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German Pages [319]
Historisch-Theologische Auslegung
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Neues Testament Herausgegeben von Gerhard Maier ٠ Heinz-Werner Neudorfer ٠ Rainer Riesner ٠ Eckhard J. Schnabel
Der zweite Brief des Paulus an Timotheus Heinz-Werner Neudorfer
SCM R.BROCKHAUS, WITTEN BRUNNEN VERLAG, GIESSEN
© 2017 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten Internet: www.scm-brockhaus.de | E-Mail: [email protected]
Umschlaggestaltung: agentur krauss GmbH, Herrenberg Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg Druck und Bindung: Finidr s.r.o. Gedruckt in Tschechien ISBN 978-3-417-29734-8 ISBN 978-3-7655-9734-3 Bestell-Nr. 229.734
(SCM R.Brockhaus) (Brunnen)
INHALT Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 7
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Autor und Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geschichtliche Situation, Ort und Zeit der Abfassung . . . . . . . . . . 2.1 Die Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die aktuelle Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ein synchroner Blick auf die „Gefangenschaftsbriefe“ des Paulus . 2.4 Handschriftliche und altkirchliche Bezeugung . . . . . . . . . . . . . . 3. Literarische Fragen und sprachliche Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Aufbau und sprachliche Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Botschaft und theologische Aussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Text-, Auslegungs- und Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Textgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Auslegungsgeschichte: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
15 22 23 26 30 32 32 32 36 41 44 44 45 50
II. Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Präskript: Absender, Adressat und Gruß 1,1-2 . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dankbare Erinnerungen 1,3-5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Amt, der Auftrag, sein Fundament und seine Bedrohung 1,6-14 4. Trennungen 1,15-18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Leben und Leiden aus der Auferstehungskraft Christi 2,1-13 . . . . . . 6. Warnung vor unnützem Streit und Ermutigung zum Dienst 2,14-26 . 7. Endzeitliche Erscheinungen 3,1-9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Leiden im Dienst 3,10-13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Das Schrift gewordene und das verkündigte Wort Gottes 3,14–4,4 . . 10. Ermahnung zu treuem Dienst – auch im Leiden 4,5-8 . . . . . . . . . . 11. Mitarbeitersorgen – Aufträge – Persönliches 4,9-18 . . . . . . . . . . . 12. Briefschluss 4,19-22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55 64 78 109 114 144 182 204 217 243 257 291
Bemerkungen im Rückblick auf die Auslegung der Pastoralbriefe . . . . 301
III. Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 1. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 2. Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 3. Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
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Vorwort der Herausgeber Die Kommentarreihe „Historisch-theologische Auslegung des Neuen Testaments“ will mit den Mitteln der Wissenschaft die Aussagen der neutestamentlichen Texte in ihrer literarischen Eigenart, im Hinblick auf ihre historische Situation und unter betonter Berücksichtigung ihrer theologischen Anliegen erläutern. Dabei sollen die frühere wie die heutige Diskussion und neben den traditionellen auch neuere exegetische Methoden berücksichtigt werden. Die gemeinsame Basis der Autoren der einzelnen Kommentare ist der Glaube, dass die Heilige Schrift von Menschen niedergeschriebenes Gotteswort ist. Der Kanon Alten und Neuen Testaments schließt den Grundgedanken der Einheit der Bibel als Gottes Wort ein. Diese Einheit ist aufgrund des Offenbarungscharakters der Heiligen Schrift vorgegeben und braucht nicht erst hergestellt zu werden. Die Kommentatoren legen deshalb das Neue Testament mit der Überzeugung aus, dass die biblischen Schriften vertrauenswürdig sind und eine Sachkritik, die sich eigenmächtig über die biblischen Zeugen erhebt, ausschließen. Wo Aussagen der biblischen Verfasser mit außerbiblischen Nachrichten in Konflikt stehen oder innerhalb der biblischen Schriften Spannungen und Probleme beobachtet werden, sind Klärungsversuche legitim und notwendig. Bei der Behandlung umstrittener Fragen möchten die Autoren vier Regeln folgen: 1. Alternative Auffassungen sollen sachlich, fair und in angemessener Ausführlichkeit dargestellt werden. 2. Hypothesen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen auch dann nicht als Tatsachen ausgegeben werden, wenn sie weite Zustimmung gefunden haben. 3. Offene Fragen müssen nicht um jeden Preis entschieden werden. 4. Die Auslegung sollte auch für denjenigen brauchbar sein, der zu einem anderen Ergebnis kommt. Unser Kommentar will keine umfassende Darstellung der Auslegung eines neutestamentlichen Buches in Geschichte und Gegenwart geben. Weder bei der Auflistung der Literatur noch in der Darstellung der Forschungsgeschichte oder der Auseinandersetzung mit Auslegungspositionen wird Vollständigkeit angestrebt. Die einzelnen Autoren haben hier im Rahmen der gemeinsamen Grundsätze die Freiheit, beim Gespräch mit der früheren und aktuellen Exegese eigene Akzente zu setzen. Die Kommentarreihe unternimmt den Versuch einer „geistlichen Auslegung“. Über die möglichst präzise historisch-philologische Erklärung hinaus soll die Exegese die Praxis von Verkündigung, Seelsorge sowie Diakonie im Blick behalten und Brücken in die kirchliche Gegenwart schlagen. Die Autoren gehören zu verschiedenen Kirchen und
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2. Timotheusbrief
Freikirchen der evangelischen Tradition. Unterschiede der Kirchen- oder Gemeindezugehörigkeit, aber auch unterschiedliche exegetische Meinungen wollen sie weder gewaltsam einebnen noch zum zentralen Thema der Auslegung machen. Der Nähe zur gemeindlichen Praxis wird dadurch Rechnung getragen, dass neben griechischen bzw. hebräischen Texten die entsprechenden Begriffe noch einmal in Umschrift erscheinen. Auf diese Weise kann auch dem sprachlich nicht entsprechend ausgebildeten Laien zumindest eine Andeutung der Sprachgestalt der Grundtexte vermittelt werden. Die Auslegung folgt einem gemeinsamen Schema, das durch römische Ziffern angezeigt wird. Leserinnen und Leser finden unter I eine möglichst genaue Übersetzung, die nicht vorrangig auf eine eingängige Sprache Wert legt. Unter II ist Raum für Bemerkungen zu Kontext, Aufbau, literarischer Form oder Gattung sowie zum historischen und theologischen Hintergrund des Abschnitts. Unter III folgt dann eine Vers für Vers vorgehende Exegese, die von Exkursen im Kleindruck unterbrochen sein kann. Abschließend findet man unter IV eine Zusammenfassung, in der das Ziel des Abschnitts, seine Wirkungsgeschichte und die Bedeutung für die Gegenwart dargestellt werden, soweit das nicht schon im Rahmen der Einzelexegese geschehen ist. Alle Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift ist letztlich Dienst in der Gemeinde und für die Gemeinde. Auch wenn die „Historisch-theologische Auslegung“ keine ausdrückliche homiletische Ausrichtung hat, weiß sie sich dem Ziel verpflichtet, der Gemeinde Jesu Christi für ihren Glauben und ihr Leben in der säkularen Moderne Orientierung und Weisung zu geben. Die Herausgeber hoffen, dass die Kommentarreihe sowohl das wissenschaftlich-theologische Gespräch fördert als auch der Gemeinde Jesu Christi über die Konfessionsgrenzen hinaus dient. Im Frühjahr 2004 Landesbischof i. R. Dr. Gerhard Maier Dr. Heinz-Werner Neudorfer Prof. Dr. Rainer Riesner Prof. Dr. Eckhard J. Schnabel
Abkürzungen
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Abkürzungen AncB ANRW Bauer/Aland
BDR BET BWANT BZ BZNW CBL CIJ CSEL EKK ET EtB EWNT FRLANT HAW HNT HTA HThK HvS ICC IVP JBL JETh JSNT.S
Anchor Bible Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Hg. W. Haase / H. Temporini W. Bauer / K. Aland / B. Aland. Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. Berlin 61988 F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf. Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. Göttingen 182001 Beiträge zur biblischen Exegese und Theologie Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Biblische Zeitschrift Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft Calwer Bibellexikon Corpus inscriptionum Judaicarum Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Expository Times Études Bibliques Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. v. H. Balz / G. Schneider. Stuttgart 1980–1983 Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Handbuch der Altertumswissenschaft Handbuch zum Neuen Testament Historisch Theologische Auslegung Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament H. von Siebenthal. Griechische Grammatik zum Neuen Testament International Critical Commentary InterVarsity Press Journal of Biblical Literature Jahrbuch für Evangelikale Theologie Journal for the Study of the New Testament. Supplement Series
8 KP LAW LÜ LXX NA27 NA28 NCBC NIGTC NTD NTLi NTOA NTS OJRS RB RNT SBS StUNT TANZ THAT ThBeitr ThHK ThW ThWNT TRE TVGMS TynB UTB WA WBC WdF WStB WUNT ZBK
2. Timotheusbrief
Der Kleine Pauly. Hg. v. K. Ziegler / W. Sontheimer / H. Gärtner Lexikon der Alten Welt Lutherbibel Septuaginta Nestle-Aland. Novum Testamentum Graece. Institut für Neutestamentliche Textforschung. 27. Auflage Nestle-Aland. Novum Testamentum Graece. Institut für Neutestamentliche Textforschung. 28. Revidierte Auflage New Century Bible Commentary New International Greek Text Commentary Das Neue Testament Deutsch New Testament Library Novum Testamentum et Orbis Antiquus New Testament Studies Ohio journal of religious studies Revue Biblique Regensburger Neues Testament Stuttgarter Bibelstudien Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament. Hg. v. E. Jenni / C. Westermann. München 1971–1976 Theologische Beiträge Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament Theologische Wissenschaft Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. v. G. Kittel / G. Friedrich. Stuttgart 1933–1979 Theologische Realenzyklopädie TVG-Monographien und Studienbücher Tyndale Bulletin Uni-Taschenbücher Weimarer Ausgabe: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe Word Biblical Commentary Wege der Forschung Wuppertaler Studienbibel Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zürcher Bibelkommentare
Abkürzungen
ZNW ZVRW
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Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft
Abkürzungen biblischer Bücher: Gen, Ex, Lev, Num, Deut, Jos, Ri, Rut, 1Sam, 2Sam, 1Kön, 2Kön, 1Chron, 2Chron, Esr, Neh, Est, Hi, Ps, Spr, Koh, Hld, Jes, Jer, Klgl, Hes, Dan, Hos, Joel, Am, Obd, Jona, Mi, Nah, Hab, Zef, Hag, Sach, Mal Mt, Mk, Lk, Joh, Apg, Röm, 1Kor, 2Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1Thess, 2Thess, 1Tim, 2Tim, Tit, Phlm, Hebr, Jak, 1Petr, 2Petr, 1Joh, 2Joh, 3Joh, Jud, Offb Sonstige Abkürzungen 1Klem 1. Klemensbrief 1Makk 1. Makkabäerbuch 2Klem 2. Klemensbrief 2Makk 2. Makkabäerbuch 4Makk 4. Makkabäerbuch 4Reg 2. Könige in der LXX a.a.O. am angegebenen Ort AD Anno Domini = n.Chr. Anm. Anmerkung Ann Tacitus: Die Annalen Ant Josephus: Antiquitates Judaicae / Jüdische Altertümer AssMos Assumptio Mosis Art. Artikel AT Altes Testament Bd. Band bes. Besonders C.E. Christian Era = n.Chr. Cap Josephus: Contra Apionem Caes Plutarch: Das Leben Cäsars Dial Justinus, der Märtyrer: Dialog mit Tryphon Diss Epiktet, Dissertationes/Lehrgespräche Diss. Dissertation ebd. ebenda Ep Epistula (Brief) EpSokr Sokratikerbriefe grHen Henochapokalypse (griech.) hell. hellenistisch/griechisch Herm (m s v) (Hirt des) Hermas (mandata, similitudines, visions)
10 Hg. Hist HistEccl IgnSm Jh.(s) Jub Kap. Lcf LÜ 1984 m.E. MartPol Mass. NA27 NA28 NT par(r) Past PE Pls Polyc Praem PsSal s. S. Sib Sir Som Spec u.U. Vf. TestLev zT z. St.
2. Timotheusbrief
Herausgeber Historien Eusebius: Historia Ecclesiae / Geschichte der Kirche Ignatius: An die Smyrnäer Jahrhundert(s) Jubiläenbuch Kapitel Kirchenvater Lucifer Luther-Übersetzung 1984 meines Erachtens Martyrium des Polycarp Massachusetts Nestle/Aland, Novum Testamentum Graece. 27. Auflage Nestle/Aland, Novum Testamentum Graece. 28. Auflage 2012 Neues Testament und die Parallelpassage(n) in den anderen Evangelien Pastoralbriefe Pastoral Epistles Paulus Brief des Polykarp Philo von Alexandria: Von Belohnungen und Strafen Psalmen Salomos siehe Seite Sibyllinen Jesus Sirach Philo von Alexandria: Über Träume Speculum, pseudo-augustinische Schrift unter Umständen Verfasser Testament der 12 Patriarchen: Levi zum Teil zur Stelle
Weitere Abkürzungen sind S. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (Berlin 21992, 32014) zu entnehmen.
Einleitung
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I. Einleitung Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass sich der Apostel Paulus kurz vor dem Ende seines Lebens in einer Situation befand, die der im 2. Timotheusbrief vorausgesetzten sehr ähnlich ist: Er sitzt im zeitlichen Kontext der Neronischen Wirren Mitte der 60er-Jahre in Rom im Gefängnis und wartet auf das Urteil und auf seine Hinrichtung. Dass er dort die Möglichkeit, vielleicht die Notwendigkeit und auch die innere Ruhe hatte, Briefe an Mitarbeiter zu schreiben, kann man nicht unwiderleglich bestreiten. So weit, so gut. Nun stellt sich die Frage, was und an wen Paulus in dieser Lage geschrieben haben würde. Und was wir Heutigen ihm an „Schreib-Freiheit“ zugestehen würden. Die fast einhellige Antwort der akademischen Exegeten in Europa lautete über viele Jahre: „Jedenfalls nicht das und nicht so, wie es im 2. Timotheusbrief steht!“ Warum eigentlich nicht? Es wäre spannend zu erfahren, wie sich ernsthafte Exegeten, die die Pastoralbriefe (Past) für nachpaulinische Erzeugnisse halten, 20 bis 40 Jahre nach seiner Hinrichtung verfasst, seinen letzten Brief vorstellen. Dürfte es eine Eloge auf die Freiheit vom Gesetz sein? Oder eine letzte, zugespitzte Zusammenfassung seiner Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen? Ein flammender Aufruf zur gesetzesfreien Heidenmission trotz Nero? Oder kann man ihn sich auch vorstellen als einen Versuch zu sichern, was er in mehr als 20 Jahren begründet und begleitet hatte? Oder ganz schlicht als letzten Brief eines alten Theologen und „Kirchenmannes“ an einen seiner Schüler – eines alten Mannes, der weiß, dass sein irdischer Weg hier endet? Seit Schleiermacher wurde viel intellektuelle Kraft darauf verwendet, die historischen und literarischen Hintergründe der Entstehung der an Timotheus und Titus gerichteten Briefe zu erhellen und die Ergebnisse in eine in sich stimmige Hypothese umzusetzen. Dazu ist von vornherein zu sagen: Viele, wenn nicht die meisten dieser Hypothesen bieten eine mögliche, sinnvolle und historisch denkbare Lösung der sehr schwierigen Fragen um diese drei Briefe. Der Historiker weiß aber, wenn er weise ist, dass er immer nur einen mehr oder weniger hohen Grad an Wahrscheinlichkeit für seine Denkmodelle erreichen wird, nie absolute Sicherheit. Insofern ist es wissenschaftlich geradezu geboten, vorgelegte Hypothesen als das zu nehmen, was sie sind: „zunächst unbewiesene Annahme[n] von Gesetzlichkeiten oder Tatsachen mit dem Ziel, sie durch Beweise zu verifizieren od.[er] zu falsifizieren“, nämlich als „Vorentwurf für eine Theorie“, wie ein Fremdwörterlexikon den Begriff erklärt.1 Wir sind uns bewusst, dass dies für die in diesem Kommentar vorge1 DUDEN Bd. 5 Das Fremdwörterbuch. Mannheim/Zürich 102010, S. 447.
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2. Timotheusbrief
legte Hypothese natürlich ebenfalls gilt. Welchen Grad an Wahrscheinlichkeit wir erreichen, mag die Fachwelt oder die Nachwelt entscheiden. Wichtiger noch ist: Wir werden es einmal alle erfahren, wie das mit diesen Briefen historisch, theologisch und literarisch gewesen ist. Das wird ein Staunen geben – so oder so. Nichtsdestotrotz stehen wir vor der Aufgabe, bei der Auslegung des 2. Timotheusbriefs dessen besonderen Charakter zu ergründen, seinen Inhalt vor dem Hintergrund der damaligen historischen Situation und der Theologie des Paulus zu verstehen und damit abzurunden, was wir für 1Tim und Tit bereits vorgelegt haben. Da die Einleitungsfragen bei den sog. „Pastoralbriefen“ von erheblichem Gewicht sind, wir an dieser Stelle aber nicht noch einmal ausführlich, d.h. im Blick auf die Pastoralbriefe insgesamt, darauf eingehen werden,2 sei für Leser, die meine Auslegungen des 1. Timotheus- und des Titusbriefs nicht kennen, auf einige Voraussetzungen hingewiesen, von denen ich ausgehe:3 Das Spektrum der historisch-literarischen Einschätzung der Pastoralbriefe reicht zurzeit von der Annahme ihrer Echtheit (ohne4 oder mit Sekretärshypothesen und mit verschiedenen Einordnungen in die Biographie des Paulus) über Fragmentenhypothesen, die Annahme pseudepigraphischer Entstehung mit „positiver“5 oder „negativer“ Absicht6 oder bewusster Fälschung mit Täu2 Die grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Argumenten findet sich in meinem Kommentar zum 1. Timotheusbrief in dieser Reihe: H.-W. Neudorfer, Der erste Brief des Paulus an Timotheus, HTA, Witten 22012, 7-19. Darauf und auf den Titus-Kommentar (Witten, 2012) wird im Zuge der Kommentierung gelegentlich verwiesen. 3 Ein guter, systematisierender Überblick über verschiedene Hypothesen findet sich bei Marshall 72 sowie bei Luttenberger, Prophetenmantel, in dessen erstem Kapitel. 4 Prior, Paul, 50, vertritt die nicht ganz abwegige Meinung, nur die Pastoralbriefe seien eigenhändige Paulus-Briefe; zum 2. Timotheusbrief s. S. 84.89f. J. Murphy-OʼConnor, 2 Timothy contrasted with 1 Timothy and Titus, Révue Biblique 98, 1991, 403-418, meint, 1Tim/Tit seien von einem anderen Verfasser, 2Tim aber von Paulus selbst. 5 Weiser 61: „Die Region von Ephesus wird weiterhin als Entstehungsmilieu am ehesten zu vermuten sein …“ – zum Entstehungsmilieu S. 62f: Hochschätzung des Paulus, heidenchristlich, Bildung, hellenistisch-jüdische Einflüsse, früh gnostisierende Irrlehrer; Zeit der Entstehung (S. 63): um 100. Nach S.G. Wilson. Luke and the Pastoral Epistles, London 1979 (Zusammenfassung S. 136-143), und J.D. Quinn. The Last Volume of Luke: The Relation of Luke-Acts to the Pastoral Epistles, in: C. Talbert, Perspectives on Luke-Acts, Macon 1978, 37-44, stammen die Past von Lukas, sind aber erst nach dem Tod des Paulus verfasst. Oberlinner 3f: Die Past sind ein „Textcorpus aus der Hand eines einzigen Autors“. Vgl. auch allgemein E.J. Schnabel, Paul, Timothy, and Titus: The Assumption of a Pseudonymous Author and of Pseudonymous Recipients in the Light of Literary, Theological, and Historical Evidence, in: J.K. Hoffmeier / D.R. Magary (Hg.). Do Historical Matters Matter to Faith? A Critical Appraisal of Modern and Postmodern Approaches to Scripture. Wheaton 2012, 383-403.
Einleitung
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schungsabsicht7 bis zum Briefroman, der auf anschauliche Weise die (fromme) Neugier nach dem an Apg 28 anschließenden Lebenslauf des Paulus darstellen wolle.8 Die Gründe für und gegen Echtheit, Pseudepigraphie und Fälschung sind oft genug genannt, diskutiert und jeweils gegenseitig zurückgewiesen und (aus Sicht der jeweiligen Verfasser) widerlegt worden durch historische, sprachliche, literarische, theologische oder andere Argumente.9 Es ist müßig, sie hier noch einmal zu wiederholen. Es geht uns ja weniger um Auseinandersetzung mit Modellen als darum, selbst ein einleuchtendes, ein vielleicht sogar überzeugenderes Modell vorzulegen, wie man sie als „echte“ Briefe verstehen kann. Wie ausführlich in den Einleitungen und Auslegungen dieser beiden Kommentare dargelegt und begründet, betrachte ich die „Pastoralbriefe“ bei allen Ähnlichkeiten als drei zwar vermutlich innerhalb eines nicht allzu großen Zeitraums entstandene, aber doch je für sich, vor einem je konkreten historischen Hintergrund und in eine je konkrete Situation hinein geschriebene, eigenständige Briefe.10 Die fraglos vorhandenen Ähnlichkeiten resultieren vor allem aus ihrer zeitlichen Nähe zueinander und darüber hinaus vielleicht daraus, dass sie dieselbe Person (Lukas?) im Auftrag des Paulus geschrieben haben könnte. Es ist selbstverständlich im Rahmen eines Systems möglich, m.E. aber nicht objektiv. wahrscheinlich zu machen, dass sie von vorn herein 6 Hasler 9: „Der Verfasser der drei Pastoralbriefe gehört der gebildeten Welt an und verfügt über eine leitende Stellung, die er nicht auf eine Gemeinde beschränken will. Unter Berufung auf Paulus beansprucht er eine apostolische Autorität über mehrere Gemeinden in Griechenland und im Westen von Kleinasien.“ 7 Marco Frenschkowski. Pseudepigraphie und Paulusschule. Gedanken zur Verfasserschaft der Deuteropaulinen, insbesondere der Pastoralbriefe. in: F. W. Horn (Hg.). Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte. BZNW 106, Berlin / New York 2001, 239-272, schreibt, es handle sich um „bewusste und planmäßig durchgeführte Täuschung“ (Beleg 251). 8 Glaser, Timo. Paulus als Briefroman erzählt. Studien zum antiken Briefroman und seiner christlichen Rezeption in den Pastoralbriefen, NTOA/StUNT 76, Göttingen 2009. 9 Wir haben uns in den Einleitungen zu den Kommentaren zum 1Tim und Tit bereits in dem beschriebenen Sinn mit dem Thema beschäftigt. Sprachliche Unterschiede sind demnach kein Grund für die Annahme von Pseudepigraphie. Darüber hinaus sei auf aktuellere Veröffentlichungen hingewiesen. Luttenberger, Prophetenmantel, 43, schreibt: „Abweichungen vom paulinischen Stil können auf diesem Hintergrund eher als Ausweis der Authentizität der Past denn als Belege für die Absichten eines Fälschers verstanden werden.“ Vgl. auch C. Looks. Das Anvertraute bewahren. Die Rezeption der Pastoralbriefe im 2. Jahrhundert. Münchner theologische Beiträge 1999, 34-37. 10 Dazu Deissmann 198: „Die Paulusbriefe sind nicht literarisch; sie sind wirkliche Briefe, keine Episteln; sie sind von Paulus nicht für die Öffentlichkeit und die Nachwelt geschrieben, sondern für die Adressaten. Fast alle Missgriffe der Paulusforschung überhaupt erklären sich aus der Nichtbeachtung des unliterarisch-brieflichen Charakters der von Paulus stammenden Texte.“
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2. Timotheusbrief
als eine literarische Einheit verfasst wurden und gemeint sind.11 Dafür tritt das Profil der jeweiligen Situation, das sich auch in einer auf die jeweiligen Leser angepassten Sprache (und theologischen Akzentuierung) ausdrückt, zu deutlich hervor und lässt sich bei der Exegese auch zeigen.12Zudem erscheint gerade 2Tim als ein ziemlich „planloser“, d.h. als ein eher von spontanen Assoziationen, Einfällen und Erinnerungen als von einem durchgehenden, gar noch die beiden anderen Pastoralbriefe einbeziehenden Konzept getragener Text. Für Otto Michel war „das entscheidende Problem der Pastoralbriefe […] nicht eigentlich das der Echtheit, sondern das der Hellenisierung der Verkündigung.“13 Konkret nennt er als Beispiele, die den 2. Timotheusbrief betreffen, die Bezeichnung des Evangeliums als „gesunde Lehre“ (87),14 die Tendenz des Verständnisses von „Wahrheit“,15 sowie „verschiedene gottesdienstliche Anordnungen“.16 Trifft das so zu? Oder beobachten wir in den Pastoralbriefen besonders auffällig einen Vorgang, den man im 20. Jh. als „Enkulturation“ oder „Kontextualisierung“ bezeichnet hat und der im Kern nichts anderes meint als den Versuch, die alte und von Denkweise, Lebensgefühl, Bildung und Kultur her betrachtet inzwischen fremd gewordene Botschaft so mitzuteilen, dass die Hörer bzw. Leser sie auch verstehen und als Folge annehmen können? Damit stellt sich damals wie heute immer sofort die Frage nach den Grenzen solcher Enkulturation. Sie werden dort überschritten, wo wesentliche Inhalte der urchristlichen Botschaft verloren gehen. Es muss also gefragt werden, ob das im 2. Timotheusbrief geschieht. Ein Merkmal könnte sein, wenn im griechisch-hellenistischen Kontext solche atl.-jüdischen Wurzeln, Hinter-
11 Vgl. dazu jetzt die Untersuchung von M. Engelmann, Drillinge, die zeigt, dass es sich um drei je für sich entstandene und zu lesende Texte handelt. Bei dieser Herangehensweise darf aber nun „das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet“ werden: Die drei Briefe hängen zeitlich, von den Adressaten, aber auch von ihren Inhalten und der Art, wie sie verfasst wurden, auch wieder zusammen. Dass Engelmann, Drillinge, die Frage nach der Verfasserschaft anders als wir beantwortet, ändert nichts an den wertvollen Ergebnissen ihrer Arbeit. Vgl. außerdem Luttenberger, Prophetenmantel. In diese Richtung äußert sich schon länger R. Fuchs, z.B. in seinem Buch über „Unerwartete Unterschiede. Müssen wir unsere Ansichten über die Pastoralbriefe revidieren?“, Wuppertal 2003. 12 Vgl. auch dazu parallel die Auslegungen von 1Tim und Tit. 13 O. Michel. Grundfragen der Pastoralbriefe, in: Auf dem Grunde der Apostel und Propheten, Festgabe für Landesbischof D. Theophil Wurm, Hg. V. M. Loeser. Stuttgart 1948, 83-99;83. Michels Schüler M. Hengel hat sich ein Leben lang mit diesem Thema des Hellenismus beschäftigt. 14 „Man darf also das Evangelium nicht nach der ‚gesunden Lehre‘ deuten, sondern muß umgekehrt die ‚gesunde Lehre‘ als eine Umschreibung des Evangeliums ansehen.“ 15 A.a.O. 87f. 16 A.a.O. 89f.
Autor und Adressat
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gründe und Formen abgestreift werden, die wesentlich mit dem Kern der Botschaft verbunden, ja für sie mit konstitutiv. sind.
1. Autor und Adressat Der Briefeingang nennt Paulus, den Apostel, als Verfasser des Briefs, und seinen ihm nahestehenden Mitarbeiter Timotheus als Empfänger. Was wissen wir über diese Personen? 1. Über Paulus sind Bücher geschrieben worden. Um ein knappes Bild von ihm zu bekommen, müssen wenige Striche reichen: Mit dem traditionell-hebräischen Namen [ ָשׁﬡוּﬥScha’ul], der an Israels ersten König erinnert, ist er vermutlich um die oder bald nach der Zeitenwende als Sohn eines jüdischpharisäischen Ehepaars in der kilikischen Kultur- und Handelsstadt Tarsus geboren.17 Schon sein Vater, ein Freigelassener (?), der zum israelitischen Stamm Benjamin gehörte, besaß offenbar das Bürgerrecht der Städte Tarsus und Rom.18 Paulus wuchs in dem weltoffenen Tarsus auf, erlernte den Beruf eines Zelttuchmachers, ging später zur weiteren Ausbildung zum Schriftgelehrten nach Jerusalem, wo Rabban Gamaliel der Ältere, nach (späteren) jüdischen Quellen seinerseits wohl ein Schüler oder gar Nachkomme des eher liberal eingestellten Hillel,19 sein Lehrer war (Apg 22,3; vgl. auch 5,34-40). Das Ergebnis dieses Werdegangs war, dass er sich als „Eiferer für Gott“ (Apg 22,3) bezeichnete, der mit Jesus von Nazareth und der sich auf ihn berufenden innerjüdischen messianischen Bewegung überhaupt nicht einverstanden war. Mit Genugtuung wirkte er deshalb mindestens formal am Prozess gegen und der Hinrichtung von Stephanus mit (Apg 7,58; 22,20). Bereitwillig stellte er sich in den Dienst der Jerusalemer Religionsbehörde, die Christen aufspüren, kalt stellen und beseitigen ließ. Auf der Reise nach Damaskus erlebte er eine Lebenswende, bei der er dem erhöhten Jesus begegnete und in seinen Dienst als Heidenmissionar berufen wurde.20 Dieser Aufgabe stellte er sich mit ganzer Hingabe (1Kor 9,16) und mit ganzem Einsatz seiner Person, wie seine Briefe zeigen. Die Apg, von dem zeitweisen Paulus-Begleiter Lukas aus der 17 Vgl. Riesner, Frühzeit, 191. 18 Waldstein/Rainer, Rechtsgeschichte, 26 (§4.5): „Sklaven wurden durch Freilassung offenbar bereits zur Zwölftafelzeit römische Bürger.“ Zum röm. Bürgerrecht des Paulus vgl. auch den Exkurs in Riesner, Frühzeit, 129-139, sowie die ausführlichen Darstellungen von Omerzu, Prozeß, 17-52. 19 Vgl. R. Deines, Art. Gamaliel, CBL I,395 (dort Belege). 20 Nach Scriba 165 war das im Jahr 30, wahrscheinlicher nach Riesner, Frühzeit, 63.286 31/ 32.
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2. Timotheusbrief
Gemeinde in Antiochia am Orontes, die ihn ausgesandt hatte, verfasst, berichtet von drei Missionsreisen des Scha’ul, der schon recht bald nur noch unter dem griechisch-römischen Namen „Paulus“ firmierte. Sie führten ihn nach Zypern und ins südliche Kleinasien, dann zweimal über Kleinasien hinaus nach Makedonien und Griechenland bis nach Athen und Korinth. In Jerusalem von römischen Truppen in Schutzhaft genommen, um ihn vor massiven Angriffen jüdischer Fanatiker zu schützen, wurde der Apostel im Rahmen eines Gerichtsverfahrens21 gegen ihn auf dem Seeweg nach Rom gebracht, weil er als römischer Bürger von seinem „Provokationsrecht“22 Gebrauch gemacht und sich auf Kaiser Nero als für ihn letztlich zuständige „Instanz“ berufen hatte. Die Frage ist, ob er angesichts der (aus römischer Sicht) Geringfügigkeit seines Vergehens nicht auch darauf hätte verzichten können.23 Dort traf er im Jahr 60 ein24 und wurde unter persönlicher Bewachung durch einen Legionär zwei Jahre lang in „leichter Haft“ (Hausarrest) gehalten. Mit dieser Situation endet der Bericht des Lukas. Das „Verdienst“ des Apostels Paulus besteht darin, dass er gegen zum Teil massiven Widerstand judenchristlicher oder dem Judentum nahestehender heidenchristlicher Opponenten die Einsicht durchgesetzt hat, der Weg zu Gott führe für den Nichtjuden nicht über die Zugehörigkeit zum jüdischen Bundesvolk, also über Beschneidung und Gesetzesobservanz, sondern über Jesus Christus allein. Menschliche Taten wirken bei der Rechtfertigung nicht mit. Sie erfolgt aus Gottes Gnade und wird vom Menschen vertrauensvoll und dankbar angenommen. 2. Über Timotheus findet sich einiges in der Einleitung zur Auslegung des 1Tim.25 Er stammte wohl aus Lystra (Reste heute in der Nähe von Khatyn Serai) in Lykaonien und war der Sohn eines Heiden und einer Jüdin (Apg 16,1), hat also eine hellenistische Erziehung mit beträchtlicher jüdischer Ein-
21 Vgl. dazu: Omerzu, Prozeß. 22 Vgl. hierzu: Waldstein/Rainer, Rechtsgeschichte, 58f (§12.3). 23 Anders sieht das Omerzu, Prozeß, 507f, die den lukanischen Bericht grundsätzlich für zuverlässig hält: Festus habe den Apostel „wegen Unruhestiftung“ zum Tode verurteilt, dieser habe daraufhin von seinem Provokationsrecht Gebrauch gemacht und sei nach Rom gebracht worden, wo Nero etwa 62 das Urteil des Festus bestätigt habe. Vorher schreibt sie allerdings (487): „Die Appellation an den Kaiser ist lediglich die notwendige Konsequenz aus der Einsicht des Paulus in das Unvermögen des Statthalters“ und (490): „ein eigentliches Urteil wurde hingegen durch Festus noch nicht gesprochen.“ Paulus habe also etwas getan, was „in der frühen Kaiserzeit … formalrechtlich … kein Problem dar[stellte]“, denn er legte „gegen einen Zwischenbescheid Berufung ein“ (ebd.). 24 Riesner, Frühzeit, 201.286; Scriba 167. 25 Neudorfer, 1Tim, 19-21; ausführlicher informiert H. von Lips. Timotheus und Titus. Unterwegs für Paulus. Biblische Gestalten 19, Leipzig 2008.
Autor und Adressat
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flussnahme genossen.26 Als Paulus den jungen Mann auf der zweiten Missionsreise traf (Apg 16,1-3), war er wohl schon Christ27 und wurde nun Begleiter und Mitarbeiter des Apostels (2Kor 1,19), in dessen Auftrag er unterwegs war (1Kor 4,17; 16,10; Phil 2,19; 1Thess 3,2.6). Als Grüßenden (Röm 16,21) und sogar als Mitautor einiger Briefe des Apostels (2Kor 1,1; Phil 1,1; Kol 1,1; 1Thess 1,1; 2Thess 1,1; Phlm 1) begegnet er uns. Eine engere Beziehung scheint zu der Gemeinde in Ephesus entstanden zu sein. Dortige Verhältnisse hat der 1Tim wohl im Blick.28 Wie Paulus selbst war auch Timotheus von manchen Seiten angegriffen, etwa wegen seines Alters, vielleicht auch wegen seiner Autorität. Er konnte das nicht so leicht wegstecken wie Paulus, war eher ein weicherer Charakter. Der Apostel konnte, wie wir zeigen werden, nicht wirklich sicher sein, dass Timotheus seine Aufträge auch in seinem Sinne ausführen würde. Ihn darin zu stärken, ist ein Zweck des 2. Timotheusbriefs. Überdies ruft ihn der Apostel zu sich nach Rom, vielleicht weil er ihm noch Instruktionen für das Verhalten nach seinem erwarteten Tod geben will. Welche Rolle Timotheus über dieses Ereignis hinaus gespielt hat, ist unklar. Er wird von Eusebius als „Bischof von Ephesus“ genannt und in den katholischen und orthodoxen Kirchen als Heiliger verehrt, dessen Gedenktag am 22./24. Januar begangen wird.29 Historisch wissen wir aber nicht mehr über sein weiteres Leben. Später entstandene Überlieferungen, nämlich die vielleicht ins 4. Jh. zu datierenden „Timotheusakten“, berichten von seinem Märtyrertod im Zusammenhang mit seinem mutigen Widerstand gegen ein heidnisches Fest in Ephesus während der kurzen Regierungszeit von Kaiser Nerva (96–98 n.Chr.). Das bedeutet umgekehrt, dass er die Verfolgungen unter Kaiser Domitian jedenfalls lebend überstanden haben müsste. 3. Was wissen wir über die Situation in Ephesus um die Mitte der 60erJahre?30 Die ionische Stadt hatte im 1. Jh. immerhin geschätzte 200 000 Einwohner.31 Das verheerende Erdbeben des Jahres 23 n.Chr. zwang zu umfangreichen Neubau- und Sanierungsmaßnahmen, die (nach einer Pause unter Kaiser Claudius) unter Nero fortgesetzt wurden. 62/63 n.Chr. baggerte man die Zufahrt zum Hafen aus und schaffte dadurch bessere Bedingungen für den Transport von und Handel mit Waren von und nach Kleinasien, auf dem neben 26 27 28 29 30
Towner 36. Anders sieht das z.B. Lips, a.a.O. 86f . Neudorfer, 1Tim, 21-25. Eusebius, HistEccl 3,4,5; Lips, a.a.O. 209. Ausführlich dazu E. J. Schnabel, Art. Ephesus, CBL 1,296-299; Thiessen, Ephesus, und Trebilco, Ephesus. 31 Schnabel, a.a.O. 298.
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ihrer Attraktivität als Pilgerort (Artemision) der Wohlstand der Stadt hauptsächlich beruhte.32 Und das Christentum? Zunächst wissen wir: Paulus war nicht der Erste, der die Jesusbotschaft nach Ephesus trug. Schon vor ihm hatte Apollos, ein Jude aus Alexandria, dort missionarisch gearbeitet (Apg 18,2428). Thiessen betont „seine pneumatische Auslegung des Alten Testaments“33 und den christologischen Akzent seiner Verkündigung in der Synagoge.34 Freilich befand sich sein Wissen über wesentliche christliche Glaubensinhalte nicht auf aktuellem Stand, weshalb das Ehepaar Aquila (griech. Akylas) und Priska ihn zu sich nahmen und ihm ein Update gaben. Dazu gehörte sehr wahrscheinlich auch das Taufverständnis, das sich inzwischen von dem des Täufers Johannes (Umkehrtaufe) zu dem Jesu und des Paulus (Heilstaufe) gewandelt hatte. Es war auch dieselbe Tauffrage, die beim Erscheinen des Paulus in der Stadt (um 52) zum Thema zwischen ihm und den wenigen dort vorhandenen Christen wurde (Apg 19,1-7). Nach der Darstellung des Lukas wurde der Apostel mit seinem Auftreten in der Stadt aber zum „Frontmann“ der kleinen Gemeinde. Die Ereignisse sind bekannt: der missionarische Misserfolg in der Synagoge, die Erfolge bei Juden und Heiden, die (möglicherweise erst gegen Ende der Zeit des Paulus in Ephesus) zum Konflikt führende Gegnerschaft des Silberschmieds Demetrius, der vorgab, Paulusʼ Arbeit beschädige das Ansehen und die Verehrung der in der Stadt besonders geschätzten Artemis/Diana, deren „Wallfahrtsort“ Ephesus war. Der Besonnenheit des „Kanzlers“ (so die Lutherbibel für γραμματεύς [grammateus]; gemeint ist wohl ein hoher städtischer Beamter) ist es zu verdanken, dass die Situation für Paulus und seine Freunde noch einmal glimpflich ausging.35 Das war irgendwann im Laufe seiner längeren Verweildauer in der Stadt wohl nicht mehr so, denn in dem vermutlich um das Jahr 54 aus Ephesus geschriebenen 1Kor spricht der Apostel davon, er habe dort „mit wilden Tieren gekämpft“ (ἐθηριομάχησα [ethēriomachēsa]). Die Ausleger streiten, ob es sich tatsächlich um eine damnatio ad bestias gehandelt haben kann. Wer dies bejaht, muss erklären, warum ein römischer Bürger dazu verurteilt wurde und – mehr noch! – wie er die Zeit in der Arena überleben konnte. Deshalb gehen sehr viele Ausleger davon aus, die Aussage müsse im übertragenen Sinn verstanden werden, nämlich von ernsthaften Anfechtungen oder Anfeindungen. Schnabel denkt an „eine[.] lebensbedrohliche[.] Gefahr oder Krankheit“ oder 32 33 34 35
Ebd. Thiessen, Ephesus, 54. A.a.O. 54f. Trobisch, Entstehung, 129, hält Ephesus sogar für den Ort, in dem während der langen Anwesenheit des Paulus eine erste Sammlung seiner Briefe entstanden ist.
Autor und Adressat
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„im Sinn des Kampfes gegen die Fleischeslust“.36 Immerhin mutmaßt Omerzu, „ein bereits länger schwelender Konflikt mit Juden der Asia“ habe „schon früher zu einer mehrjährigen Haft des Paulus in Ephesus geführt“.37 Wir nähern uns dem angestrebten Zeitpunkt (Mitte der 60er-Jahre), indem wir zur Kenntnis nehmen, dass der Apostel auf der Rückreise von Griechenland im Zuge der dritten Missionsreise aus Gründen, die wir nur vermuten können,38 Ephesus ausließ, aber die Leiter der dortigen Gemeinden etwa 56/57 zu einem (wie er Apg 20,25 meinte: letzten) Gespräch nach Milet kommen ließ (Apg 20,17f).39 Lukas nennt sie Apg 20,17 πρεσβύτεροι [ presbyteroi „Älteste“; vgl. 1Tim 5,17], Paulus spricht 20,28 von ihnen als von ἐπίσκοποι [episkopoi „Bischöfe“; vgl. 1Tim 3,2]. Jedenfalls geht es um eine Mehrzahl gemeindeleitender Personen. Die Vermutung liegt nahe, dass es in der Metropole Ephesus auch schon in den 60er-Jahren nicht nur eine christliche Gemeinde gegeben haben wird.40 Der Epheserbrief, der zwar nicht nur, aber eben doch auch die Gemeinden in Ephesus im Blick hat, zeigt die bleibende Verbundenheit des Apostels mit dieser nicht von ihm gegründeten, aber doch stark beeinflussten Gemeinde. Als Gefangenschaftsbrief könnte er von Philippi, Jerusalem, wahrscheinlicher aus Cäsarea oder der ersten römischen Haft geschrieben sein. R. Fuchs hat ihn auch mit Blick auf die Pastoralbriefe ausgewertet.41 So bleiben uns lediglich die beiden Briefe an Timotheus für den Versuch, die historische Situation in der Stadt zu ermitteln. Für die spätere Zeit ist die Verbindung des Apostels Johannes mit Ephesus zu beachten. 4. Wer hat 2Tim geschrieben? Die Situation des Apostels im Gefängnis erforderte und ermöglichte das, was in ntl. Zeit jeder tat, der es sich leisten konnte: die Inanspruchnahme eines Sekretärs, der den Brief im Auftrag des 36 Schnabel, 1Kor 948; ähnlich argumentiert Riesner, Paulus, 189f, der ebenfalls von einer Gefangenschaft in Ephesus ausgeht (a.a.O. 19.190). 37 Omerzu, Prozeß, 324-331.506 (Zitat). Nach ihrer Meinung wusste Lukas von dieser Haft, hat sie aber in der Apg absichtlich nicht erwähnt, u.a. weil er Haft und Prozess in Ephesus „nicht in einen Sieg des Apostels verwandeln konnte“ (331). Ähnlich denkt auch Thiessen, der seine Beobachtungen aus verschiedenen Paulusbriefen S. 139f zusammenfasst. 38 Vgl. dazu Riesner, Frühzeit, 193. 39 Ob er damit recht behielt, ist nicht deutlich. In der Auslegung von 1Tim 1,3 hatten wir für möglich gehalten, dass Ephesus eine Station seiner Reise in den östlichen Mittelmeerraum nach der Spanienreise war, wobei er Timotheus dann dort zurückgelassen hätte (Neudorfer, 1Tim, 31.56). 40 Eusebius, HistEccl 3,4,5 nennt Timotheus ἐπίσκοπος. Die Timotheus-Akten sprechen für die Zeit unmittelbar nach dem Tod des Timotheus im Plural von ἀρχιερεῖς [archiereis] „Erzbischöfen“, die den Apostel Johannes gebeten haben sollen, die Nachfolge des Timotheus zu übernehmen (Lips, Timotheus, 162 mit Anm. 31; H. Usener. Acta S. Timothei. Bonn 1877). 41 Fuchs, I Kneel, 1&2.
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Verfassers formulierte.42 Sie erforderte einen Sekretär, weil die Haftbedingungen (Ketten, „Stock“ u.a.) es kaum zuließen, dass der Gefangene persönlich zu Feder und Papyrus griff. Sie ermöglichte es, da sicher ist, dass Gefangene durchaus Besucher empfangen konnten. Weil Paulus selbst Lukas als ihm allein verbliebenen Mitarbeiter nennt (2Tim 4,11) und wir wissen, dass Lukas Schriftsteller und Historiker war, spricht sehr viel für ihn als Schreiber des 2Tim, aber auch der beiden anderen Pastoralbriefe.43 Hat Paulus ihm lediglich grobe Anweisung gegeben, was er schreiben soll? Oder hat er ihm Wort für Wort diktiert? Der Charakter des Briefes mit seinen vielen Schwankungen zwischen Optimismus und Pessimismus, zwischen thematischen und persönlichen Abschnitten legt es eher nahe, an ein spontanes Diktat zu denken, wenn auch die äußeren Bedingungen das schwierig erscheinen lassen. Vielleicht hat Lukas sich nach Art professioneller Sekretäre auf Wachstäfelchen notiert, was Paulus äußerte, und es dann außerhalb des Gefängnisses ins Reine geschrieben. Dieser Vorgang würde dem damals üblichen Standard entsprechen.44 5. Was ging in Autor und Adressat vor, als der Brief geschrieben bzw. erstmals gelesen wurde? Paulus kannte Timotheus, seine Stärken und Schwächen, seit mehr als einem Jahrzehnt sehr gut. Er konnte bei ihm von der Erziehung durch Mutter und Großmutter das Grundwissen eines gebildeten, frommen Juden voraussetzen, musste aber auch die Prägung durch den offenbar heidnisch gebliebenen Vater und die hellenistische Umwelt berücksichtigen. Sicher war Paulus über die Konsequenzen informiert, die sein etwa zwei Jahre zuvor geschriebener, diesen gegenüber der Gemeinde in Ephesus autorisierender Brief an Timotheus (1Tim) bewirkt oder auch nicht bewirkt hatte. Aus dem 2. Timotheusbrief geht lediglich hervor, dass die Antipoden des 1Tim nicht völlig von der Bildfläche verschwunden sind: Hymenäus taucht nach 1Tim 1,20 in 2Tim 2,17 erneut auf. Hatte sich Timotheus in Ephesus bewährt? Mit leisem Zweifel und der Absicht unterlegt, ihn zu ermutigen, beantwortet Paulus diese Frage im 2Tim positiv. Immerhin ruft er Timotheus zu sich und nicht Titus. Dieser wurde von Paulus eher flexibel eingesetzt (Korinth, Kreta, Dalmatien) – „projektbezogen“ würden wir sagen. Timotheus dagegen blieb eher ortsfest in der Provinz Asia und ihrer Hauptstadt Ephesus. Mit Sorge wird der Apostel die Entwicklungen in der Weltpolitik (d.h. die charakterlichen Veränderungen in der Person von Kaiser Nero und die daraus 42 Zu dem Thema „Sekretär“ auch hier der Hinweis auf E. Randolph Richards, The Secretary in the Letters of Paul, WUNT II/42, Tübingen1991, bes. S. 23-53. 43 In der Auslegung von 1Tim und Tit hatte ich immer wieder darauf hingewiesen und die Annahme konkretisiert. 44 Mehr dazu bei Millard 21-25 (dort weitere Literaturhinweise).
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resultierende politische Instabilität des Römischen Reichs sowie die damit zusammenhängende „Patriotisierung“ und das Wiedererwachen der jüdischen Freiheitssehnsucht mit dem Ausbruch des Aufstands im Jahr 66 und seine Folgen) beobachtet und sich Gedanken über die Zukunft der (heiden-)christlichen Gemeinden gemacht haben. Nachdem sich die sog. „Naherwartung“ der Wiederkunft Jesu, wie sie in den frühen Gemeinden vorgeherrscht und auch Paulus sie vertreten hatte,45 so nicht erfüllt hatte, ergab sich ein bisher von ihm wenig beachtetes Problem: Wer war von Herkunft, Biographie, Theologie und Charakter geeignet, seine Rolle als zuverlässiger Tradent christlichen Glaubens, als geistlich-theologische Autorität, als Networker und Organisator zu übernehmen? Timotheus andererseits war durch seine doppelte Prägung (heidnisch und jüdisch) beeinflusst. Sein Schritt zum Christentum, ganz im Sinne seiner Mutter und Grußmutter, wird aus Überzeugung erfolgt sein. In Paulus sah er sicher seinen Lehrer und sein Vorbild, dem er vertraute, die Autorität, die ihn für Jesus in Dienst genommen und eingesetzt hatte. Er kannte – darüber besteht kein Zweifel – dessen Theologie ganz genau und ließ sich von ihm einsetzen. Persönlich bekannt und vertraut war Timotheus dadurch nicht nur mit dem Arbeits- und Leitungsstil des Apostels, sondern auch mit den anderen Mitarbeitern und dem heidenchristlichen Netzwerk, besonders in den Gemeinden der Provinz Asia. In deren Hauptstadt Ephesus war seine Position mindestens vor dem 1Tim alles andere als stark. Es kostete ihn Anstrengung, sich gegen konkurrierende Strömungen in der Gemeinde durchzusetzen, ohne allzu viel Scherben zu erzeugen. Von Typ und Charakter her scheint er eher ein unsicherer, vermittelnder, sich um Integration bemühender Mensch gewesen zu sein als ein Machtmensch oder eine Gründergestalt, eher zögerlich, zurückhaltend und ängstlich als mutig und selbstbewusst, mit einem Wort: ganz anders als Paulus. Die Unterstützung durch den Apostel kam ihm sicher ganz recht, seine konkreten Empfehlungen (z.B. die, sich nicht auf Diskussionen mit den Gegnern einzulassen 2,14.23) stärkten ihn, die Auseinandersetzungen auf eine Art zu führen, die ihm lag. Es ist nicht sicher zu erkennen, was ihn davon abhielt, zu Paulus nach Rom zu reisen. Die Auslegung wird auf diesen Punkt an einigen Stellen Licht werfen.
45 Zur Naherwartung bei Paulus vgl. auch 1Thess 4,15 und 1Kor 15,50f sowie zu dieser Stelle die mit Recht relativierenden Ausführungen von Schnabel, 1Kor, 981f.
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2. Timotheusbrief
2. Geschichtliche Situation, Ort und Zeit der Abfassung46 Kaiser Nero hatte nach den ersten, positiven Regierungsjahren durch seine künstlerischen Eskapaden und durch Veränderungen in seiner Persönlichkeit mehr und mehr den Kontakt zur politischen Wirklichkeit und damit zugleich Ansehen, Einfluss und Macht verloren. Von Herbst 66 bis zum Frühjahr 68, also in der nach unserer Auffassung für den 2. Timotheusbrief relevanten Zeit, hielt er sich zu einer Theatertournee und Kulturreise in Griechenland auf. Die Schwächung der politischen Zentralgewalt hatte u.a. zur Folge, dass im Jahr 66 zunächst in Caesarea maritima (Cäsarea am Meer) der erste jüdische Aufstand losbrach, über den Flavius Josephus ausführlich berichtet. Dass sich die Aufständischen insgesamt fast sechs Jahre lang halten konnten, lag auch am desolaten Gesamtzustand des römischen Imperiums und seiner Provinzen. In den folgenden beiden Jahren kündigten nämlich Provinzstatthalter in Gallien, Spanien, Lusitanien (Portugal) und Afrika dem Kaiser die Gefolgschaft. Nero kehrte im Frühling 68 zunächst nach Rom zurück, das er dann fluchtartig wieder verließ. Sein Selbstmord erfolgte im Juni 68, nachdem der Senat ihn zum Tode verurteilt hatte.47 Die Jahre 66 bis 68 waren bewegte, instabile Jahre, die sich auf ohnehin politisch Verdächtige wie den Juden Paulus negativ. auswirken mussten.
46 Es ist in unserem Zusammenhang wenig sinnvoll aufzulisten, wie sich die Vertreter einer nichtpaulinischen Abfassung des Briefs die geschichtliche Situation, Ort und Zeit der Abfassung vorstellen. Grundsätzliches dazu findet sich in der Einleitung des Kommentars zum 1Tim. Dagegen ist eine Übersicht über die Bandbreite der Meinungen von Vertretern der Echtheit interessant: Verfasser Datierung Ort J.A.T. Robinson (1976) Herbst 58 Cäsarea R. Fuchs (2014) ca. 60 Rom S. de Lestapis (1976) 61 oder wenig später Rom J. van Bruggen (1981) (1.) Haft – vor 63 Rom M. Prior (1989) 1. Haft Rom J. Jeremias (1981) Herbst 63 unterwegs nach Jerusalem? J.H.D. Kelly (1963) 63 oder 65/66 Rom G.W. Knight III (1992) 64–67 Rom P.H. Towner (1994) um 65 Rom G.D. Fee (1995) 2. Haft Rom 47 Vgl. zu diesen Vorgängen B. Reicke. Neutestamentliche Zeitgeschichte. Die biblische Welt von 500 v.Chr. bis 100 n.Chr. Berlin / New York 31982, 243f.
Geschichtliche Situation, Ort und Zeit der Abfassung
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2.1 Die Hintergründe Das Letzte, was wir über Paulus in der Apg erfahren, ist sein Aufenthalt in Rom. Es ist ein Akt der Ehrlichkeit, zunächst einmal festzustellen: Wir wissen wirklich wenig. Aufmerksamen Lesern wird auf unserem Weg durch den 2. Timotheusbrief das häufige „vielleicht“, „vermutlich“, „wahrscheinlich“, „offenbar“, „wohl“ und die gelegentlichen Hinweise auffallen, dass wir nun im Bereich der Spekulation angekommen seien. Es ist, auch wenn sich der Ausleger einer Sache gewiss ist, ein Gebot wissenschaftlicher Fairness, anzudeuten, dass man das mit Gründen auch anders sehen kann. Nehmen wir aber die (zugegeben spärlichen) Informationen ernst, die der 2. Timotheusbrief selbst, die Apg und die Quellen über die Zustände in Rom in den 60er-Jahren hergeben, so erhalten wir ein unvollständiges Mosaik, dessen Lücken wir nur auf dem Weg von Vermutungen schließen können. Denn leider ist die Quellenlage für die Zeit zwischen dem Ende der Apg (ca. 62), dem Beginn der neronischen Verfolgung (Sommer 64) und der Zeit des 1. Klemensbriefs (Mitte der 90er-Jahre) bzw. der Apologeten ziemlich schlecht.48 Dann erst wird der Strom der christlichen literarischen Überlieferung langsam breiter (Hermas-Hirte um 145; Markion bis etwa 160; Canon Muratori um 180 etc.). Eusebius von Cäsarea,49 dem ersten bedeutenden „Kirchengeschichtler“ seit Lukas, der im 4. Jh. schrieb, und seinem Gewährsmann Hegesipp (ca. Mitte des 2. Jh.s) könne man nicht so recht trauen, wie immer wieder betont wird. Was bleibt, ist also die Auswertung der kanonischen Schriften aus jener Zeit: der Schriften der „Paulus-Schule“, der „JohannesSchule“ etc. Freilich ist deren Datierung und Verfasserschaft umstritten. Insbesondere ist der ganze Komplex „Haft – Prozess – Hinrichtung des Paulus“ historisch schwierig, weil im Grunde nur der 2. Timotheusbrief als Quelle zur Verfügung steht, und deshalb ist dieser Stoff oft nicht eindeutig zu analysieren und infolgedessen umstritten.50 Überschattet wird er von der Frage nach der rechtlichen Grundlage bzw. Vorgehensweise. C. Andresen nennt folgende Alternativen: „1. die röm. Behörden konnten aufgrund der sog. Koerzitionsgewalt der Magistrate nach ihrem Ermessen (Verhaftung bis hin 48 Mit den Worten von Marshall: „It is true that we know so little about the life of the church in the ‚tunnel period‘ from c. AD 70 to AD 100 that it could be argued that the PE might fit in anywhere in this period without serious difficulty“ (Marshall 57). 49 Eusebius bezieht sich in HistEccl 2,22,1-8 auf eine erste und zweite Gefangenschaft des Apostels in Rom, erwähnt explizit den 2Tim und zitiert auch daraus. Nach seinem Bericht (2,22,4) wurde der 2. Timotheusbrief zur Zeit Neros geschrieben. 50 Ausführlich hierzu: Omerzu, Prozeß.
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2. Timotheusbrief
zur Auspeitschung und Tötung) polizeilich gegen die Christen vorgehen (Theod. Mommsen, Ges. Schr. III 3,1907,389-422), 2. Man ging auf dem Wege der außerordentlichen Strafverfolgung (cognitio extra ordinem sc. iudiciorum privatorum) vor. … Es [gemeint ist die cognitio extra ordinem; HWN] kannte das Kaisergericht als Berufungsinstanz, war überhaupt wegen der Konsultationspflicht der Provinzstatthalter ein wichtiges Instrument imperialer Rechtspflege.“51 Es ergeben sich zwei ernsthafte Optionen für den weiteren Weg des Apostels:52 a) Nach Quellen aus dem späten 1. Jh. (1Klem) und dem 2. Jh. (Canon Muratori, Acta Petri etc.) wurde Paulus auf freien Fuß gesetzt, und zwar wegen der erwähnten Geringfügigkeit oder weil die ursprünglichen Kläger, die Jerusalemer Religionsbehörde, es aus Gründen, die wir nicht kennen, versäumten, ihren Forderungen in Rom Gehör zu verschaffen. Deshalb konnte er die in Röm 15,24 geäußerte Absicht, auch in Spanien zu missionieren, in die Tat umsetzen,53 dann die Gemeinden im östlichen Mittelmeerraum teil51 C. Andresen. Geschichte des Christentums I: Von den Anfängen bis zur Hochscholastik. ThW 6. Stuttgart u.a. 1975, 11; man vgl. aber auch die Ausführungen von Omerzu, Prozeß! 52 Nach Abschluss des Manuskripts im Sommer 2015 ist ein wichtiger Beitrag erschienen, auf den hier wenigstens hingewiesen werden soll, weil er eine dritte Option ins Spiel bringt: R. Riesner, Kam Paulus bis Spanien? (Röm 15,18-29; Jes 66,19-20), in: ThBeitr 47, 2016, 92-101. Riesner verarbeitet sowohl altkirchliche wie moderne Literatur. Er schlägt vor, Paulus sei nach dem 1. Prozess in Rom ins nordspanische Taraco (heute Tarragona) ins Exil geschickt worden, weil nichts Handfestes gegen ihn vorlag, die Herrschenden ihn aber als möglichen Unruhestifter vom östlichen Mittelmeerraum auf Dauer fernhalten wollten (S. 100). Dort wäre der Apostel nach relativ kurzer Zeit und etwa, weil er mit dem dort üblichen Kaiserkult in Konflikte geraten war, vor oder in der frühen Phase der Ereignisse nach dem Brand Roms erneut verhaftet, nach Rom gebracht und dort verurteilt und hingerichtet worden (ebd.). Riesners These ist m.E. eine sehr ernst zu nehmende Option, die Beachtung verdient und auch in unser Modell passen würde. Quellengrundlage dafür ist 1Klem 5,1-7 und Canon Muratori Zeile 38f. In der aktuellen Forschung beruft sich Riesner u.a. auf Armand Puig i Tàrrech, Paulʼs Missionary Activity during His Roman Trial. The Case of Paulʼs Journey to Hispania, in: A. Puig i Tàrrech u.a. (Hg.), The Last Years of Paul: Essays from the Tarragona Conference, June 2013, WUNT 352, Tübingen 2015, 469-506. Man beachte auch die übrigen Literaturhinweise bei Riesner! 53 Auch M. Hengel / A. M. Schwemer, Jesus, 602f mit Anm. 9 halten die Spanienreise für wahrscheinlich. Zu der in 1Klem 5,5-7 erwähnten Reise nach Westen vgl. H. Löhr, Zur Paulus-Notiz in 1Klem 5,5-7, in: Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte. Hg. v. F. W. Horn. BZNW 106, Berlin / New York 2001, 197-213. Fazit: Löhr findet in 1Klem „keine Indizien für die Tendenz zur historischen Ausmalung und legendarischen Fortschreibung“ (213). „Die Paulus-Notiz in 1Clem bietet dem Historiker ein gutes Indiz für die Vermutung, Paulus sei über Rom hinausgelangt und durch einen Konflikt mit staatlichen Autoritäten zu Tode gekommen“
Geschichtliche Situation, Ort und Zeit der Abfassung
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weise noch einmal besuchen,54 bevor er – irgendwo dort? Oder schon wieder in der Reichshauptstadt? – vermutlich im Sog des großen Stadtbrands in Rom (19.-26.7.64) erneut inhaftiert wurde, nun vor dem Hintergrund der entstehenden Christenverfolgung unter Nero aber keine Chance auf Freispruch mehr hatte und deshalb unter harten Haftbedingungen in einem römischen Gefängnis auf die entscheidende Gerichtsverhandlung und dann die Hinrichtung wartete. Dies ist die Situation, in der der 2. Timotheusbrief nach dieser ersten Variante entstanden ist.55 Der dafür infrage kommende Zeitraum reicht etwa von 60 bis 67/8 n.Chr. b) Die erwägenswerte Alternative dazu sieht so aus: Paulus wurde nach zwei Jahren Haft in Rom um das Jahr 62 aus uns unbekannten Gründen nicht entlassen. Das bedeutet: Die oben genannten Quellen basieren nicht auf zuverlässigen Informationen, sondern auf Kombinationen der Andeutungen des Apostels selbst, vor allem im Römerbrief, und der Apg sowie anderen im Umlauf befindlichen Nachrichten, die sonst nicht erhalten sind. Er blieb jedenfalls im Gefängnis und wurde (wann? Es legt sich dann die Annahme nahe: bei Ausbruch der Christenverfolgung unter Nero; warum? Einfach weil er ein exponierter Vertreter der Christen war) zum Tode verurteilt und mit dem Schwert hingerichtet. Beide Optionen sind denkbar.56 Die Auslegung der drei Pastoralbriefe hat für mich ergeben, dass am meisten für Option 1 spricht. Paulus würde den 2. Timotheusbrief dann sehr wahrscheinlich im September/Oktober (66 oder) 67 geschrieben haben und irgendwann danach, aber wohl vor dem Juni 68 hingerichtet worden sein. Wenn sein Todestag wirklich, wie in kirchlichen Heiligenkalendern manchmal zu lesen, der 29. Juni wäre, käme als terminus ad quem (spätestmöglicher Termin) für die Abfassung des 2. Timotheusbriefs bei dieser Spätdatierung vermutlich nur
(ebd.). Ähnlich argumentiert Bernd Wander. Warum wollte Paulus nach Spanien? Ein forschungs- und motivgeschichtlicher Überblick. In: F.W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus: historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, BZNW 106, Berlin / New York 2001,175-195:194. 54 In diesen historischen Kontext gehören nach unserer Meinung der 1. Timotheus- und der Titusbrief. 55 Auch hier gibt es einen Variantenreichtum. So plädiert Fuchs, I Kneel, 1,13-22, für eine Ansetzung des Briefs „at the start of the two-year time period (Act 28:30-31), still prior to the first winter, …“ (Zitat S. 20; S. 19 nennt er das Jahr 60). 56 Nicht auszuschließen, aber aus unserer Sicht eher unwahrscheinlich sind Versuche, 2Tim mit einer der früheren Haftzeiten des Paulus in Ephesus (das ausscheidet, wenn 2Tim nach Ephesus gerichtet ist), Cäsarea oder einem anderen Ort in den 50er-Jahren in Verbindung zu bringen.
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2. Timotheusbrief
der Spätsommer oder Frühherbst des Jahres 66 (oder vielleicht noch 67) infrage. Nach dem Tit und dem 1Tim, die nach unserer Auffassung etwas früher geschrieben wurden, folgt der 2. Timotheusbrief als wohl letzter erhaltener Paulusbrief.57 Sein Charakter unterscheidet sich deutlich von den beiden erstgenannten, wo dem „offiziellen“ Adressaten beim Lesen eine konkrete Gemeinde über die Schulter sah, für die sie, wie die Briefgattung (mandatum principis bzw. memorandum)58 zeigt, tendenziell auch bestimmt gewesen waren: Sie sollten den Auftrag von Timotheus in Ephesus bzw. Titus auf Kreta umreißen und ihrem Handeln Kompetenz und Autorität verleihen – nämlich die Autorität des Apostels Paulus – und auf indirektem Wege Leben, Glauben und Strukturen in den Gemeinden beeinflussen. Dies trifft für den 2Tim so nicht (mehr) zu. Paulus sieht das Ende seines Lebens und seiner Tätigkeit als Missionar und Gemeindeleiter vor sich und möchte seinem wichtigsten verbliebenen Mitarbeiter Timotheus für die Zeit nach seinem Tod Hilfestellungen geben.
2.2 Die aktuelle Situation Von einem „ruhigen und stillen Leben“, von dem Paulus noch im 1Tim als durch eigenes Verhalten erreichbares Ziel schrieb, kann in der Situation, in der der 2. Timotheusbrief entstanden ist,59 offenbar nicht mehr die Rede sein. Die Lage hat sich, wie wir auch im Zuge der Auslegung sehen werden, stark verändert. Diese Veränderung betrifft zunächst nicht so sehr die Verhältnisse innerhalb der christlichen Gemeinden, sofern sie nicht im Land Israel beheimatet waren. Interne Kämpfe, Gegner, „Abweichler“, „Scheinchristen“ hatte es von Anfang an gegeben, und Paulus wusste das. Das entscheidend Neue betraf das Verhältnis der Christen zum römischen Staat. Hier muss zunächst gesagt werden, dass Ablehnung bis hin zu Pogromen in der Bevölkerung und Gegnerschaft bis hin zu Verhaftungen und Folter ebenfalls schon früher (Apg 21,27ff) Realität waren. Aber hatte Paulus in 1Tim 2,1-3 noch zur Fürbitte 57 Manche Vertreter der Echtheit lassen 2Tim vor 1Tim/Tit geschrieben sein. Zu ihnen gehört J. Murphy-OʾConnor. Paul: A Critical Life. Oxford 1996, 356-371. 58 Zu diesem umstrittenen Thema vgl. Luttenberger, Prophetenmantel, 142-144 u.ö. Towner 2006, 34 Anm. 89 möchte in Anlehnung an M.M. Mitchell, PTebt 703 and the Genre of 1 Timothy: The Curious Career of a Ptolemaic Papyrus in Pauline Scholarship, in: Novum Testamentum 44, 2002, 344-354, lieber von memorandum sprechen. 59 Interessante, die eingefahrenen Bahnen gelegentlich verlassende Gedanken hierzu finden sich bei Fuchs, Unterschiede, 18-30.
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„für alle Obrigkeit“ aufgefordert, so fehlt dieser Ton im 2. Timotheusbrief völlig. War auch im Philipperbrief die Möglichkeit seines gewaltsamen Todes am Horizont erkennbar (Phil 1,20; 2,17), so steht daneben doch auch die Zuversicht auf einen positiven Ausgang seiner damaligen Haft (Phil 1,19f). 2Tim dagegen endet düster, lediglich mit der Hoffnung seinen Schüler Timotheus noch einmal sehen und instruieren zu können. Der 2. Timotheusbrief lässt uns einen wichtigen Blick in die Situation des Übergangs von der apostolischen Zeit zur nachapostolischen Zeit werfen und bietet damit eine einmalige Chance. Es ist September oder Oktober. Der Apostel Paulus lebt noch, befindet sich aber (in Rom?)60 in Haft und erwartet seine Hinrichtung. Anders als im 1Tim und Tit (und Eph!) ist er nicht in der Lage, Pläne für die zukünftige Arbeit zu machen. Es handelt sich offenbar nicht mehr (wie noch Apg 28,30f etwa im Jahr 62) um eine „leichte Haft“, die eher einem „Hausarrest unter Beobachtung“ gleicht. Mehrmals ist die Rede von den „Ketten“, die er trägt. Das deutet darauf hin, dass man sich seiner Person auf jeden Fall versichern will und dass es sich bei der Anklage nicht nur um aus Sicht des römischen Staates gering60 Außer den Hinweisen auf Rom als letzten Haft- und Hinrichtungsort des Paulus in der frühen altkirchlichen Literatur und den bis ins 5. Jh. zurückreichenden Subskriptionen (archivarische Bemerkungen am Briefende; s.u.) sprechen im Brief selbst nur zwei (oder drei) Gründe für Rom als Abfassungsort des Briefs: In 1,17 spricht Paulus von Onesiphorus, der ihn „in Rom“ suchte und fand. Dies könnte aber auch während der 1. Haft dort gewesen sein, zumal später (4,19) nicht mehr von der Person Onesiphorus die Rede ist, sondern nur noch von seinem „Haus“, also wohl seiner Familie, evtl. samt Hausgemeinde. Er selbst scheint aber nicht mehr zu leben. Zweitens werden 4,21b als Grüßende, die offenbar nicht zum Paulus-Team gehören, vor allem Personen mit lateinischen Namen erwähnt, und zwar als exponierte Vertreter der ganzen Gemeinde. Schließlich kann man drittens erwägen, in welchem geographischen Umkreis um die Hauptstadt die Verfolgungen unter Nero eigentlich stattgefunden haben. Nicht in jedem Ort gab es überhaupt die Möglichkeit (und das Recht?), Christen in einer Arena von wilden Tieren zerfleischen zu lassen. – Die relevanten Subskriptionen lauten in folgenden Handschriften A P 6. 1739*. 1881 pc so: : προς Τιμοθεον β´ εγραφη απο Ρωμης „an Timotheus II, geschrieben von Rom“ (bzw. nach anderer Lesart: Λαοδικαιας). In der Handschrift 1739c (10. Jh.) sowie im Mehrheitstext heißt es noch ausführlicher: προς Τιμοθεον β´ της Εφεσιων εκκλησιας επισκοπον πρωτον χειροτονηθεντα εγραφη απο Ρωμης οτε εκ δευτερου παρεστη Παυλος τω καισαρι Ρωμης Νερωνι „an Timotheus II, den ersten ausgewählten Bischof der Gemeinde von Ephesus, geschrieben aus Rom, als Paulus zum zweiten Mal Nero, dem Kaiser von Rom, vorgeführt wurde“. Natürlich erheben diese Notizen keinen Anspruch zum Urtext des Briefs zu gehören. Immerhin führen uns die ältesten Handschriften, die sie enthalten, bis ins 5. Jh. – Weiser 61 als prominenter Vertreter einer pseudepigraphischen Entstehung schreibt zum Ort der Entstehung: „Die Region von Ephesus wird weiterhin als Entstehungsmilieu am ehesten zu vermuten sein …“ Konkret nennt er dazu S. 62f: Hochschätzung des Paulus, heidenchristlich, Bildung, hellenistisch-jüdische Einflüsse, früh gnostisierende Irrlehrer. Als Zeit der Entstehung denkt Weiser an die Jahre um 100 n.Chr. (S. 63).
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fügige Delikte handelt. Ein erster Gerichtstermin hat stattgefunden, aber keine Entscheidung gebracht. Das ist gut so, denn Paulus hatte wohl mit einer Verurteilung zum Tod in der Arena gerechnet. Sofern er sich im Sinne der Anklage als „schuldig“ bekannt hätte, wäre das wohl eingetreten. Das, was ihm vorgeworfen wurde, hat er nach seiner Ansicht nicht begangen. Es war aber anscheinend so gewichtig, dass die causa Paulus in die Liste der zu führenden Prozesse aufgenommen wurde. Schon vor dem ersten Termin haben ihn einige Mitarbeiter aus verschiedenen Gründen und mit verschiedenen Zielen verlassen. Außer Lukas und einigen in der Grußliste am Ende genannten Mitgliedern der christlichen Gemeinde in Rom ist er allein. Der Winter steht vor der Tür, und der „Erfolg“ seiner Lebensarbeit steht auf dem Spiel. Paulus möchte konsolidieren, was durch ihn entstanden ist. Deshalb hat er Kreszens in die Provinz Galatia, Titus nach Dalmatien geschickt, Erastus schon vorher in Korinth gelassen, Tychikus ist unterwegs nach Ephesus. Damit sind wichtige Zentren der frühen Heidenmission genannt. In Ephesus, der Hauptstadt der Provinz Asia, hält sich sein Schüler Timotheus auf.61 Der Apostel ist sich dessen Bedeutung bewusst, ist aber nicht sicher, ob Timotheus in der gegenwärtigen schwierigen Situation dort das Richtige tun und vor Irrlehrern, die in die Gemeinde eingedrungen sind, nicht zurückweichen wird. Er soll sich nicht auf einen „Nahkampf “, nämlich auf direkte Debatten mit ihnen einlassen, ihnen erst recht nicht agressiv begegnen. Seine Sorge soll seinen Gemeindemitgliedern gelten. Zwei Ziele verfolgt der Apostel, als er Lukas beauftragt, einen Brief an Timotheus zu schreiben: Er soll (bis Tychikus eintrifft oder in Kooperation mit diesem?) für Ordnung in Ephesus sorgen, dann aber wegen des vor der Tür stehenden mare clausum, dem winterbedingten Ende der Schiffahrt im Mittelmeer Anfang November, so rasch wie möglich zu ihm kommen.62 Für diese Strecke musste man „unter widrigen Umständen … ganze zwei Monate“ ansetzen.63 Wenn er ohnehin über Troas reisen würde, soll er bei dieser Gelegenheit einen dort gelassenen Mantel und einige Schriftstücke, darunter evtl. auch Schreibpapier, mitbrin61 Auch Trebilco, der nicht die Echtheit der Pastoralbriefe vertritt (S. 197-202) und sich für ihr Entstehen zwischen 80 und 100 n.Chr. ausspricht (202-205), sieht in Ephesus „the intended destination of 1 and 2 Tim“ (206), und zwar „with particular application to their situation“ (209). 62 Die Alternative, den Landweg zu nehmen, war wegen der dann zu bewältigenden immensen Entfernungen kaum eine realistische Möglichkeit. Riesner, Paulus, 275, verweist zudem auf eine Notiz des Militärexperten Vegetius (4. Jh. n.Chr.), nach der zwischen November und März auch keine Landreisen unternommen wurden (Vegetius, De re militari 4,39). 63 Riesner, Paulus, 281. Dieser Extremfall wird nicht anzunehmen sein.
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gen. Aus den Grüßen, die nach Ephesus gehen, geht hervor, dass sich zu jener Zeit das Missionarsehepaar Priska und Aquila in Ephesus aufhält. Ein gewisser Onesiphorus, an den der Apostel offenbar mit zwiespältigen Gefühlen denkt (1,16), hält sich entweder gerade nicht in seinem Heimatort Ephesus auf oder (wahrscheinlicher) ist inzwischen verstorben, denn Paulus erwähnt nur noch dessen „Haus“ (1,16; 4,19). Das sind die Fakten, sofern man gewillt ist, den 2Tim als echten Paulusbrief zu lesen. Eine Überlegung kommt hinzu: Zwischen dem, was zwischen Apg 8,1 und Apg 28,16 berichtet wird, also im „christlichen“ Teil seiner Biographie, war Paulus sicher nicht in Rom. Was vorher war, wissen wir nicht. Folglich bildet für die Datierung die zuverlässig belegte sog. „1. Römische Gefangenschaft“ (nach Riesner Frühjahr 60–62 n.Chr.) den terminus a quo (frühester möglicher Zeitpunkt der Abfassung).64 Natürlich legt es sich als erste Annahme nahe, den 2. Timotheusbrief ans Ende dieser Phase zu legen.65 Dafür spricht, dass Paulus im Philipperbrief, der wahrscheinlich ebenfalls aus der ersten Haft in Rom stammt, weniger bestimmend, aber doch auch ähnlich „pessimistische“ Töne anschlägt, was seine Zukunft angeht (σπένδομαι [spendomai] Phil 2,17). Dort stehen, sofern man keine „Teilungshypothese“ vertritt,66 daneben aber auch zuversichtliche Aussagen (z.B. Phil 1,18-20). Dagegen spricht zum einen die gegenüber dem Jahr 62 (Apg 28,30f) deutlich veränderte Einschätzung der rechtlichen Situation durch den Gefangenen selbst (σπένδομαι [spendomai] 2Tim 4,6-8.16f), der ja über einige Erfahrung mit der römischen Gerichtsbarkeit verfügte, sowie die im Vergleich mit anderen Briefen verstärkte Präsenz von Gedanken zu Eschatologie, Endgericht und Ewigkeit (wovon der Apostel aus unserer Sicht so gut wie nichts wissen würde, wäre der Römerbrief sein einziges uns gebliebenes literarisches Zeugnis). Zum andern ist 64 A.a.O., 201.286. 65 So datiert A. Scriba den Tod des Apostels. Er schreibt zusammenfassend: „Vielleicht wurde Paulus erst nach zweijährigem Hausarrest, was damals bei weit entfernten Anklägern nicht unüblich war, streng inhaftiert und in einem ordentlichen Gerichtsverfahren noch vor dem Winter 62 n.Chr. hingerichtet“ (ders., Von Korinth nach Rom. Die Chronologie der letzten Jahre des Paulus, in: Friedrich Wilhelm Horn [Hg.], Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, BZNW 106, Berlin / New York 2001,157-173; Zitat 173). Dieser Vorschlag überzeugt nicht: Warum die Haftverschärfung, wenn sich an der Situation insgesamt doch nichts geändert hatte und Fluchtgefahr nicht bestand? Und warum ein Todesurteil, nachdem schon die unteren Instanzen den Angeklagten ohne seine Berufung auf den Kaiser freisprechen bzw. das Verfahren niederschlagen wollten, weil die Anklage für römisches Recht nicht von Belang war? Dieser Vorschlag ist mindestens ebenso spekulativ wie die Annahme einer zweiten römischen Haft, für die es immerhin Quellenbelege gibt. 66 Knappe Darstellung und Bewertung bei Schnelle, Einleitung, 165ff.
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daran zu erinnern, dass wir in der Auslegung der beiden anderen, nach unserer Meinung vor dem 2. Timotheusbrief entstandenen Pastoralbriefe mit guten Gründen zu dem Ergebnis gekommen waren, dass sie zeitlich nach einer Freilassung aus der ersten Haft in Rom geschrieben wurden.67 Ziehen wir die Summe, so bestätigt sich die frühere Annahme: Der 2. Timotheusbrief ist vermutlich im Spätsommer oder Frühherbst 66 (oder 67) in Rom geschrieben worden.
2.3 Ein synchroner Blick auf die „Gefangenschaftsbriefe“ des Paulus Wir reden hier von Eph, Phil, Kol und Phlm, also von Briefen, die in zeitlicher Nähe zum 2Tim entstanden sein könnten, und fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die vielleicht eine zeitliche Zuordnung zu Letzterem erlauben könnten. Der Epheserbrief ist auch ein „Gefangenschaftsbrief “ (Eph 3,1.13). Er wird von vielen Forschern zwischen 80 und 90 n.Chr. datiert.68 Wenn wir es mit einem echten Paulusbrief zu tun haben, ist er entweder aus der Gefangenschaft in Philippi (eher unwahrscheinlich), in Cäsarea (also ca. 57–59) oder aus einer der beiden römischen Gefangenschaften (ca. 60–62 bzw. ca. 64–67) geschrieben.69 Eph 6,21f ist Tychikus wohl als Überbringer des Eph bei Paulus (vgl. 2Tim 4,12!). Schlier70 und Robinson71 sehen Eph und 2Tim zeitlich sehr nah beieinander. Nach Eph 6,21f, Kol 4,7 und 2Tim 4,12 hat Paulus Tychikus (als Überbringer) nach Ephesus geschickt.72 Im Blick auf die Inhalte von 2Tim 67 Neudorfer, 1Tim, 32f; ders., Tit, 28-30. Die wichtigsten frühen Quellen für Freilassung bzw. Spanienreise außerhalb des NT sind 1Klem 5,7, Canon Muratori 53 und Petrusakten (2./3. Jh.). 68 So z.B. Schnelle, Einleitung, 382. 69 H. Schlier, Der Brief an die Epheser. Ein Kommentar. Düsseldorf 71971, 22-28, ging von dieser Annahme aus, Robinson 80.84.352 datiert Eph, Kol und Phlm in den Sommer 58, 2Tim in den Herbst dieses Jahres, also in die Haft in Cäsarea. 70 Schlier, a.a.O., 27: „… als er in Rom gefangen saß, gegen Ende seines Lebens.“ 71 Robinson 79.352: Spätsommer 58 aus Rom. 72 Fuchs, I Kneel, 1 20f, der 2Tim in der 1. römischen Haft des Paulus um das Jahr 60 ansetzt, lässt Eph und Kol kurz vor der Überführung nach Rom in Cäsarea geschrieben sein. Tychikus’ in 2Tim 4,12 erwähnte Sendung nach Ephesus wäre dann identisch mit der von Eph 6,21; Kol 4,7. Der Idee mangelt es nicht an Reiz: Dann wären die Briefe nach Ephesus und Kolossä als Gemeindebriefe als Parallelen zu dem Mitarbeiterbrief 2Tim zu lesen. Man müsste dann allerdings auch sachliche Parallelen zwischen Eph/Kol einerseits und 2Tim andererseits zeigen können, was wir im Vergleich von Eph und 1Tim versucht haben (Neudorfer, 1Tim, 23-25).
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und Eph gibt es erstaunlich wenige Übereinstimmungen. Lediglich die Zeitanalyse ist sehr ähnlich (vgl. Eph 5,16; 6,13 mit 2Tim 3,1ff; 4,3f). Es fehlt aber im Eph völlig das eschatologisch Drängende, die Todeserwartung. Dieses Motiv finden wir stärker, wenn auch nach unserer Einschätzung nicht vergleichbar konkret, im Philipperbrief (Phil 1,7.13f.20f; 2,17). Dort sendet der Apostel aber anders als im 2. Timotheusbrief starke Signale des Lebenswillens und der Zuversicht (1,18f.22.24f; 2,24). Dort spricht er von treuen Mitarbeitern (Timotheus 2,19-23; Epaphroditus 2,25-30), aber auch von Gegnern (1,15-17.28; 3,18f). Dort schreibt er ausdrücklich, dass er noch nicht „vollendet“ sei, sondern erst danach strebe (Phil 3,12f: Οὐχ ὅτι ἤδη ἔλαβον ἢ ἤδη τετελείωμαι, διώκω δὲ εἰ καὶ καταλάβω [ouch hoti ēdē elabon ē ēdē teteleiōmai, diōkō de ei kai katalabō]), während er 2Tim 4,7 ausdrücklich das Gegenteil beteuert (τὸν δρόμον τετέλεκα [ton dromon teteleka]) und auch sonst im Perfekt seine aktuelle Situation als einen Abschluss darstellt. Dort, wo er sich gerade aufhält, gibt es ein „Prätorium“ (1,13), und zur Gemeinde gehören Leute „aus des Kaisers Haus“ (4,22). In der Grußliste bzw. den persönlichen Informationen des Kolosserbriefs, der in der ersten römischen Gefangenschaft entstanden sein dürfte, treffen wir auf einige auch im 2. Timotheusbrief erwähnte Personen: Tychikus, der den Brief überbringen wird (Kol 4,7), sich also auch hier schon Richtung Kleinasien bewegen wird; 4,9 wird Onesimus als „treuer und lieber Bruder, der einer von euch ist“, beschrieben; 4,10 Markus, hier eindeutig als „Vetter des Barnabas“ kenntlich gemacht, wird den Kolossern avisiert und der Gemeinde unter Hinweis auf bereits ergangene Instruktionen zur Aufnahme empfohlen; 4,14 schließlich werden Lukas und Demas erwähnt, der erste liebevoll, der zweite sehr knapp und am Ende der Liste, so als ob sich bereits ein Dissens andeuten würde. Der kleine Brief an Philemon, vielleicht aus der ersten römischen Haft geschrieben,73 sieht Timotheus an der Seite des Apostels (Phlm 1), ebenso Markus, Demas (noch vor Lukas rangierend) und Lukas (Phlm 24). Auch hier ist ein Freikommen aus der Haft für Paulus offenbar nur eine Frage der Zeit (Phlm 18f.22).
73 Schnelle, Einleitung, 174, denkt an Rom ca. 61 n.Chr.
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2.4 Handschriftliche und altkirchliche Bezeugung Was die ältesten Handschriften angeht, kommen in den weitgehend nur fragmentarisch erhaltenen Papyri lediglich kurze Texte aus Tit vor (P32 um 200 n.Chr.). Für 2Tim setzt die handschriftliche Bezeugung sogar erst mit dem 4. Jh. ein (Codex Sinaiticus) und wird im 5./6. Jh. dann stärker. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass schon 1Klem auf unseren Brief Bezug nimmt (vgl. 1Klem 2,7; 34,3 mit 2Tim 2,21; 3,17; 1Klem 42,2 mit 2Tim 2,2; 1Klem 45,7 mit 2Tim 1,3).74 In Markions Kanon kamen die Pastoralbriefe bekanntlich nicht vor. Der Canon Muratori (ca. 170–200 n.Chr.) als vermutlich älteste uns bekannte Quelle nennt die beiden Timotheusbriefe in Zeile 37 explizit. Eusebius kannte den Brief natürlich im 4. Jh. (HistEccl 3,4,8). Er bezieht sich auf Gewährsleute aus dem 2./3. Jh., nämlich auf den römischen Christen Gajus (spätes 2. Jh.; HistEccl 2,25.6), auf Dionysius, Bischof von Korinth (HistEccl 2,25.8), und auf Origenes (HistEccl 3,1.3). Sie berichten vom Tod des (Petrus und) Paulus in Rom zur Zeit Neros, dessen Herrschaft am 9. Juni 68 n.Chr. endete.
3. Literarische Fragen und sprachliche Merkmale 3.1 Gattung Schon in der Antike gab es erste Versuche „Gattungen“ von Texten zu analysieren und zu beschreiben. Häufig ergaben sich die in ihnen verwendeten Module aus praktischen, auch rechtlichen Erfordernissen. So war es bei einem Testament nötig, bestimmte Angaben zu machen, damit der letzte Wille des Verstorbenen später umgesetzt werden konnte. Auf der anderen Seite ist aber davon auszugehen, dass Verfasser von Texten nicht immer auch nur die Absicht hatten, die Erfordernisse zu erfüllen, die die literarische Theorie an ihren Text stellte. Dies gilt sicher auch für die Paulusbriefe: Zwar lehnen sie sich an traditionell vorhandene Beispiele an, verwendeten auch entsprechende Module (z.B. die orientalische oder griechische Form eines Briefeingangs); aber der Apostel bzw. seine Sekretäre waren offensichtlich nicht bereit, traditionelle Gattungen als Korsett zu betrachten, in das sie ihre Texte zu zwängen hätten. 74 Luttenberger, Prophetenmantel, 168 Anm. 724.
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Diese Beobachtung gilt auch für den 2. Timotheusbrief. So ist es zu erklären, dass moderne Autoren bei der Gattungsbestimmung unseres Briefs bzw. der Pastoralbriefe insgesamt zu abweichenden Ergebnissen kommen. Um nur einige Beispiele zu nennen:75 Luther (1522) Jeremias (1981) Brox (1989) Merkel (1991) Holtz (1992) Oberlinner (1995) Marshall (1999) Quinn/Wacker (2000) Weiser (2003) Towner (2006) Glaser (2009) Engelmann (2012)
ein Letzebrief Privatbrief Hirtenbriefe Freundschaftsbrief/Testamentsliteratur missionsamtliche Briefe testamentarische Verfügung Personal paraenetic letter epistolary testament testamentarisches Mahnschreiben in Form eines Freundschaftsbriefes parenetic-protreptic letter Abschiedsbrief als Schlussteil des Briefromans Pastoralbriefe briefliches Testament in Kombination mit Elementen des Freundschaftsbriefes76
Klar ist aber: Es handelt sich nicht um einen offiziellen Brief an eine Gemeinde, sondern um ein persönliches, wenn auch nicht unbedingt ausschließlich privates Schreiben, um den Brief an einen Freund und Mitarbeiter. Das gilt mit Abstufungen ähnlich für Phlm, für 1Tim und Tit, und dieses gemeinsame Kriterium (Brief an Einzelpersonen) dürfte der Grund dafür sein, dass sie in der Sammlung der Paulusbriefe im Verbund und am Ende überliefert wurden.77 Kann man Näheres sagen? Wir befassen uns näher mit drei Optionen: Testament: Nicht selten taucht in diesem Zusammenhang das Stichwort „Testament“ auf, besonders dann, wenn man den Mantel, den Timotheus mitbringen soll (2Tim 4,13), als „Prophetenmantel“ und damit als eine Art „Amtsinsignie“ versteht, die nun in Anlehnung an die Übernahme von Mantel und Amt des Elia durch Elisa (2Kön 2,8ff) vom Apostel auf den Schüler übergehen soll.78 Oberlinner nennt 2Tim vorsichtiger eine „testamentarische Ver75 Autoren, die die Pastoralbriefe als einheitlich konzipierten Text ansehen, werden unter Umständen keine Unterschiede machen. 76 Engelmann, Drillinge, 561. 77 Trobisch, Entstehung, 57, schreibt: „Die Briefe an Einzelne sind in erster Linie nach Adressaten (1/2Tim) und in zweiter Linie nach Länge geordnet. Dasselbe gilt für die Briefe an Gemeinden.“ 78 So schon G. Bornkamm, Paulus. Stuttgart u.a.71993, 111; zur Gattung: G.Strecker, Literaturgeschichte des Neuen Testaments. UTB 1682, Göttingen 1992, 73; K. Berger, Form-
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fügung“;79 mit der „das Corpus pastorale … abgeschlossen werden“ solle.80 Genau dieser letzte Punkt regt aber auch zum weiteren Nachdenken an. Denn dann sollte man doch erwarten, das testamentarische Mahnschreiben am Ende des (als einheitlich konzipierten) Corpus Pastorale zu finden und nicht in der Mitte. Weil es so nicht verstanden wurde und weil die Empfänger beim Zusammenstellen der Briefe eine Rolle gespielt haben werden, sind 1. und 2. Timotheusbrief zusammen überliefert. Weitere Bedenken treten hinzu. Luttenberger schreibt: „Die epistolographischen Erwägungen in diesem Zusammenhang haben gezeigt, dass sowohl von der Form als auch vom Inhalt her der 2Tim nicht als Testament im eigentlichen Sinn verstanden werden kann. … Die leichten Berührungen mit Formelementen eines urkundenrechtlichen Testaments, die sich beim 2Tim beobachten lassen, … reichen nicht aus, den 2Tim als Testament im urkundenrechtlichen Sinne zu verstehen. Es fehlen im 2Tim sowohl die erforderliche Terminologie als auch entscheidende Formmerkmale.“81
Stattdessen gilt nach Luttenbergers Untersuchung: „Insbesondere der 2Tim, aber auch der Tit folgen dagegen klar dem Formular des wirklichen Briefes.“82 Wäre der 2. Timotheusbrief als das ein einheitliches Werk (nämlich die Pastoralbriefe) abschließende „Testament“ geschrieben worden, müsste er vernünftigerweise vom ersten Erscheinen an am Ende der kleinen Sammlung stehen – was allerdings in der Überlieferung seit früher Zeit (Canon Muratori) nie der Fall gewesen ist.83 Wer immer die Paulusbriefe „sortierte“, hat die an dieselben Gemeinden und dieselbe Person gerichteten Briefe zusammengefasst, ohne auf den Inhalt zu achten. Eher ist zu vermuten, dass die Chronologie dabei eine Rolle gespielt hat. Eindeutig ist 2Tim kein Testament.
79 80 81 82 83
geschichte des Neuen Testaments. Heidelberg 1984, §24 (bes. S. 79. Weiser 38f nennt als testamentarische Elemente in 2Tim: bevorstehender Tod 4,6f; Rechenschaft über das eigene Leben mit der Funktion, dessen Untadeligkeit zu erweisen und es als Vorbild darzustellen 4,7; 1,8.11f; generationsübergreifende Weitergabe des Überlieferungsgutes 2,2; Voraussagen einer unheilvollen Zeit 3,1-7; 4,3f. Er folgert daraus schon vorsichtiger (S. 40): 2Tim ist „ein testamentarisches Mahnschreiben in Form eines Freundschaftsbriefes“. Wolter, Pastoralbriefe 236f: „testamentarische Mahnrede“. Oberlinner 2. A.a.O. 5. Luttenberger, Prophetenmantel, 372. Ebd.; vgl. auch 163. Luttenberger, Prophetenmantel, 62; anders Weiser 39f. Zudem gibt es eine Reihe von Unterschieden zwischen 1Tim/Tit einerseits und 2Tim andererseits, die man nicht übersehen sollte und die J. Murphy-O’Connor. 2Timothy Contrasted with1Timothy and Titus. RB 98, 1991, 403-418, Fuchs, Unterschiede, und zuletzt Engelmann, Drillinge, herausgearbeitet haben.
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Es wird nicht bestimmt, dass etwas, weder Gegenstände noch ein Amt, auf eine andere Person übergehen soll. Im Gegenteil: Paulus will bestimmte Gegenstände bei sich haben. Abschiedsbrief: Niemand wird leugnen wollen, dass ein Hauch von Abschied und Melancholie über dem 2. Timotheusbrief liegt – ganz anders noch als bei 1Tim und Tit, in denen auch Pläne, Projekte und Anweisungen für die Zukunft eine Rolle spielten. Allerdings ist zu beachten, dass der persönliche Abschied von Timotheus ja erst noch stattfinden soll – wenn der rechtzeitig in Rom ankommt. Noch jedenfalls hat Paulus die Hoffnung, dass er Timotheus persönlich sprechen wird – deshalb die Mahnung zur Eile. Luttenberger schreibt: „Der 2Tim kann urkundenrechtlich nicht als Testament verstanden und formal auch nicht eindeutig als Abschiedsbrief gedeutet werden. Er enthält zwar einzelne Elemente sowohl eines Testamentes als auch eines Abschiedsbriefes, verfolgt aber insgesamt gerade durch seinen persönlichen Grundton eine andere Intention. Daher erscheint auch seine Stellung unter den Past in der kanonischen Überlieferung zwischen dem lTim und dem Tit nicht als problematisch. Ein Testament wäre am Schluß eines einheitlich konzipierten Corpus zu erwarten, wie das z.B. die Chionbriefsammlung zeigt. Fehlt der testamentarische Charakter, ist eine Stellung am Schluss bei einem persönlichen Brief an einen engen Mitarbeiter nicht erforderlich.“84
Briefroman: Timo Glaser hat nach all den verschiedenen Gattungsbestimmungsversuchen doch noch einen neuen Ansatzpunkt gefunden, indem er die Pastoralbriefe als dreiteiligen „Briefroman“ ansieht.85 Wir werden akzeptieren müssen, dass wir bei unserem Brief keine reine Form bzw. Gattung vorfinden. Er ist und bleibt eine Mischung aus Elementen verschiedener Briefgattungen: ein recht spontan entstandenes privates Schreiben an einen Freund, in dem Aufträge und Anweisungen, Ermahnung und Ermutigung, Abschied und die Frage, wie es weitergehen soll und wird mit den Gemeinden, eine Rolle spielen.
84 Luttenberger, a.a.O. 381; vgl. auch 372.376; anders wieder Weiser 34-40. 85 Glaser, Briefroman, 37 definiert: „Als Briefroman sei ein Text verstanden, in dem Briefe das primäre Medium zum Aufbau einer Geschichte bilden.“
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3.2 Aufbau und sprachliche Formen86 Exegeten tun sich schwer, für 2Tim eine konsensfähige systematisierende und über die Einzelperikope hinausgehende Gliederung vorzulegen – auch wir. Kein Wunder! Der Inhalt des 2. Timotheusbriefs wirkt in seinem Hauptteil – also von den durch die Gattung „Brief/Privatbrief“87 vorgegebenen bzw. für Paulus charakteristischen Module (Präskript, Grüße, Segenswunsch) einmal abgesehen – auf den ersten Blick so „durcheinander“, so unstrukturiert, dass nur die Annahme einer ziemlich ungeplanten und spontanen Abfassung unter Zeitdruck als Erklärung einleuchtet. Damit ist nicht der Inhalt abqualifiziert, sondern es stellt sich umgekehrt die Frage, ob 2Tim möglicherweise der einzige in unserem Sinn wirklich „echte“ erhaltene Paulusbrief überhaupt ist.88 Damit ist gemeint, dass ihn Paulus in Eile entweder ganz selbst geschrieben oder (wahrscheinlicher) ganz formuliert und diktiert haben könnte und eben nicht (wie 1Kor 16,21; Gal 6,11; Kol 4,18; 2Thess 3,17; Phlm 1989) „nur“ die Authentifizierung durch ein paar Zeilen bzw. eine Signatur am Schluss vorgenommen hat. Dafür sprechen nach meiner Meinung einige Beobachtungen: die große Zahl von Imperativen, thematische Wiederholungen, der Wechsel von seine Person bzw. den Adressaten betreffenden Teilen, Gedankensprünge und auch Sprache und Stil. In der Situation einer im Vergleich zur ersten römischen Gefangenschaft strengeren Haft war das vielleicht gar nicht anders möglich. Beachtenswert ist ein ständiger Wechsel von positiven (+) und negativen (-) Textteilen:90
86 Zum Thema vgl. auch A. D. Baum, Semantic Variation within the Corpus Paulinum: Linguistic Considerations Concerning the Richer Vocabulary of the Pastoral Epistles. TynB 59(2008) 271-292. 87 Trobisch, Entstehung, 87, schreibt: „Informationen, die nur kurze Zeit gültig sind, wie Reisepläne, Nachrichten von gemeinsamen Freunden, Ankündigung eines Besuchs, Bitten, Empfehlungen, konkrete Anweisungen, Befehle oder Informationsfragen, stellen Merkmale des Privatbriefes dar.“ Er bezieht sich auf eine Untersuchung von J.L. White / K.A. Kensinger. Categories of Greek Papyrus Letters. Society of Biblical Literature 1976 Seminar Papers, 10, hg. v. G. Mac Rae, Missioula 1976, 79-91. 88 Prior, Paul, 58f.167, nimmt die Eigenhändigkeit resp. den Verzicht auf einen Sekretär für alle drei Pastoralbriefe an, weil es sich um Privatbriefe handelt. 89 Dass er von Paulus selbst geschrieben sein könnte, trifft am ehesten noch auf Phlm zu. 90 Es geht hier besonders um die behandelten Themen und die beim Verfasser spürbaren Stimmungen. Bei dieser und der folgenden Liste kann man über einzelne Zuteilungen streiten. Es geht aber um die Gesamtansicht.
Literarische Fragen und sprachliche Merkmale
1,8 1,9-11 1,12a 1,12b-14 1,15-16a 1,16b.17 2,3-5 2,7f 2,9a 2,9b 2,10a 2,11-13 2,14f 2,15 2,16-18 2,19 2,20 2,21 2,22a 2,22b 2,23 2,24f 2,26 3,1-9 3,10 3,11a 3,11b 3,12f 3,14-16 4,3-6 4,7f 4,10 4,11 4,14-16 4,17f 4,19
negativ positiv negativ positiv negativ positiv negativ positiv negativ positiv negativ wechselnd negativ positiv negativ positiv negativ positiv negativ positiv negativ positiv negativ negativ positiv negativ positiv negativ positiv negativ positiv negativ positiv negativ positiv negativ
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Dem korrespondiert ein ständiger Wechsel der Zeitperspektive: 1,3 1,4-9 1,10-14 1,15-17 1,18 2,1 2,2 2,3-6 2,7 2,8 2,9f 2,11-13 2,14 2,15-20 2,21 2,22-25a 2,25b-26 3,1-8a 3,8b 3,9 3,10-16 3,17 4,1 4,2 4,3f 4,5f 4,7 4,8 4,9 4,10 4,11 4,12 4,13 4,14 4,15a 4,15b-17 4,18 4,19 4,20 4,21a 4,21bf
Gegenwart Rückblick Gegenwart Rückblick Ausblick Gegenwart Rückblick Gegenwart Ausblick Rückblick Gegenwart Ausblick Rückblick Gegenwart Ausblick Gegenwart Ausblick Rückblick Gegenwart Ausblick Rückblick Gegenwart Ausblick Gegenwart Ausblick Gegenwart Rückblick Ausblick Gegenwart Rückblick Gegenwart Rückblick Ausblick Rückblick Gegenwart Rückblick Ausblick Gegenwart Rückblick Ausblick Gegenwart
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Wie aber steht es strukturell mit den Inhalten im Briefcorpus? Hier ergibt sich folgendes Bild: 1,3-5 1,6 1,7 1,8a 1,8b 1,9f 1,11 1,12 1,13f 1,15-18 2,1-3 2,4-6 2,7 2,8 2,9-13 2,14-17a 2,17b-18 2,19 2,20f 2,22-26 3,1-7 3,8 3,9 3,10f 3,12f 3,14f 3,16f 4,1f 4,3f 4,5 4,7f 4,9 4,10-12 4,13 4,14f 4,16-18 4,19 4,20 4,21a 4,21b
Erinnerung Aufforderung Grundsatz Aufforderung Leiden Grundsatz Vorbild Leiden Aufforderung Information Aufforderung Bild Aufforderung Grundsatz Leiden Aufforderung Warnung Grundsatz Bild Aufforderung Grundsatz Bild Folge Vorbild Grundsatz Aufforderung Grundsatz Aufforderung Warnung Aufforderung Vorbild Aufforderung Information Aufforderung Warnung Leiden Aufforderung Information Aufforderung Information
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Es zeigt sich: Wir haben es in dem Brief mit vielen kurzen Abschnitten zu tun. Er ist in dieser Hinsicht etwa mit dem Römerbrief und seinen langen theologischen Passagen überhaupt nicht zu vergleichen. Der 2. Timotheusbrief enthält einen vergleichsweise großen Anteil an Listen, Katalogen und Wortreihen und zeigt damit: Hier legt ein erfahrener Prediger, Seelsorger, Gemeindeleiter und Theologe auf den Tisch, was zum gerade aktuellen Thema in seinem Schatz ist. Es soll nichts vergessen werden. Das ist ein typisches Phänomen sich verändernden menschlichen Bewusstseins: Je älter wir werden, desto mehr legen wir uns „Argumentationslinien“ zurecht, ergänzen sie, fassen sie zusammen, sodass sie zu Listen werden, die wir „im Kopf haben“ und jederzeit abrufen und ausbreiten, evtl. sogar an den Fingern abzählen können (2Tim 3,16; 4,2). In die Kategorie „Alterspsychologie“ passen auch die relativ vielen grundsätzlichen und verallgemeinernden Aussagen, z.B. mit Bildungen von πᾶς „alle“, das in dem kurzen Brief 18 Mal vorkommt,91 sowie die hohe Zahl von 32 Imperativen92 und ihre ziemlich gleichmäßige Verteilung mit einer Häufung in 2Tim 4,1-5. Dahinter steht ein starker und klarer Wille, der beachtet werden will und Unterordnung und Gehorsam verlangt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Häufigkeit von ἀλλά, die Siebenthal als „Partikel des scharfen Gegensatzes“ bezeichnet,93 als Signal für Kontroverses bzw. für ein Denken in klaren Alternativen. Wir stellen die Häufigkeit des Vorkommens von ἀλλά im Verhältnis zur Gesamtwortzahl in allen Paulusbriefen chronologisch und sortiert nach ihrer Häufigkeit dar: chronologisch: Gal 1: 96 1Thess 1:113 2Thess 1:164 1Kor 1: 94 Phil 1:108 Phlm 1:167 2Kor 1: 65 Röm 1:102 Kol 1:525 Eph 1:186 1Tim 1:132 Tit 1:331 2Tim 1:102
nach Häufigkeit: 2Kor 1: 65 1Kor 1: 94 Gal 1: 96 Röm 1:102 2Tim 1:102 Phil 1:108 1Thess 1:113 1Tim 1:132 2Thess 1:164 Phlm 1:167 Eph 1:186 Tit 1:331 Kol 1:525
91 Das Verhältnis beträgt gerundet 1:68 (zum Vergleich: Gal 1:148 – Röm 1:101 – 1Tim 1:69 – 1Kor 1:60 – Phil 1:49 – Tit: 1:47 – Eph 1:46) – ein breites Spektrum also. 92 Verhältnis 2Tim 1:38 – zum Vergleich: Röm 1:142. 93 HvS §252.1.
Botschaft und theologische Aussage
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Wenn wirklich das Vorkommen der adversativen Partikel eine Aussage über den Grad der Umstrittenheit der Inhalte in dem jeweiligen Brief macht, stellen wir fest, dass die in scharfen Konflikten geschriebenen Briefe mit 2Kor an der Spitze, mit Abstand gefolgt von 1Kor und Gal, diesen Umstand tatsächlich sprachstatistisch widerspiegeln. Sicher darf man solche sprachstatistischen Analysen nicht überbewerten; es müsste parallel nach den Inhalten, also etwa auch nach den Verben geschaut werden. Andererseits offenbaren Partikel, die wir oft oder meist unbewusst verwenden, doch einiges über unsere Art zu denken.
4. Botschaft und theologische Aussage Im Rahmen dieses Kommentars ist eine ausführliche Darstellung der Theologumena, wie sie im 2. Timotheusbrief vorkommen, und ihre Einordnung in das Ganze der Theologie des Paulus nicht möglich. Es wird dafür auf die einschlägige Literatur verwiesen.94Wir beschränken uns auf wenige Hinweise zu Themen, die in diesem Brief herausragen. 1. „Die oft behauptete statische Auffassung des Überlieferungsdenkens der Past wird jedoch weder dem jeweiligen Kontext noch ihrer theol. Gesamtintention gerecht“, schreibt Trummer mit Blick auf die Forschungssituation.95 In der Tat kommen z.B. die Stichworte παραθήκη ([ parathēkē] 2Tim 1,12.14) und παρατίθημι ([paratithēmi] 2Tim 2,2) nur insgesamt drei Mal vor, παράδοσις [ paradosis] und παραδιδόναι [paradidonai] überhaupt nicht. Die Weitergabe geistlichen Erbes erfolgt nach 2Tim auch im Zuge des Generationenwechsels, d.h. der Weitergabe von Vorfahren zu Nachfahren (2Tim 1,5). Auch durch lernen (μανθάνειν [manthanein] 3,15), hören (ἀκούειν [akouein] 1,13; 2,2; 4,17), annehmen und festhalten (φυλάσσειν [ phylassein] 1,14) der Verkündigung (ὑγιαινόντων λόγων [hygiainontōn logōn] 2Tim 1,13; 2,2), die durch Erinnern wach und lebendig gehalten wird (ὑπόμνησιν λαμβάνειν [hypomnēsin lambanein] 1,5; μνημονεύειν [mnēmoneuein] 2,8), kann man zum Heil gelangen. Paulus ist sich dabei der besonderen Art seiner Christusverkündigung wohl bewusst (κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν μου [kata to euangelion mou] 94 Zur „Theologie“ der Pastoralbriefe vgl. F. Young, The Theology of the Pastoral Letters, in: New Testament Theology. Hg. v. J.D.G. Dunn, Cambridge 1994, sowie aus anderer Position: A.J. Köstenberger / T.L. Wilder (Hg.), Entrusted with the Gospel. Paul’s Theology in the Pastoral Epistles, Nashville 2010, mit zwölf Beiträgen zu verschiedenen Aspekten der Theologie in den Pastoralbriefen. 95 P. Trummer, Art. παραθήκη, EWNT III, 52; vgl. der, Paulustradition 220ff.
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2,8), für die er beansprucht, „Wort der Wahrheit“ (λόγος τῆς ἀληθείας [logos tēs alētheias] 2,15) zu sein. Die personale Komponente spielt also eine wichtige Rolle. Das zeigt sich auch an der empfohlenen Orientierung an Vorbildern (1,5; παρακολουθεῖν [ parakolouthein] 3,10) und daran, dass die Autorisierung zum Predigtamt ganz im Gefolge atl. Vorbilder durch persönlichen (Körper-)Kontakt (ἐπιθέσεως τῶν χειρῶν [epitheseōs tōn cheirōn] Handauflegung 2Tim 1,6) erfolgt. Daneben spielt „die Schrift“ eine wesentliche Rolle. Das Schrift gewordene Wort Gottes (πᾶσα γραφή [ pasa graphē] 3,16) ist von Gott eingehaucht, verdient deshalb Vertrauen und ist in verschiedener Weise wirksam. Das Studium der „heiligen Schriften“ (ἱερὰ γράμματα [hiera grammata] 3,15) selbst belehrt (auch ohne einen Ausleger als Mediator) im Blick auf das Heil. Einer Entmündigung des „schlichten Bibellesers“ wird kein Vorschub geleistet. Paulus traut der Wirksamkeit der Bibel (das bedeutet für ihn zunächst: der heiligen Schriften des Judentums) im Verbund mit dem Wirken des Heiligen Geistes offenbar sehr viel zu (2,9). 2. Es besteht nicht nur eine Brücke von Israels Religion zum Christentum, sondern es gibt im personalen Kern eine Identität: Israels Gott ist Paulusʼ Gott geblieben (1,3). In der Konsequenz bedeutet das: Das Verhältnis zwischen Christen und Juden ist ein qualitativ anderes als das zu Angehörigen anderer Religionen, die mit Recht als „heidnisch“ zu bezeichnen sind. Diese Kontinuität hat Paulus aber an keiner Stelle seiner Briefe und seines sonstigen Wirkens, von dem wir wissen, dazu verleitet, den wesentlichen Unterschied zwischen Judentum und Christentum zu nivellieren oder zu verschweigen: Jesus, den Christus. 3. Damit hängt ein weiterer Punkt zusammen: Der Paulus des 2. Timotheusbriefs weiß um Gottes Heilsgeschichte mit den Menschen. Gott hat „vor ewigen Zeiten“ (πρὸ χρόνων αἰωνίων [ pro chronōn aiōniōn]) einen Plan gemacht, den er umsetzt. Das Thema „Erwählung“ steht implizit im Raum. Das Schema „einst – jetzt“ ist auch im 2Tim zu finden (2Tim 1,9f). In demselben Zusammenhang ist Gott auch als der Rettende dargestellt, der Menschen in seinen Dienst ruft (1,8f). Gleich im nächsten Satz spricht Paulus dann von dem Retter, dem Christus Jesus (τοῦ σωτῆρος ἡμῶν Χριστοῦ Ἰησοῦ [tou sōtēros hēmōn Christou Iēsou]1,10). Beide Personen der Trinität – Gott-Vater und Gott-Sohn – können also auf je eigene Weise als rettend bezeichnet werden. Dabei ist bei Gott-Vater an das vorbereitende Werk gedacht, das spätestens mit Abraham begann, bei Gott-Sohn an das sühnende Werk, konkretisiert im stellvertretenden Tod am Kreuz für unsere Schuld. Aber auch das Thema „Auferstehung“ hat seinen Platz (1,10; 2,8.18).
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Gott begabt Christen mit geistlichen Fähigkeiten (1,6), die sie in seinem Auftrag einsetzen sollen. Gott gibt aber auch die innere Befindlichkeit (πνεῦμα [ pneuma] 1,7), die nötig ist, Gottes Auftrag zu erfüllen: statt Mutlosigkeit Kraft, Liebe und eine angemessene Selbsteinschätzung im Unterschied zu geistlicher Überheblichkeit und Machbarkeitswahn. Dabei und dazu wohnt Gottes Geist in uns und hilft dabei, das Anvertraute zu behalten (1,14). 4. Das Paulus sonst so geläufige, auch in 1Tim noch begegnende Stichwort ἐκκλησία [ekklēsia] für die Gemeinde fehlt im 2. Timotheusbrief ganz. Auch οἶκος/οἰκία [oikos/oikia], das doch zu den Merkmalen der Pastoralbriefe gehören soll, kommt nur je zwei Mal vor. Hier geht es nicht mehr im engeren Sinn um Gründung, Aufbau und Strukturen einer Gemeinde. Dafür ist sie in ihrer Komplexität und Differenziertheit ein gegebenes Faktum (2,19f) und wird nicht nur von ihrem Herrn bestimmt, sondern auch von Menschen – zum Guten wie zum Schlechten. Wie in den meisten anderen Briefen des Apostels gilt den Strömungen und Personen besondere Aufmerksamkeit, die bereit und in der Lage sind, die Gemeinde zu stören, ja zu zerstören.96 „2 Tim hat ein besonderes, bisher wenig beachtetes theologisch-praktisches Anliegen: Die Verkündigung des Evangeliums kann nur glücken in einem intakten Netz menschlicher Beziehungen. Um das zu zeigen, werden in 2 Tim außer Paulus rund 30 Personen genannt, die zu Paulus in positiver oder auch negativer Beziehung stehen“, meint Berger.97 Der positive Akzent im Bereich der Ekklesiologie liegt im 2Tim viel mehr auf dem Zusammenstehen in Bedrängnis. Christen bilden eine Gemeinschaft von Menschen, die sich zu Jesus Christus bekennt, selbst wenn sie sich dadurch selbst gefährdet.98 5. Eschatologische Motive spielen im 2. Timotheusbrief eine tragende Rolle, wie schon ein Blick auf die Terminologie zeigt. Die sog. „Naherwartung“ (1Kor 15,50f; 1Thess 4,15) ist angesichts der veränderten Situation völlig zurückgetreten. So wie die Jünger an Ostern im Gespräch mit Jesus erkennen, dass ihre Erwartungen einer politischen „Machtergreifung“ durch Jesus völlig inkompatibel waren mit Gottes Plan, so musste auch Paulus einsehen, dass die Hoffnung auf die Wiederkunft Jesu noch zu seinen Lebzeiten eine Illusion war. Selbst das Stichwort „Hoffnung“ fehlt in dem Brief ganz.99 Schon Jesus selbst hatte in Mt 24,36 par eine darauf vorbereitende Bemerkung gemacht. 96 Auch hierzu vgl. die Untersuchungen von Luttenberger, Prophetenmantel, 64ff. 97 Berger 809. 98 Vgl. hierzu die soziologisch orientierte, antiken Kollektivismus betonende Studie von B. J. Malina. Timothy. Paul’s Closest Associate, in: ders. (Hg.), Paul’s Social Network: Brothers and Sisters in Faith, Collegeville/ Minnesota, 2008. 99 Hierzu vgl. Fuchs, Ort, 85f.
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Andererseits hat Paulus ziemlich konkrete Vorstellungen davon, wie „die Menschen“ der letzten Zeit sein und sich verhalten werden (3,1ff; 4,3f). Der Brief enthält zudem eine ganze Reihe von Leidensaussagen über den Apostel selbst und seinen Schüler, z.B. 1,8.12; 2,3.9; 3,12; 4,5. 6. Der 2. Timotheusbrief ist vor allem ein Text zum Thema Pastoraltheologie. Es geht darum, warum und wie ein Bote Jesu seine Arbeit tun soll, denn sie erfolgt ja in Verantwortung vor Gott (2,14f; 4,1f). Einschlägige Passagen sind z.B. 1,6-8.13f; 2,1-8.14-16.22-25a; 3,12.14.17; 4,1f.5. Hören wir hier noch den kampfeslustigen Paulus etwa des Gal oder 2Kor reden? Er hat gelernt (vielleicht lernen müssen!), dass die rasche Reaktion, das schnell und deshalb oft auch unbedacht gesprochene Wort nicht immer zur Lösung von Problemen hilft (3,10; 4,2). So versucht er seinem Schüler nahezubringen, dass eine ausgewogene Mischung von Gradlinigkeit ohne Aggressivität (2,15f.23; 3,14f; 4,2) auf der einen und Geduld und Ertragen auf der anderen Seite (2,14) die angemessene und zielführende Art des Vorgehens sein muss. Dabei ist das persönliche Beispiel, das der Verkündiger durch sein Verhalten gibt, nicht von dem Inhalt seiner Predigt zu trennen (2,22.24-26). Auch in der Ethik geht es deshalb weniger darum, „die Gemeinde“ zu belehren oder zu verändern wie noch im 1Tim und Tit. Timotheus selbst erhält Anweisungen, wie er sich verhalten soll.
5. Text-, Auslegungs- und Wirkungsgeschichte 5.1 Textgeschichte Wie bei anderen ntl. Schriften auch ist die Erwähnung des 2Tim älter als die ältesten Handschriften, die den Brief enthalten. Noch früher sind „Quasi-Zitate“, d.h. wahrscheinliche Anklänge, zu erheben. Sie beginnen noch im 1. Jh. mit dem 1. Klemensbrief, dem dann im 2. Jh. der Brief bzw. die Briefe des Polycarp an die Philipper sowie die Schriften des Irenäus und des Clemens von Alexandria folgen.100 Sie sind in der Forschung allerdings umstritten. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass frühe Zitate um die Mitte der 90er-Jahre natürlich eine Abfassung des Briefs um 100, die von manchen
100 Belege bei Towner 2006, 4; Luttenberger, Prophetenmantel, 168. Zu den ältesten Bezeugungen vgl. auch Marshall 8-11; Weiser 70f.
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Forschern angenommen wird, unmöglich machen. Im letzten Drittel des 2. Jh.s kommen dann Kanonlisten wie der Canon Muratori hinzu. Erst vom 4./5. Jh. an sind Handschriften mit (mindestens) Teilen des 2. Timotheusbriefs entstanden, die uns erhalten geblieben sind. Mit der „Entstehung der Paulusbriefsammlung“ insgesamt hat sich D. Trobisch 1989 beschäftigt.101 Glaser hat sich im Anschluss daran der Frage gewidmet, wie die kleine Sammlung der Pastoralbriefe im Blick auf ihre Entstehung darzustellen ist.102 Er zeigt an einer sahidischen Handschrift103 aus dem 3./4. Jh., „dass die Pastoralbriefe nicht als Corpus rezipiert werden mussten. Tit erscheint dem Besitzer offensichtlich ein bedeutsamer und aus sich selbst heraus verständlicher Paulusbrief gewesen zu sein.“ Luttenberger schreibt unter Berufung auf Trobisch, kein Paulusbrief habe „eine selbständige Überlieferungsgeschichte“ unabhängig von der Paulusbriefsammlung gehabt.104
5.2 Auslegungsgeschichte: Die exegetische Landschaft hat sich, was die Einordnung der Pastoralbriefe betrifft, seit Erscheinen unserer Auslegung des 1Tim und des Tit verändert.105 Zuletzt mehrten sich die Anzeichen dafür, dass die Front der Neutestamentler, die in den drei Briefen eine einheitliche Komposition mit dem Ziel, die „Deutungshoheit“ im Blick auf Leben und Theologie des (verstorbenen) Apostels Paulus feststellen zu können meinten, aufgebrochen ist. Exemplarisch seien drei neuere Arbeiten herausgegriffen:106 a) Timo Glaser versteht die drei Briefe als einen Briefroman. Er definiert diese Gattung so: „Als Briefroman sei ein Text verstanden, in dem Briefe das
101 S. Literaturverzeichnis. 102 Glaser, Briefroman, 171-177. 103 A.a.O. 172. Es handelt sich um Nr. 11 der Liste bei B. M. Metzger. The Early Versions of the New Testament. Their Origin, Transmission, and Limitations, Oxford 1977,113. 104 Luttenberger, Prophetenmantel, 167. 105 Zur neueren Forschungsgeschichte vgl. die Beiträge von W. Schenk. Die Briefe an Timotheus I und II und an Titus (Pastoralbriefe) in der neueren Forschung (1945– 1985). ANRW 2,25/4, 3404-3438, hg. v. W. Haase, Berlin / New York 1987; Twomey, Centuries; I.H. Marshall. The Pastoral Epistles in Recent Study, in: Entrusted with the Gospel. Paul’s Theology in the Pastoral Epistles. Hg. v. A.J. Köstenberger / T.L. Wilder, Nashville 2010, 268-324. 106 Aus den vergangenen Jahren wäre noch auf die Arbeiten von Luttenberger und Glaser hinzuweisen.
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primäre Medium zum Aufbau einer Geschichte bilden.“107 Die Pastoralbriefe wollen nach seiner Meinung vor Augen führen, „dass der Völkerapostel eine Entwicklung durchgemacht hat.“108 Unter anderem wollen und sollen sie den Umschwung von „staatsverträglichem“ zu „staatsunverträglichem“ Christsein erläutern. Sie tun es, indem sie z.B. die für alle Leser der Apostelgeschichte spannende Frage zu beantworten scheinen, wie es mit Paulus nach Apg 28 weiterging. Damit dürfte der Bogen von ihrem Verständnis als „echte“ Briefe über die seit Jahrzehnten vorherrschende Einschätzung als „literarische Fiktion“ mit oder ohne Täuschungsabsicht am anderen Ende angekommen sein. Glaser setzt sich u.a. mit der einflussreichen Studie von Michael Wolter über „Die Pastoralbriefe als Paulustradition“109 auseinander. Im Unterschied zu diesem ist für Glaser „das drängende Problem des Paulus in 2Tim … nicht mehr der Aufbau bzw. die Erhaltung von Gemeindestrukturen. Auch innergemeindliche Streitereien und das Auftreten von Gegnern sind nicht Anlass für die Abfassung des 2Tim; die im Brief aufgebaute Fiktion ist die Gefangenschaft des Paulus und sein bevorstehender Tod.“110
Glaser fährt fort: „Zuerst soll dargelegt werden, dass durch topo- und internymische Bezüge zwischen 2Tim und Apg der Verfasser Hinweise gibt auf den Grund der Verhaftung des Paulus, der nicht in religionsinternen Streitereien zu suchen sei, sondern in den gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnissen. Hier ist der Bruch zwischen dem Ideal von Tit/1Tim und der Wirklichkeit von 2Tim in der Biographie des Paulus sowie der Christen allgemein dargestellt.“111
Und auf der nächsten Seite schreibt Glaser: „Suggerierte εὐσέβεια im Tituspräskript und in den ersten beiden Briefen überhaupt eine Vereinbarkeit zwischen christlichem Leben und gesellschaftlichen Idealen, so scheint hier ein Bruch in jener Fassade auf, wie insonderheit die 107 So gesehen legt sich die Frage nahe, ob nicht das gesamte Corpus Paulinum als großer Briefroman verstanden werden könnte, die Apg als hinführende Einführung des Schriftstellers. – Eine ausführliche Darstellung und angemessen kritische Auseinandersetzung mit Glasers Ansatz findet sich bei Engelmann, Drillinge, 80-87. Sie gipfelt in dem Satz (S. 82): „Dieser methodische Ansatz Glasers setzt jedoch die keineswegs unumstrittene Annahme voraus, dass die Antike eine Gattung ‚Briefroman‘ überhaupt gekannt hat.“ 108 Glaser, Briefroman, 200f. 109 Erschienen in: FRLANT 146, Göttingen 1988. 110 A.a.O. 291f. 111 Glaser, Briefroman, 292.
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beiden Parallelen zu 2Tim 3,12 verdeutlichen, die vom ‚Leben in Frömmigkeit‘ reden, 1Tim 2,2 und Tit 2,12.“112
Man wird fragen dürfen, ob dieser „Bruch“ nicht vielmehr und viel naheliegender dadurch zu erklären ist, dass die Pastoralbriefe eben nicht „aus einem Guss“ sind, sondern drei Briefe aus unterschiedlichen Situationen des Absenders in unterschiedliche Situationen der Empfänger hinein. In aller Offenheit: Für jene Autoren, die in den drei Pastoralbriefen ein sorgsam strukturiertes Ganzes sehen können, kann ich jedenfalls was den 2. Timotheusbrief angeht nur Staunen empfinden, sie aber nicht verstehen. Wenn es einen Paulusbrief gibt, den man auch als ein sehr spontanes „Durcheinander“ ansehen darf, dann gilt das für 2Tim. Versuche, darin doch noch einen tieferen Sinn zu entdecken,113 erweisen sich bei näherer Analyse114 rasch als das, was sie sind: als Hilfshypothesen, durch die man in der Theologie fast immer und in der Geschichte oft die gewünschten Ergebnisse erzielen kann – aber auch ihr Gegenteil. Lukas schildert die Ereignisse (im Evangelium und) in der Apg weitgehend so, als sei der römische Staat gegenüber dem Christentum eher aufgeschlossen. Woher hat er diese Sicht, wenn nicht von Paulus, mit dem er über Jahrzehnte im Gespräch war? Und wenn sich tatsächlich in den 60er-Jahren (Nero; Brand Roms; jüd. Aufstand) Wesentliches verschoben hat, warum sollte Paulus das dann nicht auch in sein Bild von den Römern aufnehmen? Welchen Sinn ergibt es zudem, wenn jemand Texte (nämlich einen „Briefroman“) verfasst, die auch für die Leser eindeutig als „ fiction“ zu erkennen waren, um mit ihnen den Wunsch zu befriedigen, mehr über das weitere (doch wohl historische!) Ergehen des Paulus zu erfahren? Nur in der Absicht, sie erbaulich zu unterhalten?115 Dafür dürfte damals die Kultur und Beschaulichkeit in den Gemeinden gefehlt haben, auch das intellektuell-literarische Leserpotenzial. Davon abgesehen enthalten antike Briefromane – wenn es sie denn gibt – in aller Regel eine in sich geschlossene Erzählung, in der ihr Verfasser eine Ent112 A.a.O. 293f. 113 N. Brox, Zu den persönlichen Notizen in den Pastoralbriefen, in: ders., Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike, WdF 484, Darmstadt 1977, 272294: 283. 114 Vgl. auch hierzu Luttenbergers Darstellung der offenbaren Fragwürdigkeiten in seinem II. Kapitel. 115 Offen bleibt auch die Frage, wer denn diese Leser sein sollen. Kaum jemand im für die Abfassung infrage kommenden Zeitraum hatte die Pastoralbriefe in seinem Papyrusrollenregal liegen. Sie wurden in der Gemeindeversammlung gelesen. Das setzte aber eine bestimmte Sicht im Blick auf ihren Verfasser und ihren Wert als Wort Gottes voraus.
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wicklung durchläuft. Die Pastoralbriefe als Briefe sind aber in diesem Sinn gerade nicht kohärent.116 Keine andere uns bekannte antike literarische Briefsammlung besteht aus nur drei Briefen und ist so bald (bei den Past: je nach Datierung 20-40 Jahre) nach dem Tod des angeblichen Verfassers entstanden.117 Es spricht also aufs Ganze gesehen ziemlich wenig dafür, die Pastoralbriefe als „Briefroman“ zu betrachten. b) Mit dem provozierenden, an Heinrich Julius Holtzmann (1880) erinnernden Titel „Unzertrennliche Drillinge?“ hat Michaela Engelmann 2012 die Zweifel an der unerschütterlich scheinenden Hypothese in einer angesehenen Buchreihe in Worte gefasst. Durch umfangreiche „motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe“ möchte sie klären, ob „sich ihr verwandtschaftliches Verhältnis besser in anderen Relationen beschreiben“ lässt.118 Unabhängig davon, ob es sich bei den Pastoralbriefen um ein „rein rezeptionelles Corpus“ (d.h. um die nachträgliche Zusammenfassung von „als Gelegenheitsschreiben aus aktuellem Anlass verfasst[en]“ vorliegenden Briefen wie die Paulusbriefsammlung handelt oder um „eine intentional zusammengehörige Größe“ (also um eine mit einer bestimmten Absicht pseudepigraphisch als Einheit verfasste Sammlung), untersucht Engelmann die Pastoralbriefe daraufhin, ob sie trotz der „zwischen den drei Schreiben bestehenden, z.T. erheblichen Unterschiede“119 tatsächlich „eine intentional zusammengehörige Größe“ sind.120 Mit Recht lenkt sie die Aufmerksamkeit auch auf einen „methodisch problematischen Zirkelschluss“, der „immer kompliziertere Konstrukte innerhalb der einmal eingenommenen Position nötig“ mache, „um zwischen den Schreiben vorhandene Widersprüche als nur scheinbare erklären zu können“121 – ein Vorwurf, der früher nur den Verteidigern der „Echtheit“ der drei Briefe und ihrer Individualität gemacht wurde. Sie selbst konzentriert sich als ihre Arbeit begleitende und durchwebende Frage auf die Dreiheit der Briefe: „Dass die Existenz genau dreier – und genau dieser drei – Briefe in einem zusammengehörigen pseudepigraphischen Corpus nicht befriedigend erklärt werden konnte“.122 Später schreibt sie mit Blick auf Fragestellungen, denen sie besonders nachgehen möchte: 116 Luttenberger, Prophetenmantel, 376. Auf die Verschiedenartigkeit der drei Briefe bzw. die Eigenartigkeit des 2Tim haben schon Prior, Paul 61ff, und nun Engelmann, Drillinge, 90-94, sowie Luttenberger, Prophetenmantel, 370-375.381-383, hingewiesen. 117 A.a.O. 374. 118 Engelmann, Drillinge, 2. 119 A.a.O. 111. 120 A.a.O. 108. Sie geht dabei von einer pseudepigraphischen Verfasserschaft aus. 121 A.a.O. 111. 122 A.a.O. 112.
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„So fällt doch auf, dass die beiden Timotheusbriefe innerhalb der Pastoralbriefe jeweils eine Sonderstellung einnehmen – der eine aufgrund seiner Gattung (2Tim), der andere aufgrund seines unpersönlicheren Charakters (1Tim) … Überraschend ist auch, dass alle drei Briefe offensichtlich in unterschiedliche Situationen an verschiedenen Orten hineinzielen und dabei zwischen 1Tim und Tit inhaltliche Differenzen bestehen, die gerade vor dem Hintergrund der ebenfalls vorhandenen thematischen Dopplungen einer Erklärung bedürfen. Und schließlich soll eine Erklärung dafür gesucht werden, warum gerade drei Briefe an zwei Mitarbeiter vorliegen.“123
Engelmann untersucht exegetisch die Bereiche „Christologie und Soteriologie“, „Ekklesiologie“ und „Häresiologie“ sowie das „Paulusbild“ und kommt dabei teilweise (etwa mit Blick auf die Christologie) zu Ergebnissen, die von dem weitgehenden Forschungskonsens der vergangenen fünfzig bis hundert Jahre abweichen. Unter dem Strich kommt sie zu dem Ergebnis, dass „der 2Tim kein Mitarbeiterbrief im eigentlichen Sinne“ sei, sondern „ein Schreiben eher privaten Charakters, womit der pseudepigraphische Autor eine Form des Paulusbriefes wählt, wie er sie z.B. im Phlm als einem authentischen Brief vorgefunden haben kann.“124 Die wichtige Beobachtung, dass sein Verfasser „nicht jedoch bereits auf den 1Tim zurückgreifen kann“,125 „dass der 2Tim älter ist als der 1Tim“,126 steht am Ende ihrer Befassung mit 2Tim. Einen Zeitpunkt seiner Entstehung nennt sie jedoch nicht. Insgesamt meint Engelmann gezeigt zu haben, „dass von einem ‚Konsens‘ in Bezug auf die Pastoralbriefexegese nur sehr vordergründig die Rede sein kann.“127 c) Joram Luttenberger hat ebenfalls 2012 eine Studie über „die persönlichen Notizen in den Pastoralbriefen im Licht antiker Epistolographie und literarischer Pseudepigraphie“ publiziert. Von vielen deutschsprachigen Exegeten werden sie als eines der methodischen Module angesehen, die (nur) im Rahmen literarischer Pseudepigraphie (richtig) verstanden werden können. Andere sehen in ihnen Belege für die Echtheit der Pastoralbriefe bzw. einzelner Teile von ihnen oder doch wenigstens für eine Sekretärshypothese. Luttenberger zeichnet die Forschungslage systematisierend nach,128 untersucht dann antikes Vergleichsmaterial,129 um schließlich eine differenzierende Bewertung 123 124 125 126 127 128 129
A.a.O. 112f. A.a.O. 570. A.a.O. 572. A.a.O. 571. Engelmann, Drillinge, 90. Luttenberger, Prophetenmantel, 21-84. A.a.O. 85-294.
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der persönlichen Notizen in den Pastoralbriefen vorzunehmen.130 Im Blick auf persönliche Notizen „als Stilmittel literarischer Pseudepigraphie“ findet er die Ergebnisse W. Speyers von 1971 bestätigt. Dieser hatte festgestellt, dass in solchen Fällen „bei Nebenumständen an gesicherte geschichtliche Tatsachen“ angeknüpft wurde, „die eingeführten Personen nach ihrer Gestalt beschrieben, sowie Umstände und Zeit näher“ angegeben wurden.131 Es handelt sich, wie Luttenberger betont, dabei „nicht um freie Erfindungen von besonderer Originalität, sondern um zutreffende Angaben, die auf eine Kongruenz mit den verwendeten Quellen ausgerichtet sind, um für den Leser eine Wiedererkennbarkeit des Inhalts zu erreichen.“132 Das bedeutet: Selbst für den Fall, dass es sich um Pseudepigraphie handeln sollte, wären die sachlich-historischen Informationen der persönlichen Notizen doch prinzipiell zuverlässig und glaubwürdig. Für den 2. Timotheusbrief bleiben nach Luttenberger am Ende der Untersuchung folgende Passagen als „persönliche Notizen“ stehen: 2Tim 1,3.5.8.15-18; 3,15; 4,10f.13.16).133 Dagegen betrachtet er etwa 2Tim 4,19ff als „Bestandteil des brieflichen Rahmens“.134
5.3 Wirkungsgeschichte Was die Wirkungsgeschichte des 2. Timotheusbriefs angeht, können wir möglicherweise schon in den 90er-Jahren des 1. Jh.s ansetzen.135 In diese Zeit gehört nach Meinung vieler Ausleger die Johannes-Apokalypse.136 Immerhin rangiert Ephesus in Offb 1,11, wo die Adressaten der Johannesoffenbarung genannt sind, und auch in der Reihenfolge der sog. Sendschreiben (Offb 2/3) an erster Stelle. Dadurch ist mit Sicherheit die Vorrangstellung dieser Gemeinde in der Provinz Asia und darüber hinaus in jener Zeit dokumentiert. Inwieweit lässt der Inhalt des Sendschreibens an die Gemeinde in Ephesus Rückschlüsse auf das zu, was Paulus rund dreißig Jahre zuvor an Timotheus
130 A.a.O. 295-369. 131 W. Speyer. Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum. Ein Versuch ihrer Deutung. HAW 1/2, München 1971, 82. 132 Luttenberger, Prophetenmantel, 261. 133 A.a.O. 48-56; zusammenfassend 371. 134 A.a.O. 54f.82f.371. 135 Weiterführend ist hier auch: J. W. Aageson, Paul, the Pastoral Epistles and the Early Church. Library of Pauline Studies, Peabody/Mass. 2008. 136 Maier, Offenbarung, 18, datiert beispielsweise „ca. 95 n.Chr.“, Schnelle, Einleitung, 601: „zwischen 90–95 n.Chr.“
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geschrieben hatte?137 Immerhin war Nero längst tot, hatten inzwischen sechs Kaiser nacheinander Rom regiert, zuletzt fünfzehn Jahre lang Domitian, dessen Bild in der Forschung unterschiedlich beurteilt wird. Klar ist, dass er Juden und Christen unterdrückte. Wir müssen sehen, was Offb 2,1-7 in unserem Zusammenhang, also aus der Sicht des 2Tim, hergibt. Immerhin ist das Sendschreiben an den Gemeindeleiter gerichtet,138 und nach Eusebius (HistEccl 3,4,5) „wurde Timotheus zum ersten Bischof der Kirche von Ephesus … ernannt“.139 Exkurs Die Spuren des Timotheus verlieren sich mit dem 2. Timotheusbrief bis ins 4. Jahrhundert im Dunkel der Geschichte. H. von Lips bietet informative Auskünfte über die vermutlich bald nach Eusebius entstandenen „Timotheus-Akten“, die in ihrer Urfassung von einem Martyrium des Paulusschülers in Ephesus unter Kaiser Nerva (September 96 bis Januar 98) vor der Rückkehr des Johannes von der Insel Patmos berichten.140 Als einigermaßen gesichert sieht Lips (neben viel Legendarischem) das Martyrium im Zusammenhang mit Timotheusʼ mutigem (!) Protest gegen ein heidnisches Götzenfest am 22. oder 24. Januar141 und die Existenz eines Timotheusgrabs in Ephesus bis 356 an, dem Jahr der „Überlieferung der Gebeine des Timotheus nach Konstantinopel“ (163f; 192ff). Dorthin seien die sterblichen Überreste – also wohl nur die Knochen – gebracht worden, um sie vor heidnischem Zugriff zu schützen. 1204 sollen die Reliquien im Zuge der Eroberung Konstantinopels durch ein Kreuzfahrerheer geraubt und ins italienische Termoli gebracht worden sein (196). In der dortigen Kathedrale wurde der Kopf des Timotheus spätestens seit 1592 verwahrt, bis man 1945 ein verstecktes Grab mit dem (angeblichen) Restkörper fand. Eine geplante DNA-Analyse zur weiteren Untersuchung deutet Lips an. In der Summe bedeutet das: Die Annahme, Timotheus habe die Gemeinde(n) in Ephesus von den 60er- bis in die 90er-Jahre geleitet, hat auch bei kritischer Betrachtung manches für sich. Ist das aber so, dann ergibt sich daraus, dass er möglicherweise auch zur Zeit der Abfassung des letzten Buchs der Bibel dieses 137 Vgl. dazu Maier, Offenbarung, 134, der explizit an das Wirken des Timotheus in Ephesus erinnert und die Stadt „geradezu eine Art Drehscheibe für die urchristliche Mission“ nennt. 138 Ebd. 139 Zitiert nach der Ausgabe von Heinrich Kraft. Es ist nicht zu erkennen, ob Eusebius Timotheusʼ Episkopat aus den beiden Timotheusbriefen erschlossen hat oder ob er aufgrund anderer Quellen darüber schreibt. Unklar ist auch, wie lange Timotheus Bischof in Ephesus gewesen ist. 140 Umfassend berichtet Lips, Timotheus, 159ff über die Wirkungsgeschichte. 141 Sollte diese Information in Verbindung mit der Datierung unter Nerva zutreffen, so käme nur das Jahr 97 infrage.
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Amt innehatte, also der in Offb 2,1 erwähnte „Engel“ (= Gemeindeleiter) sein könnte. Diese Einsicht macht die Beschäftigung mit dem Sendschreiben nach Ephesus umso interessanter.
Der erhöhte Herr Jesus Christus nimmt in den Sendschreiben sieben kleinasiatische Gemeinden unter die Lupe. Wir fragen nach Motiven in Offb 2,17, in denen wir Reflexe des 2Tim wiedererkennen können. An welchen Punkten mag Timotheus beim Lesen des Sendschreibens an seine Gemeinde in Ephesus an den Paulusbrief gedacht haben, den er vor dreißig Jahren erhalten hatte? Im Eingangslob wird ihm relativ unkonkret Anerkennung für das Verhalten insgesamt ausgesprochen (Offb 2,2f ). Die „Anstrengung“, die die Leitung der Gemeinde erfordert, die missionarische Arbeit, die durch die Gemeinde geschieht, wird ausdrücklich ebenso gelobt wie die „Geduld“.142 Hier stoßen wir an ein Stichwort aus 2Tim, wo Paulus seine eigene ὑπομονή [hypomonē] (2Tim 2,10) ebenso betont wie die (eschatologische) Belohnung der Geduld der Christen (2Tim 2,12) und wo er die des Timotheus als eine Verhaltensweise lobt, die dieser im Anschluss an ihn selbst praktiziert (2Tim 3,10). Weiter wird positiv vermerkt, dass der Gemeindeleiter in Ephesus „Böse nicht ertragen“ kann (Offb 2,2 οὐ δύνῃ βαστάσαι κακούς [ou dynē bastasai kakous]). Eindeutig handelt es sich bei κακούς um ein Maskulinum – es geht also nicht um „das Böse“, sondern um böse Personen, deren Zugehörigkeit zur eigenen Gemeinschaft der Gemeindeleiter „aus inneren Gründen“, wie Maier schreibt,143 nicht duldet. Was sind das für Personen? Es sind Leute, „die gegen Gottes Gebote handeln“, und zwar nicht auf eine Art, über die man diskutieren könnte: „es muss sich … um offenkundige Gesetzesübertretungen handeln“.144 Als weitere, lobend erwähnte Verhaltensweise kommt hinzu, dass der Bischof von Ephesus „die geprüft [hat], die sagen, sie seien Apostel, aber sie sind es nicht“, und er hat „gefunden, dass sie Lügner sind“ (Offb 2,2). Vermutlich haben wir es bei dem Verfasser der Offenbarung mit dem Zebedaiden Johannes zu tun, also mit einem Jünger Jesu. Die Möglichkeit, dass Leute sich als von Jesus selbst ausgesandte Apostel titulieren konnten, ist also durchaus noch zu bedenken. Andererseits kennen auch schon früher entstandene ntl. Schriften (2Kor 11,13) „falsche“ Apostel, und um solche dürfte es sich auch hier handeln. Maier ordnet sie den „Judaisten“ zu und nennt Gründe dafür.145 142 Vgl. Maier, Offenbarung, 136, der im Anschluss an F. Haucks ThWNT-Artikel von der „Tugend des tapferen Standhaltens“ spricht. 143 A.a.O. 137. 144 Ebd. 145 A.a.O. 138.
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Es wäre ja auch ganz logisch, wenn Timotheus, der die Auseinandersetzung seines Lehrers mit Judaisten miterlebt hatte, an diesem Punkt besonders aufmerksam und unnachgiebig („du hast Geduld und hast meinetwegen getragen und hast dich angestrengt“ Offb 2,3) gewesen wäre. Neben das Lob stellt Christus aber ernsthafte Kritik (Offb 2,4-5), die nach einer grundlegenden Neuorientierung („Umkehr“ und „erste Werke“) ruft: Da geht es um die „erste Liebe“, die verlassen wurde (τὴν ἀγάπην σου τὴν πρώτην ἀφῆκες [tēn agapēn sou tēn prōtēn aphēkes]). 1Tim 5,12 war vom Wegschieben des ersten Glaubens bzw. der ersten Treue die Rede gewesen (τὴν πρώτην πίστιν ἠθέτησαν [tēn prōtēn pistin ēthetēsan]). Ist hier ausschließlich der Gemeindeleiter, also nach unserer Überlegung Timotheus, gemeint? Oder auch oder ausschließlich die ganze Gemeinde, jedenfalls die „Meinungsmacher“? Beides wird man letztlich nicht trennen können. Sollte sich die Situation nicht grundlegend ändern, droht die endgültige Trennung der Gemeinde von ihrem Herrn. Wie „nachgereicht“ wirkt V. 6, wo ein weiteres Positivum genannt wird: „Du hassest die Werke der Nikolaiten, die ich auch hasse.“ Diese Gruppe wird – nun mit Bezug auf ihre Lehre – im Sendschreiben an Pergamon (Offb 2,15) und vielleicht an Thyatira (Offb 2,24ff) noch einmal erwähnt. Irenäus (2. Jh.) führt sie auf den als letzten in der Liste der Armenpfleger Apg 6,5 genannten Nikolaos zurück. Sie vertraten offenbar zunächst die Auffassung eines extremen Asketismus, der dann aber (wie manchmal in der Kirchengeschichte) in radikalen Libertinismus umgeschlagen sein muss.146 Insgesamt stellen wir fest, dass Irrlehrer auch in diesem späteren „Röntgenbild“ der Gemeinde in Ephesus eine Rolle spielen. Die Personen und die von ihnen vertretenen Meinungen haben sich geändert, aber die Bedrohung der Gemeinde durch sie ist geblieben. Überblicke über die Wirkungsgeschichte auch des 2. Timotheusbriefs gibt es genügend.147 Auf drei Punkte möchten wir aber besonders aufmerksam machen: a) Das Bild vom Ende des Paulus und damit ein Stück weit auch der Gesamteindruck dieser apostolischen Persönlichkeit wird vom 2. Timotheusbrief geprägt. b) Gewiss hat der Brief für die Einordnung von und den Umgang mit Verfolgung und Martyrium für Christen der späteren Jahrhunderte Auswirkungen gehabt. Für den „Drang“ zum Martyrium, der später zeitweise zu beobachten 146 B. Brohm, Art. „Nikolaïten“, CBL 2,971. 147 Wir verweisen auf die Kommentare sowie z.B. auf die schon erwähnten Darstellungen von H. von Lips und J. Twomey.
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war, konnte man sich aber nicht auf 2Tim berufen. Der vor dem Ende seines Lebens stehende Apostel Paulus hatte offenbar eine ziemlich nüchterne, keinesfalls aber eine verklärte Sicht darauf. c) Schließlich kann biblische Hermeneutik nicht an der einschlägigen Passage 2Tim 3,14-17 vorbeigehen, zumal wenn sie eine ganzheitliche Auffassung von der Beziehung zwischen Hermeneutik und Theologie einerseits und Glauben und Leben andererseits vertritt.
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II. Auslegung 1. Präskript: Absender, Adressat und Gruß 1,1-2 I 1 Paulus, Gesandter des Christus Jesus durch den Willen Gottes, entsprechend der Zusage des Lebens in Christus Jesus, 2 an Timotheus, das geliebte Kind: Gnade, Erbarmen, Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Herrn. II Wir haben es mit dem für Paulus üblichen sog. „orientalischen“ Briefeingang zu tun. Er besteht aus superscriptio (mit intitulatio; ohne explizites Prädikat; V. 1), adscriptio (mit intitulatio; V. 2a) und salutatio (mit zu ergänzendem Prädikat, z.B. Präsens Optativ von εἰμί: εἴη; V. 2b).1 In den meisten seiner erhaltenen Briefe (außer Phil, 1/2Thess, Phlm) bezeichnet sich Paulus im Absender als ἀπόστολος [apostolos] „Gesandter“.2 Exkurs Für Abweichungen davon wird es Gründe geben, die teilweise auch nachvollziehbar sind: Im Phil nennt er zwar nicht sich selbst, aber Epaphroditus den ἀπόστολος der Gemeinde von Philippi – in welchem Sinn genau, bleibt offen. War Epaphroditus für Philippi das, was Paulus etwa für die Gemeinden in Galatien war, nämlich der erste christliche Missionar und Gemeindegründer? Oder verwendet Paulus das griechische Wort hier im nicht technischen Sinn, also für den Abgesandten der Gemeinde an ihn,3 und vermeidet deshalb den Begriff im Blick auf seine eigene Tätigkeit? Gegen diese Überlegung spricht, dass er ja auch die Tätigkeit des Epaphroditus anders hätte beschreiben können. In 1/ 1 Vgl. Schnieder/Stenger, Briefformular 3-41. Zu unterscheiden sind demnach die äußere, nur auf Originalbriefen erhaltene Adresse mit Angaben über die Auslieferung auf der Außenhaut des versiegelten Papyrus, und die innere Adresse, das sog. „Präskript“. 2 Ausführlich zum Aposteltitel und seiner Verwendung bei Paulus in meinem Kommentar zum 1Tim in dieser Reihe, S. 43f. Zum Briefformular vgl. auch die Untersuchung von Schnider/Stenger. 3 So G. Friedrich, NTD 8, Göttingen/Zürich 31985, 158 (zu Phil 2,25).
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2Thess schreibt Paulus gemeinsam mit Silas/Silvanus und Timotheus, denen er den Aposteltitel offenbar nicht geben will. 1Thess 2,7 bezieht er sich ausdrücklich mit Blick auf seine Person auf die Bedeutung des Apostolats.4 An Philemon, trotz Erwähnung von dessen Ehefrau und deren gemeinsamem Sohn Archippus sowie der Hausgemeinde ein Brief an eine Einzelperson,5 schreibt Paulus mehr als Seelsorger des Adressaten und seines Ex-Sklaven, also ohne Betonung des Apostolats.6 Auch hier ist Timotheus Mitverfasser (Phlm 1).
Strukturell fällt das dreimalige Vorkommen von Χριστὸς ʼΙησοῦς [Christos Iēsous] in verschiedenen Kasus im Briefeingang auf. In der intitulatio (V. 1b) sind Name und Hoheitstitel Jesu nach dem Schema a|b|a um „Gott“ herum platziert. Nimmt man die salutatio (V. 2b) hinzu, so ergibt sich das Schema a| b|a|b|a. Theologisch bedeutet das: Der 1. Glaubensartikel von Gott dem Vater ist hier umschlossen vom 2. Artikel – nicht umgekehrt. Sprachlich handelt es sich um einen stark komprimierten Text, was durch den weitgehenden Verzicht auf den Artikel und auf Verben bzw. ein explizites Prädikat in V. 2 sichtbar wird. Die intitulatio des Empfängers (V. 2a) ist gegenüber 1Tim 1,2a gekürzt und verändert.7 Grund dafür könnte sein, dass die Ausführlichkeit dort den mitlesenden Gemeindegliedern geschuldet war und dass sich der Verfasser im 2. Timotheusbrief aufgrund der äußeren Umstände auf das Wesentliche beschränken wollte. An die Stelle des legitimen Kindes im Glauben (1Tim 1,2a) tritt das geliebte Kind (vgl. 1Kor 4,17). Es mag mit der Gattung bzw. Abzweckung der beiden Briefe zusammenhängen: Der 1. Timotheusbrief ist an die Gemeinde in Ephesus gerichtet. Paulus musste darin Timotheus als seinen Stellvertreter bestätigen. Die Legitimität dieser Stellvertretung beruhte auf der engen Verbundenheit des Timotheus mit Paulus. Der 2. Timotheusbrief ist als persönlicher Brief an Timotheus gerichtet. In ihm steht die persönliche, emotionale Beziehung der beiden im Vordergrund. Sie bestimmt den Duktus des gesamtes Briefes.8
4 A.a.O. 224 (zu 1Thess 2,7). Friedrich schreibt dort: „–wenn Paulus hier von Aposteln Christi im Plural spricht, redet er weder von sich im Plural noch von den Mitabsendern des Briefes, sondern er wendet das, was allen Aposteln Christi zukommt, auf seine Person an – …“. 5 A.a.O. 278; zu den Vermutungen bezüglich der familiären Beziehungen s. 281. 6 Schimmert hier doch noch der jüdisch-religionsrechtliche Aspekt des Aposteltitels, nämlich das auf einen bestimmten Auftrag und eine konkrete Gemeinde gerichtete Institut des ָשִׁלַחdurch? 7 Vgl. hierzu wieder meine Auslegung zu 1Tim 1,2! 8 Vgl. Marshall 686.
Präskript: Absender, Adressat und Gruß 1,1-2
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III 1 Wenn Paulus9 den Aposteltitel im Briefeingang verwendet, dann stets (außer im Gal) durch einen genitivus possessoris (Genitiv des Besitzers) mit dem verbunden, dem er gehört und in dessen Auftrag er handelt: Paulus ist Gesandter des Christus Jesus (und zwar außer Tit 1,1 stets in dieser Reihenfolge).10 ἀπόστολος (apostolos)11 ist im jüdisch-hellenistischen Sprachgebrauch auch der Visitator oder Bote der oberen Religionsbehörde in Jerusalem, der regelmäßig oder anlassbezogen mit rechtlicher Vollmacht ausgestattet eine (Diaspora-)Gemeinde besucht, nach dem Rechten schaut und für diesen speziellen Fall auch zu verbindlichen Maßnahmen berechtigt ist (wie etwa Paulus in Damaskus Apg 9,2; 26,10) – freilich in enger Bindung an Willen und Vorteil dessen, der ihn gesandt hat.12 Im griechischen Sprachgebrauch handelt es sich um Abgesandte, vor allem mit militärischem Status.13 Gegenüber Timotheus, dem Sohn einer jüdischen Mutter, kann er den Messiastitel dem Namen voranstellen, ohne Missverständnisse befürchten zu müssen. Paulus liebte es, im Briefeingang durch Präpositionalelemente weitergehende und der jeweiligen Situation bzw. seiner aktuellen Beziehung zu dem Adressaten angepasste Aussagen zu seiner Stellung zu machen. Wie in 1/2 Kor, Eph14 und Kol hebt er auch hier den Willen Gottes als letzten Grund seiner Sendung hervor. Durch den Willen Gottes ist Paulus Apostel. θέλημα θεοῦ (thelēma theou)15 wird gewöhnlich mit „Wille Gottes“ übersetzt, was ja auch richtig ist. Es ist aber interessant zu sehen, wie Franz Delitzsch in seiner 9 Zu seiner Person s. o. sehr kurz die Einleitung, ausführlicher in der Einleitung zum TitusKommentar (S. 18-20) sowie in den Bibellexika. 10 Zum Versuch einer Erklärung s. Fuchs, Unterschiede, 110-116. 11 J. Bühner versteht das Verb ἀποστέλλειν (apostellein) vor dem Hintergrund des hebr. שלח (schalach) „sich repräsentieren lassen“; Art. ἀποστέλλω, EWNT I, 340-342 (341). ἀπόστολος (apostolos) bedeutet dann bei Paulus „eine Umschreibung seiner Aufgabe der Evangeliumsverkündigung: er ist autorisiert, als Bote und Repräsentant des gekreuzigten und auferstandenen Herrn den heidenchristlichen Gemeinden das Evangelium zu bringen“ (ders., Art. ἀπόστολος, EWNT I, 342-351 (345). 12 Näheres bei M. Cohn. Die Stellvertretung im jüdischen Recht. ZVRW 36, 1920, 124213.354-460, sowie K.H. Rengstorff, Art. ἀπόστολος, ThWNT I, 406-446 (bes. 413420). 13 Rengstorff, a.a.O. 406f. 14 Wenn Ephesus in jener Schaffensperiode Timotheus’ „Standbein-Gemeinde“ gewesen ist, verwundert es nicht, dass Paulus hier an Eph 1,1 anknüpft. In den Korintherbriefen spielte die Begründung des Anspruchs auf den Apostolat durch Gott selbst ohnehin eine Rolle. 15 Zur Begrifflichkeit im Blick auf Gott vgl. auch R. Fuchs. Ein Gott, der Vater, ein Herr, Jesus Christus. Verwendung und Vermeidung der Gottesbezeichnung „Vater“ in den Gemeinde- und Pastoralbriefen des Paulus, JETh 26 (2012) 63-91.
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2. Timotheusbrief
Rückübersetzung des NT ins Hebräische übersetzt:16 ( ִבְּרצוֹן ׇהֱאל ִֹהיםbirzōn hāälohīm).17 Dadurch hat er den positiven Aspekt aufgenommen, den die hebr. Wurzel רצהI (rzh) „etwas gut finden, Gefallen haben an etwas“ konnotiert.18 ( ָרצוֹןrāzōn) „bezeichnet am häufigsten die subjektive Empfindung des Wohlgefallens, d.h. der Huld und Gnade eines Höhergestellten bzw. Gottes“, schreibt Gerleman.19 Später habe es eine Bedeutungsverschiebung gegeben, sodass der Begriff „eine willkürliche Entscheidung meinen“ könne.20 In den Qumrantexten werde das Wort häufig „im Sinne von ‚Wille‘ als Kraft und Fähigkeit des Wollens“ gebraucht.21 Trifft dies zu, so kommen hier zwei Aspekte zusammen: der zur Durchsetzung seines Planes bereite und fähige Wille Gottes (genitivus subjectivus) und die positive Aufnahme von Gottes Plan durch Paulus (genitivus objectivus). Die Präposition διά mit Genitiv kann sowohl den Vermittler von etwas als auch dessen Urheber bezeichnen.22 Hier dürfte vor allem die letzte Bedeutung infrage kommen: Von Gottes Willensentscheidung her ist der Apostolat des Paulus begründet (vgl. Gal 1,1). Da trifft sich nun unser Text mit 1Tim 1,1, wo die Anordnung Gottes (ἐπιταγὴ θεοῦ [epitagē theou]), d.h. doch die auf den Entschluss folgende und öffentlich bekannt gemachte Maßnahme, als das genannt wird, worauf sich Paulus beruft, wenn er als „Apostel“ auftritt. Die anschließende präpositionale Wendung entsprechend der Zusage des Lebens in Christus Jesus führt den Gedanken fort. Towner sieht in den beiden Satzteilen „two parallel statements that define more specifically the nature of Paul’s apostleship.“23 Das zweite Element könnte aber auch auf das erste, nämlich auf Gottes Willensentscheidung, zu beziehen sein und diese näher bestimmen oder erläutern. Der Apostel fährt fort: … entsprechend der Zusage des Lebens in Christus Jesus. In 1Tim 4,8 hatte er von der Frömmigkeit im Sinne des vor Gott und Menschen richtigen Verhaltens gesprochen und gesagt, sie sei „zu allem nützlich, weil sie die Zusage des jetzigen und des kommenden Lebens hat“ (ἐπαγγελίαν ἔχουσα ζωῆς τῆς νῦν καὶ τῆς μελλούσης [epaggelian echousa zōēs tēs nyn kai tēs mellousēs]). Tit 1,2 bezieht er sich ebenfalls im Briefeingang auf die „Hoffnung auf ewiges Leben, die Gott, der nicht lügt, vor ewigen Zeiten verheißen hat“. Im Corpus Johanneum (1Joh 2,25) ist vom ewigen Leben als 16 17 18 19 20 21 22 23
Franz Delitzsch, ספרי הברית החדשה. London 1892 (Nachdruck Tel Aviv 1963), 395. Das Substantiv ( ָרצֺוןrazōn) verwendet Delitzsch z.B. auch in Lk 2,14. G. Gerleman, Art. רצה, THAT II, 811. Ebd. A.a.O. 811f. A.a.O. 812. HvS §184f. Towner 2006, 440.
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zentralem Inhalt dessen die Rede, was Jesus denen zugesagt hat, die Heil erwarten. Ähnlich wertet Paulus das ewige Leben, wenn er in 1Kor 15,12ff die Auferstehung Jesu zu dem Faden macht, an dem der christliche Glaube hängt, und wenn er in Röm 6,2ff die Taufe mit dem Empfang des neuen Lebens verbindet. Der Brief, in dem der Apostel wenige Sätze später seinen bevorstehenden Tod ankündigt, beginnt also mit der doppelten Feststellung, dass eben dieser dem Sterben ausgesetzte Paulus nach Gottes Willen ein Apostel des Messias Jesus ist und dass sein Apostolat sehr viel mit der zentralen Heilszueignung zu tun hat, nämlich mit dem ewigen Leben, das den Tod überdauert.24 Es ist wichtig zu beachten, dass das Adjektiv „ewig“ in diesem Zusammenhang nicht zuerst eine Aussage über die zeitliche Dauer macht – nämlich dass Ewigkeit kein Ende in unserem Sinn haben wird. „Ewigkeit“ ist vielmehr die von unseren Erfahrungen und Vorstellungen völlig verschiedene Dimension, in der Gott existiert. Im Kern geht es beim ewigen Leben um die bleibende Zugehörigkeit zu Gott, die auch kein Tod mehr beenden kann. 2 Der Brief ist an Timotheus gerichtet, jenen nach Apg 16,1-3 um das Jahr 46 n.Chr.25 von Paulus in Kleinasien zum Mitarbeiter gemachten und deshalb wegen der aus Juden und Heiden gemischten Gemeinden beschnittenen Sohn einer judenchristlichen Mutter und eines griechischen Vaters.26 Lukas nennt im Zusammenhang mit diesem biographischen „Medaillon“ die drei Städte Derbe, Lystra und Ikonion. Lystra und Ikonion liegen etwa 36 km Luftlinie voneinander entfernt. Nach Derbe, von wo Paulus gekommen sein wird, sind es von beiden Städten aus gut 90 km. Welche der drei Städte die Heimat des Timotheus war, lässt sich nicht sicher sagen; manches spricht für Lystra.27 Erstaunlich knapp ist die intitulatio gehalten, in der der Empfänger näher beschrieben wird: das geliebte Kind ist die einzige zusätzliche Beschreibung des Adressaten – was nicht verwundern darf, denn hier blickt dem Empfänger keine Gemeinde beim Lesen über die Schulter.28 Zur Erinnerung: Im 1. Timotheus- und im Titusbrief (γνησίῳ τέκνῳ [gnēsiō teknō]) lag der Akzent gleich24 Vgl. Jeremias 1981, 48. 25 Vgl. Schnabel, Mission, 1368. Anders Schnelle, Paulus, 38, der die 2. Missionsreise ab Spätsommer 48 bis 51/52 datiert; ähnlich die Chronologie Riesner, Paulus, 286. 26 Man kann fragen, ob die Beschneidung unter den damaligen soziologischen und rechtlichen Bedingungen ohne Zustimmung des pater familias möglich war – vermutlich nicht so ohne Weiteres. Lag dieses Einverständnis vor, könnte man, sofern er noch lebte, wiederum Rückschlüsse auf dessen mindestens vorhandene Aufgeschlossenheit gegenüber dem Judentum und Christentum ziehen. 27 R. Pesch. EKK V/2, Zürich u.a. 1986, 96; Lips, Timotheus, 38. 28 Weitere Informationen in meiner Auslegung zu 1Tim 1,2 und Tit 1,4 in dieser Reihe! Zum Verständnis von ἀγαπᾶν (agapan), das nicht in erster Linie eine emotionale Beziehung beschreibt, vgl. unten Seite 84.
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lautend auf der Unmittelbarkeit und Legitimität der Verbindung dieser beiden Mitarbeiter zu Paulus; dort musste also deren Autorität gefestigt werden. Vor dem Hintergrund der jeweiligen Situationen in Ephesus und auf Kreta ist das ebenso verständlich wie die Bezugnahme auf den Glauben. Hier aber, wo alles Formale und Argumentative angesichts der bedrohlichen persönlichen Situation zurücktreten muss, spricht der Apostel zu seinem Schüler rein auf der Ebene ihrer persönlichen Beziehung. In 1Kor 4,17 beschreibt Paulus den Korinthern gegenüber seinen Mitarbeiter Timotheus, dem sie Vertrauen schenken sollen, mit den Worten: ὅς ἐστίν μου τέκνον ἀγαπητὸν καὶ πιστὸν ἐν κυρίῳ [hos estin mou teknon agapēton kai piston en kyriō] „der mein geliebtes und zuverlässiges Kind im Herrn ist“. Soweit wir über das Leben des Paulus informiert sind, hatte er keine eigenen Kinder. Dieser Sachverhalt galt im Altertum als „Schande“ und war besonders im atl. Israel (vgl. z.B. Abram/Sarai 1Mo 15,2f; 16,1f; Eli/Hanna 1Sam 1,2.6.10f) und im Frühjudentum der Jesuszeit (vgl. z.B. Elisabeth Lk 1,7; Mt 22,24 mit Bezug auf 5Mo 25,5f) sozial wie religiös nicht selten Anlass zu Diskriminierungen. Da ist es umso verständlicher, wenn ein treuer, noch dazu wesentlich jüngerer Mitarbeiter, an dessen Christwerden Paulus vielleicht Anteil hatte, in seinem Herzen diesen Platz einnahm.29 Auf Timotheus konnte er sich verlassen, auf ihn setzte er Hoffnungen für sein Lebenswerk, das zu jener Zeit auf der Kippe stand. In ihm hatte der von vielen Angefeindete den Menschen gefunden, dem er vorbehaltlos vertrauen konnte.30 Spätestens im 2. Timotheusbrief ist dem Apostel auch die Erfordernis des Loslassens deutlich, das allerdings keine Entlassung aus der Pflicht seines Auftrags sein konnte. Liebe, Vertrauen, Weisungsbefugnis treffen sich also in diesem Beziehungswort. Die salutatio ist identisch mit der im 1Tim.31 Das wird kein Zufall sein. Im Rahmen eines Briefs macht die salutatio dem Empfänger bewusst, welche (guten) Wünsche der Absender im Blick auf ihn hat. Es sind also Zustände oder Zuwendungen, die der Adressat rein passiv empfangen soll, keine Auf29 Nach Apg 16,1 traf Paulus in Lystra (oder Derbe) auf Timotheus, der zu diesem Zeitpunkt offenbar bereits Christ war (μαθητής τις ἦν ἐκεῖ ὀνόματι Τιμόθεος). – Wir übersehen dabei nicht den auch sonst häufigen Gebrauch von ἀγαπητός im NT (in Mt, Mk, Lk im Mund Gottes von Jesus sowie im Gleichnis Jesu und in den katholischen Briefen vorrangig von deren Adressaten), besonders aber durch Paulus (25-mal außerhalb der Pastoralbriefe, davon mehrmals absolut mit oder ohne Possessivpronomen und vor allem in Verbindung mit Personen, wo es die enge Beziehung unterstreichen soll). 30 Dieser Punkt wird in der Auslegung des Briefes eine Rolle spielen. 31 Zum Einzelnen vgl. wieder meine Erklärungen im Kommentar zum 1. Timotheusbrief in dieser Reihe.
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forderungen zu eigener Aktivität. Dabei muss uns bewusst sein, wie wenig solche Worte damals als „Schall und Rauch“ angesehen wurden, also als „bloß so dahingesagt“, weil es eben die Brieftradition erforderte. Der Wunsch war sicher zugleich auch ein Gebet für den Empfänger und somit etwas, das Wirklichkeit setzt, selbst wenn es sich nicht „objektivierbar“ erfüllen sollte. Der Apostel wünscht seinem Schüler und geistlichen Sohn, dass Gott-Vater und der gemeinsame Herr Christus Jesus sich ihm in unverdienter, einfühlender Güte zuwenden und ihm Frieden geben mögen. Auch hier fügt sich Paulus in den frühjüdischen Rahmen ein.32 χάρις (charis) gehört wie εἰρήνη (eirēnē) in allen Paulusbriefen zur salutatio. Das Wort kommt in 2Tim insgesamt fünf Mal vor, davon vier Mal in 1,1-2,1 und ein Mal im Briefschluss (4,22). Dagegen nennt der Apostel ἔλεος (eleos) im Eingangsteil nur in den beiden Schreiben an Timotheus, und zwar jeweils eingeschoben zwischen χάρις und εἰρήνη und in durchaus unterschiedlichen Situationen.33 Im Briefkorpus außerhalb der Pastoralbriefe findet sich ἔλεος noch Röm 9,23; 11,31; 15,9; Eph 2,4, ist also von der Häufigkeit her kein zentraler, aber doch sachlich auch kein unbedeutender paulinischer Terminus. An allen vier genannten Stellen verwendet der Apostel den Begriff für die Motivation, aus der heraus Gott Menschen rettet und erlöst, worauf der Mensch keinen Einfluss hat. Dieser Gebrauch fügt sich gut zur Wortbedeutung in der vorchristlichen griechischen Literatur, wo „Subst. und Vb., seit Homer bekannt, … die Gemütsbewegung angesichts eines Übels, das einen anderen getroffen hat, und das aus ihr resultierende Handeln“ meinen, wie F. Staudinger treffend formuliert.34 Später schreibt er zur Verwendung durch Paulus: „Als einziges mögliches ‚Movens‘ für alle, Anteil am Heil zu erhalten, erkennt und anerkennt Pls das heilschaffende Erbarmen Gottes“.35 Es steht also im Gegensatz zu aller Werkgerechtigkeit, die sich selbst ihr Heil verdanken will. Wenn es zutrifft, dass Paulus sich bei dem Eingangswunsch mit der Erwähnung von „Friede“ und „Erbarmen“ frühjüdischen Gewohnheiten anschließt,36 ἔλεος aber dazwischen einfügt, so setzt er gerade dadurch seinen theologischen Akzent: Während Gottes Gnade „die Ermöglichung des Zugangs zu Gott überhaupt durch diesen Gott selbst“ ist37 32 Vgl. I. Taatz. Frühjüdische Briefe. Die paulinischen Briefe im Rahmen der offiziellen religiösen Briefe des Frühjudentums. NTOA 16, Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1991, 67. 33 Im Briefschluss aber auch Gal 6,16. 34 F. Staudinger. Art. ἔλεος, EWNT I, 1047. 35 A.a.O. 1050. 36 Weiser 82 mit Verweis auf K. Berger, Apostelbrief und apostolische Rede. Zum Formular frühchristlicher Briefe. ZNW 65, 1974, 190-231. 37 K. Berger, Art. χάρις, EWNT III, 1098.
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und Erbarmen den Vorgang der Erlösung der Menschheit bzw. eines bestimmten Menschen konkret werden lässt, ist Friede „ganz umfassend das persönliche und soziale Wohl- und Heilsein des Menschen bis hin zu der von Gott geschenkten Vollendung“38 mit eschatologischem Aspekt. Die drei Begriffe führen vom ewigen Wesen Gottes (Gnade) über die von der Not des oder der Menschen betroffene und deshalb tätig werdende Sym-Pathie (Erbarmen) zum Zielpunkt der Erlösung und der Heilsgeschichte, nämlich zum Frieden in Zeit und Ewigkeit. Wir entdecken also in den drei kleinen Worten die Linie der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen. IV 1. „Gott“. Allein das Wort – oder ist es ein Name? – lässt uns zur Besinnung kommen. Im Griechischen und im Deutschen ist es eher ein Gattungsbegriff für jedes Wesen, das unseren Erfahrungshorizont, unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten übersteigt. Ist „Gott“ mehr als das Resultat der Tatsache, dass der Mensch seine Einsamkeit in dem gigantischen Universum nicht ertragen konnte, dass er dieses Gegenüber einfach brauchte? Ist „Gott“ Person (und nicht nur Prinzip oder Macht), so verbinden sich mit ihm konkrete Erfahrungen. Die Verfasser des AT konnten noch unterscheiden zwischen Gattungsbezeichnung und Personennamen. Für den Juden Paulus war völlig selbstverständlich, dass er an den Person-Gott ( יהוהjhwh) glaubte. Aber konkret wurde er für ihn erst, als er in der Person des Christus Jesus in sein Leben kam. Welche „Gottesbeziehung“ Paulus in seiner vorchristlichen Zeit hatte, können wir nur aus seinen wenigen Äußerungen darüber ableiten. Aber nach seinem Erlebnis vor Damaskus (Apg 9,3-9; 22,6-11; 26,12-18; Gal 1,16f) war Gott nicht mehr nur Gegenstand seiner Verehrung und Anbetung und seines Vertrauens, sondern auch der täglich so erfahrene Lenker und das Ziel seines Leben. 2. Am Ende seines etwa 60-jährigen Lebens39 und nach etwa 30 Jahren als Christ, Missionar und Theologe steht Jesus Christus mehr denn je im Mittelpunkt des Denkens und der Existenz des Apostels. Das wirft keinen Zweifel 38 Weiser 82. – Taatz (s. o. Anm. 179) 106, sieht in vergleichbaren Salutationen Erweiterungen, die „auf den in der hebräisch-aramäischen Epistolographie üblichen Friedensgruß zurückgehen und diesen Gruss in einer erweiterten Form bieten“. 39 Bei der Steinigung des Stephanus (in den frühen 30er-Jahren des 1. Jh.s) bezeichnet Lukas Saulus als νεανίας (neanias), was nach J. Roloff (NTD 5, Göttingen 1981, 128) im damaligen Judentum eine Altersspanne zwischen 20 und 40 Jahren meint. Phlm 9 stellt sich der Apostel selbst als πρεσβύτης vor, was nach Hippokrates’ Lebensstufen in Sieben-Jahre-Schritten zu diesem Zeitpunkt auf ein Alter zwischen 50 und 56 Jahren hinweist (zit. bei Philo, Opif 105). Nach Schnelle, Paulus, 39, dürfte er „Mitte des ersten
Präskript: Absender, Adressat und Gruß 1,1-2
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an seinem trinitarischen Gottesglauben auf, sondern deutet im Gegenteil darauf hin, dass er im Gespräch mit dem Judentum (Timotheus war aufgrund seiner Beschneidung Judenchrist!) gerade diesen Christozentrismus nicht versteckte. Damit schließt sich ein Kreis, nachdem Paulus schon in seinem ältesten erhaltenen Brief (m.E. ist das der Galaterbrief) das Evangelium von der Gnade in Christus vehement verteidigt hatte (Gal 1,4.6; 2,16.20; 3,26 u.ö.). 3. Auf persönlicher Ebene entspricht dieser theologischen Kontinuität die Verbundenheit mit einigen seiner Mitarbeiter. Viele Namen von Personen sind uns aus seinen Briefen oder der Apg bekannt, Personen, die seinen Weg in 30 Jahren gekreuzt hatten, mit denen er kooperiert, die er in seiner Mission als Mitarbeiter, Boten o.ä. eingesetzt hatte. Am Ende bleiben ihm gerade einmal zwei wirklich treu: Lukas, der allein bei ihm ist (4,11), und Timotheus. Mit manchen anderen ist es zum Konflikt, ja offenbar zur Trennung und bleibenden Gegnerschaft gekommen; Paulus scheut sich in diesem persönlichen Schreiben nicht, einige Namen zu nennen. Bei anderen hat sich trotz bleibender Verbundenheit aus äußerlichen Gründen eine Trennung ergeben. Wir dürfen vermuten, dass die Zusammenarbeit mit Paulus nicht immer leicht war. Ein geradliniger, zielorientiert lebender und arbeitender Mensch, der es gewohnt ist zu leiten, macht es denen neben und unter sich nicht immer leicht. Andererseits war Paulus von seiner Persönlichkeit her gewiss genau der Richtige für die schier übermenschliche Aufgabe, das Evangelium „… bis an das Ende der Erde“ zu transportieren. Ein anderer hätte sich im „Klein-Klein“ verloren, im Alltäglichen, im Allzumenschlichen, hätte längst resigniert oder sich mit einem Teilerfolg zufrieden gegeben. Das gilt erst recht, nachdem er nun auch persönlich, d.h. mit seinem Leben, dafür haftbar gemacht werden sollte.
Jahrzehnts n.Chr. geboren sein.“ Wir werden ihn uns als jüngeren Zeitgenossen von Jesus vorstellen dürfen.
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2. Dankbare Erinnerungen 1,3-5 I 3 Ich danke Gott, dem ich von den Vorfahren her mit reinem Gewissen diene, wenn ich die Erinnerung an dich ununterbrochen in meinen Gebeten bei Nacht und Tag habe, 4 und mich eingedenk deiner Tränen danach sehne, dich zu sehen, damit ich mit Freude erfüllt werde, 5 sooft ich mich deines ungeheuchelten Glaubens erinnere, der zuvor (schon) in deiner Großmutter Lois und in deiner Mutter Eunike wohnte – ich bin aber überzeugt: auch in dir. II Formal handelt es sich bei diesem Text um ein Proömium. Schnider/Stenger, die dafür den Terminus „briefliche Danksagung“ verwenden, unterscheiden im Anschluss an Schubert zwei Typen sowie Mischformen.1 Die von ihnen beschriebene „Normalform“ stellen wir dem Proömium 2Tim 1,3-5 gegenüber: „Normalform“ (Phil 1,3-6) „Ich danke (1) meinem Gott (2) … allezeit (3) bei allem Gedenken an euch (4) mit Freude mein Gebet verrichtend (5) …, vertrauend (6)
darauf, dass der, der in euch das gute Werk angefangen hat, es auch vollenden wird bis zum Tage Christi Jesu (7)“
2Tim 1,3-5 Ich danke Gott, dem ich von den Vorfahren her mit reinem Gewissen diene, ununterbrochen da ich die Erinnerung an dich … in meinen Gebeten bei Nacht und Tag habe, … ich bin aber überzeugt: auch in dir. … mich eingedenk deiner Tränen danach sehne dich zu sehen, damit ich mit Freude erfüllt werde, indem ich mich deines ungeheuchelten Glaubens erinnere, der zuerst in deiner Großmutter Lois und deiner Mutter Eunike wohnte
1 P. Schubert. Form and Function of the Pauline Letters. JR 19, 1939, 366-377; ders., Form and Function of the Pauline Thanksgivings. BZNW 20, 1939; hier: BZNW 10-39. Engelmann, Drillinge, 522, schreibt: „Nur im 2Tim findet sich innerhalb der Pastoralbriefe ein Proömium, wie es aufgrund der antiken Briefkonvention im Anschluss an das Präskript zu erwarten ist. … [es] nimmt zentrale Briefthemen bereits vorweg und bereitet sie so vor. Es enthält einen als Gebetsbericht formulierten Dank für den Glauben des Briefempfängers, durch welchen – gleichsam als Captatio benevolentiae fungierend – zugleich der in V. 6
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Der direkte Vergleich des exemplarischen Typus mit der Konkretion zeigt, dass es nicht so ganz „passt“. Schnider/Stenger heben auf den Unterschied zwischen den sog. „echten“ Paulusbriefen, die ja bis auf Phlm sämtlich Gemeindebriefe sind, und „der pseudonymen Briefliteratur“ ab und erkennen „eine bezeichnende Veränderung“, die hinsichtlich des 2. Timotheusbriefs darin bestehe: „man ist schon mehrere Generationen Christ.“2 Dass der Verfasser des 1. und 2. Timotheusbriefs trotzdem den Anfang des Glaubens eng mit seiner Person verbunden sieht (vgl. nur das Stichwort „Kind“ 1/2Tim 1,2!; die Erinnerung an seine Segnung bzw. Einsetzung 2Tim 1,6) und er ihn gerade deshalb in die Pflicht nehmen kann, erwähnen sie nicht, ebensowenig den Unterschied zwischen persönlichen und Gemeindebriefen. Das Proömium lässt sich klar vom voraufgehenden Text abgrenzen.3 Χάριν ἔχω τῷ θεῷ [charin echō tō theō] ist die eine „briefliche Danksagung“ einleitende Formulierung. Schnider/Stenger erkennen (wieder mit Schubert) „in der semantischen Tiefenstruktur“ dieses Strukturelements ein Modul, in dem „ein Heilszustand der Adressaten eine Rolle zu spielen“ scheint. Dagegen hat der Schreiber in Richtung auf den nachfolgenden Text mit der direkten Anknüpfung Δι’ ἣν αἰτίαν [di‘ hēn aitian] eine kurze Brücke geschlagen. Vor allem aufgrund einiger partizipialer Nebensätze ist die syntaktische Struktur recht kompliziert und auch nicht mit letzter Sicherheit analysierbar: 3a Dem der Sprachebene nach ganz im Präsens gehaltenen Hauptsatz mit Subjekt, Prädikat und Dativobjekt ordnet sich 3b ein Relativsatz unter, der das Dativobjekt im Blick auf die Beziehung des Subjekts zu ihm temporal und modal beschreibt. 3c Der mit ὡς eingeleitete temporale Nebensatz bezieht sich wieder auf den Hauptsatz (3a) und sagt (eingeschlossen durch die beiden Zeitangaben ἀδιάλειπτον … νυκτὸς καὶ ἡμέρας [adialeipton … nyktos kai ēmeras]), wann der Apostel Gott dankt, nämlich wenn er (wohl bei seinem regelmäßigen Gebet) an Timotheus erinnert wird.
formulierten Ermahnung ihre Schärfe genommen und sie argumentativ (…) vorbereitet wird.“ 2 Schnider/Stenger, Briefformular, 48f. Dies bezieht sich ihrer Meinung nach vor allem darauf, dass der Heilsstand „nicht mehr das Evangelium des Apostels selbst“ (wie Kol 1,7) begründet bzw. dass nicht „die den Heilsstand begründende Erstpredigt des Apostels“ den Anfang des Glaubens bewirkte (wie 2Thess 2,13 – Schnider/Stenger 48). Der nun schon drei Generationen einschließende gemeinsame Glaube von Großmutter, Mutter und Kind sagt m.E. nichts über den Zeitraum, in dem sich das abspielte (vgl. u. zu 1,5!). 3 Zur Abgrenzung vgl. Weiser 85 mit Anm. 38.
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4a Partizipial angehängt ist der Grund dafür, 4b dem wiederum dessen Anlass folgt. 4c Der ἵνα-Satz begründet den im Hauptsatz (3a) genannten Dank mit seiner Abzweckung. 5a Die dort erwähnte Freude wird in dem temporalen Partizipialsatz ihrerseits mit dem ungeheuchelten Glauben des Briefempfängers begründet. 5b Dieser Glaube wird schließlich durch einen Relativsatz zu denen in Beziehung gesetzt, von denen ihn Timotheus empfangen hat. Letzteres entspricht inkludierend dem ἀπὸ προγόνων [apo progonōn] in 3b: Schreiber und Empfänger sind in eine Reihe von Menschen eingebunden, die vor ihnen Gott gedient bzw. vertraut haben. Dass Paulus die mütterlichen, also die weiblichen Vorfahren in diesem Zusammenhang erwähnt, ist erstaunlich, aber durch die Fakten (beide waren Jüdinnen und vermutlich auch Christinnen, der Vater dagegen Heide) begründet. Mutschler weist darüber hinaus auf eine Ringkomposition von Inklusionen „nach dem Zwiebelschalenprinzip“ in V. 3f und 4f hin.4 Auffällig ist das Motiv der Erinnerung (3c/4b/5a), das schon hier ein Thema ist und die Gattung des Briefes signalisiert und einführt.5 2Tim 1,3-5 bilden also formal das Proömium des Briefs. Was den Inhalt des Textes, die Danksagung, angeht, weist Marshall mit Recht auf den Zweck dieses Abschnitts hin, der hier wie in einigen (nicht allen!) anderen Paulusbriefen das Scharnier zwischen Briefeingang und Briefkorpus bildet: „… not to offer an actual prayer to God but rather to report what Paul says in his prayers as a means of encouragement and exhortation to the readers.“6 Im Blick auf die verwendeten sprachlichen Formen finden wir auch hier die Aufnahme antiker Vorbilder. Das ist nicht sonderlich erstaunlich. Auf Parallelen zur antiken Freundschaftsbrief-Literatur7 und auf ausgeprägte sprachliche Gemeinsamkeiten mit anderen Paulusbriefen, am ausgeprägtesten mit Röm 1,812, wurde längst hingewiesen:
4 5 6 7
Mutschler, Glaube, 346. Marshall 690 sieht dagegen erst in V. 5 den Grund für die Freude des Apostels genannt. A.a.O. 689. Vgl. zuletzt Weiser 30ff.
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2Tim 1,3-5 3 Χάριν ἔχω τῷ θεῷ,
ᾧ λατρεύω ἀπὸ προγόνων ἐν καθαρᾷ συνειδήσει, ὡς ἀδιάλειπτον ἔχω τὴν περὶ σοῦ μνείαν ἐν ταῖς δεήσεσίν μου νυκτὸς καὶ ἡμέρας, 4 ἐπιποθῶν σε ἰδεῖν, μεμνημένος σου τῶν δακρύων, ἵνα χαρᾶς πληρωθῶ, 5 ὑπόμνησιν λαβὼν τῆς ἐν σοὶ ἀνυποκρίτου πίστεως, ἥτις ἐνῴκησεν πρῶτον ἐν τῇ μάμμῃ σου Λωΐδι καὶ τῇ μητρί σου Εὐνίκῃ, πέπεισμαι δὲ ὅτι καὶ ἐν σοί.
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Röm 1,8-12 8 Πρῶτον μὲν εὐχαριστῶ τῷ θεῷ μου διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ περὶ πάντων ὑμῶν ὅτι ἡ πίστις ὑμῶν καταγγέλλεται ἐν ὅλῳ τῷ κόσμῳ. 9 μάρτυς γάρ μού ἐστιν ὁ θεός, ᾧ λατρεύω ἐν τῷ πνεύματί μου ἐν τῷ εὐαγγελίῳ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ, ὡς ἀδιαλείπτως μνείαν ὑμῶν ποιοῦμαι 10 πάντοτε ἐπὶ τῶν προσευχῶν μου δεόμενος εἴ πως ἤδη ποτὲ εὐοδωθήσομαι ἐν τῷ θελήματι τοῦ θεοῦ ἐλθεῖν πρὸς ὑμᾶς. 11 ἐπιποθῶ γὰρ ἰδεῖν ὑμᾶς, ἵνα τι μεταδῶ χάρισμα ὑμῖν πνευματικὸν εἰς τὸ στηριχθῆναι ὑμᾶς, 12 τοῦτο δέ ἐστιν συμπαρακληθῆναι ἐν ὑμῖν διὰ τῆς ἐν ἀλλήλοις πίστεως ὑμῶν τε καὶ ἐμοῦ.
III 3 Paulus’ Proömien, die er in jüdisch-hellenistischer Brieftradition verfasst, beginnen in der Regel (anders: Gal, 1Tim, Tit) mit einem Dank an Gott (Röm, 1Kor, Phil, Kol, 1/2Thess, 2Tim, Phlm) oder einem Lobpreis Gottes (2Kor, Eph). Χάριν ἔχειν [charin echein] mit folgendem Dativ dessen, dem er dankt, benützt der Apostel aber nur hier und 1Tim 1,12. Mit einem Relativsatz erläutert er sogleich, in welcher Beziehung er zu Gott steht. Bei dem Wort λατρεύειν [latreuein] assoziierte der Jude (anders als der Grieche), wie die LXX zeigt, den Gottes-Dienst, der in erster Linie im Kult seinen Platz hatte.8 Im NT wird diese Zuordnung fast noch konsequenter durchgehalten. Andererseits wird die Verwendung über den Kult hinaus ausgedehnt, indem das Wort „in weitem oder auch übertr. Sinn vom Gott zugewandten Leben bzw. vom immerwährenden ‚Gottesdienst‘ gebraucht wird“.9
8 Vgl. zu Wortbedeutung und -geschichte den Art. von H. Balz, EWNT II, 848-852. 9 A.a.O. 850 (Belege dort).
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2. Timotheusbrief
Balz weist darauf hin, dass „bes. Lukas das Wesen des neuen Gottesdienstes schon im Dienst des alten Bundes angelegt sehen kann“ und das Wort „dabei den Sinn von anbeten / (kultisch) verehren“ habe.10 In diesem Zusammenhang erwähnt Balz auch Apg 24,14, wo Paulus vor dem Statthalter Felix und seinen jüdischen Anklägern seine Biographie schildert und dabei u.a. sagt: λατρεύω τῷ πατρῴῳ θεῷ [latreuō tō patrōō theō]. Allerdings ist für ihn der rein kultische Bezug ausgeweitet zu einem „Lebensgottesdienst“. Röm 12,1f ist der deutlichste Beleg dafür (vgl. auch Röm 1,9; Phil 3,3). Dabei sieht er im Gottesdienst als einer Veranstaltung der Gemeinde einerseits und als einer Hingabe des gesamten Lebens andererseits keine Alternative, sondern eher die beiden Seiten des Christseins: einmal mit der vertikalen Ausrichtung auf Gott, dann aber mit der horizontalen Ausrichtung auf die Existenz in dieser Welt.11 Die Kreuz-Form, die entsteht, wenn sich Vertikales und Horizontales begegnen, ist also auch hier nicht ohne Symbolik. Beide Aspekte haben wiederum je zwei Bezüge, indem nämlich die gottesdienstliche Zusammenkunft der Gemeinde mit einer auch nach innen sich kehrenden, kontemplativen Besinnung und einer Gott lobpreisenden Anbetung einhergeht, während der Lebensgottesdienst sowohl die Wahrnehmung der persönlichen Verantwortung vor Gott in den kleinen und großen Entscheidungen, als auch die Verantwortlichkeit eines Lebens mit Gott in der Zuwendung zu den Mitmenschen beinhaltet. Es liegen uns mehrere ähnlich lautende Auskünfte darüber vor, wie der Apostel seine Beziehung zur Religion seiner Väter nach seiner Lebenswende bei Damaskus definiert hat. Er tat das in Abgrenzung und Anknüpfung.12 Das Substantiv πρόγονος [progonos] wird im NT nur noch in 1Tim 5,4 verwendet und meint dort die unmittelbaren, von der Unterstützung ihrer Nachkommen im Sinne des 4. Gebots abhängigen Vorfahren. Hier hebt es auf die religiöse Kontinuität ab, die zwischen Paulus und seinen jüdischen Vorfahren besteht, was die Verehrung des einzigen Gottes angeht (vgl. Röm 9,4), den schon Israels früheste Generationen angebetet haben und der für Paulus selbstverständlich identisch ist mit dem Vater Jesu Christi. Inkludierend bezieht sich die Erwähnung seiner Vorfahren zu Beginn des Proömiums (V. 3bα) auf Mutter und Großmutter des Adressaten an dessen Ende (V. 5c). Absender und Empfänger verbindet, dass beide in einer genealogischen Reihe stehen, in der
10 Ebd. 11 Vgl. dazu auch die Ausführungen von P. Stuhlmacher zu Röm 12,1 (NTD 6, Göttingen 1989, S. 168f). 12 Falls Lukas auch der Schreiber des 2Tim wäre, wäre die Übereinstimmung auch unter diesem Aspekt zu betrachten. Sachlich in dieselbe Richtung gehen Phil 3,5f; Apg 23,6.
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dieselbe geistliche Kontinuität den Ton angab. Formal wird man diesen Bezug als eine captatio benevolentiae, also eine „vertrauensbildende Maßnahme“, im Sinne der antiken Rhetorik begreifen dürfen. Herrschte in V. 3bα der zeitliche Aspekt vor, so geht es in 3bβ um den modalen, d.h. um die Art und Weise, wie der Gottesdienst des Apostels aussieht. Er erfolgt nämlich mit reinem Gewissen. Die Verbindung mit dem Adjektiv „rein“ nimmt die kultische Sprache von V. 3bα auf und signalisiert bereits, dass ein dualistisches Denken im Hintergrund steht und also mit einer (wie wir sagen würden) „moralischen“13 Bedeutung des Begriffs im Sinne von „richtig oder falsch“, „gut oder schlecht“ zu rechnen ist. Denn καθαρός [katharos] bedeutet „rein, sauber; unschuldig; lauter“.14 Den theologischen Rahmen bilden die atl.-jüdischen Bestimmungen über Erwerb, Erhalt und Wiedergewinnung kultischer Reinheit, d.h. auch der Möglichkeit am (Opfer-) Gottesdienst teilzunehmen und damit eigene Schuld vor Gott bringen zu dürfen. „Rein“ bedeutet für Paulus „vor Gott rein“. Dies nun aber nicht im äußerlich-kultischen Sinn, vielmehr in einem „vergeistigten“. Das zeigt das Stichwort συνείδησις [syneidēsis]. Paulus „versteht das ‚Gewissen‘ als eine Instanz im Menschen, also nicht nur als Bewusstsein oder als rein affektives, aktuelles ‚Gewissen‘ im neutralen und speziell im negativen Sinn“. Sie hat „die Funktion, das eigene oder auch gelegentlich das Verhalten anderer Personen (…) nach vorgegebenen und anerkannten Normen zu kontrollieren, zu beurteilen und bewusst zu machen“, schreibt Eckstein.15 In unserem Zusammenhang eines Briefes am Ende eines Lebens bedeutet das: Der Apostel spürt im ehrlichen Rückblick auf sein Leben, zu dem ja die Lebenswende geradezu konstitutiv gehört, kein Schuldbewusstsein vor Gott. Was vorher war, ist vergeben (vgl. Apg 9,17f, denn vor der Taufe hatte jedenfalls damals nach Apg 2,38 die Umkehr, d.h. die gründliche Betrachtung des früheren Lebens und die Neuausrichtung ihren Platz), und was er seitdem getan und gelebt hat, was er verkündigt hat (Gal 1,8), war kein Irrweg. Es ist im Einklang mit Gottes Willen geschehen. Damit will er sicher nicht behaupten, er habe ein sündloses Leben geführt. Luthers simul iustus et peccator („gleichzeitig gerecht und Sünder“) 13 Zur Nichteignung des Begriffs „moralisch“, wie wir ihn verstehen, und zu den Alternativen vgl. H. Thyen, Art. καθαρός κτλ., EWNT II, 536f! Wohl nicht zu Unrecht sieht er „die einander kontrastierenden Sphären von ‚rein‘ und ‚unrein‘ … in Israel an der Spitze der Pyramide“ (Sp. 536). 14 A.a.O. 535. 15 H.-J. Eckstein. Der Begriff „Gewissen“ bei Paulus. in: ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben. Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, in: Beiträge zum Verstehen der Bibel 5. Hg. von M. Oeming / G. Theißen, Münster 2003, 73-77: 74.
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fußt ja gerade auf der paulinischen Theologie (vgl. z.B. Röm 7,14-25). Indem Paulus seinen Schüler an die religiöse Kontinuität (V. 3bα) und an die Bindung an Gottes Willen (V. 3bβ) erinnert, die sie verbindet, setzt er gleich zu Beginn einen starken Akzent. Exkurs Der Hinweis auf die Kontinuität seines persönlichen Gottesdienstes und die sich durchziehende, nicht abgebrochene oder umgebogene Linie (vgl. Röm 9,1ff) gibt uns einen wertvollen Hinweis auf das Verhältnis von Paulus’ „altem“ zu seinem „neuen“ Glauben. Damit ist der Satz ein wichtiger Mosaikstein hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Christentum überhaupt. Aus christlicher (und paulinischer) Sicht steht die Identität des Gottes Israels mit dem auch von den Christen geglaubten und verehrten Vater Jesu Christi völlig außer Zweifel. Diese Gemeinsamkeit unterscheidet andererseits aus christlicher Sicht Juden und Christen vom Islam, dessen Gottesvorstellung mindestens mit der christlichen, doch auch mit der jüdischen nicht kongruent ist. Bleiben wir aber bei Paulus! Offenbar hat er selbst ganz im Sinne Jesu seine Hinkehr zu Christus nicht als eine Abkehr vom Gott Abrahams verstanden, sondern als ein Näherkommen an diesen Gott heran bzw. ein Weiterkommen im Fortgang der Heilsgeschichte, die Gott mit Abraham begonnen, mit dem Bundesvolk Israel fortgeführt und mit dem Kommen Christi nicht einfach beendet hat (Röm 11,25ff). Paulus hat – entgegen seiner früheren Einsicht – in Jesus den schon im AT verheißenen Messias Israels erkannt und konnte damit theologisch bruchlos als Jude, der an Jesus glaubt, weiterleben. Seiner jüdischen Vorfahren, die auch sonst in autobiographischen Zusammenhängen gelegentlich eine Rolle spielen (z.B. Phil 3,5), schämt er sich nicht, sondern ist stolz auf sie. Ein Ausdruck dieser Kontinuität ist, dass die zentralen Begriffe und Elemente seiner Theologie nicht auf griechisch-hellenistischem Denken beruhen. Sie haben ihre Wurzeln vielmehr im Alten Testament. Dem widerspricht nicht der weltweite, die Grenzen der jüdischen Religion überschreitende und von Paulus unerbittlich festgehaltene Anspruch, dass Jesus der Erlöser der ganzen Welt sei, und damit die Möglichkeit auch für gebürtige Heiden, in engste Gemeinschaft mit Israels Gott einzutreten, ohne vorher (durch Beschneidung) selbst Juden geworden zu sein. Dass sich diese Sicht auch bei den am engsten mit Jesus verbundenen Menschen wie Petrus und Jakobus erst durchsetzen musste, bleibt davon unberührt. Neben theologischer Überzeugungsarbeit, von der Lukas – selbst daran nicht unbeteiligt – in der Apg berichtet, haben die geschichtlichen Umstände der 60er-/70er-Jahre des 1. Jh.s das Ihre zum Siegeszug dieser Ansicht beigetragen. Menschlich beurteilt wäre das Christentum ohne diese Entwicklung und ohne die weltweite Mission des Paulus und seiner
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Freunde vermutlich in einer Nische der Weltgeschichte verkümmert.16 Leider währte aber die Begeisterung mancher Heidenchristen über die Tür, die ihnen da eröffnet wurde, nicht allzu lange. Spätestens Markion drehte den Spieß um und wollte „das Jüdische“ aus dem Christentum entfernen, besonders aus seinem grundlegenden Bezugsdokument, der Bibel. Viele sind ihm bis heute darin gefolgt. Die Beispiele sind bekannt und enden leider nicht mit den sog. „Deutschen Christen“ der Nazizeit. Wie wäre es sonst zu verstehen, wenn Theologen in Indien forderten, den Christen in ihrem Volk nicht die Geschichte des Volkes Israel, sondern die ihres eigenen Volks als Grundlage ihres Glaubens erzählen?
Der zweite, mit ὡς [hōs] eingeleitete Nebensatz (V. 3c) könnte modaler oder temporaler Art sein. Mit ihm könnte Paulus die Art und Weise beschreiben, wie er Gott dankt, oder (wahrscheinlicher), was ihn begleitet, wenn er das tut. Denn während er in seinen Gebeten bei Tag und Nacht Gott dankt, erinnert er sich ununterbrochen (konkret wird das bedeuten: immer und immer wieder) an Timotheus. Die Formulierung in meinen Gebeten bei Nacht und Tag jedenfalls ist temporaler Art. Also wird der ganze Nebensatz zeitlich zu verstehen sein. Er bezieht sich aber nicht (nur) auf den Gottesdienst des Paulus in dem Sinne, dass sein Gottesdienst (nur) aus seinen Gebeten bestünde. „Jüdisches Gebetsleben kommt vor allem in der Liturgie – in der Synagoge und am Familientisch – zum Ausdruck“, schreibt Lawrence A. Hoffman.17 Diese Gebete bestanden allem voran aus Lobpreisungen bzw. Segnungen (berakōt).18 Von hier her, vom Gottesdienst und vom privat-familiären Leben her, haben sich gewiss auch die christlichen Gebetspraktiken als wesentlicher Teil der Spiritualität entwickelt. Paulus wird, wenn es ihm möglich war, den Morgenund Abendgottesdienst in der Synagoge bzw. an der jüdischen Gebetsstätte (vgl. Apg 16,13.16) oder der christlichen Gemeinde seines jeweiligen Aufenthaltsorts besucht haben. Daneben pflegte er, der nicht Familienvater war, das persönliche Gebet.19 Man wird annehmen können, der Apostel habe (als frommer Jude) sowohl feste tägliche Gebetszeiten gehabt, wenn es möglich war, aber gewiss auch „zwischendurch“ immer wieder, eben wenn er daran erinnert wurde, für bestimmte Gemeinden oder Personen gebetet – so wie wir es auch tun. Fürbittendes Gebet ist eine logische Folge ernsthafter Liebe zu Menschen, aber auch der Verbundenheit und Unterstützung von Organisationen. Es ge16 Daneben darf der Beitrag etwa des Petrus und der übrigen Apostel freilich nicht vergessen werden. 17 L. A. Hoffman, Art. Gebet III Judentum, TRE 12,42. 18 Nach Hoffman 43 sind diese Gebete „wesentlich Bittgebet“. 19 Vgl. hierzu auch R. Gebauer. Das Gebet bei Paulus: Forschungsgeschichtliche und exegetische Studien, TVGMS 349, Gießen u.a. 1989.
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hört zum Leben von Christen wie das Lob Gottes oder die Bitte um Gottes Beistand in persönlichen Angelegenheiten. Zudem gibt es die Möglichkeit, auch bei räumlicher Trennung die bestehende Verbindung aufrechtzuerhalten, am Ergehen des jeweils anderen Anteil zu nehmen und dieses zugleich sehr konkret mitzugestalten, etwa durch die Bitte um Bewahrung, Segen oder „Erfolg“. Dies könnte ein Grund sein, warum das Stichwort „Gebet“ in den Briefeingängen der Paulusbriefe eine so wichtige Rolle spielt. Es ergibt einen besseren Sinn, den ganzen Nebensatz V. 3c auf den Hauptsatz 3a zu beziehen: Paulus dankt Gott (dann besonders), wenn er betet (V. 3c). Eingeklammert wird 3c von den beiden Zeitangaben ἀδιάλειπτον [adialeipton] und νυκτὸς καὶ ἡμέρας [nyktos kai hēmeras], die beide eine gesteigerte Häufigkeit, Dauer, Kontinuität und Regelmäßigkeit ausdrücken. Er beschreibt mit bei Nacht und Tag gern die zeitliche Intensität des Gebets (1Thess 3,10; 1Tim 5,5) oder der Plage, die ihm seine Arbeit für die Gemeinde auflädt (1Thess 2,9; 2Thess 3,8). Paulus neigt in den Briefeingängen zu solchen Formulierungen, wie Phil 2,3f zeigen. Dort verwendet er auch die Begriffe μνεία [mneia]20 und δέησις [deēsis] und spricht von der Freude (χαρά [chara]), die er dabei empfindet. 4 Zwei kurze Partizipialsätze (V. 4ab) im Präsens Aktiv und Perfekt Passiv schließen sich an. Wo sie sich anlehnen ist nicht eindeutig zu erkennen: Für Knight ist der ganze V. 4 eine durch die Erinnerung an Timotheus ausgelöste Nebenbemerkung.21 Towner sieht die Sehnsucht nach seinem Schüler als Ergebnis von Erinnerung und Gebet, bezieht es also auf V. 3c.22 Siebenthal versteht „die ἐπιποθῶν-Konstruktion selbst, …, am besten als modale Angabe (Begleitgeschehen) zum Χάριν-ἔχω-Satz“ insgesamt.23 Möglich sind alle drei Varianten. Ich halte die Siebenthal’sche Analyse für die naheliegende: Indem der Apostel Gott (für Timotheus 3c) dankt und dabei auch an die Tränen des Schülers (beim letzten Abschied?) denkt, spürt er in sich die Sehnsucht ihm persönlich zu begegnen. Paulus spricht auch in anderen Briefen im Eingangsteil von seiner (bzw. seiner Mitarbeiter) Sehnsucht nach den Adressaten (Röm 1,11 verbunden mit dem Wunsch die Römer zu sehen; Phil 1,8; im Briefcorpus noch 1Thess 3,6 in 20 „Erinnerung“ ist ein wichtiger Faden im Proömium wie im Brief insgesamt; vgl. dazu Towner 2006, 447. 21 Knight 368. 22 Towner 446; ähnlich Marshall 692; Weiser 85. 23 So in einer E-Mail vom 25.4.2012. An dieser Stelle danke ich Dr. Heinrich von Siebenthal für seine geduldige und freundliche Begleitung und Beratung in Fragen von Grammatik, Syntax etc.!
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Verbindung mit μνεία und ἰδεῖν), aber auch nach eschatologischen Gütern (2Kor 5,2). Grund dafür dürfte die seelische Stärkung in seiner aussichtslosen Situation sein. Εr war nicht jemand, dem neben der Bindung an Jesus die Beziehung zu ihm nahestehenden Menschen gleichgültig gewesen wäre. Ihre Nähe, ihr Trost und Zuspruch bedeutete ihm trotz seiner theologischen Eigenständigkeit und seiner Stärke als Leitertyp viel. Deshalb steht ihm nun der weinende Timotheus und damit vermutlich der zurückliegende Abschied von ihm erneut vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Welche Situation das war, wissen wir leider nicht, obwohl es uns sehr interessieren würde.24 Es liegt nahe, an den in 1Tim 1,3 erwähnten Abschied in Ephesus25 oder an Apg 20,37 zu denken.26 Möglich ist natürlich auch, dass Paulus über Kontaktpersonen von dem seelischen Zustand seines Schülers gehört hatte. Wollen wir wirklich spekulieren, erscheint mir der Bezug auf 1Tim 1,3 am wahrscheinlichsten. Emotionale Regungen bis hin zu Tränen waren dem Apostel offenbar nicht fremd (2Kor 2,4). Die Erfüllung des Herzenswunsches mich … danach sehne dich zu sehen passt am besten als Grund dafür, damit ich mit Freude erfüllt werde (V. 4c). Die Aoristform πληρωθῶ [ plērōthō] deutet an, dass Paulus diesen „Freudenschub“ zunächst mit einem punktuellen Ereignis verbindet, eben mit dem erhofften Wiedersehen. Wohl nicht zufällig klingt am Beginn des letzten Gedankengangs im Proömium (V. 5) mit χαρά ein aus derselben Wortwurzel gebildetes27 und ähnlich klingendes Wort wie ganz am Anfang [χάρις V. 3a)] an. Schnider/Stenger sprechen von dem „Vollendungsteil“.28 Vom Dank zur Freude – und das durch ein Tal von Erinnerungen, Gebeten und Tränen. Wir wissen nicht, ob der Wunsch des Apostels in Erfüllung gegangen ist. 5 Neben die emotionale Erinnerung an Timotheusʼ Tränen stellt Paulus die geistlich-theologische an seinen ungeheuchelten Glauben (V. 5ac). In einer weiteren Partizipialkonstruktion nimmt er den Faden „Erinnerung“29 von
24 Vgl. dazu Weiser 2003, 92f. Eine konkrete Bestimmung der Szene im Leben des Paulus und Timotheus wird erstaunlicherweise nicht nur von Vertretern der Echtheit gesucht, sondern auch von Auslegern, die 2Tim für eine literarische Fiktion halten, obwohl Letztere diese Suche teilweise für „relativ unwichtig bzw. sogar problematisch“ halten (vgl. Oberlinner 19). 25 Z.B. Marshall 368. 26 Weiser 93 Anm. nennt als Beispiele die Kommentare von J.L. Houlden. The Pastoral Epistles. 1989, und E.F. Scott. The Pastoral Epistles.1936. 27 Vgl. dazu H. Conzelmanns Art. χάρις κτλ. (ThWNT IX (1973) bes. S. 363 mit Anm.) und χαίρω κτλ. (a.a.O. 350f mit Anm. 3). 28 Schnider/Stenger, Briefformular, 47. 29 Zu diesem Thema vgl. auch Mutschler 344 Anm. 6.
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2. Timotheusbrief
V. 3c.4b auf: sooft ich mich deines ungeheuchelten Glaubens erinnere (ὑπόμνησιν λαβών [hypomnēsin labōn]). Wie verstehen und übersetzen andere Ausleger den Partizipialsatz? Jeremias „was wäre das für eine Herzensfreude, wenn ich mich wieder persönlich überzeugen könnte von deinem ungeheuchelten Glauben …“ Brox „indem ich mir deinen ungeheuchelten Glauben vergegenwärtige, der …“ Merkel „erinnere ich mich doch an deinen ungeheuchelten Glauben, der …“ Holtz „Ich empfange (im Gebet) die Erinnerung an den ungeheuchelten Glauben, der …“ Oberlinner „ich habe deinen ungeheuchelten Glauben in Erinnerung, der …“ Weiser „gedenke ich doch deines ungeheuchelten Glaubens …“ Quinn/Wacker „I have a reminder of your unfeigned faith, …“ Towner „I am reminded of your sincere faith, which …“ Zu dem Subjektiv-emotional-Punktuellen tritt das Iterative. Der „Glaube in den Pastoralbriefen“ war Bernhard Mutschler eine Untersuchung wert. Er kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass in den Pastoralbriefen „Pistis als Mitte christlicher Existenz“ verstanden wird. In Einzeluntersuchungen geht er alle Vorkommen in den drei Briefen durch. An unserer Stelle liegt nach seiner Meinung „ein weiter, aber theologisch, sozial und ethisch zugleich sehr gefüllter Begriff von ‚Glaube‘ vor. ‚Glaube‘ wird hier im umfassenden Sinn eines Rahmen- und Grundbegriffs für das christliche Leben verwendet. Insbesondere die Auswirkungen auf den sozialen Bereich im Sinn das Zusammenleben [sic!] in Familie und Gemeinde und die pneumatologisch vermittelte ‚Einwohnung‘ des Glaubens im Menschen werden wie die beiden Pole einer Ellipse eindrücklich formuliert.“30
Mit der πίστις ἀνυπόκριτος [pistis anypokritos] nimmt der Verfasser nach συνείδησις [syneidēsis] das zweite bereits in 1Tim 1,5 genannte Stichwort auf. Dort war die Hintergrundfolie das falsche Verhalten einiger Dissidenten, hier geht es um das positive Beispiel und Vorbild des treuen Schülers, der ermutigt werden soll. ὑποκριτής [hypokritēs] ist seit der klassischen griechischen Zeit „der Schauspieler“, also eine Person, die jemand darstellt, der sie eigentlich 30 Mutschler 349.
Dankbare Erinnerungen 1,3-5
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nicht ist. Offenbar war die Versuchung, nicht vorhandenen Glauben vorzuspielen, schon damals groß, weil das zu (mehr) Anerkennung innerhalb des eigenen Milieus verhalf. Da der Glaube selbst als eine Existenzweise nicht sichtbar, nicht „objektivierbar“ ist, kann es hier nur um die sichtbaren Auswirkungen auf das Leben eines Menschen gehen, die jemand vorzeigt, ohne sie wirklich zu haben (s.u. IV). Der Unterschied (dass in 1/2Tim der Glaube, in Röm/2Kor die Liebe ungeheuchelt sein kann) sollte eigentlich nicht verwundern, da ja Röm und 2Kor an Gemeinschaften gerichtete Briefe sind, 1/2Tim dagegen an eine Einzelperson.31 In Gal 2,13 wirft Paulus Barnabas vor, sich mit Petrus und anderen Judenchristen deren Distanz zu den Heidenchristen heuchlerisch zu eigen zu machen. Timotheus ist (wie Paulus selbst) kein Solitär. Er steht vielmehr in einer Traditionskette, die sich über Generationen erstreckt (V. 5b). Das Adverb πρῶτον [ prōton] bedeutet im temporalen Gebrauch nach Bauer/Aland „zuerst, jedoch überwiegend früher, vorher, zuvor, zunächst“.32 Der Gedanke will den Glauben der Großmutter und Mutter als im Vergleich zu dem des Timo31 Weiser 94 gewichtet diesen Unterschied m.E. zu wenig. Daraus wiederum ein Argument gegen die paulinische Verfasserschaft des 2Tim zu machen, scheint mir weit hergeholt, es sei denn, man wollte Paulus auf bestimmte Aussagen festlegen und begrenzen, deren Inhalt wir Heutigen vom Schreibtisch aus definieren. Nach Weiser meint „Glaube“ bei Paulus „vor allem die endzeitliche Gabe Gottes, die aus dem Hören des Evangeliums und dessen Annahme kommt (Röm 10,8-17) und welche der Grund ist, durch den die neue eschatologische Existenz des Menschen ermöglicht und bestimmt wird“ (ebd.). Demgegenüber erscheine in den Past „der Glaube selbst als eine solche Grundhaltung“ (sc. wie „Liebe“, „reines Gewissen“, „Wahrheit“ und „Frömmigkeit“), erhalte also einen „habituellen Moment“ (ebd.). Dem ist mit G. Barth entgegenzuhalten, dass der Glaube „als die der Heilsbotschaft entsprechende Antwort des Menschen … die Existenz des Christen“ bestimmt und den „neuen Wandel“ begründet, „denn von der π.[ίστις] gilt, daß sie sich in der Liebe auswirkt (Gal 5,6) und ein bestimmtes Verhalten zur Folge hat (Röm 14,23; 2Kor 4,13)“ (G. Barth, Art. πίστις κτλ., EWNT III, 226). Mit einem „Habitus“, also der gewohnten oder eingeübten Verhaltensweise einer Person, hat das nur wenig zu tun, dafür aber mit der Frage, ob der Glaube sich auch dann schon jetzt auf das Verhalten auswirkt, wenn er eine eschatologische Größe ist (vgl. dazu aber auch Mutschler 268f!). Diese Frage bejaht auch Paulus deutlich, wenn er von Christen sagt, sie seien der Sünde gestorben und lebten für und mit Jesus (Röm 6,11). Schon der Paulus des 1Thess konnte über das „Werk im Glauben“ der Gemeinde nachdenken (1Thess 1,39; vgl. auch 1,8!). Nach Kol 2,5 kann er den Glauben der Kolosser „sehen“. Übrigens untersucht auch Mutschler 360-365 den Habitus-Aspekt des Glaubens im 2Tim, ordnet ihm aber lediglich 2,22 und 3,10 zu. Zu letztgenannter Stelle fasst er zusammen: „Indem Timotheus ‚Paulus’ Glauben nachfolgt‘, lebt dessen Glaube nicht nur für sich selbst, sondern orientiert andere auf Christus hin. Dadurch erhält er einen habituellen Akzent: Er trägt Verantwortung für den Glauben anderer“ (a.a.O. 365). 32 Bauer/Aland 1453.
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2. Timotheusbrief
theus früher entstanden einordnen. Damit ist aber nicht gemeint, er sei im Generationenabstand (also über Jahrzehnte) weitergegeben worden. Der ungeheuchelte Glaube (so führt der Verfasser in einem Relativsatz aus) verbindet Timotheus mit seiner Großmutter Lois und seiner Mutter Eunike (V. 5b; vgl. 1Tim 4,6). Gemeint ist hier sicher der christliche Glaube. Nach Apg 16,1 war Timotheus der Sohn einer jüdischen Frau, die gläubig war, und eines griechischen Vaters. Man wird daraus schließen dürfen, dass auch Λωΐς [Lois]trotz des griechischen Namens eine Jüdin war.33 Es war seit hellenistischer Zeit nicht selten, dass (assimilierte) Diasporajuden ihren Kindern griechische Namen, sogar Götternamen gaben. Die Heirat mit einem Griechen bedeutete unter Umständen einen deutlichen sozialen Aufstieg und einen Ausweg aus dem Ghettodasein, wenn auch das Ansehen in orthodox-jüdischen Kreisen sinken konnte. Zum Namen Λωΐς verweist Bauer/Aland auf eine Stelle bei Semonides, wo es im Komparativ heißt: „keine andere Frau ist begehrenswerter als diese“ (λωίων γυνί [lōiōn gynē]).34 Gut vorstellbar, dass aus dem Wort irgendwann ein Mädchenname wurde: „die Begehrte“.35 Die Erwähnung von Timotheus’ Mutter und Großmutter hat aber nicht nur den Sinn der Erinnerung. Sie stellt ihm die beiden auch als Vorbilder vor Augen. πείθω (peithō) im Perfekt Passiv ist zwar eine starke Aussage; Mutschler könnte aber recht haben, wenn er vorsichtiger schreibt: „Da in den Vorfahren der Glaube ‚einwohnte‘, hofft der Briefautor dasselbe auch von Timotheus.“36 Auch wir verwenden im Deutschen manchmal das Wort „sicher“, das eigentlich eine Verstärkung meinen sollte, im Sinne einer indirekten Infragestellung: „Das hat er sicher schon erledigt …“ Klingt hier schon gleich am Anfang ein Quantum Unsicherheit darüber an, ob Timotheus die Erwartungen seines Lehrers auch wirklich erfüllen kann und wird? Marshall kommentiert: „…, but the expression ‘I am convinced’ does in fact paradoxically suggest an element of doubt in the writer’s mind that Timothy’s faith is giving him some concern …“37
33 Sachlich und von den Quellen her m.E. völlig unbegründet behauptet Roloff zu Apg 16,1, „die persönlichen Angaben über ihn“ stünden „nicht in Einklang mit der späteren Timotheus-Legende, die von einer christlichen Mutter und Großmutter des Timotheus weiß“ (J. Roloff, NTD 5, Göttingen 1981,240). 34 Hervorhebung im Text von mir. Bauer/Aland, Wörterbuch Sp. 982; Zitat Semonides von Amorgos (7. Jh. v.Chr) 7,30 D (sog. „Weiberjambus“). 35 Vgl. franz. „Désirée“. 36 Mutschler 345. 37 Marshall 695 mit Verweis auf L.T. Johnson. II Timothy and the Polemic against False Teachers: A Re-examination. OJRS 6, 1978, 48.
Dankbare Erinnerungen 1,3-5
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IV 1. Heucheln: Was könnte konkret gemeint sein? Man kann an Wirkungen des Geistes denken. Die unmittelbar im Anschluss von Paulus ausgesprochene Erinnerung, Timotheus möge „das Charisma Gottes wieder anfachen“ (V. 6), legt nahe, etwa an die 1Kor 12,4ff genannten Geistesgaben zu denken. Ein Beispiel: Zungenrede ist ja nicht nur ein christliches Phänomen; sie ist religionsgeschichtlich verbreitet und kann durch Ekstasetechnik künstlich provoziert, also: „geheuchelt“ werden. Ähnliches gilt für die prophetische Rede. In Gemeinden wie der in Korinth erhöhte es offenbar das Ansehen als „geistlicher“ Mensch sehr, wenn jemand solche Fähigkeiten vorweisen konnte. Umgekehrt galt geradezu als Christ zweiter Klasse, wer es nicht konnte. Spätere kirchliche Bewegungen und Gruppen haben daran angeknüpft und die Unterscheidungen und Beurteilungen intensiviert. Die Versuchung muss groß gewesen sein, „Geistlichkeit“ zu schauspielern. Simon Magus steht für den Versuch, geistliche Macht „einzukaufen“. Für solche Versuche besteht bei Timotheus kein Anlass, hat er doch das Charisma Gottes bereits erhalten. Eine weitere Möglichkeit, Christsein zu heucheln, bietet die Liebe. In Röm 12,9 und 2Kor 6,6 verbindet Paulus das Verbaladjektiv ἀνυπόκριτος [anhypokritos] mit der geschwisterlichen ἀγάπη [agapē], also mit der nach außen wahrnehmbaren Auswirkung des Glaubens, die schon Jesus zu einem Merkmal seiner Nachfolger gemacht hatte (vgl. etwa Mt 7,16-20; 12,33-37; Joh 13,34f; 15,9ff) und die Paulus (vgl. Röm 6,22; Gal 5,22f), Johannes (1Joh 2,7-11) und Jakobus (Jak 2,20-26) je auf ihre Weise beschreiben und verlangen. Schließlich kann auch diakonische Tätigkeit als sichtbarer Ausdruck des Christseins geheuchelt werden. 2. Wird Glaube einfach durch „Vererbung“ weitergegeben? Ist er eine Sache der Gene, die jemand hat oder nicht hat? Ein vorschnelles „Nein“ hilft nicht wirklich zu einer Antwort. Vordergründig betrachtet wäre diese Antwort sicher zutreffend: Es gibt kein „Glaubens-Gen“. Aber es gibt Veranlagungen, die ein Mensch sicher auch genetisch erhält, Einstellungen und Verhaltensweisen, die er in der Umgebung, in der er aufwächst, erlebt und (meist unbewusst) übernimmt, Resultate der Erziehung und das Vorbild von Menschen, die ihn ein Leben lang formen. Dazu gehört die Bereitschaft und die Offenheit, überhaupt nach Gott zu fragen, eine „religiöse Sozialisation“. Dazu gehören Gewohnheiten wie der Gottesdienstbesuch, Sensibilität für Schwächere und ihre Bedürfnisse bis hin zum sog. „Helfersyndrom“. Insofern hat die Weitergabe des Glaubens sehr viel damit zu tun, in welche Familie und Tradition jemand hineingeboren wird. Sie ist aber keine „Versiegelung“, die vor dem Weg von Gott weg schützt, und auch kein Zwang, den Weg mit Gott zu wählen.
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2. Timotheusbrief
3. Das Amt, der Auftrag, sein Fundament und seine Bedrohung 1,6-14 I 6 Deshalb erinnere ich dich, das Geschenk Gottes wieder anzufachen, das in dir ist durch Auflegung meiner Hände. 7 Gott hat uns nämlich nicht den Geist der Feigheit gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und angemessener Selbsteinschätzung. 8 Du sollst dich nun des Zeugnisses unseres Herrn nicht schämen, auch nicht meiner, seines Gefangenen, sondern für das Evangelium Böses miterleiden entsprechend der Kraft Gottes, 9 der uns gerettet hat //und mit heiligem Ruf gerufen, nicht nach unseren Werken, // sondern nach [seinem] eigenen Vorsatz und Gnade, die uns durch Jesus Christus gegeben ist vor ewigen Zeiten, // 10 offengelegt aber jetzt durch das Erscheinen unseres Retters Christus Jesus, der den Tod unwirksam machte, // aber Leben und Unvergänglichkeit hat aufleuchten lassen durch das Evangelium, 11 wozu ich eingesetzt bin als Herold und Apostel und Lehrer. 12 Aus diesem Grund erleide ich auch dies. Aber ich werde nicht zuschanden, denn ich weiß, wem ich vertraut habe, und bin überzeugt, dass er mächtig [genug] ist, auf jenen Tag zu bewahren, was mir anvertraut ist. 13 Ein Urbild der heilmachenden Worte sollst du haben, die du von mir gehört hast in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus ist. 14 Bewahre das gute Anvertraute durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt. II Die Abgrenzung zum vorangehenden Text wird durch die ihn zusammenfassende und weiterführende Bezugnahme δι’ ἣν αἰτίαν markiert. Dem stark theologisch gefüllten Abschnitt folgt ab V. 15 ein persönlich informierender Teil. Zwei große Strukturen sind in unserem Text erkennbar: V. 6-111 Mit der kausalen Konjunktion διʼ ἣν αἰτίαν [di’ hēn aitian] stellt der Schreiber neben dem Neueinsatz zugleich eine deutliche Brücke zwischen Proömium und Briefkorpus her. Was genau der Bezugspunkt dort ist, darüber ge1 Zur Analyse der Strukturen von V. 8-11 vgl. Stettler, Christologie, 127f, zum Vergleich mit Röm 1,16f und 3,21-28 und zur Exegese vgl. a.a.O. 129-139.
Das Amt, der Auftrag, sein Fundament und seine Bedrohung 1,6-14
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hen die Meinungen auseinander. Eine große Gruppe der Kommentare sieht das Proömium insgesamt als Basis für die erinnernde Mahnung in V. 16. Daran ist richtig, dass der Verfasser den Beginn des Hauptteils seines Briefs mit Absicht eng an V. 3-5 anbindet. Es ist aber zu erwägen, ob nicht genauer der Wunsch des Apostels damit ich mit Freude erfüllt werde (V. 4c) oder die Timotheus selbst betreffenden Aussagen (bes. V. 5a.c) als Anknüpfungspunkte heranzuziehen wären. Das in 5a.c vorkommende, in 6b wiederholte ἐν σοί [en soi] – nun nicht auf den Glauben, sondern auf das durch diesen vorhandene Charisma bezogen – stellt ebenfalls die Verbindung nach hinten (V. 5) und vorne zu ἐν ἡμῖν [en hēmin; V. 14] her. 6 nimmt in Haupt- und Relativsatz erneut das Motiv „Erinnerung“ auf, nun konkretisiert im Blick auf eine Gabe Gottes, die Timotheus durch Paulus empfangen hatte. Offenbar hat 7 (inhaltlich an Röm 8,14f anknüpfend) die Wirkung dieser Gabe im Blick, die zweigliedrig-adversativ (negativ und positiv) beschrieben wird. 8 zieht daraus die Konsequenzen (μὴ οὖν [mē oun] mit Imperativ), wieder in zweigliedrig-adversativer (zweifach negativer und positiver) Form. 9 knüpft relativisch an dem Stichwort „Gott“ an und bietet in V. 9-11 in tief gegliederter Partizipialkonstruktion ein vermutlich traditionelles theo- (V. 9ab) und christologisches Stück (V. 10), das in V. 11 „redaktionell“ (d.h. durch den Verfasser) wiederum auf Paulus, seine Ämter und Aufgaben bezogen wird.2 Inhaltlich fällt die Nähe zu 1Petr 1,20, Röm 1,16f; 3,21-28 und 16,25 auf. In V. 9f wird umfangreich die hebräisch-poetische Sprachform des parallelismus membrorum verwendet (nach Stettler: 9ab, 9c-9d, 9e-10a, 10b-10d).3 V. 12-14 12 Indem er die Formulierung δι’ ἣν αἰτίαν [di‘ hēn aitian] wiederholt und die Signalwörter ἐπαισχύνομαι [epaischynomai] und πάσχειν [paschein] von V. 8b aufnimmt, schafft der Verfasser den Wiedereinsatz bei dem zuvor (V. 9) durch Einfügung des schon aus der urchristlichen Tradition bekannten (Bekenntnis-)Textes exkursartig verlassenen gedanklichen Fadens. Der mit ἀλλ’ οὐκ [all’ ouk] beginnende zweite Versteil gibt eine korrigierende Präzisierung der beim Leser oder bei ihm bekannten Personen oder Gruppen wohl vermuteten Meinung. Die Präzisierung wird durch einen Einschub konsekutiv (γάρ [gar]) und kausal (ὅτι [hoti]) untermauert. In dem Abschnitt 1,6-14 fällt sprachlich das vier Mal verwendete ἀλλά [alla] auf. Verglichen mit den übrigen Paulusbriefen bewegt sich die Häufig2 Vgl. a.a.O. 128. 3 A.a.O. 127.
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2. Timotheusbrief
keit mit einem Verhältnis von 1 zu 1034 auf demselben hohen Niveau wie im Röm (dort 1 zu 103). Noch dichter ist die Verteilung in 1Kor (1 zu 94) und Gal (1 zu 95). Im internen Vergleich der Pastoralbriefe nimmt der 2. Timotheusbrief deutlich den Spitzenplatz ein (1Tim 1 zu 132; Tit 1 zu 331). Diese Sachlage mag nur auf den ersten Blick verwundern. 1Kor, Gal und Röm sind stark kontrovers argumentierende Texte, in denen Paulus viel aufwendet, um seine Leser von der Richtigkeit seiner Argumentation zu überzeugen. Aber im 2. Timotheusbrief? Ein Abschiedsbrief an den treuesten Schüler, der seine Theologie von Grund auf kennt? Über Gründe lässt sich nur spekulieren: Beschäftigen Paulus immer noch die alten Konflikte? Möchte oder muss er angesichts der Konsequenzen, die ihm nun drohen, manche Sachverhalte auch für sich selbst noch einmal mit Für und Wider durchdenken? 13f knüpft mit zwei Imperativen wieder bei den Weisungen an Timotheus in V. 8 an. So schließt sich der Kreis. III 6 Das Vorbild der beiden Vorfahrinnen von Timotheus gibt Paulus den Grund (αἰτία [aitia]) und Anlass, seinen Schüler an das zu erinnern, was als Gabe Gottes bereits in ihm schlummert und nun nur darauf wartet, wieder entflammt zu werden. ἀναζωπυρεῖν [nazōpyrein] „wiederanfachen“ kommt nur hier im NT vor. Die Metapher zeigt, dass der Apostel in einem Geschenk Gottes etwas versteht, das im Menschen brennt und lebt, das ihn also beschäftigt und bewegt, mit Energie und Motivation versorgt. Geschenk (griech. χάρισμα [charisma]) muss von der Wortbedeutung „(wohlwollend gespendete) Gabe, d. Gnadengeschenk“5 her nicht unbedingt in Verbindung mit dem Geist Gottes gesehen werden. Das Wort wird von Paulus aber durchaus für „Geistesgabe“ verwendet, wobei der Heilige Geist selbst „die“ Gabe Gottes schlechthin an die Glaubenden ist (2Kor 1,22; 5,5 u.ö.), die dann freilich verschiedene (Aus-)Wirkungen haben kann (Röm 12,6-8).6 An unserer Stelle wird der enge Zusammenhang von Geschenk/Charisma und „Geist“ deutlich (V. 6/7). Die Aussagen von V. 7 weisen eher nicht in Richtung der sonst von Paulus aufgezählten besonderen Geistesgaben im charismatischen Sinn (s. 4 Zwölf Mal kommt das Wort im 2Tim vor. 5 Bauer/Aland 1753. 6 Vgl. dazu den entsprechenden Art. von K. Berger im EWNT III, 1102-1105. Berger 1103 weist mit Recht auf Jes 11,2 als atl. Hintergrund für dieses Verständnis der Geistesgaben hin. Es könnte nach dem Quellenbefund sein, dass der Apostel selbst es war, der das vorher eher selten gebrauchte griech. Wort, das also keine ganz fest geprägte Bedeutung hatte, als Erster in diesem Sinne verwendet hat.
Das Amt, der Auftrag, sein Fundament und seine Bedrohung 1,6-14
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dort). Offenbar aber ist das ursprünglich in Timotheus vorhandene Feuer ziemlich niedergebrannt, also nicht mehr so wirksam und ausstrahlend wie einst (vgl. Offb 2,4: 3,15). Es könnte dies wieder ein Signal dafür sein, dass der 2. Timotheusbrief im Blick auf seinen Adressaten ein sehr konkretes Ziel verfolgt, nämlich den Schüler „aufzuwecken“ (was voraussetzt, dass er in Lethargie verfallen war) und dadurch für die ihm zugedachte Aufgabe (bewahre das gute Anvertraute) vorzubereiten. Warum sollte Timotheus aufgrund von Rückschlägen – wir wissen nicht, was 1Tim in Ephesus bewirkt hat und ob er im Anschluss an 1Tim überhaupt „erfolgreich“ war! – nicht in Resignation und Zweifel verfallen sein? Jedenfalls hat Paulus solche Entwicklung offenbar schon in anderen Fällen beobachtet (vgl. 1Tim 5,12) und weiß, dass am Ende die Trennung stehen kann (2 Tim 4,10). Im Hebr (10,25), der m. E. etwa in dieselbe Periode gehört wie der 2. Timotheusbrief, finden wir dieses Phänomen auch. Ausgangspunkt ist das Geschenk Gottes, … das in dir ist durch Auflegung meiner Hände. Deutlich bezieht sich diese Formulierung auf 1Tim 4,14, wo ebenfalls von einem Timotheus gegebenen Geschenk die Rede ist, dort allerdings „durch Prophetie mit Handauflegung des Ältestenrats“. Man muss jedoch abwägen, ob der Charisma-Begriff, den wir dort7 eher objektiv im Sinne eines „Amtsauftrags“ verstanden hatten, hier nicht anders verstanden werden kann, zumal der Apostel in 2Tim 2,6b von einer Handauflegung durch sich selbst spricht. Gewiss verdient auch die Gattung des 1Tim Beachtung, die nahelegt, die Gemeinde in Ephesus bzw. deren Leitung als eigentliche Adressaten anzusehen. Handauflegung muss heute und musste erst recht damals kein einmaliger Vorgang sein, zumal wenn wir sie als eine auf eine bestimmte Person, Aufgabe oder Situation bezogene, deshalb sehr konkrete und (in atl. Tradition und auch körperlich spürbar individuelle) Fürbitte verstehen. Zwei Möglichkeiten sind zu bedenken: (1) Paulus könnte seinen Schüler unabhängig von dessen Beauftragung in der und durch die Gemeinde in Ephesus durch Handauflegung bei einer ihrer Begegnungen erneut fürbittend für seine Aufgabe gestärkt haben. (2) V. 6 könnte sich auf eine geistliche Handlung beziehen, die der Apostel bereits zu Beginn von dessen Mitarbeit (Apg 16,1-3) an und mit ihm vollzogen hat. Man sieht: Wir bewegen uns auch hier im Reich der Spekulationen. Wichtig ist, dass wir nicht heutige Maßstäbe und Üblichkeiten ins 1. Jh. n.Chr. projizieren.
7 Vgl. dazu und zum Folgenden meine Auslegung im HTA-Kommentar zum 1Tim. Vorbild in der Urgemeinde war die Einsetzung der Armenpfleger in Apg 6,6.
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2. Timotheusbrief
In Apg 8,18f wird Handauflegung als Ritus, der den Geistempfang vermittelt, von Simon Magus (miss-)verstanden und instrumentalisiert, wobei zu fragen ist, ob diese Wirkung ex opere operato (also geradezu zwangsläufig durch den Vollzug) eintrat oder ob sie nicht vielmehr eine traditionsgeschichtlich aus dem atl. Judentum stammende, sinnvolle Art und Weise der Weitergabe des Geistes war und ist. Immerhin ist Apg 8,17 davon die Rede, dass die Apostel den gläubig gewordenen Christen Samariens die Hände auflegten und diese daraufhin den Geist empfingen. Jesus und (in seinem Auftrag) seine Boten heilten durch Handauflegung (Mk 6,5; 8,23.25; 16,18; Lk 4,40; 13,13; vgl. auch Apg 9,12.17, wo Heilung und Geistempfang zusammen kommen). Diese Handlung wurde im Zusammenhang mit Heilung und Segnung durchaus von den Leuten erwartet (Mt 9,18; 19,13; Mk 7,32). Interessant ist Apg 19,6, wo Paulus den Johannesjüngern in Ephesus (!) die Hände auflegt, sie den Geist empfangen und in Zungen und prophetisch zu reden beginnen. Dass dieser Zusammenhang kein Automatismus ist, zeigt Apg 28,8, wo Paulus durch Handauflegung heilt, ohne dass vom Geist die Rede wäre. Kein Wunder ist es angesichts solcher Breite, wenn in Hebr 6,2 die Handauflegung in einer (für den Taufunterricht bestimmten?) Liste von wichtigen Bestandteilen der Lehre genannt wird und Paulus 1Tim 5,22 schreibt, Timotheus solle niemand zu schnell die Hände auflegen (gemeint ist wohl, um ihn in ein Gemeindeamt einzusetzen). Fassen wir zusammen: Timotheus hatte einst, indem Paulus ihm (betend) die Hände aufgelegt hatte, Gottes Gabe für seine Aufgabe, nämlich den Heiligen Geist, erhalten. Inzwischen hatte aber die Lebendigkeit, mit der der Geist in ihm wirkte, nachgelassen, sodass Paulus sie neu entfachen wollte. 7 Nun beschreibt der Apostel die Wirkung dieses Geistes näher, und zwar abgrenzend und bestätigend. Es ist nicht ein Geist der Feigheit …, sondern der Kraft und der Liebe und angemessener Selbsteinschätzung. Die Genitivverbindungen kann man als semitisierend ansehen, wonach das jeweilige Substantiv im Genitiv beschreibt, wie der Geist wirkt, nämlich indem er den Menschen nicht feige macht, sondern kraftvoll, liebevoll und beherrscht. Paulus, der auch sonst solche Dreiergruppen liebt (vgl. 1Thess 1,3; 1Kor 13,13; Kol 1,4f), wird genau diese Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen nicht aus der Luft gegriffen haben. Offenbar äußerte sich die mangelnde geistliche Lebendigkeit bei Timotheus in Feigheit (δειλία [deilia]). In der profanen griech. Literatur wird der Begriff als Gegenüber zu „Männlichkeit“ im Sinne von „Mut, Kühnheit“ bis hin zu „Verwegenheit“ und „Übermut“ gebraucht. Mit einem Wort von diesem Stamm ermutigt Jesus seine Jünger, sich in der Welt nicht zu fürchten (Joh 14,27), ähnlich bei der Sturmstillung angesichts der
Das Amt, der Auftrag, sein Fundament und seine Bedrohung 1,6-14
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drohenden Wellen und Winde (Mt 8,26 par). Nach Offb 21,8 werden die Feigen wie die Ungläubigen ihren Platz einmal im „zweiten Tod“ finden. In der biblischen Literatur begegnet uns häufig die Verbindung von Geist8 mit einem anderen Substantiv im Genitiv, das ein Verhalten, eine Fähigkeit, eine Eigenschaft beschreibt (vgl. nur „Geist der Weisheit“ Ex 28,3 u.ö., auch Eph 1,17; „Geist der Eifersucht“ Num 5,14.30; komprimiert Jes 11,2; Jes 28,6; „Geist der Hurerei“ Hos 5,4; „Geist der Gnade und des Gebets“ Sach 12,10; „Geist der Unreinheit“ Sach 13,2; im NT bei Jesus „Geist der Wahrheit“ Joh 14,17; 15,26; 16,13; bei Paulus „Geist der Heiligkeit“ Röm 1,4; „Geist der Verheißung“ Eph 1,13; „Geist der Herrlichkeit“ 1Petr 4,14; „Geist der Wahrheit und des Irrtums“ 1Joh 4,6; „Geist der Gnade“ Hebr 10,29; „Geist des Lebens“ Offb 11,11; „Geist der Weissagung“ Offb 19,10), und zwar positiv wie negativ. An unserer Stelle werden der einen negativen Verhaltensweise (Feigheit) drei positive gegenüber gestellt: Kraft – Liebe – angemessene Selbsteinschätzung. Kraft: δύναμις [dynamis] ist ein biblisch, besonders aber ntl. gefülltes Wort mit relativ großer Bedeutungsbreite, wie Friedrichs Artikel zeigt.9 Es ist „ein Kennzeichen Gottes“ und kann im Judentum sogar seinen Namen ersetzen (a. a.O. 862). Mit ihm sind im AT besonders die machtvollen (Wunder-)Taten verbunden (862f), was dann auf die Wunder Jesu übertragen wird (865f). Für Paulus äußert sich Gottes Kraft in der Verkündigung von Gottes Wort und den daraus resultierenden Folgen, die zugleich „Auswirkungen des Geistes“ sind (866). Damit schließt sich der Kreis vom Ausgebranntsein des Timotheus, das sich ja wohl auch auf seine Aufgabe als Verkündiger des Evangeliums bezieht (V. 8aα), und seinem fehlenden Mut, sich zu dem wie ein Verbrecher behandelten Apostel zu stellen (V. 8aβ; Friedrich 866), und kulminiert in dem Begriff der Feigheit. Nach Eph 3,16f ist Gottes Geist ganz in diesem Sinne das Instrument, das den „inwendigen Menschen“ dadurch stärkt, „dass Christus durch den Geist eure Herzen bewohnt und ihr [dadurch] in der Liebe wurzelt und gegründet seid“.
8 Mit „Geist“ ist wohl weniger an ein personales Wesen gedacht, sondern an die das Verhalten eines Menschen bestimmende Motivation; an das, was ihn dazu bringt, sich so zu verhalten, wie er sich verhält. 9 Vgl. zum Terminus insgesamt den entsprechenden Art. von G. Friedrich in EWNT I, 860ff.
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2. Timotheusbrief
Liebe: ἀγάπη [agapē] – ein weiteres Hauptwort paulinischer Theologie – hat Stauffer in seinem grundlegenden ThWNT-Artikel von 193310 sehr anschaulich von „konkurrierenden“ Termini abgegrenzt. Es meint im klassischen Griechisch nicht wie ἐράω [eraō] „das leidenschaftliche Lieben, das den andern für sich begehrt“ (a.a.O. 34), auch nicht „die Neigung, die fürsorgliche Liebe“, für die φιλέω [phileō] steht (36), also nicht so sehr etwas Emotionales, sondern eine Liebe, die sich um des Geliebten willen aktiv für ihn hingibt, entschieden und treu an ihm festhält (37). Damit ist sie eine für den Menschen zwar anzustrebende, aber doch nie wirklich zu erreichende Tugend, deren Vorbild und eigentlicher Träger nur Gott sein kann. Er hat seine Liebe zu seiner Welt am konzentriertesten erwiesen, indem er seinen Sohn nicht nur als Mensch zur Welt kommen, sondern für die Schuld der Welt ans Kreuz gehen ließ (Joh 3,16). Dadurch hat sich die Situation der Menschen grundlegend verändert. Jesus wiederum hat die Liebe (besonders nach dem Johannesevangelium) als die Grundhaltung und -verhaltensweise definiert, die das Leben seiner Leute zunächst untereinander bestimmt (vgl. 1Joh 2,7.11), was dann aber Auswirkungen auf ihre Umwelt hat (Joh 13,34f; 15,12). Sie ist allerdings eng verbunden mit der Liebe zu Gott (Vater und Sohn), die wiederum ihr Vorbild in der Liebe von Vater und Sohn zueinander hat (vgl. Joh 15,9f; 17,26). Für Paulus ist das Ziel der so beschriebenen Liebe Gottes „der neue Mensch“ (a.a.O. 50). Ihn beschreibt und beschwört Paulus geradezu in den sehr verschiedenen Situationen der Gemeinden und Personen, an die seine Briefe gerichtet sind, und zwar in den lehrhaften wie in den ethischen Abschnitten (vgl. etwa Röm 12,9ff; 1Kor 13 u.ö.). Kraft reicht Paulus also offenbar nicht, um zu beschreiben, was er bei und von Timotheus erwartet. Es wäre zu wenig zu mutmaßen, er erwähne die Liebe eigentlich nur der Vollständigkeit halber, weil sie für ihn in Gal 5,22 an erster Stelle der Verhaltensweisen und Einstellungen genannt wird, die der Geist Gottes in einem Menschen hervorruft. Umgekehrt: Sie steht dort an der Spitze, weil sie so entscheidend wichtig ist für eine christliche Existenz. Das dürfte auch der Grund für ihre Erwähnung hier sein: Ohne Liebe geht nichts. Kraft ohne Liebe führt zu einem Machtdenken, richtige Selbsteinschätzung ohne Liebe zu Passivität. Selbsteinschätzung: σωφρονισμός [sōphronismos] finden wir im ganzen NT nur hier. In der klassischen griech Literatur ist es relativ selten, auch in der LXX kommt es nicht vor, bei Josephus vier Mal. Paulus kennt und verwendet verschiedene Formen des Stammes σωφρο- an 12 Stellen, davon zehn Mal in den Pastoralbriefen, in denen es als Ziel, das erreicht werden soll, einen hohen 10 E. Stauffer, Art. ἀγαπάω κτλ., ThWNT I,34-55.
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inhaltlichen Stellenwert hat. In Röm 12,3, also im Zusammenhang einer Grundlegung christlicher Ethik, definiert er geradezu: „Ich sage nämlich wegen der Gnade, die mir gegeben ist, jedem, der bei euch ist, dass er sich nicht überschätzen soll neben dem, was man denken soll, sondern (er soll) mit dem Ziel einer realistischen Selbsteinschätzung denken“ (φρονεῖν εἰς τὸ σωφρονεῖν [ phronein eis to sōphronein]), „wie Gott jedem das Maß des Glaubens zugemessen hat.“ Dieses Verständnis (auf σωφρονισμός angewandt) ergibt einen guten Sinn: Dem Geist der Feigheit, die nicht wagt, tätig zu werden oder sich zu exponieren, stünde dann der Geist einer angemessenen Selbstund Situationseinschätzung gegenüber. Luthers Übersetzung mit „Besonnenheit“ trifft das durchaus, sofern man es nicht in Richtung „Selbstbeherrschung“ einseitig ethisch akzentuiert. Der ganze V. 7 wird dann als Versuch verstanden, Timotheus zu ermutigen und zugleich zu befähigen, dass er (in Erinnerung an seine auch geistlichen Vorfahrinnen wie an seine erfolgte Beauftragung und Bevollmächtigung als Verkündiger des Evangeliums) den Mut nicht sinken lässt, sondern im Vertrauen auf die in ihm wirksame Kraft Gottes, aus der von Jesus vorgelebten Liebe heraus und mit einem nüchternen Blick auf seine Fähigkeiten und Möglichkeiten seinen Dienst versehen soll. 8 Mindestens eine Konkretion dieser Ermutigung nennt Paulus in V. 8, mit dem folgernden οὖν [oun] verbunden und dadurch auch von V. 7 abgegrenzt. Die beiden Versteile stellen ein klares Gegenüber von richtigem und falschem Verhalten dar. Man kann in v. 8 den Leitsatz des 2Tim sehen. 8aαβ wird von dem Imperativ Du sollst dich … nicht schämen dominiert, der dann in zwei Richtungen gewendet wird. Es ist wichtig zu betonen, dass „sich schämen“ (αἰσχύνομαι [aischynomai]) zwar auch den subjektiv-psychologischen Aspekt in sich trägt, der für uns heute im Vordergrund steht (nämlich: „ich schäme mich“ bedeutet: „es ist mir peinlich“); damals lag der Akzent aber mehr auf der objektiven Bedeutung („ich werde damit zuschanden“, d.h. „ich scheitere“).11 Dagegen bedeutet das Kompositum nach Horstmann „immer subjektiv sich schämen“ (a.a.O. 101). Er weist (mit ausdrücklicher Nennung von Röm 1,16) auf die „besondere Rolle in der urchristlichen Bekenntnissprache“ hin, nach der „verneintes ἐπαἰσχύνομαι … ein ὁμολογέω (‚bekennen‘)“ ersetzt und resümiert: „Das Evangelium bekennen heißt, vor Gott und den Menschen nicht zuschanden werden und sich deshalb keiner noch so anstößigen Gestalt und Konsequenz dieses Evangeliums schämen zu müssen“ (101). Wer das
11 Vgl. dazu den Art. αἰσχύνομαι von A. Horstmann in EWNT I, 100-102 (hier: 100).
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2. Timotheusbrief
Evangelium verkündigt, muss sich nicht schämen, weil er damit nicht zuschanden wird. Die beiden „Dinge“, deren sich Timotheus nicht schämen soll, sind das Zeugnis des Herrn und der Apostel selbst, und zwar in seiner gerade aktuellen Situation als Gefangener. Nun ergibt sich zunächst die Frage, was mit τὸ μαρτύριον [to martyrion] gemeint ist. Denkbar wäre vom Kontext her, dass „das Martyrium“ im Sinne des Leidens als Verkündiger des Evangeliums zu verstehen ist. Zwar wäre diese Bedeutung sprachlich durch 4Makk 12,16 (abweichende Lesart in LXX) vorbereitet und abgedeckt; sie erhält im NT aber erst in den Texten der Offenbarung des Johannes und vollends in den Berichten über Martyrien des 2. Jh.s diese spezifische Bedeutung. Nichtsdestotrotz beinhaltet der Begriff des „Zeugen“ schon von den Gesetzestexten des AT her den Aspekt der persönlichen, auch körperlichen Haftung für eine vor Gericht gemachte Aussage. μαρτύριον kann (nach J. Beutler) geradezu „zu einem t.t. der Verkündigungssprache werden“, nämlich „zum t[erminus].t[echnicus]. der apostolischen Verkündigung als Zeugnis von der Auferstehung Jesu“ bei Lukas.12 Dabei ist auch zu beachten, dass bei jüdischem Hintergrund stets der prozessrechtliche Grundsatz von Num 35,30; Deut 17,6; 19,15 steht, nämlich dass für einen Schuldspruch vor Gericht immer mindestens zwei übereinstimmende Zeugenaussagen vonnöten waren.13 Im Gespräch zwischen Paulus und Timotheus spielt die Wortgruppe offenbar auch deshalb eine besondere Rolle, weil der Apostel seinen Schüler zwei Mal daran erinnert, dass er sein Amt „vor vielen Zeugen“ erhalten hatte (1Tim 6,12; 2Tim 2,2), was ihn wiederum umso mehr in die Pflicht nimmt. In diesem Sinne könnte μαρτύριον an unserer Stelle auch die Bedeutung „Zeugenschaft“ annehmen, also neben dem Inhalt der Verkündigung auch den Auftrag und Status dessen meinen, der mit ihr beauftragt ist. Die ähnliche Formulierung, die Paulus in Röm 1,16 ebenfalls im Kontext dessen, was zum Kern seiner Verkündigung gehörte, gewählt hat, legt natürlich nahe, den Akzent nicht auf den personalen, sondern auf den inhaltlichen Aspekt zu setzen. War es dort „das Evangelium“, dessen sich Paulus vor Juden und Heiden in dem oben beschriebenen Sinn nicht schämte, so ist es hier „das Zeugnis von unserem Herrn“, womit der Sache nach das12 J. Beutler, Art. μαρτυρέω κτλ., EWNT II, 958-973: 967f. 13 Es gab in biblischer Zeit ja keine „Indizienprozesse“, auch keine „Staatsanwaltschaft“, die kraft Amtes von sich aus tätig wurde. Stets war zur Anzeige verpflichtet, wer Zeuge eines Verbrechens wurde. Auch aus diesem Grund waren die Zeugen, aufgrund deren Aussage jemand verurteilt wurde, exponiert an der Vollstreckung des Urteils beteiligt. Entsprach also ihr „Zeugnis“ nicht der Wahrheit, dann machten sie sich dadurch selbst schuldig.
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selbe gemeint sein dürfte. Wenn aber Paulus mit seiner Botschaft vor aller Welt auftritt, dann könnte es für ihn eine wichtige Rolle gespielt haben, dass er das nicht allein tat, sondern gemeinsam mit zwei oder drei anderen. Er konnte in seiner aktuellen Situation in Rom nicht einfach auf die dortige Gemeinde als Zeugenschaft zurückgreifen, weil sich die aus verständlichen Gründen zurückhielt oder vielleicht sogar als Folge der christenfeindlichen Maßnahmen Kaiser Neros in den Untergrund gegangen war. Die Aufforderung, mit ihm gemeinsam zum Zeugen zu werden, konnte unter Umständen geradezu identisch sein mit der Aufforderung, das ihm bevorstehende Martyrium mit ihm gemeinsam zu erleiden. Weil dieses Geschick immer als Möglichkeit im Hintergrund stand, wird sich Paulus gut überlegt haben, wen er in dieser und in diese Situation zu sich ruft. Mit Timotheus und Johannes Markus hat er das dann sehr nachdrücklich getan (2Tim 4,9.11). Ungewöhnlicher ist aber das Zweite, dessen sich Timotheus nicht schämen soll: auch nicht meiner, seines Gefangenen. An vier weiteren Stellen bezeichnet sich Paulus ebenfalls als δέσμιος [desmios], nämlich Eph 3,1; 4,1; Phlm 1.9. An acht Stellen verwendet er das Wort für „Kette“, δεσμός [desmos], um seinen Zustand als Häftling zu beschreiben (Phil 1,7.13f.17; Kol 4,18; 2Tim 2,9; Phlm 10.13). Der Genitiv könnte zwar bedeuten, dass es „unser Herr“ ist, dessen Gefangener Paulus ist – vermutlich hätte er gegen dieses Verständnis nicht einmal etwas einzuwenden gehabt (1Kor 9,16). Gemeint ist aber wohl eher, dass der Apostel „um unseres Herrn willen“ ein Gefangener ist. Mit dieser Situation war er grundsätzlich ja vertraut, wie er 2Kor 11,23 über sich selbst schreibt (ἐν φυλακαῖς περισσοτέρως [en phylakais perissoterōs]), wozu seit Mitte der 50er-Jahre noch etliche Haftzeiten hinzugekommen waren (vgl. 2Kor 1,8f; Eph 3,1; Phlm 10 u.a.). Wie haben wir uns solche Haft konkret vorzustellen? Brian Rapske hat 1994 eine umfangreiche, in vieler Hinsicht lesenswerte Untersuchung dazu vorgelegt.14 Exkurs Die Verhaftung einer Person konnte aus verschiedenen Gründen erfolgen, z.B. zum Schutz dieser Person (a.a.O. 10), was dann wie bei Paulus in Jerusalem und Cäsarea in eine Untersuchungshaft übergehen konnte (Apg 21,33). Häufig wurden Angeklagte aber nach einem ersten Gerichtstermin (lat. nominis receptio) bis zum Prozessbeginn auf freien Fuß gesetzt, evtl. gegen Kaution (vadimonium; a.a.O. 11). Der Ablauf der Haft wurde (wie beim römischen Recht kaum anders zu erwarten) detailliert dokumentiert und stand in Form von Akten zur 14 Rapske, Custody (s. Bibliographie).
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2. Timotheusbrief
Verfügung (250). Für Paulus wird das sicher anzunehmen sein, zumal der in Apg 23,25.33f erwähnte Brief sicher nur das Begleitschreiben zu ausführlicheren Protokollen war. Ähnliches wird selbstverständlich auch bei seiner Überstellung von Cäsarea nach Rom geschehen sein. Die lange Untersuchungshaft in Form von Hausarrest dort (Apg 28,30f) erklärt sich mindestens teilweise dadurch, dass nach dem Schiffbruch die Prozessakten aus Cäsarea neu beschafft werden mussten. Nach dem Urteil wartete der Delinquent im Gefängnis auf die Vollstreckung, die auch dort stattfinden konnte (12).15 Auch eine Art „Beugehaft“ zur Durchsetzung staatlicher Interessen kannte man in Rom (14ff). Eine Gefängnisstrafe aufgrund einer Verurteilung war vor der Kaiserzeit bei freien Bürgern eher selten. Bei schweren Verbrechen drohte ihnen der Einzug des Vermögens, das Exil oder die Todesstrafe. Eins war die Gefängnishaft aber im Römischen Reich sehr lange nicht und flächendeckend wohl nie: eine Strafmaßnahme, zu der man verurteilt wurde.16 Sie war immer Überbrückung einer Phase vor einer endgültigen Entscheidung. Was die Härte der Gefangenschaft angeht, so gab es verschiedene Stufen, die auch durch die Art oder den Ort der Haft bestimmt wurden. Es bedarf keiner weiteren Worte zu begründen, dass die φυλακὴ ἄδεσμος [phylakē adesmos – lat. custodia libera], die als Hausarrest im eigenen Haus stattfand, noch die angenehmste Art war (s.u.). Der Carcer, das römische Staatsgefängnis aus dem 2./1. Jh. v.Chr., befand sich an zentraler Stelle nordöstlich des Forum Romanum am Fuß des Kapitol-Hügels unweit des Senatsgebäudes (21). Zwei Zellen sind erhalten, von denen eine, das Tullianum (heute: „Mamertinischer Kerker“), als der härteste Haftort überhaupt galt (22) und wo besonders zum Tode Verurteilte auf ihre Hinrichtung warteten. Petrus und Paulus sollen dort „eingesessen“ haben. Dem Carcer folgte im Blick auf die Härte der Haftbedingungen das Gefängnis in einem alten Steinbruch, gar nicht weit entfernt (24). Es gab weitere Gefängnisse in der Hauptstadt, aber auch kleinere Orte besaßen Arrestmöglichkeiten (vgl. Philippi nach Apg 16,23f), und sei es nur eine Zelle in der Feuerwache (25). Sollte die Flucht verhindert (vgl. Apg 12,6 für Petrus; für Paulus u.a. Apg 16,26) oder die Strafe erschwert werden, griff man gewöhnlich zu eisernen Ketten (οἱ δεσμοί [hoi desmoi] – lat. vincula),17 die die Beweglichkeit wesentlich einschränkten, durch Gewicht und Material das Leiden deutlich erhöhten und bleibende körperliche Schäden hinterlassen konnten (207) und die 15 Nach dem röm. Juristen Ulpian (2./3. Jh.; Belege bei Rapske, Custody 13 Anm. 28) musste das Urteil eines Statthalters gegen einen röm. Bürger oder einen decurio vom Kaiser bestätigt werden. 16 Vgl. den Art. Carcer von T. Mayer-Maly in: KP 1, 1979, 1053f. Etwas anders liegt die Sache bei den Griechen, die die Gefängnishaft „als Körperstrafe“ ansahen: vgl. dazu E. Berneker, Art. δεσμωτήριον, KP 1, 1496f. 17 Nach 1Klem 5,6 war Paulus sieben Mal in Ketten: ἑπτάκις δεσμὰ φορέσας. Zum Gewicht der Ketten vgl. Titus Livius, ab urbe condita libri, 32,26,18: „ne minus decem pondo compedibus“.
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in der Nacht gegen den „Block“ (τὸ ξύλον [to xylon] Apg 16,24) ausgetauscht werden konnten. Auch Paulus hat Ketten getragen (Apg 22,30; 26,29; Phil 1,7.13f.17; Kol 4,18; 2Tim 2,9; Phlm 10.13).18 Andererseits wurden Gefangene auf dem Transport nach Rom häufig in Ketten gelegt (26f; vgl. für Paulus Apg 26,29). Die Custodia libera, wohl die „angenehmste“ Form der Haft (vielleicht ist sie in Apg 24,23 gemeint; vgl. Rapske 167ff), konnte sich auch als eine Art „Hausarrest“ darstellen (s. o.; wie während der ersten römischen Haft Apg 28,16; vgl. dazu Rapske 177ff). Sie kam in erster Linie für angesehene und wohlhabende19 Gefangene infrage (33), bei denen wenig Fluchtgefahr bestand. Im Zweifelsfall wurden sie (wie Paulus Apg 28,16) von einem Soldaten bewacht (29), an den sie durch eine Kette am Handgelenk gebunden sein konnten (31 mit Beispiel; 181). Für ihre Unterbringung mussten solche Gefangenen selbst aufkommen (325). Versteht man die antike mediterrane Gesellschaft als stark auf dem Gegensatz von „honour and shame“ („Ehre und Schande“) basierend,20 dann bedeutete das Tragen von Ketten und die Tatsache, dass jemand inhaftiert war, per se eine Schande (288ff). Kein Wunder, wenn Paulus an mehreren Stellen sozusagen „offensiv“ damit umgeht und die „Schande“ seiner Ketten als ein Leiden für Christus und die Gemeinde darstellt oder wenn er sich (wie 2Tim 1,8aβ) in des Wortes doppelter Bedeutung als „sein Gefangener“ bezeichnet, nämlich weil Christus ihn vor Damaskus gefangen und in seinen Dienst genommen hat und weil er um Christi willen Gefangener der Römer ist. Die „offene Haft“ ist aber nicht mehr die Situation des 2. Timotheusbriefs! Inzwischen war der Apostel (meiner Ansicht) im Westen (Spanien)21 und im Osten (Kleinasien, Kreta, Illyricum/Epirus) gewesen und dann (wohl in Rom) erneut verhaftet worden. Ob gegen ihn wie ein paar Jahre zuvor aufgrund des Vorfalls in Jerusalem konkrete Anklagen (Apg 24,5f) erhoben wurden, wissen wir nicht. Es ist möglich. Ebenso könnte er aber in die allgemein christenfeindliche Atmosphäre (vor oder) nach dem Brand Roms geraten und als bekannte christliche Persönlichkeit ohne Anlass und Rechtsgrundlage verhaftet worden sein – mit dem Unterschied, dass er trotz allem als Bürger von Rom und Tarsus 18 Vgl. dazu Rapske, Custody, 206f mit Bezug auf Lukian, Toxaris 29 (2. Jh. n.Chr.). 19 Nach Rapske, Custody muss das persönliche, vielleicht als Erbe erlangte Vermögen von Paulus als durchaus „significant“ angesehen werden (a.a.O. 105). Er folgert das nicht nur aus der Tatsache, dass er die Kosten für die religiöse „Rehabilitierung“ von vier Nazoräern übernehmen konnte (Apg 21,23f), sondern auch aus dem Umstand, dass Statthalter Felix hoffte, von ihm bestochen zu werden (Apg 24,26), und Paulus es sich leisten konnte, zwei Jahre in der zweiten Phase der Haft in Cäsarea (Apg 24,28) und in Rom (Apg 28,30) auf eigene Kosten zu wohnen und zu leben (106). 20 Vgl. Rapske, Custody, 284ff mit Bezug auf Malina, B.J. / Neyrey, J.H. Honour and Shame in Luke-Acts: Pivotal Values of the Mediterranean World. in: The Social World of Luke-Acts: Models for Interpretation. Hg. J.H. Neyrey. Peabody, Mass. 1991, 25-65, und andere soziologische und kulturanthropologische Arbeiten von Malina. 21 Zu Hengel/Schwemer vgl. o. Anm. 50.
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nicht im Schnellverfahren abgeurteilt werden konnte. Er kann (wie zuvor schon andere prominente Gefangene wie Jugurtha, König in Numidien, 160 Jahre vorher, oder hundert Jahre zuvor der Gallier Vercingetorix, oder 63 v.Chr. einige Mitverschwörer Catilinas oder 31 n.Chr. Sejan, die alle dort auch hingerichtet wurden) im Carcer tullianum inhaftiert gewesen sein.22 Endete die Haft mit einem Schuldspruch und der Verurteilung zum Tode, so wurde das Urteil oft zeitnah, manchmal sofort vollstreckt, und zwar im Carcer Tullianum oder an der Gemonischen Treppe (Scalae Gemoniae) unweit des Carcer. Dort gab es auch Folterungen und Verhöhnungen. Der Leichnam wurde zur öffentlichen Entehrung dort „ausgestellt“ und nach Beginn der Verwesung in den Tiber geworfen (279). Wie sah der Gefängnisalltag aus? Für ihre Verpflegung mussten bzw. durften die Gefangenen selbst sorgen,23 was verständlich macht, wie wichtig etwa für Paulus und andere die Kontaktmöglichkeit zu Mitarbeitern und Unterstützern war (Phil 4,10.14-18; vgl. Mt 25,36; Hebr 10,34). War dies nicht der Fall, so vegetierten die Häftlinge auf niedrigem Niveau vor sich hin (111f). Kein Wunder, dass Paulus und Silas in Philippi nach ihrer Befreiung erst einmal etwas zu essen erhielten (Apg 16,34). Die hygienischen Verhältnisse waren naturgemäß schlecht. Betuchten Häftlingen und solchen in „leichter Haft“ wurde teilweise erlaubt, das öffentliche Bad zu besuchen (z.B. Herodes Agrippa).24 Man kann sich leicht vorstellen, welche Gerüche in einem Gefängnis vorherrschten. Wohl auch deshalb war ein heidnisches Gefängnis für Juden grundsätzlich ein „unreiner“ Ort (214). Rapske schreibt, dass den Häftlingen teilweise bei der Verhaftung, Folterung (vgl. Apg 16,22) oder Einlieferung die Kleidung ganz oder teilweise abgenommen wurde oder dass, wer sie oder andere persönliche Gegenstände behalten durfte, dieselben an habgieriges Gefängnispersonal verlor (217f).25 Dieser Umstand wirft zumindest auch ein Licht auf 2Tim 4,13a, wo Paulus Timotheus bittet, seinen Mantel mitzubringen (vgl. 2Tim 4,21). Diese Verhältnisse führten natürlich vermehrt zu Erkrankungen (220f), vermutlich besonders im Verdauungsbereich, mit entsprechenden Folgen, sodass der Kreislauf sich wieder schloss. Nicht wenige Häftlinge folgten dem Rat Senecas und entzogen sich der Haft, aber auch den Konsequenzen der Verurteilung wie Einzug des Besitzes26 oder Verbannung, indem sie selbst ihrem Leben ein Ende setzten (221).27
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de.wikipedia.org/wiki/Tullianum (gelesen 18.04.2016). Rapske, Custody, 209. A.a.O. 216; Beleg Agrippa s. Josephus, Ant 18.204 (alte Einteilung: Ant 18.6.7). Zum Gefängnispersonal vgl. auch Rapske, Custody 244ff. Vgl. Dio Cassius 58.15.4-16.1 (zit. bei Rapske, Custody 221f). Vgl. Seneca, Ep. ad Lucilium 26,10.
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Der Aufforderung sich nicht seiner und seines aktuellen Zustands zu schämen, stellt der Apostel die andere gegenüber: Er soll für das Evangelium Böses miterleiden entsprechend der Kraft Gottes. Wir verstehen den Dativ τῷ εὐαγγελίῳ [tō euangeliō] also als dativus commodi, d.h. er beschreibt hier eine Handlung oder Tatsache, die zum Vorteil von etwas verstanden wird. In unserem Fall ist das Mitleiden paradoxerweise von Vorteil für das Evangelium, also für die Verkündigung der Frohen Botschaft und für das Wachsen des Reichs Gottes. κακοπαθεῖν [kakopa-thein] bedeutet wörtlich übersetzt „Schlechtes/Böses erdulden“.28 Die Vorsilbe συν sagt, dass Timotheus nicht allein Böses erdulden soll, sondern gemeinsam mit oder wie Paulus. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, das solle entsprechend der Kraft Gottes geschehen (zu „Kraft“ vgl. die Auslegung zu V. 7). Eigentlich sollte man doch erwarten, dass die Kraft Gottes seine Leute aus solchen Situationen herausholt oder sie gar nicht erst hineinkommen lässt! Das ist aber hier und an anderen Stellen nicht der Fall. Schon im AT stoßen wir auf die Tradition vom „leidenden Gerechten“ (Buch Hiob; Ps 34,20; Jes 52f; vgl. aber auch Jer 12,1; Ps 73,3), die Jesus dann aufgenommen und – ergänzt durch die Elemente der Stellvertretung und der Sühne – auf sich als Person angewendet hat. Daneben sollten wir die andere atl. Spur nicht vergessen, die Aussagen darüber macht, dass Gott seine Leute manchmal auch unter dem Druck des Leidens lässt, ihnen aber die Kraft gibt, es zu ertragen (z.B. Jes 40,29-31, wo die beiden Weisen Gottes, zu helfen, in V. 31 exemplarisch nebeneinander gestellt sind: Durch die Kraft [!], die Gott ihnen gibt, können sie „auffahren mit Flügeln wie Adler“, d.h. das Tal des Leidens unversehens hinter sich lassen, oder „laufen und nicht matt werden, wandeln und nicht müde werden“). Im Grunde ist die Aussage vom Mitleiden, das zum Vorteil für Gottes Reich wird, eine konsequente Fortsetzung der Theologie des Kreuzes, nämlich der Tatsache, dass es Gott gefällt, nicht mit Gewaltanwendung alles in seinem Sinne fortzuführen und durchzusetzen, sondern auf dem „unteren Weg“, dem Weg der Schwäche, des Leidens und Sterbens und damit – des Gottvertrauens. Die Geschichte der Kirche ist voll von Beispielen dafür: In China war und ist es unter Umständen lebensgefährlich ein Christ zu sein, und doch stieg die Zahl der Christen gerade in dieser Zeit, als viele ins Gefängnis mussten, gefoltert wurden und starben, um ein Vielfaches, wie sich später herausstellte. Andere Beispiele aus der Gegenwart lassen sich leicht finden. Das ist keine angenehme Rechnung, und sie lässt sich auch nicht zur Methode oder zum System machen, aber wenn Gott es will, „funktioniert“ es so. 28 Vgl. dazu auch Jak 5,13.
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2. Timotheusbrief
9-10 Den bekenntnishaften, semitisierend-poetisch stark durchgeformten Text, der möglicherweise aus der damals noch jungen christlichen Tradition stammte, hat Paulus (bzw. sein Schreiber) aufgenommen und sprachlich unter Verwendung einer relativischen Partizipialkonstruktion in seinen Text eingefügt. Fragt man nach seiner Abgrenzung nach hinten, so fällt der Blick auf das zweimalige Vorkommen des Stichworts εὐαγγέλιον [euangelion] in V. 8b und am Ende von V. 10, das als Klammer um diesen Bekenntnistext verstanden werden kann. In V. 11 bezieht der Apostel diesen Text dann wieder auf seine Person und seine Funktionen und nimmt damit den Faden, den er mit V. 9 verlassen hatte, wieder auf. Die Stichworte ἐπαισχύνεσθαι [epaischynesthai] und πάσχειν [paschein] in den angrenzenden Versen 8 und 12 unterstützen die Vermutung, der Bekenntnistext beginne mit V. 9 und ende in V. 10b mit dem Wort εὐαγγελίου. Zudem finden viele Forscher in den kurzen Sätzen eine geschlossene, sinnvolle innere Struktur. Es liegt deshalb nahe, die Verse 9f als schon vorgefundenes Stück anzusehen. Was heißt aber „schon vorgefunden“? Ist es nicht an der Zeit, die Vorstellung von der anonym-produktiven Gemeinde der Frühzeit zu hinterfragen, wenn nicht aufzugeben? Ist es nicht wahrscheinlich, dass Paulus selbst zu denen gehört hat, die Texte formuliert haben, aus denen später Traditionsstücke wurden?29 Es müsste dann im Blick auf dieses konkrete Stück die Frage beantwortet werden, in welchem Umfang sich in ihm typisch paulinische Gedanken wiederfinden. Die Herkunft dieser beiden Verse müsste also geklärt werden. Sie sind randvoll mit theologisch gefüllten Begriffen, die auch sonst in den Paulusbriefen tragende Bedeutung haben. 9 Einer der Texte, in denen Paulus die Rechtfertigung ohne Gesetzeswerke beschreibt, ist Eph 2,8f. Hier wie dort geht es um das Rettungshandeln (σῴζειν [sōzein]) Gottes, und dort wie hier fehlt der Bezug auf den νόμος (nomos), das Israel von Gott gegebene Gesetz. Dagegen finden sich sämtliche Belege, in denen ausdrücklich von den vom jüdischen Gesetz verlangten oder sich auf dieses berufenden Werken die Rede ist, im Röm und Gal, also zwei Briefen, die vor judenchristlichem Hintergrund zu lesen sind. Im 2. Timotheusbrief war das nicht gefordert. Trotzdem finden wir in dem Bekenntnistext Hinweise auf einen jüdischen Hintergrund, nämlich vor allem in Formulierungen, die min29 So mit Recht Oberlinner 37 mit Hinweis auf A. Stecker. Formen und Formeln in den Paulinischen Hauptbriefen und den Pastoralbriefen. Diss. Münster 1966, 151-156, und P.H. Towner. The Goal of Our Instruction. The Structure of Theology and Ethics in the Pastoral Epistles. JSNT.S 34, Sheffield 1989, 94-100: „… in der vorliegenden Form als vom Verfasser gestaltet anzusehen ist.“ Marshall 701 mit Hinweis auf Brox 230: „It is thoroughly Pauline in content, with close contacts with Eph 2.8f.“
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Das Amt, der Auftrag, sein Fundament und seine Bedrohung 1,6-14
destens an die hebräisch-poetische Sprachform des parallelismus membrorum erinnern (V. 9aαβ synonym, synthetisch oder klimaktisch; 9bαβ antithetisch; 10bαβ antithetisch).30 Marshall erkennt „a balanced rhythmical form“.31 Weiter könnte man die Struktur des Textes symmetrisch darstellen:32 [… θεοῦ,] 9 = > τοῦ σώσαντος ἡμᾶς ; καὶ καλέσαντος κλήσει ἁγίᾳ, > 9 = > οὐ κατὰ τὰ ἔργα ἡμῶν ; ἀλλὰ κατὰ ἰδίαν πρόθεσιν καὶ χάριν, >
τὴν δοθεῖσαν ἡμῖν ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ 9 = > ; >
πρὸ χρόνων αἰωνίων, φανερωθεῖσαν δὲ νῦν
διὰ τῆς ἐπιφανείας τοῦ σωτῆρος ἡμῶν Χριστοῦ Ἰησοῦ, καταργήσαντος μὲν τὸν θάνατον φωτίσαντος δὲ ζωὴν καὶ ἀφθαρσίαν διὰ τοῦ εὐαγγελίου
9 = > ; >
9 > > > > > > > > > > = > > > > > > > > > > ;
9 > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > = > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > ;
V. 9aαβ setzt mit dem Thema ein, das in dem kurzen Text komprimiert entfaltet wird, mit dem, was Gott für uns getan hat: Erlösung und Berufung33, 30 Zum Verständnis der Kombinationen „Christus Jesus“ und „Jesus Christus“, auch vor dem Hintergrund der juden- bzw. heidenchristlichen Adressaten, vgl. die Ausführungen von Fuchs, Unterschiede 110-116. 31 Marshall 700. 32 Es ist auch hier interessant, die Stimmen anderer Ausleger zu beachten: Marshall 701 spricht im Blick auf den Inhalt von einem „chain statement“, vom Aufbau einer komplizierten („intricate“) Struktur. Weiser 103.105 sieht das „Revelationsschema“ als formgebend an. Quinn/Wacker 597 sprechen mutig von „a Lukan redaction of a (Roman?) liturgical confession (…) that was in its turn based on the Pauline teaching (not necessarily written teaching) to a Christian congregation between 55 and 65 C.E.“ Merkel 57 vermutet, die „geprägte Sprache“ sei „vielleicht der Taufliturgie entnommen“. Man vgl. auch die guten Analysen bei Stettler, Christologie 127ff, und bei Engelmann, Drillinge 141-143. 33 J. Eckert sieht in dem Begriff κλῆσις (klēsis) „einen dem pln Sprachschatz entstammenden t[erminus].t[echnicus]. für die göttliche Berufung“ (Art. καλεώ κτλ., EWNT II, 597). Interessant ist, wenn wirklich V. 9a par zu 10b steht, die Parallele in Phil 3,14, wo nach Eckert „die Berufung … unter ihrem zukünftigen Vollendungsaspekt gesehen [wird].
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wobei Letztere sowohl den heilsgeschichtlichen (Gott beruft Menschen wie Abraham oder Paulus in besondere Aufgaben), als auch den ekklesiologischen Aspekt (alle Christen sind für Paulus „berufene Heilige“) konnotiert. Diesem Anfang eines Weges mit Gott durch Christus in Erlösung und Berufung entspricht sein Ende mit der Zerstörung bzw. Entmachtung des Todes und dem Aufleuchten des unvergänglichen Lebens in Gottes Ewigkeit (V. 10b). Die Frage ist nun, ob V. 9cα sich auf 9bβ bezieht oder vielleicht auf (καὶ καλέσαντος) κλήσει ἁγίᾳ.34 V. 9bαβ wirkt schon von der Struktur des Traditionstextes her wie (nachträglich) eingeschoben. Die beiden Versteile könnten dann (ähnlich wie die Bemerkung Eph 2,5.8f) ein Einschub des Verfassers (Pls oder seines Sekretärs) in den traditionellen Text sein, mit dem er seinen besonderen Blick auf die geschehene Erlösung deutlich macht: Sie ist eben nicht entsprechend unseren Taten erfolgt (also nicht im Sinne des jüdischen Gesetzesgehorsams bzw. auch nicht aufgrund eines von diesem unabhängigen „guten Lebens“), sondern hat ihre Veranlassung in Gottes Setzung und Gnade.35 Diese Annahme ist aber aus grammatischen Gründen leider eher nicht zutreffend, womit die Hypothese eines Einschubs hinfällig und damit auch die schöne symmetrische Form gestört wird. Der Anschluss τὴν δοθεῖσαν ἡμῖν [tēn dotheisan hēmin] bezieht sich wohl auf κατὰ ἰδίαν πρόθεσιν καὶ χάριν [kata idian prothesin kai charin] und führt diesen Gedanken weiter, indem erklärt wird, dass Gottes gnädiger Vorsatz in dem Christus Jesus den Christen (ἡμῖν) zugeeignet wurde, und zwar vor unvordenklicher Zeit, jetzt aber offen gelegt durch sein Kommen. Wahrscheinlicher ist deshalb als Herkunft des Stücks eine paulinisch geprägte, also griechischsprachige Gemeinde anzunehmen, in der es starke Vorbehalte gegenüber oder Auseinandersetzungen mit einem judaistischen Christentum gab. Dass dieser Text trotzdem durch und durch mit atl.-jüdischen Theologumena durchsetzt ist, ist hier kein Gegenargument. Es zeigt vielmehr, wie unmöglich es – zumal im Kontext der paulinischen Theologie – war und ist, den „Kokon“ abzustreifen, der dem Christentum von Beginn anhaftet. ἰδίαν in 9bβ bezieht sich auf die beiden nachfolgenden Substantive.36 In der LXX wird „durchgehend das Personalsuffix als Pron.[omen] possessivum
(…); sie hat mit der Bekehrung zu Christus ihren Anfang genommen und erreicht in der ewigen Gemeinschaft mit ihm ihr Ziel“ (a.a.O. 599). 34 Die κ-Alliteration könnte auf griechischen Ursprung schließen lassen. 35 Tit 3,5aα zeigt aber, dass dieses Thema auch damals schon in poetischen bzw. sprachlich durchstilisierten Stücken verarbeitet wurde. 36 Vgl. HvS §264c.
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durch ἴ. übersetzt“.37 Der jüdische Hintergrund des Traditionsstücks scheint auch hier durch. Bartsch (421) spricht zudem von einer „mehr oder minder emphatische(n) Betonung“, die das Wort transportiere, auf unsere Stelle bezogen als Pendant zu dem anderen Possessivpronomen in 9b (κατὰ τὰ ἔργα) ἡμῶν. Das würde heißen: Errettung und Berufung entspringen nicht einem fremden, erst recht nicht dem der Menschen, sondern Gottes ureigenem, vorgefassten Entschluss. Er hat in seiner ureigenen Gnade und nicht in unseren Werken ihr Verwirklichungsinstrument. Diese beiden Handlungen Gottes sind nicht in chronologischer Abfolge zu verstehen, etwa in dem Sinne: Zuerst fasste Gott den Entschluss zu retten, dann hat er ihn aufgrund seiner Gnade auch ausgeführt. Nein: Entschluss und Gnade gehören in Gottes zeitlose Zeit, nämlich in die uns grundsätzlich fremde Dimension der Ewigkeit, jenseits unserer Geschichte. πρόθεσις verwendet Paulus in Röm 8,28 ebenfalls zusammen mit Formen von καλέω: Gottes vorgefasster Entschluss bestand darin, jene zu (be-)rufen, die ihn jetzt lieben. πρόθεσις [prothesis] hat wie χάρις an unserer Stelle Gott-Vater zum Subjekt, wobei Letztere auch auf Jesus Christus in der nächsten Textzeile zu beziehen ist (vgl. auch 2Kor 13,13, wo „Gnade“ ausdrücklich Gott-Sohn zugeordnet wird). Dann wären 9bβ und 9cα chiastisch zu verstehen: κατὰ ἰδίαν πρόθεσιν καὶ χάριν τὴν δοθεῖσαν ἡμῖν ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ
(kata idian prothesin kai charin tēn dotheisan hēmin ev Christō Iēsou)
Ein kleines sprachliches Kunstwerk in sich könnten V. 9c/10a also sein: 9cα spricht von dem Christus Jesus als dem Geber (wovon?), 10aβ bezeichnet den Christus Jesus als unseren Erlöser. Davon eingerahmt kommt der zeitliche Aspekt zum Ausdruck (vgl. Tit 1,2!), nämlich das, was vor ewigen Zeiten passiert ist, und das, was sich jetzt ereignet hat (Tit 1,2f mit dem Gegenüber von πρὸ χρόνων αἰωνίων [ pro chronōn aiōniōn] und καιροῖς ἰδίοις [kairois idiois] ausgedrückt; vgl. auch Kol 1,26). 10a αβ bildet den Wendepunkt des Bekenntnisses, indem hier das in der Vergangenheit Geschehene (Erlösung, Berufung) mit dem in der Gegenwart Geschehenen (Offenbarung in dem erschienenen Christus) zusammentreffen. Auch sonst markiert Paulus bekanntlich mit einer Verbindung von νῦν/νυνί und δέ in verschiedenen Kombinationen, gelegentlich mit eingebundenem
37 H.-W. Bartsch, Art. ἴδιος, EWNT II, 420.
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ποτέ, „den heilsgeschichtlichen Einschnitt“38 oder auch einen ihm sonst wichtigen Gegensatz. Röm 16,26 und Kol 1,26 geschieht das (wie hier) in Verbindung mit dem Verb φανεροῦν [ phaneroun]. Mit 10bβγ kommt schließlich die Zukunft negativ wie positiv in den Blick (Zerstörung des Todes, Leben und Unvergänglichkeit). Von dem ewigen Leben, das Gott „vor ewigen Zeiten“ verheißen hat, sprach Paulus auch in Tit 1,2. χρόνος [chronos] steht ja eher für die Zeit unter dem Aspekt ihrer Dauer und ihres Verlaufs im Unterschied zu καιρός [kairos], das eher den konkreten Zeitpunkt meint. Drei Mal kommt im NT die Verbindung χρόνοι αἰώνιοι [chronoi aiōnioi] vor (Röm 16,25, Tit 1,2 und hier).39 Wie die Kombination mit πρό „vor“ zeigt, meint die Wendung gerade nicht (wie Balz 113 meint) „die immer schon andauernde Zeit (in der Gestalt unendlicher Zeiträume), vor welcher Gott sich den Glaubenden zugewendet hat“, sondern „das absolute Prae des Offenbarungshandelns Gottes“ (ebd.), und zwar nicht nur sachlich, sondern (in menschlichen Kategorien gedacht) auch zeitlich. Man wird nämlich fragen dürfen und müssen, ob unsere (linear-eindimensionale) Vorstellung von „Ewigkeit“ überhaupt geeignet ist zu beschreiben, was nach biblischer Aussage zu Gott gehört. „Ewigkeit“ ist die Dimension und die Weise, in der Gott existiert. Sie lässt sich nicht in unser System von Zeit und Raum, also von Geschichte, eintragen, integrieren oder damit harmonisieren. Könnte (wenn man es doch versucht) der Zeitpunkt des Erwählungshandelns Gottes, von dem V. 9cα doch wohl spricht, nicht mindestens in jenem Bereich liegen, der aller Geschichte vorausging und der vor seinem Offenbarungshandeln liegt (φανερωθεῖσαν [phanerōtheisan])? Stettler verweist für „die hier zugrundeliegende Offenbarungskonzeption“ auf Tit 1,2f; Röm 16,25f und Eph 3,8-11, aber auch weitere Stellen im corpus Paulinum.40 Diese Konzeption habe „eine dreifache Dimension“: (1) die in der Vergangenheit geschehene Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Person und (Erlösungs-)Werk Jesu, ergänzt durch die unmittelbare Offenbarung des Evangeliums an Paulus vor Damaskus; (2) eine in der Gegenwart „fortgesetzte Offenbarung durch das paulinische Evangelium in der Gegenwart“; (3) die zukünftige Offenbarung Jesu Christi als Richter und Retter.41 In den Pastoralbriefen konstatiert Stettler eine Verfestigung dessen, „was schon bei Paulus angelegt ist, nämlich die ‚Kerygmatisierung‘ der Offenbarung“, wie sie
38 Brox 230. 39 Vgl. dazu H. Balz, Art. αἰώνιος, EWNT I, (21992) 112, sowie Engelmann, Drillinge, 142f. 40 Stettler, Christologie, 135ff. 41 A.a.O. 138.
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schreibt,42 also einen Übergang in die Verkündigung des Apostels und der entstehenden Kirche. „Das Kreuz ist für die Past zu einer keinesfalls geleugneten, vielmehr fast selbstverständlichen Voraussetzung geworden. Es ermöglicht nach 2Tim 1,10 die Offenbarung des Lebens durch das Evangelium,“ führt sie weiter aus.43 Das „Mittel“ (instrumentales διά m. Gen.44), das Gott zu dieser Offenlegung benutzt hat, ist das Erscheinen unseres Retters Christus Jesus (διὰ τῆς ἐπιφανείας τοῦ σωτῆρος ἡμῶν Χριστοῦ Ἰησοῦ [dia tēs epiphaneias tou sōtēros hēmōn Christou Iēsou]). Das Substantiv ἐπιφάνεια [epiphaneia] Erscheinen trägt von dem sinngebenden Verb φαίνω [phainō] das Element des Auf-Leuchtens in sich,45 also einer Veränderung des vorher bestehenden dunklen Zustands. Kein Wunder also, wenn es im religiösen Kontext schon früh mit dem Sichtbarwerden von Göttlichem in Verbindung gebracht wurde (vgl. Deut 33,2, wo es für hebr. [ זרחsarach] „aufgehen“ [von der Sonne] steht). Menschen haben wohl seit der Ausweisung aus dem Paradies das Aufgehen der Sonne und damit das Ende der Dunkelheit als etwas Erlösendes, von Angst Befreiendes empfunden und deshalb auf eine über ihnen stehende Macht oder Gottheit übertragen. Der Sache nach spricht das AT an vielen Stellen von dem schließlichen „Kommen“ Gottes zum Heil für sein Volk (so Deut 33,2) und zum Gericht für seine Feinde, ohne dass in der LXX dafür der Terminus ἐπιφάνεια verwendet würde.46 Bekanntlich begegnet uns das Wort ἐπιφάνεια [epiphaneia] Erscheinen bei Paulus lediglich in den Pastoralbriefen (fünf Mal) sowie in 2Thess 2,8. Die drei Belege in unserem Brief (1,10; 4,1.8) fallen insofern auf, als an den anderen Stellen (2Thess 2,8; 1Tim 6,14; Tit 2,13) jeweils die erwartete endzeitliche Wiederkunft Jesu gemeint ist. Dagegen ist 2Tim 1,10 sicher und 2Tim 4,1.8 wahrscheinlich sein bereits mit der Menschwerdung (und vollends sichtbar 42 43 44 45 46
A.a.O. 139. Ebd. HvS §184 f (1). So Liddell/Scott 1912 für die Bedeutung im Aktiv: „bring to light, cause to appear“. Deut 33,2 im Mosesegen ist (allerdings an exponierter Stelle) eine Ausnahme. Näheres bei P.-G. Müller, Art. ἐπιφάνεια κτλ., EWNT II, 110-112, sowie ausführlicher bei R. Bultmann / D. Lührmann, Art. φαίνω κτλ., ThWNT IX, bes. S. 8-10. – Den Durchbruch erlebte der Begriff, der schon im 5. Jh. v.Chr. bei Herodot (3,27 vom Gott Apis) vorkommt, im Rahmen der hellenistischen Herrscherverehrung wohl mit Antiochus IV. Epiphanes und findet sich von da an in ungezählten Herrscherinschriften beinahe auf Schritt und Tritt im hellenistischen Kulturraum (vgl. etwa aus der Insel Kos vom Herrschaftsantritt Kaiser Gaius Caligulas in: W.R. Paton / E.L. Hicks, The Inscriptions of Cos, Oxford 1891, Nr. 391). Die Wortfamilie war nicht nur den Gebildeten im 1. Jh. n.Chr. geläufig im Sinne göttlich-helfender Erscheinung.
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der Auferstehung) erfolgtes Erscheinen gemeint.47 Darf man unterscheiden zwischen dem Offenbarwerden des Retters Jesus an Weihnachten und als Retter an Karfreitag und Ostern? Mit dem Titel σωτήρ [sōtēr] Retter48 verhält es sich in seinem synchronen sprachlichen Umfeld ähnlich wie mit dem Begriff ἐπιφάνεια: Er gehörte zur üblichen Titulatur der hellenistischen Feldherrn und Könige und ist entsprechend auf ungezählten Inschriften zu finden. Der Eroberer einer Stadt wurde offiziell aus der Perspektive der Sieger als ihr Retter gepriesen, auch wenn sein Sieg für die Besiegten alles andere als ein Glück bedeutete. Im griechischen AT (LXX) finden wir den Begriff 23 Mal in verschiedenen Schichten, und zwar fast durchweg als Gottesprädikation. Das fromme Judentum vor Jesus kannte ihn von dort (Lk 1,47). Auf Jesus wird der Titel bereits vor (Lk 1,47) und unmittelbar nach seiner Geburt (Lk 2,11) bezogen. Er taucht dann in den Evangelien nur noch Joh 4,42 aus dem Munde der Einwohner von Sychar auf, die Jesus als „Retter des Kosmos“ bezeichnen. Schwerpunkte sind die Pastoralbriefe49 und der 2. Petrusbrief. Ein anderes Bild ergibt sich, nimmt man die ganze Wortfamilie von σῴζειν [sōzein] in den Blick: Dann gibt es immerhin weitere 157 Treffer im NT, und zwar vom ersten bis zum letzten Buch. Ähnlich ist es mit der LXX (400 Treffer plus 23 für σωτήρ [sōtēr]). Verfolgt man die Linie noch um eine Sprach47 Vgl. auch P.-G. Müller, a.a.O. 111, der nach Hinweis auf den atl. und (jüd.-)hell. Hintergrund im Blick auf die Bedeutung im NT schreibt, „daß im Christusereignis Gott in Welt [sic!] erschienen ist und die Glaubenden vor dem Erscheinen des Weltenrichters in Entscheidung, Bekenntnis und antwortendes Handeln gerufen werden.“ – Engelmann, Drillinge 165f: „Zugleich spielt der Verfasser des 2Tim – deutlicher als dies in den beiden anderen Briefen der Fall ist – mit der visuellen Komponente, die der Epiphaniebegriff ebenfalls haben kann: In Kontrast zum Todesmotiv kann das Verb φωτίζω dazu dienen, Christi Werk mit dem Hinweis darauf zu beschreiben, er bringe Leben und Unvergänglichkeit ans Licht.“ Stettler, Christologie, 145f, fasst ihren Exkurs zu dem Stichwort zusammen und stellt dabei fest, „daß es sich bei der ἐπιφάνεια-Terminologie nicht um ein hellenistisches Epiphanie-Schema handelt“ , „aber auch nicht um eine bloße Übernahme des hellenistisch-jüdischen ἐπιφάνεια-Begriffs“, sondern um ein „‘christologisches Epiphanie-Schema‘“. Und später: „Damit, daß der Verfasser ἐπιφάνεια [ …] bereits für die Inkarnation gebraucht und nicht nur für das zweite Kommen Jesu, vermeidet er das Mißverständnis, als sei Letzteres das Resultat einer Apotheose, als habe erst die Inthronisation Jesus auf die Seite Gottes gestellt, von woher er nun erwartet wird. Der Präexistenzgedanke der ῇλθον- und der Sendungsformeln wird so bewahrt, während er durch eine bloße Wiederholung jener Formeln für hellenistisch geprägte Menschen ohne jüdischen Hintergrund verloren gegangen wäre. Hier liegt also ein Beispiel dafür vor, wie der Verfasser die Tradition durch Umformung bewahrt“, schreibt Stettler (147), und ihre gedankliche Struktur lässt sich durchaus auch dann aufnehmen, wenn man die Verfasserund Datierungsfrage anders beantwortet, als sie es tut. 48 Schon im 5. Jh. v.Chr. bezeichnet Herodot die Athener im Kampf gegen die Perser als „Retter Griechenlands“ (Buch VII 139). 49 Näheres dazu in meiner Auslegung zu 1Tim 1,1.
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schicht weiter zur hebr Wurzel [ ישעjāscha‘] zurück, dann sind es dort 241 Vorkommen. Das heißt: Während der Vorgang der Errettung (durch Gott, im NT auch Gott/Jesus) statistisch gesehen häufig durch diese Wortfamilie ausgedrückt wird, wird das den Agierenden ausdrückende Substantiv eher selten verwendet. Inhaltlich steht es für den, der die Rettung bringt bzw. durchführt, und es beschreibt Rettung aus einer Lage, in der das Leben bedroht ist, und zwar das zeitliche wie das ewige.50 Mit V. 10b, einem antithetischen parallelismus membrorum, der unter dem Aspekt „rettendes Handeln Gottes in Vergangenheit und Zukunft“ in Beziehung zu 9a zu lesen ist, erscheint der Aspekt der Zukunft auf der Bildfläche. Der erschienene Retter Christus Jesus hat nämlich (negativ-zerstörend) den Tod unwirksam gemacht, aber (positiv-gebend) Leben und Unvergänglichkeit aufleuchten lassen. In 1Kor 4,5 verwendet Paulus φωτίζειν und φανεροῦν in engem Zusammenhang. An thematisch zentraler Stelle, nämlich 1Kor 15,26, spricht Paulus ebenfalls von der Entmachtung des Todes. Er verwendet dabei (wie an 23 anderen Stellen) das Verb καταργεῖν [katargein] „zur Wirkungslosigkeit verurteilen“.51 Der Tod wird also gerade nicht als „etwas Natürliches“ verstanden, eben als die Form menschlicher Existenz (oder Nicht-Existenz) nach dem Ende des Lebens. Die ganze Bibel sieht die Tatsache, dass der Mensch sterben muss, vom Sündenfall her als Folge und Strafe dafür, dass der Mensch das Vertrauen zu Gott aufgegeben, sich neue, eigene Ziele gesucht und damit seinem Leben eine andere, vom Schöpfer nicht gewollte und deshalb falsche und für den Menschen schlechte Richtung gegeben hat (1Mo 3,3; Hebr 9,27). Deshalb kann Paulus den Tod ganz in atl. Linie personifiziert den „letzten Feind“ nennen (1Kor 15,26). „Tot sein“ ist also ein Zustand unter der Herrschaft des Todes. Wird dem Tod am Ende der Zeit von dem Retter Jesus das Zepter aus der Hand genommen, so bedeutet das Heil (σωτηρία [sōtēria]) für die Menschen. Diesem negativen Aspekt der σωτηρία stellt Paulus den positiven gegenüber: Leben (ζωή [zōē]) und Unvergänglichkeit (ἀφθαρσία [aphtharsia]) leuchtet in der dunklen, weil bisher von der unausweichlich-bedrohlichen Herrschaft des Todes bestimmten Welt auf (vgl. auch Joh 1,5, dort allerdings mit anderer Begrifflichkeit). Es ist das Heilsgut schlechthin. Für die geistliche Erleuchtung eines Menschen wird φωτίζειν [phōtizein] auch sonst im NT gebraucht (z.B. Lk 11,33-36; Joh 1,9; Hebr 6,4; 10,32). ἀφθαρσία [aphtharsia] 50 Vgl. W. Radl, Art. σῴζω, EWNT III, 765-770 (bes. 766). 51 Vgl. den Art. ἀργός κτλ., ThWNT I, 452-455 (bes. 453) von G. Delling; diese Übersetzung bezieht den endgerichtlichen Aspekt am besten mit ein.
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verwendet im NT nur Paulus. Röm 2,7 spricht er von Gottes Gericht und nennt ewiges Leben als Gabe für alle, die nach Unvergänglichkeit trachten. War der Bekenntnistext mit dem Hinweis auf das Evangelium eingeleitet worden (V. 8b), so endet er nun ebenso: durch das Evangelium. Der Apostel hatte in 10a mit διά mit Genitiv das „Instrument“ beschrieben, mit dessen Hilfe Gottes Vorsatz und Gnade offengelegt wurde. Nun ist die Gute Nachricht selbst das Mittel, mit dem Gott für die Menschen (durch Paulus in seinen verschiedenen Redefunktionen V. 11) bleibendes Leben und Unvergänglichkeit in dem vorher beschriebenen Sinn aufleuchten lässt. An drei weiteren Stellen spricht Paulus davon, was durch das Evangelium geschehen ist: Die Christen in Korinth hat er durch das Evangelium gezeugt (d. h. durch sein Wirken wurden sie Christen; 1Kor 4,15); durch das Evangelium sind die Heiden zu Teilhabern der Verheißung Gottes geworden (Eph 3,6); die Christen in Thessalonich wurden „durch unser Evangelium“ zur Rettung gerufen (2Thess 2,14). 9.10 Welche Rückschlüsse ergeben sich im Blick auf den Entstehungshintergrund des Bekenntnistextes? Wir sehen hebräische Poetik,52 eine Reihe von im Judentum geläufigen Begriffen und das in der paulinischen Rechtfertigungslehre zentrale Negativwort „Werke“.53 Das alles war für Heiden kaum ohne Weiteres verständlich. „Christus“ wird titular verwendet. Außerdem stoßen wir auf Begriffe und Formulierungen, die Paulus auch an anderen Stellen benutzt. Atl.-jüdische Inhalte sind in die Form griechischer Sprache gegossen, teilweise fehlt der bestimmte Artikel. Dies alles legte die Vermutung nahe, der Traditionstext könne in einer von Paulus geprägten Gemeinde mit judenchristlichem Anteil entstanden sein. Wir finden sie im Rückblick bestätigt. 11 Paulus schließt den Kreis, der mit seinem Leiden für das Evangelium (V. 8b) begonnen hatte, indem er seine drei „Ämter“ im Blick auf die Verkündigung des Evangeliums nennt und damit auch sein nun aktuelles „Selbstverständnis“ offenlegt: … wozu ich eingesetzt bin als Herold und Apostel und Lehrer. Die drei Titel nimmt der Apostel noch in 1Tim 2,7 für sich in Anspruch, und zwar in derselben Reihenfolge. κῆρυξ [kēryx] – bei Paulus 1Tim 2,7 und hier – ist der Herold, d.h. der offizielle Bote, der den Willen des Herrschers in seinem Machtbereich verkündigt, aber auch der religiöse Predi52 Holtz 157: „… ein liturgisch formuliertes Bekenntnis zu Gott im orientalisch-israelitischen Hymnenstil (vgl. etwa Ps. 136,4-25; 103,3ff.; 104,4f.), das mit partizipialen Genitivwendungen an θεοῦ, das letzte Wort des vorangehenden Verses, angeschlossen ist.“ Später schreibt Holtz (159): „Möglicherweise ist der Hymnus ein Tauflied gewesen.“ 53 Marshall 700f: „But, as elsewhere in the PE, the language ist that of the author; it is not introduced with any formula, and the content is appropriate to the context“.
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ger.54 Etwas häufiger als mit dem nomen agentis (Substantiv, das den Handelnden bezeichnet) geht der Apostel mit dem nomen actionis (Substantiv, das die Handlung bezeichnet – ein Mal im Röm, drei Mal in 1Kor) um, und noch deutlich öfter verwendet er das Verb κηρύσσειν [kēryssein; 19 Mal]. Zum Aposteltitel s. o. zu 1,1 sowie den Kommentar zu 1Tim 2,7. Das dritte Amt, das Paulus für sich in Anspruch nimmt bzw. das seinen Auftrag beschreibt, ist das des Lehrers.55 Während κῆρυξ [kēryx] in den frühen Gemeinden offenbar kein geläufiges Amt war, muss man das für die beiden anderen Bezeichnungen schon sagen. Beim Herold liegt der Akzent auf der präzisen Wiedergabe der Botschaft, beim Gesandten auf der Nähe und unmittelbaren, rechtlich autorisierten Beauftragung durch den Beauftragenden selbst, beim Lehrer auf der prägenden Wirkung auf die Gemeinden. Sie hatte wiederum damit zu tun, dass er heilige Texte tradierte, einprägte oder erklärte. Ob Zimmermann mit seiner Analyse der Belege von διδάσκαλος [didaskalos] in den Pastoralbriefen recht hat, sei dahingestellt.56 Die Frage ist, was dagegen spricht, dass dieselbe Amts- oder Tätigkeitsbezeichnung sowohl für solche Personen verwendet werden konnte, die aus Sicht des Paulus negativen Einfluss auf die Gemeinden hatten, wie für ihn selbst, der immerhin „studierter“ theologischer Lehrer (also „Rabbi“) war und dessen Einfluss positiv war;57 weiter, ob eine grundsätzliche Unterordnung der Lehrer auf der Ebene der Ortsgemeinde unter die Gemeindeleitung (Bischöfe, Älteste) des Apostels Status als Lehrer widersprechen muss;58 schließlich, wie Zimmermann nach der unzweideutigen Verwendung des Aposteltitels in der Absenderangabe 1,1 zu der Behauptung kommt, der Apostelbegriff werde „dem ganz und gar unjüdischen κῆρυξ untergeordnet und zudem durch διδάσκαλος weiter interpretiert“, was zu einem Bedeutungsverlust dieses Begriffs führe.59 Zimmermann 54 Vgl. den Art. κηρύσσω κτλ. von O. Merk in EWNT II, 711-720 (bes. 712-714.718f). Die Eph 4,11 in der Ämterliste genannten „Evangelisten“ könnten dem Begriff von der Aufgabe her am nächsten kommen. 55 Auch hierzu vgl. meine Auslegung von 1Tim 2,7. Apg 13,1 wird Saulus/Paulus unter den „Propheten und Lehrern“ der Gemeinde im syrischen Antiochia erwähnt. – Ausführlich zum Thema „Lehrer“ R. Riesner, Jesus als Lehrer: eine Untersuchung zum Ursprung der Evangelien-Überlieferung. WUNT 2,7, Tübingen 31988; A. F. Zimmermann, Die urchristlichen Lehrer. Studien zum Tradentenkreis der διδάσκαλοι im frühen Urchristentum. WUNT 2/12, Tübingen 21988. 56 Zimmermann 211-213. 57 A.a.O. 211. 58 A.a.O. 211f. In der frühen Zeit war eine „Ämteranhäufung“ gerade bei den Aposteln kaum zu vermeiden. 59 A.a.O. 212. Vgl. dazu auch die deutlich in eine hierarchische Reihenfolge gebrachten Ämter „Apostel – Propheten – Lehrer“ in 1Kor 12,28.
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verweist dann mit Recht auf die Verwendung hellenistischer Termini, die aber mit Blick auf die veränderte Situation und das Gespür, das Paulus dafür hatte, nicht nur nicht erstaunen lässt, sondern eher zu erwarten war. Gibt es eine Erklärung für die Reihenfolge der drei Ämter? Als Herold war Paulus ein „Front-Mann“, der in der unmittelbaren Begegnung mit den jüdischen oder heidnischen Menschen ihnen den Willen Gottes bekannt machte. Es geht hier um die missionarische Erstverkündigung des Evangeliums. Beispiel dafür wären seine Diskussionen in Athen mit der Areopag-Rede als Abschluss (Apg 17,16-31). Als Apostel, dessen Merkmale die unmittelbare Zeugenschaft Jesu, der Auftrag zur Weitergabe seiner Botschaft und zur Gründung von Gemeinden und auch die rechtliche Vollmacht zu ihrer Formung und Korrektur sind, hat er etwa den Korinthern die grundlegende Tradition von Tod und Auferstehung Jesu weitergegeben (1Kor 15,3ff). Als Lehrer hat er in den jüdischen Synagogen (Apg 13,16ff; 19,8; u.ö.) und den neu entstandenen Christengemeinden in Wort (Apg 20,7) und Brief (etwa im Röm, in den Past) die Botschaft von Jesus vor dem Hintergrund der Schriften des AT dargestellt, eingeprägt und erklärt und mit Blick auf die jeweils aktuelle Situation der Christen und der Gemeinden akzentuiert. Ein Vergleich mit der Aufzählung seiner Ämter in 1Tim 2,7 ergibt das Fehlen der Beteuerungsformel „ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht“. Dies zeigt, dass im direkten Gespräch mit seinem Schüler ohne „Mitleser“ die dort noch vorhandene Notwendigkeit, sich als Apostel zu legitimieren, hier keine Rolle mehr spielt. Auch die Beschränkung seiner Tätigkeit als Lehrer auf die Heiden muss hier nicht wiederholt werden. Timotheus weiß das nämlich schon. 12 Deutlich ist der Rückbezug auf V. 6a, wo die Formulierung δι’ ἣν αἰτίαν allerdings zur Konnexionsformel, die eine kausale Proposition ersetzt, verblasst ist. Immerhin, die logisch-begründende Gedankenfolge setzt sich fort. In V. 12a, wo der Apostel auf sein gegenwärtiges Leiden im Anklagezustand Bezug nimmt, bekommt αἰτία [aitia] doch profilierter die Bedeutung, die das Wort in der griechischen Rechtssprache hatte: der Grund, der zur Anklage geführt hat. Glaser hat recht, wenn er schreibt: „Welche Gründe führt Paulus in seinem zweiten Brief an Timotheus nun für die Verhaftung an? Auffallend ist, dass Paulus keine causa (Grund) im strengen Sinne angibt, aus der auf das crimen (Verbrechen) geschlossen werden könnte: 1,8 fordert er Timotheus auf, mit zu leiden für das Evangelium (…); 1,12 beginnt zwar kausal mit δι’ ἣν αἰτίαν, der vorausgehende Bezug jedoch ist in V. 11 die Aufgabenbestimmung des Paulus als Verkünder, Apostel und Lehrer.“60 Die Formulierung will 60 Glaser, Briefroman, 293.
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offenbar gar keinen gegen ihn erhobenen Vorwurf nennen. Sie bezieht sich (wie V. 6) eher unscharf auf die voraufgegangenen Sätze bzw. macht die Klage an seiner (aus christlicher Sicht: positiven!) Ausübung der ihm auferlegten Aufgaben fest (ἐτέθην [etethēn] ist wohl passivum divinum [etwas, das Gott getan hat]). Im Verlauf der späteren Christenverfolgungen fällt auf, dass die Anschuldigungen ebenfalls eher unpräzis werden, etwa das crimen laesae maiestatis („Majestätsbeleidigung“), das je nach Bedarf gefüllt werden konnte.61 In diese Kategorie wird auch das καταλαλοῦσιν ὑμῶν ὡς κακοποιῶν [katalalousin hymōn hōs kakopoiōn] in 1Petr 2,12 gehören, das eher eine in der damaligen Gesellschaft vorherrschende Mainstream-Meinung wiedergibt als konkrete Handlungen der und Vorwürfe gegen die Christen. Gerade darin bestand aus Sicht der Regierenden die Attraktivität des Vorwurfs der Majestätsbeleidigung, dass er ganz verschieden gefüllt werden konnte. Auch dies noch (wie schon frühere Leiden, die Paulus etwa in 2Kor 4,8-11; 11,23-36 nennt) hat er in Gottes Dienst erlitten, freilich ohne zuschanden zu werden (Näheres s. zu V. 8!). Durch sein Leiden erfüllt sich geradezu, was ihm am Beginn seines Lebens als Nachfolger und Apostel Jesu von Hananias im Namen Jesu gesagt worden war (Apg 9,16). Die subjektiv-psychologische und die objektiv-sachliche Seite von ἐπαισχύνομαι [epaischynomai] treffen hier zusammen: Paulus verzweifelt nicht und geht an seinen Leiden nicht zugrunde, weil (γάρ [gar]) er sich des Inhalts seines Glaubens/Vertrauens bewusst und gewiss ist. Röm 1,16 und Phil 1,20 leuchten im Hintergrund auf.62 Interessanterweise belässt es der Verfasser an dieser Stelle nicht bei nur einem Verb, das sein Verhalten beschreibt: οἶδα γὰρ ᾧ πεπίστευκα καὶ πέπεισμαι [oida gar hō pepisteuka kai pepeismai]. Wir haben es mit einem sog. Hendiadyoin zu tun, was bedeutet: Zur Verstärkung der Aussage wird dieselbe Sache mit zwei verschiedenen Begriffen beschrieben, die unter Umständen auch unterschiedliche Blickwinkel haben. Über diese formale Feststellung hinaus lohnt es sich aber zu bedenken, welche Bedeutungsnuancen das Wortpaar bietet: • Es handelt sich um Perfektformen von πιστεύειν bzw. πείθομαι. Wie Siebenthal ausführt, wird in der neueren Philologie zwischen „Tempus“ (Zeit) und 61 Zur Sache aus rechtlicher Perspektive vgl. den Exkurs bei Omerzu, Prozeß, 204-207. B. Reicke, Neutestamentliche Zeitgeschichte. Die biblische Welt von 500 v.Chr. bis 100 n.Chr. Berlin / New York 31982, ist der Meinung, unter Nero seien Christen nicht wegen Hochverrat, Majestätsbeleidigung oder Religionsfrevel angeklagt worden. – Vgl. auch H. Lichtenberger, Jews and Christians in Rome in the Time of Nero: Josephus and Paul in Rome. ANRW II.26,3,2142-2176. 62 Marshall 709.
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„Aspekt“ eines Verbs unterschieden. Das „Tempus“ drückt „die zeitliche Relation zwischen der Äußerungszeit und dem gemeinten Sachverhalt“ aus, wogegen durch den „Aspekt“ angegeben wird, wie der Sprecher bzw. Schreiber die Verwirklichung des Verbinhalts betrachtet wissen will.63 Für den Perfektstamm gilt nach Siebenthal, dass er „grundsätzlich nur den Aspekt“ ausdrückt, und zwar „als etwas im Ergebnis Vorliegendes: resultativer Aspekt“.64 Später erläutert er: „Dabei handelt es sich meist um einen erreichten Zustand (…), um das Ergebnis eines Geschehens, ein Resultat (…), sodass die Formen des Perfektstammes primär dazu dienen, ein Geschehen als etwas im Ergebnis Vorliegendes zu kennzeichnen“.65 Im Blick auf unsere Stelle bedeutet das: Paulus blickt zurück (ich weiß) auf Ereignisse, deren Auswirkung immer noch andauert (ich habe geglaubt/vertraut – ich habe mich überzeugen lassen und bin immer noch davon überzeugt).66 • Wohl nicht zufällig verwendet der Schreiber eine aktive (πεπίστευκα) und eine passive Form (πέπεισμαι). Während der Glaube bzw. das auf Jesus hörende Vertrauen dem Menschen nicht übergestülpt wird, sondern an seinem Anfang eines aktiven Entschlusses bedarf, handelt es sich beim Überzeugtsein um das Ergebnis einer Aktion, die nicht in dem Menschen selbst liegt oder von ihm ausgegangen ist. In 1,5 schließt Paulus aus dem vorgelebten Glauben von Lois und Eunike darauf, dass solch starker Glaube auch in Timotheus vorhanden sein müsse. Hier nun (V. 12) hat er sich aufgrund der Erfahrungen, die er mit Gott bzw. Jesus gemacht hat, davon überzeugen lassen, dass dieser in der Lage ist, das ihm Anvertraute trotz aller Widerstände auf jenen Tag zu bewahren und ihn so nicht zuschanden werden zu lassen. Wohlgemerkt: er schreibt nicht „ich werde es bewahren“, sondern „er ist mächtig genug, die Überlieferung, die ich (empfangen) habe, bis zu jenem Tag zu bewahren.“ Bewahren (φυλάσσειν [ phylassein] entspricht dem hebr. Verb [ שמרschamar]) und bedeutet intransitiv „wachen“, transitiv „(etw./jem.) bewachen“.67 Im übertragenen Sinn steht es schon in der LXX für das Beachten und Einhalten von Geboten bzw. Gesetzen. Jener Tag ist ein Ausdruck des späten Paulus (sonst nur noch 2Thess 1,10; 2Tim 1,18; 4,8).68 Er greift auf atl. Sprachmaterial zurück: Die Propheten 63 64 65 66 67 68
HvS §192bc (Zitat S. 307). A.a.O. 309. A.a.O. 315. Vgl. πέπεισμαι in 1,5! R. Kratz, Art. φυλάσσω, EWNT III, 1058-1060. Paulus kennt auch den Ausdruck εἰς ἐκείνην τὴν ἡμέραν „auf jenen Tag“ (2Tim 1,12) für den Tag des Herrn im atl. Sinn bzw. den Tag des Gerichts.
Das Amt, der Auftrag, sein Fundament und seine Bedrohung 1,6-14
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sprechen seit dem 8. Jh. v.Chr. von ihm im Sinne des erhofften und erwarteten Rettungs- und Gerichtstags Jahwes ([ ַבּיֺּום ַההוּאbajjom hahuʼ] z.B. Jes 2,11.17.20 u.v.m.). Dabei knüpfen sie an die Rede älterer Propheten vom „Tag des Herrn“ (z.B. Am 5,18 u.a.) an. Im Pentateuch (LXX) wird ἐκείνη ἡμέρα [ekeinē hēmera] verwendet, um auf ein konkretes, in der Zukunft stattfindendes Ereignis zu verweisen (z.B. Ex 8,18; Lev 22,30). Paulus denkt an den Tag der Wiederkunft Jesu Christi als Richter der Welt und Retter der Seinen. Er hebt diesen besonderen letzten („jüngsten“) Tag nicht grundsätzlich von den ungezählten Tagen der Menschheitsgeschichte ab, denkt also offenbar an ein „historisches“ Ereignis, nicht an ein metaphysisches oder mystisches.69 Damit ist klar: Die Menschheitsgeschichte führt nicht linear in die Unendlichkeit. Es geht auch nicht endlos im Sinne eines wachsenden Fortschritts an Fähigkeiten, Wissen und Möglichkeiten der Menschheit weiter, wie es etwa der sog. „Kulturprotestantismus“ meinte. Vielmehr bewegt sie sich mit jeder Stunde, die vergeht, auf einen Höhepunkt zu, der zugleich ihr Abschluss sein wird. Was hat es in diesem Zusammenhang mit dem auf sich, das dem Apostel anvertraut ist (mit der παραθήκη [parathēkē])?70 Der Begriff stammt, wie Trummer gezeigt hat, „urspr. aus dem Deposital- und Sachenrecht“71. Das heißt: Es bezeichnete den Gegenstand, der jemand zur vorübergehenden Aufbewahrung anvertraut worden war. In unserem Fall ist das Evangelium selbst gemeint.72 Mit φυλάσσειν klingt erneut ein inhaltliches Thema an, das die beiden Briefe an Timotheus durchzieht (vgl. auch 1Tim 5,21; 6,20; 2Tim 1,14; 4,15). Das Wort bedeutet „bewachen, behüten, bewahren, sich hüten, beachten“,73 also ein Unversehrt- und Unverändert-Erhalten sowie ein Sichan-etwas-Halten. Der Apostel kann das Evangelium letztlich nicht persönlich in diesem Sinne durch die Zeiten bringen, und in 2Tim spürt er das noch deutlicher als an anderen Stellen in seinen Briefen, wo ja auch schon sein mögliches Sterben in den Blick kommt.
69 Vgl. dazu bes. seine Ausführungen in 1Thess 5,1-11. 70 Vgl. meine Auslegung zu 1Tim 6,20. 71 P. Trummer, Art. παραθήκη/παρατίθημι, EWNT III, 51f (Zitat 52). Ausführlicher bei Trummer, Paulustradition 220ff. 72 Trummer, Art. παραθήκη/παρατίθημι (s. o. Anm. 291) 52; anders R. Kratz, Art. φυλάσσω, EWNT III, 1059, der damit in Vorwegnahme von V. 13 „rechte Lehre, Glaube und Liebe“ gemeint sieht. 73 Kratz 1058.
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2. Timotheusbrief
13 Ein Urbild der heilmachenden74 Worte sollst du haben, die du von mir gehört hast in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus ist. Timotheus soll ein Muster, eine „prägende Form“75 (ὑποτύπωσις [hypotypōsis]) der ihm von Paulus überlieferten Botschaft nicht „sein“ (in dem Sinne, dass er vorbildlich danach lebt), sondern „haben“. So verstanden würde sich V. 13 bruchlos an V. 12 anschließen. Meint der Apostel vielleicht etwas Aufgeschriebenes? Wohl nicht, denn er schreibt ja explizit von „Gehörtem“,76 also von dem Evangelium und dem, was sich als Konsequenz daraus für das persönliche Leben und für die Gemeinde ergibt. Beides gehört nämlich zusammen, Glauben und Liebe (13b), beides dient der Gesundung, dem Heilwerden (13a), und beides ist an Christus Jesus gebunden (13b), den Retter (10a). Können wir noch genauer erfassen, was mit ἐν πίστει καὶ ἀγάπῃ [en pistei kai agapē] gemeint ist? Nach Weiser ist „an die Stelle des Bezugs auf Personen … der Bezug auf abstrakte religiöse Wertbegriffe wie Glaube, Liebe, Leben, Erlösung und Gnade getreten“77 – also Worthülsen? Brox spricht von „formelhaft angeschlossenen Tugenden des Glaubens und der Liebe“.78 Quinn/Wacker verweisen als Parallele auf 1Tim 1,14, wo μετά statt ἐν steht.79 Nach Towner beschreiben Glauben und Liebe „the manner in which Timothy is to fulfill his mission.“80 Er sieht in dem Begriffspaar „an abbreviation for the authentic life of faith, combining into a unity the dimensions of oneʼs relationship to God and the lifestyle of service produced by that faith-relationship“.81 Marshall erwägt drei Optionen der syntaktischen Zuordnung dieses Satzteils, entscheidet sich dann trotz des großen Abstands im Satz dafür, dass er zum Imperativ, also zum Hauptverb, gehört: „Timothyʼs maintenance of orthodox teaching must be accompanied and backed up by a genuine Christian way of life involving faith in God and love to others.“82 Denkt Paulus dabei etwa an den komprimierten, von ihm bearbeiteten Traditionstext V. 9f als „Vorlage“ für die Verkündigung?
74 Zu dem für die Pastoralbriefe Eigentümlichen der ὑγιαίνουσα διδασκαλία bzw. ὑγιαίνοντες λόγοι vgl. den Exkurs in meiner Auslegung zu 1Tim 1,10. 75 Weiser 129 mit Literaturhinweisen. Weiser 130 sieht unsere Stelle als Gegenüber zu Röm 6,17b, wo es nicht (wie hier) um die Lehre, sondern um die „Glaubensexistenz“ gehe. 76 Vgl. Quinn/Wacker 607. 77 Weiser 132. 78 Brox 235. 79 Quinn/Wacker 606. 80 Towner 2006, 478; vgl. zum modalen Gebrauch von ἐν: HvS §184i. 81 Towner ebd. 82 Marshall 1999, 714.
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14 Das mächtige Bewahren des Anvertrauten durch Gott/Jesus (V. 12) macht menschliches Mühen um Bewahrung nicht überflüssig. Es ist auch menschliche Aktion, Tätigkeit, manchmal angestrengtes Bemühen nötig: Bewahre das gute Anvertraute durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt (vgl. 1Tim 6,20). Röm 8 hatte der Apostel über „das Leben im Geist“ geschrieben und dort auch festgehalten, dass es ein Christsein ohne Gottes Geist nicht gibt (Röm 8,9b.16). Umgekehrt gilt, dass der Geist, der Christen innewohnt, das bestimmende movens (Beweger) und dirigens (Leiter) in ihrem Leben ist (Röm 8,14). Der Schluss des vorliegenden Abschnitts korrespondiert inhaltlich und formal mit dem Anfang. Dort (6) wie hier geht es um das Wirken des Geistes, und dieser Geist, dessen Gabe in dir (ἐν σοί) tätig ist, wohnt in uns (ἐν ἡμῖν [en hēmin]), wie schon in Timotheus Mutter und Großmutter (1,5). Paulus beruft sich für seine „Einwohnungs-Theologie“, die er im Grunde schon in Röm 8,9f.14.16 entfaltet, auf Lev 26,11f, eine Stelle, aus der er 2Kor 6,16 zitiert und auf die sich auch Jesu bezieht (Joh 14,23). Im atl. Kontext findet sich auch die Bundesformel („Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein“ Lev 26,12b; vgl. Jer 31,33) sowie die Selbstoffenbarungsformel („Ich bin JHWH, euer Gott“ 3Mo 26,13). Es handelt sich also um eine exponierte Aussage. Paulus verwendet das Verb ἐνοικέω (enoikeō) außer in dem Zitat und im 2Tim noch in Röm 8,11 vom Heiligen Geist sowie in Kol 3,16 vom Wort Christi. IV 1. Die in V. 7 beschriebene Konstellation ist vielen, die mit der Verkündigung des Evangeliums und der Leitung einer Gemeinde beauftragt sind, nicht fremd. Es gilt, den richtigen Weg zu finden zwischen geistlichem Über-Mut, der dann auch mit Eitelkeit zu tun hat und zur Selbstinszenierung neigt, und menschlichem Klein-Mut, der aus Sorge davor, wie die Gemeinde, die Gesellschaft darauf reagieren könnte, das Evangelium und damit Christus verrät. 2. „Bewahren“ des Überlieferten ist auch Thema zum Beispiel in 1Joh 2,24. Schnelle datiert 1Joh ins Jahr 95 n.Chr. und sieht ihn in Ephesus (!) entstanden,83 während Robinson an die 1. Hälfte der 60er-Jahre denkt84 und ihn damit genau in der Zeit der Pastoralbriefe vermutet, gut 30 Jahre nach dem Erdenleben Jesu. Für viele, die damals Christen waren, lagen jene Ereignisse außerhalb ihres Erfahrungshorizonts, möglicherweise sogar vor ihrer Geburt. 83 Schnelle, Einleitung, 540. 84 Robinson 307.352.
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2. Timotheusbrief
Es ist dann kein Wunder, wenn es anders als bei der Jerusalemer Urgemeinde nötig wurde, die historische Grundlage in Erinnerung zu bringen und zu betonen. Wir befinden uns prinzipiell in einer ähnlichen Situation, in der es wichtig ist, das historische Moment im christlichen Glauben zu betonen. Seine Anpassung an die jeweilige Gegenwart, sein aggiornamento („Heutig-Werden“) ist zwar ebenfalls sehr wichtig, weil ja heutige Menschen mit dem Evangelium erreicht werden sollen; aber eben nicht unter Preisgabe des historisch Geschehenen, das früher manchmal als „die Heilstatsachen“ beschrieben wurde. Das hat damit zu tun, dass wir ja auch unser Heil nicht irgendwie mystisch, metaphysisch, existenzialistisch oder intellektualistisch erwarten, sondern als ein quasi-geschichtliches Geschehen, an dem wir als Personen teilhaben werden, freilich erst am Ende der Zeit und danach. Ein bloßes Überzeugtsein etwa von der Historizität Jesu, seiner Gottessohnschaft oder seiner Auferstehung bildet dabei lediglich einen wichtigen Baustein unserer Beziehung zu Gott, ersetzt aber nicht die persönlich-kindlich-vertrauensvolle Beziehung zu ihm. Weiß man um diesen Zusammenhang, dann erscheint die Forderung, dem Glauben müssten die „Krücken“ der Historizität weggeschlagen werden, in einem anderen, bedenklichen Licht. Es hat dem Schöpfer und Erhalter der Welt nun einmal gefallen, sich in Raum und Zeit, in der Lebenssphäre der Menschen also, in der Geschichte zu offenbaren und ihre Erlösung nicht als göttlichen Erlass oder durch ein transzendentes Geschehen vorzunehmen, sondern ebenfalls da, wo sie existieren, in der Geschichte. Insofern sind historische Fragen nicht zu vernachlässigen. Unser Heil hängt auch daran, ob das wirklich passiert ist, was die Bibel vom Handeln Gottes und vom Tun und Ergehen Jesu berichtet. Daran festzuhalten – auch gegen scheinbar feststehende Ergebnisse der Wissenschaften – ist für denkende Menschen nicht immer leicht, war es auch nie. 3. Im ersten Viertel des 19. Jh.s hat der damals in Bonn wirkende Geschichtsprofessor, patriotische Schriftsteller und Freiheitsprotagonist Ernst Moritz Arndt den Text zu dem Kirchenlied „Ich weiß, woran ich glaube“ geschrieben (Evangelisches Gesangbuch 1996 Nr. 357), das ursprünglich 1819 als Gedicht mit dem Titel „Der Fels des Heils“ veröffentlicht worden ist.
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4. Trennungen 1,15-18 I 15 Du weißt, dass sich alle, die in [der Provinz] Asia sind, von mir abgewandt haben, zu denen Phygelus und Hermogenes gehören. 16 Der Herr gebe dem Haus des Onesiphorus Erbarmen, weil er mich oft erquickt hat und sich meiner Kette nicht schämte, 17 sondern, als er nach Rom kam, mich eifrig suchte und fand. 18 Der Herr gebe ihm, dass er an jenem Tag beim Herrn Erbarmen finde. Und wieviel er in Ephesus gedient hat, weißt du besser. II Der Schreiber des 2. Timotheusbriefs kann an Ereignisse anknüpfen, die dem Adressaten in der westlichen Metropole der Provinz Asia, in Ephesus (V. 18b!), nicht verborgen geblieben sein können. Der Information über persönliche Beziehungen hier am Anfang des Briefkorpus entspricht, was Paulus an dessen Ende (4,9ff) berichtet. Auf die Aufforderung, das Überlieferte zu bewahren, folgen also Beispiele von Personen, die das nicht getan haben. Präziser müssen wir sagen: Es ist nicht davon die Rede, dass Phygelus und Hermogenes die gemeinsame Tradition und die Beziehung zu Jesus aufgegeben haben; vielmehr ist es Paulus als Person, von dem sie sich abwandten. Die daraus sicher resultierende persönliche Kränkung und Enttäuschung führt hier nicht zu einer „Verketzerung“ dieser Personen. Ihre Entwicklung und Entscheidung ist für den Apostel mindestens im Blick auf einige von ihnen Anlass zur Fürbitte: Das kleine „Medaillon“ von Onesiphorus (V. 16-18) ist deutlich erkennbar eingerahmt von der Bitte um Gottes Erbarmen diesem gegenüber. Vers 18b ist (typisch für den Brief) ein Nachtrag, etwas, das dem Schreiber noch eingefallen ist, nachdem er das „Medaillon“ mit V. 18a eigentlich schon abgeschlossen hatte. Ähnliche Nachträge finden wir auch sonst im 2. Timotheusbrief. Sie geben uns einen Einblick in seine Entstehung, die wir uns offensichtlich nicht allzu planvoll und sorgfältig vorzustellen haben. Möglicherweise (wir spekulieren!) hat Paulus den Satz in den schon geschriebenen Brief einfügen lassen. Mit den beiden Städten Rom (V. 17) und Ephesus (V. 18b) werden die Brennpunkte, zwischen denen der Brief entsteht, gleich zu Beginn genannt.
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2. Timotheusbrief
III In unserem Schema von „positiven“ und „negativen“ Textabschnitten1 gehören die vier Verse sicher in die zweite Rubrik: negativ-melancholisch. Die Aufforderung, Timotheus möge an dem festhalten, was er von Paulus empfangen hat, baut die gedankliche Brücke hin zu jenen, deren Wege von ihm wegführten – Gedanken eines vereinsamten Mannes im Kerker, der außer Lukas keinen von den vielen, die einmal so motiviert und begeistert mit ihm zusammengearbeitet hatten, in erreichbarer Nähe hat. Wohl exemplarisch, vielleicht auch „zufällig“, weil er gerade entsprechende Informationen erhalten hat, nennt der Apostel einige Namen: Phygelus, Hermogenes, Onesiphorus. Damit ist (außer bei Demas 4,10) noch nicht gesagt, dass sie sich auch innerlich, also geistlich-theologisch, von ihm abgewendet haben. Die Formulierungen etwa in 1Tim 1,6.19f; 4,1-3; 6,20f; 2Tim 4,10.14f; Tit 1,10-14 sind von einem ganz anderen Kaliber! Es könnte sich auch um Trennungen handeln, die durch äußere Umstände erzwungen waren oder durch Ängstlichkeit, mit dem Apostel zusammen in die Mühlen der römischen Justiz (und das hieß damals wohl: der Christenverfolgung) zu geraten. Zudem weist der Gruß an das „Haus“ des Onesiphorus (4,19) durchaus nicht in die Richtung eines ernsthaften und bleibenden geistlichen Zerwürfnisses. 15 Offenbar war Timotheus (in Ephesus, dem Sitz des Statthalters der senatorischen Provinz Asia) schon auf dem Laufenden im Blick auf die Vorgänge in Rom und das Ergehen des Apostels Paulus. Der in V. 17 erwähnte Besuch des Onesiphorus ist ein Beispiel für die Informations- und Kommunikationsfäden der frühen Christenheit. So weit müssen wir aber zunächst gar nicht gehen, denn Paulus spricht in V. 15 über Veränderungen in der Provinz Asia, wo sich Timotheus nach unserer Vermutung zu diesem Zeitpunkt gerade (oder: immer noch; oder: wieder) aufhält. Diese Provinz stand in ntl. Zeit unter der Verwaltung eines Prokonsuls, war also senatorische Provinz. Sie nahm etwa ein Viertel bis ein Drittel der Fläche der kleinasiatischen Halbinsel ein und ragte von deren westlichem Rand keilförmig bis an das anatolische Hochland hinein. Von großer Bedeutung ist das Wort sich abwenden (ἀπεστράφησαν [apestraphēsan]). Paulus benutzt es vier Mal, davon ein Mal positiv im Zitat von LXX Jes 59,20 in Röm 11,26. In 2Tim 4,4, und Tit 1,14 geht es jeweils um Personen, die sich von der Wahrheit abgewendet haben. Der sprachliche Befund stärkt also eher die Vermutung, der Apostel spreche auch
1 S.o. in der Einleitung unter „Literarische Fragen und sprachliche Merkmale“: „2. Aufbau und sprachliche Formen“.
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an unserer Stelle von Menschen, die ihm auch theologisch (was nicht bedeuten muss: geistlich!) den Rücken zugekehrt haben. Während der griechische Name Phygelus sonst in der Antike selten ist, gibt es für Hermogenes mehrere bekannte Belege, z.B. bei Josephus, CAp. 1,216. 16 Für Paulus ist die Konsequenz (hier) nicht wie 1Kor 5,6 der Ausschluss aus der Gemeinde, sondern das Gebet für diese Menschen und die Bereitschaft, sie ihren Weg gehen zu lassen. Konkret wird das an einem Beispiel: Der Herr gebe dem Haus des Onesiphorus Erbarmen.2 Stettler hält es für wahrscheinlich, dass mit dem durch den bestimmten Artikel versehenen κύριος hier (wie in V. 18) Jesus gemeint ist.3 Mit dem Haus ist die ganze Großfamilie, der Onesiphorus, falls er römischer Bürger war, als pater familias vorstand, gegebenenfalls samt Sklaven und Freigelassenen gemeint. Zu ihm hatte der Apostel offenbar eine gute Beziehung, wie auch seine nochmalige Erwähnung im abschließenden Grußteil (4,19) zeigt. Onesiphorus ist uns sonst nicht bekannt. Er gehörte wohl (ebenso wie Phygelus und Hermogenes) zu den Gemeinden der Provinz Asia, womöglich in Ephesus (V. 18b).4 Wie ein kleines „Medaillon“ (s. o. unter II) zeichnet der Briefschreiber in V. 16-18 Bruchstücke aus seiner Geschichte mit ihm nach: Da ist zunächst die Rede von häufigen Erquickungen, die er von Onesiphorus erfahren hat. Lukas (!) verwendet das zugehörige Substantiv ἀνάψυξις [anapsyxis] in der Petruspredigt am Pfingsttag (Apg 3,20) zur Beschreibung des Zustands, der eintreten wird, wenn seine Zuhörer einen neuen Anfang mit Gott gemacht und Vergebung ihrer Sünden erlangt haben werden. Das sonst in biblischen Schriften seltene, bei Paulus nur hier (und als abweichende Lesart in Röm 15,32) vorkommende Wort hat die Grundbedeutung „kühlen, erfrischen“, das Substantiv „Austrocknung (Heilung) einer Wunde, Abkühlung, Linderung, Erholung“, in LXX Ex 8,11 „Befreiung von der Froschplage“.5 „Die Erwartung der Heilszeit als Erquickung nach Bedrängnissen ist ein Lukas geläufiges Thema“, schreibt Kremer.6 Was wir uns konkret darunter vorzustellen haben (Ermutigung? Unterstützung? Trost? Rat? Materielle Versorgung?) und in welche Periode der Paulus-Biographie es gehört, entzieht sich unserer sicheren Kenntnis. Sollte die Zeit der ersten römischen Gefangenschaft gemeint sein (wie der nächste 2 Zu „Erbarmen“ vgl. die Ausführungen zu 1,2! 3 Stettler, Christologie, 161. 4 Engelmann, Drillinge, 210f schreibt richtig: „Ob der Verfasser des 2Tim mit dem Hinweis auf den οἶκος von Onesiphorus tatsächlich auf die Existenz einer Hausgemeinde in dessen Haus anspielt oder lediglich seine Familie meint, kann aufgrund der textlichen Belege kaum entschieden werden.“ 5 J. Kremer, Art. ἀνάψυξις, EWNT I, 228f (Zitat 228). 6 A.a.O. 229.
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2. Timotheusbrief
parallele Teilsatz nahelegt), wird es sich um Besuche gehandelt haben. Wahrscheinlicher ist die zweite Gefangenschaft gemeint, und es werden Zuwendungen an Lebensmitteln, Kleidung etc. für ihn, vielleicht auch für die Gefängniswärter in der Hoffnung auf Hafterleichterung, gewesen sein. Denn Onesiphorus schämte sich meiner Kette nicht. Wieder das Stichwort ἐπαισχύνομαι [epaischynomai], und wieder transportiert es die doppelte Bedeutung: Obwohl es nahelag, zu einem letztlich aus politischen Gründen und wegen Gefährdung des römischen Staats und seiner Religion Inhaftierten auf Distanz zu gehen, um nicht mit ihm und seinen Anschauungen „identifiziert“ zu werden, und obwohl er Gefahr lief, selbst als Christ inhaftiert zu werden, hat Onesiphorus in Rom den Kontakt gesucht. Er tat das über das Maß hinaus, das der Anstand einer Freundschaft gebot, indem er sich nicht damit zufrieden gab, den Apostel nicht auf Anhieb angetroffen zu haben. Vielmehr machte er sich erfolgreich auf die Suche nach ihm (ἐζήτησέν με καὶ εὗρεν [ezētēsen me kai heuren]) – vermutlich bei den christlichen Hausgemeinden, sofern die noch existierten, aber auch bei Behörden und in den verschiedenen Gefängnissen Roms, wo nach dem Stadtbrand und der ihm folgenden Verhaftungswelle ohnehin immer noch Durcheinander geherrscht haben dürfte. 17f Als er nach Rom kam (γενόμενος ἐν Ῥώμη [genomenos en Rhōmē]): Dies ist neben den mehrheitlich lateinischen Namen der Gegrüßten in 4,21 der einzige, wenn auch sehr starke Hinweis im 2. Timotheusbrief auf die Gefangenschaft dort. Die Verbform im Aorist legt zudem nahe, nicht anzunehmen, dass sich Onesiphorus schon längere Zeit in der Hauptstadt aufgehalten habe, sondern dass er (wegen Paulus?) eben erst dort angekommen sei.7 In V. 18 knüpft der Schreiber erkennbar an V. 16 an. Sein Wunsch ist, dass Onesiphorus an jenem Tag beim Herrn Erbarmen finde. Auch hier wäre (nach Stettler) mit ὁ κύριος Jesus, mit dem artikellosen κυρίου aber Gott gemeint.8 Den Hintergrund bilde „die Gerichtserwartung der synoptischen Menschensohntradition“.9 Das Endgerichtsmotiv von V. 12 kommt erneut in den Blick (vgl. 1Kor 3,13; 4,5) – kein Wunder bei einem Menschen, der für sich selbst den Tod und damit das Gericht erwartet, von dem er 2Thess 4,16f noch mit der Aussicht auf das Leben geschrieben hatte und dem er ebenfalls selbst bei 7 Bei Licht betrachtet sagt diese Stelle nur, dass sich Paulus in der Vergangenheit oder Gegenwart in Rom aufgehalten und dass Onesiphorus ihn dort gesucht und gefunden hat. Sie sagt nicht, dass Paulusʼ aktueller Rom-Aufenthalt gemeint sein muss. Wenn die Annahme zutrifft, dass Onesiphorus inzwischen gestorben ist (vgl. zu 4,19!), liegt es sogar nahe, an einen früheren Aufenthalt zu denken. Dafür kommt nur die 1. Gefangenschaft in der Stadt (ca. 60–62 n.Chr.) infrage. Wirkliche Sicherheit können wir nicht erreichen. 8 Stettler, Christologie, 161 (vgl. auch V. 16). 9 Ebd.
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allem Gottvertrauen und aller Heilsgewissheit (Röm 5,1f) offenbar mit gemischten Gefühlen entgegensah (vgl. 2Kor 5,1.4.8.10 u.a.). Onesiphorus kann der Apostel für den Gerichtstag nur noch Gottes Barmherzigkeit wünschen. Wie ein Nachtrag (s. o. II) wirkt 18b, wo auf das „Insider-Wissen“ (βέλτιον σὺ γινώσκεις [beltion sy ginōskeis]) des Adressaten Timotheus, der die Verhältnisse in Ephesus genau kannte und sich wohl auch jetzt noch dort aufhielt, Bezug genommen wird. Vermutlich spielt Paulus hier (διηκόνησεν [diēkonēsen]) nicht auf Dienste an, die ihm persönlich geleistet wurden, sondern der Gemeinde insgesamt oder einzelnen Mitgliedern. διακονεῖν [diakonein] heißt seit Herodot zunächst „bei Tisch aufwarten“, dann weitergehend „für den Lebensunterhalt sorgen“, dann verallgemeinert „dienen“.10 In seinem gründlichen und für die weitere Forschung grundlegenden Artikel hatte Hermann Wolfgang Beyer schon 1935 unter den diversen griech. Begriffen, die ein Dienen beschreiben, die spezifische Bedeutung dieses Wortes herausgearbeitet: „daß es die ganz persönlich einem anderen erwiesene Dienstleistung bezeichnet.“11 Dabei sollte der soziologische Aspekt nicht übersehen werden, dass nämlich dienen an sich (sofern es nicht für den Staat geschah) für den Griechen einen verächtlichen Klang hatte. δουλεύειν [douleuein] drückt „vor allem das Abhängigkeitsverhältnis und die Unterordnung des δοῦλος dem κύριος gegenüber aus; διακονέω und seine Wortgruppe bringt dagegen viel stärker den Gedanken des Dienstes zugunsten von jemand zur Sprache“, schreibt Weiser.12 Es wird deshalb „in bestimmten Schichten des NT zum zentralen Ausdruck für die christl. Grundhaltung, die sich an Jesu Wort und Verhalten orientiert, und zur Bezeichnung spezifisch christl., innergemeindlicher Funktionen, nämlich des karitativen Einsatzes, der Wortverkündigung und der Führungsaufgaben.“13 So betrachtet könnte Onesiphorus’ Mitarbeit in der Gemeinde in Ephesus in einer breiten Palette von Aufgaben bezeichnet sein; der Bezug zu dem, was er dem Gefangenen Paulus getan hat, lässt aber eher an diakonische Aufgaben im engeren Sinne denken. IV Das Bild, das uns das NT von den frühen Gemeinden, von ihren Strukturen, ihren Sorgen und Freuden, ihren Kämpfen, aber auch von den sie bestimmenden Personen gibt, setzt sich aus vielen Einzelteilen zusammen. Was wäre, wenn wir die in unserem Abschnitt enthaltenen Informationen über Paulus 10 11 12 13
A. Weiser, Art. διακονέω κτλ., EWNT I, 726. H. W. Beyer, Art. διακονέω κτλ., ThWNT II, 81. Weiser a.a.O 726f. A.a.O. 727.
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2. Timotheusbrief
und die Menschen in seinem Umfeld nicht hätten? Wir wären nicht arm, aber doch ärmer. Paulus war vom Typ her ein zielorientiert denkender Innovator, eine Gründergestalt, einer, der Impulse gab und sich durchsetzen konnte. Für diesen Menschentyp sind bestimmte Eigenschaften unverzichtbar: Motiviertheit, Gradlinigkeit, Zielstrebigkeit, Überzeugungskraft, Durchsetzungsfähigkeit, Weltgewandtheit zum Beispiel oder die Fähigkeit, Menschen zu begeistern und zu führen. Umgekehrt bringen es diese Eigenschaften aber mit sich, dass sie anderen nur wenig Raum zu eigener Entfaltung lassen: der Teamfähigkeit etwa, der Sensibilität, der Einfühlsamkeit, der Empathie. Das haben viele, die mit dem Apostel gearbeitet haben, erlebt und erfahren. Es war vermutlich nicht immer einfach, weil er sagte, wo es lang ging – schließlich war er Apostel Jesu Christi. Als er dann selbst im wahrsten Sinn des Wortes „am Ende“ war, im schlimmsten römischen Gefängnis, ohne Hoffnung auf Befreiung, da mögen manche die Chance gesehen haben, sich von ihm abzusetzen – äußerlich und innerlich. Das muss nicht bedeuten, dass sie gleich auch ihrem Herrn Jesus Christus den Rücken gekehrt haben wie Demas (2Tim 4,10). Sie sind möglicher- und auch verständlicherweise einfach „in Deckung gegangen“ angesichts der Gefahren, die das Bekenntnis zu Christus und zu seinem Apostel nun mit sich brachte. Wir können das menschlich gut nachvollziehen, verhalten uns vielleicht in ähnlichen Situationen ebenso. Dabei vergessen wir, dass unser Vertrauen und unsere Treue zwar natürlich Jesus gehören, dass jene, die an vorderster Stelle für ihn arbeiten, aber auch Unterstützung brauchen.
5. Leben und Leiden aus der Auferstehungskraft Christi 2,1-13 I 1 Du nun, mein Kind, werde stark durch die Gnade, die in Christus Jesus ist, 2 indem du nämlich das, was du von meiner Seite in Gegenwart vieler Zeugen gehört hast, vertrauenswürdigen Menschen weitergibst, die geeignet sein werden, auch andere zu lehren. 3 Erleide Böses mit wie ein guter Soldat des Christus Jesus! 4 Keiner, der Kriegsdienst tut, beschäftigt sich mit den Geschäften des täglichen Lebens, damit er dem gefällt, der das Heer gesammelt hat. 5 Wenn aber einer einen Wettkampf bestreitet, wird er nicht [als Sieger] bekränzt, sofern er nicht nach den Regeln kämpft. 6 Der Bauer, der sich plagt, muss zuerst an den Früchten Anteil haben. 7 Bedenke, was ich schreibe: Der Herr wird dir nämlich in allem Verstand geben. 8 Erinnere dich an Jesus Christus, auferweckt aus den
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Toten, vom Samen Davids, entsprechend meinem Evangelium, 9 wegen dem ich Böses leide bis zu Ketten wie ein Verbrecher, aber das Wort Gottes ist nicht gebunden. 10 Deswegen nehme ich alles auf mich wegen der Auserwählten, damit auch sie die Rettung, die durch Christus Jesus [erfolgt], mit ewiger Herrlichkeit erlangen. 11 Zuverlässig ist das Wort: Wenn wir nämlich mit gestorben sind, werden wir auch mit leben; 12 wenn wir darunterbleiben, werden wir auch mit herrschen; wenn wir verleugnen werden, wird auch jener uns verleugnen; 13 wenn wir untreu sind, bleibt jener treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen. II Bei diesem umfangreicheren Abschnitt lohnt es sich, die innere Struktur zu analysieren: 1-2 Ermutigung zum Dienst 3-10 Ermutigung zum Leiden 4-6 drei Bildworte 8f Christus vor Augen 10 Zusammenfassung 11-13 vier „Faustregeln“ Das Stichwort du, das auch die gedankliche Brücke zu 1,18b schlägt, bringt den Schreiber gedanklich von den anderen Mitarbeitern (1,15-18) wieder zurück zum Adressaten seines Briefs, zu Timotheus. Ihn hatte er schon den Korinthern gegenüber als „mein Kind“ bezeichnet (1Kor 4,17), was nur eine Konsequenz dessen ist, dass er die ganze Gemeinde in Korinth als von ihm durch die Verkündigung seines Evangeliums (Röm 2,16; 2Tim 2,8) geistlich gezeugte Kinder ansieht (1Kor 4,15). In den persönlichen Briefen nennt er ihn „legitimes Kind im Glauben“ (1Tim 1,2; vgl. Tit 1,4), einfach „Kind Timotheus“ (1Tim 1,18) oder „geliebtes Kind“ (2Tim 1,2). Auch auf den Sklaven Onesimus (Phlm 10) sowie auf ganze Gemeinden wendet er die Bezeichnung „meine Kinder“ an (1Kor 4,14; Gal 4,19). Sie bringt zum Ausdruck, in welche Richtung die Glaubensweitergabe geht: von Paulus, dem Apostel, zu denen, die durch ihn Christen geworden sind. Man mag das Verhältnis, das daraus entstanden ist, „patriarchalisch“ nennen; es ist durch Alter, Kompetenz, Urheberschaft, amtliche und persönlich-charakterliche Autorität und Vertrauen begründet. Bei Paulus holten sich seine „Kinder“ Rat (1Kor 7,1), auf ihn hörten sie, von ihm ließen sie sich einsetzen – jedenfalls meist. In V. 1-8 kommt dieser Aspekt von Anordnen und Gehorchen durch die Verwendung von fünf Imperativen zum Ausdruck.
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2. Timotheusbrief
V. 4-6 Das Stichwort „mitleiden“ bringt Paulus zum Bild vom Soldaten, das er durch zwei weitere Bildworte vom Sportler und vom Landwirt ergänzt. Verbindendes Thema ist die Konzentration auf die eigentliche Aufgabe. V. 8bc, in Partizipialkonstruktion angehängt, könnte Teil eines traditionellen christologischen Textes sein. Stettler nennt als Gründe dafür „die Einleitung mit μνημόνευε, der nominale Stil, der Parallelismus membrorum, der vom Kontext her eher überraschende Inhalt und – vor allem – die Parallelität zu Röm 1,3f “.1 V. 11 ist eins der fünf „Pistos“-Worte der Pastoralbriefe (1Tim 1,15; 3,1; 4,9; 2Tim 2,11; Tit 3,8). Dieses ruft den Tun-Ergehen-Zusammenhang ins Bewusstsein. III 1 Mit der Anrede mein Kind, die an das zwischen ihnen herrschende vertrauensvolle Verhältnis erinnert, nimmt der Verfasser den Faden der Ermutigungen und Ermahnungen an Timotheus von 1,14 mit einem Imperativ wieder auf: Werde stark durch die Gnade, die in Christus Jesus ist, lesen wir.2 Exkurs Gnade (χάρις [charis]) hatte er (wie häufig in den Segenswünschen am Schluss seiner Briefe) schon in 1,9 vornehmlich nicht mit Gott-Vater, sondern Jesus Christus verbunden.3 Gehen wir dem Wort „Gnade“ nach, das mehr und mehr über den Rand des Tisches mit dem ausgebreiteten aktiven Wortschatz unserer Sprache zu fallen droht, so machen wir eine erstaunliche Feststellung: Anders als viele andere Begriffe, die auf dem Wege ihrer Übersetzung und Übertragung vom Hebräischen ins Griechische und dann (übers Lateinische) ins Deutsche inhaltliche Veränderungen erlebt haben, hält sich bei den Worten für „Gnade“ die Grundbedeutung durch. Wikipedia definiert sie als „eine wohlwollende, freiwillige Zuwendung“.4 Gemeint ist also etwas, das mit der Gesinnung des Gnädigen gegenüber dem Begnadeten zu tun hat, das ungeschuldet erfolgt und das diesem gegeben oder entgegengebracht wird, und zwar als etwas Materielles oder als Verhaltensweise.
1 Stettler, Christologie, 165. Gattungsmäßig vermutet sie „eine Lehrformel“. 2 Art. ἐνδυναμόω, EWNT I, 1101f. Paulsen schreibt a.a.O. 1102 zu dem Imperativ, er markiere „eine Schlüsselstelle der Argumentation: Wie Timotheus das weitergeben soll, was er von Pls empfangen hat, so entspricht auch sein ἐνδυναμοῦσθαι der Bekehrung des Apostels.“ 3 Zum Verständnis von χάρις (charis) vgl. zu 1Tim 1,2! 4 de.wikipedia.org/wiki/Gnade (am 11.4.2016).
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Betrachten wir frühere Stadien! Im AT werden zwei Begriffe für die infrage stehende Sache verwendet. Die Wortwurzel [ חנןchānan]„bezeichnet das gütige, in hilfreicher Tat erwiesene Sich-Hinkehren einer Pers[on] zu einer anderen“, das auch im Verschonen eines Ausgelieferten bestehen kann.5 Es beschreibt keine Eigenschaft, sondern eine Verhaltensweise. Daneben steht mit [ ֶ ֖חֶסדchäsäd] ein Beziehungsbegriff, „bei dem es um das Gefälle vom einen zum anderen hin“ geht.6 Das heißt: hier liegt der Akzent auf der Unterordnung des Begnadeten unter den Gnädigen. Beide Begriffe erhalten ihre theologische Bedeutung, sobald sie auf Jahwe als den Gnädigen bezogen sind.7 Luther erlebte die Bedürftigkeit nach Gnade an der Grenze des Todes. חסדals Möglichkeit für den Menschen endet mit dem Tod. Leben heißt also: im Wirkungsbereich von Gottes Gnade sein. Wir schlagen eine Brücke zum ntl. Begriff χάρις. Fast 100 Mal verwendet Paulus das Wort. Für ihn wird es zum Symbolwort für den Weg zu Gott (und damit zum Heil) allein durch den Glauben an Christus, also für die Rechtfertigung. Entsprechend fehlt es nicht, wenn der Apostel darauf zu sprechen kommt. Es wird zum Gegenüber menschlicher Leistung als Versuch, das Heil aus eigener Kraft zu erreichen. Nicht ausgeschlossen werden soll des Menschen Tun, aber ausgeschlossen werden soll eben dieser vermessene Heilsweg, der in menschlicher Bemühung besteht und sich auf sie beruft. Unser (beinahe außer Gebrauch geratenes) Wort „Gnade“ streckt seine Wurzeln tief in die Geschichte der indogermanischen Sprachen.8 Viel später, wohl im 17. Jh., verengte sich der Sprachgebrauch auf das Be-Gnadigen im Sinne von Straferlass. Geblieben ist die Bedeutung, wie sie (ohne dass das Wort verwendet wird) bildhaft als zusammenfassende Erkenntnis eines großen Theologen, der in seinem Leben viel bewegt hatte, in Luthers letzten Worten steckt: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“9
„Gnade ist die Ermöglichung des Zugangs zu Gott überhaupt durch diesen Gott selbst“, schreibt Berger treffend,10 denn das ist das größte Geschenk, das Gott uns machen kann – und er macht es uns in seinem Sohn. Dass sie uns „in Christus Jesus gegeben“ ist, schrieb er schon 1Kor 1,4. Dass sie „mächtig“ ist (mächtiger als die Sünde), schrieb er Röm 5,20, dass sie ihre Kraft aber nicht immer zeigt, in 2Kor 12,9. Diese letzte Stelle mag eine Brücke hin zu unserem Text sein, indem Timotheus ermutigt wird, seine Kraft in Walther Zimmerli, Art. χάρις κτλ., ThWNT IX, 367 A.a.O. 372. A.a.O. 368.373. Vgl. die entsprechenden Artikel im DUDEN Bd. 7 Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim u.a. 42007, oder bei Pfeifer, Wolfgang / Braun, Wilhelm, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin 21993. 9 WA 48, 241f.; andere Versionen sind überliefert. 10 K. Berger, Art. χάρις, EWNT III, 1098. 5 6 7 8
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2. Timotheusbrief
eben dieser Gnade zu sehen, genauer: in dem Begnadigtsein, dem auch äußerliche Bedrohung letztlich keinen Schaden zufügen kann. Röm 4,20 verwendet der Apostel dasselbe Verb ἐνδυναμόω [endynamoō] passivisch im Zusammenhang mit Abraham, der sich von den biologischen Fakten und der Lebenserfahrung nicht entmutigen ließ, sondern Gott zutraute: Was „Gott verheißt, das kann er auch tun“ (Röm 4,21). An unserer Stelle verwendet er das Verb sogar im passiven Imperativ, was eigentlich ein Widerspruch in sich ist. Er drückt damit aus, dass die Kraftquelle nicht in ihm liegt, sondern dass ihm Kraft von oben übertragen wird, und dass er den Zufluss dieser Kraft zulassen muss. Nach Wolter finden sich ähnliche Formulierungen in der atl. und atl.apokryphen Literatur im Zusammenhang mit der Übernahme eines Amtes und der Ermutigung dafür.11 Übrigens spricht Paulus zu Timotheus nicht wie der sprichwörtliche Blinde von der Farbe; er ist selbst einer, den Gott stark gemacht hat (1Tim 1,12),12 und wird später (2Tim 4,17) davon schreiben, dass und wie er selbst solche Stärkung auch in seiner jetzt so schwierigen Lage erlebt hat (vgl. auch Phil 4,13). „Bei Pls bietet die Schwachheit die beste Möglichkeit zur Entfaltung der Kraft“, schreibt Friedrich.13 2 Der Apostel stellt dem ersten Imperativ werde stark (V. 1), durch ein explikatives (erklärendes) καί mit diesem durchaus im Sinn eines in der Sache weiterführenden parallelismus membrorum verbunden, einen zweiten an die Seite, der allerdings in der Übersetzung ins Deutsche wegen des Partizipialsatzes als solcher unsichtbar wird: indem du nämlich das, was du von meiner Seite in Gegenwart vieler Zeugen gehört hast, vertrauenswürdigen Menschen weitergibst. Vers 2a beschreibt, wie das Erstarken sich auswirken soll. Schon 2Tim 1,5 hatte er Timotheus der Sache nach in eine Reihe von Zeugen (dort genauer: Zeuginnen) gestellt, nämlich seine Mutter und Großmutter. Weil er in deren geistlicher Linie steht, zweifelte Paulus nicht daran, dass Timotheus ihren „ungeheuchelten Glauben“ habe und die Gnadengabe, die ihm gegeben sei, neu zum Glühen bringen werde (1,6), was offenbar nötig war. Das Hören spielt im 2. Timotheusbrief immer wieder eine Rolle (1,13; 2,2; 2,14; 4,17).14 Es ist (nicht nur in damaliger Zeit, aber damals besonders) 11 Wolter 216-218. 12 Das Verb gehört nach H. Paulsen eng zu dem, wie Paulus sein Apostolat versteht: a.a.O. 1102. 13 G. Friedrich, Art. δύναμις, EWNT I, 862. 14 Vor jüdischem Hintergrund ist das nicht erstaunlich, besteht doch das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis, das Schema‘ Jisra’el, gerade in der Aufforderung zu hören, wer Gott und wie Gott für sein Volk ist (Deut 6,4). H. Schult schreibt: „Die Gottesoffenbarung im AT wird, auch wenn sie mit visionären Erlebnissen verbunden ist, doch vornehmlich gehört; auch hierin zeigt sich die ‚Prävalenz des Hörens‘“ (ders., Art. שמע, THAT II, 981).
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der gewöhnliche Weg, auf dem ein Mensch die Gute Nachricht erfährt.15 Dass es allerdings der Apostel Paulus war, durch den Timotheus Christ wurde, ist nach Apg 16,1 eher unwahrscheinlich. Da er dort bereits als „Jünger“ bezeichnet wird, dürfen wir davon ausgehen, dass er bereits getauft war, als Paulus ihn traf, zumal, wenn wir Apg 16,2 berücksichtigen. Das Erstaunliche ist vielmehr die Reihenfolge „Taufe – Beschneidung“ (Apg 16,3), die wir hier antreffen. Insofern sind Überlegungen, die das Traditionsstück 2Tim 1,9f einer bzw. dessen eigener Taufe zuordnen möchten, müßig. Was er in Gegenwart vieler Zeugen von Paulus gehört hatte, muss bei einer anderen Gelegenheit geschehen sein. Es spricht manches dafür, an seine Beauftragung als Mitglied des Teams um Paulus oder speziell für seine Leitungsaufgabe in Ephesus zu denken, von der wohl 1Tim 4,14 die Rede ist.16 Die Formulierung ἤκουσας παρ’ ἐμοῦ [ēkousas par emou] nimmt 1,13 auf. War sie dort mit Glaube und Liebe als der Art und Weise der Weitergabe gekoppelt, so geht es hier um die Bezeugung der Authentizität der Botschaft, d.h. um die Bestätigung, dass der Apostel seinem Schüler bei seiner Einsetzung kein „anderes Evangelium“ (Gal 1,69) tradiert hatte. Eine Verfälschung durch Timotheus – aus welchem Grund auch immer – hätte in Ephesus keine Chance, weil es diese Zeugen gibt.17 Bauers Wörterbuch übersetzt διὰ πολλῶν μαρτύρων [dia pollōn martyrōn] mit „in Gegenwart vieler Zeugen“.18 Die Aussage V. 2aα ist demnach wohl so zu verstehen, dass Timotheus die Verkündigung des Evangeliums, so wie Paulus es verkündigt (vgl. Röm 2,16), in Gegenwart vieler Zeugen gehört hat. Timotheus hat sich nach Apg 16,3 darauf eingelassen und ist sein Mitarbeiter geworden. Nach Marshall ist kaum zu entscheiden, ob der Apostel dabei an eine bestimmte Gelegenheit denkt oder an die vielen Situationen, in denen Timotheus seine Predigten gehört hat.19
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Die biblische Botschaft ist mit Inhalten verbunden, die nicht in erster Linie mystischer, ekstatischer oder emotionaler Art sind. Man kann sie eindeutig vernehmen, aufschreiben und dadurch festhalten, um sie weiterzugeben. Vgl. Marshall 725. Es bedeutet dagegen eine unzulässige Reduktion, die παραθήκη (aus Gründen, die vom Gesamtverständnis der Pastoralbriefe her nahe liegen!) auf Schriften zu beschränken, wie es z.B. Oberlinner 68 tut: „Die paulinische Tradition (= seine Briefe) zusammen mit deren authentischer Interpretation durch die Past sind Gegenstand der Vermittlung (durch Timotheus) und dann auch Inhalt der Verkündigung („durch“ zuverlässige Leute).“ Vgl. meine Erklärung zu 1Tim 4,14! Marshall 1999,725. Bauer/Aland 361. Marshall 1999, 725. Er betont im Unterschied zu den meisten Kommentaren mit Recht, dass es nicht zwingend sei, dabei an Timotheusʼ Taufe oder Amtseinführung zu denken.
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2. Timotheusbrief
Wir hatten oben gesagt, dass wir das καί (V. 2aα) explikativ verstehen. Was dort gesagt ist, wird nun in expliziter Aufnahme durch das Demonstrativpronomen ταῦτα,20 das auf das Relativpronomen ἄ zurück verweist, fortgeführt. Fortgeführt werden soll auch die Kette von Zeugen, indem Timotheus weitergibt, was ihm selbst nach 1Tim 1,18 anvertraut worden war. Wichtig ist dem Apostel die Verlässlichkeit dieser Leute. πιστοῖς ἀνθρώποις [ pistois anthrōpois] soll das Evangelium übergeben werden, wobei bei πιστός an dieser Stelle mehrere Bedeutungen schillern: Sicher sollen es (aktiv verstanden) „gläubige“ Menschen sein, aber eben auch (passiv verstanden) „zuverlässige, vertrauenswürdige“ (vgl. 2Thess 3,2). Dieses Changieren macht den inneren Zusammenhang bewusst: Es kommt nicht darauf an, dass irgendjemand das Evangelium irgendwie verkündigt oder weitergibt, nur damit es mit der Kirche weitergeht.21 Verlässlichkeit im Bewahren des Wortes Gottes muss verbunden sein mit der angemessenen inneren Haltung Gott gegenüber. Dazu gehört prominent die πίστις, der Glaube. Die alten Dogmatiker sprachen von einer theologia regenitorum und meinten damit, dass eigentlich nur wiedergeborene Menschen angemessen theologisch arbeiten könnten. Es ist zu fragen, was das bedeutet und ob sie damit das Richtige erkannt hatten. G. Maier meint dazu:
20 Vgl. dazu die von E.E. Ellis so genannte „tauta formula“: ders., Traditions in the Pastoral Epistles. in: Early Jewish and Christian Exegesis. Studies in Memory of William Hugh Brownlee. Hg. v. C.A. Evans / W.F. Stinespring, Atlanta 1987, 237-253. – παρατιθέναι wurde schon im hellenistischen Judentum für Traditionsprozesse gebraucht. 21 Dazu scheinen Aussagen wie in Mk 9.38-40 par; Phil 1,17f im Widerspruch zu stehen. Wer in den Pastoralbriefen späte Zeugnisse einer nun auf dogmatische Enge fixierten Kirche sieht, wird diese Tendenz auch hier entdecken. Beschreitet man aber einen anderen Weg, dann ist zunächst festzuhalten, (1) dass Gott ja tatsächlich auch durch Menschen in der Geschichte wirken konnte, die ihm dezidiert nicht angehörten (Pharao; Bileam; Nebukadnezar, den Jeremia in Gottes Namen sogar „meinen Knecht“ nennen konnte [Jer 25,9]; Kyrus ist sogar Gottes „Gesalbter“ [Jes 45,1; vgl. auch 2Chron 36,23 und Esr 1,1f]). Dabei ging es aber in der Regel nicht um das Reden in Gottes Namen, sondern um ein Handeln, oft zum Gericht. (2) Zu Mk 9,39f erläutert Hans F. Bayer, Das Evangelium des Markus. Witten 2008, 349f mit Verweis auf „die nüchterne Warnung in Mt 7,21-23“: „Wer immer jedoch ein Wunder in meinem Namen vollbringt, ist damit nicht gleich genuiner Jünger Jesu … Der Kern der Nachfolge ist, den Willen des Vaters zu tun; der Kern des Willens des Vaters ist, seinem Sohn zu vertrauen. Ohne dieses Vertrauen ist alles andere nichtig.“ (3) In Phil 1,15-18 geht es offenbar um einen gemeindeinternen „Richtungsstreit“, der aber nicht in inhaltlich-theologischen Differenzen seine Ursache hat, sondern in typisch menschlichen Emotionen und Motiven (Neid, Streitsucht, Eigennutz, Schadenfreude). Deshalb kann Paulus mit dem Verhalten seiner Konkurrenten gelassen umgehen – anders als dann im 2. Timotheusbrief.
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„Welchen Sinn hat der Begriff ‚theologia regenitorum‘? Mir persönlich war es immer wichtig, dass wir anthropozentrische Ansätze vermeiden und stattdessen pneumatozentrisch denken. Der Heilige Geist braucht keine ‚Zulassung‘. Es gehört zu seinem Wesen, dass er unauffällig, aber unerhört schöpferisch wirkt. Natürlich auch außerhalb eines bewussten Glaubens, wie die Gestalt eines Bileam oder die Gestalt eines Achisch von Gat oder auch die Archive des Esrabuches zeigen. Der Heilige Geist will aber auch Menschen ergreifen. Sich ihm zu verweigern, z.B. durch Ablehnung des Glaubens, wäre Schuld. So führt der Heilige Geist auch Theologinnen und Theologen zum Dank für das empfangene Wort, zur Demut in der Gemeinde und zur Freude an der missionarischen Weitergabe der Botschaft. Er verschafft ihnen jedoch keine Irrtumslosigkeit, vielleicht nicht einmal ein Plus an Erkenntnis, und er macht sie auch nicht unwiderstehlich. Sie können sich in der theologischen Auseinandersetzung nur wehren, indem sie die Treue der Haushalterschaft nach 1Kor 4,2 bewähren und auf das Wort Gottes hinweisen, nicht aber indem sie auf die Überlegenheit ihrer Erkenntnis verweisen.“ 22
Zu den beiden Verben ἀκούειν („hören“) und παραθεῖναι [ paratheinai „weitergeben“] in V. 2aαβ kommt im anschließenden Relativsatz als drittes das Verb διδάσκειν [didaskein „lehren“] hinzu. Schon 1,11 hatte der Apostel sich als „Lehrer“ bezeichnet. Das Lehren, also das den Wortlaut einprägende, ihn zu verstehen suchende und erläuternde Weitergeben des Evangeliums, nimmt in seinem Denken einen wichtigen Platz ein. Damit ist eine wesentliche Begründung und Motivation für die theologische Arbeit gegeben. Der Relativsatz erläutert, wie die Traditionsempfänger beschaffen sein und was sie tun sollen. Sie sind demnach nicht nur Empfangende und Aufbewahrende, sondern auch Weitergebende. Dies erfordert bestimmte Qualitäten: Geeignet (ἱκανοί [hikanoi]) sollen sie sein. Das Wort kann in unserem Zusammenhang sowohl „genügend“ als auch „geeignet“ bedeuten.23 Paulus hatte bereits eine Vorgeschichte mit dem Begriff in der Auseinandersetzung mit den Korinthern hinter sich. 1Kor 15,9 sagt er von sich selbst, er sei (im Vergleich mit den ersten Auferstehungszeugen und wegen seiner Tätigkeit als
22 Im Festvortrag zu dem Thema „Gemeinsam glauben – miteinander forschen“ aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Arbeitskreises für evangelikale Theologie am 13.12.2002, dokumentiert unter dem Link www.afet.de/?p=528 (gelesen am 18.04.2016). 23 Vgl. P. Trummer, Art. ἱκανός, EWNT II, 452f; demnach bezeichnet das Wort „die Tauglichkeit zu etwas“ (452). Dazu vgl. man die papyrologischen Beispiele für Personen, die „zur Genüge die Voraussetzungen“ für eine Aufgabe mitbringen, bei Schnabel, 1Kor, 901 Anm. 191.
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2. Timotheusbrief
Christenverfolger) eigentlich nicht ἱκανός, „Apostel“ genannt zu werden.24 Möglicherweise ist dies der Hintergrund für die Reaktion einiger Korinther, die im Vergleich mit den von ihnen besonders geschätzten „Über-Aposteln“ seine Eignung für den Dienst als Apostel infrage stellten. Er antwortet darauf, indem er seine Qualifikation aus der Befähigung durch Gott ableitet (2Kor 3,5f). In atl. Berufungsberichten ist „das Geständnis der eigenen Unfähigkeit ein festes Element“, ebenso die Zusage Gottes, den Berufenen beizustehen.25 Die Einsicht in die eigene Unfähigkeit für eine konkrete Aufgabe entspringt dabei nicht echter oder vorgetäuschter Demut. Sie wird zwar an konkreten Gegebenheiten der jeweiligen Person festgemacht (Mose: „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten?“ Ex 3,11; oder: „Ich bin von jeher nicht beredt gewesen“ Ex 4,10; Gideon: „Mein Geschlecht ist das geringste in Manasse, und ich bin der Jüngste in meines Vaters Hause“ Ri 6,15; Jeremia: „Ich bin zu jung“ Jer 1,6; Jesaja: „Ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen“ Jes 6,5 [LÜ 1984]), wurzelt im Tiefsten aber in dem, was Karl Barth mit dem berühmten Grund-Satz der dialektischen Theologie gemeint hat: „Gott ist Gott und Mensch ist Mensch“. Und dann im Blick auf die Aufgabe, die ja auch Paulus übernommen hatte: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“26 Interessant, dass Paulus nun im Futur formuliert: die geeignet sein werden, auch andere zu lehren. Er sieht offenbar den Vorgang der Weitergabe durch Timotheus in der Gegenwart, die Unterweisung durch andere in der Zukunft angesiedelt. Es geht also um die erklärende und einprägende Weitergabe, um das Lehren (διδάσκειν [didaskein]) des Evangeliums in seiner „dogmatischen“ und „ethischen“ Gestalt, wie sie schon Jesus im sog. „Missionsbefehl“ den Jüngern aufgetragen hatte. In Mt 28,19f beschreibt er, wie das „zu Jüngern machen“ (μαθητεύσατε [mathēteusate]) geschehen soll, nämlich durch das Taufen (βαπτίζοντες αὐτούς [baptizontes autous]) und das Lehren (διδάσκοντες αὐτοὺς τηρεῖν πάντα ὅσα ἐνετειλάμην ὑμῖν [didaskontes autoys tērein panta hosa eneteilamēn hymin]).27 Die ethischen Partien der Paulusbriefe 24 Ähnlich hatte der Täufer Johannes als nicht geeignet angesehen, dem, der nach ihm kommen und statt mit Wasser mit Geist taufen würde, die Riemen seiner Sandalen zu lösen (Lk 3,16). 25 Schnabel, ebd., mit Verweisen und Belegen. 26 K. Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie. In: ders., Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1924, 156-178: 158. 27 Man beachte die Reihenfolge: taufen – informieren! Zum Thema „lehren“ vgl. auch zu 2Tim 3,6.
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und hier besonders der Pastoralbriefe zeigen, dass auch in der Bemühung des Apostels um seine Gemeinden bzw. Mitarbeiter Glaubenslehre und Nachfolgelehre ihren festen Platz hatten. Insofern und vor dem Hintergrund der ganzheitlichen jüdischen Erziehungspraxis, die durch das Vormachen/Vorleben durch den Lehrer und das Nachmachen/Nachleben durch den Schüler charakterisiert war (vgl. 1Kor 4,16; 11,1; Eph 5,1; 1Thess 1,6; 2,14; 2Thess 3,7.9), dürfen wir davon ausgehen, dass es Paulus auch an unserer Stelle nicht um ein stupides, geistloses Memorieren geht. Was im Herzen und im Kopf ist, muss ins Leben übergehen und wird sich dort zu bewähren haben. Das bedeutet aber andererseits: Das Lehren kann nicht irgendwer übernehmen, er oder sie muss ἱκανός [hikanos] sein – womit wir wieder bei der theologia regenitorum angekommen sind. Könnten wir Paulus selbst fragen, würde er vermutlich bei aller Breite des Spektrums, das er als „dem Evangelium gemäß“ akzeptieren konnte, darauf bestehen, dass solche Lehrer im doppelten Sinn des Wortes πιστοί [pistoi] sind, nämlich verlässlich in der theologischen Lehre und gläubig im Blick auf ihre eigene Beziehung zu Jesus. 3 Auf die „Ermutigung zum Dienst“ (V. 1f) folgt die „Ermutigung zum Leiden“ (V. 3-10). Beides hängt innerlich miteinander zusammen. Mit dem starken συγκακοπάθησον [synkakopathēson] nimmt der Schreiber deutlich auf den Leitsatz des Briefs (2Tim 1,8) Bezug: Erleide Böses mit wie ein guter Soldat des Christus Jesus! In dem Bild vom Soldaten bzw. seiner Tätigkeit schwang damals nicht wie heute grundsätzlich Negatives mit. An mehreren Stellen konnte Paulus es in unterschiedlicher Weise aufnehmen (vgl. z.B. Röm 6,13; 13,12; 1Kor 9,7; 2Kor 6,7; 10,3ff; Eph 6,11-17; 1Tim 1,18) und damit rechnen, verstanden zu werden, weil das (römische) Heer im Alltagsleben überall präsent und ein wichtiger Faktor war, auch im Sinne eines Schutzes. Vom frühesten uns erhaltenen Gebrauch bei Herodot (4,134,3) an ist στρατιώτης [stratiōtēs] eine Berufsbezeichnung, die allerdings in dem, was sie beschrieb, eine Bedeutungsbreite hatte – vom seiner Heimat verbundenen Überzeugungssoldaten bis zum Söldner, dem es nur ums Geld ging.28 Drei Mal wird in dem Abschnitt 2Tim 2,1-13 der Christus Jesus erwähnt (V. 1.3.10), ein Mal ist zudem von Jesus Christus die Rede (V. 8). 4-6 In 1Tim 1,18 (vgl. das parallele Bildwort 1Tim 6,12a!) hatte Paulus das στρατεύειν [strateuein] zur Beschreibung der Aufgabe seines Schülers Timotheus verwendet; jetzt wird der στρατιώτης [stratiōtēs] in einer Reihe mit zwei anderen, ziemlich parallel aufgebauten Bildworten zum Beispiel für „entsa28 Vgl. dazu den entsprechenden Abschnitt in O. Bauernfeinds Art. στρατεύομαι κτλ. in ThWNT VII, 703f.
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2. Timotheusbrief
gungsvolle Konzentration“.29 Er greift auf Bildmaterial zurück, das er auch sonst schon verwendet hatte. 4 Wodurch erweist sich ein Soldat als gut? Dadurch, dass er sich nicht von den Geschäften des täglichen Lebens ablenken lässt, sondern sich nur darum kümmert, wie er seinem Heerführer den größten Nutzen erweisen und damit seiner Bestimmung gerecht werden kann. Für die Versorgung mit allem, was er braucht, ist nämlich der Heerführer zuständig – jedenfalls in der Theorie. Ziel ist, dass der Feldherr mit der erbrachten Leistung zufrieden ist. Liddell/ Scott übersetzen πραγματεία [pragmateia], das im NT nur hier vorkommt, mit „prosecution of business“,30 was soviel wie „den Geschäften nachgehen“ bedeuten dürfte. Das mediale ἐμπλέκεται [empleketai] kommt im NT nur in negativer Bedeutung vor und meint nach Bauer/Aland „sich in Handelsgeschäfte verwickeln“.31 Das Bild wird verständlicher, wenn man sich bewusst macht, dass Soldaten bzw. Söldner damals zwischen Feldzügen viel Zeit hatten, die sie auch zur persönlichen Bereicherung durch Geschäfte nutzen konnten, dann aber davon weggerufen wurden, wenn der Feldherr sie brauchte. Konzentration auf die Ziele, die der Dienstgeber verfolgte, und auf die eigene Aufgabe innerhalb dieser Strategie bestimmen hier die Wirkung des Bilds vom guten Soldaten. 5 Wie in 1Kor 9,7 stellt der Schreiber dem Bildwort aus dem Soldatenleben zwei andere an die Seite: das des Sportlers und das des Landwirts. Auch diese beiden Lebensbereiche waren für jeden antiken Leser sofort verständlich. Das Interesse des Heerführers im Krieg wird im Sportbild den geltenden Regeln parallelisiert: An Wettkämpfen teilzunehmen, genügt nicht, wenn jemand die Arena [als Sieger] bekränzt verlassen will. Ziel ist der Sieg, und deshalb ist es nötig sich an die vereinbarten Regeln zu halten (ἐὰν μὴ νομίμως ἀθλήσῃ [ean mē nomimōs athlēsē]), deren Einhaltung von Kampfrichtern überwacht wurde.32 νόμος (nomos) ist (nach Liddell/Scott) „that which is in habitual practice, use or possession“,33 also in unserem Zusammenhang eine Regel, die für alle gilt. Dreißig Jahre später verwendet der römische Bischof in 1Klem 5–7 ausgiebig Bilder aus dem Sport, teilweise in Verbindung mit dem Motiv des Martyriums. Die Apostel vergleicht er im Rückblick mit einem Abstand von rund 30 Jahren mit Athleten, die bis zum Tode kämpften (1Klem 29 30 31 32
A.a.O. 712. Liddell/Scott 1457. Bauer/Aland 517. Vgl. hierzu M. Brändl, Der Agon bei Paulus: Herkunft und Profil paulinischer Agonmetaphorik. WUNT II/222, Tübingen 2006. 33 Liddell/Scott 1180.
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5,1f). Das Besondere des Bilds vom Athleten besteht hier in dem Gebundensein an Vorgaben und in der Hoffnung auf die Ehrung als Sieger. 6 Nicht nur an dieser Stelle wandelt Paulus den Aspekt im dritten Bild etwas ab und greift dabei sachlich 1Kor 9,7 auf: Es ist nämlich selbstverständlich (δεῖ [dei]), dass der Bauer, der sich dafür plagt, als Erster etwas von den geernteten Früchten erhält. μεταλαμβάνειν [metalambanein] bedeutet „seinen [nämlich den zustehenden; HWN] Anteil erhalten“.34 Seit Hesiods Lehrgedicht „Werke und Tage“ (8./7. Jh. v.Chr.), in dem er die Zeilen 381-617 der mühsamen Arbeit des Bauern widmet, die er aus eigener Erfahrung gut kannte, haben sich viele Schriftsteller mit der Tätigkeit des Landwirts befasst und diese beschrieben, mal realistisch, mal eher romantisierend. Betrieben vornehme Römer die Landwirtschaft „als Liebhaberei“, so war doch die boomende Branche für die meisten mehr sichere Geldanlage mit hoher Renditeerwartung, wobei die eigentliche Arbeit von Sklaven oder anderen Abhängigen getan wurde.35 Der besondere Aspekt, den das Bild vom Landwirt an unserer Stelle transportiert, ist der eines auf Mühe beruhenden, selbstverständlichen Anspruchs auf Anteil am Erfolg. 7 Mit der Aufforderung, das Gesagte zu begreifen, schließt V. 7 den kurzen Abschnitt ab. Beim Lesen hat man den Eindruck, Paulus wolle Timotheus damit einen nur für ihn verständlichen Hinweis geben – worauf? Wir wissen es nicht. – Auch in Eph 3,4 verbindet Paulus νοεῖν [noein] und σύνεσις [synesis]. Dort ist νοεῖν die Art und Weise bzw. die Methode, mit deren Hilfe des Apostels σύνεσις erfasst werden kann. Das Verb meint ein Erkennen, das „auf d. Weg verstandesmäßiger Überlegung od. innerer Anschauung“ zustande kommt.36 An unserer Stelle ist es die σύνεσις, die das νοεῖν ermöglichen soll. Alternativ kann man das relativische ὃ λέγω auf den folgenden Satz beziehen und das Kolon als Doppelpunkt verstehen. Dafür könnte das folgernde γάρ sprechen. 8-10 Der Hinweis auf den Herrn in V. 7 lässt den Schreiber (wieder) zum Grundlegenden kommen. Er erinnert seinen Leser äußerst komprimiert (und wahrscheinlich indem er ein christologisches Traditionsstück verwendet) an Jesus Christus, der ja auch der Grund für sein eigenes Leiden ist (V. 9). An den Imperativ mit Objekt (8a) schließt sich ein Partizipialsatz (8bα) und ein Relativsatz ohne Relativpronomen an (8bβ), die beide in eine Aussage über ihre
34 Bauer/Aland 1035. 35 J.E. Skydsgaard, Art. Landwirtschaft A. Überblick, LAW 2, 1672f: 1673. 36 Bauer/Aland 1093.
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formale Gemeinsamkeit (beide Aussagen entsprechen dem paulinischen Evangelium) einmünden (8bγ). Das Evangelium wiederum ist der tiefere Grund für die gegenwärtig schwierige Situation des Apostels (9a), die zwar ihn selbst lahm legt, die aber nicht dazu führt, dass Gottes Wort nicht mehr wirken könnte (9b). Vers 10 führt den Gedankengang weiter, indem ein Zusammenhang zwischen dem Leiden des Paulus und den Erwählten hergestellt wird. 8 Erinnere dich an Jesus Christus: Allein hier ist Jesus Christus im NT Objekt, an das sich jemand erinnern soll. Da Timotheus Jesus nicht persönlich kennengelernt hatte, kann nicht die Erinnerung an seine Person im biographischen Sinn gemeint sein. Es geht darum, sich ihn als das Zentrum des Glaubens und Lebens neu bewusst zu machen. Er ist nämlich das „Alleinstellungsmerkmal“ des Christentums gegenüber allen anderen Weltanschauungen. Zwölf Mal kommt Christus Jesus im 2. Timotheusbrief vor, nur an dieser Stelle ist die Reihenfolge von Personennamen und Titel/Funktion Jesus Christus umgedreht. Hat der Apostel es in einem geprägten Text so vorgefunden? Welchen Grund könnte es für diese „Ausnahme“ geben? Steht hier die Person, nicht der Funktionsträger, im Vordergrund? Fuchs stellt fest, dass in 1/2Tim insgesamt 24 Mal Christus Jesus steht und nur dann Jesus Christus, „wenn unmittelbar zuvor ‚Herr‘ steht (1Tim 6,3.14; 2Tim 2,7f?).“37 Im Gespräch mit Judenchristen wie Timotheus, für die Jesus ihr Messias/Christus war, verwende Paulus die das Messiasamt betonende Reihenfolge Christus Jesus, während er gegenüber Heiden die Person Jesus voranstelle.38 In 2Tim 2,8 sieht auch Fuchs das „Zitat einer vorliegenden Tradition“, die diese Abfolge bot.39 Er fasst zusammen: „Die Stellung von κύριος und der jeweils angesprochene Adressat entscheidet über die Vor- oder Nachstellung von ‚Christus‘ beim Jesusnamen.“40 Das klingt plausibel, denn als Person wurde Jesus auferweckt aus den Toten, und als Person stammte er vom Samen Davids ab. In Röm 10,9 wird die Tatsache der Auferweckung Jesu durch Gott (zusammen mit der Anerkennung Jesu als κύριος [kyrios] der Welt und des eigenen Lebens) explizit als Voraussetzung für die Rettung des Menschen bezeichnet. Ähnlich, doch weniger 37 Fuchs, Unterschiede, 110. Er erweitert seine Beobachtung später auf andere Paulusbriefe (S. 112). Nach seiner Ansicht „wechselt Paulus in seinen Briefen nicht bedeutungslos Christus Jesus und Jesus Christus“ und demonstriert diese Einsicht an Gal 2,16 und Röm 3,21ff (110f). 38 Fuchs, Unterschiede, 112-116. 39 A.a.O. 116. 40 Ebd.
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subjektiv ausgerichtet, hatte Paulus die Auferweckung in Röm 4,25 als Voraussetzung der Rechtfertigung bezeichnet. In verglichen mit Röm 1,3f umgekehrter Reihenfolge ist in V. 8 von der Auferweckung Jesu und von seiner menschlich-genealogischen Herkunft die Rede: Μνημόνευε Ἰησοῦν Χριστὸν ἐγηγερμένον ἐκ νεκρῶν, ἐκ σπέρματος Δαυίδ κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν μου ἐκ σπέρματος Δαυὶδ κατὰ σάρκα, τοῦ ὁρισθέντος υἱοῦ θεοῦ ἐν δυνάμει κατὰ πνεῦμα ἁγιωσύνης ἐξ ἀναστάσεως νεκρῶν, Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν Nach Kremer hat ἐγείρειν [egeirein] die Grundbedeutung „vom Schlaf aufwecken“,41 ist also ein transitives Verb, wogegen ἀνίστημι [anistēmi] in den Grundbedeutungen „aufstellen, aufrichten“ (transitiv) und „aufstehen“ (intransitiv) vorkommt.42 Für Paulus typisch ist die enge Verbindung von ἐγείρειν mit einer Form von νεκρός [nekros]: 21 Mal kommen die beiden Begriffe so vor, dagegen nur zwei Mal ἀνίστημι und νεκρός bzw. fünf Mal ἀνάστασις und νεκρός. Die Herkunft vom Samen Davids hat Paulus auch nach allen Streitigkeiten mit Judenchristen bis zu seinem Ende so fest- und hochgehalten, dass er sie nach Röm 1,3f auch hier noch als neben der Auferweckung zweites wichtiges und zu erinnerndes credendum (was geglaubt werden muss) erwähnt. Mit diesem Rückbezug auf atl. Stränge und Verheißungen (allen voran auf die Nathansverheißung 2Sam 7,12) identifiziert er Jesus als den erwarteten Gesalbten (Christus). Kein Wunder also, wenn der Christustitel in V. 10 wieder vor dem Eigennamen zu stehen kommt. Wie in Röm 2,16 in anderem theologischem Zusammenhang verweist Paulus auch hier darauf, dass die beiden Grunddaten der Auferweckung und der Davidssohnschaft Jesu, die für dessen heilsgeschichtliche Einbindung steht, entsprechend meinem Evangelium sind, also zum Kernbestand dessen gehören, was er verkündigt. An mehreren Stellen hebt er die spezifische Beschaffenheit der von ihm selbst verkündigten Botschaft hervor und profiliert sie damit zugleich im Blick auf andere, vielleicht als konkurrierend angesehene christliche Botschaften (z.B. 1Kor 3,5-15; 15,1.3; Gal 1,6-9.11; 1Thess 1,5; 2,13; 1Tim 1,11). Die Präposition κατά beschreibt mit dem Akkusativ die Entsprechung von zwei Elementen. Das bedeutet: Paulus liegt daran, die Über41 J. Kremer, Art. ἐγείρω, EWNT I, 899-910: 900. 42 Ders., Art. ἀνάστασις κτλ., EWNT I, 210-221: 211.
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einstimmung der zuvor gemachten Aussagen über Auferweckung, genealogische Herkunft und heilsgeschichtliche Bedeutung und Funktion Jesu mit seiner sonstigen Verkündigung hervorzuheben. Die Auferstehungsbotschaft ist sonst derart zentral, dass sie eher nicht in erster Linie gemeint sein kann. Dagegen könnte aus seinen Kämpfen mit judenchristlicher Theologie gefolgert werden, die Davidssohnschaft Jesu sei ihm nicht wichtig oder werde gar von ihm abgelehnt. Als Haftpunkt für solche Meinungen könnte 1Tim 1,4 gedient haben. Nun fasst er sie mit dem zentralen Auferstehungsmotiv zusammen und betont beider Kongruenz mit seiner Verkündigung. 9 Nun knüpft Paulus wieder bei V. 3 an, bei seinen aktuellen Leiden (συγκακοπάθησον – κακοπαθῶ). Zu klären ist, worauf sich ἐν ᾧ [en hō] bezieht: auf τὸ εὐαγγέλιόν μου [to euangelion mou], wie Marshall meint,43 oder doch auf Ἰησοῦν Χριστόν?44 Marshalls Bedenken hinsichtlich der letztgenannten Lösung im Blick auf den Abstand im Satz können wir uns nicht anschließen, handelt es sich doch bei den Versteilen 8bαβ um zwei Appositionen, die das zu erinnernde Objekt Ἰησοῦν Χριστόν präzisieren und die drei traditionellformelhaften Elemente hinsichtlich ihrer Bedeutung in der Verkündigung des Apostels zusammenbinden. Was sollte den Schreiber hindern, nach diesem „Mini-Exkurs“ mit einem Relativsatz wieder bei 8a anzuknüpfen? Wie aber ist ἐν ᾧ zu verstehen? Marshall möchte übersetzen „in which sphere of action“ und es so verstehen, dass das Leiden des Paulus ein Leiden ist, wie es in dem Wirkungsbereich des Evangeliums nun einmal zu erwarten ist.45 Die Alternative wäre ein kausales Verständnis: Wegen Jesus Christus / des Evangeliums, den/das er verkündigt, leidet der Apostel Böses aufgrund seiner Evangeliumsverkündigung, die aber dann doch wieder Jesus zum Gegenstand hat. Wir können Holtz zustimmen, wenn er schreibt: „Bei dem Zeugnischarakter, der dem Evangelium des Paulus eignet, so daß es in der Begegnung mit ihm zur neuen Existenz kommt, bestände in beiden Fällen kein wesentlicher Unterschied.“46 In der Formulierung schwingt das Element des „Zu-Unrecht-Leidens“ bereits mit.
43 Marshall 736. Er findet, dass ein Rückbezug auf Ἰησοῦν Χριστόν (V. 8a) wegen der Entfernung im Satz unwahrscheinlich sei (ebd.); grundsätzlich ähnlich verstehen die Stelle Knight 398; Weiser 152.168 mit Hinweis auf die in den Pastoralbriefen häufige Verbindung von „Evangelium“ und „Leiden“ (1,10-12; 4,6); Towner 2006, 502; Brox 242; Quinn/Wacker 645. 44 So E.K. Simpson, The Pastoral Epistles. London 1954, 133; Hasler 64; Holtz 166. 45 Marshall 736. 46 Holtz 166.
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Nun hatte er ja wahrhaftig schon manches erlitten (vgl. z.B. 2Kor 11,23-27; Apg 16,23f), aber dass er nun und wohl endgültig bis zu Ketten wie ein Verbrecher behandelt wurde, dass dies das Ende seiner „Karriere“ als „Botschafter an Christi statt“ sein sollte, das machte ihm offensichtlich sehr zu schaffen – verständlicherweise! Wie oben schon ausgeführt,47 bedeutete bis zu Ketten unter Umständen auch das Einschließen in das ξύλον, den sog. „Block“, wie in Philippi geschehen (Apg 16,24: τοὺς πόδας ἠσφαλίσατο αὐτῶν εἰς τὸ ξύλον [tous podas ēsphalisato autōn eis to xylon]). Wer so in Haft war, galt wirklich als gefährlicher Schwerverbrecher, bei dem Fluchtgefahr bestand. Dem entspricht die Tatsache, dass nach Balz κακοῦργος „eindeutig kriminellen Sinn“ hat.48 Nicht wenigen Christen ist es in späteren Jahrhunderten und bis heute ähnlich ergangen: Sie konnten nicht begreifen, warum ihre Tätigkeit als Verkündiger des Evangeliums in ihrer Gesellschaft „kriminalisiert“, also als ein Verbrechen angesehen und auch geahndet wurde. Umso erstaunlicher, dass Paulus ein „Aber“ der Hoffnung gegen die Resignation seiner eigenen Situation setzen kann: aber das Wort Gottes ist nicht gebunden. Will sagen: Es gibt Größeres und Wichtigeres als meine persönliche Situation. Zwar können Menschen die Verkündiger des Evangeliums außer Gefecht setzen; aber sie können nicht verhindern, dass Gottes Wort trotzdem wirkt. Jesus hat das vor dem Hintergrund von Hab 2,11 in Lk 19,40 so gesagt: „Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ An unserer Stelle klingt ein Motiv an, das Tertullian (2./3. Jh.) in den berühmt gewordenen Satz fasste: „Semen est sanguis christianorum“ („Ein Saatkorn [des Glaubens] ist das Blut der Christen“).49 Was meint Paulus, wenn er vom Wort Gottes spricht?50 Die Wortverbindung λόγος (τοῦ) θεοῦ kommt in seinen Schriften neun Mal vor (Röm 9,6; 1Kor 14,36; 2Kor 2,17; 4,2; Kol 1,25; 1Thess 2,13; 1Tim 4,5; 2Tim 2,9; Tit 2,5; hinzu kommen Tit 1,3 [„sein Wort“ mit deutlichem Bezug auf Gott] und evtl. 1Thess 1,8 „das Wort des Herrn“ [unklar, ob Gott-Vater oder Gott-Sohn gemeint ist]).51 1Thess 1,6 wird „das Wort“ absolut gebraucht wie mehrfach in der Apg. Paulus konnte also auf einen bekannten Sprachgebrauch zurückgreifen:
47 48 49 50 51
Zu den Fesseln vgl. oben S. 8.58 sowie die Ausführungen von Rapske, Custody 25-32. H. Balz, Art. κακοῦργος, EWNT II, 590. Tertullian, Apologeticum 50,13 (CSEL 69,120) . Vgl. auch die Auslegung zu 3,16! Zur Unterscheidung von „Wort“ und „Botschaft“ vgl. die Auslegung zu Tit 1,6.
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2. Timotheusbrief
Exkurs Im Hebräischen entspricht dem Begriff die Konstruktusverbindung ְדַּבר יהוה [debar JHWH]. דברmeint zunächst alles, was gesprochen wird (also konkret das „Wort“)52 sowie den damit gemeinten „Inhalt“,53 dann aber auch etwas, das geschehen ist (die „Sache, Angelegenheit“).54 „… fast durchwegs (225x) erscheint der Ausdruck als ein terminus technicus für die prophetische Wortoffenbarung“, schreibt Gerleman.55 Konkret heißt das, dass in (vor allem längeren) Abschnitten der Gottesrede in den Prophetenbüchern ein דבר יהוהoder נאם יהוהals redaktionelle Bemerkung erscheint, die dem Leser oder Hörer bewusst machen sollte, dass immer noch Gott selbst redet. Damit wird eine hohe Hürde für das Verständnis von „Wort Gottes“ aufgerichtet. Schon innerhalb des AT angedeutet (Jes 9,7; Ps 107,20; 147,15), entwickelte sich im nachatl. Frühjudentum daraus eine „Hypostasierung“ des „Wortes“, d.h. eine „Verselbständigung und Personifizierung“ in dem Sinne, dass „das Wort“ geradezu für Gott selbst stehen konnte.56 Vergleichbar ist das Ersetzen des heiligen Gottesnamens in ntl. Zeit durch „Himmel“. Jesus als „das Wort“ (Joh 1,1-18; 1Joh 1,1) setzt diese Linie ins NT hinein fort. Röm 9,6 ist mit „Wort Gottes“ das atl. Verheißungswort gemeint. 1Kor 14,36 steht es in deutlichem Gegenüber zu 1Thess 1,8 wohl für die Verkündigung des Evangeliums allgemein. Auch nach Kol 1,25 ist „Gottes Wort“ das, was verkündigt wird. Das gilt aber sicher nicht ohne inhaltliche Festlegung: Nicht alles, was (von Christen) verkündigt wird, ist dadurch schon „Wort Gottes“. In 1Tim 4,5 geht es um das Essen von Speisen, die (aus jüdischer Sicht) „unrein“ waren, aber „durch Gottes Wort und Gebet geheiligt“ werden. Es könnte an ein Segenswort vor dem Essen gedacht sein. Tit 2,5 werden die jungen Frauen zu angemessenem Verhalten aufgefordert, „damit das Wort Gottes nicht verlästert werde“. Auch hier dürfte mit „Wort Gottes“ das Ganze der Evangeliumsverkündigung gemeint sein. Ein Blick in die Kirchengeschichte zeigt, dass diese Linie immer wieder aufgenommen wurde: bei Martin Luther, im Pietismus, in der „dialektischen Theologie“ u.ö. Dabei bezog sich der Begriff mehr oder weniger materialiter auf das geschriebene Wort in der Heiligen Schrift. Er konnte auch zu einer quasi-transzendenten Größe werden, hinter der sich dann doch wieder die christliche Botschaft als Ganze verbarg.
52 53 54 55 56
Gesenius/Donner 239. G. Gerleman, Art. דבר, THAT 1, 437. Gesenius/Donner 240. A.a.O. 439. Gerleman, a.a.O. 441f.
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Es liegt nahe zu vermuten, das Wort Gottes beziehe sich im Kontext auf mein Evangelium (8bβ) – ein Argument dafür, auch ἐν ᾧ (en hō) darauf zu beziehen. Mit V. 9b greift der Apostel also einerseits parallelisierend auf sich selbst als den Verkündiger des Wortes Gottes zurück, welches aber nach seiner Überzeugung nicht mit „dem“ Wort Gottes identisch ist, sondern von ihm zu unterscheiden, wogegen er andererseits kontrastierend sein Gebundensein und also die Unmöglichkeit, „sein“ Evangelium zu verkündigen, dem Nicht-Gebundensein des Wortes Gottes gegenüberstellt. Zur Verkündigung des Evangeliums sind zwar Personen nötig, die das tun, aber Gott ist nicht auf sie angewiesen. δέδεται [dedetai] steht auf der Bildebene mit δεσμῶν [desmōn] in enger Verbindung. 10 διὰ τοῦτο [dia touto] bündelt das in 3-9 Gesagte57 kausal und sucht in dem Leiden, das er erträgt,58 einen Sinn und ein Ziel, das in einem ἵνα-Satz formuliert wird: Deswegen nehme ich alles auf mich wegen der Auserwählten, damit auch sie die Rettung, die durch Christus Jesus [erfolgt], mit ewiger Herrlichkeit erlangen. Der Schlüssel zum Verständnis ist der Bezug zu den Auserwählten und ihre Rettung.59 Wer ist gemeint? Ihre Rettung steht offenbar noch aus (σωτηρίας τύχωσιν [sōtērias tychōsin]). Schon Holtzmann hatte die Aussage deshalb auf Menschen bezogen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Volk Gottes gehörten.60 Andererseits hat Marshall recht, wenn er schreibt, „that elsewhere ʻthe elect’ is not a term used for those destined to be saved but for those who belong to the actual people of God.“61 Hinzuweisen wäre hier auf Röm 8,33; 16,13; Kol 3,12. „Die Past lassen keine bes. Akzentuierung des Erwählungsgedankens erkennen“, schreibt Eckert richtig;62 auch deshalb kann man unsere Stelle durchaus der einzigen anderen wirklich relevanten Verwendung durch den Apostel in Röm 8,33 an die Seite 57 Es könnte auch nach vorne, also auf den ἵνα-Satz zu beziehen sein. Marshall 737 lehnt das aus gutem Grund ab. 58 ὑπομένειν gehört ja zur Terminologie christlichen Leidens: vgl. W. Radl, Art. ὑπομένειν, EWNT III, 967f. 59 Vgl. auch hier die Diskussion von drei Möglichkeiten des Verständnisses bei Marshall 737. Nach Oberlinner 81 sind „als ἐκλεκτοί … nicht undifferenziert alle bezeichnet, die sich ‚Christen‘ nennen. Der Verfasser verbindet damit einen Anspruch an die Gemeinden, der mit der Autorität des Paulus und mit seinem Evangelium verknüpft ist. Die Auserwählten sind die, die dem Paulus (und das bedeutet immer auch: seinem Evangelium) die Treue halten …“ 60 Holtzmann 410f. Knight 399. Towner 504 nennt das kontroverstheologisch „a Reformed view on the term“. Das Stichwort „Erwählung“ spielt ja in der reformierten Theologie eine besondere Rolle. 61 Marshall 737. Man vgl. auch, was Tit 1,1 über den Dienst des Paulus als Apostel und den „Glauben der Auserwählten“ gesagt wird, worauf Weiser 169 hinweist. 62 J. Eckert, Art. ἐκλεκτός, EWNT II, 1017.
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stellen. Beide sind vor einem eschatologischen Hintergrund zu verstehen, beide im Zusammenhang des Gerichtsgedankens. Nur geht es an unserer Stelle um Rettung im Sinn ihrer „eschatologische(n) Vollendung“, wie Schelkle zu Phil 1,28 schreibt,63 also um die sichtbare, verifizierbare Verwirklichung der Rettung in Gottes Ewigkeit,64 in Röm 8 dagegen um eine seelsorgliche Ermutigung hier und jetzt.65 Wie aber meint Paulus, was er in V. 10 sagt? Die Wendung σωτηρίας τυγχάνειν [sōtērias tynchanein] („Rettung erlangen“) finden wir bei Diodorus Siculus (1. Jh. v.Chr.) in Bezug auf die zweimalige Rettung der Argonauten durch göttliches Eingreifen.66 Um eine Rettung der Erwählten aus aktueller Lebensgefahr kann es aber hier kaum gehen, selbst wenn diese tatsächlich besteht, zumal die Rettung durch die Bindung an Christus Jesus (ἐν [en] ist instrumental gemeint) qualifiziert ist67 und das Versende deutlich in die Ewigkeit weist. Zu „Herrlichkeit“ (δόξα) vgl. zu 4,18! Towner identifiziert die Auserwählten schlicht als „’God’s people‘ for whom he willingly endures whatever afflictions he must to ensure that they receive the constant attention and effective teaching of God’s word they need to remain faithful from start to finish.“68 Paulus schließt also seine Überlegungen zum Thema „Leiden und Ertragen im Verkündigungsdienst“ mit einer Aussage darüber, aus welchem Grund und mit welchem Ziel er sein Leiden erträgt. Hinter der Formulierung wird kaum die Meinung stehen, sein Leiden habe für bestimmte Menschen eine sühnende, erlösende oder heilstiftende Wirkung. Das widerspräche dem Zentrum seiner Theologie. Mit Recht fragt Conzelmann (zu Kol 1,24) im Blick auf die Leiden Christi: „Aber sind diese etwa noch ergänzungsfähig?“69 Und man müsste hinzufügen: „… oder gar ergänzungsbedürftig?“
63 K. H. Schelkle, Art. σωτηρία, EWNT III, 786. 64 Towner 505 weist darauf hin, dass „Rettung“ eine bereits in der Vergangenheit geschehene Tatsache meinen kann (wie Tit 3,5; Eph 2,5.8), eine gegenwärtige Erfahrung (Phil 2,12) oder eine auf die Zukunft gerichtete Hoffnung (Röm 13,11). 65 Die von Eckert a.a.O. angenommene Verbindungslinie zu Offb 6,11 sowie Kol 1,24 als apokalyptische Vorstellungen kann ich so nicht sehen. Auch an diesen beiden Stellen geht es m.E. nicht um dieselben Dinge. 66 Diodorus Siculus, Weltgeschichte 4,48,7. 67 Engelmann, Drillinge, 146: „Während sämtliche Rettungsverben Gott als Subjekt haben – wobei dies besonders in 1,9f als dezidiert theologische Begründung christologischen Geschehens dient –, steht das Abstraktum σωτηρία im Gegensatz dazu mit christologischem Bezug.“ 68 Towner 505. 69 H. Conzelmann, Der Brief an die Kolosser, NTD 8, 2. Auflage Göttingen/Zürich, 1985, 187.
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Exkurs Es wird zum Verständnis eine Hilfe sein, zwei andere Stellen zur Erklärung heranzuziehen: Kol 1,24 und Eph 3,13. In Kol 1,24 geht es ebenfalls um die aktuellen Leiden des Apostels und ihren Sinn,70 den er auch dort positiv sieht (Νῦν χαίρω ἐν τοῖς παθήμασιν [Νyn chairō en tois pathēmasin]). Für uns interessant wird die Stelle (1) durch die Hyper-Formel (ὑπὲρ ὑμῶν [hyper hymōn]) und (2) durch die theologisch parallele Formulierung ἀνταναπληρῶ τὰ ὑστερήματα τῶν θλίψεων τοῦ Χριστοῦ ἐν τῇ σαρκί μου ὑπὲρ τοῦ σώματος αὐτοῦ, ὅ ἐστιν ἡ ἐκκλησία [antanaplērō ta hysterēmata tōn thlipseōn tou Christou en tē sarki mou hyper tou sōmatos autou, ho estin hē ekklēsia]. (1) Die Hyper-Formel ist bei Paulus meist in engem Zusammenhang mit dem Verständnis des Sterbens Jesu als Sühnetod zu sehen. Sie hat „ihren urspr. Sitz im Leben in der Abendmahlsliturgie“, fasst Patsch die Forschungslage zusammen.71 „An zentraler Stelle dient es [sc. das alte, ihm überkommene Formelgut] ihm zur Begründung der Rechtfertigungslehre (…) und deutenden Vertiefung der Kreuzestheologie“.72 Müssen wir die beiden Stellen (Kol 1,24; 2Tim 2,10; vgl. auch Eph 3,13!) nicht tiefer hängen? Immerhin bedeutet ὑπέρ mit Genitiv nicht nur „anstelle von“, sondern auch „zugunsten von“.73 Berger übersetzt Kol 1,24: „Daher freue ich mich jetzt, dass ich zu eurem Nutzen leiden darf. So kann ich mit meinem sterblichen Körper das beitragen, was dem Leib Christi, der Kirche, an Qualen noch gefehlt hat.“74 Das könnte auch für unsere Stelle eine passable Lösung sein: Das Leiden des Apostels ist kein satisfaktorischer, aber doch ein „ädifikatorischer“ (d.h. ein für den Bau der Gemeinde nötiger) Beitrag dafür, dass alle Erwählten an das ihnen bestimmte Ziel kommen.75 Erwählung würde dann das missionarische Bemühen, Glauben zu wecken, nicht aus-, sondern einschließen. (2) Das Verb ἀνταναπληροῦν (hapax legomenon im NT) bedeutet nach Bauer/ Aland „etw. stellvertretend ausfüllen“.76 Dort wird die Kol-Stelle so verstanden: „Er [Paulus] nimmt auf sich, was sie [die Gemeinde] noch nicht genug gelitten hat.“ Es wäre also (von Gott? Von Christus?) für jede Gemeinde, für die gesamte Kirche oder für alle einzelnen Christen ein be70 Der Kolosserbrief dürfte während der ersten Gefangenschaft in Rom (ca. 60–62) entstanden sein. 71 H. Patsch, Art. ὑπέρ, EWNT III, 949. 72 A.a.O. 950. 73 A.a.O. 948. 74 Berger 745; Hervorhebung von mir. 75 Berger 746 lehnt die „ädifikatorische“ Lösung ausdrücklich ab! Viel hängt davon ab, wie man „Erwählung“ versteht. 76 Bauer/Aland 144. Auch im Profangriechischen scheint das Verb selten zu sein. Liddell/ Scott zitieren zwei Stellen bei Demosthenes (14.17 – 4. Jh. v.Chr.), wo die Bedeutung des Ausgleichens bzw. Auffüllens mitschwingt.
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stimmtes Quantum an Leiden vorausgesetzt, das erlitten werden muss, das aber teilweise von anderen Personen stellvertretend und ergänzend übernommen werden könnte. In Eph 3,13 spricht der dort ebenfalls (Eph 3,1) inhaftierte Apostel davon, dass die Gemeinde aufgrund seiner aktuellen Situation nicht verzagen möge (μὴ ἐγκακεῖν ἐν ταῖς θλίψεσίν μου ὑπὲρ ὑμῶν, ἥτις ἐστὶν δόξα ὑμῶν [mē enkakein en tais thlipsesin mou hyper hymōn, hētis estin doxa hymōn]). Er greift strukturell auf seinen theologischen Ansatz einer theologia crucis zurück, wenn er sein Leiden (konkret: seine Haft) gerade nicht als etwas darstellt, das seinem Apostolat Schaden zufügt, sondern ihm und, weil es ein Leiden ὑπὲρ ὑμῶν ist, auch der Gemeinde im Gegenteil zur Ehre gereicht. Das Stellvertretungsmotiv ist auch hier explizit genannt. Der Kreis der paulinischen Aussagen zu unserem Thema wird desto weiter, je mehr wir uns mit ihm beschäftigen. Eine umfassende Darstellung kann hier nicht erfolgen. Deutlich ist: Die Aussage 2Tim 2,10 ist auf der theologischen „Landkarte“ des Paulus jedenfalls in der Umgebung der beiden anderen genannten Stellen zu verorten. Manche aktuellen Kommentare machen es sich zu leicht, indem sie das Problem (aus ihrer Sicht völlig verständlich) auf das Abstellgleis einer überschwänglichen Paulus-Verehrung durch einen Epigonen schieben.
11-13 Der Abschnitt endet – eingeleitet durch die auch sonst in den Pastoralbriefen vorkommende Formel πιστὸς ὁ λόγος [pistos ho logos – 1Tim 1,15; 3,1; 4,9; Tit 3,8]77 – mit vier parallel aufgebauten Konditionalsätzen, die eine Handlung bzw. Verhaltensweise und das entsprechende, unbedingt aus ihr folgende Ergehen (11b/12a) bzw. Verhalten des Christus Jesus (12b/13a) benennen (zum Sonderfall von V. 13 s.u.). Ob er hier einen in den Gemeinden geläufigen Text zitiert, einen eigenen älteren Text dem Kontext anpasst oder aktuell neu formuliert, lässt sich weder beweisen noch zwingend bestreiten.78 Jedenfalls liebt Paulus mit εἰ gebildete Konditionalsätze und Schlussfolgerungen, wie ein Blick in die Konkordanz zeigt.
77 Vgl. Mutschler, Glaube, 381f. Mehr zu der Formel findet man in meiner Auslegung zu 1Tim 1,15 und Tit 3,8 in dieser Reihe. 78 Für traditionell halten den Text Dibelius 67 („ein in hymnischem Stil gehaltenes Zitat unbekannter Herkunft“), Jeremias 55 (ein hell.-judenchr. Lied, vielleicht von Paulus selbst verfasst), Knight 407f (in Rom vor dem Hintergrund von Röm 6 entstanden und von Paulus zitiert), Weiser 153f , Roloff 165 („ein katechetisches Traditionsstück paränetischen Inhalts“; Beleg bei Weiser 154 Anm. 151, Brox 244, Towner 507 (von Paulus hier eingepasst), Holtz 167, Oberlinner 82, Quinn/Wacker 649.
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11 Zuverlässig ist das Wort – hier finden wir die Formel eindeutig in soteriologischem Zusammenhang.79 πιστός [ pistos] transportiert die beiden Bedeutungsstränge: „das Wort“ ist zuverlässig und glaubwürdig, wobei der erste bei aller Nähe den objektiven Sachverhalt der Verlässlichkeit betont, der zweite die subjektive Seite des Vertrauens, das man ihm entgegenbringen kann und muss. ὁ λόγος [ho logos] ist schon früh Sammelbezeichnung für die urchristliche Verkündigung von Jesus – man könnte auch sagen: für das Evangelium (2Tim 2,8bβ; vgl. zudem Apg 4,29¸6,5; 8,4 u.ö.). Beinhaltet es in der nachösterlichen Verwendung die heilsrelevanten historischen Ereignisse mit Jesus (vor allem Kreuzestod und Auferstehung),80 so finden wir es schon vorher mit Blick auf das, was Jesus selbst gepredigt hatte (Mk 2,2; 4,33), also auf die heilbringende Botschaft Gottes an die Menschen. Darüber hinaus ist bei Johannes Jesus in Person und von Anbeginn der Welt (Joh 1,1) „das Wort“. Wieder hat die Formel V. 11a eine Brückenfunktion sowohl nach hinten wie nach vorn und bildet so eine Klammer zwischen dem voraufgehenden und dem nachfolgenden Text.81 11b ist durch γάρ deutlich und eng an 11a gebunden. Die konditionale Partikel εἰ strukturiert die vier in konzentrierter Sprache verfassten Doppelsätze in ein klares Tun-Ergehen-Schema: „wenn – dann“.82 Was jeweils im ersten Teil angesprochen ist, ist die Voraussetzung für das, was nach dem zweiten Teil als Konsequenz geschehen wird. Es ist einen Gedanken wert zu erwägen, ob hinter dem καί der beiden ersten Bedingungssätze (V. 11b/12a) mindestens vom Sprachgefühl des Verfassers dieses kurzen Traditionsstücks her, der ja nicht der Verfasser des 2. Timotheusbriefs gewesen sein müsste, das hebräische waw consecutivum stehen könnte.83 Das wenn [εἰ] ist natürlich nicht temporal zu verstehen. Es bedeutet vielmehr „falls; für den Fall, dass …“. Der erste Teil der Doppelsätze bezieht sich immer auf die Christen (1. Person Plural), der zweite immer auf Christus, der in den ersten beiden Zeilen durch die Vorsilbe συν- noch undeutlich im Hintergrund steht, in der 3./4. Zeile mit Bezug zu der Rettung, die durch Christus Jesus erfolgt (V. 10), und durch das Demonstrativpronomen ἐκεῖνος [ekeinos] sowie das Verb in der 3. Person Singular schon erkennbarer wird. 79 Vgl. hier auch 2Thess 3,3, wo πιστός auf den κύριος bezogen ist: πιστὸς δέ ἐστιν ὁ κύριος … Zur Formel selbst vgl. auch die Ausführungen zu 1Tim 1,5; 3,1a; Tit 3,8a und bei G.W. Knight III, The faithful sayings in the pastoral letters. Kampen 1968, 113-137. 80 In diesem Sinne verwendet Paulus den Begriff z.B. 1Kor 1,18. 81 Vgl. dazu (übereinstimmend und abweichend) Mutschler 381f. Er bezieht es allerdings lediglich auf den nachfolgenden Text. 82 Ausführlichere als die hier möglichen Analysen der vier Zeilen bieten z.B. Marshall 732f und Quinn/Wacker 649f. 83 Vgl. Schneider, Grammatik, §§25.4.2; 27.4.
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11b-13 illustrieren und konkretisieren anhand von vier Gegensatzpaaren: (1) sterben → leben; (2) darunterbleiben unter dem Leiden → herrschen; (3) verleugnen → verleugnet werden; (4) untreu sein → treu bleiben, im Tempus von der Vergangenheit (11bα) über die Gegenwart (12aα) in die Zukunft hinein (12bα) die Brücke schlagend, die Glaubwürdigkeit des zuvor beschriebenen Wortes, das sich offensichtlich auf das eben behandelte Grundthema „Leiden“ bezieht, was in 12a durch Aufnahme des Signalworts ὑπομένειν von 10a angedeutet wird. Die jeweils zweiten Teile stellen im Futur (11bβ/ 12aβ/12bβ) bzw. abschließend im Präsens (13aβ) die zu erwartende Folge daneben:84 11b 12a 12b 13a
wenn wir mit gestorben sind, wenn wir darunterbleiben, wenn wir verleugnen werden, wenn wir untreu sind,
werden wir auch mit leben; werden wir auch mit herrschen; wird auch jener uns verleugnen; bleibt jener treu.
Zu V. 11b gibt es in je verschiedenen Kontexten mehrere Parallelen im corpus Paulinum: Röm 6,8; 2Kor 7,3; Kol 2,20; 1Thess 5,10. Darüber hinaus bietet Petrus Jesus nach der Ankündigung seiner Verleugnung an, mit ihm zu sterben (Mt 26,35) – freilich im Sinne einer zum größten Opfer bereiten Liebe und Solidarität und vielleicht ohne die Hoffnung auf ein Mit-Auferstehen. In gewissem Sinn knüpft Paulus hier an, wenn er in dem Mit-Sterben eine konsequente Distanzierung von dem, was diese Welt (im Sinne von Röm 12,1f) ausmacht, sieht und dies an mehreren Stellen zum Ausgangspunkt seiner Ethik macht.85 „Mit-Sterben“ meint ein „Nicht-mehr-Dazugehören“, weil wir mit Christus (nach Röm 6: in der Taufe) mit der Sünde und dem Widergöttlichen endgültig gebrochen haben. Die Aoristform συναπεθάνομεν [synapethanomen] (ein „Tauf-Aorist“?) deutet auf einen Zeitpunkt, auf ein konkretes Einzelereignis hin. Es könnte an die Taufe gedacht sein. Theologisch grundlegend für Paulus ist nämlich Röm 6,8. Im Kontext der Veränderungen, die das Christwerden mit sich bringt, das in der Taufe seinen
84 Dies ist übrigens ein weiteres Argument für ein futurisch-eschatologisches Verständnis des Heils in V. 10. 85 Glaser, Briefroman, 218 spricht (mit Verweis auf D.R. MacDonalds Arbeiten) nicht zu Unrecht von einer „Jesus-Mimesis“. Mindestens beim Martyrium des Stephanus würde dieser Begriff auch anwendbar sein (Apg 7,59f).
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sichtbaren Ausgangspunkt hat (Röm 6,3f),86 spricht er von dem „Sterben mit Christus“ und der damit einhergehenden vertrauensvollen Hoffnung auf ein künftiges „Leben mit ihm“. Exkurs Das Judentum kannte und kennt bis heute zwei Arten von rituellen Waschungen: netilat jadajim ist die „Reinigung der Hände“, die gesetzestreu lebende Juden bei bestimmten Gelegenheiten vornehmen. Das jüdische Reinigungsbad thebīlah (hebr. )ְטִביָלהbesteht dagegen in einem Ganz-Untertauchen des Körpers, das ebenfalls bei bestimmten Anlässen vorgeschrieben ist, z.B. beim Übertritt zum Judentum („Proselytentaufe“).87 Formal dürfte Letztere das Vorbild gewesen sein, dem sich das frühe Christentum, evtl. schon der Täufer Johannes, anschloss. Wie die Proselytentaufe wurde die von ihm praktizierte Taufe einmalig vollzogen, im Unterschied dazu war sie aber keine Selbsttaufe. Hinter dem symbolischen Ganz-Untertauchen steht das Abgeschnittensein vom Leben, mithin der Tod. Das Wiederauftauchen und Wieder-atmen-Können entspricht dem Wiedereintritt ins Leben und wurde schon im Frühjudentum mit dem Gedanken einer Wiedergeburt verbunden. Von dieser Konstellation her ist verständlich, dass Paulus die Begriffe „mitsterben“ und „mitleben“ geprägt oder übernommen hat.
In 2Kor 7,3 spricht der Apostel den Korinthern, die er eben streng ermahnt hat, nun wieder Mut zu. In den Begriffen συναποθανεῖν καὶ συζῆν [synapothanein kai syzēn – „mitsterben“ und „mitleben“] nimmt er sie in das entscheidende Nadelöhr christlicher Existenz mit hinein, das er an unserer Stelle noch einmal markant formuliert. In Kol 2,20; 3,1.3 geht es um Konsequenzen für die Existenz des Menschen, der mit Christus gestorben ist. Dieses Sterben wird in Kol 2,20 als eine Beendigung der (vorher bestehenden) Beziehung zu den „Mächten der Welt“ interpretiert mit der Konsequenz, dass diese „Mächte“ nun keine Macht oder Bedeutung für Christen haben. Kol 3,1.3 will im Rahmen einer Grundlegung der Ethik den grundsätzlichen Blickrichtungswechsel hervorheben, den das Christwerden bedeutet. 1Thess 5,10 wirft ein Licht auf das „Mit-Leben“, indem es dort in scheinbarer Doppelung von σύν und ἅμα als etwas dargestellt wird, das „Gleichzei86 Das gilt jedenfalls für die Frühzeit der Kirche. Die Diskussion um „Kindertaufe“ und „Glaubenstaufe“ ist interessant und wichtig, kann aber hier nicht geführt werden. 87 Vgl. dazu und zur „Proselytentaufe“: Robert Goldenberg, Art. Proselyten/Proselytentaufe, TRE 27, 523f.
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tigkeit u. Zusammengehörigkeit“ bezeichnet.88 Vorher war von der in Jesus Christus zu erlangenden Rettung (σωτηρία [sōtēria]) die Rede, die den zum Zeitpunkt seiner Wiederkunft Wachenden (also Lebenden) und Schlafenden (also Verstorbenen) gilt. Dieser Sachverhalt legt es nahe zu erwägen, ob mit der Aoristform ζήσωμεν [zēsōmen] inchoativ (einen Anfang setzend) das Ereignis der Auferstehung gemeint ist. Das Verb im Futur συζήσομεν [syzēsomen] 2Tim 2,11bβ könnte dann in dieselbe Richtung gehen. Vers 12a erweitert das Mit-Sterben ins aktuelle Leben der Christen hinein,89 indem das Thema „Leiden“ nun wieder explizit aufgenommen wird. Erneut (nach V. 10) taucht nämlich das zum Leidensvokabular zählende Stichwort ὑπομένομεν [hypomenomen] (Präsenz, also durativ) auf. Das griech. Wort meint – genau übersetzt – ein „Darunter-Bleiben“, wohl im Gegensatz zum „Sich-dagegen-Auflehnen“, es von sich abwerfen, die Oberhand darüber zu gewinnen suchen. Damit ist aber nicht einfach „Schicksalsergebenheit“ im Sinne eines islamischen „Kismet“-Denkens gemeint. Um Christi willen leiden hat mit dem Mit-Gestorbensein zu tun, ja es ist eine Funktion davon. Christen sind überzeugt, dass Gott ihr Leben in der Hand hält; dass er den Leidensdruck von ihnen nehmen könnte; dass (wenn er das nicht tut) es nicht mit seiner fehlenden Macht zu tun hat. Die schwierige Frage, warum er es nicht tut, ist damit natürlich längst nicht beantwortet (s.u. IV). Dem Leiden in der Gegenwart steht das Mit-Herrschen in der Zukunft (συμβασιλεύσομεν [symbasileusomen] – Futur) gegenüber. In der Bibel ist zunächst klar, dass Gott bzw. Christus der König (βασιλεύς [basileus]) schlechthin ist und alle Macht in seinen Händen hält. Aus dem atl. Motiv von einem irdischen Königtum des davidischen Messias im Anschluss an 2Sam 7,12.16 u.a. hatte sich – begünstigt vor allem durch die syrische und römische Fremdherrschaft – in der Zeit Jesu die Erwartung eines solchen Königs herausgebildet. Sie hatte auch in jenen Gruppen Israels Platz gegriffen, auf die wir im Vorfeld der Geburt Jesu treffen, also bei den Zeloten, in pharisäischen Kreisen, in der Täuferbewegung und bei Menschen im persönlichen „Milieu“ Jesu. So stoßen wir in der Engelsbotschaft (Lk 1,32f) und im Lobgesang des Zacharias (Lk 1,68f) auf entsprechende Spuren. Damit verband sich für die Menschen, die den Messias erwarteten, die Hoffnung auf eine Beteiligung an der Herrschaft des Messias, also auf ein „Mit-Herrschen“ als Ausgleich für die Benachteiligungen, die sie wegen ihrer Erwartung und ihrer Treue Gott gegenüber zu gewärtigen hatten (vgl. etwa Dan 7,18.27; 1Kor 6,2). Auch im 88 Bauer/Aland 82. 89 Man beachte die Präsensform des Verbs!
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Jüngerkreis konnte man sich mit dieser Vorstellung eines innerweltlich regierenden Messias anfreunden und daraus die Hoffnung auf eigenes Teilhaben an seiner Herrschaft nähren (Mk 10,37 par). Worte Jesu, die in eine völlig andere Richtung gingen als ihre Erwartungen (Mt 18,3-5; Mk 9,33-37; 10,45), fanden offenbar bis nach Ostern wenig Gehör (vgl. Lk 24,21a; Apg 1,6). Uns muss dabei bewusst sein, dass die Sache selbst (also das Mit-Herrschen der Christen) nicht abwegig ist, sondern auch ntl. ihre Haftpunkte hat. Das gilt für das Millenium (Offb 20,4.6) wie für die Ewigkeit (Offb 22,5).90 In diesem Horizont denkt auch Paulus. 12b Die dritte Zeile ist ganz in der Zeitform des Futur gehalten, bleibt aber insofern im thematischen Bereich der beiden ersten, als das „Verleugnen“ in den Vorgang des Aushaltens von Leiden bis hin zum Mit-Sterben gehört. Der 2. Timotheusbrief spiegelt – wie wir sahen – fraglos in Person des Verfassers Paulus eine Zeit wider, in der Christen nun mit organisierten, staatlich verantworteten Gegenmaßnahmen bis hin zur Hinrichtung rechnen mussten (4,6). Zwar berichten sowohl die Primärquellen (Paulusbriefe) als auch die Apostelgeschichte mehrmals über Haftzeiten, und gelegentlich leuchtet als Fanal auch die Möglichkeit des Todes auf; aber das alles war noch völlig in der Schwebe und hing von Unwägbarkeiten ab. Nun, in Rom, ging es darum, die Christen als solche aufzuspüren und auszurotten. Beispiele lagen nun auf der Hand. Sofern es sich nicht um wirkliche oder um organisierte Scheinpogrome handelte, gab es je nach rechtlicher und gesellschaftlicher Stellung der Beschuldigten entsprechende Prozesse, in denen ihnen die Möglichkeit angeboten wurde, sich von ihrem bisherigen Glauben loszusagen, mit anderen Worten: Christus als ihren Herrn zu verleugnen und evtl. dem Kaiser ein Opfer darzubringen. Das Verb ἀρνέομαι [arneomai] beschreibt nach Schenk „bei einem vorgegebenen Personen- oder Wertverhältnis … das Auflösen dieser Bindungsgemeinschaft“, und zwar nicht durch „Behauptung von etwas Unrichtigem“,
90 Vgl. dazu die Art. βασιλεύω (basileuō) und συμβασιλεύω (symbasileuō) von K.L. Schmidt im ThWNT I, 592f. Ob in diesen Zusammenhang auch 1Kor 4,8 gehört, das einzige weitere Vorkommen des Kompositums συμβασιλεύειν im NT, wie Schmidt 592 vermutet, bleibt unsicher. Nach Schneider, Art. συμβασιλεύω, EWNT III, 685, weist Paulus hier die Meinung der Korinther zurück, „daß sie die Herrschaft mit Christus bereits angetreten hätten“. Unklar ist auch, was genau Paulus in Röm 5,17 sagen will. Stuhlmacher z. St. (NTD 6, 1989) bezieht die hier gemeinte Herrschaft der Erlösten auf Dan 7,18. Haacker z. St. (ThHK 6, 131) übersetzt vorsichtig: „..aber die Menschen, …, werden im Besitz des Lebens noch viel mehr wie Könige dastehen durch den Einen, Jesus Christus.“
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sondern als „Bestreitung von etwas Vorgegebenem“.91 Das Spannende ist nun, dass (anders als in 11b/12a) das Verb in den Versteilen 12aαβ identisch ist, dafür aber das Subjekt wechselt: Im Falle eines Verleugnens seitens der Christen wird dem auch ein Verleugnen seitens des Christus entsprechen. Will sagen: Falls es irgendwann (wir befinden uns auf der Zeitebene des Futur!) dazu kommen sollte, dass die Christen Christus als den bestreiten sollten, der er in Wirklichkeit ist (ihr persönlicher Herr, ihr Erlöser …), dann wird Christus die Gemeinschaft mit ihnen auch auflösen.92 In den Evangelien sind hier besonders drei Texte zu beachten: Mt 7,23, wo Jesus den „Herr, Herr“-Sagern im Kontext des Gerichts ein „Ich habe euch noch nie gekannt“ entgegenhält; Mt 25,12, wo (wieder im Gerichtskontext) der Bräutigam den törichten Jungfrauen sagt: „Ich kenne euch nicht“; und Mt 26,72.74, wo Petrus in der klassischen Verleugnungsszene zwei Mal über Jesus sagt: „Ich kenne den Menschen nicht.“ Das Stichwort ἀρνέομαι wird an dieser Stelle ausdrücklich verwendet. Außerdem kommt „taterschwerend“ hinzu, dass sich Petrus mehrfach und unter Eid von Jesus distanziert. Sicher hätte er das nie getan (vgl. Mt 26,33.35; Joh 18,10), wäre er nicht durch die plötzliche Zuspitzung der Lage und den dadurch auf ihm lastenden Druck „auf dem falschen Fuß erwischt“ worden. Nach Jesu eigenem Wort (Mt 10,23f) und nach 2Tim 2,12 wäre dies das Ende der Beziehung zwischen Jesus und Petrus gewesen. War es aber nicht! Selbst Petrus, der sich bewusst und vor Zeugen von Jesus distanziert hatte, erhielt die Chance zu einem neuen Anfang (Joh 21,15-17). Warum? Wir lesen es in V. 13! Schauen wir zunächst auch in Richtung der übrigen ntl. Briefliteratur über die Pastoralbriefe hinaus, so beginnen Stellen aus dem Hebräerbrief zu leuchten, in denen es um die Frage der sog. „zweiten Buße“ geht, also darum, ob Christen, die Christus verleugnet haben, noch einmal die Chance zu einer Umkehr, in diesem Fall zu einer Rückkehr zu ihm erhalten. Relevant sind vor allem Hebr 6,4-6; 10,26-31; 12,15-17, Texte, auf die wir hier nicht eingehen können.93 91 W. Schenk, Art. ἀρνέομαι/ἀπαρνέομαι, EWNT I, 369. In den Past finden wir einen vergleichbaren Gebrauch in Tit 1,15 (vgl. meine Auslegung z. St.). 92 Mit κἀκεῖνος [kakeinos] ist zweifellos Christus gemeint. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Verse 11-13 ohne ihren Kontext nicht verständlich wären. Das hat Konsequenzen für die Analyse ihrer Überlieferungsgeschichte. 93 Im Hebräerbrief geht es u.a. um die Frage, ob Christen nach einer evtl. unter äußerem Druck erfolgten Absage an Christus die Chance einer Rückkehr in die Gemeinschaft der Christen haben oder nicht. In der späteren Kirchengeschichte wurde das Thema durch Christenverfolgungen (besonders zwischen 250 und 313 n.Chr. unter den Kaisern Decius, Valerian und Diocletian) durch die sog. lapsi aktuell (vgl. z.B. M. Slusser, Art. Martyrium III/1. Neues Testament / Alte Kirche, TRE 22 (1992) 209). – Die relevanten Texte im Hebr müssen sehr genau angesehen und ausgelegt werden, weil die Situatio-
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Eine weitere grundlegende Veränderung erfährt das Schema von 11b/12a in 13a, wo beide Vershälften im Präsens formuliert sind. Hier entspricht der Verhaltensweise der Christen im ersten Versteil gerade nicht die Reaktion des Christus (wieder: ἐκεῖνος [ekeinos]) in 13aβ. Auf das ἀπιστεῖν [apistein] reagiert Christus, indem er sich als πιστός [ pistos] erweist. Ἀπιστέω (apisteō), das entsprechende Substantiv und das Adjektiv kommen im corpus Paulinum außerhalb der Past immerhin 13 Mal vor. Das Wort selbst bedeutet zweierlei: „a) untreu sein; b) ungläubig sein, nicht glauben“.94 Es gibt also eine Bedeutung, die im Blick auf den Umgang von Menschen miteinander verwendet werden kann, und eine, die spezifisch milieubedingt ist, nämlich ob jemand Christ ist oder nicht. Vom Kontext her ist für die erste Vershälfte allerdings mit einer Unschärfe von a) und b) zu rechnen, für die zweite dagegen mit Bedeutung a). Die Untreue von Christen gegenüber Christus hängt nämlich eng mit der Frage zusammen, ob sie (gerade) glauben oder nicht glauben. Mit dieser Alternative rechnet der Apostel offenbar als Möglichkeit – und er hat damit auch unsere Lebens- und Glaubenserfahrung hinter sich. Ist auch die Zugehörigkeit zu Christus eine feste Sache, ein „Lebenskontinuum“, so ist doch der aktuelle Glaube in seiner Stärke und Tiefe manchmal erheblichen Schwankungen ausgesetzt. Schließlich hat der auferstandene Jesus den untreu gewordenen Petrus nicht einfach fallen lassen, sondern sich ihm neu zugewandt (so explizit in Joh 21,15-17). Die Verlässlichkeit Jesu (μένει [menei] beschreibt den Fortbestand einer Einstellung) ist für Christen ein Sicherheitsnetz, das sie angesichts ihrer eigenen Wankelmütigkeit auffängt. Für die Seelsorge bedeutet das: Wir dürfen Christen, die einen Schritt weg von Jesus gemacht haben, ermutigen – nicht, es nochmals und nun mit besonderem Glaubensmut zu versuchen, sondern sich trotz allem, was war, in die Hand ihres Herrn fallen zu lassen. Dürfen wir V. 13a im Anschluss und Zusammenhang von 12b verstehen, dann zeigte sich (angesichts einer Bedrohung?) hinter dem Verleugnen das Nicht-glauben-können-oder-Wollen, oder umgekehrt spitzt sich das NichtGlauben im Akt des Verleugnens zu. Wir werden dies zu beachten haben: Es geht nicht um einen quasi unbewussten Vorgang „nebenher“ oder „zufällig“ (deshalb bei Petrus die dreimalige Verleugnung!). Untreue ist Glaubenslosigkeit, und sie gipfelt manchmal im punktuellen Ereignis der Verleugnung.
nen, die sie widerspiegeln, durchaus komplex sind. Dem Verfasser geht es wohl hauptsächlich darum, zu signalisieren, dass ein Hin und Her zwischen Glauben und Unglauben, Christus und Satan, Gemeinde und Welt keine Option sein kann. 94 G. Barth, Art.ἀπιστέω κτλ., EWNT I, 291.
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2. Timotheusbrief
In 13b wird das Stichwort ἀρνέομαι [arneomai] von 12b wieder aufgenommen und in Beziehung zu der Möglichkeit der Untreue von Christen gesetzt. Die Wortstellung im Satz entspricht nicht dem Üblichen, sie ist geradezu umgedreht: Das Prädikat steht auffällig und betont am Ende, während der accusativus cum infinitivo (Akkusativ mit Infinitiv [AcI]) an den Anfang gestellt ist. Die folgernde Partikel γάρ macht 13b zur Begründung für 13aβ: denn er kann sich selbst nicht verleugnen. Es käme mithin einer Selbst-Distanzierung Jesu, einem inneren Bruch mit sich selbst, seinem Wesen und Auftrag, gleich, würde er auf menschliche Untreue seinerseits mit Untreue reagieren. IV 1. Wenn Paulus von „meinem Evangelium“ spricht (V. 8; vgl. z.B. Röm 2,16; Gal 1,8),95 werden wir bedenken müssen, dass das eigentlich für alle gilt, die das Evangelium verkündigen: Jede und jeder hat bei aller Übereinstimmung in den unverzichtbaren Punkten doch „sein Evangelium“, d.h. die besondere Art und Weise, die besonderen Akzentsetzungen und Schwerpunkte, auch die Bereiche, die vernachlässigt oder übergangen werden. Das ist gut so und entspricht ganz dem, wie wir es bei den biblischen Autoren selbst (etwa den Propheten oder den Verfassern der Evangelien) auch finden. Gottes Geist beseitigt nicht die menschlichen Eigenheiten etwa von Sprache und Stil, von Persönlichkeit und Charakter. Er nimmt sie vielmehr in seinen Dienst. „Die Gute Nachricht“ hören: Da gehört ein Gesicht, eine Person dazu, die es persönlich bezeugen kann. Deshalb ist der Prediger nicht einfach durch den Fernsehgottesdienst oder ein Video ersetzbar. Predigen heißt: Dieser Gemeinde an diesem Ort und an diesem Tag diesen Text so „aufpolieren“, dass sie sich in ihm erkennen kann. 2. Klar, dass sich sogleich die Frage nach Freiheit und Bindung bei der Verkündigung stellt. Die zuvor gemachten Feststellungen sind ja nicht Freibrief für eine „selbstgemachte“ Botschaft – wenn auch wir alle gefährdet sind, „unser“ Evangelium nach Bedarf, Geschmack und aktueller Zeitgeistlage zurechtzuzimmern. Auch Paulus, der sich manche Freiheit in der Anwendung des Evangeliums auf die jeweilige Situation seiner verschiedenen Gemeinden herausgenommen hat, bezieht sich doch immer wieder auf das alle Verbindende und für alle bleibend Gültige: für Christen, die aus jüdischem oder heidnischem Hintergrund kommen; für Männer und Frauen; für Sklaven und Herren
95 Nach Eusebius, HistEccl 3,4,7 hat Paulus das Lukasevangelium als „mein Evangelium“ bezeichnet.
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usw. Es führt an Jesus kein Weg vorbei, und es führt an der sühnenden Erlösung durch seinen Tod kein Weg vorbei. 3. Unter dem Leiden bleiben ist für sehr viele Christen keine leichte Sache: Vertreibung, Verfolgung, Verhaftung, Verhör, Folter und Tod drohen – von sozialer Diskriminierung und wirtschaftlichen Nachteilen ganz zu schweigen. Ist das Evangelium unter dieser Perspektive doch nur Vertröstung auf ein angeblich besseres Jenseits? Berger nennt V. 11f „eine alte Märtyrertheologie, die den Gemeinden so gar nicht zumutbar war. Zu Beginn des 2. Jh.s wird dann Ignatius v. Antiochia ein letzter einsamer Zeuge dieser alten Theologie sein, nach der das freiwillig gesuchte (!) Martyrium ‚der‘ christliche Weg ist. Auch für sich selbst denkt Paulus zweifellos in diesen alten Kategorien. Auch bei ihm ist eine Umdeutung oder Abmilderung nicht erkennbar.“96 Trifft das wirklich den Duktus des 2. Timotheusbriefs? Verstehen wir Paulus richtig, so ist er ganz und gar nicht auf ein möglichst rasches Martyrium aus, wie es viele Christen im 2. Jh. waren. Er würde gerne noch weiter arbeiten. Ihm fällt es schwer, seine Lebensaufgabe in andere Hände legen zu müssen. 4. Warum lässt Gott zu, dass Menschen, aber auch seine eigenen Leute, leiden müssen? Es ist vermessen, diese Frage mitten in der Not beantworten zu wollen. Vielleicht ist das möglich mit einem gehörigen Abstand und im Rückblick. Not und Leiden bringt uns dazu, dass wir die Oberflächlichkeit im Blick auf unser Leben aufgeben. Wäre das Leben nur himmelblau und rosarot, dann würden wir menschlich, charakterlich, aber auch geistlich ohne Tiefgang bleiben. Was uns prägt, sind eher die dunklen Stunden als die hellen. Noch etwas: Das Leiden führt uns Menschen auch zusammen in dem Sinn, dass wir füreinander Verantwortung spüren und wahrnehmen. Es bewirkt menschliche Solidarität, und das ist etwas Gutes. Zudem werden uns die Grenzen unserer Möglichkeiten besonders bewusst, wenn wir vor unlösbaren Problemen, in scheinbar ausweglosen Sackgassen stehen, also wenn wir leiden. Dann heben wir unseren Blick leichter als sonst über die nur irdische Dimension hinaus auf die ewige, auf Gott und seine Möglichkeiten.
96 Berger 815.
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6. Warnung vor unnützem Streit und Ermutigung zum Dienst 2,14-26 I 14 Erinnere daran und bezeuge feierlich vor Gott, nicht mit Worten zu streiten – es bringt nichts, [nur] Verwirrung der Hörer! 15 Sei eifrig, dich selbst Gott als bewährt zur Verfügung zu stellen, als untadeliger Arbeiter, der mit dem Wort der Wahrheit in gerader Richtung schneidet. 16 Meide aber das heillos-leere Geschwätz; denn immer mehr werden sie hinsichtlich der Gottlosigkeit fortschreiten 17 und ihr Wort wird Weide haben wie ein Geschwür. Zu denen gehören Hymenäus und Philetus, 18 welche im Blick auf die Wahrheit abgeirrt sind, indem sie sagen, die Auferstehung sei schon geschehen, und sie zerstören den Glauben von einigen. 19 Das feste Fundament Gottes freilich steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt die, die ihm gehören; und: Es trete weg von Unrecht jeder, der den Namen des Herrn nennt. 20 In einem großen Haushalt gibt es nicht nur goldene und silberne Geräte, sondern auch hölzerne und irdene, und zwar das eine zur Ehre, das andere zur Unehre. 21 Wenn sich also jemand gründlich von diesen gereinigt hat, wird er ein Gerät zur Ehre, geheiligt, brauchbar für den Herrn, für jede gute Arbeit bereit. 22 Die jugendlichen Begierden fliehe, verfolge aber Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden mit denen, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen! 23 Die törichten und nicht von Bildung zeugenden Wortgefechte weise aber zurück in dem Wissen, dass sie [nur] Streitigkeiten hervorbringen. 24 Ein Diener des Herrn soll nicht kämpfen, sondern gütig sein zu allen, lehrfähig, duldsam, 25 in Sanftmut [jene] erziehend, die sich widersetzen, ob Gott ihnen etwa Umkehr zur Erkenntnis der Wahrheit gebe 26 und sie aus der Schlinge des Teufels heraus wieder nüchtern werden, die von ihm lebendig gefangen genommen worden waren, damit sie jenes Willen ausführen. II Mit Ταῦτα [tauta V. 14] wird zurückschauend ein gedanklicher Fortschritt signalisiert und dadurch eine Abgrenzung nach hinten gesetzt. Τοῦτο [touto 3,1] dagegen weist nach vorn und markiert damit den Beginn eines zwar auf 2,1426 aufbauenden, aber doch auch über diesen Text hinausgehenden Gedankengangs, der die zuvor beschriebenen Probleme nun eschatologisch einordnet. Dazwischen finden wir eine Reihe von kurzen Absätzen, die auf den ersten Blick relativ disparat wirken. Den Text durchziehen und prägen sechs Imperative, die auch seinen Charakter erkennen lassen: Es geht um Anweisungen,
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wie der Adressat sich verhalten soll, und Ermutigungen für seine Aufgabe. Außerdem durchzieht ihn ein Geflecht von je viermaliger Verwendung der Substantive θεός [theos] und κύριος [kyrios]. V. 14 setzt mit einem auf das Voraufgegangene weisenden Demonstrativpronomen mit nach vorne weisendem Imperativ ein. Dort (V. 11-13) ging es um das in der bedrohlichen Situation Wesentliche, das nun nicht zerredet werden soll. Mit λογομαχεῖν [logomachein] klingt ein im Folgenden wichtiges Motiv an (vgl. V. 16.23). V. 15-18 sind eine kleine Einheit. 15 beschreibt, was Timotheus positiv tun soll, während 16 offenbar im Blick auf einen konkreten Fall (V. 17f) zur Distanzierung von Menschen rät, die sich auf (theologischem) Irrweg befinden. Ihren Kernsatz zitiert der Apostel in indirekter Rede. V. 19-21 gehören ebenfalls zusammen. 19 setzt gegen solchen Irrtum das, was wirklich trägt, und untermauert es mit zwei offenbar damals in den Gemeinden umlaufenden Sätzen. V. 20f veranschaulicht an einem Beispiel aus dem Alltag, dass solche Unterschiede nicht wirklich erstaunen lassen, dass es aber einen Weg weg von der Verirrung gibt. Timotheus selbst kommt in V. 22 wieder in den Blick. Negativ und positiv wird beschrieben, wie er sich verhalten soll. V. 23-26 nehmen das Thema „Kampf “ von V. 14 auf als etwas, das Timotheus möglichst vermeiden soll. Historisch verankert muss die Erwähnung der abweichenden Meinung sein, die nach V. 17 Hymenäus, der schon 1Tim 1,20 zusammen mit einem gewissen Alexander negativ erwähnt worden war, und Philetus vertreten haben. Wir können davon ausgehen, dass Paulus in ihnen die Wortführer dieser Lehre (jedenfalls in Ephesus?) beim Namen nennt. Was erfahren wir darüber? Zunächst gibt es einige unsichere Informationen, d.h. solche, von denen der Bezug auf diesen Fall nicht eindeutig ist. Allerdings kommt der Begriff λόγος [logos] im Text mehrfach vor (V. 14/15/17). μαχέω [macheō] rahmt den Text ein (V. 14/23/24). Der konkrete Fall durchzieht den Text, denn κενοφωνία [kenophōnia] wird in Verbindung zu λογομαχεῖν [logomachein] und zu μωρὰς καὶ ἀπαιδεύτους ζητήσεις [mōras kai apaideutous zētēseis] stehen. Das Beispiel V. 20, der V. 21 angebotene Weg zurück in die Gemeinde sowie αὐτοῖς (autois) in V. 25 werden ebenso auf die Angesprochenen zielen. Deshalb darf man mit allem Vorbehalt auch die entsprechenden Aussagen auf diese Gegner und ihre Lehre beziehen. Umgekehrt wird man auch hier mit der gebotenen Vorsicht aus dem Bild, das Paulus dem Timotheus als Vorbild zeichnet, Rückschlüsse auf die Gegner
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ziehen dürfen. Es sind Leute, die Wortkriege (V. 14) und Wortgefechte (V. 23) führen, vermutlich theologischer Art, wie ihre zentrale Behauptung zeigt (V. 18b), Diskussionen, die die Hörer eher verwirren; die gottloses Geschwätz im Munde führen (V. 16a) und dadurch zur Gottlosigkeit verführen (V. 16b); die damit aber andere beeindrucken (V. 17a). Sichere Informationen über die Gruppe erhalten wir in V. 17b und 18. Sie befassen sich mit den beiden Wortführern, von denen der Verfasser sagt, sie seien im Blick auf die Wahrheit abgeirrt (V. 18a) und würden den Glauben von einigen zerstören (V. 18b). Inhaltlich geht es der Gruppe um die erwartete Auferstehung der Christen, über die Paulus auch 1Kor 15,20ff; 1Thess 4,13ff schreibt. In Korinth gab es offensichtlich ebenfalls eine Gruppe, die die Auferstehungsfrage anders sah als der Apostel, gipfelnd in der Behauptung, es gebe überhaupt keine Auferstehung (1Kor 15,12). In Ephesus ging es dagegen um die erwartete Auferstehung aller Menschen bzw. der Christen mit der These, sie liege nicht erst in der Zukunft, sondern sie sei bereits erfolgt1 – mit der Konsequenz, dass man sich schon jetzt in Gottes sichtbarem Reich befinde und entsprechend leben könne.2 In diesem Zusammenhang ist die religions- bzw. kirchengeschichtliche Einordnung interessant. Für manche Forscher bot sich (der religionsgeschichtlichen Schule folgend) die Gnosis als Parameter der Einordnung an.3 Diese freilich hat in der Bekämpfung der Bewegung und Vernichtung ihrer Literatur ganze Arbeit geleistet mit der Folge, dass uns aus deren Frühzeit (1./2. Jh.) nur sehr wenig Originalmaterial zur Verfügung steht. Wir sind also bei der Analyse stark behindert und auf das angewiesen, was „orthodoxe“ Schriftsteller über sie festgehalten haben. Markschies spricht davon, man könne „die Entwicklung solcher theol. Systeme als einen Missionsversuch verstehen, der sich im Grunde an die Gebildeten wendet“, indem hier „christl. Antworten auf die allgemeinen Fragen nach dem Woher des Bösen, des Menschen und seiner Verantwortlichkeit … in Erzählungen veranschaulicht und dadurch verständlicher gemacht werden“ sollten.4 1 Dafür konnte man sich jedenfalls auf Röm 6,4-11; Kol 2,12; 3,1-4; Eph 2,6 berufen, wenn auch in einem anderen Sinn, als Paulus es dort gemeint hatte. 2 A. Schlatter 242f schreibt z. St.: „Wie in Korinth, so wird auch hier sichtbar, daß sich der theologische Kampf an der Eschatologie entzündete. Ihre Aneignung und Umbildung schuf die theologischen Gegensätze“. 3 Zu diesem Thema vgl. immer noch K. Rudolph. Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. Göttingen 31990. Was die (Früh-)Datierung der Gnosis schon in ntl. Zeit betrifft, ist die Forschung inzwischen sehr viel vorsichtiger als noch die Generation R. Bultmanns und seiner Schüler. Unleugbar allerdings ist erstens, dass es im NT, vor allem bei Paulus und Johannes, Begriffe und Gedanken gibt, die dann im 2. Jh. in den gnostischen Systemen erneut eine Rolle spielen; zweitens, dass rückblickend Bezüge zu ntl. Personen (z.B. zwischen Simon Magus Apg 8 und den Simonianern) hergestellt wurden.
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Vor allem in den älteren Kommentaren herrscht eine Tendenz vor, gnostische Gedanken hinter 2Tim 2,18 zu sehen (Schlatter, Jeremias, aber auch Brox, Merkel, Knight, Holtz u.a.), während die jüngeren Verfasser damit eher zurückhaltend sind (Hasler 1978: Nähe zu Mysterienreligionen; Thiessen 1995: jüdisch-hellenistische Missionsliteratur; Oberlinner 1995: enthusiastische Frömmigkeit; Weiser 2003: gnostisierend-schwärmerischer Enthusiasmus; Towner 2006: missverstandene paulinische Theologie). Ein starkes Argument für die Gnosis als religionsgeschichtlicher Hintergrund ist die Erwähnung derselben in 1Tim 6,20, zumal wenn auch dieser Brief nach Ephesus gerichtet war. Textkritische Anmerkungen: 14 Während die aktuelle Auflage des Novum Testamentum Graece ἐνώπιον τοῦ θεοῦ liest, gibt es abweichende Handschriften, die θεοῦ durch κυρίου (A D Ψ 048 1739 1881 b vg sy sams bopt) bzw. Χριστοῦ (206 pc) ersetzen. Die Textlesart wird von אC F G I 614 629 630 1175 al ar vgmss syhmg samss bopt unterstützt. Die Textkommission hat sich offenbar nicht aufgrund von Alter, Gewichtung oder Anzahl der Textzeugen für die Lesart θεοῦ entschieden, sondern wegen der Parallelität zu 2Tim 4,1; 1Tim 5,4.21. Dieser Entscheidung kann man sich anschließen. 16 Eine varia lectio (vom NA28 abweichende Lesart) in V. 16 überliefert καινοφωνίας statt κενοφωνίας. Bauer/Aland 870 übersetzt das mit „moderne Redereien“. Inhaltlich würde das schon einen gewissen Unterschied ergeben, da es sich entweder um „inhaltslose“ oder um „nicht mit der Tradition übereinstimmende Redereien“ handeln würde. Die äußere Bezeugung der Variante ist aber zu schwach, wenn sie auch mit den Kirchenvätern Lucifer (Lcf – 4. Jh.) und Pseudo-Augustinus (Spec – 5. Jh.) und den altlateinischen Handschriften b und d (5. Jh.) recht alt ist. Nestle-Aland wie Bauer/Aland nehmen Auswirkungen des Itazismus als Ursache für die Änderung an. Man wird ihnen darin folgen können. III 14 Ταῦτα [tauta] ist Nominativ/Akkusativ Plural des Demonstrativpronomens οὗτος.5 Es bezieht sich vor allem zurück auf die in V. 11-13 genannten Entsprechungen im Verhalten. ὑπομιμνήσκειν [hypomimnēskein] heißt bei Paulus „an etwas erinnern“. Die viermalige Verwendung von διαμαρτύρομαι 4 C. Markschies, Art. Gnosis, Gnostizismus, CBL 1,457. 5 HvS §58b.
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[diamartyromai] (davon drei Mal in Verbindung mit ἐνώπιον τοῦ θεοῦ [enōpion tou theou]) zeigt, dass das Wort einen feierlich-ernsten, in die Pflicht nehmenden Ton in sich trägt (bes. 1Tim 5,21; 2Tim 4,1). Das Erinnern soll also einen vor Gott verbindlichen Charakter haben, nicht nur einen gutgemeint-informativen. Die Dimension der Verantwortung vor Gott im Endgericht kommt in den Blick. Dabei geht es in dem, was der Apostel verbietet, scheinbar „nur“ um ein zwischenmenschliches Verhalten: Die Christen in Timotheusʼ Verantwortungsbereich sollen nicht mit Worten streiten. 1Tim 6,4 hatte er schon davor gewarnt, sich auf ζητήσεις καὶ λογομαχίας [zētēseis kai logomachias] einzulassen.6 Offenbar besteht diese Gefahr noch immer. Tit 3,9 galt die Warnung ebenfalls den ζητήσεις, während Paulus ähnlich schon Röm 14,1 vor διακρίσεις διαλογισμῶν warnt, aber jeweils in anderem Zusammenhang. Denkbar sind zwei Möglichkeiten, das Verb λογομαχεῖν zu verstehen: „mit Worten streiten“ oder „um Worte streiten“. Die erste Variante ist insofern schwierig, als eine andere Art zu streiten in den christlichen Gemeinden (damals) kaum denkbar ist. Wie sollten Meinungsverschiedenheiten sonst ausgetragen werden? Allerdings gibt es bei manchen Menschen gerade in Kirche, Gemeinde und Theologie eine bis zur Lust reichende Vorliebe für Wortgefechte und Auseinandersetzungen. Wahrscheinlicher erscheint uns aber die zweite Option, die auch ein Licht auf die Gegner in der Gemeinde wirft: Wenn es zutrifft, dass sie die Äußerungen des Apostels zum Thema „(Taufe und) Auferstehung“ (s. o.) falsch verstanden haben im Sinn einer „over-realized eschatology“7 oder einer „too-realized view of the eschatology“8 und sich also auf konkrete, möglicherweise ihnen schriftlich vorliegende Äußerungen von ihm bezogen, empfiehlt er nicht den Weg einer methodisch-kämpferischen Interpretation seiner Worte mit dem Ziel, zu einem gemeinsamen Verständnis zu gelangen, sondern die (gemeinsame?) Konzentration auf das, was in der Situation letzter Bedrängnis wirklich hält, trägt und zählt – z.B. auf das in V. 11-13 Geschriebene. Das entspricht ja durchaus auch unseren modernen Erfahrungen: Intellektuelle Diskussionen können höchstens Hindernisse im Vorfeld des Glaubens ausräumen. Zum Schritt zu eigenem Glauben hilft häufig ein persönlich-biographisches Zeugnis mehr. Zudem ist es oft nicht mög6 Wenn Timotheus in Ephesus arbeitete, erscheint des Apostels Insistieren auf allem, was mit „reden“, „Wort“ etc. in beiden Timotheusbriefen zu tun hat, in einem neuen Licht. Der Gemeindegründer Apollos wird nämlich in Apg 18,24 als ein ἀνὴρ λόγιος (frei übersetzt als ein „Mann des Wortes“) charakterisiert. Im Gegensatz dazu warfen die Korinther Paulus nach 2Kor 10,10 vor, seine Rede sei ἐξουθενημένος (Bauer/Aland 562 übersetzt: „nichts wert“).Ganz offensichtlich spielte die rhetorische Fähigkeit damals eine Rolle. 7 Fee 256. 8 Towner 528.
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lich, Missverständnisse so zu beseitigen, dass am Ende beide Seiten einer Meinung sind. Man muss manchmal mit offenen Fragen leben, auch mit Konflikten, und zwar miteinander und nebeneinander in einer Gemeinde oder Kirche. Auch deshalb schließt Paulus hier keine eigene Exegese seiner Aussagen etwa in Röm 6, 1Kor 15, Kol 2 etc. an. Dafür ist nun, im römischen Gefängnis, nicht mehr die Zeit und der Ort. Wichtiger ist ihm offenbar, die Folgen zu vermeiden, die Diskussionen, Wortgefechte und Wortklaubereien oft bei den unbeteiligten Zuhörern hinterlassen. Hier nennt er rund heraus als Grund: es bringt nichts. χρήσιμος [chrēsimos], das im NT nur hier vorkommt, heißt „nützlich, vorteilhaft“. Wortgefechte haben eine negative Folge, nämlich Verwirrung der Hörer. Dahinter steht das griech. καταστροφή, von dem unser Fremdwort „Katastrophe“ kommt. In 2Petr 2,6, dem einzigen weiteren Vorkommen im NT,9 bezeichnet es immerhin den Untergang von Sodom und Gomorra. Kriege mit Worten sind, so sehr sich die direkt Beteiligten auch daran erfreuen, sich dadurch profilieren und sie aus theologischen Gründen für unumgänglich halten mögen, für die Gemeinde oft eine Katastrophe! Erstaunlich, wie weise und weitsichtig Paulus, der den theologischen Diskussionen ja auch meist nicht aus dem Weg gegangen ist, das sagen konnte! Hätte ein Epigone so schreiben können? Das zugehörige Verb καταστρέφειν [katastrephein] bedeutet „umstürzen, umwerfen“, z.B. von den Tischen der Wechsler im Tempel (Mk 11,15), aber auch „zerstören, vernichten“.10 Das Resultat ist also Vernichtung (Sodom und Gomorra) oder jedenfalls ein Durcheinander, das die Ordnung beseitigt. In der Erwartung, dass sich der Druck auf die Gemeinden von Rom aus ausbreiten und verstärken würde, sah der Apostel diese Gefahr von internen Verwerfungen und – als deren Folge – Spaltungen offenbar immer deutlicher und warnte vor ihr. 15-18 bilden eine kleine Einheit, erneut beginnend mit einer Weisung an Timotheus: Sei eifrig, dich selbst Gott als bewährt zur Verfügung zu stellen. 15 Der Imperativ ist mit einem accusativus cum infinitivo („Akkusativ mit Infinitiv“) verbunden, dem zwei Partizipialsätze folgen. σπούδασον [spoudason] wird Paulus auch noch 2Tim 4,9.21 mit Blick auf das eilige Herbeikommen seines Schülers nach Rom schreiben. Es geht um das menschliche Bemühen, ein Ziel zu erreichen (vgl. Gal 2,10 für die Kollekte, Eph 4,3 für die Einheit der Gemeinde, 1Thess 2,17 für die Rückkehr des Apostels nach Thes9 Im Text von NA27 war es noch als Wort im Text, dessen Ursprünglichkeit nicht ganz sicher ist. Das hat sich in NA28 geändert. 10 Bauer/Aland 852.
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salonich). Verbirgt sich dahinter – zumal nach den menschlichen Enttäuschungen, die Paulus mit manchen Mitarbeitenden erlebt hatte – ein Quäntchen Unsicherheit im Blick auf Timotheusʼ Eignung und Zuverlässigkeit? Positiv ausgedrückt: Braucht dieser wichtigste Mitarbeiter in der wohl größten Gemeinde Kleinasiens, für die Paulus eine düstere Zukunft prophezeit hatte (Apg 20,29-31) und die für die ganze Provinz eine besondere Bedeutung hatte, besonderen Ansporn für seine Aufgabe? Neigte Timotheus (als Phlegmatiker?) dazu, Dinge einfach hinzunehmen? Hinter δόκιμος [dokimos] bewährt steht für Juden wie für Griechen die Vorstellung vom „Prüfen auf Tauglichkeit“.11 παρίστημι [paristēmi] meint, jemand durch Zur-Verfügung-Stellen von etwas bzw. jemand in die Lage zu versetzen, etwas zu tun. In unserem Zusammenhang soll Timotheus sich selbst Gott als jemand zur Verfügung stellen, der sich in Prüfungen bewährt hat. Seine Biographie, die wir aus der Apg und den wenigen Bemerkungen in den Paulusbriefen einschließlich des 1. Timotheusbriefs in Umrissen kennen,12 zeigt seinen bisherigen Einsatz als Paulus-Begleiter, auf kürzeren und leichteren Auftragsreisen als „Postbote“, als Grüßender (Röm 16,21), als Mitverfasser bzw. Mitabsender von Briefen (2Kor 1,1; Phil 1,2; Kol 1,1; 1Thess 1,1; 2Thess 1,1; Phlm 1), als Seelsorger und „Visitator“ (1Thess 3,2.6), als „Co-Pastor“ (2Kor 1,19). Wenn Paulus die Ankunft seines Mitarbeiters in 1Kor 16,10f ankündigt und zugleich die Empfänger ermahnt, wie sie mit ihm umgehen sollen (nämlich dass sie ihm keine Furcht einflößen und ihn nicht verachten sollen, weil er ja im Einvernehmen mit ihm in Gottes Auftrag arbeitet), wirft das auch einen Lichtstrahl auf dessen Persönlichkeit und lässt uns die Aussagen in 2Tim 2 über Streitigkeiten besser verstehen. Auch 1Tim 1,18; 6,20 wird er zur Auseinandersetzung ermutigt. War es eher Titus, der in Konflikte (2Kor!) geschickt wurde, und Timotheus, der aufbauend wirkte? Manches spricht dafür. Seit Mitte der 50er-Jahre hatte sich die Lage allerdings verändert, und Timotheus war in seinem Aufgabenbereich (Ephesus) voll zuständig. Galt es nun, Streit nach innen zu vermeiden? Was Paulus mit bewährt meint, wird in zwei Partizipialsätzen näher bestimmt: Er soll ein untadeliger Arbeiter (ἐργάτης [ergatēs]) sein, der mit dem Wort der Wahrheit in gerader Richtung schneidet. ἐργάτης hat ein recht großes Bedeutungsspektrum. Es bezeichnet im Profangriechischen „allg. 11 Vgl. G. Schunacks Art. δοκιμάζω κτλ. EWNT I, 825ff. 12 Mehr dazu in meinem Kommentar zu 1Tim, S. 20f.49f, oder (mit anderen Prämissen) z.B. bei H. von Lips. Timotheus und Titus. Unterwegs für Paulus. Biblische Gestalten 19, Leipzig 2008, bes. 36-90.
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den, der etwas tut (…), dann bes. den für Lohn Arbeitenden als Teil einer Berufsgruppe (…), dann auch den Sklaven“.13 Das zugeordnete Adjektiv ἀνεπαίσχυντος [anepaischyntos] ist zusammengesetzt aus dem Verb αἰσχύνομαι [aischynomai] „sich schämen“, der (dieses verstärkenden) Präposition ἐπί und dem α privativum, das die Bedeutung des Worts gerade ins Gegenteil wendet und das zur Vermeidung des Aufeinandertreffens von zwei Vokalen durch ein ν von dem verbum compositum ἐπαισχύνομαι [epaischynomai] getrennt ist. Letzteres „spielt eine besondere Rolle in der urchristlichen Bekenntnissprache. Es kann die Lossage des Menschen von Jesus Christus oder des Menschensohns vom Menschen bezeichnen Mk 8,38par.“,14 schreibt Horstmann und fährt, auf 2Tim 1,8 verweisend, fort: „Als geprägte Wendung ersetzt verneintes ἐπαισχύνομαι Röm 1,16 geradezu … ein ὁμολογέω (‚bekennen‘)“.15 Trifft dies zu, so schillert die Kombination von Substantiv und Verb zwischen dem Arbeiter, dem niemand eine Vernachlässigung seines Dienstes vorwerfen kann, und dem Mitarbeiter im Reich Gottes, der bereit ist, sich in letzter Konsequenz zu Gott (bzw. Christus) zu bekennen. War so die Eigenschaft beschrieben, so geht es in der zweiten Phrase um die dem entsprechende Tätigkeit: Timotheus soll jemand sein, der mit dem Wort der Wahrheit in gerader Richtung schneidet – so jedenfalls die wörtliche Übersetzung von ὀρθοτομέω [orthotomeō].16 Τομός [tomos] heißt „schneidig, scharf “.17 Wir stehen vor zwei Schwierigkeiten: Erstens vor der Frage, wie stark die Grundbedeutung noch mitschwingt; zweitens, wie wir das angehängte Akkusativobjekt das Wort der Wahrheit (τὸν λόγον τῆς ἀληθείας [ton logon tēs alētheias]) verstehen sollen. Soll Timotheus das Wort der Wahrheit „zurechtstutzen“? In eine bestimmte Form bringen? Was ist mit „Wort der Wahrheit“ überhaupt gemeint? Nicht nur im Johannesprolog (Joh 1,14.17) und bei Jakobus (Jak 1,18) finden wir entsprechende Formulierungen. Bei Paulus begegnet uns der Begriff λόγος (τῆς) ἀληθείας [logos (tēs) alētheias] mehrfach: 2Kor 6,7; Eph 1,13; Kol 1,5. 2Kor 6,7 nennt Paulus das „Wort der Wahrheit“ geradezu als eines der Erkennungszeichen eines διάκονος θεοῦ [diakonos theou]. In den beiden
13 14 15 16 17
R. Heiligenthal, Art. ἐργάζομαι κτλ., EWNT I, 122. A. Horstmann, Art. αἰσχύνομαι, EWNT I, 101. Ebd. G. Schneider, Art. ὀρθοτομέω, EWNT II, 1298f. Bauer/Aland 1638. Die Verben τέμνειν [temnein] und τομᾶν [toman] kommen im NT nicht vor.
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anderen Stellen fällt die Verbindung mit dem Evangelium auf, das geradezu als Definition für „Wort der Wahrheit“ verwendet wird. An ein „Zurechtstutzen“, ein Anpassen des Evangeliums an den je aktuellen Bedarf zur Befriedigung der Vorstellungen der jeweiligen Hörer,18 ist dann natürlich nicht zu denken. Bei Wahrheit ist neben dem vor allem, aber nicht nur griechischem Denken entsprechenden Aspekt des Enthüllens von Fakten, wie sie wirklich sind,19 immer auch an die personale Komponente (Jesus Christus ist in Person die Wahrheit; Joh 14,6) und an die (hebräischem Denken entsprechende) Beziehungskomponente zu denken. Nehmen wir hinzu, dass ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας [epignōsis tēs alētheias] in 1Tim 2,4; 2Tim 2,25; 3,7; Tit 1,1 eine Umschreibung für den Schritt zur Gemeinschaft mit Christus und den Christen ist, dann wird deutlich: in gerader Richtung schneiden ist nicht gegen das Evangelium als Objekt und Gegenstand der Tätigkeit gerichtet („Zurechtstutzen“). Es kann vielmehr nur mit dem Evangelium und für das Evangelium geschehen. Die Verbindung des Adjektivs (im Komparativ) mit λόγος [logos] finden wir Hebr 4,12: „Lebendig ist nämlich das Wort Gottes und kraftvoll und besser schneidend als jedes zweischneidige Schwert, und es dringt hindurch bis zur Teilung von Seele und Geist, von Gelenken und Knochenmark, und es unterscheidet Erwägungen und Denkart des Herzens.“ In LXX Spr 3,6, also in weisheitlichem Zusammenhang, ist von dem Wunsch die Rede, dass er (Gott) „deine Wege geradlinig mache“ (ὀρθοτομῇ τὰς ὁδούς σου [orthotomē tas hodous sou]).20 Bauer/Aland schlagen (von Spr 3,6; 11,5 kommend) vor: „den Weg die Gegend in gerader Richtung schneiden lassen“ oder „,den Weg in das (bewaldete od.[er] sonst mit Hindernissen überzogene) Gelände in gerader Richtung legen‘, so daß keine Umwege zum Ziel nötig sind“.21 Damit wäre das Wort der Wahrheit nicht Gegenstand des Geschnittenwerdens, sondern selbst Werkzeug oder Methode des Schneidens. Die nun naheliegende Frage, was denn dann mit dem Wort der Wahrheit in
18 In diesem Sinn wurde der Text wohl von den Abschreibern verstanden, die wegen des „Itazismus“, einer Veränderung der Aussprache des Griechischen gegenüber der klassischen Periode, statt κενοφωνίας das vom Klang her identische καινοφωνίας geschrieben haben. „Abschreiben“ hieß damals etwa in Klöstern ja oft: Ein Vorleser las den Text, und die Schreiber schrieben auf, was sie hörten und verstanden. Da konnte es leicht zu Fehlern kommen. 19 Der hebr. Wortstamm אמןbedeutet „fest, sicher, zuverlässig sein“ (THAT I, 178). 20 Dem entspricht auch die hebr. Version mit dem Verb ישׁרpi. „ebnen“, „gerade machen, einen Weg, geradeaus gehn“ (Gesenius 326). 21 Bauer/Aland 1175.
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gerader Richtung geschnitten werden soll, wird jedenfalls explizit nicht beantwortet. Schneider verweist für unsere Stelle auf Brox und schlägt vor, den übertragenen Sinn mit „‚den geraden Weg einschlagen‘, (das Wort) ‚geradeheraus verkündigen‘, d.h. ohne nutzlosen Disput“ zu übersetzen. Das Vermeiden von schädlichen Wortgefechten schließt offenbar auf der anderen Seite einen geradlinigen Umgang mit dem Wort Gottes nicht aus, sondern ein. Und: Solche Geradlinigkeit ist trotz Eph 6,17 nicht mit Aggressivität zu verwechseln! Auch eine missionarische Grundhaltung muss keine kämpferisch-aggressive Haltung sein, aber eine gewinnende und überzeugende. Das schließt das emotionale wie das intellektuelle Element ein. 16 Der positiv-aufbauenden Weisung folgt in V. 16 als Gegenüber (δέ) eine negativ-abgrenzende. Das Hauptverb im Imperativ steht betont inkludierend am Ende: Meide aber das heillos-leere Geschwätz.22 Wieder geht es ums Reden (s. o.). Was ist gemeint? Das Adjektiv βέβηλος [bebēlos], das ursprünglich den für jedermann zugänglichen „profanen“ Bereich im Gegensatz zum davon abgetrennten, unzugänglichen Heiligtum meinte, ist im NT „stets auf die Ferne von Menschen oder ihrem Tun vom Heil bezogen“, schreibt Balz.23 Nicht um religiöse Äußerlichkeiten geht es, vielmehr um den zentralen Inhalt dessen, was das Evangelium, das Wort der Wahrheit, den Menschen bietet und anbietet. Dem entspricht das Substantiv κενοφωνία [kenophōnia], das solches Reden als „inhaltslos“ (κενός [kenos] bedeutet „leer“) disqualifiziert und im Gedankengang dem Wort der Wahrheit gegenübersteht. περιίστημι [periistēmi] meint in der medialen Verwendung „sich umdrehen, meiden“.24 Es geht also um Reden oder Gespräche, die Gegenstände zum Inhalt haben, die nicht zum Heil hinführen. Situationen, in denen sie geführt werden, soll Timotheus meiden.
22 Anmerkung zum Text: NA27 hat hier im textkritischen Apparat: „(ex itac.) καινοφ– F G b d; Lcf Spec“. Paulus würde, wäre diese Lesart ursprünglich, hier und 1Tim 6,20 statt von „leerem Geschwätz“ von „neuem (= modernem?) Geschwätz“ schreiben. Grundsätzlich denkbar wäre das schon. Allerdings ergeben sich Bedenken im Blick auf die Bezeugung: Sie setzt mit Kirchenväterzitaten im späten 4. (Lcf) und dann im 5. Jh. (Spec) ein. Ins 5. Jh. gehört auch die älteste handschriftliche Bezeugung in altlateinischer Sprache (d). Dem steht für die Textlesart immerhin der Codex Sinaiticus (4. Jh.) als ältester Vertreter dieses Textes im Verbund mit anderen wertvollen griechischen Majuskeln gegenüber. Zudem ist die Variante als Produkt des Itazismus leicht und sinnvoll erklärbar („ex itac.“). Wir halten deshalb am NA28- Text fest. 23 H. Balz, Art. βέβηλος, EWNT II, 506. 24 G. Schneider, Art. περιΐ στημι, EWNT III, 174.
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2. Timotheusbrief
Exkurs Rhetorik spielte bei Griechen und Römern eine große Rolle. Auswirkungen entdecken wir im NT nicht nur in sprachlichen und literarischen Formen, die auf rhetorische Bildung der Schreiber oder Übernahme rhetorischer Elemente schließen lassen, etwa bei der Gestaltung der Briefe oder Reden. Auch die Ansprüche an christliche Verkündiger sind vor diesem kulturellen Hintergrund zu verstehen: wenn etwa die Athener beim Auftreten des Apostels Paulus auf der Agora oder dem Areopag nur interessiert, ob „dieser Samenkornaufleser wohl etwas Neues sagen will“ (Apg 17,18-21); wenn die Korinther sein Auftreten als Redner im Vergleich zu seinen Briefen als „schwach“ und seine Rede als „verachtenswert“ ansehen (2Kor 10,10). Die Konkurrenz war vielfältig und stark, gegen die sich Paulus & Co. durchsetzen mussten.
V. 16b/17 unterlegt der Verfasser seine Behauptung mit einer Prognose im Blick auf die weitere Entwicklung und einem konkreten Beispiel: denn immer mehr werden sie hinsichtlich der Gottlosigkeit fortschreiten. Ähnlich, aber gerade entgegengesetzt formuliert der Schreiber in 3,9 im Blick auf endzeitliche Verführer allgemein: οὐ προκόψουσιν ἐπὶ πλεῖον [ou prokopsousin epi pleion]. Was ist an unserer Stelle gemeint? Wer sind sie? Der Zusammenhang muss es zeigen. In V. 14 ging es im Kern um Methoden und Inhalte der Kommunikation, vor denen Timotheus gewarnt wurde (μὴ λογομαχεῖν [mē logomachein]), in V. 15b dagegen um formal wie inhaltlich sinnvolle Kommunikation (ὀρθοτομοῦντα τὸν λόγον τῆς ἀληθείας [orthotomounta ton logon tēs alētheias]), in V. 16a noch einmal inhaltlich um zu meidende Kommunikation. Die Antwort auf unsere Frage bringt V. 17, wo von ihrem Wort (ὁ λόγος αὐτῶν [ho logos autōn]) gesprochen und das ihr im Relativsatz 17b aufgegriffen wird. Vers 18 schließlich knüpft mit οἵτινες [hoitines] noch einmal hier an und führt den Gedanken weiter. Sie – Plural! –, das ist die Gruppe um Hymenäus und Philetus. Von ihnen sagt Paulus im Blick auf die Zukunft (προκόψουσιν [prokopsousin] ist eine Futurform), dass sie mit ihren Kommunikationsmethoden und -inhalten erfolgreich sein werden.25 Aus dem weltanschaulich mehr oder weniger neutralen heillos-leeren Geschwätz wird ἀσέβεια [asebeia], mit der die Griechen „das (fehlende ordnungsgemäße) Verhältnis zu den Göttern“,26 die griechisch sprechenden Juden aber auch die Durchbrechung des innerhalb des Bundesvolks ja selbstverständlich vorauszusetzenden Verhältnisses zu Gott durch entsprechendes Verhalten meinen. ἀσέβεια (16b) und
25 1Joh 2,19 unterscheidet zwischen Herkunft und wirklicher Zugehörigkeit von Gegnern. 26 P. Fiedler, Art. ἀσεβής κτλ., EWNT I, 405-407: 405.
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ἀλήθεια ([alētheia] – V. 15/18), die beide durch das Wort (λόγος [logos]) kommuniziert werden (V. 15/16f), stehen sich gegenüber. 17a ist eine zu 16b parallele Aussage, die veranschaulichen soll, was in 16b gesagt worden war. Für das erfolgreiche Um-sich-Greifen der falschen Lehre hatte Paulus ein Bild, das dem Leser sofort verständlich sein musste. Diesmal stammt es aus der Medizin, wo die Terminologie seit Hippokrates (5./4. Jh. v.Chr.) eingeführt und seit Plutarch, einem jüngeren Zeitgenossen des Paulus, auch im übertragenen Sinn bekannt ist: ihr Wort wird Weide haben wie ein Geschwür. Tertium comparationis ist das erfolgreiche Fortschreiten bzw. Um-sich-Greifen, das im zweiten Teil (17a) durch die Pluralität der Richtung (ὡς γάγγραινα [hōs gangraina]) einerseits, durch das Bild von dem Erfolg verheißenden Nährboden (νομὴν ἕξει [nomēn hexei]) andererseits vertieft und gesteigert wird. Das Wort für Geschwür (γάγγραινα) geht vermutlich auf das wenig belegte Verb γράω [graō] „nagen, essen“ zurück.27 In der Medizin versteht man unter einer Gangrän das Absterben von Gewebe, meist infolge von Blutunterversorgung und oft durch Infektion verstärkt.28 Damit ist gut abgebildet, was der Apostel seinem Schüler über die von ihm erwartete Entwicklung sagen wollte. Er sagte dies trotz seiner Überzeugung vom endlichen Sieg Christi über alle Widersacher. Solange Christus seine Herrschaft nicht sichtbar angetreten hat, ist mit dem Vorrücken aller Kräfte zu rechnen, die ihm feindlich gesinnt sind. Im Textzusammenhang ist ihr Wort (ὁ λόγος αὐτῶν [ho logos autōn]) das Instrument der Gegner. Sie arbeiten also mit vergleichbaren Methoden wie Paulus und seine Mitarbeiter und wie schon Jesus selbst. Allerdings ist deren Wort das Wort der Wahrheit (V. 15; vgl. Joh 17,17). 17b ist (genau wie 1Tim 1,20!) durch relativischen Anschluss mit 17a verbunden: Zu denen gehören Hymenäus und Philetus. Hymenäus war mit einem Alexander (s. auch zu 2Tim 4,14) zusammen schon im 1Tim 1,20 negativ erwähnt worden. Beide gehörten da zu einer Gruppe, von der Paulus schrieb, sie hätten das gute Gewissen „von sich gestoßen und hinsichtlich des Glaubens Schiffbruch erlitten“ (1Tim 1,19). Als Konsequenz hatte der
27 Liddell/Scott 335.360. 28 So für Laien verständlicher in http://de.wikipedia.org/wiki/Gangr%C3%A4n, gelesen am 27.04.2016. In medizinischer Fachsprache wird dieselbe Erscheinung so beschrieben: „Form der ischäm.[ischen] Nekrose mit Autolyse des Gewebes u.[nd] Verfärbung durch Hämoglobinabbau“ (Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, Berlin / New York 2602004, 620).
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2. Timotheusbrief
Apostel29 sie in Anwendung seiner Kompetenz und Ausübung seiner Autorität „dem Satan ausgeliefert, damit sie gezüchtigt werden und nicht [mehr] lästern“ (1Tim 1,20; vgl. auch 1Kor 5,5!).30 Interessanterweise sind offenbar beide Personen ein paar Jahre später immer noch aktiv, und zwar immer noch in bedrohlicher Weise: Hymenäus im Wirkungskreis des Timotheus (also wohl in Ephesus), Alexander dagegen anderswo, sonst würde Paulus seinen Schüler nicht darüber informieren müssen. Warum hat die Übergabe an den Satan nicht „gewirkt“? Von 1Kor 5,5 her wissen wir, dass diese Übergabe „zur Vernichtung des Fleisches“ erfolgte, „damit der Geist gerettet werde am Tag des Herrn.“ Das bei Paulus bekannte Gegensatzpaar „Fleisch – Geist“ (z.B. Röm 8,1-11) kommt hier am Ende seines Weges noch einmal zum Tragen. Ausführlich befasst sich Schnabel mit dem Verständnis der schwierigen Stelle 1Kor 5,1-5.31 Er vermutet in der Wendung „dem Satan übergeben“ „eine drastische Metapher für die Konsequenzen des Ausschlusses aus der Gemeinde“ und weist im Kontext der Aussagen über das Passamahl (1Kor 6,6-8) darauf hin, „dass nach Ex 12,23 das Passalamm die Israeliten vom [sic!] ‚Zerstörer‘ (LXX ὁ ὀλεθρεύων) beschützte …“, und weiter: „Paulus hofft, dass die Erfahrung, als Christ außerhalb der Gemeinde in der von satanischen Mächten beherrschten Welt leben zu müssen, den Unzüchtigen zur Besinnung und Umkehr bringt, so dass er seine sündige Lebensweise (σάρξ) ‚vernichtet‘ und er als Christ, der den Geist (πνεῦμα) besitzt, am Tag des Herrn gerettet werde … Von einer Wiederaufnahme in die Gemeinde spricht Paulus nicht, was aber nicht viel heißen muss. Er rechnet jedenfalls mit der Umkehr des Unzüchtigen, der im Endgericht gerettet wird. Der Ausschluss aus der Gemeinde soll also einerseits die Heiligkeit der Gemeinde als Tempel Gottes und Volk Gottes bewahren, andererseits soll er den Unzüchtigen zur Umkehr veranlassen.“32
Jedenfalls geht aus 1Kor 5,5 klar hervor, dass die „Übergabe an den Satan“ nicht unbedingt die Ablehnung im Endgericht zur Folge haben muss. Offen bleibt im Blick auf Hymenäus, ob es damals (1Tim 1,20) gar nicht zum Gemeindeausschluss gekommen ist, weil sich die Gemeindeleitung (gegen Timotheus?) nicht dazu durchringen konnte, ob Hymenäus nach erfolgtem Aus29 Apostolat und frühjüdisches ָשִׁליַח-Amt sind hier mit ähnlichen Kompetenzen ausgestattet gewesen, was ihr Gewicht steigert, aber auch ihre Umkämpftheit (bei Paulus etwa in Korinth) erklärt. 30 Man vgl. auch die Auslegung zu 1Tim 1,19f sowie T.C.G. Thornton, Satan – God’s Agent for Punishing. ET 83 (1971) 151f. 31 Schnabel, 1Kor, 271ff (bes. 281-284). 32 A.a.O. 284.
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schluss und Umkehr wieder aufgenommen wurde oder ob er seitdem von außen her am Rande der Gemeinde agiert. Mit allen drei Möglichkeiten müssen wir rechnen. Die Erfahrung zeigt, dass es Menschen gibt, die durch ihr Verhalten oder ihre „Lehre“ in einer Gemeinde immer wieder für Konflikte sorgen, und von denen sich zu trennen wegen ihres Einflusses oder ihrer Verbindungen gar nicht so einfach ist, selbst wenn man es wollte. Philetus findet sonst im NT keine Erwähnung. Es fällt auf, dass Hymenäus in 1Tim 1,20 und 2Tim 2,17 jeweils „im Doppelpack“ auftritt und jeweils an erster Stelle genannt ist. Möglicherweise hat er nach dem Weggang Alexanders (s. o.) einen neuen Kompagnon gefunden, der seine Ziele teilt und unterstützt. Es gibt offenbar auch ein aus der Sicht der christlichen Gemeinde negatives Prinzip der Zweierschaft – wenige Sätze später wird Paulus an Jannes und Jambres erinnern (2Tim 3,8). Die Motive für solche Partnerschaften liegen auf der Hand. Der Relativsatz in V. 18 gibt uns noch mehr inhaltliche Hinweise auf den λόγος (V. 17a) der Paulusgegner und darauf, wie der Apostel ihr Verhalten einschätzt. Die Wendung ἀστοχεῖν περί τινoς [astochein peri tinos] findet sich auch 1Tim 6,21, hier in Verbindung mit „Glaube“ statt „Wahrheit“33 und im Kontext einer Erwähnung der Gnosis. Sollte an beiden Stellen dieselbe Gruppe gemeint sein, liegt die Vermutung nahe, dass Wahrheit gegenüber „Glaube“ eine Steigerung darstellt: Nicht nur das persönliche Gottesverhältnis und die damit untrennbar verbundenen Glaubensinhalte sind nun das Problem, sondern „die Wahrheit“, also das, was Gott in Christus für Christen ist, insgesamt. ἀστοχέω [astocheō] kommt von στόχος [stochos] „die Säule, der Pfeiler“ bzw. in einem übertragenen Sinn dann auch „das Ziel“.34 ἀστοχέω steht von der Metapher, von der Konsequenz her auch theologisch ἁμαρτάνω/ἁμαρτία durchaus nahe. In 1Tim 1,6 kommt es noch einmal vor und beschreibt hier ebenfalls das Sich-Wegbewegen von christlichen Werten und Verhaltensweisen. 18b wird die Kernaussage der Gegner zitiert, die fast wie ein „Slogan“ klingt: die Auferstehung ist schon geschehen. Nicht erst seit 1Kor 15,3b-5 gehören Kreuz (im Sinne des Vergebung wirkenden Sühnetods Christi) und Auferstehung (im Sinne der bestätigenden Annahme dieses Opfers durch Gott-Vater) zum innersten Kern christlichen Glaubens. Wenn also hier (bei der Auferstehung) jemand Bedenken anmeldete, war das schon eine ernsthafte Angelegenheit. Allerdings müssen wir genau hinsehen, zuerst auf den Wort33 Zum Verständnis von „Wahrheit“ s. o. zu V. 15. 34 Liddell/Scott 1650.
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2. Timotheusbrief
laut des Textes:35 Noch die 25. Auflage des Nestle-Textes von 1963 verwies den bestimmten Artikel τήν (tēn) in den Apparat. NA27/28 hat ihn in eckigen Klammern im Text selbst. Ohne Artikel bliebe offen, welche Auferstehung gemeint ist: a) die von Jesus am Ostermorgen, b) die aller Toten zum Jüngsten Gericht oder c) irgend eine andere Art. Mit dem Artikel wäre unbedingt an eine bestimmte, den Hörern bekannte Auferstehung zu denken, immer noch mit den Möglichkeiten a) und b). Bei c) könnte nun die Taufe ins Spiel kommen, die Paulus selbst als ein „Mitsterben und Mitauferstehen mit Christus“ dargestellt hatte (Röm 6,4). Wenn der Apostel den Gegnern hier widerspricht, kann es nicht sein, dass sie dies in seinem Sinne gemeint haben. Es ist aber zu fragen, ob sie seine eigenen Aussagen (z.B. Röm 6,1-14; 2Kor 5,17; Eph 5,14; Kol 2,12f ) im enthusiastischen Sinn radikalisiert haben könnten, etwa so: „Mit der Bekehrung36 oder der Taufe sind wir gestorben und auferstanden und also schon im Himmelreich angekommen. Das hat Auswirkungen auf unser Leben. Die Grenzen, die uns früher als Christen gesetzt waren, gelten eigentlich nicht mehr. Mit einer weiteren Auferweckung am Ende der Zeit ist nicht mehr zu rechnen.“37 Im Gefolge von Paulus haben Vertreter der Alten Kirche schon früh und konsequent gegen die in 2Tim 2,18 geäußerte Überzeugung Stellung genommen.38 Weil aber die Auferstehung Jesu zur Abfassungszeit des 2. Timotheusbriefs auf jeden Fall schon geschehen war und auch die rechtgläubige Gemeinde daran nicht zweifelte, bleibt vom Inhalt her nur die Option b) übrig: Hymenäus, Philetus und ihre Gruppe behaupteten, die von Jesus und Paulus angekündigte Auferweckung aller Toten habe sich bereits ereignet. Wir sind immer noch auf der Suche nach dem Urtext! Inhaltlich spricht vieles für den bestimmten Artikel. Dasselbe gilt für die Belege: Der Artikel fehlt zwar in dem frühen und wertvollen Codex Sinaiticus ( א4. Jh., alexandri35 Ausführlich befasst sich mit diesem textkritischen Problem: Marshall 751-754. 36 Thiessen, Ephesus, 330f, denkt an „Texte der jüdisch-hellenistischen Missionsliteratur“ als Hintergrund. Er geht davon aus, dass die „Bekehrung als ‚Auferstehung‘ … fest in (hellenistisch-)jüdischer und (hellenistisch-)judenchristlicher Tradition verankert“ war (Zitat: 331). 37 J. Kremer, Art. ἀνάστασις κτλ., EWNT I, 217 schreibt richtig mit Blick auf Eph 5,14: „Der Sünder zählt zu den Schlafenden und Toten, während der Getaufte schon die Wirklichkeit der Auferstehung an sich erfährt … Die von diesem Taufverständnis her verständliche präsentische Eschatologie führte unter dem Einfluß gnostischer Gedanken zu der 2Tim 2,18 als Irrlehre gekennzeichneten Behauptung, ‚die Auferstehung ist schon geschehen‘.“ 38 Z.B. 2Klem 9,1 (Alter umstritten, wohl zwischen ca. 75 und 140 n.Chr.); Polycarp von Smyrna (gest. frühestens um 155 n.Chr.), Polyc 7,1; Justinus Martyr (Mitte 2. Jh.), Dial 80.
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nischer Text), in der Majuskel 048 (5. Jh.), der Minuskel 33 (9. Jh., alexandrinischer Text) sowie wenigen anderen Textzeugen. Den Text mit Artikel vertreten der Codex Alexandrinus A (5. Jh., alexandrinischer Text), Codex Ephraemi rescriptus C (5. Jh., byzantinischer Text / Koine), Codex Bezae Cantabrigiensis D (5. Jh., westlicher Text), Codex Athous Laurensis Ψ (8./9. Jh., Text mit אverwandt), sowie die Minuskeln 1739 (10. Jh., alexandrinischer Text) und 1881 und die Koine-Mehrheitstextgruppe. Während das Alter der ältesten Handschrift für die Auslassung spricht, rät die Verbreitung eher, zu dem längeren Text zu greifen, wie es die Herausgeber des NA27 schon taten – mit guten Gründen. Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir ihnen folgen. Die Rekonstruktion der Textentstehung lässt beide Möglichkeiten zu: Wir lesen τήν in V. 18 drei Mal. Der Abschreiber könnte es gewohnheitsmäßig eingefügt, aber auch wegen der Häufung unbeabsichtigt ausgelassen haben. Auferstehung (ἀνάστασις [anastasis]) kommt von dem Verb ἀνίστημι [anistēmi] „aufstellen, sich erheben, auferstehen“39. Beide kommen insgesamt 150 Mal im NT vor, davon 13 Mal bei Paulus. Es ist zunächst ein profanes Wort, das (transitiv oder intransitiv) in der griechischen wie in der biblischen Literatur mehr oder weniger alltägliche Vorgänge beschreibt. Nicht erst in der Bibel erhält das Wort die besondere Bedeutung einer „Totenauferstehung/auferweckung“. Oepke hat den doppelten Sinn bei den Griechen so auf den Punkt gebracht: „a. Totenauferstehung gilt als unmöglich. … b. Totenauferstehung gilt als vereinzeltes Wunder. … Fremd bleibt dem Griechen die Auferstehung aller Toten am Ende der Tage.“40 Damit spricht er auch das Problem unserer Stelle an: dass dem in den Spuren griechisch-hellenistischer Religion und Philosophie aufgewachsenen, gebildeten und denkenden Menschen die leibliche Auferstehung nach dem Tod ein erheblicher Anstoß, wenn nicht ein Gräuel sein musste, weil für ihn der materielle Körper der nicht so wichtige, deshalb zu vernachlässigende Teil des Menschen war. Ihm ging es um das Unsichtbare, um Seele und Geist. Insofern bewegten sich Hymenäus und Philetus ganz im Trend des damaligen Mainstream, hatten aber auch eine offene Tür in Richtung „Gnosis“.41 Treffend beschreibt Weiser z. St.: „Abgelehnt wird in V18 eine enthusiastische Überinterpretation diesseitiger Heilserfahrungen, bei der man die Auferstehung spiritualistisch-individualis-
39 J. Kremer, Art. ἀνάστασις κτλ., EWNT I, 210. 40 A. Oepke, Art. ἀνίστημι κτλ., ThWNT I, 369f. Belege dort. 41 Für einen gnostischen Hintergrund plädiert O. Knoch. 1. und 2. Timotheusbrief. Titusbrief. Neue Echter Bibel 14. Würzburg 21990, 58. Zur Kritik der Position vgl. Oberlinner 100f.
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2. Timotheusbrief
tisch verengt deutete und die Erwartung einer leibhaften universalen Vollendung ausschloss“.42
In der jüdisch-christlichen Literatur dagegen spielen Auferweckung und Auferstehung eine zunehmend stärkere Rolle. Angefangen mit einzelnen Berichten über Totenauferweckungen der frühen Prophetenzeit über Aussagen zur Auferstehungshoffnung in der Weisheitsliteratur finden wir auch „theoretische“ bzw. prophetische Darlegungen zu dem Thema allgemein etwa bei Jesaja, Hesekiel und schließlich Daniel. Dieser Trend setzt sich in den intertestamentarischen, den essenischen und pharisäischen Schriften fort, um die Hoffnungen dann im NT in Jesus Christus am Ostermorgen auf den Punkt zu bringen. Man könnte sagen: An Ostern hat Gott sein Veto („ich verbiete“) gegen die Macht des Todes gesprochen, indem er seinen Sohn Jesus vom Tode auferweckte. Folgerichtig haben Paulus und die anderen Jünger in Jesus den „Anbruch“, den „Erstling“ der erwarteten Auferstehung gesehen, dessen Auferweckung zugleich der Beweis dafür ist, dass Gott das tatsächlich kann – Tote auferwecken. Paulus spricht 1Kor 15,20 von der ἀπαρχὴ τῶν κεκοιμημένων [aparchē tōn kekoimenōn], Kol 1,18 von der ἀρχή [archē], dem πρωτότοκος ἐκ τῶν νεκρῶν [prototokos ek tōn nekrōn], worin bereits die Erwartung einer Fortsetzung der Auferstehung mitschwingt. Auch Jesus selbst hatte über seine eigene Auferstehung hinaus von einer erwarteten allgemeinen Auferstehung am Ende der Zeit mit den Sadduzäern, die solche Gedanken ablehnten, diskutiert (Mk 12,18-27 parr) und mit der vom Tod ihres Bruder Lazarus betroffenen Marta seelsorglich gesprochen (Joh 11,21-26). Im Spiegel der Apg finden wir Äußerungen des Paulus zu diesem Thema (Apg 23,6; 24,15), die in seinen eigenen Briefen ihr Äquivalent finden. Konkret wird der Apostel in 1Thess 4,13-18, wo er in seelsorglicher Absicht etwas genauer auf die Einzelheiten der im Eschaton erwarteten Auferstehung eingeht, während er Phil 3,11 lediglich andeutend von ihr spricht. 18c Trotz der Verwurzelung des Lehrtopos von der allgemeinen Auferstehung am Ende der Zeit haben sich in Timotheusʼ Arbeitsbereich manche durch die Hymenäus-Philetus-Gruppe in die Irre führen lassen. Sie zerstören den Glauben von einigen, schreibt Paulus. Glaube – das ist weniger ein Fürwahr-Halten von credenda als ein Hören auf Gott, ein Vertrauen auf Gott und ein Tun dessen, was Gott will. Dann erst fragt solcher Glaube natürlich über die Beziehung zu Gott hinaus auch nach deren „Unterbau“, z.B. nach der 42 Weiser 195; Towner 528 führt diese Auferstehungstheologie darauf zurück, „that Paul’s own baptismal/resurrection teaching had been misunderstood or misused“.
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Wirkmächtigkeit Gottes in der Welt, nach ihren Auswirkungen auf die Menschen, besonders die Christen, und nach der Hoffnung, die Glaubende haben. Die von Hymenäus und seinen Anhängern vertretene These musste zur Krise führen, sobald jemand aus dieser Gruppe starb. Denn dann musste eine Neuinterpretation des ewigen Lebens unter Absehung vom leiblichen Aspekt (also im Sinne der Gnosis und der Griechen) her, oder die Gruppe würde sich auflösen. Wir wissen nicht, ob dieser Zustand schon erreicht war, als der 2. Timotheusbrief geschrieben wurde – vermutlich eher nicht. Zerstören (ἀνατρέπειν [anatrepein]) meint im eigentlichen Gebrauch „umstürzen, zu Fall bringen“.43 Es lag nahe, daraus einen übertragenen, nicht-sächlichen Sinn abzuleiten, nämlich das Zerstören ganzer Familien (Tit 1,11 ist das einzige weitere Vorkommen im NT) oder – wie hier – des Glaubens. Das Simplex τρέπειν [trepein] heißt „wenden, drehen“. Der Glaube wird also „umgedreht“, wenn sich jemand den häretischen Gedanken öffnet. 19-21 Es ist erstaunlich, dass der Apostel nun in keine Diskussion mit Hymenäus & Co. eintritt, wie er es sonst (z.B. im Stil der Diatribe) schon getan hatte, auch nicht versucht, seine eigene Position zu verteidigen, zu erläutern und zu begründen. Er hat die Christen in Timotheusʼ Verantwortungsbereich im Blick, und für sie zeigt er Timotheus (seelsorglich), was sie wirklich tragen kann (V. 19) und warum es in der Gemeinde solche „Ausfälle“ geben kann (20f). Gegen das den Glauben zerstörende „Zu-Fall-Bringen“ (ἀνατρέπειν [anatrepein]) der Gegner bringt er das feste Fundament Gottes ins Spiel,44 verwendet also ein jedermann anschauliches Bild aus der Architektur, das er in Röm 15,20; 1Kor 3,10-12; Eph 2,20 (ähnlich 1Tim 6,19) schon eingesetzt hatte. Unserem Text am nächsten steht 1Kor 3,11: „Ein anderes Fundament kann niemand legen neben dem (schon) gelegten, das ist Jesus Christus“ – ein Satz, der bis heute zum katechetischen Grundmaterial christlicher Gemeinden gehört. Auch an unserer Stelle hebt der Apostel darauf ab, dass es eine tragfähige (στερεός [stereos] heißt „stabil, fest“) Grundlage für den angefochtenen Glauben gibt. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Gott zugehört und (von ihm?) durch ein Siegel (σφραγῖδα [sphragida]) beglaubigt und verschlossen ist. Man verwendete Siegel damals „a. als Zeichen für Authentizität und Autorität“, „b. zur Bestätigung eines Dokuments“, sowie „c. Sicherung
43 H. Balz, Art. ἀνατρέπω, EWNT I, 225. 44 Paulus denkt dabei sicher auch an die „feste“ Lehre, d.h. die zuverlässig überlieferten, einander fest zugeordneten Inhalte christlichen Glaubens, die nicht zur Disposition stehen, also nicht von jeder neuen Generation und in jeder veränderten Situation völlig neu konzipiert werden können.
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2. Timotheusbrief
durch Anbringen eines Siegels“.45 In unserer Zeit haben wir weitgehend andere Methoden gefunden, um diese drei Zwecke zu erreichen, aber wenn etwas wirklich rechtlich hieb- und stichfest sein muss, spielt das Siegel doch immer noch eine große Rolle. Schauen wir die Siegel Gottes mit den drei Zwecken eines Siegels im Hinterkopf näher an. Hatten die Gegner mit „Parolen“ punkten können, so kann Paulus das auch. Er greift aber auf biblische (bzw. apokryphe) Texte zurück. Zwei Sätze zitiert er: Der Herr kennt die, die ihm gehören. Es handelt sich um ein fast46 wörtliches Zitat aus LXX 4Mo 16,5. Der Kontext ist dort „Aufruhr und Untergang der Rotte Korach“, wie die Lutherbibel das Kapitel 4Mo 16 überschreibt. Es geht dort um die Frage, ob bzw. warum nur bestimmte Personen aus dem Stamm Levi (nämlich Aaron und seine Nachkommen) als Priester fungieren durften, und nicht alle Leviten bzw. sogar alle Israeliten (4Mo 16,3.10). Mose lädt die Opponenten zu einem Gottesurteil ein, bei dem sie alle umkommen (4Mo 16,31-33). Wenn nun Paulus ausgerechnet diese Stelle als ein Siegel des Fundaments heranzieht, so zeigt uns das erstens, dass er in seinen Opponenten, also der Gruppe um Hymenäus und Philetus, Personen sieht, die nach einer Autorität schielen, die ihnen nicht zusteht; zweitens besteht die SiegelFunktion darin, dass das Zitat die Authentizität des Fundaments von 19a und die Autorität des Apostels Paulus bestätigt. Die Gegner werden noch einmal von der Gemeinde isoliert, so wie es Mose auf Gottes Weisung hin (4Mo 16,24-26) mit der „Rotte Korach“ tat. Zu ergänzen ist, dass ἔγνω [egnō] (hebr. )ידעmehr als ein bloß äußeres Kennen im Sinne eines Informiertseins über etwas ist. Gemeint ist ein sehr persönliches, auf eine bestehende (Liebes-)Beziehung sich gründendes Kennen, also ein „Kennen-auf-Gegenseitigkeit“, das auch ein Anerkennen der Stellung beinhaltet, die jemand hat. Damit ist (häufig) auch ein Einstehen für den anderen verbunden. Weiter sollte die Zeitform beachtet werden: Der griechische Aorist kann verschiedene Bedeutungsnuancen ausdrücken.47 An unserer Stelle dürfte es sich um einen historischen48
45 R. Schippers, Art. Siegel, in: Das große Bibellexikon 1. Hg. v. H. Burkhardt u.a., Wuppertal/Gießen 1989, 1438-1442: 1438f. Der Artikel gibt einen guten Einblick in Bedeutung und Techniken in der Antike. 46 In LXX steht lediglich ὁ θεός anstelle von κύριος, das in vielen LXX-Handschriften dem hebr. Gottesnamen יהוהentspricht, wie er im masoretischen Text an dieser Stelle steht. Das Fehlen des bestimmten Artikels in 2Tim 2,19 könnte darauf deuten, dass es sich um eine eingeführte Formulierung handelt. 47 Vgl. dazu HvS §§192-194.199 u.ö. 48 A.a.O., §199b.
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oder (wahrscheinlicher) um einen effektiven49 Aorist handeln, was bedeutet, dass für den Schreiber das historische Ereignis der Geschichte des Gottesvolks oder das Abgeschlossensein des Vorgangs des Erkennens den Sinn bestimmt. Letzteres Verständnis würde Sinn ergeben, weil damit ausgedrückt ist, dass „der Herr“ bereits jetzt weiß, wer zu ihm gehört, und dass es da kein Schwanken mehr gibt. Hinzu kommt das zweite Siegel: Es trete weg von Unrecht jeder, der den Namen des Herrn nennt. Dem Bekanntsein bei Gott, der im ersten Siegel Subjekt ist, tritt also eine Aussage an die Seite, die das angemessene Verhalten von Menschen, die sich zu ihm bekennen, im Sinne einer Aufforderung thematisiert. War Gott Subjekt im ersten Zitat, so ist es im zweiten der Mensch. Es handelt sich um ein sog. „Mischzitat“, d.h. um ein aus verschiedenen Bibelstellen zusammengesetztes Zitat, wie es bei jüdischen Theologen damals gebräuchlich war. Paulus gibt sich dadurch als solcher zu erkennen. Die Analyse ergibt für die erste Satzhälfte Anklänge an den LXX-Text in Hi 36,10; Sir 17,26; 35,3, für die zweite Satzhälfte an Lev 24,16; Jes 26,13; Sir 23,10 (varia lectio). „Traditionellem atl.-jüd. Denken entspricht es, jede ἀδικία als ἁμαρτία (‚Sünde‘) zu bestimmen (1Joh 5,17). ἀδικία und ἁμαρτία sind so austauschbare Begriffe (Hebr 8,12; 1Joh 1,9)“, schreibt Limbeck.50 Später heißt es dann: „Im Unterschied dazu [nämlich zu Philo] ist die ἀδικία für Pls die mit der ἀσέβεια identische Grundhaltung des Menschen (Röm 1,18), der Gott als seinem Schöpfer den Lobpreis und Dank verweigert …, und so – als Lügner (3,7) – die ἀλήθεια, d.h. die in der Schöpfung offenbare Wirklichkeit Gottes niederhält …“51 Von einer solchen Haltung gilt es für Christen also Abstand zu nehmen. Mit traditionellen Wendungen in Form einer figura etymologica52 werden jene bezeichnet, die zu Gott gehören. Sie sind Menschen, die Gottes Namen im Munde führen bzw. (betend) anrufen. Das passt also offenbar nicht zusammen damit, dass jemand Sünde und Unrecht tut. κύριος [kyrios] am Anfang des ersten und am Ende des zweiten Zitats ist wohl kaum Zufall, sondern dient ebenso der Abgrenzung wie der inhaltlichen Markierung. 49 A.a.O., §199e. Dafür spricht auch die Bedeutung des hebr. Perfekt, das „den Nachdruck auf das Vollendetsein, Abgeschlossensein oder Vergangene einer Handlung oder eines Zustandes“ ausdrückt (Grether, Grammatik, 92). 50 M. Limbeck, Art. ἀδικέω, EWNT I,76. 51 A.a.O. 77. 52 Eine sprachliche Wendung, in der ein Verb und ein Substantiv vom selben Wortstamm benutzt werden.
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2. Timotheusbrief
20 Bricht der Apostel seiner scharfen, durch heilige Schrift unterlegten Argumentation nun mit dem Beispiel aus dem Haushalt nach dem Motto „So ist es nun mal in dieser Welt!“ die Spitze ab? Oder bestätigt er damit nur Jesu Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24-30) und die Lehre von der Kirche als einem corpus permixtum (einem Mischgebilde)? Wir werden sehen! Das δέ ordnet die beiden Verse (19/20) einander zu. Man ist beinahe geneigt, einschränkend zu übersetzen: „In einem großen Haushalt gibt es allerdings nicht nur goldene und silberne Geräte …“ Wieder beobachten wir ein für Paulus typisches Vorgehen: Er übernimmt zwar das Bild vom Hausbau („Fundament“) in den weiterführenden Gedankengang, gibt ihm aber eine neue Richtung, indem er vom materiellen Gebäudeteil zu dem übergeht, was sich auf dem Fundament an Leben im Gebäude abspielt. Im profan-klassischen Griechisch hatten οἶκος und οἰκία zunächst „unterschiedliche Bedeutungen; οἶ.[κος] war weiter gefaßt und bezeichnete das ganze Eigentum, οἰκία nur das Wohnhaus“, schreibt Weigandt.53 Das hat sich bis zur ntl. Zeit geändert, das Empfinden für die Nuance scheint aber an unserer Stelle noch nachzuklingen. Das Bild selbst ist deutlich: Je größer ein Haushalt (d.h. auch je mehr Mitglieder zu versorgen sind), desto mehr Haushalts- und Küchengeräte sind vorhanden und desto vielfältiger ist auch ihre Verwendung. Der Terminus οἰκία transportiert hier (im Zusammenhang mit dem Bild vom Gebäude) die Bedeutung „Hab und Gut“, meint also die zum Haus gehörenden Gegenstände, nicht die Personen. Übertragen auf die Ekklesiologie heißt das: Je größer eine Gemeinde, desto größer die Vielfalt der Mitglieder, und desto wahrscheinlicher ist es, dass es in ihr auch Menschen gibt, die es mit dem Glauben oder der Lehre nicht so ernst meinen bzw. die von der Mehrheitsmeinung mehr oder weniger deutlich abweichen – eine Beobachtung, die wir heute völlig unverändert übernehmen können. Das bekanntere Bild vom Leib und den Gliedern (Röm 12,4ff; 1Kor 12,12ff) steht inhaltlich daneben, wobei hier in der Beurteilung nicht wie 1Kor 12,22-24 der Gegensatz von τὰ δοκοῦντα μέλη τοῦ σώματος ἀσθενέστερα ὑπάρχειν und ἃ δοκοῦμεν ἀτιμότερα εἶναι τοῦ σώματος bzw. von τὰ δὲ εὐσχήμονα und τὰ ἀσχήμονα im Zentrum des Gedankengangs steht. Es geht hier um σκεύη χρυσᾶ καὶ ἀργυρᾶ ἀλλὰ καὶ ξύλινα καὶ 53 Peter Weigandt, Art. οἶκος, EWNT II, 1223 mit Hinweis auf Xenophon, Oeconomicus I 5, wo es genau um diese definitorische Frage geht. Vgl. auch den Exkurs von Engelmann, Drillinge 182-184 sowie die älteren, aber immer noch interessanten Überlegungen zur „Evangelisation im Hause“ von Michael Green, Evangelisation zur Zeit der ersten Christen. Motivation, Methodik und Strategie, Neuhausen-Stuttgart 1977, 239-257.
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ὀστράκινα, καὶ ἃ μὲν εἰς τιμὴν ἃ δὲ εἰς ἀτιμίαν, d.h. um Unterschiedlichkeit in dem Wert, den die Geräte haben, und in dem Ansehen, das sie durch ihren Wert und ihre ästhetische Schönheit ihrem Besitzer bringen. Dass aber auch sie zum Haushalt gehören, stellt Paulus bei aller Kritik weder hier noch dort infrage. Allerdings geht er davon aus, dass ein gegebener negativer Zustand nicht als unveränderbar hingenommen werden soll. Veränderung ist nötig und möglich (V. 21). Allgemeiner könnte man sagen: Hatte er sein Bild für die Beschaffenheit der Gemeinde in Röm 12 und 1Kor 12 aus dem anthropobiologischen Bereich entlehnt, so hier aus dem materiellen. σκεῦος [skeuos] ist der zentrale Begriff. Das griech. Wort bezeichnet allgemein „das Gerät“ jeglicher Art, dann aber auch „das Gefäß“. Ausgrabungen haben alle möglichen Haus- und Küchengeräte und -gefäße aus verschiedenen Materialien in großer Stückzahl ans Tageslicht gebracht, vom primitivsten Teller aus Ton oder Holz bis zu wertvollsten Stücken aus Edelmetall, Glas oder Porzellan. Plutarch klassifiziert einige Jahrzehnte nach Paulus in seiner Cäsar-Biographie die zum Essen bzw. Trinken bestimmten Gefäße nach denselben vier Materialien wie unser Text und berichtet, dass die Soldaten hölzerne und irdene Gefäße benutzen mussten, Caesar dagegen goldene und silberne zur Verfügung standen.54 Eine biblische Parallele bildet Nebukadnezars Traum von den vier Weltreichen in Dan 2, die durch eine Statue aus Gold (Kopf), Silber (Brust und Arme), Kupfer (Bauch und Hüften), Eisen (Schenkel) sowie Eisen und Ton (Beine) dargestellt wurden. Die zusammenfassende Aussage die einen zur Ehre, die anderen zur Unehre macht klar: Die verschiedenen Materialien sollen verschiedene „Qualitäten“ abbilden. Früher war es auch bei uns üblich, wertvolles Geschirr oder Gläser zur Besichtigung in Küche oder Esszimmer hinter Glas auszustellen („Präsentierteller“). So ähnlich müssen wir uns den Gedanken des Schreibers auch hier vorstellen: Manches Geschirr zeigt die Hausfrau gern jedermann, während anderes lediglich in der Küche zur Vorbereitung des Essens verwendet wird oder der Familie zum Essen dient. Auch an anderen Stellen verwendet Paulus das Bild von den „Gefäßen“: Röm 9,21-23 geht es im Zusammenhang mit der Erwählungslehre darum, dass Gott (in Gestalt des Töpfers) frei entscheiden kann, ob er aus demselben Tonklumpen ein „Gefäß zur Ehre oder zur Unehre“ herstellen kann (ποιῆσαι ὃ μὲν εἰς τιμὴν σκεῦος ὃ δὲ εἰς ἀτιμίαν [poiēsai ho men eis timēn skeuos ho de eis 54 Plutarch, Caes 48,7; die Biographien sind wohl nach 96 n.Chr. entstanden. Es handelt sich an der Stelle um den Bericht über eine Handlung des Cäsar-Feindes und Obereunuchen Cleopatras, Pothinus.
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atimian] Röm 9,21). In 2Kor 4,7 geht es um den „Schatz“ des Evangeliums, der – durch die Menschlichkeit der Boten gebrochen – in der Welt nur wie „in Tongefäßen“ (ἐν ὀστρακίνοις σκεύεσιν [en ostrakinois skeuesin]) aufbewahrt erscheint, also nicht in strahlend-göttlicher Überzeugungskraft, die alle Zweifel beseitigen würde. Schließlich gibt es die schwierige Stelle 1Thess 4,4, wo der Apostel im Zusammenhang mit Ehe und Sexualethik davon spricht, dass jeder Ehemann „sein eigenes Gefäß in Heiligkeit und Ehre besitzen“ solle (τὸ ἑαυτοῦ σκεῦος κτᾶσθαι ἐν ἁγιασμῷ καὶ τιμῇ [to heautou skeuos ktasthai en hagiasmō kai timē]). Ganz offensichtlich ist hier die Ehefrau gemeint, ein Gebrauch von σκεῦος, der auch sonst vorkommt.55 Immerhin passt der Vergleich einer Person mit einem Gefäß, und das Stichwort „Ehre“ (τιμή [timē]) fällt ebenfalls. Was ist aber mit τιμή bzw. ἀτιμία gemeint? τιμή hat seit frühester Zeit die beiden Bedeutungsaspekte des Immateriellen („‚Schätzung, Preis, Wert, Ehre‘“56) wie des Materiellen („‚Entschädigung, Buße, Strafe‘“57) und beim Materiellen nochmals die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Konnotation. Im Gegenüber zu ἀτιμία mit der Bedeutung „Unehre, Verachtung, Schande“58 kann es hier nicht um die materielle Bedeutung gehen. Ein schönes, wertvolles Gefäß bringt dem Besitzer Anerkennung und Ehre, ein hässliches, wertloses dagegen nicht – man lässt es besser niemand sehen. Das ergibt unter dem Strich für das Verständnis von V. 20: Paulus räumt ein, dass es in der Gemeinde nicht nur solche Gemeindeglieder gibt, auf die man stolz sein kann und mit denen man sich gern auch nach außen präsentiert, sondern auch andere, die mit Blick auf ihr Verhalten, ihren Lebenswandel, nicht vorzeigbar sind, nicht fromm genug, dogmatisch nicht „linientreu“, immer für eine Überraschung (und Enttäuschung) gut. Zu diesen rechnet er offenbar die Gruppe um Hymenäus – aber immerhin zählt er sie zur Gemeinde, jedenfalls aktuell. 21 Der Apostel verfolgt mit seiner Argumentation offenbar eine Doppelstrategie: Gegenüber den Gegnern selbst nimmt er eindeutig Stellung und weist auf den Schaden hin, den sie anrichten. Gegenüber ihren tatsächlichen oder potentiellen Anhängern bemüht er sich um Integration. Deshalb zeigt er ihnen einen Weg zurück in die Gemeinde: Wenn sich also jemand gründlich von diesen gereinigt hat, wird er ein Gerät zur Ehre. ἐάν [ean] ist eine konditionale Konjunktion, was bedeutet, dass Paulus nicht von dem Zeitpunkt ihrer 55 Vgl. dazu z.B. die Ausführungen von I.H. Marshall. 1 and 2 Thessalonians. NCBC, Grand Rapids / London 1983, 107-110. 56 H. Hübner, Art. τιμή, EWNT III, 856. 57 A.a.O. 857. 58 H. Hübner, Art. ἀτιμία, EWNT I, 426.
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Rückkehr spricht, sondern von der Bedingung, an die sie geknüpft ist (grammatisch „casus eventualis“ oder „prospektiver Fall“)59. οὖν [oun] ist eine folgernde Konjunktion. ἐκκαθαίρειν [ekkathairein] bedeutet wie das verbum simplex „reinigen“, wobei der folgende Akkusativ den Gereinigten bezeichnet, der in diesem Fall mit dem Reinigenden identisch ist (ἑαυτόν [heauton]). Mit ἀπό ist angehängt, wovon er sich gereinigt hat. Anders als in unserer Umwelt und auch wesentlich stärker als bei den Griechen war die Frage nach der Reinheit für den Juden, der Timotheus ja war, ein leitender Aspekt des Denkens. Thyen schreibt (mit Verweis auf C. Lévi-Strauss): „Mögen anderswo Werte wie ‚Gleichheit‘, ‚Ehre‘ oder ‚Gerechtigkeit‘ dominieren, so stehen in Israel an der Spitze der Pyramide die einander kontrastierenden Sphären von ‚rein‘ und ‚unrein‘.“60 Reinigung erfolgte nach dem AT auf unterschiedliche Weise (vgl. z.B. die Angaben in 3Mo 12–15), u.a. durch Darbringung von Opfern, Waschungen oder Besprengungen. Häufig wird der Aspekt „rein/ unrein“ im Zusammenhang mit dem Aspekt der Heiligkeit gesehen (vgl. etwa 3Mo 11,44 u.ö.). Um kultisch-religiöse oder soziale Reinheit geht es aber hier nicht. Der „Schmutz“ besteht vielmehr in übernommenen „theologischen“ Überzeugungen (vgl. V. 18), deren sich die damit Behafteten entledigen sollen. Es geht, wenn man so will, um Fragen der Dogmatik. Wie das geschehen soll, schreibt Paulus nicht – also offenbar nicht irgendwie rituell. Ist es aber geschehen, wird aus dem Gerät zur Unehre wieder ein Gerät zur Ehre, das man vorzeigen kann. Diese Zielbeschreibung wird durch eine dreigliedrige Liste ergänzt, die sich wie ein Tugendkatalog liest: geheiligt, brauchbar für den Hausherrn, für jede gute Arbeit bereit. Das erste und dritte Glied ist jeweils ein Perfektpartizip, das mittlere ein Adjektiv. ἡγιασμένον [hēgiasmenon] von ἁγιάζειν [hagiazein] „weihen, heilig machen“ hängt wie die ganze Wortfamilie ἅγιος [hagios] mit dem Verb ἅζομαι [hazomai] zusammen. Es hat die Bedeutung „‚(sich) in Ehrfurcht scheuen‘ … und bezieht sich ursprünglich auf das machthaft in Erscheinung tretende Göttliche, das Furcht und Scheu verdient.“61 Das Verb ἁγιάζειν „benennt … den Vorgang der Zueignung und Übergabe von Sachen und Personen an Gott, wodurch diese dem alltäglichen Zugriff entzogen werden“, schreibt Balz.62 In LXX steht die Wortfamilie meist für hebr. [ קדשׁqdsch], „weil es … die Heiligkeit Gottes als einen in der Macht und Vollkommenheit Gottes begrün59 60 61 62
HvS §§252,18; 280c. H. Thyen, Art. καθαρός κτλ., EWNT II, 536. H. Balz, Art. ἅγιος κτλ., EWNT I, 42. A.a.O. 43.
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deten und von daher den Menschen aus einer außer- und überweltlichen Wirklichkeit treffenden Anspruch aussagbar machte“.63 Wer in diesem Sinne geheiligt ist, gehört eigentlich in Gottes Welt, wenn dieser Zustand äußerlich auch nicht nachweisbar, nicht objektivierbar ist. Es hat inhaltlich-theologisch mit diesem Verständnis von Heiligkeit zu tun, wenn Paulus für die Bezeichnung der Gemeinschaft der Heiligen auf den griechischen Begriff ἐκκλησία [ekklēsia] zurückgreift, der (ursprünglich) „die (Gesamtheit der) Herausgerufenen“ bezeichnete und inzwischen „technischer Ausdruck für die aus den stimmberechtigten freien Männern bestehende Volksversammlung geworden“ war.64 Wäre damit die oben gestellte Frage, wem die Gereinigten Ehre machen, noch nicht beantwortet, so bringt die zweite Kategorie darin wenn nicht Klarheit, so doch wenigstens eine Tendenz: Sie sind nun brauchbar für den Herrn geworden. Für Herr steht an dieser Stelle das im NT sonst eher seltene δεσπότης [despotēs], das das Herrsein im Gegensatz zum Sklaven unter dem Aspekt des Besitzrechts akzentuiert.65 Indem der Titel κύριος [kyrios – vgl. V. 19!] vermieden wird, stellt der Schreiber gleichzeitig den Bezug zum Bild vom Haushalt (V. 20) her. Damit dürfte doch wohl, wenn der Schreiber nicht hier in das Bild zurückspringt, das er mit der Qualifizierung geheiligt ja schon verlassen hatte, Gott bzw. „der Herr“ (V. 19) gemeint sein. χρηστός heißt „brauchbar, geeignet, tüchtig, gut“66 und ist sicher nicht zufällig in römischer Zeit ein beliebter Sklavenname gewesen. Die Vorsilbe εὐ- steigert das noch. Über den entflohenen Sklaven Onesimos, dem er wohl im Gefängnis begegnet ist, schreibt Paulus an dessen Herrn Philemon (Phlm 11) ebenso wie an Timotheus über (Johannes) Markus (2Tim 4,11), er sei ihm εὔχρηστος [euchrēstos]. Auf die Feststellung des „geistlichen“ Status und der Nützlichkeit im Dienst Gottes, die sich daraus ergibt, folgt als dritter Schritt die Feststellung der Fähigkeit zu ethisch gutem Handeln: für jede gute Arbeit bereit (εἰς πᾶν ἔργον ἀγαθὸν ἡτοιμασμένον [eis pan ergon agathon hētoimasmenon]). Das mehrfache Vorkommen von ἔργον ἀγαθόν in den Pastoralbriefen ist bekannt. Wir haben es im Rahmen der Ethik, nicht der Rechtfertigungslehre verstanden,67 d.h. im Sinne der aus dem Glauben automatisch erwachsenden Frucht. Paulus benutzt gelegentlich die Wendung εἰς/πρὸς πᾶν ἔργον ἀγαθόν (2Kor 9,8; 2Tim 2,21; 3,17; Tit 1,16; 3,1). Als Adjektive bzw. Partizipien verwendet 63 64 65 66 67
Ebd. J. Roloff, Art. ἐκκλησία, EWNT I, 999. G. Haufe, Art. δεσπότης, EWNT I, 697. Bauer/Aland 1767. Vgl. die Auslegung zu Tit 1,16 und besonders 3,1.
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er in diesem Zusammenhang auch ἐξηρτισμένος [exērtismenos] („zubereitet, ausgerüstet“ 2Tim 3,17), ἀδόκιμος [adokimos] („untüchtig, unbrauchbar“ Tit 1,16) und ἕτοιμος [hetoimos] („bereit, entschlossen“ Tit 3,1). 2Tim 3,17 geht es um die Beschaffenheit bzw. die Fähigkeit eines Menschen, der zu Gott gehört. Das Wort ἡτοιμασμένον [hētoimasmenon] meint „befähigt/bereit“. Fassen wir zusammen, so ist es der Vorgang der Heiligung, der eine Rückkehr im Sinne von V. 21a möglich macht, ja bewerkstelligt. 1Thess 4,3 hatte Paulus die Christen in Thessalonich in ethischem Zusammenhang und mit konkreten Anweisungen verbunden aufgefordert, sich zu heiligen. Er hatte dies sogar als „Gottes Willen“ bezeichnet (τοῦτο γάρ ἐστιν θέλημα τοῦ θεοῦ, ὁ ἁγιασμὸς ὑμῶν) und die Heiligung der Christen damit auf eine Stufe gestellt z.B. mit der missionarischen Bemühung um alle Menschen, von der er 1Tim 2,4 sprach. Nach Balz hat das Wort ἁγιασμός „seine entscheidende Funktion in der ntl. Paränese, … zur Bezeichnung des Gesamtzieles des neuen Lebenswandels der Glaubenden“.68 Zum Beleg verweist er auf Röm 6,19.22; 1Thess 4,7; 1Tim 2,15; 2Thess 2,13. Damit ist der Rahmen beschrieben, innerhalb dessen Paulus hier über die Dissidenten spricht. Vers 22 bringt ziemlich abrupt einen neuen Einsatz. Mit τὰς δέ [tas de] wird allein in unserem Textabschnitt drei Mal (V. 16.22.23) ein Absatz signalisiert. Der Autor wendet sich jetzt wieder (nach V. 15) direkt dem Adressaten zu: Die jugendlichen Begierden fliehe, rät der Apostel seinem Schüler, ohne aber genauere Angaben zu machen. Über das Alter des Timotheus können wir keine genauen Aussagen machen. Mutter und Großmutter lebten vielleicht noch, als der 2. Timotheusbrief geschrieben wurde. Er selbst wird in 2Tim 1,2; 2,1 (sicher im geistlichen Sinne) als „Kind“ des Paulus bezeichnet, was eher etwas über ihr vertrauensvolles Verhältnis als dem eines älteren zu einem deutlich jüngeren Christen aussagt.69 Wohl kaum zufällig sind Jugendlichkeit (vgl. νεωτερικάς [neōterikas]) und das daraus folgende Verhalten bzw. die sich ergebenden Beziehungen im 1/2Tim öfter ein Thema (vgl. z.B. 1Tim 4,14; 5,1f.11.14). ἐπιθυμία [epithymia], ein an sich positiv wie negativ anzuwendender Begriff, wird im NT (wohl auch im Anschluss an zeitgenössische jüdische Denkweise) „fast ausschließlich – anders als in LXX – im negativen Sinn gebraucht: die (böse) Begierde“.70 Sexualität spielt dabei eine wichtige 68 H. Balz, Art. ἅγιος κτλ., EWNT I, 41. Das Substantiv ἁγιασμός geht auf das stets transitiv vorkommende Verb ἁγιάζειν [hagiazein] zurück. Es ist ein nomen actionis, das eine Handlung beschreibt, die jemand an einer Sache oder Person vornimmt. Subjekt können dabei Gott, Christus oder auch die (glaubenden) Menschen sein. 69 Zur Person des Timotheus vgl. den Exkurs in meinem Kommentar zu 1Tim, 20f. 70 H. Hübner, Art. ἐπιθυμία κτλ., EWNT II, 69.
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Rolle, ist aber nicht der einzige Bereich, in dem Begehren stattfindet. Bei Paulus (Röm 7,7ff) und bei Jakobus (1,13ff) ist Begierde der Schritt auf die „schiefe Ebene“, auf der es kein Halten mehr gibt, weil aus ihr, wenn ihr nicht widerstanden wird, die Sünde und der Tod folgt. Deshalb rät der alte Paulus Timotheus, der sich in den besten Jahren befindet, von der Begierde Abstand zu halten, ja sich von ihr zu entfernen (φεῦγε [pheuge]). Kaum zufällig „verlinkt“ der Schreiber die beiden Imperative, indem er sie unmittelbar nebeneinanderstellt. Verfolge aber Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden mit denen, die den Herrn aus reinen Herzen anrufen, empfiehlt er ihm. διώκειν [diōkein] bedeutet u.a. „hinter etwas hersein, etwas erstreben, nach etwas trachten“.71 Er stellt den vermutlich eher konkreten, aber nicht beim Namen genannten Gegenständen jugendlicher Begierde eine Viererliste eher abstraktallgemeiner, dafür theologisch hochkarätiger, also erstrebenswerter Begriffe gegenüber: Gerechtigkeit, Glaube, Liebe, Frieden. Die Frage ist, warum Paulus im Kontext der νεωτερικὰς ἐπιθυμίας [neōterikas epithymias] gerade diese Inhalte erwähnt. Gerechtigkeit (δικαιοσύνη [dikaiosynē]) war schon in der vor-ntl. griechischen Literatur, Philosophie, Soziologie und Denkweise ein einflussreicher Begriff, der gemeinsam mit Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung zu den „Tugenden“ gezählt wurde. Der Grundsatz der Gleichheit und Gleichbehandlung von Gleichem (z.B. vor dem Gesetz der Stadt), aber auch die persönliche Integrität und Rechtschaffenheit spielte soziologisch und politisch eine wichtige Rolle. Daneben nährt sich der ntl. Gerechtigkeitsbegriff aber aus einer anderen, für ihn noch wirksameren Quelle, nämlich aus dem atl. Denken. [ ְצָדָקהzedaqah] ist nicht so sehr auf Gleichbehandlung aus (obwohl eine individuell angemessene Gleichbehandlung letztlich eine logische Konsequenz auch des hebr. Verständnisses ist), als auf das Entstehen und Bewahren einer persönlichen Beziehung.72 Dies ist auch der Grund, warum das hebr. Wort oft mit „Gemeinschaftstreue“ oder „gemeinschaftsgemäßes Verhalten“ wiedergegeben wird.73 Ein Mensch ist nicht erst dann „gerecht“, wenn er bestimmte Anforderungen erfüllt (im Sinne eines „Abhakens“ von Rechten und Pflichten nach dem Gesetz), sondern wenn er in einer lebendig gestalteten guten Beziehung (zu Gott bzw. zu den Menschen um sich herum) lebt und wenn er sich so verhält, dass diese Beziehung nicht gestört, verletzt oder zerstört wird. Das angemessene Verhalten ist also nicht Voraussetzung für eine Beziehung, son71 O. Knoch, Art. διώκω κτλ., EWNT I, 816. 72 K. Kertelge, Art. δικαιοσύνη, EWNT I, 784-796, bes. Sp. 785-787; vgl. zum hebr. Begriff insgesamt den Art. צדקvon K. Koch in THAT II, 507-530. 73 A.a.O. 515f.
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dern ihre Folge und Konsequenz. Dies entspricht dem, was Paulus und Jakobus über das Verhältnis von Glauben und Verhalten („Frucht“) sagen. Speziell für unsere Stelle gilt, was Kertelge mit Blick auf mehrere Vorkommen im NT schreibt: „In letzterer Bedeutung eignet dem Begriff stärker als im AT die im griech. Sprachgebrauch dominierende Komponente sittlicher Rechtschaffenheit“.74 Hier nun können wir leicht eine Verbindung zwischen den jugendlichen Begierden und der empfohlenen Gerechtigkeit herstellen. Der „jüngere“ Mensch (eine Grenzangabe beim Lebensalter empfiehlt sich wegen der individuellen Unterschiedlichkeit nicht!) lebt in der Regel stärker im Bereich des 1. Artikels, also des schöpfungsmäßig-natürlich Körperlichen, während der „ältere“ Mensch aus verschiedenen Gründen mehr im 3. Artikel, dem des Geistlichen, der Reife und Erfahrung, der Weisheit lebt. Ist es leichter für Christen als junge oder als alte Menschen zu leben? Es gibt Attraktionen, die Ältere zur Sünde führen, und solche für Jüngere. Jeder muss die Aufgaben bewältigen und die Grenzen einhalten, die ihm gestellt sind. Glaube (πίστις [pistis]) steht theologisch mit Gerechtigkeit in enger Beziehung. Er ist gehorsames Vertrauen auf Gott und vertrauensvoller Gehorsam ihm gegenüber, d.h. er hat eine doppelte Ausrichtung, vertikal und horizontal. Glaube bewirkt nicht Gerechtigkeit oder Rechtfertigung, sondern er nimmt sie dankbar als Gottes Geschenk an. Wenn aber Gottes Wort und Geist in dem gerechtfertigten Menschen zu arbeiten beginnen, wird er nicht bleiben, wie er vorher gewesen war. Das gilt nicht für das äußerliche Erscheinungsbild, auch nicht für körperliche oder charakterliche Schwächen, aber doch für die Art zu denken und sich zu verhalten. Christen machen die Erfahrung, dass sie verändert werden (vorausgesetzt es ist ihnen ernst damit, dass „Glauben“ auch „Gehorsam“ impliziert), leider nur langsam und niemals vollständig. So betrachtet ist die Empfehlung an Timotheus, dem Glauben zu folgen und nicht dem Drängen der jugendlichen Begierden, eher als Ermutigung zu verstehen. Der Begriff der Heiligung (V. 21) steht noch einmal im Hintergrund. Liebe (ἀγάπη [agapē]) hat im Sprachgebrauch des NT einen besonderen Platz und ein großes Gewicht.75 Allein im 2. Timotheusbrief kommt es als Substantiv oder Verb sieben Mal vor. Sein besonderes Profil ergibt sich durch den Vergleich mit den beiden anderen infrage kommenden griechischen Wörtern, ἔρως [erōs] und φιλία [philia]. Während Ersteres eine im Grunde egozentrische, unbeherrschte Liebe meint, die eigentlich gar keine dem Gegenüber zugewandte Liebe ist, und der zweite Begriff eher in Richtung 74 A.a.O. 786. 75 Vgl. den Exkurs in meiner Auslegung zu 1Tim 1,5.
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„Freundschaft“ im platonischen Sinn geht, beinhaltet das im NT deutlich vorherrschende Wort ἀγάπη sowohl die bewusste und auf Dauer angelegte Entscheidung für das geliebte Gegenüber, als auch die Bereitschaft zur Hingabe an und für ihn oder sie und damit zum Verzicht auf eigene Vorteile, unter Umständen auf eigenes Glück. Von einem erfahrenen Seelsorger stammt der Satz: „Wer glücklich werden will, sollte nicht heiraten, aber wer glücklich machen will.“ Damit ist (einseitig zugespitzt) eigentlich alles gesagt im Blick auf ἀγάπη-Beziehungen zwischen Menschen. Die Frage, ob das denn ein „Gott der Liebe“ sein könne, der seinen Sohn qualvoll für die Menschen sterben lässt, ist überhaupt nur von der Einheit von Gott-Vater und Gott-Sohn einerseits und von Gottes Liebe zu den Menschen in dem eben skizzierten Sinne andererseits zu beantworten. – Die Andeutungen, die Paulus an Timotheus macht (mit Blick auf die „jüngeren Witwen“ und ihre „Begierden“ 1Tim 5,11)76 lassen sich in diesem Zusammenhang schon einordnen. Ihm wird klar der Weg gewiesen in Richtung ἀγάπη statt ἔρως. Frieden εἰρήνη [eirēnē] ist das vierte Stichwort für Timotheus. Im corpus Paulinum kommt es 43 Mal vor, in den Pastoralbriefen lediglich vier Mal. Auch hier steht der Sprachgebrauch des hebr. Äquivalents [ ָשׁלוֹםschalōm] im Vordergrund, das im profanen wie im religiösen Bereich verwendet wurde. Es ist von der Wurzel „ שׁלםgenug haben“ abgeleitet und hängt wohl wie diese „mit der Grundvorstellung des Bezahlens und Vergeltens eng zusammen“ – positiv wie negativ konnotiert.77 In der Reihe der vier Termini kann man Brücken zu Gerechtigkeit, Glauben und Liebe feststellen, denn Frieden ist das Ergebnis eines Lebens, das diese drei zum Thema hat. Es gilt für Beziehungen zu Christen wie zu Nichtchristen (Röm 12,18), hat aber häufig bei Paulus theologische Dimensionen (vgl. vor allem Röm 5,1; 1Kor 7,15; Eph 2,14; Kol 1,20), auch indem „Friede“ zum Inbegriff des Heils selbst wird. Unserer Stelle nahe steht Röm 14,17, wo der Apostel im Zusammenhang mit dem jeweiligen Verhalten der „Starken“ und „Schwachen“78 die Gemeinschaft der Glaubenden, also das Reich Gottes, bestimmt, indem er sagt: „Nicht ist nämlich die Königsherrschaft Gottes Nahrung und Getränk, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist.“
76 Zu dem dort gebrauchten Terminus καταστρηνιάω vgl. J. Roloff, EKK, 296 Anm. 373. 77 G. Gerleman, Art. שׁלם, THAT II, 927f. Ob man ihm insgesamt zustimmen sollte, ist aber eine andere Frage. 78 Wer damit gemeint ist, untersucht V. Gäckle. Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom: Zu Herkunft und Funktion der Antithese in 1 Kor 8,1 –11,1 und Röm 14,1 – 15,13. WUNT II/200, Tübingen 2005.
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Paulus bleibt aber nüchtern: Dies alles – Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden – und der Auftrag, sich darum zu bemühen, ist nicht auf die ganze Welt fokussiert, sondern (zunächst) auf die Gemeinschaft mit denen, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen. Gemeinsam mit ihnen soll Timotheus nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe und Frieden trachten.79 ἐπικαλέω [epikaleō] verwendet der Apostel im Aktiv, Passiv oder Medium in seinen Schriften an sechs Stellen. Es bedeutet aktiv/passiv u.a. vor dem Hintergrund atl. Redeweise „anrufen, nennen“, im Medium „zu seinen Gunsten herbeirufen“, und zwar z.B. die Götter „anrufen“. Nach Röm 10,14f ist der Glaube die Voraussetzung des Anrufens, das Anrufen des Namens des Herrn (Jesus) aber die Voraussetzung für das Gerettetwerden, also die Erlangung des Heils. Daraus wird dann ἐπικαλουμένος τὸ ὂνομα κυρίου [epikaloumenos to onoma kyriou oder abgekürzt τὸν κύριον – „den Namen des Herrn [bzw. den Herrn] anrufen“] zur festen Bezeichnung für den Glaubenden, ähnlich wie 2Tim 2,19 der den Namen des Herrn nennt. Aus dem ὀνομάζειν [onomazein] im Zitat von V. 19 ist hier ein ἐπικαλεῖν [epikalein] geworden. Röm 10,13 hatte Paulus aus Joel 3,5 zitiert: „Es wird nämlich jeder gerettet werden, der (auch immer) den Namen des Herrn anrufen wird.“ Was ist aber mit dem „Anrufen“ gemeint? Zunächst denkt man an das Gebet, in dem ja auch der Name Gottes bzw. Jesu Christi als Anrede verwendet wird. Ein Rest dieses Sprachgebrauchs ist in dem liturgischen Fachbegriff „Epiklese“ erhalten geblieben.80 Das ist aber hier vermutlich nicht gemeint. Vielmehr ist Röm 10,9-13 „als bekennendes Rufen zu verstehen, wobei der atl. semantische Hintergrund, wonach mit der Namensnennung ein Eigentumsbezug (auch im Sinne eines Rechtsanspruches) hergestellt wird, mitzuberücksichtigen ist“, wie Kirchschläger schreibt.81 Er spricht auch von einer „liturgische[n] Akklamation“, die in Röm 10,14 „durch die Bezugsetzung zu πιστεύω noch verdeutlicht“ wird.82 Handelt es sich um ein einmaliges Bekenntnis (etwa bei der Taufe)? Das Anrufen des Namens Gottes würde dafür sprechen, weil und sofern dadurch ein Eigentumsverhältnis herbeigeführt oder anerkannt wird. Die Nähe zur Taufe liegt auf der Hand. Oder wurde es (im Gottesdienst?) wiederholt und damit aktualisiert? Vermut79 Die Auslegungsalternative wäre, dass er nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe und Frieden in seinem Verhältnis mit ihnen trachten solle. Marshall, der diese Variante ablehnt, begründet seine Entscheidung damit, dass es im Zusammenhang (V. 24f) ja gerade um das Verhalten gegenüber den Gegnern gehe (764). 80 Nach F. Kalb, Grundriss der Liturgik. Eine Einführung in die Geschichte, Grundsätze und Ordnungen des lutherischen Gottesdienstes, München 21982, 336, ist damit die „Bitte um Herabsendung des Heiligen Geistes auf Brot und Wein des Abendmahls“ gemeint. 81 W. Kirchschläger, Art. ἐπικαλέω, EWNT II, 73. 82 Ebd.
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lich trifft Letzteres zumindest auch zu, was die Verwendung des Präsens und die Bezeichnung der Vielen, die Gott (immer wieder) anrufen, nahelegt. Also: Timotheus soll danach streben, gemeinsam mit allen Glaubenden gegenüber den zuvor charakterisierten Gegnern Gerechtigkeit, Glauben, Liebe und Frieden zu leben. Worauf ist dann die zweite Apposition aus reinem Herzen (ἐκ καθαρᾶς καρδίας [ek katharas kardias]) zu beziehen? Wir könnten es im Sinn einer inclusio als adverbiale Ergänzung zum Hauptverb δίωκε [diōke] nehmen: „Verfolge aus reinem Herzen Gerechtigkeit“. Andererseits hatte Paulus die Liebe schon 1Tim 1,5 durch Hinzufügung von „aus reinem Herzen“ beschrieben. Die dritte und naheliegende Option ist, die Apposition auf jene zu beziehen, die den Herrn … anrufen. Diese Grenzziehung könnte sich erneut auf Leute wie Hymenäus, Philetus u.a. beziehen, bei denen das eben nicht aus reinem Herzen geschieht (vgl. V. 21). Außerdem dürfte diese Beschreibung im Gegenüber zu den jugendlichen Begierden zu sehen sein: Wer sich von ihnen einnehmen lässt, kann Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden nicht aus reinem Herzen leben. 23 Gegen Ende des Abschnitts nimmt der Verfasser noch einmal das Thema „Reden/Sprache“ im weiten Sinne auf (V. 14: μὴ λογομαχεῖν [mē logomachein]). Die törichten und nicht von Bildung zeugenden Wortgefechte weise aber zurück in dem Wissen, dass sie [nur] Streitigkeiten hervorbringen. Zum Zurückweisen (παραιτέομαι [paraiteomai]) hatte Paulus Timotheus (und Titus) schon in verschiedenen Zusammenhängen aufgefordert (1Tim 4,7; 5,11; Tit 3,10). Unserer Stelle am nächsten steht 1Tim 4,7, wo er „die heillosen und altweiberhaften Mythen“ zurückweisen soll, es also auch um sprachliche Äußerungen geht. Hier sind es nun Wortgefechte (der Text lässt auch die Übersetzung „Untersuchungen“ zu, die aber m.E. weniger wahrscheinlich ist83). Der griechisch gebildete Mensch diskutierte schon immer gern auf hohem Niveau. Das zeigen nicht nur die Dialoge eines Sokrates bzw. Plato, sondern auch die literarische Form der sog. kynisch-stoischen Diatribe und in der Praxis die Athen-Szene in Apg 17,17ff. Paulus, der selbst in dieser Disziplin nicht ungeübt war, bemängelt hier vor allem das Niveau der Gespräche. Sie seien μωρὰς καὶ ἀπαιδεύτους [mōras kai apaideutous]. Das Adjektiv μωρός „dumm, töricht“ verwendete der Apostel zusammen mit den Begriffen ζητήσεις καὶ γενεαλογίας καὶ ἔρεις καὶ μάχας νομικὰς [zētēseis kai genealogias kai ereis kai machas nomikas] in Tit 3,9 sowie an anderen Stellen, besonders im Gespräch mit den sich für klug haltenden Korinthern. ἀπαίδευ83 Vgl. dazu Bauer/Aland 670f mit Blick auf das Nebeneinander von ζητήσεις καὶ λογομαχίας – vgl. 2Tim 2,14. Der Begriff wird auch schon 1Tim 6,4 verwendet.
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τος bezieht das Gesprächsniveau auf die (in der hellenistischen Gesellschaft für viele sehr wichtige) Bildung. Man könnte sagen: „Wer so redet, hat keine gute Bildung erhalten, versteht nicht, worüber er spricht.“ Mit μάχη [machē] sind im NT keine Kriege oder militärischen Kämpfe gemeint, sondern Auseinandersetzungen mit Worten und um Worte bzw. Überzeugungen. Trotzdem gilt, „daß geradezu alles μάχεσθαι als dem Christen nicht anstehend abgelehnt wird“, wie Bauernfeind schreibt.84 24 Das Entstehen von Konflikten (εἰδὼς ὅτι γεννῶσιν μάχας [eidōs hoti gennōsin machas] V. 23) wird mit μάχεσθαι [machesthai] aufgenommen. Gemeint ist offenbar weniger, dass Timotheus selbst keinen Streit vom Zaun bricht – diese Gefahr bestand wohl nicht –, sondern dass er sich auf Wortkriege mit den Gegnern einlässt. Hat Paulus sich selbst so verhalten, wenn ihm der theologische Fehdehandschuh hingeworfen wurde, etwa in Galatien, in Korinth? Er hat sehr wohl mit Worten und um Worte gekämpft, wenn es um zentrale Inhalte seines Amtes und seiner Verkündigung ging, aber er hat nach dem, was wir wissen, nicht die Auseinandersetzung mit den Gegnern selbst gesucht und geführt, sich vielmehr um jene bemüht, die auf seiner Seite standen oder unentschlossen waren, und hat hier Überzeugungsarbeit geleistet. Es ist auch heute ein Unterschied, ob in Gemeinde- oder Kirchenleitungen um den richtigen Kurs, um das „richtige“ Evangelium im Sinn des Galaterbriefs gestritten wird, oder ob sich jemand auf die Ebene von Leserbriefen in der Zeitung oder in Internetforen und Talkshows begibt. Ob es Paulus in diesem Sinn meint? Dem Zerrbild, wie es (nach Gottes Willen) nicht gehen soll (οὐ δεῖ [ou dei]) stellt er jedenfalls zwei Blickrichtungen gegenüber, wie Timotheus es nicht bzw. besser machen soll. δοῦλος [doulos] ist der „Sklave“. Die Bezeichnung seines Briefpartners als „Sklave“ wäre soziologisch sehr anstößig, zumal Timotheus offenbar frei geboren ist (vgl. Apg 16,1), wenn der Apostel sich nicht selbst immer wieder als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ [doulos Christou Iēsou] bezeichnet und sich in Phil 1,1 mit Timotheus unter dieser Bezeichnung zusammengeschlossen hätte. Denn der Stand und das Ansehen des jeweiligen Herrn wirft auch ein Licht auf den Diener. Erst die Genitivverbindung mit dem κύριος, die ja ein genitivus possessoris (Genitiv, der ein Besitzverhältnis abbildet) ist, verleiht dem Diener seine Würde. Im Hintergrund steht dann auch etwa das Wort Jesu selbst in Mk 10,44. Dem Tun („kämpfen“) als nicht angemessener Verhaltensweise stellt der Briefschreiber das Sein gegenüber, und zwar in Gestalt einer kleinen Liste 84 O. Bauernfeind, Art. μάχομαι κτλ., ThWNT IV, 534.
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von drei durch Adjektive ausgedrückte Eigenschaften, die der Diener des Herrn besitzen soll: gütig sein zu allen, lehrfähig, duldsam. Wir setzen wieder voraus, dass diese Eigenschaften nicht aus der Luft gegriffen sind. Sie werden ihren konkreten Anlass in der damaligen Situation gehabt haben. Unter diesem Aspekt schauen wir sie uns an: Gütig (ἤπιον [ēpion]) kommt außer an dieser Stelle im NT nur noch als alternative Lesart in 1Thess 2,7 vor.85 Das griechische Wort begegnet schon bei Hesiod (Theogonie 407) und Homer (u.a. Ilias 8,40) als Beschreibung einer Verhaltensweise von Personen, oft auch Göttern, wobei der Aspekt des freundlich-verschonenden Verhaltens gegenüber Abhängigen (z.B. Menschen von Göttern) eine Rolle spielen kann. Zu solchem Verhalten zu allen wird Timotheus, Gemeindeleiter und Sklave Christi in einer Person, aufgefordert. Man wird annehmen dürfen, dass zu allen auch für die beiden nachfolgenden Elemente gilt. Wieder erhebt sich die Frage, ob zu diesen allen auch die Gegner zu rechnen sind oder ob sie als außerhalb der Gruppe stehend betrachtet werden. Lehrfähig soll Timotheus bzw. soll ein δοῦλος κυρίου [doulos kyriou] sein, also in der Lage, die Inhalte christlichen Glaubens anderen nahezubringen, verständlich zu machen und einzuprägen.86 Von den Arbeitsbereichen her ist hier sowohl an die Glauben weckende (Evangelisation) und stärkende (Gemeindepredigt) Verkündigung als auch an das Gespräch mit einzelnen Christen über deren Fragen (Seelsorge) und an christliche Bildungsarbeit zu denken. Nicht jeder evangelistisch begabte Prediger ist (damals wie heute) auch in der Lage, einen Sachverhalt pädagogisch so aufzubereiten, dass er verstanden wird und seine Konkretion im Lebensalltag erkennbar ist. Das aber erwartet Paulus, wenn er von der Lehrfähigkeit spricht. Pädagogische Arbeit ist immer auch Überzeugungsarbeit. Mit dieser Feststellung sind wir bei der Situation in Ephesus angelangt. Überzeugungsarbeit war nötig gegenüber denen, die falsche, ja gefährliche Ansichten vertraten, und denen, die ihnen zuneigten, und denen, die (noch) unbeeindruckt an der von Paulus und Timotheus, ja vom Evangelium her vorgegebenen Überzeugung festhielten. 85 Dort ist die im NA28 bevorzugte Lesart νήπιοι „kindlich“, was sich in 2Tim 2,24 im textkritischen Apparat als gar nicht ganz schlecht bezeugte Textvariante findet. Es könnte von 1Thess 2,7 her eingedrungen sein – oder (wahrscheinlicher) umgekehrt. An unserer Stelle passt νήπιος aber keinesfalls. 86 Vgl. zum Hintergrund dieser Tätigkeit und zu den mit ihr beauftragten Personen z.B. Riesner, Jesus §10 und Kap. V, sowie A. F. Zimmermann. Die urchristlichen Lehrer. Studien zum Tradentenkreis der διδάσκαλοι im frühen Urchristentum. WUNT II/12, 2 1988, §§8.10.14.
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Schließlich wird erwartet, dass der Diener des Herrn duldsam (ἀνεξίκακον [anexikakon]) sein soll. Das im NT einmalige Wort ist von dem Verb ἀνέχομαι (anechomai „ertragen, aushalten“) gebildet87 und mit dem Adjektiv κακός (kakos „übel, schlecht“) verbunden. In der klassischen griech. Literatur gibt es auch das Verb und das Substantiv dazu.88 Wörtlich verstanden bedeutet es also: „das Schlechte ertragend“. Wieder stehen wir vor dem Sachverhalt, dass der Apostel seinen Schüler zwar einerseits auffordert und ermutigt, gegen das Falsche anzugehen, andererseits aber auch, es zu ertragen. Ob es doch eine verbindende Linie gibt? Ist „ertragen“ und „bekämpfen“ nicht unbedingt ein Gegensatz, der sich ausschließt? Könnte die Aufforderung sich vor allem auf jene eben genannte Mittelgruppe der Schwankenden beziehen? 25 Nicht eindeutig zuzuordnen ist (mindestens auf den ersten Blick) die Aussage: in Sanftmut [ jene] erziehend, die sich widersetzen. Das Stichwort παιδεύειν [ paideuein], das in V. 23 in Gestalt des Partizips/Verbaladjektivs ἀπαιδεύτους [apaideutous] schon einmal vorkam und das wir im Sinne von „von wenig Bildung zeugend“ verstanden hatten (vgl. oben), wird nun aufgenommen. Es geht hier noch einmal darum, wie die Erziehungsaufgabe (im umfassenden Sinn) wahrgenommen werden soll, nämlich in Sanftmut (ἐν πραΰτητι [en praytēti]). Paulus spricht nicht über Methoden, sondern über eine Grundhaltung und über die Art, auch auf provokative Äußerungen (die sich widersetzen) zu reagieren. Die Person des Erziehenden trägt bekanntlich sehr viel zu dem bei, was beim zu Erziehenden ankommt, mehr als die Sache, um die es geht. Der Begriff der πραΰτης89 selbst spielte in der griech. Tugendlehre und damit auch (nämlich als Zielvorstellung) in der Erziehung eine Rolle. Frankemölle weist auf diesen Hintergrund hin, sagt aber mit Recht auch, dass die ntl. Verwendung darin nicht aufgeht: „davor schützt sie der theol. und paränetische Kontext, der sie als Gabe Gottes den Christen als Aufgabe bestimmt.“90 Von zentraler Bedeutung ist für ihn die Verwendung in LXX Sach 9,9, wo es um den erwarteten (messianischen) König geht. Der reagiert auf die Bedrohung Israels durch seine Feinde nicht mit Gegengewalt, sondern mit Sanftmut und (das sollte man nicht vergessen!) mit dem machtvollen Wort des Weltenlenkers (Sach 9,10: „… denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum anderen …“). So verstanden ist Sanftmut gerade kein Zeichen von Schwäche oder Angst. Ihr 87 H. Balz, Art. ἀνεξίκακος, EWNT I, 233. 88 Liddell/Scott 133. 89 Zum Begriff vgl. den entsprechenden Art. von H. Frankemölle in EWNT III, 351-353 sowie die Auslegung zu Tit 3,2 in dieser Reihe. 90 A.a.O. 353.
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Charakteristikum ist vielmehr die Verlagerung des Geschehens auf eine andere Ebene. Wir stoßen erneut auf unseren Text, in dem es zuvor (2,14.23.24a) um „Kampf “ ging. Jetzt wird verständlich, warum Paulus seinen Schüler auffordern konnte, sich nicht auf diese Ebene der Auseinandersetzung einzulassen. Sehr viel Güte (ἤπιον εἶναι), pädagogische Kompetenz (διδακτικόν) und Leidensbereitschaft (ἀνεξίκακον) ist nötig, um die im geistlich-theologischen Sinn Unerzogenen und Ungebildeten zu erziehen. Dabei geht es nicht nur, wohl nicht einmal in erster Linie um Wissensvermittlung. Überzeugend wirkt das Verhalten, das Leben der Persönlichkeit, die erzieht, und geprägt wird bei der zu erziehenden nicht nur der Wissensstand und die Argumentationsfähigkeit, sondern ebenfalls die ganze Persönlichkeit, die Strukturen, in denen sie denkt und sich verhält. Wie beschreibt Paulus das, was jene tun, die Timotheus in Sanftmut erziehen soll? Es sind Leute, die sich widersetzen (τοὺς ἀντιδιατιθεμένους [tous antidiatithemenous]). Das verbum compositum διατίθημι [diatithēmi] hat im NT die Bedeutungen „verfügen, anordnen, bestimmen“, „verfügen … über etwas“ und „testamentarisch verfügen, hinterlassen“.91 Die vorangestellte Präposition αντί fügt im medialen Gebrauch den Aspekt des Sich-Wehrens gegen Verfügungen hinzu.92 Der Apostel spricht demnach von Leuten, die sich gegen Vorgegebenes wehren, das sie betrifft. Beziehen wir die Aussage auf V. 18b, die Hauptthese der Hymenäus-Philetus-Gruppe, dann geht es hier um ein für Paulus (1Kor 15; 1Thess 4,13ff) und die christliche Kirche bis heute unverzichtbares Element, dem widersprochen wird, nämlich um die im Apostolicum festgehaltene Hoffnung auf eine künftige Auferstehung der Toten (vgl. zu V. 18!). Selbst in diesem den „Mehrwert“ (wie man heute sagt) des Christentums betreffenden Punkt setzt der Apostel nicht auf einen schnellen und endgültigen Schnitt. Er hat die Hoffnung, dass „Erziehung“ (wieder im weitesten Sinn) zu einer positiven Lösung führen kann. Was aber ist mit erziehen (παιδεύειν [paideuein]) eigentlich gemeint? Für Plato (5./4. Jh. v.Chr.) zielt Erziehung „von Anfang an auf Ablehnung des Ablehnenswerten u[nd] die Liebe zum Liebenswerten“.93 … Schneider versteht es in den Past „im Sinne einer (geistigen) Zurechtweisung und Anleitung“.94 Wenn wir neben das Adjektiv „geistig“ das andere „geistlich“ bzw. „theologisch“ stellen, können wir dem folgen.
91 92 93 94
Bauer/Aland 381. Liddell/Scott 155: „offer resistance“. G. Bertram, Art. παιδεύω κτλ., ThWNT V, 597. G. Schneider, Art. παιδεύω, EWNT III, 8.
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V. 25b benennt das Ziel solcher pädagogischer Maßnahme, das in V. 26 weiter ausgeführt wird: ob Gott ihnen etwa Umkehr zur Erkenntnis der Wahrheit gebe. Mit dem Begriff der ἐπίγνωσις ἀληθείας [epignōsis alētheias] nimmt der Verfasser schon in V. 15.18 und nun hier einen für die Pastoralbriefe wichtigen, wenn auch nur selten vorkommenden (außer hier noch 1Tim 2,4; 2Tim 3,7; Tit 1,1)95 Terminus auf. 1Tim 2,4 hatte er ihn epexegetisch als inhaltliche Füllung des anderen zentralen Begriffs σωθῆναι [sōthēnai „gerettet werden“] eingeführt und ihn ausdrücklich als dem positiven Willen Gottes entsprechend bezeichnet: Gott will die Rettung der Menschen, und sie ereignet sich, wenn und indem ein Mensch die Wahrheit erkennt und sie zu seiner Wahrheit und damit zu seiner Überzeugung macht.96 Ähnlich, nur von der negativen Seite her, spricht Paulus 2Tim 3,7 von ihr, nämlich in dem Sinne, dass es Menschen gibt, die ein sehr großes Interesse an Informationen über den christlichen Glauben haben, aber doch nicht zum Gerettetwerden durchdringen, deren Interesse und Mühe letztlich also erfolglos bleiben, weil sie vor der Entscheidung für ein Leben im Vertrauen auf Gott, auf Jesus zurückschrecken. Tit 1,1 schließlich verbindet der Apostel den Begriff exponiert am Anfang seines Briefes mit seinem Apostelamt. Vom Zustand der „Nicht-Erkenntnis“ der Wahrheit gelangt ein Mensch zur Erkenntnis der Wahrheit durch Umkehr (μετάνοια [metanoia]). Während dieses, dem wichtigen atl.-hebr. Begriff [ שׁוּבschūb] entsprechende Wort in den Evangelien und der Apg verbreitet ist, spielt es bei Paulus mindestens statistisch gesehen (Substantiv und Verb zusammen nur vier Mal außerhalb der Pastoralbriefe) keine so große Rolle, was nicht bedeutet, Paulus habe es nicht gekannt. Er war aber sehr darauf aus, von seinen tatsächlichen Hörern und Lesern vor deren (meist hellenistischem) geistigem Hintergrund auch verstanden zu werden. An unserer Stelle verwendet er den Begriff in wichtigem Zusammenhang. Umkehr beschreibt im Hebräischen einen Vorgang der Veränderung, zunächst im ganz äußerlichen Sinn, dass jemand die Richtung, in der er gerade unterwegs ist, ändert und auf ein neues Ziel zusteuert bzw. umdreht und zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Dies gilt nun auch in übertragenem Sinn erst recht im Griechischen, wo schon der Wortbestandteil νοῦς [nous] 95 Daneben kommt noch die Verbindung von ἀλήθεια mit dem Verb ἐπιγινώσκειν 1Tim 4,3 vor, und zwar ebenfalls epexegetisch als Synonym für „die Glaubenden“. 96 Vgl. zum Einzelnen meine Auslegungen zu 1Tim 2,4 und Tit 1,1. Hier sei lediglich festgestellt, dass „Wahrheit“ stets personal verstanden wird und an Jesus Christus, Gottes Sohn und unserem Retter, hängt, und dass „Erkenntnis“ nicht so sehr verfügbares Wissen meint, sondern viel mehr eine liebende Beziehung und Gemeinschaft, zu der allerdings Wissen gehört, ja Voraussetzung ist.
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auf eine vergeistigte Bedeutung hinweist: Wenn der tiefste Anlass der Ferne aller Menschen zu Gott ihre Sünde (die hebräischen und griechischen Wörter dafür meinen u.a. „Zielverfehlung“) ist, kann eine Korrektur nur durch Veränderung dieser Ausrichtung des Lebens und Denkens erfolgen. Sofern aber Gott der Ausgangspunkt menschlicher Existenz ist, muss die Richtungsänderung präziser als „Umkehr“ oder „Rückkehr“ stattfinden. Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn macht diesen Sachverhalt geradezu exemplarisch deutlich (Lk 15,18.20). Von der Wortbildung her steht die Präposition μετά für den Aspekt der Veränderung, während -νοια (von νοέω [noeō]; s. o.) einen empirisch-intellektuell-geistigen Vorgang meint. Wir haben trotzdem nicht mit „Umdenken“, sondern mit Umkehr übersetzt, weil die Umkehr im ganzheitlichen jüdischen Denken die konsequente Fortsetzung eines veränderten Sinnes ist. Der Wunsch des Apostels im Blick auf die pädagogische Tätigkeit seines Schülers an seinen Widersachern ist also, dass Gott selbst ihnen Umkehr schenken möge und sie so zur Wahrheitserkenntnis kommen mögen. Es sei noch angemerkt, dass Gott in diesem Abschnitt vier Mal vorkommt (V. 14.15.19.25), ebenso Herr (V. 19.22.24). 26 Was die Umkehr zur Erkenntnis der Wahrheit für Folgen hat, darüber spricht Paulus in V. 26, nämlich dass sie aus der Schlinge des Teufels heraus wieder nüchtern werden. Was in 1Tim 3,7 im Rahmen der Merkmale, die einen Gemeindeleiter auszeichnen sollen, und der Gefahren, die ihm drohen, noch als mögliche Bedrohung genannt war, nämlich damit er nicht ins Gerede komme und in die Schlinge des Teufels falle,97 ist hier schon Wirklichkeit geworden und verlangt nach Veränderung. Zwei Bilder, die eigentlich nicht so recht zusammenpassen, finden hier Verwendung: Das Bild des Betrunkenen steht im Hintergrund, wenn der Wunsch geäußert wird, sie mögen wieder nüchtern werden (ἀνανήψωσιν [ananēpsōsin]). Das Bild von dem Tier, das mit einer Schlinge oder einem Netz gefangen werden soll, steht Pate bei dem Ausdruck Schlinge des Teufels (παγὶ ς διαβόλου [ pagis diabolou]). Trunkenheit als Gefangenschaft von Körper und Geist und Unfreiheit als Folge von Gefangensein verbindet der Schreiber hier offenbar bewusst durch ein ἐκ (ek) zu einem Doppelbild, das er dann mit der Feststellung die von ihm lebendig gefangen genommen worden waren, damit sie jenes Willen ausführen fortführt und auswertet. Wenn Gottes Widersacher zuschlägt, dann zerstört er nicht immer gleich die Existenz eines Menschen im Sinne von Apg 20,29; 1Petr 5,8. Viel mehr können sie ihm nützen und Gott schaden,
97 Zur „Schlinge des Teufels“ vgl. die Ausführungen in der Auslegung zu 1Tim 3,7.
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indem sie in der Gemeinde weiterarbeiten, nun aber in seinem Sinne (vgl. Mt 7,15). IV 1. Engelmann ist zuzustimmen, wenn sie die ekklesiologische Bedeutung des Bildes vom „Haus“ vorsichtig einschätzt. Sie schreibt: „Insgesamt wird deutlich, dass sich aus dem 2. Timotheusbrief selbst keinerlei Aussagen über gemeindliche Organisationsstrukturen erheben lassen. Er darf also nicht als Beleg für eine aus dem 1Tim heraus entworfene hierarchisch strukturierte οἶκος-Ekklesiologie herangezogen werden.“98 Dem entspricht die Tatsache, dass frühchristliche Ämter (Episkopen, Älteste, Diakone) im 2. Timotheusbrief überhaupt keine Rolle spielen. Das hat sicher mit der besonderen biographischen Situation zu tun, die sich in ihm spiegelt. Aber auch Gemeindegruppen, wie sie in 1Tim und Tit umfangreich behandelt werden, kommen hier schlicht nicht vor, wie auch die Lektüre von Engelmanns Abschnitt 2.2 „Die Ämterkirche der Pastoralbriefe“ zeigt.99 Längst überfällig ist ihre grundsätzliche Feststellung, „dass eine Bezeichnung aller drei Briefe als Zeugnisse frühkatholischen Denkens und als Aufweis für die Entstehung des bürgerlichen Christentums zu kurz greift“ und „dass sich diese höchstens – wenn überhaupt – für den 1Tim als den jüngsten der drei Past nahelegt.“100 2. Nicht streiten – was bedeutet das? Geht es um „die Wahrheit“ oder doch um unverzichtbare Elemente der Botschaft „unserer“ Kirche? Was muss einer glauben, was darf einer nicht glauben, wie muss einer leben, wie darf einer nicht leben, wenn er zu „unserer“ Kirche gehören will? „Lehre“ im traditionellen Sinn ist heute alles andere als erwünscht oder beliebt. Gewünscht ist die direkt und sofort im Lebensalltag umsetzbare Aussage, nicht so sehr der biblische Hintergrund eines Textes. Der genannte Wunsch ist verständlich und berechtigt; es zeigt sich aber, dass christliches Glauben und Leben auf einem „Level 1“ nur bedingt und nicht nachhaltig möglich ist. Es kommen Situationen, in denen kein Experte zur Beratung bereitsteht, sondern ein Gemeindeglied allein Entscheidungen für sich, vielleicht auch für andere, treffen muss. Man kann das auch auf eine breitere Basis stellen: Wenn wirklich (wie ja 2Tim 3,1ff zeigt) eine Zeit kommt, in der die glaubende Gemeinde mancherlei Einflüssen und Einflüsterungen ausgesetzt sein
98 Engelmann, Drillinge, 221f. 99 A.a.O. 235-301. Lediglich die Handauflegung als Form der Weitergabe geistlicher Gaben bzw. der Einsetzung in ein Amt spielt am Rande (2Tim 1,6) eine Rolle. 100 A.a.O. 337.
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wird, wie sollen theologisch nicht ausgebildete Gemeindeleitungen dann biblisch-theologisch fundiert darauf reagieren? 3. Der Kern des in unserem Abschnitt behandelten Problems ist die Frage, ob der Apostel Hymenäus, Philetus und ihre Gruppe noch als zur Gemeinde gehörig (und also prinzipiell wieder auf den guten Weg zu bringen) ansieht – oder nicht. Engelmanns Arbeit hat die Begrenztheit und den tendenziösen Charakter mancher von den früheren Untersuchungen gezeigt und herausgearbeitet, „dass die im 2Tim zurückgewiesene Behauptung, die Auferstehung sei schon geschehen, eher im innerpaulinischen Diskurs als in einem gnostischen System zu verankern ist. 2Tim 2,17f betont einseitig die präsentischen Elemente der paulinischen Eschatologie (vgl. Röm 6,3f.8.11.13 sowie Kol und Eph), wogegen sich der Verfasser des 2Tim verwehrt, der sich selbst als wahrer Paulusschüler versteht.“101 4. Es ist interessant zu sehen, dass und wie das Thema „Auferstehung/Auferweckung der Toten“ von der Frühzeit bis in die Gegenwart in der Kirche immer wieder thematisiert und kontrovers diskutiert wurde und wird.
7. Endzeitliche Erscheinungen 3,1-9 I 1 Sei dir dessen aber bewusst: In den letzten Tagen werden schwierige Zeiten eintreten; 2 denn die Menschen werden selbstverliebt (sein), Geld lieben, prahlen, überheblich sein, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, unheilig, 3 lieblos, unversöhnlich, Durcheinanderbringer, unbeherrscht, wild, dem Guten nicht freund, 4 Verräter, voreilig, in die Irre geführt, das Vergnügen mehr als Gott liebend, 5 haben sie die äußere Gestalt der Frömmigkeit, aber ihre Kraft verleugnen sie – und von diesen wende dich ab! 6 Zu diesen gehören nämlich [ jene], die in die Häuser hineinschlüpfen und die Weibchen gefangen nehmen, die mit Sünden überhäuft und von mancherlei Begierden getrieben sind, 7 die immer lernen und niemals zur Erkenntnis der Wahrheit kommen können. 8 Auf diese Weise stellten sich auch Jannes und Jambres gegen Mose, so stellen sich auch diese der Wahrheit entgegen, Menschen mit verdorbenem Sinn, unbewährt im Glauben. 9 Aber sie werden nicht weiter vorrücken, denn ihre Unvernunft wird allen ganz offenbar sein, wie auch die jener wurde.
101 Engelmann, Drillinge, 429.
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II Mit dem Thema „Endzeit“ wird erkennbar ein neuer, wenn auch dem voraufgehenden nicht ganz ferner Punkt angesprochen. Eins ergibt sich gedanklich aus dem anderen – eine Beobachtung, die wir besonders beim 2. Timotheusbrief mehrmals machen können und die ein Argument für die Spontanität seiner Abfassung ist. V. 10 markiert insofern einen neuen Aspekt, da nun Timotheus selbst als positives Beispiel den zuvor geschilderten Personen gegenübergestellt wird. Aufbau: 1 Einleitung 2-4 18-teiliger Lasterkatalog, bestehend aus Adjektiven, Partizipien bzw. Substantiven 5 Zusammenfassung und daraus resultierende Anweisung 6 Konkretes Beispiel aus der aktuellen Gemeindesituation 7f Konkretes Beispiel aus der Geschichte des Volkes Israel 9 Schluss Der Lasterkatalog umfasst die Verse 2-4. Seine klare, strenge Form (jedes Glied außer dem sechsten besteht aus einem Wort) löst sich mit dem 18. Glied auf. Man sieht, welche Gefahren der Apostel in den Personen, die er hier vor Augen hat, erkennt, und der Leser meint zu spüren, wie sich Paulus hineinsteigert, – und trotzdem ist uns sein Brief als „Wort Gottes“ überliefert und gegeben! Es bewahrheitet sich erneut: Inspiration beseitigt nicht die Persönlichkeit, sondern nimmt sie in den Dienst des Heiligen Geistes! Der Lasterkatalog in Röm 1,29-31, rund zehn Jahre früher und in die damalige römische Situation hinein geschrieben, ist mit 23 Gliedern noch länger. Er weist dabei aber nur vier direkte Parallelen mit unserem Text auf (ὑπερήφανος [hyperēphanos], ἀλάζων [alazōn], γονεῦσιν ἀπειθής [goneusin apeithēs], ἄστοργος [astorgos]). Während es dort um vom „gesellschaftlichen Konsens“1 abweichende Verhaltensweisen geht, sieht der Apostel die an unserer Stelle aufgelisteten Eigenschaften und Verhaltensweise als typische Merkmale „der Menschen“ (also nicht unbedingt der Christen) in der letzten Zeit, nach Meinung des Paulus also „jetzt“ (s. die Einzelexegese!).
1 Haacker 58. Er weist in Anm. 77 auf den aus der stoischen Philosophie stammenden „Pflichtbegriff “ τὸ κατῆκον (to katēkon) als Oberbegriff hin. Anders spricht P. Stuhlmacher, NTD 6, 37 davon, der Ausdruck meine „im hellenistischen Judentum das, was Gottes Willen widerspricht (vgl. 2. Makk 6,4; 3. Makk 4,16).“
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Die Verse 6-8 bringen je ein konkretes Beispiel aus der aktuellen Gemeindesituation und – sozusagen als „Schriftbeleg“ – aus dem Pentateuch. III 1 Von den gemeindeinternen Konflikten (Kap. 2) herkommend, spricht Paulus nun allgemeiner über die Menschen (οἱ ἄνθρωποι [hoi anthrōpoi] V. 2; vgl. V. 8),2 und zwar wie sie sich in den letzten Tagen in ihren Einstellungen und (entsprechend) in ihrem Verhalten verändern werden. 2Thess 2,3 hatte er im Rahmen der Eschatologie solche Gedanken schon angedeutet. Dort ist davon die Rede, dass nach dem Abfall „der Mensch der Gesetzlosigkeit, der Sohn des Verderbens offenbart werden wird“. Auch hier ist der Bezugspunkt nicht die Gemeinde, sondern die Menschheit insgesamt. Es handelt sich also nicht um etwas völlig Neues und Timotheus bisher Unbekanntes (Timotheus ist Mitverfasser des 2. Thessalonicherbriefs), das Paulus ihm mitteilen würde, sondern eher um die Aufforderung, sich angesichts dessen, was er beobachten kann, etwas ihm an sich bereits Bekanntes, das nun konkret eintritt, bewusst zu machen. γινώσκειν (ginōskein) wird an dieser Stelle nicht einen Zuwachs an Wissen meinen. Die Zeitbestimmung in den letzten Tagen (ἐν ἐσχάταις ἡμέραις [en eschatais hēmerais]) ist für die paulinischen Schriften zwar hier einmalig, kommt aber sonst gelegentlich vor. Exkurs Besonders im Johannesevangelium (erstaunlicherweise nicht in den johanneischen Briefen, was dafür spricht, dass wir in diesem Evangelium tatsächlich Jesus selbst reden hören) ist der „letzte“ oder „jüngste“ Tag ein Motiv. Außer in Joh 7,27, wo der Ausdruck im erzählerischen Rahmen eine andere, nämlich die eigentliche Bedeutung hat („am letzten Tag des Festes“), geht es an sechs Stellen im biblischen Sinn um den „letzten Tag“. Davon finden wir das Wort einmal im Mund Martas, für die die ἐσχάτη ἡμέρα [eschatē hēmera] nach jüdischer Tradition und Erwartung der Tag der Auferstehung der Toten ist (Joh 11,24). So auch Jesus selbst (Joh 6,39f.44.54), nur ein Mal in Verbindung mit dem Gericht (Joh 12,48). Diese Linie reicht weit ins griech. AT hinein und zieht sich (durchweg im Plural) von den Vätergeschichten (Gen 49,1) bis zum Danielbuch, wo der Ausdruck mit fünf Vorkommen ein festes Modul mit Motivcharakter ist. Maier spricht im Zusammenhang von Dan 2,28 sogar von dem „Kern-
2 Die Menschen der Endzeit stehen wohl im Gegenüber zu den in 2,2 erwähnten gläubigvertrauenswürdigen Menschen, denen das Evangelium zur Weitergabe anvertraut werden kann.
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thema des ganzen Buches“.3 Aber schon viel früher, bei Jesaja (2,2 LXX) und Micha (4,1 LXX)4 im 8. Jh. v.Chr., sind diese „letzten Tage“ in Verbindung mit Gottes Endgericht ein Thema. In Jes 2,12 wird quasi als Synonym die Bezeichnung „Tag Jahwes“ eingeführt.5 Im selben Kapitel (Jes 2,20) ist als Wechselbegriff von „jenem Tag“ die Rede. In der Lutherübersetzung von 1984 ist dann (wie um es zu komplizieren) ab Jes 3,7 derselbe hebräische Wortlaut meist mit „zu der Zeit“ übersetzt. Dadurch wird der Unterschied zwischen einem Zeitpunkt (Singular) und einer Zeitspanne (Plural) verwischt. Der Sache nach zeigt die Rede von den „letzten Tagen“ das lineare, zielgerichtete, von einem Anfang und einem Ende der Geschichte ausgehende biblische Denken. Dabei zieht sich der Faden einer Heilsgeschichte stetig, wenn auch nicht immer erkennbar, durch die vielen verworrenen Fäden menschlichen Handelns. Gottes Ziel mit seinen Geschöpfen ist vom Beginn der autonomen Menschheitsgeschichte nach dem Sündenfall die Wiedervereinigung mit ihnen. Er nimmt dabei die Menschen als wirkliches Gegenüber nach Gen 1,27 ernst und verfügt ihre Gemeinschaft mit Gott nicht durch ein Machtwort – was er ja könnte. Vielmehr setzt er auf Kommunikation zwischen sich und seinen Menschen, auf Reden und Hören, auf Überzeugen, auf Vertrauen und Gehorchen, und damit auf Glauben. Gott lässt den Menschen die Freiheit, Nein zu ihm zu sagen oder ihn einfach zu ignorieren. Er hofft aber und tut alles dafür, dass das Gegenteil eintritt (1Tim 2,4). Dafür ist auch die Kirche da. Nehmen wir die biblischen Aussagen in AT und NT ernst, so wird es, wenn Gott der Geschichte ein Ende setzen wird, nicht automatisch eine „Sortierung“ der Menschen in Glaubende und Nichtglaubende geben. Gott nimmt seine Geschöpfe auch dann noch ernst. Er erweckt sie alle aus dem Tod6 und kümmert sich persönlich noch einmal und nun abschließend um jedes einzelne von ihnen. Unser Leben kommt vor Gott noch einmal zur Sprache, und zwar komplett und im Detail. Die Bibel nennt das „Gericht“.7 Selbst dem Apostel Paulus ist nicht ganz wohl beim Gedanken daran (2Kor 5,4.10). Dann werden auch für uns manche Spuren und Linien in unserem Leben zu erkennen sein, die wir bisher nicht verstanden haben. Manche Erweise der Güte, der Bewahrung und des Segens Gottes werden uns dann bewusst werden, und zwar nicht nur den Glaubenden. Unsere Verirrung und Verwirrung wird zur Sprache kommen. Vor allem aber wird es darum gehen, ob wir auf das Evangelium gehört haben, was uns sein Sohn Jesus bedeutet hat und was das Ziel unseres Lebens gewesen ist. 3 G. Maier. Der Prophet Daniel. WStB, Wuppertal 1982, 118. 4 In beiden hebräischen Texten heißt es uneindeutig: „ ְבֲּאַחׅרית היּ ִָמיםam Ausgang der Tage“. 5 Er kommt im AT so nur 16 Mal vor; mehr hierzu bei C. Westermann, Art. יוֹם, THAT I, 723-726, auch zu den weiteren Termini, die hier zu nennen sind. 6 Hier knüpft Marta in Joh 11,24 an. 7 Nach K. T. Kleinknecht, Art. „Gericht Gottes“, CBL I, 2003, 424, ist das Gericht „in fast allen ntl. Schriften Thema.“
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Um den Faden aus dem NT wieder aufzunehmen: Hebr 1,1 und Jak 5,3 sehen schon ihre Gegenwart im Zeitraum der „letzten Tage“. Mit 2Tim 3,1 am nächsten verwandt ist aber 2Petr 3,3f, wo für die Zukunft Spötter angekündigt werden, die „ihren eigenen Begierden nachgehen“ und die Wiederkunft des Herrn infrage stellen – womöglich ähnlich wie es Hymenäus und Philetus mit der Auferstehung taten. Das heißt: Dem definitv. letzten Tag gehen „letzte Tage“ voran, die durch ein negativ verändertes Verhalten der Menschen (der Christen?) untereinander und Gott gegenüber gekennzeichnet sein werden.
War zunächst von den letzten Tagen, also von einem längeren Zeitraum, die Rede, so geht es wohl nun mehr um Zeitpunkte, freilich nicht in einem engen Sinn: Es werden schwierige Zeiten eintreten (ἐνστήσονται καιροὶ χαλεποί [enstēsontai kairoi chalepoi]). Wenn Baumgarten meint, das Wort καιρός [kairos] habe „bei Pls ein breites Bedeutungsspektrum“,8 so hat er damit weitgehend recht. Der Akzent liegt auf dem abgegrenzten Zeitraum bzw. dem definierten Zeitpunkt. Die Endzeit ist hier nicht χρόνος [chronos] als eine schier nicht enden wollende, ununterbrochene Zeitstrecke, in der das Böse und das Leiden unaufhaltbar regiert. Sie setzt sich bei genauerem Hinsehen aus καιροί zusammen, aus „Spitzenzeiten“, in denen das Böse klar die Oberhand hat. Dazwischen aber kann es auch Erholungsphasen geben. Ein Blick auf das politische Geschehen und besonders darauf, wie es den Christen in verschiedenen Teilen der Welt ergeht, kann das bestätigen: Waren die Gemeinden in China seit Maos Kulturrevolution besonders im Visier des antichristlichen Staates, was sich in Bedrückung und Verfolgung bis zu Folter und Mord auswirkte, so hat sich die Lage dort für die Außenperspektive gerade etwas beruhigt. Dafür geht es Christen in manchen Ländern Afrikas und Asiens, die über Jahrzehnte recht unbehindert leben konnten, aktuell sehr viel schlechter. Ähnliches könnte uns Christen in den ehemals christlich geprägten Staaten drohen. Das Adjektiv χαλεπός [chalepos] kommt im klassischen Griechisch in verschiedenen Zusammenhängen vor: Es wird von bösen, gefährlichen Menschen oder Tieren ebenso gebraucht wie von Worten, die schwer zu ertragen sind.9 Im NT werden die beiden Besessenen in Mt 8,28 so bezeichnet. Deutlich ist: Was χαλεπός ist, stellt eine Herausforderung oder eine Gefahr dar. Das im Satz zugehörige Verb ἐνστήσονται macht deutlich: Die gefährlichen, aber abgegrenzten Zeitabschnitte treten innerhalb des längeren, unüberschaubaren, weil in die Ewigkeit hineinführenden Zeitraums der letzten Tage ein. 8 J. Baumgarten, Art. καιρός, EWNT II, 572. 9 Belege bei Bauer/Aland 1745.
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2 Als Charakteristikum dieser kommenden Zeit nennt Paulus Arten, wie Menschen (dann vermehrt) sein und wie sie sich verhalten werden, nämlich: (1) selbstverliebt (φίλαυτοι [philautoi]): „φιλεῖν / φιλία dagegen bezeichnet zumeist die Neigung, die fürsorgliche Liebe, von Göttern zu Menschen, von Freund zu Freund, die Liebe, die alles umfaßt, was Menschenantlitz trägt“, schreibt Stauffer.10 Mit Blick auf die Liebe der Antigone fährt er fort: „Hier ist es am deutlichsten: diese Liebe ist Adel, ist Bestimmung, Aufgabe, der sich der Mensch entziehen kann, nicht Trieb oder Rausch, der ihn überkommt.“11 Immerhin ist klar: Es geht um die Beziehung zu einem Gegenüber. Wenn nun Paulus den „typischen“ Menschen der letzten Tage als selbstverliebt beschreibt, dann ist gerade dieser wichtige Aspekt der Beziehung zu Gott und Menschen pervertiert. Das „Ich“ steht im Zentrum des Denkens und Handelns, wo eigentlich das „Du“ stehen sollte. Wir werden erwägen müssen, ob der ganze Lasterkatalog von diesem seinem ersten Glied bestimmt ist, zumal auch vier weitere Glieder (auch das Schlussglied der Liste) mit φιλ- gebildete Komposita sind (s.u.). Zu Letzterem ist vorläufig zu sagen, dass es dem ersten insofern korrespondiert, als dem ersten Glied des Lasterkatalogs φίλαυτοι im letzten φιλόθεοι [philotheoi] gegenübersteht. Das wird kein Zufall sein. Sie werden (2) Geld lieben (φιλάργυροι [philargyroi]), schreibt Paulus. Wieder zeigt sich, wie wenig sich der Mensch in zweitausend Jahren verändert, charakterlich verbessert hat! Zwar gab und gibt es immer wieder Gruppen und Bewegungen, die Armut und Verzicht auf Materielles in den Vordergrund stellen, aber in der Breite ist es doch dabei geblieben: „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach wir Armen!“12 Wir hängen am Geld, wir lieben das Geld, und das Geld hat uns fest im Griff. Zu Paulus’ Zeit, also unter den Bedingungen der beginnenden Christenverfolgungen in den 60erJahren, war die soziale Existenz gewiss ein ernst zu nehmender Faktor, was die Bereitschaft angeht, sich zu Christus (wie früher schon zum Judentum) zu bekennen. Wer sich damals, zumal in der Stadtgesellschaft, dafür entschied, stand viel mehr als wir Mitteleuropäer heute in der Gefahr, Ansehen, Sozialprestige, damit aber auch Kunden und Geld zu verlieren – und er hatte doch die Pflicht, seine Familie zu unterhalten! (3) Prahlen (ἀλαζόνες [alazones]) gehört der Sache nach eng zur Geldliebe. Was einer hat, das will er auch zeigen. Das Wort kommt ebenso wie das folgende im Lasterkatalog Röm 1,29 vor. Liddell/Scott führen es auf ἄλη 10 E. Stauffer, Art. ἀγαπάω, ThWNT I, 37; vgl. auch oben S. 84. 11 A.a.O. 36. 12 Margarete in J. W. Goethe, Faust I, „Abend“.
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(alē) zurück, was bedeutet: „wandering or roaming without home or hope of rest“.13 Als Bedeutung schlagen sie unter Berufung auf eine Stelle bei dem griech. Komödiendichter Alkaios (5./4. Jh. v.Chr.) vor: „wanderer about country, vagant“. Finden wir Spuren solchen Verhaltens schon in 1Kor 11,21f und Jak 2,1ff? Wer Vermögen hat, wird leicht auch (4) überheblich (ὑπερήφανος [hyperēphanos]) und stolz. Im klassischen Griechisch hat das Wort ursprünglich wohl eine eher neutrale Konnotation gehabt: „über den anderen sichtbar“.14 Daraus entwickelte sich die positive („hervorragend, ausgezeichnet“) wie die an unserer Stelle gemeinte negative Bedeutung,15 die im NT vorherrscht. Paulus nennt die ὑπερήφανοι im Lasterkatalog Röm 1,30 zwischen den ὑβρισταί [hybristai] und den ἀλαζόνες. Solches Verhalten ist (im Gegensatz zu ταπεινοφροσύνη [tapeinophrosynē] und ταπείνωσις [tapeinōsis]) „zunächst gegen Gott gerichtet und bezeichnet den Gegensatz zu der Gott gegenüber gebührenden Demut … Sie ist der Stolz auf eigenes Wesen und Werk“, schreibt Bertram,16 womit wieder ein Bezug zum vorangegangenen Stichwort „prahlen“ gegeben ist. Wer sich vor Gott und seiner Allmacht nicht beugen kann, hat bei Gott keine Chance. Wer aber so denkt, in wessen Kopf und Herzen Gott keine Rolle spielt, wird leicht zum (5) Lästerer (βλάσφημοι [blasphēmoi]). Dieses Wort beschreibt „die Lästerung der Gottheit dadurch, daß ihr wahres Wesen entstellt oder ihre Macht angetastet und angezweifelt wird.“17 Oft begegnet die Wortgruppe in Lasterkatalogen. Paulus verwendet sie 13 Mal, davon sieben Mal in den Pastoralbriefen. Auch sich selbst bezeichnet er rückblickend auf seine vorchristliche Zeit in 1Tim 1,13 so. Apg 26,11 heißt es, dass er in seiner Phase als Christenverfolger diese zum Lästern gezwungen habe. Ging es (ähnlich der sog. „ersten Tafel“ im Dekalog!) bisher im Grunde um Verhaltensweisen, die sich gegen Gott richteten, so wenden sich die folgenden gegen Menschen: (6) den Eltern ungehorsam zu sein ist zwar vordergründig nicht explizit ein Verstoß gegen das 4. Gebot, in dem es ursprünglich um die Versorgung der Eltern geht;18 dem Sinn des Gebots entspricht die Forderung von Gehorsam aber allemal, wenn sie auch ihre Grenzen hat. Wir müssen uns
13 14 15 16 17 18
Liddell/Scott 63 (in Verbindung mit 60). G. Bertram, Art. ὑπερήφανος, ὑπερηφανία, ThWNT VIII, 526 Anm 1. A.a.O. 526. A.a.O. 529. H. W. Beyer, Art. βλασφημέω κτλ., ThWNT I, 620. H. Jungbauer, Art. Eltern, CBL I, 290f.
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bewusst machen, dass zwar der biographische Hintergrund des Adressaten Timotheus unter jüdischem Einfluss stand (vgl. 2Tim 1,5; Apg 16,1), also eine Prägung im Sinne diasporajüdischer Gesetzesobservanz vorausgesetzt werden darf, der „Gemeindehintergrund“ aber durchaus hellenistisch war, wenn auch mit einem jüdischen Anteil zu rechnen ist. Während in der römischen Gesellschaft die Stellung des pater familias, der nicht unbedingt der ältesten Generation angehören musste, den Eltern eher eine begleitende und beratende Position gab, waren sie im Judentum seit dem Deuteronomium „zur Unterweisung ihrer Kinder in den Glaubenstraditionen Israels ausdrücklich“ verpflichtet.19 Jesus sah den Zerfall der positiven Eltern-Kind-Beziehung unter den Bedingungen endzeitlicher Verfolgung als eine typische Erscheinungsform dieser Epoche (Mk 13,12). Mit dem Wort (7) undankbar (ἀχάριστοι [acharistoi]) beginnt eine vierteilige Reihe von Elementen, die mit alpha privativum formuliert sind und also das jeweils zugrunde liegende Adjektiv oder Substantiv seiner eigentlichen Bedeutung berauben, ja ins gerade Gegenteil wenden. Dieser Begriff kommt im NT lediglich noch in Lk 6,35 in der sog. „Feldrede“ vor. Jesus spricht hier von der Feindesliebe und stellt seinen Zuhörern Gottes Verhalten selbst „Undankbaren und Bösen“ gegenüber (αὐτὸς χρηστός ἐστιν ἐπὶ τοὺς ἀχαρίστους καὶ πονηρούς [autos chrēstos estin epi tous acharistous kai ponērous]; vgl. dagegen Mt 5,45!) vor Augen.20 (8) Unheilig (ἀνόσιοι [anhosioi]) findet sich in den Paulusbriefen nur noch 1Tim 1,9, ebenfalls in einem Lasterkatalog. Dort steht es im Verbund mit βέβηλος [bebēlos], das die Distanz zu Gott und dem Heil bezeichnet.21 An unserer Stelle meint ἀνόσιος nach Balz eher ein geistliches Defizit: das Fehlen von Frömmigkeit.22 3 (9) Lieblos (ἄστοργοι [astorgoi])23 und (10) unversöhnlich (ἄσπονδοι [aspondoi]) werden die Menschen der letzten Tage sein. στοργή [storgē] ist im klass. Griechisch die Liebe im Sinn von „Zuneigung“,24 σπονδή [spondē] ist das „Trankopfer“,25 das bei den alten Griechen z.B. beim Eid, bei Vertrags19 Ebd. 20 Interessant ist der Vergleich mit dem (nachpaulinisch-jüdischen) 4Makk 9,10, wo die Begriffe ἀπειθέω und ἀχαριστέω in Parallele im Mund des Tyrannen (Antiochus IV.) vorkommen. 21 H. Balz, Art. βέβηλος, EWNT I, 506. 22 Ders., Art ἀνόσιος, EWNT II, 256. 23 Auch dies in Röm 1,31. 24 Liddell/Scott 1650. 25 A.a.O. 1629; das Wort „Spende“ hängt vermutlich, über das Lateinische vermittelt, ebenfalls damit zusammen.
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schlüssen wie beim Abschluss eines Waffenstillstands dargebracht wurde. Ein ἄστοργος ist demnach jemand, der zu keiner Zuneigung fähig ist, ein ἄσπονδος jemand, der die Waffen (auch im übertragenen Sinn) nicht ruhen lassen kann.26 Kein Wunder, wenn der Apostel solche Leute zusammenfassend als (11) Durcheinanderbringer (διάβολοι [diaboloi]) bezeichnet. Das Wort kommt ausschließlich im Eph (zwei Mal) und in den Pastoralbriefen (sechs Mal) vor. An unserer Stelle ist unklar, ob wir nicht richtiger mit „Teufel“ übersetzen müssten. Immerhin verwendet der Apostel das Wort an den genannten Stellen fünf Mal in diesem Sinne, zwei Mal für Menschen, die zu διάβολοι werden (vgl. Tit 2,3). Den Ausschlag dagegen gibt die Beobachtung, dass das Wort im Singular immer den Gegenspieler Gottes bezeichnet, im Plural (wie hier) aber Menschen, die durch ihr Verhalten vieles durcheinanderbringen. Erneut eine Reihe von (diesmal drei) Privativwörtern: (12) Unbeherrscht (ἀκρατεῖς [akrateis]) und (13) wild (ἀνήμεροι [anēmeroi]) sind sie,27 was sich gut an das Durcheinanderbringen anschließt. Das erste Stichwort ist von κρατέω [krateō] gebildet, das wiederum ein (gewaltfreies oder gewaltsames) „Sich-Bemächtigen“ oder „Unter-seine-Gewalt-Bringen“ beschreibt.28 Jedenfalls ist das Ergebnis ein „In-der-Hand-Haben“, im eigentlichen oder im übertragenen Sinn. Wer sich nun unbeherrscht verhält, hat sich selbst, sein Temperament, seine Begierde gerade nicht in der Hand. Im Unterschied dazu steht hinter wild das Bild vom ungezähmten Tier oder vom unzivilisierten, unkultivierten, letzten Endes unmenschlichen Menschen.29 Die Menschen der Endzeit werden (14) dem Guten nicht Freund sein (ἀφιλάγαθοι [aphilagathoi]). „Das Gute“ (τὸ ἀγαθόν [to agathon]) ist für den griechisch denkenden Menschen der Pauluszeit religiös gefüllt und meint in diesem Sinne „Heil, ἀγαθός der Gottheit wohlgefällig“.30 φιλάγαθος ist für Aristoteles der Gegensatz zu φίλαυτος [philautos], dem ersten Glied des Katalogs.31 In unserem Lasterkatalog steht nun der Privativbegriff, das – nach Grundmann – „von den φίλαυτοι aussagt, als Menschen, die nur sich selbst kennen, wüßten sie auch von Liebe und Erbarmen nichts.“32 26 Vgl. Liddell/Scott 260. 27 Beide Wörter sind Hapaxlegomenona im NT. 28 Vgl. dazu P. von der Osten-Sacken, Art. κρατέω, EWNT II, 776-778. Das zugehörige Substantiv κράτος meint die „(Herrscher-)Macht, Gewalt“; ders., Art. κράτος, a.a.O., 779. 29 ἡμερόω heißt „zähmen“. 30 W. Grundmann, Art. ἀγαθός κτλ., ThWNT I, 12. 31 Aristoteles, Ethica magna 2,14 (1212b); vgl. Grundmann, Art. φιλάγαθος, a.a.O. 17. 32 Grundmann a.a.O. 18. Nach Grundmann 17 bezieht sich φιλάγαθος in Tit 1,8 „nach altkirchlicher Deutung … auf die unermüdliche Liebestätigkeit.“
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4 (15) Verräter (προδόται [prodotai]) folgt als nächstes Element. In den Paulusbriefen kommt das Wort sonst nicht vor, aber Lk 6,16 von Judas Iskarioth und Apg 7,52 (also in zwei lukanischen Schriften) am Ende der Stephanusrede, als er seine Zuhörer als „Verräter und Mörder“ des von den Propheten angekündigten Gerechten bezeichnet, in beiden Fällen also mit Bezug auf Jesus. Auch die schon erwähnte Stelle Mk 13,12 dürfte sachlich in diesen Zusammenhang gehören. Im 2. Jh. n.Chr. findet sich der Begriff in den „Visionen“ des Hermas-Hirten (um 145) für die Kinder des Verfassers, die ihre Eltern verraten haben,33 und im Martyrium des Polycarp von Smyrna (um 155) für jene, die sein Versteck an die Häscher verraten hatten.34 Angesichts der Verfolgungssituation in Rom liegt es nahe, auch hier an Personen zu denken, die Mitchristen an die Behörden verraten oder ausliefern werden. Auch zum nächsten Begriff gibt es eine Verbindung: Das Adjektiv (16) voreilig (προπετής [propetēs]) verwendet Lukas Apg 19,26 im Munde des Stadtschreibers von Ephesus (!), der die gegen Paulus aufgehetzte Volksmenge davor warnt, etwas Unbedachtes zu tun. Im Polycarp-Martyrium wird davor gewarnt, sich ohne Not den Behörden als Christ zu erkennen zu geben, nachdem ein Phrygier namens Quintus dies mit anderen zusammen getan hatte, dann aber doch aus Angst vor den wilden Tieren das heidnische Opfer dargebracht hatte.35 Ob Paulus an solche Situationen gedacht hat? Nach seiner Zeit war der Drang, zum Märtyrer zu werden, jedenfalls ein Konfliktthema in vielen Gemeinden. (17) In die Irre geführt (τετυφωμένοι [tetyphōmenoi]) sind die Menschen am Ende der Zeit. Auch dieses Wort kommt nur in den Past vor (1Tim 3,6; 6,4; 2Tim 3,4). In ihm schwingt Fieberhaft-Berauschtes mit. Wer so ist, ist letztlich nicht mehr zurechnungsfähig. Solche Leute (18) lieben nämlich das Vergnügen mehr als Gott (φιλήδονοι μᾶλλον ἢ φιλόθεοι [philēdonoi mallon ē philotheoi]). Wie der Katalog begonnen hatte, so schließt er auch: mit zwei von dem Stamm φιλ- gebildeten Wörtern. Stand am Anfang ein die Grundeinstellung beschreibender Begriff, so auch am Ende, nun aber als klarer Gegensatz formuliert: ἡδονή [hēdonē – „Lust, Vergnügen“] oder θεός [theos]? Sprachlich betrachtet meint ἡδονή „urspr. … das durch den Geschmackssinn wahrgenommene Lustgefühl.“36 Schon früh wurde das Wort „zur Bezeichnung aller Lust der Sinne (Herodot) und des Geistes (Plato, Aristoteles).37 Die klassische griechische 33 34 35 36
Herm v 2,2,2. MartPol 6,1f. MartPol 4. A. Weiser, Art. ἡδονή, EWNT II, 282.
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Philosophie des 5./4. Jh.s kennt neben dem im Grunde ordnungsorientierten (Sokrates, die Stoiker) auch einen lustorientierten („hedonistischen“) Ansatz, der etwa von Aristippos von Kyrene (5./4. Jh. v.Chr.), einem jüngeren Zeitgenossen von Sokrates, und rund 50 Jahre später von Epikur von Samos (4./3. Jh. v.Chr. – „Epikuräer“)38 vertreten wurde. Aristipp unterscheidet zwei menschliche Grundempfindungen: Lust und Unlust – und folgert daraus, dass nur der richtig lebt und glückselig werden wird, der lustvoll lebt.39 In hellenistischer Zeit (also ab dem 4./3. Jh. v.Chr.) nimmt der Begriff dann eine einseitige Bedeutung an: „sinnliche Freude, sexuelle Wollust“.40 Diese Füllung müssen wir auch im NT voraussetzen (Lk 8,14; Tit 3,3; Jak 4,1.3; 2Petr 2,13). Wo Jesus nach Mk 4,19 im Gleichnis vom vierfachen Acker von den „Begierden“ spricht, die den unter die Dornen gesäten Samen daran hindern zu wachsen und zu reifen, ist Lk 8,14 von der ἡδονή die Rede. Im Kern geht es dabei um ein oberflächliches, um den eigenen Lustgewinn kreisendes Leben, in dessen Mittelpunkt das „Ego“ steht.41 Damit schließt sich ein Kreis, denn wir sind wieder bei dem Ausgangsstichwort des Lasterkatalogs, bei φίλαυτοι [ philautoi], angekommen. Man wird hier freilich differenzieren müssen: „Lust“ und „Vergnügen“ können auch im Leben von Christen ihren Platz haben, aber sie werden nicht zum summum bonum (höchsten Gut) werden können und sie werden ihre Grenzen haben, für Sexualität etwa im Rahmen der Ehe, und sie werden in Verantwortung gegenüber Gott und den Menschen gelebt werden müssen. Diese Dimension deutet der Gegenbegriff φιλόθεοι [ philotheoi] an, mit dem ein Gegenklimax gegenüber dem ersten Glied geschaffen wird. 5 Er wirft aber auch schon ein Licht auf den folgenden Satz. Die Menschen der letzten Tage haben zwar die äußere Gestalt der Frömmigkeit, aber ihre Kraft verleugnen sie, heißt es zusammenfassend. Es geht um Frömmigkeit (εὐσέβεια [eusebeia]), einen Begriff, der auffällig oft in den Pastoralbriefen
37 Ebd. 38 Zu Epikurs Philosophie vgl. Günther Bien, Art. Ethik II, TRE X, 417-420. Bien sieht in der Tradition von Kant in Aristipp den Philosophen, der „Wollust als das summum bonum“ (das höchste Gut für den Menschen) angesehen hat, also „grobe Sinnlichkeit“, während Epikur „die Philosophie … zum Höchsten erklärte“ (S. 418). „Lust als Ziel des glücklichen Lebens meint näherhin: eine aus der Philosophie entspringende, von Irrtum sich freihaltende Betrachtung der Dinge, die unsere teils natürlichen, teils nichtigen Begierden sättigen und jedes Wählen und Meiden in die richtige Beziehung setzen zu unserer körperlichen Gesundheit und zur ungestörten Seelenruhe“ (ebd.). 39 Vgl. dazu C. Helferich, Geschichte der Philosophie, Stuttgart 21992, 23. 40 Weiser, EWNT II, 283. 41 Hier berührt sich das Wort in der Bedeutung mit dem Liebesbegriff des ἔρως (erōs); vgl. E. Stauffer, Art. ἀγάπαω κτλ., ThWNI,34-55!
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vorkommt, im 1Tim gehäuft. Es geht nicht an, ihn auf Bürgerlichkeit und Pietät zu reduzieren. Gott ist Thema der Frömmigkeit, indem der fromme Mensch sein Leben an Gottes Willen ausrichtet.42 Gerade das tun die Menschen der Endzeit aber nicht, denn sie haben (!) nur die fromme μόρφωσις [morphōsis] („Gestaltung, Formung, Bildung“43), sind aber nicht von der ihr innewohnenden δύναμις [dynamis] („Kraft“) überzeugt, verleugnen sie vielmehr. Äußere Gestalt: Das griechische Wort μόρφωσις kommt bei Paulus sonst nur noch Röm 2,20 vor. Das verwandte Wort μορφή [morphē „Gestalt, sichtbare Erscheinung“44] findet sich auch nur zwei Mal, und zwar im Philipperhymnus (Phil 2,6f), also in einem wohl damals schon traditionellen, liturgisch verwendeten Text.45 Der Versuch, beide Begriffe zu unterscheiden, führt W. Pöhlmann zu folgendem Ergebnis: „Mit μ.[ορφή] ist Phil 2,6f gerade nicht die beliebige, wandelbare, sondern die spezifische Gestalt gemeint, an der Identität und Status hängen.“ Bei μορφή ist dort „nicht die Wandelbarkeit … konstitutiv, sondern gerade die Unverwechselbarkeit der μ. θεοῦ und der μ. δούλου.“46 Stellen wir μόρφωσις (mit Röm 2,20 im Hinterkopf) daneben, so fällt zunächst die Wortbildung auf. Nomina actionis, d.h. Substantive, die aus Verben durch Anhängen der Endung -ωσις gebildet werden und eine Tätigkeit oder einen Vorgang beschreiben, tragen stärker als die abgeschlossen-statisch wirkenden Substantive (wie μορφή) einen dynamisch-aktiven Beiklang.47 Sie beschreiben etwas, das noch im Gange ist. Mit einem Wort: μόρφωσις meint mehr den Vorgang, ein Werden, μορφή meint mehr das Ergebnis, Dem kommt entgegen, was wiederum Pöhlmann zu unserer Stelle schreibt: „μ.[ορφή] ist hier mit Schlatter (…) auf die Formung durch den Glauben zu beziehen, ohne auf den Gegensatz Sein – Schein (so Bauer u.a.) abzuheben.“48 Mit Blick auf unsere Stelle (2Tim 3,5) heißt das: Die endzeitlichen Menschen sind zwar dabei, an ihrer Frömmigkeit zu arbeiten, aber sie bezweifeln die in der Frömmigkeit wirkende Kraft nicht nur, sondern sie leugnen sie sogar explizit. ἀρνέομαι kommt nur in den Pastoralbriefen vor, und zwar sieben Mal, davon vier 42 43 44 45
Vgl. dazu die Ausführungen zu 1Tim 2,2 in dieser Kommentarreihe. W. Pöhlmann, Art. μορφόω, EWNT II, 1092. Ders., Art. μορφή, a.a.O. 1089. So G. Friedrich, Der Brief an die Philipper, NTD 8, Göttingen 31985, 149f; Berger, Kommentar, 723. 46 W. Pöhlmann, Art. μοφηή, EWNT II, 1091 (mit Verweis auf H. Cremer, Biblisch-theologisches Wörterbuch der neutestamentlichen Gräcität, Gotha 111923, 736. 47 Vgl. HvS §362b. 48 Ders., Art. μορφόω, 1093. Er bezieht sich auf A. Schlatter, Gottes Gerechtigkeit, Stuttgart 4 1965, 104.
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Mal auf engem Raum im 2Tim (2,12f; 3,5).49 Schenk hält „nicht die falsche Position“ für „das entscheidende semantische Element“, sondern die „Opposition (die Bestreitung von etwas Vorgegebenem)“.50 Das passt an unserer Stelle sehr gut: Dem „Haben“ („Gestaltung der Frömmigkeit“) wird nicht ein „Nicht-Haben“ gegenübergestellt, sondern die Absage an etwas, das zur Frömmigkeit unverzichtbar dazugehört („ihre Kraft“). Mit 49 Vorkommen (davon nur drei in den Pastoralbriefen) ist δύναμις [dynamis] ein von Paulus häufig und in zentralem Kontext verwendeter Begriff. Nicht nur Gott, auch der Kyrios Jesus Christus hat Kraft. Dass das so ist, zeigt sich besonders an Gottes Macht, die Toten aufzuerwecken (2Kor 13,4; 1Kor 6,14). 2Tim 1,7 hatte der Apostel von dem „Geist der Kraft“ gesprochen, der den Christen von Gott gegeben ist und nun in und an ihnen arbeitet, (auch) damit sie Ängstlichkeit im Blick auf das Leiden überwinden. Dürfen wir das auf die Frömmigkeit übertragen, so werden wir sagen müssen: Die Menschen der Endzeit, die sich zwar in einem Prozess der Ausgestaltung ihrer Beziehung zu Gott und deren Konsequenzen für ihr Leben befinden, bestreiten doch, dass es durchaus möglich (aus heutiger Perspektive können wir ergänzen: und wünschenswert) ist, von der Absicht auf Veränderung tatsächlich zu einer veränderten Gottesbeziehung zu gelangen. Für Timotheus gibt es nach dem Rat seines Lehrers nur eine Konsequenz: Von diesen wende dich ab! Dass sich dieser Zustand der Zögerlichkeit und Unentschlossenheit im Gemeindeleben konkret auswirkt, zeigt Paulus sogleich: 6f Wieder hat er ein aktuelles Beispiel im Kopf, diesmal aus dem Bereich christlichen Lebens (bei Hymenäus und Philetus war es der Bereich der Lehre), das zugleich zeigt, wie unscharf die Grenze zwischen seiner aktuellen „Jetzt“-Zeit und der End-Zeit ist, denn er rechnet lebende Personen (sicher meint er Männer!), die sich so verhalten, zu der eben ausführlich geschilderten Gruppe. Schon die Aufforderung am Ende von V. 5 ließ vermuten, dass der Apostel nicht an Vorgänge in ferner Zukunft dachte. Charakterisiert die Pastoralbriefe wirklich eine Abwendung von der „Naherwartung“? Wohl eher nicht! Sie befassen sich mit der Tatsache, dass das Ende (immer) noch nicht gekommen ist und Paulus nicht mehr die Erwartung hegt, das sichtbare Kommen Jesu mitzuerleben. In zwei aktiven Partizipialsätzen werden die Personen beschrieben, die er vor Augen hat. In drei passiven Partizipialkonstruktionen skizziert der Verfas49 Zur Wortbedeutung vgl. den entsprechenden Art. von W. Schenk im EWNT I, 368ff und meine Auslegung zu 2,12. 50 A.a.O. 369.
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ser ihre „Opfer“ und beschreibt deren Lage. Was tun die „Täter“? Paulus schreibt, dass sie in die Häuser hineinschlüpfen und Weibchen gefangen nehmen. ἐνδύνειν [endynein] heißt im eigentlichen Sinn „bekleiden, anziehen“. Mit dem Wort wird sehr bildhaft beschrieben, wie jemand (mit Drehungen, Wendungen, Verrenkungen, wie man sie beim Anziehen eines Kleidungsstücks macht) in ein Haus „hineinschlüpft“, also Gründe und Wege sucht, sich Zugang zu verschaffen. Das war in der Spätantike aufgrund der gesellschaftlichen Konventionen und hierarchischen Strukturen wesentlich schwieriger als heute. Dabei kann οἶκος [oikos] sowohl das Gebäude als auch die in ihm lebende Gemeinschaft von Menschen, nämlich die „Familie“ bezeichnen. In einer Zeit und einer Stadt, in der ziemlich lockere Sitten herrschten, wo das Haus der Wissenschaft, die Celsus-Bibliothek und das Bordell sich direkt gegenüberlagen, als christliche Lebensführung für sehr viele Christinnen und Christen noch keineswegs selbstverständlich war und die Grenzlinie zwischen Christen und Nichtchristen mitten durch viele Familien verlief, hatten es Männer vermutlich leichter, sich Zugang zu den Herzen christlicher Frauen zu verschaffen, die sich allein und verlassen fühlten – eine Situation übrigens, die durch die Kirchen- und Sektengeschichte hindurch bis heute immer wieder vorkam und schamlos ausgenutzt wurde, auch im frommen Bereich. Die praktische Gültigkeit einer Ehe und ihre Bedeutung als geschützter Raum für Liebe war damals nicht weniger umstritten und mit einer Grauzone umgeben als heute. Wäre es nicht so, müsste Paulus kein Wort darüber verlieren. Das „Hineinschlüpfen“, also das Aktivwerden in diesem Fall der Männer, ist aber nur der erste Teil des Geschehens. Ihre „Zielobjekte“ sind die Weibchen (γυναικάρια [gynaikaria]).51 Es ist dies ein Ausdruck, der im NT singulär ist und nur schwer angemessen übersetzt werden kann, wenn er nicht diskriminierend verstanden werden soll. Das Wort selbst ist ein Neutrum, das durch Anhängen der Verkleinerungssilbe -αριον an den Genitivstamm des Nomens γύνη (gynē „Frau“) gebildet wurde. Letzteres „bezeichnet die Frau ohne Rücksicht auf Alter oder Stand, die Geschlechtspartnerin“.52 Die Verkleinerungsform weist auf eine (soziale? bildungsmäßige? theologische?) Unterlegenheit und Schwäche im Vergleich zu den Verführern hin. Sie ermöglicht es diesen, die Frauen gefangen zu nehmen (ἡ αἰχμή [hē aichmē] ist „der Speer“), sie innerlich für sich einzunehmen und sie sich dadurch, auch mit pseudo-„geistlichen“ Argumenten, gefügig zu machen. Paulus kennt das Bild
51 Bauer/Aland 335: „m. verächtl. Nebensinn, etwa Frauenzimmer“; vgl. auch HvS §356a. 52 J.B. Bauer, Art. γύνη, EWNT I, 643.
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der Kriegsgefangenschaft auch in anderen Zusammenhängen (Röm 7,6.23; 16,7; 2Kor 10,5; Eph 4,8; Kol 4,10; Phlm 23). Was sind das für Frauen? Drei Charakteristika werden genannt: Exkurs Sie sind … mit Sünden überhäuft (σεσωρευμένα53 ἁμαρτίαις [sesōreumena hamartiais]): Besonders im Römerbrief (48 Vorkommen mit Schwerpunkt in Kap. 5–7) ist Sünde für Paulus ein Thema. Es ist zu unterscheiden zwischen Sünde als personaler Macht, die den Menschen beherrscht und dazu bringt, Dinge zu tun, die er eigentlich gar nicht tun will (Röm 7,19f), und der einzelnen, Gottes Willen zuwiderlaufenden Tat oder eben ihrer Anhäufung. Die zweite Auffassung ist die Folge des Einflusses der ersten.Von seiner ursprünglichen Bedeutung her ist der Begriff der Sünde sehr anschaulich: „das irrtümliche oder/und schuldhafte Verfehlen (eines Zieles)“.54 Das bedeutet: Die „einzelne“ Sünde (Gott zu lästern, einen Meineid zu leisten, zu töten, zu stehlen, die Ehe zu brechen u.a.) ist im Grunde nur Symptom dafür, dass ein Mensch in seinem Leben ein falsches Ziel verfolgt, dass Gottes Ziele mit ihm nicht seine Ziele sind. Wäre sein Leben nämlich auf Gott ausgerichtet, so täte er das nicht – nicht so sehr, weil „man das nicht darf “ (das natürlich auch!) –, aber viel mehr, weil ein Mensch, der mit Gott lebt, das nicht nötig hat. Wer Gott vertraut, hat es nicht nötig zu lügen, zu stehlen, zu töten, die Ehe zu brechen. So meint es der Apostel wohl auch im Blick auf die mit Sünden überhäuften Frauen: Weil sie nicht auf Gott zuleben (und das bedeutet ja, sowohl ihm zu vertrauen, als auch auf ihn zu hören!), haben sie jede Menge Sünden angehäuft. Worum es sich dabei handelt, sagt Paulus nicht, will er wohl auch nicht sagen, weil es um den grundsätzlichen Zustand geht, nicht um die Symptome. Es muss uns, wenn wir „Sünde“ so beschreiben, immer bewusst sein, was das in Extremsituationen für Christen bedeuten kann, etwa in Hungersnöten in Afrika oder Asien, unter Verfolgung usw. Die Konsequenz dieses Bedenkens kann aber nicht sein, den Grundsatz aufzugeben, sondern die Schwestern und Brüder nicht aus unseren Gebeten und auch nicht aus unserer materiellen Fürsorge zu verdrängen. … von mancherlei Begierden getrieben (ἀγόμενα ἐπιθυμίαις ποικίλαις [agomena epithymiais poikilais]): Diese Beschreibung geht im Grunde einen Schritt zurück, thematisiert sie doch, was zur Anhäufung der Sünden geführt hat. Hatte der Schreiber in dem Lasterkatalog (3,4) die „Lust“ (ἡδονή [hēdonē]) genannt, so nun die „Begierde“ (ἐπιθυμία [epithymia]). Beides ist zu unterscheiden. „Begierde“ meint das brennende Verlangen, etwas zu haben oder zu tun,55 „Lust“ ist bereits der Vollzug, die Erfüllung des Verlangens. Durch mancherlei 53 σωρός ist der „Haufen“, besonders der Getreidehaufen. 54 P. Fiedler, Art. ἁμαρτία κτλ., EWNT I, 158. 55 H. Hübner, Art. ἐπιθυμία κτλ., EWNT II, 68.
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(ποικίλαις [poikilais]) wird – wie bereits oben erwähnt – eine Fixierung auf einen bestimmten Bereich ausgeschlossen. Es ist ein breites Spektrum von Wünschen und Bedürfnissen, die den „Gefangenführern“ Ansatzpunkte bieten: nach Anerkennung, nach Zeit, nach Kommunikation, nach Luxus, auch nach geistlicher Nähe; nach jemand, an den eine Frau sich anlehnen, zu dem sie aufsehen kann; sicher auch nach Geborgenheit, Zärtlichkeit und Intimität. Ganz im Sinne seiner Lehre vom Menschen und von der Sünde (vgl. etwa Röm 7,14-25) sieht Paulus auch diese Frauen als Getriebene (ἀγόμενα [agomena]). Es erübrigt sich zu erwähnen, dass der im Rahmen der Rechtfertigungslehre geschriebene Satz in Gal 3,28 selbstverständlich keinen Unterschied im Verhalten der Geschlechter kennt und auch in unserem Kontext gilt. Machen wir uns nichts vor: Das „Gefälle“ gegenseitigen Begehrens verläuft nicht nur einseitig vom Mann zur Frau. Auch Frauen können in den geschützten Lebensbereich von (verheirateten) Männern „hineinschlüpfen“ und finden dort für ihre Absichten mindestens ebenso bereitwillige, „von mancherlei Begierden getriebene“ Männer. … immer lernen und niemals zur Erkenntnis der Wahrheit kommen können: In 1Tim 2,11 hatte der Apostel in einem heute viel kritisierten und beanstandeten Zusammenhang den Frauen im Unterschied zum Judentum die Möglichkeit zu lernen zugestanden.56 Lernen im Sinne eines Zuwachses an Erkenntnis ist ja (zumal aus der Sicht des „Lehrers“ Paulus, dem „Lehren“ und „Lernen“ wichtig waren; vgl. Apg 13,1; 1Tim 2,7; 2Tim 1,11) gewiss nichts Negatives oder Gefährliches. Im Gegenteil, er legte Wert darauf (vgl. 2Tim 3,10.14). Es bedeutete im Judentum der Jesuszeit den Dreischritt „auswendig lernen – im Gespräch verstehen – leben“. Nun geht Paulus einen Schritt weiter, und sagt, dass das Lernen als Prozess nicht der zu erreichende Endzustand sei. Anders und mit einem Schlagwort ausgedrückt: Hier ist der Weg nicht das Ziel. Bildung ist nötig, wichtig und gut, aber nicht um ihrer selbst willen. Angestrebtes Ziel, das er in anderem Zusammenhang schon in 2,25b, Tit 1,1, aber noch grundsätzlicher 1Tim 2,4 genannt hatte,57 ist vielmehr zur Erkenntnis der Wahrheit zu kommen. In 1Tim 2,4 hatte Paulus den Willen Gottes, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, stark betont, weil dies der Weg zur Rettung, also zum Heil ist. Was ist mit Erkenntnis der Wahrheit gemeint? Etymologisch handelt es sich um einen durch alpha privativum ins Gegenteil verkehrten Bedeutungsgehalt (s. o.) des Verbs λανθάνω/λήθω [lanthanō/lēthō] „jemandem etwas verhehlen, verborgen sein“,58 also um den Vorgang des Offenlegens von Verborgenem, es so zu erkennen, wie es wirklich ist. In der Sprache des Hellenismus, in dem es ja eine Tendenz zur Religiosierung mancher Inhalte gab, entstand daraus u.a. die Bedeutung „göttliche Wirklich56 Vgl. meine Auslegung zu 1Tim 2,11. 57 Auch hier ist die jeweilige Auslegung in den Kommentaren zu 1Tim und Tit zu beachten. 58 H. Hübner, Art. ἀλήθεια κτλ., EWNT I, 138-145: 139.
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keit“.59 Jesus hatte sich als Person (d.h. als der Mensch gewordene Gottessohn) als „die Wahrheit“ verstanden und bezeichnet und in diesem Zusammenhang ebenfalls von sich als dem „Weg“ zu Gott gesprochen (Joh 14,6). „Wahrheit“ ist demnach nicht philosophisches „Prinzip“ (so hatte der gebildete Römer Pilatus sie im Gespräch mit Jesus verstehen wollen; Joh 18,38), sondern gebunden an die und erschienen in der Person Jesu. Für den Juden Paulus wird zudem das hebräische Äquivalent ’[ ֱאֶמתæmæt], das stark von einem Beziehungsaspekt getragen ist („Zuverlässigkeit, Beständigkeit“60), nicht fremd gewesen sein. Wenn Hübner recht hat, gewann der Begriff „Wahrheit“ im Verlauf der Biographie des Apostels Paulus an Bedeutung.61 Unsere Beobachtung besonders zu 1Tim 2,4 würde dem entsprechen.62 Wenn Paulus nun von der Erkenntnis der Wahrheit spricht und in diesem Zusammenhang in 1Tim 2,4; 2Tim 3,7 das Verb ἐλθεῖν [elthein „kommen“], also ein Verb der Bewegung, gebraucht, so wird diese als das Ziel der Bewegung anzusehen sein. Paulus (so schreibt Hackenberg mit Blick auf die sog. „echten“ Paulusbriefe) verwende ἐπίγνωσις [epignōsis] „durchweg im atl. Sinn, d.h. Erkenntnis wird verstanden als Anerkenntnis (des Willens) Gottes, die im Verhalten des Erkennenden wirksam wird. Intellektuelles Verstehen und existenzielles Anerkennen gehören zusammen.“63 Die (in Jesus Mensch gewordene, im Heiligen Geist gegenwärtige) Wirklichkeit Gottes soll nicht nur ergründet und gelernt werden. Der Weg ist nicht das Ziel. An seinem Ende sollen (im konkreten Fall die γυναικάρια [gynaikaria], aber über sie hinaus im Sinne von 1Tim 2,4) alle Menschen Gott kennen und in ihm den tragenden Grund ihres Lebens sehen können. Dabei könnte (für die Frauen, an die Paulus hier denkt) die persönliche Beziehung, die durch die Lehrer-Lernende-Beziehung zu den in V. 6a genannten Männern entstanden ist und die nicht abbrechen soll, durchaus eine Rolle gespielt haben. Nicht vergessen werden sollte neben dem katechetischen der seelsorgliche Bereich. Hier entstehen ebenfalls enge, oft auch seelisch-emotionale Beziehungen, die sich verselbstständigen und zu verantwortungslosem Verhalten führen können. Dies gilt besonders, wenn entsprechende „Typen“ sich finden.
59 A.a.O. 140. 60 Ebd. 61 Selbst Hübner, nach dessen Meinung „der Begriff W.[ahrheit] … kein Thema der Verkündigung des synopt. und wohl auch nicht des ‚historischen‘ Jesus“ war, räumt mit Hinweis auf J. Jeremias ein, dass „das für Jesus typische Amen (…) … sprachlicher Vollzug der von ihm in Anspruch genommenen Autorität der göttlichen W.[ahrheit]“ sei; Hübner a.a.O. 141f. 62 Vgl. dazu auch W. Hackenberg, Art. ἐπίγνωσις, EWNT II, 63: „In den Past wird die Wendung ἐ. τῆς ἀληθείας (…) fast als technischer Ausdruck verwendet, mit dem die Bekehrung zum christl. Glauben beschrieben wird (1Tim 2,4; 2Tim 2,25; 3,7; Tit 1,1).“ 63 A.a.O. 63.
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8 Mit relativischem Anschluss wird ein historisches Beispiel aus atl. Zeit eingeführt. ὃν τρόπον [hon tropon]64 macht gleich am Anfang klar, was das tertium comparationis ist, nämlich die Art und Weise des Verhaltens derer, die hier aktiv sind, nämlich der in V. 6a Genannten.65 Nun aber geht es nicht um ihr Verhalten gegenüber den Frauen, sondern gegenüber (Paulus und) Gott. Jannes und Jambres sind nach verschiedenen nichtbiblischen Quellen die Namen eines Brüderpaars von Zauberern, die Mose und Aaron in Ägypten entgegentraten (ἀντέστησαν [antestēsan]) und mit ihrem „Gegenzauber“ dafür sorgten, dass der Pharao sich nicht überzeugen ließ (Ex 7,11 u.ö.).66 Rabbinische Quellen bringen sie auch mit Bileam und mit der Verehrung des Goldenen Kalbs in Verbindung. Beide Vorfälle verbindet der Widerstand gegen Gott. Man wird fragen, wie Paulus auf die Namen gekommen ist. Er setzt sie und damit auch den im Kopf des Erstlesers Timotheus vorhandenen Subtext über die mit ihnen verbundenen Ereignisse als bekannt voraus, führt sie aber nicht als Schriftzitat ein. Offenbar bezieht er sich auf unter Juden umlaufende Überlieferungen, die den historischen Fakten entsprechen mögen oder nicht. Auf vergleichbare Art, wie jene Mose widerstanden, verhalten sich auch diese.67 Wie die ägyptischen Zauberer sich Mose (und damit Gott, in dessen Auftrag Mose ja handelte) in den Weg stellten, so tun es die „typischen“ Endzeitmenschen jetzt mit der Wahrheit, d.h. wiederum letztlich mit Gott selbst. Vers 8b stellt den Rückbezug zu V. 2 her (ἄνθρωποι [anthrōpoi]) und schließt den Gedankengang in Form einer inclusio ab, indem die „Menschen der letzten Tage“ unter zwei Aspekten zusammenfassend beschrieben werden: Es sind Menschen mit verdorbenem Sinn, und sie sind unbewährt im Glauben (vgl. Tit 1,15f). Die Partizipialkonstruktion verwendet einen accusativus graecus („griechischer Akkusativ“),68 der beschreibt, in welcher Hinsicht eine Aussage gelten soll, hier also: Es sind Menschen, die „hinsichtlich ihres Sinnes verdorben“ sind (κατεφθαρμένοι τὸν νοῦν [katephtharmenoi ton noun]). Das verbum simplex meint „zugrunde richten, vernichten, zerstören, verderben“.69 Die Vorsilbe κατα- hat wohl verstärkende Bedeutung im Sinn 64 Nach Bauer/Aland 1649 entspricht die Formulierung einem οὕτως. 65 Durch das doppelt verwendete ἀνθίστημι (anthistēmi „widerstehen“) in V. 8aαβ wird das völlig eindeutig gemacht. 66 Näheres z.B. in dem Art. „Jannes und Jambres“ von Sabine Nägele im CBL 1, 635 sowie die Anmerkungen von Marshall 778f und Weiser 245f . 67 Man beachte die dreimalige Verwendung desselben Demonstrativpronomens τούτους (V. 5), τούτων (V. 6) und οὗτοι (V. 8). 68 BDR §160; vgl. auch HvS §156, der allerdings andere Bezeichnungen verwendet. 69 Bauer/Aland 1709.
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von „völlig zugrunde richten“. Die Nähe zu 1Tim 6,4f, wo in einem Lasterkatalog allerdings διαφθείρω [diaphtheirō] steht, ist deutlich. Sollen wir das Wort in unserem Zusammenhang mit Harder moralisierend verstehen?70 V. 6b könnte das nahelegen. Andererseits trägt es für den, der sich in der griechischen Philosophie auskennt, immer sowohl das Element von „vergänglich – unvergänglich“,71 als auch in hellenistischer Zeit das des Religiösen in sich.72 Das Bedeutungsspektrum des griech. Wortes für Sinn (νοῦς [nous]) ist relativ breit. Es reicht von der (intellektuellen) Fähigkeit, etwas zu verstehen, bis zur Gesinnung und Überzeugung, die einer hat und die sein Verhalten bestimmt.73 Es ist wohl kein Zufall, dass der Verfasser in einem parallelismus membrorum dem νοῦς in V. 8bβ die πίστις [pistis] an die Seite stellt, die zugleich Ziel- und Schlusspunkt des Abschnitts 3,1-9 ist. Ordnet man in der Theologie den Verstand traditionell dem 1. Artikel (Schöpfung) zu, so den Glauben dem 3. Artikel (Wirken des Heiligen Geistes). Ob sie, die pistis – wie Mutschler meint –, „ein inhaltlich leerer Rahmenbegriff “ ist, „an den monolithischen Wahrheitsbegriff angehängt“, zieht er selbst wenige Zeilen zuvor mindestens im Blick auf Autor und erste Leser in Zweifel.74 Richtig ist: Es wird hier nicht entfaltet, was konkret und detailliert mit Glaube gemeint ist. Ist das aber nötig? Hat Paulus (von ihm als Verfasser gehen wir ja aus!) nicht in genügend anderen Zusammenhängen entfaltet und konkretisiert, was er mit „Glauben“ meint? Immerhin kommt schon das Substantiv πίστις allein im 2. Timotheusbrief acht Mal vor. Wir haben an anderer Stelle betont, wie fragwürdig Wortstatistik im Zusammenhang mit Verfasserfragen sei. Hier geht es nun aber darum abzuwägen, wie häufig das Thema „Glaube“ in den Paulusbriefen vorkommt. Das Ergebnis für einige ausgewählte Briefe sieht nach meinen Berechnungen so aus:
70 71 72 73 74
G. Harder, Art. φθείρω κτλ., ThWNT IX, 104. A.a.O. 96. A.a.O. 97. Vgl. Alexander Sand, Art. νοῦς, EWNT II, 1174-1177. Mutschler, Glaube, 368. In demselben Sinn sieht Mutschler den Begriff in 2Tim 1,5.13 verwendet (S. 343). Unter der Voraussetzung, dass der Verfasser nur das über den Glauben weiß, was im 2Tim steht, muss der Befund natürlich dürftig ausfallen. Andererseits ist es ja auch nicht gerade wenig, was Mutschler auf 39 Seiten allein zu πίστις κτλ. in diesem Brief zusammengetragen hat. Gerade das Fehlen einer grundlegenden Bedeutungs-„Definition“ ist ein Hinweis darauf, dass diese dem Leser Timotheus natürlich aus anderen Zusammenhängen längst vertraut war.
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πίστις πιστός πιστεύειν
2Tim 8 (1:154) 3 (1:411) 1 (1:1235)
Röm 40 (1:221) 0 21 (1:338)
Gal 22 (1:101) 1 (1:2220) 4 (1:555)
1/2Kor 14 (1:803) 7 (1:1608) 11 (1:1023)
Muss er jeden Begriff bei jeder Verwendung erneut inhaltlich füllen? Immerhin ist πίστις in seinem Denken und seiner theologischen Sprache nicht irgendein Wort, sondern „bei Pls tritt πιστεύειν/π[ίστις] ganz in den Mittelpunkt seines theol. Denkens. Er übernimmt dabei die allg.-christl. Bedeutung der Annahme der Botschaft von Gottes Heilshandeln in Christus“, schreibt Barth.75 Später fährt er fort: „Als die der Heilsbotschaft entsprechende Antwort des Menschen bestimmt Glauben die Existenz des Christen, es begründet den neuen Wandel“.76 Das schließt nicht aus, dass solcher Glaube bestimmte Inhalte kennt, von ihnen überzeugt ist und sie auch argumentierend vertritt. Für Paulus weist Barth auf Gal 1,23 und Röm 12,6 hin.77 Das „Prüfen“ (δοκιμάζειν [dokimazein]), das bei den Menschen, die Paulus im Auge hat, mit einem negativen Ergebnis endete (ἀδόκιμοι [adokimoi]), könnte sich ebenso auf die Lehre (vertreten sie die richtigen Glaubensinhalte?) wie auf das christliche Leben (stimmt ihr Leben mit ihrem Glauben überein?) beziehen. ἀδόκιμος nannte der Grieche etwas bzw. jemand, der einer Erprobung oder Belastung nicht standgehalten hatte. περί [ peri] mit Akk. heißt hier: „in Beziehung auf “. Interessant ist der Vergleich von 2Tim 3,8 mit 2Kor 13,5. Dort fordert Paulus die Korinther zu einer „Selbstprüfung“ auf: „Stellt euch selbst auf die Probe, ob ihr im Glauben seid! Prüft euch selbst! Oder erkennt ihr im Blick auf euch selbst nicht, dass Christus in euch ist? Falls das etwa nicht [der Fall wäre], seid ihr bei der Prüfung durchgefallen.“ (Ἑαυτοὺς πειράζετε εἰ ἐστὲ ἐν τῇ πίστει, ἑαυτοὺς δοκιμάζετε· ἢ οὐκ ἐπιγινώσκετε ἑαυτοὺς ὅτι Ἰησοῦς Χριστὸς ἐν ὑμῖν; εἰ μήτι ἀδόκιμο ἐστε). Die oben genannte Auslegungsalternative lässt sich nicht eindeutig in eine Richtung auflösen. Eine eindeutige Entscheidung für eine der Möglichkeiten fällt auch hier schwer. 9 Mit aber sie werden nicht weiter vorrücken (ἀλλ’ οὐ προκόψουσιν [all’ ou prokopsousin]) wird eine Zäsur gesetzt. Die bedrohlich wirkende Front der Gegner kann sich, davon ist Paulus überzeugt, letztlich doch nicht durchsetzen, wenn sie auch immer wieder beeindruckende und für die christliche Gemeinde unerfreuliche Etappensiege feiern kann. Hat der Verfasser hier immer 75 G. Barth, Art. πίστις κτλ., EWNT III, 224f. 76 A.a.O. 226. 77 A.a.O. 223.
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2. Timotheusbrief
noch die „Menschen der letzten Tage“ vor Augen? Wenn ja, dann rechnet er jedenfalls nicht mit ihrem hemmungslos vorwärtsschreitenden Erfolg. Oder sind die konkreten Gegner (vgl. V. 6) gemeint, unabhängig von einer eschatologischen Perspektive? Dafür spricht, dass sie sich mit einer offenbar in absehbarer Zeit78 erwarteten „Enttarnung“ der zunächst beeindruckenden Fähigkeiten und Möglichkeiten (vgl. die ägyptischen Zauberer in V. 8!) doch als nicht wirklich mächtig herausstellen werden. Nicht ihre heimtückische List (οἱ ἐνδύνοντες [hoi endynontes]) oder fesselnde Macht (αἰχμαλωτίζοντες [aichmalōtizontes]) ist es, über die sie stolpern, sondern – erstaunlicherweise! – ihre Unvernunft. Paulus zieht nicht gleich die „geistliche“ Karte, wittert nicht gleich Dämonen hinter jeder Missliebigkeit. Er kennt und würdigt durchaus die theologisch zum ersten Glaubensartikel gehörenden, dem Menschen von seinem Schöpfer gegebenen Fähigkeiten, auch seinen Verstand. Im Vers zuvor hatte er den Gegnern vorgeworfen, sie seien Menschen mit verdorbenem Sinn (ἄνθρωποι κατεφθαρμένοι τὸν νοῦν [anthrōpoi katephtharmenoi ton noun]). Hier sagt er, dahinter verberge sich ihre Unvernunft (ἡ ἄνοια αὐτῶν [hē anoia autōn]). Das Substantiv ἄνοια kommt im NT nur noch in Lk 6,11 vor, wo Schriftgelehrte und Pharisäer nach einer Heilung am Sabbat „mit Unvernunft erfüllt“ wurden und sich beratschlagten, was sie mit Jesus tun wollten. ἄνοια meint hier die hilflose Wut über ein Ereignis, das sie für falsch und gefährlich halten, gegen das sie aber kein überzeugendes Argument und erst recht gegen den Erfolg kein Mittel haben. So wohl auch hier:79 Verhalten und (immer im Hintergrund stehend) rationale Begründung dafür überzeuge logisch und bei Licht (lumen naturale!) betrachtet nicht, und dies werde nicht verborgen bleiben, sondern werde (analog zu dem letztlichen Scheitern der ägyptischen Zauberer gegenüber Mose) ganz offenbar werden, und zwar allen. An wen denkt er? Die Vorgänge in Ägypten (Plagen) geschahen nicht im Geheimen, sondern in der Öffentlichkeit. Das Versagen des Pharao und seiner Berater wurde am Ende auch ganz öffentlich bekannt. Paulus ist überzeugt, dass es mit den aktuellen Gegnern am Ende ebenso gehen wird (V. 9bβ). Nur: Wann ist das Ende?
78 Die Zeitform wechselt, nachdem 3,1b-5a im Futur formuliert waren, 5b-8 (abgesehen von dem historischen Beispiel V. 8aα) im Präsens, nun wieder ins Futur. 79 H. Balz meint, der Begriff sei Lk 6,11 „in den emotionalen Bereich übertr.[agen]“ (ders., Art. ἄνοια, EWNT I, 251).
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IV 1. Weit mehr als aufgrund sachlicher Fragen entstehen bis heute Konflikte in Gemeinden durch Probleme auf der menschlichen Ebene, auch wenn diese Tatsache gern durch vorgeschobene theologische Differenzen kaschiert wird. Die Menschen – also wir! – sind es, in denen Konfliktpotenzial steckt (vgl. V. 2-8)! In der Psychologie bzw. Psychoanalyse wurden die unbewussten Kräfte, die menschliches Handeln und Verhalten antreiben, im Gefolge von Sigmund Freud mit „Es“ bezeichnet. Dadurch kann der nicht ganz falsche Eindruck entstehen, dieser der Person, dem Charakter und Willen eines Menschen nicht zugehörige, von außen kommende, neben oder über ihm stehende Einfluss sei für Konflikte und Fehler verantwortlich zu machen. Paulus kennt auch die externe Macht, die den Menschen in seinem Handeln und seinen Entscheidungen leitet. In unserem Text spricht er ebenso von diesem Getriebensein (3,6) wie in dem großen in diesem Zusammenhang relevanten Text in Röm 7 (vgl. besonders Röm 7,18-24). An einem wichtigen Punkt unterscheidet sich seine Analyse allerdings von Freud: darin, dass das Getriebensein von der Sünde den Menschen nicht aus der Verantwortung für sein Tun entlässt. Das gilt auch für angebliche oder wirkliche „Veranlagungen“ z.B. sexueller Art: Dass ich „nun mal so bin“ ist kein überzeugender Grund dafür, mich vor der Auseinandersetzung mit dieser Macht in mir zu drücken. Paulus war aufgrund eigener Erfahrungen realistisch genug, um zu wissen, dass der Kampf mit dem, das mich drängt, nicht immer erfolgreich ist und erst recht nur selten endgültig und siegreich beendet werden wird (Röm 7,18f.24). 2. In dem Lasterkatalog 2Tim 3,2-4 modelliert der Apostel ja nicht nur den Menschen in seinem für die Endzeit typischen Wesens- und Verhaltensprofil. Er zeichnet vielmehr ein Bild vom Menschen seit Adam und Eva. Man kann höchstens darüber streiten, ob es im Laufe der Jahrtausende eine Eskalation der Bosheit gegeben hat. Egozentrismus (d.h. konsequente Selbstbezogenheit) oder Bindung an Gott – das ist letztlich die Alternative für unser Leben. Dabei ist mit Blick auf Kommunikation in der Gemeinde und auch sonst zu beachten: Wir können andere nicht daran hindern das Falsche zu tun, aber wir können selbst das Richtige tun!
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2. Timotheusbrief
8. Leiden im Dienst 3,10-13 I 10 Du aber bist meiner Lehre nachgefolgt, (meiner) Lebensführung, (meiner) Darbringung, (meinem) Glauben, (meiner) Langmut, (meiner) Liebe, (meiner) Geduld, 11 den Verfolgungen, den Leiden, die mir in Antiochia widerfahren sind, in Ikonion, in Lystra, welche Verfolgungen ich ertragen habe, und aus dem allen hat mich der Herr errettet. 12 Und alle, die fromm leben wollen in Christus Jesus, werden verfolgt werden. 13 Böse Menschen aber und Betrüger werden immer tiefer sinken als Verführer und Verführte. II Drei kurze, jeweils mit σὺ δὲ (sy de) beginnende (3,10-13; 3,14-4,4; 4,5-8) Abschnitte nehmen den Gegensatz zwischen den eben behandelten Lehren und Verhaltensweisen der Gegner und dem, was Timotheus lehren und wie er sich verhalten soll, ins Visier. Unser Text (3,10-13) ist zunächst in die Vergangenheit orientiert (V. 10f), während V. 12f die Zukunft im Blick hat. Thematisch ist er durchgehend problemorientiert. V. 10.11a bietet eine insgesamt aus neun Elementen bestehende Liste, wobei 10b ein 7-teiliger „Tugendkatalog“ ist, der um zwei Elemente eines sog. Peristasenkatalogs („Leidenskatalogs“) erweitert ist. In V. 11 finden wir zudem eine Aufzählung von Orten, in denen der Apostel Verfolgung und Leiden erlebt hat. In V. 12 macht den Eindruck eines weisheitlichen Spruchs oder ist das Ergebnis von Lebenserfahrung. III 10 Mit dem dreimaligen Du aber (σὺ δέ [sy de] – 3,10.14; 4,5; vgl. Tit 2,1) schafft der Verfasser ein kräftiges Gegengewicht zu den vorangegangenen Schilderungen: Timotheus soll sich um Gottes Willen nicht so verhalten, wie es die heidnischen Zauberer und Verführer Jannes und Jambres (3,8), wie es die Irrlehrer um Hymenäus und Philetus tun (2,17f) oder wie die Menschen der letzten Zeiten es tun werden (3,1ff). Sein richtiges Verhalten stellt Paulus heraus. Der erste Block verbindet die Treue von Timotheus mit dem apostolischen Leiden. Er ist mit dem Partizip im Aorist zunächst positiv auf das bezogen, was Timotheus mit Blick auf Paulus schon getan hat. παρακολουθεῖν [ parakolouthein] war auch ein fester Begriff innerhalb der stoischen Philosophie.1 Das Wort wird mit dem Dativ der Sache konstruiert. Das bedeutet: Das der
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Aufzählung vorangehende nichtreflexive Personalpronomen im possessiv gebrauchten Genitiv μου [mou] bezieht sich in prädikativer Wortstellung auf die nachfolgende Liste von Wörtern im Dativ.2 Also nicht: „Du bist mir nachgefolgt in der Lehre, in der Lebensführung …“, sondern eben: Du aber bist meiner Lehre nachgefolgt, meiner Lebensführung … Der Unterschied besteht im Bezugspunkt: Der Apostel stellt seinem Schüler nicht (wie durchaus an anderen Stellen) seine Person als nacheiferungswert hin, sondern seine Art, sich zu verhalten und zu denken. Dass dieses Verständnis nicht nur grammatikalisch richtig ist, beweisen die beiden abschließenden, aus der Reihe des Tugendkatalogs fallenden Leidenstermini in V. 11, die sich auch durch die Pluralform vom Vorhergehenden abheben.3 Das Kompositum παρ-ακολουθεῖν legt im Vergleich mit dem verbum simplex den Akzent auf das Nebeneinander: Paulus und Timotheus sind ja beide Nachfolger Jesu, wenn auch Timotheus über Paulus die Inhalte seines Glaubens, seiner Verkündigung und seiner Lehre empfangen hat. διδασκαλία [didaskalia] (Lehre)4 steht wie 4,14 an der Spitze der Liste – nicht Glaube, Liebe oder Geduld. Überhaupt zieht sich der Faden mit den Motiven „lehren und lernen“ sowie „empfangen und bewahren“ deutlich er1 Bauer/Aland 1250f. Bauer gibt als mögliche Bedeutung an: „sich etw. zur Richtschnur nehmen“. 2 Vgl. dazu HvS §140b; 128b. 3 Mutschler, Glaube, 362 schreibt: „… ähnelt ab hier einem Peristasenkatalog“ und verweist auf R.F. Collins. 1 & 2 Timothy and Titus. A Commentary. NTLi, Louisville/London 2002, 253. Er vergleicht den Katalog mit 1Tim 4,12 und sieht in den neun Gliedern ein gewolltes Ganzes, wobei nach seiner Meinung (hier kann ich ihm nur bedingt folgen) rhetorische Merkmale (Alliteration, Homoioteleuton) diese Sicht bestätigen. „Inhaltlich beginnt die Reihe mit Lehre und Lebensführung, enthält im Mittelteil Glaube, Langmut und Liebe, um schließlich mit Geduld, Verfolgungen und Leiden zu enden“, schreibt er (363). Man kann fragen, warum der Numerus dann in V. 11 zum Plural wechselt. 4 Von der Wortbildung her hat διδασκαλία eher eine Nähe zu der Person, die diese Tätigkeit ausübt, dem διδάσκαλος. Demgegenüber steht διδαχή [didachē] mehr für das Lehrsystem, das einer vertritt (vgl. etwa Mt 16,12). Claire S. Smith hat sich – einen Anstoß von Edwin Judge aus dem Jahr 1960 aufnehmend und fortentwickelnd – in ihrer Studie über „Pauline Communities as ‚Scholastic Communities‘. A Study of the Vocabulary of ‚Teaching‘ in 1Corinthians, 1 and 2 Timothy and Titus“ (WUNT II 335, Tübingen 2012) mit der Frage beschäftigt, ob und inwieweit die mit Paulus verbundenen Gemeinden als Lerngemeinschaften verstanden werden können. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um einen dialektischen Prozess handle: „educational activities by community members continually extended and shaped the communities, and the resultant communities exerted and shaped the communities, and the resultant communities exerted a didactic force upon their members. Moreover, the educational impact of both the scholastic activities and the community was internalised (i.e. learned) by individual believers who, having been transformed by the educative process, themselves contributed to teaching activities, thereby shaping the communities, and so on“ (a.a.O. 385).
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2. Timotheusbrief
kennbar durch die Pastoralbriefe, auch durch den 2Tim (1,12.14; 2,2.8.14.24; 3,7.10.14.16; 4,2f.15). Allein in den drei Blöcken, die uns gerade beschäftigen (3,10 – 4,5), gibt es fünf oder sechs entsprechende Stichwörter, davon in jedem der Blöcke einmal διδασκαλία (3,10.16; 4,3; außerdem 4,2 διδαχή; 4,3 διδάσκαλος), das hier also ein zentraler Begriff ist, der die Blöcke auch miteinander verklammert. „Lehren“ war in der Antike, und zwar besonders in der jüdischen und in der griechisch-hellenistischen Kultur, ein wesentliches Phänomen. Nicht nur Kinder und Jugendliche wurden unterwiesen. Für sie war der Unterricht ein Teil der „Erziehung“ (παιδεία [paideia]). Auch Erwachsene ließen sich unterrichten: im Judentum vor allem durch Gesetzeslehrer („Rabbi“) in der Kenntnis und im richtigen Verständnis der Heiligen Schriften und der Geschichte ihres Volkes, in der griechischen Kultur durch Philosophen, deren Lehrstoff zwar auch religiöse Themen mehr oder weniger kritisch einschloss (Göttersagen), aber bei Weitem nicht ausschließlich. Lebensgemeinschaft von Lehrenden und Lernenden war (je auf unterschiedliche Weise) in beiden Kulturen ein Teil des Lernprozesses. Ging es bei den Griechen dann eher darum „das Seiende“ analytisch-wissenschaftlich zu erfassen und in ein System zu bringen und also auch Methoden des Denkens zu entwickeln, so zielte die Synagoge und die ihr angegliederte Schule auf Verständnis für und Gehorsam gegenüber Gott im konkreten Lebensalltag. Nicht das „Wie“ dieser Welt stand im Vordergrund, sondern die Frage, wie Gott ist und wie er sich zu den Menschen verhält. Jesus verstand sich (auch) als Gesetzeslehrer in diesem Sinne, wenngleich mit anderer Autorität („Sohn Gottes“).5 Er hat seine Jünger mit einem Lehrauftrag in die Völkerwelt gesandt (Mt 28,20). „In der Apg wird die missionarische Verkündigung der Apostel bzw. des Pls häufig als ein διδάσκειν bezeichnet (…), z.T. ausdrücklich mit Angabe des Inhalts der Lehre im Sinn der Christusverkündigung“, schreibt Weiß.6 Missionarische und lehrhafte Verkündigung lassen sich also zwar voneinander unterscheiden, aber nicht voneinander trennen. Bei Paulus, der ausgebildeter Rabbi gewesen ist (Apg 22,3), sich selbst auch so verstand (2Tim 1,11) und seine christliche „Karriere“ als Lehrer in Antiochia begonnen hatte (Apg 13,1), verband sich mit der Beauftragung als Missionar (Apg 9,15; 2Tim 1,11) offenbar durchgehend die Tätigkeit als Lehrer. Das eine ergab sich homogen als Notwendigkeit aus dem anderen: Er konnte Menschen, die durch seine Verkündigung Nachfolger Jesu geworden waren, nicht auf diesem Stand lassen wie der Kaufmann, dem nach der Bezahlung das weitere Ergehen seines Kunden gleichgültig ist. 5 Vgl. dazu Riesner, Jesus, 7. 6 H.-F. Weiß, Art. διδάσκω κτλ., EWNT I, 768.
Leiden im Dienst 3,10-13
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Weiterführung im Glauben war nötig, und dazu gehörte zwingend Unterrichtung hinsichtlich der Person, des Lebens und der Lehre Jesu und die Einführung in deren Wurzelboden, nämlich in die Theologie der heiligen Schriften des Judentums. Gegen Ende seines Lebens scheint dieser Bereich noch mehr in den Vordergrund getreten zu sein. Wir können es auch grundsätzlicher sagen: Mission und Evangelisation ohne begleitende, nachfolgende und nachgehende Lehre ist wenig nachhaltig, während Lehre ohne Mission eine zum Aussterben verurteilte Gemeinde produziert. Es ist zu wenig, wenn sich Verkündigung in einer Gemeinde ausschließlich auf unmittelbar umsetzbare Anweisungen für den Lebensalltag beschränkt. Wer ernsthaft als Christ leben will, braucht den biblischen Hintergrund und das zusammenhängende Ganze des christlichen Glaubensinhalts spätestens dann, wenn er auf eigenes Verständnis angewiesen ist und Entscheidungen treffen soll, bei denen ihm kein Berufstheologe zur Seite stehen kann. So wird also die Lehrtätigkeit des Apostels und seiner Schüler darin bestanden haben, den zum Glauben an Jesus Gekommenen zu überliefern, was Jesus gesagt, getan und erfahren hatte, ihnen die Augen für die atl. Wurzeln und Hintergründe zu öffnen, Zusammenhänge deutlich zu machen und auf Konsequenzen in der Lebenswirklichkeit hinzuweisen und hinzuwirken. Mit ἀγωγή [agōgē)] ist die Lebensführung gemeint. Rund 30 Jahre nach dem 2. Timotheusbrief verwendet Clemens von Rom das Wort in ähnlichem Sinn für das Verhalten der Gemeinde in Korinth (1Klem 47,6; 48,1).Von 2Tim 3,1-9 herkommend, dürfte der Apostel an sein geradliniges, nicht mit Heimlichkeit verbundenes Verhalten im Gegensatz zu manchen anderen gedacht haben (vgl. auch Gal 2,11-14). πρόθεσις [prothesis] umfasst in seiner Bedeutung ein Spektrum. Es könnte deshalb mit Bedacht gewählt sein. Im eigentlichen Gebrauch meint es die „Darbringung“ oder „Schaustellung“ von Opfern,7 etwa der Schaubrote (Ex 39,17; 40,4.23 LXX) in der Stiftshütte oder im Heiligtum. Im übertragenen Sinn kann es dann „Absicht, Entschluß“ oder „Vorhaben“ bedeuten.8 Balz nimmt für unsere Stelle die Bedeutung „Vorsatz im Sinn von Gesinnung“ an.9 Dann müsste man konkret an die Ziele denken, die sich der Apostel gesetzt hat und die er aufgrund seiner Überzeugungen konsequent verfolgt („Vorsatz“), oder an die Art zu denken, die für ihn typisch ist („Gesinnung“). Diese Interpretation ist sicher möglich; für sie sprechen die nachfolgenden Begriff „Glaube, Langmut, Liebe, Geduld“, gegen sie das vo7 H. Balz, Art. πρόθεσις, EWNT III, 374. Das hinter dem Wort stehende Verb προτίθημι hat im Medium auch die Bedeutung „öffentlich aufstellen“ (Bauer/Aland 1446). 8 Ebd. 9 Ebd.; ähnlich Bauer/Aland 1414.
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2. Timotheusbrief
raufgehende Wort „Lebensführung“. Es sollte nämlich im Gesamtduktus des 2Tim auch bedacht werden, dass Paulus hier von seiner (bevorstehenden) „Darbringung als Opfer“ sprechen könnte (vgl. sein „ich werde schon als Opfer dargebracht“ ἐγὼ γὰρ ἤδη σπένδομαι [egō gar ēdē spendomai] 2Tim 4,6!). Dieses Verständnis ergibt m.E. im Verbund mit den beiden voraufgegangenen Begriffen mehr Sinn, weshalb wir mit Darbringung übersetzen. Erst an vierter Stelle, damit aber als mittleres Glied der sieben Elemente in V. 10 und insofern herausgehoben, nennt der Verfasser den Glauben.10 Es liegt (nach Mutschler 364) „hier ein mehrdimensionaler, paulinisch gefüllter Begriff von Glaube vor“, nämlich „ein auf Jesus Christus, Gott und den Geist ausgerichteter Glaube …, der alle Bereiche des Lebens umfasst.“ Knight findet an unserer Stelle denselben Glaubensbegriff wie auch sonst in den Pastoralbriefen, der gebraucht wird „of trust in or absolute dependence on God.“11 So wie vorher Lehre und Lebensführung implizit auch durch Inhalte bestimmt waren, so werden wir auch beim Glauben die fides qua creditur (den Glauben, wie er geglaubt und gelebt wird) zwar von der fides quae creditur (dem Gegenstand des Glaubens) unterscheiden müssen, aber beide nicht voneinander trennen dürfen: Timotheus hat sich nun einmal Paulus angeschlossen und nicht Petrus oder Jakobus, die selbstverständlich „denselben“ Glauben hatten, aber doch aufgrund ihrer eigenen Biographie, Persönlichkeit, Situation und Aufgabe an manchen Punkten andere Akzente setzten bzw. Bereiche beachteten, die für Paulus nicht im Zentrum des Interesses standen – und umgekehrt. Dabei spielte die Grundentscheidung, auf die Gal 2,9 erinnert, also die jeweilie „Zielgruppe“, eine wichtige Rolle. Trugen die drei dem Glauben vorangestellten Glieder des Katalogs, Lehre, Lebensführung und Darbringung den Akzent der (sich steigernden?) Tätigkeit, so kehrt nach der πίστις mit Langmut, Liebe und Geduld Ruhe ein. μακροθυμία [makrothymia] wird in der LXX wie im NT von Gott und von Menschen gebraucht. Das oft dahinter stehende hebr. Wort bedeutet „die Verzögerung des (Ausbruchs des) Zorns“12 und bildet damit gut ab, was gemeint ist: Gott reagiert auf Israels Abkehr von ihm nicht sofort mit Strafe, sondern gibt ihm Zeit zum Umdenken, zur Umkehr. Jesus hat diese Verhaltensweise 10 Vgl. dazu oben zu 1,5. Zu dem sachlichen Befund passt inhaltlich, dass Mutschler 383 den Glauben in den Pastoralbriefen „als Mitte christlicher Existenz“ beschreibt. Weiter listet Mutschler auf, dass Bildungen von dem Lemma πιστ- „von allen genannten Begriffen am häufigsten im Kontext vorkommt“ (S. 364 mit Anm. 118). – Tit 2,3 findet sich eine Dreierliste von πίστις – ἀγάπη – ὑπομονή. 11 Knight 439. 12 H. W. Hollander, Art. μακροθυμία κτλ., EWNT II, 936.
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Gottes in dem Gleichnis vom Feigenbaum (Lk 13,6-9) dargestellt. Diese mit Schmerzen abwartende Haltung ist für Paulus auch Kennzeichen evangelistischer Verkündigung (2Tim 4,2) und überhaupt „typische Eigenschaft des Christen“.13 Dagegen meint Geduld (ὑπομονή [hypomonē]) „das Bleiben und Aushalten ‚unter‘ bestimmten Umständen, daneben auch das In-Erwartung-Bleiben angesichts der vergehenden Zeit.“14 Anders als bei den Griechen, wo der Begriff das (mehr oder weniger) „trotzige Standhalten gegenüber anstürmenden Übeln und damit eine Form der Tapferkeit“ ist,15 ein chancenloses Sich-Stellen dem Schicksal, auch den Göttern, und damit ein Element der Tragik, ist es „etwas Rühmliches (…), und ὑ.[πομονή] ist nicht Ausdruck der persönlichen Kraft, sondern durch die christl. Hoffnung ermöglicht“16 – insofern also ein Begriff, der (wie διωγμός und πάθημα in V. 11) bei Paulus zum Wortschatz rund um das Thema „Endzeit“ gehört. Es geht hier nicht (wie bei der Langmut) um das Ertragen anderer, sondern um das Nicht-Aufbegehren gegen die eigene (schwierige, bedrängte und angefochtene) Lebenssituation (vgl. Röm 5,3f). Dies gilt nicht nur individuell, sondern auch kollektiv für die Gemeinde in ihrer endzeitlichen Situation (vgl. 2Tim 3,1). „Im Vordergrund steht einerseits die große Not, in der man unterzugehen droht und darum standhaft die erlösende Parusie erwartet oder das Martyrium auf sich nimmt, andererseits die lange Zeit, in der man nicht nachlassen darf, sondern beharrlich und treu als Christ leben muß bis zum Tod“, schreibt Radl.17 Die Verbindung von Geduld mit Glauben und Liebe finden wir auch in Röm 5,2-5; 1Thess 1,3; 1Tim 6,11; Tit 2,2. Zu Liebe (ἀγάπη [agapē]) vgl. die Auslegung zu 1,7! Die Platzierung von Langmut zwischen Glauben und Liebe ergibt Sinn: Darauf warten zu können, dass jemand sein Verhalten ändert, einen Schritt macht, ist aus Pflichterfüllung heraus möglich, ist dann aber noch keine christliche Verhaltensweise. Wenn Liebe etwas mit der gemeinsamen Zugehörigkeit zum Leib Christi zu tun hat, wenn Christen in einer Gemeinde nicht durch gegenseitige Sympathie verbunden sind, sondern weil sie allesamt den Christus am Kreuz für ihr Verhältnis zu Gott und für ihr Leben brauchen, dann ist sie es auch, die den langen Atem gibt mit Bruder oder Schwester einen Weg zu gehen, dessen Ende am Anfang noch nicht zu sehen ist. 11 Sicher nicht zufällig folgen auf Geduld zwei sachlich mit diesem Terminus zusammenhängende Begriffe. Mit V. 11 wird die Aufzählung von Sub13 14 15 16 17
A.a.O. 937. W. Radl, Art. ὑπομονή, EWNT III, 969. Ebd. Ebd. A.a.O. 971.
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stantiven fortgesetzt, die im Dativ an παρηκολούθησάς μου [parēkolouthēsas mou] hängen; allerdings wechselt der Numerus nun in den Plural und sind es nun Widerfahrnisse, die genannt werden: Verfolgungen und Leiden, und zwar nicht abstrakt, sondern verbunden mit konkreten Situationen und Orten, die im Leben des Apostels eine Rolle gespielt hatten: Antiochia, Ikonion und Lystra. Die kleine Wortgruppe um διώκειν [diōkein] kommt in den Paulusbriefen 27 Mal vor, und zwar vom Galater- und 1. Thessalonicherbrief bis zum 2. Timotheusbrief. Zwei Arten der Verwendung lassen sich deutlich unterscheiden: Positiv ermutigt der Apostel zehn Mal dazu, bestimmte Verhaltensweisen, Werte oder Ziele zu verfolgen („das Gute“, Liebe, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Frieden, Gastfreundschaft – vier Mal Röm, zwei Mal Phil, je ein Mal 1Kor, 1Thess; 1/2Tim).18 17 Mal (fünf Mal Gal, drei Mal 2Tim, je zwei Mal Röm, 1/2Kor, je ein Mal Phil, 2Thess, 1Tim) kommt die Wortgruppe wie hier im negativen Sinn von aktiv „jem. verfolgen“ (etwa der junge Saulus die Christen) oder passiv „verfolgt werden“ (persönlich angefeindet, benachteiligt, gesellschaftlich oder staatlich bedrängt, verhaftet, getötet) vor. In dem Bericht darüber, was er als Apostel in seinem Amt alles durchgemacht hat (2Kor 11,23-33), fehlt der Begriff; exemplarische Beispiele werden aber aufgezählt. Die Reihe derer, die aus mindestens vordergründig religiösen Gründen verfolgt wurden, reicht von den atl. Propheten und Gottesfürchtigen (Psalmen!) über fromme jüdische Gruppen (Makkabäer, Essener, Pharisäer) und Einzelpersonen (Johannes d. T., Jesus, Stephanus) und die frühesten Christen bis zu Paulus – und darüber hinaus bis in unsere Tage. Konkret und durch Relativpronomen angeschlossen nennt der Apostel an unserer Stelle die Ereignisse in Antiochia, Ikonion und Lystra.19 Mit Antiochia (heute Antakya) kann nach den Informationen, die uns erhalten sind, kaum die Stadt am Unterlauf des Orontes rund 25 km von dessen Mündung ins Mittelmeer gemeint sein, Paulusʼ „Heimatgemeinde“ (Apg 13,1-3). Hier wissen wir nichts von Bedrängungen – was nicht heißt, dass es keine gab. Dagegen gab es in Antiochia in Pisidien (nahe dem heutigen Yalvaç) scharfe Konflikte mit den dort ansässigen Juden (Apg 13,45.50f), wobei auch das Wort διωγμός fällt. Für das pisidische Antiochia spricht weiter die Reihenfolge der drei Orte, die dem Bericht in Apg 13f entspricht, sowie die Tatsache, dass alle drei Orte zur Heimatregion des Timotheus gehörten (s.u.). Die bedeutende, an der Grenze zwischen Pisidien und Phrygien gelegene Stadt Antiochia war um 301 v.Chr. 18 O. Knoch, Art. διώκω κτλ., EWNT I, 817, schreibt: „als Ausdruck des Strebens nach sittlichen und rel. Haltungen und Zielen.“ 19 Riesner analysiert die Ereignisse dort in ders., Die Frühzeit des Apostel Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, WUNT I/71, Tübingen 1994.
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von dem Diadochenkönig Seleukos I. Nikator gegründet worden. In ntl. Zeit gehörte sie wohl zu Phrygien bzw. zur Provinz Galatia. Paulus besuchte die Stadt zweimal auf der sog. ersten (etwa 46/7 n.Chr.) und dann vermutlich etwa ein bis zwei Jahre später auch auf der zweiten Missionsreise. In Ikonion (heute Konya, gut 120 km ostsüdöstlich von Antiochia am südwestlichen Rand der anatolischen Hochebene), das damals zur Provinz Galatia gehörte, hielt er sich in demselben Zeitraum ebenfalls zweimal auf (Apg 14,1-6.21; 16,2?). Der erste Aufenthalt endete abrupt durch Flucht der Missionare, die dadurch einer Steinigung entgingen (Apg 14,5f). Sie kamen dann nach Lystra, das ca. 36 km südlich von Ikonion liegt, heute Zoldera heißt, wie Ikonion zur Landschaft Lykaonien gehört und ebenfalls am Rand von Anatolien liegt. Hier kam es zu einem seltsamen Zwischenfall: Barnabas und Paulus wurden von der Bevölkerung für Zeus und Hermes gehalten und sollten kultisch verehrt werden. Dazu kam es aber nicht (Apg 14,14). Stattdessen sorgten Abgesandte aus Antiochia und Ikonion dafür, dass Paulus doch noch beinahe zu Tode gesteinigt wurde (Apg 14,19). Auch hier wird die Abreise eher einer Flucht geglichen haben. Warum nennt der Verfasser ausgerechnet diese drei Städte – und nicht Philippi, Thessalonich, Korinth, Ephesus oder Rom? Eine mögliche Antwort ist: weil die Ereignisse in diesen vier Städten zum Zeitpunkt der Abfassung des 2. Timotheusbriefs noch gar nicht stattgefunden hatten, 2Tim also vor 49 n.Chr. geschrieben worden wäre. Das ist (von anderen positiven Fakten ganz abgesehen) schon deshalb auszuschließen, weil Timotheus damals noch gar nicht zum Missionsteam des Paulus gehörte. Ein anderer Grund liegt viel näher: Timotheus lebte früher in Derbe. Diese Stadt, die gut 90 km östlich von Lystra und noch ein paar Kilometer Luftlinie mehr südöstlich von Ikonion lag, wird in der Apg trotz der Entfernung in Apg 14,6; 16,1 in einem Atemzug mit Lystra, in 16,2 mit Ikonion genannt. Es scheint also von Timotheusʼ Heimatort (enge?) Beziehungen zwischen diesen Städten gegeben zu haben. Ein Indiz dafür ist das Erscheinen der gemeinsamen jüdischen Delegation aus Antiochia und Ikonion in Lystra. Die Ereignisse dort waren Timotheus sicher mindestens von Erzählungen her vertraut, obwohl er sie vermutlich nicht selbst miterlebt hatte. Hinzu kommt, dass es sich um Konflikte aus der Frühzeit der Missionsarbeit des Paulus handelt, also um so etwas wie „Ur-Erlebnisse“, die sich besonders einprägen: der Anfang einer langen Kette von Verfolgungen und Leiden. Der Verfasser wählt den Weg vom Konkreteren zum Allgemeinen, wenn er zuerst von den Verfolgungen spricht, die dann lokalisiert und konkretisiert werden, und dann (wie Röm 8,18) allgemeiner von seinen Leiden. Die Ereignisse in den drei Orten werden im ersten von zwei mit οἷος konstruierten
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Relativsätzen erwähnt. Das Relativpronomen οἷα [hoia] im Neutrum Plural wird sich auf das voraufgegangene Wort im Neutrum beziehen: παθήμασιν [pathēmasin].20 Hinter dem Substantiv steht das Verb πάσχειν [paschein], das beschreibt, „was jemand widerfährt“.21 In den bei Weitem meisten der 16 im NT vorkommenden Fälle geht es dabei um „Leiden, Bedrängnis der Christen und Jesu Christi“.22 Schon Röm 8,18f ist die Verbindung zur eschatologischen Situation des Volkes Gottes hergestellt, wie sie der Sache nach auch die jüd. Apokalyptik kannte (etwa LXX Jes 26,16, wo zwei Mal von θλῖψις die Rede ist; Dan 7,21). Die an sich überflüssige Wiederholung διωγμούς [diōgmous] in 11b macht die Bezüge und den Chiasmus syntaktisch ganz deutlich. Das Verb ὑποφέρειν [hypopherein] kommt im NT nur drei Mal vor, und zwar jeweils im Zusammenhang mit Dingen, die ausgehalten werden müssen. Das anschließende καί führt den Gedankengang einen Schritt weiter zur Auflösung der Spannung, die im Blick auf das Geschick des Apostels aufgebaut worden war. ἐκ πάντων [ek pantōn] wird sich auf die Verfolgungen und Leiden beziehen. Der Apostel sieht im Rückblick die Hand des Herrn im Spiel (ἐρρύσατο ὁ κύριος [errysato ho kyrios]). Mit demselben Verb und ebenfalls κύριος als Subjekt wird er in 4,17 seine Bewahrung vor dem Tod durch wilde Tiere in der Arena beschreiben. Es wird im NT für „das Erretten vor Feinden, aus Todesgefahr, Gefährdungen und Verfolgungen, aus der Bedrohung durch die Sünde und dem Ausgeliefertsein an sie, den Tod und andere gottfeindliche Mächte, aus der Anfechtung und dem Gericht“ verwendet.23 Im Hintergrund klingt deutlich LXX Ps 33,20 an, wo es vom Ergehen der Gerechten heißt: πολλαὶ αἱ θλίψεις τῶν δικαίων, καὶ ἐκ πασῶν αὐτῶν ῥύσεται αὐτούς [pollai hai thlipseis tōn dikaiōn, kai ek pasōn autōn rhysetai autous].24 War Rettung dort noch in der Zukunft erwartet, so hat Paulus sie schon selbst erfahren. Gott steht zu seinen Verheißungen, das ist die Botschaft dieses Zitats. Das sagt hier derselbe Paulus, der ein Kapitel später doch die Ausweglosigkeit seiner aktuellen Situation in nüchternen Worten beschreibt. Ganz offensichtlich bringt 20 Denkbar ist auch ein Rückbezug auf beide vorangegangenen Begriffe in V. 11. Da aber der folgende Relativsatz ausdrücklich und explizit auf τοῖς διωγμοῖς [tois diōgmois] zurückweist, ist das eher unwahrscheinlicher, als für die syntaktische Beziehung zwischen 11aα einerseits und den beiden Relativsätzen andererseits eine chiastische Konstruktion nach dem Schema „a-b-b-a“ anzunehmen. Auch diese Beobachtung würde dafür sprechen, die beiden Glieder im Plural zwar in Verbindung mit denen im Singular (10b), aber doch auch von ihnen abgesetzt zu verstehen. 21 J. Kremer, Art. πάθημα, EWNT III, 2. 22 Ebd. 23 H. Lichtenberger, Art. ῥύομαι, EWNT III, 515. 24 Vgl. auch PsSal 13,4.
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ihn dieser Zwiespalt (Gott kann retten, hat das auch zugesagt und schon bewiesen einerseits, andererseits: Gott wird nicht immer retten) nicht in Zweifel oder gar Verzweiflung, wie wir Heutigen vielleicht erwarten würden. Dahinter steht ein sehr tiefes Vertrauen auf Gott, das selbst dann trägt, wenn irdisch alles ausweglos und am Ende zu sein scheint. Unklar ist, ob mit κύριος GottVater oder der Christus Jesus gemeint ist. Röm 15,31, wo Paulus in vergleichbarem Kontext um Fürbitte zu seiner Errettung vor den ungläubigen Juden bittet, ist „Gott“ der Angerufene (vgl. auch 2Thess 3,2; 2Kor 1,10). Es ist der Schöpfer und Richter der Welt, der für solche Rettung „zuständig“ ist. Mit V. 12 erfolgt der Wechsel von der Vergangenheits- in die Zukunftsform. Der Satz hat einen weisheitlichen Ton. Er zieht einen pädagogisch-verallgemeinernden Schluss aus den Aussagen in V. 10f und blickt zugleich hinüber zu Menschen, die es anders machen wollen. Was er ausdrückt, gilt immer und für alle. Vergleicht man 2Tim 3,12a mit 1Tim 2,1-3,25 so ergibt sich, dass sich die Situation seit Abfassung des 1Tim deutlich verändert haben muss – ein starkes Argument gegen eine gleichzeitige oder doch wenigstens konzertierte Abfassung der beiden Briefe. Dort hatten wir übersetzt: „Nun ermahne ich als Erstes von allem, Bitten, Gebete, Fürbitten, Danksagungen für alle Menschen zu tun, für Könige und alle, die Macht ausüben, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Das ist gut und akzeptabel vor Gott, unserem Retter.“ Daran hat sich seither einiges geändert: von einem ruhigen und stillen Leben kann nach dem 2. Timotheusbrief nicht nur für den Apostel selbst nicht mehr die Rede sein, und das Gebet für die Machthaber, die es garantieren sollen, dürfte nach der „Neronischen Wende“ so harmlos auch nicht mehr ausgesehen haben. Ein Vergleich mit Röm 13,1-7, besonders V. 3f, führt zu einem ähnlichen Ergebnis: War die Obrigkeit in der 2. Hälfte der 50er-Jahre aus Sicht des Paulus noch auf der Seiten der „Guten“, zu denen er gewiss nicht nur, aber doch auch die Christen gezählt hat, so gilt das nun nicht mehr, denn das διωχθήσονται [diōchthēsontai] gilt jetzt nicht mehr nur für einzelne Personen oder Gruppen („die Juden“ Apg 13,50; 14,1.19; oder die Judenhasser Apg 16,20), seit der römische Staat in Gestalt 25 Ähnliches gilt übrigens für Tit 3,1f (vgl. auch unsere Auslegung zu diesen Versen in dem entsprechenden Band der HTA-Reihe): Grundsätzlich erwartet der Apostel noch um die Mitte der 60er-Jahre, aber wohl vor dem schicksalhaften Brand Roms, auch von Titus und den Gemeinden auf Kreta ein ὑποτάσσεσθαι („sich unterordnen“) gegenüber staatlichen Instanzen. Es fällt aber auf, dass die Formulierung gegenüber Röm 13 bereits deutlich zurückhaltender geworden ist und dass ausdrücklich angeordnet wird, auf provozierende Äußerungen bis hin zur Lästerung zu verzichten (μηδένα βλασφημεῖν). Das zeigt, dass sich die Stimmung gegenüber den Christen auch auf dem fernen Kreta inzwischen verändert haben muss.
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seines Oberhaupts, des Kaisers Nero, die Christen persönlich ins Visier genommen hat. Das angestrebte Ziel wird an beiden Stellen ebenfalls ähnlich beschrieben: 1Tim 2,2b: ἵνα ἤρεμον καὶ ἡσύχιον βίον διάγωμεν ἐν πάσῃ εὐσεβείᾳ καὶ σεμνότητι 2Tim 3,12: οἱ θέλοντες εὐσεβῶς ζῆν Anders als im 1Tim, wo das Lemma εὐσεβ- mit neun Vorkommen eine starke Rolle spielt, findet es sich in den beiden anderen Pastoralbriefen nur je zwei Mal.26 Meint das Wort im alltäglichen Gebrauch „die Achtung von gültigen Werten bzw. Wertordnungen“,27 so kommt, wenn Paulus es verwendet, ein spezifisch christlicher Aspekt hinzu. Zwar orientieren sich Christen auch an den auf Aischylos (5. Jh. v.Chr.) zurückgehenden vier sog. „Kardinaltugenden“,28 auf die sich Paulus in den Pastoralbriefen gelegentlich bezieht, indem er (wie in 1Tim 2,15; 6,11; 2Tim 2,22; Tit 2,5) eine oder mehrere (positiv) erwähnt; doch gewinnt „dieses humanistische Ideal Sinn und Erfüllung für den Christen allein von Gottes Heilshandeln her“.29 In einer Art „Gegenbild“ zur griech. Tradition und, modern gesprochen, im Sinne der christlichen Gemeinde als einer „Kontrastgesellschaft“ (G. Lohfink30) zählt der Apostel 1Tim 6,11 sechs christliche Tugenden auf, von denen drei im Tugendkatalog V. 10 auftauchen: δικαιοσύνη εὐσέβεια πίστις ἀγάπη ὑπομονή πραϋπαθία. Der wichtige Unterschied besteht in dem ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. Der Christus Jesus, sein Leben und Wort, ist dabei maßgeblicher Orientierungspunkt. Die Formel ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ finden wir in den Paulusbriefen an vielen Stellen. In Röm 8,1 werden die Gläubigen geradezu als [οἱ] ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ beschrieben und definiert. Diese Existenzweise hat zwei Konsequenzen: (1) Hatte der Apostel in 1Tim 6,11 zu erhöhter Aktivität in der Ausübung aufgefordert (δίωκε [diōke]), so ist hier (3,12) von einem Wollen die Rede: οἱ θέλοντες [hoi thelontes]. Frömmigkeit stellt sich nicht von selbst ein. Man muss fromm, d.h. gottgefällig, leben wollen. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn ein Mensch sich entschließt, sich Gott/Jesus anzuvertrauen, wird sein Leben nicht automatisch „fromm“. Arbeit an sich selbst, an lange eingeschliffenen Verhaltensweisen ist nötig. (2) Wer aber so „in Christus“ lebt, muss mit Ablehnung und Benachtei26 Zur Wortbedeutung vgl. die Auslegung zu 1Tim 2,2 in dieser Kommentarreihe und zu 2Tim 3,5. 27 P. Fiedler, Art. εὐσέβεια κτλ., EWNT II, 213. 28 Aischylos, Sieben gegen Theben, Zeile 610: σόφρων, δίκαιος, εὐσεβής, ἀγαθός (weise, gerecht, fromm, gut/tapfer). Für Timotheus und andere frühen Leser des 2Tim war der Bezug zu den Kardinaltugenden sofort klar. 29 Fiedler, ebd. 30 G. Lohfink. Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Freiburg 1993.
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ligung, mit Angriffen bis hin zum Martyrium rechnen. Das gilt unverändert auch im 21. Jahrhundert. Wir sollten den kleinen Akzent nicht übersehen, den der Verfasser an unserer Stelle setzt, indem er das Adverb εὐσεβῶς durch ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ näher bestimmt. Es geht also nicht um eine allgemeine religiösspirituelle Lebenshaltung, um eine Beachtung „jenes höheren Wesens, das wir verehren“.31 Darauf, dass es einen Gott geben könnte, kann man sich schon verständigen. Sobald es allerdings zur Konkretion kommt und Jesus von Nazareth, von dem wir glauben, dass er uns erlöst hat, ins Spiel kommt, zerbröckelt der Konsens und es kommt zur Konfrontation. 13 Inhaltlich knüpft V. 13 bei V. 6 an. Dem zu erwartenden Geschick derer, die fromm leben wollen in Christus Jesus, stellt der Verfasser unseres Briefes nicht etwa (wie in manchen Psalmen) gegenüber, wie gut es dagegen jenen gehen werde, die sich nicht auf ein solches Leben einlassen wollen. Er sieht ihren Weg in der Zukunft sich zum Negativen wenden. Das Stichwort ἄνθρωποι [anthrōpoi]32 von 3,2.8, das dort negativ konnotiert war, taucht hier erneut auf (später noch einmal 3,17). Paulus qualifiziert es eindeutig: Böse sind solche Menschen, wobei πονηρός [ponēros] allgemein „sowohl eine mehr transitiv-akt. (das Böse zufügend) wie intransitiv-pass. (vom Bösen geprägt) Verwendung“ erkennen lässt.33 Das Wort deckt „eine notwendig-natürliche Grundbefindlichkeit [das, was man in der Theologie traditionell als ‚Erbsünde‘ bezeichnet hat; HWN], aber auch die Schuld des Menschen“ auf, schreibt Kretzer.34 Böse ist der Mensch, was sein Wesen und was das daraus sich ergebende Tun betrifft, nach biblischer Überzeugung von Anfang an (LXX Gen 8,21 ist von τὰ πονηρά [ta ponēra] als Ausrichtung menschlichen Denkens die Rede). Als Parallelbegriff stellt Paulus neben die bösen Menschen wohl in steigerndem Sinn die Betrüger (γόητες [goētes]). Der γόης ist bei den Griechen „ursprünglich der mit Wortformeln arbeitende“ „Zauberer“, ein „Ausüber niederer Praktiken“, der „von dämonengläubigen Menschen zwar durchaus ernsthaft gewertet, aber zT (besonders von den Gebildeten) verabscheut“ wird.35 Sein Arbeitsbereich ist Aberglaube und Okkultismus. Der jüdisch-hell. Schriftsteller Philo sieht dieses Gewerbe „grundsätzlich im Gegensatz zur Wahrheit“, weil es immer „den Begriff der Verführung, oft der 31 So eindrücklich karikiert bei Heinrich Böll, Dr. Murkes gesammeltes Schweigen. 32 Positiv werden „Menschen“ in 2,2 und 3,17 skizziert, 3,2.8.13 negativ. 33 A. Kretzer, Art. πονηρός, EWNT III, 321. Es bleibt aber zu fragen, ob Kretzer mit seinem ethisch-moralischen Verständnis des Begriffs, der die Beziehung zu Gott weitgehend ausklammert, alles Wesentliche erfassen kann. 34 A.a.O. 323. 35 G. Delling, Art. γόης, ThWNT I, 737f.
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Übertölpelung“ enthält.36 Von hier aus führt der sprachliche Weg zum Gebrauch an unserer Stelle. Ein γόης ist „einer, der durch sein scheinbar frommes Gerede zu unfrommem Tun verführt.“37 Dieses Stichwort (πλανάω [planaō] „in die Irre führen“) taucht dann auch gleich auf (V. 13b), und zwar im Aktiv wie im Passiv. Es bezieht sich gleichermaßen auf die bösen Menschen und auf die Betrüger. Die aktive Bedeutung ist klar: Sie verführen andere. Die passive Bedeutung lässt aber beide Optionen zu: dass sie selbst abirren und dass sie Verführte sind, betrogene Betrüger also.38 πλανάω wird in der biblischen Literatur nicht selten von Schafen gebraucht, die sich verirrt haben und überhaupt den „Typ“ dessen charakterisieren, der sich allein nicht zurechtfindet, deshalb für Verführung offen ist (LXX Ps 118,176; Mt 18,12f; 1Petr 2,25), und dann auch für „Menschen, d. vom rechten Wege abgekommen sind“.39 Jesus verwendet das Wort, um die eschatologische Verführung zu beschreiben (Mk 13,5 parr; 13,6 par; Mt 24,11). Paulus verbindet mit Jakobus die Warnung vor der Verirrung (1Kor 6,9; 15,33; Gal 6,7; Jak 1,16). Er hatte das Bild in Tit 3,3 für die Existenz der Christen vor ihrer Bekehrung verwendet. Fehlt noch das Prädikat des Satzes, also das, was die betrogenen Betrüger tun. Sie werden immer tiefer sinken (προκόψουσιν ἐπὶ τὸ χεῖρον [prokopsousin epi to cheiron]). Von denen, die Jannes und Jambres gleichen, hatte er 3,9 gesagt: aber sie werden nicht weiter vorrücken (ἀλλ’ οὐ προκόψουσιν ἐπὶ πλεῖον [all’ ou prokopsousin epi pleion]), also mit dem, was sie tun, keinen Erfolg haben (s. dort). Obwohl von ihnen eine Gefahr für die Gemeinde ausgeht, ist doch ihr Abstieg objektiv betrachtet sicher. Möglicherweise ist dabei auch daran zu denken, dass die von ihnen zur Verführung verwendeten Methoden immer verwerflicher, sie selbst immer skrupelloser in ihrem Gebrauch werden. IV Paulus macht den Schritt von den Konflikten innerhalb der Gemeinden zu den Bedrohungen von außen. Erstere haben nicht dazu geführt, dass man die Christen wegen ihrer internen Spaltungen als ungefährlich ansah und sie deshalb nicht mehr beachtete, und Letztere haben keine Stärkung der Einheit unter Christen bewirkt. An dieser Stelle sieht der Apostel seinen Schüler Timotheus ganz nah bei sich, und zwar historisch-biographisch wie geistlichtheologisch. 36 37 38 39
A.a.O. 738. Beleg bei Philo z.B. Praem 8; Som 2,40. Ebd. Bauer/Aland 1337f. Ebd.; vgl. auch O. Böcher, Art. πλανάω κτλ., EWNT III, 233-238. Man beachte übrigens die Häufung des Buchstaben π im Anlaut!
Das Schrift gewordene und das verkündigte Wort Gottes 3,14–4,4
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Umgekehrt bedeutet das im Blick auf seine Gegner: Weder in der Analyse ihrer aktuellen Beschaffenheit noch in der Prognose ihrer zukünftigen Entwicklung sieht sich Paulus zu Verharmlosungen veranlasst. Der Ernst seiner eigenen Situation vor dem Tor der Ewigkeit und damit auch des Gerichts ermöglicht ihm einen deutlichen, klaren Blick auch auf jene, die das Evangelium ganz anders verstehen und verkündigen als er, und die auch ihr Leben als christliche Leiter ganz anders führen als er.
9. Das Schrift gewordene und das verkündigte Wort Gottes 3,14–4,4 I 14 Du aber bleibe bei dem, was du gelernt hast und woran du dich als treu erwiesen hast, in dem Wissen, von wem du [es] gelernt hast 15 und dass du von Kind auf die heiligen Schriften kennst, die dich belehren können zum Heil durch den Glauben an Christus Jesus. 16 Jede Schrift ist von Gott eingehaucht und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Besserung, zur Erziehung in Gerechtigkeit, 17 damit der Mensch Gottes recht beschaffen sei, zu jedem guten Werk zubereitet. 4,1 Ich bezeuge vor Gott und Christus Jesus, der im Begriff ist, Lebende und Tote zu richten, sowohl im Blick auf sein Erscheinen, als auch auf sein Reich: 2 Verkündige das Wort, steh hin rechtzeitig [wie] schlechtzeitig, überführe, weise zurecht, sprich zu in aller Langmut und Belehrung. 3 Es wird nämlich einen Zeitpunkt geben, da man die gesunde Lehre nicht ertragen wird, sondern gemäß ihren eigenen Begierden werden sie sich Lehrer zusammensuchen, nach denen ihnen die Ohren jucken, 4 aber von der Wahrheit wenden sie ihr Gehör ab, zu den Mythen werden sie sich wegwenden. II Ein für das angemessene Verständnis der Bibel als Wort Gottes ungeheuer wichtiger Text! Der etwas längere Abschnitt ist durch das einleitende σὺ δέ (sy de), nun mit folgendem Imperativ, vom voraufgehenden Text und auf dieselbe sprachliche Weise vom nachfolgenden abgehoben. Von der Vergangenheit (3,10f) über die Zukunft (3,12f) wechselt das Tempus in die auf der Vergangenheit aufbauende Gegenwart (3,14a). An die Stelle des beschreibenden Partizips (3,10.12.13) rückt der Imperativ (3,14; 4,2). Craig A. Smith beschreibt die Situation und die daraus resultierende Absicht des 2. Timotheusbriefs so, dass sich die Lage in Ephesus, wo sich Timo-
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theus aufhält, im Sinne von Apg 20,29-31 verschlechtert habe. Trotzdem rufe der Apostel ihn mit Nachdruck zu sich nach Rom, um (nach seiner erwarteten Haftentlassung) mit ihm zusammen dort Dienst zu tun. Er schreibe ihm „to assure Timothy he is confident of his fidelity as a believer (a son) and evangelist amidst a very difficult situation.“1 In 4,1-8 sieht er eine Abrundung des Briefkorpus durch diese (wie er es nennt) charge, „which summarizes the exhortation in the letter and the requirement of a good teacher.“2 Er hatte sich unter dem Aspekt der literarischen Form und der Gattung intensiv mit dem Abschnitt 4,1-8 befasst und meint, in dem kurzen Abschnitt eine besondere Form sehen zu sollen, die auch in anderen vergleichbaren Texten vorkommt3 und die er „the charge“ („Auftrag“ oder „Beauftragung“) nennt. Dieses Textmodul bestehe aus vier Elementen: „the Charge Verb, Person(s) Charged, Authority Phrase and Content of the Charge“, zu denen als fünftes die „Implications of the Charge“ kommen könne.4 Was 2Tim 4,1-8 angeht, ist das charge verb διαμαρτύρομαι. Die charged person wird nicht (besonders) genannt. Die authority phrase ist der Rest von V. 1. Den content of the charge finden wir in V. 2.5, in V. 8 die implications of the charge.5 Er kommt zu dem Ergebnis: „2Timothy is certainly not a farewell letter or last will and testament since Paul is hopeful that he will be released soon to continue his ministry. Rather this is a paraenetic letter written to encourage Timothy to continue to stand firm as a minister and to continue in suffering for the Gospel with Paul.“6 Textkritische Anmerkungen: In V. 14 ersetzen einige Handschriften den Plural τίνων durch den Singular τίνος. Dahinter könnte die Absicht stehen, Timotheusʼ geistlich-theologische „Abstammung“ allein auf Paulus zu beschränken und seine Mutter und Großmutter in diesem theologisch zentralen Zusammenhang beiseitezulassen. Diese mögliche Erklärung für die Änderung und das Gewicht und Alter der Handschriften, die den NA-Text stützen, lassen die Plural-Lesart als wahrscheinlich älter vermuten. Die Herausgeber des NA28 haben in V. 15 den bestimmten Artikel in eckigen Klammern inzwischen in ihren Text aufgenommen, was bedeutet, dass die „Ursprünglichkeit nicht ganz sicher ist“ (a.a.O. S. 7*). Der Artikel fehlt näm1 2 3 4 5 6
Smith, Task, 228. Ebd. Smith gibt auf den Seiten 229-235 einen Überblick über „Charges“ in hellenistischer Zeit. A.a.O. 227. A.a.O. 233. A.a.O. 228. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam vorher schon Prior, Paul 92-103, der die Begriffe σπένδομαι und ἀνάλυσις nicht als Hinweis auf den bevorstehenden Tod deutet, sondern im Gegenteil auf die erwartete Freilassung.
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lich in wichtigen alten Handschriften seit dem 4. Jh., ist andererseits im Mehrheitstext enthalten. Wenn die Handschrift *D1 aus dem 7. Jh. den als ursprünglich rekonstruierten D-Text (6. Jh.) korrigiert, indem der Abschreiber den in D fehlenden Artikel einfügt, kann das bedeuten, dass er den längeren Text in einer von ihm als älter oder vertrauenswürdiger angesehenen Handschrift gelesen hat. Das würde für den Langtext sprechen, dem wir hier folgen. Inhaltlich sagt der Artikel, dass es nicht um irgendwelche heiligen Schriften geht, sondern um ganz bestimmte (s. o.). Nach Bauer/Aland 330 erklärt „d.[er] techn. Charakter d.[es] Ausdrucks … d.[as] Fehlen d.[es] Artikels“ (Belege dort). In V. 16 lesen einige Handschriften, Übersetzungen (darunter immerhin die Altlateiner) und Kirchenväter etwa ab dem 3. Jh. θεόπνευστος ὠφέλιμος statt θεόπνευστος καὶ ὠφέλιμος, lassen also die Copula weg, weil sie – wie Metzger vermutet – „seems to disturb the construction“.7 III 14 Auf das dreimalige, den Text strukturierende σὺ δέ wurde bereits hingewiesen. Timotheus und seine Aufgaben sind weiter Gegenstand der Kommunikation. Die Anweisung (μένε [mene]) im Imperativ Präsenz erwartet von ihm Stetigkeit im Blick auf in der Vergangenheit Erlebtes (ἔμαθες καὶ ἐπιστώθης [emathes kai epistōthēs] – Aorist). Paulus verwendet das Verb μένειν [menein] öfter für das Verharren bei dem gerade erreichten Zustand (1Kor 7,8.11.20; 2Kor 3,14; 9,9; 1Tim 2,15 u.ö.), aber auch zur Bezeichnung dessen, was vor Gott (im Gericht) bzw. angesichts der Ewigkeit bestehen kann (1Kor 3,14; 13,13) sowie für „das Kommende“ überhaupt (2Kor 3,11). Hier geht es aber eindeutig um das Bleiben bei etwas (μένειν ἐν τινι [menein en tini]), nämlich bei dem Gelernten und als Glaubensgut Empfangenen, bei dem sich Timotheus als treu erwiesen hat. Der zweite Versteil gibt eine erste Begründung für die Aufforderung und macht zudem die Beziehungskomponente noch deutlicher bewusst: Er soll dabei bleiben in dem Wissen, von wem du [es] gelernt hast. Erneut legt der Lehrer Paulus also Wert auf den Vorgang des Lernens, seine Inhalte und die daran beteiligten Personen. Was er konkret mit den Lerninhalten meint, ist schwer zu sagen. Die katechetischen Traditionsstücke im NT zeigen, dass es schon früh Elemente gegeben haben muss, die neu zum Glauben Gekommene (auswendig?) lernten – was kein Wunder ist 7 B. M. Metzger. A Textual Commentary on the Greek New Testament: A Companion Volume to the United Bible Societies’ Greek New Testament. Stuttgart 41994, z. St.; anders dann aber Roger L. Omanson, A Textual Guide to the Greek New Testament. Peabody, Mass. 2006, z. St.
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2. Timotheusbrief
angesichts der im Judentum üblichen und von Jesus aufgegriffenen Lehrtraditionen. Hebr 6,1f, 1Thess 1,9f und Eph 4,4-6 nennen Beispiele. Der Apostelschüler hat sich, was das Erlernte und Übernommene angeht, bereits als treu erwiesen (ἐπιστώθης [epistōthēs]). Diese Bedeutung hat nämlich das Verb πιστόω [pistoō].8 Der Aspekt der Bewährung im Glauben und im Amt des Lehrers und Gemeindeleiters ist hier im Blick. Paulus will, dass sich daran in der Zukunft nichts ändert. Er würde das vielleicht nicht schreiben, wenn er nicht doch gewisse Bedenken hätte, was Timotheus angeht. Nicht durch negative Kritik versucht er Timotheus in seinem Sinne zu stabilisieren, sondern durch Lob und Bestätigung. 15a liefert – durch καί der ersten an die Seite gestellt – die zweite Begründung (ὅτι [hoti]) für die Aufforderung in 14a. Was Timotheus, den Sohn einer jüdischen Mutter, angeht, so gab es ein wesentlich breiteres Fundament als bei Menschen, die von völlig heidnischem Hintergrund kommend Christen wurden. Denn Timotheus kannte von Kind auf die heiligen Schriften (ἀπὸ βρέφους τὰ ἱερὰ γράμματα οἶδας [apo brephous ta hiera grammata oidas]).9 Mit diesem Hinweis wird deutlich an die Erwähnung seiner weiblichen Vorfahren in 1,5 angeknüpft: Mutter und Großmutter, beide mit ungeheucheltem Glauben, werden ihm die Texte, Geschichten und Inhalte des AT schon früh vertraut gemacht haben.10 Es handelt sich also (wie nicht anders zu erwarten) bei den heiligen Schriften um die heiligen Dokumente jüdischen Glaubens, was durch den textkritisch umstrittenen Artikel τά eindeutig gemacht wird, nicht um irgendwelche Texte etwa der griechischen Religion. Der verwendete Plural signalisiert das Bewusstsein, dass es sich dabei um eine Sammlung von verschiedenen Schriften verschiedener Verfasser handelt. Riesner hat sich in seiner Arbeit über „Jesus als Lehrer“ ausführlich mit Lernen, Schule und Erziehung im Judentum um die Zeitenwende befasst. Danach übernahm (soziologisch „schichtenübergreifend“, also nicht nur in wohlhabenden oder gebildeten Familien) der Vater bald nach der Entwöhnung, also dem Ende der Stillzeit, von der Mutter die Verantwortung für die Erziehung der Söhne (vgl. 2Makk 7,27). Dieser Zeitpunkt lag in der Regel etwa beim Übergang vom dritten zum vierten Lebensjahr. Die Aufgabe bestand in erster Linie darin, 8 Bauer/Aland 1337 nimmt an unserer Stelle die zweite Bedeutung an und übersetzt: „du aber bleibe bei dem, was du gelernt u. gläubig aufgenommen hast“. 9 Paulus nimmt hier seine Linie von 1Tim 2,15 wieder auf: Mütter sollen, dürfen und können ihre Kinder im Glauben anleiten. Im konkreten Fall des Timotheus fiel der Vater als Lehrer seines Sohnes wegen seiner heidnischen Abstammung auf jeden Fall aus, da er nach unserem Wissen nicht zum Judentum konvertiert war. 10 Vgl. hierzu die textkritischen Anmerkungen zu 3,14.
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„ihre Söhne in die religiösen Traditionen Israels einzuführen“.11 Da diese Traditionen als Texte vorlagen, spielte das Zuhören, das Auswendiglernen, Fragen und Antworten und das Lesen als Grundkompetenz eine wichtige Rolle.12 „In neutestamentlicher Zeit war die ‚Schrift‘ auch in den frommen Familien die Summe aller Bildung“, schreibt Riesner.13 Hatte der jüdische Junge das Alter von sechs oder sieben Jahren erreicht, so kam als weiterer Bildungsfaktor neben der Familie die Synagoge, genauer gesagt: die der Syngoge häufig angegliederte Schule hinzu.14 Möglicherweise konnten „bereits Eltern im Kanaan des 14. Jahrhunderts v.Chr. ihre Kinder zur Schule schicken“.15 Diese Phase der Bildung endete etwa, wenn das 13./14. Lebensjahr erreicht war.16 Das entspricht dem Zeitpunkt des Bar Mizwa, dem Erreichen der religiösen Mündigkeit. Bis zur ntl. Zeit konnte sich das jüdische Schulsystem in der Breite wie in der Tiefe vielfältig entwickeln. Die Tora spielte als „zentraler Gegenstand“ in diesem Lernsystem formal und inhaltlich eine wesentliche Rolle.17 Hierin und in den daraus folgenden Konsequenzen unterschied sich das jüdische Erziehungsmodell vom hellenistischen: „Während die griech. E.[rziehung] [paideia] den umfassend gebildeten Menschen zu erreichen sucht, denkt das AT von dem zwischen Gott und seinem Volk geschlossenen Bund her“, schreibt Müller.18
τὸ γράμμα [to gramma] ist „der Buchstabe“, dann „das Geschriebene“ überhaupt. Das Bedeutungsspektrum des Worts entspricht dem. Es kann auch „Elementarkenntnisse“ bedeuten,19 was in unserem Zusammenhang einen Sinn ergeben würde, wenn nämlich die Grundkenntnisse im Blick auf die (jüdische) Religion gemeint wären. Der Ausdruck ἱερὰ γράμματα [hiera grammata] geht nach Burkhardt auf den „ägyptischen Kulturbereich“ zurück, „wobei das Attribut ἱερός vor allem auf den Entstehungs- bzw. Aufbewahrungsort hinzuweisen scheint.“20 Wenn wir schon bei Philo sind: Als ἱερὰ γράμματα konnten möglicherweise schon während der Regierung des Augus-
11 Riesner, Jesus, 106; vgl. z.B. Ex 13,14f; Deut 6,2.7.20-25; 11,18f; Ps 78,3f; Jub 7,38f; 11,16; 45,16; 47,9. 12 A.a.O. 115-123. 13 A.a.O. 111. 14 A.a.O. 182ff; vgl. dazu die sog. Theodotos-Inschrift (CIJ 2,332), die als einen Nutzungszweck des Synagogengebäudes das Lehren der Gebote erwähnt. Vom Mittelalter bis zur Neuzeit konnte die Synagoge im deutschsprachigen Raum volkstümlich als „Judenschule“ bezeichnet werden. 15 A.a.O. 153. 16 A.a.O.186f. 17 P. Müller, Art. Schule, CBL 2,1216. 18 Ders., Art. Erziehung, CBL 1,315. 19 Bauer/Aland 330. 20 Burkhardt, Inspiration, 79.
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tus, sicher aber später, kaiserliche Briefe und Erlasse bezeichnet werden.21 Sie sind an unserer Stelle aber sicher nicht gemeint. Der Ausdruck stammt vielmehr, spätestens durch Philo und Josephus ins Griechische übernommen, aus der hebräischen Synagogensprache, die von den heiligen Schriften des AT als von [ ִכְּת ֵבּי־ַה ֹקֶּדשׁqitbēj haqqodäsch] spricht.22 Umstritten ist, ob Philo damit lediglich den Pentateuch bezeichnen wollte oder darüber hinaus andere kanonische oder außerkanonische Schriften des Judentums.23 Burkhardt kommt zu dem Ergebnis, dass einerseits „Philo keine einzige der damals schon vorhandenen sog. apokryphen Schriften zitiert“,24 dass aber andererseits nur vergleichsweise wenige atl. Bücher von ihm nicht zitiert werden.25 Sollte dieses Verständnis auch für Paulus gelten, was anzunehmen naheliegt, so bezieht er sich ebenfalls auf den atl. Kanon (der LXX?), der Timotheus durch seine kindliche und jugendliche Erziehung vertraut war.26 – Erstaunlich ist die syntaktische Stellung des Prädikats οἶδας [oidas] am Ende des Nebensatzes. Es erhält dadurch besonderes Gewicht. 15b ist ein mit theologischen Schwergewichten gut bestückter, partizipial konstruierter Relativsatz. Er unterstreicht die Bedeutung der heiligen Schriften und bildet gleichzeitig die Brücke zu V. 16. Von den heiligen Schriften gilt, dass sie dich belehren können zum Heil durch den Glauben an Christus Jesus. Mit σοφίζειν [sophizein – auch ein hapax legomenon bei Paulus] stoßen wir auf ein weiteres Wort aus dem Wortfeld „lernen/lehren“. Kann man Errettung nach Paulus „lernen“? Sicher nicht! Aber Errettung setzt doch ein Minimum an Kenntnis von Inhalten und Zusammenhängen voraus (V. 15a: οἶδας). Die alte Dogmatik sprach vom „Köhlerglauben“, d.h. von einem wesentlich an den Glauben „der Kirche“ angelehnten, intellektuell nicht auf eigenen Füßen stehenden, „ungebildeten“ Glauben ( fides qua creditur) bzw. von einer unverzichtbaren „eisernen Ration“ an Glaubenswissen ( fides quae creditur), ohne die christlicher Glaube nicht möglich ist. In den Glaubensbekenntnissen vom Nicaenum bis zum Apostolicum und weiter wurden die gemeinsamen Glaubensinhalte aller Getauften bzw. der Mitglieder einzelner Kirchen zusammengefasst. Von Einzelfällen abgesehen, kann man deshalb
21 22 23 24 25 26
Vgl. Deissmann, Licht, 321f. G. Schrenk, Art. γράφω κτλ., ThWNT I,763 (mit Belegen). Burkhardt, Inspiration, 140. A.a.O. 141. A.a.O. 141f. Vgl. hierzu auch D. E. Heath. The Scripture of St. Paul: The Septuagint. A Brief Introduction to the Most Influential Version of Old Testament Scripture Ever Published, Lake City 1994; Schnelle, Paulus, 100-103.
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sagen: Errettung geschieht weder in einem religiösen Vakuum, noch ohne vorherige Information. In den atl. Texten steckt das Potenzial (τὰ δυνάμενα [ta dynamena]), einen Menschen auf den Weg in Richtung „Errettung“ zu schicken.27 Es wäre zu kurz gegriffen, hier nun lediglich an das heilsgeschichtliche Schema „Verheißung – Erfüllung“ oder an die sog. „Reflexionszitate“ im Matthäusevangelium oder Ähnliches zu erinnern. Das AT ist voll von Ansätzen, an die im NT, im Evangelium, angeknüpft wird. Von dem Retter (σωτήρ [sōtēr]) Jesus Christus sprach Paulus schon in 2Tim 1,10,28 vom Heil (σωτηρία [sōtēria]) in 2,10, das zugehörige Verb kommt in 1,9 und 4,18 vor. Im Hintergrund stehen sowohl der profangriechische Sprachgebrauch mit einem breiten Spektrum an Bedeutungen bis hinein in den religiösen Bereich, dann aber auch und inhaltlich vor allem die hebr.-atl. Terminologie, die durch das griechisch sprechende Judentum (vor allem die LXX, aber auch apokalyptische, apokryphe und essenische Schriften) vermittelt wurde. Auch hier gibt es einen großen Spielraum: „Hilfe“ oder „Rettung“ kann von Menschen oder von Gott kommen. In letzterem Sinn geht die Bedeutung bis hin zur „Rettung im entscheidenden Gericht und alsdann [zum] eschatologische[n] Heil der Welt“.29 Nach Schelkle ist σωτηρία, wenn sie nicht „Errettung in profan-historischem Sinn“ oder „aus der Hand nationaler Feinde“ oder „aus der Sünde“ oder „aus gegenwärtiger Bedrängnis“ meint, „regelmäßig Heil in übernatürlich-endzeitlichem Sinn.“30 So ist es sicher auch in unserem Zusammenhang zu verstehen, denn erstens ist das Heil an den Glauben gebunden, zweitens ist es ein Glaube an den Christus Jesus, also an den im AT schon erwarteten und angekündigten Gesalbten (Messias) Gottes. Will sagen: Die heiligen Schriften unseres AT schaffen bei Timotheus schon von klein auf die Voraussetzung dafür, dass er durch den Glauben an Israels Messias das Heil erhält. Mit V. 16 kommt erneut ein weisheitlich-feststellender Ton zum Klingen. Es handelt sich in Verbindung mit V. 17 um einen Hauptsatz (16) und einen final-adverbialen Nebensatz (17). Schon V. 12 war ein entsprechend allgemein formulierter, mit πάντες [pantes] beginnender Satz gewesen. Vers 16 setzt parallel mit πᾶσα (pasa) ein. Meinte V. 12: „So ist es immer, wenn Menschen fromm leben wollen …“, so V. 16: „Das gilt für jede Schrift, die …“ Aber hier
27 Mit dem „dich“ ist wohl kaum Timotheus selbst gemeint. Es steht, unserem gelegentlichen Gebrauch nicht unähnlich, unbestimmt für „jemand“. 28 Vgl. dazu die Auslegung in diesem Kommentar. 29 K.H. Schelkle, Art. σωτηρία, EWNT III, 784. 30 A.a.O. 785.
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beginnen die sprachlichen Probleme.31 Wegen der weitreichenden Konsequenzen für die Hermeneutik der Bibel ist eine ausführliche Sichtung nötig: (a) πᾶσα [pasa] kann im Singular „ganz“ oder „jede“ bedeuten. Wird die Bedeutung „ganz“ bevorzugt, müsste zusätzlich angenommen werden, dass der sonst übliche Artikel zwischen Adjektiv und Nomen ausgefallen ist – eine durchaus mögliche Option. Was ist hier gemeint? In V. 15 war allgemein von den ἱερὰ γράμματα die Rede. Damit sind, wie wir sahen, die heiligen Schriften des Judentums gemeint. An unserer Stelle steht nun γραφὴ θεόπνευστος [graphē theopneustos], was (s.u.) sehr wahrscheinlich materialiter dasselbe bedeutet, lediglich wird hier der Akzent darauf gelegt, dass und wie Gott an ihrem Entstehen beteiligt war, also auf ihre Qualität als von Gott selbst eingegebene und deshalb gültige heilige Texte. Anders als in V. 15 kommt hier der Singular zur Anwendung. Die Sammlung von Schriften verschiedener Verfasser wird also als Einheit verstanden: ἡ γραφή ist „die (ganze) Schrift“. Trifft dies zu, dann wird γραφή nicht einzelne Schriftstellen meinen. Das Verständnis „jede von Gott eingehauchte Schriftstelle“, das die Existenz solcher Texte im AT voraussetzt, die eben nicht von Gott eingehaucht sind, passt deshalb nicht. Wir müssen an dieser Stelle kurz verweilen und auf ein wichtiges Argument eingehen. Was ist denn mit Textstellen in der Bibel, die ganz offensichtlich nicht dem Willen Gottes entsprechen, ja die ihm sogar diametral entgegenlaufen: mit den Worten der Schlange, die die ersten Menschen vom Vertrauen auf Gott abbringen möchte (Gen 3,1b.4f)? Mit den Worten des Versuchers, der Jesus unter seinen Einfluss bekommen will (Mt 4,9) und vielen anderen? Ist das für uns auch „Wort Gottes“? Die Antwort: Ja, aber in dem Sinn, dass die Heilige Schrift treffend spiegelt, mit welchen Anfechtungen und Versuchungen wir Menschen leben müssen. Sie berichtet auch zutreffend über Reaktionen von Menschen auf die Herausforderung durch Gottes Wort in Zustimmung und Ablehnung. (b) Damit ist die Frage, was denn für Paulus mit γραφή gemeint sei,32 bereits beantwortet: Es sind die heiligen Schriften des Frühjudentums, die wir „das Alte Testament“ nennen, weil wir sie von der Botschaft Jesu und der frühen Christenheit unterscheiden wollen. Wie die Evangelien indirekt am Beispiel von Pharisäern und Sadduzäern zeigen, ist damit noch nicht genau gesagt, welche Schriften zu diesem Kanon gehört haben. Die Meinungen auch 31 Vgl. zur sprachlichen Analyse den Artikel von H. von Siebenthal, Die syntaktische Rolle von θεόπνευστος in 2Tim 3,16, JETh 13 (1999), 57-66, dem wir weitgehend folgen. 32 Nach Hübner, a.a.O., 629, steht γραφή sowohl für „die (heilige) Schrift (‚AT‘ im christl. Sprachgebrauch)“, „aber auch für die einzelne Schriftstelle; doch ist dies im Einzelfall nicht immer klar entscheidbar.“
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zwischen gewichtigen jüdischen Religionsparteien darüber gingen auseinander: Während die Sadduzäer lediglich die Tora als heilige und also gültige Schriften anerkannten und deshalb nur sie zur Lesung im Gottesdienst zuließen, zählten aus verschiedenen Gründen für die Pharisäer auch Propheten und Schriften dazu. Ob auch manche apokryphen, essenischen oder jüdisch-hellenistischen Schriften mancherorts als heilig angesehen wurden und welches Gewicht das insgesamt hatte, lässt sich nicht präzis sagen. Da Paulus zu den Pharisäern gehörte, gehen wir davon aus, dass er mit ἡ γραφὴ θεόπνευστος den „Tenach“ (Tora, Propheten, Schriften) gemeint hat. Anders als seine ehemaligen pharisäischen Parteifreunde, deren Muttersprache aramäisch war, wird er vermutlich auch die biblischen Texte in griechischer Sprache hierzu gezählt haben – was allerdings ein Spezialproblem für sich darstellt, das hier nicht aufgearbeitet werden kann.33 Dale E. Heath schreibt im Blick auf die Bibel des Timotheus: „The only Scriptures Timothy could have ʻknown from a child’ were Greek Scriptures, the Septuagint, equally necessary for his Ephesian pastoral ministry of ʻteaching and instruction in righteousness’ … And we must not overlook Paul’s observation that these Greek Scriptures, which Timothy had ʻknown from childhood,’ were ʻable to make [him] wise unto salvation through faith in Christ Jesus’.“34 (c) In V. 16 fehlt das Hilfsverb. Wo ist es zu ergänzen? Und noch einmal: Was bedeutet πᾶσα? In unserem Fall ist πᾶσα dem Nomen im Singular ohne Artikel vorangestellt. Nach Bauer/Aland hat es dann die Bedeutung: „die einzelnen Exemplare der durch das Nomen bez.[eichneten] Klasse hervorhebend jeder, in der Bed.[eutung] von dem Pl.[ural] ‚alle‘ kaum zu unterscheiden“.35 Demnach wäre hier „jede einzelne Schrift“ gemeint. Bezieht man θεόπνευστος im Sinne eine Attributs auf πᾶσα γραφή, dann könnte man übersetzen: „Jede [einzelne] von Gott eingehauchte Schrift ist auch nützlich …“ Der Verfasser könnte damit innerhalb des atl. Kanons zwischen von Gott eingehauchten und nicht von Gott eingehauchten Einzelversen oder Textteilen unterscheiden. Die Alternative ist, dass der Nachdruck darauf liegt, die Gotteingehauchtheit beziehe sich nicht nur pauschal auf den ganzen (jüdischen/
33 G. Maier nennt dies „immer noch ein offenes Problem“; ders., Biblische Hermeneutik, Wuppertal 1990, S. 158. 34 D.E. Heath. The Scripture of St. Paul – The Septuagint, A Brief Introduction to the Most Influential Version of Old Testament Scripture Ever Published. Lake City, Florida, 1994, 23f. 35 Bauer/Aland 1274; unter γραφή heißt es bei dort S. 331, mit „ἡ γ.[ραφή]“ sei „d[ie] einzelne Schriftstelle“ gemeint.
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paulinischen) Kanon, sondern auf jeden einzelnen Textabschnitt. Es ginge also um eine Präzisierung und Verstärkung der Aussage in V. 15a. Die Bedeutungsvariante „ganz“ für πᾶσα an dieser Stelle ist nach Bauer/ Aland auszuschließen, weil der Artikel fehlt, denn diese Bedeutung hat das Wort lediglich, wenn es „dem artikulierten Nomen vorangestellt“ ist.36 Es ergeben sich diese Möglichkeiten: (α) πᾶσα γραφὴ θεόπνευστος [ἐστιν] καὶ ὠφέλιμος πρός … „Jede Schrift ist von Gott eingehaucht und [deshalb] nützlich zur …“ θεόπνευστος ist hier wie ὠφέλιμος Prädikatsnomen. Die Aussage würde sich grundsätzlich auf jedes Dokument in Schriftform beziehen, auch auf heidnisch-religiöse Schriften. Das wird Paulus nicht ausdrücken wollen. „Nirgends im NT meint γραφή eine nichtbibl. Schrift“, stellt Hübner richtig fest.37 Wir können die Bedeutung „jede“ für πᾶσα deshalb grundsätzlich ausschließen. (β) πᾶσα [ἡ] γραφὴ θεόπνευστος [ἐστιν] καὶ ὠφέλιμος πρός … „[Die] ganze Schrift ist von Gott eingehaucht und nützlich zur …“ Damit wäre gesagt, dass es in der Schrift (s.u.!) keine Aussagen gibt, die nicht inspiriert sind. Weil der bestimmte Artikel aber fehlt, kommt auch diese Variante kaum infrage. (γ) πᾶσα [ἡ] γραφὴ θεόπνευστος καὶ ὠφέλιμος [ἐστιν] πρός … „jede von Gott eingehauchte Schrift ist auch nützlich zur …“ Die Heilige Schrift hätte demnach auch andere Funktionen, wäre aber eben auch nützlich zur Lehre usw. (d) Wie sind die beiden Verbaladjektive θεόπνευστος [theopneustos] und ὠφέλιμος [ōphelimos] einander und dem ganzen Nominalsatz zuzuordnen? Der Altphilologe Heinrich von Siebenthal hat eine syntaktische Analyse vorgelegt. Er sieht grundsätzlich drei Optionen:38 (α) Beide Begriffe sind im Satzgefüge (V. 16f) Prädikatsnomina und durch die Kopula miteinander verbunden. Dann wäre zu übersetzen: „Jede/Alle Schrift [ist] von Gott eingegeben und nützlich …“. (β) θεόπνευστος ist Attribut zum Subjekt, καί ist mit „auch“ zu übersetzen, ὠφέλιμος ist Prädikatsnomen. Siebenthal übersetzt: „Jede/Alle von Gott eingegebene Schrift [ist] auch nützlich …“.
36 Bauer/Aland 1275. 37 H. Hübner, Art. γραφή κτλ., EWNT I, 630. 38 A.a.O. 57-59; Zitate 57.
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(γ) θεόπνευστος ist Adjektiv-Apposition zum Subjekt, καί ist mit „auch“ zu übersetzen und ὠφέλιμος ist wieder Prädikatsnomen. Die Übersetzung lautet dann: „Jede/Alle Schrift, [da ja] von Gott eingegeben, [ist] auch nützlich …“. Aufgrund seiner Bewertung der Varianten kommt er aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen in einem Ranking zu dem Ergebnis, dass seine Variante 3 (hier: γ) als die wahrscheinlichste anzusehen ist.39 Es geht in 3,16 um das Schrift gewordene Wort Gottes, das wegen dieses Charakters als Grundlage zunächst für jüdische, dann neben den ntl. Schriften auch für christliche Lehre usw. dienen kann und soll. Mit den vier Zwecken wird bereits die Brücke zu 4,2 geschlagen, wo das (in welcher Form auch immer) verkündigte Gotteswort in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Nun kommen wir noch einmal, und nun inhaltlich, zu den beiden wichtigen Verbaladjektiven θεόπνευστος und ὠφέλιμος. Mit von Gott eingehaucht (θεόπνευστος [theopneustos], – Vulgata: divinitus inspirata) berühren wir einen zentralen, sensiblen Punkt der Theologiegeschichte und einen wichtigen Teilaspekt der Hermeneutik, von dem aus manche theologischen und exegetischen Entscheidungen fallen: die Inspiriertheit der Heiligen Schrift.40
39 A.a.O. 63. Einige wichtige Kommentatoren übersetzen so: Weiser: „Jede Schrift [ist] als von Gott eingegeben auch nützlich zur Belehrung“ Towner: „All Scripture is God-breathed and is useful for teaching“ Marshall: „Every/all Scripture which is inspired is also profitable for“ oder: „Every/all Scripture is inspired and profitable for“ Oberlinner: „Jede Schrift ist als von Gott eingegeben auch nützlich zur Belehrung“ Holtz: „Jede Bibelstelle ist von Gottes Geist eingegeben und nützlich zur“ Merkel: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung“ Brox: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Lehre“ Jeremias: „Jede Schriftstelle stammt aus Gottes Geist und ist nützlich zur“ Hasler: „Auch ist jede von Gottes Geist erfüllte Schrift für den Unterricht nützlich“ Kelly: „Every Scripture is inspired by God and profitable“ 40 Echtheit und Datierung des 2Petr sind in Europa weit mehr umstritten als etwa im angelsächsischen Raum. Die große Mehrheit der wissenschaftlich arbeitenden Exegeten sind überzeugt, dass 2Petr nicht vom Apostel Petrus oder in seinem Auftrag verfasst wurde (so etwa Schnelle, Einleitung 504, der ihn um 110 n.Chr. datiert). Dafür gibt es schwerwiegende historische und theologische Gründe. Sollte sich diese Meinung aber (wie bei den Past) als fragwürdig erweisen und gezeigt werden können, dass der Brief etwa in dieselbe Zeit und Situation wie 2Tim gehört, dann fiele unter synchronem Aspekt von 2Petr 1,20f im Vergleich mit 2Tim 3,15f ein neues Licht auf die Aussagen hier. Es läge dann auch die Vermutung nahe, dass die Frage nach der Hermeneutik in einem weiten Sinn bereits um die Mitte der 60er-Jahre in den Gemeinden eine Rolle gespielt hat. Die Frage nach den Gründen stünde im Raum. Zurzeit gilt diese Ansicht allerdings eher als exotisch.
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Wir stehen vor der immens wichtigen Frage, wie es eigentlich sein kann, dass Worte, die ein Mensch gesprochen oder aufgeschrieben hat, Gottes verlässliche Worte sind oder werden. Bekanntlich behaupten weder Juden noch Christen, ihre jeweilige Heilige Schrift sei bereits fertig „gefunden“ (wie die Mormonen für das „Buch Mormon“) oder komplett wörtlich einem Menschen diktiert (wie Muslime für den Koran). Im Gegenteil schimmern einzelne Bruchstücke ihres Entstehungsprozesses nur an wenigen Stellen durch (z.B. Jer 36; Lk 1,1-4; Apg 1,1f). Allerdings wird in der Bibel selbst gesagt, dass Menschen auf unmittelbare Anweisung Gottes Texte aufgeschrieben haben (z.B. Offb 2,1.8.12.18; 3,1.7.14) bzw. dass ihnen Botschaften von Gottes Geist „eingeraunt“ wurden (vgl. die häufige Formulierung [ ְנֻאם יהוהneʼum JHWH ] z.B. Jes 14,22; Jer 1,8; Hes 5,11 u.ö.). Wer sich grundsätzlich auf eine „Inspirationslehre“ einlassen will, muss die Frage nach der Bedeutung von (1) ְנֻאםbei den atl. Propheten und von (2) θεόπνευστος in 2Tim 3,15 beantworten. (1) ְנֻאםist ein etymologisch unsicheres Substantiv, das Vetter mit „Ausspruch“ wiedergibt.41 Er verfolgt den Ursprung der Wendung in vorprophetische Zeit zurück und findet ihre älteste Spur mit W.F. Albright in Num 24,3f.15f. Dort „unterstreicht die Seherspruchformel das Subjekt des Spruches und damit das vom Seher selbst zu verantwortende Wort.“42 Sie sei dann bei Amos „zur Bekräftigung der im Prophetenwort redenden ersten Person Gottes gebraucht“ worden und habe bei Amos „die schwächere abschließende Botenspruchformel abgelöst, auf dem Höhepunkt seiner Geschichte … verdrängt“, sei ihr aber am Ende doch erlegen.43 Man könnte also sagen: Das Reden Jahwes ist die eine Seite des Wortempfangs, das Hören des Menschen die andere. Spannend ist die Frage, ob es sich um ein akustisches Reden und Hören gehandelt hat, anders ausgedrückt: Hätte man Gottes Reden objektivierend auf dem heutigen Stand der Technik mit Mikrofon und Speichergerät aufnehmen können? Die biblischen Schriftsteller sind an dieser Frage nicht interessiert gewesen. Wichtig war für sie das überzeugte Auftreten der Propheten als Boten Gottes mit genau dieser Botschaft. (2) Der Form nach haben wir es bei θεόπνευστος mit einer aus zwei Bestandteilen, dem Substantiv θεός und dem (passiven) Verbaldadjektiv πνευστός (von πνέω), zusammengesetzten, sonst äußerst selten (nicht einmal bei Philo) vorkommenden Wortbildung zu tun.44 Das Verb πνέω hat die Bedeutungen „wehen, blasen v. Wind“ und „hauchen, duften, einen Geruch von sich geben“ einerseits sowie andererseits „etw. duftend ausstrahlen“.45 Es geht also um einen aus antiker D. Vetter, Art. ְנֻאם, THAT 2,1. A.a.O. 2. A.a.O. 2f mit Verweisen. Liddell/Scott nennen lediglich drei außerbiblische Belege: Pseudo-Phokylides I,29 (vermutlich jüdischer Schriftsteller um die Zeitenwende), wo es um gotteingehauchte Weisheit geht; Plutarch 2,904f (griech. Schriftsteller, ca. 45 bis ca. 125 n.Chr.); den Astrologen Vettius Valens 330,19 (2. Jh. n.Chr.). 45 Bauer/Aland 1363. 41 42 43 44
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Perspektive immateriellen Vorgang, der aber u.U. auf eine Person zurückzuführen ist und in jedem Fall wahrnehmbare Auswirkungen zeitigt. Das vorgesetzte θεό- bezeichnet die Herkunft bzw. den Bewirker, während πᾶσα γραφή das Bezugswort des Verbaladjektivs ist. Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang an die Begriffe für „Geist“ (hebr. רוַּח, griech. πνεῦμα) zu denken, die beide auch „Wind“ bedeuten können, und die Verbindung zu Jesus herzustellen, von dem es Joh 20,22 heißt, als er seine Jünger sendet und mit der Vollmacht zur Sündenvergebnung beauftragt: ἐνεφύσησεν καὶ λέγει αὐτοῖς·λάβετε πνεῦμα ἅγιον („er blies sie an und sagte zu ihnen: Empfangt Heiligen Geist!“). Geistempfang erfolgt hier durch Anhauchen, allerdings unabhängig von der Übermittlung des Wortes Gottes, die offenbar ein zweiter Schritt ist. Früher wurde häufig auf das Inspirationsverständnis des jüdischen Theologen und Philosophen Philo von Alexandria, einem älteren Zeitgenossen Jesu, Bezug genommen. Er „habe eine von griechischer Mantik und Mysterienfrömmigkeit beeinflußte streng ekstatische Inspirationsvorstellung gehabt, nach der bei der Entstehung der Schrift die Persönlichkeit des menschlichen Autors ausgeschaltet und somit ohne Einfluß auf das Ergebnis des Inspirationsvorganges gewesen sei“, fasst Burkhardt den Forschungsbericht in seiner Dissertation zusammen.46 Wie er dann zeigt, mangelte es in der früheren Forschung an einer umfassenden Wahrnehmung von Philos Werken. Vereinzelten Aussagen in der beschriebenen Richtung stünde „eine geradezu erdrückende Fülle von anderen gegenüber, in denen ein kausaler Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit des biblischen Autors und den biblischen Schriften ausgesagt oder vorausgesetzt wird.“47 Burkhardt hält aber fest, dass Philos Verständnis dem biblischen, besonders dem weisheitlich-biblischen, zwar näher stehe als ein ekstatisches Inspirationsverständnis, merkt aber kritisch aus theologischer Sicht an, dass es andererseits „zur Überwindung alles Geschichtlichen hin zum Zeitlosen“ führe, wo doch „das besondere Gotteszeugnis der Bibel … sich gerade in seiner Geschichtsgebundenheit“ zeige.48 Im Ergebnis geht es bei der Inspiration letztlich nicht darum, wie Inspiration technisch-praktisch „funktioniert“ hat, sondern ob sie von der Heiligen Schrift behauptet werden kann, d.h. es geht um die Frage der verlässlichen Geltung dessen, was die Bibel den Menschen mitteilt.49
46 47 48 49
Burkhardt, Inspiration, 221. Ebd. A.a.O. 223. Was ich zum Thema „biblische Hermeneutik“ zu sagen habe, habe ich in einem Aufsatz „Towards an Evangelical View of Scripture: An Essay on Clarification“, European Journal of Theology 4.2 (1995) 131-144, skizziert. Als ausführliche Darstellung weise ich auf das einschlägige Werk von G. Maier, Biblische Hermeneutik, TVG-Monographien 355, Witten 92014.
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Nützlich (ὠφέλιμος [ōphelimos]) können Personen, Verhaltensweisen und Dinge sein. Das Adjektiv kommt im NT nur in den Pastoralbriefen vor (außer hier noch 1Tim 4,8; Tit 3,8). In 1Tim 4,8 und an unserer Stelle wird es mit πρός und Akkusativ im Blick auf einen zu erreichenden Zweck konstruiert, in Tit 3,8 mit dativus commodi (Dativ, der einen Nutzen oder Vorteil beschreibt). An anderen Stellen, an denen die Wortfamilie vorkommt, verwendet der Apostel sie, um den (religiösen) Nutzen oder Nicht-Nutzen der Beschneidung (Röm 2,25; 3,1; Gal 5,2), der Liebe (1Kor 13,3), der Zungenrede (1Kor 14,6), der Askese (1Tim 4,8) und guter Werke (Tit 3,8) zu verdeutlichen. 2Tim 3,16 sind es vier „geistige“ Tätigkeiten, die einmal mehr mit dem Thema „Bildung/ Lernen“ zu tun haben und für deren Gelingen die von Gott eingehauchte Schrift nützlich ist, nämlich zur Lehre (πρὸς διδασκαλίαν [ pros didaskalian]), wie wir sie oben bereits beschrieben haben, zur Überführung (πρὸς ἐλεγμόν [ pros elegmon]) im Sinne der Überzeugung eines Zweifelnden, zur Besserung (πρὸς ἐπανόρθωσιν [ pros epanorthōsin]) des Menschen, dessen Lebensführung zu wünschen übrig lässt, und zur Erziehung in Gerechtigkeit (πρὸς παιδείαν τὴν ἐν δικαιοσύνῃ [ pros paideian tēn ev dikaiosynē]), wobei das ἐν im Sinne von „durch“ instrumental verstanden werden kann (die Gerechtigkeit ist das Mittel der Erziehung) oder so, dass Gerechtigkeit die Existenzweise ist, in der die Erziehung stattfindet (vgl. Tit 2,11-14; Eph 4,24).50 Vermutlich trifft hier das Zweite zu. Eph 6,4 spricht Paulus von der παιδείᾳ καὶ νουθεσίᾳ κυρίου, der „Erziehung und Mahnung des Herrn“. Er dürfte sich dabei an atl.-weisheitliche Formulierungen anlehnen. War jedoch im AT an das unmittelbare Handeln Gottes an seinem Volk gedacht, so wird im Eph dieses Erziehungshandeln eher als Vorbild gemeint sein, an dem sich die christlichen Väter orientieren sollen. Erziehung ist aber nach unserer Stelle nicht auf Kindheit oder Jugend beschränkt. Wir müssen beachten, dass „nach atl.-jüd. Verständnis … ‚Gerechtigkeit‘ (…) das ‚rechte‘ Verhalten Gottes und der Menschen nicht im Blick auf eine ideale Norm von Rechtsein, sondern im Blick auf das konkrete Lebensverhältnis der Partner zueinander“ meint.51 Kertelge spricht im Blick auf den Christen, wie Paulus ihn versteht, von der „Gerechtigkeit, die das Leben des Christen 50 Marshall 796: „δικαιοσύνη is clearly righteous behaviour“. Nach Weiser 283 ist Gerechtigkeit ein „Grundverhalten, in dem Gott und den Menschen das ihnen Zukommende gegeben wird“. 51 K. Kertelge, Art. δικαιοσύνη, EWNT I, 786.
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bestimmt und durchwirkt“.52 Genau dies wird auch hier gemeint sein: Erziehung (wir könnten mit 1Thess 4,3 auch sagen: Heiligung) spielt sich im Raum ab, in dem Gerechtfertigte leben. Towner weist mit Recht darauf hin, dass παιδεία im griechisch-römischen Konzept auf die Aneignung von Tugenden (und damit von Zivilisiertheit) zielte, aber nicht nur im Aufnehmen von Wissen bestand, sondern daneben „the negative or corrective element of discipline“ einschloss, „which played its part in the positive developement of character.“53 Also: War in V. 15 durch die heiligen Schriften der Weg zum Heil gewiesen, so spricht der Apostel in V. 16 von den Folgen eines solchen Schritts, nämlich davon, dass dieselben Schriften das Potenzial haben, den gerechtfertigten Menschen im Blick auf den Glauben und seine Inhalte und Zusammenhänge zu unterweisen, die immer wieder hochkommenden Zweifel zu widerlegen, die Lebensführung in Ordnung zu bringen und ihn in seinem Status als Glaubender angemessen zu formen.54 Erst in V. 17 wird der Zielgedanke formuliert, auf den hin alles Vorherige gesagt worden war. Ein Doppelziel wird angestrebt: damit der Mensch Gottes recht beschaffen sei, zu jedem guten Werk zubereitet. Noch einmal sagt der Verfasser deutlich, dass er (im Unterschied von den von ihm als problematisch angesehenen Menschen 3,2.8.13) jetzt von dem redet, der zu Gott gehört. Die Voranstellung von τοῦ θεοῦ [tou theou] hebt das noch hervor. Wie soll er sein? Recht beschaffen soll er sein. Auch ἄρτιος [artios], das mit dem auch bei Paulus häufigen ἄρτι [arti] „jetzt“ zusammenhängt, ist hapax legomenon im NT und kommt auch in der LXX nicht vor. Liddell/Scott übersetzen es mit „complete, perfect of its kind, suitable, exactly fitted“.55 Im Blick auf unsere Stelle bieten sie als Übersetzung an: „sound of body and mind“ („an Körper und Geist gesund“). Die Festlegung auf eine Bedeutung ist hier in der Tat nicht leicht. Vielleicht schillerte das griechische Wort auch schon für Paulus. Von V. 14-16 kommend ist klar, dass nur aus den verschiedenen Aspekten das 52 A.a.O. 787. 53 Towner 591. 54 Viele Ausleger haben versucht, hinter der Anordnung der vier Elemente ein formales Schema zu entdecken, etwa paarweise und negativ/positiv (Guthrie, Stott, Knight u.a.) oder chiastisch (Marshall, Towner). Mir erscheint das lineare Modell von Herbert Preisker („eine wohl beabsichtigte Stufenfolge“; Art. ὀρθός κτλ., ThWNT V, 452) die einleuchtendste Lösung zu sein, denn die Schrift ist Ausgangspunkt jeder christlichen Lehre; diese wiederum führt, wenn sie überzeugend und stringent ist, zur Überführung des noch Zweifelnden; dieser wird daraufhin sein Verhalten zum Guten verändern (Besserung) und im Stand der Gerechtigkeit weitere Erziehung im Sinne von „Heiligung“ erfahren. 55 Liddell/Scott 249.
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Angestrebte entstehen kann, ein umfassend „heiler“ Mensch, der allein zu jedem guten Werk zubereitet ist. Sicher nicht zufällig klingt in ἐξηρτισμένος [exērtismenos] das eben gebrauchte Adjektiv ἄρτιος an. Möglicherweise hat der Schreiber das hapax legomenon gerade deshalb verwendet. 2Tim 2,21 hatte der Verfasser schon bis auf das sicher an die Viererkette in V. 16 erinnernde πρός und das Verb identisch formuliert. Das gegen den normalen Satzbau vorgezogene Prädikat ἄρτιος ᾖ und das Partizip im Perfekt Passiv bilden gemeinsam eine inclusio. Es geht um Christen, die sich bewähren müssen – nicht im Bereich des Gedanklichen, sondern im wirklichen Leben –, was aber nicht ausschließt, dass sie auf „intellektuellem“ Wege dafür bereit gemacht werden. πᾶν [pan] verleiht auch diesem Satz eine allgemeingültig-weisheitliche Note. 1 Ab 4,1 zieht der Apostel aus dem Gesagten Schlüsse für die Aufgabe von Timotheus.56 Er tut das nicht mit gleichgültig-sachlichem Ton, sondern beschwörend – und wieder fällt uns auf, dass er sich Timotheusʼ offenbar doch nicht so ganz sicher ist. Ich bezeuge vor Gott und Christus Jesus, der im Begriff ist, Lebende und Tote zu richten, sowohl im Blick auf sein Erscheinen, als auch auf seine Königsherrschaft. Beschwörend ist der ganze Satz (V. 1): διαμαρτύρομαι [diamartyromai] heißt zudem „beschwören, bezeugen“.57 μάρτυς [martys] ist der Zeuge vor Gericht, der im atl.-frühjüdischen Prozessrecht sehr genau wissen musste, was er gegen den Angeklagten aussagte, weil ihn nämlich sonst selbst die Strafe treffen konnte.58 Damit nicht genug, werden Gott und Christus Jesus als die zwei nach atl. Prozessrecht nötigen Zeugen gegen (!) Timotheus angerufen. „Vor vielen [menschlichen] Zeugen“ (ἐνώπιον πολλῶν μαρτύρων [enōpion pollōn martyrōn]) hatte Timotheus einst 56 Zur strukturellen und inhaltlichen Analyse des Textes vgl. Engelmann, Drillinge, 166172. 57 J. Beutler, Art. μαρτυρέω κτλ., EWNT II, 963. 58 Das Verb wird im Griech. im Sinne von „beschwören“ mit Dativ konstruiert, im Sinne von „bezeugen“ mit Dativ der Person und Akkusativ der Sache. Beides fehlt hier. Bauer/ Aland 373 spricht richtig von einer „Vermischung zweier Konstr.[uktionen]“, und übersetzt: „ich beschwöre dich bei Gott u. J. Chr. u. seiner Erscheinung“. Man muss aber fragen, ob das nicht zu „griechisch“ gedacht ist für den Juden Paulus. Setzen wir eine jüdische Gerichtsszene voraus, so dürfte es sich eher um ein (durch einen Eid bekräftigtes?) Bezeugen vor (ἐνώπιον, hebr. )ׅלְפֵני, nicht „bei“ Gott und seinem Christus handeln, d.h. vor diesen Zeugen weist Paulus Timotheus auf das hin, was zu tun seine Pflicht ist. Der Grund des Bezeugens findet sich in den beiden durch καί … καί direkt an das Hauptverb angehängten, miteinander verbundenen und syntaktisch parallel formulierten Nomina im Akkusativ: καὶ τὴν ἐπιφάνειαν αὐτοῦ καὶ τὴν βασιλείαν αὐτοῦ im Sinne von „ich bezeuge … wegen seiner Erscheinung und wegen seiner Königsherrschaft“.
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bei seiner Taufe oder Einsetzung als Mitarbeiter oder als Gemeindeleiter in Ephesus sein Bekenntnis abgelegt (1Tim 6,12). Jetzt, da er in Gefahr steht sein Amt zu vernachlässigen, wird er damit vor die höchsten Autoritäten gestellt. Gleichzeitig wird das ganze Gewicht Jesu für das Heil der Menschen in die Waagschale geworfen: der im Begriff ist, Lebende und Tote zu richten. Auch die relative Partizipialkonstruktion τοῦ μέλλοντος κρίνειν ζῶντας καὶ νεκρούς [tou mellontos krinein zōntas kai nekrous] betont das Unaufschiebbare, weil nämlich das Endgericht unmittelbar bevorsteht. Wir erinnern uns, was die heilsgeschichtliche Zeitbestimmung angeht, an 3,1ff! Dass der wiederkommende Jesus der Richter ist, finden wir nicht nur bei Paulus bestätigt (Apg 10,42; 17,31; Röm 2,16; 1Kor 11,32; 2Kor 5,10; 1Thess 4,6; 2Tim 4,8). Der zweite Satzteil besteht aus zwei „griechischen“ Akkusativen, die syntaktisch direkt an das Prädikat anschließen und den eigentlichen Grund und Gegenstand der Bezeugung benennen: sowohl im Blick auf sein Erscheinen, als auch auf seine Königsherrschaft: Verkündige das Wort. Mit dem Begriff Erscheinen (ἐπιφάνεια [epiphaneia]) verband der mit dem jüdischen Glauben vertraute Erstleser Timotheus wohl zunächst die atl. Aussagen über Gottes Erscheinen (dort häufig durch die Wortwurzel [ בואbōʼ] „kommen“ ausgedrückt)59 in kultischem Zusammenhang, als Retter in Not oder als Richter am Ende der Tage. Schon hier finden wir eine auf die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft gerichtete Variante. Ähnliches gilt für die Wortfamilie um ἐπιφαίνειν [epiphainein] bei Paulus (s.u.). Andererseits war Timotheus der Sohn eines Griechen, der in einer hellenistischen Stadt aufgewachsen war. Als solcher kannte er die Epiphanie-Mythen der griechischen Götterwelt vermutlich ebenfalls gut. Sechs Mal kommt das Substantiv bei Paulus vor (2Thess 2,8; 1Tim 6,14; 2Tim 1,10; 4,1.8; Tit 2,13), zwei Mal das Verb (Tit 2,11; 3,4). Für Vergangenheit oder Gegenwart ist von der Erscheinung des Herrn an vier Stellen die Rede, an drei Stellen richtet sich der Blick erwartungsvoll in die Zukunft. Wie ist unsere Stelle einzuordnen? 2Tim 1,10 hatte der Apostel betont, dass die Gnade Gottes offenbar geworden ist, indem der Erlöser Christus Jesus jetzt erschienen ist (φανερωθεῖσαν δὲ νῦν [phanerōteisan de nyn]). Ähnlich könnte 2Tim 4,8 zu verstehen sein, indem an die geschehene Erscheinung und das schon jetzt bestehende Königreich gedacht wäre.60 Die ausdrückliche Erwähnung der Tatsache, dass der Christus Jesus im Begriff ist, Lebende und Tote zu richten, würde auf das erwartete Kommen 59 Vgl. dazu den Art. בואvon E. Jenni in: THAT I, 264-269. 60 Engelmann, Drillinge, 176 schreibt: „2Tim sieht eine enge Beziehung zwischen dem zukünftig erwarteten Gericht sowie dem eigenen Verhalten gegenüber Jesu irdischer Epiphanie.“
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und das dann aufzurichtende Königreich hinweisen. Nehmen wir die Erwähnung der Königsherrschaft (βασιλεία [basileia]) hinzu! Paulus verwendet den Begriff 14 Mal. Davon ist die Königsherrschaft in fünf Fällen eindeutig eine jetzt gegenwärtige Größe (Röm 14,17; 1Kor 4,20; Kol 1,13; 4,11), an drei Stellen könnte an Gegenwart oder Zukunft gedacht sein (1Kor 15,24; 1Thess 2,12; 2Thess 1,5), an sechs Stellen geht es eindeutig um die erst kommende Königsherrschaft (1Kor 6,9f; 15,50; Gal 5,21; Eph 5,5; 2Tim 4,18). Diese letzte Stelle, das zweite Vorkommen im 2. Timotheusbrief, könnte ein Hinweis darauf sein, dass es hier um etwas geht, das erst noch erwartet wird. Marshall meint: „ἐπιφάνεια here refers clearly to the future parousia of Christ“.61 2 Was soll Timotheus aufgrund der beschwörend-bezeugenden Worte des Apostels tun? Mit fünf Imperativen im Aorist wird es ihm eingeschärft: Verkündige das Wort (κήρυξον τὸν λόγον [kēryxon ton logon]). Neben das Schrift gewordene, aufbewahrbare, jederzeit ziemlich unzweideutig reproduzierbare Wort (ἱερὰ γράμματα / γραφή [hiera grammata / graphē] von 3,15f) tritt also seine situationsbezogene, d.h. die Hörerschaft in ihrer aktuellen Situation berücksichtigende Verkündigung (ὁ λόγος [ho logos]). Deren „Erfolg“ wiederum hängt von ihrer Übereinstimmung mit der heiligen Schrift und vom Wirken des Heiligen Geistes ab. Nicht umsonst erklärt Martin Luther den 3. Glaubensartikel so: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten.“ In der Person und Tätigkeit derer, die verkündigen, kommen das Bleibende (die Heilige Schrift), das Aktuelle (die Personen und Situationen des Redenden und der Hörenden) und der Ewige (der im Verkündiger und in den Hörern wirkende Heilige Geist) zusammen. 1. Imperativ: Verkündige das Wort. Κῆρυξ (kēryx) ist in der griechischrömischen Zeit der „Herold“, also der offiziell beauftragte Proklamator einer wichtigen Botschaft (eines κήρυγμα [kērygma]), die zunächst nicht seine eigene ist, sondern von einer ihm übergeordneten Person oder Macht kommt, die ihn beauftragt hat. Merk hebt die Bedeutung von κηρύσσειν [kēryssein] bei 61 Marshall 799. Weise 299 möchte einen weiteren Aspekt des Epiphaniebegriffs, wie er in den Pastoralbriefen verwendet wird, ergänzen: „Sie [die Epiphanie; Ergänzung von mir] gilt vielmehr als das, wodurch zwischen dem Gekommensein Christi und seinem noch zu erwartenden Kommen die Gegenwart als Heilszeit qualifiziert wird, in der durch die Verkündigung der Heilbotschaft Menschen gerettet werden, Christen sich bewähren und Gemeindeleiter ihre Dienste verantwortlich ausüben sollen. Das Leben der Christen vollzieht sich im Glauben an den ‚Christus praesens‘.“
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Paulus hervor: „Das Verkündigen des Evangeliums (1Thess 2,9; Gal 2,2) ist sachgleich mit der Christusverkündigung (1Kor 1,23; 2Kor 1,19; …), für die der Auferweckte mit dem Gekreuzigten durch Gottes Handeln identisch ist.“62 Später schreibt er: „‚Verkündigen‘ ist nach Pls ein den Verkündiger wie den Hörer in einen aktiven Vollzug einbeziehendes Geschehen (und dieses wird darum – wie verbreitet im Urchristentum – mit dem Vb. κηρύσσω zur Geltung gebracht).“63 Das bedeutet: 2Tim 4,5 wird Timotheus das „Berufsbild“ des Evangelisten (εὐαγγελιστής [euangelistēs]) als Auftrag mitgegeben. Dass Paulus hier nicht an „irgendeine“ Predigt denkt, sondern an die zentrale, zum Glauben rufende und führende (Missions-)Predigt, wird auch darin deutlich, dass Timotheus beschworen wird, das Wort (τὸν λόγον [ton logon]) zu verkündigen. In dem Imperativ κήρυξον τὸν λόγον [kēryxon ton logon] kommen also zwei Hauptwörter der urchristlichen Begriffswelt zusammen, die eine wesentliche, ja die entscheidende Aufgabe der Kirche nach Tätigkeit und Inhalt beschreiben. Schon von Jesus heißt es Mt 4,17, dass er anfing zu predigen (κηρύσσειν) und diesen Auftrag 10,7 an seine Jünger weitergegeben hat. Besonders die lukanischen Schriften ermöglichen uns einen tiefen Blick in die Bedeutung von das Wort in den ersten Jahren der christlichen Gemeinden: „In der christl. Missionssprache der Apg ist das – absolut gebrauchte – „Wort Gottes“ (4,31; 6,2.7; 8,14; 11,1; 13,5.7.44.46; 16,32; 17,13; 18,11) die Umschreibung für die apostolische Verkündigung der Botschaft von Jesus Christus“, schreibt Ritt.64 2. Imperativ: steh hin. ἐφίστημι [ephistēmi] ist ein Lieblingswort des Lukas. Es beschreibt bildhaft das Hinzutreten im Sinne der aktiven Bereitschaft etwas zu tun, und zwar unabhängig von der eigenen Situation (Passt es mir gerade in den Zeitplan? „Du kommst aber ziemlich ungünstig mit deiner Frage …“) wie von der der Zielgruppe (Apg 17,32b wird nicht nur Ausrede gewesen sein; 24,25). An einigen Stellen bekommt der Vorgang des Hinstehens beinahe einen dienstlich-offiziellen Charakter (Lk 2,9; 4,39; 20,1; 24,4; Apg 4,1; 6,12 u.ö.). Die beiden begleitenden Adverbien rechtzeitig wie schlechtzeitig können als rhetorische Figur („Oxymoron“) verstanden werden. Das bedeutet, dass zwei sich eigentlich ausschließende Wörter mit einer bestimmten Absicht nebeneinander gestellt werden. Die leitende Absicht an unserer Stelle ist, die Ausführung des durch den Imperativ befohlenen Tuns als völlig unabhängig von den begleitenden Umständen und Rahmenbedingungen, des62 O. Merk, Art. κηρύσσω κτλ., EWNT II, 712. 63 A.a.O. 713. 64 Art. λόγος, EWNT II, 887.
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halb auch von der Zustimmung oder Ablehnung derer zu charakterisieren, denen der „Auftritt“, das „Hinstehen“ gilt. Beide Begriffe (εὐκαίρως ἀκαίρως [eukairōs akairōs]) sind nämlich von dem Substantiv καιρός gebildet. Es bezeichnet den Zeitpunkt und die umrissene Zeitspanne, jedenfalls nicht die unbestimmt lange Zeit. Es ist oft mit der Konnotation der „(geeignete[n], rechte [n], günstige[n]) Zeit“ oder der „(bestimmen[n], festgesetzte[n]) Zeit“ verbunden.65 3. Imperativ: überführe. Das Substantiv ἐλεγμός [elegmos] hatte der Verfasser schon drei Verse zuvor (3,16) als Wirkungsweise der von Gott eingehauchten Schrift genannt. 1Kor 14,24 verwendet Paulus es, um „die enthüllende und überführende Wirksamkeit geistbegabter Propheten“ zu beschreiben, während in Eph 5,11 die Christen ermahnt werden, „die ‚fruchtlosen Werke der Finsternis‘ aufzudecken, so daß ihr wahrer (finsterer) Charakter ans Licht kommt“.66 Diese Verwendung passt sehr gut zu unserer Stelle. Porsch nennt auch „Einfluß atl. Weisheitsliteratur“ als Hintergrund, „in der das Vb. – zus. mit παιδεύω – die väterliche bzw. göttliche Zurechtweisung und Strafe zum Zweck der Besserung bezeichnet“.67 Wie können wir uns diese Tätigkeit vorstellen? Die Pfingstpredigt des Petrus und besonders die Rückfrage der Zuhörer (Apg 2,37), das Ende der Stephanusrede und die Reaktion der Zuhörer (Apg 7,51-54), der Erfolg der Predigt des Paulus in Korinth (Apg 18,4), seine Gespräche mit dem Statthalter Felix und dessen Erschrecken (Apg 24,24f) sowie mit Herodes Agrippa (Apg 26,27-29) könnten Beispiele sein, wenn auch das Wort selbst dort nicht fällt. Überführen ist (negativ) das Bemühen, Menschen davon zu überzeugen, dass sie sich auf einem Irrweg befinden oder vor Gericht jemandes Schuld nachzuweisen bzw. (positiv) der Versuch, ihnen klar zu machen, welches Gottes Weg für sie ist, nämlich der Jesus-Weg (Joh 14,6). Während das deutsche Wort also fast ausschließlich in negativem Sinn verwendet wird, hat das griechische Wort durchaus auch eine positive Konnotation. Die Paulusbriefe sind voll von solchen Versuchen (vgl. etwa die Argumentation 1Kor 15,3-11 zum Thema „Auferstehung Jesu“ oder weite Strecken des Römerbriefs). Es fällt auf, dass Paulus selten an die Tradition der Gerichtsverkündigung der Propheten mit ihren festen Formen anknüpft, die Israel mit seinen Vergehen konfrontiert und es dann als schuldig überführt und ihm Gottes Urteilsspruch mitgeteilt hatte. 65 Bauer/Aland 801; vgl. auch J. Baumgarten, Art. καιρός, EWNT II, 571-579 (bes. 572). 66 F. Porsch, Art. ἐλέγχω κτλ., EWNT I, 1042. 67 A.a.O. 1041.
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4. Imperativ: weise zurecht. Giesen übersetzt ἐπιτιμάω [epitimaō] mit „durch ein Machtwort überwinden, zurechtweisen“.68 Die Linie des Überführens (s. o. V. 16) wird hier also fortgesetzt und weitergeführt. Der Vorgang beschreibt hier aber weniger ein Überführen durch und aufgrund von überzeugenden Argumenten, sondern setzt den Akzent auf die Autorität, die einer (hier: Timotheus aufgrund seiner Position als Gemeindeleiter) hat. 5. Imperativ: sprich zu. Zur Bedeutung von παρακαλεῖν vgl. die Auslegung zu 1Tim 1,3! Das Wort zeichnet sich durch eine große Bedeutungsbreite aus. Es hatte seinen Platz in der Seelsorge. Durch die im griechischen Urtext sekundäre Interpunktion wird die Aussage, dass Timotheus dies in aller Langmut69 und Belehrung tun solle, von dem letzten Imperativ getrennt und auf die gesamte Liste bezogen (s.u.). Merk schreibt: „In der Zuordnung von ,Kerygma‘ und ,Didache‘ (…) wird der Gesamtaspekt christl. Existenz in der Einheit von Glaubensgehorsam, Bekenntnis und konkreter Lebensführung sichtbar“.70 Auf die διδασκαλία-Sättigung des Abschnittes 3,10-4,4 sei erneut hingewiesen (διδασκαλία 3,10.16; 4,3; διδάσκαλος 4,3; διδαχή 4,2). Weiß unterscheidet bei διδαχή [didachē] zwischen einer aktiven (wie an unserer Stelle: „Belehrung“) und einer passiven Bedeutung („im Sinn der durch Belehrung vermittelten Lehre“71), wobei es zwischen beiden Bedeutungen eine Unschärfe gebe und sich „Ansätze zum technischen Gebrauch von δ.[ιδαχή] im Sinn der christl. Lehre schlechthin … in den Briefen des NT“ zeigten.72 An unserer Stelle versteht er den Begriff unter Verweis auf die Vorbereitung durch Paulus mit Recht aktiv „im Sinn der Unterweisung in der gesunden Lehre im Gegensatz zur Irrlehre“73 (vgl. auch 4,3!). So passt es ja auch gut im Zusammenhang von 4,2, wo es um Tätigkeiten des Verkündigers geht. Schwieriger ist die Formulierung in aller Langmut im Kontext einzuordnen. Ohne Zweifel ist das Adjektiv πᾶς [pas] ein Wort, das dem Verfasser der Pastoralbriefe sehr leicht, vielleicht unbewusst und deshalb umso vielsagender, aus der Feder fließt – ein „Füllwort“. 55 Mal kommt es in den drei kurzen Briefen vor, davon 18 Mal im 2. Timotheusbrief, davon sechs Mal in 3,10-4,8. Wer es so häufig verwendet, ist darauf aus, umfassende Aussagen zu machen, nichts auszulassen oder zu vergessen bzw. 68 69 70 71 72 73
H. Giesen, Art. ἐπιτιμάω, EWNT II, 106. Zu μακροθυμία vgl. oben die Erläuterung zu 3,10. Merk a. a.O. 713f. H.-F. Weiß, Art. διδαχή, EWNT I, 769. A.a.O. 769f. A.a.O. 770. In den Paulusbriefen kommt das Wort noch in Röm 6,17; 16,17; 1Kor 14,6.26; Tit 1,9 vor.
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(wie als Begleiter von μακροθυμία) dafür zu sorgen, dass etwas nicht im Ansatz stecken bleibt, sondern wirklich intensiv betrieben wird.74 Ist das enklitische ἐν instrumental zu verstehen oder beschreibt es die Art und Weise, wie Timotheus den Aufgaben in V. 2 nachkommen soll? Bezieht es sich lediglich auf den letzten oder auf alle fünf Imperative? Syntaktisch wäre beides möglich. Die ja nachträglich eingefügte Interpunktion des NA28-Textes trennt die letzten fünf Worte des Verses durch ein Komma von den voraufgehenden Imperativen ab. Das deutet darauf hin, dass jedenfalls die modernen Herausgeber die Beschreibung der Art und Weise auf alle Imperative bezogen wissen wollen. Das ist eine vernünftige Lösung. Im Blick auf das ἐν wird man dann in dem modalen Satzteil eine Beschreibung davon sehen, unter Einsatz welcher Verhaltensweisen, Eigenschaften und Kompetenzen die Anweisungen umgesetzt werden sollen. Zu ihnen gehört auch die Langmut im Sinne einer geduldigen Reaktion auch auf erhitzte Provokation und eines langen Weges, der selbst mit Personen gegangen werden soll, die ihrerseits keine solche Zurückhaltung kennen. Daran, dass das nötig ist und zielführend sein kann, hat sich bis heute nichts geändert. Die Frage nach der Grenze der Langmut ist damit zwar gestellt, aber nicht beantwortet. 3 In 4,1 hatte der Apostel den Blick in die Zukunft gerichtet. In 4,2 ging es dann um das, was Timotheus wegen des Erwarteten jetzt tun soll. In 4,3 benutzt der Schreiber wieder die Zeitform der Zukunft und begründet (γάρ) mit dem, was zu erwarten ist (ὅτε), das in der Gegenwart angebrachte Verhalten. Er knüpft dabei mit der Formulierung ἔσται γάρ deutlich an der Schilderung der schwierigen, in Zukunft zu erwartenden Zustände 3,2 (ἔσονται γάρ [esontai gar]) an. Hier sind es nicht Personen, vielmehr geht es um einen umrissenen Zeitraum oder den Zeitpunkt, den καιρός [kairos] im Gegensatz zu χρόνος [chronos] eigentlich meint (s. o. zu 4,2). In unserem Zusammenhang wird das Wort verwendet, weil es deutlich macht, dass die kritische Phase der Endzeit ihren Anfang und ihr Ende hat, die beide Gott bestimmt. Zwei Paare von adversativen Nebensätzen, sprachlich durch das doppelte τὴν ἀκοήν [tēn akoēn] verbunden, werden gegeben: a) In dieser Zeit wird man die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern gemäß ihren eigenen Begierden werden sie sich Lehrer zusammensuchen, nach denen ihnen die Ohren jucken. Das erste Nebensatzpaar besteht also in einer Beschreibung des Guten, was nicht angenommen werden wird, und (mit ἀλλά, der „Partikel des scharfen Gegensatzes“75 eingeleitet) dessen, was die 74 Zur Wortbedeutung und Verwendung von μακροθυμία vgl. die Erläuterungen zu 3,10! 75 HvS §252.1 S. 432.
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Menschen dann lieben werden. Nicht (wie im Vers zuvor) um den Vorgang der Belehrung geht es hier, sondern um die Lehre im Sinn ihrer Inhalte (διδασκαλία [didaskalia]). In den Pastoralbriefen ist ὑγιαίνουσα διδασκαλία [hygiainousa didaskalia] ein fester Begriff, der noch 1Tim 1,10; Tit 1,9; 2,1 vorkommt.76 „Gesunde“ und deshalb gesund machende Lehre ist nicht das, wovon christlicher Glaube und christliche Verkündigung („das Evangelium“) abhängt. Es ist vielmehr gerade umgekehrt: aus dem Evangelium wird die gesundmachende Lehre abgeleitet. Sie ist sozusagen das „Abstrakte“, das „System“, dem die pulsierende Verkündigung Jesu und der Apostel zugrunde liegt.77 Dieses Ganze können „sie“78 nicht ertragen. Wer sind „sie“? Die zuletzt genannten infrage kommenden Personen sind die in 3,13 erwähnten bösen Menschen und Betrüger, von denen es dort heißt, dass sie immer tiefer sinken als Verführer und Verführte. Mit ertragen (ἀνέξονται [anexontai]), einem bei Paulus auch sonst vorkommenden Wort, ist das stillschweigende Inkaufnehmen des Verhaltens Dritter bzw. der Folgen für einen selbst (1Kor 4,12; 2Kor 11,20; Eph 4,2; Kol 3,13; 2Thess 1,4) ebenso wie das unwidersprochene Anhören und Hinnehmen von Lehren (2Kor 11,4.19) gemeint. In diesem letzten Sinn können die gemeinten Personen die (richtigen) Inhalte der christlichen Botschaft nicht ertragen. Sie reagieren darauf aber nicht mit Widerstand oder einfach Passivität, vielmehr suchen sie nach Ersatz für Timotheus, der die gesunde Botschaft in Predigt und Seelsorge verkündigt, nach Personen also, deren Lehre ihren Vorstellungen und Wünschen entspricht. Die Funktionsbezeichnung Lehrer (διδάσκαλος [didaskalos]) verwendet Paulus in den Pastoralbriefen außer an unserer Stelle nur für sich selbst (1Tim 2,7; 2Tim 1,11). 1Kor 12,28 stehen die Lehrer an dritter Stelle in seiner Ämterliste, Eph 4,11 sind sie an die fünfte Stelle gerückt. Verständlich ist diese Abwehrhaltung ja schon: Wer lässt sich gern mit Wahrheit konfrontieren, die ihn zu Veränderungen im Denken und Verhalten zwingen würde? Das Wort ἐπιθυμία [epithymia] im Plural deutet wohl auf konkrete, den Menschen stark bestimmende Wünsche hin, wobei wir nicht sagen können, was gemeint ist. Der bildhaft-anschauliche Ausdruck nach denen ihnen die Ohren jucken könnte, ähnlich wie Apg 17,21, auf gedanklich anregende und rhetorisch perfekt vorgetragene Lehren deuten.79 Die Verachtung mancher Christen in Ko76 Vgl. dazu den Exkurs in der Auslegung zu 1Tim 1,10 in dieser Reihe! 77 Vgl. Michel, Grundfragen, 87. 78 Die 3. Person Plural wird im Griechischen auch da verwendet, wo wir „man“ sagen würden. 79 G. Schneider, Art. κνήθω, EWNT II, 744, übersetzt: „um sich die Ohren kitzeln zu lassen“.
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rinth gegenüber der rhetorischen Fähigkeit (oder aus ihrer Sicht: Unfähigkeit) des Paulus steht auch hier im Hintergrund (2Kor 10,10). 4 b) Das zweite Nebensatzpaar ist syntaktisch durch μέν … δέ als Gegensatz konstruiert, strukturiert und zu erkennen. „Man“ wird sich von der Wahrheit ab-,80 dafür zu den Mythen wegwenden. „Auch im NT meint ἀ.[λήθεια] weithin da, wo sie theol. relevant ist, (vor allem bei Pls und Joh …), die von Gott erschlossene W.[ahrheit] im noetischen wie im ontischen Sinn“, schreibt Hübner.81 Nicht auch im existenziellen Sinn? Denn bei dem Abwenden, um das es hier geht, ist ja nicht nur ein intellektuelles Defizit gemeint. Sich von der Wahrheit abzuwenden bedeutet den Verlust des Heils. Den Gegensatz zur Wahrheit bilden hier (wie in Tit 1,14)82 die Mythen,83 also Göttersagen, die Immanenz und Transzendenz vermischen, indem sie göttliche Offenbarung vorgaukeln, nicht aber mehr oder weniger historisch gesicherte Erzählungen. Das auffällig doppelte τὴν ἀκοήν [tēn akoēn] macht deutlich, dass es sich um „Hörerlebnisse“ handeln muss, also um akustisch Vorgetragenes, um Worte, um Systeme. Röm 10,17 schrieb Paulus, dass durch das Hören der Glaube entsteht (ἡ πίστις ἐξ ἀκοῆς [hē pistis ex akoēs]; vgl. auch Gal 3,5). Der Kommunikationsweg ist also derselbe, das Kommunizierte kann aber völlig gegensätzlich sein. IV 1. Das offenbarte Wort Gottes einerseits und die Verantwortung des Predigers, der mit seiner Verkündigung beauftragt ist, andererseits: Das war für Paulus ein Thema. Die Umstände seiner Lebenswende und der unmissverständliche Auftrag, den er dabei erhielt, nahmen seiner Berufung jede Spur von Beliebigkeit. „Dass ich das Evangelim predige, dessen darf ich mich nicht rühmen; denn ich muss es tun. Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte!“, schrieb er den Korinthern (1Kor 9,26 Luther 1984). Propheten des AT haben es offenbar ganz ähnlich gesehen. Jeremia, der den „Spagat“ eines Propheten zwischen Gottes Auftrag und der Liebe zu seinem Volk viel schmerzlicher empfunden hat als andere, klagt in seinen „Bekenntnissen“ (Jer 9,7ff, LÜ 1984): „HERR, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden 80 Zum Begriff der „Wahrheit“ vgl. oben zu 2,6f. 81 H. Hübner, Art. ἀλήθεια κτλ., EWNT I, 140. 82 S. die Auslegung dort, wo allerdings jüdische Mythen gemeint sind. An unserer Stelle dürfte der griechisch-hellenistische Bereich den Hintergrund bilden, der in Kleinasien noch durch die Kybele- / Magna Mater-Kulte ergänzt werden muss. Speziell in Ephesus spielte der damit verwandte Diana- / Artemis-Kult eine erhebliche Rolle, wie auch der Bericht über das Ergehen des Paulus in der Stadt in Apg 19,23-40 zeigt. 83 Vgl. zum Begriff an dieser Stelle Engelmann, Drillinge, 398-400.
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lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien: ‚Frevel und Gewalt!‘ muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich“ (Jer 20,7-8). Hesekiel wird sehr klar über seine Verantwortung als Prophet, Prediger und Seelsorger belehrt (Hes 3,17-19). Umso drängender stellt sich dann die Frage, was eigentlich Gottes Wort sei und was uns bewegt, es den Leuten zu sagen. „Verkündige das Wort!“, ermahnt Paulus seinen Schüler. Gemeint ist die Botschaft, die in Gott selbst ihren Ursprung hat (1Kor 14,36; 1Thess 2,13), die deshalb keine Veränderung erträgt (2Kor 4,2) und nicht mit Menschenwort verwechselt werden darf (1Thess 2,13). Für den Apostel wie für Juden pharisäischer Prägung seiner Zeit ist damit zunächst der dreiteilige „Tenach“ (Tora, Propheten, Schriften) gemeint. Dann war es aber auch das Neue, das dem Alten wieder Aktualität und Prägnanz gab: die mündlich weitergegebene, zur Pauluszeit auch schon schriftlich festgehaltene Verkündigung Jesu samt seinen Taten und seinem Ergehen, „das Evangelium“ also. In einem komplexen Prozess von Auswahl und Verwerfung, der seinen Anfang wohl in der teilweise heiß diskutierten Frage nahm, welche Schriften denn im Gottesdienst gelesen werden dürften und welche nicht, und der dann schon im 2. Jh. zur Entstehung von Sammlungen anerkannter Schriften führte,84 hat sich am Ende im 4. Jh. „die Kirche“ im westlichen Teil des noch bestehenden römischen Reichs auf jene 27 Schriften verständigt, die wir das „Neue Testament“ nennen. Es spielten dabei (wie auch sonst in Gottes Heilsgeschichte) auch menschliche, politische und andere Faktoren beeinflussend hinein, aber rückblickend können wir nur sagen: Es wird doch Gottes Geist selbst gewesen sein, der seine unsichtbare Hand im Spiel hatte. Wenn die Kirche sich diese und keine anderen Schriften als Richtschnur („Kanon“) gegeben hat, dann hat sie sich sie auch von Gott her als Gegenüber für ihren Glauben, ihr Denken, Reden und Handeln genommen. Diese Entscheidung kann man zwar leicht kritisieren und in Zweifel ziehen, erst recht sie ignorieren, aber die Alternative ist immer nur ein sehr subjektiv und an aktuelle Wünsche und Bedürfnisse angepasstes Surrogat. Der Mensch zimmert sich Gottes Wort und damit auch Gott selbst. So – sagt Paulus – soll es nicht sein. 2. Damit sind wir bei dem zweiten zu erörternden Punkt: Wir müssen unsere Motive klären, wenn wir das Wort Gottes verkündigen! Gerade in den Pastoralbriefen hat Paulus das angemahnt (2Tim 4,3). Mit dem Lippenbe84 Vgl. dazu etwa die Arbeiten von David Trobisch zur Entstehung der Sammlung von Paulusbriefen.
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kenntnis zur ganzen Heiligen Schrift ist das Problem noch nicht aus der Welt geschafft. Alle Christen und erst recht alle, die zur Verkündigung des Evangeliums beauftragt sind, müssen sich jedes Mal fragen lassen und selbst fragen, was eigentlich konkret ihre Absicht sei und welches Ziel sie verfolgen, d.h. was denn der dreieinige Gott diesen Hörern an diesem Ort und an diesem Tag durch diesen Text sagen lassen will. Denn immer drohen sehr menschliche Interessen das, was Gott durch sein Wort sagen will, zu verdrängen oder zu übertünchen. Das mögen sehr verständliche und sogar lobenswerte seelsorgliche oder kirchliche, persönliche, taktische oder strategische Interessen sein. Vor jeder Predigt müssen wir uns fragen: „Für wen spreche ich heute?“ Das „für wen“ schließt beides ein: „in wessen Auftrag“ und „für welche Hörer“? 3. Schon Martin Luther, der doch die Heilige Schrift als das Urdokument evangelischen Glaubens betrachtet hat85 und ihr durch das sola scriptura diese Stellung auch theologisch gesichert hat, war sich der Gefahr bewusst, dass sie zum „papiernen Papst“ erstarren könne. Dahinter stand die Sorge, dass die Bibel nicht mehr persönliches Wort Gottes sein, sondern zur bloß formalen Autorität werden könne, das man einander um die Ohren hauen kann. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass es ja gerade in den letzten und entscheidenden Fragen des Lebens nicht bei einem „ungefähr“ bleiben kann. Der Mensch hat ein Recht darauf verlässlich zu wissen, wie er in Gottes Augen dasteht, wie sein Weg zurück zu Gott aussieht und wie es um seine Ewigkeit bestellt ist. Nicht umsonst hat Jesus im „Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus“ Abraham auf die Bitte nach einer aktuellen, unabweisbaren Offenbarung sagen lassen: „Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören“ (Lk 16,29), und als der reiche Mann nicht locker lässt noch einmal: „Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde“ (Lk 16,31, zitiert nach LÜ 1984). Insofern verleiht Jesus selbst dem Wort Gottes in schriftlicher Gestalt eine hohe Würde.
85 In der assertio omnium articulorum sagt er, dass „solam scripturam regnare“ („allein die Schrift regieren soll“) WA 7,98f.
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10. Ermahnung zu treuem Dienst – auch im Leiden 4,5-8 I 5 Du aber sei in allem nüchtern, leide Böses, tu die Arbeit eines Evangelisten, erfülle dein Amt vollends! 6 Ich werde nämlich schon als (Trank-) Opfer dargebracht, und der Zeitpunkt meines Todes steht bevor. 7 Ich habe den guten Wettkampf gekämpft, den Lauf beendet, den Glauben bewahrt. 8 Zuletzt liegt der Siegeskranz der Gerechtigkeit für mich bereit, den der Herr mir an jenem Tage geben wird, der gerechte Richter, aber nicht nur mir, sondern auch allen, die sein Erscheinen geliebt haben. II Ein nach 3,10.14 drittes σὺ δέ [sy de], diesmal wie 3,14 mit folgendem Imperativ, signalisiert den Beginn eines weiteren kurzen Abschnitts (4,5-8). Beim ersten so eingeleiteten Text (3,10-12) folgte im Indikativ eine Feststellung im Blick auf Timotheusʼ früheres Verhalten. Beim zweiten forderte der Imperativ im Präsens grundsätzlich dazu auf, bei dem Erlernten und Übernommenen zu bleiben (3,14-4,4). Der dritte nimmt in den Blick, was für Timotheus jetzt zu tun ist, und zwar auch vor dem Hintergrund der aktuellen Situation des Apostels selbst. Sehen wir genau hin, so haben wir es in V. 5 mit einer Kette von diesmal vier Imperativen zu tun, einer rhetorischen Steigerung also. V. 6 begründet die Aufforderungen an den Schüler mit dem erwarteten Tod des Lehrers (ἐγὼ γάρ [egō gar]). Der Vers hat die sprachliche Form eines synonymen parallelismus membrorum, ist also hebräische Poesie: Derselbe Sachverhalt oder Vorgang wird aus zwei Perspektiven bzw. mit zwei Bildern beschrieben. V. 7 blickt in drei Teilen zurück auf das Leben und den Dienst des Apostels, V. 8 schaut in die Zukunft auf die erwartete „Siegerehrung“. Damit klingt schon eines der beiden den Abschnitt bestimmenden Bilder an: der sportliche Wettkampf und die Darbringung eines Opfers (V. 6a). Der Abschnitt ist nach vorn (V. 9) deutlich durch den an Timotheus gerichteten Imperativ abgegrenzt. Es folgen noch einmal persönliche Anweisungen und Informationen. III 5 Noch einmal hebt der Verfasser unseres Briefes seinen Empfänger mit Σὺ δέ [Sy de] von den Personen oder Zuständen ab, die er zuvor (4,3) geschildert hatte. Dies geschieht mit vier Imperativen (4,2 waren es deren fünf), der erste im Präsens, die übrigen im Aorist. Sie alle bleiben unkonkret: Du aber sei in allem nüchtern, lesen wir. Das Verb νήφειν [nēphein] hatte Paulus schon in 1Thess 5,6.8 in vergleichbarem endzeitlichem Zusammen-
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hang verwendet, um das Verhalten der Christen im Vorfeld des „Tags des Herrn“ zu charakterisieren. 1Tim 3,2 wird von den Episkopen, 1Tim 3,11 von den Diakoninnen und Tit 2,2 von den alten Männern Nüchternheit erwartet. Da der Apostel für die Zurückhaltung beim Alkoholgenuss andere Ausdrücke verwendet (1Tim 3,3.8; Tit 1,7), gehen wir – anders als Schneider1 – auch beim Adjektiv davon aus, dass „nüchtern“ hier im Sinne von „realistisch, weise, wachsam“ gebraucht wird. An unserer Stelle wird dieses Verständnis durch den Zusatz in allem (ἐν πᾶσιν [en pasin]) gestützt, der zwar (s. o.) dem Stil des 2. Timotheusbriefs entspricht, als bloße Floskel aber wenig Sinn hätte. Die Absicht ist, Timotheus dazu zu bringen, an alle Fragen nüchtern und also nicht enthusiastisch-emotional und damit befangen heranzugehen. Damit hängt die zweite Aufforderung zusammen: Leide Böses. Das Wort κακοπαθεῖν [kakopathein] benutzt der Apostel nur im 2. Timotheusbrief (2,9 von sich, 4,5 von Timotheus). Es meint 2,9 das „Erleiden des Bösen“, 4,5 das „standhafte[.] Ertragen der Leiden, die dem Verkündiger bzw. dem Kämpfer für Christus notwendig entstehen“.2 Von beiden hatte Paulus zuvor schon in diesem Brief mehrfach geschrieben. Konkret sind wohl Anfeindungen bis hin zu körperlicher Gewalt, verbale Attacken und Konflikte mit Menschen, die einem nahestanden, sowie einfach „Unrecht“ im juristischen Sinn gemeint. Trotzdem soll sein Schüler die Arbeit eines Evangelisten tun. In Apg 21,8 wird der dem Leser der Apg bereits von Apg 6,5; 8,5ff bekannte Philippus seiner Funktion nach als εὐαγγελιστής [euangelistēs] bezeichnet. Eph 4,11 ist daraus schon ein „offizielles“ urchristliches Amt (s.u.), wenn auch ohne klare Abgrenzung,3 geworden, das in der Ämterliste nach Aposteln und Propheten an dritter Stelle rangiert. Die Septuaginta kennt das Nomen nicht. Dafür hat sie aber (meist im medialen Gebrauch) 22 Mal das Verb. Die besondere Bedeutung scheint an einigen Stellen schon durch: Das zugrunde liegende Verb ἀγγέλλειν [angellein] mit der neutralen Bedeutung „melden“ hat durch das Präfix εὐ eine positive Bedeutung erhalten: „etwas Gutes melden“. In 2Sam 18,31 bringt Chusi König David die (aus seiner Sicht) gute Nachricht, dass der Aufstand seines Sohnes Absalom beendet sei – allerdings mit Absaloms Tod. David reagiert aber völlig anders als erwartet (2Sam 19,1ff). Ähnliches finden wir bei Jeremia (20,15) in seinen „Bekenntnissen“: „Verflucht der Mann, der meinem Vater gute Nachricht brachte und sagte: ‚Ein Männliches ist dir geboren‘, in der Absicht ihm eine Freude zu 1 G. Schneider, Art. νηφάλιος, EWNT II, 1148. 2 So H. Balz, Art. κακοπαθέω, EWNT II, 585f. 3 So G. Strecker, Art. εὐαγγελίζω, EWNT II, 176.
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machen.“ Diesem Gebrauch stehen in der LXX Jes 52,7 und Nah 2,1 gegenüber, wo die gute Nachricht die der Boten von einer gewonnenen Schlacht ist, also die Friedensbotschaft. Im NT verbindet es sich mit entsprechenden Begleitwörtern als Objekten (Jesus, Christus Jesus, Herr Jesus u.a.) und wird so zum feststehenden Begriff für die Verkündigung der Heilsbotschaft von Jesus, dem Sohn Gottes. Ob es sich dabei um die (missionarische) Erst-Verkündigung handeln muss, also um Arbeit am Rande oder außerhalb der Gemeinde, ist möglich, aber nicht sicher festzulegen. Es liegt nahe, eine Verbindung zu dem Imperativ verkündige das Wort (2Tim 4,2) zu suchen und zu fragen, warum der Schreiber 4,5 nicht ebenfalls einen Imperativ des Verbs εὐαγγελίζεσθαι [euangelizesthai] gewählt hat, sondern von der Arbeit eines Evangelisten spricht. Vielleicht, weil diese eben mehr umfasst als lediglich die (Missions-)Predigt. Erfülle dein Amt vollends! διακονία4 bzw. διακονεῖν hatte für griechische Ohren eigentlich keinen Ehrfurcht einflößenden Klang: „In den Augen des Griechen ist das Dienen etwas Minderwertiges. Herrschen und nicht Dienen ist eines Mannes würdig“, schreibt Beyer.5 Sprachgeschichtlich ist es ursprünglich mit dem Dienst des Sklaven am Tisch, also mit dem Be-dienen, verbunden.6 Unter den (zahlreichen) griechischen Wörtern für „dienen“ ist es entsprechend dasjenige, das „die ganz persönlich einem anderen erwiesene Dienstleistung bezeichnet.“7 Die sprachliche Entwicklung führte zu einer abstrahierenden Ausweitung der Bedeutung, die auch im NT noch zu erkennen ist.8 An ihrem ntl. Ende stand dann die διακονία als eine erwiesene Dienstleistung im Sinne unserer modernen „Diakonie“ und die allgemeine Bedeutung im Sinne von „Amt“, also eine feste, mit der Person, die sie innehat, verbundene und an sie gebundene Aufgabe, wobei die Art, wie Paulus sein Apostolat als διακονία verstand (im Deutschen sprechen wir von einem „Amt“), ein Spezialfall dieses Verständnisses ist (vgl. Röm 11,13; 2Kor 3,3; 4,1; 6,3 u.ö.). So ist es sicher auch hier zu verstehen: Timotheus soll sein Amt 4 Das Wort kommt wohl von den griechischen Wörtern διά und κονία, welchletzteres die Bedeutung „Staub“ hat. Daraus kann man für den Dienst des Diakons die anschauliche Bedeutung, er sei „einer, der durch den Staub kriecht“, interpretieren. Daneben ist auch die Ableitung von dem verbum simplex κονέω möglich, das nach Liddell/Scott „raise dust“ („Staub aufwirbeln“) und im übertragenen Sinn dann „hasten“ („hasten, eilen“) bedeutet und in griech. Texten mit ὑπηρετεῖν („dienen“) in Verbindung gebracht werden konnte. Wegen seiner ständigen Eile wirbelte der Sklave viel Staub auf. Zur Etymologie vgl. auch Hjalmar Frisk, Griechisches Etymologisches Wörterbuch I, Heidelberg 1960, S. 384f. 5 H. W. Beyer, Art. διακονέω κτλ., ThWNT II, 81. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 A. Weiser, Art. διακονέω κτλ., EWNT I, 726-728.
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als εὐαγγελιστής ernst nehmen und erfüllen. Es ist leider nötig darauf hinzuweisen, dass das Innehaben eines Amts keine abgehobene Stellung innerhalb der Gemeinde begründet. Der Akzent liegt vielmehr auf einem Mehr an Verantwortung in beide Richtungen: zu dem, der in das Amt beruft und es verleiht, und zu denen, die dem Amtsträger zugeordnet und anvertraut sind. Hierarchische Strukturen müssen ein solidarisches Verständnis nicht ausschließen, tun es aber in der Wirklichkeit oft. Immerhin kann Paulus sein und seiner Mitarbeiter Amt in genau diesem Sachzusammenhang, wo es um herrschen und dienen geht, 2Kor 1,24 als das von „Gehilfen eurer Freude“ (so LÜ 1984) bezeichnen. Die Aufforderung, dieses Amt auch tatsächlich zu „erfüllen“, also mit allem, was es beinhaltet, wahrzunehmen, wird nicht bloß so hingeschrieben sein. Sie nährt erneut unsere Vermutung, der Apostel Paulus habe die Befürchtung gehabt, sein Schüler gehe nicht entschlossen genug und nicht bis ans Ende seiner Aufgabe nach. Das Wort πληροφορεῖν [ plēroforein] hat allerdings die „Doppelbedeutung erfüllen (verstärktes πληρόω) und fest überzeugt sein (Pass.)“ und oszilliert manchmal zwischen beiden.9 In unserem Zusammenhang passt nur „(vollends) erfüllen“. Damit ist die zeitliche („bis die Aufgabe beendet ist“) und die qualitative Schiene („mit letzter Anstrengung und großem Ernst“) gemeint. Was dahinter steht, zeigt der nachfolgende, mit begründendem γάρ eng angeschlossene Satz: 6 Ich werde nämlich schon als (Trank-)Opfer dargebracht, und der Zeitpunkt meines Todes steht bevor. Das „ich“ tritt nun dem „du“ von V. 5 gegenüber. Weil der Apostel nicht mehr ins Geschehen eingreifen, sprich: sich aktiv an der Verkündigung des Evangeliums und der Leitung der Gemeinden beteiligen können wird, ist es so wichtig, dass Timotheus diese Aufgabe mit ganzer Entschlossenheit angeht und zu Ende führt. Wir erkennen auch darin einen Unterschied zwischen Äußerungen in Richtung „Tod“ in anderen Gefangenschaftsbriefen und im 2. Timotheusbrief, dass die Konsequenzen hier viel konkreter bedacht werden. Hebräische Denk- und Redeweise kommt in Gestalt eines parallelismus membrorum zutage und bekräftigt, was Paulus sagen will. Phil 2,17, also ebenfalls in einem „Gefangenschaftsbrief“ und vermutlich ebenfalls aus einem römischen Gefängnis während der von uns angenommenen ersten römischen Haft um 60–62 n.Chr. geschrieben,10 hatte er schon einmal im Präsens von sich gesagt, er werde „als Trankopfer dargebracht“ (σπένδομαι [spendomai]).11 Will er diese seine damals nicht in einem 9 H. Hübner, Art. πληροφορέω κτλ., EWNT III, 254. Von den sechs Vorkommen im NT finden sich immerhin fünf im corpus Paulinum (in der Bedeutung „überzeugt sein“: Röm 4,21; 14,5; Kol 4,12; „erfüllen“: 2Tim 4,5.17). 10 Schnelle, Einleitung, 163, datiert um das Jahr 60.
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finalen Sinn eingetroffene Aussage damit relativieren und den Ernst der aktuellen Situation hervorheben? Denkbar ist das. Die Aussage selbst ist in beiden Vershälften dieselbe. Im zweiten Versteil wird das Faktum des bevorstehenden Todes noch konkreter angesprochen als im ersten, wo das damals bei Juden und Heiden jedermann bekannte und einleuchtende Bild eines Trankopfers (Libation, griech. σπονδή [spondē]) verwendet wird. In antiken Religionen war es spätestens seit dem 2. Jahrtausend v.Chr. üblich, wertvolle Flüssigkeiten (Wasser, Milch, Honig, Öl, Wein; in Japan auch Sake, in den animistischen Religionen Afrikas Bier), oft begleitet von einem anderen Opfer, durch Ausgießen aus einem sakralen Gefäß auf einen Altar oder einen vergleichbaren Ort oder Gegenstand einer Gottheit zu opfern. Num 28,7ff; 29,1ff gibt es Anweisungen dazu für den jüdischen Kult. Offenbar sah Paulus sein Leiden (Phil 2,17) und Sterben (2Tim 4,6) als ein Jesus dargebrachtes Opfer an.12 Natürlich ist der Vergleich nicht ganz stimmig, denn jene, die dieses Opfer ausführten, taten es ja keinesfalls zu Ehren von Jesus. Auch die Erwähnung des Zeitpunkts seines Todes dürfte vor dem Hintergrund der allgemein gehaltenen, wenn auch damals sicher nicht weniger ernst gemeinten Feststellung von Phil 2,17 im Sinne einer Konkretisierung und Bekräftigung zu verstehen sein: War damals, vor den neronischen Wirren und dem großen Brand Roms, eine Verurteilung zwar im Blick gewesen, aber doch eher schemenhaft (Phil 1,22ff), so konnte Paulus die Zeit, die ihm noch blieb, nun in Tagen oder Wochen abzählen. Jedenfalls war das Urteil offensichtlich noch nicht gesprochen. Von seinem bevorstehenden Sterben spricht er als von einer „Auflösung“ (ἀνάλυσις [analysis]). Im Zusammenhang mit dem Sterben bzw. Totsein verwendete der Apostel früher neben dem häufigen ἀποθνήσκειν [apothnēskein] im 1Kor und 1Thess gern das Wort κοιμᾶν [koiman] „(ent-) schlafen“ (etwa 1Kor 7,39; 11,30; 15,51; 1Thess 4,13-15 u.ö.). Da es nun um seinen eigenen Tod geht, nennt er ihn (wie Phil 1,23) ein ἀναλύειν [analyein], was im intransitiven Gebrauch eigentlich „aufbrechen“ oder „zurückkehren“ bedeutet, aber euphemistisch eben auch für das Sterben verwendet werden kann.13 Ob die mitschwingende Bedeutung „zurückkehren“ oder die Bedeu-
11 Smith, Task, 236f vertritt die (m.E. eher unwahrscheinliche) Auffassung, es handle sich hier um eine Formulierung im Zusammenhang mit einem Nasiräatsgelübde des Paulus, das entweder tatsächlich auf seinen bevorstehenden Tod deute oder als Dankgelübde für die bevorstehende Haftentlassung gedeutet werden könne. 12 Etwas anders ist seine Äußerung Röm 9,3 zu verstehen, wo es wohl nicht um das Sterben, sondern um das Heil selbst geht, auf das der Apostel zugunsten seines Volks Israel verzichten würde. 13 Bauer/Aland 113.
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tung der Vorsilbe ἀνά im früheren Griechisch („auf, hinauf“)14 in Paulusʼ Sprachempfinden im Spiel waren? Die Aussage über das „Ausgegossenwerden“ des Apostels als Trankopfer stand im Präsens. Mit dem Verb ἐφέστηκεν [ephestēken] in der Zeitform des Perfekt, die einen Vorgang beschreibt, der in der Vergangenheit begonnen hat und dessen Auswirkungen als Resultat feststehend bis in die Gegenwart reichen („Resultativ“),15 wird der Tod des Apostels Paulus als völlig sicher und als unmittelbar bevorstehend dargestellt.16 Die hebräische Sprache des AT kennt parallel zwei Perfektformen mit vergleichbarer Bedeutung, nämlich das perfectum confidentiae, das „bei festen Zusicherungen“, oder das perfectum propheticum, das „bei der Ankündigung kommender Ereignisse“ Verwendung findet. In beiden Fällen wird „das erst in der Zukunft Stattfindende zum Zeichen seiner unbedingten Verwirklichung als schon geschehen bezeichnet“, schreibt Grether.17 Auch insofern stellt also der zweite Versteil eine Steigerung gegenüber dem ersten dar. So wird auch verständlich, warum Paulus in V. 7f sein Leben bilanzierend überblicken kann: 7 Der Vers besteht aus drei parallel formulierten, auf sein Leben zurückblickenden Elementen, nämlich je einem vorgestellten Akkusativ-Objekt, dem ein finites Verb in der 1. Person Singular Perfekt folgt. Er verwendet zur Veranschaulichung zwei Bilder aus der hellenistischen Agonistik (wir würden einfacher sagen: aus dem Sport – wobei der sportliche Wettstreit in der Antike schon in minoischer Zeit noch andere Aspekte hatte als heute).18 Schon in 2,5 hatte er in diese Bildertruhe gegriffen (s. o.). ἀγών [agōn], ein uraltes griechisches Wort und seit Homer Element des kriegerischen wie des zivilen Lebens, meint zunächst den „Wettkampf“, dann den „Kampf “ überhaupt und schließlich die „Mühe“, die jemand hat oder sich gibt.19 Die Formulierung ἀγῶνα 14 Bauer/Aland 96. 15 Vgl. HvS §194k. 16 H. Balz, Art. ἐφίστημι, EWNT II, 232. Es ist angesichts dieses Sachverhalts schwer zu verstehen, wenn Smith, Task 228 davon spricht, Paulus sei „hopeful that he will be released soon to continue his ministry.“ 17 Grether, Grammatik, §79 l. 18 Vgl. dazu den Art. „Sport“ von H. Baumgarten im LAW 3, Zürich/München 1965, 28642870. Neuere Untersuchungen sind der Beitrag von Rainer Metzner über „Paulus und der Wettkampf“, NTS 46, 2000, 565-583, die Diss. von Martin Brändl „Der Agon bei Paulus: Herkunft und Profil paulinischer Agonmetaphorik“, WUNT II/222, 2006, der von Andreas Gutsfeld herausgegebene Sammelband „Der gymnische Agon in der Spätantike“, Gutenberg 2013, sowie Dietrich Rambas Göttinger Dissertation „Bestimmung der prägenden Wesenszüge im Sport der griechisch-römischen Antike“ von 2014 (http://hdl. handle.net/11858/00-1735-0000-0022-5EFD-8 [Volltext]). 19 Bauer/Aland 26f; in ähnlichem Sinn und Kontext findet sich das Wort in Hebr 12,1.
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ἠγώνισμαι ist eine figura etymologica.20 Luttenberger nennt das „Kampfmotiv“ an unserer Stelle „Bestandteil einer bilanzierenden Selbstaussage.“21 Paulus zieht die vom sportlichen Wettkampf angebotene Bilderwelt an mehreren Stellen in unterschiedlichen Zusammenhängen im übertragenen Sinn heran und verwendet dabei häufig wie hier Nomen oder Verb (z.B. 1Kor 9,25; Phil 1,30; Kol 2,1; 1 Thess 2,2; 1Tim 4,10; 6,12).22 Hier stellt er dem allgemeineren Begriff für „Wettkampf “ exemplarisch-konkretisierend die (in unseren Begriffen) leichtathletische Disziplin des δρόμος [dromos] an die Seite, das sich bei Lukas in seinem Mund schon in der Abschiedsrede an die Repräsentanten der Gemeinde von Ephesus (Apg 20,24) findet.23 δρόμος definiert die Sportart, um die es geht, noch nicht eindeutig. Baumgarten nennt in seinem Artikel präzisierend zum einen den ἵππιος oder ἐφίππιος δρόμος [hippios/ephippios dromos], einen (wie wir sagen würden:) „Mittelstreckenlauf “ über 4 Stadien (in Olympia waren das 769 Meter),24 zum anderen den δρόμος ἔνοπλος [dromos enhoplos], einen Lauf über zwei Stadien (Olympia: 384,5 Meter), der ursprünglich in voller Bewaffnung, später nur noch mit einem Schild durchgeführt wurde.25 Das Adjektiv καλόν [kalon] im Zusammenhang mit dem Wettkampf wies eigentlich schon über das Bild hinaus. Es bezieht sich nicht auf die Art und Weise, wie Paulus gekämpft hat, sondern auf den Charakter bzw. die Qualität des Kampfes selbst. Das Adjektiv, das „überwiegend … das sittlich Gute, Edle, Erstrebenswerte“ bezeichnet, wird „meist 20 HvS §294h, 569. 21 Luttenberger, Prophetenmantel, 320. 22 A.a.O. 318-320 vergleicht unsere Stelle in seiner Untersuchung über persönliche Notizen und ihre Bedeutung in Briefsammlungen mit der Aufforderung an Timotheus (1Tim 6,12). Beispiele aus den Platon-Briefsammlungen zeigen nach seiner Auffassung, „dass zumindest in dieser Briefsammlung, in der authentische Briefe mit fiktiven verbunden werden sollen, detaillierte Bezugnahmen innerhalb der Briefsammlung vorkommen können, insbesondere unter dem Aspekt, die Briefe als wirkliche Briefe erscheinen zu lassen“ (318). Und später zusammenfassend: „Im Ergebnis ist für 1Tim 6,12 eine literarische Verwendung des Kampfmotivs eher plausibel zu machen als für 2Tim 4,7, da durch die Aufforderung an Timotheus eine exemplarische Funktion hinsichtlich des Adressaten möglich wird, zumal 1Tim sich wie EpSokr 14,4 auf den Wettkampf beschränkt und das aus dem Corpus Paulinum bekannt [sic!] Motiv des Wettlaufes weglässt. 2Tim 4,17 [korrekt muss es wohl heißen: 4,7. HWN] steht hingegen in der Verwendung des Wettkampfmotives in Verbindung mit dem Wettlauf den authentischen Paulusbriefen näher und erscheint eher als ein Selbstbericht“ (320). Sucht man nach einer Alternative, so spräche demnach mehr für die paulinische Verfasserschaft des 2. Timotheusbriefs als des 1Tim. 23 Dort wie hier findet sich im Kontext das Stichwort διακονία im Sinne von „Amt“, das bis zum Ende ausgeführt werden muss. 24 Das entsprach der Länge einer Runde im Hippodrom, woher wohl der Name kommt; Baumgarten 2866. 25 Baumgarten 2866.
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zur Kennzeichnung der sittlichen Qualität des Handelns gebraucht“.26 Um ein Handeln (nämlich in Gestalt des Lebens an sich und der dem Apostel in seinem Amt gestellten Lebensaufgabe) geht es ja tatsächlich. Mit den beiden Perfekt-Formen ἠγώνισμαι [ēgōnismai] und τετέλεκα [teteleka] stellt der Schreiber den Wettkampf wie den Lauf als abgeschlossen dar und fügt als Zielpunkt den Schritt von der Bild- zur Sachebene ebenfalls im Perfekt hinzu: ich habe … den Glauben bewahrt. 1Tim 6,12 hatte Paulus mehr zum Thema καλὸς ἀγών [kalos agōn] geschrieben: „Kämpfe den guten Wettkampf des Glaubens, nimm das ewige Leben in Empfang, im Blick auf das du berufen bist und das gute Bekenntnis abgelegt hast vor vielen Zeugen.“ Diese Aufforderungen sind an den Schüler gerichtet, der sich noch mitten im „Wettkampf des Glaubens“ befindet.27 Auch hier geht sein Blick schon hinüber in die Ewigkeit, dem Ziel christlichen Lebens und Kämpfens, wie im folgenden Vers: 8a Das Ziel des Sportlers ist der Siegespreis, der in der Antike zunächst in der Ehre bestand (vgl. auch Hebr 2,7!), welche durch einen gloriolen- oder kronenartigen Kranz (στέφανος [stephanos]) aus Zweigen vom jeweiligen heiligen Hain bestand und so materialisiert und sichtbar gemacht wurde. Der Kranz konnte aus Zweigen von Öl-, Lorbeer-, Fichten-, Palmen- oder anderen Bäumen bestehen. Er wurde bis heute nie ganz verdrängt, aber (wie wir Menschen eben sind!) durch wertvolle Geschenke oder Privilegien oder einfach durch Geld ergänzt.28 Paulus hatte auf diesen Vorgang der Siegerehrung, für den es auch im AT Belege gibt (z.B. Ps 8,6) schon in 2,5 zurückgegriffen (s. dort). Im Phil 4,1 und 1Thess 2,19 nennt er die dortigen Gemeinden seinen „Siegerkranz“. Paulus kennt aber auch einen immateriellen, deshalb nicht dem Vergehen unterworfenen Siegerkranz, nämlich den Siegeskranz der Gerechtigkeit.29
26 27 28 29
J. Wanke, Art. καλός, EWNT II, 603. Vgl. dazu die Auslegung zu 1Tim 6,12 in dieser Reihe! Baumgarten 2869. 1Kor 9,25 hatte er auf diesen Charakter schon einmal angespielt. – Dem übrigen NT, besonders der Apokalypse des Johannes, ist diese Vorstellung aber auch nicht fremd, wie Jak 1,12; 1Petr 5,4; Offb 2,10; 3,11; 4,4.10; 6,2; 9,7; 12,1; 14,14 zeigen. Es ist zu fragen, ob daraus ein „System“ von Kronen abgeleitet werden sollte (vgl. auch die ausführlichen Überlegungen von G. Maier zu Offb 2,10 in seinem Offb-Kommentar in dieser Reihe (S.160-162).
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Exkurs Wie ist diese Genitivverbindung zu verstehen? Besteht der Siegeskranz „in“ einer dann verliehenen oder (aus theologischen Gründen weniger wahrscheinlich; s.u.) „aus“ einer beim „Preisträger“ schon vorhandenen Gerechtigkeit (genitivus epexegeticus30)? Mindestens an unserer Stelle würde diese Auslegung Sinn ergeben. Oder wird er „für“ Gerechtigkeit verliehen? Ein Vergleich mit den drei anderen Stellen, an denen στέφανος durch einen Genitiv mit einem anderen Substantiv verbunden ist, hilft uns weiter.31 Es ist nämlich in 1Petr 5,4 vom Empfang des „unvergänglichen Siegeskranzes der Herrlichkeit“ (τὸν ἀμαράντινον τῆς δόξης στέφανον [ton amarantinon tēs doxēs stephanon]) die Rede, in Jak 1,12 von dem „Siegeskranz des Lebens, das er denen versprochen hat, die ihn lieben“ (τὸν στέφανον τῆς ζωῆς ὃν ἐπηγγείλατο τοῖς ἀγαπῶσιν αὐτόν [ton stephanon tēs zōēs hon epēngeilato tois agapōsin auton]), und in Offb 2,10 noch einmal von dem „Siegeskranz des Lebens“ (τὸν στέφανον τῆς ζωῆς [ton stephanon tēs zōēs]). Syntaktisch fällt die vorgezogene Stellung des Nomens im Genitiv in 2Tim 4,8 und 1Petr 5,4 auf, sodann das zweimalige Vorkommen eines „Siegeskranzes des Lebens“ (Jak 1,12; Offb 2,10). Die JakobusStelle, in deren Kontext es um Bewährung in der Anfechtung geht, ließe das Verständnis zu, dass der Bewährte für sein Leben den „Siegeskranz“ erhalten wird, wenn nicht als Bedingung für deren Empfang gesagt wäre, dass sie jenen versprochen sei, die ihn (gemeint sein kann nur „Gott“ in V. 5) lieben.32 Der Siegeskranz selbst besteht also in (ewigem) Leben. Das Sendschreiben an die Gemeinde in Smyrna (Offb 2,8-11) beschäftigt sich ebenfalls mit der aktuellen Bedrängnis der dortigen Gemeinde (V. 9f), um dann dem Adressaten den „Siegeskranz des Lebens“ zu versprechen, sofern er notfalls bis in den Tod die Treue zu seinem Herrn durchhält. Der Anschluss an den bevorstehenden Tod lässt vermuten, dass der Siegeskranz auch hier in der Gabe des ewigen Lebens besteht.33 Wir haben es also ebenfalls mit einem epexegetischen Genitiv zu tun. Bleibt 1Petr 5,4: Der Verfasser spricht in 5,1 von seiner Teilhaberschaft „an der Herrlichkeit, die im Begriff ist offenbart zu werden“, und ermahnt jene, die in ähnlicher Verantwortung für Gemeinden sind wie er selbst, sie mögen Gottes Herde in guter Weise weiden (V. 2f). Dann nämlich werden sie von dem „Erzhirten“ (gemeint ist der wiederkommende Jesus) den „unvergänglichen Siegeskranz der Herrlichkeit erhalten“ (V. 4). Thema ist also auch hier nicht etwas, das schon vorhanden ist, sondern das erst noch (wenn auch nach Meinung des Verfassers in sehr naher Zukunft) kommen wird: Herrlichkeit, die ohnehin weitestgehend Gott bzw. der göttlichen Sphäre, auf die auch das Stichwort „unver30 HvS §165 mit ausdrücklichem Hinweis auf 2Tim 4,8; Jak 1,12; Offb 2,19 (S. 244). 31 Eine solche grammatische Konstruktion liegt zwar auch Offb 12,1 vor; diese Stelle trägt aber hier nichts aus. 32 Vgl. dazu G. Maier. Der Brief an Jakobus. HTA, Wuppertal 2004, z. St. 33 So auch G. Maier. Die Offenbarung des Johannes I. HTA, Witten 2009, z. St.
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gänglich“ hinweist und die wir „Ewigkeit“ nennen, vorbehalten ist. Der „Siegeskranz der Herrlichkeit“ ist also ebenfalls kein für beim Empfänger schon vorhandene Herrlichkeit verliehener Kranz, sondern der Siegespreis besteht in Anteilgabe an der Herrlichkeit Gottes.
Von diesen Überlegungen herkommend betrachten wir unseren Vers (2Tim 4,8) näher! Der Schreiber schließt an die drei Feststellungen von V. 7 mit λοιπόν [loipon] an. Man könnte erwarten, dass dieses Wort „dafür“ bedeutet: „dafür, dass ich den Glauben bewahrt habe, liegt für mich der Siegeskranz der Gerechtigkeit bereit.“ Im Kontext der paulinischen Theologie erscheint aber eine Belohnung aufgrund seiner Gerechtigkeit kaum möglich.34 Das sola gratia wäre in Gefahr. λοιπός meint aber nicht etwas, das auf ein anderes folgen würde, sondern etwas, das noch aussteht.35 Der Apostel wird an das Endgericht (vgl. etwa Röm 14,10; 2Kor 5,10) oder an das sog. „Preisgericht“ (1Kor 3,13ff) gedacht haben, bei dem die Frage der Rechtfertigung, Rettung und Erlösung schon entschieden sein wird. Dann – nach unserer Übersetzung zuletzt – liegt für ihn der Siegeskranz der Gerechtigkeit bereit, so wie die Medaillen bei der Siegerehrung bei Olympischen Spielen für die drei Besten bereitgehalten werden. Wohlgemerkt: Er wird sich ihn nicht nehmen (das könnte er, wenn er ihn verdient hätte), sondern er ist für ihn da und wird ihm gegeben, wie ein Relativsatz verdeutlicht: 8b … den der Herr mir an jenem Tage geben wird. Von ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ [ekeinē tē hēmera] war schon in 1,12.18 die Rede.36 Ganz im Sinne des Wettkampfbildes findet dann auch die „Preisverteilung“ (s. o.) statt. Es ist der Herr …, der gerechte Richter, von dem er seinen Preis erwartet. „Gott ist im Blick auf sein Gerichtshandeln gerecht“,37 schreibt Schneider mit Hinweis auf Offb 16,5; 1Petr 2,23; Joh 17,25; Röm 3,26. Ist Gott-Sohn hier gemeint oder vielleicht Gott-Vater? Zwei Zusammenhänge sind zu beachten: a) der übrige Sprachgebrauch von κύριος und b) die Verwendung von κριτής [kritēs „Richter“].
34 Es ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, wie man die Dinge versteht. Der Gedanke an „Belohnung“ ist Jesus (vgl. Mt 18,5; 25,21.34-36) und Paulus (1Kor 3,14) nicht so fremd, wie die lutherische Theologie manchmal in berechtigter Abwehr einer Werkgerechtigkeit glauben machen möchte. 35 Vgl. dazu: H. Fendrich, Art. λοιπός, EWNT II, 889f, der für 1Kor 7,29 und 2Tim 4,8 (nach unserer Meinung zu Unrecht) „den logischen Sinn nun, also, deshalb“ annimmt, aber die von Bauer/Aland vermutete „temporale Bedeutung für die Zukunft … nicht völlig aus[..]schließen“ will. 36 Zum Verständnis und Hintergrund des Begriffs vgl. 1,12! 37 G. Schneider, Art. δίκαιος, δικαίως, EWNT I, 783.
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a) κύριος „bezeichnet den Gebieter, den Herrn, eine Person, die Kontrolle oder Herrschaft über eine andere Person oder eine Sache besitzt, verbunden mit Entscheidungsvollmacht“,schreibt Fitzmyer und weist darauf hin, dass das Wort „in einem profanen (wörtlich und übertr.) sowie in einem rel. Sinn verwendet“ wird.38 Wir tun gut daran, dem Begriff nicht (wie es früher manchmal geschah)39 vorschnell eine überhöhte Stellung zu geben, zumal die frühere Annahme, er sei in der LXX durchweg an die Stelle des hebräischen Tetragramms יהוהgetreten, inzwischen relativiert werden muss.40 Gleich im Eingangsgruß (2Tim 1,2) war programmatisch von Χριστοῦ Ἰησοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν [Christou Iēsou tou kyriou hēmōn] die Rede.41 Von den 16 Vorkommen im 2. Timotheusbrief ist lediglich an zwei Stellen (2Tim 2,19a.b) sicher anzunehmen, dass Gott-Vater gemeint ist.42 An beiden Stellen handelt es sich um atl. Zitate. Möglicherweise wären nach Fitzmyers Meinung, der wir uns hier nicht anschließen, 2,14.22.24 hinzuzufügen.43 Der κύριος erscheint im 2. Timotheusbrief vor allem als der Geber von etwas (1,16.18 [„Erbarmen“]; 2,7 [„Erkenntnis“]; 4,8.14) und als der Erlöser aus Bedrängnis (3,11; 4,17f). b) Fitzmyer schreibt zum κύριος-Titel in 1Kor 16,22: „Möglicherweise wurde es urspr. auf ihn [den auferstandenen Christus] angewendet als ein Titel, der sich hervorragend eignete, den zur Parusie kommenden Christus zu bezeichnen“.44 1Kor 11,32 spricht davon, dass die Christen „von dem Herrn gerichtet werden“ (κρινόμενοι δὲ ὑπὸ [τοῦ] κυρίου – [krinomenoi de hypo tou 38 J. A. Fitzmyer, Art. κύριος κτλ. EWNT II, 813. 39 Fitzmyer 816 verweist auf O. Cullmann und F. Hahn als Beispiele. 40 Nach Fitzmyer 816 gilt das lediglich für späte christliche Abschriften der LXX aus dem 4./5. Jh., während in Handschriften, die in vorchristlicher Zeit entstanden sind, an den betreffenden Stellen „jhwh in hebr. oder althebr. Buchstaben in den griech. Text eingefügt“ wurden. Allerdings gab es „eindeutig einen beginnenden Brauch, daß palästinische Juden der beiden letzten vor-christl. Jhh. sich auf Gott als ‚(den) Herrn‘ bezogen, im Aramäischen entweder als mārē […] oder mārjāʼ […], im Hebräischen als ʼādȏn […] und im Griechischen als κύριος (Josephus, Ant XX 90; XIII 68 […]; TestLevi 18,2 […]; grHen 10,9 […]). Wenn auch keines dieser Beispiele anzeigt, daß jhwh durch κ. übersetzt worden ist, zeigen sie doch wenigstens, daß es für palästinische Juden nicht ‚undenkbar‘ war, ‚Gott‘ (ʼēl) oder den ‚Allmächtigen‘ (schaddaj) Herr zu nennen. Zwar wurde eine direkte Verbindungslinie von diesem vor-christl. jüd. Gebrauch zu den christl. Autoren (noch) nicht aufgespürt, doch ist sein Einfluß auf diese Schriftsteller nicht von der Hand zu weisen.“ 41 Vgl. auch die Erklärungen zu 1Tim 1,2 in dieser Reihe! 42 2,14 steht das Wort, wenn auch nicht schlecht bezeugt, lediglich im textkritischen Apparat von NA28. 43 Bei 2Tim 2,22.24 ist der Zweifel nicht ganz einzusehen: In 1Kor 1,2 ist eindeutig von denen die Rede, die Jesus Christus als κύριος anrufen, und in 1Kor 7,22 werden Christen ebenso eindeutig als „Sklaven“ des κύριος bezeichnet. 44 Fitzmyer 817.
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kyriou]).45 Hier finden wir also ebenso wie 2Tim 4,1 die Verbindung der beiden Termini κύριος und κρίνειν. Unter dem Strich spricht viel dafür, in 4,8b den Christus Jesus als agierende Person zu sehen.46 Das schließt die Vorstellung von Gott-Vater als Richter (vgl. Hebr 12,23) nicht aus, sondern eher ein.47 Die johanneische Tradition untermauert diese Annahme (trotz Joh 3,17; 12,47) vom Sendungsgedanken her (Joh 5,30; vgl. etwa Joh 3,17; 5,22; 8,16). Der Herr Jesus Christus selbst ist also der gerechte Richter. Was darf man von einem Richter mehr erwarten als Gerechtigkeit? Bekanntlich hat im hebräisch-biblischen Denken „Gerechtigkeit“ nicht den Charakter einer Vorgabe oder Norm, der man zu entsprechen hat und an deren Erfüllung man am Ende gemessen und danach beurteilt wird. Das Wort beschreibt, wie Hermann Cremer entdeckt hat,48 eine Gemeinschaftsbeziehung, die nicht erst erreicht werden muss, sondern schon besteht. „Gerecht“ sein bedeutet: sich dieser bestehenden Beziehung entsprechend zu verhalten. Die (römische) Vorstellung von der Göttin Iustitia, die mit verbundenen Augen die Waage in der Hand hält, trifft für den biblischen Befund gerade nicht zu! In Ansehung der Person – nämlich der Beziehung dieser Person zu Gott – wird das Urteil gesprochen.49 Gott als der Schöpfer, der jedes seiner Geschöpfe liebt, und als der Richter und Retter, der auf wirklich friedliche Beziehungen zwischen ihnen und sich bedacht ist, sorgt am Ende der Zeit in Christus für die Auflösung aller Konflikte, Feindschaften und Aggres45 Erstaunlich ist es, wenn W. Schenk, Art. κριτής, EWNT II, 796 schreibt: „Gott oder Christus werden weder bei Pls noch in der synoptischen Tr.[adition] jemals als Richter bezeichnet.“ Methodisch wäre zu fragen, ob die Verwendung des Nomens von der des Verbs getrennt werden kann. Immerhin nimmt er (wie Schneider, Art. δίκαιος κτλ., EWNT I, 784) an, in 2Tim 4,8 dürfe Christus als Richter gemeint sein. 46 So auch G. Schneider, Art. δίκαιος κτλ., EWNT I, 784. Manche Ausleger sehen in Apg 8,55 den sich erhebenden Menschensohn auf dem Hintergrund von Jes 3,13 und AssMos als den Richter, der sich zur Urteilsverkündigung erhebt (z.B. Rudolf Pesch, Die Vision des Stephanus. Apg 7,55-56 im Rahmen der Apostelgeschichte, SBS 12,1966, 55-58. 47 Röm 2,5; 2Thess 1,5 wissen ebenso wie Sib III (2. Jh. v.Chr.) von Gottes Richtersein. 48 H. Cremer. Die paulinische Rechtfertigungslehre im Zusammenhange ihrer geschichtlichen Voraussetzungen, Gütersloh 21900. 49 Interessanterweise verwendet Paulus Röm 2,2 gerade nicht δίκαιος, sondern er nennt Gottes Urteil über die Sünder κατὰ ἀλήθειαν [kata alētheian]. Die Aussage Röm 2,11 widerspricht unserem Verständnis von „Gerechtigkeit“ gerade nicht, denn dort geht es ja um das Gericht über Heiden abgesehen vom atl. Gesetz und zugleich um die nicht unterschiedliche Behandlung von Juden und Heiden durch Gott. Klaus Koch spitzt das Verständnis von [ צדקzdq] im forensischen Bereich so zu: „In ṣædæq richten heißt also nicht ‚unparteiisch‘ freisprechen oder strafen, sondern im Interesse der Allgemeinheit einen Konflikt so beseitigen, daß dem in seinem Lebensvollzug Beeinträchtigten wieder zum Recht verholfen und der Friedensstörer unschädlich gemacht wird …“ (ders., Art. צדק, THAT II, 514).
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sionen. Das Richteramt ist, vor atl. Hintergrund verstanden, immer auch ein Friedensstifteramt. Schon im Mund Jesu (Mt 5,45) und dann des Paulus bei Lukas (Apg 24,15) finden wir die grundsätzliche Aufteilung der Menschheit in „Gerechte“ und „Ungerechte“. Für Lukas gilt dabei: „Recht tut, wer Gott fürchtet und sich des Nächsten in seiner Not annimmt“.50 Was das bedeutet, veranschaulicht sich am besten vom Gegenteil her, vom „ungerechten Richter“, wie ihn Jesus im Gleichnis in Verbindung mit dem deutenden Wort zeichnet (Lk 18,2-6): Er verhält sich nicht gerecht, insofern er die neben aller legalen Berechtigung seiner Ablehnung doch vorhandene Verbundenheit mit der Witwe („in derselben Stadt“ Lk 18,3) und ihre Hilfsbedürftigkeit zunächst nicht erkennt und sich entsprechend verhält. Seine Berufung auf Gott (18,4) belegt, dass er den eigentlichen Willen Gottes im Sinne der Antithesen nicht verstanden hat oder mindestens nicht praktiziert. Demgegenüber ist Gott der gerechte Richter schlechthin. Er ist es, der auch bestimmt, was als gerecht zu gelten hat.51 Wird Jesus in der Christologie der Urgemeinde absolut als „der Gerechte“ bezeichnet (Apg 3,14; 7,25; 22,14), so schlägt diese Eigenschaft bzw. Verhaltensweise erst recht durch, wenn er zum Richter wird. Als solcher entscheidet er, dass Paulus den Siegeskranz der Gerechtigkeit erhalten soll und setzt ihn ihm auf. 8c führt den Gedankengang des Relativsatzes 8b fort und erweitert den Kreis der Empfänger des besagten Siegeskranzes mit der Formel οὐ μόνον δὲ ἐμοὶ ἀλλὰ καὶ [ou monon de emoi alla kai] über seine eigene Person auf andere. Siebenthal sieht darin „eine[n] hyperbolische[n] (d.h. der Form nach übertreibende[n]) Gebrauch“ einer semitisierenden Redeform.52 In dem Wettkampf, von dem Paulus spricht, gibt es also nicht nur einen Sieger (vgl. 1Kor 9,24, wo es um einen anderen Aspekt des Bildes geht). Die christliche Gemeinde ist nicht eine Gemeinschaft von Durchschnittlichen, die ihrem Vorzeigeathleten zujubeln. Wer gekrönt werden will, muss das von Gott gesteckte Ziel erreicht haben (Hebr 12,1), was während des Laufs eine Menge Disziplin verlangt (1Kor 9,25.27); muss sich an die geltenden, d.h. die ebenfalls von Gott gesetzten Regeln gehalten haben (1Kor 9,26); muss sein Erscheinen geliebt haben. 2Tim 4,1 hatten wir das zeitlich oszillierende Wort ἐπιφάνεια [epiphaneia] als ein erst erwartetes Ereignis verstanden. Diese Auslegung bietet sich auch hier an: Die Krönung mit dem Siegeskranz der Gerechtigkeit 50 M. Limbeck, Art. ἀδικέω κτλ., EWNT I, 78. 51 G. Schneider 782f. 52 HvS §249b.
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darf für sich erwarten, wer mit liebevoller Freude auf das zweite Kommen des Herrn zulebt. Wir erinnern uns daran, dass die Partizipialform im Perfekt τοῖς ἠγαπηκόσιν [tois ēgapēkosin] einen Zustand beschreibt, der in der Vergangenheit begonnen hat und, die Gegenwart bestimmend, andauert. Röm 8,28 hatte der Apostel einen ähnlichen Sachverhalt in Form eines Überzeugungssatzes ausgedrückt, der alle Christen verbindet: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben (τοῖς ἀγαπῶσιν τὸν θεὸόν [tois agapōsin ton theon]), alles zum Guten wirkt, [nämlich] den nach dem Vorsatz Berufenen.“ Dort ging es um die Frage, wie die schwierigen, störenden Dinge im Leben einzuordnen seien. Deshalb spricht Paulus im Präsens. Hier steht zur Debatte, was ein Leben als Christ trägt, ausrichtet, was ihm Ziel und Hoffnung gibt. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass es (ebenfalls nach Paulus) möglich ist, umsonst an diesem Wettkampf teilgenommen zu haben (Gal 2,2; Phil 2,16; 2Tim 2,5). IV 1. Mit 4,8 endet der Hauptteil des 2. Timotheusbriefs. Am Schluss steht für den Empfänger noch einmal komprimiert die Aufgabe, die er erfüllen soll, bzw. die Verhaltensweise, die von ihm erwartet wird. Nicht Aufgeregtheit oder geistliches Überschäumen sind angesagt, sondern Nüchternheit und die Bereitschaft, für seine Überzeugung und als christlicher „Funktionsträger“ auch Widerstand, Druck und zu Unrecht zugefügtes Leid zu ertragen. Der Briefschreiber versteht sich selbst mit allem, was er in Gottes Reich gearbeitet hat und mit dem Geschick, auf das er mit offenen Augen zugeht, als Vorbild für Timotheus. Am Ende des Briefkorpus stehen wir zugleich an der Grenze zwischen Leben und Tod wie zwischen Zeit und Ewigkeit. Eschatologische Motive (Gericht, Belohnung) machen das auch theologisch ganz deutlich. Dietrich Bonhoeffers berühmt gewordener, in gleicher Lage kurz vor seiner Hinrichtung gesprochener Satz „Das ist das Ende – für mich ist es der Anfang“ schlägt die Brücke über 19 Jahrhunderte. Ein Blick in die Situation der Christen in vielen Regionen Afrikas und Asiens zeigt uns auch, dass sich trotz Humanismus und Aufklärung in Europa und des kolonialen Einflusses auf jene Regionen dort letztlich nicht viel geändert hat. 2. Paulus sieht seinen Schüler nicht in erster Linie als „Gemeindeleiter“ (Bischof), sondern als Missionar („Evangelist“). Das musste kein Gegensatz sein, wenn auch heute die stabilitas loci (d.h. das Bleiben und die Zuständigkeit als Gemeindeleiter für einen bestimmten Ort) und die unstete Reisetätigkeit von Evangelisten und Missionaren, von der schon die Johannesbriefe berichten, kaum einmal in einer Person zusammenkommen. Eusebius von
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Cäsarea berichtet über Timotheus, er sei „zum ersten Bischof der Kirche von Ephesus ernannt“ worden.53
11. Mitarbeitersorgen – Aufträge – Persönliches 4,9-18 I 9 Bemühe dich, schnell zu mir zu kommen! 10 Demas hat mich nämlich im Stich gelassen (er hat die gegenwärtige Weltzeit liebgewonnen) und ist nach Thessalonich gereist, Kreszens nach Galatien, Titus nach Dalmatien. 11 Lukas ist allein bei mir. Markus nimm mit und bring ihn mit dir, denn er ist mir sehr nützlich zum Dienst. 12 Tychikus habe ich aber nach Ephesus geschickt. 13 Den Mantel, den ich in Troas bei Karpus zurückließ, bring mit, wenn du kommst, auch die Schriftstücke, besonders die Pergamente! 14 Alexander der Schmied hat mir viel Böses erwiesen; der Herr wird ihm nach seinen Taten vergelten. 15 Vor dem nimm auch du dich in Acht; er hat unseren Worten nämlich sehr widerstanden. 16 Bei meiner ersten Verteidigung hat mir niemand beigestanden, sondern alle haben mich verlassen – möge es ihnen nicht angerechnet werden! 17 Der Herr aber stand mir bei und hat mich gestärkt, damit durch mich die Botschaft erfüllt würde und indem alle Heidenvölker [es] hören; und ich wurde vor dem Maul des Löwen errettet. 18 Der Herr wird mich von jeder bösen Handlung erretten und erlösen in sein himmlisches Königreich. Dem gehört die Ehre in die Ewigkeiten der Ewigkeiten. Amen. II Das Lemma ἀγαπ- verbindet V. 8 mit V. 9ff. Waren dort jene positiv gewertet worden, die mit dem Apostel zusammen das künftige Erscheinen Jesu als eine positive Veränderung bzw. das Ende der Geschichte erwarten (ἠγαπηκόσιν τὴν ἐπιφάνειαν αὐτοῦ [ēgapēkosin tēn epiphaneian autou]), so kommt mit dem treulosen Demas eine Negativfolie in den Blick (ἀγαπήσας τὸν νῦν αἰῶνα [agapēsas ton nyn aiōna]).1 Mit 4,9 wendet sich die Aufmerksamkeit wieder dem Adressaten Timotheus zu. Die Aufforderung, er möge möglichst rasch zu Paulus kommen, ist einmal durch dessen kritische Situation (ein erster Gerichtstermin hat stattgefunden und Aufschub gebracht, aber keine Entschei53 Eusebius, HistEccl 3,4,5, zit. nach der Ausgabe von H. Kraft, München 1967,153. 1 Man kann erwägen, ob das die Geschichte transzendierende Ereignis der Wiederkunft Jesu in 4,8 der Verfangenheit in die Welt, so wie sie jetzt ist, gegenübergestellt werden soll.
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dung oder gar Lösung) veranlasst, zum anderen durch das Verhalten der Mitarbeiter, die bis vor Kurzem bei ihm gewesen waren. Gliederung: 9 Anweisung an Timotheus 10-13 Erläuterte Liste von Mitarbeitern 14f Ein gefährlicher Gegner 16-18 Schilderung der aktuellen Situation 18ab synthetischer parallelismus membrorum 18c Schlussdoxologie mit „Amen“ Zum literarischen Hintergrund: Der Abschnitt zeichnet sich deshalb durch die wohl größte Dichte von Personen- und Ortsnamen in den Paulusbriefen aus, abgesehen von Grußlisten, zu denen m.E. auch Röm 16 zu rechnen ist (8 Personen- und 5 Ortsnamen in 10-14, ein Wörterverhältnis von 1:4,4). Fünf Mitarbeiter (Demas, Kreszens, Titus, Lukas, Tychikus) waren bei ihm gewesen, ein Gegner (der Schmied Alexander) hat ihm das Leben schwer gemacht. Luttenberger hat sich in seiner Untersuchung über die persönlichen Notizen in den Pastoralbriefen auch mit den „Namen in den literarischen Briefsammlungen“ befasst,2 also in jenen (pseudepigraphischen) Texten, in deren Spur nach Meinung vieler Exegeten auch die Pastoralbriefe verfasst sein sollen. Er fragt dabei u.a. nach „Herkunft und Verwendung von Namen“, nach der „paradigmatische[n] Funktion“ der Adressaten und nach Sinn und Zweck frei erfundener Namen. Das Ergebnis fasst er so zusammen: „Die Verwendung von unbekannten Namen ist somit ein Charakteristikum wirklicher Briefe oder für die Absicht, bei fiktiven Briefen den Eindruck der Authentizität zu erzeugen“.3 Zum 2. Timotheusbrief meint er, dass hier nicht nur Gegner (wie 1Tim) 2 Luttenberger, Prophetenmantel, 244-254. Er beurteilt später auch den historischen Wert von persönlichen Notizen und schreibt (378): „Daraus ergibt sich, dass auch unter Voraussetzung einer pseudepigraphischen Verfasserschaft persönlichen Notizen angesichts der Art ihrer Kreation eine gewisse historische Zuverlässigkeit zukommen kann. Sie sind in ihrem Kern keine freien Erfindungen. Dies gilt auch für die in literarischen Briefsammlungen verwendeten Namen, die nahezu ausnahmslos bekannt sind und für die Entfaltung des inhaltlichen Anliegens mit verwendet werden.“ In den Past sind nach Luttenbergers Analyse lediglich 1Tim 1,3 und 1,20 „als persönliche Notizen im Sinnes eines literarischen Stilmittels“ anzusehen (ebd.). 3 Luttenberger, a.a.O., 254. Später (S. 294) schreibt er resümierend: „Die Verwendung von unbekannten Namen ist, wie die untersuchten Briefsammlungen zeigen, für die literarische Pseudepigraphie untypisch und findet allenfalls zurückhaltend Verwendung.“ Und weiter folgernd meint er ebd., „dass nach den bisherigen Ergebnissen der Untersuchung von zwei verschiedenen Formen von Pseudepigraphie zu sprechen wäre: Zum einen von literarischer Pseudepigraphie im 1Tim und zum anderen von bewusster Fälschung im 2Tim und Tit, die sich in der Form ihrer Abfassung an wirklichen Briefen, also auch den Paulusbriefen orientieren.“
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bzw. nur Mitarbeiter (wie Tit) namentlich genannt werden, sondern insgesamt 23 Personen, die sich in drei Kategorien einteilen lassen: Verwandte, Gegner bzw. Irrlehrer und Mitarbeiter.4 Von ihnen rechnet er 14 Namen zu den sonst Unbekannten.5 Später schreibt er mit Blick auf 2Tim 4,10f.16, „dass literarische Briefsammlungen sich eher an bekannten Namen aus den verarbeiteten Quellen orientieren und diese oft auch einschließlich der Situation einarbeiten, mit der diese Namen in Verbindung stehen.“6 Machen wir uns den historischen und rechtlichen Hintergrund bewusst! Paulus war inhaftiert worden – wir wissen nicht wann, wo, warum und von wem. Anders als früher zeigt seine Schilderung der Situation mitten im Prozess dessen Ernsthaftigkeit. Es geht nun tatsächlich um Leben und Tod. Verhaftungen konnten im römischen Rechtsstaat aus verschiedenen Gründen vorgenommen werden.7 Rapske nennt sechs damals gängige Haftgründe oder -zwecke:8 1. Schutzhaft;9 2. Untersuchungshaft als Vorsichtsmaßnahme, damit der Angeklagte zum Prozess auch tatsächlich erschien, besonders wenn mit der Todesstrafe zu rechnen war;10 3. zur Überbrückung der Zeit zwischen Prozessterminen (quaestiones) und Urteilsverkündung;11 4. zur Vollstreckung des Todesurteils, die in Rom häufig im Gefängnis erfolgte;12 5. „Beugehaft“ (coercitio), wenn Personen nicht bereit waren, behördlichen Anordnungen Folge zu leisten;13 6. schließlich konnte es (selten und eher in späterer Zeit)
4 Luttenberger, a.a.O. 290. 5 Bauer/Aland 68 hält den Schmied Alexander für vermutlich identisch mit dem 1Tim 1,20 zusammen mit Hymenäus erwähnten Mann gleichen Namens. 6 Luttenberger, a.a.O., 321. 7 Vgl. hierzu den Exkurs oben S. 9ff und Rapske 10ff. Zum rechtshistorischen Hintergrund insgesamt: Theodor Mommsen, Strafrecht, sowie die neueren Untersuchungen von J.-U. Krause. Gefängnisse im römischen Reich. Heidelberger althistorische Beiträge und epigraphische Studien 23, Stuttgart 1996; W. Nippel. Orgien, Ritualmorde und Verschwörung? Die Bacchanalien-Prozesse des Jahres 186 v.Chr. In: Große Prozesse der römischen Antike. Hg. v. U. Manthe / I. von Ungern-Sternberg, München 1997, 65-73; ders., Aufruhr und Polizei in der römischen Republik, Stuttgart 1988. Zum Provokationsrecht vgl. J. Bleicken, Ursprung und Bedeutung der Provocation. in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. 76 (1959) 324–377. 8 Wir gehen dabei immer davon aus, dass die rechtsstaatlichen Verhältnisse auch während der Christenverfolgung grundsätzlich Bestand hatten, dass es sich bei der Verhaftung und Hinrichtung des Apostels also nicht um einen Übergriff oder um Behördenwillkür jenseits des gesetzlichen Rahmens gehandelt hat. 9 Rapske, Custody, 10. 10 A.a.O. 10f. 11 A.a.O. 12f. 12 A.a.O. 13f; vgl. auch Luttenberger, Prophetenmantel, 38. 13 A.a.O. 14-16.
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2. Timotheusbrief
auch Gefängnisstrafen geben.14 Angesichts der Ausführungen des Paulus selbst können wir die Möglichkeiten 1, 5 und 6 wohl ausschließen. Option 4) dürfte ebenfalls wegfallen, da das Urteil offenbar noch nicht gesprochen war. Bleiben also 2 und 3. Wie ist die Situation? Der Prozess war eröffnet worden. Vermutlich meint der Verfasser in 4,16 mit τῇ πρώτῃ μου ἀπολογίᾳ [tē prōtē mou apologia] den Eröffnungstermin des Prozesses, die receptio nominis, bei der die Anklage vorgetragen wurde und, falls der Beklagte nicht geständig war, vom Vorsitzenden der Kammer (quaestio) entschieden wurde, ob der Fall zur gerichtlichen Behandlung zugelassen wurde. War dies so, dann wurde er in die Liste der hier anhängigen Verfahren eingetragen und die eigentliche Verhandlung vorbereitet. Der Angeklagte konnte bzw. musste sich also schon hier zu den Vorwürfen äußern. Es ergibt daher Sinn, wenn Paulus die mangelnde Unterstützung durch die ihm nahestehenden Personen durch ihre Aussagen bei diesem ersten Gerichtstermin beklagt (4,10.16). Die Entscheidung zwischen 2 und 3 fällt an der Frage, ob es nach der receptio nominis bereits weitere Verhandlungen gegeben hatte oder nicht. Die Aussage ich wurde vor dem Maul des Löwen errettet lässt (jedenfalls unter geordneten rechtsstaatlichen Verhältnissen) eigentlich darauf schließen, dass die Frage mit Ja zu beantworten ist. Denn die Gefahr einer Verurteilung zum Tode in der Arena bestand bei der receptio nominis unmittelbar nicht, sofern der Angeklagte sich nicht schuldig bekannte. Hier konnte dann lediglich die Abweisung der Klage und damit der Freispruch des Angeklagten erklärt werden. Das dürfte dem in Rechtsdingen nicht unkundigen Paulus bekannt gewesen sein. Wir gehen folglich davon aus, dass die Haft der Überbrückung zwischen zwei Gerichtsterminen diente und natürlich zum Ziel hatte, die Flucht des Angeklagten zu verhindern. „In der frühen Kaiserzeit werden Gefängnis- und Vollstreckungshaft als nahezu identisch betrachtet“, schreibt Luttenberger.15 Er geht davon aus, dass die „in 2Tim vorausgesetzte Haftsituation (,…) von der ‚freien Haft‘ (custodia libera, φυλακὴ ἄδεσμος …) abweicht und einer Exekutionshaft ähnelt“.16 Von den oben aufgelisteten Optionen würde das alles eher für Option 3 sprechen. Es gibt noch einen wichtigen Aspekt: die provocatio.17 Dieses Rechtsinstitut, das bis ins 6. Jh. v.Chr. zurückzuverfolgen ist, meinte zunächst das Recht männlicher römischer Bürger, gegen eine tatsächliche oder nur vermeintliche Fehlentscheidung von Beamten das Volk zu Hilfe zu rufen, was dann wohl 14 15 16 17
A.a.O.16-20. Luttenberger, Prophetenmantel, 37. A.a.O., 42. Vgl. die Ausführungen von Omerzu 53-109.374-381.485-495.
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bedeutete, dass der Fall vor der Volksversammlung verhandelt wurde. In der Kaiserzeit nahm der Kaiser mehr und mehr diese Schutzfunktion wahr. Der römische Bürger18 Paulus hatte es nach Apg 25,11 schon einmal für sich in Anspruch genommen (Καίσαρα ἐπικαλοῦμαι, was in der Vulgata mit Caesarem appello übersetzt wird, also nicht „provoco“, wie man erwarten könnte). Da wäre es erstaunlich, wenn er es nicht noch einmal getan hätte. Sollte das bei der receptio nominis, als ihm sein Denunziant (vielleicht der Schmied Alexander) bzw. Ankläger gegenüberstand, geschehen sein, und sollte es in diesen bewegten Zeiten tatsächlich eine provocatio mit dem Ziel eines Gerichtstermins vor dem Kaiser gegeben haben, so wäre auch klar, dass zwischen beiden ein Zeitraum überbrückt werden musste – wo anders als im Gefängnis? 19 Die Redeweise verrät uns: Wir sind im Reich der Spekulation angekommen. Je nachdem, wie jemand die Wahrscheinlichkeit der Annahmen einschätzt, wird er uns folgen oder auch nicht. III 9 Bemühe dich, schnell zu mir zu kommen, ermahnt der Apostel seinen Schüler, wie er es Tit 3,12 mit Titus getan hatte, nur hier ergänzt durch das Adverb ταχέως [tacheōs „schnell“]. Prior greift auf Arbeiten von Spicq zurück und vertritt aufgrund von Belegen in Papyrusbriefen die Auffassung, die Verwendung von ἐν τάχει, ταχύ, ταχέως, τάχιον und εὐθέως [en tachei, tachy, tacheōs, tachion, eutheōs] „communicate[s] the real urgency of requests to come quickly.“20 Es handelt sich bei V. 9 um einen Befehlssatz, der aus dem Hauptverb im Imperativ und dem angeschlossenen Verb im Infinitiv besteht. Eine lokale (πρός με) und eine temporale Ergänzung (ταχέως) komplettieren 18 Konnte es sich dabei nicht um eine bloße Schutzbehauptung handeln? Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Über Inhaber des Bürgerrechts wurden in den jeweiligen Städten bzw. in Rom selbst und in den Provinzen amtliche Register geführt und unregelmäßig aktualisiert. Personen, die häufiger auf Reisen waren, erhielten (oder konnten erhalten) wie Legionäre, die ihren Dienst beendet hatten, ein diploma civitatis Romanae oder instrumentum genanntes, aus Metall (!) gefertigtes Dokument, damit sie den entsprechenden Nachweis führen konnten (vgl. Sherwin-White, Society, 146.149; Omerzu, Prozeß, 25f). Hinzu kommt, dass die unberechtigte Behauptung eines römischen Bürgerrechts mit der Todesstrafe bedroht war (Omerzu, Prozeß, 26 Anm. 44 mit Belegen). 19 Luttenberger, Prophetenmantel, 38.321, spricht in unserem Zusammenhang von „Exekutionshaft“. Nachdem Todesurteile in Rom sehr zeitnah, manchmal unmittelbar nach der Urteilsverkündung, vollstreckt wurden, das beim Urteil ad bestias aber nicht immer möglich war, gibt es für diese Variante ein allerdings geringes Maß an Wahrscheinlichkeit. Hierin folgen wir Luttenberger nicht, denn dann wäre das Urteil bereits gesprochen, und Paulus hätte es sicher mitgeteilt – schon als Ansporn für Timotheus zu schnellem Erscheinen. 20 Prior, Paul, 144f:145.
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2. Timotheusbrief
den kurzen Satz. Bildungen von dem Lemma σπουδ- begegnen uns in den Pastoralbriefen an mehreren Stellen,21 in den übrigen Paulusbriefen (nur) 14 Mal. Das Lemma transportiert zwei verwandte, aber nicht identische Bedeutungen: die Assoziation der Geschwindigkeit und die des eifrigen Bemühens. Beide Bedeutungen geben an unserer Stelle einen guten Sinn: Für „sei eifrig bemüht schnell zu mir zu kommen“ spräche die Beobachtung, dass ταχέως bereits den Gedanken der Eile zur Sprache bringt, es sich also um eine Doppelung handeln würde, will man ihn auch in σπούδασον [spoudason] finden. Der Sinn wäre dann, dass Timotheus sich nach Paulusʼ Vermutung entweder nur ungern auf die Reise zu dem römischen Gefängnis machen wollte, oder dass es (in Ephesus) ernsthafte Gründe gab, die ihn von der Reise abhielten, die er aber doch zurückstellen musste. Entscheidet man sich (mit Bauer/Aland) für die andere Option, so stellt das endständige ταχέως lediglich eine syntaktische Verstärkung des Hauptverbs dar. In beiden Fällen gehört das Adverb innerhalb der Konstruktion zum Infinitiv ἐλθεῖν [elthein]. Wir haben uns für die „Eifer“Variante entschieden und sehen darin ein weiteres Indiz für die Bedenken, die Paulus im Blick auf Timotheus hegt.22 Aber warum drängt Paulus Timotheus, zu ihm zu kommen (2Tim 4,9) und auch (Johannes) Markus mitzubringen (2Tim 4,11)? Fuchs sieht in der Entfernung von Demas den Hauptgrund und verweist zur Begründung auf das γάρ (V. 10), das die Aufforderung an Timotheus eng an die Abreise des Demas bindet: Nachdem auch die anderen Mitarbeiter von ihm mit wichtigem Grund weggeschickt wurden bzw. durch Erkrankung ausgefallen sind und nur noch Lukas bei ihm ist, fehlen ihm nun die nach atl.-jüdischem Denken nötigen beiden Zeugen (Deut 19,15).23 Carl Werner Müller hat Parallelen im griechischen und römischen Recht untersucht: „Danach gilt die Zweizahl [der Zeugen] überall dort, wo nicht ausdrücklich eine andere Zahl gefordert wird.“24 Insofern könnte auch eine rechtliche Überlegung hinter dem Drängen des Apostels stehen: Er brauchte dringend einen zweiten „Zeugen der Verteidigung“. Die folgenden Sätze in den Versen 10-13 (15?) haben nicht nur den Sinn einer Information für den Empfänger (damit er weiß, wie es um die ihm ja gut 21 Im Sinn von „eilig“: 2Tim 4,21; Tit 3,12; im Sinn von „eifrig“ 2Tim 1,17; 2,15; Tit 3,13. 22 So oder ähnlich verstehen die Stelle z.B. auch Prior, Paul 164.169, Towner 618, Knight 463, Holtz 192, Merkel 82. Die Kommentare zeigen auch, dass eine eindeutige Entscheidung nicht immer leicht zu treffen ist. In Tit 3,12f finden wir nach unserem Verständnis beide Bedeutungen unmittelbar nebeneinander. 23 Vgl. dazu Fuchs, Unterschiede, 25-28. 24 C. W. Müller. Der „zweite Beweis“ als Wahrheitskriterium. In: ders., Kleine Schriften zur antiken Literatur und Geistesgeschichte. Stuttgart/Leipzig 1999, 182-185: 182 Anm. 3. Als Beleg weist er auf Digesta Iustiniani Augusti 22,5,12 hin.
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bekannten Mitarbeiter bestellt ist). Sie sind zugleich Begründung (γάρ V. 10!) für die Anweisung des Apostels. Das bedeutet auch: eine Begründung ist offenbar nötig, damit sich Timotheus tatsächlich auf den Weg macht. 10 Zwei aneinandergereihte Hauptsätze, durch einen erläuternden partizipialen Nebensatz unterbrochen, sprechen von Demas:25 Er wird in Kol 4,14 gemeinsam mit dem durch die Appositionen „der Arzt, der geliebte“ hervorgehobenen Lukas erwähnt, wirkt dort aber irgendwie „angehängt“, als wolle Paulus sagen: „Ach ja, und dann ist da auch noch dieser Demas …“. In Phlm 24, vermutlich während der Haft in Cäsarea geschrieben, erscheint er in der Liste der grüßenden Mitarbeiter, diesmal an dritter Stelle und vor Lukas. Beide sind „Gefangenschaftsbriefe“.26 Mehr wissen wir nicht von ihm als seinen griechischen Namen, der (nach Bauer/Aland 357) eine „Kurzform v. Δημήτριος“ oder Δημάρατος sein wird.27 Jedenfalls gehört er zu den Mitarbeitern, die nicht auf Dauer bei Paulus geblieben sind: Er hat mich nämlich im Stich gelassen. ἐγκαταλείπειν [enkataleipein] verwendet der Apostel außer in dem der LXX entnommenen Zitat aus Jes 1,9 in Röm 9,29 noch 2Kor 4,9 in einem Peristasenkatalog in Form einer Antithesenreihe28 sowie 2Tim 4,16. Diese Stelle steht der unseren besonders nah, weil es auch dort um ein „Ιm-StichLassen“ durch Freunde in brenzliger Situation geht (s.u.). LXX Ps 21,2 (entspr. Ps 22,2) aufnehmend, hatte Jesus sein Empfinden der Gottverlassenheit am Kreuz so hinausgeschrien (Mt 27,46 par). Towner verwendet für seine Übersetzung das Verb „to desert“, was zunächst „Fahnenflucht begehen“ bedeutet. Das würde einen Bruch nicht nur mit dem Apostel, sondern mit dem christlichen Glauben, wie er von Paulus verkündigt wurde, nahelegen. Allerdings steht solcher scharfen Deutung 4,16b im Wege. Von daher scheint uns die Übersetzung im Stich gelassen angemessener. Den Hintergrund von Demas’ Verhalten beleuchtet der kausale Partizipialsatz: er hat die gegenwärtige Weltzeit liebgewonnen. Es muss daran erinnert werden, dass ἀγαπάω 25 Zu den in den Pastoralbriefen vorkommenden Personen im Zusammenhang mit antiken Briefsammlungen und der Echtheitsfrage vgl. Luttenberger, Prophetenmantel, 289ff. 304.368f. 26 Schnelle, Einleitung, 174, datiert den Phlm ca. ins Jahr 61, den Kol „um das Jahr 70 n.Chr.“ (S. 367). Robinson, Redating, 84, sieht beide im Sommer 58 entstanden. Riesner, Paulus 286, erwägt für den Phlm das Jahr 54 oder 58. 27 Spekulationen aus der Zeit um 1900 über eine Identität mit dem Silberschmied aus Ephesus von Apg 19,24.38, auf die Bauer/Aland hinweist, dürften spekulativ und daher müßig sein. Auszuschließen ist sie natürlich nach dem, was wir wissen, nicht. Zur Person des Demas vgl. Quinn/Wacker 799-801. 28 F. Lang, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen/Zürich 1986, 280. Lang spricht von einem „geläufige[n] Motiv der alttestamentlichen Tradition (vgl. z.B. 5. Mose 31,6; Sir 2,12).“ Wichtig wäre umgekehrt noch LXX Jos 1,5.
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2. Timotheusbrief
[agapaō] zwar des emotionalen Elements nicht entbehrt, dass dieses aber bei Weitem nicht im Vordergrund der Assoziation steht. Es meint vielmehr eine bewusste Willensentscheidung für das eine und damit gegen das andere. Demas hat sich entschlossen, auf diese Welt zu setzen. Was bedeutet das? Der uralte griechische Terminus αἰών [aiōn] trägt ursprünglich einen Begriff von „Zeit“ in sich, sei es auch ein Zeitraum, ein Zeitalter, ja sogar die endlose Ewigkeit.29 Dann aber kann er auch die negativ konnotierte Bedeutung „Welt“ im Sinne dessen annehmen, was die von Gott getrennte Zeit beinhaltet. Die sog. „Zwei-Äonen-Lehre“ ist also nicht nur eine zeitliche Abfolge verschieden qualifizierter Epochen („Äonen“) im Sinne eines Nacheinander, sondern auch das zeitliche Nebeneinander von zwei verschieden qualifizierten „Systemen“, nämlich dem des Menschen, des Bösen, der Sünde einerseits und dem Gottes, des Guten, des Heils andererseits. Paulus spricht (wie Jesus im Johannesevangelium mit dem Wort κόσμος!) von dem aktuellen „Äon“ und bezeichnet in Gal 1,4 „die gegenwärtige Geschichte ausdrücklich als ‚böse‘“.30 An unserer Stelle spielen beide Aspekte mit: Durch die Stichwortverbindung ἠγαπηκόσιν – ἀγαπήσας (V. 8/10) und das Gegenüber der eschatologischen ἐπιφάνειαν αὐτοῦ und der Gegenwartsverhaftung in τὸν νῦν αἰῶνα wird im Sinne einer Wertung auf die wertvolle Bedeutung des Kommenden abgehoben. Dies hat aber mit der inhaltlichen Füllung zu tun: Von der Wiederkunft des Herrn ist Gutes zu erwarten, von „der Welt“ mit ihrer Zeitgeistverfallenheit, ihrer Selbstgefälligkeit und Eigengesetzlichkeit aber nicht. Will Paulus sagen, dass Demas ihn deshalb im Stich gelassen hat, weil er als Freund eines designierten Todeskandidaten um sein eigenes Leben bangte oder weil er fürchtete, einen (sozialen?) Makel davonzutragen?31 Dass ihm also das Ranking des für ihn Wichtigen durcheinandergeraten war? Oder hatte Demas an den attraktiven Angeboten seiner Zeit zu viel Gefallen gefunden? Der Vergleich mit 4,8 scheint auf Letzteres hinzudeuten. 29 Vgl. dazu den Art. von T. Holtz im EWNT I, 105-107. 30 Holtz 109. 31 Quinn/Wacker 800 sind der Meinung: „it was the precarious poverty of the apostolate that eroded Demas’s zeal“. Towner 622 vermutet dagegen mit Verweis auf Marshall 815, der wiederum auf Polycarp 9,2 hinweist: „Demas’s desertion was motivated more by the fear of being associated with a ʻcriminalʼ likely to be executed.“ Dies zu entscheiden würde voraussetzen, dass wir wissen, ob die historische Situation im Rom der ersten systematischen Christenverfolgung so war, dass die amtlich handelnden Personen (Justiz, Justizvollzug etc.) ideologisch fanatisiert waren. War das nicht der Fall (und dafür spricht vor allem schon die Tatsache, dass offenbar Unterstützung des Angeklagten bis in den Prozess selbst hinein möglich war!), so dürfen wir von einer nur geringen Gefährdung der Helfer ausgehen – was Spott und Häme der Wärter nicht ausschließt. Zu dieser Frage vgl. Rapske, Custody, 370-392!
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… und ist nach Thessalonich gereist. Zur inneren Abkehr von Paulus kam als Konsequenz auch die äußerliche Trennung von ihm hinzu, möglicherweise mit durchaus geistlich-missionarischen Gründen: „In Thessalonich brauchen sie mich“, könnte das Argument gewesen sein. Oft ist Menschliches und Religiös-Geistliches in uns sehr vermischt vorhanden. Wir kennen die damaligen Hintergründe und Umstände nicht, fragen uns aber, ob einer, der einen totalen Bruch mit dem „Milieu“ vollziehen will,32 das sein Leben über Jahre bestimmte, ausgerechnet in eine der Hochburgen dieses „Milieus“ gehen würde, in der er vermutlich mindestens dem Namen nach bekannt war. Thessalonich, am nordöstlichen Ende des Golfs von Thermae und am nordwestlichen Ansatz der Halbinsel Chalkidiki gelegen, war damals Hauptstadt der römischen Provinz Makedonien. Paulus hatte dort um das Jahr 49/50 n.Chr. auf seiner 2. und 55/56 n.Chr. auf der 3. Missionsreise gearbeitet (Apg 17,110; 20,1ff). Aristarch und Secundus, wohl Glieder der neu entstandenen Gemeinde, begleiteten den Apostel auf der 3. Reise von Makedonien aus in Richtung Judäa (Apg 20,4). In unserem Kontext ist interessant: Aristarch gehörte schon um das Jahr 55 in Ephesus zum „Tross“ des Paulus. Als der Kol (Kol 4,10) und der Phlm (Phlm 24) entstanden, hielt er sich erneut zusammen mit Demas (Kol 4,14; Phlm 24) bei ihm auf. Im Jahr 59 war er immer noch (oder wieder) in seiner Gefolgschaft und begleitete ihn, als der Apostel von Cäsarea nach Rom transportiert wurde (Apg 27,2). Wir dürfen vermuten, dass er mit ihm auch Rom zur ersten Gefangenschaft erreicht hat. Es bestand also eine Verbindung zwischen den Christen in Rom und in Thessalonich, die mit der Person des Aristarch zusammenhing. Mit anderen Worten: Ging Demas nach einem Zerwürfnis mit Paulus nach Thessalonich, dann brach er (bewusst) nicht alle Brücken hinter sich ab. Warum er aber gerade dorthin reiste, wissen wir nicht. Die Entfernung beträgt immerhin rund 900 km Luftlinie! Es wird also einen Grund gegeben haben, den wir aber nicht kennen. Was bleibt, ist Spekulation. Das Hauptverb ἐπορεύθη [eporeuthē] ist gereist steht zwar im Aorist Passiv, hat aber aktive Bedeutung. Es gilt noch für den ganzen Rest von V. 10. Kreszens: Auch in römisch-hellenistischer Zeit war die griechische Sprache immer noch die lingua franca, also heute dem Englischen vergleichbar. Die Mitarbeiterschaft des Paulus rekrutierte sich nach unserem Wissen weitgehend aus Juden- und Heidenchristen seiner Missionsgemeinden. Es gab, das 32 Towner 622 spricht anschaulich von einem „clash of values occured in Demas’s thinking, leading him to choose comforts (of whatever sort) available immediately instead of those (4:8) at the end of this life’s trials.“
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2. Timotheusbrief
zeigen vor allem die Grußlisten seiner Briefe, Personen mit (ursprünglich) hebräischen, mit griechischen und römisch-lateinischen Namen. Zu Letzteren gehörte Kreszens (griech.: Κρήσκης),33 der sonst aber im NT nicht vorkommt. Er passt natürlich gut nach Rom. Warum er aber ausgerechnet in die kleinasiatische Provinz Galatia gereist ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Da Lukas und Paulus sich weitgehend der offiziellen römischen Provinznamen bedienen, ist zu vermuten, dass die Provinz Galatia gemeint ist, wo der Apostel auf seiner 1. und 2. Missionsreise gearbeitet hatte. Titus ist nach Dalmatien gezogen. Die weitgehend illyrisch besiedelte römische Provinz Dalmatia erstreckte sich fast über die gesamte Ostküste der Adria. Das ist deshalb interessant, weil Paulus in Röm 15,19 Illyrien als nordwestlichen Rand seines seitherigen Missionsgebiets erwähnt, also dort gewesen sein wird. Nach Tit 3,12 wartete Paulus um das Jahr 64/65 in Nikopolis, das in der Provinz Achaia am Mittelmeer lag, auf Titus, mit dem zusammen er dort überwintern wollte.34 Dieses Nikopolis lag etwa 70 km südlich vom Südende der Insel Kerkyra entfernt auf einer Halbinsel, aber immerhin ist es der in den Paulusbriefen erwähnte Ort, der der Provinz Dalmatia auf dem Landwege am nächsten liegt. Titus, ein Heidenchrist, der uns, obwohl in der Apg nicht erwähnt, als langjähriger Mitarbeiter des Apostels aus 2Kor und Gal sowie natürlich aus dem an ihn gerichteten Tit bekannt ist, hielt sich zur fraglichen Zeit um die Mitte der 60er-Jahre also auch mit ihm in Rom auf.35 Früher hatte er Paulus um 48/49 auf der Reise zum Apostelkonzil begleitet, war dort auch als Person ein Thema gewesen, eben weil er unbeschnitten geblieben war. Wenige Jahre später war er dann Briefbote nach Korinth und leistete als Verbindungsmann gute Arbeit (wir würden heute sagen: als „Moderator“), sprich: er trug dazu bei, das komplizierte und belastete Verhältnis zwischen Paulus und der dortigen Gemeinde mindestens einigermaßen wieder zu stabilisieren. Um die Mitte der 60er-Jahre befand er sich dann auf der Insel Kreta und erhielt dort den an ihn gerichteten Pastoralbrief des Apostels. Weder bei Kreszens noch bei Titus lesen wir einen Satz der Kritik über ihre Reisen. Wir sollten uns hüten, aus dem begründeten Urteil über Demas einerseits und der allgemeinen Aussage in 4,16, niemand sei ihm bei seiner „ersten 33 Der Name ist Partizip des lateinischen Verbs crescere „entstehen, wachsen, werden; zunehmen, groß werden“. – Nach der Legende bzw. mittelalterlichen Bischofslisten soll Kreszens zu den 72 Jüngern Jesu (Lk 10,1) gehört haben. 34 Vgl. dazu meinen Kommentar zu Titus 3,12 sowie zur Datierung die Einleitung in dieser Kommentarreihe! 35 Mehr zu seiner Person in der Einleitung zu meinem Tit-Kommentar in dieser Reihe oder bei Lips, Timotheus 91ff.
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Verteidigung“ beigestanden, andererseits ein Verdikt über die in V. 10b genannten Personen abzuleiten. Das einzige Indiz dafür ist, dass das Hauptverb ἐπορεύθη [eporeuthē] hier immer noch gilt und im Aktiv formuliert ist, die Personen also Subjekt sind, während es von Tychikus (V. 12) als Objekt heißt, Paulus habe ihn nach Ephesus geschickt (ἀπέστειλα [apesteila]). Vermutlich sind Kreszens und Titus sogar im Auftrag des Paulus nach Galatien und Dalmatien gereist. 11 Den Gegangenen, zu denen man im Grunde auch die auf der Reise aus verschiedenen Gründen zurückgelassenen Mitarbeiter rechnen müsste (2Tim 4,19f), stellt der Apostel den Gebliebenen gegenüber: Lukas ist allein bei mir. Auch er, obwohl oder gerade weil Verfasser der Apg und des Lk, das Paulus aus verständlichen Gründen als „sein“ Evangelium bezeichnet haben soll (Eusebius, HistEccl 3,4,7), kommt in den Paulusbriefen nur am Rande vor (außer hier noch Kol 4,14 und Phlm 24). Die sog. „Wir-Stücke“ der Apg lassen aber ahnen, auf welchen Strecken er Paulus begleitet hat, möglicherweise auch als sein Arzt. Die altkirchlichen Quellen zeichnen ihn als heidenchristlichen Arzt aus Antiochia am Orontes in Syrien (Eusebius, HistEccl 3,4,6). Wie wir vor allem bei der Auslegung des 1Tim sahen, gibt es in diesem Brief (und übrigens auch im 2Tim) eine Reihe von „Lukanismen“ in Sprache und Theologie. Die Vermutung liegt nahe, Paulus könnte sich seines Begleiters also auch als Sekretär bedient haben. Inwieweit das für den 2. Timotheusbrief auch zutrifft, ist zu fragen. Von den äußeren Lebensbedingungen her wäre die Verwendung eines Sekretärs jetzt unter den stark einschränkenden und belastenden Bedingungen einer Kerkerhaft mit Dunkelheit, Feuchtigkeit, Enge und evtl. Ketten noch viel näherliegend.36 Auch deshalb war es gut, wenn der Apostel den vertrauten Lukas bei sich wissen konnte. Konkret wird man es sich so vorzustellen haben, dass Lukas entweder bei Gemeindegliedern oder in einer Mietwohnung lebte und den Häftling vielleicht täglich besuchte, möglicherweise auch an den öffentlichen Gerichtsterminen teilnehmen konnte. Der Personenname Markus gehörte zu den verbreiteten römischen praenomina. Er leitet sich vermutlich von dem Kriegsgott Mars ab und könnte auf den März als Geburtsmonat seines Trägers hinweisen. Im NT kennen wir zum einen das auf einen Markus zurückgeführte Evangelium, zum anderen wird in Apg 12,12.25 ein „Johannes mit dem Beinamen Markus“ eingeführt, der der Jerusalemer Urgemeinde und/oder der Leserschaft der Apg offensichtlich bekannt war. Seine Mutter hieß Maria und besaß in Jerusalem ein Haus, das der 36 Luttenberger, Prophetenmantel, 42f.
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2. Timotheusbrief
übliche Treffpunkt eines Teils der Urgemeinde gewesen sein muss. Trifft dies und die in früheren Kommentaren immer wieder zu lesende Vermutung zu, Johannes Markus habe sich in Mk 14,51f als Augenzeuge der Verhaftung Jesu dargestellt,37 dann war er für die frühe Christenheit jedenfalls von erheblicher Bedeutung. Diese Informationen in Verbindung mit dem Beinamen „Johannes“ deuten auf jüdische (vielleicht jüdisch-hellenistische oder jüdisch-heidnische) Eltern hin. Wegen dessen (späterem) Verhalten und der Art seiner weiteren Mitarbeit kam es nach Apg 15,37 zum Bruch zwischen seinem Vetter Barnabas und Paulus. In Apg 15,39 wird er dann nur noch mit dem römischen Namen Markus bezeichnet. In Kol 4,10 und Phlm 24 (und evtl. 1Petr 5,13) taucht er wieder auf.38 Es spricht manches dagegen, aber auch viel dafür, dass es sich um dieselbe Person handelt.39 Der Apostel Paulus hatte seine Vorbehalte gegenüber Johannes Markus wohl inzwischen abgelegt40 und schätzte ihn als Mitarbeiter, den er jetzt in Rom brauchte. Deshalb die Anweisung an Timotheus: Markus nimm mit und bring ihn mit dir, denn er ist mir sehr nützlich zum Dienst. Damit das möglich ist, muss sich Johannes Markus im Umfeld von Timotheus aufgehalten haben, also in der Provinz Asia. Sehr nützlich (εὔχρηστος [euchrēstos]) nennt Paulus 2,21 im Vergleich ein Gerät oder Gefäß, das dem Hausherrn im Haushalt gute Dienste leistet. Von Onesimos hatte er in Phlm 11 aus dem Gefängnis heraus ebenso gesprochen. Wozu, erfahren wir nicht genauer, denn διακονία [diakonia] hatte bei Paulus eine breitere und auch ehrenvollere Bedeutung erhalten: seine eigene Tätigkeit, also sein Apostolat,41 sowie die missionarische Arbeit seiner Mitarbeiter (Ti37 Vgl. dazu auch H. F. Bayer. Das Evangelium des Markus. HTA, Witten 2008, z. St. Sehr vorsichtig äußert sich Schlatter in seinem großen Markus-Kommentar (z. St.). Der Kirchenvater Papias von Hierapolis bestreitet ausdrücklich seine Augenzeugenschaft, kennt ihn dafür als eng mit Petrus verbunden und als dessen Übersetzer (Eusebius, HistEccl 3,39,14). 38 Nach Kol 4,10 und Phlm 24 (beide Briefe könnten um das Jahr 58 von Cäsarea aus geschrieben sein) befindet sich Markus gemeinsam mit Timotheus (Kol 1,1; Phlm 1) bei Paulus. Wenn 1Petr vor Mitte der 60er-Jahre geschrieben wurde und aus Rom stammt, Markus aber zu diesem Zeitpunkt dort bei Petrus war (5,13), der offenbar (noch) auf freiem Fuß war, müssten wir davon ausgehen, dass der 2Tim vorher geschrieben worden ist. Wir hätten als „Bewegungsprofil“ für Markus dann die Orte Jerusalem und Antiochia (Mk 14,51; Apg 12,12.25), die 1. Missionsreise bis Perge in Pamphylien (Apg 13,5), wieder Antiochia (Apg 15,37), Zypern (Apg 15,39), Cäsarea (Kol 4,10; Phlm 24), vermutlich Kleinasien (2Tim 4,11) und schließlich Rom (1Petr 5,13). 39 Vgl. zu seiner Person, Biographie und den Kontakten zu Paulus und Petrus: Bayer, a.a.O. 19-30. 40 Die Aufforderung Kol 4,10, ihn in der Gemeinde aufzunehmen, war damals offenbar noch nötig. 41 A. Weiser, Art. διακονέω κτλ., EWNT I, 728.
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motheus: 2Tim 4,5) werden ebenso bezeichnet wie die verschiedenen, in der jeweiligen Gemeinde vorhandenen oder wünschenswerten Funktionen und Tätigkeiten (1Kor 12,5) einschließlich der in unserem Sinne „diakonischen“. Es lässt sich also schwer sagen, wie und wo genau er tätig werden soll: ob zur persönlichen Unterstützung (und Pflege) des Inhaftierten, als Schreiber (im übernächsten Vers ist von Pergamenten die Rede) oder als Augenzeuge und damit als Autorität in Sachen „Leben und Sterben Jesu“, das unter Umständen beim Prozess eine Rolle gespielt haben könnte. 12 An sechster Stelle, gleich vor Aufträgen an Timotheus, die bestimmte mitzubringende Gegenstände betreffen, heißt es: Tychikus habe ich aber nach Ephesus geschickt. In dieser Metropole, dem Sitz des Statthalters der senatorischen Provinz Asia, hielt sich ja vielleicht Timotheus auf, sodass Tychikus der Überbringer des Briefs gewesen sein könnte. In dieser Funktion hatte er schon den Epheser- und Kolosserbrief ausgetragen und durch mündliche Informationen ergänzt (Eph 6,21; Ähnliches gilt für Kol 4,7, wo Timotheus Mitverfasser war, und Tit 3,12!).42 Wir kennen ihn aus Apg 20,4 als Mitglied des Paulus-Teams (etwa 55/56 n.Chr.), zu dem damals auch Timotheus gehörte, gegen Ende der 3. Missionsreise, beheimatet in der Provinz Asia. Im Unterschied zu den in V. 10 Genannten ist hier wie in Eph 6,21; Kol 4,7 explizit Paulus der Sendende (Τύχικον δὲ ἀπέστειλα [Tychikon de apesteila]). Warum erwähnt er Ephesus? Es gibt drei naheliegende Antworten: Erstens könnte es sein, dass Tychikus bei Absendung des Briefes bereits unterwegs war, also als Überbringer nicht infrage käme. Timotheus würde dann über dessen Reise und ihr Ziel informiert, weil er selbst sich damals gerade nicht in Ephesus aufhielt. Zweitens könnte es sein, dass Tychikus einfach der Vollständigkeit halber erwähnt wurde, weil Timotheus sich sonst beim Lesen von V. 16 vielleicht gefragt hätte, was denn mit ihm sei. Drittens könnte Paulus damit gerechnet haben, Timotheus werde den Brief vor der Ankunft des Tychikus erhalten. Dann hätte er die Information bereits erhalten, dass ein „Vertreter“ für ihn bereits auf dem Wege und seine eigene Reise nach Rom also möglich war. Es wäre dann damit zu rechnen, dass Tychikus nicht auf direktem Weg nach Ephesus aufgebrochen war, sondern noch andere Zwischenstationen besuchen musste. Dafür spricht auch der weitere Gedankengang:
42 Fuchs spricht in seinem Aufsatz über den Epheserbrief von der Möglichkeit, die hier erwähnte Reise könne mit der in Kol 4,7; Eph 6,21 erwähnten identisch sein (European Journal of Theology 23.1, 2014, 21).
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2. Timotheusbrief
13 Unmittelbar anschließend nimmt der Schreiber den gedanklichen Faden von V. 9 wieder auf, die ersehnte Ankunft des Timotheus in Rom, indem er ihn bittet, auf seiner Reise einige persönliche Gegenstände unterwegs mitzunehmen: Den Mantel und die Schriftstücke, besonders die Pergamente. Luttenberger belegt anhand mehrerer Beispiele, dass „auch in der Antike“ „im Rahmen wirklicher Briefe … selbstverständlich … um alltägliche oder für den Verfasser wichtige Dinge gebeten werden“ konnte.43 Hier berühren wir nun einen in der aktuellen Diskussion sehr relevanten Punkt.44 Exkurs Es gibt eine exegetische Tradition, die in den Pastoralbriefen eine in sich geschlossene, u.U. redaktionell überarbeitete Einheit sieht, mit der das Ziel verfolgt werde, die Gemeinden und vor allem die Amtsträger ihrer Gegenwart post Paulum in einem bestimmten Sinn auf Paulus „einzuschwören“ und sie in ihrem Sinne (d.h. aus ihrer Sicht: im Sinne des Paulus) zu beeinflussen. Der Mantel wird dann traditionsgeschichtlich als der „Prophetenmantel“ des Elia verstanden, durch dessen Besitz sich Elisa als dessen Nachfolger legitimieren konnte (1Kön 19,19; 2Kön 2,12ff).45 So wäre Timotheus als Besitzer des Paulus-Mantels ebenfalls als dessen Nachfolger im Apostelamt legitimiert, dem es zu folgen gälte.46 Eine zweite exegetische Tradition erkennt in dem Mantel einen symbolträchtigen Gegenstand mit ethisch-asketischer Bedeutung: Der sich hinter „Paulus“ verbergende Verfasser des Briefs wolle, wie er selbst dem Empfänger in 1Tim 6,8 empfohlen habe, nur das zum Leben unbedingt Notwendige für sich beanspruchen.47 Luttenbergers Hinweis, dem widerspreche ja sowohl die Aufforderung an seinen Schüler 1Tim 5,23, dieser möge doch „nicht mehr (nur) Wasser“ trinken, sondern „(auch) ein wenig Wein wegen des Magens und deiner häufi43 Luttenberger, Prophetenmantel, 324f. 44 Vgl. zuletzt die Arbeit von Luttenberger, Prophetenmantel, und hier bes. die Seiten 323347, der vor allem auf die verschiedenen Beiträge von P. Trummer u.a. reagiert. 45 Hasler 80, Knoch 66, H. Bojorge, El poncho de San Pablo. Una posible alusión a la succesión apostólica en 2 Tim 4,13. Revue Biblique 42, 1980, 209-224: 210.216.224. In der LXX (4Reg 2,8.12-14) sind die entsprechenden Termini allerdings τὰ ἱμάτια [ta himatia „das [Ober-]Gewand“] und ἡ μηλωτή [hē mēlōtē „der Schafspelz“]. 46 Luttenberger, Prophetenmantel, 330, weist als Parallele auf den „in der literarischen Briefsammlung der Sokratikerbriefe … eindeutig auch symbolisch für eine kynisch-philosophische Grundhaltung“ stehenden „Philosophenmantel τρίβων (EpSokr 9,2)“ hin, „das ärmliche Gewand des kynischen Philosophen“. Diese Linie vertreten P. Lampe / U. Luz. Nachpaulinisches Christentum und pagane Gesellschaft. In: Die Anfänge des Christentums. Alte Welt und neue Hoffnung. Hg. v. J. Becker u.a. , Stuttgart u.a. 1987, 185216, sowie Weiser 318f. 47 Dies vertritt vor allem P. Trummer. Mantel und Schriften (2Tim 4,13). BZ 18 (1974) 193207. Luttenberger präsentiert und diskutiert diese Meinungen auf den Seiten 323ff.
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gen Krankheiten“, als auch „die Bitte um die in der Antike kostbaren Pergamente (μεμβράνας)“,48 ist kein wirkliches Gegenargument, denn der Wein wird aus medizinischen Gründen empfohlen, und die Pergamente könnten mit für Paulus wichtigen und wertvollen Texte beschrieben sein, die er angesichts der unabsehbaren Länge seiner Haft bei dieser sich bietenden Gelegenheit mitgebracht haben will. Diesen beiden Linien ist gemeinsam, dass sie hinter V. 13 nicht eine harmlose Bitte um eine freundschaftliche Besorgung sehen, sondern eine ausgeklügelte persönliche Notiz, die im Rahmen der pseudepigraphischen Briefsammlung, eben der Pastoralbriefe, eine bestimmte Funktion erfüllen und eine bestimmte Wirkung erzielen wolle.49 Anders die dritte (und jüngste) Tradition: Sie liest und deutet das Schlüsselwort τὸν φαιλόνην [ton phailonēn] alternativ. Vertreter der zuvor genannten Auslegung hatten sich u.a. auf die tatsächlich vorhandenen unterschiedlichen antiken Schreibweisen50 der Substantive φαιλόνης [phailonēs] (das Wort kommt in dieser Form in allen uns bekannten antiken Schriften überhaupt nur hier vor!) und φαινόλης [phainolēs] (ist Latinismus aus lat. paenula „Oberkleid, Reisemantel“51) und besonders auch auf eine Stelle bei dem Spätstoiker Epiktet (1./2. Jh.) berufen. Dieser polemisiert von seiner Position aus eher verächtlich gegen Wanderphilosophen, die den τρίβων (s. o.) tragen, auch sonst einen heruntergekommenen Eindruck vermitteln und dabei aus Gründen ihrer Philosophie gegen jene wettern, die ἐν φαινόλῃ (d. h. mit dem eher wertvollen, weil den Körper wirklich bedeckenden Mantel) „anständig“, vielleicht sogar elegant bekleidet sind.52 Das (nahezu zeitgenössische) Epiktet-Zitat würde dem Verständnis des Mantels als Symbol einer bestimmten Personengruppe (nämlich der Philosophen bzw. der Propheten und in deren Nachfolge der Apostel) widersprechen. Es würde gleichzeitig der Deutung im Sinne des einfachen Lebensstils entgegenstehen. Luttenberger, der die verschiedenen Möglichkeiten ausführlich analysiert, kommt am Ende aufgrund sprachgeschichtlicher und semantischer Überlegungen zu dem Ergebnis, dass in der Übersetzung mit „‚Futteral‘ für die Pergamente“ „angesichts der Untersuchung des Begriffes ins48 Luttenberger, Prophetenmantel, 323f. 49 Vgl. Weiser 319! 50 Man beachte die entsprechenden Artikel in Liddell/Scott 1912 und Bauer/Aland 1697! Nach V. Gardthausen. Griechische Palaeographie 1: Das Buchwesen im Altertum und im byzantinischen Mittelater. 2Leipzig 1911, 146, wurde aus φαινόλα [phainola] durch Konsonantenmetathese umgangssprachlich φαιλόνης [phailonēs]. Dabei ging sprachlich die schon im lateinischen Wort enthaltene Verkleinerungsform offenbar verloren. Ob auch die Bedeutung sich verändert hat, wie Luttenberger meint, ist m.E. eine aus heutiger Sicht kaum definitiv zu beantwortende Frage, zumal angesichts des überaus dürftigen Quellenmaterials. – Ausführlich präsentiert und diskutiert Luttenberger, Prophetenmantel 330341, Details der Schreibweisen und Interpretationsmöglichkeiten. 51 Vgl. R. Hau, PONS Wörterbuch für Schule und Studium: Latein – Deutsch, Stuttgart u.a. 3 2003, 631. 52 Epiktet, Diss IV,8,34f.
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2. Timotheusbrief
gesamt … die für diesen Text deutlich wahrscheinlichere Bedeutung des Wortes vorliegt.“53 Dieser Bedeutung, die es nach Theodor Birt „seit dem Jahre 11 n.Chr.“54 gibt, liege die allgemeinere Assoziation „etwas schützend zu umschließen“55 zugrunde. „Der Begriff φαιλόνης hat im Kontext des 2Tim mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Bedeutung einer Schutzhülle für Pergamente, also eines antiken Bücherfutterals.“56 Im Duktus unserer Auslegung liegt es, dem auf der Pseudepigraphie-Theorie beruhenden, u.E. praxisfernen Verständnis von φαιλόνης als „Prophetenmantel“ nicht zu folgen. So ein ausgeklügelter Weg erweist sich auch als überhaupt nicht notwendig, um zu einer naheliegenden und einleuchtenden Exegese von V. 13 zu gelangen. Ebenso schließen wir uns nicht denen an, die hier eine Aufforderung zu einem einfachen Lebensstil sehen. Bleibt Luttenbergers „Bücherfutteral“-Vorschlag als einzige Alternative? Eigentlich nicht, denn auch das schlichte Verständnis des Textes, so wie ihn der oft berufene „unbefangene Leser“ verstehen würde, hat manches für sich. Luttenbergers Hypothese erscheint uns auch angesichts seiner beeindruckenden Quellentexte nicht ausgeschlossen, doch bietet sie sich aus sprachlichen Gründen nicht unmittelbar an. Als absolutes hapax legomenon in der antiken Literatur ist es mit besonderer Vorsicht zu behandeln. Außerdem müsste erklärt werden, warum das „Bücherfutteral“ auf der Liste der Paulus gehörenden Gegenstände besonders erwähnt werden musste, wo es doch wenig sinnvoll war, die Schriftrollen und Pergamente zu transportieren, das Futteral aber zurückzulassen. Es mitzunehmen, und zwar zum Zweck der schützenden Aufbewahrung, war doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die nicht besonders hätte erwähnt werden müssen. Die Satzstellung 13a Erwähnung des „Bücherfutterals“ 13b Relativsatz zur Präzisierung, was genau gemeint ist, und zur Erläuterung, warum es in Troas blieb 13c Anweisung an den Empfänger 13d Ergänzung in syntaktischer Parallele zu 13a legt zudem die Frage nahe, warum das „Bücherfutteral“ in 13a genannt wird, sein Inhalt aber erst in 13d. Dafür könnte es drei Gründe geben: a) 13d ist ein „Nachtrag“, etwas, das dem Schreiber zusätzlich eingefallen ist, nachdem er 13a-c schon geschrieben hatte (das würde implizieren, dass der Brieftext so, wie er zuerst aufgeschrieben wurde, also ohne ihn „ins Reine“ zu schreiben, versandt wurde, und dass das eigentlich Gemeinte gegenüber dem „Zubehör“ beinahe vergessen worden wäre – eine abenteuerliche Vorstellung); b) zu 13d 53 Luttenberger, Prophetenmantel, 341. 54 T. Birt, Die Buchrolle in der Kunst. Untersuchungen zum antiken Buchwesen. Leipzig 1907, 242. 55 Luttenberger, Prophetenmantel, 338 Anm. 1369. 56 A.a.O. 342; vgl. die Abbildungen a.a.O. 339.
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passt nicht der Relativsatz 13b, weil die genannten Dinge nicht (mit dem Mantel oder „Bücherfutteral“) in Troas bei Karpus geblieben waren; oder c) es geht 13ad um grundsätzlich nicht zusammengehörige Gegenstände, nämlich 13a tatsächlich um einen Mantel, 13d um Schreibmaterial o.ä. Diese letzte Option erscheint uns am einleuchtendsten. Die Bedeutung „Mantel“, durch Metathese aus φαινόλη entstanden, ist zwar auch nicht ohne sprachliche Probleme, aber doch vorstellbar und ergibt zudem einen guten Sinn. Rapske schildert die äußeren Verhältnisse in römischen Gefängnissen sehr eindrücklich.57 Demnach mussten die Häftlinge für alles, was nicht zum absolut Dringendsten für das Überleben gehörte, selbst sorgen bzw. sich damit versorgen lassen. Dazuhin war es offenbar möglich, persönliche Gegenstände ins Gefängnis zu bringen. Rapske schreibt im Blick auf die in 2Tim 4,13 ausgesprochene Bitte, „that Timothy bring the cloak left at Troas may, against other suggestions and in keeping with the clear indications above, simply be intended to reflect the prisoner’s need for greater warmth and comfort at night owing to want of these in his place of custody.“58 Das ist eine sehr naheliegende, alltagstaugliche Auslegung, die ähnlich auch Holtz 196, Knight 466, Marshall 818.820, Towner 628f u.a. vertreten.
Einen Karpus (lat. Carpus) kennen wir aus dem NT sonst nicht. Es gibt eine Tradition, nach der er zu den siebzig (alternative Lesart: 72) von Jesus ausgesandten Jüngern gehört haben soll. Später sei er Bischof im makedonischen Beröa (heute Veria) gewesen. Troas dagegen ist uns aus der Apg und aus dem 2Kor recht vertraut. Die Stadt hatte in römischer Zeit schon eine lange Siedlungsgeschichte hinter sich, die bis ins 4. Jahrtausend v.Chr. reichen soll. Besondere Bedeutung erlangte sie noch in vorklassischer Zeit seit dem 6. Jh. v.Chr. im Zuge der griechischen Kolonisation aufgrund ihrer strategisch wichtigen Lage, die die Beherrschung gleich mehrerer Meerengen, darunter des Hellespont, in ihrer Umgebung möglich machte.59 Alexander der Große schlug 334 bei dem Flüsschen Granikos (heute Biga) eine erste wichtige Schlacht gegen die Perser. Für die früheste christliche Missionierung erhielt der Ort Bedeutung, als Paulus – am Erreichen seiner eigentlichen Ziele in Kleinasien und in Richtung auf das Schwarze Meer gehindert und noch ohne es zu ahnen unterwegs nach Makedonien – etwa im Jahr 55 dort Station machte (Apg 16,8).60 Damals war Troas „der wichtigste Knotenpunkt für den Verkehr aus dem nördlichen Kleinasien nach Griechenland“.61 Hierher verlegte 57 58 59 60 61
Rapske, Custody, 196ff. 199. C. Danoff, Art. Troas, KP 5,975. Näheres zu den Wegen des Apostels in dieser Zeit s. R. Riesner, Paulus, 259-261.267. A.a.O. 281.
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2. Timotheusbrief
Paulus nach den Problemen in Ephesus um das Jahr 55/56 „das Zentrum seines Wirkens … und erlebte dort einen größeren Erfolg“, schreibt Riesner und weist auf 2Kor 2,12 hin.62 Apg 20,6-12 wird darüber berichtet. Höhepunkt ist die Schilderung der Heilung eines jungen Mannes namens Eutychus. Dies lag nun, da sich Paulus in römischer Haft befand, rund zehn Jahre zurück. Immerhin hatte der Gefangenentransport in Richtung Rom in Cäsarea Maritima ein Handelsschiff aus der Hafenstadt Adramyttion bestiegen, das auf der Route an der Westküste Kleinasiens entlang und also über die dortigen Häfen fahren sollte. Dann wäre vermutlich auch Troas eine Etappe gewesen, wo Paulus seine Habseligkeiten hätte holen lassen können. Aber es kam bekanntlich anders: Der Sturm trieb das Schiff von Zypern aus weit in den Westen bis Malta. Ob der Apostel nach der ersten Gefangenschaft noch einmal in Mysien gewesen ist, wissen wir nicht; denkbar wäre es allerdings. Dann wären Mantel und Buchrollen von dort her noch in Troas geblieben – Spekulation! Gordon D. Fee hat dagegen vorgeschlagen, sich den Ablauf der Ereignisse so vorzustellen:63 Paulus wurde in Troas erneut verhaftet, befindet sich jetzt in Rom. Die Situation in Ephesus hat sich zugespitzt. Ein wesentliches Ziel des 2. Timotheusbriefs ist, Timotheus zum Kommen zu bewegen. In 13d werden die Schriftstücke, besonders die Pergamente (τὰ βιβλία μάλιστα τὰς μεμβράνας [ta biblia malista tas membranas]) als mitzubringende Gegenstände erwähnt. Was ist damit gemeint? Als Schreibmaterial dienten in der fraglichen Zeit vor allem für den „Hausgebrauch“ Keramikstücke (z.B. Reste von zerbrochenen irdenen Gefäßen), auf die man mit einem harten, scharfen Gegenstand Buchstaben einritzte oder mit Tinte schrieb; für später wieder zu tilgende Notizen nutzte man mit Wachs ausgegossene Holztäfelchen mit Rand, die mithilfe eines Holzstifts beschrieben und dann wieder für neue Notizen geglättet wurden;64 Blätter aus aufgeschlitzten, aufgeklappten, innen abgeschabten, kreuzweise übereinander gelegten, getrockneten und evtl. weiter behandelten Papyrushalmen, wurden ebenfalls mit Tinte beschrieben zur Aufbewahrung zusammengerollt; und schließlich wurden entsprechend bearbeitete Tierhäute (Pergament, ἡ μεμβράνα), die ziemlich teuer waren,65 mit Tinte beschriftet sowie auch zu Büchern (codices) im modernen Sinn aus mehreren Seiten zusammengeheftet.66
62 63 64 65 66
A.a.O. 267. Fee 12f.295. V. Gardthausen. Griechische Palaeographie I. 2. Aufl. Leipzig 1911, 126-132. Marshall 819f hält dagegen Pergament für das billigere Schreibmaterial. Towner 629.
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Für βιβλίον gibt Bauer/Aland die Bedeutungen „1. d. Buch“ (worunter dann die Sonderbedeutungen „d. Thorarolle“ und im Plural „allg. v. hl. Schriften“ fällt, sowie „2. d. Schriftstück“ im Sinne einer Urkunde an.67 Beide Versionen würden an unserer Stelle einen guten und naheliegenden Sinn ergeben: die Bitte, Schriftrollen mitzubringen, würde man sicher eher auf heilige Schriften des Judentums beziehen denn auf heidnische, etwa philosophische Werke. Letztere scheiden vermutlich aus. Wofür sollte der gefangene Apostel sie so dringend brauchen? Texte aus dem Tenach bleiben als wahrscheinlichste Möglichkeit, wenn man von der Grundbedeutung „Buch“ ausgehen will. Aber auch die Wiedergabe mit „Schriftstücke“ ergibt Sinn, zieht allerdings die Frage nach sich, worum genau es sich handeln könnte. Wieder stehen wir vor zwei Optionen: Es könnte sich um Dokumente handeln, die Paulus für seinen nächsten Prozesstermin verwenden wollte, etwa um einen Nachweis seines (römischen68 oder) tarsischen Bürgerrechts, um Prozessakten seiner früheren Verfahren (evtl. Begleitschreiben wie das des Lysias Apg 23,29, Freisprüche wie z.B. in Philippi Apg 16,35ff, Korinth Apg 18,14f; Ephesus Apg 19,35-40)69, falls er solche besaß. Alternativ dazu könnte es sich um persönliche Papiere des Apostels handeln, also um Notizen, Entwürfe von Texten (Briefen) oder Kopien seiner eigenen Briefe.70 Eine klare Entscheidung ist 67 Bauer/Aland 281f. Vgl. auch Luttenberger, Prophetenmantel, 345-347. 68 Die Behauptung, er sei römischer Bürger, konnte in der Stadt Rom sehr rasch direkt überprüft werden. Doppelbürgerrecht war „in neutestamentlicher Zeit praktikabel“, schreibt Omerzu, Prozeß, 34. Sie schränkt dieses Urteil aber gleich auch wieder ein (S. 35): „Doch gibt es für die Stadt Tarsus nur wenige Anzeichen dafür, daß Juden das Stadtbürgerrecht besessen haben.“ Grundsätzlich könnte es von Paulusʼ Vorfahren „gekauft“ worden sein; damit ergab sich aber das Problem der damit verbundenen Verpflichtung zur Teilnahme am städtisch-heidnischen Kult (a.a.O. 34). Vielleicht gab es aber in solchen Fällen ad personas oder ad situationem (d.h. im Blick auf die beteiligten Personen oder auf die Situation) auch pragmatische Lösungen. Vgl. zum Thema „Bürgerrecht“ auch den Exkurs bei Riesner, Paulus, 129-139. 69 Siehe Rapske, Custody, 183f. Er leitet später aus der Feststellung, dass Paulus bei den Verhören in Cäsarea auf „professionelle“ Unterstützung, d.h. auf einen Verteidiger, verzichtet hat, ab, dass dies wohl auch bei seinem (ersten) Prozess in Rom so gewesen sein werde (S. 330). Das muss, selbst wenn es sich so verhielt, für den zweiten, „gefährlicheren“ Prozess nicht unbedingt zutreffen. Zu beachten ist, dass die Prozessunterlagen bei dem Schiffbruch vor Malta (Apg 27,41) verloren gegangen sein können. Die Zeit, die für die Ersatzbeschaffung aus Cäsarea vergehen musste, würde mindestens teilweise die lange Untersuchungshaft des Paulus in Rom (Apg 28,30) erklären. – „Der Rechtsbeistand durch einen juristisch wie rhetorisch versierten Vertreter, der nicht notwendig ausgebildeter Jurist sein mußte, war in einem römischen Prozeß nicht obligatorisch, stand jedoch beiden Parteien frei“, schreibt Omerzu, Prozeß, 423. 70 Luttenberger, Prophetenmantel, 362ff, der diesen Gedanken untersucht, spricht von „Kopialbüchern“. Er sieht es (366) als erwiesen an, „dass dem Verfasser [der Pastoralbriefe] eine Sammlung von Paulusbriefen vorlag.“ Mehr noch: „Es ist wahrscheinlich (aufgrund
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2. Timotheusbrief
nicht möglich, aber auch nicht nötig. Beide Optionen schließen sich ja gegenseitig nicht aus. Es könnte durchaus eine Mischung von Schriftrollen offizieller und persönlicher Art gemeint sein. Mit besonders (μάλιστα, Superlativ des im NT nicht verwendeten μάλα „sehr“) wird nach Lage der Dinge wie Gal 6,10 eine hervorzuhebende Teilmenge, in diesem Fall der βιβλία, gemeint sein, nämlich eben die Pergamente im Unterschied von den aus Papyrus hergestellten „Schriftstücken“. Was enthielten sie? Wir stehen erneut vor einer Alternative, die Luttenberger im Anschluss an Roller und Holtzmann71 aufzeigt: Entweder handelt es sich um Abschriften atl. Bücher, die „nur auf Pergament von reinen Thieren geschrieben werden“ durften;72 dagegen steht die Meinung von Birt und (ihm in jüngerer Zeit folgend) Millard, die an so etwa wie Notizbücher oder -blätter denken.73 Gerade die höheren Kosten für Pergamente machen es fraglich, ob die psychologisch minderwertigeren eigenen Notizen auf Pergament geschrieben wurden, die höher einzustufenden, heiligen Texte dagegen nur auf Papyrus. Mit Luttenberger gehen wir deshalb davon aus, dass es sich bei den Pergamenten um heilige Texte des Judentums gehandelt haben wird. Fazit: Der im römischen Gefängnis im Spätsommer oder Frühherbst schon jetzt frierende oder klug vorausdenkende Paulus bittet Timotheus, auf seiner Romreise im Vorbeigehen den in Troas gelassenen Mantel sowie einige aus Papyrus gefertigte Schriftrollen mit eigenen Texten und Pergamente mit biblischen Texten mitzubringen. Dass die Bitte um den Mantel sehr lebensnah ist und auch Gegenstand eines Briefs sein konnte, zeigt der aus dem 4. Jh. v.Chr. stammende Brief des Mnesiergos, in dem er seine Hausgenossen um Zusendung einer Decke oder von Schaf- oder Ziegenfellen sowie festen (Schuh-) Sohlen bittet.74
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vieler Analogien), dass enge Mitarbeiter wie Timotheus Abschriften von Paulusbriefen besaßen und in dem Maß, wie er selbst [Timotheus] an deren Abfassung beteiligt war, auch über Entwürfe und Vorstufen verfügten.“ Zur Entstehung einer Sammlung von Paulusbriefen vgl. Trobisch, Entstehung, 87f.100-104.119-136. O. Roller. Das Formular der paulinischen Briefe. Ein Beitrag zur Lehre vom antiken Briefe. BWANT 58, Stuttgart 1933, 260, und H.J. Holtzmann. Die Pastoralbriefe. Kritisch und exegetisch behandelt. Leipzig 1880, 454. Ebd.; vgl. auch H. L. Strack / P. Billerbeck. Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Bd. IV,1, 115-152. T. Birt. Das antike Buchwesen in seinem Verhältnis zur Literatur, Berlin 1882, 88f; Millard 61. Beide berufen sich auf Quintilian, einen jüngeren Zeitgenossen des Paulus, der in seiner Institutio oratoria (10,3.31) zusammengeheftete Wachstafeln membranae nennt. Luttenberger, Prophetenmantel, 344f meldet mit Recht Zweifel an, ob der Begriff auf den griechischen Text in 2Tim 4,13 anzuwenden ist. Deissmann, Licht, 119-121.
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14 Zwischen die Nachrichten über die Abreise verschiedener Mitarbeiter (V. 10-12) und über seine aktuelle, bedrängte Situation (V. 16-18) schiebt der Apostel einen warnenden Hinweis auf eine Timotheus offenbar (von 1Tim 1,20?) bekannte Person ein: Es ist Alexander der Schmied. Im NT kommen, sofern es sich in 1Tim 1,20 und 2Tim 4,14 um dieselbe Person handelt, drei weitere Träger dieses gängigen hellenistischen Namens vor: Mk 15,21 ein in der Urgemeinde offenbar bekannter Sohn des Kreuzträgers Simon von Kyrene; Apg 4,6 ein Mitglied der Großfamilie, aus der damals gewöhnlich die Hohenpriester kamen; Apg 19,33 ein Vertreter der jüdischen Gemeinde in Ephesus, den Lukas durch die typische Gestik als „Rhetor“ (was hier möglicherweise heißen soll: als Politiker oder Anwalt), jedenfalls als alles andere denn als Schmied, charakterisiert. Die beiden Letztgenannten waren mit Sicherheit Juden. Beim ersten deutet der Vatername mit hoher Wahrscheinlichkeit in dieselbe Richtung. Anders verhält es sich mit 1Tim 1,20 / 2 Tim 4,14. Nichts Handfestes spricht für eine Identität mit einer der übrigen Personen. Höchstens der in Apg 19,33 in Ephesus (!) Erwähnte käme dafür infrage. Allerdings spricht definitiv auch nichts dafür. Wir gehen deshalb davon aus, dass der in den beiden Pastoralbriefen erwähnte Alexander, der ja auch im großen Kontext mit Hymenäus (2Tim 2,17) „irgendwo“ in ein gemeinsames Milieu gehört, eine Person ist. „Alexander“ war damals ein gängiger Personenname. Dieser Alexander ist Timotheus (und sicher auch anderen) durch seinen Beruf als identifizierendes Merkmal bekannt: er ist nämlich Schmied (χαλκεύς [chalkeus]). χαλκός bedeutet „Kupfer“. Dieses Metall war „das erste für die menschliche Gesellschaft bedeutende Metall, dessen Gewinnung und Bearbeitung im Endneolithikum begann“, schrieb G. Schroth.75 Damit wird auch gleich verständlich, warum einer, der sich auf die Bearbeitung von Metall insgesamt versteht, χαλκεύς (also „Kupferbearbeiter“) genannt werden kann, auch wenn er inzwischen mit anderen, damals „moderneren“ Metallen arbeitete. Sein Handwerk hat aber (soweit wir sehen) nichts mit den durch ihn verursachten Problemen zu tun. Er hatte Paulus nämlich viel Böses erwiesen (πολλά μοι κακὰ ἐνεδείξατο [polla moi kaka enedeixato]). Was das war, wird quantitativ und qualitativ beschrieben, aber (abgesehen von dem, was 1Tim 1,20 und 2Tim 4,15b [s. u.] steht) nicht konkretisiert. Nähere Information könnten wir also lediglich von dem Verb ἐνεδείξατο erhalten. ἐνδείκνυμι in Verbindung mit Objekten im 75 G. Schroth, Art. „Kupfer“, KP 3,377; vgl. auch Bauer/Aland 1973. Dass man die Bezeichnung für den Ur-Beruf der Metallbearbeitung nicht undifferenziert auf alle Metallarbeiter übertrug, zeigt der für den Silberschmied Demetrios Apg 19,24 verwendete Terminus ἀργυροκόπος („einer, der mit Silber arbeitet“).
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2. Timotheusbrief
Dativ plus Akkusativ bedeutet „jmdm. etw. erweisen, antun“76 und ist in dieser Konstruktion etwa in LXX Gen 50,17 und LXX 2Makk 13,9 zu finden. In beiden Fällen handelt es sich nicht um Bagatellen: Seine Brüder hatten Josefs Tod ja „billigend in Kauf genommen“, und Antiochus V. Eupator bzw. sein Feldherr Lysias sind um das Jahr 163 v.Chr. auf die Vernichtung der Juden aus. Um Harmloses wird es sich also im Konflikt zwischen Paulus und Alexander nicht gehandelt haben, denn der Apostel hält Alexanders Verhalten für „endgerichtsrelevant“. Er geht davon aus, dass der Herr ihm nach seinen Taten vergelten wird. Er formuliert dies nicht als Wunsch im Konjunktiv, sondern futurisch im Indikativ: So wird es geschehen. Mit dem Prädikat ἀποδώσει [apodōsei] klingt natürlich nach, was der Apostel V. 8 von Gott, dem „gerechten Richter“, im Blick auf sich selbst gesagt hatte, allerdings nun ins Negative gewendet. Die Formulierung ἀποδιδόναι τινὶ κατὰ τὰ ἔργα τινός [apodidonai tini kata ta erga tinos] begegnet auch in Röm 2,6 und Offb 18,6. In Offb 22,12 ist sie auf den wiederkommenden κύριος bezogen und bezeichnet das, was er den Menschen als Lohn und Strafe bringen wird. „Das ist absolute Gerechtigkeit“, schreibt Maier und fährt fort: „Jeder erhält individuell, was ihm zusteht.“77 Wenn wir vom künftigen Gericht sprechen, reden wir nicht von dem als Richter wiederkehrenden Christus wie von einem „zahnlosen Tiger“ oder (wie U. Parzany locker, aber anschaulich-treffend formulierte) von einem harmlosen Großvater, der nur noch mit dem Kopf wackeln und seinen Enkeln keinen Wunsch abschlagen kann.78 So ernst, wie es ihm bei der Erlösung der Menschen war, so ernst ist es ihm auch, wenn sie dieses Geschenk ignorieren oder ablehnen. 1Kor 3,17 schreibt Paulus im Zusammenhang mit dem, was Menschen im Reich Gottes tun: „Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, wird Gott diesen verderben. Der Tempel Gottes ist nämlich heilig, welcher ihr seid.“ Die Aussage über den Schmied Alexander dürfte in diese Richtung zielen. Der Apostel nimmt aber ein Urteil Gottes nicht vorweg. Er kann warten. Es ist gut, dass wir nicht über andere zu urteilen haben! 15 War 14b eine eingeschobene Parenthese, so kommt der Schreiber in 15a in Form eines relativischen Anschlusses auf 14a zurück. Der Adressat erhält den Rat bzw. die Anweisung: Vor dem nimm auch du dich in Acht. Offenbar hat Alexander die Möglichkeit, auch im Arbeitsbereich des Timotheus, also in
76 Bauer/Aland 529. 77 G. Maier, Die Offenbarung des Johannes 2, HTA, Witten 2012, 496. 78 U. Parzany. Bitte stolpern! Geistliche Betrachtungen einmal anders. Wuppertal 41975, 50f.
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Ephesus und Umgebung, Schaden anzurichten.79 15b wird die allgemeine Aussage von V. 14a dahingehend erläutert, er habe unseren Worten nämlich sehr widerstanden. Den Terminus ἀνθιστάναι [anthistanai] kennt Paulus nicht nur 2Tim 3,8 für den Widerstand, den die ägyptischen Zauberer Jannes und Jambres Mose leisteten (Ex 7,11.22). In Röm 13,2 verwendet er ihn für den Widerstand gegen die Staatsgewalt, in Röm 9,19 im Munde seiner fiktiven Gesprächspartner für die Möglichkeit, sich Gottes Willen zu widersetzen, in Gal 2,11 positiv für sein eigenes Verhalten Petrus gegenüber und in Eph 6,13 für das Anlegen der geistlichen Waffen, die die Christen zum Widerstand gegen teuflische Angriffe tragen sollen. Alexanders Widerstand galt den Worten des Paulus (und seiner Mitarbeiter). Damit kann die missionarische Verkündigung ebenso gemeint sein wie das, was der Apostel gemeindeintern (etwa in der Auseinandersetzung mit Gegnern, wie sie ja gerade im 2. Timotheusbrief erwähnt wird) geäußert hatte, aber auch seine Verteidigung im Rahmen des Prozesses gegen ihn. Für diese letzte Variante spricht, dass Paulus im nächsten Satz auf seinen ersten Prozesstermin zu sprechen kommt. Sie setzt voraus, dass Alexander in dem Prozess eine Rolle gespielt hat, vielleicht sogar als Denunziant oder Kläger. Dann wäre der Plural „unsere Worte“ als pluralis sociativus80 oder so zu verstehen, dass dem Angeklagten ein Verteidiger zur Seite stand. Gegen die letzte Annahme spricht V. 16a.81 Die Warnung vor dem Gegner betrifft entweder die Möglichkeit, dass dieser in Kleinasien zu agieren beginnt, oder die Situation nach der Ankunft von Timotheus in Rom – mit der Maßgabe, dass Paulus dann evtl. schon nicht mehr lebt und der Schüler allein mit dem Treiben des Schmiedes zurechtkommen muss. Auch hier erkennen wir die Sorge, ob Timotheus seiner Aufgabe angesichts ernstzunehmender Gegner gewachsen sein wird. 16 Wie kommt der Schreiber gedanklich von V. 15 zu V. 16? Entweder nimmt er den Faden von V. 10 (Mitarbeiter haben ihn verlassen bzw. im Stich gelassen) wieder auf, oder er kommt nun allgemeiner auf das zu sprechen, was er mit dem Widerstand des Alexander schon angesprochen hatte, nämlich die „erste Verteidigung“.82 Wie schon oben angedeutet, gehen wir davon aus, dass 79 Da Alexander im Zusammenhang mit Troas auftaucht, könnte er auch dort gerade sein Unwesen treiben. 80 D.h.: anstelle eines „ich“ steht ein „wir“; vgl. HvS §139e. 81 Rapske, Custody, 330 schreibt: „A prisoner, if materially able and not physically hindered, might receive professional assistance.“ Er weiß aber auch einiges darüber, dass Verteidiger damals für den Angeklagten nicht unbedingt eine Unterstützung bedeuten mussten (64.330). 82 Fuchs, I Kneel, 1, 20, denkt bei der „ersten Verteidigung“ an die Verhandlung vor Festus und Agrippa (Apg 25,13ff). Er datiert den 2. Timotheusbrief vor Kol und Eph (21).
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2. Timotheusbrief
mit ἐν τῇ πρώτῃ μου ἀπολογίᾳ [en tē prōtē mou apologia] die receptio nominis gemeint ist, also eine erste Anhörung des Klägers und Beklagten mit der Entscheidung, ob ein Verfahren vor dieser Kammer (quaestio) eröffnet wird. Der Fachterminus steht im römischen Prozessrecht für „die endgültige Annahme einer Anklage (…) durch den Vorsitzenden der zuständigen quaestio, die Eintragung in die Liste der bei dem Gerichtshof anhängigen Verfahren.“83 Hinter dem resignativen Ton besonders von V. 16 steht objektiv das Faktum, dass es (sollte sich der Prozess gegen Paulus tatsächlich in den Wirren der neronischen Verfolgung abgespielt haben, in der die Zugehörigkeit zu einer christlichen Gruppe allein schon ausreichend war für Haft und Hinrichtung, es also keines juristisch erhärteten Vergehens bedurfte) für Paulusʼ römische Freunde mit einem sehr hohen Risiko verbunden gewesen wäre, ihn im Prozess vor dem Kaiser offen zu unterstützen. Dasselbe gilt natürlich für jene Mitarbeiter, die Paulus auffordert, zu ihm zu kommen (Markus 4,11; Timotheus 4,21): Auch sie setzten möglicherweise ihr Leben aufs Spiel, wenn sie sich nach Rom, in die Höhle des Löwen, begaben. Der Apostel war sich dessen sicher bewusst und betonte deshalb sein eigenes Beispiel so ungewohnt stark, weil er meinte, sie nicht schonen zu sollen.84 Schließlich stand im Blick auf seine Lebensaufgabe (Apg 9,15; 22,15; 2Kor 5,18-21; Gal 1,16; 1Tim 1,12) viel auf dem Spiel. Er konnte nicht ahnen, dass der von ihm bereits ausgestreute Same über Jahrhunderte wachsen und reifen, das Heidentum immer mehr in die Defensive drücken und dass am Ende, Jahrhunderte später, das „christliche Abendland“ existieren würde – wenn auch das Heidentum teilweise nur vordergründig verschwunden ist. Die Erfahrung der Verlassenheit niemand hat mir beigestanden, sondern alle haben mich verlassen (V. 10.16), formal ein Hendiadyoin (dieselbe Sache wird durch zwei Aussagen ausgedrückt), hat ihn sehr beschäftigt. Sie ist in V. 16 kontrastreich in einem Adversativsatz, eingeleitet mit der Konjuktion ἀλλά [alla], gegenübergestellt worden: παραγίνεσθαι [ paraginesthai] bedeutet zunächst „ankommen, kommen, herzukommen“,85 davon abgeleitet dann wie an unserer Stelle „zur Seite stehen, beistehen“.86 Dabei ist sicher an den Termin vor Gericht selbst gedacht. Ob lediglich die unterstützende persönliche Anwesenheit gemeint ist oder konkrete, d.h. juristische oder mindestens in Zeugenaussagen bestehende Hilfe, lässt sich schwer sagen. Zu ἐγκαταλείπειν [enkataleipein] s. zu 4,10. Da die Abreise von Demas, Kreszens und Titus in V. 10, die Sendung des Tychi83 84 85 86
Z. Végh, Art. Receptio nominis, KP 4,1345. Vgl. auch Rapske, Custody, 11. Vgl. dazu Luttenberger, Prophetenmantel 76-78; Rapske, Custody 370ff.381ff. Bauer/Aland 1240. A.a.O.,1241; so schon bei Thukydides, Hist 3,54,4 von militärischer Hilfe.
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kus in V. 12 bereits erwähnt worden war, erhebt sich die Frage, wer darüber hinaus in V. 16b gemeint sein kann. Sofern es sich nicht um eine Redundanz dieser Informationen handelt, können eigentlich nur Lukas (der den 2. Timotheusbrief vielleicht selbst geschrieben hat) oder römische Mitchristen gemeint sein, zu denen der Häftling Kontakt hatte. Dabei muss die Rechtsform der denuntiatio testimonii, d.h. die Aussagepflicht von Zeugen, beachtet werden. Eine Aussage konnte auch (per Folter?) erzwungen werden, was die Entfernung Betroffener aus Rom verständlicher macht. Der Sache nach, wenn auch mit anderen Worten, schließt sich Paulus Jesus (Lk 23,34) und Stephanus (Apg 7,60) an, indem er (allerdings nicht in Form eines Gebets, sondern als Optativ, wobei die Passivform zweifellos als passivum divinum verstanden werden muss) wünscht, dieses Verhalten möge den betreffenden Personen nicht angerechnet werden. Auch λογίζεσθαι [logizesthai] im Sinne von „ jmdm. etw. anrechnen, um es zu strafen“87 ist ein „bes. von Pls gebr. Wort“.88 Er verwendet es u.a. für Verhaltensweisen, die „gerichtsrelevant“ waren. In der griechischen Profansprache wurde das Wort für „das objektive ‚Berechnen/Anrechnen‘ von Wert und Schuld im Handel“ benutzt, in der Sprache der Philosophie steht es für „die objektive ‚Feststellung‘ von Sachverhalten“.89 In der LXX verwendete man es u.a. für Gottes Urteil über einen Menschen.90 Paulus legt die Spur in der ersten uns bekannten positiven Verwendung in Gal 3,6, wo er LXX Gen 15,6 zitiert: Weil Abraham Gott vertraute, wurde ihm dies zur Gerechtigkeit angerechnet. Vor allem in Röm 4, wo dasselbe Zitat in V. 3 aufgenommen wird, stellt der Apostel dar, was er meint. An unserer Stelle geht es nun um die Negativseite derselben Sache: Paulus wünscht, dass die Mutlosigkeit seiner Freunde diesen eben nicht belastend für das Endgericht angerechnet werden möge. 17 Der (für den unbewaffneten, evtl. auch noch gefesselten Menschen aussichtslose) Kampf gegen wilde Tiere war in der Antike Strafe für jene, auf die man die Tiere losließ, aber ebenso Freizeitvergnügen für die Zuschauer in der Arena. Wenn Paulus nun schreibt ich wurde vor dem Maul des Löwen errettet, dann weist das viel weniger auf ein „ordentliches“ Gerichtsverfahren als auf einen rechtsfreien Zustand, wie er nach dem Brand Roms, also nach dem Juli 64, dort geherrscht haben könnte. Denn unter Anwendung geltenden Rechts wäre für den römischen Bürger Paulus niemals das Urteil „ad bestias“ infrage gekommen. Dass Paulus aber damit gerechnet hatte, vielleicht auf87 88 89 90
A.a.O., 966. A.a.O., 965. H.-W. Bartsch, Art. λογίζομαι, EWNT II, 874. Bartsch 875.
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2. Timotheusbrief
grund von anderen Vorgängen hatte rechnen müssen, beweist, dass man sich zu jener Zeit rechtlich mindestens in einer Grauzone bewegte.91 Der Historiker Tacitus schreibt rund 50 Jahre später darüber, Nero habe, um das Gerücht niederzuschlagen, er selbst sei der Urheber dieser Katastrophe gewesen, die Christen als die Täter bezichtigt und sie „quaesitissimis poenis“ („mit den ausgesuchtesten Strafen“) gepeinigt: sie wurden, in Tierfelle eingenäht, von Hunden zerrissen, ans Kreuz genagelt oder als lebendige Fackeln verbrannt92 – ein wahrhaft grausames Sterben. Für Paulus stand dies also offensichtlich bei seinem ersten Gerichtstermin als Möglichkeit im Raum. Damit scheidet die an sich ja denkbare Variante der Datierung des Briefs auf die erste römische Haft definitiv aus. Was uns Lukas darüber berichtet, trägt doch völlig anderen, nämlich rechtsstaatlichen Charakter gegenüber dem, was Paulus aus dieser späteren Phase zu sagen weiß. Interessant ist auch ein Vergleich mit Hebr 11,36-38, dem Abschluss eines Peristasenkatalogs, der sich sehr gut in das 2Tim 4 gezeichnete Bild einpassen lässt. Dies gilt umso mehr, sollte der Hebräerbrief etwa in dieser Zeit (Mitte der 60er-Jahre) entstanden sein.93 Der Herr (ὁ κύριος [ho kyrios]) erscheint in diesem Zusammenhang als Richter (V. 14b) und als Retter (V. 17a.18a). Haben die Mitarbeiter das Weite gesucht, so ist Jesus Christus doch aktiv bei seinem Apostel. παριστάναι [ parhistanai] hat bei intransitiv-aktiver Verwendung die Bedeutung „danebentreten, an jemanden herantreten“.94 Wer an eines anderen Seite tritt, tut das nicht in böser Absicht, sondern (wie hier) um ihm zu helfen. Konkret besteht die Hilfe nicht in einem „Heraushauen“ aus der Bedrohung. Gott-Vater hatte seinen Sohn bei dessen innerem Kampf ja auch keine „zwölf Legionen Engel“ geschickt (Mt 26,53). „Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel, der ihn 91 Nach P. Lampe, Christen, 65, entsprechen die gegen Christen verhängten Strafen insofern „durchaus römischer Strafrechtspraxis“, als „schon das Zwölftafelrecht … in einer Art Talionsdenken [bestimmte], dass Brandstifter dem Feuertod zu übergeben seien … Das Einhüllen von Mördern in Tierhäute, sogenanntes Säcken, wird auch in der Kaiserzeit noch praktiziert“ (Belege dort). Ob Lampe recht hat, wenn er Tacitus so versteht, dass dieser Annales 15,44,4 „sogar regelrechte vorangegangene Verhandlungen“ andeute, bedarf noch einer Bestätigung. H. Bouzek schreibt in einem Beitrag zum „Heiligenlexikon“, dass die Prozesse gegen die angeblichen Verursacher des Stadtbrands „sehr sorgfältig nach speziellen Brandstiftungsgesetzen durchgeführt“ wurden, dass 200-300 Mitglieder der auf etwa 3000 Personen geschätzten christlichen Gemeinde in Rom angeklagt, aber längst nicht alle zum Tode verurteilt wurden: www.heiligenlexikon.de/Literatur/Ort_Umstände_des_Todes_von_Paulus.html (eingesehen am 18.04.2016). 92 Tacitus, Ann 15,44,2.4. 93 Dafür spricht, dass er durchweg noch nichts vom Ende des Tempels zu wissen scheint, sondern im Gegenteil dessen Betrieb als den Lesern bekannt und aktuell noch voll im Gange vorausgesetzt wird. 94 A. Sand, Art. παρίστημι, παριστάνω, EWNT III, 96.
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stärkte“, schreibt Lukas (Lk 22,43). Schon Jes 40,31 stellt diese beiden Wege des Beistands Gottes nebeneinander: dass Menschen, die von Gott Hilfe erwarten, neue Kraft erhalten und „auffahren mit Flügeln wie Adler“, dass sie also aus der Not und Bedrohung herausgenommen werden; oder die Kraft, „dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden“, was bedeutet, dass sie in ihrer Lage so ausgerüstet werden, dass sie sie durchstehen können. Es wird kein Zufall sein, dass lediglich diese zweite Möglichkeit doppelt beschrieben wird, weil sie nämlich das Normale ist. So auch hier: Der Herr hat mich gestärkt, schreibt Paulus. ἐνδυναμοῦν [endynamoun] bedeutet „stärken, bestärken“.95 Paulsen schreibt, der Begriff „erscheint pointiert im Kontext der Apostolatstheologie“, verweist dabei auf Phil 4,13 und fährt später fort: „Christus als die δύναμις Gottes ermächtigt den Apostel und wird zugleich in seiner Verkündigung gegenwärtig. Solche Korrelation zwischen dem Apostel und seinem Herrn findet sich verfestigt dann in den Past.“96 Zu unserer Stelle meint Paulsen (ebd.): „Die Schilderung der Verlassenheit des Apostels (4,16; vgl. Phil 4,13) hat ihre Spitze in der kontrastierenden Betonung des Beistands und der Stärkung durch den Herrn.“ Dabei kann es nicht um körperliche Kraft gehen, die Paulus befähigt Widerstand zu leisten. Sicher wird der körperliche Aspekt darin betroffen sein, dass er die äußerst widrigen äußeren Umstände in der Haft gesundheitlich durchhalten konnte. Noch mehr aber wird es sich um eine Stärkung der geistlich-seelischen Kraft gehandelt haben. Sie war nötig, um dem sicher vorhandenen inneren Druck standzuhalten, die Position aufzugeben, und weiterzuleben – sofern es diese Option damals wirklich noch gab. Die hinter der Kräftigung stehende Absicht hat der Apostel erkannt und beschreibt sie in einem Finalsatz: damit durch mich die Botschaft erfüllt würde, indem alle Heidenvölker [es] hören. Wie tief der Auftrag Jesu an Paulus in dem Apostel verwurzelt war, wird noch einmal an dem betont nach vorn gestellten durch mich (δι’ ἐμοῦ [di’ emou]) deutlich, das fast etwas Verbissenes hat. Er hätte es ja auch damit genug sein lassen können, dass andere – seine Schüler und Mitarbeiter zum Beispiel – zu Ende bringen, was er angefangen hatte. Dann hätte der Drang nach Rom und überhaupt nach Westen, hätte die Reise nach Spanien nicht unbedingt sein müssen, er hätte sich Konsolidierungsaufgaben widmen können. Aber nein: durch mich soll es gehen, weiß er! Apostolische Demut und apostolisches Selbstbewusstsein lassen sich nicht trennen. In 2Tim 4,5 hatte er
95 H. Paulsen, Art. ἐνδυναμόω, EWNT I, 1101. 96 A.a.O. 1102.
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2. Timotheusbrief
Timotheus aufgefordert, seinen Dienst konsequent auszuüben. Er tat es, weil für ihn dasselbe galt. Mit der Botschaft (τὸ κήρυγμα [to kērygma]) ist an dieser Stelle nicht so sehr der Inhalt der christlichen Verkündigung gemeint, als vielmehr der Vorgang des Verkündigens selbst, der Verkündigungsdienst. πλήρης [ plērēs] heißt „voll“, und πληροφορεῖν [ plērophorein] ist ein „verstärktes πληρόω“, wie Hübner schreibt.97 Was damit gemeint ist, sagt der nachfolgende epexegetische (erklärende) Satz: indem alle Heidenvölker [es] hören. Apg 9,15; 13,46; 22,15; 26,17; Gal 1,16 u.a. klingen im Hintergrund mit. Der „radikale“ Paulus (1Tim 1,13) hat auch einen radikalen Wandel mitgemacht und will nun das Christentum, das er früher bekämpfte, mit derselben Entschlossenheit vertreten und ausbreiten. Welche Vorstellung verbindet er mit dieser Aussage? Die handlungstragenden Verben liegen allesamt auf der sprachlichen Schiene des Aorists, der allerdings (wie Präsens und Perfekt) „keinerlei Zeitbedeutung“ hat,98 sondern lediglich den Aspekt festlegt, unter dem der Verfasser „die Verwirklichung des Verbinhalts (subjektiv) betrachtet bzw. verstanden haben will“.99 An unserer Stelle wird es sich bei einem Konjunktiv im Nebensatz um einen „prospektiven“ Konjunktiv handeln, der „eine subjektive Erwartung“ ausdrückt.100 Da sich Beistand und Stärkung durch Jesus hier konkret auf die Situation der Verantwortung vor Gericht beziehen, werden wir davon ausgehen dürfen, dass der Apostel sein Auftreten dort als einen Teil der Verkündigung verstanden hat, die ihm aufgetragen war. Diese Vermutung wird bestätigt durch den zweiten, ziemlich parallel konstruierten Nebensatz, der von der Errettung vor dem Maul des Löwen spricht, also ebenfalls direkt situationsbezogen ist. War Rom für Paulus das centrum mundi in dem Sinne, dass die Verkündigung des Evangeliums hier zugleich eine Verkündigung an alle Heidenvölker war, so galt für seine Verteidigung vor dem Kaiser (bzw. dem ihn vertretenden Gericht) wohl potenziert dasselbe: In der Person an der „Spitze“ des Reichs ist das ganze Reich präsent. Zu der wichtigen Frage, ob denn wohl wirklich Nero selbst die Verhandlung gegen Paulus leitete, wie es die Tradition des Provokationsrechts (Berufungsrecht) eigentlich nahelegt, oder ob ihn ein hoher Beamter vertrat, schreibt Sherwin-White:
97 98 99 100
Hübner, Art. πληροφορέω, πληροφορία, EWNT III, 254. HvS §192g. Ebd.. A.a.O., §210b.d.
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„Down to the time of Nero the emperors themselves heard the cases that fell under their cognitio. … With the youthful Nero things were different. Tacitus implies that down to the eighth year – A.D. 62 – Nero avoided personal jurisdiction, and then only accepted a case for special reasons, because a member of his entourage had abused his personal influence. In 65 Nero presided, in personal cognitio, over the trial of the conspirators associated with Piso. But these were great political affairs. The silence of Suetonius, who was interested in routine administration, indicates that normally Nero took little part in jurisdiction. In an obscure passage Suetonius says that Nero disliked signing warrants of execution, which was evidently a routine duty of the Princeps. It would seem that under Nero the necessary personal jurisdiction of the emperor, such as the trial of capital cases on appeal, was delegated to other persons, and the sentences confirmed by him afterwards. … In the affair of the Great Fire of Rome and the trial of the Christians it is impossible to make out the exact part played by Nero. … But if Nero conducted the trial after the Fire in person, that was because, as in the trial of the Pisonian conspirators, he had a particular interest in the matter. If Paul came to trial some time after the period of two years mentioned in Acts XXVIII.30, it is probable that his case was heard by someone other than the Princeps.“101
Unter dem Strich lautet die Antwort also: eher nicht – und zwar erst recht nicht, falls die gelegentlich geäußerte Ansicht zutreffen sollte, Verurteilung und Exekution des Apostels falle in den Juni (oder Oktober) des Jahres 67. Da hielt sich Nero nämlich in Griechenland auf. Ich wurde vor dem Maul des Löwen errettet, schreibt Paulus weiter. Das Verb ρύεσθαι [ryesthai] benutzt er drei Mal im 2Tim (3,11; 4,17.18). Das sonst häufigere σῴζειν taucht hier nur zwei Mal auf (1,9; 4,18), am Anfang und am Ende des Briefs. Mindestens in diesem Brief deckt ρύεσθαι mehr die Errettung vor Bedrohungen an Leib und Leben ab, während σῴζειν den Aspekt der ewigen Erlösung transportiert. Die Partikel ἐκ hat an unserer Stelle sicher die Bedeutung „vor“, nicht „aus“. Lichtenberger weist auf eine Bedeutungsnuance hin: In Verbindung mit ἐκ geht es eher um Gegenwärtiges oder Vergangenes, mit ἀπό ist mehr Zukünftiges beschrieben.102 Deutlich bilden mehrere atl. bzw. apokryphe Texte den Hintergrund: 1Makk 2,60, wo der sterbende Mattatias seinen Söhnen das Vorbild von Gestalten aus Israels Geschichte vor Augen stellt, darunter auch Daniel, von dem er mit eindeutigem Bezug auf Dan 6 (wo übrigens eine Form von σῴζειν steht) sagt: ἐρρύσθη ἐκ στόματος λεόντων 101 Sherwin-White, Society, 110-112. Es ist deutlich, dass Sherwin-White von der ersten römischen Gefangenschaft des Paulus spricht. Der Sache nach, um die es uns geht, gelten seine Aussagen aber erst recht für die spätere zweite Haft – sofern sie zutreffen. 102 H. Lichtenberger, Art.ῥύομαι, EWNT III, 515.
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2. Timotheusbrief
[errysthē ek stomatos leontōn – „rette mich vor dem Maul der Löwen“]; LXX Ps 21,21f (in unserer Bibel entsprechend Ps 22,21f, also aus dem Psalm, den Jesus am Kreuz gebetet hat), wo ein Gerechter Gott um Hilfe und Rettung bittet: σῶσόν με ἐκ στόματος λέοντος [sōson me ek stomatos leontos – „rette mich vor dem Maul des Löwen“]. In diese Reihe stellt sich der Apostel, indem er so zitiert. Es handelt sich beim Verb um ein passivum divinum: Der Herr hat das getan. 18 Das Stichwort ῥύομαι stellt auch die Verbindung zum nächsten Vers her. Stand in V. 17 der Aorist, so in V. 18 das Futur: Aus der eben in konkreter Situation gemachten Erfahrung leitet Paulus verallgemeinernd Vertrauen und Zuversicht auch für das ab, was kommt: Der Herr wird mich von jeder bösen Handlung erretten. Der Sache nach hatte er in 3,11 bereits dasselbe gesagt. Sah er in dem rettenden Eingreifen Gottes eine Erfüllung der Vaterunser-Bitte ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ [rhysai hēmas apo tou ponērou – „erlöse uns von dem Bösen“], eine Bestätigung seiner eigenen Überzeugung (2Thess 3,3)? Nicht eindeutig ist, wie der Satz zu verstehen und zu übersetzen ist. Geht es um das „Werk des Bösen“ (mask. oder ntr? wie Eph 6,16 oder Röm 12,9), so würde man den bestimmten Artikel erwarten, oder vielmehr um die „böse Tat“ (wie Kol 1,21)? Ist πονηροῦ Substantiv oder Adjektiv? Obwohl die Ausleger durchweg πονηροῦ als Adjektiv verstehen, das ἔργου qualitativ erläutert,103 sollten wir die Alternative nicht vorschnell aus dem Auge verlieren. Gewiss ist das Fehlen des Artikels ein starkes Argument dafür, πονηροῦ nicht als Nomen zu verstehen, d.h. nicht an Taten „des Bösen“, also des Teufels, zu denken. Nur die Einmütigkeit der Ausleger hält uns davon ab, die Aussage des Apostels in diesem Sinne zu verstehen. Vielleicht ist diese Unschärfe der Bedeutung dem Schreiber ja mit Blick auf V. 18c sogar bewusst gewesen. Strukturell handelt es sich bei V. 18ab um einen synthetischen parallelismus membrorum, also um kunstvoll-gehobene (hebräische) Sprache. 18ab bestehen aus je sieben akzentuierten Silben. Mit der zweiten Vershälfte wird die erste unter anderem Aspekt fortgeführt. Ging es in 18a um die Errettung vor Bedrohungen in diesem Leben, so in 18b um die Erlösung, die ins Himmelreich führt. Der Vers zeigt, dass ρύεσθαι tatsächlich eher die Gegenwart (sprich: die Rettung aus irdischen Bedrohungen), und σῴζειν mehr die Zukunft, also das ewige Heil, beschreibt.
103 So etwa Schlatter 270, Oberlinner 166, Weiser 313, Knight 472, Towner 618; vgl. auch Bauer/Aland 1385.
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βασιλεία [basileia] ist ein Paulus vertrauter Begriff (vgl. zu 4,1), der die Nähe seiner Theologie zur Verkündigung Jesu signalisiert.104 Er bezeichnet eine Gegebenheit, die für ihn sowohl in der Zeit (in Form der christlichen Gemeinde; vgl. Röm 14,17; 1Kor 4,20; Kol 1,13 u.ö.), als auch in der Ewigkeit (1Kor 6,9f u.a.) existiert. Dies entspricht strukturell der traditionell gewordenen Unterscheidung von „gegenwärtigem“ und „zukünftigem“ Kommen des Gottesreichs, wie Jesus es proklamierte,105 trägt aber den veränderten Umständen nach der Himmelfahrt und in nichtjüdischem Kontext Rechnung. „Ein selbständig durchreflektierter Sprachgebrauch ist [bei Paulus] nicht festzustellen“, schreibt Luz sehr zuversichtlich.106 An unserer Stelle geht es (wie 4,1) um sein himmlisches Königreich als um eine erst kommende, jenseits dieser Wirklichkeit zu erwartende Größe. Der Heilscharakter der Zugehörigkeit zu ihr, von dem auch Jesus spricht (Mt 8,11; Mk 9,47; 10,25; 14,25), ist deutlich erkennbar an dem Begriff σώσει [sōsei]. Wie auch sonst gelegentlich geht der Gedankengang in Form eines Relativsatzes unmittelbar in Anbetung über:107 dem gehört die Ehre in die Ewigkeiten der Ewigkeiten, Amen. Hinter dem griech. Wort δόξα [doxa] steht in der Tradition des LXX-Griechischen das hebräische [ ָכּבֺודkābōd], das seinerseits eine Bildung aus der Wurzel „ כבדschwer sein“ ist. Von dem äußeren Gewicht einer Sache wurde das „beziehungsmäßige“ Gewicht einer Person oder die Bedeutung abgeleitet, die sie in der Gesellschaft hatte, also ihr Ansehen, ihre Macht, die Ehre, die ihr zusteht. Bei Gott, dem „letztlich … alle Ehre … allein“ gebührt,108 wird sie äußerlich erkennbar in dem Glanz, der ihn schon in den atl. Theophanien umgibt, auch wenn er dann im NT in Gestalt seines Sohnes erscheint (2Kor 4,3f.6). Anteil haben an der Herrlichkeit Christi bedeutet deshalb Anteil haben an dem Heil, das er ist und gibt.109 An unserer Stelle erhält δόξα beinahe die Bedeutung „Ehrerweisung“ im Sinne dessen, was Phil 2,10f als Vorgang dargestellt ist. Auch das kurze, persönliche Zwischenstück vor den Grüßen endet also mit dem Hinweis auf die Ewigkeit (αἰών [aiōn]),110 genauer: die Ewigkeiten der Ewigkeiten. Der kontrastieren104 Zusammenhänge zwischen beiden hat David Wenham, Paulus. Jünger Jesu oder Begründer des Christentums?, Paderborn u.a. (1999) 31-93 (bes. 66ff) untersucht, dabei allerdings die Pastoralbriefe weitgehend außer Acht gelassen. 105 U. Luz, Art. βασιλεία, EWNT I, 484f. 106 A.a.O. 490. 107 Hinweise darauf, dass es sich um „liturgische“ Sprache handelt, sind das Fehlen eines Verbs und das abschließende „Amen“. 108 H. Hegermann, Art. δόξα, EWNT I, 835. 109 A.a.O. 383. 110 Zum Verständnis von αἰών vgl. die Auslegung zu V. 10.
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2. Timotheusbrief
de Rückbezug auf V. 10 (τὸν νῦν αἰῶνα) ist deutlich: Demas hat sich für diesen αἰών entschieden, für die Welt, so, wie sie jetzt ist, Paulus aber geht auf Gottes Ewigkeiten, sozusagen auf den „potenzierten“ αἰών zu, nämlich auf Gottes Ewigkeit. Exkurs Die schillernde Bedeutung von αἰών ist nicht eindeutig abzugrenzen. Sie hängt stark vom Kontext der jeweiligen Verwendung ab. Wichtig ist, den sprachgeschichtlichen Hintergrund im Auge zu behalten: Profangriechisch bestimmt der temporale Sinn das Verständnis: „Leben, Lebenszeit, Generation“ bedeutet es dort, steht aber auch schon für einen „langen, unbegrenzten Zeitraum“ der Vergangenheit oder Zukunft.111 Wichtig ist (und m.E. ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis von „Ewigkeit“), dass Plato in den beiden Begriffen χρόνος „Zeit“ (in ihrem Verlauf – im Unterschied zum Zeitpunkt, den die Griechen oft καιρός [kairos] nennen) und αἰών „Ewigkeit“ zwei ursprüngliche Zeit-Begriffe einander gegenüberstellt.112 Plato schreibt im Zusammenhang, in dem er über das Entstehen der Welt und der Zeit spekuliert: „Als nun aber der Erzeuger des All es ansah, wie es bewegt und belebt und ein Abbild der ewigen Götter geworden war, da empfand er Gefallen daran, und in dieser seiner Freude beschloß er denn es noch mehr seinem Muster ähnlich zu machen. Gleichwie nun dieses selber ein unvergängliches Lebendiges ist, unternahm er es daher, auch dieses All nach Möglichkeit zu einem eben solchen zu machen. Nun war aber die Natur des höchsten Lebendigen eine ewige, und diese auf das Entstandene vollständig zu übertragen war eben nicht möglich, aber ein bewegtes Bild der Ewigkeit beschloss er zu machen, und bildete, um zugleich dadurch dem Weltgebäude seine innere Einrichtung zu geben, von der in Einheit beharrenden Ewigkeit ein nach der Vielheit der Zahl sich fortbewegendes dauerndes Abbild, nämlich eben das, was wir Zeit genannt haben. Die Tage, Nächte, Monate und Jahre, welche es vor der Entstehung des Weltalls nicht gab, ließ er jetzt bei der Zusammenfügung desselben zugleich mit ins Entstehen treten. Dies alles aber sind Teile der Zeit und das War und Wirdsein sind Formen der entstandenen Zeit, obwohl wir mit Unrecht, ohne dies zu bedenken, dieselben dem ewigen Sein beilegen. Denn wir sagen ja von ihm: es war, ist und wird sein, während ihm doch nach der wahren Redeweise allein das ‚Es ist‘ zukommt, wogegen man die Ausdrücke ‚es war‘ und ‚es wird sein‘ lediglich von dem in der Zeit fortschreitenden Werden gebrauchen darf. Denn beides bezeichnet Bewegungen, demjenigen aber, welches sich unbeweglich stets auf die gleiche Weise verhält, kommt es nicht zu, weder älter noch jünger 111 T. Holtz, Art. αἰών, EWNT I, 106. Schon bei Hesiod, Theogonie 609, finden wir die nach rückwärts gewandte unbestimmte Bedeutung „seit alters, seit jeher“ (Holtz ebd.). 112 Plato, Timaios 37d; Philo ist ihm darin später gefolgt; vgl. Holtz, ebd.
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zu werden im Verlaufe der Zeit, noch es ehemals oder jetzt geworden zu sein oder es in Zukunft werden zu sollen, kurz, es kommt ihm überhaupt nichts von alle dem zu, was das Werden mit den im Gebiet der Sinnenwelt sich bewegenden Dingen verknüpft hat, sondern es sind dies die Formen der die Ewigkeit nachahmenden und nach den Zahlenverhältnissen in den Umläufen sich zeigenden Zeit geworden.“113 Ansatzweise wird hier deutlich, dass „Ewigkeit“ eben nicht „nur“ unendliche Zeit ist (das vielleicht auch!), sondern dass sie eine andere Qualität besitzt, ja eine völlig andere Dimension darstellt, eine Dimension, in der wir nicht zu Hause sind, sondern allein Gott, die wir nicht einmal kennen und die wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln auch nicht annähernd beschreiben können. Neben die griechische Philosophie muss nun aber unbedingt das hebräischbiblische Verständnis von αἰών gestellt werden. Dieses Wort steht in der LXX meist für hebr. [ עֺוָלםʽōlām], was wiederum „die Grundbedeutung fernste Zeit [hat], sowohl bezogen auf Vergangenheit wie Zukunft. Nach E. Jenni wird es (bei „Deuterojesaja“) „zum Kennwort für die Welt Gottes und für Gottes Handeln, das im Eschaton alleinbestimmend übrig bleibt.“114 Es liegt damit gar nicht so weit weg von dem eben dargestellten platonischen Verständnis von Zeit und Ewigkeit. Schon in der Verkündigung Jesu, und zwar sowohl bei den Synoptikern als auch bei Johannes, spielt der Begriff eine wesentliche Rolle, wie schon die Häufigkeit seines Vorkommens zeigt. Sehen wir uns den Befund bei Paulus an, so fallen im Vergleich mit unserer Stelle 2Tim 4,18 zunächst die Vorkommen im Römerbrief, dessen Adressatengemeinde ja einen starken judenchristlichen Anteil besaß, ins Gewicht. Jeweils in quasi liturgischem Kontext ist Röm 1,25; 9,5 (vgl. 2Kor 11,31) gleichlautend von Gott die Rede, der εὐλογητὸς εἰς τοὺς αἰῶνας, ἀμήν [eulogētos eis tous aiōnas, amēn]. Röm 11,36; 16,27 (ähnlich 1Tim 1,16; 1Petr 4,11; Offb 1,6) heißt es ebenfalls gleichlautend und liturgisch überhöhend von Gott: ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας, ἀμήν [hē doxa eis tous aiōnas, amēn]. 1Kor 2,7 (vgl. Eph 3,9; Hebr 13,21) begegnet ebenfalls der Plural, nun aber rückwärts gewandt im Sinne von „vor Beginn der Zeit“. Am nächsten kommt aber die Formulierung Gal 1,5 (ebenfalls ein Relativsatz und eine doxologische Stelle). Dort haben wir sogar wörtliche Übereinstimmung: ᾧ ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων, ἀμήν [hō hē doxa eis tous aiōnas tōn aiōnōn, amēn].115 Kol 1,26 finden sich in der Formulierung ἀπὸ τῶν αἰώνων καὶ ἀπὸ τῶν γενεῶν [apo tōn aiōnōn kai apo tōn geneōn] die Termini αἰών und γενεά [genea] offensichtlich bewusst nebeneinander. Damit ist αἰών von der 113 Nach der Übersetzung von F. Susemihl, Platonʼs Werke, vierte Gruppe, sechstes und siebentes Bändchen, Stuttgart 1856, leicht zugänglich in: www.opera-platonis.de/Timaios.html; kursive Hervorhebungen von mir. 114 E. Jenni, Art. עולם, THAT II, 239. 115 Zieht man die Relativpartikel ab, so stimmt auch Phil 4,20 wörtlich damit überein.
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2. Timotheusbrief
Menschengeschichte klar unterschieden. Im letzten Buch des NT ist εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων geradezu zur festen Redewendung geworden (so mit kleinen Abweichungen Offb 1,6.18; 4,9f; 5,13; 7,12; 10,6; 11,15; 14,11; 15,7; 19,3; 20,10; 22,5). Damit wird aber nicht eine quantitative Aussage gemacht (in dem Sinne: eine bestimmte Zahl oder auch eine unendliche Zahl von Äonen), sondern eine qualitative. Potenzierte Äonen meinen die völlig andere Dimension der „Welt“, des Daseins, wie Gott „existiert“ (auch diese beiden Begriffe passen eigentlich nicht, aber wie sollen wir von Gott reden, wenn nicht mit unseren Begriffen?).
Wir halten zu V. 18c fest: 1. Es herrscht hier nicht eine die vorhandene Wirklichkeit beschreibende Sprache vor, sondern (wie die Form des Relativsatzes, der Begriff δόξα, die Formel εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων und das abschließende ἀμήν deutlich zeigen) doxologisch-liturgische Sprache. 2. Auch der Begriff δόξα weist von dieser Welt hinüber in Gottes Ewigkeit. „Ewigkeit“ ist aber eben nicht endlose Aneinanderfügung von messbaren Zeitabschnitten. 3. Die Formel εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων meint ebenso genau dies: Gottes völlig andere, zeit-lose „Welt“. Von den 15 Vorkommen des aus der hebr./aram. Sprache übernommenen Wortes ἀμήν bei Paulus steht es zehn Mal im engen Kontext mit dem Stichwort αἰών. Diese Wortverbindung scheint sich dem Apostel also tief eingeprägt zu haben. Das könnte daran liegen, dass es dem responsorischen Charakter des Wortes entspricht, wenn der Gemeinde schon früh und möglicherweise aus dem Synagogengottesdienst übernommen ein ihr bekanntes „Stichwort“ gegeben wurde, auf das sie gewohnheitsmäßig mit ἀμήν antwortete.116 Das galt sicher auch, wenn ein Paulusbrief in der Gemeindeversammlung vorgelesen wurde. Das hebr./aram. Wort ἀμήν begegnet uns bereits im Pentateuch in dieser Funktion: Eine einzelne Person (Num 5,22) oder die versammelte Gemeinde nimmt das, was ihr gesagt wurde, zur Kenntnis und bestätigt es mit ihrem „Amen“ (die Fluchformeln Deut 27,15ff). So endet das Briefkorpus des 2Tim mit einer doxologischen Formel und (wie Gal 6,18) dem bekräftigenden „Amen“. Es folgen noch die Grüße (V. 1921) und die Schlussformel (V. 22). IV 1. „Führe mich aus dem Kerker, dass ich preise deinen Namen!“ Die Bitte aus Ps 142,8 wird dem Apostel gewiss bekannt, nun aber auch existenziell nahe 116 Vgl. dazu neben den vielen bekannten Veröffentlichungen den Art. ἀμήν von H.-W. Kuhn in EWNT I, 166-168.
Briefschluss 4,19-22
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gewesen sein. Mit der Möglichkeit einer Bewahrung vor dem Tod in letzter Sekunde wird Paulus gerechnet haben. Erfahrungen wie die in Philippi (Apg 16,25f) haben ihn gewiss darin bestärkt, aber er hat Gott nicht auf diesen Weg festgelegt. Tiefes Vertrauen, wahrer Glaube stellt unsere Wege Gott anheim, der seinen guten Plan hat und weiß, was auch für uns gut ist. Es fällt uns unglaublich schwer, angesichts eigenen oder fremden Leids daran festzuhalten. Die Frage „warum so und nicht anders?“ macht uns zu schaffen. Theologisch fassen wir sie im Theodizee-Problem und in dem Stichwort vom deus absconditus.117 2. Luttenberger fasst seine Untersuchung zu unserer Perikope so zusammen: „2Tim 4,9-22 schildert, wie immer die Frage nach dem Verfasser dieses Briefes beantwortet wird, eine biographische Sondersituation des Paulus angesichts des vermuteten Lebensendes (2Tim 4,6-8). … Unter der Voraussetzung, dieser Text sei eine Fiktion in paradigmatischer Absicht, stellt sich angesichts der aufgewiesenen Diskrepanzen die Frage nach der literarischen Kompetenz des Verfassers, aber auch nach der Plausibilität des Deutungsvorschlages.“118
12. Briefschluss 4,19-22 I 19 Grüß Priska und Aquila und das Haus des Onesiphorus! 20 Erastus blieb in Korinth, Trophimus aber ließ ich krank in Milet zurück. 21 Beeil dich, vor dem Winter zu kommen! Es grüßt dich Eubulus und Pudens und Linus und Klaudia und die Brüder alle. 22 Der Herr [sei] mit deinem Geist! Die Gnade [sei] mit euch! II Wie zwei der drei anderen an Einzelpersonen gerichteten Paulusbriefe (nämlich wie Tit/Phlm) schließt auch der 2. Timotheusbrief mit persönlichen Informationen bzw. Grüßen von oder an andere Einzelpersonen. Der Abschnitt gliedert sich so: 19 Grußaufträge 20 Informationen über gemeinsame Bekannte 21a Aufforderung zur Eile 117 Der Begriff stammt aus der lateinischen Bibelübersetzung von Jes 45,15. 118 Luttenberger, Prophetenmantel, 78.
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2. Timotheusbrief
21b Grüße an den Empfänger 22a Beistandswunsch 22b Schlussformel Mehrere aus der Apg oder früheren Paulusbriefen bereits bekannte Personen begegnen dem Leser in V. 19f in Gestalt der zu Grüßenden erneut (s.u.).1 Dagegen sind uns die, deren Grüße Paulus an Timotheus übermittelt, unbekannt. Ihre überwiegend lateinischen Namen weisen nach Rom. III 19 Die Aufforderung ἄσπασαι oder ἀσπάσασθε (im Singular oder Plural), jemand oder eine Reihe von Personen oder eine ganze Gruppe zu grüßen, gehört ebenso zum festen Formular der Paulusbriefe (außer Gal und Eph) wie die Mitteilung von Grüßen mit der Formulierung ἀσπάζονται/ἀσπάζομαι/ἀσπάζεται. Wir finden sie auch in griechischen Papyrusbriefen, wie sie etwa A. Deissmann veröffentlicht hat.2 Sprachgeschichtlich ist ungeklärt, woher das Verb ἀσπάζομαι [aspazomai] kommt. Vermutet wurde ein Zusammenhang mit σπάω „ziehen“ bzw. „an sich ziehen“3 „als Ausdruck der Zuneigung, der freudigen Aufnahme“, wie Trummer schreibt.4 Dabei sollten wir beachten, dass „grüßen“ in der Antike nichts Oberflächliches oder bloß Höfliches ist. „Der Gruß klärt die offene Situation, er umfaßt die Personen der Begegnenden ganzheitlich und bestimmt vielfach auch ihr weiteres Verhalten“5 – man könnte hinzufügen: und sagt etwas über ihr Verhältnis zueinander. Von größerem Interesse sind aber die gegrüßten und zu grüßenden Personen selbst. Es handelt sich um das Ehepaar Priska und Aquila und um Onesiphorus, die gegrüßt werden. Grüßen im Rahmen brieflicher Kommunikation setzt in der Regel Bekanntschaft voraus. Priska und Aquila begegnen uns zuerst in Apg 18,2f in Korinth, wohin sie aufgrund des Claudius-Edikts von 49 n.Chr. gekommen waren,6 das alle Juden aus Rom vertrieb. Mindestens Aquila (vermutlich von lat. aquila „Adler“) war Jude und stammte aus Pontus, einer Landschaft im mittleren Teil der Südseite des Schwarzen Meeres mit dem Hauptort Sinope. Der weibliche Vorname Priska ist vom lat. prisca „die Altehrwürdige“, abgeleitet. 1 Zuletzt hat sich Luttenberger, Prophetenmantel, 280ff mit den Grüßen im Corpus Paulinum und den Pastoralbriefen befasst. 2 Deissmann, Licht, z.B. S. 147.150.160. 3 H. Frisk. Griechisches etymologisches Wörterbuch I. Heidelberg 1960, 166. 4 P. Trummer, Art. ἀσπάζομαι/ἀσπασμός, EWNT I, 416. 5 Ebd. 6 Sueton, Vita Divi Claudii 25,4. Zum Edikt vgl. den Exkurs bei Omerzu, Prozeß, 229-236. Näheres zu dem Ehepaar bei P. Lampe, Christen, 156-164.
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Priscilla ist die in der Apg, nicht aber von Paulus, ausschließlich verwendete Verkleinerungsform. Paulus arbeitete mit ihnen (oder vielleicht besser: in ihrer Werkstatt), weil sie wie er Zelttuchmacher waren.7 Nach Apg 18,18 haben sie Paulus um das Jahr 50/51 bei der Rückkehr von der 2. Missionsreise von Korinth nach Syrien begleitet. Dann verlieren sich ihre Spuren für kurze Zeit. Zum Zeitpunkt, über den Apg 18,26 berichtet, halten sie sich in Ephesus auf und nehmen Kontakt zu Apollos aus Alexandria auf. In der kleinasiatischen Metropole ist um das Jahr 54 wohl auch der 1. Korintherbrief entstanden, in dem die Eheleute Grüße nach Korinth senden (1Kor 16,19). Etwa zwei Jahre danach befinden sie sich wieder in Rom, denn dort lässt Paulus sie grüßen (Röm 16,3f). Er bezeichnet sie als „meine Mitarbeiter in Christus Jesus, die für mein Leben ihren Hals hingehalten haben und denen nicht nur ich dankbar bin, sondern auch alle Gemeinden der Heiden.“ Nun tauchen sie rund zehn Jahre später wieder in der kurzen Grußliste 2Tim 4,19 auf, und zwar wieder in Ephesus, wohin der 2. Timotheusbrief vermutlich gerichtet ist. Danach verlieren wir die beiden endgültig aus dem Blick. Wichtige Stationen der Mission des Paulus waren also auch Orte, wo sie sich aufgehalten haben: Rom, Korinth, Ephesus. Auch Onesiphorus („einer, der Nutzen bringt“ – ein häufiger Sklavenname, also ein Freigelassener?) ist uns kein Unbekannter: 2Tim 1,16 hatte sich der Apostel dankbar für seinen Einsatz für ihn in Rom gezeigt. An beiden Stellen (2Tim 1,16; 4,19) ist jeweils von dem „Haus“ (οἶκος [oikos]) des Onesiphorus, nicht von ihm selbst die Rede. Daraus kann man (gegen Engelmann)8 schließen, dass er inzwischen verstorben war und die Fürsorge und Fürbitte des Paulus jetzt seiner Familie galt. Vermutlich lebte auch er in Ephesus, denn in Rom hielt er sich offenbar nur als Besucher auf. Die Verse 20/21a unterbrechen die Grußliste mit persönlichen Angaben: In V. 20 geht es um kurze Informationen über den Aufenthalt von zwei Personen – Erastus und Trophimus –, mit denen Timotheus (und die Gemeinde in Ephesus?) bekannt ist. Mit ihnen verhält es sich so: 20a Der verbreitete Name Erastus9 begegnet außer in 2Tim 4,20 in der Apg und den Paulusbriefen in mehreren Zusammenhängen. Ein Mann dieses Na7 Übrigens wird nur noch 1Kor 16,19 Akylas/Aquila vor seiner Ehefrau Priska/Priscilla genannt. Nach Apg 18,3 waren beide Eheleute Zeltmacher. Beides deutet darauf hin, dass sie die Energische, die Zielorientierte und damit die treibende Kraft von den Eheleuten gewesen sein wird, beruflich wie geistlich. 8 Engelmann, Drillinge, 210 meint mit Verweis auf 1Kor 1,16 und IgnSm 13,1f: „vermutlich ist der Hausherr hier in den Grüßen schlicht inkludiert.“ 9 Der Eigenname ist als Verbaladjektiv von ἐράω/ἔραμαι/ἐραστεύω abzuleiten und bedeutet „Geliebter“.
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2. Timotheusbrief
mens gehörte mit Timotheus zusammen zum „Paulus-Team“, als sie vor 55 n. Chr. in Ephesus (!) arbeiteten. Beide wurden von dort aus nach Makedonien geschickt (Apg 19,22). Gut ein Jahr später gehört ein Erastus in Korinth zu denen, die Grüße nach Rom senden lassen (Röm 16,23). Hier erfahren wir auch, welche Stellung dieser Erastus innehatte oder innegehabt hatte: er war nämlich ὁ οἰκονόμος τῆς πόλεως [ho oikonomos tēs poleōs], „der Ökonom der Stadt“. Kuhli nennt dies eine „bekannte Titulatur eines städtischen Beamten mit relativ unspezifischem Aufgabenbereich“.10 Es kann mit der „Stadt“ nur Korinth gemeint sein. Riesner meint, unser Erastus dürfe „mit einem inschriftlich bezeugten Aedil aus Korinth identifiziert werden“,11 während andere sowohl die personelle Identifikation als auch die städtische Position anzweifeln, die er gehabt hatte.12 Man wird die Frage mit den uns zur Verfügung stehenden Quellen nicht für alle überzeugend klären können, aber fragen müssen, ob man, wenn man dem städtischen Ädil wegen seines Amtes die Beweglichkeit bestreitet, die „unser“ Erastus gehabt zu haben scheint, sie einem Sklaven eher zutrauen darf. Zudem setzt das Amt, wenn es mit seiner stadtrömischen Vorlage verglichen werden kann, doch einigen Wohlstand und auch eine gewisse Bildung voraus. Kein Wunder also, wenn Erastus auf der Durchreise durch Korinth dort geblieben ist. Wir deuten damit schon an, dass einiges dafür spricht, in den drei Namensträgern ein und dieselbe Person zu sehen.13 Dafür sprechen nach Towner der gemeinsame geographische Berührungspunkt Korinth und der personelle Berührungspunkt, nämlich Paulus und Timotheus.14
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Zur abweichenden Akzentsetzung vgl. Archibald Thomas Robertson, A Grammar of the Greek New Testament in the Light of Historical Research, London 31919, 235; vgl. auch Towner 651. H. Kuhli, Art. οἰκονομία κτλ., EWNT II, 1220. Riesner, Paulus, 270, in Aufnahme von G. Theissen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT I,19, Tübingen 31989, 236-245, u.a. Anders H. J. Cadbury, Erastus of Corinth. JBL 50.2, 1931, 42–58: 58. E.W. Stegemann / W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinde in der mediterranen Welt. Stuttgart u.a. 1995, 253. Der Titel könne auch „gemeinhin städtische ‚Beamte‘, die mit der ‚Verwaltung öffentlicher Gelder oder öffentlichen Eigentums betraut waren‘“, bezeichnen und fand „‚auch auf Personen Anwendung, die allem Anschein nach Sklaven des Gemeinwesens waren‘“ (ebd.; Zitat aus W. A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 1993, 126). Dann wäre Erastus nicht Inhaber eines hauptverantwortlichen städtischen Amtes gewesen, sondern nur in untergeordneter Position. Stegemann/Stegemann ordnen ihn der „Gruppe der Gefolgsleute der Oberschicht“ zu (ebd.). So vor allem die englischsprachigen Kommentare von Knight 476, Marshall 828f, Towner 652; zögernd Holtz 199, während die aktuellen deutschsprachigen Kommentare aufgrund ihrer Gesamtsicht der Pastoralbriefe hier teilweise eine „fiktive“ Identität sehen, z.B. Brox 277, Weiser 340f; anders Oberlinner 184f.
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20b Auch Trophimus15 kennt der Leser der Apg bereits aus Apg 20,4; 21,29 als Paulus-Begleiter. Um die Jahre 55/56 gehörte er auf der 3. Missionsreise gemeinsam mit etlichen anderen (darunter Timotheus) zur Paulus-Gruppe, die sich von Ephesus aus auf dem Rückweg nach Syrien und Judäa befand. Als „Vortrupp“ des Apostels reisten sie ihm voraus nach Troas (vgl. 2Tim 4,13!). Trophimus wird als Letzter der Liste genannt. Er, der aus Ephesus stammte, ist bis Jerusalem mitgereist und wurde dort zum Anlass für die Verhaftung des Paulus. Ihm wurde nämlich vorgeworfen, er habe Trophimus, also einen Heiden, „in den Tempel geführt“ (Apg 21,29). Damit ist sicher der nur Juden zugängliche innere Bereich des Tempelareals gemeint. Das war nach Riesner etwa im Jahr 57. Inzwischen sind etwa 8-10 Jahre vergangen. Paulus war auf freien Fuß gesetzt worden, nach Spanien und wieder in den Raum des östlichen Mittelmeers einschließlich Kreta und Kleinasien gereist, dann aber (nach dem Brand Roms?) erneut inhaftiert worden – wo, wissen wir nicht, auch nicht, ob die Reise, von der er 2Tim 4 in Andeutungen spricht, wieder ein Gefangenentransport mit dem Ziel Rom war oder ob er in der Reichshauptstadt selbst verhaftet wurde. Dies erscheint als die plausiblere Variante. Jedenfalls ist er auf der Reise nach Rom nicht nur in Troas gewesen und hat Mantel und Schriften dort zurückgelassen. Schon vorher war er in Milet gewesen und musste Trophimus dort krank zurücklassen.16 Milet, das damals bereits auf eine tausendjährige Stadtgeschichte zurückblickte und in der röm. Kaiserzeit, vor allem im 2. Jh. n.Chr., seine durch hellenistische Prachtbauten bezeugte „Hochblüte“ erlebte,17 hatte Paulus min14 Towner 652. 15 Der Name könnte (nach Liddell/Scott 1828) „a slave’s young master“ bedeuten, also etwa „Sohn des Sklavenbesitzers“. In früherer Zeit nannte man in Sparta junge Männer so, die ihre Erziehung bzw. Ausbildung nicht selbst finanzieren konnten, sondern die von Wohlhabenden finanziert wurden (ebd.). 16 Die Entfernung von Milet nach Ephesus beträgt knapp 50 km, nach Troas dagegen ca. 265 km (jeweils Luftlinie). Timotheus wusste in Ephesus offenbar nichts von Trophimus’ Erkrankung – sofern Paulus ihm nicht etwas mitteilte, was er ohnehin schon wusste, um im Blick auf das Ergehen der Personen, die ihn begleiteten, vollständig zu sein. Das bedeutet: Entweder war die Reiserichtung von Süden nach Norden, von Milet nach Troas. Dann wird ein Abstecher nach Ephesus vermutlich nur nicht möglich gewesen sein, wenn ein anderer die Reiseroute bestimmte – also ein Häftlingstransport. Oder die Reise ging umgekehrt von Troas nach Milet, hatte dann aber kaum Rom als Ziel, sondern den Osten. Auf der 3. Missionsreise war die entsprechende Strecke von Troas nach Milet bei bewusster Auslassung von Ephesus in fünf Etappen aufgeteilt, die vermutlich Tagereisen entsprechen: Troas – Assos – Mitylene – Chios – Samos – Milet (vgl. dazu Riesner, Paulus, 269.282). In diesem Fall müsste man annehmen, Paulus sei irgendwo östlich von Milet verhaftet und dann nach Rom gebracht worden. Kurz: wir wissen nichts. 17 K. Ziegler, Art. Miletos, KP 3,1295-1297: 1296.
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2. Timotheusbrief
destens auf dem Rückweg der 3. Missionsreise besucht (Apg 20,15). Hierher bestellte er die Ältesten der Gemeinden in Ephesus (Apg 20,17) und nahm von ihnen Abschied (Apg 20,17-38). Angesichts der (vermuteten) Reiseroute (2Tim 4,20a Korinth, wo Erastus zurückbleibt; 2Tim 4,20b Milet, wo er sich von Trophimus trennen muss) liegt der Versuch nahe, in ihr die Rückreisestrecke der 3. Missionsreise zu sehen. Dann aber wäre der 2. Timotheusbrief entweder von der ersten (und einzigen!) Untersuchungshaft in Rom geschrieben, was (wie wir sahen) schon wegen der juristischen Behandlung seines Falls eher auszuschließen ist; oder Paulus würde während seiner zweiten Haft über Ereignisse berichten, die fast zehn Jahre zurücklagen. Das ist aber sehr unwahrscheinlich. Krank blieb Trophimus zurück. Das Präsenspartizip ἀσθενοῦντα [asthenounta] ist Akkusativobjekt zum Hauptverb und Subjekt ἀπέλιπον [apelipon]. Anders als bei Erastus ist hier nicht der Mitarbeiter der Handelnde, sondern der Briefschreiber. Das Verb ἀσθενέω bedeutet „schwach sein, krank sein“.18 Dass Krankheit und körperliche Schwäche auch Personen betreffen kann, die im Auftrag Jesu unterwegs sind, dass für sie nicht nur geistliche Kategorien gelten, sondern auch natürlich-schöpfungsmäßige, hat Paulus auch am eigenen Leib erfahren, in Gestalt des „Pfahls im Fleisch“ (2Kor 12,7) oder einer Sehschwäche bzw. eines Augenleidens (Gal 4,15), und bei seinem Mitarbeiter Timotheus (1Tim 5,23). In seinen Briefen hat er eine „Theologie der Schwachheit“ entfaltet, deren Ausgangspunkt die Schwachheit Jesu am Kreuz und (noch eine Ebene dahinter) Gottes Heilsgeschichte ist. Hier geht es aber um die schlichte Feststellung, dass er einen seiner Mitarbeiter wegen dessen Erkrankung zurücklassen musste. Sicher war es auch der Abschied von Erastus und Trophimus, der ihn zu der schon 4,9 geäußerten Bitte an Timotheus veranlasste: 21a Beeil dich, vor dem Winter zu kommen! Hatten wir dort noch den Aspekt des ernsthaften Bemühens im Vordergrund gesehen (s. dort; ähnlicher Gebrauch Tit 3,13), so ist es hier (wie Tit 3,12) mit Sicherheit auch der Zeitaspekt, der durch den Zielpunkt des erwarteten Wintereinbruchs und damit dem Ende der Möglichkeit zu reisen gesetzt ist. Im Zusammenhang mit der Bitte um den Mantel (4,13) entnehmen wir dem, dass der 2. Timotheusbrief offenbar im Spätsommer oder Herbst entstanden ist. Winteranfang war bei den Römern der 10. November.19 Schon am 1. November endete die Schifffahrt (mare clausum) und wurde erst im März langsam wieder aufgenommen. Da18 J. Zmijewski, Art. ἀσθενής κτλ., EWNT I, 408. 19 W. Sontheimer, Art. Jahreszeiten, KP 2, 1301.
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mit begann die „sichere Reisezeit“ (secura navigatio: 27. Mai bis 14. September). Wir kommen also unter diesem Aspekt zu einem wahrscheinlichen Abfassungstermin des Briefs im September, unter Umständen noch Anfang Oktober. 21b Auch in anderen Briefen erweitert Paulus die Grüße um persönliche Anmerkungen oder Informationen. Röm 16,17-20 steht eine „Warnung vor Irrlehrern“ zwischen Grüßen an Personen in der römischen Gemeinde und von Personen aus dem aktuellen Umfeld des Paulus. Die vier mit Namen genannten Grüßenden kommen sonst in den Paulinen nicht vor: Eubulus und Pudens und Linus und Klaudia. Erstaunlicherweise wiederholt sich kein einziger der vielen in Röm 16,3-16 erwähnten Namen, obwohl doch „nur“ etwa 10 Jahre dazwischen liegen – allerdings ereignisreiche Jahre, Jahre der Veränderung, was das Verhältnis des römischen Reichs zu den Juden einerseits und den Christen andererseits angeht. Über die Gründe können wir nur rätseln und spekulieren. Auf für historische Fragen sicherem Boden bewegen wir uns jedenfalls nicht. Auffällig, aber (weil sich der Apostel ja in Rom aufhielt) nicht erstaunlich ist, dass es drei lateinische und (nur) ein griechischer Name sind.20 Der griechische Name Εὔβουλος bedeutet einen, der „gut beraten“21 oder auch ein guter Ratgeber ist. Pudens bedeutet „sittsam, ehrbar, schüchtern, bescheiden“.22 Der ebenfalls lateinische Name Linus stammt aus der Mythologie, wo ein Sohn des Gottes Apoll diesen Namen trägt.23 Klaudia ist wohl nicht der eigentliche persönliche Vorname in unserem Sinne, sondern kennzeichnet die Trägerin als Mitglied der einflussreichen römischen Patrizierfamilie der Claudii, der auch der gleichnamige Kaiser entstammte. Damaliger Gewohnheit entsprechend wird die Frau unter den Grüßenden als Letzte genannt. Es folgen nur noch allgemein die Brüder alle. Immerhin hatten drei dem auf seine Hinrichtung wartenden Häftling Paulus verbundene Christen den Mut, sich auch in gefährlicher Zeit in einem seiner Briefe erwähnen zu lassen. Zusammen mit der Tatsache, dass dieser offenbar relativ ungehindert Besucher empfangen und Briefe schreiben (lassen) konnte, lässt das darauf schließen, dass in Rom damals nicht einfach blinder Hass regierte, wie es etwa in der Zeit des Nationalsozialismus teilweise war. Nicht jeder, der zu Paulus 20 Die Grußliste in Röm 16,3-16 zeigt eine ähnliche Mischung. Es ist dabei wichtig zu wissen, dass in ntl. Zeit Griechisch die lingua franca (heute vergleichbar dem Englischen) war, die auch in Rom selbst noch gesprochen wurde. Das hatte natürlich Auswirkungen auf die Namengebung, weshalb ein griechischer Name nicht unbedingt auch auf griechische Herkunft schließen lässt (vgl. oben zu 4,10). 21 Liddell/Scott 707: „well advised, prudent“. 22 Petschnig, Stowasser 405. 23 A.a.O. 298.
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2. Timotheusbrief
Beziehungen unterhielt oder auch nur als Christ bekannt wurde, war nur aufgrund dieser Tatsache (nomen ipsum) ein Todeskandidat. Wie oben erwähnt,24 wurden nach Schätzungen „nur“ etwa 200 bis 300 der ca. dreitausend Christen in Rom im Zuge der neronischen Verfolgung angeklagt, aber nicht alle auch hingerichtet. Dies könnte im Blick auf die Datierung des 2. Timotheusbriefs ein Hinweis auf einen gewissen zeitlichen Abstand zu den Anfängen der neronischen Christenverfolgung sein. Es wäre nun für uns interessant zu wissen, warum ausgerechnet diese vier Personen namentlich genannt werden, also welche Rolle oder Funktion sie im Umfeld des Paulus oder innerhalb der gesamten Gruppe (οἱ ἀδελφοὶ πάντες [hoi adelphoi pantes]) spielten. Aus den anderen Paulusbriefen lässt sich nicht erkennen, wie Mitgrüßende ausgewählt wurden. An unserer Stelle wird es sich um den „inneren Kreis“ der PaulusFreunde oder um jene handeln, mit denen Timotheus persönlich bekannt war. 22 Das zweiteilige, aus Datum und Schlussgruß bestehende „Eschatokoll“ bildete den Schluss eines antiken Briefs.25 Es war, wie Schnider/Stenger schreiben, „meist … durch einen Absatz vom übrigen Brief getrennt. Manche antiken Briefe lassen hier einen Wechsel der Handschrift erkennen, d.h.: hier löste der Verfasser den Schreiber, dem er den Brief diktierte, ab und schrieb den Gruß mit eigener Hand, damit man den Brief als von ihm stammend erkannte. Das Eschatokoll ist mithin ein Authentizitätssignal.“26 Leider ist das Datum bei keinem ntl. Brief erhalten geblieben. Vermutlich wurde es beim Abschreiben, spätestens bei der Zusammenstellung als Briefsammlung als nun überflüssig angesehen. Geblieben ist der andere Bestandteil, der Schlussgruß, den Paulus freilich „theologisch“ angereichert und formuliert hat.27 Aus dem griech. ἔρρωσο oder εὐτύχει wurde der Segenswunsch, in schlichter christologischer oder ausführlicher trinitarischer Form.28 So lässt das Eschatokoll „im Rückblick noch einmal Licht auf den Charakter des ganzen Briefs fallen, als in apostolischer Rede ergehender Zuspruch der Zuwendung Gottes, die sich im Handeln des auferweckten Herrn an den Briefadressaten auswirkt“, schreiben Schnider/Stenger im Blick auf die (aus ihrer Sicht „echten“) Paulusbriefe.29 24 25 26 27
S. oben S. 282, Anm. 91. A.a.O. 131ff. Schnider/Stenger, Briefformular, 131. A.a.O., 134 vermuten jedenfalls, was die Gemeindebriefe angeht, in dem typisch paulinischen Eschatokoll eine „von Paulus auf der Grundlage seiner hellenistischen und jüdischen Sprach- und Stiltradition originär geschaffene Sprache“. 28 A.a.O. 131f. S. 134 heißt es dann: „Wenn aber der Schlußgruß den Adressaten wünscht, dass diese gnädige ‚Zuwendung Gottes‘ durch das Handeln des gegenwärtigen, auferweckten Herrn mit den Adressaten sei, so wird die Art und Weise, wie der Gott des Friedens mit ihnen ist, christologisch und soteriologisch präzisiert.“
Briefschluss 4,19-22
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Sie weisen auf den inkludierenden Charakter von Anfangs- und Schlussgruß hin.30 22a Der erste der beiden Schlusssätze, des Eschatokolls, ist an den Empfänger gerichtet, der zweite auch an jene, die (gerade) bei Timotheus sind.31 Als (semitisierend) fehlendes Verb dürfte eine Form von εἶναι zu ergänzen sein: Der Herr [sei] mit deinem Geist! 16 Mal kommt die Bezeichnung κύριος [kyrios] im 2. Timotheusbrief vor. Gleich beim ersten Vorkommen wird sie definitiv auf den Christus Jesus bezogen. Der Apostel wünscht seinem Schüler also, dass dieser Herr bei ihm sei und ihm beistehe, wie er selbst es erst kürzlich in dramatischer Situation erlebt hatte (4,17f). Die Zusage an den Patriarchen Isaak (Gen 26,3), die er in bedrohlicher Lage erhielt, klingt an: „Ich werde mit dir sein und dich segnen“. Ist dem gegenüber die Zufügung mit deinem Geist, die wir auch Gal 6,18; Phil 4,23; Phlm 25 finden, lediglich eine sprachliche Ausschmückung, eine Plerophorie? Nach J. Kremer „verwendet Pls“ 1Thess 5,23 „die Sprache antiker Trichotomie ‚Geist, Seele und Leib‘, nicht um drei separate Bestandteile des Menschen, sondern diesen ganz und gar zu bezeichnen. π.[νεῦμα] meint dort wie Hebr 4,12 (…) den Menschen, der auch Geist ist (und nicht nur hat).“32 Im atl. Hebräisch bezeichnet das entsprechende Wort [ רוַּחrūach] „die im Atem sich äußernde Vitalität des Menschen“.33 Es kann aber auch (etwa bei Ezechiel) „als geistiges Zentrum, ‚Verstand‘ gebraucht werden … rūaḥ ist das Aktionszentrum eines Menschen, das Gott erregen (…) und ihn damit zu einer Entscheidung oder Handlung bringen kann“, schreiben Albertz/Westermann.34 Dürfen wir ein ähnliches Verständnis bei dem jüdischen Theologen Paulus voraussetzen, so könnte an unserer wie an den anderen Stellen gemeint sein, dass der Herr Jesus selbst es sein soll, der die Entscheidungen und Handlungen des Empfängers begleitet, beeinflusst und bestimmt. 22b Der Gnadenwunsch ist mit Kol 4,18; 1Tim 6,21 identisch. Auch hier fehlt das Verb und ist wie in 22a zu ergänzen. Die Partikel μετά verbindet die beiden Versteile. Nicht nur „der Herr“, sondern auch die Gnade soll mit euch sein. Der Plural sowie die 2. Person zeigen: Die in der Grußliste (V. 19) ge29 A.a.O. 132. 30 A.a.O. 133. 31 1Tim 6,20f und Tit 3,15 fehlt der Beistandswunsch. An seiner Stelle steht wohl 1Tim 6,20f die Ermahnung. Phlm 25 sind beide Elemente wieder vorhanden, allerdings in umgedrehter Reihenfolge. In Phil 4,23 und Phlm 25 sind beide Grüße noch am ähnlichsten zu einem zusammengefasst. 32 J. Kremer, Art. πνεῦμα, EWNT III, 282. 33 R. Albertz / C. Westermann, Art. רוַּח, THAT II, 735. 34 A.a.O. 741.
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2. Timotheusbrief
nannten Personen sind zwar nicht Mitempfänger des 2. Timotheusbriefs, aber der Verfasser setzt sie doch ganz selbstverständlich als Leute voraus, die Timotheus beim Lesen sozusagen „über die Schulter schauen“ oder doch wenigstens von ihm über den Brief unterrichtet werden. Insofern ist der Plural verständlich. μετά mit Genitiv hat die Grundbedeutung „mit jmdm. zusammensein“.35 Vor dem Hintergrund des trinitarischen Schlusswunsches 2Kor 13,13 lässt sich unser Vers am ehesten profilieren: Dort wünschte Paulus der Gemeinde, dass „die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes“ mit ihnen allen sei. Daneben werden in den Eingangswünschen Gott, der Vater, und der Herr Jesus Christus als die genannt und angerufen, von denen Gnade und Friede zu erwarten sind. χάρις [charis] ist „unter dem Aspekt der in der Apokalyptik stark betonten Souveränität Gottes … das Heilsgut schlechthin. … Natürlicherweise eigenet sich der Begriff χ. bes. dazu, auch das bereits gegenwärtig empfangene Heil zu beschreiben, so im Segensgruß zu Anfang und Schluß vieler ntl. Briefe,“ schreibt Berger.36 Allerdings ergibt Gnade als Gegenstand des Wunsches am Ende eines Briefs nur dann einen Sinn, wenn sie nicht ausschließlich punktuell (d.h. im Blick auf „das Geschehen der Initiation“,37 wie Berger schreibt) verstanden wird. Es bezeichnet auch die den konkret gemeinten Menschen auf Dauer, d.h. in ihrem ganzen Leben, zugewendete Freundlichkeit und Güte Gottes. Da „Gnade“ kein absoluter Begriff ist, sondern eng an eine Person (nämlich Gott bzw. Jesus Christus) gebunden ist, muss auch hier (wie Röm 16,20 u.ö.) als Genitiv τοῦ κυρίου ergänzt werden. IV Noch einmal (und nun abschließend) geht es um Personen, die grüßen und gegrüßt werden. Luttenberger hat den Personen in den Pastoralbriefen im Rahmen seines Themas umfangreichen Raum gegeben, die vorkommenden Namen kategorisiert und mit der Verwendung von Namen in pseudepigraphischen antiken Briefen verglichen.38 Wichtig ist, dass es christliche Arbeit immer mit Beziehungen und mit Personen zu tun hat, denn Menschen sind ihr Ziel, ihr „Material“, ihr Werkzeug und ihre Methode.
35 36 37 38
Bauer/Aland, 1030. K. Berger, Art. χάρις, EWNT III, 1100f. A.a.O. 1100. Luttenberger, Prophetenmantel, 280-308.
Bemerkungen im Rückblick auf die Auslegung der Pastoralbriefe
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Bemerkungen im Rückblick auf die Auslegung der Pastoralbriefe 1. Wachsendes Interesse: Die Tübinger Universitätsbibliothek, zu deren Schwerpunktgebieten ja die Theologie lange gehört hat, verzeichnete unter dem Schlagwort „Pastoralbriefe“ in dem jeweils genannten Zeitraum folgende Zahl von Buchzugängen: 1960–1969 12 1970–1979 4 1980–1989 12 1990–1999 31 2000–2009 26 [2010–2015 6] Es ist aufgrund dieser gewiss sehr zufälligen Anzeige eine deutliche Zunahme der Beschäftigung mit unseren Briefen in den Jahren zwischen 1990 und 2009 festzustellen, nachdem die mit ihnen verbundenen Fragen zuvor für viele Forscher als weitestgehend beantwortet galten. Unter den Neuerscheinungen sind – zum Teil in sehr angesehenen Reihen – einige größere Einzeluntersuchungen exegetisch-systematisierender Art hervorzuheben, nämlich z.B. die von Karoline Läger (1996), Hanna Stettler (1998), Rüdiger Fuchs (2003), Craig A. Smith (2006), Timo Glaser (2009), Bernhard Mutschler (2010), Michaela Engelmann, Joram Luttenberger und Claire S. Smith (alle 2012). 2. Datierung: Wir haben im Zuge der Auslegung der drei Briefe versucht, unsere Annahme zu begründen, dass es sich um drei wirklich je für sich als Briefe unterschiedlicher Gattungen verfasste Texte handelt, deren Verfasser (nicht unbedingt auch Schreiber) der Apostel Paulus war. Auch die Verortung in drei unterschiedlichen historischen Situationen versuchten wir wahrscheinlich zu machen. Ergebnis war, dass 1Tim vermutlich im Jahr 64, Tit vermutlich 64/65 und der 2. Timotheusbrief sehr wahrscheinlich im Herbst 67, spätestens aber in der ersten Jahreshälfte 68 geschrieben wurde. 3. Fragen, die offen bleiben: Hierzu gehört die Überlegung, wer die drei Briefe formuliert hat. Wir haben sprachliche, theologische und historische Hinweise darauf entdeckt, dass Lukas als möglicher Sekretär doch eine Option sein könnte. Besonders mit Blick auf 2Tim spricht sehr viel für diese Möglichkeit. Allein: Schlüssig beweisen können wir sie nicht. Es fällt uns auch schwer zu akzeptieren, dass von Kreuzigung und Tod Jesu sowie anderen Hauptthemen der Paulusbriefe im 2. Timotheusbrief überhaupt nicht die Rede ist. Als Erklärung können wir nur annehmen, dass diese Punkte in diesen Briefen an
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2. Timotheusbrief
Einzelpersonen keine Rolle spielten, weil sie bei ihren Empfängern als bekannt und unbestritten vorausgesetzt werden konnten. Weiter steht nach unserer Auslegung des 2. Timotheusbriefs die Frage im Raum, ob Paulus Timotheus auch in 1Tim schon mit Bedenken agieren sieht. 4. Theologie: a) Unbestritten ist auch die Beobachtung, dass es in Theologie und Terminologie sowohl zwischen den Pastoralbriefen einerseits und den übrigen Paulusbriefen andererseits, aber auch zwischen den drei Pastoralbriefen selbst Unterschiede gibt. Das gilt z.B. für die Lehre von Gott, von Jesus Christus, von der Gemeinde etc. Kongruenz der Aussagen konnte allerdings nicht erwartet werden. Sie gibt es, eng gefasst, auch zwischen den allgemein als „echt“ angesehenen Paulusbriefen nicht. Wo ist die Grenze des Möglichen? Wo wird die erklärbare Variante zum Gegensatz, der denselben Verfasser ausschließt? b) Das Bild des Hauses (genauer: der in einer Hausgemeinschaft zusammen lebenden Personen) tritt in 1Tim und Tit neben das Bild von dem Hirten und der Herde, das vor allem Jesus verwendet hatte, und dem paulinischen vom Leib und seinen Gliedern. Aber die ekklesiologische Vorstellung vom Haus ist Paulus ja nicht grundsätzlich fremd oder neu: Vom sichtbaren Gebäude verwendet er es in 1Kor 3,9f. Die Vorstellung wird nun, wie der Apostel es sonst ja auch gelegentlich macht, moduliert, modifiziert, transformiert und auf das Innenleben, sprich: auf die im Gebäude lebenden Menschen, angewandt. Auch Eph 2,19 weist in diese Richtung. c) Schließlich sind Themen, die in früheren Briefen im Fokus waren, in ihrer Bedeutung zurückgetreten, andere neu in den Vordergrund gekommen, etwa die pastoraltheologischen Themen „Lehren/Lernen“, „Mitarbeiterführung“ oder das ekklesiologisch wichtige Thema „Bewahren“. 5. Ephesus: Nach Riesner war Paulus von 52–55 in Ephesus, wo es bei seinem ersten Auftreten bereits mindestens zwölf Christen gab (Apg 19,1-7). Wie in der Einleitung zur Auslegung des 1Tim gezeigt, dürfte dieser Brief (mit Ellis) und auch Tit wohl um das Jahr 64 n.Chr. entstanden sein. Es liegen also mehr als zehn Jahre zwischen der Gemeindegründung und den beiden Timotheusbriefen. Das ist Zeit genug, von der ersten Begeisterung (hier auch im wahrsten Sinn des Wortes zu verstehen; vgl. Apg 19,2-7) zu Ernüchterung und Resignation zu kommen, aber auch vermeintliche Defizite durch den „Import“ von Elementen aus anderen Weltanschauungen ausgleichen zu wollen. Sicher ist das auch Zeit genug, dass sich angesichts des sozialen Drucks auf die junge Gemeinde die Spreu vom Weizen scheiden konnte, sprich: dass weniger Überzeugte sich von ihr trennen konnten. Die Pastoralbriefe sind dafür ein guter Spiegel, indem sie die Sorgen und Befürchtungen des Apostels Paulus im
Bemerkungen im Rückblick auf die Auslegung der Pastoralbriefe
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Blick auf die Gemeinden in Ephesus und auf Kreta zum Ausdruck bringen. Es ist wohl kein Zufall, dass das Thema „Verlassen der ersten Liebe“ in Offb 2,4 im Sendschreiben an Ephesus wieder auftaucht. 6. Die Kanonfrage: Wie Trobisch gezeigt hat, gehörten die Pastoralbriefe schon relativ früh zur Sammlung der 13 bzw. (14 inkl. Hebr) Paulusbriefe. Um 180 sind sie dann jedenfalls in der römischen Gemeinde, ab 369 insgesamt als „kanonische“ Schriften anerkannt. Bei diesen Entscheidungen spielte auch der Aspekt der Apostolizität eine Rolle. Wenn die Kanonwerdung gewiss auch unter menschlichen Aspekten zu betrachten ist, so wird die Kirche darin rückblickend doch einen Vorgang sehen, der nicht ohne Wirken des Heiligen Geistes geschehen und vorstellbar ist. Die Kirche hat entschieden, und von Irrwegen abgesehen (Markion, „Deutsche Christen“ u.a. ) steht die Gültigkeit dieser Festlegung nicht infrage. Die Kirche hat diese 27 Schriften des NT zu ihrem Ur-Dokument gemacht, sie hat sie aber auch als Gegenüber von Gott erhalten. Das bedeutet aber nicht zugleich, dass alle kanonischen Schriften immer gleich aktuell und wertgeschätzt waren! Eindrücklichstes Beispiel ist wohl die Apokalypse des Johannes:39 Während es auch lange Zeiten gab, in denen sie die Rolle eines kanonischen „Mauerblümchens“ spielte, nahm sie besonders dann, wenn die Kirche politisch, gesellschaftlich oder ideologisch unter Druck geriet, sehr rasch wieder eine zentrale Rolle im Denken der betroffenen Christen ein. Am Beispiel Martin Luthers kann man zudem beobachten, wie eine gewisse, sicher zeitgeschichtlich durch die starke Berufung mancher Gruppen (Täufer u.a.) bedingte Reserviertheit gegenüber der Johannesoffenbarung einerseits einer völlig bedenkenlosen Ver- und Anwendung ihrer Texte auf seine Situation korrespondierte. Ähnliches wird man auch mit Blick auf die übrigen ntl. Schriften sagen können: Sie waren zeitweise hochaktuell, wurden zeitweise aber auch als störend oder peinlich empfunden, etwa weil sie dem jeweiligen mainstream gesellschaftlichen oder kirchlichen Denkens entgegenstanden. Sofern die Schriften des NT für die Kirche wirklich „Heilige Schrift“ und „Wort Gottes“ sein sollen, kann ihre Beseitung aus dem Kanon, wie sie W. Schenk vorgeschlagen hat,40 niemals der richtige Weg sein. 7. „Pastoralbriefe“: Diese Bezeichnung wurde den drei kleinen, an wichtige Mitarbeiter des Apostels Paulus gerichteten Briefen nachträglich beigelegt. Sie beschreibt richtig wesentliche Absichten, die Paulus verfolgte, als er 39 Vgl. zur Offb die umfangreiche Untersuchung von G. Maier. Die Johannesoffenbarung und die Kirche. WUNT I,25. Tübingen 1981 (zu Luthers Verhältnis zur Offb s. besonders S. 267-300). 40 W. Schenk. Die Briefe an Timotheus I und II und an Titus (Pastoralbriefe) in der neueren Forschung (1945–1985). ANRW 2,25/4, 3404-3438: 3428 Anm. 93. 3431.
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2. Timotheusbrief
sie verfasste: Es ging ihm darum, dass seine Gemeinden pastoral (also mit Blick auf Gemeindeleitung, innere Strukturen und seelsorgliche Begleitung von Einzelnen oder Gruppen) angemessen begleitet wurden. Differenzierend müssen wir hinzufügen, dass die Bezeichnung tendenziell eher auf 1Tim/Tit als auf 2Tim passt, wenngleich sie für diesen nicht unzutreffend ist. 8. Der 2. Timotheusbrief: Er lässt zwar literarische Absicht und Färbung im Detail erkennen, aber m.E. aufs Ganze gesehen keine bewusste Komposition oder Strukturierung. Auch dies ist ein Argument gegen die Einheit der Past im literarischen Sinn. 2Tim ist ein Sammelsurium von Einzelgedanken, die zwar gemeinsame Oberthemen haben, aber keine erkennbar sinnvolle Anordnung. Grund dafür dürfte die Situation seiner Entstehung sein, die wir in der Einleitung und Auslegung analysiert und beschrieben haben. Gerade diese für das NT besondere Situation, in der er entstand, macht ihn für die Kirche in ihrer Geschichte bis heute und wohl auch in der Zukunft so wertvoll und einzigartig. Nicht nur für Zeiten ruhigen theologischen Arbeitens, nicht nur für Perioden interner Konflikte und Unsicherheiten findet der Leser Stoff. Im 2. Timotheusbrief kommt die Extremsituation staatlich-gesellschaftlicher Brandmarkung bis hin zur faktischen materiellen Ausrottung zur Sprache. Wie Paulus damit umgeht – gar nicht unbedingt „heldenhaft“, vielmehr auch zweifelnd und unsicher, kann Christen zu allen Zeiten zum Vorbild werden und als Maßstab dienen. Denn bis zuletzt weiß sich der Apostel im Leben samt dem Sterben in Gottes Hand (Röm 14,7-9).
Literaturverzeichnis
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III. Verzeichnisse 1. Literaturverzeichnis Kommentare werden mit dem Namen des Autors zitiert, die übrige Sekundärliteratur mit dem Namen des Autors und abgekürztem Titel. Artikel aus Wörterbüchern und Enzyklopädien werden im Literaturverzeichnis nicht eigens aufgeführt. Für Abkürzungen, die im Abkürzungsverzeichnis nicht aufgeführt sind, konsultiere man S. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (Berlin 32013) sowie L. Coenen und K. Haacker, Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament (Wuppertal 1997). Weitere Titel zu den Pastoralbriefen sind in den Kommentaren zum 1. Timotheusbrief und zum Titusbrief in dieser Reihe aufgeführt. Sofern nicht ausdrücklich anderes vermerkt ist, liegt der Auslegung der griechische Text der 28. Auflage des Novum Testamentum Graece, Stuttgart 2012, zugrunde (abg. NA28). Kommentare zum 2. Timotheusbrief und zu den Pastoralbriefen Berger, Klaus. Kommentar zum Neuen Testament. Gütersloh 2011 Brox, Norbert. Die Pastoralbriefe: 1 Timotheus, 2 Timotheus, Titus. RNT 5. Auflage Regensburg 1989 Dibelius, Martin. Die Pastoralbriefe. HNT 13. 2. Auflage Tübingen 1931 Dibelius, Martin / Conzelmann, Hans. Die Pastoralbriefe. HNT 13. 3. Auflage Tübingen 1955 Fee, Gordon D. 1 and 2 Timothy, Titus. New International Biblical Commentary (New Testament Series 13). Peabody 1988 / Carlisle 1995 Hasler, Victor. Die Briefe an Timotheus und Titus (Pastoralbriefe). ZBK 12. Zürich 1978 Holtz, Traugott. Die Pastoralbriefe. ThHK 13. 5. Auflage Berlin 1992 Holtzmann, Heinrich Julius. Die Pastoralbriefe, kritisch und exegetisch behandelt. Leipzig 1880 Jeremias, Joachim. Die Briefe an Timotheus und Titus. NTD 9. 12. Auflage Göttingen 1981 Johnson, Luke Timothy. The First and Second Letters to Timothy. AncB 35A. New York 2001 Knight III, George William. The Pastoral Epistles. A Commentary on the Greek Text. NIGTC. Grand Rapids 1992
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Knoch, Otto. 1. und 2. Timotheusbrief. Titusbrief. NEB.NT 14. 2. Auflage Würzburg 1990 Marshall, Ian Howard. The Pastoral Epistles. ICC. Edinburgh 1999 Merkel, Helmut. Die Pastoralbriefe. NTD 9/1. 1. Auflage dieser Bearbeitung. Göttingen 1991 Mounce, William D. Pastoral Epistles. WBC 46. Nashville 2000 Neudorfer, Heinz-Werner. Der erste Brief des Paulus an Timotheus. Historisch-Theologische Auslegung. Neues Testament. 2. Auflage. Witten 2012 [1Tim] Neudorfer, Heinz-Werner. Der Brief des Paulus an Titus. Historisch-Theologische Auslegung. Neues Testament. Witten 2012 [Tit] Oberlinner, Lorenz. Die Pastoralbriefe. 3. Folge: Kommentar zum Titusbrief. HThK XI 2/3. Freiburg u.a. 1996 Quinn, Jerome D. / Wacker, William C. The First and Second Letters to Timothy. A New Translation with Notes and Commentary. The Eerdmans Critical Commentary. Grand Rapids / Cambridge 2000 Roloff, Jürgen. Der erste Brief an Timotheus. EKK 15. Zürich / NeukirchenVluyn 1988 Schlatter, Adolf. Die Kirche der Griechen im Urteil des Paulus. Eine Auslegung seiner Briefe an Timotheus und Titus. Stuttgart 1. Auflage 1936 (= 2. Auflage 1958) Spicq, Çeslas. Saint Paul: Les Épîtres Pastorales. EtB 32. Paris 1947 Towner, Philip H. 1-2 Timothy & Titus. The IVP New Testament Commentary Series. Downers Grove / Leicester 1994 –. The Letters to Timothy and Titus. NIC, Grand Rapids / Cambridge 2006 Weiser, Alfons. Der zweite Brief an Timotheus. EKK XVI/1. Düsseldorf u.a. 2003 Witherington, Ben. Letters and Homilies for Hellenized Christians. Volume I: A Socio-Rhetorical Commentary on Titus, 1–2 Timothy and 1–3 John. Downers Grove / Nottingham 2006 Weitere Literatur Bauer, Walter / Aland, Kurt / Aland, Barbara. Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. 6., völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin / New York 1988 [Bauer/ Aland] Blass, Friedrich / Debrunner, Albert / Rehkopf, Friedrich. Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. 18. Auflage Göttingen 2001 [BDR]
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Autorenverzeichnis
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2. Autorenverzeichnis B Brox, Norbert 106, 153, 305 D Deissmann, Adolf 13, 222, 276, 292, 307 E Engelmann, Michaela 14, 33-34, 46, 48-49, 64, 93, 96, 98, 111, 132, 164, 181-182, 232-233, 240, 293, 301, 307 F Fee, Gordon D. 305 Frenschkowski, Marco 13 Fuchs, Rüdiger 14, 19, 22, 25-26, 30, 34, 43, 57, 93, 126, 262, 269, 279, 301, 307 G Glaser, Timo 13, 33, 35, 45-46, 102, 136, 301, 307 H Hasler, Victor 13, 128, 147, 227, 270, 305 Hengel, Martin 14, 24, 89, 307 J Jeremias, Joachim 305 Johnson, Luke Timothy 305 L Luttenberger, Joram 12-14, 26, 32, 34-35, 43-45, 48-50, 249, 258-
261, 263, 267, 270-272, 275-276, 280, 291-292, 300-301, 308 M Marshall, I. Howard 12, 23, 33, 4445, 56, 66, 72-73, 76, 92-93, 100, 103, 106, 119, 128, 131, 135, 158, 166, 173, 199, 227, 230-231, 234, 264, 273-274, 294, 306 Merkel, Helmut 306 Michel, Otto 14, 239, 308 N Neudorfer, Heinz-Werner 12, 16-17, 19, 30, 306 O Oberlinner, Lorenz 306 Omerzu, Heike 15-16, 19, 23-24, 103, 260-261, 275, 292, 308 R Riesner, Rainer 15-16, 19, 28-29, 59, 101, 176, 206, 210, 220-221, 263, 273-275, 294-295, 302, 308 Roloff, Jürgen 306 S Schlatter, Adolf 306 Schleiermacher, Friedrich, dt. Theologe 11 Schnabel, Eckhard J. 12, 17-19, 21, 59, 121-122, 156, 309
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2. Timotheusbrief
T Towner, Philip H. 58, 72, 106, 132, 147, 231, 263, 294, 306 Trobisch, David 18, 33, 36, 45, 241, 276, 303, 310 V von Lips, Hermann 16-17, 19, 51, 53, 59, 150, 266, 308 W Weiser, Alfons 12, 27, 33-35, 44, 61-62, 65-66, 72-75, 93, 106, 113, 128, 131, 134, 147, 159-160, 191192, 199, 227, 230, 245, 268, 270271, 286, 294, 306
Stichwortverzeichnis
313
3. Stichwortverzeichnis 1 1. Klemensbrief 23-24, 88, 124, 207 A Abschiedsbrief 33, 35, 80 Acta Petri 24 Afrika 22, 196 Alexander der Schmied 257, 277 Alexandria, ägypt. Hafenstadt 18 Antiochia 211 Antiochia, Stadt in Syrien 16, 101, 204, 206, 210-211, 267-268 Apokalyptik 212, 300 Apollos 18, 148, 293 Apollos, Missionar 18 Aquila und Priscilla, Missionare 18 Aristipp(os) von Kyrene, griech. Philosoph 192 Aristoteles, griech. Philosoph 190191 Artemis/Diana 18 Asia, röm. Provinz 19-21, 28, 50, 109-111, 268-269 Auferstehung 42, 59, 86, 98, 102, 108, 128, 135, 138, 144, 146, 148, 157-160, 178, 182, 184, 186, 236 B Berufung 13, 16, 29, 45, 93, 95, 188, 240, 255, 303 Brand Roms 47, 89, 213, 247, 281, 295 Briefgattung 26 Briefroman 13, 35, 45-47, 102, 136, 307
C Canon Muratori 23-24, 32, 34, 45 Cäsarea am Meer 22 Charisma 77-81 Chronologie 29, 34, 59, 210, 307309 Claudius, röm. Kaiser 17, 292 Clemens von Alexandria 44 Clemens, Bischof von Rom 207 Corpus Pastorale 34 crimen laesae maiestatis 103 custodia libera 88, 260 D Dalmatien; Dalmatia, röm. Provinz 20, 28, 257, 266-267 Damaskus 15, 57, 62, 68, 89, 96 Datierung 22-23, 29, 48, 51, 146, 227, 266, 282, 298, 301 Demas, Paulus-Mitarbeiter 31, 110, 114, 257-258, 262-266, 280, 288 Demetrius, Paulusgegner in Ephesus 18 Derbe 59-60, 211 deus absconditus 291 Diatribe 161, 174 Diodorus Siculus, röm. Schriftsteller 132 Domitian, röm. Kaiser 17, 51 E Ekklesiologie 43, 49, 164, 181 Elia, atl. Prophet 33, 270 Empfänger 15, 34, 47, 59-60, 66, 68, 150, 243, 252, 255-256, 262, 270, 272, 292, 299
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2. Timotheusbrief
Endzeit 183-184, 186, 190, 193194, 199, 203, 209, 238 Epaphroditus, Paulus-Mitarbeiter 31, 55 Ephesus 12, 17-21, 25-28, 30, 5052, 57, 60, 73, 81-82, 107, 109111, 113, 119, 145-146, 148, 150, 156, 158, 176, 191, 211, 217, 233, 240, 249, 257, 262-263, 265, 267, 269, 274-275, 277, 279, 293-296, 302, 309 Epiktet, griech. Philosoph 271 Epikur von Samos, griech. Philosoph 192 Erastus, Paulus-Mitarbeiter 28, 294 Erinnern 41, 148 Erinnerung 39, 59, 64-66, 72-74, 76-77, 79, 85, 108, 126 Erwählung 42, 131, 133 Erziehung 16, 20, 77, 177-178, 206, 217, 220-222, 230-231, 295 Eschatokoll 298 Essener 210 Eunike 64, 76, 104 Eusebius, Kirchenhistoriker 17, 19, 23, 32, 51, 142, 256, 267-268 Evangelium 14, 47, 57, 63, 65, 78, 85-86, 91, 96, 100, 102, 105-108, 115, 119-120, 123, 126-128, 131, 135, 142-143, 152-153, 175-176, 184-185, 223, 234, 239-240, 267268 F Festus 16, 279 fides qua 208, 222 fides quae 208, 222 figura etymologica 163, 249 Fragmentenhypothese 12
Frau 76, 195, 297 Frömmigkeit 47, 58, 75, 147, 182, 189, 192-193, 210, 213-214 G Galater 175 Galatia, röm. Provinz 28, 211, 257, 266-267 Gallien 22 Gamaliel der Ältere 15 Gefangenschaftsbrief 19, 30, 246 Gefäß 165, 247, 268 Gegner 26, 148, 155, 157, 161-162, 176, 201, 204, 258, 279 Gerät 144, 165-166, 268 Gericht 86, 97, 100, 112, 158, 184185, 212, 219, 223, 232-233, 236, 254, 256, 278, 280, 284 Gleichnis 60, 164, 180, 192, 209, 242, 255 Gottesdienst 67, 69, 71, 173, 225, 241 Griechenland 13, 16, 19, 22, 273, 285 H Haft 16, 19, 22-23, 25, 27, 29-31, 36, 87-90, 129, 134, 246, 260, 263, 271, 274, 280, 282-283, 285, 296 Handauflegung 42, 81-82, 181 hapax legomenon 133, 222, 231, 272 Hausarrest 16, 27, 29, 88-89 Hegesipp, frühchr. Schriftsteller 23 Heidenmission 11, 28 Heiligung 169, 171, 231 Heilsgeschichte 42, 62, 70, 185, 241, 296
Stichwortverzeichnis
Hellenismus 14, 197 Hendiadyoin 280 Hermas-Hirte, frühchr. Schrift 23, 191 Hermeneutik 54, 224-225, 227, 229 Hermogenes 109-111 Herodot, griech. Schriftsteller 9798, 113, 123, 191 Hesiod, griech. Schriftsteller 125 Hillel 15 Hinrichtung 11, 15, 23, 25, 27, 88, 139, 256, 259, 280, 297 Homer 61, 176, 248 Hymenäus 20, 144-145, 154-162, 166, 174, 178, 182, 186, 194, 204, 259, 277 Hyper-Formel 133 I Ikonion 59, 204, 210 Inspiration 183, 221-222, 229, 307 intitulatio 55-56, 59 Irenäus 44, 53 Islam 70 J Jakobus 70, 77, 151, 170-171, 208, 216, 251 Jannes und Jambres 157, 182, 199, 204, 216, 279 Jerusalem 15, 19, 22, 57, 87, 89, 267-268, 295 Judentum 16, 42, 59, 62-63, 70-71, 82-83, 98, 100, 120, 137, 183, 187, 189, 197, 206, 220, 223, 294, 307, 309 K Kanon 32, 222, 224-225, 241, 303
315
Karpus 257, 273 Koerzitionsgewalt 23 Kontrastgesellschaft 214 Korinth 16, 20, 28-29, 32, 77, 100, 115, 146, 156, 172, 175, 207, 211, 236, 240, 266, 275, 291-292, 294, 296, 309 Kranz 250, 252 Kreszens, Paulus-Mitarbeiter 28, 257-258, 265-266, 280 Kreta 20, 26, 60, 89, 213, 266, 295, 303 L Lasterkatalog 183, 187-190, 196, 200, 203 Lehrer 15, 21, 78, 100-102, 121, 123, 176, 198, 206, 217, 219-221, 238, 308, 310 Leiden 39, 88, 91, 100, 102-103, 114-115, 123, 125-126, 128, 131134, 136, 138-139, 143, 186, 194, 204-205, 210-211, 243-244, 247, 309 Leidensvokabular 138 Lemma 208, 214, 257, 262 Liebe 43, 53, 60, 71, 75, 77-78, 8285, 105-106, 119, 136, 144, 170174, 178, 187, 189-190, 204-205, 207-208, 210, 230, 240, 300, 303 Lois 64, 76, 104 Lukas, Paulus-Mitarbeiter 12-13, 15-16, 18-20, 23, 28, 31, 47, 59, 62-63, 68, 70, 86, 110-111, 191, 235, 249, 255, 257-258, 262-263, 266-267, 277, 281-283, 301 Lusitanien 22 Luther, Martin, Reformator 33, 117, 130, 234, 240, 242, 246
316
2. Timotheusbrief
Lystra 16, 59-60, 204, 210 M Makkabäer 210 Markion 23, 71, 303 Markus, Paulus-Mitarbeiter 31, 87, 168, 257, 262, 267-268, 280 Martyrium 51, 53, 86, 136, 143, 191, 209, 215 Milet 19, 291, 295 Mischzitat 163 Mission 51, 59, 63, 70, 207, 293, 309 Mitarbeiter 11, 15, 17, 20, 26, 28, 33, 35, 49, 59-60, 63, 72, 119, 123, 150-151, 155, 233, 246, 258, 262-263, 266-268, 276-277, 279280, 282, 293, 296, 303 N Naherwartung 21, 43, 194 Nero, röm. Kaiser 11, 16-17, 20, 22, 25, 27, 47, 51, 103, 214, 282, 284285 Nerva, röm. Kaiser 17, 51 Nikolaiten 53 Nikolaos, frühchr. Irrlehrer 53 nominis receptio 87 O Onesimus 31, 115 Onesiphorus 27, 29, 109-113, 291293 Opfer 69, 136, 139, 191, 195, 208, 243, 246 P Parallelismus membrorum 79, 93, 99, 118, 200, 243, 246, 258, 286
Paulusbriefsammlung 45, 48, 310 perfectum confidentiae 248 perfectum propheticum 248 Pergamon 53 Peristasenkatalog 205, 263 Petrus, Apostel 32, 70, 75, 88, 136, 140-141, 208, 227, 236, 268, 279 Pharisäer 202, 210, 225 Philemon, Freund des Paulus 56, 168 Philetus 144-145, 154-155, 157160, 162, 174, 178, 182, 186, 194, 204 Philippi 19, 30, 55, 88, 90, 129, 211, 275, 291 Philo v. Alexandria 62, 229 Philosophie 159, 170, 183, 192, 200, 204, 271, 281, 289 Phrygien 210 Phygelus 109-111 Pietismus 130 Pilatus 198 Pisidien 210 Plato 174, 178, 191, 288 Plutarch, griech. Schriftsteller 155, 165, 228 Polykarp 44, 158 Präskript 36, 55, 64 Prätorium 31 Proömium 64-66, 72-73, 78 Prophetenmantel 12-14, 26, 32-34, 43-45, 48-50, 249, 258-261, 263, 267, 270-272, 275-276, 280, 291292, 300, 308 Proselytentaufe 137 Prozess 15, 19, 23, 194, 197, 205, 241, 259-260, 264, 269, 275, 279280 Pseudepigraphie 12
Stichwortverzeichnis
Pseudo-Phokylides 228 Q quaestio (röm. Gerichtskammer) 260, 280 R Reinigungsbad 137 Ringkomposition 66 Rom 11, 15-17, 21-25, 27, 29-32, 35, 51, 87-89, 109-110, 112, 133134, 139, 149, 172, 191, 207, 211, 218, 259, 261, 264-266, 268-270, 274-275, 279-280, 282-284, 292297, 309 S salutatio 55-56, 60 Saulus 62, 101, 210 Schrift 42, 130, 164, 217, 221, 223231, 234, 236, 242, 303 Sekretär 20, 32, 36, 267, 301 Sekretärshypothese 12, 49 Selbstmord 22 Seleukos I. Nikator 211 Semonides 76 Seneca, röm. Philosoph 90 Sexualität 169, 192 Siegel 144, 161-163 Siegerkranz/Siegeskranz 243, 250252, 255 Silas/Silvanus 56 Sklave 15, 56, 111, 115, 125, 142, 151, 168, 245, 253, 294 Sokrates 174, 192 Spanien 22, 24, 89, 283, 295 Spanienreise des Paulus 19, 30 Spätdatierung 25
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Stephanus 15, 62, 136, 210, 254, 281 Sünde 75, 117, 136, 163, 170-171, 180, 196-197, 203, 212, 223, 264 T Tacitus, röm. Historiker 282, 285 Tarsus 15 Taufe 18, 59, 69, 119, 136-137, 148, 158, 173, 233 Tertullian, Kirchenvater 129 Testament 32-35, 41, 45, 70, 219, 222, 224-225, 241, 276, 294, 305309 theologia regenitorum 120-121, 123 Thessalonich 100, 150, 169, 211, 257, 265 Thyatira 53 Titus, Paulus-Mitarbeiter 11-12, 16, 20, 26, 28, 34, 45, 57, 88, 150, 174, 205, 213, 257-258, 261, 266267, 280, 303, 305-306, 308-309 Trankopfer 189, 246, 248 Troas 28, 257, 272-273, 276, 279, 295 Trophimus, Paulus-Mitarbeiter 295-296 Tugendkatalog 205 Tullianum 88, 90 Tychikus, Paulus-Mitarbeiter 28, 30-31, 258, 267, 269, 281 U Umkehr 18, 53, 69, 140, 144, 156157, 179-180, 208 Urgemeinde 81, 108, 255, 267, 277 V Verfasser 15
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2. Timotheusbrief
Verführung 215 Vettius Valens, röm. Astrologe 228 W Wahrheit 14, 42, 75, 83, 86, 102, 110, 144, 146, 150-151, 153, 155, 157, 179-182, 197, 199, 215, 217, 239-240 Weisheitsliteratur 160, 236 Wettkampf 114, 243, 248-250, 252, 255 Wort Gottes 42, 47, 115, 121-122, 129-131, 152-153, 183, 217, 224, 227, 235, 240-242, 303 Z Zeugen 86, 114, 118-120, 140, 232, 250, 262, 281 α α privativum 151, 189, 197 θ θεόπνευστος 219, 224-228, 309