sind sie nicht wirklich schlimmer vom Donner durcheinandergebracht als die Giganten, von denen in den Mythen [fabulis] erzählt wird, wenn sie ihre Sprüche gegen Gott herausbringen, strotzend von eitler Arroganz und windigem Ruhm?«

Interessant ist schließlich der Anklang an 1 Tim 4,1 (προσέχοντες πνεύμασιν πλάνοις) in haer. I 9,5: Das Konstruieren von Mythen durch die Auslegung »der Worte Gottes« ist geleitet durch »Geister«, die dem Irrtum verhaftet sind (ὡς ἐκ διαφόρων πνευμάτων τῆς πλάνης ὄντες.). Dies korrespondiert mit dem im folgenden Abschnitt zu erörternden Aspekt des Gesetzes und des Selbstanspruches der Gegner. 57 Vgl. etwa die bei Tert.Val. 4,2 behandelten Äonen- und Emanationenspekulationen des Valentinschülers Ptolemäus. Zahlreiche Texte dieser Art ließen sich anführen; Collins, Female Body, 168 f., verweist z. B. auf die Schöpfungsspekulationen im gnostischen Apokryphon des Johannes. 58 Vgl. Noormann, Irenäus, 73: »Die Bezeichnung jener Lehren als ›Lügenreden‹ entspricht dem Titel und ist allgemeine Polemik; bei den ›endlosen Genealogien‹ dürfte Irenäus die valentinianischen Äonen-Spekulationen im Blick haben.« Vgl. auch die Beurteilung bei Tert.an. 18.

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3.2.3  »Sie wollen Gesetzesgelehrte sein, verstehen aber nicht, wovon sie reden« (1 Tim 1,7) Unter solchen Voraussetzungen lässt sich die Bemerkung von 1 Tim 1,7 f. über den vermeintlichen Selbstanspruch59 der Gegner, »Gesetzesgelehrte« (νομοδιδάσκαλοι) zu sein, sowie über das Gesetz verstehen. Die Betonung, das Gesetz sei gut, wenn es in rechter Weise gebraucht (χρῆται) wird, unterstellt den Gegnern, dass sie ihren Anspruch, im Gesetz gelehrt zu sein, durch ihren Umgang mit dem Gesetz selbst ad absurdum führen. Das kann, muss aber nicht eine rigoristische Haltung der Gegner gegenüber dem Gesetz60 implizieren, sondern lässt letztlich offen, in welcher Weise die Gegner sich auf das Gesetz beziehen.61 Eine Verbindung zur »Kanonreform« des Marcion und seiner Ablehnung jüdischer Einflüsse und damit vor allem des Alten Testaments könnte durchaus im Blick sein; die Offenheit und Unbestimmtheit der Formulierung lässt allerdings einen größeren Spielraum. Da die Verwendung des Begriffes »Gesetzesgelehrte« in V. 7 eine gewisse Ironie beinhaltet, darf man daraus auch keine jüdische Prägung der Gegner ableiten, welche dann gegen eine Verbindung zur Gnosis sprechen würde. Die Beschäftigung mit dem Gesetz bzw. dem Alten Testament und seiner Auslegung spielt in der Gnosis eine wichtige Rolle. Irenäus beschreibt in haer. I 8,1–5 ausführlich die Lehre der Ptolemäer als Missbrauch der Schrift und im Anschluss daran (9,1–5) die Art der gnostischen Exegese als παραποίησις. Dass sich die Wendung von haer. I 8,1 ἐφαρμόζειν βούλονται τοῖς μύθοις αὐτῶν τὰ λόγια τοῦ θεοῦ auf eine gleichsam ideologiegeleitete Exegese alttestamentlicher Texte bezieht, ist durch den unmittelbaren Bezug des Kontextes auf die Schöpfungsgeschichte deutlich. In diesem Zusammenhang klingt – wie schon erwähnt – auch 1 Tim 4,7 (γραώδεις μύθους) an, ohne freilich zitiert zu werden. »Da siehst du die Methode, mein Lieber, mit der sie sich selbst betrügen. Sie mißhandeln die Schriften und versuchen, ihre Erfindungen daraus zu begründen [ἐπηρεάζοντες ταῖς γραφαῖς τὸ πλάσμα αὐτῶν ἐξ αὐτῶν συνιστάνειν πειρώμενοι]« (Iren.haer. I 9,1).62

Aus diesen leicht zu vermehrenden Belegen geht hervor, dass der Hinweis auf die Bedeutung des Gesetzes für die Häretiker sowie deren Bezeichnung als »Gesetzesgelehrte« ohne Schwierigkeiten auf die Art und Weise der gnostischen Exegese des Alten Testaments bezogen werden kann, ohne dass man dabei speziell an Marcion denken oder eine jüdische Charakteristik damit verbinden müsste.63 War Irenäus 59 Nach Oberlinner, 1 Tim, 19, handelt es sich um einen vom Autor unterstellten Anspruch, doch dürfte er kaum aus der Luft gegriffen sein. 60  Oberlinner, 1 Tim, 20. 61  S. oben unter 3.1. 62  Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang schließlich auf die exegetischen Erörterungen über Ursprung und Geltung des mosaischen Gesetzes vor dem Hintergrund der Bergpredigt im Brief des Valentinschülers Ptolemäus an Flora (Epiphanius, Pan. XXXIII, 3–7), vgl. Dassmann, Paulus, 124; Foerster, Gnosis, 162–213, hier 205. 63 Vgl. Hengel, Ursprünge, 196: »Sie alle [sc. die Gnostiker] wollten bewußt christliche Lehrer sein, die alt- und neutestamentliche Texte auslegten, zugleich im wissenschaftlichen Stil ihrer Zeit



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schon recht großzügig und mitunter undifferenziert in seiner Polemik gegen »die Gnostiker« unter Einschluss des Marcion, so wird man dies für den vermutlich ein halbes Jahrhundert früher schreibenden Autor des 1. Timotheusbriefes (s. u.) erst recht annehmen dürfen. 3.2.4  »Sie hindern daran, zu heiraten (und fordern), sich (bestimmter) Speisen zu enthalten« (1 Tim 4,3) Auch die enkratischen Tendenzen der Gegner in den Pastoralbriefen sind insbesondere mit Blick auf 1 Tim 4,1–4 oft mit gnostischen Anschauungen in Verbindung gebracht worden.64 Neben Clemens Alexandrinus, der an dieser Stelle nur erwähnt werden soll,65 ist erneut Irenäus heranzuziehen, um das enkratische Profil der Gnostiker des 2. Jahrhunderts zu beschreiben. Für Irenäus gehört die asketische Grundhaltung im Blick auf Speisen und Ehe zu den wichtigen Gemeinsamkeiten zwischen Marcion und anderen Gnostikern, und auch im 1. Timotheusbrief werden neben den pauschalen Topoi diese Aspekte ausdrücklich benannt.66 In haer. I 24,2 schreibt Irenäus über Saturnius: »Vom Heiraten und Kinderzeugen sagt er, daß das vom Satan stammt. Die meisten seiner Anhänger essen kein Fleisch. Durch solche geheuchelte Enthaltsamkeit [per fictam huiusmodi continentiam/διὰ τῆς προσποιήτου ταύτης ἐγκρατείας] täuschen sie viele.«

Nach I 28,1 stammen die Enkratiten von Saturnius und Marcion ab, die abstinentiam a nuptiis adnuntiaverunt (ἀγαμίαν ἐκήρυξαν) forderten. Irenäus weiß aber auch, dass es unter den Gnostikern unterschiedliche Haltungen gibt, wenn er in I 28,2 von Basilides und Karpokrates feststellt, sie proklamierten indifferentes coitus et multas nuptias. Solche gnostisch-enkratischen Tendenzen lassen sich im Kontext der anderen benannten Indizien plausibel auch als Hintergrund von 1 Tim 4,3 annehmen, ohne darin eine jüdische Prägung annehmen zu müssen. Dies gilt auch dann, wenn für Genealogien und Enthaltsamkeit auch alttestamentliche und frühjüdische Parallelen angeführt werden können. Diese Phänomene sind für sich genommen keineswegs spezifisch, sondern kommen in den unterschiedlichsten religiösen Kontexten theologisch arbeiteten und dabei vor allem von dem in ihrer Zeit modernen, sich erneuernden Platonismus beeinflußt waren.« 64  Im Blick auf 1 Tim 4,1–3 meint Oberlinner, Antijudaismus, 294, dahinter könne zwar auch eine gnostisch-dualistische Weltsicht stehen, wahrscheinlicher aber sei ein jüdischer Hintergrund. Doch der Text bietet dafür keinen Anhaltspunkt; vgl. salomonisch Brox, Pastoralbriefe, 167: »sicherlich im Anschluß an jüdische Speisegesetze, nun aber mit spezifisch gnostischer Motivation«. Vgl. insgesamt dazu Collins, Female Body. 65  Vgl. bes. Strom III 1,1; 6,45 f.; 6,48; 45,1–3. Vgl. dazu Collins, Female Body, 161 f. 66 Vgl. von Harnack, Marcion, 196, Anm. 1. Zum Verbot der Ehe durch Marcion vgl. a. a. O., 148 f.277 f.*, mit Hinweis auf Tert.Marc. 1,29; 4,11; 4,34 u. a. Zur Enthaltsamkeit beim alexandrinisch-römischen Gnostiker Valentin und den Valentinianern, die die Ehe nur notgedrungen billigten, im Prinzip aber verwarfen, vgl. Markschies, Valentinus, 87 f. Weitere Belege bei Wolter, Pastoralbriefe, 262 f.; zu dem Motiv speziell in ActPaul vgl. Lau, Enthaltsamkeit.

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vor und in diesen nicht immer einheitlich. Für den 1. Timotheusbrief könnten sie nur dann ein jüdisches Vorzeichen bekommen, wenn man sie vom Titusbrief her beurteilt. Ohne diese Perspektive aber stellt sich das Profil vor dem Hintergrund der antihäretischen Polemik des 2. Jahrhunderts in einem anderen Licht dar. Entscheidend ist daher der literarische Zusammenhang, in welchem jeweils davon die Rede ist – und dieser hat mit den Aussagen der Gegnerpolemik des 1. Timotheusbriefes eine deutliche Affinität zu gnostischen Vorstellungen des 2. Jahrhunderts.

4.  Zur theologiegeschichtlichen Standortbestimmung des 1. Timotheusbriefes in den antihäretischen Diskursen des 2. Jahrhunderts Die angeführte Reihe von Belegen soll genügen, um deutlich zu machen, wie selbstverständlich Irenäus 1 Tim 6,20 sowie 1 Tim 1,4 auf die verschiedenen gnostischen Strömungen seiner Zeit beziehen konnte. Irenäus hat diesen Bezug bewusst reflektiert, wenn er gegen die Berufung der Gnostiker auf Philosophen polemisiert und bestreitet, dass sie deren Erkenntnis wirklich verstanden hätten: »Völlig widersinnig nennen sie also die Unkenntnis der Wahrheit Gnosis. Paulus hat sehr berechtigt von verbalen Neuheiten (vocum novitates67 falsae agnitionis) einer falschen Gnosis gesprochen […], denn in der Tat hat sich erwiesen, daß ihre Gnosis falsch ist« (haer. II 14,7).

Wie gezeigt wurde, geht bereits aus 1 Tim 6,20 selbst, aber auch aus dem Zitat dieser Stelle bei Irenäus hervor, dass die nähere Bestimmung »fälschlich so genannt« auf eine Selbstbezeichnung der Gegner hindeutet, weil die Benennung mit »Gnosis« vom Autor offenbar als unrichtig gekennzeichnet wird und daher keine Bildung des Autors selbst sein kann bzw. als solche zumindest sehr unwahrscheinlich ist, da er sich sonst selbst die Bildung eines aus seiner Sicht unzutreffenden Begriffes zuschreiben müsste. Es wurde eben­falls deutlich, dass das Bestehen auf einer Unterscheidung zwischen Marcion und anderen Gnostikern ungeeignet ist, der Situation hinter 1 Tim 6,20 oder auch bei Irenäus gerecht zu werden. Eine solche Differenzierung mag kirchenhistorisch plausibel und notwendig sein; dass damit jedoch auch die Voraussetzung für die Beurteilung zeitgenössischer Äußerungen gegeben ist, ist zu bezweifeln. Polemik ist nie hinreichend differenziert oder an inhaltlicher Auseinandersetzung interessiert. Dies gilt in gewisser Weise auch für Irenäus; für den Autor des 1. Timotheusbriefes aber umso mehr. Hinzu kommt neben diesen inhaltlichen Aspekten noch ein zeitlicher. Irenäus setzt den 1.  Timotheusbrief sowie die beiden anderen Pastoralbriefe bereits voraus. Das sagt zwar nichts über die Zuordnung der Briefe untereinander oder eine zeitliche Verortung, aber der primäre Bezug auf den 1. Timotheusbrief macht deutlich, dass auch Irenäus die Äußerungen über die Gegner im 1. Timotheusbrief 67 

Irenäus folgt hier der Lesart καινοφωνία statt κενοφωνία, dazu s. u. Anm. 72.

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in besonderer Weise auf die Gnostiker beziehen konnte. Das könnte ein weiteres Indiz dafür sein, auch die Entstehung des 1.  Timotheusbriefes in einer näher zu bestimmenden Relation zu diesen gnostischen Strömungen zu vermuten; allerdings um einiges früher als das Werk des Irenäus, da dieser den Brief bereits als Paulusbrief zitiert. Die relative Unschärfe der inhaltlichen Bemerkungen lässt vermuten, dass der Autor des 1. Timotheusbriefes – anders als Irenäus – die neuen christlichgnostischen Strömungen nicht genau kennt. Er scheint eher gerüchteweise über ihre Lehren und Haltungen informiert zu sein und hat die Selbstbezeichnung »Gnosis« aufgenommen, um die Gegner damit pauschal zu verurteilen und jener wahren Erkenntnis gegenüberzustellen, von der Gott will, dass sie alle Menschen erlangen (1 Tim 2,4; vgl. auch 4,10: »Retter besonders der Treuen«). Damit ist nicht ein positives Werben um die Gegner impliziert, sondern sie werden damit ironisch als Leute bezeichnet, die trotz ihres hohen Selbstanspruches zu wahrer Erkenntnis nicht in der Lage sind und Gottes Willen nicht gerecht werden können. Diese Gegenüberstellung macht umso deutlicher, dass eine Abgrenzung von ihnen der einzig mögliche Weg ist, die eigene Identität zu sichern und den Zusammenhalt der sich als paulinisch verstehenden Gemeinde zu konsolidieren.68 Unter diesen Voraussetzungen lässt sich der 1.  Timotheusbrief mit dem darin erkennbaren Profil häretischer Gruppen in die antignostischen Diskurse des 2. Jahrhunderts einordnen. Ausnahmslos alle Aspekte lassen sich vor diesem Hintergrund interpretieren. Hinzu kommt die eigentümliche Verschränkung der antihäretischen Aussagen, die durch 1 Tim 1,4 und 6,20 den ganzen Brief in einen Rahmen stellen, mit den Ausführungen über Gemeindestruktur und Gemeindeleitung, ein Aspekt, der hier nicht weiter entfaltet werden kann.69 Der 1. Timotheusbrief lässt aber bereits etablierte Leitungsstrukturen erkennen; der Episkopus leitet als Einzelner die Ortsgemeinde und steht als solcher einem Presbytergremium vor bzw. gehört diesem selbst an. Darüber hinaus spielt auch die Aufgabe des Diakons eine Rolle sowie eventuell auch die der Witwen. Mit dieser Art der Ämter- bzw. Aufgabenteilung, vor allem hinsichtlich der Stellung des Episkopus innerhalb der Gruppe der Presbyter, ist der 1. Timotheusbrief nicht nur von Paulus selbst weit entfernt, sondern er unterscheidet sich darin auch vom Titusbrief, wo in Tit 1,5–9 die Begriffe Presbyter und Episkopus noch dieselben Personen bezeichnen können, insofern die Presbyter ihre Aufgaben als Episkopen wahrnehmen, ohne dass dabei ein Einzelner besonders hervorgehoben würde. Der 1. Timotheusbrief befindet sich damit bereits auf einem Weg, wie er bei Ignatius von Antiochien dann in besonderer Weise ausgeprägt ist. Dies kann unabhängig davon gesagt werden, ob Ignatius die bei ihm beschriebenen Strukturen als Idealbild oder bereits als feste Gegebenheiten vor Augen hat.70 68 

Vgl. dazu den anderen Duktus von 2 Tim 2,25 und 2 Tim 3,7. Herzer, House of God (in diesem Band 273–291). 70 Unter diesen Voraussetzungen wäre auch die Spätdatierung der Ignatianen (vgl. oben Anm. 25) samt den vielleicht schon gnostischen Einflüssen sowie dem ausgeprägten und mit monarchischen Zügen versehenen Monepiskopat noch einmal erwägenswert. Ignatius scheint zwar an einigen Stellen von gnostischen Ideen beeinflusst, lässt aber zumindest explizit von einer 69 Vgl.

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Versucht man, den genannten Aspekten gerecht zu werden, so könnte für den 1.  Timotheusbrief eine Datierung nach Polykarp, nach Clemens von Rom, nach der Didache (die von alledem nichts erkennen lassen), aber vor Irenäus und möglicherweise auch vor oder vielleicht sogar parallel zu Ignatius nahe liegen, und zwar etwa um 140 n. Chr., als sich die kirchliche Auseinandersetzung mit Marcion, Valentin und anderen Vertretern gnostischer Vorstellungen noch in einer Anfangsphase befand.71 Der 1. Timotheusbrief wäre dann in gewisser Weise ein Bindeglied zwischen diesen Auseinandersetzungen, geschrieben in einer Zeit, in der zwar die Gefährdung durch die Gnosis deutlich gesehen wurde, aber noch nicht hinreichend klar war, worauf diese Entwicklungen hinauslaufen würden.72 Dabei spielt möglicherweise auch die räumliche Distanz zwischen Rom als dem Wirkungsort Marcions und Valentins und Kleinasien/Ephesus als vermutlichen Entstehungsraum des 1. Timotheusbriefes eine Rolle. In einer solchen Zeit und unter den gegebenen Umständen wäre dann auch die pseudepigraphische Fiktion plausibel, ohne dass man sie in den Bereich der Fälschung einordnen müsste. Die immer wieder beobachtete Nähe zu Polykarp (s. o.) kann dabei nicht eine Erklärung der Pseudepigraphie sein, sondern ergibt sich aus dem gleichen Milieu der theologischen Auseinandersetzung.73 Es ist hingegen nicht plausibel zu machen, warum ausgerechnet Polykarp von Smyrna sich unter dem Auseinandersetzung mit der Gnosis nichts erkennen. Vgl. den Versuch von Bartsch, Gnostisches Gut, »Gemeindetradition und gnostisches Gut in den Briefen des Ignatius von Antiochien voneinander zu trennen und in ihrem Verhältnis zueinander darzustellen« und damit aufzuzeigen, wo »sich bei Ignatius der Einbruch gnostischen Denkens vollzogen« habe (a. a. O., 1). Bereits Bauer, Rechtgläubigkeit, 71, hat in den Ignatiusbriefen das Vordringen gnostischer Häresie festgestellt, wobei man fragen kann, ob dies eher für eine Früh- oder eine Spätdatierung sprechen würde. Zum Monepiskopat vgl. Dassmann, Entstehung, bes. 53–59; zur terminologischen Präzisierung vgl. Schöllgen, Monepiskopat, der darauf hinweist, dass in der im 2. Jahrhundert vorauszusetzenden monepiskopalen Gemeindeleitung der Bischof nicht im monarchischen Sinne zu verstehen sei: »Der Begriff [sc. ›monarchischer Episkopat‹] hat durch die ihm eigene Suggestionskraft Bauer und viele andere zu Fehlurteilen über die Funktion des Bischofs in der Gemeindeleitung verleitet und sollte deshalb vermieden werden – besonders, wenn man lediglich das Amt des Einzelbischofs, den Monepiskopat, bezeichnen will« (a. a. O., 151). Vgl. demgegenüber die Terminologie bei Harnack, Entstehung des monarchischen Episkopats, der die Ignatiusbriefe um 115 datiert (a. a. O., 60). 71  Hengel, Ursprünge, 191, vermutet eine Datierung der Pastoralbriefe zwischen 110–120, aber noch vor den Antithesen des Marcion (nach 140), entstanden »im geistigen Milieu von Polykarps Frühzeit« und in zeitlicher Nähe zu den monepiskopalen Vorstellungen des Ignatius. 72  Unter diesen Vorzeichen könnte sogar die bereits erwähnte und bei Irenäus vorausgesetzte Textvariante als ursprüngliche Lesart bedenkenswert sein: Irenäus (bzw. die lateinische Übersetzung) folgt in haer. II 14,7 mit dem Begriff vocum novitates einer auch in anderen Zeugen (lt. Apparat im NA27 neben Irenäus noch F und G als späte[!] griechische Zeugen sowie die altlateinische Überlieferung und die Vulgata) belegten Lesart von καινοφωνίας statt κενοφωνίας. Auch wenn die äußere Bezeugung nicht unbedingt dafür spricht, so könnte nicht nur ein Lautfehler vorliegen (αι zu ε), sondern für καινοφωνία lassen sich auch innere Gründe anführen, da dieser Begriff eher in den oben beschriebenen Zusammenhang passt und die Neuerungen der Gnosis als gefährlich kennzeichnet. Demgegenüber trägt κενοφωνία einen polemisch-abwertenden Ton ein, der zum sprachlichen Duktus der Gegnerabwehr im 1 Tim passt, aber gerade dadurch auch als Angleichung an 2 Tim 2,16 verstanden werden könnte. 73 Vgl. Bauer, Rechtgläubigkeit, 226.



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Pauluspseudonym zu Wort melden sollte, nicht nur wegen seiner unstrittigen Autorität, sondern auch im Blick auf seine sonst ganz andere Art der Paulusrezeption. Die Paulus-Pseudepigraphie des 1. Timotheusbriefes, die sich nicht zuletzt in ihrer literarischen Gestaltung grundlegend von den beiden anderen Pastoralbriefen unterscheidet, könnte als ein Mittel verstanden werden, mit dem eine sich auf Paulus berufende Gruppe im ephesinischen Raum (wahrscheinlich in Ephesus selbst; vgl. 1 Tim 1,3) angesichts der verunsichernden neuen Strömungen ihrer eigenen Identität und den Grundlagen ihres Glaubens und ihrer Gemeinschaft mit ausdrücklichem Bezug zu Paulus vergewissert. Man verständigt sich gegen die Häretiker darauf, wie sich Paulus selbst zu den sich aus diesen Tendenzen ergebenden Konsequenzen verhalten hätte und knüpft dabei nicht nur an die Autorität des Namens des Paulus an, sondern ausdrücklich auch an frühere Äußerungen des Apostels, die für die neue Situation neu interpretiert und präzisiert werden. Diese Vergewisserung des paulinischen Erbes ist getragen von einem Gruppenkonsens, der jedoch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt wie etwa bei Ignatius, sondern nur für die eigene Gruppe formuliert wird. Dadurch ließe sich auch erklären, warum wirklich gewichtige inhaltliche Bezüge zur paulinischen Theologie in einem solchen Brief so wenig ausgeprägt sind. Sie sind unter dem Begriff der παραθήκη präsent und brauchen deshalb nicht wiederholt zu werden, sondern sind – sicherlich auch oder sogar vor allem in Gestalt der Paulusbriefe oder zumindest einiger davon – bereits Gegenstand der zu bewahrenden Überlieferung, die der »falschen Gnosis« entgegengestellt wird. Zugleich wird auch verständlich, warum die für die Abgrenzung nach außen und die Konsolidierung nach innen notwendigen Bezüge in deutlicher Weise weitergeführt und sogar verschärft wurden und somit Paulus gegen die fälschliche Inanspruchnahme als haereticorum apostolus (Tert.Marc. 3,5) selbst noch einmal das festlegt, was in seinen Briefen offen oder unentschieden geblieben ist, da die Offenheit der Paulustradition in bestimmten, vor allem strukturellen Fragen für die Häretiker Anknüpfungspunkte zur Legitimierung eigener Auffassungen bieten konnte. Das betrifft etwa die Argumentationen zu Frauen in der Gemeinde,74 zu Sklaven, zu Ehe und Enthaltsamkeit oder auch zur Abgrenzung von Leuten, die den Bestand der Gemeinde gefährden. Es betrifft aber auch das Gemeindeverständnis selbst, wie es in 1 Tim 3,15 f. in deutlicher Anlehnung an Paulus, aber auch in einer ebenso deutlichen Zuspitzung formuliert ist und die Gemeinde als Haus Gottes gleichsam zu einer »Festung« der Wahrheit macht,75 die von »allen« Menschen, d. h. von allen, die zu dieser Gruppe gehören oder gehören wollen, im bleibenden Bezug zur Paulustradition erkannt und dadurch bewahrt werden soll (1 Tim 2,4). Diese Art von Rückgriff auf Paulus korrespondiert mit dem oft beobachteten Sachverhalt, dass »die wesentlichen spezifisch paulinischen Theologumena im angegebenen Zeitraum [bis zu Irenäus Ende des 2. Jh.s, J. H.] […] weithin ohne 74  Söding, Mysterium, 506 f., hebt hervor, dass die gnostische Lehre auf Frauen eine besondere Anziehungskraft habe, wobei dies eben nur dem 1 Tim entnommen werden kann. 75  Vgl. dazu Herzer, House of God (in diesem Band 273–291).

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nennenswerte Nachwirkung geblieben sind«.76 Der durch das Mittel der Pseudepigraphie außergewöhnliche Rückgriff des 1.  Timotheusbriefes auf Paulus in dieser relativ späten Zeit ist dabei auf die Tatsache zurückzuführen, dass es eben Paulus war, der nicht nur für Marcion, sondern auch für Valentin und andere Gnostiker ein entscheidender Gewährsmann war.77 Dass insbesondere Irenäus in seiner Widerlegung der gnostischen Häresien verstärkt inhaltlich auf Paulus zurückgreift,78 ist von daher auch angesichts der inzwischen fortgeschrittenen Zeit und dadurch fortgeschrittenen Erfahrungen mit den Gnostikern durchaus plausibel und macht deutlich, dass »die Benutzung der paulinischen Briefe seitens der Gnostiker als Berufungsinstanz und Beleg für ihren Standpunkt diese äußere Veranlassung gewesen ist, welche die Großkirche gezwungen hat, diesem Vorgang folgend, die Briefe für sich mit Beschlag zu belegen.«79

Die Adressierung der Fiktion an Timotheus ist dabei Ausdruck dieser Art der Paulusrezeption und greift nicht nur auf das Vorbild der beiden anderen Mitarbeiterbriefe zurück, sondern steht wahrscheinlich auch im Kontext und unter dem Einfluss der ephesinischen Timotheustradition.80

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Vom Sinn und Nutzen der Polemik Zur Pragmatik der Gegnerinvektive in den Pastoralbriefen 1.  Einführende Bemerkungen Es ist vielfach beobachtet worden, dass die Rhetorik der Pastoralbriefe zu einem erheblichen Teil geprägt ist von Polemik und Invektiven gegenüber Menschen, denen unterstellt wird, sie würden den Glauben der Gemeinde(n) zerstören – und zwar den Glauben in der Gestalt, in der ihn der oder die Verfasser der Pastoralbriefe als orthodox voraussetzen. Weniger klar ist die sachliche und auf die Situation bezogene Einschätzung solcher rhetorischer Mittel in den Pastoralbriefen, weil die Interpretation der Rhetorik nicht unwesentlich davon abhängig ist, wie man die Briefe insgesamt literarisch beurteilt.1 Damit haben die Pastoralbriefe auf ihre spezifische Weise Anteil an den Auseinandersetzungen um die Herausbildung dessen, was gern »christliche Identität« genannt wird und was gleichzeitig so schwierig zu bestimmen ist. Die Problematik der Bestimmung und Formierung christlicher Identität könnte man gleichsam als Ursache – oder zumindest eine Ursache – der invektivischen Rhetorik bezeichnen; oder anders gesagt: invektivische Rhetorik ist Ausdruck der Schwierigkeit, christliche Identität in ihrer Normativität zu bestimmen und argumentativ zu plausibilisieren.2 Unter rhetorischen Gesichtspunkten ist zunächst zwischen Polemik und Invektive zu unterscheiden.3 Während es in der Polemik bei aller potentiellen Aggressivität der Auseinandersetzung um den Streit (πόλεμος) über Sachthemen und -inhalte geht, ist die Invektive zumindest primär nicht auf eine Auseinandersetzung in der Sache, sondern auf die Diffamierung Andersdenkender ausgerichtet und bedient sich dafür der Mittel von Beschimpfung und Schmähung.4 Invektive kann unter dieser Perspektive zu einem Instrument von Polemik werden, ist aber selbst nicht auf sachliche Auseinandersetzung ausgerichtet, wobei natürlich auch 1 Zu den unterschiedlichen Deutungsansätzen vgl. etwa den Überblick bei Pietersen, Polemic, 3–26. Vgl. neben grundlegenden Werken wie Lütgert, Irrlehrer, oder auch Bauer, Rechtgläubigkeit, im Besonderen K arris, Background; Johnson, False Teachers; Schlarb, Lehre; Thiselton, Liar Paradox; Stegemann, Vorurteile; Pietersen, Deviants; Oberlinner, Antijudaismus; Kidd, Titus; Faber, Beasts; Gerber, Antijudaismus; Herzer, Juden – Christen – Gnostiker (in diesem Band 293–314); Schaefer, Judentum; Vogel, Kreterpolemik; Häfner, Gegner; ders., Polemik. 2  Vgl. dazu z. B. Stegemann, Juden; Heckel, Bild. 3  Vgl. zum Problem Koster, Invektive und Polemik. 4 Vgl. Speyer, Polemik; Koster, Invektive und Polemik, 39 f.

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Polemik oft von Unsachlichkeit und persönlichen Angriffen geprägt sein kann.5 Die Übergänge sind also fließend, aber gerade deshalb muss zunächst im Grundsatz die unterschiedliche rhetorische Ausrichtung und Ausprägung von Invektive6 und Polemik vor Augen stehen. Auch wenn der lateinische Begriff der invectiva oratio erst seit dem 4. Jh. n. Chr. belegt ist,7 kann die Sache der rhetorischen Schmähung und Diskriminierung von Gegnern doch spätestens seit Platon (Nomoi 934d–936b) identifiziert werden und wird unter der rhetorischen Kategorie des genus epideicti­ cum behandelt, in dem Lob und Tadel in ihrer wechselseitigen Korrespondenz eine wichtige Rolle spielen.8 Vielleicht liegt es an ihrer engen Verbindung mit der Satire und daher eher mit dem Ruch der Volksunterhaltung bzw. des Vulgären9 oder auch am Gebrauch in dem nicht immer hochgeschätzten Bereich der Politik,10 dass dem philosophischen Intellektuellen die Schmähung innerhalb dieses genus gemeinhin als Entgleisung gilt. Ein anspruchsvoller Rhetor diffamiert den Gegner nicht, er versucht mit Argumenten zu überzeugen. Wer hingegen den anderen schmäht und lächerlich macht (κακηγορεῖν/βλασφημεῖν/λοιδορεῖν/ὀνειδιζειν u. a.), entlarvt seine eigene zornige und von daher moralisch wie rhetorisch unterlegene Wesensart. Diese stellt letztlich  – so Platon  – eine unglückliche Mischung aus »verfehlter Naturanlage und verfehlter Erziehung« (εἰσὶν δὲ οἳ διὰ θυμοῦ κακὴν φύσιν ἅμα καὶ τροφὴν γενομένην, Nomoi 934d) dar. Auch Aristoteles hat dieses Thema aufgenommen und reflektiert. In der Nikomachischen Ethik gilt der Possenreißer als negatives Beispiel für denjenigen, der sich selbst auf Kosten anderer inszeniert.11 Selbst Horaz bestätigt diese Einschätzung, indem er bekanntlich versucht, im Blick auf seine eigenen Satiren den Vorwurf zu entkräften: laedere gaudes inquit et hoc studio pravus facis – »du machst (dir) – sagt man – aus diesem verkehrtem Eifer einen Spaß daraus zu verletzen« (Saturae I 4,78 f.),12 und damit die in der platonischaristotelischen Tradition verurteilte Schmährede von der subtilen Satire (satura) unterscheidet.13 Die Diffamierung ist also Ausdruck der Schwäche der eigenen Position: Wer zu dem Mittel greifen muss, den Gegner persönlich zu diskreditieren und zu verspotten, steht im Verdacht, in der Sache keine guten und d. h. überzeugenden Argumente zu haben. Selbst die bekannten Invektiven eines Cicero, Sallust, Catull oder Juvenal 5 

Speyer, Polemik, 3 f. Liebermann, Invektive. 7 Vgl. Koster, Invektive, 1. 8  Liebermann, Invektive, 1049. 9 Vgl. Koster, Invektive, 72–75. 10 Vgl. Koster, Invektive, 31–36.76–89. 11  Ethica Nicomachea 1128a. 12  Zit. nach Smart, Works. 13 Vgl. Koster, Invektive, 22–27, bes. 25 f.: »Invektivische Poesie ist nach dieser literarhistorischen Skizze ausgearteter Fescenninenscherz, der das Gemeinwesen bedrohte und deswegen durch Gesetz eingedämmt werden mußte. In diesem Sinne hat sich Horaz […] Mäßigung auferlegt […] Nicht der kämpferische Geist an sich, sondern die Mittel, die er benutzt, machen den Unterschied aus.« 6 Vgl.

Vom Sinn und Nutzen der Polemik



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bestätigen sub contrario diese Einschätzung.14 Wenn es um ernste Angelegenheiten geht, kann daher der Gebrauch von Invektiven fatale Folgen für das Leben jener Gemeinschaft haben, in deren Kontext die Auseinandersetzung geführt wird: »Denn wenn man sich zu Verwünschungen und Flüchen hinreißen läßt und es den zänkischen Weibern nachmacht, die sich in häßlichen, verdächtigen Ausdrücken gegen einander ergehen (ὀνομάτων ἐπιφέρειν γυναικείους ἑαυτοῖς φήμας), so hat das zunächst eine üble Folge: aus leicht hingeworfenen Reden erwachsen schwerwiegende Wirklichkeiten, nämlich Haß und tiefste Feindschaft« (Nomoi 934e–935a).15

Platon war deshalb sogar der Überzeugung, es bedürfe eines Gesetzes und einer entsprechenden Überwachung der öffentlichen Kommunikation, damit solche Missstände verhindert werden (Nomoi 935b). Bezeichnender Weise fiel darunter für ihn auch die Zensur der dichterischen Verspottung in Komödien oder Satiren (Nomoi 935b–936a). Gleichsam als Schutz der Jugend solle ein Erziehungsbeamter (τῷ τῆς παιδεύσεως ὅλης ἐπιμελητῇ τῶν νέων) darüber wachen und entscheiden, was der Öffentlichkeit zugemutet werden könne. Aristoteles hat dies in der Forderung konkretisiert, man solle Heranwachsende wegen der Darstellung des Schlechten nicht bei Jamben oder Komödien zuschauen lassen (Politeia 1336b).16 In der Ars rhetorica unter dem Namen des Anaximenes von Lampsakos sind diese Überlegungen in einer lehrbuchartigen Form systematisiert worden und haben schließlich auch in der Schulrhetorik unter der Rubrik des ψόγος/vituperatio ihren Platz gefunden.17 Man könnte daher sagen, dass die Invektive erst dann zu einer Schmähung wird, wenn konkrete Personen namentlich genannt sind, wie das gelegentlich auch in antiker Literatur eingeworfen wird18 und von Koster in einer signifikanten Definition zusammengefasst wurde: »Die Invektive ist eine strukturierte literarische Form, deren Ziel es ist, mit allen geeigneten Mitteln eine namentlich genannte Person öffentlich vor dem Hintergrund der jeweils geltenden Werte und Normen als Persönlichkeit herabzusetzen.«19

Im Hinblick auf epistolare Genres und deren kommunikativ-pragmatischen Aspekte ist dies jedoch noch einmal stärker zu differenzieren, da es hier nicht nur um eine literarische Strategie geht, sondern um handfeste Auseinandersetzungen, deren Ausgang vom Gelingen oder Misslingen polemisch-invektivischer Äußerungen abhängig ist. Speziell für die Pastoralbriefe spielt dabei natürlich auch eine Rolle, ob man sie (authentisch oder nicht) als Teil einer realen Auseinandersetzung um die Autorität paulinischer Tradition versteht oder als rein literarische Werke, die keinen realen Hintergrund haben und gleichsam als paränetische Literatur zu rezipieren sind. 14 Vgl.

Koster, Invektive und Polemik, 44–49. Zit. nach Platon, Dialoge (Nachdruck); zu Platon vgl. auch Koster, Invektive, 10–12. 16  Vgl. dazu Koster, Invektive, 9: »Die Definition der Invektive wird also durch die Berücksichtigung des Zieles mitbestimmt sein.« 17 Vgl. Koster, Invektive, 14–17. 18 Vgl. Koster, Invektive, 29 f., erläutert am Beispiel Martials. 19  Koster, Invektive, 39. 15 

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Weder Platon in seiner enormen grundlegenden Bedeutung für die griechischrömische, die hellenistisch-jüdische und dann auch die christliche Kultur, noch das christliche Nächstenliebegebot – von Jesu Verschärfung des Tötungsverbotes durch den Bezug auf die Schmähung und Diffamierung des Bruders ganz zu schweigen – haben verhindern können, dass die Invektive in der Entwicklung der christlichen Tradition und Rhetorik zunehmend einen festen Platz eingenommen hat.20 Selbst Paulus mit seinem hohen Maßstab der Liebe als Grundorientierung im Umgang der Glaubenden untereinander (1 Kor 13) gibt zwar im Römerbrief in Anlehnung an alttestamentliche Spruchweisheit (Röm 12,20; vgl. Spr 25,22) immerhin den weisheitlichen Rat, durch Freundlichkeit »feurige Kohlen« auf dem Haupt des Gegners zu sammeln, kann aber offenbar in seinem Eifer für die Sache des Evangeliums weder auf Polemik noch auf Invektiven verzichten. Die anschaulichsten Beispiele dafür in Gal 1 und Phil 3 stehen vor Augen. Allerdings sind beide Briefe durch eine Auseinandersetzung geprägt, die deutlich vor den diatribischen Erörterungen des Römerbriefes anzusetzen sind.21 Dabei scheint die Auseinandersetzung nach innen (vgl. das Stichwort »anderes Evangelium«, Gal 1,822; 2 Kor 11,4; Beschimpfung der Gegner als »Hunde« Phil 3,223) nicht minder heftig zu sein als die Ausrichtung gegen Widersacher, die außerhalb der Gemeinde stehen und Einfluss zu nehmen versuchen, wie z. B. die Anfeindungen der nichtchristlichen Juden, von denen in 1 Thess 2,14; 2 Kor 11,2424 oder auch Tit 1,13 f. die Rede ist. All das spielt offenbar von Anfang an eine Rolle in der Auseinandersetzung darüber, was als christliches Evangelium gelten kann. Abgesehen von der grundsätzlichen Schwierigkeit, aus polemischen Texten die Position der darin beschriebenen Gegner zu bestimmen,25 ist die Pragmatik einer rhetorischen Strategie, die sich der Invektive bedient, im Grunde genommen recht simpel: Wer in der Sache nicht argumentieren kann oder nicht argumentieren will, der setzt seinen Gegner herab, diskreditiert ihn moralisch, um auf diese Weise die von jenem vertretene Haltung oder Lehre als verfehlt und völlig inakzeptabel zu erweisen und so die Hörerinnen und Hörer für sich und seine Auffassung zu vereinnahmen. Nach diesen einführenden Bemerkungen dürfte immerhin zweierlei deutlich sein: dass die Invektive stets einhergeht mit der Gegenüberstellung der Verunglimpften gegen einen hohen moralischen Anspruch der verunglimpfenden Partei, und dass die Invektive in der Rhetorik kein unumstrittenes Mittel ist, weil sie nicht auf eine Auseinandersetzung um Sachgehalte, sondern auf die Diffamierung 20  Vgl. etwa Hengel, Einleitung, XVII: »Gerade in der Polemik begegnet uns so eine nicht nachahmenswerte Gemeinsamkeit – man könnte sie auch Unart nennen – bei Juden, Christen und Heiden: Man gebraucht vor allem feste Klischees, um den Gegner zu diffamieren.« Die Problematik beschreiben anschaulich Wischmeyer/Scornaienchi, Einleitung. 21 Dass auch der Röm polemische und invektivische Elemente enthält, bleibt dabei unbenommen, vgl. Horn, Götzendiener. 22  Vgl. dazu Schröter, Einheit; Sänger, Strategien. 23  Vgl. dazu Becker, Polemik. 24  Vgl. dazu Vogel, Briefe. 25  Vgl. z. B. Barclay, Mirror-Reading.



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derer gerichtet ist, die von den eigenen Überzeugungen Abweichendes vertreten. Die Invektive als solche ist daher noch keine Polemik, auch wenn sich die Polemik – in ihrer nach Platon wohl verfehlten Ausprägung – oft der Invektive bedient. Die hier zu stellende Frage nach der Pragmatik der Gegnerinvektiven in den Pastoralbriefen ist als eine Frage nach der Legitimität und der Wirksamkeit invektiver Rhetorik zu formulieren, und zwar im Hinblick auf die Ziele, die damit erreicht werden sollen, und damit auch als Frage nach der Wirkung solcher rhetorischer Ausfälle bei den Adressaten. Was an dieser Stelle im Blick auf die Pastoralbriefe besonders interessiert ist nicht eine Klassifikation von Formen der Polemik, wie sie etwa Gerd Häfner kürzlich recht anschaulich vorgenommen hat.26 Vielmehr geht es im Folgenden um die Frage nach der rhetorischen Pragmatik der Invektiven in den Pastoralbriefen und wie sie in den jeweiligen Briefen kontextualisiert werden. Und zwar nicht, wie das Gerd Häfner versucht hat,27 hinsichtlich der vom Verfasser verfolgten Absicht, sondern hinsichtlich der potentiellen Wirkung bzw. des Erfolgs, den die verfolgte Strategie hat bzw. haben könnte. Es ist  – wie sich gleich beim ersten Beispiel aus dem Titusbrief zeigen wird – keineswegs selbstverständlich, dass Invektiven gegen Dritte in einem brieflichen Kontext die Wirkung auch tatsächlich erzielen, die der Autor damit mutmaßlich im Sinn hat.28

13.2.  Die Invektive gegen die Juden (Tit 1,10–16) Die komplexe Gesamtproblematik der Pastoralbriefe verhindert eine umfassende Darstellung des Problems auf einigen wenigen Seiten. Ich will mich daher auf eines der bekanntesten und anschaulichsten Beispiele konzentrieren, nämlich die Verleumdung »derer aus der Beschneidung« in Tit 1,10–16: »(10) Denn viele sind nicht (bereit zu) Unterordnung, (sind) Schwätzer und Wichtigtuer, insbesondere die aus der Beschneidung, (11) denen man das Maul stopfen muss, welche ganze Häuser durcheinander bringen, indem sie lehren, was nicht sein darf, (nur) um schändlichen Gewinnes willen. (12) Einer von ihnen hat gesagt, (und sich damit als) selbst als ihr Prophet (erwiesen): ›Kreter sind allezeit Lügner, böse Tiere, faule Bäuche.‹ (13) Dieses Zeugnis ist wahr. Aus diesem Grund weise sie scharf zurecht, damit sie gesunden im Glauben (14) und sich nicht an jüdische Legenden und Gebote von Menschen halten, die sich von der Wahrheit abgewendet haben. (15) Den Reinen (ist) alles rein; denen aber, die befleckt und ungläubig sind, ist nichts rein, sondern befleckt ist sowohl ihr Verstand als auch ihr Gewissen. (16) Sie beteuern, Gott zu kennen, aber mit ihren Werken verleugnen sie (ihn); abscheulich sind sie und ungehorsam und unfähig zu irgendeinem guten Werk.« 26 Vgl. Häfner, Polemik. Im Einzelnen ließe sich da Vieles zusammentragen, da die Attribute sowohl der verurteilten Personen als auch ihrer Lehre vielfältig sind – angefangen von »Schwätzern« und »leerem Geschwätz« (ματαιολόγοι, ματαιαλογία, Tit 1,10; 1 Tim 1,6) bis hin zum tödlichen »Krebsgeschwür« (γάγγραινα, 2 Tim 2,17). 27 Vgl. Häfner, Polemik, 319–321. 28  Nur am Rande bemerkt und hier nicht weiter zu verfolgen sei der Zusammenhang von Polemik und apologetischem Interesse, der in den Untersuchungen zur Gegnerproblematik oft unterschätzt wird; vgl. etwa Kidd, Titus.

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Angesichts dieser unverhohlenen und schroffen Diffamierung »derer aus der Beschneidung« muss zunächst zur Kenntnis genommen werden, dass dies im Titusbrief die einzige Entgleisung des Autors bleibt (und auch in den beiden anderen Pastoralbriefen keine Entsprechung hat). Erst in 3,9–11 kehrt der Autor Paulus noch einmal zu diesem Thema zurück, jedoch ohne die schroffe Art erneut aufzunehmen, sondern um in einem beinahe resigniert anmutenden Tonfall die (endgültige) Selbstverurteilung des Uneinsichtigen zu konstatieren (3,11). Doch steht selbst hier erstaunlicherweise immer noch die Wiedergewinnung des αἱρετικὸς ἄνθρωπος (3,10) im Vordergrund, so dass man den Eindruck gewinnt, die übermäßig negative Darstellung repräsentiere mehr ein konstruiertes Bild potentieller Gegner, das nicht primär der aktuellen Realität entspringt, sondern eher der Erfahrung des Apostels. Insofern ist der Eindruck, den Gerd Häfner formuliert hat, Polemik begegne in den Pastoralbriefen »auf Schritt und Tritt«29, zumindest im Blick auf den Titusbrief – und wie wir sehen werden auch für den 2. Timotheusbrief – zu relativieren. Auch wenn keine konkreten Personen genannt sind, lässt sich die Äußerung in Tit 1 unter rhetorischen Gesichtspunkten mit einigem Recht als Invektive bezeichnen, denn sie bleibt nicht auf dem Boden nüchterner Polemik in der Sache. Der Text lässt zudem bewusst offen, ob die Diffamierten dem oder den Adressaten persönlich bekannt sind. Vielmehr benutzt der Autor ein allgemein bekanntes Klischee, das innerhalb des Kontextes kretischer Gemeinden eine besondere Wirkung entfalten muss. Dies wirft die Frage nach Anlass und Pragmatik dieses auffälligen Abschnittes am Anfang des Titusbriefes auf, denn offenbar ist die Notwendigkeit einer sachlichen Auseinandersetzung nicht so entscheidend, als dass der Autor darauf wiederholt zu sprechen kommen müsste. Erwähnenswert ist der sich zweimal verändernde Duktus der Passage: Nach einem recht schroffen Beginn (10–12) nennt V. 13 f. immerhin ein positives Ziel der Zurechtweisung, nämlich die Heilung des Glaubens derer, die sich von der Wahrheit abgewandt hatten und bereits andere negativ beeinflussten. Allerdings hält sich der Optimismus in Grenzen, denn in V. 15 f. fällt der Duktus wieder in eine Beschimpfung, die kaum eine reale Hoffnung auf Besserung zulässt. Bemerkenswert ist schließlich, dass in dieser von Invektiven dominierten Polemik jene verunglimpft werden, die im vorangegangenen Abschnitt mit dem Begriff ἀντιλέγοντες (V. 9) bezeichnet und mit den verantwortlichen Presbytern der Gemeinde kontrastiert wurden. Die Aufgabe der Zurechtweisung kommt jedoch nicht – wie eigentlich zu erwarten – jenen Presbyter-Episkopen zu, sondern wird durch die 2. Person Singular explizit dem Titus als Briefadressat zugewiesen. Namen tun also offenbar hier nichts zur Sache. Das lässt die Frage aufkommen, um welche Art von Gegnern es sich handelt und ob überhaupt reale Personen im Blick sind. Auffällig ist nämlich, dass sowohl im 2 Tim 2,17 f. als auch im 1 Tim 1,19 f. durchaus Personen namentlich benannt werden, deren Verhalten und Lehre entsprechend verurteilt werden. Der Titusbrief verzichtet darauf. Im Sinne einer literarischen Strategie, die die Zusammengehörigkeit der Pastoralbriefe als Corpus 29 

Häfner, Polemik, 295.



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pastorale voraussetzt, ist diese Anonymität der Gegner im Titusbrief gegenüber den anderen Pastoralbriefen kaum erklärbar, zumal der Brief am Schluss ja durchaus mit konkreten Namen und Personen umgeht (Tit 3,12–14). Überaus deutlich ist, dass die Bemerkungen über die ἀντιλέγοντες auf ein jüdisches Profil abheben: Im Blick sind insbesondere (μάλιστα) Menschen »aus der Beschneidung«, es ist explizit – und ausschließlich hier in den Pastoralbriefen die Rede von »jüdischen Mythen und Geboten von Menschen« (1,14),30 Reinheitsvorstellungen scheinen eine Rolle zu spielen (1,15), ihnen wird der Anspruch unterstellt, »Gott zu kennen« (1,16)31 und schließlich wird ihre zersetzende Art als »törichte Dispute, Genealogien, Streit und gesetzliche Auseinandersetzungen« (3,9) gekennzeichnet. All dies lässt in seiner Gesamtheit keinen Zweifel am jüdischen Profil der hier vorgestellten Gegner,32 oder 30  Der in den Pastoralbriefen stets im Plural verwendete Begriff μῦθοι erscheint hier im Tit zum ersten und einzigen Mal und wird durch den Kontext semantisch notiert, der ihn in einen Zusammenhang mit von Menschen (und d. h. implizit in der Unterscheidung zu Gott) gesetzten Geboten stellt und ihn von daher näher bestimmt. Wenn in 2 Tim 4,4 der μῦθος-Begriff auf Erzählungen wie die von Jannes und Jambres bezogen wird (vgl. dazu Herzer, Magier), so lässt er sich auch im Tit durch den dortigen Kontext auf derartige legendarische Erzählungen des Judentums beziehen, die hier pauschal diskreditiert werden. Der Mythos-Begriff eignet sich insofern dafür, als er auch im allgemeinen Sprachgebrauch dem Begriff der Wahrheit kontrastiert, was entsprechend auch in Tit 1,14 geschieht. Im 1 Tim erfolgt dann unter dem spezifischen Gegnerprofil eine semantische und inhaltliche Transformation zumal in der Paarung mit γενεαλογίαι (1 Tim 1,4), die in dieser Form nur in 1 Tim zu finden ist, aber erkennbar den Gebrauch in Tit und 2 Tim voraussetzt. Vgl. dazu Herzer, Gnosis (in diesem Band 315–339). 31  Die Wendung θεὸν εἰδέναι bezieht sich nach Oberlinner, Titus, 48, auf den »für gnostische Frömmigkeit wesentliche[n] Gedanke[n]« der »›Erkenntnis‹ des höchsten Gottes, die befreit von der Bindung an die Materie und an die Welt und damit Heil und Erlösung bewirkt«. Das setzt aber bereits voraus, dass die Kontrahenten Gnostiker sind. Auf einen jüdischen Hintergrund verweist auch Wolter, Pastoralbriefe, 258. 32 Vgl. Herzer, Juden  – Christen  – Gnostiker (in diesem Band 293–314); sowie Gerber, Antijudaismus, 352, in der Beschreibung des »antijüdische[n] Affekt[s] der Polemik im Tit«, der zum Zweck einer positiven Selbstdarstellung der eigenen christlichen Position instrumentalisiert werde: »Der Brief greift judenfeindliche Polemik auf, um seine Adressatinnen und Adressaten von dieser am jüdischen Gesetz orientierten Version des Christentums fern zu halten« (a. a. O., 354). »Es entsteht so der Eindruck, dass die Abgrenzungen nicht nur dem Erhalt der paulinischen Identität und der Aktualisierung der Paulustradition gelten, sondern auch auf Unterscheidbarkeit vom Judentum zielen« (a. a. O., 355). Vgl. dazu auch Stegemann, Vorurteile. Dass in den Pastoralbriefen kein Bewusstsein des Gegenübers von Juden und Heiden mehr erkennbar sei, wie Stegemann (a. a. O., 49) behauptet, lässt sich in einer differenzierten Sicht auf die drei Briefe und einer differenzierten Berücksichtigung ihres spezifischen Profils (etwa im Unterschied zum notorischen Vergleichstext Röm) kaum sinnvoll begründen. Bezeichnenderweise gewinnt auch Stegemann wie viele andere diese Urteile aus Referenzen des 1 Tim, dem dann vereinzelte, aber weit weniger aussagekräftige Belege der beiden anderen Briefe beigestellt werden, ein übliches, aber zunehmend zweifelhaftes Verfahren, bei dem die literarische Einheit und sachliche Einheitlichkeit der drei Briefe vorausgesetzt werden muss. Eine antijüdische Ausrichtung bestreitet etwa Oberlinner, Antijudaismus, und zwar unter Hinweis auf die angebliche Israelvergessenheit in den Pastoralbriefen (vgl. bes. a. a. O., 296–298), die bereits Jürgen Roloff beschrieben hatte, vgl. Roloff, Weg, bes. 155 f.; vgl. dagegen zu Recht Kowalski, Funktion, bes. 61 f. Gleichwohl rechnet auch Oberlinner damit, dass jüdische bzw. judenchristliche Aspekte zum Profil der Gegner gehören, nimmt aber ähnlich wie Gerber an, dass in »christlichen Kreisen die Aktivierung antijüdischer Affekte ein Mittel zur Selbstdarstellung und Selbstbehauptung auf Kosten des Judentums sein konnte« (a. a. O., 299). Zum

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vorsichtiger formuliert: an der Tatsache, dass der Autor ein solches jüdisches Profil vor Augen hat. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Invektive in hohem Maße mit Stereotypen, Klischees und Pauschalisierungen arbeitet. Insgesamt gesehen erscheint daher die Vermutung nicht unbegründet, dass der Autor hier keine konkreten Personen vor Augen hat und deshalb auch keine Namen nennt. Nicht zuletzt deutet in diese Richtung auch die unbestimmte Redeweise von πολλοί (1,10), die sich nicht der »gesunden Lehre« unterordnen, wodurch die Invektive beinahe einen eschatologischen Duktus bekommt (vgl. ähnlich in 1 Tim 4,1; 2 Tim 3,1–9), der allerdings – wie das Präsens der Aussage zeigt – so rhetorisch nicht intendiert ist. Die Erklärung für diesen eigentümlichen Befund ergibt sich m. E. aus der Situation und dem Genre des Titusbriefes. Vielfach und mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass der Titusbrief und auch der 1. Timotheusbrief formal als Mandatsschreiben33 (ὑπόμνημα/memorandum) erkennbar sind. Manche sehen darin die Vorläufer der römischen mandata principis, die einen öffentlichen Charakter haben. Doch muss man vorsichtig sein mit derartigen Analogien und Genrevergleichen, da sie im Einzelnen von sehr spezifischen Bedingungen her zu relativieren sind. Das betrifft insbesondere den Vergleich zwischen 1. Timotheus- und Titusbrief: Der Titusbrief hat einen deutlich persönlicheren Charakter als der 1. Timotheusbrief, so dass auch die Frage nach dem quasi-offiziellen Charakter hier unterschiedlich zu beantworten ist. Der 1. Timotheusbrief bedient sich dieser Formelemente, um ein Programm traditionsbegründeter Ekklesiologie zu etablieren, und dies geht nur in einem gemeindeoffiziellen Kontext.34 Der Titusbrief hingegen erhebt diesen Anspruch nicht, sondern bedient sich des Mandatscharakters, um Titus für eine ganz bestimmte und vor allem zeitlich explizit begrenzte Aufgabe zu legitimieren, ohne dass dabei eine allgemeine gemeindeöffentliche Publikation des Schreibens intendiert ist. Das bedeutet aber zugleich auch, dass die Invektive in Tit 1 vor diesem Hintergrund zu verstehen ist: als eine negative Charakterisierung von uneinsichtigen Widersachern, besonders denen jüdischer Herkunft, vor denen ja nicht eigentlich gewarnt wird, sondern deren potentiellen Einfluss sich Titus angesichts seines Auftrages vergegenwärtigen soll und sich über etwaige Widerstände nicht wundern darf. Und genau hier setzt das Kreter-Klischee an, welches das negative Gegnerbild unterstreicht und lokal einfärbt. Die Kreter sind nun mal sprichwörtlich so, das weiß man ja: »Lügner, böse Tiere, faule Bäuche« (1,12). Von solchen abscheulichen Leuten ist nichts Gutes zu erwarten (1,16). Unter einer solchen Perspektive legt sich noch einmal mehr nahe, dass Paulus hier keine konkreten Personen im Blick hat, sondern durch das Genre und die Situation veranlasst Klischees aufnimmt, nicht, Thema »Israelvergessenheit« in den Pastoralbriefen vgl. auch Theobald, Israel- und JerusalemVergessenheit; Frankemölle, Frühjudentum, 315–317. 33 Vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 168 f.: »Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, daß es sich hier um den ptolemäischen Memoranda und den römischen Mandata principis vergleichbare Instruktionen für die Versehung eines neuen Amtes handelt.« 34  Zum Problem Herzer, Papyri, bes. 342–348 (in diesem Band 99–124).



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um konkrete Menschen oder gar »das Judentum« zu diffamieren, sondern um Titus auf eine besondere Aufgabe vorzubereiten.35 Diese bestand bekanntlich darin, in Gemeinden kretischer Städte ordnend einzugreifen, indem er verantwortliche Gemeindeleiter bestimmt, die im Sinne des Paulus wirken sollten (1,5–9), um danach selbst abzureisen und Paulus nach Nikopolis zu folgen (3,12). Die Anordnung in 1,5 setzt nicht (wie man oft im Kontext einer pseudepigraphischen Argumentation unterstellen zu müssen meint) eine regelrechte Paulusmission auf Kreta voraus. Im Gegenteil, der Brief lässt selbst erkennen, dass Paulus unter nicht genannten Umständen gerade nicht in vollem Umfang tätig sein konnte und nur deshalb Titus zurücklassen muss, um das »noch Übrige/Fehlende/das noch nicht Erledigte zurechtzubringen/zu ordnen/auszurichten« (ἵνα τὰ λείποντα ἐπιδιορθώσῃ, 1,5). Unter authentischem Vorzeichen ist diese unkonkrete Erläuterung kein Problem, da die Beteiligten (Paulus und Titus und auch die Gemeinden) die Situation selbst kennen; unter pseudepigraphischer Perspektive bleibt Kreta nicht nur im Sinne der Paulusgeschichte ein Rätsel, sondern auch im Hinblick auf die Kreter-Schelte, von der dann a priori angenommen werden müsste, dass sie nicht an eine gemeindliche Öffentlichkeit dringt. Es sei denn, Kreta und die Kreter hätten mit der Adressatengemeinde nichts zu tun und wären eine rein literarische Fiktion, womit aber deren Sinn wiederum infrage steht. Bei einer pseudepigraphischen Abfassung muss man jedoch damit rechnen, dass die rhetorische Entgleisung eine wohlüberlegte Strategie verfolgt. Mit dem Verweis auf die ethnographisch nicht ungewöhnliche Zuschreibung von (negativen) Charaktereigenschaften versucht etwa Manuel Vogel, die Rhetorik von Tit 1,10–14 zu entschärfen und als strategisches Konzept zu erweisen, für das sich der Autor »eines gängigen Stereotyps« (263 f.) über die Kreter bediene.36 »In der Tat inszeniert sich hier eine Polemik, die sich vor lauter Empörung für einen Moment selbst vergisst, doch handelt es sich eben um eine Inszenierung, die […] sehr genau weiß, was sie tut und was sie will.«37

Offen bleibt dabei die Frage, warum der Autor ausgerechnet Kreta ins Spiel bringt, auf eine solche Kreter-Schelte zurückgreift und damit nicht nur aus dem rhetorischen Rahmen fällt, in welchem er die beiden anderen Briefe und deren Gegnerpolemik konzipiert, sondern auch eine historische Situation konstruiert, die für die paulinische Mission – in der Regel jedenfalls – als äußerst unglaubwürdig 35  Zunehmend verdichtet sich aus meiner Sicht die Wahrscheinlichkeit, dass für den Tit und den 2 Tim mit einer Verfasserschaft des Paulus zu rechnen ist, im Unterschied zum 1 Tim, der deutlich andere Verhältnisse voraussetzt und in die Auseinandersetzungen des 2. Jahrhunderts hinein gehört; vgl. zum Problem Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76), sowie zu den damit verbundenen historischen Fragen ders., Lukas (in diesem Band 215–246). 36 Vgl. Vogel, Kreterpolemik, 264: »Der Titusbrief polemisiert nicht gegen ›Juden‹, sondern gegen ›Kreter jüdischer Herkunft‹, und eben nicht, wie analog zu Josephus zu formulieren wäre, gegen ›Juden kretischer Herkunft‹.« 37  Vogel, Kreterpolemik, 260.

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angesehen wird.38 Unter diesen Umständen wäre die folgende Annahme zwingend, die zuletzt Vogel wieder zu Recht herausgestellt hat: »Es wäre so widersinnig wie kontraproduktiv und verriete einen elementaren Mangel an rhetorischem Geschick, wollte der Verfasser des Titusbriefes eine als häretisch bewertete Gruppe kretischer Christen dadurch unschädlich machen, dass er die Kreter insgesamt schmähte und es sich damit mit höchster Wahrscheinlichkeit auch mit den ›Rechtgläubigen‹ unter den kretischen Christen verscherzte.«39

Auch Häfner kommt zu dem Schluss, eine solche Polemik könne nur außerhalb Kretas geäußert werden.40 Aber auch hier die Frage: Warum und zu welchem Zweck sollte man so etwas tun? Unter der Perspektive der Pseudepigraphie bleibt dieser Text also ein komplexes rhetorisches Problem. Unter einem authentischen Vorzeichen ist jedoch die Affektion dieser Äußerung sehr viel stärker ins Kalkül zu ziehen und eher mit jenen emotional bestimmten Invektiven zu vergleichen, die wir auch sonst von Paulus kennen. Das führt zu einer letzten Überlegung, die unter dem Vorzeichen der Authentizität des Briefes notwendig ist, nämlich in welchem Verhältnis das im Titusbrief gezeichnete Gegnerbild zu jenen Gegnern steht, mit denen sich Paulus in seiner Mission konfrontiert sah. Inwiefern – wenn der Titus- und der 2. Timotheusbrief authentisch sein sollten  – lassen sich die Auseinandersetzungen des Paulus mit seinen »Gegenspielern« in Galatien, Korinth und Philippi mit dem Gegnerbild des Titusbriefes verbinden, das  – wie wir gesehen haben  – möglicherweise nahelegt, dass Paulus keine konkreten Personen vor Augen hat, sondern nur Einzelzüge über Dritte erfahren bzw. aus seiner eigenen Erfahrung heraus ein Bild konstruiert, das im Brief als eines Mandats- bzw. Empfehlungsschreibens eine bestimmte Funktion erhält. Weiterhin stellt sich die Frage, ob man nicht auch hier eine »Einheitsdeutung« versuchen muss, wie es Gerd Theißen im Blick auf den Galaterbrief, die Korintherbriefe und den Philipperbrief für die Gegnerschaft des Paulus gegenüber einer unübersichtlichen Ausdifferenzierung in ganz unterschiedlich profilierte Gegnergruppen noch einmal und m. E. mit guten Argumenten versucht hat.41 Theißen hat dabei – anknüpfend an Lüdemann42 – als wesentliches Element die 38 Nach Martin, Situations, war der Kreterspruch überhaupt der Anlass für den pseudonymen

Autor, Kreta als lokale Destination des Tit ins Spiel zu bringen: »Of all the numerous destinations available to the implied author, only Crete permits this author to quote the proverb in Titus 1:12 as a description of the opponents. It is this proverb that provides the resolution for the enigma of the destination for this epistle« (a. a. O., 13). Nicht Kreta biete die Möglichkeit, das Scheltwort zu funktionalisieren, sondern das Scheltwort gebe die Möglichkeit, Kreta als Ort des Tit zu wählen. Daher sieht er in dem Wort auch kein moralisches Verdikt über die Gegner. 39  Vogel, Kreterpolemik, 254. Auch Brox, Pastoralbriefe, 288, äußert Bedenken, dass das pauschale Urteil über die Kreter »in einem Brief des Paulus unmittelbar für die kretische Kirche […] missionarisch und seelsorgerlich nicht gerade geschickt zu nennen [wäre], weil sie in ihrem Pauschalurteil […] für alle Kreter, also auch für die christlichen Gemeinden verletzend sein mußte, denn es wird ja durchaus keine Einschränkung angebracht.« 40  Häfner, Polemik, 322–324. 41  Theissen, Gegenmission. 42  Lüdemann, Paulus, 228–257.

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judaistisch-judenchristliche Prägung bestimmt, die zwar nicht immer in derselben Weise hervortrete, aber durchaus als einheitliches Profil der Gegner gelten könne, das lediglich kontextuell bedingt verschiedene Konturen in der paulinischen Perspektive annimmt.43 Nicht vorausgesetzt wird dabei eine personale Kontinuität: »Die hier vorgeschlagene Einheitsdeutung begnügt sich mit der Annahme einer einheitlichen Intention der Gegenmission: Ihr Ziel ist die Reintegration der neu entstandenen heidenchristlichen Gemeinden ins Judentum, um für das Christentum bessere Entfaltungsmöglichkeiten zu schaffen.«44

Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass die Darstellung von gegnerischen Positionen durch Paulus nicht die Absicht verfolgt, deren Position gerecht zu werden, sondern um die betroffenen Adressaten entsprechend zu beeindrucken bzw. beeinflussen. Ein und dieselbe Position kann unter diesem Vorzeichen auch unterschiedlich dargestellt und akzentuiert werden. Interessant für unseren Fragehorizont ist nun, dass Paulus sowohl im Galaterbrief als auch im Philipperbrief in der Auseinandersetzung mit den »judaisierenden« Judenchristen deftige Invektiven gebraucht, die durchaus mit der Schmähung in Tit 1 vergleichbar sind. Während Paulus im Galaterbrief die Beschneidungsforderung der Gegner mit der überspitzten Forderung diffamiert, sie sollten sich doch gleich kastrieren lassen (ἀποκόψονται, 5,12), und damit in seiner Auseinandersetzung mit den jüdischen Gegnern bekannte antijüdische Vorbehalte aufnimmt,45 geht er im Philipperbrief noch einen Schritt weiter und bezeichnet die, die so großen Wert auf ihre Herkunft aus dem Judentum legen, als »Hunde«: »hütet euch vor den Hunden, hütet euch vor den bösartigen den falschen Arbeitern, hütet euch vor der Zerschneidung (κατατομή)« (Phil 3,2). Die Furcht, jemandem beleidigend zu nahe zu treten, ist Paulus offenbar fremd, obwohl er damit rechnen muss, dass auch den Gegnern solche Äußerungen zu Ohren kommen. Daran dass auch in Tit 1 ein judenchristliches Profil impliziert ist, dürfte aufgrund der Wendung οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς kein Zweifel bestehen. Darüber hinaus bringt das Kreter-Klischee – bis in den gleichtönenden Dreiklang mit dem Philipperbrief vergleichbar – den Tiervergleich als Argument: »Lügner, böse Tiere, faule Bäuche«.46 Ein weiteres und wesentliches Merkmal der judenchristlichen Gegenmissionare war im Unterschied zu Paulus, dass sie einen Anspruch auf Unterhalt erhoben,47 ein Punkt, an dem Paulus recht empfindlich reagierte, weil man ihm aus dem Unterhaltsverzicht offenbar einen Vorwurf gemacht hatte (vgl. 1 Kor 9,3–7).48 Polemisch gesteigert dann in 2 Kor 2,17: »Sie verhökern (καπηλεύειν) das Wort Gottes« (2 Kor 2,17). Wenn es in Tit 1,11 heißt: »sie lehren, was nicht sein soll, um schändlichen Gewinnes 43 

Theissen, Gegenmission, 282. A. a. O., 283. 45  Vgl. a. a. O., 292. 46  Koster, Invektive und Polemik, 50: »Es gehört zur Topik der Invektive, dass Tiere zum Vergleich oder zur Gleichsetzung herangezogen werden.« 47 Vgl. Theissen, Legitimation; Theissen, Gegenmission, 301 f. 48 Vgl. Wolff, 1 Kor 2011, 187–190; vgl. auch ders., Niedrigkeit, bes. 183–195. 44 

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willen«, dann entspricht dies den Erfahrungen des Paulus. Dass Gewinnsucht auch als ein klischeehaftes Merkmal der Kreter galt,49 verdeutlicht diesen Vorwurf im Sinne des Lokalkolorits noch einmal mehr. Und schließlich: Unter der Voraussetzung der Orthonymität des Briefes mag für den Adressaten Titus, den Paulus ja im Unterschied zu Timotheus ausdrücklich nicht beschnitten hat (Gal 2,3), eine Aussage wie Tit 1,10 mit weiteren Assoziationen – vielleicht an gemeinsame Erlebnisse mit dem Apostel und dessen Anfeindungen durch Juden oder Judenchristen – verbunden gewesen sein. Titus hätte dabei als Heide eine Außenperspektive auf solche Erfahrungen, während Paulus sie als Jude bzw. Judenchrist aus einer – zumindest subjektiv vorhandenen (vgl. Gal 2,15; 2 Kor 11,22; Phil 3,5; Röm 9,3–5) – Binnenperspektive reflektiert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die scheinbar so unangemessen ausfällige Invektive in Tit 1 keine konkreten Personen im Blick hat und ihre rhetorische Funktion allein durch den Bezug zu Titus und zu dessen »briefing« für seine besondere Aufgabe gewinnt, in einem fremden Missionsgebiet gemeindeordnend im Namen des Paulus zu wirken. Sie darf daher weder rhetorisch, noch literarischstrategisch, noch moralisch überbewertet, aber auch in ihrer Drastik nicht abgemildert werden: Aus der subjektiven Sicht des Paulus und vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen meint sie, was sie sagt. Das Problem, antijüdisch zu sein, hat der Jude Paulus nicht, schon gar nicht irgendwelche Ressentiments judenchristlichen Widersachern gegenüber. Die Charakteristik, die Paulus von den mutmaßlich Widerständigen entwirft, speist sich aus seinen eigenen einschlägigen Erfahrungen der Vergangenheit mit vorwiegend judenchristlichen Gegenmissionaren. Es ist sind Einflüsse dieser Prägung, die er auch als potentielles Problem auf Kreta sieht, in seinem Brief gleichsam als Folie thematisiert (um nicht zu sagen konstruiert), um Titus nicht unvorbereitet in seine Aufgabe zu entlassen. Deshalb ist das Attribut »jüdisch« auch nur im Titusbrief zu finden. Das auf eine ethnische Kategorie abhebende Kreter-Klischee verstärkt diese Befürchtungen lediglich und hat kein Eigengewicht.50 Es ist daher in diesem Kontext auch nicht geeignet, als Beleidigung konkreter Personen missverstanden zu werden. Keine der Gegneraussagen des Titusbriefes lässt erkennen, dass es hier um reale Personen geht. Offen bleibt daher, ob die Gefährdung durch judenchristliche Missionare tatsächlich ein Problem gewesen ist oder ob es nicht vielmehr von Paulus nur gleichsam als potentielle und grundsätzliche Gefahr beschworen wurde (»es gibt viele, die […]«, 1,10).51 Da49 Vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 101, unter Hinweis auf Polybius, Historiae VI 46, wo die allgemeine Bekanntheit der kretischen αἰσχροκερδία hervorgehoben wird: καθόλου θ᾽ ὁ περὶ τὴν αἰσχροκέρδειαν καὶ πλεονεξίαν τρόπος οὕτως ἐπιχωριάζει παρ᾽ αὐτοῖς ὥστε παρὰ μόνοις Κρηταιεῦσι τῶν ἁπάντων ἀνθρώπων μηδὲν αἰσχρὸν νομίζεσθαι κέρδος – generell herrscht bei ihnen die Gewohnheit von Gewinnsucht und Habgier, so dass von allen Menschen allein den Kretern kein Gewinn als schändlich gilt. 50 Vgl. van der Horst, Jews. 51  Vgl. etwa Stegemann, Vorurteile, 51 f., der von einer realen Krisensituation ausgeht und daraus eine devianz-soziologische Interpretation begründet. Doch davon, dass »offensichtlich schon ganze Familien bzw. Haushalte zu Fall gebracht, umgestürzt oder ruiniert« (a. a. O., 52)



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gegen lässt sich unter biographischem Aspekt auch nicht einwenden, der Paulus des Römerbriefes hätte nach Röm 9–11 so etwas nicht mehr schreiben können. Was Paulus nach dem Römerbrief in Jerusalem erlebt und letztlich zu einer ausgesprochen prekären Situation geführt hat, an dem auch die judenchristlichen Gruppen in Jerusalem kaum einen positiven Anteil haben, dürfte ausreichen zu begründen, warum ihm die alten Konflikte als potentielle Gefährdung von Gemeinden wieder vor Augen stehen. Seine Not, die er gerade im Römerbrief Israel gegenüber zum Ausdruck bringt, ist durch die biographische Erfahrung nicht gelindert worden; eher ist das Gegenteil der Fall.

3.  Die Gegnerthematik im 2. Timotheusbrief Die Auseinandersetzung mit »Gegenspielern« bzw. Gegnern im 1. Timotheus(s. u.) und im 2.  Timotheusbrief erfolgt auf eine andere Weise als im Titusbrief. Erneut ist nicht so sehr die Frage nach der Identität der Gegner entscheidend, um die es hier auch nicht primär gehen soll,52 als vielmehr die Frage, welchen Stellenwert und welche Funktion die Art der Auseinandersetzung innerhalb des Briefes und welche Bedeutung dabei dessen Genre jeweils hat. Für den 2.  Timotheusbrief als einem testamentarischen Brief mit einem sehr persönlichen Duktus – die Gattungen des Testaments und des Freundschaftsbriefes verbindend  – ist eine polemische oder gar invektivische Auseinandersetzung mit Gegnern nicht zu erwarten, allenfalls im Modus einer Warnung vor Menschen, die für den Glauben eine Gefahr darstellen. Im Unterschied zum Titusbrief werden bereits im ersten Kapitel zwei Personen namentlich genannt, Phygelos und Hermogenes, allerdings sine ira et studio und lediglich im Sinne einer Information an Timotheus über die Situation, dass sich in der Asia alle abgewendet haben, darunter die namentlich Genannten (1,15). Dem entspricht am Schluss des Briefes zumindest ein Teil der listenartig aufgeführten Namen wie Demas und andere, von denen Paulus sagt, sie hätten ihn verlassen (4,10). Dabei ist es bekanntlich schwer, hier einen negativen Unterton zu unterstellen, da Paulus mehr informiert als (be-) urteilt. Selbst die Bemerkung, Demas hätte die Welt liebgewonnen, ist m. E. keineswegs so eindeutig negativ, wie man das gemeinhin interpretiert. Selbst Alexander, »der Schmied«, über den Paulus klagt, er habe ihm viel Böses getan, wird nicht diffamiert, sondern in geradezu abgeklärt-gelassener Art und Weise die Vergeltung seiner Werke dem Kyrios anheimgestellt (4,14). Zu mehr ist Paulus in seiner aktuellen Lage offenbar weder willens noch in der Lage. Angesichts des Todes, angesichts der »Vollendung des Laufes« (4,7) verbieten sich alle persönlichen Anfeindungen, wurden, ist in Tit 1,11 nicht die Rede, der Vers formuliert lediglich eine Erfahrung, die auch für die Gemeinden Kretas relevant werden könnte. Die Präsensformen sind also nicht unmittelbar als Ausdruck dessen zu verstehen, was gerade tatsächlich geschieht, sondern als ein generalisierendes Präsens, das formuliert, was geschehen könnte. 52 Vgl. Herzer, Juden – Christen – Gnostiker (in diesem Band 293–314).

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wie sie für den geradezu »zelotischen« Eifer53 des noch aktiven Missionars Paulus so charakteristisch waren. In einem zwar deutlich polemischeren Ton, aber weit entfernt von einer Invektive nach Art von Tit 1 werden auch in 2 Tim 2,17 zwei Namen genannt, Hymenäus und Philetus. Beide werden nicht persönlich angegriffen oder moralisch desavouiert, sondern ihre Auffassung über die Auferstehung als bereits vollendetes Heilsgeschehen als ein nichtiges Geschwätz verurteilt und mit einem wachsenden Krebsgeschwür verglichen. Offenbar stehen auch sie lediglich pars pro toto (ὧν ἐστιν) für eine Entwicklung, die Paulus innerhalb seiner Gemeinden generell um sich greifen sieht und die er für gefährlich hält. Angesichts seiner im Brief allgegenwärtigen Lage in der Erwartung des Todes und der damit verbundenen Vollendung im himmlischen Königreich (4,18) ist dies mehr als plausibel. Dem korrespondiert eine zunächst auch sehr allgemeine Warnung in 3,1–5 vor Menschen, die sich zwar den Anschein von Frömmigkeit geben, aber in Wahrheit in ihrer Selbstliebe alle möglichen Schlechtigkeiten in sich vereinen. Die Pauschalität dieses geradezu apokalyptisch konnotierten Lasterkataloges ist nicht mit Namensnennungen verbunden, mündet aber in eine Erörterung über einige Leute (ἐκ τούτων γάρ εἰσιν, 3,6), die vor allem Frauen zu übertriebenem und damit abträglichem Lerneifer verführen und so der Wahrheit abspenstig machen (3,6 f.). Im Vergleich mit Jannes und Jambres werden diese Leute  – anonym  – als verdorben in ihrem Verstand, untauglich im Blick auf den Glauben charakterisiert, und damit behauptet, deren Unverstand sei bereits allen offenbar (3,8 f.). Diese letzte Bemerkung hat schon eher invektivischen Charakter, wobei völlig offen bleibt, wen der Autor hier konkret im Sinn hat.54 Der Duktus und vor allem der Verzicht auf Namen lässt, im Unterschied zu 2,16–18 bzw. zu den ausführlichen Namenslisten am Schluss des Briefes, vermuten, dass hier andere Personen im Blick sind, möglicherweise in einem ähnlichen Sinn, wie die in Tit 1 vorgestellten Gegner. Dafür würde auch hier die Verwendung von stereotypen Scheltmustern (Lasterkatalog, Goetentum, Verführung von Frauen, negatives biblisches Beispiel) sprechen. Dass die Schelte in 3,13 noch einmal aufgenommen wird, nachdem Paulus auf die Widrigkeiten und Widerstände in seiner Arbeit zurückgeblickt hat (3,11 f.), unterstreicht die Vermutung, dass das Gegnerbild auch hier – wie im Titusbrief – von diesen peristatischen Erfahrungen geprägt ist. Die Einspielung von Bemerkungen über Menschen und Positionen, die von dem abweichen, was Paulus als sein Vermächtnis versteht, ist auch im 2. Timotheusbrief ganz von der Situation des Briefes aus zu verstehen. Es entspricht in Ton und Duktus dem Befinden des Apostels, der trotz allen Bemühens »sein Evangelium« (2,8) immer noch angefochten sieht und daher Timotheus auf dessen Bewahrung gleichsam einschwören muss. Die Art und Weise, wie bestimmte z. T. bekannte, aber auch unbekannte Personen namentlich genannt werden, unterstreicht diese Perspektive, denn ein positives Bild dessen, was Paulus in personaler 53  54 

Vgl. z. B. 2 Kor 11,2. Vgl. dazu Lichtenberger, Jannes und Jambres; Herzer, Magier.

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Hinsicht bzw. als »theologischen Nachwuchs« oder gar als »Schule«55 hinterlässt, lässt sich damit gerade nicht zeichnen. Interessant ist, dass dieser situative Hintergrund keine kämpferische Auseinandersetzung mehr zulässt, wie das noch der invektivische Angriff im Titusbrief erkennen lässt. Paulus hat den »guten Kampf« bereits gekämpft, den Lauf vollendet (4,6 f.). Gegner im eigentlichen Sinne gibt es nun nicht mehr.

4.  Das Gegnerprofil im 1. Timotheusbrief Ein noch einmal verändertes Bild ergibt sich im 1. Timotheusbrief, bei dem nun tatsächlich die pseudepigraphische Perspektive zu berücksichtigen ist. Allerdings nicht im Sinne einer literarischen Strategie, die den Adressaten eine Situation vortäuschen müsse, sondern im Hinblick auf den Anlass und den Zweck, die das Schreiben insgesamt verfolgt. Dabei wird nämlich deutlich, dass im Unterschied zum Titus- und zum 2. Timotheusbrief die Problematik der Auseinandersetzung mit konkreten Gegnern für das Gesamtkonzept eine konstitutive Rolle spielt und sich durch den gesamten Brief hindurchzieht: 1 Tim 1,3 f.6.9–10.19 f.; 4,1–7; 6,3–5.9 f.20–21. Der Brief beginnt also mit der Thematik der Heterodoxie und endet auch damit; die zentrale Passage in 4,1–7 ist in inhaltlicher Hinsicht am ergiebigsten. Im 1. Timotheusbrief ist also im Unterschied zu den beiden anderen Briefen ein inhaltliches Profil der Gegner zumindest in einigen Aspekten real greifbar. Bereits der erste Gedanke des Briefes in 1,4 nimmt zwei Begriffe auf und verbindet sie miteinander, die einzeln in den beiden anderen Briefen bereits verwendet wurden: μῦθοι καὶ γενεαλογίαι. In der Zusammenstellung schien dies für den Autor des 1. Timotheusbriefes geeignet zu sein, die heterodoxen Lehrinhalte gleichsam unter ein Label zusammenzufassen und sie der οἰκονομία θεοῦ gegenüberzustellen, die der Autor als Realität der Gemeinde noch ausführlich entfalten wird. Die Gegner stehen also hier bereits deutlich außerhalb dieser οἰκονομία θεοῦ und damit außerhalb der Gemeinde. Diese heilsökonomische Perspektive ist daher als das eigentliche Anliegen programmatisch gesetzt, und es gewinnt sein Profil nicht zuletzt durch die Abgrenzung von Gruppen, die dieser als paulinisch bestimmten Richtung nicht folgen. Mit der Charakterisierung dieser Gegenspieler ist der Autor zwar auch sparsam, aber er gebraucht nicht nur Allgemeinplätze der Antisophistenpolemik56, sondern nennt auch konkrete Züge, die er zumeist mit topischer Polemik verbindet: Er spricht von ihrem Selbstanspruch, νομοδιδάσκαλοι zu sein und führt diesen ad absurdum durch einen gleichermaßen absurden Lasterkatalog über die ἄνομοι (1,9–10), der kaum reale Personen beschreiben dürfte.

55 

Zum Problem der Annahme einer Paulusschule vgl. Herzer, Paulusschule. K arris, Background.

56 Vgl.

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Das einzige Beispiel, bei dem der Autor Namen nennt, ist in polemischer Hinsicht am wenigsten auffällig. In 1 Tim 1,19 f. werden Hymenäus und Alexander genannt, die bereits aus 2 Tim 2,17; 4,14 bekannt, dort aber nicht miteinander verbunden sind. Von ihnen wird gesagt, Paulus habe sie – in erzieherischer Absicht – »dem Satan übergeben«. Damit wird offensichtlich an das Vorbild von 1 Kor 5,1–13 angeknüpft, wo der Apostel der Gemeinde eine ähnliche Maßnahme angeordnet hatte. Bemerkenswert daran ist, dass Hymenäus und Alexander die einzigen Namen sind, die im 1. Timotheusbrief im Zusammenhang mit vom Glauben abweichenden Tendenzen erwähnt werden, und im Unterschied zu anderen Stellen ist hier der Gemeindebezug noch erkennbar. Das Beispiel dient also der Abschreckung davor, den heterodoxen Pseudo-Didaskaloi57 zu folgen. Die Gefährdung der Gemeinde wird in 4,1–7 in besonderer Weise thematisiert und in einen eschatologischen Horizont gestellt, ganz ähnlich wie in 2 Tim 3,1–5, aber doch in zentralen Aspekten anders konnotiert: aus der Warnung des Paulus wird eine direkte Prophetie des Geistes (τὸ δὲ πνεῦμα ῥητῶς λέγει), aus den »letzten Tagen« werden »letzte Zeiten«, statt eines pauschalen Lasterkataloges ist von Geistern und Dämonen die Rede, von asketischen Tendenzen wie Ehelosigkeit und der Enthaltung von Speisen, die offenbar mit einer bestimmten Auffassung von Schöpfung bzw. deren Defiziten zu tun hat. Offenkundig wird dabei, dass diese stilisierte Prophetie nicht als eine in die Zukunft weisende Aussage verstanden werden soll, sondern den beschriebenen Zustand letztlich bereits für die Gegenwart konstatiert, die damit als »letzte Zeit« qualifiziert wird. Von Eschatologie im eigentlichen Sinne kann dementsprechend im 1. Timotheusbrief nicht gesprochen werden. Während 1 Tim 6,3–5 keine wesentlich neuen Aspekte zu entnehmen sind, sondern der Autor mit dem erneuten Aufgreifen der Thematik spürbar das Ende des Briefes einleitet, verbindet er immerhin damit noch eine Mahnung an die Wohlhabenden in der Gemeinde, die den verführerischen Gefahren des Reichtums zu erliegen drohen. Allerdings kann er hier nicht übermäßig polemisch formulieren, denn er will sie dazu motivieren, mit ihrem Reichtum die Gemeinde in finanzieller Hinsicht zu unterstützen. Gelegenheiten dazu gibt es – wie der Autor vor allem in Kap. 5 ausführlich gezeigt hat – zuhauf. Daher ist die Polemik hier auch reduziert auf das Einspielen einer weisheitlich bzw. popularphilosophisch anmutenden Warnung über den Reichtum als »Wurzel allen Übels« (6,10),58 ohne konkrete Personen zu kritisieren. Rhetorisch muss der Autor hier so formulieren, dass der Text den intendierten Adressaten die Möglichkeit gibt, sich als solche zu identifizieren, die gerade nicht so sind wie jene, die den Gefahren des Reichtums erliegen könnten. Mit einem Achtergewicht wird der Autor am Schluss des Briefes schließlich besonders deutlich, wenn er vor den Gefahren der »fälschlich so genannten Gnosis« warnt. Spätestens diese Aussage lässt erkennen, dass der 1. Timotheusbrief konkrete 57 

Der Begriff ψευδοδιδάσκαλοι begegnet explizit in 2  Petr  2,1; vgl. Polyc 7,2: ψευδοδιδασκαλία. Kowalski, Funktion, 53.

58 Vgl.

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und als häretisch zu verurteilende Gruppen im Blick hat, die unter der Bezeichnung »Gnosis« den Bestand der traditionell sich paulinisch verstehenden Gemeinden und ihre Glaubensweise gefährden.59 Auch wenn im Brief einige inhaltliche Aspekte des Profils dieser Gruppen anklingen, so wird doch eine echte argumentative Auseinandersetzung in der Sache nicht geführt. Was aber erstaunlicher Weise auch fehlt, ist die echte Polemik und Invektive. Das ist offenbar nicht  – wie im Titusbrief – die Art des Autors, die notwendigen Grenzziehungen zu festigen. Überzogene Polemik kann, wie eingangs skizziert wurde, rhetorisch in einer Auseinandersetzung mit realen Gruppen und Personen auch den gegenteiligen Effekt haben, dass nämlich die Geschmähten durch die Schmähung erst recht interessant werden und die invektivische Rhetorik negativ auf den Autor selbst zurückfällt. Dem entspricht, dass alle Aussagen über die Gegner im 1. Timotheusbrief erkennen lassen, dass die Trennung bereits vollzogen ist, dass es sich um eine bereits entfremdete, neue Gruppe (oder Gruppen) handelt. Angesichts solcher Entwicklungen soll sich die Gemeinde nicht nur ihrer Wurzeln vergewissern, sondern auch die bereits etablierten und nicht erst – wie im Titusbrief – zu installierenden Ordnungsstrukturen zum Zwecke der Bestandssicherung des Glaubens konsolidieren (vgl. bes. 3,15 f.).

5. Resümee Invektive und Polemik sind in den Pastoralbriefen unterschiedlich ausgeprägt und haben unterschiedliche Funktionen, die in hohem Maße von der historisch-sozialgeschichtlichen Situation sowie dem Genre und dem entsprechenden Duktus des jeweiligen Briefes abhängig sind. Am deutlichsten ausgebildet ist die Invektive in einer polemischen Funktion im Titusbrief. Dem Mandatscharakter des Schreibens entsprechend wird Titus unter Rückgriff auf ethnische Stereotype vor Menschen gewarnt, die aus einer jüdischen Perspektive den Glauben der Gemeinden bedrohen. Der Text lässt nicht erkennen, dass konkrete Personen im Blick sind, entsprechend werden auch keine Namen genannt. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass Paulus unter dem Eindruck seiner Erfahrungen ein Gegnerprofil konstruiert, das als solches die Funktion einer Warnung an Titus bekommt. Ähnliches lässt sich auch für den 2. Timotheusbrief feststellen, mit dem Unterschied, dass auf Invektive weitgehend verzichtet wird. Die Situation bzw. die Perspektive hat sich verschoben: Der durchaus noch kämpferischen Ausrichtung des Titusbriefes steht nun eine eher abgeklärte Haltung gegenüber, die den Tod bzw. die himmlische Vollendung vor Augen hat. Die Übergabe der Verantwortung des Timotheus für das Evangelium des Paulus braucht die Invektive nicht mehr. Die Warnung vor Anfeindungen des Glaubens und die eindringliche Klarstellung des notwendigen Leidens für das Evangelium tritt in den Vordergrund. 59 

Vgl. dazu Herzer, Gnosis (in diesem Band 315–339).

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Gegenüber der Klischeehaftigkeit der Polemik im Titus- und im 2. Timotheusbrief ist das Gegnerprofil des 1. Timotheusbriefes deutlich konkreter. Da es hier im Unterschied zum Titus- und zum 2.  Timotheusbrief um in der Gemeindeöffentlichkeit zu verhandelnde Probleme geht, ist die Polemik deutlich verhaltener und kaum durch invektivische Elemente bestimmt. Auch wenn an der Verurteilungswürdigkeit der gegnerischen Positionen keine Zweifel besteht und der Anspruch der Gegner auch mit Blick auf ihr moralisches Verhalten desavouiert wird, so geht der Autor nicht das Risiko ein, dass durch überzogene Invektive seine eigenen Absichten gefährdet werden, die nicht in der Auseinandersetzung mit den Gegnern liegen, sondern in der internen Konsolidierung der Gemeinde. Die Gegnerpolemik steht hier also ganz im Dienst der innergemeindlichen Verständigung auf eine der Paulustradition gemäße Organisation des gemeinsamen Lebens.

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Vom Sinn und Nutzen der Polemik

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

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Vom Sinn und Nutzen der Polemik

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»Von Gottes Geist durchweht« Die Inspiration der Schrift nach 2 Tim 3,16 und bei Philo von Alexandrien* 1.  Die Fragestellung In seiner Auslegung zu Sprüchen aus dem Neuen Testament schreibt Martin Luther zu 2 Tim 3,16 f.: »Wenn wir gleuben köndten, das Gott selbs mit uns in der Schrifft redet, so wurden wir mit vleis darinnen lesen, und sie fur unsere selige werckstat halten.«1 Diese Sentenz des Reformators sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringen. Doch schwingt deutlich ein zweifelnder Unterton mit, weil das Verständnis der Heiligen Schrift und der Umgang mit ihr immer wieder umstritten waren und sind. Wenn es um das Verständnis der Schrift geht, wird 2 Tim 3,16 gern herangezogen. Die lutherische bzw. altprotestantische Orthodoxie konnte nicht zuletzt unter Hinweis auf diese Stelle ihre Vorstellung von Inspiration der Schrift im Sinne einer Verbalinspiration präzisieren und dabei auf eine lange altkirchliche und mittelalterliche Tradition sowohl griechischer als auch lateinischer Provenienz zurückgreifen.2 Die wirkungsgeschichtliche Bedeutung der im Neuen Testament keineswegs zentralen Aussage von 2 Tim 3,16 wird nicht zuletzt daran deutlich, dass der Topos »Inspiration der Schrift« in der Dogmatik unter dem dieser Stelle entnommenen Stichwort der »Theopneustie« verhandelt wird. In den lutherischen Bekenntnisschriften findet sich ein Bezug auf 2 Tim 3,16 erst in der Solida Declaratio der Konkordienformel, wo unter dem Paragraphen De tertio usu legis divinae der Begriff der Schrift auf das zur Belehrung und vor allem Bestrafung nützliche Gesetz bezogen und eingeschränkt wird.3 Auch Luther selbst hatte dem Topos der Theopneustie der Schrift keinen eigenen Artikel gewidmet – man vermutet darin eine bewusste Vermeidung wegen der Auseinandersetzung mit den Schwärmern. Und so interpretiert er auch 2 Tim 3,16, ohne den Begriff des Geistes zu verwenden: Alle Schrift ist »von Gott selbs eingegeben und geleret«4 und das heißt: *  Christian Wolff (Berlin) zum 60. Geburtstag in Dankbarkeit gewidmet. 1  WA 48, 137 (Nr. 181B). 2 Vgl. Beumer, Inspiration; vgl. auch den anschaulichen Überblick bei Weber, Grundlagen, 253–257. 3  BSLK 966; vgl. BSLK 1067. 4  WA 48, 218 (Nr. 290): »Wie wol viel bucher sind, die seer nütze sind vnd feine geschickte, gelerte, leute machen konnen So ists doch alles allein zü diesem vergenglichem leben gericht vnd weltliche weisheit oder gerechtigkeit, kan keinen Gottes Menschen machen noch den selben leren,

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Gott redet mit uns in der Schrift. Andere haben später andere Akzente gesetzt, wobei der zentrale Begriff θεόπνευστος aus 2 Tim 3,16 Ausgangspunkt für ganz unterschiedliche Auffassungen sein konnte, weil seine Bedeutung nicht eindeutig zu bestimmen ist. Dies ist Anlass zu der im Folgenden zu untersuchenden Frage nach der traditionsgeschichtlichen Verankerung der Vorstellung von der Theopneustie der Schrift. Dazu soll der Interpretation von 2 Tim 3,16 unter besonderer Berücksichtigung der Inspirationsvorstellung bei Philo von Alexandrien nachgegangen werden, auf deren Bedeutung für das Neue Testament meist nur pauschal hingewiesen wird, ohne den traditionsgeschichtlichen Zusammenhang methodisch klar zu bestimmen.5 Für das Verständnis der neutestamentlichen und insbesondere auch der paulinischen Tradition und der hellenistisch-jüdischen Welt, in der diese Tradition lebendig war, ist dieser jüdisch-hellenistische Religionsphilosoph und Zeitgenosse von Jesus und Paulus zweifellos von unschätzbarem Wert. Die Kirchenväter haben Philo ausgiebig verwendet.6 Eusebius (4. Jh.)7 und später auch Hieronymus8 wissen von einem freundschaftlichen Treffen zwischen Philo und Petrus in Rom zu berichten, und in den byzantinischen Catenae (6. Jh.) sind Exzerpte aus Philo überschrieben mit Φίλωνος ἐπισκόπου,9 so dass David Runia ihn geradezu als »Church Father honoris causa« bezeichnen konnte.10 Wie verhält es sich aber bei Paulus bzw. in seiner Schultradition?11 Die Diskussion darum, wie der »Vergleich« von Philo mit Paulus bzw. der Paulustradition methodisch angemessen durchgeführt werden kann, ist offen. Wenn z. B. in einer neueren Monographie zum Schriftverständnis straffen, bessern, zuchtigen, zur gerechtigkeit, vnd zu allem guten werck geschickt oder volkomen machen Solchs müs allein die heilige Schrifft thün, von Gott selbs eingegeben vnd geleret.« 5  Wie beziehungsreich das Thema Schriftinspiration in der hellenistisch-jüdischen und neutestamentlichen Literatur ist, hat kürzlich Whitlock, Schrift, überzeugend aufgezeigt, vgl. bes. den Überblick 12–17. 6 Vgl. Runia, Philo in Early Christian Literature; ders., Philo and the Church Fathers. 7  Eus.h. e. II 17,1: »Markus soll als erster in Ägypten das von ihm niedergeschriebene Evangelium gepredigt und in Alexandrien selbst als erster Kirchen gegründet haben. So groß war schon beim ersten Beginnen die Menge der daselbst gläubig gewordenen und in größter Enthaltsamkeit und strengster Entsagung lebenden Männer und Frauen, daß Philo ihr Leben, ihre Zusammenkünfte, ihre Mahlzeiten und ihre ganze übrige Lebensführung einer schriftlichen Darlegung würdigte. Philo soll unter Claudius in Rom mit Petrus, als er damals den Bewohnern predigte, verkehrt haben. Dies dürfte nicht unwahrscheinlich sein. Denn die Schrift, von welcher wir sprechen und welche Philo später nach Jahren verfaßt hat, enthält offenbar kirchliche Vorschriften, welche noch heute bei uns beobachtet werden« (zitiert nach Kraft, Eusebius, 132). Gemeint ist Philos Traktat über die Therapeuten De vita contemplativa. Eusebius widmet Philo zwei lange Paragraphen (h. e. II 17 und 18), vgl. Runia, Philo in Early Christian Literature, 212–234. 8  Hier.vir.ill. 11, vgl. Runia, Philo in Early Christian Literature, 312–319. 9 Vgl. Runia, a. a. O., 3. 10  Ebd. 11  Vgl. dazu Runia, a. a. O., 66–74. Runia hält es aufgrund der Notiz in Prov. 2,107 für möglich, dass Philo auf seiner Jerusalemreise mit den Ereignissen des Todes Jesu in Berührung gekommen sein könnte (a. a. O., 3); vgl. auch Flacc. 36–40 und die Nähe dieser Stelle zur Dornenkrönung Jesu, ebd. Anm. 2 sowie van der Horst, Philo, zur Stelle.

»Von Gottes Geist durchweht«



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der Pastoralbriefe Gerd Häfner auf die Übereinstimmung von 2 Tim 3,16 mit der philonischen Inspirationsvorstellung pauschal hinweisen kann und damit das Problem für geklärt hält,12 dann wirft dieses Urteil in Wahrheit mehr Fragen auf, als dass es tatsächlich zur Klärung beiträgt. Inwiefern also hilft der Vergleich mit Philo, zu einer angemessen Interpretation jener für die Vorstellung von der Theopneustie der Schrift so entscheidenden Stelle 2 Tim 3,16 zu gelangen? Was ist das »Philonische« an dieser Schriftstelle? Zur Klärung dieser Frage soll im Folgenden in vier weiteren Schritten vorgegangen werden: 2. Strukturelle und inhaltliche Beobachtungen zur Inspiration der Schrift in 2 Tim 3,16. 3. Welche Beziehung zur philonischen Auffassung von Inspiration lässt sich feststellen? 4. Welche Konsequenzen ergeben sich für das Verständnis von 2 Tim 3,16? 5. Zusammenfassung.

2.  Strukturelle und inhaltliche Beobachtungen Hier ist eine Konzentration auf das Wesentliche geboten, denn es gibt keinen Buchstaben dieses Textes, der nicht mehrfach hin und her gewendet wurde, zuletzt ausführlich in der bereits genannten Monographie Häfners zum Thema Schriftverständnis der Pastoralbriefe.13 Die Aussage über die Inspiriertheit von Schrift in 2 Tim 3 schließt den Zusammenhang einer zweifach strukturierten Ermahnung ab, die in 3,10 und 3,14 jeweils mit einem betonten σὺ δέ, eingeleitet wird und damit den Angeredeten (Timotheus) von den Falschlehrern abgrenzt. Unter diesem Vorzeichen stehen die nachfolgenden Aussagen über die Schrift. Während der erste Teil der Ermahnung (V. 10–13) auf die Lehre und das Vorbild des Apostels verweist, ist der zweite Teil (V. 14–17) auf das Gelernte (ἐν οἷς ἔμαθες) und Vertraute (ἐπιστώθης) gerichtet, was mit der Kenntnis der heiligen Schriften von Kindesbeinen an (ἀπὸ βρέφους [τὰ] ἱερὰ γράμματα οἶδας) konkretisiert wird.14 Dabei steht V. 16 in einer eigentümlichen Beziehung zu den vorangegangenen Ermahnungen, obwohl es keine grammatische Verknüpfung gibt, weder durch eine Konjunktion noch durch eine einfache Partikel wie δέ oder καί. Der umstrittene Begriff γραφή, nimmt aber zweifellos Bezug auf die ἱερὰ γράμματα von V. 15. Das Attribut πᾶσα unterstreicht diese Relation: die ἱερὰ γράμματα sind πᾶσα γραφή (ohne dass damit über deren konkreten Umfang etwas gesagt ist). Und 12 

Häfner, Belehrung, 240. A. a. O., 224–273. 14  Zur inhaltlichen Abgrenzung und Sinneinheit von 3,14–17 vgl. Häfner, Belehrung, 224. 13 

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

darauf liegt auch der Ton: Jede Schrift15 dieser »heiligen Schriften« ist nützlich zur Lehre.16 Unter dieser Voraussetzung lässt sich auch die syntaktische Zuordnung von θεόπνευστος in der umstrittenen Nominalkonstruktion des V. 16 besser verstehen, denn dadurch wird die prädikative Zuordnung des Wortes θεόπνευστος zu γραφή inhaltlich wahrscheinlicher: »Jede Schrift ist von Gottes Geist durchweht und (als solche) nützlich […]« Howard Marshall hat dies in seinem neuen Kommentar gegenüber der in den meisten Auslegungen bevorzugten attributiven Zuordnung überzeugend begründet.17 Das Gewicht der Aussage, das ohnehin schon auf πᾶσα liegt, wird verstärkt, und der Begriff θεόπνευστος bekommt ein eigenes Gewicht in der Aussage.18 Das wird sich für die Bestimmung der abweichenden Auffassung der Gegner im 2. Timotheusbrief als wesentlich erweisen.19 Im Fall eines attributiven Verständnisses (»Jede von Gottes Geist durchwehte Schrift ist auch nützlich […]«) wäre nicht nur das καί inhaltlich schwierig anzuschließen, sondern θεόπνευστος wäre als Hinweis auf ein ohnehin selbstverständliches Schriftattribut überflüssig. Für das Herausstellen der Nützlichkeit der Schrift wäre – wie etwa Röm 15,4 zeigt – weder der Hinweis auf die Theopneustie noch die ausdrückliche Betonung jede Schrift notwendig.20 15 Vgl. Dibelius, Pastoralbriefe 1955, 88; Kelly, Pastoral Epistles, 198.202; Brox, Pastoralbriefe, 257; Oberlinner, 2 Tim, 136; Johnson, First and Second Letters, 416; Häfner, Belehrung, 238; sowie Siegert, Inspiration, 205–209. 16 Sprachlich sinnvoll wäre im Deutschen daher durchaus auch: »alle Schrift« (Luther), vgl. auch im Englischen Fee, 1 and 2 Timothy, 279; Collins, I & II Timothy, 254.263 u. a.: »all Scripture«. Unwahrscheinlich ist wegen der Korrespondenz zu ἱερὰ γράμματα die Bedeutung »jede Bibelstelle« (Holtz, Pastoralbriefe 1986, 183.188; vgl. schon Schlatter, Kirche, 259); vgl. dazu Marshall, Commentary, 792 f.; Häfner, Belehrung, 237 f. Ebenso unwahrscheinlich ist aus sprachlichen Gründen die Übersetzung »die ganze Schrift« (vgl. Quinn/Wacker, Letters, 42.746: »all the Scripture« [in der Erläuterung dann aber: »›all Scripture‹ or ›every Scripture‹«, a. a. O., 759 f.]; Whitlock, Schrift, 412 mit Anm. 24 u. a.), weil dann ein Artikel vor γραφή zu erwarten wäre, vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 275,1–3. 17  Marshall, Commentary, 792 f.; so jetzt auch Whitlock, Schrift, 412. Vgl. bereits Kelly, Pastoral Epistles, 202, der zu Recht auf die grammatische Parallele in 1 Tim 4,4 verweist; ferner auch auf 3 Makk 3,29. Anders bei Dibelius, Pastoralbriefe 1955, 90; Brox, Pastoralbriefe, 261; dazu die ausführliche Darstellung der Argumente bei Häfner, Belehrung, 239–242. Zur Übersetzung von θεόπνευστος mit der Wendung »von Gottes Geist durchweht« vgl. Stuhlmacher, Kanon, 180 u. ö. Schon Johann Albrecht Bengel schrieb dazu (Bengel, Gnomon, 495): »(Gr[iechisch]. Rühret von Gottes Odem her;) diese Worte enthalten eben das, was Paulus von der h[eiligen]. Schrift, die mit diesem ihrem Namen genugsam bezeichnet ist, hat aussagen wollen, daß sie nämlich von Gottes Odem herrühre, und zwar nicht bloß hinsichtlich der Verfasser, welche Gottes Odem unter dem Schreiben anwehte, sondern auch beim Lesen, indem Gott durch die Schrift seinen Geist wehen läßt, und die Schrift Ihn selbst gleichsam athmet. Daher ist sie nützlich.« Vgl. auch Weber, Grundlagen, 259. 18  Anders jetzt wieder Koch, Inspiration, 168. 19  Marshall, Commentary, 793: »It is more likely that the reference to inspiration is part of what the author wants to affirm about Scripture in order to defend its universal usefulness […]« 20  Hinzu kommt sprachlich, dass das zwischen θεόπνευστος und ὠφέλιμος stehende καί nicht nur schwierig platziert, sondern mit »auch« zu übersetzen wäre, was aber keinen Sinn ergibt; es wäre funktionslos, vgl. Marshall, Commentary, 793. Allerdings meint Marshall ebenfalls, dass die Hauptaussage in der Nützlichkeit besteht (a. a. O., 795). Vgl. auch oben Anm. 16.



»Von Gottes Geist durchweht«

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Strukturell und inhaltlich bedeutsam ist schließlich der Nachsatz in V. 17, der grammatisch als Finalsatz eine Absicht oder einen Zweck angeben sollte. Ungewöhnlich an dieser Konstruktion ist jedoch, dass der Vordersatz als Hauptsatz keine finite Verbform enthält und in seiner nominalen Struktur keine Handlung eines Subjektes zum Ausdruck bringt, auf das bezogen dann – wie in V. 17 – eine Folgehandlung oder ein Ergebnis formuliert werden könnte. Die Frage ist, welche Konsequenz die Schriftaussage von V. 16 im Blick auf den »Menschen Gottes« hat und wer damit gemeint ist. Oft wird V. 17 auf die Bedeutung der Schrift für alle Glaubenden bezogen, doch auch hier steht der Gemeindeleiter als ἄνθρωπος θεοῦ im Mittelpunkt des Interesses (vgl. 1 Tim 6,11),21 so dass im Finalsatz die Bedeutung der Schrift für den Dienst des Gemeindeleiters beschrieben ist.22 In welchem Verhältnis aber steht diese Aussage über den Lehrer der Gemeinde zur Inspiration der Schrift?23 Um diese Frage zu beantworten, muss noch ein Blick auf die Bedeutung von θεόπνευστος geworfen werden. Der darin enthaltene Wortstamm des Verbums πνεῖν verweist auf die Beteiligung des Geistes Gottes, der nach 2 Tim 1,14 auch in den Glaubenden wirksam ist. Durch die Wortbildung von θεόπνευστος24 wird zunächst deutlich, dass am göttlichen Ursprung des ausgesagten Schriftattributes kein Zweifel bestehen kann. Ob jedoch die Übersetzung »gottgehaucht«25 – die zweifellos diesen Aspekt umgreift – ausreicht, ist schwer zu beurteilen. Mit anderen wählt Lorenz Oberlinner die Übertragung »von Gott eingegeben«,26 wodurch aber der pneumatische Aspekt weniger zur Geltung kommt. Was ist aber unter der Einhauchung bzw. Eingebung zu verstehen? Wie hängt dies mit dem Verständnis des πνεῦμα zusammen, das ja auch in den Glaubenden wirksam ist? Folker Siegert hat auf den Zusammenhang mit Gen 2,7 hingewiesen,27 wo allerdings in der Septuagintafassung nicht von πνεῦμα sondern von πνοή die Rede ist,28 von dem Atem, den Gott dem Menschen einhaucht (ἐνεφύσησεν). Ist also der Zusammenhang zwischen der »gottgehauchten« Schrift und dem mit Gottes Geist beschenkten ἄνθρωπος θεοῦ qua Schöpfung gegeben? Bemerkenswert ist, dass Philo in seiner Auslegung von Gen 2,7 (Det 80) nicht den Terminus πνοή sondern 21  Häfner, Belehrung, 251: eher Gemeindeleiter, da in Tit 2,7 »Titus« als Typos guter Werke genannt ist und Titus eben für den Amtsträger schlechthin steht. »Da die fiktiven Adressaten der Past durchweg als Typen des Gemeindeleiters zu sehen sind, zielt auch diese Anrede auf den Amtsträger« (a. a. O., 252). Dementsprechend meint die Wendung »jedes gute Werk« in V. 17 nicht Liebeswerke allgemein, sondern »in erster Linie […] die gute Ausübung des Vorsteheramtes« (a. a. O., 253). Auch der Gebrauch des Begriffes ἄνθρωπος θεοῦ in der Septuaginta für Führungspersönlichkeiten (vgl. Siegert, Bibel, 295: »Gottesmann«; vgl. auch bei Philo, Gig. 60 f.) spricht für den Bezug auf den Gemeindeleiter. 22  Vgl. schon Dibelius, Pastoralbriefe 1955, 90. 23  Zu diesem entscheidenden Aspekt findet sich bei Häfner, Belehrung, leider keine Interpretation. 24 Vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 175,4. 25 So Häfner, Belehrung, 237 Anm. 37. 26  Oberlinner, 2 Tim, 148. 27  Siegert, Philon, 88 (mit Hinweis auf Det. 80–90; Leg. I 37 f.). 28  Gen 2,7: καὶ ἐνεφύσησεν εἰς τὸ πρόσωπον αὐτοῦ πνοὴν ζωῆς καὶ ἐγένετο ὁ ἄνθρωπος εἰς ψυχὴν ζῶσαν.

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

πνεῦμα liest,29 ganz ähnlich wie Paulus in 1 Kor 15,45. Was aber trägt dieser Hinweis auf Philo aus? Das wird im Folgenden zu prüfen sein.

3.  2 Tim 3,16 und Philos Vorstellung von der Inspiration der Schrift Wie andere zuvor30  – darauf wurde bereits hingewiesen  – geht auch Häfner in pauschaler Weise von der Übereinstimmung von 2 Tim 3,16 mit der Inspirationslehre Philos aus.31 Schon Dibelius hatte dies klassisch zusammengefasst: »[…] dort [sc. im Judentum] wird der Gedanke von der Ausschaltung der menschlichen Geistestätigkeit zugunsten der Alleinherrschaft des göttlichen Geistes im Propheten im Anschluss an Plato (Ion 534b) verkündet.«32

Die Frage ist aber, ob dies einfach so vorausgesetzt werden kann.33 In der Forschung hat sich demgegenüber inzwischen die Einschätzung durchgesetzt, dass von einem einheitlichen Inspirations- bzw. Schriftverständnis bei Philo keine Rede sein kann. Siegert hat z. B. den stoischen und platonischen Einfluss auf Philos Pneuma- und Inspirationsvorstellung sehr viel differenzierter vorgestellt.34 Philo spricht danach nicht unmittelbar von der Inspiration der Schrift, sondern von der Inspiriertheit des in ihr zu Wort kommenden Propheten, durch den das göttliche πνεῦμα wirkt (vergleichbar mit der klassischen Beschreibung göttlicher Geistwirkung in der Weisheit nach Sap 7,21–27).35 Πνεῦμα wird verstanden als der alles durchdringende feine Stoff, als das von Gott in den Menschen Gegebene, Eingehauchte (Det. 80–90; Leg. 1,37 f.), das Erkenntnis ermöglicht.36 Πνεῦμα ist das Wesen der Seele (ἡ ψυχῆς οὐσία, Det. 81). Philo interpretiert dies als schöpferisches Ereignis, indem er auf die biblische Schöpfungsgeschichte als Analogie zurückgreift, in der er, wie gesagt, statt πνοή den hier entscheidenden Begriff πνεῦμα liest.37 Der Erkennt29  φησὶν ὅτι ἐνεφύσησεν εἰς τὸ πρόσωπον αὐτοῦ πνεῦμα ζωῆς καὶ ἐγένετο ὁ ἄνθρωπος εἰς ψυχὴν ζῶσαν, πάλιν διὰ τούτου παριστάς, ὅτι πνεῦμά ἐστιν ἡ ψυχῆς οὐσία. Die Frage, ob Philo den Begriff bewusst ersetzt oder einen differierenden Text vorliegen hatte, muss hierbei berücksichtigt werden, ist aber kaum zu entscheiden, vgl. aber Somn I 34; QuaestGen II 59. Der sonst identische Wortlaut des Zitats könnte auf eine bewusste Substitution hinweisen, wobei freilich die Bedeutung des Wortlautes der Schrift bei Philo oft bis in den Buchstaben hinein gegen ein solches Verfahren sprechen würde (für diesen Hinweis danke ich Frau PD Dr. Martina Böhm). Wichtig ist, dass er von dieser Begrifflichkeit aus argumentiert. 30  Dibelius, Pastoralbriefe 1955, 90; Hanson, Studies, 45 f.52. 31  Häfner, Belehrung, 240; vgl. Plümacher, Bibel; Hanson, Studies, 54; Koch, Inspiration, 168. 32  Dibelius, Pastoralbriefe 1955, 90. An der bei Dibelius genannten Platon-Stelle ist von Sokrates die Rede, der vom Schriftsteller als einem Ekstatiker spricht, vgl. auch Phaidros 265. 33  Whitlock, Schrift, z. B. erörtert diese Frage nicht. 34  Siegert, Philon, 86–91, sowie ders., Inspiration. 35 Vgl. Whitlock, Schrift, 112. 36  Siegert, Philon, 87 f.; vgl. Whitlock, Schrift, 109–113. 37  S. o. Anm. 29.

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nisvorgang ist so vorgestellt, dass der menschliche νοῦς den göttlichen Geist nicht nur empfängt, sondern im äußersten Fall sogar dadurch ersetzt wird (Mos. 1,283; Spec. 4,49; Her. 265).38 Doch geht es nicht nur um eine einfache Substitution, denn der Ursprung der Heiligen Schrift wäre dadurch noch nicht hinreichend definiert. Die bei Philo damit verbundene Ekstasis-Vorstellung39 ist notwendiges Bindeglied zwischen dieser Auffassung einer Inspiration des Menschen bzw. Propheten (d. h. Mose) durch den göttlichen Geist und dem prophetischen Hervorbringen jener Schriften des Alten Testaments (Mos. 2,37). Die Schriften können daher in Gestalt der griechischen Übersetzung als ekstatisch inspirierte, d. h. von Gottes Geist in und durch Menschen hervorgebrachte Schriften gelten.40 Erst als solche können sie Grundlage des jüdischen Glaubens, besser: der jüdischen Philosophie sein.41 Der Modus der prophetischen Ekstase ist es, der verständlich werden lässt, »warum in den Worten der Tora, obwohl Philon sie als Stiläußerung menschlicher Rede faßt, für ihn auch der getreue Widerhall göttlicher Inspiration hörbar wird. Es ist die Rede eines Menschen, aber eines Menschen, mit dem Gott spricht.«42

Der schöpferische Aspekt darf dabei für Philo nicht vergessen werden, denn für ihn ist – entsprechend seinem Wortlaut der griechischen Version von Gen 2,7 – der lebendige Atem, der dem Menschen bei der Schöpfung von Gott eingehaucht wird, bereits das göttliche πνεῦμα (Det. 80 f.).43 Dennoch bleibt diese Geistvermittlung von der aktuellen Geistbegabung der Propheten unterschieden, die Gottes Wort vermitteln, indem sein πνεῦμα durch sie hindurch klingt.44 Ähnlich wie Siegert beurteilt auch Helmut Burkhardt das Schriftverständnis Philos. Er spricht von »inspirierter Weisheit«.45 Gemeint ist damit jener Zusammenhang, wonach Schrift nicht unmittelbar göttlicher Eingebung entspringt, sondern die vermittelnde Instanz des Menschen, des mit göttlicher Weisheit begabten Propheten, braucht. »Die Schrift wäre danach Niederschlag und literarisches Dokument solcher Weisheit.«46 Das ekstatische Moment, dass dabei – wie gesagt im äußersten Fall – die »eigene« Weisheit des Propheten von göttlicher Weisheit und göttlichem Geist verdrängt wird, hebt auch Burkhardt deutlich hervor (Spec. 1.65; 4,49; Her. 264–266 u. ö.), relativiert es aber zugleich als ein »Interpretament […] gegen menschliche Eigenmächtigkeit«.47 Philo verstehe dieses ekstatische Moment 38 

Siegert, Philon, 88. Whitlock, Schrift, 114 f. 40 Vgl. Amir, Gestalt, 71. 41 Vgl. Siegert, Philon, 91. 42  Amir, Gestalt, 89; vgl. a. a. O., 89 f.: Gott ist »po(i)etisch« im Menschen am Werk (vgl. Det. 125) – im Sinne der Poiesis, des schöpferischen Gestaltens. Inspiration ist insofern ein schöpferischer Akt. 43 Vgl. Siegert, Philon, 88; s. o. mit Anm. 29. 44  Siegert, Philon, 215 f., verweist hierbei auf den Begriff des πλήκτρον (Mos. 1,274; Spec. 4,49; Mut 139): Der Geist ist das Plektron, das den Propheten zum »Klingen« bringt. 45  Burkhardt, Inspiration heiliger Schriften, 213. 46  A. a. O., 211. 47  A. a. O., 213–218.221. 39 Vgl.

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

in der Weise, dass der Mensch sich Gott in den Dienst stellt, sich ihm weiht, sich ihm zur Verfügung stellt (Spec. 1,196; Cher. 110.113.118; Her. 74); die Beteiligung des Menschen ist also nicht automatisch ausgeschaltet,48 auch nicht aufgrund der Beeinflussung des νοῦς durch das πνεῦμα. Auch Yehoshua Amir betont dies nachdrücklich: Nach Philo ist im Unterschied zu rabbinischen Überlieferungen die Tora nicht vom Himmel gefallen,49 sondern von Mose verfasst, aber mit der Präzisierung: »[…] nicht Mose als Schreiber nach Diktat, sondern Mose als Verfasser.«50 Dabei sind die Prioritäten bei Philo klar gesetzt: »Die väterlichen Gesetze hätten vom Menschengeist nicht ohne göttliche Inspiration erdacht werden können« (Prob. 80).51 »Man könnte also in Philo einen Vorläufer der späteren sog. Personalinspiration sehen.«52 Fraglich ist jedoch, ob Philo diese begriffliche Kategorie angemessen ist. Aufschlussreicher ist in diesem Zusammenhang Praem. 55: οἰκεῖον ἦν τρίτον λαβεῖν, προφητείαν, εἰς τὸ ἄπταιστον· ἑρμηνεὺς γάρ ἐστιν ὁ προφήτης ἔνδοθεν ὑπηχοῦντος τὰ λεκτέα τοῦ θεοῦ, παρὰ θεῷ δ᾽ οὐδὲν ὑπαίτιον.

Das wäre im Kontext etwa so zu paraphrasieren: »Um das Rechte zu tun, empfängt er (Mose) die Prophetie, der Prophet wird dadurch zum Interpreten der göttlichen Eingebung (ἑρμηνεὺς γάρ ἐστιν ὁ προφήτης), die Gott durch ihn ertönen lässt und die zuverlässig ist, weil Gott nichts schuldig bleibt« (vgl. auch Spec. 4,49).

Dieses Tönen Gottes durch den Propheten gewinnt Gestalt in der Schrift. Ob daraus jedoch die Irrtumslosigkeit bzw. Fehlerlosigkeit der Schrift abzuleiten ist, wie Burkhardt meint (um dies dann offenbar als eine Art Vorläufer für ein christliches Schriftverständnis anzusehen), ist nicht deutlich.53 Sicher nicht gemeint sein kann der Wortlaut der Schrift, denn gerade dem spricht Philo oft genug die »eigentliche« Wahrheit ab und muss ihn allegorisch auslegen, wobei die Wahrheit jenseits des Buchstabens zu suchen ist (Leg. 1,59; Conf. 190; Somn. 1,39; Contempl. 78; u. a.).54 Schrift entsteht vielmehr durch die vom Geist bewirkte Äußerung des Propheten; sie ist diesem Geschehen also nachrangig. Ist die allegorische Auslegung eine Konsequenz der Vorstellung von der Inspiration der Schrift? Offenbar ja, denn Philo spricht von Inspiration, wie gezeigt, nicht ausdrücklich im Blick auf den Wortlaut der Schrift, sondern geht von der Inspiration der Menschen aus, die in der Schrift als Menschen bzw. mit Gottes Geist begabte Propheten zu Wort kommen. Daraus ergibt sich eine eigentümliche 48 Vgl.

Amir, Gestalt, 77.106. Vgl. BerR 8,8; mSan 99a. 50  Amir, Gestalt, 87. 51  A. a. O., 71: »Der Mensch in seiner höchsten Gestalt ist der unter göttlicher Inspiration wirkende oder von der Gottheit erfüllte Mensch.« 52  Burkhardt, Inspiration heiliger Schriften, 222; vgl. den Titel von ders., Inspiration der Schrift durch weisheitliche Personalinspiration. Vgl. dazu kritisch Whitlock, Schrift, 121: »Eine solche Unterscheidung [sc. zwischen Personal- und Verbalinspiration] käme Philo selbst gar nicht in den Sinn.« 53  Burkhardt, Inspiration heiliger Schriften, 191–220. 54 Vgl. Siegert, Interpretation, 183–187; Christiansen, Technik; Siegfried, Philo. 49 

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Spannung zwischen dieser Geistwirkung am Propheten einerseits und der enormen Bedeutung, die für Philo andererseits oft jeder einzelne Buchstabe hat. Der von Philo in Praem 55 gebrauchte Begriff des Hermeneuten55 ist daher entscheidend, da sich im Ganzen die Vorstellung einer doppelten Hermeneutik ergibt: der Prophet als Hermeneut des göttlichen Wortes und die Hermeneutik des Auslegers, der dieses schriftgewordene Zeugnis unter der Einwirkung des Geistes seinerseits (allegorisch) interpretiert. Die Frage nach der Geistbegabung des Lesers bzw. Interpreten des göttlich-prophetischen Wortes der Schrift und seinem Verhältnis zur Geistbegabung des Propheten entsteht daraus notwendig, zugleich aber auch die Andeutung einer Antwort, die Philo selbst so m. W. nicht gibt: Die Vorstellung von der Inspiriertheit der Schrift kann durch die Annahme einer kontinuierlichen Wirksamkeit des göttlichen Geistes – im Propheten und im Interpreten – erfasst werden. Diese Frage, auf die Philo selbst keine Antwort gibt, wird im Blick auf 2 Tim 3,16 umso interessanter.

4.  Konsequenzen für die Interpretation von 2 Tim 3,16 und die Funktion der Aussage im Kontext des Briefes Es ergibt sich nach alldem die Frage, ob bzw. inwiefern das philonische Verständnis von Inspiration für die Interpretation von 2 Tim 3,16 geeignet ist, wie das offenbar weithin vorausgesetzt wird. Charakteristisch für 2 Tim 3,16 ist ja insbesondere der Begriff θεόπνευστος, durch den die Inspirationsvorstellung deutlich im Blick auf die Schrift und nicht auf ihre menschlichen Verfasser bzw. Interpreten fokussiert wird wie bei Philo.56 Über diesen Begriff selbst kommt man jedoch für das Verständnis von 2 Tim 3,16 nicht sehr weit, da er weder bei Philo, noch im Alten oder Neuen Testament belegt ist. In der antiken Literatur außerhalb des Neuen Testaments ist er nur selten zu finden.57 Auch Hebr 3,7 und 2 Petr 1,21, auf die in diesem Zusammenhang gern verwiesen wird,58 sprechen zumindest eine andere Sprache: In Hebr 3,7 ist mit der Einleitung zu einem Psalmzitat (Ps 95,7–11): λέγει τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον, nicht die Schrift selbst angesprochen, sondern die prophetische Stimme, die darin laut wird und Gottes Ruf mitteilt (vgl. Mk 12,36: »David sprach im heiligen Geist«).59 Ähnliches gilt für 2 Petr 1,21: Es sind die Menschen, die vom Geist getragen prophetisch reden, nicht die Schrift als solche.60 Intentional gehören also Hebr 3,7 und 2 Petr 1,21 zusammen und dürften der philonischen Inspirationslehre sehr viel näher stehen als 2 Tim 3,16.61 55 

ἑρμηνεὺς γάρ ἐστιν ὁ προφήτης ἔνδοθεν ὑπηχοῦντος τὰ λεκτέα τοῦ θεοῦ. Zum Wortfeld der Inspirationsvorstellung bei Philo vgl. Siegert, Inspiration, unter 4. und 5. 57  Dazu s. u. 58 Vgl. Siegert, Philon, 90; Hanson, Studies, 52. 59 Vgl. Siegert, a. a. O., 90 Anm. 17. 60 Vgl. Herzer, Prophetie; Stuhlmacher, Verstehen, 54. 61 Vgl. Siegfried, Philo, 161.310 (zu 1 Petr 1,21).322 (zu Hebr 3,7). Siegert, Philon, 90, ver56 

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Es fällt daher schwer, 2 Tim 3,16 so selbstverständlich und pauschal im »traditionsgeschichtlichen Milieu« von »jüdisch-hellenistischen Inspirationsvorstellungen« philonischer Prägung62 zu verorten, zumal – wie gesagt – der Begriff θεόπνευστος bei Philo nicht vorkommt (übrigens auch nicht bei Josephus). Häfner kann aufgrund dieses Mangels nur auf einzelne Belege für das Wortfeld bei Josephus (Ap. I 37) und bei Philo (Mos. 1,175.201; 2,291; Decal. 175; Her. 259–266) hinweisen, wo die Begriffe ἐπίπνεῖν und καταπνεῖν bzw. bei Josephus das Nomen ἐπίπνοια im Zusammenhang mit der Schrift verwendet werden.63 Was aber tragen diese Belege für 2 Tim 3,16 aus? In Ap I 37 ist nicht von der Inspiration der Schrift, sondern erneut von der göttlichen Eingebung der Propheten die Rede.64 Nur wenig später begründet Josephus das Vertrauen in die Schriften nicht mit göttlicher Inspiration, sondern mit dem Umstand, dass in den vielen Jahrhunderten der Überlieferung noch niemand gewagt habe, etwas den Schriften hinzuzufügen, wegzunehmen oder etwas daran zu ändern (Ap I 42): δῆλον δ᾽ ἐστὶν ἔργῳ, πῶς ἡμεῖς πρόσιμεν τοῖς ἰδίοις γράμμασι. τοσούτου γὰρ αἰῶνος ἤδη παρῳχηκότος οὔτε προσθεῖναί τις οὐδὲν οὔτε ἀφελεῖν αὐτῶν οὔτε μεταθεῖναι τετόλμηκεν (vgl. auch Arist 306).

In diesem Zusammenhang spricht Josephus davon, dass alle Juden die Schriften selbstverständlich für gottgegeben halten (Ap I 42: τὸ νομίζειν αὐτὰ θεοῦ δόγματα), wobei sicher die Tradition von der göttlichen Gesetzgebung Pate gestanden hat. Inspiration der Schrift ist also allenfalls eine vermittelte, nämlich durch die Geistbegabung der Menschen, auf die sie zurückgeht. Ähnlich verhält es sich – wie gezeigt – bei Philo.65 Das nach wie vor verbreitete Diktum von der »Geisterfülltheit der Schrift«, die der Autor der Pastoralbriefe »aus dem hellenistischen Judentum aufgegriffen« hätte,66 ist so jedenfalls nicht nachweisbar und kann daher das Phänomen der Schriftinspiration in 2 Tim 3,16 nicht erhellen.67 Es bleibt der Verweis auf pagane Schriften, in denen der Begriff θεόπνευστος vereinzelt begegnet. Die Belege sind allerdings bei näherem Hinsehen eher dürftig. weist ebenfalls auf Hebr 3,7 und 2 Petr 1,21, nicht aber auf 2 Tim 3,16; gegen Whitlock, Schrift, 8 f., und Stuhlmacher, Verstehen, 54. 62  Häfner, Belehrung, 240. 63 Vgl. Siegert, Inspiration, der ebenfalls auf das »vergleichbare« Wortfeld hinweist. 64 Vgl. Whitlock, Schrift, 152–163. 65 Mos. 1,175 spricht von der Inspiration des Mose, der unter dem Eindruck des Geistes prophetisch redet (γίνεται καταπνευσθεὶς ὑπὸ τοῦ εἰωθότος ἐπιφοιτᾶν αὐτῷ πνεύματος καὶ θεσπίζει προφητεύων). Dieses inspirierte Reden ist hier aber nicht mit der Entstehung der Schrift verbunden, sondern mit einem konkreten Prophetenspruch. Dasselbe gilt für Mos. 1,201; 2,291 (erfüllt vom Geist prophezeit Mose, was nach seinem Tod geschehen wird): Mose ist der inspirierte Prophet, und sein Leben ist aufgeschrieben in den heiligen Schriften (Mos. 2,292: διὰ τῶν ἱερῶν γραμμάτων μνημονεύεται). In Her. 259–266 geht es in ähnlicher Weise um die Geistbegabung Abrahams und anderer, über die Mose schreibt, und schließlich sogar über die Inspiration derer, die diese Dinge lesen (und interpretieren, Her. 264 f.). 66  Häfner, Belehrung, 240 (Hervorhebung J. H.). 67  Vgl. die differenzierte Beurteilung dieser Situation bei Siegert, Inspiration, unter 4.



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Im »Neuen Wettstein« findet sich kein Eintrag zu diesem Stichwort, Häfner kann im Anschluss an Spicq ganze vier Stellen nennen: (Pseudo-)Plutarch, De placitis philosophorum V2; Vettius Valens IX 1 (330,19); Porphyrios, De antro nympharum 10; Ps-Phok 129, wobei letzterer freilich ein jüdischer Beleg ist.68 Da an keiner der genannten Stellen der Begriff auf Schriftwerke, sondern auf Personen bzw. die Weisheit bezogen ist, wird im Grunde nur die lexikalische Bedeutung des Wortes sichergestellt,69 nicht aber dessen Semantik in 2 Tim 3,16 präziser umrissen.70 Auffällig ist freilich ist die Tatsache, dass in 2 Tim 3,16 eine christliche Auffassung von der Schrift mit einem im Wesentlichen nur pagan belegten Ausdruck zusammengefasst werden kann.71 Das an sich ist bereits bemerkenswert, zumal in dieser Singularität. Doch bereits hier zeichnet sich ab, dass das Schrift- und Inspirationsverständnis im 2.  Timotheusbrief nicht mit einem Entweder  – Oder »hergeleitet« werden kann, sondern dass wir es hier vermutlich mit einer eigenständigen Vorstellung zu tun haben, die aus aktuellem Anlass Tradition, Inspiration, Schriftverständnis und Lehrautorität bestimmt und ins Verhältnis setzt. Dass dies in Auseinandersetzung mit Gegnern geschieht, wurde bereits angedeutet.72 Wenn nun die verbreitete Einschätzung der Gegner in den Pastoralbriefen als Leute judenchristlichen Ursprungs stimmen sollte (wie auch immer hierbei »judenchristlich« zu definieren ist),73 dann ist der Begriff θεόπνευστος wohl bewusst in der Auseinandersetzung mit den Gegnern aufgegriffen worden, die möglicherweise sogar selbst mit diesem Attribut die Schrift für sich beanspruchten. In diese Richtung hat Häfner zu Recht argumentiert.74 Von der »beiläufigen Erwähnung« einer Selbstverständlichkeit75 kann keine Rede sein. 68 Vgl. Häfner, Belehrung, 240 Anm. 92; Spicq, Lexique, 704 f. Anm. 2; Bauer/Aland/ Aland, Wörterbuch, s. v., nennen außer den auch bei Häfner genannten Belegen noch Pseudo-Kallisthenes I 25,2 und Sib V 308.406; TestAbr A 20; letztere Stellen gehören wie Ps-Phok 129 jedoch zu den jüdische Schriften (zu diesen Stellen s. u. Anm. 70). 69 Vgl. Oberlinner, 2 Tim, 147 f.; Johnson, First and Second Letters, 420; Bauer/Aland/ Aland, Wörterbuch, s. v. 70  Ps-Phok 129: τῆς δὲ θεοπνεύστου σοφίης λόγος ἐστὶν ἄριστος (»das Wort der von Gottes Geist erfüllten Weisheit ist hilfreich«; Textüberlieferung nicht gesichert); Pseudo-Plutarch, De placitis Philosophorum V 2 (= Plut.mor. 904F) stammt wahrscheinlich aus dem 2. Jh. n.  Chr., hier geht es um einen mit Gottes Geist begabten Menschen: Ἠρόφιλος τῶν ὀνείρων τοὺς μὲν θεοπνεύστους κατ’ ἀνάγκην γίνεσθαι, weiterhin Vettius Valens, Anthologiarum libri IX 330.19 (2. Jh. n. Chr.): ἔστι δέ τι καὶ θεῖον ἐν ἡμῖν θεόπνευστον δημιούργημα, sowie Pseudo-Kallisthenes (um 200 n. Chr.), Historia Alexandri Magni 1,25,2; Sib V 308.406 (Ende 1. Jh. n. Chr.?, hier sind ebenfalls von Gottes Geist begabte Menschen gemeint), vgl. Collins, Oracles, 371. Keine dieser Stellen kann etwas zur Frage der Inspiration bei Philo oder in 2 Tim 3 beitragen. 71  Ob umgekehrt ein christlicher Neologismus den Weg in die profane Gräzität gefunden hat (so vermutet Folker Siegert brieflich), ist schwer zu entscheiden. Da die meisten Belege später zu datieren sind, ist dies zwar durchaus denkbar, aber die Textbasis ist für ein bestimmteres Urteil zu schmal. 72  Zum Zusammenhang von Tradition, Situation und Antwort auf die Tradition in der Gegenwart für das Verständnis der Inspiration der Schrift vgl. Achtemeier, Inspiration, bes. 122. 73  Vgl. zusammenfassend Häfner, Belehrung, 22–41. 74  A. a. O., 267–273.279. 75  In diesem Sinne Whitlock, Schrift, 15.

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Reklamiert also der Autor die Schrift nun seinerseits für sich, weil das seine Gegner auch tun?76 Oder soll die Einbettung der Schrift in den Zusammenhang der Lehre, also der Auslegung und Interpretation, ihre Inanspruchnahme durch die Gegner relativieren? Manches deutet in die letztere Richtung. Ich kann hier nur auf das Problem aufmerksam machen, in dessen Horizont auch das Inspirationsverständnis erhoben werden muss. Vermutlich haben die Gegner selbst den seltenen und doch spezifischen Begriff θεόπνευστος mit der Schrift verbunden, um auf eine angemessene, traditions- und autoritätsgebundene Auslegung verzichten zu können. Sie sind damit in einer Weise mit der Schrift umgegangen, die nicht den Gemeinden, sondern der Unterstützung ihrer eigenen Autorität diente, und haben dabei die Schrift ideologisch missbraucht. Stellen wie 1 Tim 1,3 f.7; Tit 1,14; 3,9 weisen ebenfalls in diese Richtung. Hinzu kommen die Überlegungen zum Attribut πᾶσα77: Die Betonung, dass jede Schrift der heiligen Schriften θεόπνευστος ist, sowie die Tatsache, dass die Zurückführung der Schrift auf das Wirken des Geistes eine allgemeine und unhinterfragte Voraussetzung war, lassen vermuten, dass der Schriftgebrauch der falschen Lehrer selektiv war und unter dem Vorzeichen eigener Interessen stand. Durch diese Überlegungen erhalten wir auch eine Antwort auf die oft beobachtete Diskrepanz zwischen der Hochschätzung der inspirierten Schrift in 2 Tim 3,16 und dem sparsamen Gebrauch der Schrift, aus der sich kaum Zitate finden.78 Das kann nicht Anlass dafür sein, einen »mittelmäßigen Geist« am Werke zu sehen79 oder den Schriftbegriff auf frühchristliche Schriften (insbesondere die Paulusbriefe) auszuweiten.80 Vielmehr schärft diese Diskrepanz die Wahrnehmung für eine Situation, in der auf eine missbräuchliche Weise mit Schrift umgegangen wird.81 Der Autor des 2. Timotheusbriefes hält dem entgegen: Die Schrift darf nicht selektiv verwendet werden, wie dies die Gegner tun; sie ist kein inspirierter Steinbruch von Zitaten, die unter Berufung auf ihren geistgewirkten Ursprung in einer die Tradition und Lehrautorität missachtenden Weise menschliche Interessen stützen könnten. Vielmehr steht jede Schrift der heiligen Schriften in einem hermeneutischen Zusammenhang mit den anderen und ist nur unter dieser Perspektive und in der sachgemäßen Auslegung relevant bzw. »nützlich«. Sachgemäß heißt dann: ihrer Eigenschaft der Theopneustie angemessen. Die konkrete Verwendung der Schrift in den Pastoralbriefen, die mehr paraphrasierende Auslegung als Zitation ist,82 entspricht daher dem Inspirationsverständnis, das in Auseinandersetzung mit der falschen Lehre entwickelt wird. 76 So

Häfner, Belehrung, 279. S. o. unter 2. 78 Vgl. Roloff, Weg, 156; Trummer, Paulustradition, 108. 79 So Houlden, Pastoral Epistles 1976, 127. 80  Trummer, Paulustradition, 108–110. 81  So im Ansatz zu Recht Häfner, Belehrung, 267–269. 82  Vgl. dazu Häfner, Belehrung, bes. 91–223; Häfner identifiziert überhaupt nur zwei Zitate (1 Tim 5,18; 2 Tim 2,19), wobei bei dem einen (1 Tim 5,18) zusätzlich der Bezug zu 1 Kor 9,9 zu beachten ist. Vgl. auch die Analogie im Umgang mit der Schrift bei Josephus, dazu Whitlock, Schrift, 153 f. 77 

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Die Bindung der inspirierten Schrift an die Auslegung und gar die »Nützlichkeitserwägungen« durch den Autor relativieren dann aber nicht die Schrift, sondern die Ansprüche der Gegner, die sie daraus ableiten; sie haben also »ideologiekritische« Funktion. Inspiration ja, aber das gilt für jede Schrift und kann nicht ohne Auslegung, nicht ohne Bindung an die Didaskalia angemessen verstanden werden. Das wiederum ist angewiesen auf die Bindung an denjenigen, der diese Didaskalia in der Gemeinde zu verantworten hat, der selbst mit Gottes Pneuma inspiriert ist (2 Tim 1,14) und der sich mit den falschen Autoritäten auseinandersetzen muss. Der Geist Gottes in der Schrift und der Geist Gottes in der Autorität der Lehrenden bilden eine Wirkeinheit, die der Begriff θεόπνευστος in Verbindung mit dem Hinweis auf die Nützlichkeit für den »Menschen Gottes« zum Ausdruck bringt. Es handelt sich dabei um eine begriffliche Verdichtung dessen, was Paulus in Röm 15,4, aber auch schon in 1 Kor 9,10 und 10,11 formuliert hatte – auf diese Kontinuität kann ich hier nur noch hinweisen; das hat Jonathan Whitlock in aller Deutlichkeit herausgestellt.83 Der Geist Gottes ist nicht im Buchstaben der Schrift erstarrt, sondern durchweht sie und erfasst den Ausleger, der dadurch seine Autorität erlangt. In diese Richtung weisen auch jene Stellen in den Pastoralbriefen, wo von aktuellen Wirkungen des Geistes die Rede ist. So einerseits 1 Tim 4,1: »Der Geist sagt ausdrücklich: In späteren Zeiten werden einige vom Glauben abfallen, indem sie sich an irreführende Geister halten und an Lehren von Dämonen […]«; andererseits 2 Tim 1,14: »Bewahre die gute Überlieferung durch den heiligen Geist, der in uns wohnt« und schließlich 2 Tim 1,7: »Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.« Dieser Geist, der so aktuell in der Gemeinde kommuniziert, ist derselbe, der den Timotheus zur Bewahrung der Überlieferung und zur Lehre befähigt – gegen alle Widerstände, die Anlass zur Verzagtheit geben könnten. Die zu lehrende Überlieferung ist dem Timotheus von Kindesbeinen an durch die »heiligen Schriften« vertraut (2 Tim 3,15), und vermittelt durch andere (3,14) ist er nun selbst zum Vermittler geworden, zu einem von Gott selbst befähigten Menschen, ausgerüstet mit der Kraft des göttlichen Geistes, der ihn durch die heiligen Schriften erfasst (3,16). Diese dynamische, geistliche Hermeneutik im Schriftverständnis ist für den Autor die angemessene Weise, um von Inspiriertheit der Schrift reden zu können und ergibt sich konsequent aus der Auseinandersetzung mit den Gegnern.

5. Zusammenfassung Was trägt das bei Philo erhobene Verständnis von Schrift und Inspiration zum Verstehen von 2 Tim 3,16 bei? Die philonische Verbindung der Vorstellung der Inspiriertheit der Schrift, von der aufgrund der Geistbegabung des Propheten gesprochen werden kann, mit derjenigen der Inspiriertheit des Interpreten findet 83 Vgl.

Whitlock, Schrift, 411–431, bes. 427.

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III  Gemeinde und Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit

in der pneumatischen Verbindung zwischen Schrift und Interpreten gegen die Irrlehrer im 2.  Timotheusbrief ein interessantes Äquivalent. Ein unmittelbarer Zusammenhang ist jedoch nicht erkennbar; man kann auch nicht von einem philonischen Milieu sprechen, in welchem die Aussage von 2 Tim 3,16 verstanden werden müsste. Dagegen spricht sowohl die Art der Formulierung als auch die inhaltliche Gestaltung aufgrund der aktuellen Situation.84 Bei Philo erscheint die Schrift als zum Buchstaben gewordene Rede des ekstatischen Propheten, durch den hindurch Gottes Geist tönte (Praem 55); der Ausleger muss gleichsam vom Buchstaben der Schrift ausgehend diesen Weg des Geistes in der allegorischen Auslegung zur »eigentlichen« Wahrheit zurückverfolgen. In 2 Tim 3,16 hingegen geht es um das vorliegende Zeugnis der Heiligen Schriften in ihrem inneren hermeneutischen Zusammenhang, durch das Gottes Geist hindurch wirksam ist und zwar in einer Wirkeinheit mit dem, der dieses Zeugnis in der Gemeinde gegen einen selektiven und ideologisierenden Missbrauch zu verantworten hat. Eine pauschale Zuweisung dieser Vorstellung in ein »philonisches Milieu« verhindert die präzise Wahrnehmung der Aussage. Immerhin lässt Philo anschaulich werden, wie differenziert im hellenistischen Judentum von Schrift gesprochen werden konnte. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Konzept in 2 Tim 3 als ein eigenständiges, in der aktuellen Auseinandersetzung entwickeltes Konturen und dokumentiert keine – wie Adolf von Harnack es nannte – »bedenkliche Entwicklung« in der paulinischen Tradition.85 Es richtet sich gegen Leute, die sich selektiv und interessegeleitet auf die Schrift berufen, sie damit jedoch aus der Sicht des Autors missbrauchen und auf diese Weise ihre eigene Position als falsch erweisen.86 Dem stellt der Autor – durchaus im Sinne des späteren reformatorischen testimonium Spiritus Sancti internum87 – das Konzept von der Verbindung der von Gottes Geist durchwehten Schrift und der Geistbegabung ihrer Interpreten entgegen, die in diesem Geist – gegründet auf dem Fundament der Schrift – Verantwortung für die »gute Lehre« (1 Tim 4,6) tragen.

84 Vgl. Siegert, Inspiration, 208, der weniger vorsichtig formuliert: »Er [sc. der Autor von 2 Tim 3,16] fasst Anschauungen Philons zu einem Lehrsatz zusammen, den wir so kurz bei diesem selbst nicht finden, unter gleichzeitiger Ausdehnung des Sachbezugs. Das Wort θεόπνευστος begegnet im Griechischen erst hier; wir werden jedoch bei Philon reichlich Synonyme finden, z. B. beim Nachdenken über den philonischen Mose. Vor Neologismen dieser Art hat sich das griechischsprachige Judentum nie gescheut; Acht geben müssen wir nur bei der näheren Bestimmung des Sachbezugs.« 85  Von Harnack, Testament, 140. 86  Vgl. etwa in 1 Tim 6,20: die »fälschlich so genannte Gnosis«. 87 Vgl. Calvin, Institutio, I 7,4; Luther, Vorrede.



»Von Gottes Geist durchweht«

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

»Das Geheimnis der Frömmigkeit« (1 Tim 3,16) Sprache und Stil der Pastoralbriefe im Kontext hellenistisch-römischer Popularphilosophie – eine Problemanzeige Die Forschung zu den Pastoralbriefen ist offenkundig in eine Sackgasse geraten. Dieser Eindruck entsteht nicht nur angesichts der nicht endenden »Parteienkämpfe«1 hinsichtlich der Verfasserschaft. Auch unter der auf breiter Basis anerkannten Voraussetzung der pseudepigrapischen Abfassung ist es bisher nicht möglich gewesen, in der Gesamteinschätzung oder auch nur im Blick auf die Interpretation einzelner Aspekte der Pastoralbriefe Positionen zu erarbeiten, die über den Grundkonsens der Pseudepigraphie hinaus als allgemein plausibel und überzeugend gelten könnten. Das Gegenteil ist der Fall, und das hat inzwischen auch nichts mehr damit zu tun, dass Theorien sich im Für und Wider entwickeln und bewähren, Falsches verworfen und anderes neu durchdacht werden müsste. Nachdem durch Ferdinand C. Baur und Heinrich J. Holtzmann im 19. Jahrhundert die grundlegenden Voraussetzungen für die Interpretation der Pastoralbriefe als pseud­epigraphische Schriften etabliert wurden, ist die Folgezeit bis heute davon bestimmt, die damit entstandenen Probleme mit immer stärker divergierenden Ergebnissen zu lösen. Es ist m. E. offensichtlich, dass die unüberschaubare Divergenz der kritischen Forschung Ausdruck eines grundlegenden Problems in den Voraussetzungen der von Baur und Holtzmann etablierten Theorie ist. Die Schwierigkeit der Forschungslage besteht nicht zuletzt darin, dass alle oft berechtigte Kritik an der Kritik in der Regel zur Behauptung des Gegenteils – nämlich der Echtheit der Pastoralbriefe – führt, und zwar meist verbunden mit der Bemühung, die dadurch entstehenden Probleme zu ignorieren, zu verharmlosen oder durch gleichermaßen spekulative Theorien zu »erklären«. Es bleibt die Frage, ob es einen Weg des Verstehens der Pastoralbriefe jenseits dieser Alternativen geben könnte. Dieser Weg, der hier weder ausführlich dargestellt noch im Detail begründet werden kann, führt aus meiner Sicht dahin, einzelne bereits vorhandene Ansätze aufnehmend, die nicht hinreichend begründbare Theorie einer einheitlichen Abfassung der Pastoralbriefe als eines dreiteiligen Corpus pastorale2 wie auch die dem entgegengesetzte Annahme einer einheitlichen 1 Vgl. in diesem Sinn Jouette M. Bassler in einer Rezension zu Towner, Letters, der die Pastoralbriefe als authentische Briefe des Paulus interpretiert, während Bassler sich als »member of the other party« (Bassler, Rezension, 598) bekennt. 2  Zu dieser spätestens seit Trummer, Corpus, in der Forschung breit akzeptierten Grundvoraussetzung der Pastoralbriefinterpretation sowie ihrer Begründung vgl. Häfner, Corpus.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Abfassung durch Paulus aufzugeben. Unter dieser Voraussetzung können die literarischen und inhaltlichen Unterschiede zunächst Anlass sein, die Briefe als Einzelschreiben zu behandeln,3 um auf dieser Grundlage auch die Verfasserfrage unter Berücksichtigung vernachlässigter Ergebnisse der Pseudepigraphieforschung neu zu erörtern. Die folgende Problemanzeige widmet sich nur einem kurzen Abschnitt dieses neuen Weges.

1. Vorüberlegungen Die Verhältnisbestimmung der Pastoralbriefe zu den als authentisch anerkannten Briefen des Apostels Paulus ist seit Beginn der kritischen Forschung Anfang des 19. Jahrhunderts ein zentrales Problem.4 Mehr noch als historische Fragen, deren Beantwortung ohnehin stets mit Unsicherheiten verschiedener Art behaftet ist, galten und gelten vor allem Sprache, Begrifflichkeit und Stil der Pastoralbriefe als wichtige Kriterien ihrer Unterscheidung von Paulus. Während Johann E. C. Schmidt noch aufgrund historischer Probleme die Unechtheit des 1.  Timotheusbriefes erwog,5 hat der »Aesthetiker«6 Friedrich D. E. Schleiermacher in einer gründlichen stilkritischen Untersuchung die Besonderheiten der Sprache des 1. Timotheusbriefes herausgestellt und daraus auf pseudonyme Abfassung geschlossen.7 Anders als historische haben literarische Urteile deshalb eine scheinbar »sicherere« Basis, weil sie nicht auf die Konstruktion historischer Gegebenheiten angewiesen sind, sondern auf der Analyse vorliegender Texte beruhen. Die Sprach- und Stilanalyse der Pastoralbriefe führt heute im Anschluss an Baurs und insbesondere Holtzmanns sprachliche Untersuchungen zu der scheinbar unausweichlichen Feststellung, dass Paulus diese Briefe keinesfalls geschrieben haben könne. Wer das 3 Vgl. Hofrichter, Strukturdebatte; Prior, Paul; Murphy-O’Connor, 2 Timothy; sowie bes. Engelmann, Untersuchungen, jeweils mit unterschiedlichen Ergebnissen, aber wichtigen Ansatzpunkten für weitere Differenzierungen. Im Grundsatz wird dieses Anliegen auch durch solche Arbeiten aufgenommen, die unter pseudepigraphischem Vorzeichen unterschiedliche Adressaten, Situationen, Gegner usw. voraussetzen wie z. B. Richards, Difference; Marshall, Commentary, 1 f. Zum Problem vgl. Herzer, Abschied (in diesem Band 11–30); ders., Mythos (in diesem Band 77–97). 4  Vgl. für die Anfänge vor allem Schleiermacher, Sendschreiben, die Untersuchung von Baur, Pastoralbriefe, sowie die alle weitere Forschung bestimmende Arbeit von Holtzmann, Pastoralbriefe; als Auswahl zum Problemfeld z. B. Harrison, Paulines; Trummer, Paulustradition; Lindemann, Paulus im ältesten Christentum; Lohfink, Theologie; Wolter, Pastoralbriefe; Oberlinner, Paulus; Merz, Selbstauslegung. 5  Schmidt, Einleitung, 295. 6 Vgl. Schweitzer, Geschichte, 6: »Eigentlich ist nicht der Kritiker, sondern der Aesthetiker Schleiermacher an I Tim. irre geworden.« Über die vehemente Kritik an seiner Untersuchung schreibt Schleiermacher: »Uebrigens geht es mir damit wie ich dachte: die Philologen stimmen mir Alle bei, aber die Theologen wollen nicht daran, sondern verstecken sich hinter einige hergebrachte Hypothesen […]« (Brief Schleiermachers an den Philologen G. L. Spalding vom 26.1.1808, zit. nach Patsch, Angst, 454). 7  Schleiermacher, Sendschreiben; vgl. Patsch, Angst, 453.

»Das Geheimnis der Frömmigkeit« (1 Tim 3,16) 



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Gegenteil behauptet, hat sich zwar auch mit den bekannten Problemen historischer Art auseinander zu setzen, muss aber vor allem die unbe­streitbare sprachliche und stilistische Eigenart der Pastoralbriefe »erklären«. Wie aber ist das möglich? Andererseits ist jedoch auch zu fragen: Unter welchen Voraussetzungen ist es möglich, aufgrund sprachlicher Analysen die Pastoralbriefe Paulus sicher abzusprechen? Gibt es dafür verlässliche literarische Kriterien? Der sprachlich-stilistische Unterschied der Pastoralbriefe zu Paulus wird unter anderem darauf zurückgeführt, dass diese Briefe in hohem Maße von der Sprache und Vorstellungswelt der hellenistischen Popularphilosophie beeinflusst seien, die unter christlichem Vorzeichen adaptiert bzw. transformiert würden.8 Die Beurteilung solcher Einflüsse sowie die angemessene Verhältnisbestimmung zwischen ihnen und dem, was sich explizit und implizit in einem Text niederschlägt, ist schon bei den anerkannten Paulusbriefen strittig, wo der Autor und seine Herkunft nicht zuletzt durch eigene biographische Angaben wenigstens in Grundzügen bekannt sind. Je präziser und zuverlässiger dieses Wissen um den Autor (und seine Adressaten), umso verlässlicher und plausibler können auch die sprachliche Gestalt, die Einflüsse auf den Autor sowie die Inhalte beschrieben und erklärt werden. Und selbst dabei bleibt bekanntermaßen genug Raum zur Kontroverse. Fehlt jedoch eine solche Identifizierung des Autors wie im Falle der Pastoralbriefe, wird auch die Beurteilung traditionsgeschichtlicher Einflüsse komplizierter, weil zusätzlich das Moment der Fiktion auf unterschiedlichen Ebenen zu berücksichtigen ist. Verschärft wird das methodische Problem, wenn man sich zwar grundsätzlich darüber einigen kann, dass mit Fiktion zu rechnen ist, nicht aber darüber, auf welche Ebenen (Autor, Adressat, Situation, Gegnerpolemik) sich die Fiktion bezieht und welche Funktion sie auf diesen Ebenen erfüllt. Diese Unklarheit birgt die Gefahr, die Annahme fiktiver Elemente in dem Maße auszudehnen, in dem die Interpretation auf Ungereimtheiten stößt, die nicht zu den gegebenen Voraussetzungen passen.9 Dadurch wird es immer schwieriger zu beurteilen, wo die Annahme von Fiktion berechtigt ist, wo deren Grenzen liegen und welche Bedeutung die fiktiven Elemente für den Inhalt des Ganzen bzw. hier konkret für die Deutung der mit Hilfe der Fiktion in den Pastoralbriefen vorgetragenen theologischen oder ethischnormativen Inhalte haben.10 Zu erweisen hat sich Plausibilität wie Problematik einer Perspektive auf das Ganze der Pastoralbriefe jedoch an den Texten selbst bzw. daran, wie eine solche Perspektive den vielschichtigen Problemen, die die Pastoralbriefe aufwerfen, gerecht zu werden vermag. Unter der unstrittigen Voraussetzung, dass Sprache und Stil eminent kulturelle Phänomene darstellen und die komplexe intertextuelle Vernetzung eines Autors widerspiegeln, soll in der folgenden Pro8 

Vgl. dazu zuletzt Oberlinner, Öffnung. Auf diese Gefahr hatte im Prinzip schon Wolter, Pastoralbriefe, 14, hingewiesen, ohne ihr jedoch selbst konsequent entgegenzuwirken. 10  Vgl. jetzt konsequent Merz, Selbstauslegung; vgl. dies., Amore Pauli. Bereits Marxsen, Einleitung, 179, sprach im Blick auf den 2 Tim von einer »Selbstauslegung« des Paulus; vgl. auch Wanke, Paulus. 9 

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

blemanzeige dargestellt werden, welche methodischen Aspekte bei der Beurteilung der Pastoralbriefe unter solchen Vorzeichen eine Rolle spielen und zu welchen Perspektiven diese Überlegungen führen. Im Anschluss konzentriere ich mich auf die für die Pastoralbriefe als wesentlicher kulturgeschichtlicher Einfluss angesehene popularphilosophische Tradition der hellenistisch-römischen Welt, exemplarisch dargestellt am Beispiel εὐσέβεια-Vorstellung.

2.  Methodische Fragen zum Einfluss griechischer Popularbzw. Moralphilosophie auf Sprache, Begrifflichkeit und Stil der Pastoralbriefe Zunächst ist auf die Komplexität der Fragestellung hinzuweisen. Hermann von Lips hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass insbesondere hinsichtlich ethischer Aussagen verschiedene »paulinische, jüdisch-hellenistische und hellenistischpopularphilosophische«11 Traditionen in den Pastoralbriefen zusammenfließen. Damit ist zugleich vor der Einseitigkeit gewarnt, die Sprache der Pastoralbriefe ausschließlich oder überwiegend vor einem bestimmten Hintergrund zu verstehen, sei es ein hellenistisch-römischer Einfluss, das hellenistische Judentum12 oder gar das rabbinische Judentum13. Ausgangspunkt der neuzeitlichen Kritik an den Pastoralbriefen waren zunächst wortstatistische und stilistische sowie später stylometrische Erhebungen, die vor allem seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts durch zum Teil computeranalytische Methoden verfeinert wurden.14 Während noch Schleiermacher die von ihm aufgezeigten stilistischen und sprachlichen Eigenheiten nur auf den 1. Timotheusbrief beziehen konnte und den 2. Timotheus- und den Titusbrief ausdrücklich davon ausnahm, fehlt in späteren Untersuchungen diese Differenzierung innerhalb der Pastoralbriefe, die als ein zusammengehörendes Corpus pastorale wie ein geschlossenes Ganzes behandelt und so zum Vergleich mit den anderen Schriften des Corpus Paulinum herangezogen werden. Statistische Erhebungen, insbesondere die von Kenneth Grayston und Gustav Herdan,15 sind seither immer wieder Ausgangspunkt für die Begründung pseudopaulinischer Verfasserschaft gewesen.16 11 

Von Lips, Glaube, 80. Wolter, Pastoralbriefe, 25 u. ö. 13 So Nauck, Herkunft; zum Problem vgl. bereits Michel, Grundfragen. 14  Vgl. die in Anm. 4 genannten Autoren des 19. Jahrhunderts; ferner u. a. Grayston/Herdan, Pastorals; Neumann, Authenticity; Barr, Model. Kritisch gegenüber z. B. Robinson, Grayston; Ledger, Exploration. 15  Grayston/Herdan, Pastorals. 16  Vgl. z. B. Kümmel, Einleitung, 328 f.; Broer, Einleitung 2, 534 f.; Schnelle, Einleitung 2007, 371; sowie Brox, Pastoralbriefe, 46–49; Roloff, 1 Tim, 28–31, der die vor allem gegen Harrison (s. Anm. 4) vorgebrachten Einwände durch die Analyse von Grayston – Herdan widerlegt sieht; Oberlinner, 1 Tim, XXXVII u. a. Als konstruktive Problemanzeige vgl. jetzt v. a. van Nes, Pauline Language. 12 Vgl.



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Auf den zumeist widersprüchlichen Ertrag derartiger Analysen kann hier nicht eingegangen werden. Doch gehen sie einher mit der Feststellung, dass der von Paulus abweichende Stil einem sehr viel ausgeprägteren Maße dem hellenistischen Milieu zugehöre,17 gleichzeitig aber die theologische und inhaltliche Tiefe sowie die »Leidenschaft« des Paulus vermissen lasse.18 Harrison kommt zu dem Ergebnis, die griechische Sprache der Pastoralbriefe verdanke sich »some eminent Greek writers and teachers in the earlier years of the second century who are known to have steeped themselves in the classics«.19 Alfons Strobel resümiert: »Allseits wird betont, daß der Wortschatz der Briefe der ›vulgären Philosophie oder Morallehre‹ zuzuordnen sei.«20 Mit der Frage nach den Einflüssen auf die Sprache eines Autors sind Grundprobleme der Rhetorik angesprochen, wie sie seit langem in der Paulusforschung diskutiert werden.21 So hat etwa Josef Zmijewski die Frage aufgeworfen, »ob es grundsätzlich überhaupt möglich erscheint, den Stil eines Verfassers nur auf Grund der stilistischen Besonderheiten zu erfassen, zumal immer damit gerechnet werden muß, daß der Stil des Verfassers in den einzelnen Texten unterschiedlich ausgeprägt sein kann«, und verweist auf weitere Faktoren, die Sprachwahl und Stil beeinflussen.22 »Demnach wird unter Stil verstanden: die gesamte sprachliche Gestaltung eines Satzes bzw. Textes, die auf einer teils unbewußten, teils bewußten, durch die Persönlichkeit des Sprechers (Verfassers), die Aussagesituation und -intention u. a. Faktoren bestimmten Auswahl aus mehreren, grammatisch-lexikalisch gebotenen, gewöhnlichen oder außergewöhnlichen Ausdrucksmöglichkeiten beruht und als solche wesentlich auf die inhaltliche Aussage hingeordnet ist.«23

Insbesondere Abraham Malherbe hat darauf hingewiesen, dass im Vergleich der Überlieferungen stärker auf die jeweilige Funktion gemeinsamer Begriffe, Vorstellungen und Topoi im jeweiligen Kontext zu achten sei als auf den oft nicht nur unergiebigen, sondern zumeist auch unmöglichen Aufweis direkter gegenseitiger (zumeist literarischer) Abhängigkeiten.24 Malherbe beklagt auch die oft mangelnde Unterscheidung innerhalb der paganen Philosophen, die ihrerseits untereinander 17 Vgl. Oberlinner, 1 Tim, XXXVII; Turner, Grammar, 702: »The vocabulary, by and large,

is not that of Paul. Indeed, the vocabulary of the Pastorals is nearer to Hellenistic literary writers, such as Epictetus, and especially to the Hellenistic-Jewish wisdom books.« 18 Vgl. Brox, Pastoralbriefe, 47. Vgl. bereits Holtzmann, Pastoralbriefe, 103: Den Pastoralbriefen »fehlt aber durchweg die ernste, würdige und gedankenschwere Plerophorie der paulinischen Rede; es fehlen jene charakteristischen Dammbrüche, welche in Folge der schwellenden Gedankenfülle die Construction erleidet.« 19  Harrison, Paulines, 66. 20  Strobel, Schreiben, 205. 21  Zu den Problemen einer stilkritischen Analyse vgl. den instruktiven Forschungsüberblick von Zmijewski, Stil, 23–40, sowie dessen methodische Erwägungen a. a. O., 40–75.433–441. Vgl. weiterhin bes. Malherbe, Moralists, 267–333 (Lit!). 22  Zmijewski, Stil, 43–48, Zitat 43. 23  A. a. O., 48. 24  Malherbe, Moralists, 277 f.; vgl. Oberlinner, Öffnung, 135. Vgl. weiterhin Malherbe,

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

erheblich mehr Differenzen und eigene Profile aufweisen als der Vergleich von einer neutestamentlichen Perspektive aus wahrnehmen lässt.25 Darüber hinaus müsse auch bedacht werden, in welch hohem Maße die Diversität der Gegner, mit denen Paulus sich auseinander zu setzen hatte, Anlass für die Aufnahme unterschiedlicher, dem Apostel selbst zum Teil fremder Gedanken und Begriffe war.26 Im Blick auf den Vergleich zwischen neutestamentlichen Überlieferungen und popular- bzw. moralphilosophischen Schriften haben auch James Barr27 und Samuel Sandmel28 darauf aufmerksam gemacht, dass Parallelen zu neutestamentlichen Begriffen und Vorstellungen hinsichtlich der semantischen Bestimmung auf den jeweiligen Kontext zurückzuführen seien, durch den sie ihre spezifische Bedeutung erhalten hätten. Barr forderte, den Unterschied zwischen einem abstrakten philosophischen Gebrauch und dem Gebrauch solcher Begriffe in der Alltagssprache zu beachten.29 In der Frage nach den Prozessen der Popularisierung philosophischer Systeme, d. h. nach der Transformation philosophischer Gedanken in die Vollzüge des alltäglichen Lebens und damit die deutlichere Vermischung theoretischer mit »praktischer Vernunft« besteht nach wie vor ein grundlegendes Desiderat, auf das Michael White und John Fitzgerald erneut hingewiesen haben.30 Hierbei geht es mehr um konzeptionelle Vergleiche unter Berücksichtigung der Kontexte, in denen bestimmte Begriffe und Wortfelder und damit verbunden bestimmte Vorstellungen geprägt und verwendet werden.31

Das Grundproblem kann hier – da es nicht um Paulus generell, sondern um die Pastoralbriefe geht  – nur als Problemanzeige formuliert werden. Die Frage ist, inwieweit ein Autor von bestimmten Grundmustern des Denkens geprägt ist, inwieweit er solche kennen gelernt und »verinnerlicht« hat oder bewusst positiv aufnimmt, kritisch adaptierend unter neuen Prämissen transformiert bzw. sich von ihnen abgrenzt. Dass bei solchen Fragen das Wissen um biographische »Eckdaten« eines Autors eine große Rolle spielt, die möglichst noch durch weitere Daten aus anderen Quellen bestätigt werden sollten, steht außer Frage. Bereits in Bezug auf die Profilierung der Theologie des Paulus selbst ist strittig, wie man dessen Verhältnis zu popular- bzw. moralphilosophischen Positionen bestimmen soll.32 Umstritten Paul, darin u. a. Ders., Imagery (1989), sowie ders., Season; weiterhin ders., Paulus; ders., Virtus Feminarum. 25  Malherbe, Moralists, 277. 26 Vgl. Malherbe, Moralists, 307. Vgl. dazu auch Georgi, Gegner. 27  Barr, Semantics. 28  Sandmel, Parallelomania. 29  Barr, Semantics, 250 f. 30  White/Fitzgerald, Comparandum. Vgl. dazu bereits Malherbe, Moralists, 332, sowie Zeller, Ethik. 31  White/Fitzgerald, a. a. O., 36 f. 32  Vgl. z. B. recht einseitige Ansätze wie bei Engberg-Pedersen, Paul, sowie die Kritik von Martyn, Paul. Zum Verhältnis zwischen Paulus und den Pastoralbriefen stellt Malherbe trotz der von ihm zu Recht geforderten Differenzierungen fest: »We have observed that Paul […] has emerged as an adept appropriator of such customary means of expression. His creative use of particular style is quite different from the Pastoral Epistles, which also reflect an awareness of rhetorical conventions but at times deliberately fly in the face of them. […] There may be theological grounds for this difference between Paul and the Pastorals, as there may be for the fact that, although Paul knows the hortatory traditions which employed medical imagery, he avoids using such



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ist auch, wie man den Einfluss alttestamentlicher Traditionen sowohl in ihrer direkten Zugänglichkeit als auch vermittelt bzw. gleichsam überlagert durch Transformationsprozesse des hellenistischen Judentums in seinen Auswirkungen auf die Selbstreflexion des Paulus (vgl. 1 Kor 9,19–23) angesichts seiner Konfrontation mit dem Judentum und dem »Heidentum« in ihren jeweils keineswegs einheitlichen Denkformen und Handlungsnormen einzuschätzen hat.33 Zu diesen Problemfeldern gibt es eine unüberschaubare Fülle von Einzelstudien und Gesamtdarstellungen, die an dieser Stelle nicht auf ihren Wert hin befragt werden können, sondern angesichts ihrer Diversität nur der Feststellung des Problems dienen, um davon ausgehend die Fragestellung auf die Pastoralbriefe zu konzentrieren. Macht man sich diese Zusammenhänge klar, dann wird zugleich deutlich, dass der für diese Briefe oft reklamierte »hellenistische Hintergrund« oder die »hellenistische Prägung« weder ausreichend noch geeignet ist, die Pastoralbriefe sprachlich und inhaltlich zu charakterisieren und – dies ist stets impliziert – sie dadurch von Paulus abzugrenzen und als Werke einer späteren Zeit zu interpretieren. Doch wie stellen sich diese Probleme unter einer pseudepigraphischen Perspektive dar? Auch pseudepigraphische Werke haben einen realen Autor, für den all die Fragen ebenso gelten, wie man sie im Blick auf Paulus zu stellen hat. Neben Philosophie und Rhetorik ist in der Untersuchung der Pastoralbriefe auch auf die Bedeutung anderer Aspekte der hellenistisch-römischen Kultur aufmerksam gemacht worden, so etwa auf Diplomatie34, Medizin35 oder die Verwandtschaft zu literarischen Gattungen und Formen wie mandata principis,36 Testamentenliteratur,37 Briefromane,38 literarische Briefsammlungen39 und dergleichen. Wenn es im Folgenden um die Frage nach dem Einfluss von Sprache und Vorstellungswelt der griechisch-römischen Philosophie auf die Pastoralbriefe gehen soll, die exemplarisch an Bedeutung und Verwendung des Begriffes der εὐσέβεια veranschaulicht wird, dann stellt dies also nur einen kleinen Ausschnitt eines komplexen Gesamtbildes dar. Der Begriff εὐσέβεια eignet sich deshalb in besonderer Weise, weil er nicht nur zu den zentralen Begriffen hellenistisch-römischer Moral- und Tugendlehre gehört, sondern innerhalb der paulinischen Briefliteratur nur in den Pastoralbriefen überhaupt verwendet wird. Bereits diese beiden oberflächlichen Beobachtungen legen nahe, den Begriff als Indiz für eine Ethik anzusehen, die den Idealen der griechischimagery, while the Pastorals are replete with it, but use it only polemically« (Malherbe, Moralists, 329). Damit bleibt Malherbe insofern hinter den gegebenen Voraussetzungen zurück, als er die differenzierte Betrachtung, die er nicht nur für Paulus, sondern grundsätzlich für unerlässlich hält, offenbar nicht auf die Pastoralbriefe anwendet, weil auch er diese als Einheit betrachtet und entsprechend auswertet. 33 Vgl. Malherbe, Philosopher, 76 f., mit Betonung der pastoralen Charakteristik des Paulus. 34 Vgl. Mitchell, Testament. 35  Malherbe, Imagery. 36 Vgl. Mitchell, Genre. 37 Vgl. Knoch, Testamente; Weiser, Freundschaftsbrief. 38  Pervo, Romancing; Glaser, Briefroman. 39  Fiore, Function.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

römischen Welt gerecht zu werden versucht – ein Anliegen, das seit Martin Dibelius mit dem Begriff des »bürgerlichen Christentums« verbunden ist.40

3.  εὐσέβεια als Beispiel für die Adaption, Transformation und Inkulturation hellenistisch-römischer Vorstellungen in den Pastoralbriefen Dass der εὐσέβεια-Begriff zum besonderen hellenistischen Sprachgebrauch der Pastoralbriefe gehört, muss nicht eigens begründet werden.41 Sein innerhalb der paulinischen Tradition singuläres Vorkommen in den Pastoralbriefen macht ihn zu einem geeigneten Terminus, an dem die methodisch reflektierten Fragen nach der Transformation hellenistisch-römischer Vorstellungen in christliche Kontexte exemplarisch dargestellt werden können. Bereits ein oberflächlicher Blick auf die Wortstatistik macht die Häufung des Wortfeldes im 1. Timotheusbrief deutlich. Von insgesamt 15 Belegen im Neuen Testament entfallen zehn auf die Pastoralbriefe, davon acht allein auf den 1. Timotheusbrief (2,2; 3,16; 4,7 f.; 6,3.5 f.11). Im 2. Timotheus- (3,5) und im Titusbrief (1,1) findet sich nur je ein Beleg.42 Nimmt man die Derivate (ἀσέβεια, ἀσεβής, εὐσεβέω, εὐσεβῶς, θεσσέβεια) hinzu, dann ergibt sich ein ähnliches Bild: elf Belege für den 1. Timotheusbrief, drei jeweils für den 2. Timotheus- und den Titusbrief. Die α-privativum Formen finden sich je einmal in 2 Tim 2,16 (ἀσέβεια) und Tit 2,12 (ἀσέβεια neben εὐσεβῶς sowie 1 Tim 1,9 (ἀσεβής), was insofern auffällig ist, als diese neben 1 Petr 4,18; Jud 4.15.18 und 2 Petr 2,5 f.; 3,7 nur noch im Römerbrief mehrfach verwendet werden (ἀσέβεια in 1,18 und 11,26; ἀσεβής in 4,5 und 5,6).

Bevor die Frage nach dem Einfluss hellenistisch-römischer εὐσέβεια- bzw. pietasVorstellungen sinnvoll erörtert werden kann, ist es angesichts des keineswegs einheitlichen Sprachgebrauches des Lexems in der antiken Literatur43 notwendig, einen Blick auf dessen Semantik innerhalb der Pastoralbriefe zu werfen. Dabei kommt es darauf an, welche Funktion der Begriff in seinem jeweiligen Kontext einnimmt und ob in den Pastoralbriefen ein einheitlicher Gebrauch des Lexems bestimmt werden kann, wie dies zumeist vorausgesetzt wird.44 40 Vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 32 f. (in einem Exkurs zum Begriff εὐσέβεια);

vgl. jedoch bereits Holtzmann, Pastoralbriefe, 307: »Das bürgerliche Leben ist der Kreis, in welchem das innere christliche Leben sich äusserlich verwirklichen soll als weltliches Christenthum« (zu 1 Tim 2,2 und seinerseits bereits unter Hinweis auf Richard Rothe). 41  Vgl. z. B. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 31 f.; Brox, Pastoralbriefe, 174; von Lips, Glaube, 80–84; Roloff, 1 Tim, 117–119. Nach Oberlinner, 1 Tim, XXXVI, zählt εὐσέβεια zu den in den Pastoralbriefen verwendeten Begriffen, »die bei Paulus sonst nicht vorkommen und die typisch sind für die hellenistische Literatur«. 42  Die sprachliche Eigenart des 1 Tim hat – unter direktem Bezug auf Schleiermacher – auch Holtzmann, Pastoralbriefe, 94, zugestanden. In den εὐσέβεια-Verbindungen sieht er »eine Eigenthümlichkeit unserer Briefe überhaupt« und versteht dies u. a. als »Beweis, dass wir es schliesslich immer wieder mit einem einheitlichen und in sich abgeschlossenen Sprachgebiete zu thun haben« (ebd., Hervorhebung J. H.). 43 Vgl. Foerster, Art. σέβομαι κτλ., s. u. 44 Nach Roloff, 1 Tim, 117 f., umfasst εὐσέβεια ein Konzept christlicher Lebensführung nach



»Das Geheimnis der Frömmigkeit« (1 Tim 3,16) 

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Der aufgrund der literarischen Einbettung wohl prominenteste Beleg ist Tit 1,1. Das Präskript verbindet gleich zu Beginn die »Gottesknechtschaft« (δοῦλος θεοῦ) des Paulus und seinen von Christus her begründeten Apostolat eng mit dem »Glauben der Erwählten Gottes«. Dies ist insofern programmatisch, als darin der einzige Sinn der apostolischen Existenz liegt: im Auftrag seines Herrn anderen zu dienen, indem Menschen für den Glauben gewonnen werden (vgl. 1 Kor 9,19–23). Die folgende Präposition κατά mit Akkusativ gewinnt hier also eine den inneren Grund bzw. den an eine Sache angelegten Maßstab angebende Bedeutung: Der Glaube der Erwählten ist Grund und Maßstab, an dem der Apostolat des Paulus gemessen wird. In Röm 1,5 ist ἀποστολή regelrecht in diesem Sinne definiert als Auftrag »zum Gehorsam des Glaubens unter allen (Heiden-)Völkern um seines (sc. Christi) Namens willen«.45 Die komprimierte Wendung ἐπίγνωσιν ἀληθείας τῆς κατ᾽ εὐσέβειαν in Tit 1,1 ist aufgrund der parallelen Konstruktion zu πίστιν ἐκλεκτῶν θεοῦ ebenfalls von κατά abhängig und muss unter der semantischen Vorgabe erklärt werden, die im Blick auf den Glauben als dem inneren Grund und Maßstab des Apostolats erhoben wurde. Auftrag des Apostels ist daher nicht nur die Erweckung des Glaubens der von Gott Erwählten, sondern auch die argumentative Begründung der Erkenntnis der Wahrheit. Die Erkenntnis der Wahrheit, deren Inhalt wie der des Glaubens die Hoffnung auf das ewige Leben ist (Tit 1,2), wird durch die Wendung τῆς κατ᾽ εὐσέβειαν als eine bezeichnet, die der εὐσέβεια entspricht. Anders gesagt: εὐσέβεια ist der Maßstab, dem die Wahrheit gerecht werden muss. Mit dieser engen syntaktischen Verbindung von εὐσέβεια und ἀλήθεια wird der Begriff εὐσέβεια zugleich auch – indirekt – mit dem Inhalt der Wahrheit, d. h. der Hoffnung auf das ewige Leben, semantisch verknüpft. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass hier gerade nicht  – wie oft vermutet  – εὐσέβεια und πίστις inhaltlich aufeinander bezogen sind und daher sogar gleichgesetzt werden könnten,46 sondern dass εὐσέβεια die Wahrheits näher bestimmt. In den beiden von κατά abhängigen Wortverbindungen stehen jeweils die Akkusative πίστιν und ἐπίγνωσιν, die Genitive ἐκλεκτῶν und ἀληθείας sowie θεοῦ und τῆς κατ᾽ εὐσέβειαν parallel zueinander: den Maßstäben griechisch-römischer Ethik; ähnlich Marshall, Commentary, 135–144. Fuchs, Unterschiede, 136, hat zu Recht darauf hingewiesen, dass von einem εὐσέβεια-Konzept allenfalls im 1 Tim gesprochen werden könne; er geht aber dennoch davon aus, dass der für ihn authentischpaulinische Sprachgebrauch in den Pastoralbriefen einheitlich sei. Gegenüber Bemühungen, eine kohärente Grundbedeutung von εὐσέβεια κτλ. in den Pastoralbriefen zu erheben, vgl. Standhartinger, Eusebeia, 54: »Was die εὐσέβεια inhaltlich ausmacht, ist im Kontext der Pastoralbriefe nicht zu bestimmen.« 45  Die Kennzeichnung der Glaubenden als »Erwählte Gottes« findet sich dementsprechend neben 2 Tim 2,10 auch sonst gelegentlich bei Paulus für die, die durch die Verkündigung zum Glauben gekommen sind (Röm 8,33; 16,13; Kol 3,12; vgl. 1 Petr 1,1). 46  Vgl. z. B. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 49; Stettler, Christologie, 234  f.; Johnson, First and Second Letters, 232; Reiser, Christentum, 35; Standhartinger, Eusebeia, 51, u. a. – und zwar ausgehend von einer bestimmten Parallelisierung in 1 Tim 3,9 und 3,16 (s. u.). Gerade die Tatsache, dass εὐσέβεια im 1 Tim zu einem Leitbegriff wird, und – anders als in 2 Tim und Tit – parallel zu πίστις stehen kann, macht den Unterschied auch inhaltlich aus.

390 κατὰ gemäß

IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

πίστιν καὶ ἐπίγνωσιν dem Glauben und der Erkenntnis

ἐκλεκτῶν ἀληθείας der Erwählten der Wahrheit

θεοῦ τῆς κατ’ εὐσέβειαν Gottes die der Frömmig­keit entspricht

Das »Formelhafte« dieser Wendungen entspricht dem oft programmatischen Präskriptstil und ist inhaltlich unter Berücksichtigung der strukturellen Verhältnisbestimmung aufzulösen. So wie der Apostolat des Paulus auf den Glauben derer ausgerichtet ist, die von Gott dazu erwählt sind, so ist er auch auf die Erkenntnis der Wahrheit ausgerichtet, die ihren Maßstab in der εὐσέβεια hat. Die »Frömmigkeit« als Maßstab der zu erkennenden Wahrheit ist also gleichsam das Pendant zur Erwählung durch Gott, die im Glauben ihren Ausdruck findet. Diese Verhältnisbestimmung kann aber nur so verstanden werden, dass die Frömmigkeit gleichsam als »Gottgemäßheit« der Wahrheit gilt, deren Erkenntnis wiederum dem Glauben entspricht. Dies läuft letztlich auf einen Gottes Erwählung gerecht werdenden Lebensvollzug hinaus, der durch eine bestimmte innere Haltung geprägt ist und in welchem beide Aspekte (Glauben und Erkenntnis) auf das eschatologische Gut des ewigen Lebens hin ausgerichtet bleiben (Tit 1,2), was die Wiederaufnahme des Wortstammes ευσεβ- in Tit 2,12 deutlich macht. Hier steht das Adverb εὐσέβῶς dem Negativum ἀσέβεια gegenüber und bestimmt in der Verbindung σωφρόνως καὶ δικαίως καὶ εὐσεβῶς ζήσωμεν den konkreten Lebensvollzug als Charakterisierung der dahinter stehenden Haltung näher. Grund dafür ist jedoch nicht einfach der Sachverhalt, dass sich Christen – wie andere Menschen auch  – tugendhaft verhalten, sondern es ist ausdrücklich Gottes heilsame Gnade (2,11), die zu diesem Leben regelrecht »erzieht« (παιδεύουσα 2,12a). Der eschatologische Horizont der Aussage wird auch in diesem Zusammenhang ersichtlich, indem der so bestimmte Lebensvollzug ausdrücklich ἐν τῷ νῦν αἰῶνι verortet und erneut auf die Zukunftshoffnung hingewiesen wird, die von der Parusieerwartung bestimmt ist (2,13). Ein dem Titusbrief vergleichbarer Gebrauch des Lexems ist auch im 2. Timotheusbrief festzustellen, wo in 2 Tim 3,12 die Wendung εὐσεβῶς ζῆν durch die Ergänzung ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ christologisch gefüllt ist. εὐσεβῶς kennzeichnet das Leben der Christen nicht einfach nur als tugendhaft, sondern als ein in Christus gründendes Leben, das trotz Verfolgungen diese Gründung nicht verleugnet (vgl. 2 Tim 1,8–10), eine Situation, in der sich Paulus nach dem 2.  Timotheusbrief selbst aktuell befindet (4,6–8.16–18) und zugleich zurückblickt auf vergangene Verfolgungen (3,10–13). Auch hier geht es also um die christologisch begründete innere Haltung der Christen, die sie solchen Situationen gewachsen sein lässt. Wie im Titusbrief spielt der eschatologische Erwartungshorizont eine wichtige Rolle (2 Tim 4,1–2), wozu auch die Bedrängnisse durch solche Menschen zählen, die nur den Anschein jener εὐσέβεια haben, wie sie den Christen eignet, aber »deren Kraft verleugnen« (3,1–5). Dies wurde zuvor in 2,16 bereits als προκόψουσιν ἀσεβείας bezeichnet. Zugleich ist zu bemerken, dass bei einer dem Titusbrief vergleichbaren

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Semantik das Lexem im 2. Timotheusbrief funktional dem Kontext entsprechend verändert gebraucht wird. Für den Titus- und den 2. Timotheusbrief ergibt sich ein recht deutliches Bild von εὐσέβεια als Umschreibung der in Christus gründenden Lebenshaltung, die das Ertragen daraus entstehender Bedrängnisse möglich macht und das Leben mit einer klaren eschatologischen Perspektive führen lässt. Von einem »Konzept« kann allerdings nicht gesprochen werden, und angesichts des je nur einmaligen Vorkommens des Nomens wie des Adverbs kann der Terminus auch kaum als Leitbegriff bezeichnet werden. Wie unten deutlich werden wird, entspricht der Sprachgebrauch hier annähernd dem der griechischen Tradition, in welcher εὐσέβεια κτλ. in besonderer Weise auf das Verhältnis zu Gott (bzw. den Göttern) abhebt. Anders stellt sich demgegenüber der Befund im 1. Timotheusbrief dar. Bereits der erste Beleg in 1 Tim 2,2 lässt eine veränderte Konnotation erkennen. Im Kontext wird zum Gebet für alle Menschen aufgefordert, und indem »Könige und alle, die in übergeordneter Stellung sind« speziell genannt werden, wird das Gebet zum Ausdruck der Loyalität der Christen gegenüber den imperialen Ordnungen.47 Zweck (ἵνα) dieser Loyalität ist es, ein »ruhiges und friedliches Leben in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit führen« zu können.48 Ein ausdrücklicher Gottesbezug von εὐσέβεια ist hier ebenso wenig erkennbar wie der für den Titus- und den 2. Timotheusbrief charakteristische eschatologische Horizont. Der Hinweis auf die Gottgefälligkeit eines solchen Verhaltens in 1 Tim 2,3 bezieht sich auf die Loyalität gegenüber der Obrigkeit und dem dadurch möglichen »ruhigen« Leben, während εὐσέβεια (neben bzw. geradezu synonym mit σεμνότης49) wiederum Ausdruck dieser Loyalität ist. Gegenüber dem Gebrauch von εὐσέβεια als einer auf Christus gründenden und auf die eschatologische Zukunft bezogenen Haltung erfährt der Begriff im 1. Timotheusbrief durch die gleich zu Beginn erfolgende Fokussierung auf die Loyalität gewissermaßen eine Verobjektivierung. Daher kann in 4,7 f. zu einer »Einübung in die Frömmigkeit« aufgefordert und von deren »Nützlichkeit« gesprochen werden.50 Unter der begrifflichen Voraussetzung von 1 Tim 2,2 ist die Nützlichkeit der εὐσέβεια letztlich die Nützlichkeit der Loyalität, die die »Verheißung des Lebens trägt« – differenziert in das jetzige (ζωῆς τῆς νῦν) sowie das zukünftige (καὶ τῆς μελλούσης). Dass das »jetzige Leben« dasselbe ruhige und loyale Leben ist, von dem bereits in 2,2 die Rede war, liegt auf der Hand. Den Hinweis auf 47 Vgl.

Ostmeyer, Kommunikation, 144 f. Dieser ausdrücklichen Zielsetzung des Textes ist es daher nicht angemessen, hier primär die Verantwortung der Christen gegenüber einer nichtchristlichen Welt angesprochen zu sehen, vgl. Oberlinner, 1 Tim, 64.67. 49  Dieser Begriff findet sich auch in Tit 2,7, allerdings in einer längeren Aufzählung, in der εὐσέβεια fehlt, vgl. noch 1 Tim 3,4 als Eigenschaft des Episkopos hinsichtlich der Führung seines Hauses, wo es  – auf anderer Ebene  – ebenfalls um Ordnungsstrukturen und Hierarchien geht; ähnlich in 1 Tim 5,4. 50  Dem entspricht auch der Sprachgebrauch in 1 Tim 6,3–6, wenn in 6,5 f. von εὐσέβεια als »Verdienst« oder »Gewinn« (πορισμός) gesprochen wird (und zwar in einem durchaus irdischen Sinn, vgl. 6,7 f.), was ja nicht bestritten, aber in 6,6 mit dem Kriterium der »Genügsamkeit« korrigiert bzw. eingeschränkt wird. 48 

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

das »zukünftige« Leben bzw. das, welches im Begriff ist anzubrechen, könnte man durchaus im Sinne einer eschatologischen Perspektive verstehen. Im Kontext des 1. Timotheusbriefes ist dies jedoch nicht eindeutig, denn es fehlt an dieser Stelle nicht nur der in Tit 2,12 charakteristische Begriff αἰών, sondern es liegt auch im Zusammenhang von 1 Tim 2,2 näher, an das sich kontinuierlich fortsetzende ruhige Leben zu denken, so dass es eher um die Stabilität des jetzigen Zustandes geht als um eine endzeitliche, alles verändernde Zukunft. Dieser Blick fehlt zwar formal auch im 1.  Timotheusbrief nicht (6,14), aber diese Zukunftserwartung hat kein eigenes Gewicht mehr,51 sondern ist allein im Bezug auf die Gegenwart relevant.52 In besonderer Weise inhaltlich bedeutsam ist die Aussage in 1 Tim 3,16 über das »Geheimnis der Frömmigkeit« (τὸ τῆς εὐσεβείας μυστήριον). Dass zuvor bereits in 3,9 vom μυστήριον τῆς πίστεως die Rede war, gab häufig Anlass zu der Annahme, πιστίς und εὐσέβεια seien als Synonyme zu betrachten.53 Doch ist Vorsicht geboten: Das Lexem πιστίς κτλ. kommt im 1.  Timotheusbrief nicht nur sehr viel häufiger vor als εὐσέβεια, sondern auch auch die Annahme der Synonymität von πιστίς und εὐσέβεια im 1. Timotheusbrief (oder gar in den Pastoralbriefen insgesamt) ist aufgrund der Formulierung in 1 Tim 3,9 und 3,16 keineswegs zwingend, da die konkreten Bezüge der beiden Wendungen verschieden sind und der Begriff μυστήριον natürlich mit unterschiedlichen Begriffen zu semantisch unterschiedlichen Lexemen verbunden werden kann.54 Für eine Unterscheidung spricht auch, dass in 1 Tim 6,11 die beiden Begriffe neben mehreren anderen in einer Liste verwendet werden, was ihre Synonymität unwahrscheinlich macht.55 Die relative Nähe beider Begriffe im 1. Timotheusbrief (vgl. neben 3,8–16 noch 4,6–10; 6,11 f.) erfordert vielmehr – wie bereits in Tit 1,1 – eine genauere Verhält51 Vgl. Brox, Lukas, 68, der dies für 1 Tim 6,15 feststellt, aber als Charakteristik aller Pastoralbriefe benennt. Auch hierbei wird deutlich, wie die Voraussetzung die Ergebnisse bzw. die Wahrnehmung innerhalb der Pastoralbriefe beeinflusst. Vgl. weiterhin Herzer, Verheißung (in diesem Band 489–500). 52  Dem entspricht auch der im Unterschied zu 2 Tim und Tit nur einmalige Gebrauch des ἐπιφάνεια-Begriffes in 1 Tim 6,14, wo er nicht nur einen recht formelhaften Eindruck macht, der keine aktuelle Erwartung erkennen lässt, sondern bereits um das unbestimmte Ausbleiben der Erscheinung Christi weiß, sowie in einem hymnischen Kontext begegnet, in dem es um die Bewahrung des guten Bekenntnisses und des Gebotes geht  – Begriffe, die den beiden anderen Briefen in dieser Form fremd sind. Oberlinner, 1 Tim, 68, sieht in den beiden Begriffen eine je unterschiedliche Ausrichtung – vertikal zu Gott hin (εὐσέβεια) und horizontal zu den Menschen (σεμνότης). 53  Vgl. z. B. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 49; Stettler, Christologie, 234  f.; Johnson, First and Second Letters, 232; Reiser, Christentum, 35 (»vollkommene Synonyme«); von Lips, Glaube, 80 (u. a. unter Verweis auf Holtzmann): »εὐσέβεια hat in Past den Platz eingenommen, den πίστις bei Pls hatte.« Gegen diese vereinfachende Identifikation und zum Problemfeld insgesamt vgl. jetzt Mutschler, Glaube, bes. 280–284. 54 Nach Holtz, Pastoralbriefe 1986, 90 (u. ö.), ist εὐσέβεια als »Abendmahlsfrömmigkeit« zu verstehen, wofür es jedoch in den Pastoralbriefen keine hinreichenden Anhaltspunkte gibt. Sein Hinweis auf den geläufigen Wortgebrauch von μυστήριον für die Sakramente bei Justin und Tertullian weist in eine viel zu späte Zeit, um überzeugend zu sein. 55 Vgl. Brox, Pastoralbriefe, 177.

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nisbestimmung.56 Vielleicht hilft hier das klassische Bild der Medaille und ihrer zwei Seiten: πιστίς beschreibt im 1.  Timotheusbrief den Inhalt des durch Gottes Heilshandeln in Christus begründeten Glaubens, während εὐσέβεια den diesem Glauben entspringenden Lebensvollzug meint.57 Auch die weiteren Belege im 1. Timotheusbrief machen deutlich, dass es bei εὐσέβεια anders als im Titus- und im 2.  Timotheusbrief nicht vornehmlich um eine Lebenshaltung geht, sondern dass der Begriff bereits die einzuübende Lebenspraxis selbst beschreibt. Es ist also zu unterscheiden zwischen einer Praxis, die etwa im Sinne der römischen pietas die Loyalität den bestehenden Ordnungen gegenüber meint und so das ruhige Leben weiterhin ermöglicht,58 und einer Haltung, die durch Gottes Handeln selbst motiviert ist und daher auch die aus der Sicht des Glaubens legitimen Grenzen der Loyalität gesellschaftlichen Mächten gegenüber kennt.59 Nur unter solchen differenzierenden Vorzeichen ist Jürgen Roloffs Einschätzung zu folgen und εὐσέβεια »am ehesten als die Lebensführung der Christen zu bestimmen, die ihrer spezifischen Bindung an Gott entspricht und von der alltäglichen Begleitung durch die Gnade Gottes bestimmt ist«.60 Dabei sind die spezifischen Akzentsetzungen deutlich zu unterscheiden: Es ist der 1. Timotheusbrief, der im Unterschied zu den beiden anderen Briefen den Begriff und seine Derivate auf das loyale, »ordnungsgemäße« Verhalten der Christen fokussiert. Dem scheint jedoch 1 Tim 3,16 zu widersprechen, da hier das »Geheimnis der Frömmigkeit« nicht unmittelbar auf eine Praxis ausgerichtet ist, sondern vielmehr mit einem implizit auf Christus bezogenen Hymnus erläutert wird. Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Hymnus nicht den Inhalt der εὐσέβεια benennt, sondern den des Geheimnisses. Mit anderen Worten: Der Hymnus macht deutlich, was das »Geheimnis« ist, das die Christen in ihrer Lebenspraxis (sc. der εὐσέβεια) motiviert. Insofern ergibt sich auch ein Zusammenhang zwischen dem Geheimnis des Glaubens in 3,9 und dem Geheimnis der Frömmigkeit in 3,16. Der Inhalt des Hymnus ist zugleich der Inhalt der Wahrheit, die in der Gemeinde als Haus Gottes und »Säule und Festung« (ἑδραίωμα) der Wahrheit zu bewahren ist (3,15) – eine Wahrheit, die ihrerseits Inhalt des Glaubens ist und diesen zu einer fides quae creditur macht (vgl. bes. 1 Tim 2,4–7).61 56 

So zu Recht Ostmeyer, Kommunikation, 152 f., dessen Verhältnisbestimmung der beiden Begriffe jedoch unscharf bleibt. 57 Vgl. Reiser, Christentum, 35: »So schließt der Begriff der εὐσέβεια, wie ihn die Pastoralbriefe fassen, den der πίστις mit ein. Mit einer ›Hellenisierung des Christentums‹ hat dies so wenig zu tun wie mit einer ›christlichen Bürgerlichkeit‹.« Anders – da auf alle drei Briefe beziehend – Ostmeyer, Kommunikation, 152, der betont, εὐσέβεια sei gerade »keine den Christen kennzeichnende Art der Lebensführung oder eine sein Tun bestimmende Haltung«. Ähnlich Foerster, Art. σέβομαι κτλ., 182 f., der darin wiederum einen »bürgerlichen« Ausdruck sieht. 58  So z. B. Foerster, Art. σέβομαι κτλ., 181 f.; Standhartinger, Eusebeia; s. u. 59  Vgl. gegenüber 1 Tim 2,1–7 den andersartigen Umgang mit dieser Frage in Tit 3,1–11, wo der Wortstamm σεβ- fehlt; s. dazu Herzer, Menschenfreundlichkeit Gottes (in diesem Band 407–424; vgl. engl. ders., Kindness of God); sowie ders., Gottes Menschenfreundlichkeit (in diesem Band 425–465). 60  Roloff, 1 Tim, 118. 61 Vgl. Löning, Säule; Herzer, House of God (in diesem Band 273–291).

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Nachdem die unterschiedliche Semantik des Lexems εὐσέβεια in den Pastoralbriefen herausgearbeitet wurde, ist nun ein Blick auf den Sprachgebrauch in der hellenistisch-römischen Philosophie zu werfen. Insbesondere hinsichtlich der Wendung σωφρόνως καὶ δικαίως καὶ εὐσεβῶς ζήσωμεν in Tit 2,12 ist oft festgestellt worden, diese Reihung entspreche antiker Tugendlehre.62 Bereits in Tit 1,8 begegnet neben einer Negativliste (1,7) eine weitere Liste von positiven Eigenschaften, die die Verantwortlichen in der Gemeinde besonders auszeichnen sollen: φιλόξενον, φιλάγαθον, σώφρονα, δίκαιον, ὅσιον, ἐγκρατῆ. Bevor der Blick von diesen Tugendlisten in die antike Literatur schweift, muss im Anschluss an die methodischen Überlegungen darauf hingewiesen werden, dass auch Paulus vergleichbare Reihen kennt, von denen sich die in diesem Zusammenhang auffälligste in 1 Thess 2,10 findet: ὑμεῖς μάρτυρες καὶ ὁ θεός, ὡς ὁσίως καὶ δικαίως καὶ ἀμέμπτως ὑμῖν τοῖς πιστεύουσιν ἐγενήθημεν. Diese ist wie im Titusbrief verbunden mit dem Hinweis auf die vor Gott angemessene Lebenshaltung, die der Berufung entspricht (1 Thess 2,12).63 In antiker Moralphilosophie bestehen derartige Tugendlisten in der Regel aus drei bis vier Elementen. Einige Beispiele seien genannt, um das Problem des Vergleichs zu veranschaulichen. Als repräsentative Tugendreihe wird für Tit 2,12 oft auf Aischylos, Sieben gegen Theben 609–614, verwiesen, wo ein Prophet als σώφρων δίκαιος ἀγαθὸς εὐσεβὴς ἀνήρ bezeichnet wird. Im Phaidon nennt Platon bzw. Sokrates ἡ σωφροσύνη καὶ ἡ δικαιοσύνη καὶ ἀνδρεία (in unterschiedlicher Reihung) als von aller Unvernunft reinigende (κάθαρσις) Beispiele für vernunftgemäße Tugend (Phaidros 69b–c). Diogenes Laertios beruft sich auf Aristoteles, wenn er die vier Kardinaltugenden δικαιοσύνη, φρόνησις, ἀνδρεία und σωφροσύνη nennt (Vitae 3,80). Analog zur griechischen Tradition findet sich bei Augustus, Res gestae 34, die Reihung virtus, clementia, iustita, pietas, die auf dem Monumentum Ancyranum mit den griechischen Begriffe ἀρετή, ἐπείκεια, δικαιοσύνη, εὐσέβεια übersetzt werden.64 Speziell für den Begriff εὐσέβεια ist zu berücksichtigen, dass er in der antiken Literatur oft synonym neben ὅσιος steht bzw. mit diesem Begriff austauschbar ist.65 Stephen Mott hat darauf aufmerksam gemacht, dass in der stoischen Philosophie εὐσέβεια oft als Unterbegriff der δικαιοσύνη zugeordnet 62  Vgl. die Forschung zusammenfassend Hahn, Theologie I, 381: Mit Tit 2,11 f. sei »in Anlehnung an die griechischen Kardinaltugenden das Prinzip für eine Ethik formuliert, deren Zentralbegriff die ›Frömmigkeit‹ ist«. Vgl. demgegenüber Foerster, Art. σέβομαι κτλ., 181: Angesichts der Unterschiede zwischen 1 Tim und 2 Tim sei εὐσέβεια »kein unentbehrlicher Zentralbegriff der Pastoralbriefe«. 63  Vgl. dazu Malherbe, Letters, 150, der 1 Thess 2,10–13 als »counterpart« zu 1 Kor 9,19–23 versteht, »(t)he classic text that describes Paulʼs adaptability« (a. a. O., 163). 64 Vgl. Weber, Taten, 40.43. 65  Im (pseudoplatonischen) Dialog Euthyphron findet ein steter Wechsel zwischen εὐσεβής und ὅσιος statt (Euthyphron 5c–d; 12e; 13b; vgl. Laches 199d; Protagoras 349b; Gorgias 507c; Aristoteles, De virtutibus et vitiis 1250b), vgl. Foerster, σέβομαι κτλ., 175 f.; Standhartinger, Eusebeia, 59. Interessant ist im Dialog Euthyphron, dass sich Sokrates und Euthyphron nicht einigen können, was εὐσέβεια bzw. ὁσιότης ist (Euthyphron 15b–c); Sokrates bietet seinem Gesprächspartner eine Reihe von ganz verschiedenen Definitionen an, die dieser ironischerweise alle für richtig hält. Sinn des Dialoges scheint es zu sein, die Relativität bzw. vielseitige Relationalität des Begriffes »Frömmigkeit« zu veranschaulichen. Bei Aelius Aristides, De Arte Rhetorica I 12,5,8, findet sich eine definitorische Unterscheidung zwischen τὸ εὐσεβές und τὸ ὅσιον: Ersteres auf die Götter bezogen, Letzteres auf die πάτρις.



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ist und insbesondere die Haltung den Göttern gegenüber charakterisiert.66 Insofern kann in der pseudoplatonischen Epinomis εὐσέβεια als geradezu höchste Tugend bezeichnet werden (Epinomis 989b).

Dass dieser Begriffsbestimmung in der griechischen Philosophie die lateinische Vorstellung der pietas entspricht, ist oft gesehen und zuletzt von Angela Standhartinger ausführlich beschrieben worden.67 Die griechische Tradition, in der εὐσέβεια vorwiegend auf die Götter hin ausgerichtet ist,68 reicht nach Standhartinger nicht aus, um die Bedeutung des Begriffes in den Pastoralbriefen zu erfassen. Erst die Heranziehung der römischen pietas-Vorstellung lasse deutlich werden, was damit gemeint sei.69 Die Darlegungen Standhartingers lassen unter Voraussetzung der Äquivalenz von pietas und εὐσέβεια eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit der griechischen Tradition und zugleich eine Entwicklung der lateinischen Begrifflichkeit erkennen, wenn z. B. Cicero den Begriff pietas als iustitia adversus deos definiert (De natura deorum 1,116), während er in De inventione 2,66.161 noch zwischen religio (auf die Götter bezogen)70 und pietas (auf Loyalität und Pflichterfüllung ausgerichtet) unterscheiden konnte. Unter Augustus werde pietas gegen Vater, Götter und Vaterland zum »Regierungsprogramm«, womit er sich dem Verfall von Religion und Moral entgegenstelle und damit das »goldene Zeitalter« zurückbringe.71 Doch steht, wie Standhartinger selbst feststellt, auch pietas nach wie vor im Konzert mit den anderen Tugenden iustitia, clementia und virtus (Res gestae 34), was den (oft variierenden) klassischen griechischen Tugendkanon aufnimmt, und so ist pietas auch keineswegs die einzige Tugend, wohl aber eine, der neben Hochschätzung gelegentlich72 kultische Verehrung zukam. Ob sie dadurch aber zum »inward and spiritual link of the imperial system«73 wird, ist keineswegs ausgemacht. Aus der 66  Vgl. Platon, Philebos 39e; Symposion 193d; Politeia 615c; Nomoi 821c–d; Aristoteles, Divis 6,1; Rhetorica 1377a; Plutarch, Quomodo adulator ab amico internoscatur 56e; Consolation ad Apollonium 108e; De Alexandri magni fortuna aut virtute 342e–f; vgl. Mott, Ethics, 24. Vgl. auch De defectu oraculorum 412e–413a: »Frömmigkeit (ist) Gerechtigkeit gegenüber den Göttern« (εὐσέβεια δικαιοσύνη περὶ θεούς). 67 Vgl. Standhartinger, Eusebeia; vgl. auch D’Angelo, Εὐσέβεια, bes. 162, sowie bereits Tillmann, Frömmigkeit. Kritisch gegenüber dem »Umweg über das Lateinische durch eine Unterdrückung des religiösen Momentes in der griechischen Wortbedeutung« Brox, Pastoralbriefe, 174. 68 Vgl. Foerster, Art. σέβομαι κτλ., 176 f., mit besonderem Hinweis auf Inschriften, in denen volkstümlich verinnerlichte Bedeutungen zum Ausdruck, die das, was man landläufig mit einem Begriff verbunden hat, anschaulicher machen als der kontroverse Befund bei der Untersuchung verschiedener philosophischer Schriften; vgl. auch Zeller, Ethik, 84 f. 69  Standhartinger, Eusebeia, 76–82; vgl. dazu auch Herzer, Leben in Frömmigkeit. 70  Zur Konnotation von εὐσέβεια im Sinne von »Religion« vgl. Brox, Pastoralbriefe, 175; Marshall, Commentary, 142. 71  Standhartinger, Eusebeia, 61 f. 72  Livius 40,34 berichtet von der Errichtung eines Tempels der Pietas durch Manius Acilius Glabrio Anfang des 2. Jh.s v. Chr. als Erfüllung eines Gelübdes seines Vaters – also eine eher private Angelegenheit. 73  M. P. Charlesworth, The Virtues of the Roman Emperor. Propaganda and the Creation of Belief, in: PBA 23 (1937), 105–133, 114 (zitiert nach Standhartinger, Eusebeia, 63).

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Schlussstellung von pietas im augustäischen Viererkanon eine besondere Bedeutung abzuleiten,74 erscheint schon vor dem Hintergrund der erheblichen Variationsbreite solcher Reihungen zweifelhaft. Die Annahme einer besonderen Bedeutung der augustäischen pietas-Auffassung für die Pastoralbriefe ist darüber hinaus auch deshalb problematisch, weil diese nach Augustus erst wieder im 2. Jh. n. Chr. unter Trajan und Hadrian eine »Renaissance« erfährt – allerdings auch hier nicht ohne einen Zusammenhang mit anderen Tugenden.75 Eine präzisere Definition von pietas ergibt sich aus all dem immer noch nicht; allenfalls wird deutlich, dass pietas im Sinne einer auf den Erhalt und den Wohlstand des Gemeinwesens ausgerichteten Loyalität bzw. eines Pflichtbewusstseins konnotiert ist bzw. diese dem Kaiser bzw. den öffentlichen Instanzen gegenüber beschreibt. Ein ähnliches Verständnis im Sinne von Treue und Loyalität findet sich auch bei Philo, allerdings vorwiegend in den politischen Schriften (vgl. Legat. 281; 335 u. ö.; Flacc. 48; 98; vgl. Flav.Jos.Ant. 16,112). Die Hochschätzung der εὐσέβεια kommt bei Philo in den schriftauslegenden Werken zum Ausdruck, wo sie eine auf Gott hin ausgerichtete Haltung bzw. ein dem Willen Gottes gemäßes Leben beschreibt (Leg. 3,209).76 Insofern ist εὐσέβεια »der wahre Gottesdienst« (Mos. 2,108). Auch dort, wo εὐσέβεια in Zusammenhängen menschlichen Miteinanders vorkommt, bleibt die auf Gott hin ausgerichtete Grundbestimmung erhalten. Als solche wird sie von Philo in den klassischen Tugendkanon eingefügt, der dadurch sein spezifisch philonisches Gepräge bekommt.77 Eine mit eigenem Recht soziale Ausrichtung neben der theologischen, wie sie Standhartinger herausarbeiten will, ist an den von ihr genannten Stellen gerade nicht ablesbar.78 Dass Philo damit »einen bereits seit Cicero in der lateinischen Philosophie entwickelten Gedanken« aufnimmt,79 ist mit solchen Beobachtungen nicht zu begründen. Eine Philo vergleichbare Bestandsaufnahme ließe sich für Josephus erheben, bei dem εὐσέβεια ebenfalls primär eine auf Gott hin ausgerichtete Haltung bezeichnet80 – womit 74 So

Standhartinger, Eusebeia, 63. A. a. O., 64, mit zahlreichen Belegen. 76 Vgl. Foerster, Art. σέβομαι κτλ., 179 f.; Mott, Ethics, bes. 25. 77  Vgl. Sobr. 38–40, wo neben der Reihe der Standardtugenden οἱ φρόνιμοί τε καὶ σώφρονες καὶ ἀνδρεῖοι καὶ δίκαιοι (38) in der folgenden Erläuterung der ἀνδρεῖος von Philo durch ὁ ἀσκητὴς εὐσεβείας ersetzt wird, vgl. Mott, Ethics, 25 f. Dies ist kaum so zu verstehen, dass εὐσέβεια hier die Konnotation von ἀνδρεῖα annimmt, sondern dass eine echte Substitution erfolgt, zumal sich der um εὐσέβεια Bemühte (ἀσκητής) um die Dinge des Heiligtums und der Heiligkeit kümmert (ἐπιμέλεια). 78 Vgl. Standhartinger, Eusebeia, 71 f. In Philo, Post. 181 ist ἡ πρὸς θεὸν εὐσέβεια in einer Aufzählung ein eigenständiges Glied; dieselbe Wendung ebenso in Imm. 17; in Decal. 118–120 bezieht sich εὐσέβεια auf die »Verehrung des Unsichtbaren«; in Migr. 97 werden die Frauen gescholten, die äußerlichen Schmuck gegen die εὐσέβεια, hier der Gehorsam gegen Gott, eintauschen; wo von Moses und Josuas εὐσέβεια und φιλανθρωπία bzw. σωφροσύνη gesprochen wird, kann ebenfalls davon ausgegangen werden, dass hier eine zweifache Perspektive im Blick ist: auf Gott und – wie der Begriff φιλανθρωπία impliziert – auf die Menschen, vgl. Ios. 240.246. »Das erste also, das größte und notwendigste gegenüber dem einen und wahrhaft seienden Gott (ist) Frömmigkeit (εὐσέβεια) und Heiligkeit (ὁσιότης)« (Philo, Frgm. QE, nach Harris, Fragments, 75). 79  Standhartinger, Eusebeia, 72. 80 Vgl. Foerster, Art. σέβομαι κτλ., 179; Standhartinger, Eusebeia, 72–74 (mit Belegen); auch die ευσεβ-Belege im 4 Makk weisen in dieselbe Richtung; vgl. aber D’Angelo, Εὐσέβεια, 147–149, wonach sich die in 4 Makk vorgestellte Frömmigkeit durch traditionelle römische Werte auszeichnet. Doch damit ist die Verhältnisbestimmung zwischen menschlichen Tugenden bzw. 75 



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letztlich jene Grundbestimmung aufgenommen wird, die der (dort noch seltene) Begriff bereits in der Septuaginta erfährt.81

Vor dem Hintergrund der angesprochenen methodischen Probleme entsteht die Frage, was derartige Bestandsaufnahmen tatsächlich für die inhaltliche Interpretation eines Begriffes wie εὐσέβεια in den Pastoralbriefen aus- und zur Gesamteinschätzung der Briefe beitragen. Bemerkenswert ist zunächst, dass – wie in der griechischen Tradition  – auch in der römisch-lateinischen kein einheitlicher semantischer Gehalt von pietas/εὐσέβεια zu erheben ist. Das Ergebnis Standhartingers kann so jedenfalls nicht überzeugen: »Mit dieser Aufnahme des εὐσέβεια-Begriffes und der ihn im 1. und 2. Jahrhundert prägenden Konzeption der römischen pietas hat das Judentum eine Strategie entwickelt, in einer Gesellschaft, die auf der pietas des Kaisers und gegenüber dem Kaiser beruht, zu überleben.«82

Angesichts des vielfältigen Befundes und vor allem der konsequenten Ausrichtung auf das Gottesverhältnis im Judentum kann dies nur als eine Engführung bezeichnet werden. Wenn nämlich die εὐσέβεια Gott gegenüber Priorität hat – von einer εὐσέβεια in diesem Sinn dem Kaiser gegenüber kann im Judentum schlechterdings keine Rede sein! – dann kann es auch kaum um eine Überlebensstrategie gehen, sondern dann wäre eher von einem subversiven Element zu sprechen, wie es vor allem im 4  Makkabäerbuch zum Ausdruck kommt. Die εὐσέβεια der Märtyrer lässt sie nicht überleben, sondern kostet das Leben, weil sie nicht dem Herrscher, sondern (exklusiv!) Gott gilt und der Begriff nicht adaptiert, sondern inhaltlich grundlegend transformiert wird. Zurückhaltend muss man daher auch bei der Übertragung der römischen pietas-Vorstellung auf den εὐσέβεια-Begriff der Pastoralbriefe sein. Da ein spezifischer Inhalt für εὐσέβεια in den Pastoralbriefen nicht bestimmbar sei, könne der Begriff, so Standhartinger, »nur auf dem Hintergrund einer bereits bestehenden Konzeption« erfasst werden und dies setze einen »Konsens über Wesen und Inhalte des εὐσεβῶς ζῆν voraus«.83 Die Übertragung einer aus der römisch-lateinischen Tradition erhobenen Begriffsbestimmung im Kontext des imperialen Loyalitätsgefüges mache es möglich, auch die im Anschluss an Dibelius vorausgesetzte »christliche Bürgerlichkeit« der Pastoralbriefe von einem solchermaßen bestimmten εὐσέβεια-Begriff her zu begründen. Mit der römischen pietas-Ideologie »teilen sie die Überzeugung, dass die pietas, die Loyalität und Pflichterfüllung gegenüber Kaiser und Gott, Verwandten und Patronen, die Grundlage des Friedens und Wohlstands und des göttlichen Heils bildet. Mit ihr teilen sie die Überzeugung, dass der Kaiser für dieses Leben in Frömmigkeit sorgt und dafür von Gott unterstützt wird (1 Tim 2:2–3).«84 Dabei ist allerdings für StandWerten in 4 Makk nicht präzise genug vorgenommen, zumal als Gegenfolie zur Frömmigkeit der Mutter und ihrer Söhne der Frevel des Antiochus dient, der damit dem göttlichen Zorn anheimfällt (4 Makk 9,32; 10,11). Die Priorität der Gottesbeziehung ist es, die »menschliche« Werte aus sich heraus und die Ankläger ins Unrecht setzt (vgl. den ganz ähnlichen Zusammenhang zwischen Leiden, der Identität als Christianos und der Erfüllung des Gotteswillens in 1 Petr 4,12–19!). 81  Vgl. LXX Jes 24,15 f.; 33,5 f.; Prov 1,7; Sir 11,17. 82  Standhartinger, Eusebeia, 76. 83  A. a. O., 80. 84  A. a. O., 82.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

hartinger zugleich auch die Legitimität dieser unter der Maßgabe des christlichen Glaubens vorgenommenen Integration römischer Ideologie infrage gestellt.

Demgegenüber hat sich gezeigt, dass der Begriff in den Pastoralbriefen unterschiedlich verwendet wird und ein kohärentes »Konzept« von εὐσέβεια nicht zu erweisen ist. Während er im 1.  Timotheusbrief eine deutliche Affinität zum römischen pietas-Begriff im Sinne der Loyalität gegenüber gesellschaftlichen Strukturen und Gegebenheiten und einem entsprechend angemessenen Verhalten hat, umschreibt der Begriff im 2. Timotheus- und im Titusbrief die christologisch begründete Lebenshaltung. Beides liegt zwar nicht weit auseinander, legt aber doch nahe, dass der 1.  Timotheusbrief diesen in den beiden anderen nur punktuell verwendeten Begriff vor dem Hintergrund einer veränderten gesellschaftlichen Situation aufgreift, in diesem Kontext neu konnotiert und ihn so zu einem christlichen »Leitbegriff« macht. Zugleich ist deutlich geworden, dass die oft einlinigen Erklärungsversuche den komplexen Rezeptionsphänomenen nicht gerecht werden und die entsprechenden Adaptions-, Inkulturations- bzw. Transformationsprozesse in den Pastoralbriefen differenzierter zu beurteilen sind, bevor daraus Rückschlüsse auf den oder die Verfasser und sein bzw. ihr »Milieu« gezogen werden können. Entscheidend für die Frage nach den Einflüssen auf Sprache und Inhalte der Pastoralbriefe und damit der Verortung im Traditions- bzw. Diskursgefüge ihrer Zeit ist zunächst die Beobachtung, dass die wesentlichen Vergleichspunkte zur römischen pietas-Vorstellung im 1. Timotheusbrief zu finden sind. In der Differenzierung zwischen 2. Timotheus- und Titusbrief einerseits und 1.  Timotheusbrief andererseits könnte auch eine differenzierte Wahrnehmung und literarhistorische Verortung vorgenommen werden. Es lässt sich m. E. zeigen – wenn auch an dieser Stelle nicht umfassend aufweisen  –, dass die inhaltlichen Unterschiede zwischen dem 1. Timotheusbrief einerseits und dem Titus- und 2. Timotheusbrief andererseits dafür sprechen, die Briefe in unterschiedlichen Situationen zu verorten, was es z. B. erlauben würde, ein unterschiedliches Gegnerprofil zu erheben oder auch »bürgerliche« Elemente im 1. Timotheusbrief plausibel zu machen. Bestimmt man den Begriff εὐσέβεια mit dem römischen pietas-Begriff als Loyalität und versucht, diese Bedeutung an den einzelnen Stellen einzusetzen,85 so stellt sich bald heraus, dass dies zwar an manchen Stellen plausibel ist, aber bei weitem nicht an allen. Der plausibelste Beleg ist in dieser Hinsicht gleich der erste in 1 Tim 2,2, wo der Kontext – das Gebet für Könige und alle Beamten – den Zusammenhang sogar unmittelbar nahe legt und gleichsam die Gesamtperspektive des Begriffs vorgibt. Auch in 1 Tim 6,5.6.11 wird man εὐσέβεια im Sinne von Loyalität und Pflichterfüllung verstehen können, die im sozialen Verhalten »gewinnbringend« ist  – allerdings nicht im materiellen Sinne (μετἀ αὐταρκείας, 6,6; vgl. den begründenden Zusatz in 6,7–12 mit der Warnung vor den Gefahren materiellen Reichtums), sondern auf das der Gemeinschaft Förderliche gerichtet. Das wird nicht zuletzt durch die die εὐσέβεια einschließende, aus sechs Gliedern bestehende Tugendliste in 6,11 an85 

Diese Überprüfung der »Passfähigkeit« unternimmt Standhartinger leider nicht.



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schaulich. Erst unter diesen Voraussetzungen lässt sich auch εὐσέβεια in 1 Tim 6,3 entsprechend verstehen: Die der εὐσέβεια gemäße Lehre ist zwar selbstverständlich christologisch gefüllt, indem es um »die Worte unseres Herrn Jesus Christus« geht, aber dieser Inhalt ist hier bereits so verstanden, dass er auf die der Gesellschaft gegenüber loyale, »ruhige und stille Lebensführung« (1 Tim 2,2) bezogen bleibt. Man könnte sogar sagen, dass das Anliegen des 1. Timotheusbriefes hinsichtlich der Christologie darin besteht, diese auf eine loyale Lebensführung zu beziehen, die letztlich sogar – will man die interne Kohärenz des Briefes nicht allzu sehr infrage stellen  – als das »Kämpfen des guten Kampfes des Glaubens« (6,12) verstanden werden kann, was der inhaltlichen Nähe von εὐσέβεια zu πίστις im 1. Timotheusbrief entspricht. Die Bedeutungsverschiebung zwischen 2. Timotheus- und Titusbrief auf der einen sowie dem 1. Timotheusbrief auf der anderen Seite eröffnet u. a. auch einen neuen Zugang zum Begriff der »christlichen Bürgerlichkeit«, wie er für die Pastoralbriefe insgesamt beansprucht wurde und aufgrund der fehlenden Differenzierung immer wieder zu Kontroversen führen musste – je nachdem, wie man die eine oder andere Aussage gewichtete.86 Der Einspruch gegen diese »bürgerliche« Beurteilung gründet sich bezeichnenderweise im Wesentlichen auf Stellen des 2. Timotheusund des Titusbriefes, wo noch einiges von der Lebendigkeit christlicher Hoffnung aufstrahle, was mit dem Begriff des »Bürgerlichen« nicht vereinbar sei. Liest man jedoch die für die Charakterisierung einer »christlichen Bürgerlichkeit« wichtige Stelle 1 Tim 2,2 unter der beschriebenen Differenzierung, kann auch das »bürgerliche« Element des »ruhigen und stillen Lebens in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit« deutlicher profiliert werden.

4. Schlussbetrachtung Bei der hier vorgeschlagenen und am Beispiel der Semantik von εὐσέβεια veranschaulichten Unterscheidung zwischen 2.  Timotheusbrief/Titusbrief einerseits sowie 1.  Timotheusbrief andererseits ist eine präzise Verhältnisbestimmung entscheidend: Lassen sich die Beobachtungen auf einen direkten Hintergrund des/ der Autors/Autoren im griechisch-römischen Milieu bzw. eine »Übernahme neuer Begriffe und Vorstellungen aus der hellenistischen Umwelt«87 zurückführen oder ist vielmehr bereits ein komplexer Adaptions- und Transformationsprozess anzunehmen, der jüdisch-hellenistische, griechisch-römische sowie innerchristliche Einflüsse in unterschiedlichem Maße vorausgesetzt?88 Liegt dem nicht auch ein 86 Vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 32 f.; Brox, Pastoralbriefe, 124 f.; zur Diskussion vgl. Völkl, Christ, 323–341; Pesch, Bürgerlichkeit, 28–33; kritisch Schwarz, Christentum; sowie Reiser, Christentum; Marshall, Commentary, 142. Weiser, Verantwortung, 48 f., plädiert dafür, diese Begrifflichkeit ganz zu vermeiden. 87  Oberlinner, Epiphaneia, 195. 88 Nach Zeller, Ethik, 86, ist εὐσέβεια »sicher eine Angleichung an jüdisch-hellenistisches Denken«; für Mott, Ethics, 47, sind die Pastoralbriefe direkt von Philo abhängig.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

komplexer Transformationsprozess zugrunde, bei dem begriffliche wie inhaltliche Berührungen jenseits rein literarischer Vorgänge bzw. traditionsgeschichtlicher Engführungen zu erklären wären? Die Überlegungen zum Verhältnis der drei Briefe untereinander sowie zu den komplexen Intertextualitätsstrukturen legen dies nahe. Dafür spricht auch die Tatsache, dass derartige Vermittlungsvorgänge nur in den wenigsten Fällen durch direkte literarische Abhängigkeiten zu erklären sind, sondern im Kontext unterschiedlich geprägter kultur- und geistesgeschichtlicher Diskurse verlaufen, innerhalb derer die Schriftlichkeit nur einen Teilbereich ausmacht und sich bestimmte Begriffe und Vorstellungen als »anschlussfähig« für Neucodierungen erweisen.89 Damit ist die Frage nach der Beschreibung der vorauszusetzenden Adaptionsund Transformationsprozesse eigentlich erst gestellt. Dabei darf es nicht bei der Feststellung bestimmter Parallelen, Ähnlichkeiten usw. bleiben, sondern es müssen auf der Grundlage einer differenzierten Verhältnisbestimmung dem Textbestand angemessene Erklärungen gefunden werden, wie es zu diesen Texten gekommen ist und welche Faktoren in welcher Weise auf den Entstehungsprozess eingewirkt haben. Es geht dabei nicht nur um eine angemessene Verhältnisbestimmung der Pastoralbriefe zur griechischen und römischen Moralphilosophie und zu hellenistisch-jüdischen Traditionen, sondern darüber hinaus (und nicht abgelöst von diesen Bezügen) auch um eine Verhältnisbestimmung innerhalb der neutestamentlichen Überlieferung.90 Dazu gehören mögliche Weiterentwicklungen innerhalb der Pastoralbriefe (hier vermutet vom Titus- über den 2. Timotheus- zum 1. Timotheusbrief ), sowie eine differenzierte Verhältnisbestimmung der je einzelnen Briefe zu den authentischen Paulusbriefen,91 zu den anderen pseudonymen Briefen der Paulustradition und nicht zuletzt auch zum Lukasevangelium/der Apostelgeschichte bzw. deren Autor.92 89 Ähnlich Reiser, Christentum, 35, der die Anschlussfähigkeit des Begriffes εὐσέβεια für christliche Inhalte hervorhebt. 90  Vgl. die ähnlichen Überlegungen bei Oberlinner, Epiphaneia, 195. 91  Brox, Pastoralbriefe, 57 f.; Trummer, Paulustradition, 88 f., u. a. gehen davon aus, dass er das gesamte Corpus Paulinum bereits vor Augen hatte; vorsichtiger Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 146; Oberlinner, 1 Tim, XLVIII. Roloff, 1 Tim, 37, spricht von einer »rélecture der Paulusbriefe«. Das Intertextualitätsmodell von Merz setzt voraus, dass »die intertextuelle Präsuppositionsstruktur der Pastoralbriefe als vorgeblicher Paulusbriefe […] ihre Rezeption im Gesamtzusammenhang der den intendierten LeserInnen bekannten schriftlichen und mündlichen Paulustraditionen (erfordert). Dazu zählen auf jeden Fall die folgenden Paulusbriefe: Röm, 1/2 Kor, Phil, Phlm« (Merz, Selbstauslegung, 242). 92  Der εὐσέβεια-Begriff ist auch in der Apg ganz von der Gottesverehrung her gefüllt. Ihm jedoch ein theologisches Gewicht innerhalb der Apg abzusprechen und die Belege für die Begriffsbestimmung nicht heranzuziehen (so Standhartinger, Eusebeia, 51 Anm. 1), ist angesichts der deutlichen Affinität der Pastoralbriefe zur Sprache der Apg methodisch problematisch, die in unterschiedlicher Weise erklärt wurde: literarische Abhängigkeit der Pastoralbriefe von Apg vermuten Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 4; Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 45 f.; lukanische Verfasserschaft z. B. Strobel, Schreiben; Quinn, Last Volume; Wilson, Luke; bereits Harnack, Lukas, 72, vermutete eine Verbindung zwischen dem Lukas in 2 Tim 4,11 und der Apg. Die Partizipation an einer gemeinsamen Tradition nehmen z. B. Roloff, 1 Tim, 40.45; Wolter, Pastoralbriefe, 223–226, an; Schröter, Kirche, versteht Apg und Pastoralbriefe als je eigene Art der Paulusrezeption.



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Erst wenn diese komplexen Zusammenhänge hinreichend berücksichtigt sind, lassen sich daraus auch Rückschlüsse im Hinblick auf die Einflüsse auf die Sprache sowie die im weitesten Sinn intertextuelle Vernetzung bzw. das sprachliche und geistesgeschichtliche »Milieu« des Autors der Pastoralbriefe bzw. ihrer Autoren ziehen. Letztlich auch in die Überlegung einzubeziehen ist der Faktor des historisch Unwägbaren, der gerade im Blick auf die Pastoralbriefe allgegenwärtig ist. Dieser kann freilich nicht mehr und nicht weniger als ein relativierendes Element sein, das zu größerer wissenschaftlicher Vorsicht gegenüber allzu großer Sicherheit hinsichtlich der stets nur unter bestimmten Voraussetzungen zu ziehenden Konsequenzen für ein Gesamtbild der Pastoralbriefe sensibilisiert.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

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»Das Geheimnis der Frömmigkeit« (1 Tim 3,16) 

405

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»Das ist gut und nützlich für die Menschen« (Tit 3,8) Die Menschenfreundlichkeit Gottes als Paradigma christlicher Ethik 1.  Zum Kontext der Fragestellung Christliche Ethik als eine dem aktuellen Leben der Menschen verpflichtete Bemühung um die Applikation theologischer Erkenntnis- und Bekenntnisinhalte ist durch die Spannung zwischen zeitgemäßer Interpretation und ihrer unumgänglichen Verankerung in der biblischen Überlieferung kontinuierlich zur Reflexion dieser Verhältnisbestimmung herausgefordert. Aus der Sicht eines Neutestamentlers sind die Pastoralbriefe ein besonderer Teil dieser Herausforderung, insofern sie einerseits als anerkanntermaßen späte pseudepigraphische Schriften1 theologisch nicht das Niveau anderer Paulusbriefe erreichen, andererseits aber durch die spezielle Art der Fokussierung paulinisch-theologischer Inhalte auf ethisch relevante Bereiche in Gemeinde und Gesellschaft rezeptionsgeschichtlich bedeutsam waren. Insbesondere die Diskussion um den Topos des »bürgerlichen Christentums« der Pastoralbriefe ist hierfür ein anschauliches Beispiel, weil diese Schreiben auf interessante Weise im Wissen um die innerchristlichen Differenzen das Leben der christlichen 1  Die aktuelle Diskussion um die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe unter dem Stichwort der »Fälschung« verstärkt die Herausforderung auf besondere Weise, vgl. etwa in diesem Sinne Balz, Anonymität, bes. 431; Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule; Merz, Selbstauslegung, 204.221 (in Anlehnung an Balz). Zum Problem vgl. vor allem Speyer, Fälschung, zu den Pastoralbriefen bes. 285: »religiöse Gegenfälschung«. In der älteren neutestamentlichen Forschung war man bemüht, den Begriff der Fälschung auf die Pastoralbriefe nicht anzuwenden, ging allerdings davon aus, dass die Täuschungsabsicht in den Pastoralbriefen bewusst und raffiniert durchgeführt wurde; vgl. z. B. Brox, Verfasserangaben, 24.178. Allerdings hatte Speyer, Fälschung, 13–21, diese Art von Pseudepigraphie mit Täuschungsabsicht der Kategorie des Betruges zugeordnet, so dass es konsequent ist, wenn Merz davon ausgeht, dass unter Voraussetzung eines bestimmten Konzeptes von Intertextualität die pseudepigraphische Fiktion der Pastoralbriefe für die Rezipienten durchschaut und akzeptiert werden muss (vgl. bes. Merz, Selbstauslegung, 242 f.; zu Unrecht allerdings zitiert Merz, a. a. O., 205, auch Donelson, Pseudepigraphy, 164, in diesem Sinne, denn dieser geht ebenfalls davon aus, dass die Pseudepigraphie der »pädagogischen Lüge« nur dann funktioniert, wenn sie nicht durchschaut wird, vgl. a. a. O., 19). Ein solcher Ansatz setzt voraus, dass die pseudepigraphische Fiktion der Pastoralbriefe im Rahmen dessen liegt, was aus dem Bereich der akzeptierten Schulpseudepigraphie bekannt ist. Doch dazu passt, wie Speyers Überblick deutlich zeigt, aus literaturgeschichtlicher Perspektive die spezifische Gestalt der Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als komponiertem Briefkorpus nicht. Vgl. dazu ausführlicher Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76).

408

IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Gemeinde in einer nichtchristlichen Welt reflektieren.2 Martin Dibelius hatte dafür in seinem Kommentar jene Charakterisierung eingeführt, vermutlich nicht ganz unabhängig von der aktuellen Situation der Kirche in der Gesellschaft jener Zeit Ende der zwanziger bzw. Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.3 Daher verwundert es nicht, dass dieser Begriff »bürgerliches Christentum« oder »christliche Bürgerlichkeit« anfällig war für die Kritik späterer Ausleger, die ihrerseits unter ganz anderen Umständen Exegese betrieben. Der »Rückkopplungseffekt« zwischen Exegese und ihrem aktuellen Bezug in systematisch-ethischen Zusammenhängen und  – vice versa  – der Einfluss aktueller Lebensumstände auf die Interpretation biblischer Texte wird an diesem Beispiel besonders deutlich.4 Der Kontext, in dem die folgenden exegetischen Bemerkungen zu einem ethischtheologischen Aspekt der Pastoralbriefe vorgetragen wurden, mag im Blick auf den Kontext dieser Festschrift insofern erwähnenswert sein, als sich der Geehrte selbst nicht nur zur Problematik der Irrlehrer in den Pastoralbriefen geäußert, sondern in Zeiten des politischen Umbruchs auch einen Beitrag zum Thema Christ und Staat aus neutestamentlicher Perspektive geleistet hat.5 In der theologisch-ethischen Diskussion nach dem Ende der DDR stand das Thema der versöhnenden Aufarbeitung dieser Vergangenheit im Vordergrund des Interesses. Auch nach mehr als fünfzehn Jahren sind die Probleme des Umgangs mit dieser Vergangenheit nicht gelöst. Es hat sich – kaum überraschend – herausgestellt, dass es keine allgemeinen Lösungskonzepte geben kann, sondern die Betroffenheit, der Umgang damit sowie die Bewältigung stets individuell sind und daher ganz unterschiedlich ausfallen können. Im Jahr 2004 wurde auf der Jahrestagung der Society of Biblical Literature eine Arbeitsgruppe unter dem Titel »Character Ethics and Biblical Interpretation« ins Leben gerufen, mit dem Ziel, ethische Gegenwartsfragen mit biblischer Exegese und Interpretation ins Gespräch zu bringen.6 Der Vorschlag, die Probleme der Bewältigung der Stasi-Vergangenheit aus einer neutestamentlichen Perspektive zu beleuchten, stieß bei den überwiegend US-amerikanischen Veranstalter/innen und Teilnehmer/innen auf großes Interesse.7 Dabei stand naturgemäß das Thema 2  Zur Außenperspektive der Pastoralbriefe und ihrem Verhältnis zu theologischer Argumentation vgl. auch Herzer, Verheißung, bes. 309–311 (in diesem Band 489–500). 3 Vgl. Dibelius, Pastoralbriefe 1931, 12.24. 4  Vgl. die Diskussion des Begriffes bei Völkl, Christ, 323–341; Pesch, Bürgerlichkeit, 28–33; kritisch Schwarz, Christentum; sowie Reiser, Christentum. Weiser, Verantwortung, 48 f., plädiert dafür, diese Begrifflichkeit ganz zu vermeiden. 5  Haufe, Irrlehre; ders., Christ und Staat. 6  Zum Thema »Schrift und aktueller Vergangenheitsbewältigung« in diesem speziellen Horizont vgl. insbesondere Burgess, Scripture, bes. Kap. 7: »The Life of the Church as Commentary on Scripture« (a. a. O., 120–140). Burgess plädiert für ein »sacramental reading of Scripture« (a. a. O., 125), womit in erster Linie der kommunikative Aspekt des Lebens einer Gemeinde in ihren ethischen Herausforderungen angesprochen ist (vgl. a. a. O., 132–134). Die Arbeit von Burgess ist aufgrund biographischer Aspekte an dieser Stelle von besonderem Interesse, weil sie wesentlich von Burgess’ wissenschaftlicher Arbeit über das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR beeinflusst ist, die er Mitte der 80er Jahre zu einem großen Teil »vor Ort« am Sprachenkonvikt in Berlin geleistet hat (vgl. unten Anm. 8). 7  Aufschlussreich war dabei auch die Mitwirkung eines koreanischen Wissenschaftlers, der



»Das ist gut und nützlich für die Menschen« (Tit 3,8) 

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Versöhnung im Vordergrund: Wie ist aus christlicher Sicht Versöhnung in solcher Situation möglich? Bezogen auf die spezifische Situation der Christen in Ostdeutschland spricht John Burgess vom Problem des »coming to terms with the past« im Spannungsfeld zwischen politischer Dimension und einem Umgang mit dem menschlichen Problem, der theologisch »Versöhnung« genannt werden kann.8 »In coming to terms with the past, the church […] had to relate its theological commitments to confession, forgiveness, and reconciliation to the practical circumstances of church life.«9

Im Horizont dieser Thematik wird im Folgenden versucht, anhand einer Auslegung von Tit 3,1–11 hermeneutische Aspekte für eine ethische Diskussion über Versöhnung im Kontext des Umganges mit politischen und gesellschaftlichen Strukturen zu benennen und so die Relevanz der Auslegung biblischer Tradition für aktuelle ethische Diskussionen fruchtbar zu machen. seine eigene Perspektive und Erfahrung mit der spannungsreichen politischen Situation Nord- und Südkoreas eingebracht hat und von Stasi-ähnlichen Methoden in Süd(!)-Korea berichtete. Die Beiträge dieser Arbeitsgruppe sind publiziert in Robert L. Brawley (Hg.), Character Ethics and the New Testament: Moral Dimensions of Scripture, Louisville/London 2007 (vgl. darin die englische Version des hier vorliegeneden Beitrags Herzer, Kindness of God). 8  Burgess, Coming to Terms, 105: »Because the East German Wende had spiritual-moral concerns at its heart, it is not surprising that questions of loyalty and integrity, both personal and corporate, came to the fore as East Germans tried to make sense of the past.« Zum biographischen Aspekt vgl. auch Krötke, Vergangenheit, sowie Zehner, Forum, 76–88, für die komplizierte politische Dimension des Problems. Die gesellschaftliche Problematik des Begriffs der Versöhnung wird anschaulich etwa in dem Artikel von Klaus Hartung in DIE ZEIT 40/2000 über den früheren Direktor des Stasi-Archivs Joachim Gauck: »Er [sc. J. Gauck, J. H.] thematisiert und personifiziert auch den Widerspruch zwischen dem moralischen Imperativ, der in der Übernahme der Stasi-Akten liegt, mit dem rechtsstaatlichen Kompromiss, der ihre Verwendung regelt. Das Paradoxe: Gauck versöhnt dennoch  – ein gesamtdeutscher Seelsorger, den oft die sentimentale Zuneigung übermannt, wenn er auf ehrliches Bemühen stößt. So gestand er ›brüderliche‹ Gefühle für André Brie, den PDS-Chefideologen, weil der seine Zeit als inoffizieller Mitarbeiter der Stasi selbst kritisiert […]. Ihren [sc. der Gauck-Behörde, J. H.] Erfolg belegt eine Zahl: Fast eine halbe Million Menschen haben ihre Akten erhalten, und dennoch ist es ist nicht ein einziges Mal zu den befürchteten Racheakten gekommen. Das ist die wirkliche Versöhnung im geeinten Deutschland.« Vgl. ähnlich auch Marianne Birthler in derselben Ausgabe DIE ZEIT 40/2000: »Es waren sogar insgesamt weit mehr als eine Million Menschen, die inzwischen Einsicht in ihre Akten genommen haben oder einen Antrag gestellt haben, in ihre Akten Einsicht zu nehmen. Ich glaube, die Erfahrungen damit bestätigen die, die das Gesetz seinerzeit wollten, dass die Einsichtnahme in die Akte ja ermöglicht, dass man genauer Bescheid weiß über das, was die Stasi versucht hat, mal mit Erfolg, mal ohne im eigenen Leben anzurichten. Dieses Wissen darum gibt Menschen dann die Möglichkeit frei zu entscheiden, was sie mit diesem Wissen tun. Sie sind also wieder Herren ihrer eigenen Geschichte. Viele haben ein Gespräch gesucht. Viele haben die Dinge auf sich beruhen lassen. Es hat ihnen genügt, Bescheid zu wissen. Manche haben Anzeige erstattet aus nachvollziehbaren Gründen. Sie haben aber Recht: Mord und Totschlag wurde prophezeit; nichts davon ist passiert. Eigentlich ist die Akteneinsicht zu einem Instrument von Versöhnung geworden, wenn man Versöhnung so begreift wie ich es tue, nämlich als einen Prozeß, der auf der Grundlage von Wahrheit und von freier Entscheidung in Gang kommen kann.« 9  Burgess, Coming to Terms, 106. Burgess macht gut deutlich, welche Probleme sich aus theologischer Perspektive für einen solchen ethischen Prozess von Versöhnung ergeben, vgl. a. a. O., 113–116.118–120.

410

IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

2.  Tit 3,1–8 im Horizont neutestamentlicher Überlieferung Während in 1 Tim 2,1 f. lediglich die Fürbitte »für Könige und alle, die Macht ausüben« im Blick ist, stehen Tit 3,1–8 unter dem Aspekt der Unterordnung innerhalb der neutestamentlichen Überlieferung Röm 13,1–7 sowie 1 Petr 2,13–17 nahe. Mit unterschiedlicher Akzentsetzung wird in diesen Texten die christliche Einstellung gegenüber der weltlichen Herrschaft unter dem Aspekt der Loyalität thematisiert.10 Im Blick auf die ethisch reflektierte Gestaltung christlichen Lebens unter einer nichtchristlichen oder gar antichristlichen Herrschaft ist Loyalität einer der wahrscheinlich umstrittensten Werte. Während etwa Paulus in Röm 13 die Unterordnung unter die weltliche Herrschaft erwartet, weil er sie als gottgegeben versteht, wird Loyalität in 1 Petr 2 auf einer anderen Ebene beschrieben, insofern weltliche Herrschaft nicht als gottgegeben, sondern ausdrücklich als menschliche Institution (ἀνθρωπίνῃ κτίσις, 2,13) angesehen wird, die es in Ehren zu halten gilt (τὸν βασιλέα τιμᾶτε, 2,17) und die zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung dient (2,14b), eine Funktion, die ihr auch nach Paulus zukommt (Röm 13,3).11 Der Wille Gottes richtet sich auf die Glaubenden, die mit ihrem Verhalten dieser weltlichen Struktur entsprechen sollen (1 Petr 2,15).12 In Tit 3 hingegen ist die Ausrichtung noch einmal eine andere, indem über die Legitimation der Herrschaft nicht reflektiert, sondern lediglich auf konkrete Verhaltensweisen ihr gegenüber abgehoben wird (πᾶν ἔργον ἀγαθόν, 3,1b; vgl. ähnlich Röm 13,3). Gemeinsam ist allen drei Texten die Aufforderung zur Unterordnung (ὑποτάσσεσθαι), die als Ausdruck der Loyalität anzusehen ist.13 Dabei muss je nach Kontext entschieden werden, was damit gemeint ist. In Tit 3,1 als dem Fokus der vorliegenden Ausführungen ist der Begriff nach Lorenz Oberlinner im Sinne von »uneingeschränkter Anerkennung der staatlichen Gewalt« zu verstehen. Zur Veranschaulichung verweist Oberlinner auf die sinnverwandten Parallelen in Röm 13,1–7 und 1 Petr 2,13–17.14 Die Verwendung von ὑποτάσσεσθαι in den sog. Haustafeln der Pastoralbriefe könnte eine solche Bedeutung auch für Tit 3,1 nahe­ legen (vgl. insbesondere Tit 2,4 f.9; 1 Tim 2,11). Ist aber schon der pauschale Hinweis Oberlinners auf die Vergleichbarkeit von 1 Petr 2,13–17 zu Röm 13,1–7 kaum angemessen, da die weltliche Herrschaft jeweils unterschiedlich charakterisiert wird, so ergibt sich auch zwischen Tit 3,1–8 und Röm 13,1–7 ein Unterschied, da in Tit 3 die Obrigkeit nicht als göttliche Setzung bezeichnet wird, es sei denn, man setzt es als implizit gegeben voraus.15 In der Forschung besteht allerdings kein Konsens hinsichtlich der Frage, ob Tit 3,1 bei den Leserinnen und Lesern Röm 13 10 Vgl.

Haufe, Christ und Staat, 101–106. Vgl. dazu Herzer, Petrus, 229–231. 12  Vgl. zum Ganzen a. a. O., 227–244. 13  Löning, Gnade, 246, spricht sogar von »bürgerlicher Loyalität«. 14  Oberlinner, Titus, 161. 15 Vgl. Weiser, Verantwortung, 40. Oberlinner, Titus, 164, spricht demgegenüber mit Löning, Gnade, 247, von einer Transformation des Motivs der »bedingten Loyalität […] zum Motiv der unbegrenzten Menschenliebe, wie sie Gott als Herrscher erwiesen hat, als er ›uns‹ rettete«. 11 



»Das ist gut und nützlich für die Menschen« (Tit 3,8) 

411

voraussetzt oder gar indirekt darauf anspielt.16 Eine nähere Bestimmung des Verhältnisses würde daher helfen, die Intention des Autors in Tit 3 hinsichtlich seines Verständnisses von Loyalität zu ermitteln.17 Doch da eine solche intertextuelle Verknüpfung für Tit 3 nicht nachweisbar ist, sollte Tit 3,1–8 methodisch zunächst ohne Röm 13 oder gar 1 Petr 2 als Referenztexte interpretiert werden. Das spezifische ethische Argument wird dadurch umso deutlicher.18

3.  Die Struktur von Tit 3,1–8(9–11) Wenn es stimmt, dass die Ermahnungen an die verschiedenen Gruppen der Gemeinde in Tit 2,1–10 das »Herz« des Briefes darstellen,19 dann gewinnt die Erinnerung an die Unterordnung unter die Herrschaftsstrukturen der Zeit in Tit 3,1 ff. nach der christologischen Begründung in 2,11–15 ebenfalls eine besondere Bedeutung.20 Wahrscheinlich21 verweist αὐτούς in 3,1 auf jene in Kap. 2 angesprochenen Gruppen zurück und nimmt mit dem Stichwort ὑποτάσσεσθαι 16  So etwa Collins, I & II Timothy, 357; Oberlinner, Titus, 161, vermutet eine gemeinsame Tradition, vgl. auch Läger, Christologie, 98–102. 17  Das gilt sowohl unter Voraussetzung der pseudepigraphischen als auch einer authentischen Verfasserschaft. Würde man den Tit als authentischen Brief verstehen (vgl. neuerdings Johnson, First and Second Letters), so wäre er von Paulus nach dem Röm geschrieben und würde Röm 13 voraussetzen. Dennoch müsste man berücksichtigen, dass die Verbindung zunächst nur für Paulus als dem Autor angenommen werden könnte, nicht notwendiger Weise auch für Titus als dem Empfänger des Briefes. Man müsste nicht annehmen, dass Titus die Äußerung in Tit 3,1–8 nur verstanden hätte, würde er Röm 13 kennen. Unter authentischer Perspektive würde man vielmehr damit rechnen müssen, dass Titus die Position des Paulus aufgrund seiner persönlichen Beziehung zum Apostel kennen würde, nicht aus der schriftlichen Form des Röm. Eine etwas andere Konstellation ergäbe sich unter pseudepigraphischer Perspektive, wonach eine Kenntnis von Röm 13 eher anzunehmen wäre (s. unten Anm. 18), so dass sich durch diese intertextuelle Referenz die Perspektive der Interpretation verändern würde. Aber dabei müsste auch die Fiktionalität stärker berücksichtigt werden, denn wenn der Tit pseudepigraphisch wäre, dann würde der Verfasser von seinen Leserinnen und Lesern offenbar erwarten, dass sie den Brief lesen, als ob Paulus ihn geschrieben hätte. Das verkompliziert den Rezeptionsvorgang erheblich, weil es dann nämlich nicht mehr ausreichen würde, einfach auf geprägte Traditionen hinzuweisen, sondern man müsste erklären, welche Rolle diese Traditionen für den Verstehensvorgang spielten. Dies ist bisher – so weit ich sehe – nicht berücksichtigt worden. Marshall notiert, dass der Verfasser eine eigene Konzeption entwickelt habe und dadurch betont, was er für wichtig erachtet  – Marshall, Faith, 205; vgl. Oberlinner, Titus, 161. 18  Vgl. ähnlich Löning, Gnade, 244. Demgegenüber setzt etwa das bei Merz zugrunde gelegte Intertextualitätsmodell unter den Prämissen der Pseudepigraphie des Briefkorpus voraus, dass »die intertextuelle Präsuppositionsstruktur der Pastoralbriefe als vorgeblicher Paulusbriefe […] ihre Rezeption im Gesamtzusammenhang der den intendierten LeserInnen bekannten schriftlichen und mündlichen Paulustraditionen (erfordert). Dazu zählen auf jeden Fall die folgenden Paulusbriefe: Röm, 1/2 Kor, Phil, Phlm«; Merz, Selbstauslegung, 242. 19 So Dibelius, Pastoralbriefe 1931, 5. Zu Tit 2,1–15 als »Zentral-Abschnitt« vgl. Löning, Epiphanie, 119–124. 20 Vgl. von Lips, Haustafel, 270. Für eine ausführliche exegetische Behandlung von Tit 3,1–15 vgl. Herzer, Gottes Menschenfreundlichkeit (in diesem Band 425–465). 21  Dazu s. unten.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

den Duktus der Ermahnung von 2,1–10 wieder auf (vgl. 2,5.9). Während allerdings die christologische Begründung der Ermahnungen von 2,1–10 in 2,11–15 auf den erzieherischen Aspekt der Erscheinung von Gottes Gnade in Form der Hingabe Christi hinweist (2,11 f.), erfährt die Mahnung hinsichtlich des Verhaltens gegenüber der Obrigkeit in 3,1–3 eine eigene theologische Untermauerung durch den Hinweis auf die Erscheinung von Güte (χρηστότης) und Menschenfreundlichkeit (φιλανθρωπία) Gottes (3,4). Für die argumentative Einbettung und Interpretation der Obrigkeitsaussage von Tit 3,1 ist die Zuordnung bzw. Abgrenzung des Textes von Bedeutung. Die hier vorgeschlagene Struktur rechnet 2,15 noch zum vorigen Abschnitt als Abschluss der theologisch-christologischen Ausführungen von 2,11–14. Die Ausrichtung auf jene bereits bekannten αὐτούς in 3,1 markiert einen deutlichen Neuansatz. Diese Zuordnungen sind nicht unumstritten. Jerome D. Quinn etwa zieht 2,15 mit 3,1–2 zusammen, gesteht jedoch zu, dass es sich unter dieser Voraussetzung in 3,1 um eine »abrupt transition« handelt.22 Lorenz Oberlinner grenzt nur 3,1–7 als Einheit ab und zieht V. 8 zum nächsten Abschnitt,23 was allerdings dem primär abschließenden und auf Vorangehendes verweisenden Charakter des ταῦτα-Satzes in V. 8c nicht gerecht wird.24 Demgegenüber ergibt sich sprachlich wie inhaltlich folgende plausible Struktur: (1) Erinnere sie daran, sich den herrschenden Machtstrukturen25 unterzuordnen, gehorsam und zu jedem guten Werk bereit zu sein, (2) (d. h.) niemanden zu verleumden, friedfertig zu sein, nachsichtig und allen Menschen jede Freundlichkeit zu erweisen. Christologisches 1. Vergangenheit: (3) Denn auch wir waren einst unverständig, ungehorArgument: sam, in die Irre geführt und dienten sklavisch vielfältigen Begehrlichkeiten und Vergnüglichkeiten, in Bosheit und Neid dahin treibend, verabscheut, einander mit Hass begegnend. 2. Erneuerung: (4) Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschien (5) – nicht aufgrund von Werken, die (sich) durch Gerechtigkeit auszeichnen, die wir getan hätten, sondern nach seinem Erbarmen – rettete er uns durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung (durch) den heiligen Geist, (6) der reichlich über uns ausgegossen ist durch Jesus Christus, unseren Retter, 3. Zukunft: (7) damit wir – gerechtfertigt durch jenes Gnade – zu Erben gemäß der Hoffnung auf ewiges Leben würden. Konsequenz: (8) Zuverlässig ist das Wort, und ich will im Blick auf diese Dinge, dass du (sie) als feste Überzeugung vertrittst, damit die, die an Gott glauben, ihren Sinn darauf richten, sich durch gute Werke auszuzeichnen. Dies ist gut und nützlich für die Menschen. Primäre Mahnung: Explikation:

22 

Quinn, Letter, 177 f. Oberlinner, Titus, 160; ähnlich Löning, Gnade, 242–244. 24  Vgl. Tit 2,15; weiterhin 1 Tim 3,14; 4,6; 6,2; 2 Tim 2,14. 25  Zur Interpretation der Wortverbindung ἀρχαῖς ἐξουσίαις s. u. 23 

»Das ist gut und nützlich für die Menschen« (Tit 3,8) 



Abschließende Weisung:

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(9) Von unsinnigen Diskussionen aber, (von) Stammbäumen, Auseinandersetzungen und Streitereien um das Gesetz halte dich fern, denn sie sind unnütz und vergeblich. (10) Einen auf Spaltung bedachten Menschen weise nach ein oder zwei Zurechtweisungen ab, (11) wenn du zu der Überzeugung gekommen bist, dass ein solcher ganz verstockt ist und sündigt, womit er sich selbst das Urteil spricht.

Die Bedeutung von Loyalität gegenüber staatlicher Macht wird deutlich, wenn man zunächst einmal bedenkt, dass 3,1 als eine Art Überschrift fungiert, die in den folgenden Versen expliziert und begründet wird. Dabei lassen sich zugleich verschiedene Verbindungslinien innerhalb des Textes erkennen. Auffällig ist vor allem die Klammer um die theologisch-christologische Erörterung der V. 3–7 durch das Stichwort »gute Werke« in V. 1 und V. 8. Exemplarisch erläutert V. 2, was positiv damit gemeint ist, während die V. 9–11 dies in negativer Weise aufgreifen. Strukturell werden jedoch die unnützen und vergeblichen Dinge von allem anderen durch die vorgeschaltete Feststellung »dies ist gut und nützlich für die Menschen« (8c) abgegrenzt, in welcher der Begriff ταῦτα den gesamten Argumentationsgang von V. 1–8b umgreift. Die Aussage von der »Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes« wird so bereits strukturell zum entscheidenden Ausgangs- und Bezugspunkt der ethischen Relevanz »guter Werke«, wie sie in V. 8 unmissverständlich zum Ausdruck kommt: Nützlich und gut sind nicht allein die »guten Werke« an und für sich, sondern die guten Werke, die aus dem Vertrauen auf Gottes Heilshandeln heraus getan werden. Warum aber steht diese ethische Konsequenz christlichen Gottesglaubens unter der Überschrift der Unterordnung unter die staatlichen »Mächte (und) Gewalten«? Oder anders gefragt: Welcher Zusammenhang besteht zwischen dieser übergeordneten Perspektive und der Plausibilität guter Werke, die aus dem Glauben erwachsen? Die Interpretation der ungewöhnlichen Verbindung ἀρχαῖς ἐξουσίαις ist umstritten; in D (Zweitkorrektor), dem Mehrheitstext sowie der lateinischen und syrischen Überlieferung wird ein glättendes καί eingefügt bzw. vorausgesetzt. Nach Blass/Debrunner/Rehkopf26 handelt es sich um eine asyndetische Verbindung im Sinne von »den Herrschaften und Mächten«, vgl. dazu etwa Lk 12,11; 20,20; Kol 1,16; 2,15; Eph 3,10; 6,12 (jeweils mit kleineren Unterschieden sprachlicher Art und unterschiedlichem inhaltlichen Bezug). Auch auf die Frage des Sokrates an Alkibiates bei Platon, Alkibiades I 135a–b wird häufig als Parallele verwiesen,27 eine Stelle, die allerdings zur Erklärung der ungewöhnlichen Wortverbindung in Tit 3,1 nichts beiträgt, sondern sie als eine – durchaus nicht unmögliche – sprachliche Nachlässigkeit erscheinen lässt und im übrigen nur die sonst übliche Verwendung der Begriffe im neutestamentlichen Sprachgebrauch unterstützt. Alfons Weiser rechnet wohl zu Recht mit einem »Hendiadyoin« und sieht darin jedwede politische »Obrigkeit, Instanz und Behörde« eingeschlossen.28 Das müsste jedoch vom Kontext her präzisiert werden (s. u.).

26 

Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 460,2. Οὐκοῦν ὡσαύτως ἐν πόλει τε καὶ πάσαις ἀρχαῖς καὶ ἐξουσίαις ἀπολειπομέναις ἀρετῆς ἕπεται τὸ κακῶς πράττειν; Vgl. dazu Weiser, Verantwortung, 39. 28 Ebd. 27 

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Interessanterweise ist die Mahnung zur rechten Haltung gegenüber den herrschenden Autoritäten der Gesellschaft als eine Erinnerung formuliert, als etwas, das »sie« eigentlich schon wissen (ὑπομίμνῃσκε αὐτούς, 3,1). Αὐτούς könnte durchaus auf die ganze Gemeinde bezogen sein,29 da die Aussage allgemein formuliert ist und nicht erkennbar wird, dass nur bestimmte Gruppen im Blick sind. Es wurde aber oben angedeutet, dass vom Kontext her zunächst die Perspektive von 2,1–10 wieder aufgenommen wird. Das Thema des Ungehorsams steht sogar schon seit 1,10 vor Augen (εἰσὶν γὰρ πολλοὶ ἀνυπότακτοι […]), so dass man damit rechnen kann, dass dieses Problem eines der Hauptanliegen des Verfassers ist, wenn er über die verschiedenen Gruppen und deren angemessenes Verhalten sowohl in der Gemeinde als auch in der Welt spricht. Die Eröffnung des Kap. 3 nimmt dieses Thema von Ungehorsam und Gehorsam erneut auf, allerdings mit einer neuen Ausrichtung auf die gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen und das generelle Verhalten der Christen gegenüber ihrer nichtchristlichen Umwelt. Daher muss man nicht, wie Jerome D. Quinn, αὐτούς ausschließlich auf diejenigen beziehen, die in 1,10 im Blick waren (οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς) und es dann in 3,1 sogar mit »these Jewish Christians« wiedergeben.30 Demgegenüber kommt die enge Verknüpfung mit Kap. 2 insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass 2,15  – wie erwähnt – einen Abschluss und Übergang darstellt, nach welchem der Autor in 3,1 dann mit neuer Ausrichtung den Faden der Ermahnung von 2,1–10 wieder aufnimmt. Selbst die Struktur beider Texte ist ähnlich: Auf eine paränetische Passage (2,1–10; vgl. 3,1–2) folgt ein theologisch-christologisches Argument (2,11–14; vgl. 3,3–8).

4.  Die ethische Funktion der Mahnung zum Gehorsam Die Herausforderungen für die im Titusbrief angesprochenen Probleme der Gemeinden gehen in der Hauptsache auf das Agieren von Judenchristen zurück (1,10: »insbesondere die aus der Beschneidung«; vgl. 1,16).31 Sie diskutieren gern über Forderungen des Gesetzes und daher wahrscheinlich auch über die Bedeutung »guter Werke« (vgl. die negative Abweisung der ἔργα τὰ ἐν δικαιοσύνῃ in 3,5), auf die der Autor daher in der Regel polemisch eingeht, indem er die Gegner wahrhaft guter Werke für unfähig hält (vgl. bes. 1,16: πρὸς πᾶν ἔργον ἀγαθὸν ἀδόκιμοι), 29 Vgl.

Oberlinner, Titus, 162. Quinn, Letter, 177. Quinn sieht hierin einen »rhetorical flashback« (a. a. O., 183), nach dem paulinischen Muster, gemäß dem etwa Röm 9,30–10,21 Röm 9 von Röm 10 trennt oder auch 1 Kor 13 zwischen 1 Kor 12 und 14 angeordnet ist. Aber diese Texte haben eine ganz andere Grundstruktur und können daher kaum als rhetorisches Muster für Tit 1–3 dienen. 31  Haufe, Irrlehre, 327, hatte die Gegner der Pastoralbriefe unter Voraussetzung einer einheitlichen Abfassung näherhin als judaisierende Gnostiker bezeichnet, die vornehmlich durch ein exklusiv-enthusiastisches Bewusstsein und spekulativ-allegorische Schriftauslegung gekennzeichnet seien (a. a. O., 328 f., u. a. mit Hinweis auf Tit 3,9). An ein »ausgebildetes gnostisches System« sei jedoch nicht zu denken (a. a. O., 329, vgl. 332 f.). 30 



»Das ist gut und nützlich für die Menschen« (Tit 3,8) 

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diese für die Gemeinde aber umso mehr fordert (3,1.8.14; vgl. 2 Tim 1,9).32 Unklar bleibt, ob die jüdischen Christen die Gemeinde von außen oder innen durcheinander bringen. Weiterhin lässt die Formulierung »insbesondere die aus der Beschneidung« fragen, ob nicht auch Heidenchristen dazuzurechnen sind. Auch diese Frage ist nicht sicher zu entscheiden, gehört aber in den Kontext der Wahrnehmung einer Innen- und Außenperspektive, die für das ethische Argument in Tit 3 bedeutsam ist. Blickt man auf den unterschiedlichen sozialen Status der in 2,1–10 Genannten, so erscheint es zunächst ungewöhnlich, dass alle Mitglieder der Gemeinde an die Unterordnung unter die herrschenden Mächte erinnert werden müssen. Wie erwähnt, besteht auch die Möglichkeit, αὐτούς in 3,1 speziell auf die in 2,1–10 angesprochenen Gruppen zu beziehen.33 In diesem Fall könnten als ἀρχαῖς ἐξουσίαις vorwiegend soziale und gesellschaftliche Hierarchien bzw. gesellschaftlich anerkannte Standards bezeichnet sein, so dass die Loyalitätsforderung nicht speziell auf die Unterordnung unter das kaiserliche Regime und seiner politischen Behörden, sondern auf gesellschaftliche Strukturen in allgemeiner Hinsicht gerichtet wäre.34 Möglicherweise erklärt sich so auch die ungewöhnliche Form der Wendung, ohne Artikel und ohne koordinierende Konjunktion.35 Auf dem Hintergrund der in 32  Vgl. dazu Marshall, Faith, der überzeugend darlegt, dass der Autor damit ein genuin paulinisches Argument präsentiert; vgl. auch Löning, Gnade, 242: Tit 3,1–7 »gehört zu den eindeutigen Beispielen für die Paulusrezeption der Pastoralbriefe«, wobei man hier nicht mit literarischen Abhängigkeiten rechnen muss. Der Vergleich zu Paulus sei insofern interessant, als »Tit 3,5.7 der paulinischen Rechtfertigungslehre inhaltlich nicht wirklich entspricht« (a. a. O., 248), da sich der Bedeutungsgehalt von Paränese und ihrer Begründung verschieben und mit »Werken der Gerechtigkeit« nicht das Erfüllen der Tora gemeint sei (ebd.). »Insofern ist die Soteriologie von Tit 3,3–7 in der Sache nicht paulinisch« (a. a. O., 249). Das allerdings ist angesichts der vorwiegend judenchristlichen Gegnerschaft im Tit (vgl. 1,10 ausdrücklich!) schwerlich überzeugend. Das gilt auch und gerade unter der Annahme der Fiktion, bei der Tit 1,10 umso deutlicher zur Leseanweisung wird. Nur am Rande sei angemerkt, dass dieser gleich zu Beginn des Briefes bedeutsame Sachverhalt nicht dafür spricht, das Hauptanliegen des relativ kurzen Tit in der Frage der Kirchenordnung zu sehen. Dies kann nur unter der nicht überzeugenden Voraussetzung eines einheitlichen Corpus pastorale gelten, und selbst dann sind die Unterschiede zwischen Tit und 1 Tim unübersehbar. Im Tit sind lediglich fünf Verse am Beginn auf die Einsetzung von Ältesten in Kreta bezogen (Tit 1,5–9), um das weiterzuführen, wozu Paulus selbst nicht mehr in der Lage war. Im Unterschied zum 1 Tim wird im Tit offenbar auch nicht zwischen ἐπίσκοπος und πρεσβύτερος unterschieden (Tit 1,7), sondern ἐπίσκοπος dient als nähere Bestimmung der Funktion, die ein Presbyter in der Gemeinde inhaltlich auszufüllen hat. Nach dieser kurzen Information zur Aufgabe des Titus kommt der Autor unmittelbar zu dem eigentlichen Problem, nämlich den unnützen Streitereien und Diskussionen, durch die »Schwätzer und Eingebildete«, die sich einer Unterordnung verweigern, andere durcheinander bringen und verwirren (1,10). 33 Dass die Loyalitätsforderung auch im hellenistischen Judentum verankert ist (vgl. 3 Makk 3,3; Philo, Legat. 147.280; aber auch bereits Prov. 24,21) unterstützt das Argument. Vgl. insbes. zu Philo Delling, Philons Enkomion, bes. 357–362; Niehoff, Philo, bes. 111–136; van der Horst, Philo, 17–34. 34  Vgl. etwa in diesem Sinne Towner, 1–2 Timotheus, 252. 35  Auch wenn dies unter sprachlichen Gesichtspunkten als Asyndeton erklärt werden kann (s. oben), wird der unspezifische und breite inhaltliche Bezugsrahmen durch diese sprachliche Figur verstärkt und muss nicht bloße Nachlässigkeit sein (so etwa Hasler, Briefe, 95).

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

1,10 angesprochenen Auseinandersetzung um das Gesetz wird deutlich, dass diese Probleme offenbar zu einem bestimmten Verhalten geführt haben, das nicht nur die Gemeinde nach innen geschwächt hat, sondern auch in der Gefahr stand, der Gemeinde nach außen hin zu schaden. Zu betonen ist dabei der Aspekt der bestehenden Gefahr, denn dass es tatsächlich bereits staatliche Sanktionen oder massive gesellschaftliche Probleme gegeben hätte, legt der Text nicht nahe. Es ist noch nicht einmal konkret benannt, welche Art von möglichem Ungehorsam der Autor im Blick hat. Entsprechend fällt die Explikation der Loyalitätsforderung in V. 2 aus: »niemanden zu verleumden, friedfertig zu sein, nachsichtig und allen Menschen jede Freundlichkeit zu erweisen«. Diese sehr allgemeine Formulierung unterstützt die Annahme, dass es nicht spezifisch um Unterordnung bzw. Loyalität gegenüber konkreten staatlichen Instanzen und Behörden geht, sondern um das Einfügen in gesellschaftliche Strukturen ganz allgemein, um die Außenwirkung der Gemeinde nicht zu untergraben und ihren Zusammenhalt nach innen nicht zu gefährden.36 Da V. 1 gleichsam als Überschrift fungiert, sind die in V. 2 genannten Tugenden folgerichtig nicht nur auf das Verhalten gegenüber christlichen Glaubensgeschwistern ausgerichtet, sondern gelten selbstverständlich auch im Blick auf das Verhalten der Christen gegenüber Außenstehenden (πρὸς πάντας ἀνθρώπους). Dass der Autor in den V. 3–6 zunächst von der Vergangenheit der Christen ausgeht,37 könnte zu der Schlussfolgerung Anlass geben, dass sich in der Gemeinde mit dem »Vergessen« der eigenen Vergangenheit eine gewisse Arroganz gegenüber Außenstehenden entwickelt hatte, die auch zur Missachtung gesellschaftlicher Konventionen und vielleicht auch staatlicher Behörden geführt und so dem guten Ruf der Gemeinde geschadet hat.38 Angemessen formuliert Victor Hasler: »Nicht von einer ängstlichen oder berechnenden Unterwürfigkeit ist die Rede, sondern vom Einbringen christlicher Normen ins römische Herrschaftssystem.«39 Begriffe wie βλασφημεῖν sind in diesem Zusammenhang nicht eindeutig semantisch bestimmt. Sie können entweder auf das alltägliche, nachbarschaftliche Verhalten hin ausgerichtet sein, aber auch die Art und Weise beschreiben, welche Grundhaltung den Umgang mit Behörden bzw. anderen Menschen insgesamt (auf einen personalen Bezug verweist μηδένα in Tit 3,2) bestimmen soll. Ein Hinweis auf Christenverfolgung, wie ihn Alfons Weiser unter Verweis auf 2 Tim 3,12 annimmt,40 ist in Tit 3 nicht unmittelbar zu erkennen 36  Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die Forderung im Blick auf den Episkopus in 1 Tim 3,7, der bei Außenstehenden in gutem Ruf stehen muss, damit er (und damit eben auch die Gemeinde insgesamt) nicht in Misskredit gerät; vgl. weiterhin die Motivation der Paränese von Tit 2,1–10. Zum Problem van Unnik, Rücksicht. Zur politischen Dimension der Weisung von Tit 3 in ihrem Bezug auf das Leben christlicher Gemeinden in den kretischen Städten vgl. Löning, Epiphanie, 120 f. 37  Zu dieser Grundstruktur des ethischen Arguments vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 66 f., der auf die Parallele zum Einst-Jetzt-Schema in 1 Kor 6,9–11 hinweist und beides als »postbaptismale Mahnrede« kennzeichnet (in Anlehnung an Berger, Formgeschichte, 130–132). 38 Vgl. Haufe, Irrlehre, 332, der dies mit der enthusiastisch-emanzipatorischen Grundhaltung in Verbindung bringt, in der die Gegner »die natürliche Ordnung des Staates verachteten«. 39  Hasler, Briefe, 95. 40  Weiser, Verantwortung, 40.

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und auch sonst im Kontext des Titusbriefes nicht vorausgesetzt. Die Loyalitätsforderung wirkt ja solchen Entwicklungen gerade entgegen bzw. impliziert, dass es so weit erst gar nicht kommen soll. Darüber hinaus ist Tit 3,1a inhaltlich nicht von 3,1b zu trennen, wie Weiser es vornimmt,41 sondern V. 1b steht zu 1a in einem ergänzenden, explikativen Zusammenhang. Gerade angesichts der Herausforderung durch eine nichtchristliche oder gar christenfeindliche politisch-bürgerliche Ordnung ist das Verhältnis der Christen untereinander und zu allen (anderen) Menschen in besonderer Weise auf die Probe gestellt.

Im Sinne dieser Herausforderung argumentiert der Autor mit Blick auf das Rechtfertigungsgeschehen, das nicht auf eigener Gerechtigkeit gründet, sondern auf Gottes Erbarmen zurückzuführen ist (V. 5.7; vgl. 2 Tim 1,9). Dass die »Motivation« Gottes unter den Begriffen Güte und Menschenfreundlichkeit beschrieben wird, korrespondiert der diesem Gotteshandeln entsprechenden Motivation der Glaubenden. Der Autor ruft die Taufe in Erinnerung als jenen Punkt im Leben der Glaubenden, an dem Gott ihnen gegenüber seine Menschenfreundlichkeit in Gestalt seiner Gnade und seines Erbarmens42 erwiesen hat und damit einerseits den Status der Glaubenden vor sich selbst verändert, aber auch ihr Denken und Tun unter die Wirkung des Heiligen Geistes gestellt hat (V. 5c–6). Diese pneumatische Dimension der Rechtfertigung ist entscheidend für das ethische Argument, insofern es die motivierende Kraft christlichen Verhaltens gegenüber allen Menschen deutlich macht, die Gottes eigenem Handeln entspricht und darin seinen Grund hat.43 In einem nächsten Schritt muss weiter danach gefragt werden, welche konkrete Bedeutung der Heilige Geist im Zusammenhang mit der Ermahnung zum Gehorsam hat, von dem festgestellt wird, dass er »reichlich über uns ausgegossen ist durch Jesus Christus, unseren Retter« (6c). Die Antwort liegt bereits in der Argumentation: Gott selbst hat das Leben der Glaubenden aus der Situation der Unvernunft und des Unglaubens (3,3) geführt und sie zu Erben der Hoffung auf ewiges Leben gemacht (3,7). Auch wenn es nicht ausdrücklich benannt ist, so setzt dies doch eine unbedingte Vergebung der Sünden der Vergangenheit voraus. Die daraus resultierende Hoffnung basiert auf der Tatsache, dass Jesus diese vergebende Macht Gottes repräsentiert und daher als Retter (σωτήρ 3,6; vgl. 2,13) des rettenden Gottes (θεοῦ σωτήριος 2,11) bezeichnet werden kann. Nur unter dieser Voraussetzung können auch Gott und Christus zugleich σωτήρ genannt werden, was in 3,4 und 3,6 aufgrund der relativen Nähe der Aussagen besonders auffällig ist.44 41 

A. a. O., 44 f. (V. 5b) und χάρις (V. 7a) stehen daher in enger Beziehung zu χρηστότης und φιλανθρωπία (V. 4); diese sind der äußere, den Menschen zugewandte Ausdruck von Gottes Gnade und Erbarmen. 43  Marshall, Faith, 208, weist zu Recht darauf hin, dass diese Argumentation in besonderer Weise »durch und durch paulinisch« ist. Für Hasler, Epiphanie, 207, hingegen handelt es sich nur um einen »scheinbaren« Bezug zur paulinischen Vorstellung von der Rechtfertigung durch Glauben; Hasler behauptet insbesondere für Tit 3,5 ein »völlig andere[s] Verständnis der Gnade« (a. a. O., 208). 44 Das Verhältnis zwischen Gott und Christus, die in den Pastoralbriefen beide als Retter bezeichnet werden können, ist differenzierter zu beschreiben, als dies hier möglich ist. Unsicher ist in diesem Zusammenhang auch die Lesart σωτήριος in Tit 2,11, die zwar die schwierigere ist, aber 42 ἔλεος

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Gottes menschenfreundliches Handeln aus Gnade zugunsten aller Menschen bereitet also die Basis, auf der alle Glaubenden ihrerseits gegenüber allen Menschen handeln sollen. Einzigartig im Neuen Testament wird Gottes Handeln in Tit 3,4 mit den Begriffen χρηστότης und φιλανθρωπία beschrieben, die zugleich fokussiert werden auf Christus: Er in persona ist bzw. repräsentiert die Erscheinung (ἐπεφάνη) von Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit.45 Auf dem Hintergrund der »Außenperspektive« in V. 1, die auf Loyalität und angemessenes Verhalten innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen ausgerichtet ist, bekommt das folgende theologische Argument mit dem Wortfeld »Güte«, »Freundlichkeit«, »Retter« und »erscheinen« aber auch eine gewisse subversive Intention. Es ist immer wieder zu Recht darauf hingewiesen worden, dass dieses Begriffsfeld eine spezifische Rolle in der Sprache des römischen Imperiums für die Beschreibung der Haltung des Kaisers dem Volk gegenüber spielten,46 insbesondere hinsichtlich des semantischen Zusammenhanges von ἐπιφάνεια und σωτήρ/σωτηρία.47 Von Gott in dieser Weise zu sprechen birgt die Gefahr, die Herrschaft des Kaisers zu untergraben, kann zugleich aber auch die Forderung nach Loyalität unterstützen, weil für Christen die Autorität Gottes die Macht des Kaisers wie aller gesellschaftlichen Instanzen und Strukturen übersteigt. Im Blick auf die Frage nach der Loyalität ist damit die Macht im Sinaiticus nur vom zweiten Korrektor bezeugt ist, daneben jedoch von A, C*, D* u. a. Ursprünglich liest der Sinaiticus σωτήρος, was wiederum als Angleichung an den sonstigen Gebrauch des Titels in den Pastoralbriefen verstanden werden könnte. 45 Vgl. Oberlinner, Epiphaneia, der insbesondere das Zusammenspiel von gegenwärtiger und zukünftiger Perspektive der Epiphanie-Vorstellung hervorhebt (bes. a. a. O., 200–203). Oberlinner bezeichnet die Christologie der Pastoralbriefe insgesamt als »Epiphaniechristologie« (a. a. O., 211 f.; im Anschluss an Pax, Epiphaneia, sowie Lührmann, Epiphaneia). Zum Zusammenhang von Epiphanie und Christologie vgl. auch Hasler, Epiphanie. Nach Hasler entwirft der Verfasser der Pastoralbriefe »eine eigenständige Offenbarungstheologie«, der »die Christologie so eingeordnet (wird), dass sie ihre soteriologische Selbständigkeit verliert und lediglich eine funktionale Rolle in einem Heilssystem erfüllt, das ganz dem Epiphanieschema verpflichtet ist und die Transzendenz Gottes bewahrt« (a. a. O., 197). Diese eher negative Bestimmung des Verhältnisses von Epiphanie und Christologie wird dem komplexen Befund in den Pastoralbriefen, insbesondere in Tit 3, nicht gerecht. Die wesentlichen Begründungszusammenhänge für diese These gewinnt Hasler primär aus dem 1 Tim. Zum religions- und traditionsgeschichtlichen Hintergrund antiker Epiphanievorstellungen vgl. den Überblick bei Lührmann, a. a. O., sowie neuerdings Frenschkowski, Offenbarung. 46  Vgl. bes. Spicq, Philanthropie, bes. 181–190, mit der abschließenden Feststellung: »Cette ›épiphanie‹ est celle du ›Roi des Rois‹ (I Tim. VI,15), c’est-à-dire du seul vrai Dieu (I Tim. I,17) dont la providence eclipse celle des souveraines terrestres« (a. a. O., 190). Neben Tit 3,4 findet sich das Begriffsfeld φιλανθρωπία κτλ. im Neuen Testament nur noch in Apg 27,13 und 28,2 als menschliche Tugend. Vgl. ferner Le Déaut, ΦΙΛΑΝΘΡΩΠΙΑ; Oberlinner, Epiphaneia, 197 f.; Wolter, Pastoralbriefe, 67 f. Anm. 4. 47 Vgl. Lührmann, Epiphaneia, 189–193: ἐπιφάνεια ist primär das rettende Eingreifen der Götter zugunsten der Menschen. Lührmann betont, dass »(d)ie religiöse Verwendung des Wortes […] nichts mit dem Herrscherkult zu tun (hat), ἐπιφάνεια ist nicht Synonymon zu παρουσία« (a. a. O., 191). Doch die Belege bei Deissmann, Licht, 318 Anm. 4 sowie 320, legen  – trotz der Kritik Lührmanns – nach wie vor nahe, dass es hier eine semantische Breite in der Verwendung des Begriffes ἐπιφάνεια gegeben hat, der gerade im Kontext des Herrscherkultes dem der παρουσία nahe steht (vgl. in anderem Zusammenhang auch 2 Thess 2,8).



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des Kaisers und der von seiner Macht bestimmten gesellschaftlichen Strukturen mit Gottes Autorität in ein angemessenes Verhältnis zu setzen, und nur unter der Voraussetzung und Anerkennung von Gottes Autorität kann Loyalität dem Staat und der Gesellschaft gegenüber eingefordert werden. Aus dieser Perspektive korrespondiert die von den Glaubenden erwartete »Freundlichkeit gegenüber allen Menschen« (3,2) mit Gottes »Güte und Menschenfreundlichkeit« (3,4).48 Gottes Güte ist es, die die Vergangenheit der Menschen »bewältigt«, indem er ihnen seine Gnade gewährt und dadurch neue Lebensperspektiven eröffnet. Der so geistlich »Neugeborene« (3,5) soll daher seinerseits entsprechend leben. Freundlichkeit beinhaltet in diesem Zusammenhang primär das Eröffnen neuer, hoffnungsvoller Lebensmöglichkeiten trotz einer Vergangenheit, die beladen ist mit lebens- und beziehungszerstörendem Verhalten. Das Wirken des Heiligen Geistes ist daher als die Kraft zu verstehen, die es dem Glaubenden ermöglicht, Gottes Handeln im eigenen Handeln anderen Menschen gegenüber zu entsprechen. Um es aus der eingangs beschriebenen Perspektive zu formulieren: Es ist Gottes guter Geist, der es möglich macht, die belastete und belastende Vergangenheit in einer für Christen angemessenen Weise zu »bewältigen«, indem sie zuerst von Gott »bewältigt« wird. Und dies ist in der Tat – so das abschließende Resümee in V. 8 – »gut und nützlich für die Menschen«. Wie oben erwähnt, wurde diese Art der ethischen Argumentation als Ausdruck eines »bürgerlichen Christentums« verstanden, womit ursprünglich die Vorstellung eines entwickelten, etablierten und an die Gesellschaft assimilierten Status der christlichen Gemeinde impliziert war, der sich von der Dynamik paulinischer Ethik weit entfernt hat.49 Doch ist es genau diese »bürgerliche« Dimension des christlichen Glaubens innerhalb einer nichtchristlichen Gesellschaft, die den Kern des ethischen Arguments ausmacht und kaum als Hinweis auf einen späteren Status eines »assimilierten Christentums« aufzufassen ist. Es ist diese »bürgerliche« Dimension, die bereits Paulus auf unterschiedliche Weise zur Sprache bringt.50 Von Anfang an hatten die christlichen Gemeinden nicht nur mit ihren inneren Strukturen und Auseinandersetzungen zu kämpfen, sondern dabei stets auch die Erscheinung der Gemeinde gegenüber Außenstehenden bzw. der Gesellschaft zu reflektieren.

48  Zwischen χρηστότης und φιλανθρωπία ist kein erkennbarer Unterschied. Beide Begriffe sollten als Hendiadyoin verstanden werden, gleichsam als zwei Seiten einer Medaille; zum Gebrauch von χρηστότης vgl. z. B. Röm 2,4; 11,22 (χρηστότης bezogen auf Gott, vgl. Eph 2,7) sowie 2 Kor 6,6; Gal 5,22; Kol 3,12 (χρηστότης bezogen auf die Glaubenden, negativ auch Röm 3,12). Die Ergänzung φιλανθρωπία in Tit 3,4 könnte durch den spezifischen Kontext veranlasst sein, in dem es um Loyalität in der Gesellschaft geht. 49 Vgl. Löning, Epiphanie, 107–109.117–124, der diese Charakterisierung »grundsätzlich« (a. a. O., 107) bestreitet und damit auch positive Interpretationsversuche des Begriffes »Bürgerlichkeit«, wie etwa bei Schwarz, Christentum, »grundsätzlich« für verfehlt hält (Löning, a. a. O., 107 Anm. 5). 50  Neben Röm 13,1–7 vgl. z. B. 1 Kor 5,1; 6,1; 7,17–24; 8,10; 11,2–16; 1 Thess 4,9–12 u. a.

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5.  Hermeneutische Überlegungen An dieser Stelle soll zum Ausgangspunkt zurückgekehrt werden, denn es ging nicht primär um eine detaillierte Exegese von Tit 3, sondern um die Frage, wie ein solcher Text unter hermeneutischen Gesichtspunkten für aktuelle ethische Fragestellungen wie diejenigen im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des DDR-Regimes »lesbar« gemacht werden kann. Aus meiner auch persönlich involvierten Sicht gibt es im Wesentlichen zwei Aspekte einer möglichen Antwort. Im Blick auf die Frage nach der Loyalität gegenüber staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen sowie deren offiziellen Institutionen, ausgedrückt durch die Forderung nach Gehorsam, ist der eine Aspekt bezogen auf das je eigene Verhalten gegenüber einem verständnislosen oder gar unterdrückenden Regime. Interessanterweise versteht Tit 3  – anders als Röm 13  – die Autorität von Staat und Gesellschaft nicht ausdrücklich als von Gott gegeben und daher theologisch fraglos legitimiert. Doch gerade deshalb darf die Forderung nach Gehorsam nicht als blinde Unterwerfung verstanden werden, sondern erhält klare Grenzen. Die wichtigste in diesem Kontext scheint die schlichteste zu sein: »niemanden zu verleumden« (3,2). Die weiteren Charakteristika bleiben in ihrer Intention darauf bezogen und sind als solche bekannt aus der hellenistischen Moralphilosophie.51 Dennoch hört man hinter ihnen auf dem Hintergrund der biblischen Tradition in erster Linie das achte Gebot. In Tit 3 jedoch ist die Intention sehr viel allgemeiner und geht daher auch über das Gebot hinaus: βλασφημεῖν hat hier den Unterton des Anschwärzens, der Bezichtigung eines gesellschaftsfeindlichen Verhaltens oder einer Einstellung, wodurch dem anderen Schaden zugefügt wird. So weit darf auch die Loyalität gegenüber staatlichen und gesellschaftlichen Machtinstanzen nicht gehen, sondern würde aus christlicher Sicht im Gegenteil die Grenzen der Loyalität klar überschreiten.52 Der zweite Aspekt einer Antwort auf die oben gestellte Frage liegt eher auf einer persönlichen Ebene, die jedem Christen und jeder Christin von Tit 3,4–7 her vor Augen steht. Man kann – wie Tit 3,1 – Loyalität in ganz umfassender und genereller Weise fordern. Individuell hingegen gestalten sich diese Dinge auch für Christen oft sehr viel komplizierter, als eine ethisch-theologische Argumentation erfassen kann, so dass der zweite Aspekt der Frage nach Loyalität den persönlichen Umgang mit Versagen und Sünde betrifft. Es mag zunächst ein Unterschied sein, ob von Christen die Rede ist, die die Grenzen der Loyalität überschritten haben oder von Nichtchristen, für die es solche christlich begründeten Grenzen nicht gab.53 Doch 51 Vgl.

Malherbe, Moralists. Vgl. dazu etwa Krötke, Mußte die Kirche mit der Stasi reden? 53 In einem »offenen Brief« an einen Pfarrer der DDR schrieb Karl Barth 1958 über die Situation in Ostdeutschland und Loyalität: »›Loyalität‹ dieser Ordnung gegenüber heißt (ich habe beim Folgenden die Stelle Röm. 13 vor Augen, aber durchaus auch mein eigenes Verhältnis zu der in ihrer Verfassung erklärten Ordnung der Schweizerischen Eidgenossenschaft!) ehrliche Willigkeit, ihren Bestand zu anerkennen und sich ihr – vielleicht unter Voraussetzung, aber unter praktischer Zurückstellung gewisser Bedenken (angesichts der ihr ›inhärierenden Gefahren‹) – einzuordnen. ›Loyalität‹ heißt nicht: Gutheißung der dieser Ordnung zugrunde liegenden Ideologie. Und 52 



»Das ist gut und nützlich für die Menschen« (Tit 3,8) 

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für Christen, die auf so unterschiedliche Weise unter einem totalitären Regime gelitten haben, ausgelöst durch die Bezichtigung, die »Blasphemie« anderer, ist die ethische Forderung der Schrift klar verbunden mit dem Glauben an Gottes vergebenden und rettenden Willen allen Menschen gegenüber. Das geht deutlich über die Forderung nach menschlicher Gerechtigkeit hinaus, obwohl dies dadurch keineswegs ausgeschlossen ist. Doch Christen, die Texte wie Tit 3 für sich und ihren Glauben ernst nehmen, sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass Rechtsprechung im juristischen Sinne nicht identisch ist mit Gerechtigkeit im theologischen Sinn, von Vergebung der Sünden und Versöhnung untereinander ganz zu schweigen.54 Der Durchgang durch Tit 3 als einer der drei zentralen neutestamentlichen Stellen, die eine Unterordnung der Christen unter staatliche und gesellschaftliche Strukturen fordern, macht auf ganz eigene Weise deutlich, wie sehr Christen im Fragen nach ethischen Normen in einer Welt der Gottesvergessenheit55 durch die biblische Tradition herausgefordert sind. Der Versuch, ethische Normen oder besser: Wege ethischen Handelns für die Bewältigung von Problemen der Gegenwart aus der biblischen Tradition zu begründen, wird über alle exegetische Bemühung hinaus immer auch eine persönliche Herausforderung bleiben, Gottes Menschenfreundlichkeit allen Menschen gegenüber in konkretes Handeln umzusetzen. Die Pragmatik der biblischen Feststellung: »Das ist nützlich und gut für die Menschen« (Tit 3,8) bleibt auch im Blick auf die erörterten Fragestellungen der Gegenwart aktuell und ermutigend.

›Loyalität‹ heißt nicht: Gutheißung aller und jeder Maßnahmen der faktischen Träger und Repräsentanten dieser Ordnung. ›Loyalität‹ schließt den Vorbehalt der Gedankenfreiheit gegenüber der Ideologie, aber auch den Vorbehalt des Widerspruchs, eventuell des Widerstandes gegen bestimmte Explikationen und Applikationen einer vorgegebenen Staatsordnung in sich. Es gibt auch so etwas wie eine loyale Opposition. ›Loyal‹ gegenüber einer vorgegebenen Staatsordnung ist und verhält sich der, der deren Gültigkeit und Maßgeblichkeit auch für sich anerkennt und entschlossen ist, sich in den Grenzen des ihm innerlich und äußerlich Möglichen an sie zu halten. – Ich würde an Ihrer Stelle keine Schwierigkeit sehen, der DDR in diesem Sinne Loyalität entgegenzubringen und also die von Ihnen gewünschte Erklärung wahrheitsgemäß abzugeben« (Barth, Offene Briefe, hg. von D. Koch, 429). Die »Erklärung« bezieht sich auf eine Loyalitätsbekundung, die das DDR-Regime in den 1950er Jahren von der Kirche erwartete. Vgl. auch Besier, Brief. Besier macht deutlich, dass Barths Auffassung von Loyalität keineswegs unumstritten war. Vgl. ebenfalls Krötke, Perspektiven, bes. 128 f. 54  Vgl. dazu z. B. Krötke, Sündenerkenntnis; Zehner, Forum, 34–36 und 437–439. Zehner versteht in diesem Zusammenhang Vergebung als ein »sakramentales Zeichen«, das auch Nichtchristen als Teil des Prozesses einschließt: »Zwischenmenschliches Vergeben trägt eine Verheißung, die auch außerhalb des Raums der Kirche gilt und wirksam wird. Wir hatten festgestellt, daß Vergeben auch eine menschliche Möglichkeit ist. Auch Menschen, die keine Christen sind, können vergeben. Freilich wissen sie nicht von der Verheißung, und sie sind nicht im Glauben getragen von Gottes vorgängiger Vergebung. Für Christen ist zwischenmenschliches Vergeben, wie Luther sagt, ein ›Zeichen, unser Gewissen zu stärken und fröhlich zu machen‹, weil das Vergeben in der Welt an Gottes Heilshandeln erinnert. Dieses sakramentale Zeichen ist aber nicht notwendig an den Glauben gebunden« (a. a. O., 337). 55  Zu diesem von Friedrich Schleiermacher geprägten Begriff vgl. Krötke, Piety, bes. 137–141; ders., Klarheiten, 7 f.12–14.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

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Titus 3,1–15: Gottes Menschenfreundlichkeit und die ethische Relevanz christlicher Hoffnung 1. Vorbemerkung Vor der exegetischen Erörterung des dritten Kapitels des Titusbriefes und der Darstellung thematischer Schwerpunkte sind einige kurze Hinweise erforderlich, um die Voraussetzungen für die folgenden Ausführungen deutlich zu machen. Der verbreiteten Auffassung, die Pastoralbriefe seien als ein dreiteiliges literarisches Briefkorpus entstanden, stehe ich zunehmend skeptisch gegenüber. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass die in der Forschung etablierte Theorie eines literarischen Corpus pastorale1 letztlich nicht leisten konnte, was man damit verbunden hat. Die Fragen, die diese Theorie aufwirft sowie die vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Interpretationen der Pastoralbriefe, die von ihr ausgehen, lassen berechtigte Zweifel aufkommen, dass auf dieser Grundlage ein angemessenes Verständnis der drei Pastoralbriefe möglich ist. Im Laufe der exegetischen Arbeit an den Pastoralbriefe hat sich vielmehr immer deutlicher nahe gelegt, die drei Briefe als einzelne Schreiben anzusehen, deren literarische Gestalt und deren Inhalte nicht jeweils mit einem Blick auf alle drei Schreiben zu einem kohärenten Gesamtbild zusammengesetzt werden können, sondern je für sich in unterschiedlichen Briefsituationen und -konstellationen verankert werden müssen.2 Damit ist nicht behauptet, dass es keine Verbindungen zwischen den Briefen gibt bzw. sie nicht aufeinander bezogen sind, aber die Frage, wie diese Beziehungen zu beschreiben sind, lässt sich durch die Korpus-Theorie nicht zufriedenstellend beantworten.3 Diese Frage im Einzelnen zu erörtern und zu begründen ist hier nicht der Ort; exemplarisch ist dies bereits an anderer Stelle geschehen.4 Unter diesen Voraussetzungen wird aber die bei der Auslegung der Pastoralbriefe stets gegenwärtige Frage nach der Autorschaft in der üblichen Alternative »echt oder unecht« obsolet, insofern beide Perspektiven (in der Regel) stets vor dem Problem stehen, alle drei Briefe einem Autor und einem Entstehungs- und Rezeptionszusammenhang zuschreiben zu müssen.5 Die Unterscheidung in Einzelbriefe eröffnet daher auch in der für die Auslegung keinesfalls 1 

Vgl. exemplarisch Trummer, Corpus; von Lips, Sprachschöpfung. den forschungsgeschichtlichen und sachlichen Problemen vgl. Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76). Die Theorie eines Corpus pastorale wird von Engelmann, Untersuchungen, einer substantiellen Kritik unterzogen. 3  Vgl. dazu jetzt die Dissertation von Luttenberger, Prophetenmantel. 4 Vgl. Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76); weiterhin ders., Abschied (in diesem Band 11–30); ders., Mythos (in diesem Band 77–97), u. a. 5  Ausnahmen z. B. Richards, Difference, der jeden Brief einem unterschiedlichen Autor in unterschiedlichen Epochen in der zweiten Hälfte des 1. Jh.s n. Chr. bzw. um die Wende zum 2 Zu

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

irrelevante Autorfrage Verstehens- und Interpretationsmöglichkeiten, die über bisherige Versuche etwa im Blick auf den 2. Timotheusbrief hinausgehen.6 Sicherheit ist in dieser Frage ohnehin nicht zu erreichen, so dass methodische Vorsicht in der Interpretation von großer Bedeutung ist. In der folgenden Darstellung wird versucht, das dritte Kapitel des Titusbriefes in seinem briefinternen Kontext zu interpretieren, um das eigene theologische und epistolographische Profil herauszuarbeiten, ohne vorschnell die beiden anderen Briefe für die Position und theologische Argumentation des Titusbriefes zu vereinnahmen. Dazu wird zunächst die Grundstruktur des Textes erläutert (2.) und anschließend der Text abschnittweise exegetisch erschlossen (3.). Im 4. Teil werden drei thematische Aspekte unter den Überschriften Die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes und das Problem der imperialen Macht (4.1), Die Epiphanie des »Retter-Gottes« und die Hoffnung der Glaubenden (4.2) sowie Christsein und weltliche Herrschaftsstrukturen  – das Problem der innerneutestamentlichen Intertextualität (4.3) in Konzentration auf wesentliche Punkte ausführlicher dargestellt und schließlich der Schlussabschnitt Tit 3,12–15 als situativer Rahmen des Briefes interpretiert (4.4).

2.  Die Grundstruktur von Titus 3 im Briefkontext Im dritten Kapitel des Titusbriefes beenden die Verse 1–11 den argumentativen Hauptteil des Briefes, bevor V. 12–15 mit persönlichen Angaben und Grüßen den Brief insgesamt abschließen. Tit 3,1–11 lässt sich noch präziser strukturieren, wobei die Abgrenzung der einzelnen Abschnitte umstritten ist und eine Reihe verschiedener Gliederungsvorschläge vorliegt. Bereits die Abgrenzung zu Kapitel 2 ist insofern problematisch, als im Blick auf 2,15 nicht eindeutig bestimmt werden kann, worauf sich die Aufforderung zum Reden und Ermahnen und somit das einleitende ταῦτα bezieht: zurück auf die komprimierten und bekenntnisartigen Aussagen von 2,11– 147 oder gar auf das gesamte Kapitel 2 oder nach vorn auf die folgenden Aussagen in Kapitel 3. Jerome Quinn etwa zieht 2,15 mit 3,1–2 zusammen, gesteht jedoch zu, dass es sich unter dieser Voraussetzung in 3,1 um eine »abrupt transition« handele.8 Doch 2,15 lässt sich sinnvoll als Teilabschluss der Argumentation von Kapitel 2 verstehen, was durch die auffällige Korrespondenz von 2,1 (σὺ δὲ λάλει) und 2,15 (ταῦτα λάλει) sowie durch die dadurch entstehende Rahmung nahegelegt wird. Tit 3,1 setzt daher mit αὐτούς einen deutlichen Neuanfang, der sich auf die in 2. Jh. zuweist, sowie Engelmann, Untersuchungen, die den rezeptionellen Character des Corpus pastorale begründet. 6  Vgl. z. B. Prior, Paul; Murphy-O’Connor, 2 Timothy. 7  Vgl. dazu etwa von Lips, Haustafel, 270. Nach Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 5, stellt die Ermahnung an die verschiedenen Gruppen der Gemeinde in Tit 2,1–10 das »Herz« des Briefes dar. Zu Tit 2,1–15 als »Zentral-Abschnitt« vgl. Löning, Epiphanie, 119–124. 8  Quinn, Letter, 177 f.

Titus 3,1–15: Gottes Menschenfreundlichkeit



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Kapitel 2 angesprochenen Gruppen bezieht. Das Stichwort ὑποτάσσεσθαι nimmt den Duktus der Ermahnung von 2,1–10 wieder auf (vgl. 2,5.9). Während allerdings die christologische Begründung der Ermahnungen von 2,1–10 in 2,11–15 auf den erzieherischen Aspekt der Erscheinung von Gottes Gnade in Form der Hingabe Christi verweist (2,11 f.), erfährt die Mahnung hinsichtlich des Verhaltens gegenüber der Obrigkeit in 3,1–3 eine eigene theologische Untermauerung durch den Hinweis auf die Erscheinung von Güte (χρηστότης) und Menschenfreundlichkeit (φιλανθρωπία) Gottes (3,4). Innerhalb des Abschnitts 3,1–11 ist zudem 3,1–8 als eine erste Sinneinheit zu verstehen, die in V. 8 mit einer rückbezogenen πιστὸς-ὁ-λόγος-Formel abgeschlossen wird. Lorenz Oberlinner hingegen grenzt nur 3,1–7 als Einheit ab und zieht V. 8 zum nächsten Abschnitt,9 was allerdings dem primär abschließenden und auf Vorangehendes verweisenden Charakter des ταῦτα-Satzes in V. 8c nicht vollständig gerecht wird, der darin der ebenfalls rückbezogenen ταῦτα-Formulierung in 2,15 entspricht.10 Demgegenüber lässt 3,1–8 eine plausible argumentative Struktur erkennen, die nicht zuletzt durch das Stichwort der »guten Werke« in V. 1 und V. 8 gerahmt wird. Die V. 9–11 schließen an diesen Abschnitt sachlich an, indem der Nützlichkeit der mit dem christlichen Bekenntnis begründeten Unterordnung unter die imperiale Ordnung (V. 8c) solche Verhaltensweisen gegenübergestellt werden, die diesem Anliegen zuwiderlaufen. Konkret spielt dabei offenbar die Streitsucht eine herausragende Rolle, durch die Spaltungen in der Gemeinde drohen.11

3.  Exegetische Erschließung des Textes 3.1  Tit 3,1–8: Weltliche Herrschaft und Gottes Menschenfreundlichkeit Die Bedeutung von Loyalität gegenüber weltlicher Herrschaft für die ethischen Weisungen des Titusbriefes wird daran erkennbar, dass 3,1 als eine Art Überschrift fungiert, die in den folgenden Versen expliziert und mit einem Bekenntnistext begründet wird. Dabei lassen sich zugleich verschiedene Verbindungslinien innerhalb des Textes erkennen. Auffällig ist vor allem die Klammer um die theologischchristologische Erörterung der V. 3–7 durch das Stichwort »gute Werke« in V. 1 und V. 8. Exemplarisch erläutert V. 2, was positiv damit gemeint ist, während die V. 9–11 dies in negativer Weise aufgreifen. Strukturell werden jedoch die »unnützen und vergeblichen« Dinge (3,9c) von allem anderen durch die vorgeschaltete Feststellung »dies ist gut und nützlich für die Menschen« (8c) abgegrenzt, in welcher das Demonstrativpronomen ταῦτα den gesamten Argumentationsgang von V. 1–8b 9 

Oberlinner, Titus, 160; ähnlich Löning, Gnade. Vgl. weiterhin 1 Tim 3,14; 4,6; 6,2; 2 Tim 2,14. 11 Zur Auslegung von Tit 3,1–11 vgl. bereits Herzer, Menschenfreundlichkeit Gottes (in diesem Band 407–424; vgl. engl. ders., Kindness of God). 10 

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

umgreift. Die Aussage von der »Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes« wird so bereits strukturell zum entscheidenden Ausgangs- und Bezugspunkt der ethischen Relevanz »guter Werke«, die ihrerseits die Unterordnung unter die gegebenen Strukturen zur Voraussetzung hat. Diese Relevanz der guten Werke wird in V. 8 unter pragmatischem Gesichtspunkt aufgegriffen: Die unter den gegebenen Voraussetzungen getanen »guten Werke« sind »nützlich und gut«, aber sie sind dies nicht an und für sich, sondern nur insofern, als sie aus dem Vertrauen auf Gottes Heilshandeln heraus getan werden. V. 1: Die Einleitung mit der Aufforderung zur »Erinnerung« unterstreicht den abschließenden Charakter des Abschnittes. Gegenstand der Erinnerung ist nicht nur die Unterordnung unter die Führungsmächte, sondern neben den allgemeinen ethischen Weisungen von 1b–2 sind dies ebenso die Darstellung der Verfehlungen der Vergangenheit (V. 3) wie auch die erneute und ausführlichere Beschreibung des Heilsgeschehens (V. 4–7). Der zusammenfassende Charakter von 3,1–8 wird darüber hinaus durch den allgemeinen Duktus der Mahnungen sowie durch die Aufnahme einiger Stichworte aus Kapitel 2 nahegelegt, insbesondere das der »guten Werke« in V. 1 und 9 (vgl. 2,14: das von Gott gereinigte Volk als ζηλωτὴς καλῶν ἔργων). Dabei werden nicht konkrete ἔργα benannt, sondern eine grundlegende Haltung beschrieben, an der die »Qualität« der Werke erkennbar ist bzw. sich deren positiver Charakter zeigt. Ein innerhalb der paulinischen Tradition mögliches Missverständnis im Blick auf das Verhältnis von »guten Werken« und der Rechtfertigung aus Gnade wird in V. 5 ausdrücklich reflektiert. Dabei rückt das Motiv der Erscheinung Gottes in den Blick, die Ausgangspunkt des Rettungsgeschehens ist. Der mit αὐτούς scheinbar konkrete Verweis auf einen bestimmten Personenkreis markiert einen Neueinsatz, dessen Bezug nicht klar ist. Die Mahnung zur Unterordnung ist als Erinnerung formuliert, so dass vorausgesetzt ist, dass »sie« dies eigentlich schon wissen.12 αὐτούς könnte daher durchaus auf die ganze Gemeinde bezogen sein,13 da die Aussage allgemein formuliert ist und nicht erkennbar wird, dass nur bestimmte Gruppen oder einzelne Personen im Blick sind. Wird vom Kontext her zunächst die Perspektive von 2,1–10 wieder aufgenommen, so steht doch das Thema des Ungehorsams seit 1,10 vor Augen (εἰσὶν γὰρ πολλοὶ ἀνυπότακτοι […]). Man kann daher davon ausgehen, dass das hier beschriebene Problem eines der Hauptanliegen des Verfassers ist und er über die verschiedenen Gruppen und deren angemessenes Verhalten sowohl in der Gemeinde als auch in der Welt spricht, so dass mit αὐτούς nicht nur der in 1,10 gemeinte Personenkreis (μάλιστα οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς),14 sondern alle aufgeführten Gruppen der Gemeinde angesprochen sind.15 12  Merz, Selbstauslegung, 236, sieht darin eine explizite »Aufforderung zur Erinnerung auf (sic) entsprechende frühere Äußerungen des vorgeblich selben Verfassers […], womit die fingierte Selbstreferenz auf Röm 13,1 ff. als zuverlässig markiert gelten kann«; dazu s. u. Abschnitt 4.3. 13 Vgl. Oberlinner, Titus, 162 f. 14 Vgl. Quinn, Letter, 177, der αὐτούς in Tit 3,1 sogar mit »these Jewish Christians« wiedergibt. Quinn sieht hierin einen »rhetorical flashback« (a. a. O., 183), nach dem paulinischen Muster,



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Unter dem Gesichtspunkt der Erinnerung ist zu klären, worauf sich die Unterordnung unter die »Herrschaftsmächte« (ἀρχαῖς ἐξουσίαις) bezieht. Ungewöhnlich an der Wendung ἀρχαῖς ἐξουσίαις ist das Fehlen eines verbindenden καί, wie es an vergleichbaren Stellen selbstverständlich zu sein scheint, vgl. Lk 12,11; 20,20; Kol 2,10.15; Eph 3,10 (jeweils mit kleineren Unterschieden sprachlicher Art und unterschiedlichem inhaltlichen Bezug). In Codex D (Zweitkorrektor), dem Mehrheitstext sowie der lateinischen und syrischen Überlieferung wird daher in Tit 3,1 ein glättendes καί eingefügt bzw. vorausgesetzt. Nach Blass/Debrunner/Rehkopf handelt es sich bei der Wendung ἀρχαῖς ἐξουσίαις um eine asyndetische Verbindung im Sinne von »den Herrschaften und Mächten«.16 Als Parallele dazu wird gelegentlich auf die Frage des Sokrates an Alkibiades bei Platon, Alkibiades I 135a–b, verwiesen,17 eine Stelle, die allerdings zur Erklärung der ungewöhnlichen Wortverbindung in Tit 3,1 nichts beiträgt, sondern sie als eine – durchaus nicht unmögliche  – sprachliche Nachlässigkeit erscheinen lässt18 und im Übrigen nur die sonst übliche Verwendung der Begriffe im neutestamentlichen Sprachgebrauch unterstützt. Alfons Weiser rechnet daher wohl zu Recht mit einem »Hendiadyoin« und sieht darin jedwede politische »Obrigkeit, Instanz und Behörde« eingeschlossen.19 Da nicht konkret formuliert, ein ausschließlicher Bezug zu politischen Kräften nicht angezeigt ist und – wie Röm 8,38 (für ἀρχαί); Kol 1,16; Eph 3,10 u. a. zeigen – sowohl ἀρχαί als auch ἐξουσίαι andere als politische Mächte bezeichnen können, erscheint die etwas offenere Übersetzung »Herrschaftsmächte« oder auch »Herrschaftsinstanzen« angemessen.20 In 1 Tim 2,1 f. wird diese relativ weite Perspektive ausdrücklich auf die politischen Machthaber konzentriert und damit das in Tit 3,1 sicherlich Gemeinte präzisiert.

Unter der Voraussetzung, dass mit der Unterordnung unter die »Herrschaftsinstanzen« zunächst ein interner Rückverweis innerhalb des Briefes impliziert ist, sowie der Beobachtung, dass keineswegs nur politische »Mächte und Gewalten« mit dem Begriffspaar bezeichnet werden können, lässt sich dies im Kontext des Titusbriefes generell auf zu respektierende gesellschaftliche Strukturen beziehen. Eine Engführung auf die Auseinandersetzung mit imperialen Herrschaftsstrukturen in einem engeren politischen Sinn (etwa mit Blick auf den Kaiserkult) wäre der Formulierung des Textes nicht angemessen, zumal dann vorauszusetzen wäre, dass der Text zu einer positiven Einstellung diesen konkreten politischen Erfordernissen gegenüber auffordern würde. Auf die in der Ermahnung in den Blick genommene gemäß dem etwa der Abschnitt Röm 9,30–10,21 das Kapitel Röm 9 von Röm 10 trennt oder auch 1 Kor 13 zwischen 1 Kor 12 und 14 angeordnet ist. Aber diese Texte haben eine ganz andere Grundstruktur und können daher kaum als rhetorisches Muster für Tit 1–3 dienen. 15  Darin ist 3,1–8 strukturell und inhaltlich mit Kapitel 2 verbunden, vgl. Malherbe, Paraenesis. 16  Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 460,2. 17  Οὐκοῦν ὡσαύτως ἐν πόλει τε καὶ πάσαις ἀρχαῖς καὶ ἐξουσίαις ἀπολειπομέναις ἀρετῆς ἕπεται τὸ κακῶς πράττειν; Vgl. dazu Weiser, Verantwortung, 39. 18 Vgl. Hasler, Briefe, 95. 19  Weiser, Verantwortung, 39. Vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 110: »Behörden und Obrigkeiten«. 20  In diesem Sinne auch Schlatter, Kirche, 199 f. Holtz, Pastoralbriefe 1980, 230, hat vermutet, ἀρχαί sei im Sinne von »dämonisch« zu verstehen, aber das wird durch den Kontext – anders als bei den angegebenen Referenzstellen 1 Kor 15,24 sowie Kol 1,16; 2,15.20 – nicht nahe gelegt.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Gemeinde sind damit vielmehr sowohl innergemeindliche Strukturen (hinsichtlich des Respekts gegenüber den Presbytern bzw. Episkopen, vgl. 1,5–12) wie auch gesellschaftliche Erwartungen (hinsichtlich der Einordnung mit dem Ziel eines unanstößigen, tugendhaften Lebens) gleichermaßen eingeschlossen. Ian Howard Marshall hat hier zu Recht darauf hingewiesen, dass damit ein genuin paulinisches Argument präsentiert wird.21 V. 2: Was »gute Werke« sind, wird nun auf einige wesentliche Aspekte konzentriert, die nicht spezifisch christlich sind, sondern Werte von allgemeiner Gültigkeit repräsentieren. Angemessen formuliert Victor Hasler: »Nicht von einer ängstlichen oder berechnenden Unterwürfigkeit ist die Rede, sondern vom Einbringen christlicher Normen ins römische Herrschaftssystem.«22 Ein Begriff wie βλασφημεῖν ist in diesem Zusammenhang nicht eindeutig semantisch bestimmt. Der intransitive Gebrauch schließt hier einen Bezug auf konkrete Inhalte (wie etwa in Tit 2,5 auf den λόγος τοῦ θεοῦ oder 1 Tim 6,1 auf den Namen Gottes und die διδασκαλία) bzw. gar auf eine Lästerung Gottes aus. Er kann entweder auf konkretes Verhalten hin ausgerichtet sein (vgl. in diesem Sinne 1 Tim 1,20) oder wie hier im Kontext mit anderen Begriffen eine Grundhaltung im Umgang mit gesellschaftlichen Institutionen bzw. anderen Menschen insgesamt (auf einen personalen Bezug verweist μηδένα in Tit 3,2) beschreiben: keine üble Nachrede, Friedfertigkeit, Nachsicht23 und Freundlichkeit gegenüber allen Menschen. Eine ähnliche, im Detail aber unterschiedliche Aspekte benennende Aufzählung findet sich etwa in Kol 3,12 f. Insbesondere die Eigenschaft der πραΰτης (Freundlichkeit, Sanftmut, Demut) benennt die respektvolle und zuvorkommende Zurückhaltung, wie sie Paulus für den gegenseitigen Umgang gelegentlich verwendet (vgl. 1 Kor 4,21; 2 Kor 10,1; Gal 6,1). Obwohl in Tit 3,4 andere Begriffe verwendet werden, weist die Sanftmutsbzw. Freundlichkeitsforderung von V. 2 bereits auf die theologische Begründung mit der Erfahrung der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes voraus. V. 3: An die Liste positiver Haltungen schließt sich ein Lasterkatalog an, der im inklusiven »Wir« auf eine vergangene Zeit zurückblickt. Die Imperfektform des Verbums zeigt die Dauerhaftigkeit bzw. die Nachhaltigkeit der genannten Dinge an. Die inklusive Sprache lässt vermuten, dass die Formulierung implizit auch die Vergangenheit des Paulus einschließt. Die Aussage ist also einerseits geprägt vom sog. »Einst-Jetzt-Schema«,24 korreliert andererseits aber auch mit den biographischen Reflexionen des Paulus. Der Rückblick auf die Vergangenheit vor seiner Offenbarungserfahrung spielt für Paulus immer wieder eine Rolle; es gibt wenige Briefe, 21 Vgl. Marshall, Faith; vgl. auch Löning, Gnade, 242: Tit 3,1–7 »gehört zu den eindeutigen Beispielen für die Paulusrezeption der Pastoralbriefe«, wobei man hier nicht mit literarischen Abhängigkeiten rechnen müsse. Dazu s. u. Abschnitt 4.3. 22  Hasler, Briefe, 95. 23  Die Begriffe ἐπιεικής und ἄμαχος werden in 1 Tim 3,3 auf den Bischof bezogen. 24 Vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 66 f., der insbesondere auf die Parallelität von Tit 3,3–7 und 1 Kor 6,9–11 hinweist, eine literarische Abhängigkeit aber ausschließt und eine gemeinsame Tradition einer »postconversionalen Mahnrede« (a. a. O., 67) annimmt. Allerdings ist zu beachten, dass 1 Kor 6,11 in der 2. Person Plural und somit gerade nicht inklusiv wie Tit 3,3–8 formuliert ist.

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in dem dies nicht in irgendeiner Form zur Sprache käme, nicht zuletzt auch in den Pastoralbriefen (1 Tim 1,12–16).25 Interessant dabei ist, dass der Apostel dafür kein festes »literarisches« Schema entwickelt, sondern immer wieder aktuell reflektiert und formuliert (vgl. Gal 1,13 f.; Phil 3,5–8; 1 Kor 15,9) und oft auch nur einzelne Aspekte andeutet und sie für seine eigene Vergangenheit mit voraussetzt, etwa im Blick auf mangelnde Erkenntnis (2 Kor 4,6; 5,16 f.), unzureichenden Gehorsam (Röm 11,30–32), Sünde und Feindschaft gegen Gott (Röm 3,25 f.; 5,8–11; 6,1–23), Versklavung unter die Weltelemente (Gal 4,3) oder auch Hass und Verfolgung der Gemeinde (Gal 1,13.23). Insbesondere der Aspekt des Neides spielt bei Paulus in den Ermahnungen an seine Gemeinden immer wieder eine Rolle im Blick auf den Umgang miteinander (Gal 5,26; Phil 1,15).26 Nach Röm 1,28–30 sind – neben anderen – insbesondere Bosheit (κακία), Neid (φθόνος), Begehrlichkeit (ἐπιθυμία) und Unverstand (ἀσύνετος/ἀδόκιμος νοῦς – in Tit 3,3: ἀνόητος) Kennzeichen der Gottlosigkeit. Die Absage an die Begehrlichkeiten (ἐπιθυμίαι27), die Folge der Sünde sind (vgl. Röm 7,7 f.), gehört daher zum Grundbestand paulinischer Ethik (vgl. Röm 6,12 als Konsequenz der Taufe; 13,14; Gal 5,16.24; 1 Thess 4,5; Kol 3,5; ferner Eph 2,3; 4,22).28 Der Begriff στυγητός (verabscheut, gehasst) ist Hapax legomenon im Neuen Testament; er findet sich auch nicht in der Septuaginta.29 V. 4: Nach dem Rückblick auf die vorchristliche Vergangenheit erfolgt ein weiterer Blick zurück auf den Wendepunkt, der das bisherige Leben veränderte. Wie in 2,11 zeigt die Aoristform ἐπεφάνη auch hier die Einmaligkeit des Geschehens an. Auch die Aussage selbst hat eine vergleichbare Struktur. War es in 2,11 die rettende Erscheinung der Gnade Gottes, so geht es nun um die Erscheinung der »Güte und Menschenfreundlichkeit« Gottes, der sich dadurch als Retter auszeichnet. Es daher vorauszusetzen, dass in Tit 3,4 die Begriffe χρηστότης und φιλανθρωπία synonym zu χάρις in 2,11 verstanden werden können und somit dieselbe inhaltliche Aussage mit anderen Worten entfaltet wird, zumal beim Abschluss des theologischen Arguments in 3,7 erneut der Begriff χάρις verwendet wird.30 Die terminologische Variation in V. 4 ist daher keineswegs unpaulinisch,31 sondern verdankt sich – trotz 25 

Zur Aufnahme dieses Topos in den Pastoralbriefen vgl. Engelmann, Paulusbilder. Vgl. dazu Böttrich, Anatomie. 27  Der parallele und daher nahezu synonyme Begriff ἡδονή findet sich sonst nicht bei Paulus. In der antiken Literatur vorwiegend stoischer Tradition finden sich zahlreiche Belege über diejenigen, die »den Lüsten dienen« (δουλεύειν ταῖς ἡδοναῖς), vgl. Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein II/2, 1042–1050. 28  Der einzige positive Beleg für ἐπιθυμία ist Phil 1,23. 29  Vgl. aber 1  Clem 35,6; 45,7 ohne erkennbaren Bezug zu Tit 3,3; 1  Clem 35,6 spielt auf Röm 1,32 an. 30  Bei Philo, Mos. 2,242 findet sich die Verbindung χάρις καὶ φιλανθρωπία. Angesichts der zusätzlichen Verwendung von ἔλεος in Tit 3,5 ist interessant, dass nach Hermogenes von Tarsos (ca. 160–220 n. Chr.), περὶ ἰδεῶν λόγου 2,5 der Begriff φιλανθρωπία synonym für ἔλεος bzw. οἰκτιρμός stehen kann. Zugleich korresponidert die in 2,12 ausgesprochene Erwartung der Erscheinung der δόξα Gottes insofern der Vergegenwärtigung der bereits erschienenen Gnade bzw. Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, als Letztere der Grund für jene Hoffnung ist. 31  Brox, Pastoralbriefe, 306, hingegen sieht darin einen Gegensatz. 26 

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

der unterschiedlichen Begrifflichkeit – dem Versuch eines integrativen Anschlusses des theologischen Arguments an die ethische Weisung, die in V. 2 auf den Erweis jeglicher Art von Freundlichkeit der Glaubenden gegenüber allen Menschen hinauslief sowie der Aufnahme des gesamten semantischen Feldes, das durch die enge Verbindung von Begriffen wie Herrschaftsinstanzen, Unterordnen, Gehorsam, Epiphanie, Retter sowie Gnade bzw. Güte und Menschenfreundlichkeit konstituiert wird und dadurch durchaus in gewisser Hinsicht mit der imperialen Sprache Roms korrespondiert. Mit »Güte« und »Menschenfreundlichkeit« werden zwei zunächst menschliche Tugenden, die in besonderer Weise dem Kaiser bzw. den Herrschenden zukamen (s. u. Abschnitt 4.1), auf Gott als dem Retter übertragen. Damit wird nicht nur der Begriff der »Gnade« konkret und anschaulich umschrieben, sondern zugleich die Entsprechung menschlichen Verhaltens zu dieser Zuwendung von Gottes Gnade deutlich gemacht. V. 5–7: Auf die Epiphanieaussage folgt eine konzentrierte Zusammenfassung des Rechtfertigungsgeschehens, das alle wesentlichen Aspekte umfasst und geradezu trinitarisch genannt werden kann: Es ist der erbarmende Gott, der durch die Taufe rettet und durch die Geistvermittlung erneuert  – ein Geschehen, das durch den Retter Jesus Christus möglich ist und dazu führt, dass die Glaubenden gerechtfertigt sind und Erben des ewigen Lebens werden. In einer antithetischen Struktur, die in der Form οὐκ […] ἀλλά für das Genre der Paränese charakteristisch ist,32 wird am Anfang klargestellt, dass dieses Geschehen nicht auf Werken beruht »die wir (bereits) in Gerechtigkeit getan hätten«  – dann wäre ohnehin eine (weitere) Rechtfertigung sinnlos.33 Der Autor spricht hier nicht ausdrücklich von Werken des Gesetzes, wie dies in anderen Zusammenhängen paulinischer Rechtfertigungslehre zu finden ist, sondern lässt den Horizont bewusst offen und somit – ähnlich wie in Röm 1,18–2,16 – die Möglichkeit der Identifizierung für Judenchristen und Heidenchristen durch die Formulierung ἔργα τὰ ἐν δικαιοσύνῃ.34 Demgegenüber wird betont – wie auch sonst Paulus gelegentlich formuliert –, dass Rettung durch Gottes Erbarmen geschieht.35 Damit ist zugleich das Rechtfertigungsgeschehen als 32 

Vgl. dazu Malherbe, Paraenesis, 304. der Formulierung und ihrer logischen Implikation könnte man fragen, ob hier eine persönliche Perspektive des Paulus mitschwingt, der sich wohl nach eigener Einschätzung seiner vorchristlichen Vergangenheit als ein »Gerechter« verstanden hat – κατὰ δικαιοσύνην τὴν ἐν νόμῳ γενόμενος ἄμεμπτος (Phil 3,6). 34 Das weitgehende Fehlen des Begriffes νόμος in den Pastoralbriefen (vgl. aber immerhin die Andeutung in Tit 3,9 [der Begriff νομικός als Berufsbezeichnung in Tit 3,13 hat wahrscheinlich eine andere Semantik, s. u.], sowie die unmissverständlichen Hinweise in 1 Tim 1,7–9; dazu Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 145 f.; Merz, Selbstauslegung, 237 f. mit Anm. 110) zählt zu den Dingen, die gegen eine paulinische Verfasserschaft angeführt werden. Allerdings kann ein solches statistisches Argument kein großes Gewicht haben; νόμος kommt bei Paulus ohnehin nur im Röm, Gal, 1 Kor und Phil vor, mit deutlichem Schwergewicht auf Röm und Gal, d. h. der Apostel kann auch ohne diesen Begriff theologisch argumentieren und verwendet ihn nur dort, wo es auch als Problem zu behandeln ist. Der Tit ist immerhin »nur« an den Heidenchristen Titus geschrieben, dem auch ein fiktiver Paulus solche Zusammenhänge nicht erklären muss wie etwa der authentische Paulus den Galatern oder auch in der Situation, in der er etwa den Röm schreibt. 35  S. u.; vgl. dazu Breytenbach, Der einzige Gott, 49–53. 33  Aufgrund

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Rettungsgeschehen bestimmt, das letztlich die Erbschaft des ewigen Lebens ermöglicht (Tit 3,7). Dies impliziert eine eschatologische Perspektive (vgl. 3,11), in welcher vor dem Hintergrund der paulinischen Tradition »Rettung« die Rettung vor dem Gericht Gottes meint (vgl. Röm 5,9). Klaus Löning hat hervorgehoben, dass »Tit 3,5.7 der paulinischen Rechtfertigungslehre inhaltlich nicht wirklich entspricht«,36 da sich der Bedeutungsgehalt von Paränese und ihrer Begründung verschiebe und mit »Werken der Gerechtigkeit« nicht das Erfüllen der Tora gemeint sei. »Insofern ist die Soteriologie von Tit 3,3–7 in der Sache nicht paulinisch.«37 Das allerdings ist angesichts der vorwiegend judenchristlichen Gegnerschaft im Titusbrief (vgl. 1,10 ausdrücklich!) schwerlich überzeugend. Das gilt auch und vor allem unter der Annahme einer pseud­epigraphischen Fiktion, bei der Tit 1,10 umso deutlicher zur Leseanweisung wird, die auf paulinische Rechtfertigungslehre rekurriert. Umso auffälliger wäre, dass diese nicht mit der Argumentation des Paulus etwa in Röm 3 deckungsgleich ist.

Die konzentrierte Form des Textes macht es nötig, dass die Verknüpfung der einzelnen Satzteile von V. 4–7 sorgfältig nachvollzogen wird. Der mit der temporalen Konjunktion ὅτε einleitenden Epiphanieaussage in V. 4 korrespondiert die Rettungsaussage in V. 5b, d. h. die Rettung liegt auf derselben (punktuellen) Ebene der Vergangenheit und ist somit als Folge der Erscheinung von Gottes Menschenfreundlichkeit definiert. Der V. 5a gibt daher nicht sogleich den Grund für die Rettung an, sondern  – gleichsam als Parenthese  – zunächst dafür, warum Gott sich überhaupt dem Menschen freundlich zuwendet, nämlich κατὰ τὸ αὐτοῦ ἔλεος (vgl. Röm 9,16–18.23; 11,30–32; weiterhin 2 Kor 1,3; 4,1; ferner Eph 2,4).38 Indem Gott seine »Menschenfreundlichkeit« dem Menschen nach seinem (sc. Gottes) eigenen Maßstab des Erbarmens zuwendet, ist es möglich, dass der Mensch gerettet und gerechtfertigt wird, und zwar von Gott selbst vor dessen Gericht. Gottes Erbarmen als Maßstab der Rettung und Rechtfertigung ist damit zugleich als Maßstab des Gerichts bestimmt. Durch die zeitliche Zuordnung zu V. 4 (ἔσωσεν ist wie ἐπεφάνη Aorist) ist diese Rettung als ein Geschehen der Vergangenheit beschrieben, auf das Paulus – gemeinsam mit Titus – zurückblicken kann. Unter der oben beschriebenen Voraussetzung, dass damit eine eschatologische Perspektive impliziert ist, muss man präzisieren, dass die Rettung im Gericht bereits durch die Rechtfertigung vorweggenommen und somit auf Hoffnung hin angelegt ist, wie V. 7 zum Ausdruck bringt (so bereits in Tit 1,2; vgl. zum Zusammenhang von Rettung und Hoffnung auch Röm 8,24; 1 Thess 5,8 f.). Die zeitlichen Strukturen des Textes machen somit deutlich, dass dahinter die Vorstellung vom »Schon und Noch-Nicht« steht, wie sie bei Paulus insbesondere in der Metapher vom »Angeld des Geistes« zum Ausdruck kommt (2 Kor 1,22; 5,5–7; vgl. Eph 1,14; weiterhin Röm 8,14–39). Hierbei ist der Geist die 36 

Löning, Gnade, 248. A. a. O., 249. Vgl. dazu auch Theobald, Israel- und Jerusalem-Vergessenheit; zum Stichwort Israelvergessenheit vgl. auch Frankemölle, Frühjudentum, 315–317. 38  Im 1 Tim 1,2 ist in Anlehnung an 2 Tim 1,2 von Erbarmen nur in der Briefeingangsformel die Rede. Vgl. ferner 2 Tim 1,16–18. 37 

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entscheidende Größe, welche die Glaubenden der eschatologischen Gültigkeit des Heilsgeschehens vergewissert – und eben dieser Geist spielt auch in Tit 3,5 f. eine entscheidende Rolle. Das geistliche Geschehen der Rettung bzw. Rechtfertigung wird in der Taufe konkret. Zu beachten ist, dass die Formulierung »Bad der Wiedergeburt und Erneuerung (durch den) Heiligen Geist« nicht zwei unterschiedliche Dinge benennt, die zeitlich oder logisch aufeinander folgen würden. Die von διά abhängige Genitivkonstruktion legt es vielmehr nahe, »Wiedergeburt« oder »Wiederentstehung«39 und »Erneuerung des Heiligen Geistes« auf λουτρόν zu beziehen: In der Taufe wird die Metapher der Wiedergeburt konkret als Erneuerung durch den Geist verstanden.40 Man könnte daher sogar noch weitergehen und das verbindende καί explikativ verstehen: Die Erneuerung durch den Heiligen Geist ist die Wiedergeburt. Dass auf der Wirkung des Geistes das Schwergewicht der Aussage ruht, wird durch die Fortführung des Gedankens in V. 6 deutlich. Damit korrespondiert auch die Begrifflichkeit: In der Taufe, d. h. in der »Waschung/Reinigung« (so λουτρόν wörtlich) der Wiedergeburt, wird der Geist über die Glaubenden »reichlich ausgegossen«.41 Durch das Adverb πλουσίως wird die Unerschöpflichkeit des Erbarmens Gottes im Geschehen der Geistausgießung zum Ausdruck gebracht, dessen Wirkung hier primär in der Rechtfertigung und damit der Rettung vor dem Gericht sowie der Hoffnung auf die Erbschaft des »ewigen Lebens« besteht.42 Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass sich die Terminologie an dieser Stelle von anderen Äußerungen des Paulus zum Thema Taufe unterscheidet. Während Paulus den Begriff der ἀνακαίνωσις in Röm 12,2 Bezeichnung des Neuwerdens des Lebens im Glauben verwendet (vgl. anders konnotiert in 2 Kor 4,16), findet sich die Metapher vom »Bad der Wiedergeburt/Wiederentstehung« bei Paulus nicht; es kommt aber auch sonst im Neuen Testament nicht vor, so dass man es traditionsgeschichtlich innerhalb der christlichen Tradition nur schwer verorten kann. Während sich der Begriff λουτρόν in einer ähnlichen Wendung in Eph 5,26 findet (Christus reinigt die Gemeinde τῷ λουτρῷ τοῦ ὕδατος ἐν ῥήματι), ist παλιγγενεσία in dieser Form singulär (vgl. lediglich die Vorstellung einer postmortalen Wiedergeburt in Mt 19,2843). In Joh 3,5 ist von der Taufe als »geboren/gezeugt werden von oben« (γεννεθῆναι ἄνωθεν) die Rede, 1 Petr 1,3 spricht von einer Neugeburt aufgrund von Gottes Barmherzigkeit zu einer lebendigen Hoffnung (κατὰ τὸ πολὺ αὐτοῦ ἔλεος ἀναγεννήσας ἡμᾶς εἰς ἐλπίδα ζῶσαν, vgl. auch 1,23), meint damit aber wahrscheinlich nicht die Taufe.44 Für das Verständnis von Tit 3,5 ist hingegen entscheidend, dass mit dem Begriff der παλιγγενεσία die 39 Vgl.

Zimmermann, Wiederentstehung. Anders nuanciert Zimmermann, a. a. O., 275, indem sie die Genitivverbindung πνεύματος ἁγίου sowohl auf παλιγγενεσία als auch auf ἀνακαίνωσις bezieht und übersetzt: »Gott hat uns gerettet durch das Bad der παλιγγενεσία und der Erneuerung, die vom Heiligen Geist ausgehen.« 41 Eine Assoziation von Röm 5,5 ist hier nicht zu vermeiden, wonach Gottes Liebe in die Herzen durch die Gabe des Geistes ausgegossen wird. 42 Vgl. Merz, Selbstauslegung, 299 f. 43  Vgl. z. B. auch Philo, Cher. 114: μετὰ τὸν θάνατον; ἀλλ’ οὐκ ἐσόμεθα οἱ μετὰ σωμάτων σύγκριτοι ποιοί, ἀλλ’ εἰς παλιγγενεσίαν ὁρμήσομεν οἱ μετὰ ἀσωμάτων σύγκριτοι ποιοί. 44 Vgl. Herzer, Petrus, 215–223. In 1 Petr 3,20–22 ist anders von Taufe die Rede – der Begriff ἀναγεννᾶν wird nicht wieder aufgenommen, auch nicht vorausgesetzt. 1 Clem 9,4 trägt den Begriff παλιγγενεσία in die aus 1 Petr 3 bekannte Noah-Interpretation ein; vgl. ferner Philo, Mos. 2,65. 40 

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paulinische Vorstellung von der Neuschöpfung (καινὴ κτίσις) und des damit verbundenen Neuwerdens (γέγονεν καινά, 2 Kor 5,17) in einer transformierten Begrifflichkeit aufgenommen wird, die als solche eher einen pagan-philosophischen Hintergrund hat.45 Man muss dabei jedoch beachten, dass der Begriff παλιγγενεσία in Tit 3,5 in einem hymnisch geprägten Kontext begegnet und daher gerade wegen seiner Singularität für eine Kontrastierung der Vorstellung mit paulinischer Tauftheologie nur bedingt signifikant ist.46

Etwas unverbunden wirkt die Wendung »durch Jesus Christus, unseren Retter«, zumal mit dem Begriff »unser Retter« die Gottesaussage von V. 4 aufgenommen wird: Gott und Christus können in einer bestimmten funktionalen Zuordnung gleichermaßen als Retter bezeichnet werden, ohne beide miteinander zu identifizieren (s. u. Abschnitt 4.2). In der Satzkonstruktion entsteht der Eindruck, als beziehe sich die Christusaussage lediglich auf die Ausgießung des Geistes von Gott durch Christus. Insofern diese Geistausgießung auf das Rettungs- und Rechtfertigungsgeschehen bezogen ist, wird eine ausschließliche Beschränkung der Aussage auf Gott inhaltlich nicht sinnvoll sein. Das Heilsgeschehen ist bei Paulus auch sonst stets grundsätzlich so verstanden, dass Gott durch Christus handelt. Und so schließt auch der Gedankengang in V. 7 ab, indem zunächst die »Rechtfertigung aus Gnade« als Zusammenfassung des ab V. 4 Ausgeführten festgehalten und die Konsequenz (ἵνα) dieses Geschehens für die Zukunft der Glaubenden formuliert wird, nämlich wie Erben Anspruch auf Vollendung dieses Heilsgeschehens zu haben, auf die sich die Hoffnung der Glaubenden richtet. Gegenstand des Erbes ist ewiges Leben. Das hier in den Pastoralbriefen singuläre Erbschaftsmotiv in Tit 3,7 findet sich auch sonst in unterschiedlicher Weise bei Paulus (vgl. z. B. Röm 8,17; Gal 3,29; 4,7; Kol 3,24; vgl. Eph 1,14.18), zumeist ohne konkrete Bestimmung des Erbgutes. Interessant in dieser Hinsicht ist – vor allem wegen der Erwähnung der guten Werke in Tit 3,1 –, dass Paulus in Röm 2,6 f. denen, die ihr Leben in der »Geduld guter Werke« führen, ewiges Leben in Aussicht stellt und sie denen gegenüberstellt, die durch Streit, Ungehorsam gegenüber der Wahrheit Gottes Zorn über sich bringen. Der Begriff »ewiges Leben« wird auch sonst bei Paulus verwendet, um das eschatologische Ziel des Glaubens zu benennen (vgl. bes. Röm 6,22: τὸ δὲ τέλος ζωὴν αἰώνιον, weiterhin Röm 5,21; 6,23; Gal 6,8).47 Konkrete Ausführungen dazu finden sich leider nicht; blickt man jedoch insbesondere auf den Zusammenhang mit dem Erbschaftsmotiv und hier auf negative Aussagen, wem diese Erbschaft verweigert wird, dann lässt sich immerhin sagen, dass das ewige Leben mit dem Eingang in die und die Teilhabe an der Königsherrschaft Gottes zu tun hat.48 Innerhalb des Titusbriefes wird mit dem Motiv des ewigen 45 Vgl.

Zimmermann, Wiederentstehung, 281. Ob dabei der kretische Kontext eine besondere Rolle spielt, insbesondere die dort lokalisierbaren Mysterientraditionen des Isis- und Osiris-Kultes, ist kaum sicher auszumachen (vgl. dazu Zimmermann, a. a. O., 284 f.). 47  »Ewiges Leben« ist ansonsten ein bevorzugter Terminus in der johanneischen Tradition. 48  Vgl. 1 Kor 6,9 f.; 15,50; Gal 5,21; vgl. Eph 5,5. Auch die Vorstellung, »bei Christus zu sein« (Phil 1,23), muss hier zumindest erwähnt werden; vgl. auch 2 Kor 6,16 und die ähnliche Vorstellung von der Gottesgemeinschaft in Offb 21. 46 

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Lebens ein Bogen zurück an den Anfang geschlagen, wo bereits im Präskript von der Hoffnung auf das ewige Leben die Rede war (1,2). Hier nun wird vor dem Hintergrund des Rechtfertigungsgeschehens die Gewissheit zum Ausdruck gebracht, dass das Erbe dieser Hoffnung auch angetreten werden kann. Erstaunlich ist, dass der 2. Timotheusbrief das Motiv nicht aufnimmt, obwohl Paulus hier seinen bevorstehenden Tod reflektiert und daher dem Ziel des Glaubens sehr viel näher ist. Im 1. Timotheusbrief wird es an zwei Stellen aufgegriffen (1,16; 6,12), aber nicht mehr mit dem Begriff der Hoffnung verbunden, sondern ein einer formelhafteren Weise. V. 8: Der gewichtige theologische Abschnitt schließt mit einer Beteuerung: πιστὸς ὁ λόγος. Dass damit ein Abschluss und nicht eine Einleitung in das Folgende gegeben ist, macht der Rückbezug mit περὶ τούτων auf das eben Gesagte deutlich. Damit ist auch ausgeschlossen, sie an dieser Stelle als Zitationsformel zu verstehen. Man hat immer wieder auf den formelhaften Gebrauch der Wendung πιστὸς ὁ λόγος hingewiesen, der charakteristisch für die Pastoralbriefe sei.49 Sie kommt insgesamt 5mal vor, davon 3mal im 1.  Timotheusbrief (1,15; 3,1; 4,9) sowie je einmal im Titus- (3,8) und im 2. Timotheusbrief (2,11). Was unter der Voraussetzung eines literarischen Corpus pastorale plausibel erscheint, wird unwahrscheinlich, betrachtet man die drei Briefe als separate Schreiben. Unter diesem Gesichtspunkt ist die je einmalige Verwendung der »Formel« im Titus- und im 2. Timotheusbrief unauffällig – erst im 1. Timotheusbrief ändert sich deren Gewicht durch den vermehrten und charakteristisch anders akzentuierten Einsatz. Außerhalb der Pastoralbriefe ist die Wendung in dieser Form nicht belegt (einzige Ausnahme ist Josephus, Ant XIX,132, hier aber nicht als Beteuerungsformel). Speziell im Titusbrief ist der Formelcharakter zumindest dadurch relativiert, dass bereits in 1,9 vom »treuen Wort« im Blick auf die Lehre die Rede war; und wenn in 3,1–8 die grundlegenden Elemente dieser Lehre benannt wurden, dann erscheint die Wendung πιστὸς ὁ λόγος eher als eine aktuelle Formulierung im Kontext des Briefes denn als Formel, wobei mit λόγος in diesem Kontext konkret das voranstehende Bekenntnis bzw. die darin formulierte Verheißung bezeichnet ist.

Wie schon in 2,15 wird Titus auch in 3,8 direkt angesprochen: Er selbst muss in dem, was der Apostel schreibt, gefestigt sein, um die von ihm anzuleitenden Menschen zu jenen guten Werken zu ermutigen, von denen bereits zuvor die Rede war. Die Unterscheidung zwischen den Glaubenden (πεπιστευκότες) einerseits und »allen Menschen« andererseits weist zurück auf dieselbe Differenzierung am Anfang der Argumentation in 3,1 f. Waren die Glaubenden dort aufgerufen, allen Menschen gegenüber freundlich zu sein (V. 2), so wird nun erneut auf die »Nützlichkeit« ihres Tuns hingewiesen, das in Gottes erbarmender Zuwendung begründet liegt. Der Begriff »nützlich« (ὠφέλιμος) mag in diesem Zusammenhang erstaunen. Doch darf dies nicht vordergründig verstanden werden, sondern im Kontext der theologischen Zusammenfassung der Heilsbotschaft liegt die »Nützlichkeit« wohl vor allem darin, dass diese Botschaft durch das Tun der Christen allen Menschen vor Augen steht und auch ihnen zum Verstehen hilft.50 Die Nützlichkeit ethischen Handelns liegt 49 

Vgl. den Überblick bei Stettler, Christologie, 45–48. Aspekt der »Nützlichkeit« menschlichen Handelns im Zusammenhang der Heilsbotschaft – positiv wie negativ – vgl. Röm 2,25; 3,1; 1 Kor 13,3; 14,6; Gal 5,2; ferner Hebr 4,2; Mt 16,26 par. Lk 9,25. 50  Zum



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in dessen gemeinschaftsstiftender und gemeinschaftsfördernder Wirkung. Im Zusammenhang mit Tit 2,11 f. wird man den Aspekt der Nützlichkeit in Tit 3,8 auch mit dem im Blick auf die ethischen Weisungen bedeutsamen erzieherischen Aspekt der Gnade Gottes verbinden können.51

3.2  Tit 3,9–11: Warnung vor vergeblichen Auseinandersetzungen V. 9: Der ermahnende Nachtrag in V. 9–11 steht nicht unverbunden zum Vorangehenden. Angesprochen ist erneut Titus. Dem zuvor in V. 8 als »gut und nützlich« Beurteilten wird nun gleichsam das Unnütze gegenübergestellt, was auch durch den Gebrauch der Partikel δέ angezeigt wird. »Unsinnige Diskussionen« gehören nicht zu den auf die Heilsbotschaft gegründeten guten Werken der Glaubenden. Der unspezifische Begriff ζητήσεις könnte als eine Art Generalisierung zu verstehen sein, so dass mit Genealogien, Auseinandersetzungen und »gesetzlichen Streitereien« nur mehr angedeutet wird, worum es geht. Abgesehen von der Tatsache, dass in der Briefrhetorik allgemeine klischeehafte Bemerkungen oft nicht hinreichend deutlich sind und gern mit einer gewissen pragmatischen Intention gebraucht werden, ist man konkret im Kontext des Titusbriefes auf den Anfang zurückverwiesen, wo Titus nach 1,10 sich insbesondere vor »denen aus der Beschneidung« hüten soll, denen er unter anderem unterstellt, ματαιολόγοι zu sein. Der Begriff μάταιος wird in entsprechendem Sinn auch in 3,9 wieder verwendet. Auch die Erwähnung von Genealogien und »Streitereien um das Gesetz« (nur so kann die Wendung μάχαι νομικαί sinnvoll übersetzt werden) deuten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen jüdischen Hintergrund der impliziten Gegner hin.52 V. 10–11: Mit dem »auf Spaltung bedachten Menschen« (wörtlich: dem »häretischen Menschen«) ist eine allgemeine Aussage gemacht, die durchaus aber eine konkrete Person im Blick haben kann und nur deshalb allgemein formuliert, um dem mit der Intervention beauftragten Titus den nötigen Handlungsspielraum zu ermöglichen. Trotz der Aufforderung, sich nicht auf unnütze Streitereien einzulassen, soll Titus sich dennoch um solche Menschen bemühen, versuchen, sie »zur Vernunft« (νουθεσία) zu bringen, aber bei erkennbarem (εἰδώς) Misserfolg dann auch die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Die Haltung des Betreffenden wird mit der seltenen Vokabel ἐξέστραπται beschrieben, die in LXX Deut 32,20 (par. OdSal 2,20) für das von Gott abgewandte und dadurch »verkehrte Geschlecht« (γενεὰ ἐξεστραμμένη) verwandt wird. Es geht also um jemanden, der sich in seiner Haltung völlig von dem abgewandt hat, was in der Gemeinde in Geltung steht und der dadurch die Einheit der Gemeinde gefährdet. Diese Gefährdung anderer im Glauben gerät ihm zur Sünde, mit der er sich selbst das Urteil spricht (ὢν αὐτοκατάκριτος) und zeigt, dass er die von Gott initiierte Rettung (3,5) verwirkt hat. 51  Vgl. zu diesem edukatorischen Aspekt der Soteriologie vor allem Malherbe, Christ Jesus, bes. 340–343. 52  Vgl. dazu Herzer, Juden – Christen – Gnostiker, bes. 147–154 (in diesem Band 293–314).

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3.3  Tit 3,12–15: Anweisungen und Schlussgrüße Das Postskript des Briefes enthält konkrete Anweisungen des Paulus an seinen Mitarbeiter. Die Struktur von Plänen, Anweisungen, Grüßen und Gnadenwunsch ähnelt der des Römerbriefes oder auch des ersten Korintherbriefes.53 Auffällig ist lediglich V. 14, der scheinbar nicht in den Fluss von Anweisungen und Grüßen hineinpasst und wie ein Nachtrag oder Einschub wirkt. V. 12: Als Situation ist vorausgesetzt, dass Artemas und Tychikos bei Paulus sind, von denen einer Titus bald in Kreta ablösen soll, damit dieser zu Paulus kommen kann. Warum Paulus seinen Mitarbeiter bei sich haben will und warum er sich beeilen soll, bleibt offen. Allerdings wird man den Hinweis zur Eile (σπούδασον ἐλθεῖν) nicht zu eng im Sinne eines unmittelbaren Kommens verstehen dürfen. Abgesehen davon, dass derartige Aussagen im Kontext persönlicher Notizen zur Briefphraseologie gehören und daher kaum allzu wörtlich verstanden werden sollten,54 hängt diese Aufforderung vielmehr mit der Angabe zusammen, Paulus werde in Nikopolis den Winter verbringen – offenbar mit der Aussicht, die Stadt im Frühjahr wieder zu verlassen; und spätestens bis zum Winteranfang soll Titus es zu Paulus geschafft haben.55 Es ist daher auch kein eigentlicher Widerspruch, den Mitarbeiter einerseits zur Eile bzw.  – der Grundbedeutung des Stammes σπουδentsprechend  – zum eifrigen Bemühen um ein baldiges Kommen aufzufordern, andererseits ihm einen zwar verhältnismäßig kurzen aber doch ausführlichen Brief für seine Wirksamkeit in Kreta zu schreiben. Dabei wird man berücksichtigen müssen, dass die Anweisungen des Titusbriefes im Blick auf die kretischen Gemeinden und ihre Leiter auch für denjenigen Mitarbeiter gelten, den Paulus zur Ablösung des Titus schicken will56 und daher nicht nur für Titus allein von Bedeutung sind. Ein Artemas ist in der paulinischen Tradition sonst nicht bekannt. Der Name ist eine Kurzform von Ἀρτεμίδωρος (»Geschenk/Gabe der Artemis«)57 und somit paganen Ursprungs, lässt aber keine Rückschlüsse auf eine heidenchristliche Herkunft des Artemas zu.58 Im Duktus der alternativen Formulierung Artemas oder Tychikos schwingt eine gewisse Unsicherheit mit, ob nicht doch vielleicht Tychikos für die Ablösung des Titus geeigneter ist. Tychikos stammt nach Apg 20,4 aus der Asia, was mit seiner Erwähnung der asiatischen Gemeinde von Kolossä gegen53 Vgl. Merkel, Pastoralbriefe, 106. Vgl. 1 Kor 16,6, wo Paulus davon spricht, vielleicht in Korinth den Winter verbringen zu wollen; eine »Abhängigkeit« ist freilich nicht erkennbar; vgl. hingegen die entsprechende Vermutung bei Oberlinner, Titus, 196. 54  Oberlinner, Titus, 194: Unter dem Vorzeichen der Fiktion sei das Motiv der Eile – wie die persönlichen Angaben insgesamt – als »Kennzeichen des pseudepigraphischen Charakters der Pastoralbriefe zu bewerten«. 55  Vgl. dazu näher unten Abschnitt 4.4; ähnlich in 2 Tim 4,21: σπούδασον πρὸ χειμῶνος ἐλθεῖν, vgl. 4,9. 56  Die Ablösung des Titus in Kreta sieht Oberlinner, Titus, 196, unter dem Vorzeichen der »Amtsübergabe«. 57 Vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 1253. 58  Vgl. zur verbreiteten Verwendung von griechisch-römischen Namen mit theophoren Elementen in hellenistisch-jüdischen Familien Ilan, Identität.



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über als »geliebter Bruder und zuverlässiger Diener und ›Mitknecht‹ im Herrn« in Kol 4,7 (vgl. Eph 6,21) korrespondiert. Apg 20,4 setzt zugleich voraus, dass er neben anderen Mitarbeitern Paulus auf seiner letzten Reise nach Jerusalem und – so könnte man es jedenfalls anhand des Szenariums vermuten – ihn später auch auf der Romreise begleitet hat. Zieht man 2 Tim 4,12 hinzu (Τύχικον δὲ ἀπέστειλα εἰς Ἔφεσον), dann hat Paulus Tychikos nicht nach Kreta geschickt, wie nach Tit 3,12 zumindest als Absicht notiert ist, sondern nach Ephesus, d. h. zurück an den Ort, wo er offenbar schon vorher bekannt und anerkannt war.59 Nimmt man jedoch die Personalnotizen über Tychikos von 2 Tim 4,12 und Tit 3,12 zusammen, ergibt sich notwendig die Schlussfolgerung, Paulus habe letztlich doch Artemas nach Kreta zur Ablösung des Titus entsandt. Unklar bliebe dabei unter der Voraussetzung einer pseudepigraphischen Konzeption, warum Artemas in 2 Tim 4 nicht – wie Titus und Tychikos – erneut genannt ist, um das Personalkonzept stringenter zu machen. V. 13: Wie Artemas so ist auch Zenas (abgeleitet von Ζηνόδωρος – »Geschenk/ Gabe des Zeus«60) sonst im Neuen Testament unbekannt, doch wird er immerhin näher als νομικός vorgestellt, d. h. als Rechtsgelehrter61 oder Jurist62 bzw. konkret als Anwalt63. Unsicher ist hierbei, ob der Begriff νομικός an dieser Stelle speziell auf die Gelehrsamkeit im jüdischen Gesetz zu beziehen ist (vgl. die spärliche Verwendung in Lk 7,30; 10,25; 11,45 f.52; 14,3; sowie Mt 22,35), was im Kontext des Titusbriefes nicht unmöglich ist (vgl. die Auseinandersetzung mit jüdischen Gegnern in 1,10–15 sowie die Warnung vor μάχαι νομικαί in 3,9), aber in der Regel abgelehnt wird.64 Ebenso wenig lässt sich aber aus dem griechischen Namen ableiten, Zenas sei Experte nicht im jüdischen, sondern im griechischen oder römischen Recht gewesen.65 Wichtig ist im Textzusammenhang, dass die Bezeichnung des Zenas als νομικός – wenn sie nicht sinnlos sein soll – in Beziehung zu setzen ist mit der Forderung, ihn zu Paulus zu schicken, also in der Situation begründet liegt: Auch ein im jüdischen Gesetz Gelehrter kann als Anwalt in einer persönlichen Angelegenheit fungieren, zumal wenn eine Anklage von jüdischer Seite zu erwarten wäre (vgl. Apg 28,21).66 Darüber hinaus ist der Begriff noch einmal von dem des νομοδιδάσκαλος in 1 Tim 1,7 zu unterscheiden, womit dort der Anspruch der Gegner benannt ist, Lehrer bzw. Ausleger des jüdischen Gesetzes zu sein (vgl. 1,8 f.).

Der Name Apollos hingegen verweist wahrscheinlich auf jenen einflussreichen und anerkannten Verkündiger, den Paulus insbesondere im Zusammenhang mit Korinth erwähnt (1 Kor 1,12 – neben sich selbst, Kephas und Christus; 3,4–6.22; 4,6; 16,12). 59  Daher rührt wohl auch die pseudepigraphische Erwähnung des Namens in Eph 6,21, ein Vers, der darüber hinaus geradezu als Zitat aus Kol 4,7 anmutet, vgl. Sellin, Epheser, 490–491. 60 Vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 1253. 61  So die Übersetzung bei Brox, Pastoralbriefe, 312; Oberlinner, Titus, 193. 62 Vgl. Oberlinner, a. a. O., 197. 63  Hasler, Briefe, 99. 64 Vgl. Oberlinner, Titus, 197. 65 So Towner, Letters, 802; vgl. oben die Bemerkungen zu Artemas und die Namensgebung in hellenistisch-jüdischen Familien. 66  Gutbrod, Art. νομικός, weist ferner darauf hin, dass die Nachstellung des Juristentitels geläufig ist und die Formulierung in Tit 3,12 dem entspricht.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Lukas stellt ihn als alexandrinischen Juden vor, der wortgewandt und schriftgelehrt in Ephesus lehrte, bevor er nach Korinth kam (Apg 18,24–19,1). Beide – Zenas und Apollos – sind also gelehrte Personen, der eine als Jurist, der andere insbesondere als Rhetor und mit der jüdischen Tradition Vertrauter. Inwiefern dies mit der im Titusbrief vorausgesetzten Situation zusammenhängt, wird zu fragen sein.67 Die Aufforderung an Titus, sie sorgfältig für ihren weiteren Weg auszurüsten, identifiziert die beiden Personen nicht als »wandernde Evangelisten«68 oder – zumindest nicht in erster Linie – als Überbringer des Briefes69, sondern ist aufgrund des Kontextes wahrscheinlich eher mit der Situation des Paulus zu korrelieren. Unter diesen Voraussetzungen gewinnt V. 14 dann doch ein anderes Gewicht und ist nicht nur ein Nachtrag, der in allgemeiner Weise bereits Gesagtes wiederholt.70 Es werden damit vielmehr die par­änetischen Ausführungen zu den »guten Werken« in Tit 2,14; 3,1 und vor allem 3,8 aufgenommen und exemplarisch auf die Verhaltensweisen in der Paulusgruppe (οἱ ἡμέτεροι) übertragen. Die betonte Hervorhebung der »Unseren« (οἱ ἡμέτεροι) sowie der Anschluss mit δὲ καί legen nahe, dies auf die im vorangehenden Vers genannten Personen zu beziehen71 und gleichsam das, was in 3,1–8 über die guten Werke und ihren soteriologischen Grund gesagt wurde, den beiden Personen nun konkret vor Augen zu halten und sie so zu ermutigen und zu motivieren für das, wofür Paulus sie benötigt und Titus sie ausrüsten soll. Daher ist ebenfalls wahrscheinlich, dass sich die ἀναγκαῖαι χρεῖαι nicht nur auf die für die Reise notwendige Ausrüstung beziehen, sondern wohl auch die Bedürfnisse im Blick hat, die den Apostel in seiner Situation beschäftigen. Die Wendung wird auch sonst zumeist auf die Bedürfnisse des alltäglichen Lebens bezogen.72 V. 15: Der abschließende Gruß ist erstaunlich knapp und setzt voraus, dass der Empfänger die ungenannten Personen kennt  – sowohl die, die sich bei Paulus befinden als auch die Glaubensgeschwister (τοὺς φιλοῦντας ἡμᾶς ἐν πίστει), die zu grüßen sind. Die Verwendung von φιλοῦντες im Briefgruß ist als Konvention belegt,73 ἐν πίστει entspricht etwa dem Gruß ἐν Χριστῷ von Phil 4,21. Die Grüße an die Geschwister sind auch der Grund dafür, dass der bei Paulus geläufige Gnadenwunsch am Schluss eines persönlichen Briefes im Plural gehalten ist (vgl. ähnlich 67 

Zur Gesamtinterpretation s. u. Abschnitt 4.4. Schlatter, Kirche, 209, mit Hinweis auf 1 Kor 9,14; 2 Kor 11,7–9. 69  So z. B. Schierse, Pastoralbriefe, 176; Holtz, Pastoralbriefe 1980, 237. Aus dem Text geht nicht hervor, dass Zenas und Apollos zu den Amtsträgern der Gemeinde gehören, vgl. in diesem Sinne Oberlinner, Titus, 198. 70 In diesem Sinne Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 114: »Verallgemeinerung von 13«. 71  Diese Bezeichnung ist in einem vergleichbaren Sinn sonst nur noch in MartPol 9,1 belegt und auf die Gemeindeglieder bezogen, die Polykarp bei seinem Gang in das Stadion rufen hört. Sie ist also keineswegs so geläufig, dass eine Adressatengemeinde sie sogleich auf sich beziehen würde. Auch bei einer Fiktion wäre in der Aufforderung von V. 13 zunächst Titus im Blick auf Zenas und Apollos angesprochen – und somit macht der Kontext den Bezug deutlich. 72  Vgl. Philo, Jos. 243; Spec. 2,65 (εἰς τὰς πρὸς τὸ ζῆν ἀναγκαίας χρείας ἐργάσασθαι); Decal. 99 (πρὸς τὰς ἀναγκαίας τοῦ βίου χρείας); Virt. 104; sowie Diodorus Siculus I 34,11. 73 Vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 116. 68 

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Phlm 25; 2 Tim 4,22). In den Gemeindebriefen hat der Gnadenwunsch meist die – jeweils leicht veränderte bzw. erweiterte – Grundform ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ (Χριστοῦ) μετὰ (τοῦ πνεύματος) ὑμῶν (Röm 16,20; 1 Kor 16,23; 2 Kor 13,13; Gal 6,18; Phil 4,23; 1 Thess 5,28; Phlm 25); die Kurzform wie in den Pastoralbriefen (vgl. auch 2 Tim 4,22; 1 Tim 6,21 – jeweils ohne πάντων) findet sich noch in Kol 4,18 sowie in Hebr 13,25. In der Auslassung der Christusformel eine gegenüber Paulus veränderte, d. h. »umfassendere« Bedeutung von χάρις zu vermuten,74 ist daher nicht notwendig.

4.  Thematische Schwerpunkte in Titus 3 Nach Tit 3 stellt Gottes menschenfreundliches Handeln aus Gnade zugunsten aller Menschen die Basis dar, auf der alle Glaubenden ihrerseits gegenüber allen Menschen handeln sollen. Dabei kommt offenbar der Unterordnung unter weltliche Herrschaftsstrukturen eine besondere Bedeutung zu. Daraus lässt sich erschließen, dass für den Autor die Loyalität gegenüber den gegebenen gesellschaftlichen, staatlichen und wohl auch gemeindlichen Autoritätsstrukturen zur Voraussetzung wird, unter der ein allen Menschen »nützliches« Handeln möglich ist. Dies korrespondiert in der Sache mit jenem Topos vom »ruhigen und frommen Leben«, der im 1. Timotheusbrief ausdrücklich so formuliert wird (1 Tim 2,2; vgl. 1 Thess 4,11; 2 Thess 3,12) und eigentlich auch im Kontext von Tit 3 zu erwarten wäre. Inwiefern die Auslassung der sprachlichen Konkretion signifikant ist, wäre zu fragen, vor allem vor dem Hintergrund dessen, dass in der Explikation des Bekenntnisses deutlich erkennbar imperiale Sprache und Begrifflichkeit aufgenommen und auf Gott bezogen wird. Dies bietet der 1. Timotheusbrief in dieser Weise nicht, geht also mit seinem Grundsatz des »ruhigen und stillen Lebens« paränetisch verallgemeinernd über den konkreten Hintergrund des Titusbriefes hinaus. Damit wird zugleich der Duktus des 1. Timotheusbriefes im Sinne einer grundsätzlichen Orientierung der Gemeinde generalisiert. Im Titusbrief hingegen wird die imperiale Begrifflichkeit oft im Sinne einer subversiven und antiimperialen Haltung interpretiert. Es wird zu prüfen sein, inwiefern dies berechtigt ist.75 Zur Semantik der imperialen Sprache in Tit 3 gehören die Begriffe χρηστότης und φιλανθρωπία ebenso wie θεὸς σωτήρ, ἐπιφάνεια, χάρις, μακάρια ἐλπίς. Dem kann hier im Einzelnen nicht nachgegangen werden, so dass nur einige wichtige Aspekte exemplarisch hervorzuheben sind.

74 So 75 

Oberlinner, Titus, 201. Vgl. dazu MacDonald, Advising the Teacher; Herzer, Leben in Frömmigkeit.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

4.1  Die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes und das Problem der imperialen Macht Die Charakterisierung von Gottes Handeln mit den Begriffen χρηστότης und φιλανθρωπία ist einzigartig im Neuen Testament. Beide Eigenschaften des göttlichen Handelns werden auf Christus fokussiert: Er in persona ist bzw. repräsentiert die Erscheinung von Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit.76 Auf dem Hintergrund der »Außenperspektive« in V. 1, die auf Loyalität und angemessenes Verhalten innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen ausgerichtet ist, bekommt das folgende theologische Argument mit dem Wortfeld »Güte«, »Freundlichkeit«, »Retter« und »erscheinen« in der Tat eine gewisse subversive Intention. Es ist immer wieder zu Recht darauf hingewiesen worden, dass dieses Begriffsfeld eine spezifische Rolle in der Sprache des römischen Imperiums für die Beschreibung der Haltung des Kaisers dem Volk gegenüber spielten,77 insbesondere hinsichtlich des semantischen Zusammenhanges von ἐπιφάνεια/ἐπιφαίνειν und σωτήρ/σωτηρία.78 Von Gott in dieser Weise zu sprechen und kaiserliche Herrschaftsattribute auf Gott zu übertragen, hat das Potential, die Herrschaft des Kaisers zu untergraben. Dies steht in einer eigentümlichen Spannung zur Forderung nach Loyalität, weil für Christen die Autorität Gottes die Macht des Kaisers wie aller gesellschaftlichen Instanzen und Strukturen übersteigt. Loyalität und Unterordnung staatlichen und 76 Vgl. Oberlinner, Epiphaneia, der insbesondere das Zusammenspiel von gegenwärtiger und zukünftiger Perspektive der Epiphanie-Vorstellung hervorhebt (bes. a. a. O., 200–203), und die Christologie der Pastoralbriefe insgesamt als »Epiphaniechristologie« bezeichnet (a. a. O., 211 f.; im Anschluss an Pax, Epiphaneia, sowie Lührmann, Epiphaneia). Den Zusammenhang von Epiphanie und Christologie betont auch Hasler, Epiphanie. Nach Hasler entwirft der Verfasser der Pastoralbriefe »eine eigenständige Offenbarungstheologie«, der »die Christologie so eingeordnet (wird), daß sie ihre soteriologische Selbständigkeit verliert und lediglich eine funktionale Rolle in einem Heilssystem erfüllt, das ganz dem Epiphanieschema verpflichtet ist und die Transzendenz Gottes bewahrt« (a. a. O., 197). Diese allerdings eher negative Bestimmung des Verhältnisses von Epiphanie und Christologie wird dem komplexen Befund in den Pastoralbriefen, insbesondere in Tit 3, kaum gerecht. Das Problem wird dadurch angezeigt, dass Hasler die wesentlichen Begründungszusammenhänge für diese These aus dem 1 Tim gewinnt und für die Pastoralbriefe insgesamt reklamiert. Vgl. zum Ganzen Herzer, Menschenfreundlichkeit Gottes (in diesem Band 407–424). 77 Vgl. bes. Spicq, Philanthropie, 181–190, mit der abschließenden Feststellung: »Cette ›épiphanie‹ est celle du ›Roi des Rois‹ (I Tim. VI,15), c’est-à-dire du seul vrai« Dieu (I Tim. I,17) »dont la providence éclipse celle des souverains terrestres« (a. a. O., 190). Neben Tit 3,4 findet sich das Begriffsfeld φιλανθρωπία κτλ. im Neuen Testament nur noch in Apg 27,3 und 28,2 bezogen auf menschliche Tugend. Vgl. ferner Le Déaut, ΦΙΛΑΝΘΡΩΠΙΑ; Oberlinner, Epiphaneia, 197 f.; Wolter, Pastoralbriefe, 64 f. Anm. 4. Zur Problematik vgl. auch Standhartinger, Eusebeia. 78 Vgl. Lührmann, Epiphaneia, 189–193: ἐπιφάνεια ist primär das rettende Eingreifen der Götter zugunsten der Menschen. Lührmann betont, dass »(d)ie religiöse Verwendung des Wortes […] nichts mit dem Herrscherkult zu tun (hat), ἐπιφάνεια ist nicht Synonymon zu παρουσία« (a. a. O., 191). Doch die Belege bei Deissmann, Licht, 318 Anm. 4 sowie 320, legen  – trotz der Kritik Lührmanns – nach wie vor nahe, dass es hier eine semantische Breite in der Verwendung des Begriffes ἐπιφάνεια gegeben hat, der gerade im Kontext des Herrscherkultes dem der παρουσία nahe steht (vgl. in anderem Zusammenhang auch 2 Thess 2,8). Zur Genese des σωτήρ-Begriffs und seinem Gebrauch im Neuen Testament vgl. insbesondere die umfassende Studie von Jung, ΣΩΤΗΡ.



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gesellschaftlichen Mächten gegenüber müssen daher in ein Verhältnis zur Autorität Gottes bzw. Christi gesetzt werden. Während Paulus den Begriff χρηστότης sowohl als menschliche Eigenschaft (Röm 3,12; 1 Kor 13,4; 2 Kor 6,6; Gal 5,22; vgl. Kol 3,12; Eph 4,32) als auch als Eigenschaft Gottes (bes. Röm 2,4 [Gottes Güte leitet zur Buße]; 11,22; vgl. Eph 2,7) verwendet, kommt der Begriff φιλανθρωπία bei ihm sonst nicht vor und ist sowohl im Neuen Testament als auch der Septuaginta überhaupt selten. Die beiden einzigen neutestamentlichen Belege sind Apg 28,2 für das Nomen sowie Apg 27,3 für das Adverb, jeweils auf Menschen bezogen. Der Befund, dass der Begriff der alttestamentlichen Tradition fremd und erst in jüdisch-hellenistischen Schriften spärlich belegt ist,79 macht deutlich, dass er – wie andere Begriffe in den Pastoralbriefen auch  – seinen Hintergrund eher in der griechischen Popularphilosophie hat und von da – wie vor allem Josephus und Philo zeigen (s. u.) – auch in die jüdisch-hellenistische Literatur aufgenommen wurde. Interessant sind die Belege aus der Sapientia Salomonis, nach denen Menschenfreundlichkeit eine Eigenschaft der Weisheit ist (Sap 1,6; 7,23) und von daher zur Eigenschaft des Gerechten werden soll (12,19).80   Bei Josephus sind bis auf eine Ausnahme alle Belege des Begriffes auf Menschen bezogen; allein in Ant. I 24 ist er – hier allerdings recht grundsätzlich – auf Gott bezogen, und zwar im einleitenden Appell an die Leser, sie mögen die Geschichtsdarstellung recht beurteilen und feststellen, dass darin nichts der Hoheit und Menschenfreundlichkeit Gottes widerspricht.81 Die Zusammenstellung der Begriffe χρηστότης und φιλανθρωπία findet sich bei Josephus als Charakterisierung menschlicher Eigenschaften nur in Ant. X 164 (vgl. auch Philo, Spec. 2,141; Legat. 73,3; Jos. 176 u. ö.: χρηστὰ καὶ φιλάνθρωπα),82 wobei immerhin deutlich wird, dass sich die beiden Begriffe semantisch nahestehen. Von Mose kann Philo, Spec. 2,63, sagen, er habe sein Leben πρὸς θεὸν δι’ εὐσεβείας καὶ ὁσιότητος καὶ τὸ πρὸς ἀνθρώπους διὰ φιλανθρωπίας καὶ δικαιοσύνης geführt. In Flav.Jos.Ant. I 96 nennt Josephus Gottes Güte als Grund für die Verschonung der Menschheit nach der Sintflut, nach Ant. XI 144 ist es Gottes Güte zu verdanken, dass Israel die Sünden vergeben werden und ihm nach dem Exil Jerusalem und das Land zurückgegeben wird – neben Ant. XII 21 und XX 90 die einzigen Belege, an denen der Begriff χρηστότης auf Gott bezogen ist, wobei an anderen Stellen die Bedeutung »Menschlichkeit« mitschwingt (vgl. z. B. Ant. X 164; II 157; VII 184). Auch nach Philo, QG 2,54b gilt: Χρηστὸς ὢν καὶ φιλάνθρωπος ὁ θεός. Ein Gottesbezug liegt ferner vor in MartJes 3,9; ApkMos 42.2; ApokrEz 4,1; TestAbr II 2,4.   Aufschlussreich für den traditionsgeschichtlichen Hintergrund sind insbesondere diejenigen Belege, an denen der Begriff φιλανθρωπία eine Eigenschaft des Herrschers gegenüber seinen Untergebenen benennt.83 Philanthropie als Eigenschaft der Götter (vgl. Artemidoros IV,22) geht auf den Herrscher über. Nach Themistios, Oratio 1,8 ist Menschenfreundlichkeit die »königlichste« der Tugenden schlechthin und allein als Prädikat und Name Gottes 79  1 Esra 8,10; Est 8,12; 2 Makk 4,11; 6,22; 9,27; 3 Makk 3,15.18.20; 4 Makk 5,12; Sap 1,6; 7,23; 12,19. Die relativ wenigen verstreuten Belege zeigen, dass der Begriff in der jüdischen Tradition keineswegs geläufig war. 80  Vgl. ferner z. B. Arist 265; 290; Ps-Hek 6,5 (von Ptolemaios); das Adjektiv in TestAbr II 2,4; Arist 36; 208; das Verbum Arist 257. 81 οὔτ’ ἄλογον αὐτοῖς οὔτε πρὸς τὴν μεγαλειότητα τοῦ θεοῦ καὶ τὴν φιλανθρωπίαν ἀνάρμοστον. 82  In Virt. 51–174 widmet Philo neben ἀνδρεία und εὐσέβεια einen ganzen Abschnitt der φιλανθρωπία. 83  So bereits die in Anm. 79 genannten Belege aus der LXX; vgl. ferner Philo, Spec. 2,63; Abr. 208; Prob. 83 f., vgl. dazu Spicq, Philanthropie, 176–181.

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würdig. Umso signifikanter ist es, wenn diese Tugend auf den Kaiser übertragen wird (vgl. Themistios, Oratio 11,147). »Der Philanthrop schlechthin ist ein Souverän, tugendhaft per definitionem, der seinen Untertanen verpflichtet ist und ihnen Privilegien und Geschenke gewährt aus Güte und Mitleid ebenso wie aus Gerechtigkeit und Großmut.«84 Die entscheidende Charakteristiken der Philanthropie sind die Großzügigkeit und Güte.85

Vor diesem traditionsgeschichtlichen Hintergrund wird das Potential imperialer Semantik in Tit 3 in ihrer Übertragung auf Gott anschaulich. Allerdings lässt sich dem Text selbst keine explizite Kritik an imperialen Machtstrukturen entnehmen, auch ist nicht konkret von »Königen« die Rede, wie etwa in 1 Tim 2,2,86 so dass nicht nur die Verwendung imperialer Begrifflichkeit und die als Erinnerung formulierte und daher scheinbar selbstverständliche Forderung von Unterordnung unter die weltlichen Herrschaftsstrukturen zu korrelieren sind. Im Blick auf die Frage nach der Loyalität sind darüber hinaus die Macht des Kaisers und die von seiner Macht bestimmten gesellschaftlichen Strukturen mit Gottes Autorität in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Diese Verhältnisbestimmung ist dahingehend vorzunehmen, dass nur unter der Voraussetzung und Anerkennung von Gottes Autorität dem Staat und der Gesellschaft gegenüber Loyalität eingefordert werden kann. Aus dieser Perspektive korrespondiert die von den Glaubenden erwartete »Freundlichkeit gegenüber allen Menschen« (3,2) mit Gottes eigener »Güte und Menschenfreundlichkeit« (3,4).87 Gottes Güte ist es, die die Menschen aus den Zusammenhängen der Vergangenheit rettet, indem er ihnen sein Erbarmen (V. 5) bzw. seine Gnade (V. 7) gewährt und dadurch neue Lebensperspektiven eröffnet. Der so in der Taufe »Neugeborene« und durch den Geist »Erneuerte« (3,5) soll daher seinerseits entsprechend leben. Das Wirken des Heiligen Geistes ist unter diesen Voraussetzungen als diejenige Kraft zu verstehen, die es dem Glaubenden ermöglicht, Gottes Handeln im eigenen Handeln anderen Menschen gegenüber zu entsprechen.88 Diese Art der ethischen Argumentation wurde als für die Pastoralbriefe charakteristischer Ausdruck eines »bürgerlichen Christentums« verstanden, und zwar im Sinne der Vorstellung eines entwickelten, etablierten und an die Gesellschaft 84  Spicq, a. a. O., 186: »[…] le philanthrope κατ’ ἐξοχήν est un souverain, vertueux par définition, attaché à ses sujets et qui leur octroie privilèges et dons, autant par bonté et pitié que par justice et magnanimité.« Spicq hat die Bandbreite des Begriffes der Philanthropie zusammengestellt und sieht diese Vielschichtigkeit in der Verwendung in Tit 3,4 aufgenommen. 85  A. a. O., 186, mit Hinweis auf (Pseudo-)Aristoteles, De virtutibus et vitiis 1250b; Priene-Inschrift CXII,59; CXIII,55; CXVIII,29. 86  Vgl. auch 1 Petr 2,13. Wie in Tit 3 so vermeidet auch Paulus in Röm 13 die explizite Erwähnung des Kaisers. 87  Zwischen χρηστότης und φιλανθρωπία ist kein erkennbarer Unterschied. Beide Begriffe sollten als Hendiadyoin verstanden werden, gleichsam als zwei Seiten einer Medaille, vgl. dazu den o. g. Beleg bei Philo, QG 2,54b; zum Gebrauch von χρηστότης vgl. z. B. Röm 2,4; 11,22 (χρηστότης bezogen auf Gott, vgl. Eph 2,7) sowie 2 Kor 6,6; Gal 5,22; Kol 3,12 (χρηστότης bezogen auf die Glaubenden, negativ auch Röm 3,12). Die Ergänzung φιλανθρωπία in Tit 3,4 könnte durch den spezifischen Kontext veranlasst sein, in dem es um Loyalität in der Gesellschaft geht. 88  Vgl. zu diesem Zusammenhang Merk, Glaube; Marshall, Faith; zum Glaubensbegriff in den Pastoralbriefen neuerdings umfassend Mutschler, Glaube.



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assimilierten Status der christlichen Gemeinde, der sich von der charismatischen Dynamik paulinischer Ethik und Ekklesiologie weit entfernt habe.89 Doch ist es problematisch, darin einen Gegensatz zu konstruieren, denn es ist genau diese »bürgerliche« Dimension des christlichen Glaubens innerhalb einer nichtchristlichen Gesellschaft, die den Kern des ethischen Arguments ausmacht und kaum als Hinweis auf einen späteren Status eines »assimilierten Christentums« aufzufassen ist. Es ist diese »bürgerliche« Dimension, präziser: die nach außen gerichtete Dimension christlichen Glaubens in der Welt, die bereits Paulus auf unterschiedliche Weise zur Sprache bringt und die hier in einer bestimmten Konkretion aufgegriffen und fortgeführt wird.90 Von Anfang an hatten die christlichen Gemeinden nicht nur mit ihren inneren Strukturen und Auseinandersetzungen zu kämpfen, sondern dabei stets auch die Erscheinung der Gemeinde gegenüber Außenstehenden bzw. der Gesellschaft zu reflektieren.

4.2  Die Epiphanie des »Retter-Gottes« und die Hoffnung der Glaubenden Ein besonderes Problem in den Pastoralbriefen insgesamt und im Titusbrief im Besonderen ist die Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Christus.91 In den Pastoralbriefen können beide als Retter bezeichnet werden,92 wobei der Befund durchaus unterschiedlich ausfällt. Während im 1.  Timotheusbrief ausschließlich Gott als σωτήρ benannt wird (1,1; 2,3; 4,10), ist es im 2. Timotheusbrief ausschließlich Christus (1,9 f., vgl. 4,18; in 1,9 wird der Vorgang der Rettung mit Gott verbunden). Im Titusbrief hingegen werden Gott und Christus als Retter bezeichnet, und zwar jeweils in einem unmittelbaren Zusammenhang (Tit 1,3.4; 2,10.11.13; 3,4.6). Dieser Sprachgebrauch des Titusbriefes wirft die Frage auf, ob hier Gott und Christus noch unterschieden sind oder ob bereits Christus mit bzw. sogar als Gott identifiziert wird. Bevor diese Frage für Tit 3 erörtert wird, soll das Problem zunächst an der Wendung in Tit 2,13 veranschaulicht werden, da die Epiphanieaussage von Tit 3 mit derjenigen von Kap 2 Korrespondiert. Die Aussage in Tit 2,13: προσδεχόμενοι τὴν μακαρίαν ἐλπίδα καὶ ἐπιφάνειαν τῆς δόξης τοῦ μεγάλου θεοῦ καὶ σωτῆρος ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ, kann zunächst folgendermaßen übersetzt werden: »[…] erwartend die selige Hoffnung und die Erscheinung der Herrlich89 Vgl. Löning, Epiphanie, 107–109.117–124, der diese Charakterisierung bestreitet und damit auch positive Interpretationsversuche des Begriffes »Bürgerlichkeit«, wie etwa bei Schwarz, Christentum, »grundsätzlich« für verfehlt hält (Löning, Epiphanie, 107 Anm. 1). Vgl. auch Reiser, Christentum. Weiser, Verantwortung, 48 f., plädiert dafür, diese Begrifflichkeit ganz zu vermeiden. Vgl. zur Problematik Herzer, Geheimnis (in diesem Band 381–405); ders., Leben in Frömmigkeit. 90  Neben Röm 13,1–7 vgl. z. B. 1 Thess 4,11 f.; 1 Kor 5,1; 6,1; 11,2–16 u. a.; vgl. dazu Herzer, Leben in Frömmigkeit. 91  Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 8, sprechen von einem »eigentümlich schwebende[n] Verhältnis zwischen Gott und Christus«. 92  Vgl. dazu Böttrich, Gott, bes. 222–228; K arrer, Jesus.

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keit des großen Gottes sowie unseres Retters Jesus Christus.« In dieser Übersetzung ist vorausgesetzt, dass nicht Christus als »großer Gott« bezeichnet wird, sondern Gott und Christus unterschieden bleiben: Die hoffnungsvolle Erwartung richtet sich auf die Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und zugleich auf die Erscheinung unseres Retters Jesus Christus. Eine andere Möglichkeit wäre, beides zusammen zu ziehen und das Pronomen ἡμῶν auf θεός und σωτήρ gleichermaßen zu beziehen, und zwar im Sinne der Erwartung der »Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters«  – nämlich Jesus Christus, wodurch Jesus Christus als eben jener große Gott und Retter identifiziert würde.93 Sprachlich möglich wäre schließlich auch, das καί explikativ zu verstehen im Sinne von »das heißt«. Dann ginge es um die Erwartung der Herrlichkeit des großen Gottes, d. h. um die Erwartung unseres Retters Jesus Christus. In diesem Fall wäre die Aussage präziser gefasst: Da im ersten Teil nicht von der Erwartung Gottes selbst, sondern seiner Herrlichkeit als einer maßgeblichen Eigenschaft Gottes die Rede ist, wäre Jesus Christus dann unser Retter, der diese Eigenschaft, sc. die Herrlichkeit Gottes, repräsentiert. Es ginge dann also um die Erwartung Christi als des Repräsentanten der Herrlichkeit Gottes. Auch hierbei wären Gott und Christus nicht miteinander identifiziert, sondern blieben unterschieden. Das Gottesepitheton μέγας θεός ist dabei durchaus ungewöhnlich und im Neuen Testament singulär. In der antiken Welt jedoch ruft es bestimmte Assoziationen wach, die wohl in diesem Kontext auch beabsichtigt sind. Bruno Müller hatte in einer eindrucksvollen Sammlung gezeigt, in welch hohem Maße die Wendung μέγας/μέγιστος θεός allein in der griechischen Mythologie des Mittelmeerraumes verbreitet war.94 Auch Josephus kennt und verwendet sie für den Gott Israels.95 Homer z. B. nennt Poseidon μέγας θεός (Ilias VIII,200), Platon lässt einen Athener Sonne und Mond als große Götter bezeichnen (Nomoi VII,821b). Interessant sind vor allem jene Belege, in denen die Gottesbezeichnung auf Herrscher und römische Imperatoren  – genannt werden Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius, Domitian, Trajan, Hadrian oder Marc Aurel – übertragen wird.96 Zitiert sei lediglich eine Inschrift aus dem Jahr 38 n. Chr., deren Widmung dem Caligula μεγίστῳ καὶ [ἐ]πιφανεστ[άτ]ῳ θεῷ [Γαίῳ] Καίσαρι (»dem größten und in einzigartiger Weise erschienen Gott Gaius Caesar«) gilt,97 da hier eine Verbindung zwischen Gottesepitheton und Epiphaniemotiv vorgenommen wird, wie sie auch in Tit 2,13 vorliegt. Das Epiphaniemotiv wird in Tit 3,4 erneut eine wichtige Rolle spielen. Für die gesamte Wendung in Tit 2,13 ist weiterhin eine Trajan-Inschrift vom Ende der 90er 93 Vgl. in diesem Sinne u. a. Bruce, God; Harris, Jesus; Läger, Christologie, 92–98; Stettler, Christologie, 257 f.; K arrer, Jesus, 173; Jung, ΣΩΤΗΡ, 322, wobei die Erörterung des σωτήρ-Titels in den Pastoralbriefen angesichts dessen Bedeutung bei Jung zu undifferenziert erfolgt. Kritisch vgl. Malherbe, Christ Jesus, 347 f. Zum Problem vgl. Engelmann, Untersuchungen, 125–128. 94  Müller, Μέγας Θεός, 281–411. 95  Vgl. μέγιστος θεός in Flav.Jos.Ant. IX 133.211; XI 3.90; XII 257; XIII 64.67; XV 385 u. ö.; μέγας θεός in Ant. VIII 319 bzw. μεγαλειότης τοῦ θεοῦ in Ant. I 24; II 168; VIII 111. Bei Philo findet sich nur ein Beleg für μέγας θεός in Somn. 1,94. In der Septuaginta fehlt die Gottesbezeichnung μέγας/μέγιστος θεός. Zur äquivalenten alttestamentlichen Vorstellung vom »höchsten Gott« (ὁ θεὸς ὁ ὕψιστος) vgl. Feldmeier, Gottesprädikat. 96 Vgl. Müller, Μέγας Θεός, 389–395. 97  A. a. O., 394, Nr. 363.

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Jahre des 1. Jahrhunderts interessant, weil sie die Verbindung der Titel in Tit 2,13 in ähnlicher Weise belegt: τ]ὸ[ν μέγι]σ[τον θ[εὸν καὶ] Σωτ[ῆρα] τῆς οἰ[κ]ουμένης Αὐτοκράτορος θεοῦ υἱὸν […] Αὐτοκράτορα [Νέρουαν Τ]ραι[αν]ον Καίσαρα (»den größten Gott und Retter des Erdkreises, Sohn des Alleinherrschers […] den Alleinherrscher Nerva Traianus Caesar«).98 Die Tatsache, dass das in Tit 2,13 verwendete Wortfeld auch im Kaiserkult belegt ist, lässt erneut einen politischen Akzent im Titusbrief erkennen.

Das Problem der Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Christus wird also an Tit 2,13 besonders anschaulich, weil sich unter sprachlichen Gesichtspunkten keine sichere bzw. eindeutige Entscheidung treffen lässt. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass die Wendung nicht im Sinne einer Identifizierung Christi als Gott verstanden werden muss. Inhaltlich jedenfalls und auch sprachlich begründet liegt eher das Verständnis nahe, dass die Herrlichkeit des »großen Gottes« in Gestalt des Retters Christus erscheint. Dies ist inhaltlich dadurch angezeigt, dass – wie oben beschrieben – nicht Gott selbst erwartet wird, sondern die Eigenschaft seiner δόξα – und diese ist auch sonst bei Paulus sichtbar in Christus (vgl. bes. 2 Kor 4,6).99 Insofern läge hier also ein christologischer Gedanke vor, der durchaus in der Grundstruktur paulinischer Christologie verortet werden kann. Diese Deutung wird unterstützt durch die Zuordnung in Tit 3,4 und 3,6 im Rahmen des Bekenntnistextes. Zunächst ist auffällig (und dies entspricht 2,11.13), dass in Tit 3,4 ebenfalls nicht von der Erscheinung Gottes selbst, sondern wiederum von der Erscheinung seiner Eigenschaften die Rede ist: In 2,11 war es die χάρις, in 2,13 die δόξα, in 3,4 schließlich sind es χρηστότης und φιλανθρωπία. Im Bekenntniskontext spielt darüber hinaus die Aussage über die Ausgießung des Geistes eine besondere Rolle, von dem festgestellt wird, dass er »reichlich über uns ausgegossen ist durch Jesus Christus, unseren Retter« (3,6). Die Rettungsfunktion Christi liegt also darin, in der Vermittlung des heiligen Geistes die Gewissheit der hoffnungsvollen Erbschaft des ewigen Lebens (3,7) zu begründen. Gott hingegen hat das Leben der Glaubenden aus der Situation der Unvernunft und des Unglaubens (3,3) geführt, sie »durch seine (sc. Gottes) Gnade«100 gerechtfertigt und das Erbe bereitgestellt, dessen der Heilige Geist durch den bleibenden Bezug der Hoffnung auf Christus vergewissert. Die aus der Rechtfertigung resultierende Hoffnung – von der ebenfalls in 2,13 schon die Rede war – basiert also auf der Tatsache, dass Jesus Christus das rechtfertigende Rettungshandeln Gottes repräsentiert und daher – wie dieser, aber mit anderen Funktionen – als der Retter (σωτήρ, 3,6; vgl. 2,13) bezeichnet werden kann, insofern er die Erscheinung der rettenden Gnade Gottes (ἡ χάρις τοῦ θεοῦ σωτήριος, 2,11101) verkörpert (vgl. auch 3,6 f.). Nur unter der Voraussetzung dieser 98 

A. a. O., 395, Nr. 367; vgl. dazu auch K arrer, Jesus, 158–170. Engelmann, Untersuchungen, 127. 100  ἐκεῖνος muss sich hier zurück auf Gott beziehen. 101 Unsicher ist in diesem Zusammenhang die Lesart σωτήριος in Tit 2,11, die zwar die schwierigere ist, aber im Sinaiticus nur vom zweiten Korrektor bezeugt ist, daneben jedoch von A, C*, D* u. a. Ursprünglich liest der Sinaiticus σωτῆρος, was wiederum als Angleichung an sonstigen 99 Vgl.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

funktionalen Zuordnung102 können auch Gott und Christus zugleich σωτήρ genannt werden, was in 3,4 und 3,6 aufgrund der relativen Nähe der Aussagen besonders auffällig ist. Damit ist ein letzter Aspekt verbunden, nämlich die Frage, worauf sich konkret die Erwartung der Erscheinung der Herrlichkeit Gottes bezieht. In der Regel wird diese Epiphanie-Aussage auf die zukünftige Parusie Christi bezogen. Als solcher wird der Epiphaniebegriff zumeist als hellenistisches Substitut für den paulinischen Parusiebegriff verstanden. Doch ist dies keineswegs eindeutig. Zunächst würde damit die Aussage von Tit 2,13 in eine deutliche Spannung zu den die Aussage rahmenden und auf die irdische Erscheinung Christi ausgerichteten Aussagen in 2,11 und 3,4 treten. Diese Spannung lässt sich freilich unterschiedlich interpretieren bzw. auflösen.103 Darüber hinaus ist 1 Tim 6,12 der einzige Beleg für ἐπιφάνεια innerhalb der Pastoralbriefe, der in diesem Sinn eindeutig als Äquivalent für das paulinische παρουσία gebraucht wird. Alle anderen Belege sind auf die erste, irdische Erscheinung Christi hin ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der vorauszusetzenden Situation des Paulus, wie sie im Titusbrief zum Ausdruck kommt, erscheint Tit 2,13 als ein adäquater und im Kontext plausibler Ausdruck der Hoffnung des Apostels, Gott möge ihm als Retter in seiner Lage104 beistehen und an ihm seine Herrlichkeit erweisen. Die vielfach zu Recht hervorgehobene semantische Nähe dieses Begriffes zur Enzyklopädie der Herrscher-Epiphanie ist damit umso deutlicher.105

4.3  Christsein und weltliche Herrschaftsstrukturen – das Problem der innerneutestamentlichen Intertextualität Tit 3,1–8 steht unter dem Aspekt der Unterordnung innerhalb der neutestamentlichen Überlieferung Röm 13,1–7 sowie 1 Petr 2,13–17 besonders nahe, während in 1 Tim 2,1 f. ein aktives Handeln in der Fürbitte »für Könige und alle, die Macht ausüben« in den Vordergrund tritt und der Aspekt der Unterordnung allenfalls implizit vorausgesetzt ist. Mit unterschiedlicher Akzentsetzung wird in diesen Texten die christliche Haltung der Loyalität gegenüber der weltlichen Herrschaft thematisiert.106 Im Blick auf die ethisch reflektierte Gestaltung christlichen Lebens Gebrauch des Titels in den Pastoralbriefen verstanden werden könnte. Wie in der Argumentation deutlich wird, ist aus inhaltlichen Gründen die Annahme der Ursprünglichkeit der Lesart σωτήριος wahrscheinlicher. 102 Vgl. Malherbe, Christ Jesus, 348, für den allerdings die funktionale Zuordnung die Grundlage dafür ist, dass Christus dann selbst als Gott bezeichnet werden kann. 103 Vgl. Engelmann, Untersuchungen, 156 f.: Die drei Belege im Tit sprechen »jeweils von einer Aktivität Gottes in Bezug auf das irdische Leben Jesu […] und (sind) dabei insofern von einer eschatologischen Spannung geprägt […], als das jeweils beschriebene Erscheinen/Sichtbarwerden voraus verweist auf eine endgültige Epiphanie (2,13) oder die Erfüllung der Hoffnung auf das ewige Leben (1,2; 3,7)«. 104  S. u. Abschnitt 4.4. 105  S. o. Anm. 76–78. 106 Vgl. Haufe, Christ, 101–106; Herzer, Menschenfreundlichkeit Gottes (in diesem Band



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unter einer nichtchristlichen oder gar antichristlichen Herrschaft ist Loyalität einer der wahrscheinlich umstrittensten Werte, ein Zusammenhang, der in der oben bereits angedeuteten Spannung zwischen Loyalität und antiimperialem Potential der theologischen bzw. christologischen Sprache zum Ausdruck kommt. Während Paulus in Röm 13 die Forderung der Unterordnung unter die weltliche Herrschaft damit begründet, dass er sie als gottgegeben versteht, wird Loyalität in 1 Petr 2 auf einer anderen Ebene beschrieben. Weltliche Herrschaft wird hier ausdrücklich nicht als Gabe Gottes, sondern als menschliche Institution bezeichnet (ἀνθρωπίνη κτίσις, 2,13), die es in Ehren zu halten gilt (τὸν βασιλέα τιμᾶτε, 2,17), weil sie – und hier trifft sich die Intention mit Röm 13,3 – zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung dient (1 Petr 2,14b).107 Als Gottes Wille für die Glaubenden wird in diesem Fall beschrieben, dass sie mit ihrem Verhalten diesem weltlichen Charakter der Herrschaftsstruktur gerecht werden sollen (2,15).108 In Tit 3 hingegen ist die Ausrichtung noch einmal eine andere, indem nicht über die Legitimation der Herrschaftsstrukturen reflektiert, sondern lediglich auf konkrete Verhaltensweisen ihnen gegenüber bzw. unter ihrer Voraussetzung abgehoben wird (πᾶν ἔργον ἀγαθὸν ἑτοίμους εἶναι, 3,1b109; vgl. ähnlich Röm 13,3: οἱ γὰρ ἄρχοντες οὐκ εἰσὶν φόβος τῷ ἀγαθῷ ἔργῳ ἀλλὰ τῷ κακῷ). Allen drei Texten gemeinsam ist jedoch die Aufforderung zur Unterordnung (ὑποτάσσεσθαι), die als Ausdruck der Loyalität verstanden wird.110 Dabei muss je nach Kontext entschieden werden, was damit gemeint ist. In Tit 3,1 als dem Fokus der vorliegenden Ausführungen ist der Begriff nach Lorenz Oberlinner im Sinne von »uneingeschränkter Anerkennung der staatlichen Gewalt« zu verstehen, was aus den Parallelen Röm 13,1–7 und 1 Petr 2,13–17 hervorgehe.111 Die Verwendung von ὑποτάσσεσθαι in den sog. Haustafeln der Pastoralbriefe könnte eine solche Bedeutung auch für Tit 3,1 nahelegen (vgl. insbesondere Tit 2,4 f.9; 1 Tim 2,11). Allerdings besteht zwischen Tit 3,1–8 und Röm 13,1–7 insofern ein Unterschied, als in Tit 3 die Obrigkeit nicht als göttliche Setzung bezeichnet wird, es sei denn, man setzt dies als implizit gegeben voraus, da dieser Aspekt nicht eigens thematisiert wird.112 407–424). Dass für ein unbescholtenes Leben eine solche Unterordnung als eine gesellschaftliche Norm selbstverständlich war und vor allem als »klug« galt, macht z. B. Cicero, De Legibus III 2,5 deutlich und beruft sich dabei einen sizilianischen Juristen namens Charondas aus dem 6. Jh. v. Chr.: Nec vero solum ut obtemperent oboediantque magistratibus, sed etiam ut eos colant diligantque praescribimus, ut Charondas in suis facit legibus. 107  Vgl. dazu Herzer, Petrus, 229–231. 108  Vgl. zum Ganzen a. a. O., 227–244. 109 Gegen Brox, Pastoralbriefe, 303, der diesen Versteil nicht auf die Unterordnung unter die gesellschaftlichen Autoritäten bezieht. 110  Löning, Gnade, 246, spricht sogar von »bürgerlicher Loyalität«. Der Loyalitätsbegriff ist im Zusammenhang mit dem Konzept der εὐσέβεια in den Pastoralbriefen zu beschreiben, das im 1 Tim deutlich ausgeprägt ist, im 2 Tim und im Tit hingegen weit weniger im Mittelpunkt steht; vgl. Standhartinger, Eusebeia; Herzer, Geheimnis (in diesem Band 381–405). 111  Oberlinner, Titus, 161. 112 Vgl. Weiser, Verantwortung, 40. Oberlinner, Titus, 164, spricht demgegenüber mit Löning, Gnade, 247, von einer Transformation des Motivs der »bedingten Loyalität […] zum

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

In der Forschung besteht allerdings kein Konsens darüber, ob Tit 3,1 bei den Leserinnen und Lesern Röm 13 voraussetzt oder sogar indirekt darauf anspielt.113 Eine nähere Bestimmung des Verhältnisses würde daher helfen, die Intention des Autors in Tit 3 hinsichtlich seines Verständnisses von Loyalität zu ermitteln.114 Zwar wird man – wie oben angedeutet – die relative Nähe zwischen Röm 13 und Tit 3 für die traditionsgeschichtliche Beurteilung berücksichtigen müssen, zumal beide Texte zur paulinischen Überlieferung gehören, doch lässt sich gerade unter dieser Voraussetzung weder sprachlich noch inhaltlich eine direkte intertextuelle Abhängigkeit zwischen Tit 3 und Röm 13 nachweisen. Daher sollte Tit 3,1–8 methodisch zunächst ohne Röm 13 oder gar 1 Petr 2 als Referenztexte interpretiert werden, um nicht vorschnell Intentionen einzutragen, die den Blick auf das Spezifische des ethischen Arguments behindern.115 Dieses Spezifikum besteht darin, dass die Unterordnung sich in Gehorsam und der Bereitschaft zu »jedem guten Werk« äußert, wodurch sich die Glaubenden von denen unterscheiden, die aufgrund ihres Ungehorsams dazu nicht in der Lage sind (1,16; vgl. positiv 2 Tim 2,21; 3,17). Dies gilt nicht nur für den innergemeindlichen Umgang, sondern auch für das Verhalten der Christen gegenüber Außenstehenden (πρὸς πάντας ἀνθρώπους, Tit 3,2). Ein Hinweis auf Christenverfolgung, wie ihn Alfons Weiser unter Verweis auf 2 Tim 3,12 annimmt116 und wie sie etwa für den Kontext des ersten Petrusbriefes vorausgesetzt werden kann, ist weder in Tit 3 noch sonst im Titusbrief zu erkennen. Die Loyalitätsforderung soll ja solchen Entwicklungen gerade entgegenwirken bzw. zielt darauf ab, dass es so weit Motiv der unbegrenzten Menschenliebe, wie sie Gott als Herrscher erwiesen hat, als er ›uns‹ rettete«. 113  So etwa Collins, I & II Timothy, 357; Merz, Selbstauslegung, 236 Oberlinner, Titus, 161, vermutet eine gemeinsame Tradition, vgl. auch Läger, Christologie, 98–102. 114  Das gilt sowohl unter Voraussetzung der pseudepigraphischen wie authentischen Verfasserschaft. Würde man den Tit als authentischen Brief verstehen (vgl. neuerdings u. a. Johnson, First and Second Letters; Towner, Letters; Fuchs, Unterschiede; Neudorfer, 1 Tim/2 Tim/Tit), so wäre er von Paulus nach dem Röm geschrieben und würde Röm 13 voraussetzen. Dennoch müsste man berücksichtigen, dass diese Voraussetzung zunächst nur für Paulus als dem Autor angenommen werden könnte, nicht notwendiger Weise auch für Titus als dem Empfänger des Tit. Man muss daher nicht annehmen, dass Titus die Äußerung in Tit 3,1–8 nur verstanden hätte, würde er Röm 13 kennen. Eine etwas andere Konstellation ergäbe sich unter pseudepigraphischer Perspektive, wonach eine Kenntnis von Röm 13 eher anzunehmen wäre, so dass sich durch diese intertextuelle Referenz die Perspektive der Interpretation verändern würde. Aber dabei müsste auch die Fiktionalität stärker berücksichtigt werden, denn wenn der Tit pseudepigraphisch wäre, dann würde der Verfasser von seinen Leserinnen und Lesern offenbar erwarten, dass sie den Brief lesen, als ob Paulus ihn geschrieben hätte. Das verkompliziert den Rezeptionsvorgang erheblich, weil es dann nämlich nicht mehr ausreichen würde, einfach auf geprägte Traditionen hinzuweisen, sondern man müsste erklären, welche Rolle diese Traditionen für den Verstehensvorgang spielten, vgl. Marshall, Faith, 205; Oberlinner, Titus, 161. 115  Vgl. ähnlich Löning, Gnade, 244. Demgegenüber setzt etwa das bei Merz, Selbstauslegung, zugrunde gelegte Intertextualitätsmodell unter den Prämissen der Pseudepigraphie des Briefkorpus voraus, dass »die intertextuelle Präsuppositionsstruktur der Pastoralbriefe als vorgeblicher Paulusbriefe […] ihre Rezeption im Gesamtzusammenhang der den intendierten LeserInnen bekannten schriftlichen und mündlichen Paulustraditionen (erfordert). Dazu zählen auf jeden Fall die folgenden Paulusbriefe: Röm, 1/2 Kor, Phil, Phlm« (a. a. O., 242). 116  Weiser, Verantwortung, 40.

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erst gar nicht kommen soll. Darüber hinaus ist Tit 3,1a inhaltlich nicht von 3,1b zu trennen, wie Weiser es vornimmt,117 sondern V. 1b steht zu V. 1a in einem ergänzenden, explikativen Zusammenhang. Gerade angesichts der Herausforderung durch eine nichtchristliche oder gar christenfeindliche politisch-bürgerliche Ordnung ist das Verhältnis der Christen untereinander und zu allen (anderen) Menschen in besonderer Weise auf die Probe gestellt. Der hierbei verwendete Begriff πειθαρχεῖν ist selten; er kommt im Neuen Testament nur hier und in Apg 5,29.32 sowie 27,21 vor.118 In Apg 27,21 ist damit das bereitwillige Hören gemeint, das die Bereitschaft impliziert, aus dem Gehörten entsprechende Konsequenzen abzuleiten. In Tit 3,1 entspricht dies der Erwartung der Bereitschaft zu guten Werken und wird dem Ungehorsam vergangener Zeiten gegenüber gestellt (V. 3).

4.4  Tit 3,12–15 als Teil einer Paulus-»Story« – eine Skizze Die vergleichsweise ausführlichen persönlichen Abschnitte im 2. Timotheus- und im Titusbrief stellen nach wie vor eine schwierige interpretatorische Herausforderung dar.119 Unter der weithin anerkannten Perspektive einer pseudepigraphischen Abfassung der Pastoralbriefe als Corpus pastorale fällt es schwer, diese konkrete Ausführlichkeit zu erklären, weil dadurch die pseudepigraphische Fiktion in die Nähe der Fälschung rückt und damit nicht mehr ohne weiteres als unproblematisches Stilmittel angesehen werden kann.120 Das dahinter stehende Problem ist 117 

A. a. O., 44 f. der immer wieder gesehenen Nähe der Pastoralbriefe zur Apg bzw. zur lukanischen Sprache (vgl. z. B. Strobel, Schreiben; Quinn, Last Volume; Wilson, Luke; Marshall, Christology) wird man an dieser Stelle angesichts der wenigen Belege dieses Begriffes vorsichtig sein müssen, von einem lukanischen Sprachgebrauch zu sprechen. 119 Der 1 Tim enthält auffälliger Weise keine derartigen persönlichen Notizen; vgl. dazu Luttenberger, Prophetenmantel. 120  Zur Veranschaulichung vgl. Brox, Verfasserangaben, 24: »Traditionen, Namen, Erinnerungen aus der Umgebung des Paulus und sicher auch ausgesprochene Erfindungen werden im pseudepigraphischen Paulusbrief zu sehr variablen Mitteln, das fiktive Dokument literarisch und sachlich so auszustatten, daß es erfolgreich wird. Die Pastoralbriefe stellen nach Programm und Vielseitigkeit der Ausführung innerhalb des Neuen Testaments diesbezüglich wohl das Kabinettstück dar.« Peter Trummer hat dies aufgenommen und verschärft, um letztlich ebenfalls die Art der Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als »noch« legitim erscheinen zu lassen. Insbesondere der 2 Tim zeige, dass und inwiefern »eine sich als legitim verstehende[.] ›kirchliche[.]‹ Pseudepigraphie« an ihre »Grenzen und (ihr) Ende« gekommen sei. »Dies gilt sowohl hinsichtlich der zeitlichen wie sachlichen Entwicklung, aber auch der literarischen Durchführung: Sie [sc. die Pastoralbriefe, J. H.] treiben die Fiktion und literarische Form bis ins äußerste, sie betreiben ›totale Pseudepigraphie‹ und sind wohl überhaupt das ›Kabinettstück‹ einer ntl Pseudepigraphie« (Trummer, Corpus, 129 [alle Zitate]; ähnlich Donelson, Pseudepigraphy, 55). Brox selbst hat immerhin das Problem deutlich gesehen: »Man kann nicht mit theologischen Motivationen darüber hinwegeilen, dass die sog. Pastoralbriefe des Neuen Testaments […] vom literarischen Unternehmen her eine methodisch angelegte Täuschung, eine bewusste und künstlerisch raffiniert durchgeführte Autoritätsanmaßung darstellen« (Brox, Verfasserangaben, 178). Vgl. demgegenüber z. B. Schnelle, Einleitung 2007, 325: »Die literarische Form der Pseudepigraphie war im letzten Drittel des ersten christlichen Jahrhunderts das wirksamste Mittel, um die neu aufgebrochenen Probleme aus der Sicht der Verfasser der Pseudepigraphen im Sinn der von ihnen jeweils in Anspruch genommenen Autoritäten zu lösen. Die 118  Aufgrund

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sachlich und nicht zuletzt auch forschungsgeschichtlich sehr komplex und kann hier nicht ausführlich behandelt werden.121 Eine interessante literarische Lösung hat Richard Pervo vorgeschlagen, der die Pastoralbriefe von der Gattung des antiken Briefromans her interpretieren will und als Gattungsparallele u. a. die ChionBriefsammlung heranzieht.122 Abgesehen von der Tatsache, dass altertumswissenschaftlich die Existenz dieser Gattung generell unsicher bleibt und daher umstritten ist,123 benennt Pervo folgende spezifische Merkmale: Pseudonymität, historische Verankerung, Ausrichtung auf bestimmte Charakterzüge, philosophische bzw. moralische Absicht, Integrität und Kohärenz der Sammlung sowie als entscheidendes Kriterium die Präsentation einer Erzählung.124 Trotz berechtigter grundsätzlicher Zweifel an der Briefroman-Theorie, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können, stellt sie einen Aspekt in den Vordergrund, der für die Interpretation der Pastoralbriefe eine größere Rolle spielen muss, als dies in der Forschung gewöhnlich der Fall ist. Sie bestimmt nämlich die persönlichen Notizen nicht als inhaltlich kaum relevante pseudepigraphische Stilmittel, sondern weist ihnen eine konkrete Funktion im Blick auf die narrativ zu bemoralische Kategorie der Fälschung ist deshalb ungeeignet, die Zielsetzungen der Pseudepigraphie zu erfassen.« Demgegenüber ist auch für Ehrman, Forgery, die Fälschung die maßgebliche Kategorie zur Beurteilung neutestamentlicher Pseudepigraphie. 121  Vgl. dazu Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76). 122  Pervo, Romancing. 123  Pervo, a. a. O., 27, nennt als Argument: »Epistolary novels obviously existed, for they are discussed in Pauly-Wissowa.« Zur Gattung Briefroman vgl. Holzberg, Briefroman; sowie vor allem die Kritik bei Luchner, Pseudepigraphie. Zur Problematik der Gattungsdefinition vgl. Glaser, Briefroman, 32–41, der die Pastoralbriefe als Briefroman interpretiert und dabei von einer grundsätzlichen »Unbestimmtheit der Gattung Briefroman« (a. a. O., 37) ausgeht. »Wenn man nun einen Briefroman liest, so weiß man, dass man einen liest, ohne zu wissen, dass man einen liest« (a. a. O., 41, im Original kursiv). Interessanterweise gibt es in den antiken Rhetorik-Handbüchern keine Hinweise auf das Wissen um die Gattung Briefroman. Es ist daher höchst zweifelhaft, ob ein antiker Autor wie der der Pastoralbriefe bewusst einen literarischen Briefroman verfassen konnte. Vermutlich gilt hier der zitierte Satz Glasers gleichermaßen. Unter den konstruierten Voraussetzungen ließe sich auch die Sammlung der als authentisch geltenden Paulusbriefe als Briefroman lesen, weil die dahinter stehende Missionsgeschichte bereits das Potential einer Erzählung besitzt, vgl. dazu Glasers Bezug auf Baurs Einschätzung des Phlm, a. a. O., 16 f. Immerhin muss man bedenken, dass auch die von Pervo und Glaser herangezogenen Briefsammlungen oft Zusammenstellungen aus echten und unechten Briefe sind. Letztlich erweist sich die Gattung Briefroman auch in den aktuellen Studien als eine Erfindung der Moderne, die als Erklärungsmuster auf antike Briefsammlungen übertragen wird; vgl. dazu auch die kritischen Bemerkungen von Luchner, Pseudepigraphie, 242–249. Luchners Kritik wird bei Glaser nicht aufgenommen. Skeptisch äußerst sich auch Häfner, Belehrung, 12. 124  Pervo, Romancing, 29 f. Dies ist ausführlich aufgenommen bei Glaser, Briefroman, 277–283. Glaser stellt aufgrund seiner Perspektive grundsätzlich und sachlich notwendig den intertextuellen bzw. rezeptionskritischen Ansatz von Merz infrage: »Für die Pastoralbriefe hieße dieser Ansatz nichts anderes, als dass sie fiktionale Texte sind, als solche gelesen werden wollen und keine ›hermeneutische Brille‹ anbieten sollen, die originalen Paulusbriefe (oder das, was der Verfasser dafür gehalten haben mag) so und nicht anders zu lesen. Sie bieten m. a. W. eine Lesestrategie des Paulusereignisses an, das sie neben andere setzen« (a. a. O., 15; vgl. 283–322). Allerdings geht auch Glaser von der Kenntnis der meisten Paulusbriefe sowie darüber hinaus auch der hinter der Apg und der Thekla-Akten stehenden Traditionen beim Verfasser der Pastoralbriefe aus (ebd.).



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stimmende Situierung der Briefe zu. Dies ist unter pseudepigraphischer Perspektive ebenso interessant und notwendig wie unter der Voraussetzung der Authentie der Pastoralbriefe, denn so wie die Pastoralbriefe als echte Paulusbriefe in die Chronologie der paulinischen Mission eingeordnet werden müssen, so muss sich erst recht unter pseudepigraphischem Vorzeichen – noch dazu als eines literarischen Corpus pastorale – eine kohärente Konzeption im Blick auf die fiktiv vorausgesetzten Situationen des fiktiven Autors und seiner ebenso fiktiven Adressaten ergeben.125 Dies entspricht der Suche nach der Erzählung im Briefroman.126 Der Unterschied zu dem im Folgenden zu skizzierenden Entwurf besteht jedoch darin, dass die Briefroman-Theorie davon ausgeht, die Pastoralbriefe seien als ein literarischer Briefroman mit fiktional-narrativem Charakter konzipiert, der auch als solcher rezipiert wurde. Doch davon kann keine Rede sein. Die Möglichkeit, dass auch unter einer Autorfiktion pseudepigraphische Briefe an eine authentische Situation gebunden sein können, wird dabei ausdrücklich ausgeschlossen.127 Insofern stellt die Briefroman-Theorie eine Variation der etablierten Theorie eines literarischen Corpus pastorale (Peter Trummer) dar, mit dem Unterschied, dass bei dieser die inhaltlichen und theologischen Aspekte der ekklesiologischen Fragen im Vordergrund stehen, bei jener hingegen die Erzählung des »Paulusereignisses« (Glaser).128 Der Vorteil der Roman-Theorie besteht also demgegenüber immerhin darin, dass sie das Problem der persönlichen Notizen unter pseudepigraphischem Vorzeichen tatsächlich plausibler erklären kann bzw. ernster nimmt, als dies bisher der Fall gewesen ist.129 Im Folgenden sollen kurz die Implikationen für die Interpretation von Tit 3,12– 15 skizziert werden, und zwar unter der Voraussetzung, dass nicht die Pastoralbriefe als dreiteiliger Briefroman eine kohärente Paulusgeschichte erzählen, sondern dass zunächst jeder Brief für sich genommen und damit auch der Titusbrief eine (mehr oder weniger) plausible Situierung in der Paulusgeschichte aufweist bzw. voraussetzt. Diese Situierung wird in besonderer Weise durch die narrativen Elemente der persönlichen Notizen markiert bzw. konstruiert. 125 Zur sog. doppelten Pseudonymität der Pastoralbriefe vgl. Stenger, Timotheus. Zum narrativ-dezeptiven Charakter pseudepigraphischer Briefe und speziell des Tit vgl. Marshall, Narrative Deception, der – obwohl im Ganzen wenig differenziert argumentierend – doch treffend bemerkt: »Behind every letter is a story, but behind a forged letter there are at least two – and one is a lie. The technique of the pseudonymous letter is to bridge surreptitiously the gap between the fiction it tells and the historical situation in which it seeks to have an effect« (a. a. O., 781). 126 Vgl. Pervo, Romancing, 29 f. 127 Vgl. Glaser, Briefroman, 22 f. Anm. 42, wonach eine narrative Lektüre dann nicht möglich sei, wenn man in den Pastoralbriefen echte Briefe sehen würde. Dies ist allerdings kaum überzeugend, zumal nicht erweisbar ist, dass die zum Vergleich herangezogenen antiken Briefsammlungen literarisch als Briefroman entstanden sind und so gelesen werden wollten. Auch die stets präsente und erkennbare implizite Situation von echten Briefen macht es im Falle ihrer Sammlung möglich, sie als Briefroman zu lesen, ohne dass diese Rezeptionsmöglichkeit für die Frage nach ihrer Entstehung und ihrer ursprünglichen Pragmatik relevant wäre; vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen. 128 Vgl. Trummer, Corpus. 129 Vgl. Glaser, Briefroman, 28 f.

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Ein kaum lösbares methodisches Problem ist die Frage, inwiefern diese Angaben mit dem kompatibel sind, was sonst in der Überlieferung von Paulus bekannt ist, und zwar sowohl durch die authentischen Briefe, wie auch andere pseudepigraphische Briefe und natürlich auch die Paulustradition der Apostelgeschichte. Diese Frage differenziert sich zusätzlich in zwei Aspekte. Der eine betrifft die Frage, was von diesen Traditionen bei den Rezipienten vorauszusetzen und zum Verstehen des Briefes und seiner Intention und Situation notwendig ist, denn nicht alles, was ein Autor weiß und voraussetzt, muss notwendig auch bei den Rezipienten vorausgesetzt sein. Unter literarischen Gesichtspunkten, zumal vor dem Hintergrund der Briefroman-Theorie, wäre dies allerdings entscheidend, wenn es stimmen sollte, dass in den Pastoralbriefen als »Briefroman um Paulus […] die Erzählung primär erst in der Lektüre (entsteht), insofern die Lesenden die Hinweise in den Briefen aufgreifen und miteinander und mit von anderwärts her Bekanntem in Verbindung bringen«.130 Dass man sich hier auf höchst spekulativem Terrain bewegt, dürfte deutlich sein.131   Der andere Aspekt der Frage richtet sich auf den Autor selbst, ob und inwiefern seine Angaben von dem abhängig sind, was uns aus der Paulusbiographie bekannt ist oder ob und in welchem Maße mit erfundenen Details (z. B. auch in der Paulusüberlieferung sonst unbekannte Personen oder Orte wie Nikopolis) zu rechnen ist und wie dieses überlieferungsgeschichtliche Wissen schließlich mit dem potentiellen Wissen der intendierten Rezipienten korreliert. Diese Fragen sind methodisch kaum zu beantworten.132 Dennoch ist die Differenzierung der Frage nach den persönlichen Notizen sowohl unter pseud­epigraphischem wie auch unter authentischem Vorzeichen notwendig, denn auch und gerade wenn der Titusbrief authentisch sein sollte, ist nicht notwendig oder gar sicher vorauszusetzen, dass die situativen Details auch mit dem übereinstimmen, was wir bzw. auf einer anderen Ebene auch die Empfänger der Pastoralbriefe etwa aus der Paulusgeschichte der Apostelgeschichte wissen bzw. – das ist ein weiterer Aspekt  – wie zuverlässig Lukas in den relevanten Details ist.133 Dabei spielt schließlich auch die Frage eine Rolle, wer eigentlich die Empfänger der Pastoralbriefe sind bzw. was der Autor mit diesem Brief bei wem erreichen will und ob für sein Anliegen die persönlichen Situationsangaben tatsächlich eine Rolle spielen. Bei der Briefroman-Theorie liegt immerhin darauf das entscheidende Gewicht, denn wenn der Roman als solcher nicht erkannt und gelesen würde, hätte der Autor sein Ziel nicht erreicht. In all diesen Fragen ist allerdings die Forschung inzwischen so disparat geworden, dass eine Erörterung schwer fällt.

Im Titusbrief weisen die Angaben am Schluss auf den Briefanfang zurück.134 Tit 1,5 setzt einen kurzen Aufenthalt des Paulus auf Kreta voraus, der bei seiner Abreise seinen Mitarbeiter zurücklässt (ἀπέλιπον),135 um τὰ λείποντα ἐπιδιορθῶν, was 130 

A. a. O., 276. Vgl. dazu unten zu den Vermutungen Glasers zur Enzyklopädie der potentiellen Leserinnen und Leser. Glaser, Briefroman, 294–296 u. ö. geht von einer Kenntnis und Benutzung der Apg durch den Autor aus, was impliziere, dass das Verstehen der in den Pastoralbriefen entwickelten Paulusgeschichte auch bei den Empfängern von der Apg her möglich sei. 132  Vgl. dazu Herzer, Lukas, 29–35 (in diesem Band 215–246). 133  Zu den aktuellen Diskursen der Acta-Forschung vgl. z. B. Backhaus, Lukas; Frey/Rothschild/Schröter, Apostelgeschichte. 134  Vgl. dazu auch Glaser, Briefroman, 224–237; Herzer, Lukas, 46–56 (in diesem Band 215–246). 135 Vgl. Wolter, Pastoralbriefe, 183 f.: Vor dem Hintergrund der mandata principis seien die Begriffe ἀπολείπειν und καταλείπειν »Termini technici, die den Vorgang der Einsetzung von Stellvertretern beschreiben« (a. a. O., 183), was impliziere, dass die einsetzenden Könige bzw. hohen Amtsträger nicht persönlich zur Einsetzung anwesend sein müssen, vgl. Glaser, Briefroman, 131 



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maßgeblich in der Einsetzung von Presbytern besteht. Die Tatsache, dass der kretische Kontext auch im Folgenden in der ethischen Weisung eine ausdrückliche Rolle spielt (1,12), deutet darauf hin, dass die Situierung des Briefes in diesen lokalen Koordinaten inhaltlich bedeutsam ist.136 Während Kreta die Situation des Briefempfängers markiert, bestimmt die Ortsangabe Nikopolis in 3,12 die Situation des Absenders, wobei die Partikel ἐκεῖ vielfach als Hinweis darauf interpretiert wird, dass sich Paulus noch nicht dort befinde, sondern noch auf dem Weg sei.137 Zwingend ist dies freilich nicht. Die lokale Dimension der Briefsituation ist vielmehr geprägt und gleichsam gerahmt von der Verhältnisbestimmung Kreta – Nikopolis, die ergänzt wird durch den zeitlichen bzw. jahreszeitlichen Hinweis auf das bevorstehende Überwintern in Nikopolis. Weitere Umstände werden nicht erwähnt. Die Betonung der Dringlichkeit des Nachkommens des Titus zu Paulus (vgl. Tit 3,12) sowie die lokale Konstellation Kreta – Nikopolis legen die Schlussfolgerung nahe, dass damit das Kommen vor dem Winter impliziert ist. Von Kreta aus kann man nur mit dem Schiff nach Nikopolis kommen, und dies eben geht nur vor dem Winter, der die Seefahrt zu gefährlich werden lässt (vgl. auch Apg 27,9–12). Angesichts dieser Situation ist ebenfalls naheliegend anzunehmen, dass die Erwähnung des Zenas als νομικός damit zusammenhängt. Was der Begriff beinhaltet, bleibt offen, zumal Zenas im Unterschied zu Apollos aus der sonstigen Paulusüberlieferung nicht identifiziert werden kann.138 Wenn die  – wahrscheinliche  – Bedeutung Jurist bzw. Anwalt für νομικός richtig sein sollte,139 dann könnte dies ein Hinweis auf eine Situation des Paulus sein, in der er einen Juristen bzw. Anwalt braucht (vgl. V. 14). Und schließlich lässt sich dem Gruß »aller, die bei mir sind« in 3,15 entnehmen, dass Paulus nicht allein ist, wobei keine weiteren Namen genannt werden. Damit ist vorausgesetzt, dass Titus als Adressat weiß, um wen es sich handelt, denn sonst hätte ein solcher Gruß keinen Sinn.140 Im Hinblick auf die vorausgesetzte – oder gegebenenfalls auch literarisch konstruierte – lebensgeschichtliche Situation ist zu berücksichtigen, dass der Titusbrief keine missionarische Verkündigung des Paulus auf Kreta voraussetzt.141 Durch die 226. Ob dies jedoch auch als Intention des Autors des Tit vorausgesetzt werden kann, ist nicht zu erweisen. 136 Zum kretischen »Kolorit« des Tit vgl. Wieland, Crete; Zimmermann, Wiederentstehung; Vogel, Kreterpolemik. Vgl. auch van der Horst, Jews. 137  Vgl. z. B. bereits Holtzmann, Pastoralbriefe, 21.503; Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 114, u. a. 138  Dazu s. o. Abschnitt 4.3 zu V. 13. In den Paulusakten (ActPaul 3,2 [236]) wird ein Zeno(n) als Sohn des Onesiphoros (vgl. 2 Tim 1,16; 4,19) bezeichnet, was jedoch legendarisch sein dürfte; vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 115. 139  Vgl. u. a. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 114; Oberlinner, Titus, 197 f. 140  Dies gilt auch unter der Voraussetzung, dass es sich um ein brieftypisches formelhaftes Element handelt, vgl. Glaser, Briefroman, 224. 141  Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 115, halten einen Aufenthalt des Paulus in Nikopolis/Epirus für »wohl glaublich«, ebenso auf Kreta, wobei sie im Blick auf Kreta von einer missionarischen Arbeit ausgehen. Immerhin berichtet die Apg 27,7–13 von einem kurzen Aufenthalt des Paulus auf Kreta unter den besonderen Umständen der römischen Schutzhaft auf dem Weg nach

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ausschließlich auf eine ordnende Tätigkeit des Titus ausgerichteten Ermahnungen und die bereits auf Kreta vorfindlichen Auseinandersetzungen zwischen christlichen Gruppen und »denen aus der Beschneidung« (1,10–16) wird vielmehr nahegelegt, dass der nach Kreta kommende und ausdrücklich unvollendeter Dinge (1,5) wieder abreisende Paulus bereits christliche Gemeinden vorfindet, die ihm gegenüber offenbar aufgeschlossen sind, sich aber nicht seiner eigenen Missionsarbeit verdanken.142 Dem entspricht auch der Auftrag an Titus: Nicht er soll dauerhaft in den Gemeinden für Ordnung sorgen, sondern mit dieser Aufgabe seinerseits (kretische) Presbyter beauftragen, die dies nachhaltig übernehmen sollen. So wenig über Kreta aus der paulinischen Tradition bekannt ist, so unbekannt ist auch die Stadt Nikopolis in der überlieferten Paulustradition. Es ist oft die Frage gestellt, aber nach wie vor nicht befriedigend beantwortet worden, warum ein pseudonymer Autor diese beiden Ortsangaben für einen fiktiven Paulusbrief an seinen Mitarbeiter Titus verwendet haben sollte.143 Gegenüber den bisherigen Versuchen, Kreta von Ephesus her zu bestimmen und plausibel zu machen und Nikopolis zu übergehen, setzt Timo Glaser im Zusammenhang mit der Briefroman-Theorie voraus, dass Kreta und Nikopolis rein literarisch gebrauchte Namen144 seien und als solche enzyklopädisches Wissen aufrufen, das in der Antike Gemeingut gewesen sei. Zu Kreta führt Glaser als allgemein vorauszusetzendes enzyklopädisches Wissen an: Die Weitläufigkeit der Insel als Gegentyp zur Stadt Ephesus, welche im 1.  Timotheusbrief die Situation bestimmt; das Klischee von den Kretern als »Lügner, üble Tiere und fette Bäuche« (Tit 1,12) als Bekanntmachung mit der Situation des Titus und »kleine Knobelaufgabe […], die weiter hilft, die Enzyklopädie zu Kreta zu aktivieren«;145 die jüdischen Gegner als Bezug zur Vorstellung, die Juden hätten ihren Ursprung in Kreta (vgl. Tacitus, Hist V,2); und schließlich die Bitte um die Ausstattung von Zenas und Apollos zur Weiterreise als Hinweis auf Kreta als Verkehrsknotenpunkt.146 Mit dem Namen Nikopolis sei ferner das Wissen um die Stadt als Verbindung zu Italien enzyklopädisch relevant, die Beziehung zur Kaiserideologie und des Kaiserkultes sowie die Architektur der Stadt als Ausdruck der pax Augusta.147 Die Erwähnung von Nikopolis bringt nach Glaser speziell Folgendes zum Ausdruck: Italien bzw. Rom (s. u.). Da die Apg den Paulusmitarbeiter Titus völlig übergeht, ist dessen Nichterwähnung im Zusammenhang mit dem Kretaaufenthalt des Paulus in Apg 27 wenig signifikant. 142  Zur Bedeutung der Anwesenheit von Kretern beim Pfingstfest (Apg 2,11) in diesem Zusammenhang s. u. 143 Vgl. Roloff, 1 Tim, 42, wonach die Aussagen über Kreta »eigentlich« Aussagen über Ephesus seien, da Kreta ephesinisches Missionsgebiet sei; vgl. auch Thiessen, Christen, 251. Weiser, 2 Tim, 59 (mit Anm. 89), vermutet: »Die Christengemeinden Kretas sind wahrscheinlich unter Mitwirken des Titus von Ephesus aus gegründet worden. Deshalb zeigt sich selbst in der Ortsangabe ›Kreta‹ (Tit 1,5) eine Beziehung zu Ephesus.« Quinn/Wacker, Letters, 17, vertreten eine typologische Deutung: Kreta und Ephesus »may be understood typologically: but it is any large, Greek-speaking metropolis of the latter first century in which more or less established congregations of Jewish and Gentile Christians live close to one another.« Das mag für Ephesus gelten können, für Kreta jedoch kaum. Nach Collins, I & II Timothy, 11, handelt es sich bei Kreta als einer Insel lediglich um ein »creative narrative element«. 144 Vgl. Oberlinner, Titus, 195; mit anderer Intention Glaser, Briefroman, 229–237. 145  Glaser, a. a. O., 231. 146  A. a. O., 232 f. 147  A. a. O., 234–236.

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»Wenn nun Paulus Titus mitteilt, dass er in die ›Siegesstadt‹/nach Nikopolis reisen will, so wird […] beides evoziert: Paulus ist auf dem Weg nach Italien und er wird in Kontakt kommen mit einer massiven Präsenz des Kaiserkultes und der Rechtsideologie.«148 Warum allerdings Kreta dafür literarisch notwendig war, bleibt offen, zumal der 1.  Timo­ theusbrief, der ja Teil des behaupteten Briefromans wäre, das Szenario unnötig verkomplizieren würde.149

Auf die Problematik dieser Behauptungen kann hier im Einzelnen nicht näher eingegangen werden. Wichtig und im Sinne der Fragestellung weiterführend ist allerdings der Hinweis, dass die Nennung Kretas mit den Erwähnungen der Insel in der Apostelgeschichte zusammenhängt. Dort wird einerseits in Apg 2,11 aus der Präsenz von Kretern beim Pfingstereignis plausibel, dass es auf Kreta bereits lange vor der paulinischen Mission Christen bzw. christliche Gemeinden gegeben hat (bzw. gegeben haben könnte), die offenbar  – so setzt der zeitliche Abstand des Titusbriefes voraus  – eine gewisse Problemgeschichte hinter sich hatten und so von Paulus bei seinem Kretaaufenthalt vorgefunden wurden. Darüber hinaus wird Kreta in Apg 27 als Station der Rom- bzw. Italienreise (Apg 27,1) des Paulus genannt, eine geographische Ausrichtung, die auch im Titusbrief – wie Glaser zu Recht hervorhebt – mit der Reiseabfolge Kreta – Nikopolis gegeben ist, denn Nikopolis ist als Winterhafen auf der Reise nach Rom für die Schifffahrt bekannt und bedeutsam.150 Im Resümee lässt sich die begründete Vermutung formulieren, dass die im Titusbrief vorausgesetzte Situation (ob literarisch-fiktiv oder realiter) mit derjenigen vergleichbar ist, die Lukas als Reise des Paulus nach Rom beschreibt. Allerdings erwähnt der Titusbrief weder einen Schiffbruch (Apg 27,13–44), noch die Insel Melite (Apg 28,1), Lukas seinerseits weder Nikopolis noch Titus. Der Titusbrief beschreibt bzw. konstruiert daher ein anderes Szenario der Romreise des Paulus als Lukas bzw. als das, was man der Apostelgeschichte gemeinhin an historischen Daten entnimmt.151 Zu fragen wäre deshalb, inwiefern die Angaben des Lukas den Tatsachen entsprechen bzw. wie sie literarisch zu erklären und zu interpretieren 148 

A. a. O., 236. Vgl. die entsprechenden Vermutungen a. a. O., 204–244. 150  Das von Octavian im Jahr 30 v. Chr. nach seinem Sieg bei Actium über Marcus Antonius gegründete Nikopolis (Sueton, Augustus 18,2) war als griechische Polis eine politisch und wirtschaftlich wichtige Hafenstadt an der nordwestlichen Küste Griechenlands in der Provinz Epirus (vgl. Strabo, Geogr. VII,7), gelegen in einer zum Überwintern für Schiffe gut geeigneten Lage auf einer Halbinsel zwischen dem Ionischen Meer und dem Ambrakischen Golf, vgl. Schober, Art. Nikopolis, 512; Strauch, Art. Nikopolis, 936 f. Eine andere Stadt dieses nicht seltenen Namens (der RE-Artikel listet insgesamt acht Städte dieses Namens) kommt im Kontext der paulinischen Missionstradition nicht infrage, zu den verschiedenen Möglichkeiten vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 114 f. 151  Dabei ist zu beachten, dass nicht vorausgesetzt werden kann, dass der Autor des Tit die Apg kannte, denn das Wissen von christlichen Gemeinden auf Kreta hat auch Lukas bereits der Tradition entnommen, und die Umstände der Romreise des Paulus können auch in unterschiedlicher Form überliefert worden sein. Es ist allerdings auch nicht ausgeschlossen, dass das im Tit vorausgesetzte Szenarium unter bestimmten Voraussetzungen auch mit der bei Lukas literarisch gestalteten Erzählung in eine kohärente Beziehung gesetzt werden kann. 149 

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sind (vgl. z. B. die Deutung des Inselnamens »Melite«152). Der Titusbrief jedenfalls setzt voraus, dass Paulus von Kreta in Richtung Nikopolis gereist ist, wobei damit die Absicht der Weiterreise nach Rom impliziert sein kann.153 Die Erwähnung des bevorstehenden Winters bringt eine Dynamik der Dringlichkeit in die Szenerie, durch die auch die Überwinterung in Nikopolis ein plausibles Element darstellt, da im Winter eine Weiterreise  – wohin auch immer  – aufgrund der damit gegebenen nautischen Gefahren grundsätzlich nicht möglich ist. Immerhin deutet die Überwinterung auf die Absicht einer Weiterreise per Schiff hin, denn eine Reise zu Land wäre auch in den Wintermonaten möglich. Die bevorstehende Überwinterung und damit Verzögerung der Reise gibt Titus bzw. dem »Anwalt« Zenas die Gelegenheit, zu Paulus zu kommen und ihn auf der weiteren Reise zu begleiten. Falls der Autor  – was nicht sicher zu erweisen, aber von der Szenerie insgesamt wahrscheinlich ist  – die in Apg 27 beschriebene Reise des Paulus und damit die bevorstehende Prozesssituation in Rom vor Augen hatte, dann ist auch die eilende Anforderung eines νομικός durchaus plausibel und veranschaulicht das Szenario durch ein weiteres Element. Gegen diese Situierung des Titusbriefes während der Überführung des Paulus nach Rom in Begleitung römischer Soldaten wurde oft die Formulierung angeführt, mit der Paulus davon spricht: Er habe »beschlossen, dort den Winter zu verbringen« (ἐκεῖ γὰρ κέκρικα παραχειμάσαι, Tit 3,12). Eine solche aktive Entscheidung passe aber nicht zu seiner Situation als Gefangener Roms, in der er selbst keine Entscheidungen treffen könne. Doch abgesehen von der Frage, inwieweit der Titusbrief die Apostelgeschichte tatsächlich literarisch voraussetzt, was eher unwahrscheinlich ist, so zeigt doch die Darstellung des Lukas zumindest, dass auch er nicht davon ausging und dies auch nicht explizit schreibt, Paulus hätte in Begleitung der Soldaten in Ketten gelegen. Von Ketten ist jedenfalls in der Apostelgeschichte wie in den Pastoralbriefen dann erst in der römischen Situation selbst die Rede (2 Tim 1,16; Apg 28,20154). Immerhin könnten solche Umstände auch erklären, warum Paulus nach Tit 1,5 abreisen musste, bevor er selbst die noch ausstehenden Dinge geregelt hatte. Vor diesem Hintergrund gelesen kann die aktive Perfektform κέκρικα auch implizieren, dass Paulus an der Entscheidung der 152 

In der Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft ist unter dem Eintrag Melite (Μελίτη) immerhin neben Malta (in den Namensformen Melita/Melete/Meleta, vgl. Weiss, Art. Melite, 543) eine weitere Insel mit dem Namen Melite in der Adria ausgewiesen, vgl. Fluss, Art. Melite, 547 f. Weiss, a. a. O., 543, verweist darüber hinaus auf die Möglichkeit der »Verwechslung der Insel mit der gleichnamigen (h. Mljet-Meleda) an der dalmatischen Küste«. 153 Vgl. Glaser, Briefroman, 236. 154  Nach Apg 21,33 legt der römische Hauptmann nach der Festnahme durch die Juden Paulus in Ketten, bereut dies aber nach 22,29 f., als er erfuhr, dass Paulus römischer Bürger sei, und befreit ihn unverzüglich von den Ketten. Apg 27,3 erwähnt zudem ausdrücklich, dass der befehlshabende Centurio Paulus gegenüber freundlich (φιλανθρώπως) gesinnt gewesen sei und ihm einige Freiheiten erlaubte. Lukas geht also in seiner Darstellung der Romreise keineswegs davon aus, dass Paulus als Strafgefangener in Ketten nach Rom überführt wurde. Nach Apg 26,31 f., kurz vor der Abreise aus Jerusalem, sind sich der jüdische König und der Präfekt einig, dass Paulus nichts getan habe, was rechtfertigen würde, ihn in Ketten zu legen oder gar zum Tode zu verurteilen. Vgl. dazu Herzer, Kampf (in diesem Band 185–214).



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Überwinterung beteiligt gewesen sein konnte und darüber »zu der Überzeugung gelangt«155 sei, dass Nikopolis die Station für das Überwintern sein würde. Dem Titus teilt er dies nun schriftlich mit, nachdem schon die Abreise von Kreta aufgrund des nahen Winters nicht geraten war (vgl. Apg 27,9–12), eine Entscheidung übrigens, an der sich Paulus nach der Darstellung des Lukas als »Gefangener« Roms ebenfalls beteiligte, wenn er sich auch nicht durchsetzen konnte. Schließlich wird man aus der Tatsache, dass es im Blick auf die Überwinterung zu einer Entscheidung kommen musste, vielleicht auch entnehmen können, dass die eigentliche Absicht darin bestand, diese Verzögerung zu vermeiden. Erst als die Überwinterung feststand, war ein Brief an den zurückgelassenen Mitarbeiter überhaupt möglich. Zur Problematik der Verhältnisbestimmung von Tit 3 und Apg 27 gehört auch die Spannung, die sich mit dem Hinweis auf das Überwintern in Tit 3,12 ergibt, wenn man ihn im Zusammenhang mit Apg 27 interpretieren will. Auch die Erzählung vom Schiffbruch in Apg 27 hängt ja mit der Warnung des Paulus vor dem Beginn des Winters und damit der widrigen Reiseumstände zusammen (Apg 27,9). Wenn aber bereits die Abreise der Kohorte mit Paulus und den anderen Gefangenen aus Kreta wegen des bevorstehenden Winters problematisch erschien und dann letztlich in der lukanischen Darstellung sogar zu einer Seenotsituation führte, dann wäre die Bitte des Paulus an Titus um ein baldiges Kommen (und zwar mit der wahrscheinlichen Implikation: möglichst noch vor dem Winter) mit der Erzählung des Lukas nur schwer kompatibel, da Paulus dann dem Titus die Gefahren der winterlichen Seefahrt zumuten würde, denen er selbst bereits zum Opfer gefallen war. Doch erhebt sich auch im Blick auf dieses Problem die Frage, ob bzw. inwieweit Tit 3 und Apg 27 in historischer und/oder literarischer Hinsicht miteinander zusammenhängen und wie »realistisch« das in Apg 27 beschriebene Schiffbruchszenario tatsächlich ist. Der Titusbrief selbst lässt jedenfalls nicht erkennen, dass Paulus gerade noch vor dem Winter bzw. auch schon unter widrigen Umständen nach Nikopolis gekommen sei.

Im Ergebnis lässt sich daher festhalten, dass für eine plausible Situierung des Titusbriefes nicht nur Kreta, sondern auch die Angabe von Nikopolis bedeutsam ist. Allerdings lässt sich den beschriebenen Aspekten nicht entnehmen, ob sie lediglich einer narrativen Fiktion entspringen oder eine reale Situation beschreiben. Beides ist angesichts der Textgestalt möglich, aber für eine Entscheidung sind sie insgesamt zu spärlich, zumal in eine solche auch andere Faktoren einfließen müssen. Während das Szenario des Titusbriefes durchaus mit der im 2.  Timotheusbrief vorausgesetzten Situation des in römischer Gefangenschaft sitzenden Paulus in einer sich ergänzenden Weise in Zusammenhang gebracht werden kann, besteht für die Briefroman-Theorie eines Corpus pastorale das größte Problem darin, das Reiseszenario des Titusbriefes mit der im 1. Timotheusbrief vorausgesetzten Konstellation in eine konzeptionelle Kohärenz zu bringen, ein Problem, das bereits die Vertreter der Authentizität aller drei Pastoralbriefe hatten und das man in der Regel mit der Behauptung einer zweiten römischen Gefangenschaft des Paulus zu lösen versuchte.156 Das liegt nicht nur an historischen Problemen, sondern auch an 155  In einem vergleichbaren Sinn wird das Perfekt in Apg 16,15 verwendet; vgl. auch LXX Dan 4,26. Vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 3975: »urteilen, daß etwas sei«. 156  Vgl. z. B. Metzger, Reise. Towner, Letters, 11–15, versucht eine Einordnung der Pastoral-

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der unterschiedlichen epistolographischen Charakteristik des 1. Timotheusbriefes auf der einen und des 2. Timotheus- und des Titusbriefes auf der anderen Seite. Immerhin hat sich in der intensiven Arbeit des Colloquium Paulinums an der exegetischen Erschließung des Titusbriefes gezeigt, das insbesondere der Titusbrief an den wenigen Stellen, in denen überhaupt Theologisches oder Christologisches zur Sprache kommt, nicht so weit von paulinischen Vorstellungen entfernt ist, wie oft angenommen, auch wenn sich die konkrete Begrifflichkeit von derjenigen anderer theologischer Erörterungen des Apostels unterscheidet.

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»Gefäße zur Ehre und zur Unehre« (2 Tim 2,20) Metaphorische Sprache und Ethik in den Pastoralbriefen – eine Skizze »Alle Wirklichkeit ist für uns das Bild, das wir uns davon machen. « Dieser scheinbar einfache Satz wirft eine Reihe von Fragen auf, die mit dem Problemhorizont zum Thema metaphorische Ethik zu tun haben. Man könnte ihn wahrscheinlich grundsätzlich bestreiten, zumal die Wirklichkeit nie in dem Bild aufgeht, das man sich von ihr macht. Aber wenn man Wirklichkeit konstruktivistisch betrachtet und dies mit einem speziellem Bezug auf die Ethik verbindet, dann muss man sich folgenden Fragen stellen: Wie entsteht ein solches Bild der Wirklichkeit? Wie entsteht der Eindruck, dass das unter individuellen Bedingungen konstruierte Bild die Wirklichkeit sei? Welche Bedeutung hat die Relativität dieser Bilder der Wirklichkeit, die in Gestalt der konstruierenden Individuen nebeneinander treten, sich berühren, sich überlagern, und dennoch voneinander verschieden sind? Wie ist vor dem Hintergrund eines solchen Wirklichkeitsverständnisses ein gemeinsames, auf intersubjektiven Normen beruhendes Miteinander und Handeln und somit Ethik möglich? Und schließlich  – wenn nach dem Zusammenhang von metaphorischer Sprache und Ethik gefragt wird: Wie hängt dies mit dem Phänomen Sprache zusammen? Wie »funktioniert« bildhafte Sprache in der Konstruktion von Normativität einerseits und andererseits in der Relation der so beschriebenen Normativität und dem lebensweltlichen Handeln derer, die sich dieser Normativität zu stellen haben? Wenn es stimmt, was bereits Quintilian wusste, dass Sprache stets selbst im konstruktivistischen Sinne metaphorisch1 und eine klare Unterscheidung zwischen eigentlicher (d. h. abstrakt-begrifflicher) und uneigentlicher (d. h. bildlicher oder metaphorischer) Sprache obsolet ist, dann steht sofort vor Augen, dass man sich mit einem Begriff wie »metaphorische Ethik« auf ein sprachgeschichtlich wie methodisch hochkomplexes Feld begibt. Schon die Verhältnisbestimmung der Begriffe »Bild« (gr. εἰκών) und »Metapher« (gr. μεταφορά, lat. translatio) ist nicht einfach, obwohl oder weil beide alltagssprachlich oft synonym verwendet werden. Nach 1 Quintilian, Institutio Oratoria IX 3,1: Verborum vero figurae et mutatae sunt semper et, utcumque valuit consuetudo, mutantur. Itaque, si antiquum sermonem nostro comparemus, paene iam quidquid loquimur figura est (Text bzw. Übersetzung zitiert hier und im Folgenden nach: Quintilianus, Ausbildung des Redners, hg. u. übers. v. Helmut Rahn); vgl. auch Nietzsche, Wahrheit und Lüge, der daraus eine grundsätzliche Skepsis der Sprache gegenüber hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes äußert, vgl. Mühling-Schlapkohl, Art. Metapher.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Aristoteles etwa ist die Metapher ein »Bild«, insofern sie etwas »vor Augen stellt«2, d. h. »Anschaulichkeit« eines Gegenstandes oder eines Gedankens herstellt und so auf einer intuitiven Ebene das Verstehen eines argumentativen Zusammenhanges bzw. einer entsprechenden Äußerung ermöglicht. Quintilian greift dies auf, wenn er behauptet, es sei »die Metapher […] größtenteils dazu erfunden, auf das Gefühl zu wirken und die Dinge deutlich zu bezeichnen und vor Augen zu stellen« (nam translatio permovendis animis plerumque et signandis rebus ac sub oculos subiciendis reperta est, Institutio oratoria VIII 6,19).

Im Kontext ethischer Diskurse ist daher die Metapher als »Veranschaulichung« jenseits begrifflicher Argumentation ein Instrument auch für die Plausibilisierung und damit zugleich eine Bedingung der Möglichkeit für die Akzeptanz normativer Vorgaben.3 Insbesondere die Strittigkeit des Metaphernbegriffes ist seit Quintilian immer wieder hervorgehoben worden,4 und schon ein oberflächlicher Blick in die unüberschaubare Fülle der Literatur bestätigt diese Einschätzung.5 Im Folgenden sind daher in diesem Rahmen nur einige theoriebezogene Schlaglichter möglich, um dann zu konkreten Beispielen der materialen Ethik zu kommen, wie sie etwa in den Pastoralbriefen »metaphorisch« entfaltet wird. Dazu sind zunächst einige methodische Überlegungen zur Verwendung metaphorischer Sprache in Ekklesiologie und Ethik notwendig. Anschließend werden Beispiele metaphorischer Aussagen in ethischer Absicht in den Pastoralbriefen besprochen, und zwar hinsichtlich der Aspekte der Gruppenidentität und der Gruppenprozesse sowie hinsichtlich des Zusammenhanges von normativer Sprache und lebensweltlicher Dynamik. Der Begriff der Ethik wird dabei so verwendet, dass damit nicht nur die Grundlagen und die materialen Konsequenzen normativer Aussagen beschrieben werden, sondern auch die Relation von Normativität und Plausibilität impliziert ist. Nur wo eine gesetzte 2 

Aristoteles, Rhetorik 1411b: πρὸ ὀμμάτων ποιεῖ, vgl. Kurz, Metapher, 25. Walde, Art. Metapher, 81: »Die verfremdende Zusammenstellung von Sachverhalten hat eine kognitive Funktion, weil sie dem Rezipienten eine frische Erfahrung des Gegenstandes zuteil werden läßt: komplizierte Abstraktionen können durch M[etaphern]. eine konkrete Sinnlichkeit bekommen.« 4 Vgl. Kurz, Metapher, 6: »Die Bestimmung der drei Begriffe [sc. Metapher, Allegorie, Symbol, J. H.] ist strittig, seit über sie nachgedacht wird«; vgl. Quintilian, Institutio oratoria VIII 6,1 f. Hinzuweisen ist vor allem auch auf die Kritik von Kurz an der Rezeption der aristotelischen Vergleichstheorie: »Es ist symptomatisch für die Mängel der Vergleichstheorie, daß als Beispiele meist Metaphern herangezogen werden, deren metaphorischer Effekt sich schon längst aufgelöst hat. So muß immer wieder Achilles dazu erhalten, mit einem Löwen verglichen zu werden. Ohnehin ist Ähnlichkeit ein vager Begriff. […] Ähnlich sind Dinge nur in bestimmten Hinsichten, unter bestimmten Perspektiven. In irgendeiner Hinsicht kann alles allem ähnlich sein. Daher ist die Metapher auch kein ›verkürzter Vergleich‹ (Quintilian, Institutio oratoria, 8,6,8 […]). […] Vergleich und Metapher erzeugen vielmehr verschiedene Sinnerwartungen« (a. a. O., 21). 5  Ein Überblick ist hier unmöglich, daher sei exemplarisch nur auf einige neuere Arbeiten verwiesen, die die Bandbreite der Zugänge veranschaulichen: Bernhardt/Link-Wieczorek, Metapher und Wirklichkeit; Zimmermann, Bildersprache; sowie Frey/Rohls/Zimmermann, Metaphorik und Christologie; Hartl, Metaphorische Theologie; Mácha, Theorien der Metapher. Einen guten Einblick in die methodische Problemlage bietet Zimmermann, Metapherntheorie. 3 Vgl.

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Norm so begründet wird, dass sie zumindest plausibel erscheint und intersubjektiv vermittelbar ist, kann sie zur Grundlage konkreten Handelns werden. An diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass das klassische Schema von Indikativ und Imperativ zu kurz greift, weil das, was Ethik bedeutet, nicht im Imperativ (d. h. der begründeten oder auch nur gesetzten Norm) aufgeht, sondern diese Norm lebensweltlich korreliert werden muss.6 In dieser Korrelation ist sie zudem in ihrer Legitimität notwendig einer ständigen Prüfung und Korrektur ausgesetzt. Daraus ergibt sich die Herausforderung, ethische Normen entweder stets neu zu begründen und zu legitimieren oder sie aufgrund veränderter kulturhermeneutischer Aspekte und Bedingungen neu zu definieren. Natürlich wäre es interessant, die vielfältigen sprachlichen Metaphern in den Pastoralbriefen etwa in den Tugend- und Lasterkatalogen auf ihr rhetorisches und hermeneutisches Potential hin zu befragen und ihre auf unterschiedlichen Ebenen je spezifische semantische Tragweite zu beschreiben. Das führte aber in diesem Zusammenhang viel zu weit. Der Schwerpunkt der Ausführungen wird daher auf dem Zusammenhang von Ethik und Ekklesiologie liegen, der in der Forschung für die Pastoralbriefe als besonders signifikant gilt.7 Allerdings – und dies sei hier vorweg genommen – wird die Bedeutung der ekklesiologischen Schwerpunktsetzung innerhalb der Pastoralbriefe zumeist nicht hinreichend differenziert und dadurch deutlich überschätzt.8 Diese Einschränkung ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Ekklesiologie bzw. die ekklesiologischen Aussagen innerhalb der Pastoralbriefe einen spezifischen Referenzrahmen ethischer Aussagen darstellen. Darin unterscheiden sich die Pastoralbriefe aber nicht grundlegend von anderen paulinischen Briefen. Verzichtet werden soll an dieser Stelle auf grundsätzliche Bemerkungen zu den Kontroversen um die traditionsgeschichtliche und literaturhistorische Beurteilung der Pastoralbriefe, die die Forschung seit Schleiermacher9 prägen. Für unsere Fragestellung spielen diese Auseinandersetzungen keine entscheidende Rolle.10 Allerdings wird sich zeigen, dass die Verwendung metaphorischer Sprache in den Pastoralbriefen mit dem auch für Paulus selbst charakteristischen Gebrauch von Metaphern vor allem im Bereich der Ekklesiologie und damit auch hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Ethik korreliert. Wie dieser Aspekt der Korrelation mit anderen Schriften des Corpus Paulinum vor dem Hintergrund der verbreiteten Einschätzung der Pastoralbriefe als eines pseudepigraphischen Briefkorpus zu deuten 6 

Vgl. dazu Zimmermann, Indikativ, sowie Horn/Zimmermann, Indikativ. Vgl. z. B. Roloff, Kirche, 265, zum Thema »Ethik in den Pastoralbriefen«: »Ganz generell zeichnen sich in den Pastoralbriefen Ansätze zu einer spezifischen Ethik des kirchlichen Amtes ab, und zwar im Sinne eines besonderen Rufs zur Verantwortung, die sich aus der Vorbild-Funktion seines Trägers ergibt.« Roloff behandelt die Pastoralbriefe unter der Überschrift: »Gottes geordnetes Hauswesen« (a. a. O., 250) und impliziert damit eine Gesamtcharakteristik, der die zitierte Einschätzung der Ethik korrespondiert. 8 Vgl. Herzer, House of God (in diesem Band 273–291); Engelmann, Untersuchungen, 177–344. 9 Vgl. Schleiermacher, Sendschreiben. 10  Vgl. dazu den kritischen Forschungsüberblick von Engelmann, Untersuchungen, 10–106. 7 

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

ist, gehört zu den schwierigen Fragen der Forschung auf diesem Gebiet. Deren Beantwortung ist aber n­icht die Voraussetzung für die hier verfolgte Themenstellung.11

1.  Metaphorische Sprache in Ekklesiologie und Ethik – einige methodische Überlegungen Wenn es im Folgenden speziell um den Zusammenhang von Ethik und Ekklesiologie gehen soll, dann muss man sich zunächst die Selbstverständlichkeit bewusst machen, dass ethische Urteile grundsätzlich auf vorauszusetzenden Begründungszusammenhängen beruhen. Diese können  – je nach intertextueller Prägung des Autors und seiner Absicht – sehr unterschiedlich ausfallen. Im Unterschied zu den Pastoralbriefen wird etwa für Paulus oft etwas einseitig der Zusammenhang von Ethik und Eschatologie als in besonderer Weise signifikant beurteilt, insofern etwa eine auf die Naherwartung eines Gerichtes Gottes bezogene Grundhaltung vor dem Hintergrund der Rechtfertigung der Glaubenden durch das Christusgeschehen Konsequenzen für die Ethik hat.12 Zugleich ist aber deutlich, dass für die Begründung des Zusammenhanges von Ethik und Eschatologie wiederum die Christologie in ihren unterschiedlichen Aspekten (Soteriologie, Hamartiologie, Ekklesiologie etc.) bedeutsam ist, so dass man geradezu eine Hierarchie der Begründungszusammenhänge erstellen könnte, die letztlich alle in der Ethik ihr (vorläufiges) Ziel finden.13 Die Bedeutung der Ethik liegt vor allem darin, dass der argumentativ theologisch, christologisch etc. begründete Glaube nie nur theoretisch bleiben kann, sondern immer gelebt werden muss und sich in den Lebenszusammenhängen des Einzelnen wie auch der Gemeinde zu bewähren hat. Und da zu diesen Lebenszusammenhängen maßgeblich die Gemeinde gehört, ist die Verbindung von Ethik und Ekklesiologie unmittelbar einleuchtend, die darin nicht nur für die Pastoralbriefe, sondern für die paulinische Tradition insgesamt wesentlich ist. Diese einfache Einsicht ist letztlich der Grund dafür, dass insbesondere für die Plausibilisierung ethischer Urteile wie auch der Beurteilung konkreten ethischen Verhaltens metaphorische Sprache eine große Rolle spielt, insofern Metaphern und Bilder lebensweltliche Aspekte aufrufen, die ein ethisches Urteil in seiner Konsequenz und Notwendigkeit – durchaus im aristotelischen Sinne – »anschaulich« machen. Diese Anschaulichkeit ist wichtig, damit das ethische Urteil bzw. die daraus erwachsene Forderung auch zu konkretem Handeln führt. Und sie ist nicht zuletzt auch deshalb wichtig, damit dieses Handeln auf Einsicht beruht und nicht auf bloßem Gehorsam, insbesondere Forderungen und Normen gegenüber, deren Plausibilität aufgrund veränderter kognitiver, enzyklopädischer und lebenswelt11 

Vgl. z. B. Merz, Selbstauslegung; dazu insgesamt Engelmann, Untersuchungen. Vgl. z. B. Münchow, Ethik; zum Problem vgl. Horn, Ethik. 13 Zu den vielfältigen Begründungszusammenhängen paulinischer Ethik vgl. grundlegend Merk, Handeln, der die eschatologischen Aspekte in ihrer Relation zum Glaubens an das Handeln Gottes in Christus beschreibt (vgl. bes. a. a. O., 236–243). 12 

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licher Bedingungen nicht (mehr) evident ist. Unter diesen Umständen würde eine bloße Forderung zum Gesetz, bei dem nicht mehr nach dem Warum und Wozu gefragt werden darf, sondern das als solches zu halten ist. Im hermeneutischen Vorgang der Plausibilisierung ethischer Urteile und Normen werden in den verwendeten sprachlichen Metaphern selbst verschiedene Ebenen der jeweiligen Begründungszusammenhänge mit theologischen, christologischen, ekklesiologischen usw. Aussagen abgebildet. Ethische Urteile, Forderungen und Mahnungen müssen also nicht nur theoretisch argumentativ begründet werden. Sie müssen auch im Unterschied zu dogmatischen Aussagen lebensweltlich plausibilisiert werden, wenn sie denn zu einem konkreten Handeln motivieren wollen. Anders gesagt: Eine Verhaltensnorm, die lebensweltlich  – und damit auch ekklesiologisch  – plausibel gemacht wird, hat eine größere Aussicht akzeptiert zu werden als ein Imperativ, der auf bloßen Gehorsam hin ausgerichtet ist. Durch das bisher Gesagte legt sich die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Ethik als einer zu begründenden Theorie christlichen Lebens einerseits und konkreten ethischen Urteilen und Handlungen andererseits nahe. Zwischen den auf einer bestimmten Theorie beruhenden Urteilen und den dann tatsächlich lebensrelevant werdenden Handlungen ist deshalb zu differenzieren, weil de facto nicht jedes notwendige Urteil auch zu den entsprechend konsequenten Handlungen führt. Das wiederum hängt mit der Komplexität der Lebenswirklichkeit zusammen, in der theoretische Grundsätze nicht immer adäquat umgesetzt werden können, weil dem andere Kräfte entgegenwirken.14 Das Problem, welches hinter solchen Überlegungen steht, ist die Frage nach der Normativität ethischer Aussagen bzw. der Performativität ihres sprachlichen Ausdrucks. Wenn es stimmt, dass ein zentrales Anliegen der Pastoralbriefe bzw. insbesondere des 1. Timotheusbriefes die Etablierung und Konsolidierung differenzierter Gemeindestrukturen ist und dass in diesem Kontext entsprechende ethische Konkretionen im Hinblick auf das Verhalten in der Gemeinde und den Umgang mit alten und neuen Problemen erforderlich sind, dann muss man davon ausgehen, dass die tatsächliche Lebenswirklichkeit der Gemeinden diesen neuen Strukturen noch nicht oder noch nicht hinreichend entspricht. Die recht ausführlichen Anforderungen etwa an das Amt des Bischofs und die persönliche Integrität der Amtsträger, wie sie in 1 Tim 3 formuliert sind, lassen darauf schließen, dass es hier bereits einschlägige negative Erfahrungen mit der Amtsführung gegeben hat. Diese rühren offenbar aus einer Unklarheit normativer Aspekte hinsichtlich der Eignung von Kandidaten her, die ein solches anspruchsvolles Amt bzw. eine solche gemeindeleitende Aufgabe anstreben (1 Tim 3,1). Mit seinem Brief will der Autor derartige Unsicherheiten in Gestalt von Anweisungen unter dem Namen des Apostels Paulus klären und damit feste Normen etablieren. Damit werden aber zugleich – wie noch zu zeigen sein wird – Strukturen gefestigt, die wiederum eine Abgrenzungs- und 14 Paulus

etwa thematisiert diese Diskrepanz sehr eindrücklich in dem nach wie vor umstrittenen Kapitel Röm 7, vgl. Herzer, Gesetz und Sünde.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Schutzfunktion gegen Tendenzen haben sollen, die man nicht oder nicht länger als Teil der eigenen, als paulinisch definierten Tradition verstehen kann oder will. Aus diesem Grund sind in den Pastoralbriefen und namentlich im 1.  Timotheusbrief Ekklesiologie, Ethik und Gegnerpolemik eng miteinander verbunden. Interessanterweise werden aber nicht inhaltliche Auseinandersetzungen in theologischen Argumentationen geführt, wie das etwa in den Gemeindebriefen des Paulus der Fall ist. Vielmehr korrespondiert die Bedeutung ethischer Ansprüche hinsichtlich der Gemeinde und ihrer Amtsträger mit der ethischen bzw. moralischen Diskreditierung der Gegner, ein Aspekt, der vor allem im Titusbrief auffällt (Tit 1,10–16, mit besonderem Akzent auf dem jüdischen Hintergrund der Denunzierten: μάλιστα οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς, 1,10, s. u. 2.1). Dabei ist sowohl mit Blick auf listenartige Aufzählungen ethischer Anforderungen als auch hinsichtlich der sog. Lasterkataloge zu beachten, dass die Fülle der aufgeführten Dinge nicht im Einzelnen normativ ist bzw. die Gegner damit nicht sachgemäß beurteilt werden. Vielmehr sind solche Listen entweder Teil der Plausibilisierungsstrategie des Normativen oder Teil der Polemik, deren Proprium das Überzogene und Übertriebene darstellt. Fragen wir vor diesem Hintergrund speziell nach der Funktion und Bedeutung metaphorischer Sprache in ethischen Zusammenhängen, dann lassen sich auch für den Bereich des Metaphorischen einige methodische Aspekte hervorheben. Wichtig ist zunächst festzustellen, dass es in den Texten nicht um die Metaphorik als solche geht, sondern dass diese dem jeweiligen Sachzusammenhang funktional zu- bzw. untergeordnet ist. Das aber bedeutet zunächst nur, dass das Verstehen einer Metapher nicht identisch ist mit dem Verstehen des Sachzusammenhanges, insofern die Metapher das Verstehen des Sachzusammenhanges durch Veranschaulichung lediglich unterstützen soll. Das liegt daran, dass eine Metapher entweder ein Mehr oder auch ein Weniger an Bedeutungsgehalt besitzen kann, als zum Verstehen eines Sachzusammenhanges erforderlich ist.15 Ein Beispiel dafür – auf das noch einzugehen sein wird – ist etwa das in ethischer Absicht verwendete Bild des Hauses für die Gemeinde in 2 Tim 2,20, das sich signifikant von der Metapher der Gemeinde als Haus Gottes in 1 Tim 3,15 f. unterscheidet. Im Mehrwert einer Metapher bzw. in deren möglicherweise unzureichenden Anschaulichkeit liegt letztlich jedoch auch ein Problem der Verwendung metaphorischer Sprache, insofern auch überschüssige Bedeutungsgehalte oder naheliegende, aber vielleicht nicht beabsichtigte Assoziationen in das Verstehen des Sachzusammenhanges integriert werden und dieser sich dadurch verändert. Dieses Problem ist letztlich ein Kommunikationsproblem zwischen Autor und Rezipient eines metaphorischen Textes und der intersubjektiven Verständigung auf die Grenzen der Metapher hinsichtlich ihres Aussagewertes für den zu veranschaulichenden Sach15  Vgl. dazu bereits die vielzitierte Bemerkung Hegels: »Die Metapher aber ist immer eine Unterbrechung des Vorstellungsganges und eine stete Zerstreuung, da sie Bilder erweckt und zueinanderstellt, welche nicht unmittelbar zur Sache und Bedeutung gehören und daher ebenso sehr auch von derselben fort zu Verwandtem und Fremdartigem herüberziehen« (Hegel, Ästhetik, 523).



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verhalt.16 Aufgrund des lebensweltlichen Bezugs von Metaphern bei gleichzeitiger Inkongruenz17 zu lebensweltlicher Erfahrung, Wissen, des kulturellen Horizonts bzw. der Enzyklopädie von Autor und Rezipient verändert sich die metaphorisch zur Sprache gebrachte Sache mit dem durch veränderte lebensweltliche Bedingungen bestimmten Verständnishorizont der Metapher. In dieser Überlegung spiegelt sich die metapherntheoretische Unterscheidung zwischen Substitutionstheorie und Interaktionstheorie. Während die Erstere die Metapher unter dem Kriterium der Analogie nur als Ersatz für das »eigentlich« Bezeichnete versteht,18 geht Letztere davon aus, dass die Bedeutung der Metapher nicht im Ersatz von Worten und deren Bedeutungsgehalten liegt, sondern in deren Interaktion innerhalb eines Sprechaktes. Der Begriff der Interaktion wurde bereits 1936 von Ivor Armstrong Richards eingeführt.19 Auch der Gießener Literaturwissenschaftler Gerhard Kurz greift diesen Begriff auf und erklärt, dass »wörtlich […] wie metaphorisch keine Eigenschaft eines Worts oder Satzes an sich [ist], sondern eine Eigenschaft von Äußerungen«. Somit werde ein Satz wörtlich bzw. metaphorisch verstanden, besitzt diese Eigenschaft allerdings nicht selbst.20 Außerdem sei die Bedeutung einer 16  Ruben Zimmermann benennt dies als »offene Sinndynamik der Sprachbilder«, vgl. Zimmermann, Bildersprache, oder auch »Polyvalenz der Sprachbilder« (ders., Geschlechtermetaphorik, 35). 17 Vgl. Kurz, Metapher, 25: »Im Unterschied zur nichtmetaphorischen Prädikation ist es für die Metapher wesentlich, daß semantische Inkongruenzen nicht getilgt werden, sondern gegenwärtig bleiben.« 18 Aristoteles, Poetik 21 (1457b): μεταφορὰ δέ ἐστιν ὀνόματος ἀλλοτρίου ἐπιφορά. Die Metapher, so definiert Aristoteles, »ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie. […] Unter einer Analogie verstehe ich eine Beziehung, in der sich die zweite Größe zur ersten ähnlich verhält wie die vierte zur dritten. Dann verwendet der Dichter statt der zweiten Größe die vierte oder statt der vierten die zweite; und manchmal fügt man hinzu, auf was sich die Bedeutung bezieht, für die das Wort eingesetzt ist. So verhält sich z. B. eine Schale ähnlich zu Dionysos wie ein Schild zu Ares; der Dichter nennt also die Schale ›Schild des Dionysos‹ und den Schild ›Schale des Ares‹. Oder das Alter verhält sich zum Leben, wie der Abend zum Tag; der Dichter nennt also den Abend ›Alter des Tages‹, oder, wie Empedokles, das Alter ›Abend des Lebens‹ oder ›Sonnenuntergang des Lebens‹. In manchen Fällen fehlt eine der Bezeichnungen, auf denen die Analogie beruht; nichtsdestoweniger verwendet man den analogen Ausdruck« (zit. nach Aristoteles, Poetik, übers. u. hg. von M. Fuhrmann). Vgl. Kurz, Metapher, 12: »Eine Metapher verstehen heißt hier [sc. in der aristotelischen Substitutionstheorie, J. H.]: die Metapher durch das richtige Wort ersetzen, also Abend des Lebens durch Alter.« 19 Vgl. Richards, Metapher, 34: »Auf die einfachste Formulierung gebracht, bringen wir beim Gebrauch einer Metapher zwei unterschiedliche Vorstellungen in einen gegenseitigen aktiven Zusammenhang, unterstützt von einem einzelnen Wort oder einer einzelnen Wendung, deren Bedeutung das Resultat der Interaktion beider ist.« 20 Vgl. Kurz, Metapher, 14: »Aber wörtlich ist wie metaphorisch keine Eigenschaft eines Worts oder Satzes an sich, sondern eine Eigenschaft von Äußerungen. Eine Äußerung ist das in einer bestimmten Situation Gesagte. Wir meinen oder verstehen einen gesprochenen Satz wörtlich oder metaphorisch. Dies hängt vom Kontext oder von der Situation ab, also vom Sprecher, vom Hörer, vom Schreiber, vom Leser, von der Sprechsituation, vom interessierenden Thema, vom gemeinsam geteilten Wissen über die Welt. Dieser Einsicht sucht die Interaktionstheorie Rechnung zu tragen. […] Die sprachliche Form wird als Teil und Funktion einer kommunikativen Situation behandelt.

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Äußerung, laut Kurz immer in relativer Beziehung zur jeweiligen Sprechsituation einzuordnen: »Stets muss man den ganzen Sprechakt vor Augen haben, um eine Äußerung als metaphorische verstehen zu können.«21 Um eine solche interaktionale Perspektive geht es im Folgenden bei der Untersuchung metaphorischer Sprache für die Ethik der Pastoralbriefe, und zwar mit Blick auf die ethische Kontextualisierung der entsprechenden Aussagen bzw. – um mit Kurz zu sprechen – »der Äußerungen«, wie sie in den Texten fixiert sind. Nur so können Dynamik, Tragweite und Grenzen von Metaphern gleichermaßen deutlich werden. Exemplarisch werden drei Passagen ausgewählt, in denen Metaphern in ethischer Absicht verwendet werden und gleichzeitig der Zusammenhang von Ethik und Ekklesiologie anschaulich wird.

2.  Die Funktion von Metaphern für die Plausibilisierung von Gruppenprozessen – Titusbrief und 2. Timotheusbrief 2.1  Die Kreterpolemik im Titusbrief als moralisches Problem Die wohl prägnanteste Metapher der Pastoralbriefe findet sich in Tit 1,12: »Die Kreter sind allzumal Lügner, böse Tiere, faule Bäuche.« Diese Äußerung hat eine klare polemische Funktion im Kontext des Titusbriefes und greift wahrscheinlich – manche behaupten sogar in hexametrischer Form – ein Bonmot des Philosophen Epimenides von Kreta auf, »ihr eigener Prophet«, wie der Autor betont: »(10) Denn viele sind nicht (bereit zu) Unterordnung, (sind) Schwätzer und Eingebildete, insbesondere die aus der Beschneidung, (11) denen man das Maul stopfen muss, welche ganze Häuser durcheinander bringen, indem sie lehren, was nicht sein darf, (nur) um schändlichen Gewinnes willen. (12) Einer von ihnen hat gesagt, (und sich damit als) ihr eigener Prophet (erwiesen): ›Kreter sind allezeit Lügner, böse Tiere, faule Bäuche.‹22 (13) Dieses Zeugnis ist Es gibt keine sprachliche Bedeutung an sich, sondern nur in bestimmten Situationen, für bestimmte Sprecher und Hörer, für bestimmte Absichten. […] So muß die metaphorische Bedeutung nicht [wie bei Aristoteles und Quintilian, J. H.] als Eigenschaft der syntaktisch-semantischen Einheit Satz, sondern als Eigenschaft einer Äußerung bestimmt werden. Mit einer Äußerung ist eine kommunikative Situation gegeben, nach der erst entschieden werden kann, ob ein Ausdruck metaphorisch gemeint ist oder nicht.« 21  Kurz, Metapher, 18. Der Bedeutung des Kontextes für das Verstehen von Metaphern war sich freilich auch der von Aristoteles beeinflusste Quintilian bereits im Klaren, vgl. Institutio oratoria VIII 3,38: »Ein Urteil über übertragene Ausdrücke läßt sich nur im zusammenhängenden Text gewinnen (translatio probari nisi in contextu sermonis non possunt).« Der Gedanke der kontextuellen Interaktion metaphorischer Äußerungen führt mich noch einmal zurück zu den Begriffen Normativität und Performanz. Beide sind für das Thema metaphorische Ethik von besonderer Bedeutung, weil sich damit der normative Anspruch ethischer Texte mit der oft beschworenen Performanz metaphorischer Rede verbindet. Diese Verbindung scheint ebenso einfach wie subtil zu sein: Der normative Anspruch einer ethischen Aussage wird insofern durch die metaphorische Sprache verstärkt, als durch die in Anspruch genommene Performanz der Sprache das intendierte ethische Ziel plausibilisiert und dadurch seine Umsetzung bereits »auf den Weg gebracht« wird. 22 Zur hexametrischen Form des Zitats vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 487,1.

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wahr. Aus diesem Grund überführe sie scharf, damit sie gesunden im Glauben (14) und sich nicht an jüdische Legenden und Gebote von Menschen halten, die sich von der Wahrheit abgewendet haben. (15) Den Reinen (ist) alles rein; denen aber, die befleckt und ungläubig sind, ist nichts rein, sondern befleckt ist sowohl ihr Verstand als auch ihr Gewissen. (16) Sie beteuern, Gott zu kennen, aber mit ihren Werken verleugnen sie (ihn); denn sie sind abscheulich und ungehorsam und unfähig zu irgendeinem guten Werk« (Tit 1,10–16).

Der in diesem Kontext durchaus überraschende Satz über die Kreter ist das, was man mit Quintilian eine »kühne Metapher« nennen könnte: audaci et proxime periculum (Institutio oratoria VIII 6,11). Kennzeichen einer solchen Metapher ist, dass sie die »ungewohnte Spannung zwischen Bild- und Sachbereich […] auf das Äußerste« strapaziert.23 Johannes Hartl spricht in diesem Zusammenhang von einer »semantische[n] Impertinenz, die den Hörer zwingt, [an] eine Verbindung von zwei bislang unverbundenen Konzepten zu denken«, wobei »das Maß dieser Provokation […] sehr unterschiedlich sein« könne.24 Die Verschiedenheit der provokativen Wirkung kann dabei auch mit Blick auf die Rezipienten differenziert werden. Wer etwa das Kreter-Sprichwort kennt, wird weniger provoziert sein als jemand, der zum ersten Mal mit seiner drastischen Metaphorik konfrontiert wird. Auch könnte der Adressat des Briefes, der ja selbst nicht in die Menge der »Kreter« gehört, mehr entsetzt sein als diese selbst, etwa weil er damit eine Grenze des Anstandes überschritten sieht und der Autor ihn den Adressaten gegenüber in eine missliche Lage bringt.25 All das wissen wir natürlich nicht, aber diese Überlegungen machen deutlich, dass der Autor einen guten Grund gehabt haben muss, um so deutlich vor bestimmten Personen zu warnen und zugleich in Kauf zu nehmen, den Empfänger dadurch in eine möglicherweise problematische Situation zu bringen, die dem Anliegen des Briefes sogar entgegenwirken könnte. Die ethische Relevanz der Kreter-Aussage und der darin verwendeten Metaphern wird daran erkennbar, dass die Polemik insgesamt in einen ekklesiologischen Kontext eingebunden ist und unter dieser Voraussetzung sowohl auf das Verhalten der so Diffamierten als auch ihre moralische Integrität abzielt. Obwohl sie selbst das Gegenteil behaupten, erweisen ihre Werke, dass sie sich von der Wahrheit und damit von Gott abgewendet haben, und generell zu keinem guten Werk in der Lage sind. Kurz: Sie sind »abscheulich und ungehorsam« (Tit 1,14–16). Man kann – wie schon angedeutet – unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob ein solcher polemischer Ausbruch eine positive Wirkung für die Gemeinten haben kann. Dies umso 23 

Löser, Art. Metapher, 1165. Vgl. dazu Weinrich, Semantik. Hartl, Metaphorische Theologie, 227. 25  Das hängt freilich auch davon ab, ob der Tit als Brief an einen Mitarbeiter diesen allein adressiert oder ob er als fiktives Schreiben für einen größeren Adressatenkreis bestimmt ist. Unter fiktivem Vorzeichen bleibt letzterer so vage, dass die Polemik eine rein literarische Funktion erhält und ihre Wirkung offenbar in Gruppen entfalten müsste, die keinesfalls Kreter sein können, so dass letztlich auch die Angabe »Kreta« in Tit 1,5 nur als Chiffre fungiert und entsprechend in der Auslegung nicht weiter als relevant erachtet wird bzw. einige Probleme aufwirft; vgl. dazu z. B. Oberlinner, Titus, 21 f.; zur Funktion der Polemik bzw. Invektive vgl. auch Herzer, Polemik (in diesem Band 341–361). 24 

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mehr, als gerade die Metaphorik des Kreter-Sprichwortes die Härte der Polemik noch verstärkt. Zu fragen ist daher nach der rhetorischen Funktion der Metaphorik innerhalb dieser Polemik. Klar ist, dass es sich um eine moralische Diffamierung handelt. Dies wird durch den pauschalen Hinweis auf die Unfähigkeit zu guten Werken bzw. durch die Bemerkung über Reinheit und Unreinheit (V. 15) unterstrichen. Hinzu kommt die Kontrastierung des Verhaltens dieser Leute mit den haustafelähnlichen Ausführungen über das rechte Verhalten verschiedener Gruppen in der Gemeinde, wie sie in 2,1–10 unmittelbar auf den polemischen Teil folgen. Diese Anweisungen korrespondieren mit den Ausführungen über die Presbyter-Episkopen in 1,5–9, die in entsprechender Weise zu Lehre und Mahnung in der Lage sein und bestimmten ethischen Anforderungen genügen müssen. Aufgrund dieser Struktur stellt sich erneut die Frage nach der Funktion der eingeschobenen Polemik und der Metaphorik des Sprichwortes. Dazu ist  – ob fiktiv oder realiter  – die vorausgesetzte Situation zu berücksichtigen. Titus ist in seinem Auftrag auf Kreta offenbar mit Menschen konfrontiert, die den Bestand der Gemeinden gefährden. Der Autor verweist speziell auf Personen jüdischer Prägung (»insbesondere die aus der Beschneidung«, 1,10), die aufgrund ihres Ungehorsams und Eigensinnes »ganze Häuser durcheinanderbringen« und denen man deshalb »das Maul stopfen« müsse (ἐπιστομίζειν, V. 11). Auch letzteres ist eine anschauliche Metapher, die keinen Zweifel daran lässt, dass der Ungehorsam sich in einer bestimmten Art von Lehre ausdrückt, die dann in V. 14 als »jüdische Mythen und Menschengebote« umschrieben wird. Das Interessante an der Kreter-Aussage ist nicht so sehr das vielverhandelte Paradox, dass ausgerechnet ein Kreter, der die Kreter der stetigen Lüge bezichtigt, selbst die Wahrheit sagen soll.26 Interessant ist vielmehr, dass die Aussage selbst sachlich und mit Blick auf die einzelnen Elemente nicht kohärent ist. Der im Sprichwort auf die Kreter bezogene Begriff »Lügner« ist nämlich keine Metapher, sondern ein direktes Prädikat und korrespondiert unmittelbar mit der Aussage, die Betreffenden seien in ihren Lehren »von der Wahrheit abgewichen«. Da diese Abwendung von der Wahrheit mit der Hinwendung zu »jüdischen Mythen und Menschengeboten« einhergeht, werden mit der Lügneraussage zugleich die entsprechenden Inhalte ihrer Lehre pauschal als grundfalsch beurteilt. Hinsichtlich der angefügten metaphorischen Aussagen »böse Tiere« und »faule Bäuche« wäre dann zu fragen, in welcher Weise sie auf den Begriff »Lügner« bezogen sind, inwiefern sie ihn ergänzen und was sie über die so Bezeichneten aussagen. Die Voranstellung des Begriffes »Lügner« scheint dabei so etwas wie eine Leitfunktion zu haben, so dass die anschließenden Metaphern hinsichtlich ihres Bedeutungsgehaltes von daher bestimmt werden. Diese Vermutung erhärtet sich durch zwei Überlegungen. Zum einen ist das »Propheten«-Zitat in dieser Form nicht nachweisbar; es handelt sich um eines der wenigen Zitate aus der klassischen antiken 26 

Vgl. dazu Thiselton, Liar Paradox; Vogel, Kreterpolemik.



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Literatur im Neuen Testament, das von Clemens von Alexandrien und Hieronymus dem vorsokratischen Philosophen und Orakelpriester Epimenides von Kreta bzw. Phaistos (6./5. Jh. v. Chr.) zugeschrieben wurde.27 Doch das ist ganz unsicher und wohl aus verschiedenen Elementen der Tradition heraus konstruiert.28 Wohl aber ist zum anderen das Lügenmotiv sprichwörtlich mit den Kretern verbunden. Im Hymnus des Kallimachos (3. Jh. v.  Chr.) an Zeus begegnet bereits der Topos als Zitat (In Jovem 8): Κρῆτες ἀεὶ ψεῦσται, der zurückgeführt wird auf die Behauptung der Kreter, das Grab des Zeus befinde sich auf ihrer Insel; von Epimenides ist dabei nicht die Rede.29 Plutarch kennt schließlich auch das Wort κρητίζειν im Sinne von »lügen« (Aemilius Paullus 23,10),30 und nach dem Historiker Polybius (ca. 200–120 v.  Chr.) sind die Kreter im privaten wie im öffentlichen Leben als »verschlagen/ hinterlistig« (δόλιος) bekannt (Historiae VI 47,5).31 Die Metapher der Bösartigkeit von Tieren32 unterstreicht daher die zerstörerische Wirkung der Lüge bzw. konkret der »jüdischen Mythen«, mit denen die Angesprochenen ganze Hausgemeinden vom rechten Glauben abbringen. Dies wird möglicherweise dadurch besonders anschaulich, dass Kreta als eine Insel gilt, auf der es keine gefährlichen wilden Tiere gibt (vgl. Plinius d. Ä., Historia Naturalis 8,83; Plut.mor. 86c).33 Die Metapher greift also über den konkreten Lebenskontext hinaus und ruft Assoziationen auf, die eher mit Abbildungen wilder Tiere im Kontext von Tierkämpfen zu tun haben und von daher als besonders schrecklich gelten konnten, da es dabei um Leben und Tod geht. Die Kreter selbst übernehmen die bedrohliche Funktion der wilden Tiere, die als solche natürlich nicht vorkommen.34 In diesen Duktus passt die Metapher der »faulen Bäuche« nicht recht hinein, weil damit eine andere Assoziation verbunden ist. Diese in sich bereits provokante Metapher reduziert die Betroffenen auf ihren Bauch und lässt die Assoziation zu, es gehe ihnen ausschließlich und allein um ihren eigenen materiellen Vorteil (vgl. V. 11: »um schändlichen Gewinnes willen«; vgl. auch Phil 3,18 f. über die »Feinde des Kreuzes Christi«: »Ihr Gott ist ihr Bauch, und ihre Ehre besteht in der Schande, 27  Vgl. Plutarch, Solon 12,9. Hieronymus nennt konkret die Schrift De oraculis/περὶ χρησμῶν – Über die Orakelsprüche; vgl. Clemens Alexandrinus, Stromata I 59,2; Hieronymus, Commentarius in epistula ad Titum VII 706 (PL 26,571–572). Zu den wenigen erhaltenen Fragmenten des Epimenides s. Diels, Fragmente, 27–37. 28  Der »Liebling der Götter« (θεοφιλής), wie Epimenides bei Plutarch (ca. 46–120 n.  Chr.) genannt wird (Solon 12,7), war als einer der sieben Weisen des Altertums bekannt (Plutarch, ebd.; vgl. Clemens Alexandrinus, Stromata I 59,2). Platon (428–349 v.  Chr.) weiß von prophetischen Aktivitäten des Epimenides zu erzählen, der die Invasion der Perser und den Sieg Athens voraussagte (Platon, Nomoi I 642d). 29  Zitiert bei Athenagoras, Legatio sive supplicatio pro Christianis 30,3; vgl. auch Anthologia Graeca VII 275. Vgl. ferner die weiteren Belege bei Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 102 f. 30  So lautet auch die Worterklärung von κρητίζειν im Lexikon des Hesychios κ 4086 (5. oder 6. Jh. n. Chr.); für weitere Belege s. Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein Bd. II/2, 1022. 31  Weitere Belege für die negativen Vorurteile gegen die Kreter vgl. Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein Bd. II/2, 1018–1023; vgl. auch Vogel, Kreterpolemik. 32  Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 102, übersetzen: »Bestien«. 33 Vgl. Wieland, Crete, 347. 34 Vgl. Quinn, Letter, 108; Towner, Letters, 701.

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sie sind irdisch gesinnt«). Demgegenüber ist der Ausweis eines Episkopen u. a., dass er gerade nicht gewinnsüchtig ist (Tit 1,7). Interessanterweise wird eine vergleichbare Einschätzung ebenfalls von Polybius bezeugt: Die Kreter seien die einzigen in der Welt, in deren Augen kein Gewinn schändlich ist (παρὰ μόνοις Κρῆται εἰσι τὸν ἁπάντων ἀνθρώπων μηδὲν αἰσχρὸν νομίζεται κέρδος, Historiae VI 46,3). Auch hier wird also im Titusbrief mit einem Klischee gearbeitet. Und wie im Fortgang des Briefes in Tit 2 die Kreterpolemik mit entsprechenden Tugendlisten kontrastiert wird, so verbindet auch Polybius seine Bemerkung über die Gewinnsucht mit dem Hinweis auf die echten griechischen Tugenden.35 Allerdings wird man angesichts des polemischen Kontextes in Tit 1 davon ausgehen müssen, dass die Metapher dadurch ihre Grenze erreicht, dass der assoziative Mehrwert deutlich über die eigentliche rhetorische Absicht hinausgeht.36 Die Metaphern »böse Tiere« und »faule Bäuche« dienen in ihrer drastischen Anschaulichkeit der Übertreibung und haben daher eine ausschließlich rhetorische Funktion innerhalb des polemischen Arguments. Ein sprichwörtliches Klischee wird relativ unreflektiert funktionalisiert.37 Darin liegt letztlich auch die Kühnheit der Metapher, mit der die Eindrücklichkeit der Warnung vor diesen Menschen unterstrichen wird. Auch wenn die positive Wirkung dieser Kühnheit eher fraglich ist, so enthält sie doch in ihrer Übertreibung zugleich eine Art Erklärung der Lage: Dass es Menschen gibt, die derart der Wahrheit widerstehen, muss zumal auf Kreta nicht verwundern, ja, man muss sogar damit rechnen, da die Kreter bereits einen entsprechend üblen Ruf haben. Zugleich jedoch wird man aus der rhetorischen Struktur des Textes schließen können, dass dem Autor an einer konkreten sachlichen Argumentation nicht gelegen ist, und dass er weder jene so klischeehaft diffamierten Kreter noch die kretischen Gemeinden persönlich kennen wird.

2.2  »Gefäße zur Ehre und Unehre« – Zusammenleben in der Gemeinde nach dem 2. Timotheusbrief Ein weiteres Beispiel für eine ethische Aussage, die metaphorisch formuliert wird, findet sich im 2. Timotheusbrief, wobei hier eher der Begriff des Bildes angemessen ist. Innerhalb der Pastoralbriefe wird diesem Brief aufgrund seines literarischen Charakters als eines Testaments oder Vermächtnisses38 eine Sonderstellung zugestanden, die unter anderem darin besteht, dass das Thema der Ekklesiologie keine besondere Rolle spielt. Um freilich die Kohärenz des Corpus pastorale festzuhalten, wird 2 Tim 2,20 f. im Sinne einer ekklesiologischen Metapher interpretiert, die im Grunde denselben Gedanken von der Gemeinde als »Haus Gottes« zum Ausdruck 35 Vgl.

Kidd, Titus, 191. diesem Grund geht die Interpretation von Kidd, Titus, viel zu weit, indem ausgehend von dem Zitat in Tit 1,12 der kretische Zeusmythos als Verstehenshintergrund für den Tit ingesamt herangezogen wird. Das lässt sich im Brief nicht verifizieren. 37 Vgl. Vogel, Kreterpolemik. 38 Vgl. Weiser, Freundschaftsbrief. 36  Aus



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bringe, wie er in 1 Tim 3,15 f. entfaltet wird.39 Doch wie sich zeigen wird, ist nicht nur die Metaphorik und die entsprechende Sachaussage in 2 Tim 2 eine andere als in 1 Tim 3, sondern auch die Funktion innerhalb der Gesamtargumentation unterscheidet sich in signifikanter Weise, so dass das eine Konzept nicht mit dem anderen kompatibel ist.40 Sehen wir also – und sei es aus methodischen Gründen – zunächst einmal von der These ab, in 2 Tim 2 und 1 Tim 3 lägen dieselben ekklesiologischen Metaphern und Konzepte vor. Das legt schon die unterschiedliche Begrifflichkeit nahe. Während in 2 Tim 2,20 der Begriff οἰκία als Bildfeld entfaltet wird, spricht 1 Tim 3,15 konkreter vom οἶκος θεοῦ, ohne dies näher zu differenzieren. Schon aus lexikalischen Gründen ist also Vorsicht geboten, beide Begriffe im Prinzip als Synonyme zu behandeln, ganz abgesehen davon, dass die οἰκία-Bildwelt von 2 Tim 2,20 allegorische Züge trägt, während das Syntagma οἶκος θεοῦ in 1 Tim 3,15 eine Methapher im eigentlichen Sinn darstellt, indem – wie zu zeigen sein wird (s. u. 3.) – spezifische Aspekte und Bedeutungsgehalte auf die Gemeinde übertragen werden. Sachlich und terminologisch empfiehlt sich daher die Unterscheidung der οἶκος θεοῦ-Metapher in 1 Tim 3,15 vom οἰκία-Bild in 2 Tim 2,20. »(16) An gottlosem, leeren Gerede aber beteilige dich nicht, denn (solche Leute) werden immer mehr fortschreiten zur Gottlosigkeit, (17) und ihr Wort wird sich verhalten wie ein wucherndes Geschwür. Unter denen sind Hymenäus und Philetus, (18) welche  – was die Wahrheit angeht – vom Weg abgekommen sind, wenn sie sagen, die Auferstehung sei schon geschehen und (auf diese Weise) den Glauben einiger durcheinander bringen. (19) Der solide Grund Gottes jedoch steht (fest) und hat folgendes Siegel: ›Der Herr kennt die Seinen‹, und: ›Jeder, der den Namen des Herrn anruft, halte sich fern von Ungerechtigkeit!‹ (20) In einem großen Haus aber gibt es nicht nur goldene und silberne Gefäße, sondern auch hölzerne und tönerne, das eine zur Ehre, das andere aber zur Unehre. (21) Wenn nun jemand sich selbst rein hält von (dem Umgang mit) solchen (Leuten), wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, brauchbar für den Hausherrn, bereitet für jedes gute Werk« (2 Tim 2,16–21).

Der Kontext von 2 Tim 2,20 ist zunächst hinsichtlich der entfalteten Bildwelt des Hauses recht einfach. Es geht nicht um eine ekklesiologische Struktur oder ein ekklesiologisches Konzept, sondern um die Veranschaulichung eines Problems, das sich aus 2,16–19 ergibt. Verhandelt wird ein innergemeindlicher theologischer Konflikt, bei dem anhand des Bildes vom Haus und seiner Ausstattung deutlich gemacht wird, dass nicht jeder in der Gemeinde positiv zu deren Wachstum und Reputation beiträgt. Das Problem wird dabei auf zwei konkrete Personen, Hymenäus und Philetus, bzw. deren Lehre (ὁ λόγος) fokussiert, die Auferstehung sei schon geschehen (2,17 f.). Unabhängig davon, ob damit die Auffassung der beiden Genannten angemessen wiedergegeben oder damit  – unter pseudepigrapischen 39  Vgl. z. B. Roloff, Kirche, 250: »Das Bild des Hauses, die zentrale ekklesiologische Metapher der Pastoralbriefe, hat nicht das Haus als Bauwerk, sondern vielmehr als gegliederte und nach bestimmten Regeln geordnete soziale Grundstruktur im Blick.« Vgl. zur konzeptionellen Bedeutung Horrell, Transformation; Fatum, Christ Domesticated. 40  Vgl. dazu Herzer, House of God (in diesem Band 273–291).

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Vorzeichen – überhaupt ein echter Konflikt mit realen Personen im Blick ist, beschreibt die in 2,17 verwendete Metapher eines wuchernden bösartigen Geschwüres die Gefahr einer solchen Auffassung hinreichend anschaulich. In dem Maße, in dem diese Lehre wuchert und um sich greift, wird der Glauben der Gemeinde verwirrt (2,18c). Daraus folgt offenbar auch eine bestimmte ethische Grundhaltung, auf welche das sich anschließende Bild des Hauses in besonderer Weise abzielt. Es geht also nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Frage der Auferstehung, sondern um die Integrität der Gemeinde, die dem »Hausherrn« (δεσπότης, gemeint ist Gott) zur Ehre gereichen soll, indem sie – im Unterschied zu den Auferstehungsleugnern – »zu jedem guten Werk bereit« ist (2,21). Die ethische Absicht des Bildes ergibt sich vor allem aus dem Gegensatzpaar Ehre  – Unehre, dem eine Schlüsselfunktion zukommt, sowie den damit verbundenen Begriffen wie »reinigen« (ἐκκαθαρεῖν, 2,21; vgl. dasselbe in 1 Kor 5,7); »geheiligt« (ἡγιασμένον), »nützlich« (εὔχρηστον) sowie dem Hinweis auf die »guten Werke«. Die Absicht erschöpft sich aber nicht in einer metaphorischen Bedeutung des Begriffes οἰκία selbst und der einfachen Identifikation der Gemeinde als Haus, sondern ruft ein ganzes Vorstellungsfeld auf, das mit dem Begriff assoziiert wird. Es geht um die Veranschaulichung der inneren Dynamik des Zusammenlebens und des Umganges miteinander. Zu diesem Zweck werden weitere, dem Begriff »Haus« zugeordnete Aspekte aufgerufen, die sich auf in ihrem »Wert« verschiedene Gegenstände des Hauses beziehen: goldene und silberne Gefäße auf der einen Seite, hölzerne und tönerne auf der anderen Seite, die edlen »zur Ehre«, die weniger edlen »zur Unehre« (2 Tim 2,20). Während alltagsweltlich unmittelbar einleuchtet, dass es in einem Haus unterschiedlich wertvolle Gefäße gibt, die entsprechend unterschiedliche Funktionen haben, wird die Applikation auf die vorgegebene Situation der Gemeinde sofort problematisch.41 Man ist nämlich durch die Einführung in diese Bildwelt des Hauses geneigt, die Differenzierungen allegorisch auf unterschiedliche Gruppen der Gemeinde zu beziehen, und das ist sicher auch die Intention des Autors. Aber das Ziel in der Auseinandersetzung mit den Auferstehungsleugnern ist ja, diese nicht einfach als weniger nützliche Gefäße zu beschreiben, sondern diese Haltung generell zu unterbinden und  – so legt es der Begriff ἐκκαθαρεῖν nahe – aus dem »Haus« der Gemeinde zu entfernen bzw. sich von ihnen zu distanzieren. Unterstrichen wird dies dadurch, dass der Begriff ἐκκαθαρεῖν derselbe ist, wie ihn Paulus in 1 Kor 5,7 für den Gemeindeausschluss einer den Ruf der Gemeinde schädigenden Person verwendet. Allerdings ist der Text in 2 Tim 2 nicht deutlich genug, um diese schroffe Konsequenz zu ziehen. Erst in 1 Tim 1,20 wird dieses Paradigma des Gemeindeausschlusses im Anschluss an 1 Kor 5,7 ausdrücklich angewendet werden, während 2 Tim 2,25 f. auf die Umkehr der »Abweichler« innerhalb der Gemeinde ausgerichtet ist und sie anders als in 1 Kor 5,7 und 1 Tim 1,20 nicht dem Satan übergeben werden, sondern »aus der 41 

Vgl. dazu z. B. Oberlinner, 2 Tim, 104–106.



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Falle des Teufels« herausfinden sollen.42 Vermutlich geht es auf der Bildebene in 2 Tim 2 schlicht darum, dass in einem Haushalt edle und weniger edle Gefäße voneinander separat aufbewahrt werden, damit die edlen keinen Schaden nehmen oder verunreinigt werden und somit zu besonderen Anlässen brauchbar bleiben, während die anderen aus Holz und Ton für den alltäglichen Gebrauch bestimmt sind. Der Gegensatz von Ehre und Unehre ist ebenfalls vor diesem Hintergrund zu deuten. An dieser Stelle aber wird auch klar, dass die Metaphorik erneut – wie diejenige in Tit 1 – an ihre Grenzen gerät. Hölzerne und tönerne Gefäße werden durch die Separation ja nicht unbrauchbar, sondern sind lediglich anders nutzbar als goldene und silberne und sind daher  – auch um des ehrenhaften Gebrauchs der wertvolleren willen – für den Alltagsgebrauch unverzichtbar. Die Metaphorik der einzelnen Bildteile geht also letztlich im Hinblick auf die Situation, die sie zu erhellen sucht, nicht auf, und zwar deshalb, weil menschliche Beziehungen und Konflikte offenbar komplexer sind als es Metaphern des Alltagslebens abzubilden vermögen. Das Bild des großen Hauses in 2 Tim 2,20 lässt sich unter diesen Voraussetzungen jedenfalls nicht, wie die Metapher des »Hauses Gottes« in 1 Tim 3,15, auf »die Kirche als institutionelle Größe«43 deuten.

3.  Die Funktion von Metaphern für Neucodierung von Gruppenidentitäten – der 1. Timotheusbrief Während das Bild des Hauses in 2 Tim 2 zur Veranschaulichung einer gruppeninternen Dynamik vor dem Hintergrund einer inhaltlichen Auseinandersetzung diente, hat die Metapher vom Haus Gottes in 1 Tim 3 eine andere Intention. »(14) Dies schreibe ich dir in der Hoffnung, bald zu dir zu kommen. (15) Falls ich mich aber verspäte, (so schreibe ich dies,) damit du weißt, wie man sich im Haus Gottes verhalten muss, welches die Gemeinde des lebendigen Gottes ist, Säule und Grundfeste der Wahrheit.   (16) Und als Bekenntnis hoch anerkannt ist das Geheimnis der Frömmigkeit: Der erschienen ist im Fleisch, wurde gerechtfertigt im Geist, ist erschienen den Engeln, wurde verkündet unter den (Heiden-)Völkern, hat Glauben gefunden44 in der Welt, wurde aufgenommen in Herrlichkeit« (1 Tim 3,14–16).

Zunächst einmal ist auch hier der ekklesiologische Kontext deutlich. Die Metapher des »Hauses Gottes« wird explizit auf die Gemeinde (ἐκκλησία, V. 15)45 bezogen 42 Während die ältere Forschung zumeist auf einen Gemeindeausschluss deutet, vermuten z. B. Weiser, 2 Tim, 204, oder auch Häfner, Belehrung, 221, der gleichnishaft umschriebene Reinigungsprozess ziele vielmehr auf eine Zurechtbringung dieser Personen ab. Anders akzentuiert Oberlinner, 2 Tim, 105: Es werde »mit diesem Bild (vielleicht mit einem Anflug an Resignation?) ein Faktum in den Bereich des nicht weiter Verwunderlichen und eigentlich Selbstverständlichen gehoben«. Das von 2 Tim 2,25 her vorauszusetzende Motiv der Umkehr schließt die Deutung aus, dass die Kirche lernen müsse, dauerhaft mit der Häresie zu leben, vgl. in diesem Sinne Trummer, Paulustradition, 172. 43  Oberlinner, 2 Tim, 103. 44 Vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik, § 3121. 45  Der Begriff ἐκκλησία findet sich innerhalb der Pastoralbriefe nur im 1 Tim (3,5.15; 5,16).

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

und diese theologisch als Haus Gottes qualifiziert. Die ethische Absicht der Metapher ist dadurch angezeigt, dass es explizit um das Verhalten im Haus Gottes geht, auch wenn dies im unmittelbaren Kontext nicht weiter ausgeführt ist. Klar ist jedoch im Zusammenhang des gesamten Briefes, dass es um das rechte Verhalten innerhalb der ab Kap. 3 beschriebenen Strukturen geht, in denen der Episkopos (3,1–7) und die Diakone (3,8–13) als Teil eines Presbyteriums (4,14) offenbar die leitende Verantwortung für das Leben der Gemeinde und ihrer Belange tragen. Die so strukturierte Gemeinde hat als Haus Gottes zugleich die Funktion, »Säule und Grundfeste der Wahrheit« zu sein. Anders als im 2.  Timotheusbrief geht es also in der Hausmetapher um die Solidität der Gemeinde als Hort der Wahrheit, was durch die Begriffe »Säule« und »Grundfeste/Fundament« als der Festigkeit des Hauses dienende Elemente veranschaulicht wird. Die zu schützende Wahrheit, der das Verhalten der Einzelnen in der Gemeinde entsprechen soll, wird anschließend in Form eines Bekenntnisses zusammengefasst (3,16), bevor dann in 4,1–10 eine Warnung vor den Konsequenzen eines Abfalls von dieser Wahrheit folgt. Auch die weiteren ethischen Weisungen und Mahnungen bleiben auf die so definierte Wahrheit und die Funktion der Gemeinde für die Bewahrung dieser Wahrheit bezogen. Angesichts der traditionsgeschichtlichen Prägung des Begriffes »Haus Gottes« könnte man fragen, ob es sich hier tatsächlich um eine Metapher im eigentlichen Sinn handelt. Einerseits bildet der Begriff »Haus« in Verbindung mit den Begriffen »Säule« und »Fundament« ein metaphorisches Wortfeld, das – wie beschrieben – einen ekklesiologischen Zusammenhang veranschaulicht. Auf der anderen Seite ist aber der Begriff des Hauses näher bestimmt und theologisch qualifiziert durch den Genitiv θεοῦ, wodurch die Hausmetaphorik eine über die lebensweltlich-anschaulichen Aspekte hinausgehende Bedeutung erhält. Innerhalb der paulinischen Tradition ist das Syntagma οἶκος θεοῦ singulär. Daher ist  – abgesehen von Belegen wie Heb 10,21 und 1 Petr 4,17  – die alttestamentliche Prägung besonders signifikant, wonach οἶκος θεοῦ die selbstverständliche und in allen literarischen Schichten verbreitete Bezeichnung des Tempels ist.46 Paulus selbst verwendete konsequent den Begriff ναός bzw. ναὸς θεοῦ als Metapher für die Gemeinde (1 Κor 3,16 f.; 2 Κor 6,16; vgl. auch 1 Κor 6,19 und 2 Thess 2,4), verband damit aber ebenfalls ethische Weisungen, die sich aus 46 Vgl. z.  B. Gen 28,17 (Bethel); Ex 23,19; 34,26; Dtn 23,19; Jos 9,23 (einschließlich der Gemeinde); 1 Kön 5,17–19, 8,17–20; 1 Chr 9,27; 22; 28; Esr 1–10; Neh 1–13; Ps 42,5; 52,10; 55,15; 84,11; 92,14; 135,2; Jes 2,3; Jer 35,4; Ez 10,19; 11,1.5; Dan 1,2; 5,3; Joel 1,13–16; Mi 4,2; Hag 1,14; Tob 14,7; Bar 3,24; vgl. weiterhin Mk 2,26; Lk 6,4. Zum Gebrauch der Metaphorik in Qumran vgl. 1QS 5,5 f., wo die Metapher des Hauses ebenfalls verbunden ist mit der Vorstellung eines Fundamentes der Wahrheit: »[…] sie sollen beschneiden in der Gemeinschaft die Vorhaut des Triebes und die Halsstarrigkeit, um ein Fundament der Wahrheit für Israel zu legen für die Gemeinschaft eines ewigen Bundes, um Sühne zu schaffen für alle, die sich willig erweisen zum Heiligtum in Aaron und dem Hause der Wahrheit in Israel […]« (Übers. zit. nach Lohse, Texte, 17); vgl. auch 1QS 8,9; 9,3–8, sowie Gärtner, Temple, 66, zu 1 Tim 3,15: »a text reminiscent in certain of its forms of expressions of Qumran ideology […]«.



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der durch diese Metaphorik definierte Identität der Gemeinde ergeben. Im 1. Timotheusbrief erfährt diese paulinische Metapher von der Gemeinde als Tempel Gottes eine spezifische Transformation, indem zwar der Signifikant ναός durch den des οἶκος ersetzt wird, das Signifikat aber dasselbe bleibt. Der οἶκος-Begriff ermöglicht es, das auf die Ökonomie des antiken Hauses ausgerichtete ekklesiologisch-ethische Anliegen mit der bekannten paulinischen Metapher zu verbinden. Die Transformation ist ebenso einfach wie konsequent: Für den 1. Timotheusbrief ist offenbar nicht nur die Tempelmetaphorik aus dem 1. und 2.  Korintherbrief, sondern auch das οἰκία-Motiv des 2. Timotheusbriefes bekannt.47 Beides erfährt in der Kombination eine spezifische Prägung im Zusammenhang der Ökonomie-48 bzw. Ökodome-49 Begrifflichkeit der paulinischen Tradition insgesamt. So wird aus dem die innere Dynamik der Gemeinde veranschaulichenden οἰκία-Bildfeld von 2 Tim 2,20 im Zusammenhang mit der paulinischen Vorstellung von der Gemeinde als ναὸς θεοῦ bzw. θεοῦ οἰκοδομή die Vorstellung vom οἶκος θεοῦ in 1 Tim 3,15, welche analog zu 2 Kor 6,16 (»Wir sind der Tempel des lebendigen Gottes«) die »Gemeinde des lebendigen Gottes« metaphorisch abbildet. Dabei wird nicht mehr primär – wie bei Paulus – auf die Heiligkeit der Gemeinde abgehoben (vgl. 1 Kor 3,17), aus der dann ethische Konsequenzen abgeleitet werden.50 Im 1. Timotheusbrief ist demgegenüber die Tempelmetaphorik auf die Strukturen der Gemeinde bezogen, die aus dem Tempel Gottes ein solides Haus zum Schutz der Wahrheit machen. Die Solidität dieses Hauses aber und damit auch die Fähigkeit zur Bewahrung der Wahrheit liegt im Verhalten und in der moralischen Integrität der Gemeindeleiter begründet. Das Verhalten der Gemeindeleiter muss der Funktion der Gemeinde als Haus Gottes und ihrer Funktion angemessen sein, die als Bekenntnis (V. 16) überlieferte Wahrheit glaubwürdig zu bewahren. Daraus wird auch deutlich, dass der 1. Timotheusbrief nicht ein Brief ist, dessen Ermahnungen sich an die Gemeinde als Ganze richten, sondern der speziell die Verantwortungsträger und ihre moralische Integrität im Blick hat. Im Unterschied zur veranschaulichenden Funktion des οἰκία-Bildes im 2. Timotheusbrief wird im 1. Timotheusbrief mit der traditionsgeschichtlich geprägten und aktuell ekklesiologisch bedeutsamen Metapher von der Gemeinde als οἶκος θεοῦ die Identität der Gemeinde auf eine neue Weise bestimmt bzw. »codiert«. Sie wird mit Bedeutungsaspekten versehen, denen ihre Ältesten entsprechen und genügen müssen, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Die Notwendigkeit dieser prägnanten Neubestimmung der Gemeindeidentität liegt in den zunehmenden Abgrenzungstendenzen gegenüber gnostischen oder prägnostischen Gruppen, wie sie im 1. Timotheusbrief von Anfang an bestimmend sind und auch am Schluss mit der 47 Vgl. dazu Herzer, House of God (in diesem Band 273–291); Engelmann, Untersuchungen, 195–198. 48  1 Kor 4,1 f.; 9,2; Gal 6,10; Kol 1,25; Tit 1,7; vgl. Eph 1,10; 3,2.9. 49  1 Thess 5,11; 1 Kor 3,9; 8,1.10; 10,23; 14,3–5.12.17.26; 2 Kor 12,19; 13,10; Röm 14,19; 15,2.20; vgl. Eph 4,12.16.29. 50 Vgl. Wolff, 1 Kor 2011, 75; sowie Müller, Pflanzung.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Warnung vor den »Antithesen der fälschlich so genannten Gnosis« noch einmal ausdrücklich benannt werden.51 Aufgrund seiner metaphorischen Funktion für eine konstruktive Neucodierung der Gruppenidentität könnte man das Syntagma οἶκος θεοῦ im Anschluss an Blumenberg eine »absolute Metapher« nennen. Deren spezifische Eigenschaft ist ihre Unübersetzbarkeit, insofern sie zum Grundbestand des Daseins überhaupt gehöret und somit nicht in eine logisch zu erfassende Begrifflichkeit aufzulösen ist.52 Absolute Metaphern bestimmen »als Anhalt von Orientierungen ein Verhalten, sie geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität. Dem historisch verstehenden Blick indizieren sie also die fundamentalen, tragenden Gewissheiten, Vermutungen, Wertungen, aus denen sich die Haltungen, Erwartungen, Tätigkeiten und Untätigkeiten, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Interessen und Gleichgültigkeiten einer Epoche regulierten.«53

Ganz in diesem Sinne dient die Metapher vom οἶκος θεοῦ im 1.  Timotheusbrief dem Verstehen und Erfassen einer neu zu bestimmenden Identität, weil die gemeindliche Wirklichkeit durch die zunehmenden Gefährdungen und Herausforderungen so komplex geworden ist, dass das Bekenntnis nicht mehr dem Gewissen des Einzelnen und seinem Glauben überlassen bleiben kann, sondern in feste und allgemein anerkannte Strukturen eingebunden sein muss, um bestehen zu können. Dies bringt die Metapher von der Gemeinde als Haus Gottes zum Ausdruck, das einer »Festung« gleich dem Schutz der Wahrheit verpflichtet ist. Diejenigen, die innerhalb dieser Strukturen die Verantwortung tragen, werden vor allem an ihren moralischen Qualitäten gemessen, die auch nach außen hin zum Bestand und zur Glaubwürdigkeit der Gemeinde und damit zu ihrem »ruhigen und stillen Leben in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit« (1 Tim 2,2) beitragen.

4. Schlussbemerkung Ethos und ethisches Verhalten beruht stets auf bestimmten Voraussetzungen, so dass auch die metaphorische Entfaltung ethischer Aussagen mit diesen Voraussetzungen verknüpft ist. Natürlich könnte man innerhalb der Pastoralbriefe – wie in allen Briefen des Neuen Testaments  – auch einzelne ethische Weisungen auf die Metaphorik ihrer Begrifflichkeit hin untersuchen. Hier sollte aber zunächst die konzeptuelle Verknüpfung metaphorischer Aussagen in ihren ethischen Konsequenzen exemplarisch aufgezeigt werden. Die Metaphorik der überzogenen und klischeehaften Polemik des Titusbriefes lässt die Generationen der Gemeinde mit ihren Ältesten in einen Kontrast zur kretischen Bevölkerung treten, sei er real 51 Vgl. dazu Herzer, Juden  – Christen  – Gnostiker (in diesem Band 293–314); ders., Gnosis (in diesem Band 315–339). 52  Blumenberg, Paradigmen, 19 f.; vgl. Hartl, Metaphorische Theologie, 122 f.; Stoellger, Metapher, 87–94. 53  Blumenberg, a. a. O., 20.



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oder – wie aufgrund der Klischeehaftigkeit der Auslassungen zu vermuten ist – nur virtuell in der Polemik. Erhellend ist auch der Unterschied zwischen der als Bildwelt entfalteten Haus-Thematik im 2. Timotheusbrief, die auf die innere Dynamik der Gemeinde hin bezogen und darin zugleich metaphorisch überfordert ist, und der Haus-Gottes-Metaphorik des 1. Timotheusbriefes, die auf die Neubestimmung der Gemeindeidentität vor dem Hintergrund zunehmender Abgrenzungsstrategien abzielt. Die Pastoralbriefe sind mit Blick auf die Frage nach der Funktion metaphorischer Aussagen in ethischer Absicht insofern besonders interessant, als auch unter dieser Perspektive jeweils eigentümliche Besonderheiten dieser Briefe zutage treten und damit – wie auch hinsichtlich anderer Aspekte – das etablierte Interpretationsmodell der Pastoralbriefe als eines literarischen Corpus pastorale obsolet wird. Aber dies führt bereits in weitere Fragestellungen hinein.

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Die »Verheißung des Lebens« (1 Tim 4,8) im Spannungsfeld zwischen öffentlicher Verantwortung und persönlicher Hoffnung Im Vorwort seines Kommentars zum 1. Timotheusbrief schreibt Lorenz Oberlinner den merkwürdigen Satz: »Die Beschäftigung mit den Pastoralbriefen ruft bis heute zwiespältige Gefühle hervor.«1 Merkwürdig, ja überraschend ist der Satz deshalb, weil es auf den ersten Blick unangemessen erscheint, in einem wissenschaftlichen Kommentar seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Und doch: Wer immer sich mit den Pastoralbriefen beschäftigt, muss Oberlinner in dieser Hinsicht recht geben. Die Verwirrung der Gefühle ist anschaulicher Ausdruck der gegenwärtigen Forschung zu den Pastoralbriefen. Sie ist einerseits in den letzten zehn Jahren erstaunlich produktiv gewesen; sie ist aber andererseits überaus kontrovers geworden. Die Perspektiven auf die Pastoralbriefe sind inzwischen so variantenreich, dass eine systematische Darstellung der Positionen kaum noch möglich ist. Bereits auf den ersten Seiten der meisten Veröffentlichungen zu den Pastoralbriefen wird deutlich: Die Entscheidung für oder wider die Authentizität der Briefe bestimmt maßgeblich ihre Interpretation. Je nachdem werden dieselben Inhalte ganz unterschiedlich bis gegensätzlich interpretiert. Dass die Argumentationen beider Ansätze gelegentlich zirkulär geraten, ist sicher Teil der von Oberlinner benannten Zwiespältigkeit und lässt immer wieder die Wahrheit in der Mitte zwischen den Extremen vermuten. Ein Beispiel dafür ist die nunmehr fast 100 Jahre umfassende Zeitspanne, innerhalb derer man sich unter völlig verschiedenen Bedingungen die Entstehung der Pastoralbriefe vorstellen kann. Unter bestimmten Voraussetzungen erscheint alles mehr oder weniger plausibel. Ein zweites Beispiel ist die heute selbstverständliche Voraussetzung, dass die Pastoralbriefe als einheitlich komponiertes Briefkorpus entstanden seien,2 nach Peter Trummer gar als Abschluss der Paulusbriefsammlung.3 Wie zwingend und überzeugend ist jedoch diese Voraussetzung? In den Briefen selbst fehlen deutliche Hinweise darauf. Warum etwa sollte ein Autor zwei so ähnliche Briefe wie den 1. Timotheus- und den Titusbrief in einem Zusammenhang verfassen? Müssen die Briefe vielmehr zunächst als Einzelschriften ernst genommen werden – auch unter pseudepigraphischer Voraussetzung? Dies alles ist methodisch aufzuarbeiten, aber das muss an anderer Stelle geschehen. 1 

Oberlinner, 1 Tim, VII. Vgl. u. a. Oberlinner, 1 Tim, XXVI; Häfner, Belehrung, 9–13; jeweils im Anschluss an die auf breite Anerkennung gestoßene These von Trummer, Corpus, bes. 123. 3  Trummer, Corpus, bes. 142; zur Kritik vgl. Engelmann, Untersuchungen, 60–80. 2 

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Angesichts dieser offenen Diskussion um die Pastoralbriefe werde ich mich einer Entscheidung hinsichtlich der Authentizität an dieser Stelle bewusst enthalten. Das mag vielleicht enttäuschen und sogar als methodischer Mangel erscheinen  – die Äußerungen dazu in der einschlägigen Literatur sind oft sehr kompromisslos.4 Ich halte dies aber vorläufig für die einzige Möglichkeit, sowohl der Forschungslage mit ihren ungelösten und oft übergangenen Problemen als auch – und das ist sehr viel wesentlicher  – den Texten selbst gerecht zu werden. Der Selbstanspruch der Schriften ist zu eindeutig, die Probleme, die eine pseudepigraphische Interpretation mit sich bringt sind nach wie vor zu groß und die Diskussion um die Pseudepigraphie insgesamt ist viel komplizierter als vielfach angenommen, so dass diese Frage zurückgestellt werden muss. Marco Frenschkowski hat auf die Problematik vor kurzem mit wünschenswerter Deutlichkeit hingewiesen.5 In der englischsprachigen Forschung spielt in diesem Zusammenhang hinsichtlich des Selbstanspruches der Überlieferungen das Stichwort »ethics of reading« eine programmatische Rolle, eine Perspektive, die einen deutlich anderen Ausgangspunkt für die Interpretation nimmt und auch für den Umgang mit den Pastoralbriefen fruchtbar sein könnte.6 An dieser Stelle geht es daher in der Hauptsache nicht um die Pastoralbriefe unter literaturgeschichtlichen Gesichtspunkten, sondern um die Interpretation eines Lexems, das ich für das theologische Profil der Pastoralbriefe für entscheidend halte7 und das durch die Begriffe »Verheißung« und »Leben« konstituiert wird. 4  Vgl.

etwa Lohse, Vermächtnis, bes. 266, nach dessen Urteil eine Prüfung der Argumente nach dem Forschungsstand seiner Zeit schon nicht mehr erforderlich gewesen sei. Einer solchen Prüfung enthalten sich denn auch die meisten der neueren Veröffentlichungen, als anschauliches Beispiel unter anderen vgl. Häfner, Belehrung, 2: »Es ist deshalb an dieser Stelle auch nicht sinnvoll, die Verfasserschaft ausführlich zu diskutieren.« Häfner schließt sich wie selbstverständlich der Auffassung der Mehrheit an und geht von der Pseudonymität aus. Wenn freilich die Frage nach der Verfasserschaft »in stärkstem Maße« (Dibelius, Pastoralbriefe 1931, 1) die Beurteilung »was die Past sind und sein wollen« (ebd.) bestimmt, dann erscheint ein solches Vorgehen wie das von Häfner methodisch fragwürdig. Es genügt durchaus nicht, Argumente gegen die These der Pseudonymität in die ideologische Ecke eines »voreingenommenen Bibelverständnisses« zu stellen: »Wer die Past für Paulus reklamiert, erkennt auch sonst im NT keine Pseudepigraphie« (Häfner, Belehrung, 2). Dieses pauschal diskreditierende Urteil ist der Problem- und Sachlage keineswegs angemessen. 5  Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule. Frenschkowski hat gezeigt, dass eine erneute Diskussion um das Phänomen der Pseudepigraphie durchaus lohnend und wichtig ist. Er weist deutlich auf die Defizite einer pseudepigraphischen Interpretation der Pastoralbriefe hin, hält freilich selbst an der Pseudonymität fest, allerdings unter dem Vorzeichen der »bewußte[n] und planmäßig durchgeführte[n] Täuschung« (a. a. O., 251). Das ist nicht nur eine terminologische und sachliche Konsequenz, die man in der Regel zu vermeiden sucht, sondern diese Einschätzung hätte dann auch inhaltlich erhebliche Folgen. Ob das Problem der Pastoralbriefe damit aber erfasst ist, darf bezweifelt werden. Einen neuen Ansatz hinsichtlich der Beurteilung der Authentizität der Pastoralbriefe bietet jetzt vor allem Johnson, First and Second Letters, in einem monographieähnlichen Einleitungsteil seines Kommentars, vgl. bes. 98 f., eine Perspektive, die einen deutlich anderen Ausgangspunkt für die Gesamtinterpretation setzt; zum Problem und für eine neue Perspektive vgl. Herzer, Fiktion (in diesem Band 31–76); ders., Mythos (in diesem Band 77–97). 6 Vgl. Young, Pastoral Epistles; Johnson, First and Second Letters, 99. 7  Wenn Oberlinner zum pastoralen Charakter der Pastoralbriefe schreibt: »Alles dreht sich um die vielfältigen Aufgaben der Leitung und Verwaltung, der Verkündigung und Belehrung der



Die »Verheißung des Lebens« (1 Tim 4,8)

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Dieser Beitrag versteht sich als exegetischer Baustein zu einer theologischen Begründung dessen, was aus christlicher Sicht zum Verständnis des Lebens zu sagen ist. Immerhin sind es im Kontext des Neuen Testaments allein die Pastoralbriefe, genauer: die beiden Timotheusbriefe, die den prägnanten Begriff »Verheißung des Lebens« prägen, dessen Singularität innerhalb des Neuen Testaments erstaunlich ist. Was aber verbirgt sich hinter der Formulierung »Verheißung des Lebens« im Kontext der Pastoralbriefe und was sagt diese Wendung über die ekklesiologischen und gesellschaftlichen bzw. »religionssoziologischen« Dimensionen des hierbei vorausgesetzten Glaubens aus, ein Glaube, der sich in den Pastoralbriefen ausdrücklich zwischen den Polen persönlicher Hoffnung und öffentlicher Verantwortung8 bewegt? Die Bedeutung des Syntagmas »Verheißung des Lebens« soll in vier Schritten erschlossen werden: 1. Die »Verheißung des Lebens« (1 Tim 4,8) im Kontext der Argumentation. 2. Die intratextuelle Vernetzung: 1 Tim 4,8 als Interpretation des Lexems »ewiges Leben«. 3. Die Martyria als Konsequenz der »Verheißung des Lebens« (1 Tim 6,12). 4. Das sozialkritische Potential der »Verheißung des Lebens« – ein Fallbeispiel (1 Tim 6,17–19).

1.  Die »Verheißung des Lebens« (1 Tim 4,8) im Kontext der Argumentation Die Formulierung »Verheißung des Lebens« in 1 Tim 4,8 ist ebenso prägnant wie singulär innerhalb des Corpus Paulinum und kommt außerhalb davon nicht vor. Sie findet sich ausschließlich in den Pastoralbriefen an zwei Stellen: in 1 Tim 4,8 und im Präskript 2 Tim 1,1. Die Formulierung in 2 Tim 1,1 κατ᾽ ἐπαγγελίαν ζωῆς τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ deutet auf einen bestimmten Zusammenhang mit 1 Tim 4,8 hin: Die dort signifikante Differenzierung des Bezuges auf das jetzige und künftige Leben entfällt zugunsten einer dem Präskriptstil entsprechenden christologischen Bestimmung, die beides selbstverständlich umgreift. Im Ganzen kommt der Stamm ἐπαγγελ- nur fünf Mal in den Pastoralbriefen vor, zwei Mal an den genannten Stellen als Substantiv und drei Mal als Verbalform, wobei die eine in 1 Tim 2,10 nur mittelbar und die andere in 1 Tim 6,21 gar nicht in den semantischen Kontext der Nominalformulierungen gehört. Der letzte Beleg in Tit 1,2 erweckt durch den präskriptionalen Kontext den Eindruck einer Zusammenchristlichen Gemeinden durch die Gemeindeleiter« (Oberlinner, 1 Tim, XXIII), dann ist das zu einseitig. Das dahinter stehende theologisch-paränetische Anliegen kommt dabei zu kurz. Die Zuordnung von grundsätzlichem theologischen Anliegen und ekklesiologisch-kybernetischen Konsequenzen ist differenzierter vorzunehmen und wirft möglicherweise auch ein anderes Licht auf die Pastoralbriefe in dem notwendigen Vergleich zu anderen paulinischen Briefen. 8  Dabei wäre der Begriff der »Öffentlichkeit« zu differenzieren: In den Pastoralbriefen sind sowohl die innergemeindliche als auch die gesellschaftliche Öffentlichkeit im Blick, stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander und haben Auswirkungen auf die Formulierung von Glaubensund Hoffnungsaussagen ebenso wie auf die ethischer Urteile und Imperative.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

fassung verschiedener Aspekte des in 1 Tim 4 entwickelten Gedankens, mit dem implizit die im 2.  Timotheusbrief vorgefundene Präskriptformulierung erweitert wird. Daraus könnte abgeleitet werden, dass Tit 1,2 sowohl 1 Tim 4,8 als auch 2 Tim 1,1 voraussetzt. Anders urteilen z. B. Jerome D. Quinn/William C. Wacker, wonach der Titusbrief der erste Brief der Komposition gewesen sei.9 Das Präskript des Titusbriefes (1,1–4) sei für den kurzen Brief zu lang und habe die Funktion einer Einleitung in das Corpus pastorale. Es wird dabei allerdings nicht ausgeschlossen, dass die Timotheusbriefe eine eigene Geschichte unabhängig vom Titusbrief hatten.10 Das darf freilich nicht vorschnell als Bestätigung einer einheitlichen Gesamtkompositionsthese interpretiert werden, denn die sachliche Zuordnung legt nicht notwendig auch die zeitliche fest und lässt z. B. die Möglichkeit offen, die Authentizität der einzelnen Briefe unterschiedlich zu beurteilen. Der Detailbefund hingegen stellt die Gesamtkompositionsthese infrage, denn nach dieser sollte der 2. Timotheusbrief als »Testament des Paulus« das Drei-Briefe-Korpus abschließen. Genau das aber ist nach dem Textbefund an dieser Stelle nicht plausibel. Dies wäre an anderen Sachverhalten zu überprüfen. Als Charakteristikum der Pastoralbriefe ist die eigentümliche Verschränkung zwischen Indikativ und Imperativ oft herausgestellt worden, und das gilt auch für den Passus über die Verheißung des Lebens. Die indikativische Aussage von 1 Tim 4,8–10 ist in den durchweg von Imperativen bestimmten Kontext verwoben. Sie nimmt ihren Anlass und Ausgangspunkt in der Abgrenzung von der zuvor benannten abweichenden Lehre, für die offenbar körperliche Übung (Askese?) wichtig war.11 Die Frage danach, wie die in der Regel als »Irrlehre« bezeichneten Position im Einzelnen zu beschreiben ist, kann zunächst zurückgestellt werden. Interessant ist vielmehr die eigentümliche Struktur des Indikativs von 4,8–10. Er ist zwar – wie das von Paulus und anderen Traditionen her geläufig ist – selbstverständlich der Grund für die Mahnung zu einem bestimmten Verhalten (V. 8: γάρ). Aber er ist es nicht im Sinne des Verweises auf ein vergangenes Geschehen, das ein entsprechendes Verhalten bzw. entsprechende Konsequenzen in der Gegenwart fordert, sondern er ist es als eine affirmative Aussage, die den Status der Glaubenden in Gegenwart und Zukunft beschreibt, um die Norm gegenwärtigen Verhaltens zu begründen. Schlüsselbegriff dieser Verhaltensnorm ist die εὐσέβεια – ihr bzw. denen, die ihr entsprechend leben, gilt die Verheißung des Lebens, und zwar des Lebens in Gegenwart und Zukunft. Der Aspekt der Hoffnung wird dabei in eigentümlicher Weise in den Indikativ integriert: Das von der die Gegenwart und Zukunft umgreifenden Verheißung bestimmte Leben ist ein Leben in εὐσέβεια, in der man sich üben muss (V. 7), die im Unterschied zu körperlicher Askese »nützlicher« ist (V. 8 – πρὸς ὀλίγον/πρὸς πάντα). Sie ist zwar auch geprägt von Mühen und Kämpfen, aber getragen von der Hoffnung auf den lebendigen Retter-Gott (so in V. 10).12 Die Ver9 

Quinn/Wacker, Letters, 8.

10 Ebd. 11 Vgl. 12  Die

Roloff, 1 Tim, 245; Oberlinner, 1 Tim, 193 f. Begriffe γυμνάζειν (V. 7), κοπιᾶν und ἀγωνίζεσθαι (V. 10) gehören zu einem seman-



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heißung des Lebens ist also als das Leben bestimmender Indikativ nur real in der Hoffung auf den lebendigen Gott. Gottes eigene Lebendigkeit lässt das Leben der Glaubenden verheißungsvoll werden. »Leben« ist der Inhalt der Verheißung.13 Diese Argumentation von 1 Tim 4,6–10 klingt zunächst recht abstrakt und könnte als theologischer Allgemeinplatz gelten, wäre sie nicht verbunden mit sehr konkreten Aspekten und Problemen des Lebensalltags der Gemeinde. V. 11 stellt diese Verbindung her: »Ordne dieses an und lehre (es so).« Man könnte fragen, ob sich ταῦτα auf das soeben allgemein Gesagte zurück bezieht oder die folgenden konkreten Anordnungen einleitet? Der den Indikativ bestimmende Begriff εὐσέβεια und sein semantischer Gehalt im 1. Timotheusbrief macht deutlich, dass die Alternative zweifelhaft ist: »Frömmigkeit« ist kein Zustand, sondern ein Lebensprozess und deshalb Chiffre für all das, was christliches Leben in allen Bezügen vor Gott und den Menschen ausmacht.14 Die umfassende und lebendige Dynamik des Frömmigkeitsbegriffes kommt besonders dadurch zum Ausdruck, dass sie konstitutives Charakteristikum christlichen Lebens ist (1 Tim 2,2), dass man sie einüben muss (1 Tim 4,7) und sie zu allem zuträglich ist (1 Tim 4,8; vgl. 6,6). Sie ist praktischer Maßstab der Lehre (1 Tim 6,3; vgl. Tit 1,1) und wird in der Reihung von Begriffen in 1 Tim 6,11 von Gerechtigkeit und Glauben flankiert. Aber man kann sie auch missbrauchen (1 Tim 6,5). Ich habe schon angedeutet, dass die grundsätzlichen Aussagen von 4,6–10 die Voraussetzung für die anschließenden konkreten Anordnungen darstellen. Diese beginnen in 4,12 und enden – so würde ich hier zunächst einmal abgrenzen – in 5,20, da mit 5,21 nicht nur der Stil von der Anrede in die 1. Person Singular wechselt, sondern 5,21 auch inhaltlich das Gesagte bekräftigt und einer Beschwörungsformel gleichkommt. Timotheus, dessen jugendliches Alter eigens hervorgehoben wird, wird angewiesen, wie er sich gegenüber älteren und jüngeren Männern (5,1), älteren tischen Feld, das aus dem Erfahrungsbereich des Wettkampfs stammt, vgl. bes. 1 Kor 9,25 u. a.; dazu Metzner, Wettkampf. In den Kontext des antiken Gymnasiums gehört auch der Begriff des μῦθος (V. 7), wobei bemerkenswert ist, dass der Begriff in 4,7 unmittelbar mit den deutlich aus dem gymnasialen Bereich stammenden Begriffen in 4,7 f. verwendet wird (vgl. Spicq, Gymnastique; vgl. Mounce, Epistles, 250). Freilich muss man mit dieser Zuordnung innerhalb des 1 Tim und der Pastoralbriefe insgesamt vorsichtig sein, da zumindest in 1 Tim 1,4 und Tit 4,14 nicht die in Gymnasien beheimateten Göttergeschichten gemeint sind, sondern auf jüdische Traditionen Bezug genommen wird (vgl. Oberlinner, 1 Tim, 13 f.). Ob freilich das Attribut »gnostisch« bzw. die Benennung als »judaisierende Gnosis« (a. a. O., 14; vgl. a. a. O., 191) angebracht ist, bleibt zweifelhaft. Darüber hinaus ist das Verhältnis zur Verwendung der Begrifflichkeit bei Paulus differenziert zu bestimmen; ein pauschaler Hinweis auf die Verbreitung des Motivs in der hellenistischen Welt wie bei Oberlinner (a. a. O., 192) reicht nicht aus. Gerade die Art und Weise, wie in 1 Tim darauf Bezug genommen wird, lässt die Nähe zu Paulus unabhängig von schriftlichen Zeugnissen deutlich werden. Wären die Paulusbriefe bereits vorausgesetzt, sollten hier nähere Übereinstimmungen zu erwarten sein. 13  So zu Recht Oberlinner, 1 Tim, 195. 14  Vgl. die Grundstruktur in 6,13. εὐσέβεια findet sich 14 × im NT, davon 10 × in den Pastoralbriefen, 8 × im 1 Tim, 1 × im 2 Tim, 1 × im Tit (Präskript); vg. dazu Herzer, Geheimnis (in diesem Band 381–405); ders., Leben in Frömmigkeit.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

und jüngeren Frauen (5,2), sowie älteren und jüngeren Witwen (5,3–16) verhalten soll. Den Abschluss bilden einige Sätze über Ältere bzw. Älteste (Männer), die gemeindevorstehende Aufgaben übernommen haben (5,17–20). Vor allem die Korrespondenz zwischen den νεώτεραι von 5,2 und den νεώτεραι χήραι in 5,11.14 sowie der Umfang der Ausführungen zu den Witwen zeigt an, wo das eigentliche Problem liegt: in der Klärung der Versorgungsleistungen und im Lebenswandel der jüngeren Witwen. Hier wird dementsprechend auch eine deutliche Befürchtung ausgesprochen: Die Anweisungen haben den Grund, sie (die jüngeren Witwen – aber eben nicht nur sie!) vor der Gefahr eines Weges zu bewahren, auf dem sie das verheißene Leben jetzt schon verlieren, ja lebendig bereits tot sind (5,6; 5,15: dem Satan nachlaufen). Die Details der Fragestellungen, wie es sich mit den älteren und jüngeren Witwen verhält, wie die Aussage über die doppelte Ehre für diejenigen Ältesten zu verstehen sei, die Verantwortung für Wort und Lehre tragen, müssen hier zurücktreten. Wichtig ist für unseren Zusammenhang die Feststellung des konkreten sozialgeschichtlichen Bezuges der Verheißung, an dem deutlich wird, dass der Autor den theologischen Grundsatz von 4,8 in seinem Bezug auch auf die Gegenwart tatsächlich ernst meint. Die sozialen und kybernetischen Probleme in der Gemeinde sind der Ort, an dem die Verheißung für sie Realität wird. Die »Verheißung des Lebens« ist also nicht ein theologischer Glaubenssatz, der von den vorfindlichen Strukturen und Problemen in der Gemeinde unabhängig wäre. Unter intertextuellen Gesichtspunkten ist es ein großer Unterschied, ob derartige Anweisungen für sich stehen, gehört und befolgt werden sollen (vgl. 4,16) oder ob sie unter der Perspektive eines anderen Textes, nämlich den zuvor gemachten Ausführungen zu »Verheißung des Lebens« gelesen werden. Dabei geht es auch nicht nur um die Verantwortung der sog. »Amtsträger«. Die Benennung der Gemeinde in paulinischem Sprachgebrauch als »Geschwister« (ἀδελφοί, 4,6) spricht in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Was Timotheus anordnen soll, muss die ganze Gemeinde mittragen und sich zu eigen machen.15 In dieser Perspektive werden die Mühen und Kämpfe des Apostels (4,10) zum Auftrag und zur Herausforderung für die ganze Gemeinde; zugleich wird aber auch seine persönliche Hoffnung auf den lebendigen Gott zur Hoffnung für die ganze Gemeinde. Entscheidend für das Verständnis des Lebens zwischen der Verantwortung füreinander in Mühen und Kämpfen und der Hoffnung auf den lebendigen Gott ist, dass Gegenwart und Zukunft nicht einander gegenübergestellt werden, sondern zwei Aspekte einer ganzheitlichen Perspektive darstellen. Der Begriff der Verheißung repräsentiert diese ganzheitliche Lebensperspektive. Interessant ist, dass aus aktuellen Diskursen heraus sofort die Frage aufkäme, warum die sowohl Gegenwart als auch Zukunft prägende und für theologische Begründungszusammenhänge so wichtige Dimension der Vergangenheit in dieser Definition 15  Die von Oberlinner, 1 Tim, 188, behauptete Fokussierung auf den Gemeindeleiter ist nicht plausibel und nur dann möglich, wenn man Timotheus als Paradigma des Gemeindeleiters versteht (vgl. a. a. O., XXIII). Aber genau das ist zweifelhaft.



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des Lebens fehlt.16 Gerade in dieser Hinsicht ist aber der Begriff der Verheißung wichtig: Die Verheißung des Lebens gewinnt in der Hoffnung auf den lebendigen Gott und in der Wahrnehmung von Verantwortung konkrete Gestalt. Der Begriff der Verheißung birgt in diesem Kontext den Horizont der Vergangenheit in sich, nämlich in Gestalt der Verheißungsgeschichte Gottes mit allen Menschen (4,10), die auf seinem vergangenen Heilswirken beruht (vgl. 1 Tim 2,4–6; 3,1317). Auf der Basis solcher Verheißung wird die persönliche Hoffnung zur entscheidenden Motivation von Verantwortung.

2.  Die intratextuelle Vernetzung: 1 Tim 4,8 als Interpretation des Lexems »ewiges Leben« Zu bedenken ist nun die Vernetzung der »Verheißung des Lebens« zu jenen anderen Belegen, in denen am Anfang und am Ende des Briefes vom »ewigen Leben« die Rede ist (1,16; 6,12[19]). Diese verdichtete Formulierung soll und muss für das Verständnis der »Verheißung des Lebens« mitgehört werden. Geläufig ist sie wegen des statistischen Übergewichts vor allem aus johanneischer Tradition. Aber auch in dem für den Autor maßgeblichen Referenzrahmen der paulinischen Theologie spielt die Vorstellung vom ewigen Leben eine Rolle, mit dem das erhoffte Ziel des Glaubens auf einen Begriff gebracht wird (vgl. Röm 2,7; 6,22 f.; Gal 6,8; ferner 2 Kor 4,17; 5,1 – ohne den Terminus »Leben«18). Auch 1 Tim 1,16 beschreibt »ewiges Leben« zunächst als Ziel des Glaubens, dessen Weg bei der Rettung der Sünder durch Christus seinen Ausgangspunkt nimmt. Paulus wird als das Beispiel par excellence für die Menschen als Sünder vor Gott benannt, denen Gottes Erbarmen durch das Christusgeschehen zuteil wird. Der Apostel wird dadurch zum grundlegenden Paradigma aller Glaubenden.19 »Ewiges Leben« hat seinen Möglichkeitsgrund im Christusgeschehen; das Rettungswerk Gottes durch Christus ist die Bedingung der Möglichkeit ewigen Lebens für die Glaubenden. Das Verhältnis zwischen Voraussetzung und Wirklichkeit des ewigen Lebens wird dann in 4,8 mit dem Stichwort »Verheißung des Lebens« aufgenommen und zugleich in der Lebenswirklichkeit der Glaubenden verankert: »Ewiges Leben« ist damit kein unbestimmtes Ziel einer erhofften Zukunft, sondern umschließt bereits das gegenwärtige Leben. Die differenzierte Explikation des Lebensbegriffes als Gegenwart und Zukunft umfassendes Geschehen in 1 Tim 4,8 erscheint dadurch als eine Inhaltsbestimmung des Attributes »ewig« von 1,16: Das 16 Vgl. etwa Schoberth, Erinnerung, 34 ff.: »Verheißung zwischen Erinnerung und Hoffnung«. 17  Die hymnische Form dieser Erinnerung weist auf die Selbstverständlichkeit hin, mit der sie vorausgesetzt ist; vgl. dazu Herzer, Tradition und Bekenntnis (in diesem Band 247–270). 18  Bemerkenswert ist, dass dieser Begriff nur in den anerkanntermaßen echten Briefen und in den Pastoralbriefen vorkommt; 2 Thess, Eph, Kol verwenden ihn nicht. 19 Vgl. Oberlinner, 1 Tim, 46. Dazu die Mahnung des Paulus: »Werdet meine Nachahmer« (1 Kor 4,16; 11,1 – in 4,16 mit anschließendem Hinweis auf die Sendung des Timotheus!).

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ewige Leben als Ziel des Glaubens ist nicht ein anderes, sondern es ist das gegenwärtige in seiner Einheit mit dem zu erwartenden. Ewigkeit des Lebens ist nicht ausschließlich Gegenstand einer Zukunftserwartung, deren Realitätsgehalt gegebenenfalls auch bestritten werden könnte. Die Ewigkeit des Lebens wird nicht durch eine umstrittene Hoffung konstituiert, sondern durch den notwendigen Bezug zur Gegenwart, die durch πίστις und εὐσέβεια geprägt wird. Das gegenwärtige Leben wird so – um bei der Terminologie des Autors zu bleiben – zur »Hypotypose des Kommenden« (πρὸς ὑποτύπωσιν τῶν μελλόντων 1,1620) und wird dadurch in einer Weise aufgewertet, die die Verantwortung für dieses gegenwärtige Leben den Glaubenden unmissverständlich vor Augen führt. Wenn schließlich in 6,12 f. der Empfang des ewigen Lebens mit dem das All lebendigmachenden Gott (θεὸς ὁ ζῳογονοῦν21) in Verbindung gebracht wird, dann ist die Entsprechung dieser Struktur zu Gottes schöpferischen Heilshandeln ebenso deutlich herausgestellt.22 »Ewig« ist das Leben also allein aufgrund von Gottes Verheißung, die dem Leben in Gegenwart und Zukunft gilt. Gegenwart und Zukunft entsprechen in ihrer Verschränkung miteinander dem Zusammenhang von Hoffnung und Verantwortung. Wie es die Gegenwart nicht ohne Zukunft geben kann und umgekehrt, so kann es auch keine Verantwortung ohne Hoffnung geben und umgekehrt. Verantwortung bleibt ohne Hoffnung in unverständlichen Imperativen stecken, und Hoffnung gerät zur Illusion, wenn sie nicht in konkreter Verantwortung Gestalt gewinnt. Die Gegenwart wird damit zum Teil der Ewigkeit und damit in einer Weise aufgewertet  – man könnte sagen: eschatologisch qualifiziert  –, die die Verantwortung der Glaubenden gerade angesichts ihrer Zukunftshoffnung einschärft. Dadurch wird die Ewigkeit des Lebens nicht nur als Chiffre für ein eschatologisches Hoffnungsgut definiert, sondern wird durch den notwendigen Bezug zur Gegenwart überhaupt erst konstituiert. Das ist durchaus mehr als nach der Bedeutung des ewigen Lebens für das diesseitige Leben zu fragen. Und wenn Dieter Sänger nach den »Konstitutionsbedingungen ewigen Lebens« gefragt hat,23 so gehört für den 1. Timotheusbrief die Gegenwart der Glaubenden grundlegend hinzu. 20 Hier freilich auf einen konkreteren Sachverhalt bezogen, nämlich den Erbarmenserweis Gottes durch das Christusgeschehen an dem »ersten Sünder« Paulus. 21 Die Bedeutung von ζωογονέω reicht freilich weiter, als mit der Übersetzung »lebendig machen« ausgesagt werden kann. Dies kann hier aber sachlich zurückgestellt werden, weil sich an der Struktur der Aussage nichts ändert. 22  Die semantische Vernetzung der Begriffe geht noch weiter: Leben – Gemeinde des lebendigen Gottes (1 Tim 3,15; 4,10) – in Christus fromm leben (2 Tim 3,12) – lebendig tot sein (1 Tim 5,6) – Richter der Lebenden und Toten (2 Tim 3,12); ewig  – der jetzige Äon (1 Tim 6,17; 2 Tim 4,10; Tit 2,12)  – ewige Zeiten (2 Tim 1,9; Tit 1,2; vgl. Röm 16,25)  – ewige Kraft (1 Tim 6,16)  – ewige Doxa (2 Tim 2,10), wobei an dieser »Steigerung« des Ewigkeitsbegriffes aus aktuellem Anlass plausibel ist: Der Tod des Apostels steht vor Augen, und daher richtet sich die Fokussierung auf die Zukunft, da die Gegenwart im Begriff ist, endgültig zur Vergangenheit zu werden, ohne dass eine neue Gegenwart im Sinne des νῦν von 1 Tim 4,8 möglich wäre. Diese wird vielmehr eschatologisch durch den Doxa-Begriff ersetzt. Angesichts der Doxa Gottes wird die erhoffte Zukunft ewige Gegenwart, die die gelebte Vergangenheit in sich birgt. 23 Vgl. Sänger, Arbeit.



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3.  Die Martyria als Konsequenz der »Verheißung des Lebens« (1 Tim 6,12) Zu überprüfen ist dieses Konzept schließlich an 1 Tim 6,12, wo der Autor am Schluss des Briefes den Begriff »ewiges Leben« vom Anfang noch einmal aufnimmt. Inzwischen ist ja schon vieles und verschiedenes geschrieben, 1,16 ist bereits durch 4,8 interpretiert, so dass 6,12 von beiden Stellen her zu lesen ist. Dann aber stellt sich die Frage, ob und wie das bisher Beobachtete sich hier wiederfindet. Gibt es eine Konsequenz in der Argumentation zu diesen Vorstellungen? Die Streuung im Brief lässt dies vermuten, und die inhaltliche Vernetzung der drei am Anfang, in der Mitte und am Schluss des Briefes platzierten Belege ist in verschiedener Hinsicht signifikant: 1,16 ist er eingeführt, 4,8 interpretiert und konkretisiert ihn, um von dieser Interpretation her in 6,12 noch einen Schritt weiter zu gehen. Es mag verwundern, dass dabei der Begriff »Verheißung« nicht mehr vorkommt. Das aber ist durchaus programmatisch, denn durch die Interpretation von 1,16 durch 4,8 wird bereits sichergestellt, dass das Lexem »ewiges Leben« in der Verschränkung von Gegenwart und Zukunft den Verheißungscharakter in sich trägt und dadurch neu codiert wird. Für den Autor gehört – so jedenfalls interpretiert er in 4,8  – der Begriff der »Verheißung« zum semantischen Gehalt des Lexems »ewiges Leben«. Aber die Semantik des Lebensbegriffes wird in Kap. 6 noch einmal erweitert und mit einem Aspekt verbunden, der das Verhältnis zwischen Hoffnung und Verantwortung fokussiert: dem »Zeugnis« in Gestalt der Homologie. Auch der Zeugnisbegriff war zuvor schon zweimal angeklungen in 2,6 und 3,7. Die dort entfalteten Bezugspunkte (Zeugnis Christi – 2,6; Außenwelt – 3,7) werden hier am Schluss ebenfalls wieder aufgenommen und zusammengeführt. Wie die Hoffnung und Verantwortung des Lebens ihren Ursprung bei dem lebendigen Gott und ihren Grund im Christusgeschehen haben, so auch das Zeugnis vor den Menschen. Die Binnenperspektive der Hoffnung und Verantwortung, die bisher im Mittelpunkt stand, wird durch den Zeugnisbegriff auf die Außenperspektive der Gemeinde in der Öffentlichkeit ausgeweitet: Das Bekenntnis vor allen Menschen (6,12). Auch hier wird der doppelte Bezugsgrund festgehalten: Gott als Lebensspender (6,13) und Christus als Zeuge des (lebendigen) Gottes. Die Bedeutung dieser Außenperspektive als letzte Konsequenz von Hoffnung und Verantwortung wird in überraschender aber wirkungsvoller Weise dadurch unterstrichen, dass der Name des Pontius Pilatus genannt wird. Wie Hoffnung und Verantwortung im Leben konkret Gestalt gewinnen, so auch das Zeugnis – hier im Paradigma des Zeugnisses Jesu. Die Erwähnung des Präfekten, der für Jesu Tod maßgeblich verantwortlich war, bindet auch das Zeugnis Jesu an konkrete Geschichte24 und das Wissen um diese Geschichte wird bei den Adressaten selbstverständlich vorausgesetzt.25 Der 24  Dabei ist die umstrittene Übersetzung des ἐπί (lokal – so z. B. Roloff, Brief, oder zeitlich – so z. B. Oberlinner, 1 Tim) unerheblich. Zur Diskussion vgl. Mounce, Epistles, 358. 25  Dass hier Evangelientradition vorausgesetzt sei (vgl. Knight, Commentary, 265 f., der auf Mk 15,2 parr. und Joh 18,33–37 verweist), ist unwahrscheinlich, weil es darauf keinen Hinweis gibt.

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hymnisch-akklamatorische Abschluss in 6,15 f. ist dem Verheißungscharakter eines solchen Lebenszeugnisses einzig angemessen. Dass dabei die öffentliche Repräsentanz des Zeugnisses Christi mit einer Terminologie entfaltet wird, die mit der Assoziation mit Pilatus als Vertreter des Imperium Romanum korrespondiert (z. B. der Epiphaniebegriff ), verwundert nicht, sondern entspricht dem semantischen Kontext der Argumentation.26

4.  Das sozialkritische Potenzial der »Verheißung des Lebens« – ein nachgetragenes Fallbeispiel (1 Tim 6,17–19) Zum Schluss folgt die »Probe aufs Exempel«. Obwohl die hymnischen Verse in 6,15 f. ein nahezu perfekter Abschluss gewesen wären, folgt in 6,17–19 noch einmal eine Mahnung an die »Reichen in dieser jetzigen Zeit«, die trotz des umstrittenen Bezuges zum Thema Reichtum in 6,3–10 nachgetragen wirkt.27 Aber gerade dieser Nachtrag bietet ein Fallbeispiel dafür, dass die Verheißung des Lebens der bleibenden Bindung an die Gegenwart bedarf. Die sozialkritische Funktion wird dadurch abschließend nochmals unterstrichen. Die Reichen sollen sich in Freigiebigkeit üben, um das »wirkliche Leben« (ἡ ὄντως ζωῆς) zu empfangen. In dem Begriff ὄντως wird all das konzentriert, was bisher über das Leben gesagt ist: Das »ewige Leben«, das aus Gottes Verheißung jetzt, mitten ἐν τῷ νῦν αἰῶνι (6,17) beginnt, wird in der Wahrnehmung konkreter Verantwortung empfangen als das, was den Namen »Leben« wirklich verdient. Die soziale Verantwortung der Reichen wird auf diese Weise zum konkreten Ausdruck wahrer Hoffnung, die das gegenwärtige Leben bestimmt, und nicht – das wird ausdrücklich gegenübergestellt – einer Hoffnung, die sich über den Reichtum und seine sozialen Implikationen definiert.28 Nur so kann die Verheißung des Lebens jetzt und in Zukunft bestehen. Von einem »theologische[n] Defizit«29 kann hier also angesichts der inter- und intratextuellen Vernetzung dieses Stückes kaum die Rede sein. Und ein Letztes: Wenn gelebte Hoffnung und konkrete Verantwortung ihre Konsequenz im öffentlichen Zeugnis finden, dann ist dieses Zeugnis auch konstitutiver Bestandteil und äußerste Möglichkeit des »guten Glaubenskampfes«, zu dem das soziale Engagement der Vermögenden genauso gehört wie das Ernstnehmen der Vgl. kritisch Johnson, First and Second Letters, 307 f.: »Note that the Synoptic Gospels do not have Jesus speaking before Pilate« (a. a. O., 308). 26 Vgl. Johnson, First and Second Letters, 308: »The explicit mention of Pilate also reminds us that the author was fully aware of the grimmer possibilities of dealing with the Roman Empire than are suggested by the positive commands in 2:1–7.« Auch der Epiphanie-Begriff z. B. muss in diesem Zusammenhang stärker kontextuell interpretiert werden und nicht sofort in einen – im Übrigen auch nicht überzeugenden – Gegensatz zum Parusiebegriff gestellt werden; in 2 Thess 2,8 steht er neben dem Parusie-Begriff und interpretiert diesen! 27  Zur Problematik vgl. Roloff, 1 Tim, 365 f. 28 Anders Oberlinner, 1 Tim, 306, der nur das zukünftige Leben als das wahre interpretiert. 29  Roloff, 1 Tim, 366.



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strukturbildenden Maßnahmen im Blick auf die Leitung und das Zusammenleben der Gemeinde. Hoffnung und Verantwortung sind conditio sine qua non des Lebens der Glaubenden, persönlich wie öffentlich. Ohne diese conditiones fidei hätte das Zeugnis einer christlichen Gemeinde weder Kraft noch Glaubwürdigkeit und die Rede von der »Verheißung des Lebens« bliebe ein theologischer Lehrsatz ohne Wirkung.

Literatur Dibelius, Martin, Die Pastoralbriefe (HNT 13), Tübingen 21931. Engelmann, Michaela, Unzertrennliche Drillinge? Motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe (BZNW 192), Berlin 2012. Frenschkowski, Marco, Pseudepigraphie und Paulusschule. Gedanken zur Verfasserschaft der Deuteropaulinen, insbesondere der Pastoralbriefe, in: Friedrich Wilhelm Horn (Hg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte (BZNW 106), Berlin/New York 2001, 239–272. Häfner, Gerd, »Nützlich zur Belehrung« (2 Tim 3,16). Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefe im Rahmen der Paulusrezeption (HBS 25), Freiburg i. Br. u. a. 2000. Herzer, Jens, »Das Geheimnis der Frömmigkeit« (1 Tim 3,16). Sprache und Stil der Pastoralbriefe im Kontext hellenistisch-römischer Popularphilosophie  – eine methodische Problemanzeige, in: ThQ 187 (2007), 309–329 (in diesem Band 381–405). –, Fiktion oder Täuschung?  Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe, in: Jörg Frey u. a. (Hg.), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen (WUNT 246), Tübingen 2009, 489–536 (in diesem Band 31–76). –, Tradition und Bekenntnis. Die Theologie des Paulus im Spiegel ihrer Rezeption im Ersten Timotheusbrief, in: Heike Omerzu/Eckart D. Schmidt (Hg.), Paulus und Petrus. Geschichte – Theologie – Rezeption (ABG 48), Leipzig 2016, 247–271 (in diesem Band 247–270). –, Zwischen Mythos und Wahrheit. Neue Perspektiven auf die sogenannten Pastoralbriefe, in: NTS 63 (2017), 428–450 (in diesem Band 77–97). –, Leben in Frömmigkeit und Ehrbarkeit – Ethos und Ethik im 1. Timotheusbrief, in: Ruben Zimmermann (Hg.), Ethik des Neuen Testaments (UTB), Tübingen (im Druck). Johnson, Luke Timothy, The First and Second Letters to Timothy. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB 35A), New York u. a. 2001. Knight III, George W., The Pastoral Epistles. A Commentary on the Greek Text (NIGTC), Grand Rapids 1992. Lohse, Eduard, Das apostolische Vermächtnis – Zum paulinischen Charakter der Pastoralbriefe, in: Wolfgang Schrage (Hg.), Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments. FS H. Greeven (BZNW 47), Berlin u. a. 1986, 266–281. Metzner, Rainer, Paulus und der Wettkampf. Die Rolle des Sports in Leben und Verkündigung des Apostels (1 Kor 9.24–7; Phil 3.12–16), in: NTS 46 (2000), 565–583. Mounce, William D., Pastoral Epistles (WBC 46), Nashville 2000. Oberlinner, Lorenz, Die Pastoralbriefe. Erste Folge, Kommentar zum ersten Timotheusbrief (HThK XI/2), Freiburg i. Br. u. a. 1994.

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IV  Glaube, Frömmigkeit und Ethik auf dem Prüfstand

Quinn, Jerome D./Wacker, William C., The First and Second Letters to Timothy. A New Translation with Notes and Commentary (The Eerdmans Critical Commentary), Grand Rapids/Cambridge 2000. Roloff, Jürgen, Der erste Brief an Timotheus (EKK XV ), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1988. Sänger, Dieter, Ist Arbeit nur das halbe Leben? Zu einem vernachlässigten Aspekt von »Leben« im Neuen Testament, in: Eilert Herms (Hg.), Leben. Verständnis. Wissenschaft. Technik. Kongreßband des XI. Europäischen Kongresses für Theologie 15.–19. September 2002 in Zürich, Gütersloh 2005, 257–276. Schoberth, Ingrid, Erinnerung als Praxis des Glaubens (Öffentliche Theologie 3), München 1992. Spicq, Ceslas, Gymnastique et morale d’après 1 Tim. 4,7–8, in: RB 54 (1947), 229–242. Trummer, Peter, Corpus Paulinum – Corpus Pastorale. Zur Ortung der Paulustradition in den Pastoralbriefen, in: Karl Kertelge (Hg.), Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften. Zur Paulusrezeption im Neuen Testament (QD 89), Freiburg i. Br. u. a. 1981, 122–145. Young, Frances M., The Pastoral Epistles and the Ethics of Reading, in: JSNT 45 (1992), 105–120.

V  Schluss: Wahrheit und Ethos

Ethik, Ethos und die Wahrheit Ein Beitrag zur Frage nach der Individualität der Pastoralbriefe 1. Vorbemerkung Eine der Leitfragen der Konferenz* lautete, ob die Ethik eine Kategorie sein kann für eine Betrachtung der drei Pastoralbriefe als Einzelschreiben, unabhängig von der Theorie eines literarischen Corpus pastorale. Diese Theorie war stets in verschiedener Hinsicht umstritten und ist in den letzten Jahren nicht nur erneut und grundlegend infrage gestellt,1 sondern auch modifiziert worden.2 Die Kritiken an dieser Theorie setzen an ganz verschiedenen Stellen an und kommen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. All das soll hier nicht grundsätzlich zur Debatte stehen.3 Der Ansatz der Tagung, den Titusbrief in seinem individuellen Profil zu thematisieren, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass in der Forschung ein Umdenken stattgefunden hat, insofern das je eigene Profil der drei sogenannten Pastoralbriefe stärker zur Geltung zu bringen ist – und zwar unabhängig von der Frage nach der Autorschaft. Dieser Neuansatz macht deutlich, dass auch unter verschiedenen Auktoritätsmodellen jede dieser drei Schriften ihre eigene Spezifik hat, sowohl in formaler Hinsicht als auch im Blick auf die verschiedenen Sachthemen. Trotz aller Modifikationen und Kritik stellt die Theorie eines Corpus pastorale nach wie vor ein in der Forschung etabliertes heuristisches Paradigma dar, das zumindest in der Vergangenheit dazu geführt hat, Sachthemen stets aus allen drei Briefen heraus zu entfalten. Auch und vor allem das Thema der Ethik ist für einen solchen Ansatz prädestiniert, denn wenn die Pastoralbriefe in einer wie auch immer zu beschreibenden Weise auf das Konzept eines Autors bzw. einer Autorengruppe zurückgehen, so wäre nicht zuletzt in diesem Bereich ein einheitlicher Duktus zu vermuten, bei aller literarisch notwendigen Variation im Detail.4 Geht man von literarischer Einheitlichkeit aus, dann müsste man wohl das Thema der Ethik vor *  Einleitender Hauptvortrag auf der Konferenz »Ethics in Titus« des Research Center for Ethics in Antiquity and Christianity in Mainz (12.–14. September 2019). Eine englische Version erscheint parallel im Konferenzband der Tagung: Manomi, Virtue Ethics. Die hier vorliegende deutsche Version ist für die Publikation in diesem Kontext neu bearbeitet und ergänzt. 1  Vgl. einschlägig Engelmann, Untersuchungen. 2  Vgl. exemplarisch die Interpretation der Pastoralbriefe als Briefroman in drei Teilen bei Glaser, Briefroman, im Anschluss an Pervo, Romancing; vgl. dazu Engelmann, Untersuchungen, 80–87. 3  Vgl. neben der Studie von Engelmann auch Richards, Difference; Fuchs, Unterschiede. 4  Vgl. dazu exemplarisch Schrage, Ethik, 244–255; Schnackenburg, Botschaft, 95–109.

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V  Schluss: Wahrheit und Ethos

allem von der Ekklesiologie der Pastoralbriefe her entfalten, die das Grundanliegen des Corpus pastorale insgesamt prägt.5 Die Ethik der Pastoralbriefe würde unter dieser Voraussetzung die deskriptiven und normativen Aspekte der Gemeindestruktur widerspiegeln, denen ein Ethos zugrunde liegt, welches in der Paränese konkretisiert wird.6 Die Frage ist aber, ob eine solche Annäherung an die Ethik der Pastoralbriefe tatsächlich zielführend ist und dem Profil sowie dem Anliegen der drei Briefe gerecht wird. Die Hypothese eines Corpus pastorale setzt nämlich ein Konstrukt voraus, dessen Existenz nicht erwiesen werden kann (und m. E. auch mehr als unwahrscheinlich ist), und damit würde sich auch eine Ethik der Pastoralbriefe bzw. des Corpus pastorale als ein Konstrukt erweisen, das notwendig von der konkreten Gestalt des Einzelbriefes abstrahieren muss. Das kann hier nicht weiter vertieft werden. Ausgehend von dem Anliegen der Tagung, die Individualität der Pastoralbriefe im Hinblick auf die Ethik zur Geltung zu bringen, soll ein anderer Zugang gewählt werden, der eine differenziertere Wahrnehmung des jeweiligen Eigenprofils ermöglicht und zugleich die Tatsache nicht ausblendet, dass die Briefe in einer dann doch wieder näher zu bestimmenden Relation zueinander stehen. Diese Relation gilt es allerdings erst zu bestimmen und kann nicht a priori als gegeben vorausgesetzt werden. Das bereits angedeutete Verhältnis von Ethik und Ethos soll exemplarisch anhand eines konkreten Leitbegriffes dargestellt werden, der allen drei Briefen gemeinsam ist. Es handelt sich um den Begriff der »Wahrheit« (ἀλήθεια), der alle drei Briefe auf unterschiedliche Weise prägt und geradezu eine konzeptionelle Bedeutung hat.7 Manche würden dies vielleicht eher vom Begriff der »Frömmigkeit« (εὐσέβεια) erwarten, aber dieser ist für die Pastoralbriefe insgesamt in individueller Hinsicht weit weniger signifikant, als oft behauptet.8 Bemerkenswerterweise ist εὐσέβεια in allen drei Briefen auf jeweils besondere Weise mit ἀλήθεια verbunden. Im Folgenden geht es also nicht um die Analyse konkreter ethischer Weisungen, sondern um die Beschreibung des grundlegenden Begründungszusammenhanges der Ethik, wie er in den drei Pastoralbriefen jeweils spezifisch erkennbar wird. Aufgrund der Komplexität dieser Fragestellung und der Begrenztheit des zur Verfügung stehenden Raumes soll das Folgende zudem eher in essayistischer Weise als Problemanzeige erörtert werden und nicht in einer umfassenden Diskursanalyse. 5  Vgl. neben den in Anm. 4 Genannten etwa Roloff, Kirche, 250–267 (»Gottes geordnetes Hauswesen: Die Pastoralbriefe«); mit spezifischem Fokus auf die Bedeutung von Frauen in der Gemeinde Wagener, Ordnungen. Weiterhin z. B. Donelson, Pseudepigraphy; Mott, Ethics; Schwarz, Christentum. 6 Vgl. Towner, Instruction, unter der Voraussetzung einer differenzierten Betrachtung der Pastoralbriefe in ihrem jeweiligen Eigenprofil. 7  Speziell zum Tit vgl. Weidemann, Intersection of Ethics. 8  Vgl. z. B. bereits Holtzmann, Pastoralbriefe, 94; zur Problemstellung vgl. Standhartinger, Eusebeia.

Ethik, Ethos und die Wahrheit



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2.  Ethik und Ethos Schon die philosophisch-systematische Definition des Begriffes bzw. des Konzeptes »Ethik« ist nicht einfach, zumal in der Verhältnisbestimmung zum Begriff des »Ethos«.9 Im Neuen Testament wird bekanntlich der Begriff »Ethos« nicht in einer entsprechend profilierten Weise reflektiert.10 Von daher begründet sich auch Berechtigung und Notwendigkeit der Frage nach einer »impliziten Ethik« in den Schriften des Neuen Testaments.11 Es ist also zunächst einmal methodisch zu berücksichtigen, dass mit den Begriffen »Ethik« und »Ethos« zwei begriffliche Kategorien verwendet werden, die als solche  – wie manche andere auch  – dem Neuen Testament fremd sind. Diese theoretische Debatte soll hier nicht geführt, sondern vielmehr angesichts der sehr verschiedenen philosophischen Ethik/EthosDefinitionen und um der konkreten Arbeit an den Texten willen von einer recht pragmatischen und heuristisch sinnvollen Unterscheidung ausgegangen werden. Im RGG-Artikel »Ethos« definiert Eilert Herms den Begriff als »Interaktionsordnung«, die auf gemeinsamer Überzeugung bzw. Gesinnung sowie auf einer den Akteuren gemeinsamen »Gewissheit über Ursprung und Ziel des menschlichen Daseins« basiere.12 Ist das Ethos also »der Möglichkeitsraum für den Prozeß des norm- und regelgeprägten menschlichen Zusammenlebens«,13 so beschreibt die Ethik demgegenüber die »Kriterien des richtigen Handelns«.14 Das Ethos einer Gemeinschaft setzt also eine intersubjektive Verständigung über die Kriterien und die gemeinsam zu gestaltenden Formen des Daseins voraus und ist zugleich deren Grundlage. Ethik impliziert – vereinfacht formuliert – stets eine Theorie der Lebensführung bzw. der Daseinsgestaltung mit dem Ziel der – klassisch aristotelisch gesprochen – Eudaimonia. Als solche setzt Ethik daher ein Ethos, d. h. eine durch bestimmte Prinzipien repräsentierte Grundhaltung und »Daseinsgewissheit«15 voraus, die das lebensweltliche Handeln des Menschen bestimmt. Anders und etwas vereinfacht formuliert: Das Ethos umgreift und begründet die handlungsleitenden Kriterien der Ethik; die Ethik reflektiert, expliziert und konkretisiert das Ethos im lebensweltlichen Bezug. Das ist, wie bereits angedeutet, ein vereinfachender Versuch einer Differenzierung in begrifflicher Hinsicht, die es in der antiken Moralphilosophie so nicht gibt. Die Unterscheidung zwischen Ethos und Ethik könnte daher zu Recht auch als künstlich empfunden werden, zumal sie in gewisser Weise an die alte Unterschei9 

Vgl. als knappe Problembeschreibung Herms, Art. Ethik I. Neben zwei Ausnahmen (Joh 19,40 und Hebr 10,25) findet sich der Begriff ἦθος ausschließlich im lukanischen Doppelwerk: Lk 1,9; 2,42; 22,39; Apg 6,14; 15,1; 16,21; 21;21; 25,16; 26,3; 28,17 – an allen Stellen stets auf konkrete Sitten, Gebräuche bzw. Handlungsgewohnheiten bezogen. 11  Zum methodischen Rahmen einer »impliziten Ethik« vgl. Zimmermann, Ethikbegründung. 12  Herms, Art. Ethos, 1640. 13  Herms, Art. Ethik I, 1599. 14  A. a. O., 1598. 15  Herms, Art. Ethik V, 1612 u. ö. 10 

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V  Schluss: Wahrheit und Ethos

dung von Indikativ und Imperativ erinnert.16 Doch bieten die Begriffe »Ethos« und »Ethik« die Möglichkeit, Sachverhalte zu unterscheiden bzw. zu differenzieren, deren Gehalt und Bedeutung de facto im Blick auf die konkreten Texte, die wir betrachten wollen, nur schwer abzugrenzen sind. Das liegt daran, dass diese Texte nicht theoretisch über Ethos bzw. Ethik reflektieren, sondern gewissermaßen im Vollzug bzw. in der Umsetzung bestimmter grundsätzlicher Maxime und Zielstellungen so etwas wie eine implizite Ethik entwickeln, die ihren Ausdruck in einem bestimmten Ethos gewinnt. Um einem solchen Ethikkonzept »jenseits von Indikativ und Imperativ«17 auf die Spur zu kommen, ist es vor allem wichtig, für die Gesamtkonzeption zentrale Begriffe zu identifizieren, miteinander zu korrelieren und auf diese Weise das semantische Netz zu beschreiben, das der Ethik einer neutestamentlichen Schrift seine spezifische Gestalt verleiht.

3.  »Wahrheit« als Leitbegriff des Ethos in den Pastoralbriefen Der Wahrheitsbegriff ist nicht zuletzt deshalb für unsere Fragestellung geeignet, weil er bei Paulus selbst etwa (neben dem absoluten und auch dem alltagssprachlichen Gebrauch) als »Wahrheit Gottes« (Röm 1,25; 3,7; 15,8), »Wahrheit Christi« (2 Kor 11,10) oder »Wahrheit des Evangeliums« (Gal 2,5.14; vgl. Kol 1,5) eine zentrale Rolle spielt und sich von daher auch in der Untersuchung der Ethos/ Ethik-Relation in den Pastoralbriefen als paulinische Bezugskategorie nahelegt. Von Wahrheit ist nicht nur zu reden, sondern – um es in johanneischer Weisheitssprache zu formulieren – »Wahrheit muss getan werden« (1 Joh 1,6; vgl. Sir 27,10). »Lehre mich, Adonai, deinen Weg, so will ich leben in deiner Wahrheit; verbinde mein Herz damit, dass ich fürchte deinen Namen« – so heißt es bereits in Ps 86,11. Die ethischen Konsequenzen insbesondere der »Abweichung von der Wahrheit«, wie sie Paulus in Röm 1 anschaulich und eindrücklich beschreibt, macht einmal mehr deutlich, wie sehr aus paulinischer Sicht die Lebensführung ein Wahrheitsethos voraussetzt, durch welches konkretes Handeln bestimmt wird  – oder eben auch nicht. Es ist daher zu erwarten, dass dieser Konnex auch in den Pastoralbriefen präsent und ethisch relevant ist – entweder als pseudonyme Briefe, die der Paulustradition verpflichtet sind oder auch als authentische Briefe, in denen Paulus selbst diesen Konnex unter besonderen Umständen erneut herstellt und reflektiert. Dabei ist ein weiterer Punkt zu bedenken, der im speziellen Fall der Pastoralbriefe ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden darf. Für die gerade angedeuteten Aspekte der paulinischen bzw. der biblischen Ethik ist – gewissermaßen als »Finalursache«  – Gottes Gericht über das Tun und Lassen des Menschen maßgeblich. 16 

17 

Vgl. zur Problematik Horn/Zimmermann, Indikativ; darin u. a. Löhr, Elemente. Siehe Anm. 16 sowie weiterhin Zimmermann, Ethikbegründung.



Ethik, Ethos und die Wahrheit

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Der zitierte Psalm spielt diesen Aspekt mit dem Motiv der »Furcht Gottes« ein. Und wer – so Paulus in Röm 1 – die Wahrheit Gottes mit dem Nichtigen vertauscht, für den ereignet sich bereits das Gericht des Zornes Gottes im Dahingegebensein an eben dieses Nichtige, das ein entsprechend nichtiges und verfehltes Leben nach sich zieht, welches nach dem Urteil Gottes den Tod verdient (1,32). Aber auch die durch Christus Glaubenden »müssen offenbar werden vor dem Gerichtstribunal Christi, um das (als Lohn) zu empfangen, was dem Tun im leiblichen Leben entspricht« (2 Kor 5,10; vgl. Röm 14,10, dort »Gerichtstribunal Gottes«). Dabei möchte ich nicht missverstanden werden: Die Rede von Gottes Zorn und Gerichtshandeln ist keine Drohkulisse, vor deren Hintergrund das Evangelium gewissermaßen als Rettungsring ausgeworfen wird, um die Menschen aus der Seenot ihrer Sünde zu retten – auch wenn Paulus Letzteres in 1 Thess 1,10 explizit sagt, wenn er Jesus als den bezeichnet, »der uns aus dem kommenden Zorn« rettet.18 Wenn dies das Ethos ausmachte, von dem her das Handeln der Menschen bestimmt wird, dann würde die davon bestimmte Ethik zu einer Pflichtübung, die nicht viel mit verantwortungsvollem Handeln zu tun hätte.19 Vor dem skizzierten Hintergrund kommt dem Wahrheitsbegriff eine normierende Bedeutung zu und zwar theologisch wie ethisch. Theologisch im Blick auf die Rede von Gott und seinem Handeln und darin eingeschlossen die begriffliche und inhaltliche Gestalt des Evangeliums bzw. der Verkündigung; ethisch im Blick auf die Verantwortung des Menschen, die sich daraus ergibt und seine Positionierung gegenüber dem Anspruch dieser Wahrheit. Problematisch dabei ist, dass auch eine göttliche Wahrheit selbstverständlich nicht vom Himmel fällt, sondern stets von Menschen zur Sprache gebracht wird. Deshalb ist auch ihr normativer Anspruch stets strittig, weil er ebenfalls von Menschen erhoben wird und es dadurch nahezu unweigerlich zu konkurrierenden Ansprüchen kommen muss. Mit dieser vielleicht allzu schlichten Erkenntnis kommen wir zurück zu den Pastoralbriefen, denn dort ist diese Konkurrenz des Normativen im Blick auf die implizite Ethik ausgehend von einem jeweils spezifischen Wahrheitsethos mit Händen zu greifen. Als auffällig ist an dieser Stelle zunächst hervorzuheben, dass der Begriff ἀλήθεια in den Pastoralbriefen – bis auf eine schwer zu deutende Ausnahme – stets absolut gebraucht und nicht beispielsweise wie sonst zumindest an theologisch bedeutsamen Stellen mit einem Genitivattribut (τοῦ θεοῦ/τοῦ Χριστοῦ) näher bestimmt wird. Von den insgesamt 14 Belegen des Nomens entfallen sechs auf den 1. Timotheusbrief, ebenfalls sechs auf den 2. Timotheusbrief und zwei auf den Titusbrief. Da statistische Beobachtungen bekanntlich nur bedingt etwas über die Bedeutung von Begriffen aussagen, kommt es auf die damit verbundenen Inhalte an. Zu unterscheiden sind zudem positive Aussagen von negativen, in denen anderen der Wahrheitsanspruch streitig gemacht wird. 18  Vgl. dazu grundlegend Konradt, Gericht, bes. 70–73, der zu Recht das »parakletische Anliegen des Apostels« (a. a. O., 73) hervorhebt. 19  Vgl. a. a. O., 523 f.

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V  Schluss: Wahrheit und Ethos

3.1  Wahrheit, Ethos und Ethik im 1. Timotheusbrief In besonderer Weise aussagekräftig für unsere Fragestellung ist der 1. Timotheusbrief, weil der gesamte Brief von dem Zusammenhang zwischen Wahrheitsethos und normativem Anspruch bestimmt wird. Die in ethischer Hinsicht erkennbare Programmatik des Begriffes entsteht durch dessen enge Verknüpfung mit dem Frömmigkeitsbegriff. In jedem Textzusammenhang, in dem der Wahrheitsbegriff bemüht wird, geht es auch um εὐσέβεια. 1 Tim 2,1–7 kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: 1 Tim 2,1–7: (1) Παρακαλῶ οὖν πρῶτον πάντων ποιεῖσθαι δεήσεις προσευχὰς ἐντεύξεις εὐχαριστίας ὑπὲρ πάντων ἀνθρώπων, (2) ὑπὲρ βασιλέων καὶ πάντων τῶν ἐν ὑπεροχῇ ὄντων, ἵνα ἤρεμον καὶ ἡσύχιον βίον διάγωμεν ἐν πάσῃ εὐσεβείᾳ καὶ σεμνότητι. (3) τοῦτο καλὸν καὶ ἀπόδεκτον ἐνώπιον τοῦ σωτῆρος ἡμῶν θεοῦ, (4) ὃς πάντας ἀνθρώπους θέλει σωθῆναι καὶ εἰς ἐπίγνωσιν ἀληθείας ἐλθεῖν. (5) Εἷς γὰρ θεός, εἷς καὶ μεσίτης θεοῦ καὶ ἀνθρώπων, ἄνθρωπος Χριστὸς Ἰησοῦς, (6) ὁ δοὺς ἑαυτὸν ἀντίλυτρον ὑπὲρ πάντων, τὸ μαρτύριον καιροῖς ἰδίοις. (7) εἰς ὃ ἐτέθην ἐγὼ κῆρυξ καὶ ἀπόστολος, ἀλήθειαν λέγω οὐ ψεύδομαι, διδάσκαλος ἐθνῶν ἐν πίστει καὶ ἀληθείᾳ.

(1) Ich ermahne also (inständig) vor allem, für alle Menschen Bitten, Gebete, Fürbitten (und) Dank­sagungen vorzubringen, (2) für Könige und alle, die Macht ausüben, damit wir ein ruhiges und stilles Leben in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit führen können. (3) Dies (ist) gut und wohlgefällig vor Gott, unserem Retter, (4) der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. (5) Denn einer (ist) Gott, einer auch Mittler Gottes und der Menschen, (der) Mensch Christus Jesus, (6) der sich selbst als Lösegeld für alle gegeben hat, als Zeugnis zur rechten Zeit. (7) Dazu wurde ich als Herold und Apostel bestimmt – ich sage (die) Wahrheit (und) lüge nicht –, (als) Lehrer (der) Völker in Glauben und Wahrheit.

Nach einem geradezu fulminanten Einstieg, der in einer zu Recht hagiographisch genannten Selbstvorstellung des Paulus mündet,20 wird zunächst εὐσέβεια in 1 Tim 2,2 als eine von zwei Tugenden der Lebensführung in Korrespondenz zu σεμνότης eingeführt. Erklärtes Ziel des so bestimmten Tugendethos ist es, »ein ruhiges und stilles Leben zu führen in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit«. Der Begriff des βιός hebt dabei semantisch deutlich erkennbar auf die gegenwärtige Lebensführung – um nicht zu sagen Lebenskunst – ab, die maßgeblich durch die Kategorien der nach innen wie vor allem auch nach außen wahrnehmbaren »Anständigkeit« der Gemeinde bzw. ihrer Glieder bestimmt wird. Diese Zielrichtung des Ethos wird als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt und dadurch zur Voraussetzung eines normativen ethischen Anspruches, der zugleich als Gott wohlgefällig charakterisiert wird. Der Gottesbezug einer normativen Lebensführung ist zugleich Ausdruck wie Anspruch der Wahrheit, deren Erkenntnis als Gottes Wille ebenfalls normativ bzw. affirmativ gesetzt wird. Anders formuliert: Das von der Wahrheit her bestimmte 20  Vgl. dazu Collins, Image, 147: »traces of an emerging Pauline hagiography«; im Anschluss daran hat Dassmann, Stachel, 166, den Begriff der »Paulushagiographie« geprägt. Vgl. auch Engelmann, Paulusbilder, bes. 236–244; dies., Untersuchungen, 505–535, bes. 506–519.



Ethik, Ethos und die Wahrheit

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Ethos setzt die Norm des »bürgerlichen« Lebens der Glaubenden in der Welt.21 εὐσέβεια, σεμνότης und πίστις werden dabei zu Tugendbegriffen, die dieses Lebens charakterisieren und – das ist der Grundtenor des 1. Timotheusbriefes – dem Anspruch des Wahrheitsethos eine tugendethisch konnotierte Form geben. Nur angedeutet sei an dieser Stelle, dass diese Perspektive des 1.  Timotheusbriefes eine Nähe zu popularphilosophischen Aspekten epikureischer Ethik aufweist, ein Thema, das hier nicht in extenso behandelt werden kann.22 Vor dem Hintergrund moralphilosophischer Kontexte, innerhalb derer die Pastoralbriefe auf je eigene Art Bezüge aufweisen, zeichnet die programmatische Ausrichtung der Ekklesiologie unter dem Vorzeichen des »ruhigen und stillen Lebens in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit« (1 Tim 2,2) in besonderer Weise den 1. Timotheusbrief aus. In der Forschung hat insbesondere dieses Vorzeichen zur spezifischen Charakterisierung der Pastoralbriefe als Zeugnisse eines »bürgerlichen Christentums« geführt.23 In der Auslegung von 1 Tim 2,1–4 konzentrieren sich die Kommentare zumeist auf das Gebet für die Obrigkeit (vgl. 1  Clem 61,1 f.) bzw. auf den Begriff der εὐσέβεια als Ausdruck einer politisch loyalen Grundhaltung der christlichen Gemeinde, weniger auf das Motiv des »ruhigen und stillen Lebens«. Auffällig ist die Beobachtung, dass für die Charakterisierung dieser Lebenshaltung der Begriff βιός verwendet wird, der im Kontext des Briefes zu unterscheiden ist von dem theologisch geprägten Begriff der ζωή, die als »ewiges Leben« (1,16; 6,12) bzw. »wahres Leben« (6,19) Gegenwart und Zukunft des Glaubens prägt. Demgegenüber umgreift βιός das alltägliche Leben, definiert durch die Begriffe »Frömmigkeit« (εὐσέβεια) und »Anstand« (σεμνότης).   Zu berücksichtigen ist ferner, dass im 1. Timotheusbrief εὐσέβεια als griechisches Äquivalent zum lateinischen pietas-Konzept mit dem Glaubensbegriff verschmilzt. Dadurch gewinnt εὐσέβεια eine programmatische Funktion für ein christliches »Welt­ethos«. Vor diesem Hintergrund kommt ein zeitgenössischer Gesellschaftsdiskurs in den Blick, der bisher weitgehend vernachlässigt wurde. Es handelt sich um die Auseinandersetzung des Moralphilosophen Plutarch von Chaironeia mit dem Lebens­­ethos Epikurs bzw. der Epikureer um die rechte Lebenshaltung eines politisch engagierten römischen Bürgers, speziell mit der Maxime Epikurs: λάθε βιώσας  – »Lebe im Verborgenen«.24 Prägend für die Lebensführung ist bei Epikur der Begriff der ἡσυχία, der Ruhe. Diese Ruhe setzt voraus, dass das Gemeinwesen, in dem man lebt, stabil ist, um so ein Leben führen zu können, das ganz den eigenen Interessen unter dem Ideal der Freundschaft (φιλαδελφία) folgt. Der Slogan »Lebe im Verborgenen« ist eine klischeehafte Verzeichnung Plutarchs als polemisches Argument gegen Epikurs Philosophie (ähnlich der Verzeichnung seines Hedonismus), die im 1. und 2. Jahrhundert einen deutlichen Aufschwung nahm. Für Plutarch kann ein verborgenes Leben nur dazu dienen, die eigene Untugend zu verbergen (De latenter vivendo 1129b–d) – ein Vorwurf, der bekanntlich auch den Christengemeinden gemacht wurde.25 Die Verortung des 1. Timotheusbriefes 21 Vgl. Dibelius/Conzelmann, Pastoralbriefe, 32 f. Zum Begriff der »Bürgerlichkeit« in diesem Kontext vgl. Schwarz, Christentum; Löning, Epiphanie, bes. 107–109.117–124, hält diese Charakterisierung »grundsätzlich« (a. a. O., 107) für verfehlt. Vgl. auch Kidd, Wealth; Reiser, Christentum; zur Problematik Herzer, Geheimnis (in diesem Band 381–405). 22  Dazu ausführlich Herzer, Leben in Frömmigkeit; vgl. Malherbe, Philosopher; Zamfir, Men and Women, 12–19. 23  S. o. Anm. 21. 24  Vgl. dazu den Band Plutarch, ΕΙ ΚΑΛΩΣ ΕΙΡΗΤΑΙ ΤΟ ΛΑΘΕ ΒΙΩΣΑΣ – Ist »Lebe im Verborgenen« eine gute Lebensregel? 25  Vgl. etwa Plinius, Briefe X,97; im Neuen Testament etwa 1 Petr 4,12–19. Vgl. Malherbe, Godliness I, 523–527.

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V  Schluss: Wahrheit und Ethos

innerhalb dieses Diskurses ist zugleich ein Beispiel für die Transformation grundlegender Perspektiven paulinischer Ethik. Immerhin war für Paulus selbst nach 1 Thess 4,9–12 ein Leben in der Stille und das »Sich-Kümmern« um die eigenen Angelegenheiten eine Sache der Ehre und des »anständigen Lebens«.26

Wahrheit ist im 1. Timotheusbrief nicht selbst Teil dieser moralphilosophisch geprägten Tugendethik, sondern repräsentiert in Gestalt des Bekenntnisses regelrecht ein Geheimnis, das der Frömmigkeit als maßgeblicher Tugend der Lebensführung zugrunde liegt. Dies wird an drei Stellen deutlich, an denen der 1. Timotheusbrief jeweils ein Fragment dieses Bekenntnisses zitiert: in 2,5; 3,16 und 6,15 f.27 In 2,4–6 wird die Wahrheitserkenntnis als Wille Gottes auf das Bekenntnis zu dem »einen Gott und dem einen Mittler Gottes und der Menschen, dem Menschen Christus Jesus« bezogen. Dieses Bekenntnis repräsentiert jedoch nicht nur den Inhalt der zu erkennenden Wahrheit, sondern es begründet zugleich die Autorität des Paulus als κῆρυξ καὶ ἀπόστολος eben dieser Wahrheit (2,7). Mit diesem Konnex zwischen Wahrheit, Bekenntnis und apostolischer Autorität wird im 1. Timotheusbrief nicht zuletzt die Legitimation der normativen Weisung im Hinblick auf die Gemeindestruktur, die Lebensweise der Glaubenden und das Urteil über andere plausibilisiert. Wenn der Brief dann in 2,8 mit βούλομαι οὖν fortfährt, dann entspricht das dieser Legitimierungsstrategie, deren Begründungszusammenhang im Wahrheitsethos liegt. Die ethische Relevanz des Wahrheitsethos, das in Frömmigkeit und Bekenntnis Gestalt annimmt, unterstreicht auch 1 Tim 3,14–16: (14) Ταῦτά σοι γράφω ἐλπίζων ἐλθεῖν πρὸς σὲ ἐν τάχει· (15) ἐὰν δὲ βραδύνω, ἵνα εἰδῇς πῶς δεῖ ἐν οἴκῳ θεοῦ ἀναστρέφεσθαι, ἥτις ἐστὶν ἐκκλησία θεοῦ ζῶντος, στῦλος καὶ ἑδραίωμα τῆς ἀληθείας. (16) καὶ ὁμολογουμένως μέγα ἐστὶν τὸ τῆς εὐσεβείας μυστήριον· ὃς ἐφανερώθη ἐν σαρκί, ἐδικαιώθη ἐν πνεύματι, ὤφθη ἀγγέλοις, ἐκηρύχθη ἐν ἔθνεσιν, ἐπιστεύθη ἐν κόσμῳ, ἀνελήμφθη ἐν δόξῃ.

(14) Dies schreibe ich dir in der Hoffnung, bald zu dir zu kommen. (15) Falls ich mich aber verspäte, (so schreibe ich dies,) damit du weißt, wie man sich im Haus Gottes verhalten muss, welches die Gemeinde des lebendigen Gottes ist, Säule und Grundfeste der Wahrheit. (16) Und als Bekenntnis hoch anerkannt ist das Geheimnis der Frömmigkeit: Der erschienen ist im Fleisch, wurde gerechtfertigt im Geist, ist erschienen den Boten, wurde verkündet unter den Völkern, hat Glauben gefunden in der Welt, wurde aufgenommen in Herrlichkeit.

Mit dem Begriff ἀναστρέφεσθαι kommt auch hier die konkrete Lebensführung in den Blick, allerdings spezifisch bezogen auf das Leben in der Gemeinde. Die Gemeinde bildet als »Haus Gottes« (3,15) einen Schutzraum der Wahrheit.28 Sie ist also selbst der Garant jenes Ethos, welches das Leben nach innen wie außen bestimmt. 26 Vgl.

Malherbe, Letters, 246–250; ders., Rhetoric. Herzer, Tradition und Bekenntnis (in diesem Band 247–270). 28 Vgl. Herzer, House of God (in diesem Band 273–291). 27 Vgl.

Ethik, Ethos und die Wahrheit



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Sachlich ist dabei erneut an zweierlei zu denken: An die bekenntnistheologische Konkretisierung des Ethos als »Geheimnis der Frömmigkeit«, das sich im Bekenntnis erschließt, sowie an die Akzeptanz von und Einordnung in die Strukturen der Gemeinde durch den Einzelnen. Die Charakterisierung der Gemeinde als »Haus Gottes« und die explizite Entfaltung dieses Konzeptes in haushaltsökonomischer Begrifflichkeit stellt auch das ethische Verhalten unter ein entsprechendes Vorzeichen. Dieses Vorzeichen wurde bereits zu Anfang des Briefes in 1 Tim 1,4 heilsökonomisch definiert, wenn der Brief insgesamt als Entfaltung der οἰκονομία θεοῦ ἡ ἐν πίστει verstanden wird. Unter dieser Semantik der Ökonomie gewinnt auch der Begriff des Glaubens einen dem entsprechenden Aspekt der Treue und Verlässlichkeit und rückt damit vom paulinischen Glaubensverständnis deutlich ab.29 Die in der deuteropaulinischen Tradition noch bestimmende sogenannte Haustafelethik (vgl. bes. Eph 5,21–6,6; weniger ausgeprägt und schematischer in Kol 3,18–4,1), die in Ansätzen auch im Titusbrief erkennbar ist, wird im 1. Timotheusbrief nicht aufgenommen,30 sondern abgelöst durch eine Loyalitäts- und Tugendethik, die auf einem theologisch (Wahrheitsethos) und kybernetisch (autoritative Strukturen) begründeten Ökonomiemodell beruht. Vor diesem Hintergrund erweist sich der 1. Timotheusbrief hinsichtlich seines Genres als eine Art ekklesiologisch-kybernetische Denkschrift, die Elemente der ptolemäischen memoranda bzw. den mandata principis literarisch aufnimmt, ohne in diesem Genre im eigentlichen Sinn aufzugehen. Mit diesen Elementen entspricht der 1.  Timotheusbrief in gewisser Weise dem Genre des Titusbriefes.31 Allerdings – das kann hier nur angedeutet werden – ist zwischen diesen beiden Briefen hinsichtlich der Genrefrage zu differenzieren, insofern der Titusbrief tatsächlich ein Mandatsschreiben repräsentiert, während der 1. Timotheusbrief lediglich Elemente des Genres literarisch (auch im Sinne des fiktiven Settings) aufnimmt, insgesamt aber aufgrund der ekklesiologischen Zielrichtung eine andere Funktion hat, die vielleicht eher mit so etwas wie einem »Hirtenbrief« bzw. »Pastoralbrief« oder eben einer »Denkschrift« vergleichbar ist.32 Ziel dieser »Denkschrift« ist es, das an antiker Ökonomik ausgerichtetes Gemeindemodell eines οἶκος θεοῦ zu konsolidieren und die daraus folgenden ethischen Konsequenzen entsprechend zu begründen. Schließlich bleibt zu notieren, dass auch die beiden letzten Belege für den Wahrheitsbegriff in 1 Tim 4,3 und 6,5 seiner Bedeutung als Ausdruck für ein leitendes Ethos entsprechen: 29 

Vgl. dazu bes. Mutschler, Glaube, 245–342, bes. 325. Donelson, Argument, 1986, 176 f.; Zamfir, Men and Women, 16–18. 31 Als anschauliches Beispiel dafür gilt der Papyrus Tebtunis III 703, ein ptolemäisches Memorandum aus dem 3. Jh. v. Chr., vgl. Hunt/Smyly, Tebtunis, 66–102. Vgl. dazu grundlegend Wolter, Pastoralbriefe, 154–202, bes. 161–180, der den 1 Tim und den Tit dieselben genretypischen Charakteristika zuweist; weiterhin Johnson, First and Second Letters, 139–142; Herzer, Papyri (in diesem Band 99–124); Kidson, Letter; vgl. kritisch Mitchell, Genre. Vgl. dazu auch unten in Abschnitt 3.3 zum Genre des Tit. 32  Vgl. dazu Wolter, Pastoralbriefe, 157–161, zum Vergleich mit dem »›Pastoralbrief‹ des Ignatius v. Antiochien an Polykarp«. 30 Vgl.

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V  Schluss: Wahrheit und Ethos

1 Tim 4,1–3: (1) Τὸ δὲ πνεῦμα ῥητῶς λέγει ὅτι ἐν ὑστέροις καιροῖς ἀποστήσονταί τινες τῆς πίστεως προσέχοντες πνεύμασιν πλάνοις καὶ διδασκαλίαις δαιμονίων, (2) ἐν ὑποκρίσει ψευδολόγων, κεκαυστηριασμένων τὴν ἰδίαν συνείδησιν, (3) κωλυόντων γαμεῖν, ἀπέχεσθαι βρωμάτων, ἃ ὁ θεὸς ἔκτισεν εἰς μετάλημψιν μετὰ εὐχαριστίας τοῖς πιστοῖς καὶ ἐπεγνωκόσι τὴν ἀλήθειαν.

(1) Der Geist aber sagt ausdrücklich, dass in den letzten Zeiten einige vom Glauben abweichen werden, indem sie sich an Irrgeister und dämonische Lehren halten, (2) in Heuchelei betrügerisch reden, gebrandmarkt im eigenen Gewissen, (3) (die) daran hindern zu heiraten, (aber fordern, bestimmte) Speisen zu meiden, die doch Gott geschaffen hat zum Empfang mit Danksagung für die Glaubenden und die, die die Wahrheit erkannt haben.

Am Beginn von Kap. 4 und im unmittelbaren Anschluss an die Vorstellung von Gemeinde als Haus Gottes und Hort der Wahrheit thematisiert der Verfasser in apokalyptischer Manier die Infragestellung dieses Wahrheitsethos durch »verirrte Geister und dämonische Lehren«. Dahinter stehen natürlich konkrete Menschen, dies sich nicht an dem normativen Ethos der Gemeinde orientieren und mit bestimmten Handlungsweisen und Vorstellungen zeigen, dass sie nicht zu denen gehören, die die Wahrheit erkannt haben und aufgrund dieser Erkenntnis wissen, dass das Verhalten jener Menschen falsch ist. Auch in 1 Tim 6,5 geht es um Menschen, die sich dem Wahrheitsethos verweigern und damit dokumentieren, dass sie eigentlich völlig den Verstand verloren haben, wenn sie meinen, die Frömmigkeit – also die Weise des christlichen Lebens in der Welt – zu einem Geschäft machen bzw. daraus für sich selbst Gewinn schlagen zu können: 1 Tim. 6,3–6: (3) εἴ τις ἑτεροδιδασκαλεῖ καὶ μὴ προσέρχεται ὑγιαίνουσιν λόγοις τοῖς τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ καὶ τῇ κατ᾿ εὐσέβειαν διδασκαλίᾳ, (4) τετύφωται, μηδὲν ἐπιστάμενος, ἀλλὰ νοσῶν περὶ ζητήσεις καὶ λογομαχίας, ἐξ ὧν γίνεται φθόνος ἔρις βλασφημίαι, ὑπόνοιαι πονηραί, (5) διαπαρατριβαὶ διεφθαρμένων ἀνθρώπων τὸν νοῦν καὶ ἀπεστερημένων τῆς ἀληθείας, νομιζόντων πορισμὸν εἶναι τὴν εὐσέβειαν. (6) Ἔστιν δὲ πορισμὸς μέγας ἡ εὐσέβεια μετὰ αὐταρκείας·

(3) Wenn jemand anders lehrt und (sich) nicht den heilsamen Worten unseres Herrn Jesus Christus anschließt und der Lehre, (die der) Frömmigkeit gemäß (ist), (4) ist er aufgeblasen, versteht aber nichts, sondern ist krank nach Disputen und Wortgefechten, aus denen Neid, Streit, Verleumdungen, üble Verdächtigungen (5) (und) fortwäh­rende Streitereien erwachsen von Leuten, deren Verstand völlig verdorben wurde, die der Wahrheit beraubt sind und meinen, die Frömmigkeit sei ein Verdienst. (6) Ein großer Verdienst aber ist die Frömmigkeit (nur dann, wenn sie verbunden ist) mit Genügsamkeit.

Die Abweichung vom Ethos der Wahrheit generiert ein Fehlverhalten, mit dem sich die Betreffenden selbst außerhalb der Gemeinschaft stellen. Einen »Nutzen« bzw. »Gewinn« hat Frömmigkeit nur dann, wenn sie aus der Erkenntnis der Wahrheit ein tugendhaftes Leben generiert, das in diesem Fall mit der Tugend der αὐταρκεία (Genügsamkeit, Bescheidenheit) ins Spiel gebracht wird. Dass der Begriff πορισμός eine materielle Komponente hat, zeigt nicht zuletzt die im Anschluss formulierte Warnung an die Reichen vor der Gier als der Wurzel allen Übels (1 Tim 6,9 f.),

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mit dem Ziel, die Wohlhabenden zur Großzügigkeit der Gemeinde gegenüber zu bewegen (6,17–19). Es ist konsequent, wenn zwischen diesen beiden Texten in 6,11 f. noch einmal zusammengefasst wird, was einen »Menschen Gottes« auszeichnet, also jemanden, der die Wahrheit nach Gottes Willen erkannt und das in dieser Wahrheit liegende Ethos verinnerlicht hat, der unter dieser Voraussetzung in Gemeinde und Welt entsprechend tugendhaft lebt und auf diese Weise das ewige Leben empfängt: 1 Tim 6,11 f.: (11) Σὺ δέ, ὦ ἄνθρωπε θεοῦ, ταῦτα φεῦγε· δίωκε δὲ δικαιοσύνην εὐσέβειαν πίστιν, ἀγάπην ὑπομονὴν πραϋπαθίαν. (12) ἀγωνίζου τὸν καλὸν ἀγῶνα τῆς πίστεως, ἐπιλαβοῦ τῆς αἰωνίου ζωῆς, εἰς ἣν ἐκλήθης καὶ ὡμολόγησας τὴν καλὴν ὁμολογίαν ἐνώπιον πολλῶν μαρτύρων.

(11) Du aber, Mensch Gottes, meide das! Verfolge aber Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glauben, Liebe, Geduld und Nachgiebigkeit! (12) Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, empfange das ewige Leben, zu dem du erwählt wurdest und das gute Be­kenntnis vor vielen Zeugen abgelegt hast.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass für den 1. Timotheusbrief die »Wahrheit« ein Tugendethos impliziert, dessen Realisierung im »frommen« Leben der Gemeinde seinen genuinen Ausdruck findet. Die bekannten und bedeutungsvollen paulinischen Begriffe Gerechtigkeit, Glauben und Liebe treten in eine Reihe von Tugenden, die nicht nur Ausdruck des christlichen Lebens sind, sondern eine Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit des »guten Bekenntnisses vor vielen Zeugen«.33

3.2  Wahrheit, Ethos und Ethik im 2. Timotheusbrief Die Wahrheit und ihre Erkenntnis sind auch im 2.  Timotheusbrief wichtige Kategorien des Ethos und der Ethik, aber sie sind es auf eine signifikant andere Weise als im 1. Timotheusbrief. Man könnte sogar mit guten Gründen bezweifeln, dass im 2. Timotheusbrief mit dem Begriff der Wahrheit so etwas wie ein Ethos begründet wird. Es mag wohl maßgeblich am testamentarischen Genre liegen,34 dass die Programmatik des 2. Timotheusbriefes nicht auf den Wahrheitsbegriff zuläuft, sondern zunächst im Proömium auf den »ungeheuchelten Glauben« des Timotheus abhebt, dessen Grund und Inhalt als »Evangelium in der Kraft Gottes« in 2 Tim 1,9 f. in knappen und bekenntnisartig zusammengestellten Aussagen skizziert wird. Dieses Evangelium ist schließlich charakterisiert als das, was Paulus gleichsam als Erbe dem Timotheus überliefert (παραθήκη μου, 1,12) und dessen Bewahrung dem Timotheus als Vermächtnis »heilsamer Worte« aufgetragen wird (1,14).35 Statt von 33 Vgl.

Mutschler, Glaube, 286–288. Weiser, Freundschaftsbrief; Wolter, Pastoralbriefe, 236–241, spricht von einer »testamentarischen Mahnrede«. 35  Vgl. a. a. O., 115–118. Im 1 Tim spielt der Begriff der Überlieferung (παραθήκη) nur eine ganz untergeordnete Rolle am Schluss des Briefes in 6,20 und hat auch einen anderen inhaltlichen Bezug als im 2 Tim. Während im 2 Tim die dem Timotheus anvertraute Überlieferung das Evan34 Vgl.

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V  Schluss: Wahrheit und Ethos

Ethos wird man daher im 2. Timotheusbrief zunächst erst einmal eher von einem bestimmten Pathos reden müssen, das die Programmatik des Briefes bestimmt, nämlich das eindringliche Pathos der Überlieferung (παραθήκη). Wie angedeutet, hängt dies mit dem Genre des Briefes zusammen. Dieser Programmatik des 2.  Timotheusbriefes entsprechend tritt die konkrete ethische Weisung und damit auch die Frage nach einem zugrundeliegenden Ethos in den Hintergrund. Auch im 2. Timotheusbrief geht es um das Leben der Glaubenden in der Welt, aber nicht wie im 1. Timotheusbrief im Sinne der Frage nach der rechten Lebensführung und ihres leitenden Ethos, sondern unter dem Vorzeichen seines Endes. Auf diese Dimension läuft der Brief insgesamt zu und findet in 2 Tim 4,1–8 seinen geradezu fulminanten Höhepunkt. Das Ethos, das Paulus dem Timotheus unter dem Vorzeichen seines Pathos für »sein Evangelium« (τὸ εὐαγγέλιόν μου, 2,8) mitgibt, ist zunächst nicht von der Wahrheit her definiert, sondern ist ein Ethos des Leidens und der Nachfolge: »Alle, die ›fromm‹ leben wollen in Christus Jesus, müssen Verfolgung leiden« (3,12). Das ist die Lektion, die Paulus selbst in seinem geradezu militärisch entbehrungsreichen Kampf als »Soldat Christi« (2,3) lernen musste, die er als Teil seines Vermächtnisses verallgemeinert und die nun auch Timotheus lernen muss im »Mitleiden des Bösen« (συγκακοπαθεῖν, 1,8; 2,4), ohne sich dabei gerade in die Dinge des alltäglichen Bios zu verstricken. Die persönliche Mahnung an Timotheus ist daher auf die Nachfolge in diesem Leiden ausgerichtet, die aus dem Evangelium Christi und dessen Leiden selbst das entsprechende Ethos ableitet (2,11–13): 2 Tim 2,11–13: (11) πιστὸς ὁ λόγος εἰ γὰρ συναπεθάνομεν, καὶ συζήσομεν· (12) εἰ ὑπομένομεν, καὶ συμβασιλεύσομεν· εἰ ἀρνησόμεθα, κἀκεῖνος ἀρνήσεται ἡμᾶς· (13) εἰ ἀπιστοῦμεν, ἐκεῖνος πιστὸς μένει, ἀρνήσασθαι γὰρ ἑαυτὸν οὐ δύναται.

(11) Verlässlich (ist) das Wort: Denn wenn wir mitgestorben sind, werden wir auch mitleben, (12) wenn wir erdulden, werden wir mitherrschen, wenn wir verleugnen, wird auch jener uns verleugnen, (13) wenn wir untreu sind, bleibt jener treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen.

Die enge Verbindung des christlichen Lebens mit dem Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi bzw. die Teilhabe daran prägt maßgeblich das Ethos des 2. Timotheusbriefes. Dass damit eine erhebliche Anfechtung und Infragestellung seitens des täglichen »Bios« verbunden ist, liegt auf der Hand. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die für den 2. Timotheusbrief spezifische Polemik gegen jene, die behaupten, die Auferstehung sei schon geschehen und die damit die leidenstheologische Grundstruktur des christlichen Ethos und den auf den jenseitigen Siegeskranz ausgerichteten »Glauben« grundsätzlich infrage stellen (2,16–18).36

gelium des Paulus ist, bezieht sich der Begriff im 1 Tim auf den Brief selbst bzw. die darin enthaltenen Anordnungen. Im Tit kommt der Begriff παραθήκη nicht vor. 36 Vgl. Mutschler, Glaube, 368–371; Herzer, Polemik, bes. 197–199 (in diesem Band 341–361).

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In diesem Zusammenhang kommt dann doch – und angesichts des Befundes im 1. Timotheusbrief erstaunlich spät – die Wahrheit ins Spiel: Gegenüber den – nennen wir sie probehalber einmal: »Auferstehungschristen« – soll Timotheus »das Wort der Wahrheit geradlinig ausrichten« (2,15). Mit der eigentümlichen Formulierung ὀρθοτομοῦντα τὸν λόγον τῆς ἀληθείας kann im Kontext des 2. Timotheusbriefes nur das Evangelium und dessen dem apostolischen Vermächtnis entsprechenden Verkündigung gemeint sein.37 Dies geht auch aus der Opposition der Wahrheit mit »den Mythen« jener Lehrer hervor, die nicht »gesunde Lehre«, sondern irgendetwas verkünden, »wonach die Ohren jucken«, und gegen die nur eine nüchterne, leidensbereite und beharrliche »Evangelistenarbeit« hilft (4,3–5). Das Evangelium war in seinem Kern bereits in 2 Tim 1,9 f. zusammengefasst worden und wird mit der Warnung vor den Vertretern einer präsentischen Auferstehungsvorstellung implizit auf die Zukunft hin orientiert.38 Auf diese Weise wird die »Wahrheit« des Evangeliums zu einer Voraussetzung des Leidensethos, und der Begriff ἀλήθεια erhält damit eine andere Bedeutung als im 1.  Timotheusbrief. Die Wahrheit des Evangeliums bewährt sich letztlich in der Vollendung des Leidens bei der Erlangung des eschatologischen Siegeskranzes der Gerechtigkeit vor dem Urteil Gottes (4,8). Der Rückblick des Apostels auf sein Lebenswerk und der Vorausblick auf die himmlische Königsherrschaft ist maßgeblich bestimmt durch das Wissen um die wirksame Ausrichtung und Vollendung seines Kerygmas, das alle Völker gehört haben (4,17 f.). Bemerkenswert für den 2.  Timotheusbrief ist schließlich, dass diejenigen, die dieser Wahrheit (noch) widerstehen, nicht aufgegeben werden, sondern gleichsam als »pädagogisches« Konzept auf behutsame  – oder soll man sagen: einfühlsame?  – Weise zur Erkenntnis dieser Wahrheit geführt werden sollen (2,25 f.). Allerdings wird dabei sofort auch eine Ausnahme gemacht, die aus der Erfahrung des Scheiterns solcher pädagogischer Konzepte heraus formuliert ist: Diejenigen, die sich (dem Vorbild der ägyptischen Zauberer Jannes und Jambres vergleichbar) der Wahrheit nachhaltig verweigern, erweisen nicht nur ihr Scheitern im Glauben, sondern werden – erkennbar ironisch formuliert – »›(Lern-)Fortschritte‹ machen zum Schlechteren« (3,8 f.; vgl. 3,13). Dass sie in ihrem »Unverstand« (ἄνοια) zu einem Leben dem christlichen Ethos entsprechend unfähig sind, wird zwar nicht noch einmal ausdrücklich gesagt, ist jedoch implizit vorausgesetzt und geht auch aus der moralischen Diffamierung der »in den Häusern umherstreifenden« Frauen hervor, die in ihrer verirrten Lernbegierde zur Erkenntnis der eigentlichen Wahrheit und damit eben auch zu einem christusgemäßen Leben nicht fähig sind (3,6 f.).39 Dem steht positiv jenes von Timotheus »von klein auf« aus den »heiligen Schriften« Gelernte gegenüber, das letztlich zu einer »Erziehung in Gerechtigkeit«

37 Vgl.

Weiser, 2 Tim, 191 f. Herzer, Juden – Christen – Gnostiker (in diesem Band 293–314). 39  Vgl. dazu Herzer, Jannes und Jambres. 38 Vgl.

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V  Schluss: Wahrheit und Ethos

und den guten Werken führt, durch die sich »ein von Gott bestimmter Mensch« (ὁ τοῦ θεοῦ ἄνθρωπος) auszeichnet (3,14–17).40

3.3  Wahrheit, Ethos und Ethik im Titusbrief Im Hinblick auf die Frage nach dem Ethos und einer daraus zu entfaltenden Ethik hat der Titusbrief innerhalb der Pastoralbriefe ebenfalls ein ganz eigenes Profil. Auch dies hängt mit dem Genre des Briefes zusammen. Aufgrund der expliziten Erteilung eines konkreten Auftrages an den Paulusmitarbeiter Titus (1,5) ist der Brief im eigentlichen Sinn ein Mandatsschreiben und damit den griechisch-römischen mandata principis bzw. ökonomischen memoranda vergleichbar.41 Im Vordergrund steht dabei das Mandat; konkrete ethische Weisungen bzw. die Explikation eines Ethos sind daher eher nicht zu erwarten, allenfalls etwa summarische Auflistungen von Tugenden, durch die sich ein Mandatsträger auszeichnen soll. Diese haben aber in der Regel einen eher stereotypen Charakter und erweisen sich als formale Gattungselemente, denen keine spezifische Funktion zukommt. Dies gilt auch für den Titusbrief, wenn in Tit 1,6–9 die moralischen Anforderungen an die Gemeindeleiter formuliert werden. Der Anlass für das Mandat des Titus sind Zustände der Unordnung in kretischen Gemeinden, die auf das Agieren von »Schwätzen und Verführern«, die als »insbesondere die aus der Beschneidung« (1,10) vom Verfasser mit drastischen rhetorischen Mitteln diskreditiert werden (1,10–16), indem er ihnen vorwirft, sie würden sich an »jüdische Mythen und Gebote von (solchen) Menschen halten, die sich von der Wahrheit abgewendet haben« (1,14). Gemeint ist damit jene Wahrheit, die bereits im Präskript als der Frömmigkeit entsprechende Wahrheit als Legitimationsgrund des paulinischen Apostolats genannt worden war (1,1; s. u.). Gewissermaßen die Brücke zwischen dem Mandat am Anfang in Tit 1 und der Einspielung einer theologisch-ethischen Grundlegung in 2,10–3,11 schlägt ein den Haustafeln ähnlicher Text in 2,1–9. Abgesehen davon, dass er keine Verwandtschaft mit den Haustafeln im Epheser- und Kolosserbrief aufweist, bleibt dieser Text durchaus genregemäß in ethischer Hinsicht unspezifisch und repräsentiert nicht eine klassische Ständeethik, sondern thematisiert das Verhältnis der älteren und jüngeren Generationen sowie als separaten Aspekt eine Sklavenparänese. Es handelt sich um eine eher zufällig wirkende Zusammenstellung, deren einzelne Mahnungen sich in Allgemeinplätzen erschöpfen. Was aber ist nun mit dem Wahrheitsbegriff im Titusbrief, von dem bislang nur andeutungsweise die Rede war? Dass sich dieser Begriff noch nicht aufgedrängt hat, liegt zum einen daran, dass er im Titusbrief nur zweimal vorkommt: ganz am Anfang im Präskript sowie im Kontext der Gegnerpolemik in 1,14. Zudem ist im Titusbrief kein stringentes Konzept erkennbar, das von einem bestimmten, über 40  41 

Vgl. dazu grundlegend Krumbiegel, Erziehung. Vgl. dazu oben Anm. 31.

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das Anliegen des Mandates hinausgehenden Ethos geprägt wäre. Der Titusbrief repräsentiert damit zumindest ansatzweise das, was Margaret Mitchell einmal einen »odd mix of the personal and the public, of church order and personal exhortation, of instruction and command, of the particular and the general«42 genannt hat (und damit freilich die Pastoralbriefe als Corpus pastorale meinte). Dennoch bekommt der Wahrheitsbegriff für den Titusbrief dadurch eine gewisse Programmatik, dass er in dem ebenso ausführlichen und wie schwer verständlichen Präskript eingeführt wird: Tit 1,1: Παῦλος δοῦλος θεοῦ, ἀπόστολος δὲ Ἰησοῦ Χριστοῦ κατὰ πίστιν ἐκλεκτῶν θεοῦ καὶ ἐπίγνωσιν ἀληθείας τῆς κατ᾿ εὐσέβειαν […]

Paulus, Sklave Gottes, Apostel aber Jesu Christi im Hin­blick auf den Glauben der Erwählten Gottes und die Er­kenntnis der Wahrheit, die der Frömmigkeit entspricht […]

An diesem schwerfälligen Satz ist zumindest auffällig, dass es wie bereits im 1. und 2. Timotheusbrief um die Erkenntnis der Wahrheit geht, die – neben anderen Faktoren – Grundlage für die Legitimation des Paulus als Apostel Jesu Christi ist und damit zugleich auch für die Legitimation des Mandates an Titus für seine Arbeit, und zwar in Gemeinden, die sich nicht der Paulusmission verdanken. Mit der Wahrheitserkenntnis wird also weniger ein Ethos, als vielmehr ein Legitimationsanspruch formuliert, der nicht weiter zu begründen ist. Dieser Anspruch wird auch durch den Bezug zu εὐσέβεια deutlich, denn die Wahrheit, um die es hier geht, ist explizit eine, die der εὐσέβεια entspricht. Das macht die Aussage nicht verständlicher, da εὐσέβεια im Titusbrief nur hier vorkommt.43 Man wird aber aufgrund des Zusammenhanges schließen können, dass εὐσέβεια als nähere Bestimmung der Wahrheitserkenntnis ein Korrelat zu πίστις darstellt bzw. – anders gesagt  – die Begriffe πίστις, ἀληθεία und εὐσέβεια nicht nur die apostolische Autorität des Paulus auszeichnen, sondern als solche auch den grundsätzlichen Rahmen eines christlichen Lebens abstecken. Erst daraus ließe sich so etwas wie ein Ethos ableiten, aus dem sich der Auftrag für Titus ergibt. Dieser Auftrag zielt auf eine das Zusammenleben der Gemeinden förderliche bzw. »nützliche« Ethik der guten Werke und steht damit explizit denen gegenüber, die zu solchen »guten Werken« nicht in der Lage sind, weil sie sich von der Wahrheit abgewandt haben (1,14–16). Dem entspricht, dass die göttliche Gnade in »Güte und Menschenfreundlichkeit« eine konkrete, dem Menschen zugute kommende Gestalt und Kraft gewinnt (3,4) und regelrecht eine »pädagogische« Wirkung entfaltet, insofern die Glaubenden durch sie angeleitet werden, »besonnen, gerecht und ›fromm‹ zu leben in dieser Welt« (2,12). Die Wahrheit, von der im Präskript die Rede war, ist aufgrund der Entsprechung zu εὐσέβεια mit dem Konzept des frommen Lebens eng verbunden und wird dadurch zu dessen Voraussetzung. Der Titusbrief muss diesen Zusam42 

Mitchell, Genre, 344. dazu Standhartinger, Eusebeia, 54: »Was die εὐσέβεια inhaltlich ausmacht, ist im Kontext der Pastoralbriefe nicht zu bestimmen.« 43  Vgl.

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V  Schluss: Wahrheit und Ethos

menhang nicht entfalten – das ist nicht Aufgabe und Gegenstand eines Mandats. Aber daran wird auch hier so etwas wie eine implizite Ethik deutlich, für die die Wahrheit als leitendes Ethos mit dem spezifischen Profil von Gnade bzw. Güte und Menschenfreundlichkeit vorausgesetzt wird.44

4.  Resümee: Ethos, implizite Ethik und Genre Im Ergebnis ist deutlich geworden, dass die drei Pastoralbriefe kein einheitliches ethisches Profil aufweisen und damit auch nicht von der Ethik der Pastoralbriefe gesprochen werden kann. Dabei hat sich in formaler Hinsicht der Aspekt des Genres als ein Differenzierungsmerkmal herausgestellt, das sowohl das Ethos, als auch die Ethik der Briefe jeweils bestimmt. Da es sich bei den Pastoralbriefen – auch unter der Voraussetzung der Pseudepigraphie – nicht um Kunstbriefe handelt, sondern um Schreiben mit einem konkreten Kontext und Anliegen, muss in Rechnung gestellt werden, dass eine Genrebestimmung nach festen rhetorischen Regeln nicht möglich und auch nicht zu erwarten ist und daher mit Mischformen gerechnet werden muss.45 Dennoch sind die Unterschiede signifikant und bestimmen nicht zuletzt das jeweilige ethische Profil. In inhaltlicher Hinsicht wird der Wahrheitsbegriff auf unterschiedliche Weise als Leitkategorie des Ethos profiliert. Beim 1.  Timotheusbrief handelt es sich im eigentlichen Sinn um so etwas wie einen apostolischen »Pastoralbrief«, eine ekklesiologisch-kybernetische »Denkschrift« (memorandum), deren Anliegen die Konsolidierung von Gemeindestrukturen und die Etablierung eines bestimmten Verhaltenskodex innerhalb dieser Strukturen ist. Konkreter Anlass sind die vom Verfasser (oder den Verfassern) erkannten schädlichen Einflüsse einer Entwicklung, die aus seiner bzw. ihrer Sicht die Wahrheit der traditio apostolica infrage stellt. Unter der Voraussetzung apostolischer Autorität wird deshalb im 1. Timotheusbrief ein Wahrheitsethos formuliert, das an einem bereits fest geprägten Bekenntnis orientiert ist und auf eine Tugendethik hin ausgerichtet wird. Diese Tugendethik wird heilsökonomisch (1 Tim 1,4) aufgeladen und nach dem Paradigma antiker Haushaltsführung expliziert (3,1–16). Der Wahrheitsanspruch, das daraus abgeleitete Wahrheitsethos und die Autorität des Normativen führt zu einer apostolisch legitimierten Konsolidierung autoritativer Strukturen. Wahrheit und Frömmigkeit bedingen einander, ja, man könnte fast sagen, dass ἀλήθεια und εὐσέβεια zu Synonymen werden. Es sind zwei Seiten einer Medaille, und diese Medaille ist das ruhige, stille und ehrbare (»bürgerliche«) Leben vor Gott und der Welt (2,1–6). 44 Vgl.

Herzer, Geheimnis (in diesem Band 381–405). Relevanz der Genrefrage bzw. die Notwendigkeit einer stärkeren Differenzierung im Blick auf die individuelle Betrachtung der drei Briefe macht letztlich sogar die gewohnte Bezeichnung »Pastoralbriefe« problematisch, weil damit eine Genregleichheit suggeriert wird, die dem spezifischen Profil der drei Briefe nicht gerecht wird. Ein Pastoralbrief im eigentlichen Sinn ist insofern nur der 1 Tim (vgl. dazu oben Anm. 31). 45  Die

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Im Unterschied dazu entwickelt der 2. Timotheusbrief als ein testamentarisches Schreiben aus der Grunderfahrung des Leidens eine Nachfolge- und Nachahmungsethik, die ebenfalls auf einem Wahrheitsethos basiert. Dieses Ethos beinhaltet als Wahrheit das verkündigte und gehörte Evangelium und wird nicht auf feste Bekenntnisstrukturen enggeführt. Der ethische Fokus dieser Wahrheit liegt auf dem Leiden des Christus, von dem her eine Ethik des »Mitleidens« bzw. »Mitkämpfens« entwickelt wird (2 Tim 2,3–7). Die Leidenserfahrung des Paulus angesichts seiner Inhaftierung und der Erwartung seines gewaltsamen Todes wird nicht nur dem Timotheus als ein zu erwartendes Schicksal vor Augen gestellt, sondern sehr grundsätzlich verallgemeinert: »Alle, die in Christus Jesus ›fromm‹ (εὐσεβῶς) leben wollen«, sind diesem Leidensdruck potentiell ausgesetzt (3,11 f.). Noch einmal anders verhält es sich im Titusbrief. Der Titusbrief ist hinsichtlich seines Genres oft in Analogie zum 1.  Timotheusbrief beurteilt worden. Das hängt auch damit zusammen, dass das Genre des memorandum eng mit dem des Mandatsschreibens (mandatum principis) verwandt ist. Der 1.  Timotheusbrief enthält zwar Elemente eines Mandats (vgl. 1 Tim 1,3), diese haben aber unter den konkreten Voraussetzungen des Briefes lediglich eine literarische, keine konkret situative Funktion. Das ist im Titusbrief anders. Der Titusbrief ist insgesamt ein Mandatsschreiben, das einen konkreten Auftrag an eine konkrete Person formuliert und diesen auch in einer konkreten Lebenssituation in der Vernetzung mit anderen Personen und deren Aktivitäten verankert (Tit 3,12–14). Das Mandat besteht in der Etablierung von Leitungsstrukturen, die in gefährdeten und nicht näher identifizierten Gemeinden für Stabilität und Orientierung sorgen sollen (1,5–9). Vor dem Hintergrund dieses Mandats an den Paulusmitarbeiter Titus entwickelt der Brief zunächst ethische Tugendprinzipen, die für die Aufgabe des Mandats maßgeblich sind und die Qualifikation derer betreffen, auf die sich das Mandat bezieht.46 Aus dieser Aufgabe und aus deren theologischer Begründung entwickelt sich eine Art tugendethisch begründete »Nützlichkeitsethik«, die auf das Tun »guter Werke« ausgerichtet ist und sich im Kontext eines gesellschaftlich loyalen Umfeldes zu bewähren hat (3,1–8). Der Blick auf die Ethik in den Pastoralbriefen hat gezeigt, dass die klassische Interpretation unter der Voraussetzung eines Corpus pastorale-Modells nicht hinreicht, um das je individuelle Profil der einzelnen Briefe zu erfassen. Dieses ist jeweils konkret und spezifisch zur Geltung zu bringen, ohne dass die begriffliche und sachliche Charakteristik des einen von derjenigen der jeweils anderen Briefe her beschrieben wird. Erst unter dieser Voraussetzung kann es gelingen, die innere Verbindung der drei Briefe zu verstehen und die unterschiedlichen Akzentuierungen in ein plausibles Verhältnis zueinander zu setzen.

46 

Vgl. dazu Manomi, Virtue Ethics.

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V  Schluss: Wahrheit und Ethos

Mott, Stephen Charles, Greek Ethics and Christian Conversion. The Philonic Background of Titus ii 10–14 and iii 3–7, in: NT 20 (1978), 22–48. Mutschler, Bernhard, Glaube in den Pastoralbriefen. Pistis als Mitte christlicher Existenz (WUNT 256), Tübingen 2010. Pervo, Richard I., Romancing an Oft-Neglected Stone: The Pastoral Epistles and the Epistolary Novel, in: JHC 1 (1994), 25–47. Plutarch, ΕΙ ΚΑΛΩΣ ΕΙΡΗΤΑΙ ΤΟ ΛΑΘΕ ΒΙΩΣΑΣ  – Ist »Lebe im Verborgenen« eine gute Lebensregel?, eingel., übers. und mit interpretierenden Essays versehen von Ulrich Berner, Reinhard Feldmeier, Bernhard Heininger und Rainer Hirsch-Luipold (Sapere 1), Darmstadt 22001. Reiser, Marius, Bürgerliches Christentum in den Pastoralbriefen?, in: Bib. 74 (1993), 27–44. Richards, William A., Difference and Distance in Post-Pauline Christianity. An Epistolary Analysis of the Pastorals (Studies in Biblical Literature 44), New York 2002. Roloff, Jürgen, Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993. Schnackenburg, Rudolf, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, Bd. 2: Die urchristlichen Verkündiger (HThKNT Suppl.), Freiburg i. Br./Basel/Wien 1988. Schrage, Wolfgang, Ethik des Neuen Testaments (GNT/NTD Ergänzungsreihe 4), Göttingen 1982. Schwarz, Roland, Bürgerliches Christentum im Neuen Testament? Eine Studie zu Ethik, Amt und Recht in den Pastoralbriefen (ÖBS 4), Klosterneuburg 1983. Standhartinger, Angela, Eusebeia in den Pastoralbriefen. Ein Beitrag zum Einfluss römischen Denkens auf das entstehende Christentum, in: NT 48 (2006), 51–82. Towner, Philip H., The Goal of Our Instruction. The Structure of Theology and Ethics in the Pastoral Epistles (JSNT.S 34), Sheffield 1989. Wagener, Ulrike, Die Ordnungen des »Hauses Gottes«. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe (WUNT II/65), Tübingen 1994. Weidemann, Hans-Ulrich, The Intersection of Ethics, Knowledge, & Truth in Titus, in: Dogara Ishaya Manomi (Hg.), Virtue Ethics in the Letter to Titus. An Interdisciplinary Study, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics, Vol. XII (WUNT II/560), Tübingen 2021 (im Druck). Weiser, Alfons, Freundschaftsbrief und Testament. Zur literarischen Gattung des Zweiten Briefes an Timotheus, in: Günter Riße (Hg.), Zeit-Geschichte und Begegnungen. FS B. Neumann, Paderborn 1998, 158–170. –, Der zweite Brief an Timotheus (EKK XVI/1), Düsseldorf/Zürich 2003. Wolter, Michael, Die Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen 1988. Zamfir, Korinna, Men and Women in the Household of God. A Contextual Approach to Roles and Ministries in the Pastoral Epistles (NTOA/StUNT 103), Göttingen 2013. Zimmermann, Ruben, Ethikbegründung bei Paulus. Die bleibende Attraktivität und Insuffizienz des Indikativ-Imperativ-Modells, in: Jörg Frey/Benjamin Schliesser (Hg.), Die Theologie des Paulus in der Diskussion. Reflexionen im Anschluss an Michael Wolters Grundriss (BThS 140), Neukirchen-Vluyn 2013, 237–255. –, Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ›impliziten Ethik‹ frühchristlicher Schriften, in: Friedrich W. Horn/Ulrich Volp/Ruben Zimmermann (Hg., in Zusammenarbeit mit Esther Verwold), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib – Tugend. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics IV (WUNT 313), Tübingen 2013, 3–27.

Abstracts Abschied vom Konsens? Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als Herausforderung an die neutestamentliche Wissenschaft The scholarly opinion about the pseudepigraphal character of the Pastoral Epistles seems well established. Yet, despite the widespread agreement about the basic features of their pseudonymity, the interpretation of the letters in detail is far from being homogeneous. Whereas the commentaries of J. D. Quinn/W. C. Wacker, L. Oberlinner, and A. Weiser provide different perspectives based on the common presuppositions, L. T. Johnson has boldly challenged the scholarly consensus. He does not simply repeat the well-known arguments for the authenticity of the Pastorals, but clearly shows the wrong tracks of the research over the last 200 years. Although Johnsonʼs challenge has to be taken seriously, he himself is not convincing in arguing for the authenticity of all three letters. Taking into account the data of the recent research on pseudonymity in antiquity, the treatment of the Pastorals as a unit − either authentic or pseudonym − is not compelling at all and causes serious problems for an appropriate understanding of the letters.

Fiktion oder Täuschung? Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe The essay programmatically presents an assessment of the classical research paradigm of the interpretation of the Pastoral Epistles as a Corpus pastorale and critically evaluates it against the background of the research on ancient Pseudepigraphy. In light of the aporias of research, perspectives are developed that enable a differentiated understanding of these three letters as individual writings. The distinction between different types of pseudepigraphy also allows a new approach to the evaluation of the authorship question.

Zwischen Mythos und Wahrheit. Neue Perspektiven auf die sogenannten Pastoralbriefe The perspective on the Patoral Epistles presented in this paper differs from the established scholarly consensus and moves beyond the controversy concerning pseudonymity versus authenticity. After examining the development of the »Corpus pastorale« theory and clarifying some methodological questions, the paper argues for an interpretation of the Pastorals separately from each other and in their specific relation to Paul and his tradition. Significant examples indicate the possibility to

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understand 2 Timothy and Titus as authentic letters of Paul, whereas 1 Timothy proves to belong to the second century C. E. From this perspective, many otherwise contradictory aspects of the history of interpretation regain their rationale.

Die Pastoralbriefe im Licht der dokumentarischen Papyri des hellenistischen Judentums The contribution is related to the project »Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti« (CJHNT) and specifically asks for the value of the documentary papyri of Hellenistic Judaism for the interpretation of the Pastoral Epistles. This perspective raises certain methodological issues that will be addressed in the paper. With regard to the question of genre as well as in content-related aspects of philological, literary and theological nature, interesting findings can be collected from the non-literary documents, which contribute to the understanding of the specific character of the Pastoral Epistles.

Die Kommentierung der Pastoralbriefe in der Reihe »Kritisch Exegetischer Kommentar« durch Johannes Eduard Huther und Karl Philipp Bernhard Weiß The article discusses a chapter in the history of research on the Pastoral Epistles that is as exciting as it is largely unknown. The commentaries by Johannes Eduard Huther (1807–1880) and Karl Philipp Bernhard Weiß (1827–1918) were written at a time that was marked by the first attempts of critical research to interpret the Pastoral Epistles as pseudonymous writings. Huther and, following him, Weiß themselves advocate and defend an authentic authorship of the Apostle Paul and deal intensively with the arguments of the pro and contra. At a high philological level, their commentaries offer interesting insights into a contemporary discourse that is otherwise only known from the perspective that has become authoritative in academic research. However, Huther’s and Weiß’ interpretations, which can certainly be called conservative, do not engage in ideological trench warfare. They try to make their position plausible by critical arguments and raise many questions that critical research has still not answered with sufficient clarity. The essay exemplifies the debates on the basis of central themes of the Pastoral Epistles.

Paulustradition und Paulusrezeption in den Pastoralbriefen The place of the Pastoral Epistles within the collection of Pauline letters depends decisively on two aspects: the assessment of their relation to Paul himself as well as to the other letters, and the evaluation of their literary character. Depending on these variables, the concepts of tradition, transmission, transformation, and reception are no longer sharply defined but instead represent aspects of a complex discourse. Within this discourse, each of the Pastorals has its own character: 1 Timothy



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reveals a relation to Paul and the Pauline tradition that is different to those in Titus and 2 Timothy. Therefore, each of these three letters shows a specific profile with regard to both the reception of Paul (or Pauline ideas) and the definition of Pauline tradition.

Den guten Kampf gekämpft. Das Ende des Paulus im Spiegel des Zweiten Timotheusbriefes und der frühchristlichen Überlieferung The following contribution aims to provide a historical-literary analysis of some aspects of 2 Timothy that address the apostle’s retrospective view of his life and his achievements. Essential passages of 2 Tim 4 in relation to the end of Paul’s life are discussed and the question is reflected whether and to what extent 2 Tim 4 as a reflection of the Roman imprisonment is also significant for Paul’s biography from a historical point of view. Associated with this is the problem of how the literary and historical aspects relate to the description of Paul’s stay in Rome in Acts 28 as well as Paul’s plans for Spain in Rom 15, which for their part are also oriented towards Paul’s end and were written from the perspective of his last period of life.

»Lukas ist allein bei mir« (2 Tim 4,11) Lukas, die Pastoralbriefe und die Konstruktion von Geschichte The topic »Luke and the Pastoral Epistles« has been dealt with many times and from very different perspectives. The focus of interest has mostly been a comparison of the various forms of Luke’s reception of the Pauline tradition. Methodologically, the determination of the relationship between Acts and the Pastoral Epistles remains a notoriously difficult issue and participates in the problems of determining the relationship between the Pauline tradition and Acts in general. Starting from the question »What did Luke really know?«, the question arises not only whether the Pastoral Epistles presuppose Acts (and the Gospel of Luke), but also the question: Did the author of Acts know the Pastoral Epistles? Did Luke know individual Pauline letters or a collection of Pauline letters? Were the Pastoral Epistles or any of them already part of this collection? The article is intended as a methodological assessment of a complex historical and literary subject.

Tradition und Bekenntnis. Die Theologie des Paulus im Spiegel ihrer Rezeption im Ersten Timotheusbrief The question of the relationship of the Pastoral Epistles to the wider Pauline (and early Christian) tradition has always been an issue in scholarly debates. The distinction of the three letters to Timothy and Titus from the »real« Paul establishes their uniqueness and, according to the commonly accepted interpretation, proves them to be letters of the second or even third post-apostolic generation. This perspective is based on the perception that, on the one hand, the Pastoral Epistles claim

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to inculcate the preservation and transmission of the Pauline tradition as the apostle’s heritage. On the other hand, however, they had distanced themselves considerably from Paul, not only in language but also in content, so that they could only be regarded as pseudepigraphic forgeries. In this essay, the example of the 1 Timothy is used to examine the multi-layered reception processes towards a specifically formed »Creed« as an expression of its special position in the Corpus pastorale. Not only the relationship to the other Pauline Epistles appears to be significant, but also – as an additional level of transformation – the literary relation of the Pastoral Epistles to each other as well as the incorporation of non-Pauline tradition.

Rearranging the »House of God«. A New Perspective on the Pastoral Epistles Given the controversial interpretations of the Pastoral Epistles in recent scholarship particularly regarding their literary unity, a new look at the Pastoral Epistles has to start out from the content of each letter. Only under the presupposition of a Corpus pastorale it is possible to ask for the ecclesiology of the Pastoral Epistles. A close examination of some characteristics of these letters discloses that the issues are rather multilayered and at least more complex as scholars usually take into account. This essay seeks to argue for a differentiation within the letters with regard to a key aspect of ecclesiology by examining the common argument that the »House of God« forms the »center« of the Pastoralsʼ ecclesiology. Despite its singularity in 1 Timothy 3, scholars have chosen this lexeme as a general characteristic of the Pastoralsʼ ecclesiology. After assessing the meaning of 1 Tim 3:15 in the context of the letter, I will explore in this essay whether the same meaning of οἶκος θεοῦ is also relevant for Titus and 2 Timothy and thus as a concept for the Pastoral Epistles as a whole.

Juden – Christen – Gnostiker. Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe In this article, I examine the highly disputed profile of the opponents in the Pastoral Epistles as related to the process of the differentiation between Judaism and Christianity from the late first to the middle of the second century A. D. The investigation aims at a more precise characterisation of the opponents beyond the common picture that blends Christian, Jewish, and Gnostic aspects to some kind of Jewish Christian Gnosticism. However, the analysis suggests the identification of three different profiles of opponents in the Pastoral Epistles respectively.

Was ist falsch an der »fälschlich so genannten Gnosis«? Zur Paulusrezeption des Ersten Timotheusbriefes im Kontext seiner Gegnerpolemik The notion of the »falsely so-called Gnosis« in 1 Tim 6:20 is the only explicit reference to a religious group of a Gnostic type in the New Testament. Within the



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Pastoral Epistles, however, the religious profile of the »heretics« is highly disputed, because these letters describe different types of opponents with particularly Jewish, Christian, and Gnostic characteristics. The paper argues that in order to understand the problem within the Pastoral Epistles it is inappropriate to suppose a mixed type of »heresy,« i. e. of a Jewish-Christian Gnosis. From the perspective that each of the letters has its specific challenge only 1 Timothy pertains to the quarrels of the church with the raising Gnostic movements in the first half of the second century. The main instrument in First Timothyʼs struggle against Gnostic opponents and for an internal consolidation of the church is a significant transformation of Pauline Ecclesiology.

Vom Sinn und Nutzen der Polemik. Zur Pragmatik der Gegnerinvektive in den Pastoralbriefen The rhetoric of the Pastoral Epistles is characterized by polemics and invectives. The factual and situational assessment of such rhetorical devices in the Pastoral Epistles is complex, because the interpretation of the rhetoric is not insignificantly dependent on the literary assessment of the letters as a whole. Invective rhetoric could be an expression of the problem of determining Christian identity in its normativity, and of making it argumentatively plausible. The paper addresses the question of the rhetorical pragmatics of the invectives in the Pastoral Epistles and how they are contextualized in the respective letters.

»Von Gottes Geist durchweht«. Die Inspiration der Schrift nach 2 Tim 3,16 und bei Philo von Alexandrien 2 Tim 3:16 is considered a key passage for the idea of the inspiration of Scripture. With reference to this passage, Lutheran or Old Protestant Orthodoxy was able to specify its idea of verbal inspiration, drawing on a long Church tradition. The topos »inspiration of Scripture« is treated in dogmatics under the keyword of »theopneustia« taken from this passage in 2 Timothy. The paper asks about the understanding of the »theopneusty« of Scripture with particular reference to Philo of Alexandria – »the Church Father honoris causa« (David Runia) – and his idea of inspiration, the significance of which for the New Testament is usually only referred to in a general way, without methodically clearly determining the context in the history of tradition.

»Das Geheimnis der Frömmigkeit« (1 Tim 3,16). Sprache und Stil der Pastoralbriefe im Kontext hellenistisch-römischer Popularphilosophie – eine Problemanzeige Unlike historical judgements, literary judgements have a seemingly more reliable basis because they do not depend on the construction of historical facts, but are

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based on the analysis of existing texts. The linguistic and stylistic analysis of the Pastoral Epistles often leads to the seemingly inescapable conclusion that Paul could not have written these letters under any circumstances. The linguistic and stylistic difference between Paul and the Pastoral Epistles is attributed, among other things, to the fact that these letters were influenced to a great extent by the language and ideas of Hellenistic popular philosophy, which were adapted or transformed under Christian auspices. Under the indisputable premise that language and style are eminently cultural phenomena and reflect the complex intertextual network of an author, the essay evaluates the relevant methodological aspects of the cultural-historical influence of the popular philosophical tradition of the Hellenistic-Roman world on the Pastoral Epistles, exemplified by an analysis of the εὐσέβεια-concept.

»Das ist gut und nützlich für die Menschen« (Tit 3,8). Die Menschenfreundlichkeit Gottes als Paradigma christlicher Ethik As an effort to apply theological knowledge and confessional convictions to people’s lives, Christian ethics is continually challenged to reflect on this relationship by the tension between contemporary interpretation and its indispensable anchoring in the biblical tradition. In this perspective, the discussion about the topos of »civil Christianity« in the Pastoral Epistles is a particularly vivid example, because these letters reflect the life of the Christian community in a non-Christian world in an interesting way. In the theological-ethical discussion after the end of the GDR in 1989, the issue of coming to terms with the past in a reconciliatory way, and thus also the question of Christian responsibility towards the state, was a particular focus in the debates. Within this horizon, the essay attempts to identify hermeneutical aspects for an ethical discussion on reconciliation in the context of dealing with political and social structures on the basis of an interpretation of Titus 3:1–11 and thus to make the relevance of the interpretation of biblical tradition fruitful for current ethical discussions.

Titus 3,1–15: Gottes Menschenfreundlichkeit und die ethische Relevanz christlicher Hoffnung The questions raises by the Corpus pastorale theory as well as the diverse and at times contradictory interpretations of the Pastoral Epistles that proceed from it cause some doubt as to whether an adequate understanding of the three letters is possible on this basis. In the course of exegetical work on the Pastoral Epistles, it has become more and more apparent that the three letters should be treated as individual letters whose literary form and content cannot be assembled into a coherent overall picture by looking at all three letters. Instead, each of them represents different situations and settings. In the following presentation, as an exemple the third chapter of the Letter to Titus is exegetically analyzed and interpreted in its internal context in order to show its own theological and epistolary profile without rashly



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adopting the other two letters for the position and theological argumentation of the Letter to Titus. At the same time, an attempt is made to describe the historical and literary position of the Letter to Titus in the history of the Pauline mission.

»Gefäße zur Ehre und zur Unehre« (2 Tim 2,20). Metaphorische Sprache und Ethik in den Pastoralbriefen – eine Skizze The controversial nature of the concept of metaphor is part of the scholarly consensus, and even a cursory glance at the unmanageable wealth of literature confirms this assessment. In order to discuss aspects of material ethics in the Pastoral Epistles from the perspective of metaphor theory, some methodological considerations on the use of metaphorical language in ecclesiology and ethics are first necessary. Subsequently, examples of metaphorical statements with ethical intent in the Pastoral Epistles will be discussed with regard to the aspects of group identity and group processes as well as with regard to the connection between normative language and lived world dynamics. The concept of ethics is used in such a way that it not only describes the foundations and the material consequences of normative statements, but also implies the relation of normativity and plausibility. In this context, it becomes clear not least that the classical scheme of indicative and imperative is not suitable for describing what ethics means, that it is not absorbed in the imperative, but that norms must be correlated with the lived world and thus necessarily subjected to constant scrutiny in terms of their legitimacy. This results in the challenge of redefining ethical norms on the basis of changed cultural-hermeneutical aspects and conditions.

Die »Verheißung des Lebens« (1 Tim 4,8) im Spannungsfeld zwischen öffentlicher Verantwortung und persönlicher Hoffnung The theological profile of the Pastoral Epistles, especially of 1 Timothy, is charac­ terized by the lexeme »promise of life«. Motivated by the theme »Life« of the Congress of the Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie (Zurich 2002), this essay intends to be an exegetical contribution to a theological substantiation of what is to be said about »life« from a Christian perspective. After all, in the context of the New Testament, it is only the Pastoral Epistles, or more precisely the two letters to ­Timothy, that coin the concise term »promise of life«, the singularity of which within the New Testament is astonishing. But what does this phrase express in the specific context of the Pastoral Epistles, and what does it say about the ecclesiological and social dimensions of the faith presupposed here, a faith that in the Pastoral Epistles explicitly moves between the poles of personal hope and public responsibility?

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Ethik, Ethos und die Wahrheit. Ein Beitrag zur Frage nach der Individualität der Pastoralbriefe In recent years, the Corpus pastorale theory has been seriously and fundamentally challenged. However, it still represents an established heuristic paradigm leading to interpretations that elaborate specific topics on the basis of evidence from all three letters despite their individual character. Countering this perspective, the question arises: Could ethics be a category to explore the individuality of the Pastorals more precisely? Ethics always comprises a theory of living and thus implies a certain ethos, i. e., a basic attitude formed by certain convictions and conventions. Therefore, we can assume that the question of an appropriate understanding of the Pastoral Epistles as individual letters gains significant impulses by a differentiated perspective on the relationship between ethics and ethos. In this article I explore this relationship with regard to the key term »truth« (ἀλήθεια) as a test case – with particular focus on the letter to Titus. Since this term plays a decisive role in all three letters, it seems suitable to demonstrate the individual character of each of the Pastoral Epistles.

Nachweis der Erstveröffentlichung der in diesem Band gesammelten Studien Abschied vom Konsens? Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als Herausforderung an die neutestamentliche Wissenschaft Erstveröffentlichung in: ThLZ 129 (2004), 1267–1282 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Fiktion oder Täuschung?  Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe Erstveröffentlichung in: Jörg Frey/Jens Herzer/Martina Janßen/Clare K. Rothschild (Hg., unter Mitarbeit von Michaela Engelmann), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen (WUNT 246), Tübingen 2009, 489–536 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Zwischen Mythos und Wahrheit. Neue Perspektiven auf die sogenannten Pastoralbriefe Erstveröffentlichung in: NTS 63 (2017), 428–450 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Die Pastoralbriefe im Licht der dokumentarischen Papyri des hellenistischen Juden­tums Erstveröffentlichung in: Roland Deines/Jens Herzer/Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.), Neues Testament und hellenistisch-jüdische Alltagskultur. Wechselseitige Wahrnehmungen. 3. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, Leipzig, Mai 2009 (WUNT 274), Tübingen 2011, 319–346 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Die Kommentierung der Pastoralbriefe in der Reihe »Kritisch Exegetischer Kommentar« durch Johannes Eduard Huther und Karl Philipp Bernhard Weiß Erstveröffentlichung in: Eve-Marie Becker/Friedrich. W. Horn/Dietrich. A. Koch (Hg.), Der »Kritisch-exegetische Kommentar« in seiner Geschichte. H. A. W. Meyers KEK von seiner Gründung 1829 bis heute, Göttingen 2018, 347–373 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Paulustradition und Paulusrezeption in den Pastoralbriefen Erstveröffentlichung in: Jens Schröter/Simon Butticaz/Andreas Dettwiler (Hg., unter Mitarbeit von C. Paul), Receptions of Paul in Early Christianity. The Person of Paul and His Writings Through the Eyes of His Early Interpreters (BZNW 234), Berlin/Boston 2018, 487–518 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

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Nachweis der Erstveröffentlichung

Den guten Kampf gekämpft. Das Ende des Paulus im Spiegel des Zweiten Timotheusbriefes und der frühchristlichen Überlieferung Erstveröffentlichung in: Rudolf Hoppe/Michael Reichardt (Hg.), Lukas – Paulus – Pastoralbriefe. FS A. Weiser (SBS 230), Stuttgart 2014, 339–369 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

»Lukas ist allein bei mir« (2 Tim 4,11). Lukas, die Pastoralbriefe und die Konstruktion von Geschichte Erstveröffentlichung in: John S. Kloppenborg/Joseph Verheyden (Hg.), Luke on Jesus, Paul and Christianity: What Did He Really Know? (Biblical Tools and Studies 29), Leuven 2017, 27–58 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Tradition und Bekenntnis. Die Theologie des Paulus im Spiegel ihrer Rezeption im Ersten Timotheusbrief Erstveröffentlichung in: Heike Omerzu/Eckart D. Schmidt (Hg.), Paulus und Petrus. Geschichte – Theologie – Rezeption (ABG 48), Leipzig 2016, 247–271 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Rearranging the »House of God«. A New Perspective on the Pastoral Epistles Erstveröffentlichung in: Alberdina Houtman/Albert de Jong/Magda Misset-Van de Weg (Hg.), Empsychoi Logoi  – Religious Innovations in Antiquity. FS P. W. van der Horst (Ancient Judaism and Early Christianity 73), Leiden 2008, 547–566 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Juden – Christen – Gnostiker. Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe Erstveröffentlichung in: BThZ 25 (2008), 143–168 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Was ist falsch an der »fälschlich so genannten Gnosis«? Zur Paulusrezeption des Ersten Timotheusbriefes im Kontext seiner Gegnerpolemik Erstveröffentlichung in: EC 5 (2014), 68–96 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Vom Sinn und Nutzen der Polemik. Zur Pragmatik der Gegnerinvektiven in den Pastoralbriefen Erstveröffentlichung in: M. Tilly/U. Mell (Hg.), Gegenspieler. Zur Auseinandersetzung mit dem Gegner in frühjüdischer und urchristlicher Literatur (WUNT 428), Tübingen 2019, 183–206 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

»Von Gottes Geist durchweht«. Die Inspiration der Schrift nach 2 Tim 3,16 und bei Philo von Alexandrien Erstveröffentlichung in: Roland Deines/Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.), Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen; I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum, 1.–4. Mai 2003, Eisenach/Jena (WUNT 172), Tübingen 2004, 223–240 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).



Nachweis der Erstveröffentlichung

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»Das Geheimnis der Frömmigkeit« (1 Tim 3,16). Sprache und Stil der Pastoralbriefe im Kontext hellenistisch-römischer Popularphilosophie – eine methodische Problemanzeige Erstveröffentlichung in: ThQ 187 (2007), 309–329 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

»Das ist gut und nützlich für die Menschen« (Tit 3,8). Die Menschenfreundlichkeit Gottes als Paradigma christlicher Ethik Erstveröffentlichung in: Christfried Böttrich (Hg.), Eschatologie und Ethik im frühen Christentum. FS G. Haufe (GThF 11), Frankfurt am Main 2006, 101–120 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Titus 3,1–15: Gottes Menschenfreundlichkeit und die ethische Relevanz christlicher Hoffnung Erstveröffentlichung in: Reimund Bieringer (Hg.), 2 Timothy and Titus Reconsidered. Der 2. Timotheus- und der Titusbrief in neuem Licht (Colloquium Oecumenicum Paulinum 20), Leuven 2018, 133–179 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

»Gefäße zur Ehre und zur Unehre« (2 Tim 2,20). Metaphorische Sprache und Ethik in den Pastoralbriefen – eine Skizze Erstveröffentlichung in: U. Volp/F. W. Horn/R. Zimmermann (Hg.), Metapher  – Narratio  – Mimesis  – Doxologie. Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics. Band VII (WUNT 356), Tübingen 2016, 49–70 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Die »Verheißung des Lebens« (1 Tim 4,8) im Spannungsfeld zwischen öffentlicher Verantwortung und persönlicher Hoffnung Erstveröffentlichung in: Eilert Herms (Hg.), Leben. Verständnis. Wissenschaft. Technik. Kongreßband des XI. Europäischen Kongresses für Theologie 15.–19. September 2002 in Zürich, Gütersloh 2005, 300–311 (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Ethik, Ethos und die Wahrheit. Ein Beitrag zur Frage nach der Individualität der Pastoralbriefe Deutsche Fassung (mit freundlicher Genehmigung des Verlages) von: Ethics, Ethos, and Truth: Reassessing the Question of the Individuality of the Pastoral Epistles, in: Dogara Ishaya Manomi (Hg.), Virtue Ethics in the Letter to Titus. An Interdisciplinary Study, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics, Vol. XII (WUNT II/560), Tübingen 2021 (im Druck).

Bibelstellenregister 1. Bibel 1.1  Altes Testament (einschl. Apokryphen) Genesis

2,7 367, 369 26,5 308 28,17 173, 282, 482

Exodus

15,26 308 23,19 173, 282, 482 24,12 308 34,26 173, 282, 482

Levitikus

4,13 308

Numeri

35,30 164

Deuteronomium

6,1 f. 308 23,19 173, 282, 482 25,4 166, 263 28,13 308 32,20 437

Josua 9,23

173, 282, 482

1. Samuel

17,37 195

1. Könige 5,17–19 8,17–20

1. Chronik 9,27 22 28

173, 282, 482 173, 282, 482 173, 282, 482 173, 282, 482 173, 282, 482

Esra

1–10

Nehemia 1–13

173, 282, 482 173, 282, 482

Esther

8,12 443

Judith

13,1 193

Tobit 14,7

173, 282, 482

1. Makkabäer

2,60 196 4,19 308 15,23 299

2. Makkabäer

4,11 443 4,24 f. 109 4,25 113 6,22 443 9,27 443 15,28 193

3. Makkabäer

3,3 415 3,15 443 3,18 443 3,20 443 3,29 366 5,44 193 5,12 443 9,32 397 10,11 397

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Bibelstellenregister

4. Makkabäer

Amos

Psalmen

Micha

16,9 226 7,2 f. 195 21,22 195 33,20 224 34,17 195 34,20 224 42,5 173, 282, 482 52,10 173, 282, 482 55,15 173, 282, 482 84,11 173, 282, 482 86,11 506 90,13 195 92,14 173, 282, 482 95,7–11 371 118 308 135,2 173, 282, 482

Oden Salomos

2,20 437

Proverbien

1,7 397 7,1 f. 308 24,21 415 25,22 344

Weisheit Salomos

1,6 443 5,20–22 297 6,5 297 7,21–27 368 7,23 443 11,10 297 12,9 297, 443 18,15 297

Jesus Sirach

11,17 397 20,19 308 23,27 308 27,10 506 32,23 f. 308

3,12 196 4,2

Joel

1,13–16

Zefanja 2,5 f.

Haggai 1,14

173, 282, 482 173, 282, 482 301 173, 282, 482

Jesaja

2,3 173, 282, 482 24,15 f. 397 33,5 f. 397 49,6 199 f. 66 199 66,19 199 66,20 199

Jeremia 35,4

Baruch 3,24

173, 282, 482 173, 282, 482

Ezechiel

10,19 173, 282, 482 11,1 173, 282, 482 11,5 282, 482 25,16 301 30,5 301

Daniel

1,2 173, 282, 482 4,26 91, 235, 459 5,3 173, 282, 482 6 196 6,21 196 6,28 196



1. Bibel

1.2  Neues Testament Matthäus

10,10 263 15,13 309 16,26 436 19,28 434 20,28 263 22,35 232, 439

Markus

2,17 170 2,26 173, 282, 482 10,45 263 12,36 371 15,2 497

Lukas

1,9 505 1,25 264 2,42 505 4,39 193 5,17 255, 322 6,4 173, 282, 482 7,24 261 7,30 439 9,25 436 9,52 261 10,7 263 10,25 439 11,41b 299 11,45 f. 439 11,52 439 12,11 413, 429 12,42 260 14,3 439 16,1–8 260 19,10 170 20,20 413, 429 22,39 505 23,34 195

Johannes

1,18 264 3,5 434 3,21 264 18,33–37 497 19,40 505

Apostelgeschichte

1,1 191, 221 1,8 199 f., 203, 207 2,11 89, 232 f., 299, 456 f. 5,29 451 5,32 451 5,34 255, 322 6,12 193 6,14 505 7,60 195 8,27 264 9,15 197 9,30 204 10,45 298 11,2 298 11,22 352 12,12 222 12,25 222 13–14 224 13–28 227 13,38 f. 237 13,47 199 f., 207 14,20b–21a 224 15 235 15,1 505 15,9–11 237 15,37–39 222 16 219, 226, 228 f. 16,1–3 225 16,1 227 f. 16,2 227 16,6 21 16,15 91, 235, 459 16,21 505 17,5 193 17,30 168 18,2 222 18,18 222 18,23 21 18,24–19,1 440 18,24–28 222 18,26 222 19 223 19,21 201, 207 19,22 222 19,33 222 20 207

537

538

Bibelstellenregister

20,3–5 132 20,4 89, 222, 231, 438 f. 20,17–38 230 20,18 230 20,24 f. 189 f., 207 20,35 f. 230 21,21 505 21,29 222 21,33 458 22,1 197 22,20 193 22,21 201 22,29 f. 458 22,30 236 23,11 201, 207 23,23–26,32 196 24,23 236, 237 24,27 196 f. 25,16 197, 505 26,3 505 26,30–32 236 26,31 f. 458 27 90 f., 234 f., 456, 458 f. 27,1 233, 457 27,3 91, 236, 442, 458 27,7–12 233 27,7–13 455 27,7 88 27,9–12 232, 234, 455, 459 27,9 91, 235, 459 27,9 f. 91, 234 27,11 f. 235 27,12 f. 88 27,13–44 90, 233, 457 27,13 418 27,21 88, 451 27,27 90, 234 28 85, 185 f., 188–190, 202, 206, 236 28,1 90, 233, 457 28,2 193, 418, 442 f. 28,11 234 28,14 201, 207 28,16 236 28,17–24 232 28,17 505 28,20 236, 458 28,21 196, 232, 439 28,23 236

28,25–27 196 28,30 207, 236 28,31 207, 237

Römer

1–3 168 1 506 f. 1,3–5 164 1,5 197, 389 1,16 f. 164 1,17 264 1,18–2,16 432 1,18 388 1,25 259, 506 1,28–30 431 1,32 431, 507 2,4 419, 443 f. 2,6 f. 435 2,7 495 2,16 4, 87, 93, 165, 209, 256 2,20 138 2,25 436 3 433 3,1 436 3,7 506 3,12 419, 443 f. 3,25 f. 431 3,30 262 4,5 169, 388 4,12 298 5 258 5,5 434 5,6–11 169 5,6 169, 388 5,8–11 431 5,8 169 5,9 433 5,10 169 5,12 170 5,20 f. 258 5,21 435 6 175 f. 6,1–11 175, 303 6,1–23 431 6,3 173 6,4 175 6,8 303 6,10 f. 175 6,12 431



1. Bibel

6,13 175 6,17 259 6,22 435 6,22 f. 495 6,23 435 7,7 322 7,7 f. 431 7,10–12 308 7,12 322 7,16 322 8,14–39 433 8,17 173, 435 8,24 433 8,33 389 8,38 429 9–11 353 9 414, 429 9,3–5 300, 352 9,5 259 9,16–18,23 433 9,30–10,21 414, 429 10 165, 414, 429 10,17 165 11 196 11,22 297, 419, 443 f. 11,26 388 11,28–30 169 11,30–32 168, 431, 433 11,36 259 12,2 434 12,8 139 12,20 344 13 83, 324, 410 f., 420, 444, 449 f. 13,1–7 410, 419, 445, 448 f. 13,1 ff. 428 13,3 410, 449 13,9 308 13,11 176 13,14 431 14,10 198, 507 14,19 483 14,20b 299 15 185 f., 188–191, 199–203, 209, 525 15,2 483 15,4 366, 375 15,8 506 15,16 199 15,19 21, 206

15,20 483 15,23 f. 197 15,24 188, 206 15,28 188, 206 15,31 198 16 201 16,1 22, 139 16,3 222 16,13 389 16,20 441 16,23 222 16,25 87, 256, 496 16,27 259

1. Korinther

1,12 439 1,14–17 227 2,4 256 3,4–6 439 3,9 260, 483 3,11 283 3,16–7 282 3,16 483 3,16 f. 172, 260, 482 3,17 483 3,22 439 4,1 283 4,1 f. 172, 260, 483 4,2 117 4,6 439 4,8 176 4,11–13 204 4,14 227 4,16 167, 495 4,17 227 4,21 430 5 304 5,1–5 323 5,1–13 356 5,1 304, 419, 445 5,7 285, 480 5,9 253 6,1 419, 445 6,9–11 416, 430 6,9 f. 198, 237, 435 6,19 260, 282, 482 6,20 120 7 324 7,1 22, 295

539

540 7,17–24 419 7,19 308 7,21 f. 324 7,23 120 7,26–34 143 8,1–3 22, 295 8,1 483 8,6 262, 263 8,10 419, 483 9 194, 263 9,2 483 9,3–7 351 9,3 197 9,9 166, 263, 374 9,10 375 9,14 440 9,17 260 9,19–23 387, 389, 394 9,24–26 194 9,24 194 9,25 493 10,11 375 10,23 483 11 325 11,1 167, 495 11,2–15 325 11,2–16 142, 266, 419, 445 11,19 297 12–14 172 12 414, 429 12,13 228 12,28 139 13 344, 429 13,3 436 13,4 443 14 142, 325, 414, 429 14,3–5 483 14,6 436 14,12 483 14,17 483 14,26 483 14,33b–36 142, 266, 325 14,34 143 14,34 f. 143, 326 14,35 142 14,37 308 15 303 15,5–8 261 15,8 170

Bibelstellenregister

15,8 f. 258 15,9 169 f., 258, 431 15,9 f. 168 f. 15,12 176, 303 15,14 256 15,17–19 22, 295 15,20–28 198 15,24 429 15,32 195 15,45 368 15,47–50 198 15,48 f. 198 15,50 237, 435 15,53 f. 264 16,6 438 16,12 439 16,19 222 16,23 441

2. Korinther

1,3 433 1,10 195, 224 1,22 176, 303, 433 2,17 351 3,4–6 257 4,1 257, 433 4,2 48, 80 4,6 431, 447 4,16 434 4,17 495 5 176 5,1 495 5,5–7 433 5,5 176, 303 5,7–12 204 5,10 198, 507 5,16 f. 431 5,17 176, 435 6,6 419, 443 f. 6,16 172, 260, 282 f., 435, 482 f. 7,8 253 7,11 197 10,1 430 10,9–11 253 11 300 11,2 354 11,4 48, 80, 344 11,7–9 440 11,10 506



11,12–15 311 11,21–29 167 11,22 300 11,23–33 205 11,23 f. 21 11,24 344 11,32 f. 204 12,19 483 13,10 297, 483 13,13 441

Galater

1 344 1,5 259 1,8 344 1,11 f. 48, 80 1,13 168–170, 258, 431 1,13 f. 167, 300, 431 1,15 168 1,17 89, 233 1,23 169 f., 431 2 235 2,2 f. 48, 80 2,3–5 226 2,3–8 59 2,3 352 2,5 506 2,9 282 2,12 298 2,14 308, 506 2,14 f. 298 2,15 300, 352 3,20 263 3,28 266 3,29 435 4,3 431 4,7 435 4,8–10 22, 295 4,25 89, 233 5,2 436 5,12 351 5,16 431 5,21 198, 237, 435 5,22 419, 443 f. 5,24 431 5,26 431 6,1 430 6,3 297 6,8 435, 495

1. Bibel

6,10 283, 483 6,15 176 6,18 441

Epheser

1,10 260, 483 1,13 f. 176 1,14 433, 435 1,18 435 2 175 f. 2,3 431 2,4 433 2,5 f. 173–175 2,6 176, 303 2,7 419, 443 f. 2,19–21 283 2,19 283 2,20 283 2,21 260, 282 3,2 260, 483 3,9 260, 483 3,10 413, 429 3,21 259 4,5 f. 263 4,12 483 4,16 483 4,22 431 4,29 483 4,32 443 5,5 198, 435 5,21–6,6 511 5,26 434 6,12 413 6,21 222, 439, 439 6,21 f. 89 f., 231, 254

Philipper

1,1 22, 139, 172, 279 1,5 230 1,7 197 1,15 431 1,16 197 1,23 193 f., 431, 435 2,6–11 263 2,10 198 2,17 194 3 344 3,2–11 300, 311 3,2 344, 351

541

542 3,4–11 167 3,5–8 431 3,5 300, 352 3,5 f. 170 3,6 169, 258, 432 3,7 f. 168, 258 3,12 176 3,14 194 3,17 259 3,18 f. 477 4 279 4,13 257 4,20 259 4,21 440 4,22 205 4,23 441

Kolosser

1,5 506 1,13 198 1,16 413, 429 1,25 260, 483 2 175 f. 2,8 138 2,10 429 2,12 175 f., 303 2,12 f. 175 2,15 413, 429 2,20–22 22, 295 2,20 429 3,1 303 3,3 176 3,3 f. 176 3,5 431 3,12 389, 419, 443 f. 3,12 f. 430 3,18–4,1 511 3,24 435 4,7 222, 439 4,7 f. 89, 231, 254 4,10 222 4,11 198, 298 4,14 219 f., 223 4,16 253 4,18 255, 441

1. Thessalonicher 1,5 230 1,6 167

Bibelstellenregister

1,10 507 2,4 482 2,10 164, 394 2,12 198, 394 2,14 300, 344 4,5 431 4,9–12 419 4,11 441 4,11 f. 445 5,3 193 5,8 f. 433 5,11 483 5,19 228 5,28 441

2. Thessalonicher

2,2 253 2,4 282 2,7 176 2,8 146, 418, 442, 498 3,8 f. 263 3,9 259 3,12 441

1. Timotheus

1 167–169, 258 f. 1,1 140, 445 1,2 433 1,3–5 281 1,3–7 255 1,3–11 88, 170, 303, 320, 322 1,3 4, 7, 85 f., 88, 132, 160, 335, 519 1,3 f. 355, 374 1,4 167, 172, 260, 304, 306, 308–310, 321, 329, 332 f., 347, 493, 511, 518 1,4 f. 117 f. 1,5 88, 115, 160, 283 1,6 294, 304 f., 323, 345, 355 1,6 f. 304, 322 1,7–9 432 1,7 22, 136, 161, 304, 307, 317 f., 322 f., 330, 374, 439 1,7 f. 330 1,8 136, 304, 307, 322 1,8 f. 439 1,9 258, 304, 323, 388 1,9 f. 304, 322, 355



1. Bibel

1,11 118, 165, 256 1,12–15 258 1,12–16 431 1,12–17 88, 165, 167, 171, 257 f., 303, 321 1,12 117 f. 1,13 168 f., 258 1,14 4, 258 1,15 118, 170, 258, 436 1,15 f. 156, 168 1,16 40, 168, 170, 436, 495–497, 509 1,17 88, 120, 170 f., 259 1,18 160, 163 f., 171 1,19 115, 323 1,19 f. 304 f., 346, 355 f. 1,20 222 f., 304, 323, 430, 480 2,1–4 509 2,1–6 518 2,1–7 393, 498, 508 2,1 280 2,1 f. 324, 410, 429, 448 2,2 324, 388, 391 f., 398 f., 441, 444, 484, 493, 508 f. 2,2 f. 397 2,3 391, 445 2,4–6 265, 495, 510 2,4–7 393 2,4 77, 262, 328, 333, 335 2,5 264, 324, 510 2,5 f. 92, 166, 262–264 2,6 497 2,7 257, 410 2,8–3,13 281 2,8 4, 280, 410 2,9–11 255 2,9–15 66, 142, 266, 325 2,10 491 2,11–14 325 f. 2,11–15 226 2,11 143, 410, 449 2,12 142 f. 2,15 142 f., 297 3–5 140 3 471, 479, 481 f., 526 3,1–7 482 3,1–13 280 3,1–16 518 3,1 66, 118, 129, 139 f., 281, 303, 321, 436, 471

543

3,1 f. 281 3,3 430 3,4 281 f., 391 3,5 281 f., 481 3,7 416, 497 3,8–13 281, 482 3,8–16 392 3,8 281 3,9 389, 392 f. 3,11 118 3,12 88, 281 f. 3,13 495 3,14–5 280 3,14–16 481, 510 3,14–17 X 3,14 86, 88, 280 f., 412, 427 3,14 f. 259 3,15 22, 66, 142, 171 f., 174, 260–262, 266, 279–285, 287, 322, 393, 479, 481–483, 496, 510, 526 3,15 f. 4, 66, 87, 141, 167, 260–262, 295, 335, 356, 472, 479 3,16 92, 121, 141, 166, 258, 260–262, 264 f., 282 f., 381, 388 f., 392 f., 482, 510, 527 3,16b 263 4 492, 512 4,1–3 135, 303–305, 307, 323, 512 4,1–4 331 4,1–5 42 4,1–7 355, 356 4,1–10 255, 482 4,1 115, 141, 305, 323, 348, 375 4,3 22, 118, 306, 309, 318, 326, 331, 511 4,4 366 4,6–10 392, 493 4,6 115, 308, 376, 412, 427, 494 4,7 77, 305, 308, 323, 329 f., 492 f. 4,7b 308 4,7 f. 388, 391, 493 4,8–10 492 4,8 22, 308, 326, 489, 491–497, 529 4,9 118, 170, 436 4,10 115, 118, 333, 445, 492, 494–496 4,11–16 140 4,11 160, 493

544 4,12 40, 259, 493 4,13 86, 88, 141 4,14 140 f., 174 f., 227 f., 482 4,16 494 4,21 115 5 356 5,1 493 5,2 493 f. 5,3–16 42, 266, 494 5,3 120 5,4 391 5,6 494, 496 5,7 160 5,8 304 5,11 494 5,11b 118 5,12 115, 118 5,13 118, 297 5,14 118, 318, 494 5,15 494 5,16 118, 481 5,17–19 303 5,17–20 494 5,17–22 266 5,17 119–121 5,17 f. 263 5,18 374 5,18a 166 5,18b 166 5,20 493 5,21 493 5,23 326 5,24 305, 323 6 324, 497 6,1 120, 430 6,1 f. 324 6,2 324, 412, 427 6,3–5 305, 323, 355 f. 6,3–6 391, 512 6,3–10 498 6,3 4, 255, 388, 399, 493 6,5 323, 398, 493, 511 f. 6,5 f. 388, 391 6,6–19 266 6,6 391, 398, 493 6,7–12 398 6,7 f. 391 6,9 146 6,9 f. 355, 512

Bibelstellenregister

6,10 305, 323, 356 6,11–16 262 6,11 258, 367, 388, 392, 398, 493 6,11 f. 392, 513 6,12 164, 399, 436, 448, 491, 495, 497, 509 6,12 f. 92, 121, 262, 496 6,13–16 265 6,13 113, 160, 264, 493, 497 6,14 144–146, 163, 308, 392 6,15 256, 264, 392 6,15b–16 92 6,15 f. 166, 262–264, 498, 510 6,16 120, 259, 496 6,17–19 324, 491, 498, 513 6,17 160, 496, 498 6,19 495, 509 6,20–21a 305 6,20 43, 59, 66, 87, 92 f., 136 f., 160, 163 f., 256, 261, 264, 275, 285, 294, 305–311, 316–319, 321, 326–329, 332 f., 376, 513, 526 6,20 f. 163, 255, 306–308, 355 6,21 323, 326 f., 441

2. Timotheus

1 228 f. 1,1–4,8 192 1,1 491 f. 1,1 f. 107 1,2 433 1,3–5 88, 107, 302 1,3–8 225 1,3 168, 229 1,5–8 229 1,5 115, 117, 225 f., 228 f. 1,6–12 140 1,6–14 168 1,6 140 f., 228, 302 1,6 f. 168, 174 f., 227 1,7 227, 302, 375 1,7 f. 306 1,8–10 390 1,8–14 256 1,8 164, 194, 302, 514 1,9 177, 237, 415, 417, 445, 496 1,9 f. 164, 166, 445, 513, 515 1,10 144–147 1,11 164, 257



1. Bibel

1,11 f. 168 1,12 160, 162–164, 256, 513 1,13 40, 164, 259 1,14 160, 162–164, 367, 375, 513 1,15–18 107 1,15 353 1,16–18 107, 433 1,16 236, 455, 458 1,18 194 2 173, 285, 479, 480 f. 2,2–7 263 2,2 118, 160, 164, 186, 256 2,3–7 519 2,3 514 2,4 514 2,5 194 2,6 263 2,8–13 166 2,8 87, 93, 164, 209, 237, 256, 354, 514 2,9 237 2,10 389, 496 2,11–13 514 2,11 118, 170, 175, 303, 436 2,14 412, 427 2,15 515 2,16–18 354, 514 2,16–19 479 2,16–21 479 2,16–26 302 2,16 334, 388, 390 2,17 345, 354 f., 480 2,17 f. 22, 173–176, 285, 302 f., 346, 479 2,18 136 f., 173–177, 295, 302, 304, 306, 309, 316, 320, 323 2,18c 480 2,18 f. 186 2,19–21 174 2,19 142, 174, 285, 374 2,19 f. 142 2,20 25, 174, 260, 284 f., 287, 467, 472, 479, 480 f., 483, 529 2,20 f. 172, 174, 478 2,21 450, 480 2,22 248, 258 2,23 302 2,25 333, 481 2,25 f. 480, 515

545

3 225, 365, 373, 376 3,1–5 135 f., 354, 356, 390 3,1–7 333 3,1–9 302, 348 3,5 388 3,6 354 3,6 f. 354, 515 3,8 f. 354, 515 3,10–13 365, 390 3,10 225, 365 3,10 f. 40, 107, 224 3,11 195, 224 3,11b 224 3,11 f. 354, 519 3,12 390, 416, 450, 496, 514 3,13 354, 515 3,14–17 225, 365, 516 3,14 225, 365, 375 3,14 f. 226 3,15 197, 365, 375 3,16–19 285 3,16 59, 197, 258, 318, 363–368, 371–376, 527 3,16 f. 363 3,17 367, 450 4 185–188, 191 f., 196, 201 f., 206, 236 f., 439, 525 4,1–5 192 4,1–8 40, 192, 514 4,1 107, 144, 147, 192, 198, 237 4,1 f. 147, 390 4,2a 107 4,2 f. 192 4,3–5 515 4,3 302, 308 4,3 f. 165 4,4 307 f., 321, 347 4,4b 302 4,5b 107 4,6–8 107, 147, 192 f., 195, 198, 207, 390 4,6–22 174 4,6–8b 192 4,6 148, 190, 192 f., 195, 199 4,6 f. 192, 196, 198, 355 4,7 194, 209, 353 4,7 f. 194 4,8 144, 146 f., 192, 194, 198, 209, 258, 515

546

Bibelstellenregister

4,8ab 192 4,8c 186, 192, 195 4,9–12 121, 194, 199 4,9–15 192, 193 4,9–21 107, 194 4,9–22 106–108, 192 4,9 121, 192 4,9 f. 107, 221 f. 4,10–13 161 4,10 106, 223, 353, 496 4,11 86, 106, 193, 197, 215, 219, 220–222, 236, 299, 400, 525 4,11a 188 4,11 f. 106 4,12 89 f., 231, 439 4,13 63, 84, 106, 121, 197, 236 4,14 222 f., 303 f., 323, 353, 356 4,14 f. 106 4,16–18 106 f., 147, 192, 194–196, 4,16 106, 148, 160 f., 192, 194 f., 199, 222 4,16 f. 192, 198 f., 207, 236, 390 4,17 148, 193, 198, 209 4,17 f. 195, 224, 515 4,18 107, 148, 193, 198, 209, 237, 259, 354, 445 4,18b 107 4,19–21 106, 194 4,19 121, 222, 455 4,20 106, 222 4,21 236, 438 4,21b 107 4,22 441 4,22a 107 4,22b 107

Titus

1–2 284 1–3 414, 429 1 140, 173, 346, 348, 351 f., 354, 478, 481, 516 1,1–4 492 1,1 118, 388 f., 392, 493, 516 f. 1,2 389 f., 433, 436, 449, 491 f., 496 1,3 88, 445 1,4 115, 118, 445 1,5–7 140 1,5–9 172, 283, 296, 303, 321, 333, 349, 415, 476, 519

1,5–12 1,5

430, 454 17, 85 f., 89, 231 f., 281, 303, 349, 456, 458, 475, 516 1,6–9 516 1,6 118, 298 1,6 f. 139 1,7 172, 260, 283, 298, 394, 415, 478, 483 1,8 258, 394 1,9 296 f., 299, 346, 436 1,10–12 86, 297, 346 1,10–14 349 1,10–15 439 1,10–16 296, 315, 345, 456, 472, 475, 516 1,10 22, 127, 136, 294, 295–300, 308, 317, 320 f., 345, 348, 352, 414–416, 428, 433, 437, 472, 474, 476, 516 1,10 f. 293 1,11 297 f., 351, 353, 474, 476 1,12 300, 348, 455, 456, 474, 478 1,13–15 119 1,13 301, 474 1,13 f. 297, 344, 346 1,14–16 475, 517 1,14 136, 298 f., 302, 304, 307–309, 317, 320–322, 347, 374, 475 f., 516 1,15 22, 299, 323, 347, 475, 476 1,15 f. 136, 297, 346 1,16 297, 299, 306, 309, 347 f., 414, 450, 475 2 411, 414, 426–429, 445, 478 2,1–3,8 296 2,1–9 516 2,1–10 145, 283, 411 f., 414–416, 426–428, 476 2,1–15 411, 426 2,2–10 161 2,2 119 2,3 226 2,4 f. 410, 449 2,5 119, 298, 412, 427, 430 f. 2,7 40, 259, 367, 391 2,8 119 2,9 298, 410, 412, 427, 449 2,9 f. 283 2,10–3,11 516



2,10 2,11–14 2,11–15 2,11 2,11 f. 2,12

1. Bibel

115, 445 88, 145, 166, 412, 414, 426 145, 411 f., 427 145 f., 390, 417, 431, 445, 447 f. 394, 412, 427, 437 258, 388, 390, 392, 394, 431, 496, 517 2,12a 390 2,13 144–146, 390, 417, 445–448 2,13 f. 93 2,14 428, 440 2,15 412, 414, 426 f., 436 3 91, 234, 324, 410 f., 414–416, 418, 420 f., 441 f., 444 f., 449 f., 459 3,1–3 412, 427 3,1–7 412, 415, 427, 430 3,1–8 410 f., 427–429, 436, 440, 449 f., 519 3,1–8b 413, 427 3,1–11 393, 409, 426 f., 528 3,1–15 411, 425, 528 3,1 144, 298, 410–416, 418, 420, 426–429, 435, 440, 442, 449–451 3,1a 416, 451 3,1b–2 428 3,1b 410, 416, 449, 451 3,1 f. 412, 414, 426, 436 3,1 ff. 411 3,2 416, 419, 420, 427, 430, 432, 436, 444, 450 3,3–6 416 3,3–7 169, 413, 415, 427, 430, 433 3,3–8 414, 430 3,3 417, 428, 430 f., 447, 451 3,4–7 88, 166, 237, 420, 428, 433 3,4 146, 412, 417–419, 430 f., 433, 435, 444–448 3,5–7 432 3,5 174, 177, 258, 414 f., 417, 419, 428, 431, 433, 434 f., 437, 444 3,5a 433 3,5b 417, 433 3,5c–6 417 3,5 f. 434 3,6 417, 434, 445–448 3,6c 417 3,6 f. 447

3,7

547

258, 415, 417, 431, 433, 435, 444, 447, 449 3,7a 417 3,8 118, 170, 407, 412 f., 415, 419, 421, 427 f., 436 f., 439, 528 3,8c 412 f., 427 3,9–11 297, 346, 411, 413, 427, 437 3,9 22, 136, 232, 299, 309, 321, 347, 374, 414, 428, 432, 437, 439 3,9c 427 3,10 297, 346 3,10 f. 437 3,11 297, 346, 433 3,12–14 161, 347, 519 3,12–15 106–108, 114, 426, 438, 451, 453 3,12 86, 89, 91, 106, 121, 222, 231 f., 234 f., 299, 349, 438–440, 455, 458 f. 3,12 f. 107 3,13 106, 121, 432, 440 3,14 232, 415, 438, 440, 455 3,14 f. 107 3,15 106, 440, 455

Philemon

14 223 16 324 24 219 f., 222 f. 25 441

Hebräer

3,6 282 3,7 371 f. 4,2 436 10,21 282, 482 10,25 505 13,25 441

1. Petrus

1,1 389 1,3 434 1,23 434 2 410, 449 f. 2,5 282 2,7 120 2,13–17 410, 448 f. 2,13 410, 444, 449

548

Bibelstellenregister

2,14b 410, 449 2,15 410, 449 2,17 410, 449 3 434 3,20–22 434 4,10 260 4,12–19 397, 509 4,17 260, 282, 482 4,18 388 5,3 259

3,16

159, 256

2. Petrus

Offenbarung

1. Johannes

1,5 264 1,6 506

Judas

4 388 15 388 18 388 1,5 264 5,13 264 13,2 196 17,14 264 21 435 22,5 264

1,16 299 1,21 371 f. 2,1 356 2,5 f. 388 3,7 388 3,15 f. 253

2.  Jüdisch-hellenistische Literatur 2.1  Philon von Alexandrien De Abrahamo 133 f. 194 208 443 De Cherubim 80 194 110 370 113 370 114 434 118 370 De confusione linguarum 190 370 De vita contemplativa 78 370 De decalogo 99 440 118–120 396 175 372 Quod deterius potiori insidiari soleat 80–90 367, 368 80 367, 369 81 368 125 369 138 164

In Flaccum 36–40 364 48 396 74 110, 113 98 396 De gigantibus 60 f. 367 Quis rerum divinarum heres sit 2,37 369 74 370 259–266 372 264–266 369 264 f. 372 265 369 Quod deus sit immutabilis 17 396 79 203 De Josepho 176 443 240 396 243 440 246 396



549

1. Bibel

Legatio ad Gaium 73,3 443 147 415 187 164 280 415 281 396 282 298 335 396

De providentia 2,107 364

De migratione Abrahami 97 396

De sacrificiis Abelis et Caini 17 194

De vita Mosis 1,2 203 1,175 372 1,201 372 1,274 369 1,283 369 2,65 434 2,108 396 2,242 431 2,291 372 2,292 372

De sobrietate 38–40 396

De mutatione nominum 139 369 De posteritate Caini 96 164 181 396 De praemiis et poenis 55 370 f., 376 Quod omnis probus liber sit 80 370 83 f. 443

Quaestiones in Exodum Frgm. QE 396 Quaestiones in Genesim II,54b 443 f. II,59 368

De somniis 1,34 368 1,39 370 1,94 446 De specialibus legibus 1,37 367 f. 1,59 370 1,65 369 1,80 194 1,196 370 2,63 443 2,65 440 2,108 194 2,141 443 3,14 226 3,209 396 4,49 369 De virtutibus 51–174 443 104 440

2.2  Flavius Josephus Contra Apionem I 37 372 I 42 372 Antiquitates Judaicae I 24 443, 446 I 96 443 II 157 443 II 168 446 VII 184 443 VIII 111 446

VIII 319 IX 133 IX 211 X 164 X 237 XI 3 XI 90 XI 144 XII 21 XII 257 XIII 64.67

446 446 446 443 226 446 446 443 443 446 446

550 XV 385 XVI 112 XVII 327 XIX 132 XX 90

Bibelstellenregister

446 396 299 436 443

De bello Judaico II 103 299 Vita Josephi 427 299

2.3 Pseudepigraphen Apokryphon Ezechiel

Pseudo-Hekataios v. Abdera

Apokalypse des Mose

Sibyllinische Orakel

4,1 443

42,2 443

Aristeasbrief

36 443 208 443 257 443 265 443 290 443 306 372

6,5 443 III 226 V 308 V 406

308 373 373

Testament Dans 7,3–5 308

Testament Abrahams A 20 II 2,4

1. Esra

373 443

Zusätze zu Esther

8,10 443

4,17 196

Martyrium Jesajas 3,9 443

2.4  Qumran und Rabbinica 1QH 8,9 195 1QH 8,11 195 1QH 8,13–14 1QH 8,18 195 1QS 5,5–6 282

195

1QS 8,9 1QS 9,3–8 1QS 5,5 f. BerR 8,8 mSan 99a

282, 482 282, 482 482 370 370

3.  Außerkanonische christliche Literatur 3.1  Neutestamentliche Apokryphen Acta Pauli

3,2 455 3,14 173 4,16 326 11,3–5 201, 205

Acta Petri [Actus Vercellensis] 1–3

201, 205

551

3.  Außerkanonische christliche Literatur



3.2  Apostolische Väter 1. Clemensbrief

5 199, 205 f. 5,5–7 202 f. 5,5 196 5,5 f. 194 5,6 203 f. 5,6 f. 201, 204 5,7 203 9,4 434 35,1 f. 265 35,6 431 44,5 193 45,7 431 61,1 f. 509

Didache 10,2

Ignatius

Brief an die Epheser 8,1 194 18,1 194 21,1 194 Brief an die Römer 4,1–5,3 190 Brief an die Smyrnäer 10,2 194

Brief des Polykarp 2,3 194 6,1 194 7,2 356

264 f.

3.3  Antikes Christentum Clemens Alexandrinus Stromateis I 59,2 III 1,1 III 6,45 f. III 6,48 III 45,1–3

477 331 331 331 331

Eusebius von Caesarea Historia ecclesiastica II 17,1 364 II 17.18 364 II 18 364 II 22 133, 196 II 22,2 201, 206 II 22,5–8 198 II 24,7.15 219, 220 II 25,5 201 III 2 223 III 4,1 206 III 16 206 III 32 306 V 7,1 317 V 8,3 219, 220 VI 6,1 223

Vita Constantini I 8,3 f. 203

Epiphanius

Pan XXXIII, 3–7

330

Hieronymus

Commentarius in epistula ad Titum VII 706 (PL 26,571–572) 300, 477 De viris illustribus 11 364

Irenaeus von Lyon

Adversus haereses I 8,1–5 330 I 8,1 329, 330 I 9,1–5 330 I 9,1 330 I 9,5 329 I 11,1 328 I 11,3 327 I 16,3 329 I 24,2 331 I 25,6 327 I 28,1 307, 331 I 28,2 331

552 I 30,1 I pr. 1 II 5,2 II 13,10 II 14,7 II 17,1 II 30,1 II 35,2 III 1,1 III 3,3 III 4,3 III 11,1 IV 6,4 IV 32,1 IV 35,1 IV 41,4 IV pr. 1 IV pr. 2 f. V 26,2 V pr. V pr. 1

Bibelstellenregister

306 329 328 327 332, 334 328 329 327 219 f., 327 223 327 327 327 328 327 327 317, 327 317 327 f. 328 327

Martyrium des Polykarp 9,1 440

17,1 194

Tertullian

De anima 18 329 20,1 56 Adversus Marcionem 1,29 331 3,5 318, 335 4,11 331 4,34 331 5,21 42, 54, 306, 310 Ad martyras 3 194 De praescriptione haereticorum 33 306 Adversus Valentinianos 4,2 329

Der Brief an Rheginus 45,24–40 173

4.  Pagane antike Literatur Aelius Aristides

Rhetorik 1377a 395 1411b 468

Orationes 32,3 119

Athenagoras

De Arte Rhetorica I 12,5,8 394

Aischylos

Sieben gegen Theben 609–614 394

Aristoteles

De virtutibus et vitiis 1250b 394 Divis 6,1 395 Poetik 1457b 472

Legatio sive supplicatio pro Christianis 30,3 300, 477

Augustus Res gestae 34

394, 395

Cicero

Brutus 11,42 35 De inventione 2,66 395 2,161 395

De legibus III 2,5

553

4.  Pagane antike Literatur



Philippos von Opus

449

Epinomis 989b 395

De natura deorum 1,116 395 Epistulae ad familiares II 4,1 22 IV 13,1 22

Demetrios

Platon

Alkibiades 135a–b

413, 429

Gorgias 507c 394

De Elocutione 231 18

Ion 534b 368

Dio Cassius

Laches 199d 394

Romanike Historia 53,15,4 113

Diodorus Siculus I 34,11 25 10,1

440 200

Diogenes Laertios Vitae 3,80 394

Flavius Philostratus Vita Apollonii 4,47 200 5,4 200, 202

Homer

Ilias VIII, 200

Julius Victor

Ars Rhetorika 27 18 Saturae 10,1 f.

Kallimachos

Phaidros 69b–c 394 265 368 Philebos 39e 395 Politeia 382C 35 389B 35 459C 35 615c 395 1336b 343

446

Juvenal

Nomoi 821c–d 395 934d–936b 342 934d 342 934e–935a 343 935b–936a 343 935b 343 642d 299, 477 821b 446

200

Protagoras 349b 394 Saturae I 4,78 f.

342

In Jovem 8 300

Symposion 193d 395

Lucanus

Plinius d. Ältere

Pharsalia III 454

200

Historia Naturalis 8,83 477

554

Bibelstellenregister

Plinius d. Jüngere Epistulae X,97 509

Plutarch

Agis IV,1 226 Aemilius Paullus 23,10 300, 477 Consolatio ad Apollonium 108e 395 De Alexandri magni fortuna aut virtute 342e–f 395 De defectu oraculorum 412e–413a 395 Moralia 86c 477 Quomodo adulator ab amico internoscatur 56e 395

5c–d 394 12e 394 13b 394 15b–c 394 Epinomis 989b 395

Pseudo-Plutarch

Placitia Philosophorum V2 (Mor. 904F) 373

Quintilian

Institutio Oratoria IX 3,1 467 VIII 3,38 474 VIII 6,1 f. 468 VIII 6,8 468 VIII 6,11 475 VIII 6,19 468

Strabon

Solon 12,7 300, 477 12,9 477

Geographica II 5,14 200 III 1,8 200 VII,7 457

Polybius

Sueton

VI 46 VI 46,3 VI 47,5

352 478 300, 477

Porphyrios

De antro nympharum 10 373

(Pseudo-)Demetrios

Augustus 18,2 457

Tacitus

Historiae V,2 456

Themistios

Typoi Epistolikoi 1 18

Oratio 1,8 443 11,147 444

Pseudo-Kallisthenes

Theodoret von Kyros

Historia Alexandri Magni I 25,2 373

Pseudo-Phokylides

PG 82 861,32–37 309

Theophilus von Antiochia

129 373

Ad Autolykum 2,15 265

Pseudo-Platon

Thukydides

Eutyphron

2.97.3–4 230

555

5.  Papyri und Inschriften



Vellius Paterculus

IX 330.19

Historia Romana I 2,3 200 III 1,8 200

373

Xenophon

Memorabilia 4,2,14–18 35

Vettius Valens

Anthologiarum libri

5.  Papyri und Inschriften BGU I 37 BGU I 313,5–7 BGU I 350,15 ff. BGU III 816 BGU III 887,4 BGU III 887,5–7 BGU IV 1106 BGU IV 1141 BGU IV 1151 BGU VII 1768 BGU VIII 1736,11 BGU XVI 2558 CPJ II 143,16 f. CPJ II 146,42–45 CPJ II 424 CPJ III 469,5 CPJ III 486b CPJ III 490,4 CPJ III 490,5–7 CPJ III 499 CPJ III 500 CPJ III 508,5 Hib. 77 IGLS 1998 Minuskel 81 NCPJ III 490,4 P. S. I. 429 f. P.Amh. II, 95,11 P.Amh. II, 96,10 P.Ant. I 42 P.Ant. II 101,3 P.Bad. II 35

121 120 120 121 116, 118 119 116 105 116 114 121 121 116 116 116, 118 121 121 118 119 121 120 116 111 114 90 116 111 120 120 116 120 116, 118

P.Bad. IV 53 P.Cair.Zen. 59099 P.Cair.Zen. 59218 P.Cair.Zen. 59297 P.Cair.Zen. 59544 P.Coll.Youtie II 75,12 P.Congr. XV 22 P.Dura 13a.30.31.32 P.Dura 26,25 P.Fam.Tebt. 49 P.Fay. 130 P.Giss. Apoll. 20 P.Lond. 4 1550 P.Masada 741 P.Mich. VIII 466 P.Oxy. I 82 P.Oxy. IV 705 P.Oxy.Hels. 40 P.Polit.Iud. P.Princ. II 73 P.Princ. II 103 P.Tebt. I 82 P.Tebt. III 703

120 226 111 111 226 120 105 121 120 121 226 121 226 121 121 118 117 121 104 121 121 226 54, 103, 110f., 114, 284 P.Vind. 25824b 114 P.Yale I 82 121 SB I 5675 (B. C. 184–3) 111 SB 14 12002 226 SB 20 15061 226 SPP 20 249 226 UPZ I 110 111

Sach-, Personen- und Ortsregister Alexander 222f., 303f., 353, 356 Anti– Antijudaismus 295 – Antimarcionitisch 307, 319 – Antinomismus 136 – Antithesen 7, 136f., 294, 305–307, 309, 311, 317–319, 326–328, 334, 484 Anwalt 90, 232, 439, 455, 458 Apollos 90, 116, 222, 231, 283, 439f., 455f. Apostelgeschichte 7, 17, 21, 63, 83, 86–90, 128, 131–135, 186, 188f., 191, 196, 200–204, 206–208, 215–224, 226–239, 400, 454, 457–458 Artemas 89f., 223, 231, 438f. Askese 42, 304, 323, 326, 331, 356, 492 Auferstehung – Auferstehung 136f., 173–176, 198, 302–304, 307, 320, 354, 479, 480, 514f. – Auferstehungshoffnung 302f., 311 – Auferstehungsleugner 296, 480 Autorfiktion 252, 453 Bekenntnis 4, 87, 92, 127, 129, 164, 166, 167, 170, 175–177, 247, 258f., 261–265, 363, 392, 407, 426f., 436, 441, 481–484, 497, 510f., 513, 518f., 525 Beschneidung 86, 89, 225, 227f., 294–296, 298, 345–347, 351, 414f., 437, 456, 474, 476, 516 Brief – Brieffälschung 36 – Briefgattung 18, 52 – Briefgenre 118 – Briefroman 54f., 66, 81, 83, 89, 102, 165, 188, 221, 231, 249, 250, 387, 452–454, 456f., 503 – Brieftheorie 18, 52–54 Bürger – Bürgerliches Christentum/ – Bürgerlichkeit 388, 393, 397, 399, 407, 408, 419, 444, 509 – Bürgerrecht 195, 197, 205

Canon Muratori 133, 201, 204f., 219 Charisma 174, 227f. Clemens von Alexandrien 477 Corpus pastorale 3, 5, 18f., 51, 54, 64, 67, 77, 80f., 89, 91f., 137, 156, 161, 165, 185, 187f., 197, 201, 218, 231, 247–251, 253f., 257, 259f., 274, 276–279, 286f., 293f., 307f., 312, 315, 319, 381, 384, 415, 425f., 436, 451, 453, 459, 478, 485, 492, 503f., 517, 519, 523, 526, 528, 530 Demas 194, 219, 223, 353 Depositum 163 Dolus bonus 35 Doxa 144–146, 496 Doxologie 17f., 259, 263f. Echtheit – Echtheitsbeglaubigung 38 – Echtheitskritik 37f., 46, 79 – Echtheitsparadigma 92 Einzelgattung 52 Ekstase 369 Ende der Erde 199f., 203, 207 Enkratisch/Enkratiten 42, 302f., 306f., 331 Enthaltsamkeit 303, 331, 335, 364 Ephesus 5, 17, 19, 24f., 58, 85–90, 132f., 161, 189, 195, 225, 231, 276, 286, 334f., 439f., 456 Epikur/Epikureer 509 Epimenides von Kreta 300, 474, 477 Epiphanie 144–147, 177, 418, 426, 432, 433, 442, 445f., 448, 498 Epirus 90, 232f., 455, 457 Episkopat/Episkopos – Episkopat, monarchischer 140, 281, 320, 333f. – Episkopos/Episkopoi 14, 33, 139f., 166, 298, 303, 333, 346, 391, 416, 430, 476, 478, 482 Epistolographieforschung 149

558

Sach-, Personen- und Ortsregister

Erscheinung 46, 144–147, 261, 265, 392, 412, 418, 427f., 431, 433, 442, 445–448 Ethik/Ethos – Ethik 7, 24, 260, 342, 379, 381–405, 407–424, 431, 445, 467–487, 503–522, 528–530 – Ethik, epikureische 509 – Ethik, metaphorische 467, 474 – Ethik, nikomachische 342 – Ethos 7, 484, 501, 503–522, 530 Eunike 225f., 229 Evangelium 4, 87, 93, 115, 138, 141, 162–165, 185–214, 215–246, 255f., 259f., 344, 354, 357, 364, 400, 506f., 513–515, 519 Ewiges Leben 430, 435, 491, 495, 497, 509 Fälschung 11, 20, 26, 31–35, 37–40, 46, 50, 57, 63–68, 82, 84, 92, 187, 247, 250f., 334, 407, 451f. Fiktion – Fiktion 20, 24, 26, 31, 33–37, 39–41, 49, 51, 53, 57, 63–66, 85f., 88, 101, 103, 109, 114, 160, 186–188, 199, 217, 221, 231, 235, 247, 252, 254, 277, 293–314, 319, 323, 334, 336, 349, 383, 407, 415, 433, 438, 440, 451, 459, 523 – Fiktionalität 12, 26, 65, 103, 106, 157, 226, 252, 315, 411, 450–453 Fragmentenhypothese 24, 59, 67, 78, 107, 108, 192 Frau 66, 119, 141–144, 225, 226, 228, 239, 255, 266, 297, 299, 307, 308, 315, 318, 325f., 335, 354, 364, 396, 494, 504, 515 Freilassung 132, 148, 190, 197–201, 208, 324 Gattung – Gattung 18, 27, 51–55, 103, 109, 114, 165, 188, 221, 301, 353, 387, 452, 473 – Gattungsmerkmal 19, 52–55, 162, 301 – Kleingattungen 109 – Rahmengattung 109 Gefangenschaft – Gefangenschaft 4, 85, 87, 91, 128, 130–133, 147f., 185, 188, 189–191, 196, 198, 201, 206–208, 222, 233, 235–237, 459f. – Gefangenschaftsbriefe 61, 134

– Gefangenschaftsreise 235 Gegenfälschung 56, 407 Gegner – Gegner 17, 19, 22, 23, 25, 43, 135–137, 232, 293–314, 315–339, 341–361, 366, 373–375, 382, 386, 414, 416, 437, 439, 456, 472 – Gegnerpolemik 56, 293–314, 309f., 315f., 318, 332, 349, 358, 383, 472, 516, 526 Geheimnis der Frömmigkeit 87, 261, 265, 381, 392f., 481, 510f., 527 Geist 35f., 48f., 80, 105, 141, 150, 174, 176, 227f., 258, 261, 265, 302f., 305, 323, 325f., 329, 342, 356, 363, 366–376, 412, 417, 419, 432–435, 444, 447, 481, 510, 512, 517 Gemeinde – Gemeindeausschluss 304, 323, 480f. – Gemeindetradition 247, 334 Genealogien 92, 299, 304, 308–310, 321, 329, 331, 347, 437 Genre 4, 6, 18, 25, 41, 54, 61f., 83f., 87f., 93, 99–124, 134, 149, 160– 167, 225, 237, 251, 257, 284, 343, 348, 353, 357, 432, 511, 513f., 516, 518f., 524 Gerechtigkeit 198, 202, 258, 304, 322, 363f., 395, 412, 415, 417, 421, 432f., 444, 493, 513, 515 Gericht – Gericht (Gottes) 147, 192, 194–197, 206, 433f., 470, 506f. – Gerichtsprophetie 301 Gesetz – Gesetz 25, 102, 136, 167, 227, 232, 258, 299, 304, 307–309, 322f., 329f., 342f., 347, 370, 372, 409, 413f., 416, 432, 437, 439, 471 – Gesetzeslehrer 161, 232, 296, 307, 322, 330 Gewinnsucht 352, 478 Glauben – Glaubensökonomie 308 – Glaubenstradition 226 Gnosis 7, 16, 22, 43, 45f., 67, 80, 87, 92, 136–138, 173, 255, 264, 275, 285f., 294, 305–312, 315–339, 356f., 376, 484, 493, 526f. Gottesvergessenheit 421 Großmutter 225–229



Sach-, Personen- und Ortsregister

Handauflegung 174f., 227f. Haus – Haus 16, 22, 66, 110, 121, 171–174, 236, 259–261, 263, 266, 279, 281, 297f., 302, 311, 322, 335, 345, 352, 391, 393, 467–487, 489, 510–512, 515 – Haus Gottes 66, 172, 259–261, 263f., 322, 335, 393, 472, 478, 481–485, 510–512 – Hausgemeinde 296f., 477 – Haushalt (Gottes) 22, 481, 352, 516, 518 – Haustafel 88, 161, 410, 449, 476, 515 – Haustafelethik 511 – Hauswesen 171, 279, 281, 469, 504 Heiliger Geist 36, 371, 375, 412, 417, 419, 434, 444, 447 Heilsökonomie 260 Hermogenes 353, 432 Hieronymus 42, 300, 364, 477 Historismus 45–48, 131 Homologie 262, 264, 497 Hymenäus 173, 223, 285, 302–304, 354, 356, 479 Hymnus 171, 263, 300, 393, 477 Ignatius von Antiochien 61, 190, 333–335, 511 Ignatiusbriefe 139, 320, 334 Imperativ 164, 192, 409, 469, 471, 491f., 496, 506 Indikativ – Indikativ 469, 492f., 506 – Indikativ und Imperativ 469, 492, 506, 529 Inspiration – Inspiration 35, 363–378, 375, 527, 532 – Inspirationsbewusstsein 35 – Inspirationslehre 368, 371 – Inspirationsverständnis 368, 373f. Intertextualität 252f., 400, 407, 411, 426, 448, 450 Invektive 341–346, 348, 350–352, 354, 357f., 475, 527 Irenäus von Lyon 223, 255, 306f., 309f., 316–318, 327–336 Italienreise 233, 457 Jambres 347, 354, 515 Jannes 347, 354, 515

559

Jurist 90, 232, 439f., 449, 455 Kaiserkult 429, 447, 456f. Kanonizität 67 Kerygma 193, 197, 259, 515 Kreszens 194, 223 Kreta/Kreter – Kreta 17, 85–91, 133, 197, 230–234, 276, 283, 286, 298–301, 349–353, 415, 438f., 454–459, 474–478 – Kretaaufenthalt 133, 456f. – Kretamission 85 – Kreter 86, 233, 300f., 345, 348–352, 474–478 – Kreterpolemik 474, 478 – Kreter-Klischee 348, 351f. Lehrverbot 142f., 325f. Lesereihenfolge 16 Lois 225f., 229 Loyalität 12, 117, 208, 391, 393, 395–398, 410f., 413, 415–421, 427, 441f., 444, 448–450, 511 Lukas – Lukas 17, 85f., 90f., 107, 132, 133, 135, 188–191, 196f., 199–201, 204, 206–208, 215–228, 230, 233–239, 299, 400, 440, 454, 457–459, 525 – Lukasevangelium 232, 260, 400 Mandat/Mandata – Mandat 4, 54, 88f., 109, 110, 112f., 117, 121, 166f., 235, 257, 348, 350, 357, 511, 516–519 – Mandata principis 25, 54, 89, 103, 109f., 114, 162, 231, 284, 301, 348, 387, 454, 511, 516 Marcion – Marcion 22, 42, 80, 216, 294, 306f., 310f., 317–319, 327f., 330–334, 336 – Marcioniten 294, 318, 328 – Marcionitisch 22, 43, 136f., 294, 305, 306, 307, 311, 319 Melite 90, 233f., 457f. Memoranda 110–114, 121, 348, 511, 516 Menschenfreundlichkeit 146, 407–424, 425–465, 517f., 528 Metapher 81, 171f., 194–196, 268, 297, 433f., 454, 467–484

560

Sach-, Personen- und Ortsregister

Miletrede 135, 222, 230 Mission – Missionskonzept, lukanisches 207 – Missionsreise 190, 206, 208, 224, 226, 227, 460 Monepiskopat 333f. Mutter 105, 116, 223, 225–229, 397 Mysterientradition 435 Mythen 77, 92, 136, 298f., 308–310, 321f., 329, 347, 476f., 515f. Mythos 77, 91–94, 310, 329, 347, 523 Nero 148, 206–208 Neuschöpfung 176, 435 Nikolaiten 327 Nikopolis 86, 88, 89–91, 133, 231–235, 349, 438, 454–459 Notizen, persönliche 20, 39, 40, 52, 56f., 65f., 84, 86, 106–109, 132, 161, 187f., 192, 194f., 199, 205, 225, 236, 249, 251, 255, 438f., 451–454 Ökonomie 122, 166, 171f., 260, 483, 511 Onesiphoros 194, 223, 236, 455 Paratheke 87, 93, 140, 162–165, 167, 171, 249, 256, 261, 264 Parusie – Parusie 145f., 177, 448, 498 – Parusie Christi 146, 448 – Parusie, apostolische 14 – Parusieerwartung 390 – Parusietopos 19 Paulus – Martyrium des Paulus 190–195, 203–209 – Paulusbegleiter 215, 217 – Paulusbiographie 85–87, 92, 131, 133, 149, 167, 169, 186, 238, 454 – Paulusfiktion 66, 293, 325 – Paulushagiographie 87f., 92, 170, 259, 508 – Paulusrezeption 5–7, 155–157, 159–160, 166f., 171, 173, 177f., 255, 266, 315–317, 320f., 335f., 400, 415, 430, 524, 526 – Paulusschule 40, 58, 158–161, 175, 178, 355 – Paulusschüler 4, 158, 186, 188, 296 – Paulusüberlieferung 67, 142, 155, 159, 166, 171, 173, 175, 177f., 215, 249, 257, 454f.

– Paulustradition 86, 88, 92f., 100, 138, 155–162, 166f., 169, 170, 173, 175–178, 215f., 230, 249, 251–253, 335, 347, 358, 364, 400, 411, 450, 454, 456, 506, 524 Personalinspiration 370 Personalnotiz 86, 161, 194, 439 Petrus 191, 204, 207f., 221, 298, 364 Philetus 173, 223, 285, 302–304, 354, 479 Philosophenschule 57, 158 Phygelos 353 Pia fraus 35 Pietas 388, 393–398, 509 Pleroma 328 Polemik 89, 93, 119, 136, 159, 227, 293f., 296–299, 301, 305f., 310f., 315–339, 341–361, 472, 475f., 484f., 514, 527 Pontius Pilatus 265, 497 Presbyter 89, 119, 121, 138–140, 231, 266, 283, 298, 303, 333, 346, 415, 456, 476 Prosopopoiïa 22 Prozess 21, 42, 49, 130, 157, 160, 171, 178, 196–199, 203, 205, 207, 217, 218, 232, 236, 252, 259, 261, 266, 303, 324, 386f., 398–400, 409, 421, 458, 468, 474, 481, 493 Pseudepigraphie – Pseudepigraphie 6, 11–30, 31–76, 77, 79, 82, 84, 92, 106, 178, 197, 230, 247f., 252, 277, 320, 325, 334–336, 350, 381, 407, 411, 450–452, 490, 518, 523 – Pseudepigraphieforschung 19f., 26, 34, 49, 149, 382 Pseudonym – Pseudonymität 3, 11f., 36–38, 53, 55, 65f., 80f., 93, 101, 249, 295, 452f., 490 – Pseudonymitätsparadigma 92 Quintilian 467f., 474f. Rechtfertigung 169, 177, 237f., 258, 415, 417, 428, 432–436, 447, 470 Reichtum 266, 356, 398, 498 Reisebegleiter 90, 189, 218–222, 238f. Religio 395 Retter/Rettung – Retter 110, 145, 333, 412, 417f., 426, 431f., 435, 442, 445–448, 492, 508 – Rettung 142–144, 148, 192f., 195f., 198, 209, 224, 237, 428, 432–435, 437, 445, 447, 495, 507



Sach-, Personen- und Ortsregister

Rezeption – Rezeption 4, 5, 7, 45, 81, 84, 113, 138, 153, 155–184, 215–218, 230, 237, 247–269, 317, 328f., 400, 411, 425f., 450, 468, 525 – Rezeptionsabsicht 40 – Rezeptionsgeschichte 24 Romreise 4, 86, 88, 90, 205, 219, 221, 230, 233, 236, 439, 457f. Saturnius 331 Schiffbruch 90f., 233–236, 304, 317, 323, 457, 459 Schrift – Schriftinspiration 364, 372 – Schriftverständnis 364f., 368–370, 373, 375 Schul– Schulpseudepigraphie 11, 24, 26, 38, 41, 56, 65f., 407 – Schultradition 57, 364 Sekretärshypothese 108, 222 Selbstreferentialität 157, 252f. Siegeskranz 147, 194, 198, 201, 514f. Sklave – Sklave 105, 324f., 335, 517 – Sklavenparänese 324f., 516 Spanien – Spanien 133, 188, 190, 198–207, 209 – Spanienmission 85, 132, 199, 201–206 – Spanienpläne 189, 191, 199–202 Speisegesetze 307, 331 Statistik 58–60 Stilistik 83 Taufe 173–176, 205, 227–229, 417, 431f., 434, 444 Täuschung/-sabsicht 11f., 20, 26, 31, 33, 35, 37–40, 56, 64, 66f., 84, 103, 247, 253, 407, 451, 490, 523 Tempel Gottes 172f., 260, 281–285, 483 Testament 15, 18f., 53, 85, 97, 108, 160, 162f., 174, 185, 192, 230, 248, 251, 284, 301, 353, 387, 478, 492, 513, 519 Theopneustie 363–366, 374 Timotheus – Timotheus 4, 14, 19f., 24, 86–88, 118, 132, 140f., 164, 166, 168, 170, 174, 186, 188, 192, 197, 206, 220, 225–229, 236f.,

561

247, 248, 259, 293, 300, 302f., 305, 308, 317, 323, 336, 352f., 357, 365, 375, 493–495, 513–515, 519 – Timotheustradition 336 Titus 14, 17, 19, 20, 42, 55, 59, 88–90, 134, 188, 194, 220, 222f., 226, 231–235, 247, 249, 276, 278, 283, 293, 296f., 299–301, 303, 346, 348f., 352, 357, 367, 411, 415, 433, 437–440, 455–459, 476, 516f., 519 Tod – Tod 4, 12, 33, 85, 87, 93, 107, 110, 129, 147–148, 158, 175, 177, 186–195, 201, 203, 205, 207f., 222, 238, 258, 353f., 357, 364, 372, 436, 458, 477, 496f., 507, 519 – Todesbedrohung 198 – Todeserwartung 192 – Todesfurcht 193 – Todesgefahr 148, 192, 195 – Tod des Apostels/Paulus 147f., 158, 188, 190, 195, 201, 207f., 221, 238, 496 Totenauferstehung 303 Tradition – Tradition 2, 5, 14, 17, 25, 33, 35, 37–39, 45, 47, 54, 59, 66f., 79, 86, 88, 92f., 102, 108, 149, 155–161, 166f., 169f., 173, 177, 178, 191, 200, 203–205, 208, 216f., 220, 226, 227, 230, 233, 247–269, 279, 282, 286, 293, 303, 308f., 311f., 316, 342–344, 363f., 372–374, 376, 384, 386–388, 391, 394, 395, 397f., 400, 405, 411, 420f., 428, 430f., 433–435, 438, 440, 443, 450–452, 454, 456f., 470, 472, 477, 482f., 492f., 495, 511, 523–526, 528 – Traditionsgeschichte 64 – Traditionspflege 158 – Traditionssicherung 35, 41, 103 – Traditionsweitergabe 35, 103 Tugend – Tugendethik 510f., 518 – Tugendethos 508, 513 Tychikos 89, 222, 231, 438f. Überwinterung 91, 133, 234f., 455–459 Unterschriftsfälschung 38 Valentin – Valentin 318, 327f., 331, 334, 336 – Valentinianer 173, 306, 328 – Valentinianismus 136

562

Sach-, Personen- und Ortsregister

Verbalinspiration 363, 370 Verfasserfiktion 57, 253 Vermächtnis 1–5, 14, 93, 177, 186, 192, 248f., 256, 354, 478, 513–515 Versöhnung 409, 421 Wahrheit – Wahrheit 7, 14, 45, 47, 66, 77f., 87, 91, 93, 115, 127, 141, 148, 165, 237, 260–262, 265f., 284, 297f., 301f., 306, 308, 321f., 328, 332, 335, 345–347, 354, 365, 370, 376, 389f., 393, 409, 435, 467–487, 489, 501, 503–522, 523, 530 – Wahrheitsanspruch 301, 507–512, 518 – Wahrheitserkenntnis 510, 517 – Wahrheitsfrage 38

– Wahrheitsgehalt 467 Weisheit 2, 344, 363, 369f., 373, 443, 506 Werke, gute 412f., 427, 430 Wettkampfmetaphorik 194 Wiedergeburt 412, 434 Wiederkunft Christi 144f. Wir-Passagen 91, 215, 218, 220, 230, 235 Witwe – Witwe 22, 118, 121, 141, 266, 297, 318, 333, 494 – Witwenstand 118 Wortstatistik 62f., 388 Zenas 90, 223, 231f., 439f., 455f., 458 Zeusmythos 478 Zorn Gottes 435, 507

Griechisches Sachregister ἀγγέλος 261, 265, 510 ἀλήθεια 260f., 281, 306, 389f., 504, 507, 508, 510, 512, 515, 517f., 530 ἀνάλυσις 148, 190, 193 ἀντίλυτρον 262f., 265, 508 ἀπέλιπον 454 ἀπολογία 196f. Ἀρτεμίδωρος 438 ἀρχαῖς ἐξουσίαις 412f., 415, 429 αὐταρκεία 398, 512 βιβλία 197 βλασφημεῖν 342, 416, 420, 430 βραβεῖον 194 γενεαλογίαι 308, 321, 323, 347, 355 γνῶσις 59, 306, 309, 317, 328 γραφή 197, 365f.

ἐπαγγελία 491 ἐπισκοπή 66, 139f., 281 ἐπίσκοπος 139f., 172, 280f., 283, 415 ἐπιφάνεια 16, 93, 144–147, 392, 418, 441f., 445, 448 ἔργον 140, 198, 410, 414, 449 ἔσχατον τῆς γῆς 199f. εὐαγγέλιον 164f., 197, 255f., 514 εὐσέβεια 384, 387–400, 443, 449, 492f., 496, 504, 508f., 512, 516–518, 528 εὐσεβῶς 388, 390, 394, 397, 519 Ζηνόδωρος 438 ἡσυχία 509 θεόπνευστος 364, 366f., 371–376 οἰκοδομή 260, 483

διάκονοι 139, 172, 280f. διάκονος 172 δικαιοσύνη 394f., 414, 432, 443, 513 διπλῆ τιμή 6, 114, 119–121 δόξα 109, 264, 431, 447 δοῦλος θεοῦ 389, 517

ἱερὰ γράμματα 197, 365f. ἰουδαϊκός 308f., 317

ἐκκλησία (θεοῦ) 260, 283, 481, 510 ἐντολαί 109f., 113, 308

μέγας θεός 145, 446 μελίτη 234, 458

κήρυγμα 195, 256, 306 λουτρόν 434



Sach-, Personen- und Ortsregister

μεμβράναι 197 μῦθοι 298f., 302, 304, 307–309, 317, 321, 323, 329f., 347, 355 μῦθοι καὶ γενεαλογίαι 321, 355 μυστήριον 261, 392, 510 ναός (θεοῦ) 172, 260, 482f. νομικός 90, 232, 432, 439, 455, 458 νομοδιδάσκαλοι 136, 255, 307, 317, 322, 330, 355 νόμος 307, 432 νοῦς 369f., 431 οἰκία 110, 260, 284f., 479f., 483 οἰκονομία 93, 117, 260, 281 οἰκονομία θεοῦ 167, 172, 260, 281, 283, 308, 321, 355, 511 οἰκονόμος 111, 117, 260, 283 οἶκος 25, 93, 142, 260, 281–285, 483 οἶκος θεοῦ 25, 66, 141, 172–174, 259, 279–285, 479, 482–484, 511, 526 ὁμολογία 92, 121, 262, 513 παλιγγενεσία 434f. παραγγελία 163 παραθήκη 4, 87, 93, 160–165, 255f., 335, 513f. παρουσία 145, 418, 442, 448 περιτομή 89, 136, 295, 298, 308, 317, 321, 351, 414, 428, 472 πίστις 6, 114–119, 172, 194, 228f., 389, 392f., 399, 496, 509

563

πιστὸς ὁ λόγος 118, 170, 427, 436 πνεῦμα 356, 367–371, 512 πρεσβύτερος 172, 283, 415 σεμνότης 391f., 508f. σπένδομαι 148, 193, 194 στέφανος 194 σωτήρ 16, 93, 110, 146, 417f., 441f., 445–448 τεκνογονία 143 τέρμα τῆς δύσεως 202–205 ὑπομνήματα 109–113, 121 ὑποτάσσεσθαι 410f., 427, 449 ὑποτύπωσις 168f., 259 φιλαδελφία 509 φιλανθρωπία 396, 412, 417–419, 427, 431, 441–444, 447 φυγαδευθείς 202–204 χάρις 145, 417, 431, 441, 447 χάρισμα 140f., 227 χρηστότης 412, 417–419, 427, 431, 441–444, 447 ψευδώνυμος 306, 317 ὠφέλιμος 366, 436